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Carneri (Wien), Prof. Dr. O. Caspari (Heidelberg), Charles Darwin (Down), Prof. Dr. J. Delboeuf (Lüttich), Dr. A. Dodel-Port (Zürich), Dr. W. O. Focke (Bremen), Dr. Forſyth Major (Florenz), Prof. Dr. S. Günther (Ansbach), Prof. Dr. E. Haeckel (Jena), Prof. Dr. Th. v. Heldreich (Athen), Fr. v. Hellwald (Stuttgart), Dr. F. Hilgendorf (Berlin), f Prof. Dr. R. Hörnes (Graz), Prof. Dr. G. Jäger (Stuttgart), Sir John Lubbock (London), Prof. O. C. Marſh (New-⸗Haven), Prof.Dr. C. Mehlis (Dürkheim), Pr. Fritz Müller (Itajahy), Dr. Herm. Müller (Lippſtadt), Dr. C. du Prel (München), Prof. Dr. W. Preyer (Jena), Wo. Reichenau Mainz), Prof.Dr. Oskar Schmidt (Straßburg), Prof.Dr. Fritz Schultze (Dresden), Dr. G. Seidlitz (Königsberg), Herbert Spencer (London), Dr. H. Vaihinger (Straßburg), N Prof. Dr. Mor. Wagner (München), Dr. Wernich (Berlin), Dr. J. F. Weinland (Eßlingen), Prof. Dr. A. e (Freiburg), Prof. Dr. L. Wittmack (Berlin), L. Würtenberger (Karlsruhe), Prof. Dr. R. Zimmermann (Vien) und anderen namhaften Forſchern auf den Gebieten des Darwinismus herausgegeben * von Dr. Eruſt Krauſe. VII. Dam. Teipzig, Ernſt Günther's Verlag (Karl Alberts). Eee x 1 Be Verzeichnis der Mitarbeiter am ſiebenten Bande des Kosmos. 2 Dr. O. Böttger (210— 213), Prof. Dr. O. Caspari (79—84, 84—87, 295— 303), Dr. O. Dammer (100 —112), Charles Darwin (72 —-74, 7778), Prof. J. Delboeuf (42 —68, 113-136), Dr. A. Dodel⸗Port (11 — 22), Leop. Einſtein (456 — 463), Prof. Dr. S. Günther (320 —326, 404 — 405, 406 —407, 486-487), Prof. Dr. E. Haeckel (310—317), Prof. Dr. R. Hoernes (69 — 72), Th. H. Huxley (249—256), Dr. E. Krauſe (191—203, 257—275, 334—339, 419-440), Dr. H. Kühne (184 — 190), Dr. Fritz Müller (148 — 152), Dr. Herm. Müller (219-235, 236—238, 276—287, 306 307, 350— 365, 441455), W. von Reichenau (217 —218, 318—319, 387-390), Prof. A. H. Sayce (366-378), Prof. Dr. Osk. Schmidt (329 — 333), H. Schneider (288 — 294), Prof. Dr. Fritz Schultze (23 — 41), Theod. Buy (409 —418), Prof. Dr. Mor. Wagner (110, 89—99, 169183), J. E. Zilliken (238 — 244). 4 TE * Pr 8 * 0 * NUN 1 Wbt, g * a ; Br : | * nee N . Inhalt des fiebenten Bandes. — Über die Entſtehung der Arten durch M Von Prof. Dr. Moritz Wag nen een Das amphibiſche Verhalten 5 Prothallien von beet Von Dr. A. Dodel-Port. Mit Illuſtrationen . Die Sprache des Kindes. Von Prof. Dr. Fritz Eher. Der Schlaf und die Träume. Von Prof. J. Delboeuf . . 42. Das Syſtem der chemiſchen Elemente. Von Dr. O. Dammer UNE Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. Von Dr. H. Kühne. nennen Die Baſtard-Theorie. Von Dr. Ernſt Krauſe f a Zur bevorjteherden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie Von T. H. Huxley. 5 A Skizzen aus der Sa picgsgeſchichte 555 Entwickungsgeſchichte Wu Dr. Ernſt Rraufe : . N AT ae Die Bedeutung der Alpenblumen für die Weener Von Dr. H. Müller Beobachtungen an einem Affen. Von H. Schneider Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne boo Von Prof. Dr. O. Caspari. Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Daſein. Von Prof, Dr. Oskar Schmidt. Über die Entwicklung der Blümenfarben. Von Dr. Fenn Müller Die Geſchichte der Schrift. Von Prof. A. H. Sadce . SE Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. Von Th. Buy. Die Variabilität der Alpenblumen. Von Dr. Hermann Müller . Erfaſſen und Begreifen. Eine ſprachphiloſophiſche Studie von Leopold Einſtein VI Inhalt. „Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Die Unvollſtändigkeit der paläontologiſchen Überlieferung. Von Prof. R. Hoernes N Die geſchlechtlichen Fürbungen gewisser Schmetierle Von Ch. Darwin Die Glieder von Sauranodon. Mit Illuſtrationen Fruchtbarkeit von Baſtarden zwiſchen der gemeinen und chief Gaus. Von Ch. Darwin Künſtliche Diamanten Die Wirkungen des he Spuntenlichben auf Die Pflanzen 95 Polarländer Über die Phäodarien. C Die Putzfüße der Kruſter. Von Dr. Fritz Müller. Mit Illuſtrationen . Ein Analogon des Beutelknochens der höheren Säuger. Die Experimente des Magnetiſeurs Hanſen vom anden Standpunkte Die egyptiſchen Mumien und Baubgemäte Eine fruchtbare Mauleſelin. Archaeopteryx lithographica . Die antidarwiniſtiſchen Vorträge in bel 1 vn . t Beologkithen Reichsanſtalt in Wien Über ein neues, äußerſtes Glied in der Reihe be locken Rohfennien . Konſtante Skalaridenbildung des Gehäuſes bei einer Landſchnecke. Von Dr. O. Böttger Die Stegoſaurier. Mit Illustrationen Pliozän-Hirſche im obern Arnothale . ee Eine Pantoffeln ſäugende Hündin. Von W. v. 1 Der große Komet von 1880 . Die aufrechtſtehenden Baumſtämme der Steinkohlenſchic ben 5 Ahnlichkeit von Blumen und Früchten. Von Dr. Hermann Müller . Über die ſogenannte Jungferngeburt (Parthenogenesis) . 3 Die Organiſation und Klaſſifikation der höheren Meduſen— Alraspeden. Von Prof. Dr. E. Haeckel Das Bruſtbein der Dinoſaurier 8 Ein fünfzehiger Raubvogel. Von W. v. Reichen Die vorhiſtoriſche Zeit in Egypten George Darwins Rechnungen über die ſäkularen Anderungen der Mond. und Planetenbewegungen durch den Einfluß der Gezeiten . Über die Flora iſolirter Inſeln im allgemeinen und der oſtfrieſiſchen im beſondern Seite Inhalt. Die Duftorgane des männlichen Liguſterſchwärmers. Von W. v. Reichenau. Mit Illuſtrationen Über die Variabilität der Milchdrüſen bei ben Schafen 5 ern inen Zur hiſtoriſchen Entwicklung des Farbenſinns . SET: ENTER Die Erfindung des Pfluges Die Rolle des Meeeres bei dem 5 Abkühlungsprozeß Ber Erde Über den Einfluß der Bewegung und andrer phyſikaliſcher 1 des Waſſers auf die Formen der oe Fire Eine Süßwaſſermeduſe ER 5 Das Leuchten der Johanniswürmchen A Anatomiſche Übereinſtimmung im Skelett foſſiler Reptilien mit 580 placentaloſer Säugetiere . NT Die Witwentötung und andere era re mane le 5 Fidschi Inſeln Baptanodon Litteratur und Kritik. Hellwald, Fr. v., Der vorgeſchichtliche Menſch. (Von O. Caspari). Kohn, A. und Mehlis, Dr. C., Materialien zur Vorgeſchichte des . im öſtlichen Europa. II. Teil. (Von O. Caspari). Pagenſtecher, A, Allgemeine Zoologie. I. — III. Teil. N Lockyer, J. Norman, Die Beobachtung der Sterne ſonſt und jetzt. Hanſtein, Dr. v., Das Protoplasma als Träger der pflanzlichen und tieri— ſchen Lebensverrichtungen Engler, Dr. A., Verſuch einer Entwicklungsgeſchichte der tie Florengebiete der nördlichen Hemiſphäre. 5 > Chriſt, H., Das Pflanzenleben der Schweiz . Der zoologiſche Garten. Zeitſchrift ꝛc.. Mehlis, Dr. C., Bilder aus Deutſchlands Vorzeit Frerichs, Dr. H., Über Naturerkenntnis Schneider, G. H., Herrn Prof. Dr. Jägers ec Entdeckung der Seele : Gaſton Bonniers 1 Biderleguing der en blauer (Von Dr. H. Müller). 5 Darwin, Ch., und Krauſe, E., Erasmus Wein 115 fein Stellung in der Geſchichte der Deszendenztheorie. (Von Dr. H. Müller) Morſelli, II Suicidio, Saggio di. Statistica morale e comparata. (Von J. E. Zilliken). s Bergel, Dr. J., Studien über die daatarwiffenſchaftliche Renntniffe ver Talmudiſten FFC VIII ö Inhalt. Behrens, Dr. W. J., Methodiſches, Lehrbuch der genen Botanik. Sachs, K., Aus den Llanos. 58 ME. © Lauth, Dr. J. F., Aus Egyptens Vorzelt m Dodel-Port, Dr. A., Illuſtrirtes Pflanzenleben. Hauck, Prof. Dr. Guido, Die ſubjektive Perſpektive und bie G9 Kurvaturen des doriſchen Stils. (Von Prof. Dr. S. Günther). Magnus, Dr. H., Unterſuchungen über den Farbenſinn der Naturvölker . Manitius, Dr. J. A., Die Sprachenwelt in ihrem e en Entwicklungsgange zur Humanität A 5 Schultze, Dr. M., Kinnorlieder . Wallace, Alfr. R., Die Tropenwelt Roskoff, Das Religionsweſen der roheſten Naturvölker Caneſtrini, Giov, La Teoria di Darwin Tape Andersſon, Aur., Die Theorie vom Maſſendruck aus de ee (Bon Prof. Dr. S. Günther) Ecker, Al., Lorenz Oken. Eine biographiſche Stizze Bilharz, Dr. Alf., Der heliozentriſche Standpunkt der Weltbetrachtung. (Von Prof. Dr. S. Günther) . Enzyklopädie der Naturwiſſenſchaften. N a Schultze, Prof. Dr. Fr., 95 e des Kindes 5 Taſchenberg, Prof. Dr. E. L., Praktiſche Inſektenkunde . Meyers Deutſches Jahrbuch für die politiſche 5 85 und die Kultur⸗ fortſchritte der Gegenwart . Re . Reichenau, W. v., Die Neſter und Eier En Vögel 5 Leclair, Dr. A. v., Der Realismus der modernen Rating (Lon Prof. Dr. S. Günther) f | Seboth, Graf und Petraſch, Die Albenpflazen t . Über die Eutſtehung der Arten durch Abſonderung. Von nter dem Titel „Die Dar— win'ſche Theorie und das Migrationsgeſetz der Or— J ganismen“ erſchien 1868 eine kleine Schrift, welche den hochbedeutſamen Einfluß der Wan— derungen und iſolirten Kolonien auf die Bildung der Arten nachzuweiſen ver— ſuchte. Die vom Verfaſſer gezogenen Schlüſſe ſtützten ſich teilweiſe auf eigene Erfahrungen und Beobachtungen, welche meiſt an ausnehmend günſtigen und für die Frage der Artbildung höchſt lehr— reichen Lokalitäten angeſtellt wurden. Zum größeren Teil aber waren die der geographiſchen Verbreitung der Organis— men entnommenen Thatſachen dieſer Schrift bereits hinreichend bekannt, doch nach des Verfaſſers Anſicht von Darwin und den Anhängern ſeiner Lehre in un— genügender Weiſe beachtet, gedeutet und verwertet worden. Keine andere natur— wiſſenſchaftliche Disciplin ſcheint mir BETZ PN 5 Moritz Wagner. aber in Bezug auf die wirklichen Vorgänge bei dem Bildungsprozeß der Arten deutlichere Fingerzeige zu geben als die Chorologie der Organismen, d. h. die Lehre aller in das Gebiet der Tier— und Pflanzengeographie einſchlagenden Erſcheinungen. Wenn die genannte Schrift unter den Fachmännern mehr Widerſpruch als Zuſtimmung fand, ſo lag — ganz ab— geſehen von der Oppoſition, welcher jede neue Anſicht begegnet, die einen noch nicht genügend aufgeklärten Naturprozeß in einer von den herrſchenden Anſchau— ungen abweichenden Weiſe zu erklären verſucht — die Schuld wohl an einem Grundfehler der Schrift. Der Verfaſſer machte damals den falſchen Verſuch, die Migrationstheorie mit der Darwin'ſchen Zuchtwahllehre zu kombiniren, während doch beide Theorieen in einem Haupt— punkt, nämlich bezüglich der zwingenden mechaniſchen Urſache, durch welche jeder Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. „ 1 2 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. neue Formenkreis ſich bilden muß, be— trächtlicher von einander abweichen, als es bei oberflächlicher Betrachtung er— ſcheint. Der ſcharfſinnige Zoologe Auguſt Weismann hatte dieſen Fehler auch gleich von Anfang an richtig erkannt, und ich bin ihm dafür aufrichtigen Dank ſchuldig. Zwar hat Weismann zugleich einen Verſuch gemacht, das Migrations— geſetz zu widerlegen, doch wohl nur wegen deſſen damaliger ungenügenden Begründung und mangelhaften Faſſung. Dieſer geiſtvolle Forſcher ging von einer falſchen Vorausſetzung aus, deren Irr— tum er ſeitdem ſelbſt erkannt zu haben ſcheint. Weismann's Hauptargument gegen die Migrationstheorie ſtützte ſich bekannt— lich auf die foſſilen Planorbiden in dem für die Abſtammungslehre ſo inſtruktiven und durch die Unterſuchungen Dr. Hilgen— dorf's und deſſen wiſſenſchaftlichen Streit mit Profeſſor Sandberger berühmt ge— wordenen Thal von Steinheim in Württem— berg, welches Weismann leider niemals ſelbſt unterſucht hat. Daß die dortigen geognoſtiſchen Verhältniſſe ebenſo wie die morphologiſchen Veränderungen der tertiären Planorbis multiformis bei un— befangener Prüfung zwar der Lamarck— Darwinſchen Descendenztheorie eine ſtarke Stütze bieten, aber ebenſo beſtimmt einer Entſtehung der Formen durch Zuchtwahl im Kampfe ums Daſein widerſprechen, dies glaube ich in den von mir 1877 pu— blizirten „Naturwiſſenſchaftlichen Streit— fragen“ genügend bewieſen zu haben.“) ) Vgl. Kosmos Bd. II, S. 265 u. Bd. V, 10 ff. 05 — Gegen meine Deutung der Verhält— niſſe des Steinheimer Thales und der Geſtaltveränderungen ſeiner für die Ent— wicklungstheorie jo hochwichtigen miocänen Planorbiden wurde von den Darwiniſten keine Einſprache erhoben. Selbſt Herr Georg Seidlitz machte bei der deut— ſchen Naturforſcherverſammlung zu Mün— chen 1877 dem Verfaſſer mündlich das Zugeſtändnis: daß er eine der Darwin— ſchen Zuchtlehre günſtige Deutung der Formveränderungen bei den Steinheimer Planorbiden nicht zu geben vermöge. Hätten ſcharfſinnige Naturforſcher wie Weismann, Haeckel, Nägeli, welche als eifrige Anhänger der Zuchtwahllehre die Migrationstheorie bekämpften, Ge— legenheit gehabt, als Beobachter und Sammler andere beſonders wichtige Län— der und Lokalitäten zu durchforſchen, wo an dem Vorkommen der lebenden en— demiſchen Arten die Formbildung als einfache Wirkung der räumlichen Ab— ſonderung mit überzeugender Klarheit ſich offenbart, ſie würden wahrſcheinlich gleichfalls eine von der Darwinſchen Se— lektionstheorie abweichende Auffaſſung des artbildenden Prozeſſes gewonnen haben. Solche höchſt inſtruktive Areale, welche in Mitteleuropa fehlen, zeigen uns ſämmt— liche ozeaniſche Archipele und mitunter ſelbſt die Inſelgruppen eines geſchloſſenen Meeres wie der griechiſche Archipel. Hier hat der erfahrene Malakologe Dr. Böttger auf jeder einzelnen Inſel eine eigentüm— liche Clauſilienform, alſo der Sonderungs— theorie günſtige ähnliche Fakta nachge— wieſen, wie ſie ſchon früher Gulick in noch weit großartigerer Weiſe an dem Vor— kommen der Achatinellen auf den Sandwich— inſeln, wie ſie Trubelle an denheliceen der Ai 1 uf p 8 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 8 Azoren und kanariſchen Inſeln, und Cleſſin ſelbſt an einigen Süßwaſſermollusken der bairiſchen Seen nachgewieſen hat. Die inſelartig zerſtreuten Dafen der Sahara, die iſolirten Andeſitkoloſſe im Hochland von Quito, die getrennten Vulkangruppen Armeniens und wahrſcheinlich alle ähn— lich geformten iſolirten Berggruppen zei— gen uns aber durchaus analoge Thatſachen: d. h. endemiſche, eng— begrenzte Speziesformen und kon— ſtante lokale Varietäten in über— raſchend großer Zahl. Selbſt ein ſo begeiſterter Ultra— Darwiniſt wie Georg Seidlitz würde, wenn er die dortigen Vorkommniſſe mit eigenen Augen beobachtet hätte, durch die bedeutſamen Thatſachen, die dort für die formbildende Wirkung der räumlichen Ab— ſonderung ohne jede weſentliche Mit— beteiligung eines Konkurrenzkampfes ein ſo beſtimmtes Zeugnis ablegen, vielleicht zu einer richtigeren Auffaſſung des Pro— zeſſes der Artbildung gedrängt worden ſein. Er würde nicht einer hypotheti— ſchen Zuchtwahl, von der bei den en— demiſchen inſularen Formen keine Spur zu erkennen iſt, Wirkungen zuſchreiben, für welche die Iſolirung eine viel ein— fachere und natürlichere Erklärung giebt. Die zahlreichen endemiſchen Formen der Inſeln, Oaſen, iſolirten Vulkangruppen u. ſ. w. hatten gewiß keine andere Ent— ſtehungsurſache als z. B. der Lepus Huxleyi auf der Inſel Porto Santo, der ein thatſächliches Produkt der Iſo— lirung iſt, oder das europäiſche Meer— ſchweinchen, welches durch einfache Ver— ſetzung einer braſilianiſchen Cavia aperea nach Südeuropa entſtanden iſt, oder die neue Nachtfalterart der Gattung Sa— turnia, welche aus der Verſetzung einiger Puppen der Saturnia luna von Texas nach der Schweiz ſprungweiſe ſich bildete. Eine Wiederholung ähnlicher Verſuche mit räumlicher Abſonderung variabler Arten, wie ſie der ſchweizeriſche Entomo— loge Boll mit dem erwähnten texani⸗ ſchen Nachtfalter gemacht, könnte ſolche Beiſpiele gewiß zu tauſenden vermehren. Wo ſind neben ſolchen direkten Beweiſen von Entſtehung neuer Spezies durch Iſo— lirung die Beweiſe einer Artbildung durch Zuchtwahl im Kampfe ums Daſein gegen— über der abſorbirenden Wirkung der freien Kreuzung? Die gänzlich negativen Re— ſultate in unſern botaniſchen Gärten, wo niemals in den mit Individuen einer gleichen Art bepflanzten Beeten — wie z. B. der Gattung Hieracium im bo— taniſchen Garten zu München — eine individuelle Varietät zur Entſtehung einer konſtanten neuen Form führte, liefern vielmehr einen ſchlagenden Gegen— beweis. Je länger und eingehender ich die einzelnen Vorkommniſſe der geographi— ſchen Verbreitung aller nächſtverwandten Arten der formenreichſten Typen des Tier- und Pflanzenreiches, ſowie der lo— kalen Varietäten auf Kontinenten und Inſeln ſtudirte und je unbefangener ich meine eigenen vieljährigen Wahrnehmun— gen als Sammler damit vergleichend prüfte, deſto beſtimmter gewann ich die tiefe Überzeugung: daß die durch aktive und paſſive Migration in der Natur ſtattfindende räumliche Abſonderung nicht nur für die geographiſche Verteilung der Formengruppen, wie ſie thatſächlich beſteht, ſondern auch für die geheimnis— volle Urſache ihrer Entſtehung ſelbſt eine 4 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. einfachere und höchſt wahrſcheinlich rich— tigere Erklärung biete, als die Darwin— ſche Lehre von einer „natural selection“ im „struggle for life“. Die ganze Geſchichte der Natur— wiſſenſchaft beſtätigt die alte Erfah— rung: daß die nächſtliegenden und ein— fachſten Vorgänge in der Natur meiſt am ſpäteſten erkannt, am ſchwerſten ganz verſtanden werden. Dieſelbe lehrt auch, daß die große Mehrzahl der Forſcher gegen jede neue Theorie oder Hypotheſe, auch wenn ſie von guten Gründen und Thatſachen unterſtützt wird, gewöhnlich ſkeptiſch und ablehnend ſich verhält, ſo— bald dieſelbe einen feſtgewurzelten Irr— tum aufzudecken verſucht oder eine herr— ſchende Theorie, wenn nicht beſeitigt, doch weſentlich berichtigt. Der Schreiber dieſer Zeilen war daher auch wohl darauf ge— faßt, daß beſonders die eifrigen Anhän— ger der in vielfacher Beziehung ſo an— ziehenden und beſtechenden Selektions— theorie ſich am ſtärkſten gegen jede von ihr abweichende Auffaſſung der Vorgänge der Formbildung ſträuben würden, auch wenn ſie einige Berechtigung der auf Thatſachen ſich ſtützenden Gründe und Schlüſſe nicht ganz zu beſtreiten ver— möchten. f Da ſich in die wiſſenſchaftliche Po— lemik hierüber ſchon vor Jahren einige Mißverſtändniſſe eingeſchlichen, will ich verſuchen, die beiden Theorien in mög— lichſt gedrängter Form hier nebeneinander darzulegen, und bitte zugleich um gütige Nachſicht, wenn ich wiederhole. Vielen Bekanntes Jeder aufmerkſame Leſer, der meine ſeit 1875 in verſchiedenen Zeit— ſchriften publizirten Aufſätze nicht kennt, wird dadurch wenigſtens in den Stand dividuelle geſetzt, den weſentlichen Unterſchied, der zwiſchen den beiden Auffaſſungen des formbildenden Prozeſſes beſteht, klar zu erkennen und ſeine Meinung in dieſer Streitfrage ſich ſelbſt zu bilden. Beide Theorien, die Zuchtwahllehre wie die Abſonderungstheorie, haben nur die beiden Grundurſachen oder, richtiger geſagt, die Grundbedingungen der Art— bildung mit einander gemein, nämlich die individuelle Variabilität und die Ver— erbungsfähigkeit neuer Merkmale. Dieſe beiden Ausgangspunkte des Prozeſſes der Formbildung dürfen nicht mit der zwin— genden mechaniſchen Urſache der Ent— ſtehung neuer Arten und konſtanter Va- rietäten verwechſelt werden. Aus dieſen zwei erſten Faktoren, ohne welche die Artbildung überhaupt unmöglich wäre, würde in der Natur ebenſo wenig eine neue Spezies wirklich hervorgehen, wie aus dem bloßen Daſein von Männchen und Weibchen im Thierreich ein neues Individuum entſtehen könnte, wenn der Zeugungsakt nicht dazu käme. Die in— Variabilität und die Ver— erbungsfähigkeit perſönlicher Merkmale ſind in ihrer formbildenden Wirkſamkeit teils durch den abſorbirenden Einfluß der Kreuzung, teils durch gleiche Lebens— bedingungen im gleichen Wohngebiet der Art gebunden. In den letzteren beiden Faktoren liegt ein konſervatives, die Er— haltung der Speziesform begünſtigendes Moment. Ein anderer Faktor, eine trei— bende und zwingende mechaniſche Urſache, muß im Naturleben eingreifen, um gegen dieſes konſervative Moment zu reagiren und die Entſtehung neuer Arten that— ſächlich zu bewirken. Nach der Darwinſchen Selektions— Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 5 theorie tritt die Wirkung dieſer Urſache in Thätigkeit mit dem Erſcheinen günſtig variirender Individuen, deren morpho— logiſche Abweichungen vom normalen Typus der Stammart entweder, wie in den meiſten Fällen, angeborene oder erworbene, d. h. durch äußere Einflüſſe hervorgebracht ſind. Dieſe vorteilhafter organiſirten individuellen Varietäten ha— ben bei der Konkurrenz mit den nor— malen Individuen der gleichen Art die Tendenz und Fähigkeit, ſich ſtärker als dieſe zu vermehren und ſie allmählich entweder lebensunfähig zu machen oder zu verdrängen und zu erſetzen. Der thätige Hauptfaktor in dieſem Prozeß iſt der Kampf ums Daſein, welcher gerade zwiſchen den Individuen der gleichen Art am intenſivſten herrſchen muß. Dieſen artbildenden Prozeß kann man ſich nur ſo lange unterbrochen den— ken, als nicht einzelne vorteilhaft ab— weichende Variationen auftreten. Da aber die Entſtehung derſelben in den meiſten Fällen aus uns noch unbekannten inne— ren (phyſiologiſchen) Urſachen erfolgt und, wie Darwin, Huxley und die meiſten überzeugten Anhänger der Evolu— tionstheorie ausdrücklich zugeben, von den äußeren Verhältniſſen völlig unab— hängig iſt, ſo muß das Auftreten folder ſpontaner Varietäten auch zu allen Zeiten möglich ſein und kommt auch thatſächlich oft genug in einzelnen Individuen vor. Lange dauernde Ruhe— perioden, während welcher die artbildende Thätigkeit völlig ſuspendirt ſein ſoll, wie Seidlitz ſich dieſelben irrigerweiſe denkt, ſind daher mit dem ganzen Weſen der Selektionstheorie im entſchiedenſten Widerſpruch und gerade vom Stand— punkt des konſequenten Darwinismus völlig unannehmbar. Das Geſetz der Artbildung nach der Separationstheorie dagegen lautet wie folgt: Jede fonftante neue Form (Art oder Varietät) beginnt ihre Bil- dung mit der Iſolirung einzelner Emigranten, welche vom Wohn— gebiet einer noch im Stadium der Variabilität ſtehenden Stammart dauernd ausſcheiden. Die wirk— ſamen Faktoren dieſes Prozeſſes ſind: 1) Anpaſſung der eingewan— derten Koloniſten an die äußeren Lebensbedingungen (Nahrung, Klima, Bodenbeſchaffenheit, Kon— kurrenz) eines neuen Standorts. 2) Ausprägung und Entwicklung individueller Merkmale der erſten Koloniſten in deren Nachkommen beiblutverwandter Fortpflanzung. Dieſer formbildende Prozeß ſchließt ab, ſobald bei ſtarker In— dividuenvermehrung die nivelli— rende und kompenſirende Wirkung der Maſſenkreuzung ſich geltend macht und diejenige Gleichförmig— keit hervorbringt und erhält, welche jede gute Spezies oder konſtante Varietät charakteriſirt. In größter Kürze geſagt: nach der Selektionstheorie iſt der Kampf ums Daſein, nach der Separa— tionstheorie die räumliche Abſon— derung die nächſte zwingende Ur— ſache der Artbildung. Da der Lebenskampf bekanntlich am intenſivſten zwiſchen den Individuen der gleichen Art ſtattfindet, ſo müßte ſeine formbildende Wirkung in der Regel am 6 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. ſtärkſten an Punkten zu erkennen ſein, wo dieſe Individuen am dichteſten bei— ſammen wohnen, alſo gewöhnlich nahe dem Mittelpunkt des Verbreitungsgebietes der Art. Alle Thatſachen der Tier— und Pflanzengeographie ſprechen auf das Entſchiedenſte dagegen. räumliche Sonderung durch aktive oder paſſive Emigration einzelner Individuen entzieht hingegen dieſe Emi— gration der Konkurrenz mit ihren Art— genoſſen. Dieſe getrennt vom Wohn— gebiet der Stammart entſtehenden Neu— bildungen finden daher ſtets bei einer weſentlichen Minderung und Abſchwächung des Kampfes ums Daſein ſtatt. Die Thatſachen der Tier- und Pflan— zengeographie, die ſehr beträcht— liche Trennung der Entſtehungs— centren aller vikariirenden Arten und Varietäten, die kettenförmige Anordnung ihrer Wohngebiete, die ſtarke Abweichung ihrer Ver— breitungsgrenzen —all' dieſe hoch— bedeutſamen Faktader Verbreitung der Organismen geben ein beredtes Zeugnis für die Richtigkeit dieſer Behauptung. Beide Theorien der Artbildung ſind bei ſo tiefer Grundverſchiedenheit in der Auffaſſung der zwingenden mechaniſchen Urſache kaum vereinbar, wenn ſie auch, wie ich ſchon oben bemerkte, die beiden Grundurſachen, die individuelle Varia— tionsfähigkeit und die Vererbungsfähig— keit neuer perſönlicher Merkmale mit einander gemein haben. Gegen die Darwinſche Zuchtwahl— lehre wurde unter verſchiedenen gewicht— vollen Einwänden und Bedenken beſon— ders ein Haupteinwand geltend gemacht, Die welcher von den Anhängern der Selek— tionstheorie niemals widerlegt worden iſt. Der Botaniker Wigand hat mit Recht bemerkt, daß dieſer Einwand zur Widerlegung der Selektionstheorie allein ſchon hinreichen könnte. Die abſorbirende und kompenſirende Wirkung der Kreuzung macht unter den geſchlechtlich differenzirten Organismen und unter den zahlreichen Zwittern, die ſich gegenſeitig befruchten, neue konſtante Formbildungen im gleichen Wohn— gebiet unmöglich. Jedes neue mor— phologiſche Merkmal, auch wenn es dem Träger entſchieden vorteilhaft iſt, wird durch die freie Kreuzung mit normalen Individuen wieder reduzirt und in die normale Speziesform zurückgedrängt. Bei unbeſchränkter Kreuzung muß die große Individuenzahl ſtets die Siegerin über die kleine bleiben. Alle Erfahrungen der künſtlichen Züchtung, ſowohl von Seite der Bota— niker, wie der Zoologen, haben den un— umſtößlichen Beweis geliefert: daß be— ginnende Varietäten, welche nicht durch räumliche Abſonderung gegen die normale Individuenmaſſe der Stammart geſchützt ſind, der abſorbirenden Wirkung der Kreuzung verfallen. Keine neue Raſſe von domeſtizirten Tieren und Pflanzen kann, wie durch viele Verſuche, am ſchlagendſten und beſtimmteſten von den Botanikern Koelreuter und Gärtner, erwieſen wurde, ohne künſtliche Abſonderung diſtinkt und konſtant erhalten werden. Individuelle Varietäten, auch mehr oder minder vorteilhafte, kommen bei allen Pflanzen- und Tierarten im freien Naturleben faſt unausgeſetzt vor. Unter den häufigſten Pflanzen unſerer Ebenen | WTV ae Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 7 und Gebirge wird man immer einzelne Exemplare finden, welche durch Höhe des Stengels, Form des Blattes, Größe oder intenſivere Farbe der Blüte ſich ein wenig von den normalen Individuen unterſcheiden und auszeichnen. Man könnte wohl annehmen, daß ſolche indi— viduelle Merkmale, wie z. B. große und kräftiger gefärbte Blüten, welche die Inſekten ſtärker anziehen und die Ver— breitung des Pollens begünſtigen, ihren Trägern Vorteil bringen und ſie ſtärker vermehren müßten. Da aber die freie Kreuzung mit normalen Artgenoſſen dieſe Merkmale ſchon in den folgenden Gene— rationen wieder verkleinert, vermindert und abſchwächt, ſo verſchwinden ſolche individuelle Abweichungen auch immer wieder, ohne eine neue konſtante Form zu hinterlaſſen, ohne eine Spezies aus— zuprägen. Unter den Tierarten unſerer Wald— und Steppenfauna wird man ebenſo oft einzelne Individuen beobachten können, welche in Form oder Farbe ſehr kleine individuelle Differenzen zeigen. Manche Haſen, Hirſche, Wölfe haben Beine, welche um einige Linien länger als die gewöhnlichen ſind und ihnen bei der Flucht oder Verfolgung nur Vorteil bringen könnten. Aber der Vorteil vererbt ſich niemals durch eine Reihe von Genera— tionen, da ihn jede Kreuzung mit der überwiegenden Zahl der gewöhnlichen Artgenoſſen abſchwächt. Man kennt wohl Gebirgswölfe mit etwas längeren Beinen als die der Ebene, aber ſie ſind auf eine beſtimmte, abgegrenzte Gebirgs— lokalität in ihrem Vorkommen beſchränkt und daher offenbar Produkte der Ab— ſonderung und nicht der Zuchtwahl, denn unter den Steppenwölfen mit weiter | | | | zuſammenhängender Verbreitung kommt dieſe Abart nicht vor. Wo aber eine neue Wolfsart auftritt, wie z. B. in den argentiniſchen Pampas, in Patago— nien, auf den Falklandsinſeln u. ſ. w. deuten die trennenden Schranken durch Meere oder große räumliche Entfernung ſtets auf die Abſonderung als wirkende Urſache, nicht auf eine Entſtehung durch Selektion. In der großen Mehrzahl der Fälle ſind die vikariirenden Formen entweder räumlich getrennt oder ſie berühren ſich bei gemeinſchaftlichem Vorkommen nur ſporadiſch an einzelnen Lokalitäten und meiſt nur an den äußer— ſten Grenzen ihrer Wohngebiete. Gegen die nivellirende Wirkung der „Kreuzung, die jedes perſönliche Merkmal einzelner Varietäten in ihren Nachkommen reduzirt und ausjätet, iſt daher eine Steigerung und Fortentwicklung morpho— logiſcher Merkmale im gleichen Wohn— gebiet neben der Mutterform einfach un— möglich und ihre Entſtehung iſt auch weder in der freien Natur noch im do— meſtizirten Zuſtand bei ungehinderter Kreuzung jemals beobachtet worden. Wenn auch zahlreiche Fälle von geſelligem Vorkommen nächſtverwandter Arten und Varietäten bei Pflanzen und Tieren un— beſtritten exiſtiren, ſo beweiſen ſie doch durchaus nicht, daß dieſelben am gleichen Standort entſtanden ſind, ſondern im Gegenteil liefert die Beobachtung der meiſt ſehr abweichenden Grenzen ihrer Verbreitungsgebiete ſtarke Wahr— ſcheinlichkeitsgründe für die iſolirte lokale Entſtehung an nahe gelegenen, ſporadiſch abgeſonderten oder wenigſtens früher getrennten Standorten, welche erſt in 8 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. Folge der Individuenvermehrung und Verbreitung wieder aufhörten, iſolirt zu ſein. Ungenügende Dauer der Abſon— derung bringt im günſtigſten Fall ſchlechte Arten hervor, d. h. Spezies mit ſchwan— kenden Merkmalen und zahlreichen Über— gängen, wie ſie thatſächlich bei vielen Alpenpflanzen, z. B. der Gattung Hie- racium, auftreten. Einen ſtarken Gegenbeweis gegen die Naturzüchtung durch den Kampf ums Daſein haben die mißglückten Verſuche einer Raſſenverbeſſerung der freiweiden— den halbwilden Rinder und Pferde in den Pampas der argentiniſchen Staaten, in den Llanos von Venezuela, in den Savannen der Provinzen Guanacaſte und Chiriqui in Centralamerika, ebenſo wie in den ſüdruſſiſchen Steppen geliefert.“ Die Beſitzer dieſer frei weidenden Heerden hatten gehofft, durch Einfuhr einer ge— ringen Zahl ſtarker Stiere aus Anda— luſien, kräftiger Hengſte aus England, der Berberei, Arabien, den turkomaniſchen Steppen u. ſ. w., die Raſſe zu veredeln. Die Reſultate haben den ſchlagenden Beweis geliefert, daß eine kleine Zahl von Individuen, wenn dieſe auch höchſt vorteilhaft konſtituirt und ihren Mit— bewerbern an Kraft weit überlegen ſind, bei freier Kreuzung gegen die Individuen— maſſe des gewöhnlichen Schlages keine nachhaltige Verbeſſerung oder Verände— rung der Raſſe hervorzubringen vermag. Der Kampf ums Daſein hätte in den ausgedehnten Steppen der genannten Länder, wo die frei weidenden Tiere in ganz natürlichen Verhältniſſen ſich befin— den, eine ausgezeichnete Gelegenheit ge— habt, ſeine Macht zu erproben. Er hat ſich aber, obwohl durch eine Ausleſe höchſt ausgezeichneter Prachtexemplare unterſtützt, gänzlich unfähig erwieſen, formbildend zu wirken. Eine natür— liche Zuchtwahl hat thatſächlich nicht ſtattgefunden, obwohl ihr die beſten Mittel dazu geboten waren. 5 Bei den niederſten Organismen, welche durch Teilung oder Knoſpenbildung ſich fortpflanzen, bei denen alſo keine Kreu— zung ſtattfindet, genügt die Gleichheit der Lebensbedingungen, beſonders eine annähernde Gleichheit der Nahrungsver— hältniſſe in demſelben Wohnbezirk, um die Gleichförmigkeit der Spezies zu erhal— ten und zu befeſtigen. riabilität und Mobilität, maſſenhaftes gedrängtes Beiſammenwohnen begünſtigen bei den niederen Organismen dieſe kon— ſervative Tendenz der Natur zur Erhal— tung der Spezies. Einzelne Varietäten, welche durch zufällige örtliche Verhält— niſſe einer Nahrungsbegünſtigung im Verbreitungsbezirk der Stammart ſich bilden können, verſchwinden wieder, wenn dieſe Nahrungsbegünſtigung nicht lange Zeit fortdauert, was im gleichen Wohn— bezirk bei großer Individuenzahl undenk— bar iſt. Auch bei den niederſten Orga— nismen vermag daher nur die räumliche Abſonderung weniger Individuen eine längere Dauer dieſes Nahrungsvorteils zu ſichern und damit konſtante Neubildungen herbeizuführen. Der Lebenskampf, der Kampf um Raum, Nahrung und Fortpflanzung kann und muß aber allerdings in zahlreichen Fällen den erſten Anſtoß zur aktiven Migration, zur räumlichen Ausſcheidung einzelner Individuen geben. Sein Ein— fluß auf die Artbildung iſt aber dann Geringere Va- Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. immer nur ein indirekter und in den meiſten Fällen, ja in allen Fällen der paſſiven Migration, vollzieht ſich die iſolirte Kolonienbildung ohne dieſen An— ſtoß. Der nächſtwirkſame Faktor bleibt in allen Fällen die Abſonderung. Wenn der Kampf ums Daſein im Haushalt der Natur raſtlos thätig iſt, Mißgeburten und Schwächliche auszujäten und ſelbſt günſtig abnorme Individuen im Tierreich durch die Verfolgung ihrer normalen Artgenoſſen zu vertilgen oder zur Auswanderung zu zwingen, ſo wirkt er thatſächlich für die Erhaltung, nicht für die Veränderung der normalen Speziesform im gleichen Wohngebiet. Selbſt an der Regulirung des relativen numeriſchen Individuen— beſtandes der verſchiedenen im gleichen Areal ſeßhaften Arten hat der Kampf ums Daſein einen weit geringeren An— teil, als ein anderer mächtigerer Faktor, der völlig ſelbſtſtändig neben ihm beſteht und deſſen Wirken nicht mit dem ſeinigen verwechſelt werden darf: das Altern der Art. Es iſt eine jetzt ziemlich allgemein angenommene Anſicht, daß die Arten ihre Jugend, ihr Mannesalter, ihr Grei— ſenthum haben und zuletzt aus Alters— ſchwäche ſterben, analog den Individuen. Das Seltenerwerden, das allmähliche Erlöſchen der Arten vollzieht ſich unter normalen Verhältniſſen durch ihre ab— nehmende Reproduktion und ſchwindende Widerſtandskraft gegen äußere Einflüſſe. Der Vertilgungsfaktor des Konkurrenz— kampfes mit anderen mitlebenden For— men kann das Erlöſchen ausſterbender Arten wohl häufig beſchleunigen, iſt aber niemals die Haupturſache ihres Ver— 9 ſchwindens, welches auch ohne dieſen Konkurrenzkampf von ſelbſt eintritt. Es wäre barer Unſinn zu behaupten, daß die zahlloſen Säugetiere der Tertiär— zeit, all die gewaltigen Rüſſelträger, Wie— derkäuer, Raubtiere u. ſ. w., die für ihre Lebensweiſe meiſt vortrefflich organiſirt waren, nur dem Konkurrenzkampf oder den klimatiſchen Veränderungen erlagen, da ſie doch damals, wo die menſchliche Kultur noch nicht ihre Wanderungen beſchränkte, volle Freizügigkeit hatten und das ihnen paſ— ſendſte Klima ſich wählen konnten. Sie erlagen einfach dem Geſetze der Zeit, weil ihre Form ſich ausgelebt hatte. Jede Art, wenn einmal durch genü— gende Dauer der Abſonderung vom Wohngebiet der Stammart fertig gebil— det, bleibt konſtant, d. h. ohne eine weſentliche äußere Geſtaltveränderung bis zu ihrem natürlichen Erlöſchen aus Altersſchwäche. Ihr Rückgang wird durch innere (phyſiologiſche) Veränderungen ein— geleitet und manifeſtirt ſich durch abneh— mende Individuenzahl, indem die Zahl der Geburten oder individuellen Neu— bildungen nicht mehr die Zahl der Sterbefälle deckt. Die durch Abſonde— rung entſtandene jüngere Art überlebt durchſchnittlich die Stammform, wie der Sohn den Vater, wie das Kind den Greis, nicht weil ſie äußerlich vorteil— hafter geſtaltet iſt, ſondern weil ſie die innere Jugend für ſich hat. Jede Neu— bildung der Form verleiht ihr auch neue Lebenskraft und der phylogenetiſche Pro— zeß der Typenbildung iſt auch in dieſer Beziehung der Ontogeneſis völlig analog. Die Zahl der Syſtematiker unter den Botanikern, Zoologen und Paläon— tologen, welche an der Anſicht einer Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 10 Moritz Wagner, Über die Entſte hung der Arten durch Abſonderung. gewiſſen Konſtanz der guten Art, eines konſervativen Prinzips in der Spezies— form, aus Erfahrung und Ueberzeugung feſthalten, iſt noch immer ziemlich groß und ich glaube, daß gerade ſie ein beſon— deres Intereſſe daran haben ſollten, ſich mit der Auffaſſung einer Entſtehung der Arten durch räumliche Abſonderung zu befreunden. Dieſelbe paßt in Wirklich— keit zur deseriptiven Syſtematik weit beſſer als die Selektionstheorie, nach welcher die Spezies in einem fortdauern— den Transmutationsprozeß entweder ſich wirklich befindet oder doch ſich befinden kann, denn jede zufällige Entſtehung abnormer, günſtig geſtalteter, individueller Varietäten müßte dieſen Umgeſtaltungs— prozeß in Fluß bringen und von einer morphologiſchen Konſtanz der Spezies, wie ſie die Syſtematik verlangt, könnte nicht die Rede ſein. Mit dem Begriff der morphologiſchen Konſtanz jeder fixir— ten Spezies gewinnt aber nicht nur der geſchloſſene Formenkreis, den wir Art nennen, ſondern auch die Syſtematik, die ihn beſchreibt, beträchtlich an Werth. Ich werde in den folgenden Auf- ſätzen eine Reihe von Thatſachen ſowohl aus dem fremdländiſchen, als aus un— ſern mitteleuropäiſchen Faunen anführen, welche bedeutſame Zeugniſſe für die Rich- tigkeit der Abſonderungslehre enthalten und von den Darwiniſten bisher fait unbeachtet geblieben ſind. Der große britiſche Forſcher ſelbſt hat in jüngſter Zeit der Separationstheorie eine nicht unbedeutende Konzeſſion gemacht, indem er ſeinen Irrtum einer Überſchätzung des Einfluſſes des Kampfes ums Daſein offen zugeſtand und nach aufmerkſamer Lektüre der unter dem Titel „Naturwiſſenſchaftliche Streitfragen“ erſchienenen Aufſätze an den Verfaſſer folgendes ſchrieb: „In my opinion the greatest error which I have committed has been not allowing sufficient weight to the direct action of the environment i. e. food, climate, etc. independently of natural selection. Modifications thus caused, which are neither of advantage or disadvantage to the modified organism, would be especially favoured, as I can now see chiefly through your observations by isolation in a small area, where only a few individuals lived under nearly uniform conditions. When I wrote the ‚origin of species‘ and for some years afterwards, I could find little good evidence of the the Now there is a large body of evidence and Your case of the Saturnia is direct ation of environment. one of the most remarkable of which I have heard.“ (Fortſetzung folgt.) Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. Ein botaniſcher Beitrag zum biogenetiſchen Grundgeſetz. Mit drei phototypiſchen Illuſtrationen. ie Ontogeneſis oder die Entwicklung des Indi— viduums iſt eine kurze und ſchnelle, durch die Geſetze der Vererbung | | | | und Anpaſſung bedingte Wieder- holung (Rekapitulation)der Phylo— geneſis oder der Entwicklung des zugehörigen Stammes, d. h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden Individuums bilden.“) So lautet das biogenetiſche Grund— geſetz, das in den zoologiſchen Kreiſen zu einer Popularität gelangte, wie dies bis heute in botaniſchen Kreiſen nicht in jener Ausdehnung der Fall war. Still— ſchweigend oder laut iſt das biogenetiſche Grundgeſetz allerdings auch von den meiſten namhaften Vertretern der bota— niſchen Biologie anerkannt worden; aber *) Häckel, Nat. Schöpf.⸗Geſch. 5. Aufl. p. 276. Von Dr. Arnold Dodel-Vort. zur eigentlichen Popularität gelangte es nicht, obſchon die wiſſenſchaftliche Bo— tanik, ſpeciell die vergleichende Entwick— lungsgeſchichte, für den Ausbau der Ab— ſtammungslehre während der letzten zwei Jahrzehnte ein wuchtiges und über— wältigendes Material abgegeben hat. Aber es fehlte bis zur Stunde in der Reihe botaniſcher Thatſachen, die als Belege für das biogenetiſche Grundgeſetz dienen, jenes einzige, ſo mächtige und überzeugende Moment, das den „Kiemen— bögen“ und „Kiemenſpalten“ des Säuge— tier⸗-Embryos an die Seite geſtellt wer— den könnte. Wohl könnte man in den als wahrhaftige Archegonien erkannten Corpuscula der Gymnoſpermen-Samen— knoſpe einen ebenſo gewichtigen und ebenſo wertvollen Beleg für die Wahr— heit des Häckelſchen Grundgeſetzes er— blicken; allein zur Populariſirung in den weiteſten Kreiſen eignet ſich dieſer botaniſche Beleg keineswegs in dem 12 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. Maße, wie die angeführten zoologiſchen Illuſtrationsobjekte. Und doch iſt ſehr zu wünſchen, daß es ſich die wiſſen— ſchaftliche Botanik angelegen ſein laſſe, in der Populariſirung des biogeneti— ſchen Grundgeſetzes an ihrer Stelle nicht hinter der Zoologie zurückzuſtehen. Es würde ſich auch lohnen, heute ſchon die diesbezüglichen frappanteſten Belege aus der botaniſchen Entwickelungs— geſchichte einmal in gemeinverſtändlicher Form zuſammenzuſtellen; vielleicht würde ſich dann herausſtellen, daß das dies— ſeitige Material im Ganzen und Großen dennoch ſehr zur Allgemeinverbreitung ge— eignet und wohl ebenſo überzeugend wäre, als es das zoologiſche Material für die Populariſirung des biogenetiſchen Grund— geſetzes ſchon längſt geweſen iſt und nochiſt. Im Sinne dieſer Anregung möge das Nachſtehende aufgenommen und von Berufenen einer Kritik unterzogen werden. Bei der Bearbeitung unſeres „ana— tomiſch-phyſiologiſchen Atlas der Botanik für Hoch- und Mittelfchulen” *) ſahen wir uns genötigt, die Entwickelungs— geſchichte des Farn-Prothalliums aus eigener Anſchauung kennen zu lernen, um die für unſer Tafelwerk unbedingt not— wendigen, kolorirten Originalzeichnungen zu gewinnen. Es wurden daher von uns im Winter 1878179 zahlreiche jün— gere und ältere Prothallien von Poly— podiaceen unterſucht, und verſchiedene Kulturen aus Sporen von Aspidium Filix mas gezüchtet. Die Originaltafel mit dem „Aspidium-Prothallium“ (Heft 3 unſeres Atlas) wurde denn auch im Verlauf des letzten Winters von *) J. F. Schreiber in Eßlingen 1878/79. meiner Mitarbeiterin, Frau Karolina Dodel-Port, hergeſtellt, indes ich das Unterſuchungsmaterial zur Kontrole weiter züchtete. Figur 5 der genannten Atlas— Tafel ſtellt ein Prothallium von As- pidium violascens Link dar, welches — obwohl längſt befruchtet und mit einer anſehnlichen jungen Farn— pflanze ausgeſtattet — völlig geſund und intakt war. Dieſes Prothallium wurde am 27. Dezember 1878 in Waſſer unter dem Deckglas unterſucht, am gleichen Tage mit Hülfe des Prismas gezeichnet und das Bild für die genannte Tafel firirt. Von jenem Tage an blieb das Prothallium ſammt der jungen Farn— pflanze unter dem Deckglas in Waſſer liegen und für längere Zeit in feuchter Kammer (unter einer Glasglocke) zur Dispoſition aufbewahrt. Am 3. Februar 1879, alſo nach 38⸗tägiger Überſchwemmung, gelangte dasſelbe Prothallium zu einer neuen Reviſion unter das Mikroſkop. Wie groß war mein Erſtaunen, das Unterſuchungs— objekt in einem Stadium anzutreffen, wie ich es hier, in Fig. 1 bei 13-facher Vergrößerung für das phototypiſche Cliché darzuſtellen verſuchte! Die junge Farn— pflanze (EW bis EB Fig. 1) war total abgeſtorben, alle Gewebe der Wurzel, der Stammanlage, des Fußes und des Blattes waren gebräunt und in Zerſetzung übergegangen; die leiſeſte Bewegung des Deckgläschens drohte alle dieſe Theile zu zerreißen. Auch am überſchwemmten Pro— thallium ſelbſt waren an verſchiedenen Stellen, hauptſächlich am hintern lälteſten) Teil der Mittelrippe, dann aber auch zu beiden Seiten auf der einſchichtigen Zell— fläche, ſowie am Rande größere und j Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. kleinere Gewebepartieen abgeſtorben (t, t, t); die Zellmembranen waren dort lebhaft braun gefärbt, die Plasmakörner verſchwunden oder in mißfarbigen Klum— pen beiſammen, während die benachbarten Zellen (in unſerer Figur alſo die nicht ſchraffirten Teile des Prothalliums) ganz normal, geſund ſchienen. Alle Rhizoide des Prothalliums dagegen waren abgeſtorben, ihre Inſertionsſtellen auf den Zellen des Mittelrippen-Polſters gebräunt und ſcharf konturirt. Einen überraſchenden, höchſt eigentümlichen An— blick boten dagegen die ca. 150 kon— fervenartigen Adventivſproſſe dar, die aus den verſchiedenſten geſunden Pro— thallium-Partieen ihren Urſprung nah— men. Der Anblick erſchien mir ſo befrem— dend, daß ich ſofort mit Hülfe des Pris— mas eine möglichſt genaue, 40-fach ver— größerte Zeichnung aufnahm und das ganze Bild zur genaueren und leichteren Orientirung am Mikroſkop ſelbſt mit den natürlichen Farben kolorirte. Die hier beigefügte Fig. 1 iſt möglichſt genau nach dieſem, vom 3. Februar 1879 da— tirten Bilde angefertigt. Alle abgeſtor— benen Teile des Prothalliums ſind dunkel ſchraffirt; auf den nicht ſchraffirten, ge— ſunden Teilen des Prothalliums wird der Leſer ohne Mühe die beiläufig 150 Ad— ventiv⸗Sproſſe (As As As) in ihrer natür— lichen Anordnung erkennen. Das Objekt blieb nun weitere Wo— chen und Monate unter demſelben Deck— glaſe in Waſſer liegen und wurde in der Folge von mir bis Ende März zur Gewinnung einer großen Zahl von mi— kroſkopiſchen Zeichnungen über die ver— ſchiedenen Entwickelungsſtufen der Ad— ventivſproſſe benützt. ſuchung weiter zu betreiben. 13 Das Auftreten der letzteren und ihre eigenartige Entwickelung veranlaßte mich zu einem Verſuch, ähnliche Erſcheinungen auch an andern Prothallien einzuleiten. Es wurden daher mehrere jüngere und ältere, befruchtete und unbefruchtete Pro— thallien von verſchiedenen Polypodiaceen aus den Gewächshäuſern des botaniſchen Gartens entnommen, in gleicher Weiſe überſchwemmt, und da meine Erwartun— gen nicht getäuſcht wurden, ward endlich eine große Zahl von geſunden Pro— thallien zum Teil im Waſſer unter Deck— gläſern, zum Teil freiliegend in einem Trinkglas weiter kultivirt; in allen Fällen mit gleichem Erfolg. Es zeigte ſich alſo, daß wir es hier— bei mit einer ganz regelmäßigen Er— ſcheinung zu thun haben, und es mußte ſich der Wunſch aufdrängen, dieſe ſon— derbare Thatſache weiter zu verfolgen. Mit dem Beginn des Sommerſemeſters, da ich wegen anderer Atlas-Blätter und wegen der Vorleſungen anderweitig voll— auf in Anſpruch genommen wurde, fehlte mir die Zeit und Ruhe, um die Unter— Da ſich einer meiner Schüler meldete, um ſich ein Thema zu einer ſelbſtändigen Arbeit zu erbitten und auf meinem mikroſkopiſchen Laboratorium zu arbeiten, ſo zögerte ich nicht, demſelben das damals vorhandene, ſehr intereſſante und reichhaltige Mate— rial (etliche Dutzend Prothallien mit Ad— ventivſproſſen) zur weiteren Unterſuchung einzuhändigen, um dort fortzuſetzen, wo ich aufgehört hatte. Da nun aber dieſer mein Nachfolger in der vorliegenden Aufgabe mit Ende des Sommerſemeſters von hier abging, ohne daß ich bis heute erfahren konnte, ob und wo derſelbe die . f 14 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Bolypodiaceen. diesbezüglichen Unterſuchungen fortſetzt, ſo erachte ich es als Pflicht, dieſe von mir bis Ende März 1879 gewonnenen und gewiß nicht bedeutungsloſen Re— Aspidium violascens Link. Fig. 1. Altes Prothallium mit der jungen beblätterten Farn— pflanze nebſt 150 protonematiſchen Adventiv- prothallien. Vergr. 13. Fig 2. Zwei protonematiſche Adventivprothallien, von demſelben Objekt wie Fig. 1, aber 1½ Monat älter. Vergr. 40. (Gez. 5. Febr. u. 25. März 1879.) ſultate hier niederzulegen, da ich über— punkte für eine Reihe weiterer Unter— bBeugt bin, daß dieſelben als Ausgangs- ſuchungen dienen können. 2 Mi 2 , * —— Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 15 Ich brauche wohl nicht beſonders hervorzuheben, daß ich ſelbſtverſtändlich durchaus nur die Reſultate meiner eige— nen, nicht aber die Ergebniſſe der unter meiner Leitung von dem erwähnten Schüler angeſtellten Beobachtungen hier mitteile. Zunächſt iſt hervorzuheben, daß unſer in Fig. 1 dargeſtelltes Prothallium von Aspidium violascens unter dem Deck— glas auf dem Rücken lag; die abgeſtorbe— nen Archegonien und Antheridien, ſowie der auf der Unterſeite vorſpringende Ge— webewulſt der Mittelrippe und die hier entſpringenden Rhizoiden des Prothal— lliums ſind alſo aufwärts gerichtet. An dem gegen den Scheitel S abfallenden Vorder— rand des Gewebewulſtes der Mittelrippe ſehen wir eine größere Anzahl der ober— flächlichen geſunden Prothalliumzellen in halbkugelige bis keulenförmige Papillen ausgewachſen. Dies ſind die erſten An— fänge protonematiſcher Adventivſproſſe, welche mit ihrem Fuß auf der Pro— thalliumzelle ſtehen, aus welcher ſie je ihren Urſprung nehmen, ohne durch eine Querwand gegen dieſelbe abgegrenzt zu ſein. Derartige papillenartige, intenſiv grün gefärbte Sproßanfänge ſehen wir auch auf den beiden ſeitlichen Lappen des Mutterprothalliums, rechts und links vom Scheitel 8, ſowie zerſtreut auf den hinteren Theilen, ſtellenweiſe am Rand und in unmittelbarer Nähe der abge— ſtorbenen Prothalliumſtücke. Etwas weiter entwickelt ſind die Adventivſproſſe auf der Fläche des rechten Flügels. Dort ſind manche Sproſſe zu fädigen, kon— fervenartigen Gebilden herangewachſen, die aus 2, 3, 4 und mehr Zellen beſtehen. In allen Fällen iſt die Scheitel— ziger zelle des Fadens am reichlichſten mit Chlorophyll ausgeſtattet; dort treffen wir auch in der Regel einen großen Zellkern, den wir in den unteren, meiſt längeren und oft unregelmäßig gekrümm— ten und ausgebuchteten Zellen manchmal umſonſt ſuchen. Das chlorophyllhaltige, wie das farbloſe Plasma wandert aus den älteren Protonema-Teilen in der Regel gegen den Scheitel des Fadens. An den hinterſten Teilen der beiden Seitenlappen des Mutterprothalliums ſehen wir die protonematiſchen Adventivſproſſe bereits zu beträchtlich langen Fäden heran— gewachſen, die zum Teil ſchon aus mehr als 4 Zellen beſtehen. Auffallend iſt der Umſtand, daß der unterſte, alſo älteſte Teil eines ſolchen fädigen Vor— keimes ſich niemals durch eine Querwand von der mütterlichen Zelle abgrenzt, aus welcher der Faden entſpringt. Der Fuß des Protonemas iſt alſo im eigentlichſten Sinne des Wortes ein Teil des mütter— lichen Prothalliums, was namentlich an Fig. 2 und Fig. 3, B, D, E, F und G deutlich wird. In dem Stadium, das durch Fig. 1 repräſentirt wird, zeigte noch kein ein— von den 150 Adventivſproſſen irgend eine Verzweigung. Im Verlauf der folgenden zwei Monate wuchſen dieſe Gebilde jedoch zu beträchtlicherer Größe heran und bekundeten eine große Nei— gung zu ſeitlicher Verzweigung, wie Fig. 2 und 3 zeigen. Auch treten vielerorts Rhizoide (h rh rh. Fig. 2 und 3) auf, die ſich ſchon in ihrer früheſten Anlage durch Querwände gegen die Protonemazellen abgrenzten, aus denen ſie entſprangen. In vielen Fällen entwickelten ſich die Rhizoiden nicht 16 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. weiter, ſondern blieben auf dem Stadium Ich habe dieſelben mit Rückſicht auf einer kleinen farbloſen Papille ſtehen. chronologiſche Folge und Differenzirung Von den zahlreichen weiteren Ent- alphabetiſch mit A, B bis K bezeichnet. wicklungsſtadien, die ich in vielen ſtark Indem ich auf die betreffende Figur vergrößerten Figuren fixirt habe, ſtellte verweiſe, will ich verſuchen, in Kürze das ich in Fig. 3 die am meiſten charak- weitere Schickſal jener 150 Adventiv- teeriſtiſchen und lehrreichſten zuſammen. ſproſſe zu ſkizziren. II a Fig. 3. Adventivprothallien aus einem alten überſchwemmten Prothallium von Aspidium violascens. Nach der Natur gezeichnet von Arnold Dodel-Port, Februar und März 1879. B, C, D und E aus Randzellen des mütterlichen Prothalliums entſpringend. A, F, G, H, J, K aus Flächenzellen des mütterlichen Prothalliums hervorgehend. Vergrößerung 80: 1. Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 17 In A Fig. 3 erkennen wir den Anfang eines Adventivſproſſes, der aus einer Flächenzelle des mütterlichen Pro— thalliums hervortritt. Er erweist ſich als papillenartige Erhöhung, die reichlich mit grünem Plasma erfüllt — über das Niveau des mütterlichen Pro— thalliums vorſpringt. In B derſelben Figur iſt eine Rand— zelle des mütterlichen Prothalliums zu einem keulenförmigen Adventivſproß aus— gewachſen, ohne daß bis zu dieſem Ent— wicklungsſtadium eine Querwand gebildet wurde. C it ein aus 9 Zellen beſtehender protonematiſcher Adventivſproß, deſſen oberſte Zellen ſich raſch nach einander geteilt haben, indes die unterſte, die ſogenannte Fußzelle, bereits ein zäpfchen— artiges Rhizoid gebildet hat; letzteres iſt durch eine Wand von der Fußzelle ab— gegrenzt. Gezeichnet am 12. Februar 1879, alſo 47 Tage nach eingetretener Überſchwemmung. D. Ein ausnehmend langes proto— nematiſches, unverzweigtes Adventivpro— thallium, das aus 15 chlorophyllhaltigen Zellen beſteht und wie kein anderer Ad— ventivſproß den konfervenartigen Cha— rakter beibehielt. Gez. am 25. März 1879, alſo beinahe drei Monate nach eingetretener Überſchwemmung. E. Ein kürzeres Adventivprothallium von gleichem Alter, dicht neben dem vorerwähnten (D) ſtehend und wie dieſes aus einer Randzelle des mütterlichen Prothalliums hervorgegangen. Es iſt ähnlich wie ein Laubmoosvorkeim ver— zweigt und zeigt trotz ſeines Alters (drei Monate) noch nirgends eine Andeutung für beginnende höhere Differenzirung. F. Ein verzweigtes protonematiſches Adventivprothallium, welches aus einer Flächenzelle hervorging und, ſich wie ein Moosvorkeim unregelmäßig verzweigend, bedeutend in die Länge wuchs, ehe an einem der Zweige beim Scheitel s die erſte Zellteilung zur Bildung eines flächen— förmigen Thallus ſtattfand. Bei rh ein normal entwickeltes Rhizoid. Gez. am 19. März 1879, 12 Wochen nach der Überflutung. G. Ein konfervenartiges Adventiv— prothallium, aus einer Flächenzelle her— vorgegangen, im untern und mittlern Teil eine einfache, unverzweigte Zellreihe darſtellend, während von der Scheitel— zelle s bereits durch zwei ſchiefe Wände eine Zellteilung eingeleitet wurde, welche zur Bildung einer Zellfläche führt. Gez. am 8. Februar 1879. H. Ein ähnliches Adventivprothal— lium wie G; am Scheitel des konferven— artigen Gebildes iſt jene charakteriſtiſche Zellteilung zur Bildung eines flächen— förmigen Thallus bereits weiter gediehen, ſo daß letzterer ſchon aus 6 Flächen— zellen beſteht, die reichlich mit Chloro— phyll ausgeſtattet ſind. Gez. 12. Februar 1879. J. Ein Adventivſproß mit proto— nematiſchem Unterteil und flächenförmi— gem Thallus am obern, jüngern Teil. Am Scheitel dieſer durch unregelmäßige Teilungen entſtandenen Zellfläche ſehen wir 3 reichlich mit Plasma ausgeſtattete Zellen s s, die momentan die Funktionen von Scheitelzellen übernehmen. Gez. am 18. Februar 1879. K. Ein flächenförmiges, mehrfach verzweigtes Adventivprothallium, mit ſei— nem unterſten, konfervenartigen Proto— Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 2 3 18 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. nema auf einer Flächenzelle des mütter— lichen Prothalliums ſtehend und an die— ſem unterſten Teil, der ebenfalls eine einfache Zellreihe darſtellt, bereits ein männliches Organ, das normal ent— wickelte Antheridium ant., tragend. 2, E., ut, gi, und z, die jüngeren Zweige des Flächenprothalliums, bei h eine farbloſe, außergewöhnlich große Haarzelle, die als abortirtes Antheridium zu betrachten iſt; bei rh am protonema— tiſchen Fuß eine hübſch entwickelte Rhi— zoidzelle. Gez. am 10. März 1879. Damit ſind die hauptſächlichſten For— men der 150 Adventivſproſſe ſkizzirt. Andere Typen entwickelten ſich an dem mütterlichen Prothallium nicht mehr, ob— ſchon das Objekt ein ganzes Halbjahr in Waſſer unter dem Deckglas kultivirt und weiter beobachtet wurde. Dagegen zeigten die übrigen zahlreichen über— ſchwemmten Prothallien verſchiedener Polypodiaceen (Aſpidium- und Adiantum— arten) nicht nur dieſe konfervenartigen Adventivſproſſe, ſondern auch eine Un— zahl von Abſtufungen zwiſchen proto— nematiſchen, fädigen, und zwiſchen brei— ten, zungen- oder lappenförmigen Ad— ventivſproſſen. Dieſe letzteren bildeten ſich namentlich an untergetauchten jun— gen Prothallien, die noch keine befruch— teten Archegonien beſaßen, alſo noch keinen beblätterten Embryo zu ernähren hatten, während die alten, längſt be— fruchteten Prothallien vorwiegend aber keineswegs ausſchließlich — fädige Adventivſproſſe bildeten. Es iſt hervorzuheben, daß dieſe fädigen und die flächenförmigen Adven— tivſproſſe von beliebigen Stellen des Mutterprothalliums entſpringen können und zwar ſowohl an der Rücken- als an der Bauchſeite (allerdings vorwiegend an letzterer). In der Unregelmäßigkeit der Verzweigung und in der Bildung von bizarren Formen ſtimmen beiderlei Adventivſproſſe, die fädigen wie die flächenförmigen, mit einander überein. Und wie uns Fig. 3 belehrt, können fädige Adventivſproſſe früher oder ſpä— ter in flächen förmige Prothallien über— gehen und ſich in der Folge ganz regel— mäßig ſo entwickeln, wie die aus keimen— den Sporen hervorgehenden jungen Pro— thallien. Es wurde bereits ſchon von andern Beobachtern gelegentlich die Bildung von derartigen Adventivſproſſen erwähnt und darauf hingewieſen, daß letztere ſich vom Mutterprothallium ablöſen und ſich ſelb— ſtändig weiter entwickeln können. Unſere Kulturverſuche zeigen, daß dies bei ver— ſchiedenen Farnarten an überſchwemmten Prothallien regelmäßig ſtattfindet und daß die Entwicklung der Adventivſproſſe eine ähnliche iſt, wie die Entwicklung der aus keimenden Sporen gezogenen Prothallien. Um die Gleichartigkeit der Entwick— lung protonematiſcher Adventivſproſſe und der Prothallien, die aus keimenden Sporen hervorgehen, zur Anſchauung zu bringen, habe ich in Fig. 4 eine Reihe von jungen Prothallien aus den keimenden Sporen von Aspidium Filix mas, einer mit Aspidium violascens ſehr nahe verwandten Farnſpecies, zuſammengeſtellt. Vergleichen wir Fig. 3 mit neben— ſtehender Fig. 4, ſo finden wir in letzterer gar nichts Neues, als daß an der Stelle der mütterlichen Prothallium— zelle, aus welcher der Adventivſproß her— \ 2 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 19 vorging, hier (in Fig. 4) die Sporenhaut sp, sp liegt, in welcher der Fuß des proto— nematiſchen Sporenprothalliums ſteckt. In A und B Fig. 4 ſehen wir die normalen Anfänge zu ganz regel— rechten Sporenprothallien. ſich am Scheitel des Protonemas bereits die Zellfläche. C und D find zwei gabelig ver— zweigte Protonema, die erſt 11½ Monate lang auf Torf, dann aber noch einen Monat lang unter Waſſer kultivirt wurden. E ein junges Sporenprothallium (Protonema), deſſen Fuß gabelig ver— zweigt iſt (1 Monat und 20 Tage alt, auf Torf kultivirt). F, G, H und J auf ſehr feucht gehaltenem Torf kultivirt. Dieſe Fi— guren ſind ohne weiteres ſelbſtverſtänd— lich; ſie gleichen ſo ſehr den fädigen Adventivprothallien von Aspidium vio— lascens (Fig. 1), daß wir fie nach der Entfernung der Sporenhäute gar nicht mehr von einander zu unterſcheiden ver— möchten. Nachdem wir die thatſächlichen Re— ſultate unſerer Beobachtungen verglei— chend zuſammengeſtellt haben, erübrigt uns noch, dieſelben nach ihrem phylo— genetiſchen Werthe zu prüfen. Ohne Mühe laſſen ſich daraus Argumente gewinnen, die — mit den anderweitigen entwick— lungsgeſchichtlichen Befunden in Einklang ſtehend — ſehr geeignet erſcheinen, um auf die Phylogeneſis der Polypodiaceen und der Farne überhaupt einiges Licht zu werfen. Für den Biologen iſt es keine Frage, daß die Mooſe einſtmals aus grünen verzweigten Waſſer-Algen hervorgingen. Bei B bildet Daß dem ſo iſt, zeigt uns heute noch das Keimpflänzchen aus der Laubmoos— Spore, das ja als vielverzweigter Vor— keim (Protonema) mit fädigen, ver— zweigten Algen ſo große Ahnlichkeit hat, daß der Uneingeweihte dasſelbe leicht für eine Confervacee anſieht. Der Laubmoos— vorkeim rekapitulirt die Entwicklungs— ſtufe der algenähnlichen Vorfahren der Mooſe überhaupt. Es iſt auch gezeigt worden, daß der Uebergang vom kon— fervenartigen Vorkeim der Laubmooſe zum beblätterten Moosſtämmchen keines— wegs ein unverſtändlich-ſchroffer, ſondern ein leicht kontrollirbarer iſt und wir haben uns daran gewöhnt, im algenähn— lichen Laubmoosvorkeime ſelbſt die höher differenzirte beblätterte Stengelpflanze morphologiſch vorgezeichnet zu ſehen. Bekanntlich verhält ſich ja das fädige Moos-Protonema lange Zeit, monate, ſogar jahrelang als ſelbſtändige Pflanze, die erſt unter günſtigen Um— ſtänden durch die Bildung beblätterter Sproſſe aus ihrem Algen-Stadium heraus- tritt, die niedrige Entwicklungsſtufe ihrer Vorfahren verlaſſend. Wenn wir nun ferner in Betracht ziehen, daß die niederſten Mooſe, aus der Abtheilung der Lebermooſe, ſich bis heute noch nicht über die Differenzirung eines Thalloms hinaus erhoben haben, ſondern immer noch einen Thallus dar— ſtellen, der weder Stamm noch Blätter unterſcheiden läßt und an ſeinen niedri— gen vegetativen Thallom-Teilen die Ge— ſchlechtsorgane bildet, die im Weſent— lichen dieſelben ſind, wie die Archegonien und Antheridien am Farn-Prothallium, ſo finden wir hier die Brücke in der Differenzirung der Farnkräuter 20 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. aus lebermoosartigen Vorfahren. Der Aufbau des Farnprothalliums und die Entwicklung ſeiner Geſchlechtsorgane erinnert fo ſehr an die morphologiſche Ausſtattung der niedrigen Lebermooſe, daß ſich hier — ſelbſt für den ober— flächlichen Beobachter — die genetiſche Verwandtſchaft zwiſchen Farnprothallien einerſeits und Lebermoos-Thallus ande— rerſeits unwillkürlich aufdrängt. Fig. IV. den Dieſe beiderlei Objekte ſcheinen faſt ausſchließlich darin ſich verſchieden zu verhalten, daß der Lebermoos-Thallus ſich beliebig verzweigt, während die Ver— zweigung des Farn-Prothalliums in der Regel unterbleibt. Protonematiſche Prothallien aus keimen— Sporen von Aspidium Filix mas. Vergrößerung 72. . Keimende Spore, 25 Tage nach der Ausſaat, auf feuchtem Torf. Gez. 30. Jan. 1879. . Keimpflanze, 2 Monate 7 Tage nach der Ausſaat auf Torf. Gez. 12. März 1879. C. Keimpflanze, erſt 1½ Monate auf Torf, dann einen ganzen Monat unter Waſſer kultivirt. . Ebenſo, alſo 2½ Monate nach der Ausſaat. . Keimpflanze, 1 Monat 20 Tage alt, auf Torf kultivirt. G, H und J, Keimpflanzen, 2 Monate alt, auf Torf kultivirt. Gez. 20. März 1879. Gez. 25. Febr. 1879. Gez. 27. März 1879. Wenn wir nun aber ſehen, daß die Prothallien der Bolypodiaceen unter gewiſſen Umſtänden ſich ganz regelmäßig verzweigen, indem ſie bei andauernder längerer Überſchwem— mung eine Menge von Adventiv-Sproſſen Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. 21 bilden, die ſich in allen Beziehungen ganz ähnlich verhalten, wie die jungen Prothallien, die aus den keimenden Farn— Sporen hervorgehen; wenn wir ſehen, daß die morphologiſche Gliederung der überſchwemmten Prothallien ſich in ähn— | licher Weiſe geſtaltet, wie die Gliederung niedriger Lebermooſe; wenn wir ſehen, daß die vegetativen Zellen alter Farn— Prothallien in der Regel bei langan— dauernder Überſchwemmung konferven— artige Vorkeime treiben, ganz ähnlich, wie die keimenden Moos- und Farnſporen: ſo glauben wir hierin eine Hypotheſe beſtätigt zu ſehen, die im Farn-Prothal— lium die Wiederholung eines Stücks der Stammesgeſchichte unſerer Farne erblickt. Dadurch gewinnen denn auch die protonematiſchen, konferven-artigen Ge— bilde, die den Anfang zu den Sporen— Prothallien, wie zu den überſchwemmten Adventiv-Prothallien der Polypodiaceen bilden, eine untrügliche Bedeutung Dieſe Zellreihen, die — wie wir oben geſehen haben — ſich auch verzweigen können, ſind die Analoga der fädigen, konfervenartigen Moosvorkeime und als ſolche ſtellen ſie eine tiefere Enwicklungs— ſtufe der Vorfahren unſerer Farne dar, jener Vorfahren, die als konfervenartige Waſſeralgen die Stammeltern der nie— drigen Lebermooſe darſtellten, aus wel— chen ſpäter die Farne hervorgingen. Unter dieſem Geſichtspunkte muß uns die regelmäßig auftretende Adventivſproß— Bildung überſchwemmter Farnprothallien doppelt wichtig erſcheinen. Durch die Überflutung verſetzen wir das Farnprothallium unter ähnliche äußere Verhältniſſe, unter denen die fernen Vorfahren der Farne % gelebt haben. Durch die Vererbung ſind dem Farnprothallium von ſeinen alten waſſerbewohnenden Vorfahren Eigenſchaften übertragen worden, die es befähigen, konfervenähnliche Sproſſe zu bilden, welche nur zur Entwicklung gelan— gen, wenn das Prothallium lange Zeit überflutet bleibt, während dieſe Fähig— keit nur latent vorhanden iſt, ſo lange das Prothallium als Landpflanze exiſtirt. Das Farn-Prothallium beſitzt dem— nach amphibiſche Gewohnheiten; es ſteht in ſeinem vegetativen und re— produktiven Verhalten in der Mitte zwiſchen ausſchließlichem Waſſerbe— wohnereinerſeits und demausſchließ— lichen Landbewohner andrerſeits. Das in Fig. 1 dargeſtellte Objekt, jenes bereits mit einem beblätterten Embryo und nebſtdem mit 150 Adventivſproſſen verſehene alte Farnprothallium repräſentirt ſammt ſeinen Anhängen die drei Haupt— Etappen auf dem Entwicklungs— gange der Farnkräuter überhaupt: a. Die protonematiſchen Adventivpro— thallien As, As repräſentiren die pri— mitive Entwicklungsſtufe der konferven— artigen, waſſerbewohnenden Vor— fahren der Lebermooſe, aus denen die Farne hervorgingen. b. Das Mutterprothallium ſelbſt reprä— ſentirt die zweite Etappe; die Entwick— lungsſtufe eines zur Bildung von Zwei— gen befähigten amphibiſchen Leber— mooſes, das wir als den Vorfahren der Polypodiaceen zu betrachten haben. c. Das beblätterte und bewurzelte Farnpflänzchen ſelbſt iſt die dritte Etappe, die in den geſchlechtsloſen, ſporenbilden— den eigentlichen Farnpflanzen zur Gel— tung gelangte Anpaſſung ans Land. 22 Arnold Dodel-Port, Das amphibiſche Verhalten der Prothallien von Polypodiaceen. Somit hätten wir in dem proto— nematiſchen konfervoiden Anfang des Farnprothalliums, wie er ſich ſowohl bei der keimenden Spore als auch bei der Adventiv-Sproßbildung über— ſchwemmter Prothallien regelmäßig bildet, ſodann im flächenartig entwickelten Prothallium ſelbſt und endlich in der beblätterten, durch geſchlechtliche Befruchtung erzeugten ſporen— bildenden Farnpflanze — in die— ſen drei Hauptmomenten der On— togeneſis unſerer Farne eine ab— gekürzte, aber ſcharf ſkizzirte Wiederholung der Phylogeneſis. Auch die Sphäre der geſchlechtlichen und ungeſchlechtlichen Fortpflanzung und der hierbei zum Ausdruck gelangende Generationswechſel bei den grünen, fädi— gen Waſſeralgen einerſeits und bei den Farnen anderſeits bietet nicht mehr jene Schwierigkeiten der Vergleichung zwiſchen Stammeltern und Descendenten, wie das früher der Fall war. Auch bei den grünen konfervenartigen Algen treffen wir bereits einen regel— mäßigen Generationswechſel mit geſchlecht— licher und ungeſchlechtlicher Fortpflanzung. Ja, ſelbſt an der unterſten Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens, dort wo ſich zwei gleichwertige Zooſporen zur Bildung einer Zygoſpore kopuliren, wie dies bei den Ulothricheen der Fall iſt, finden wir ſchon den Gegenſatz zwiſchen geſchlecht— licher und ungeſchlechtlicher Fortpflanzung, zwiſchen geſchlechtlicher und ungeſchlecht— licher Generation vorgezeichnet, und vom Standpunkt der vergleichenden Entwick— lungsgeſchichte ergiebt ſich zur Evidenz: 1) Die Kopulation zweier anſcheinend gleichartiger Schwärmſporen, wie ſie z. B. bei Ulothrix zonata*) ſtattfindet, iſt der Prototyp aller geſchlechtlichen Vorgänge bei den höheren Pflanzen. Die eine der beiden kopulirenden Schwärm— ſporen iſt als Spermatozoid, die andere Schwärmſpore dagegen als Ooſphäre, Eizelle, „Keimbläschen“, zu betrachten. 2) Die aus der Kopulation zweier Schwärmſporen hervorgehende Zygoſpore iſt das Analogon der Ooſpore bei den Ooſporeen und zugleich das Analogon für die durch geſchlechtliche Befruchtung er— zeugte geſchlechtsloſe Generation der Mooſe, die ſogenannte „Moosfrucht“. 3) Die geſchlechtsloſe, ſporenbildende Farnpflanze, das Produkt eines Ge— ſchlechtsprozeſſes am Farnprothallium, iſt der geſchlechtsloſen Generation der Mooſe, alſo der ſogen. Moosfrucht gleichzuſetzen und ſomit als Analogon der Zygoſpore konfervenartiger Waſſeralgen aufzufaſſen. Es iſt unnötig, die Analogieen weiter auszuführen. Ich meine aber, daß durch die Entdeckung der regelmäßig eintretenden Adventiv-Sproßbil— dung an überſchwemmten Pro— thallien unſerer Farne ein wert— voller Ausgangspunkt für eine Reihe vielverſprechender neuer Unterſuchungen gewonnen iſt, die nicht verfehlen werden, auf die genetiſchen Beziehungen zwiſchen den Farnen und ihren ältern Stamm-Vorfahren neues Licht zu verbreiten. *) Vgl. Dodel-Port, An der untern Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. Kosmos, I. Bd., S. 219— 233. Die Sprache des Kindes, uch hier wohnen die Götter“ Philoſoph über die Thür einer niedrigen Hütte. „Auch hier wohnen und walten die Götter der Naturgeſetze!“ könnte man mit Recht über den kleinen Mund des ſtammelnden Säuglings ſchreiben, deſſen Lippen eben erſt ſich nur wie zu einem unbeholfenen Gezwitſcher eröffnen. Aber man denkt wenig daran, die Entwick— lungen dieſes lallenden Mundes zu be— obachten, ihre Eigentümlichkeiten zu er— forſchen, ihre Geſetze feſtzuſtellen, und doch ſcheint es, als ob von hier aus eine Fülle von Licht nicht blos auf ſchwierige Probleme der vergleichenden Sprachwiſſenſchaft, ſondern auch auf das vielumſtrittene Rätſel des Urſprungs und der Entſtehung der Sprache geworfen werden könne. Es iſt ſchwer, das Dunkel vergangener Aonen aufzuhellen — aber tritt nicht in jedem Kinde das Wunder der Sprachwerdung uns von neuem ent— gegen? Könnte man hier im Entwicklungs— prozeß des individuellen Lebens nicht ſchrieb einſt ein griechifcher- Von Vrof. Dr. Fritz Schultze. vielleicht die flüchtigen Erſcheinungen wiedererfaſſen, die im großen Strome der univerſellen Entwicklung längſt vor— übergerauſcht ſind? Es ſcheint mir ſo, und weit entfernt, alle Aufgaben, welche die Entwicklung der Sprache des Kindes uns ſtellt, gelöſt zu haben oder auch nur löſen zu können, möchte ich deshalb auf Grund meiner eigenen und der von andern gemachten ſpärlichen Beobachtun— gen wenigſtens eine Anregung zur Be— arbeitung des Problems geben; ich möchte die Perſpektiven eröffnen, in welche die Kinderſprache uns hineinblicken läßt, und, ſoweit ich es vermag, die Geſichtspunkte aufſtellen, unter denen mir der Gegen— ſtand behandelt werden zu müſſen ſcheint. Der Römer nannte den Säugling infans, ein Weſen, das nicht ſpricht. Warum kann das Kind noch nicht ſpre— chen? Die Frage ſcheint überflüſſig, ja thöricht, und doch, ſobald wir bedenken, daß dieſe Frage von den verſchiedenen metaphyſiſchen Standpunkten aus abſo— lut verſchieden beantwortet werden kann, daß ein Platon ſie ganz anders löſen 24 Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. * würde als ein Locke, oder ein Darwin, daß gerade in ihr — da in der Gewinnung der artikulirten Wortſprache doch erſt die eigentliche Menſchwerdung beſchloſſen liegt — alle anthropologiſchen und pſychologi— ſchen und damit überhaupt philoſophiſchen Streitfragen zuſammentreffen; ja, wenn wir bedenken, daß, wenn die Kinder gleich mit vollſtändiger Sprache geboren würden, dies eine abſolut andere als die beſtehende Weltordnung vorausſetzen würde, ſodaß mithin die wirklich vorhan— dene Sprachentwickelung des Kindes auch auf die wirklich exiſtirende Welt— ordnung mehr als irgend eine andere Erſcheinung einen erklärenden und bewei— ſenden Rückſchluß geſtattet: ſo wird die Frage jeden Schein von Trivialität ver— lieren und ſich als eine im höchſten Maße tiefſinnige und inhaltsreiche erweiſen. Es iſt indeſſen nicht unſere Abſicht, all' dieſe philoſophiſchen Abgründe hier auszumeſſen — wir beantworten die Frage hier einfach dahin: Das Kind kann nicht ſprechen, weil es weder körperlich noch geiſtig genügend entwickelt iſt. Es gilt nun aber dieſen Satz in ſeine einzelnen Faktoren aufzulöſen. Was zunächſt die körperliche Ent— wicklung anbetrifft, ſo muß natürlich vor allen Dingen der zum Sprechen nötige leibliche Apparat ſoweit ausgebaut ſein, daß, wie auf einem vollſtändigen muſi— kaliſchen Inſtrumente die Melodie, auf ihm die Polyphonie der Sprache ertönen könne. Dem Sprachinſtrument des Kin— des aber fehlen noch eine ganze Fülle von Saiten, Pfeifen und Regiſtern. Die Werkzeuge des Sprechens ſind die Lungen, die Luftröhre, der Kehlkopf mit den Stimm— bändern, die Mundhöhle mit Zunge, Gau— menſegel, Gaumen, Zähnen und Lippen. Dieſen geſammten Apparat können wir mit einer Orgel vergleichen, in welcher Lunge und Luftröhre den Windkaſten ver— treten, der Kehlkopf die Pfeife bildet und die Mundhöhle das Anſatzrohr iſt. Die Lunge erzeugt den Luftſtrom, der „Stimm— ton und die Kehlkopfgeräuſche““) bilden ſich im Kehlkopf; jenachdem die Stimm— bänder ſich weiter öffnen oder enger zuſam— mentreten, entſteht der tiefere oder höhere Ton. Daß nun der Ton gerade diejenige Form annimmt, die wir als den beſtimmten Vokal a oder o u. ſ. w. und den beſtimmten Konſonanten b oder fu. |. w. kennen, das iſt Sache des Anſatzrohres, deſſen in ſei— nen Teilen (Lippen, Zähne, Zunge u. ſ. w.) verſchiedener Stellung („Artikulations— form“ je ein beſtimmter Sprachlaut, Vokal oder Konſonant, entſpricht. Wenn wir zuerſt den Atmungsap— parat der Lungen in Betracht ziehen, ſo zeigt ſich ſogleich, daß dieſer ſich bei dem Kinde noch nicht in dem Maße ausgebaut hat, wie es für die Anforderungen, welche das artikulirte Sprechen an ihn ſtellt, notwendig iſt. Denn es bedarf, um dieſes hervorzubringen, erſtens eines ſtarken Ausatmungsſtromes, zwei— tens eines genau regulirten Aus— atmungsſtromes. Die vom verlänger— ten Mark aus innervirte Atmung geht bekanntlich ſo vor ſich, daß die Bruſt— muskeln den Bruſtkorb wie eine Har— monika auseinanderziehen; die Lungen, feſt und hermetiſch an die Innenſeite des Bruſtkorbes angeheftet, folgen dieſem Aus— dehnungszug, und in den ſich dadurch bildenden luftleeren Raum dringt nun von außen die Luft ein, die dann bei *) Sievers, Grundzüge der Lautphyſio— logie. Leipzig, 1876. S. 174. Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. der nach dem Aufhören der Muskelſpan— nung eintretenden Verengerung der Bruſt⸗ die für das Sprechen ſo wichtigen Zähne. höhle wieder ausgeſtoßen wird. Wenn jo während der Einatmung die Bruſt- höhle in ihrem Breiten- und Tiefendurch— meſſer erweitert wird, erfährt ſie gleich— zeitig auch eine Vergrößerung in ihrer Längsachſe dadurch, daß das Zwerchfell bei der Inſpiration abwärts ſteigt, wäh— rend es bei der Ausatmung ſeine nach oben gerichtete Gewölbeform wieder ein— nimmt. Es zeigt ſich nun, daß bei dem Säugling die Bruſtmuskeln noch ſehr ge— ring entwickelt ſind, daß die Atmung viel mehr durch das Herabſinken des Zwerch— fells als durch eine kräftige Ausdehnung des Bruſtkorbes zu Stande kommt, und daß deshalb die Atembewegungen nicht blos oberflächlicher, ſondern auch unregel— mäßiger erfolgen als im ſpätern Alter.“) Das artikulirte Sprechen erfordert ja aber gerade ſtarke und regelmäßige Atem— züge; es erfordert, daß man nach ſeinem Belieben die eingezogene Luft in grö— ßeren oder geringeren Mengen wieder aus der Bruſt entlaſſen könne, daß man alſo im Stande ſei, den Atmungsmechanismus bald beſchleunigt wirken zu laſſen, bald ihn zu hemmen, alles Kraftäußerungen, die der Säugling noch nicht zu leiſten im Stande iſt. Dazu kommt, daß auch der Kehlkopf noch ſehr klein und in ſeiner Form noch unentwickelt, ſeine Muskulatur noch unfertig, die beliebige Spannung und Verengerung der Stimmbänder noch nicht möglich ift.”*) Ebenſo verhält es ſich *) S. Vierordt, Phyſiologie des Kindes— alters in Gerhard, Handbuch der Kinderkrank— heiten, Bd. I, S. 130 u. S. 131. ) S. Henke, Zur Anatomie des Kindes- alters in Gerhardt, I. c. Bd. I, S. 300. 25 mit der Zunge, den Lippen und den ſie bewegenden Muskeln; gänzlich fehlen noch Als weiteres Hemmnis macht ſich die ungenügende Entwicklung des Gehörs geltend. Neugeborene Kinder ſind be— kanntlich gegen Geräuſche außerordentlich unempfindlich; die Trommelhöhle derſel— ben iſt bei der Geburt mit einer ſchlei— migen Subſtanz angefüllt, und wenn dieſe auch ſehr bald verſchwindet, ſo hat doch das Trommelfell noch nicht die ſenkrechte Stellung, in der es ſich ſpäter befindet; es ſteht vielmehr wagerecht, wodurch das Hören unzweifelhaft erſchwert wird.“) Be— obachtungen zeigen, daß durchſchnittlich erſt von der dritten bis achten Woche nach der Geburt an, das Kind klare und deutliche Gehörseindrücke empfängt. Das Gehör aber iſt es vorzugsweiſe, welches das Kind wahrſcheinlich rein reflektoriſch an— regt, die gehörten Schälle oder Laute mit den Stimmwerkzeugen nachzubilden, weshalb ja taubgeborene Kinder auch ſtumm bleiben. So lange mithin das Kind noch nicht klar hört, bleibt auch die An— regung zum Beginnen der Sprechverſuche aus, ſodaß alſo die unvollſtändige Aus— bildung des Ohres einen bedeutenden An— teil an der urſprünglichen Sprachloſig— keit des Säuglings hat. Wir werden, dem entſprechend, auch ſehen, daß der An— fang des erſten Lallens mit dem Beginn der eigentlichen Empfänglichkeit des Ohres für deutliche Eindrücke zuſammenfällt. Wir müſſen endlich noch den unfertigen Zuſtand des Gehirns, beſonders des Groß— hirns, ins Auge faſſen. Was hat aber die Gehirnentwicklung mit der Sprachentwick— lung zu thun? Alle Bewegung des menſch— — Vierordt, I. c. S. 200 f. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 26 Fritz Schultze, Die lichen Körpers geht vom Nervenſyſtem aus. Auch die Sprache iſt, rein ihrer körperlichen Mechaniknach betrachtet, Musfelbewegung, | deren Innervation mithin richtig und voll— ſtändig funktionirende nervöſe Centralor- gane vorausſetzt. Nun finden alle diejeni— gen Bewegungen, welche wir als bewußte, intelligente und zweckmäßige bezeichnen, ihr Centralorgan in den Hemiſphären des Großhirns, mit deſſen Hinwegnahme wirk— lich ſpontane und intelligente zweckmäßige Handlungen bekanntlich nicht mehr zu Stande kommen. Es ſind aber unter allen intelligenten zweckmäßigen Bewegungs— erſcheinungen des Organismus die Sprech— bewegungen offenbar diejenigen, in denen Intelligenz und Zweckmäßigkeit im höch— ſten Grade zu Tage treten, und es wer— den daher die Muskeln der Sprachwerk— zeuge vor allem vom Großhirn aus in— nervirt müſſen. Einen Beweis dafür bildet, abgeſehen von den direkten Verſuchen von Hitzig und Fritzſch, Nothnagel, Fer— rier u.a., die intereſſante Krankheitserſchei— nung der Sprachlähmung oder Aphaſie. Der Patient ſtellt die Begriffe und Wör— ter völlig intakt vor, er hört ſie und ver— ſteht ſie, von anderen geſprochen, aber er iſt ſelbſt trotz aller Mühe durchaus nicht im Stande, ein Wort auszuſprechen, alſo die Muskeln ſeiner Stimmwerkzeuge in Bewegung zu ſetzen. In den meiſten Fällen zeigte ſich bei derartigen Leiden— den eine Zerſtörung eines Großhirnteiles, vorzüglich des hintern Drittels der unte— ren Stirnwindung und des Inſellappens.“) Was nun den Säugling anbetrifft, ſo zeigt die anatomische Unterſuchung gerade die Partie des Gehirns noch ſehr unvoll— kommen ausgebildet, durch welche die *) Vgl. Wundt, Phyſiol, Pſycholog. S. 229. Sprache des Kindes. Verbindung zwiſchen der Großhirnrinde und den Gehirnteilen an der Baſis des Gehirns hergeſtellt wird. Dieſe Verbin— dungslinie durchläuft von oben nach unten die Stationen vom Großhirn aus zum ſog. Linſenkern und Streifenhügel, von da durch den Hirnſchenkelfuß zum verlängerten Mark und Rückenmark. Die verbindenden Leitungsbahnen zwiſchen den vorderen Lappen des Großhirns und den Streifen— hügeln ſind aber eben beim Säugling noch ſehr unentwidelt*), ſodaß alſo in der noch mangelhaften Gehirnbildung uns ein fer— nerer Grund für die Unfähigkeit des Säug- lings zum Sprechen entgegentritt. Der zum Sprechen nötige körperliche Apparat befindet ſich bei dem Säugling noch nicht im Stadium der zureichenden Vollendung — aber auch die pſpychiſche Entfaltung ſteht noch weit hinter dem Maße des geiſtigen Hochdrucks zurück, ohne welchen das körperliche Hebelwerk der Sprachmaſchinerie gar nicht in Be— wegung geſetzt wird, auch wenn es ſonſt fertig entwickelt wäre. Das Sprüchwort ſagt: Wem das Herz voll iſt, fließt der Mund über. Wir interpretiren dieſen Satz dahin, daß, wer wirklich etwas zu ſagen hat, in wem der Vorſtellungsinhalt eine ſo mächtige Spannkraft entwickelt hat, daß für denſelben ein Ausweg ſich öffnen muß, daß dieſem die Sprache wie mit mechaniſcher Notwendigkeit vom Munde ſtrömt. Aber dieſe pſychiſche Span— nung, dieſer Hochdruck des Vorſtellungs— inhalts fehlt ja dem Säugling noch ganz und gar — er hat noch nichts zu ſagen, im Schreien entlädt ſich vorläufig noch zu voller Befriedigung ſein geſammter, in wenigen körperlichen Bedürfniſſen er— * S. Vierordt, 1. c. S. 182f. Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 27 ſchöpfter Empfindungsinhalt, er fühlt des- halb auch noch nicht das Bedürfnis der Rede, es drängt ihn pſychiſch noch nicht, die körperlichen Bewegungen hervorzu— bringen, durch welche der Geiſt ſich nach außen projizirt, und wenn der kindliche Geiſt auch kraft der Vererbung weit entfernt iſt, eine tabula rasa zu ſein, ſo fehlen ihm anfangs doch noch alle rein empiriſch zu gewinnenden Vorſtel— lungen, die ihm aus der Außenwelt erſt in dem Maße zufließen können, als ſich derſelben die Thore ſeiner Sinne nach und nach und verhältnismäßig ſehr lang— ſam und ſtufenweiſe erſchließen. So wie das Tier während ſeines ganzen Lebens nicht genügend geiſtigen Inhalt beſitzt, um das zwingende Bedürfnis einer wirk— lichen Artikulationsſprache zu empfinden, ſo hat auch das Kind allerdings nur ungefähr in den erſten fünfzehn Monaten ſeines Lebens noch nicht den Vorſtellungs— inhalt, deſſen expandirende Kraft in Worten zum Vorſchein käme, und die Beobachtung des Ganges der pſpychiſchen Entwicklung zeigt uns deshalb auch die Thatſache, daß die Sprachäußerung, das eigentliche Erlernen der Sprache erſt da eintritt, wo nicht blos eine relativ ſehr bedeutende körperliche, ſondern auch eine relativ ebenſo bedeutende pſychiſche Ent— wicklung ſich ſchon vollzogen hat. Der Säugling, in den erſten Wochen faſt fortgeſetzt und ſpäter noch den größten Teil des Tages im Schlafe liegend, empfängt quantitativ wie qualitativ nur ſehr wenige Eindrücke von der Außen— welt; ein erſtes bewußtes, freudiges, wenn auch ſehr beſchränktes Verſtändnis für Eindrücke und Teilnahme an denſelben zeigt ſich in dem beginnenden Lächeln EB. des Kindes, und wir nennen deshalb auch die erſte noch ſtumpfe Epoche des Kin— des die des Säuglings (das ſog. dumme Vierteljahr), die zweite ſchon lichtere die des Lächlings. Aber der Lächling iſt noch nicht völlig Herr ſeines Seh— ſinnes; er vermag weder ſchon per— ſpektiviſch zu ſehen, noch hat er die Ausdauer, einen Gegenſtand im Blicke zu fixiren. Dies tritt erſt ein in der dritten Entwicklungsepoche, welche wir die des Sehlings nennen, und die des— halb von ſo grundlegender Bedeutung iſt, weil nun erſt, nachdem der Geſichts— ſinn völlig erſchloſſen iſt, die Fülle der Geſtalten in den kindlichen Geiſt ein— ſtrömt, und ein volleres, regeres und beweg— teres Vorſtellungsleben beginnt. Jetzt erſt, wo die Außenwelt mächtiger auf das Kind einſtürmt, wird es angeregt, nun auch ſeinerſeits thätig auf die Welt einzuwirken, indem es — ein neuer wichtiger Abſchnitt — nach den Dingen greift, ſie fortgeſetzt in die Hand nehmen will, ſie rüttelt und ſchüttelt, ſie betaſtet, an Mund und Naſe führt, und ſo eine Fülle neuer Merkmale entdeckt, die ihm das Sehen allein nicht vermitteln konnte. Der Sehling iſt zum Greifling gewor— den: erſt wo das Kind mit der Hand die Dinge erfaßt, begreift, behandelt, umgeſtaltet, beginnt ſein eigentliches Handeln, beginnt feine wahrhaft menſch— liche Wirkſamkeit. Aber noch beherrſcht der Greifling die Welt erſt auf Armes— länge; er kann noch nicht gehen, ſo müſſen die Dinge noch zu ihm, er kann nicht zu ihnen kommen, ſo ſteht es noch ſchlecht um ſeine Beherrſchung der Welt. Aber die Eindrücke, die nun ſchon durch alle Sinne einziehen, erregen mächtige 28 Fritz Schultze, Die Begierden in dem Kinde, die fernen Dinge winken, locken, ziehen unwiderſtehlich an — es beginnt dem Zuge zu folgen, es rutſcht, kriecht, geht, läuft — es wird Läufling! und nun erſt gewinnt es aus ſeinem bisherigen, gewiſſermaßen pflanz— lichen Feſtgewurzeltſein die Freiheit, deren es bedarf, um in die Welt einzudringen und die Welt in ſich eindringen zu laſſen. Nun aber flutet die Fülle der gewon— nenen Vorſtellungen ſo gewaltig in ihm, nun wird die Spannung ſo überſtark, daß der pſychiſche Inhalt ſich Bahn bricht, daß er überſprudelt in der Sprache, daß das Kind in die Periode des Sprech— lings eintritt, wo nun eine Zeit lang nichts ſo zauberiſchen Reiz für das Kind hat, als das Üben und Lernen der ſchwie— rigen Kunſt, die mehr als alles andere den Menſchen an den Menſchen bindet.“) Nicht blos muß alſo erſt der geſammte kör— perliche Apparat, es muß auch erſt die Seele bis zu einem hohen Grade ent— wickelt ſein, ehe das Kind zu dem höchſten geiſtgeborenen Kunſtwerk, zu der Sprache, gelangen kann. Die Frage, warum kann das kleine Kind noch nicht ſprechen? haben wir da— mit, wenn auch nur in fkizzenhafter Weiſe, beantwortet, und wir gehen nun über zu der eigentlichen Sprachenentwick— lung ſelbſt. i Unter Sprache verſtehen wir im all- gemeinen alle diejenigen Mittel, durch welche ein empfindendes Weſen ſeine inneren pſychiſchen Vorgänge (Empfin— dungen, Vorſtellungen, Gefühle, Ge— danken) äußerlich kundgiebt. Dieſe äußer— liche Kundgebung beſteht allemal in ) Sigismund, Kind und Welt, Braun— ſchweig, 1856. Sprache des Kindes. Bewegungserſcheinungen, die durch gewiſſe Teile des Körpers: Geſichtsmuskeln (Mi— mik), Gliederbewegung (Gliedergeberden), Stimmwerkzeuge (Lautgeberde und arti— kulirte Sprache) hervorgebracht werden. Wir unterſcheiden alſo: Geberden— ſprache und Wortſprache, und zer— legen die erſtere wieder in Gliedge— berdenſprache (Mimik, Geſtikulation) und Lautgeberdenſprache, welche letztere dadurch charakteriſirt iſt, daß in ihr nicht der Laut als ſolcher, ſondern die beſondere Modulation deſſelben die Beſonderheit der zum Ausdruck treiben— den Empfindung zu erkennen giebt; ſie umfaßt alſo das ganze Gebiet der In— terjektionen, dazu das Winſeln, Stöhnen, Achzen, Weinen, Lachen, Schreien u. ſ. w., bei denen ja bekanntlich ein und derſelbe Laut, z. B. ach!, in den allerverſchieden— ſten Modulationen, alſo zur Veräußer— lichung ſehr verſchiedener Empfindungen (Freude, Schmerz, Erſtaunen) hervorge— bracht wird. Hinſichtlich der Sprachent— wicklung des Kindes kommt alſo nicht blos die artikulirte, ſondern auch die Geberdenſprache in Betracht. Für den gebildeten Erwachſenen hat die Geberdenſprache eine ſehr geringe Be— deutung; bei dem neapolitaniſchen Lazza— rone ſpielt dieſelbe ſchon eine wichtige Rolle; unter verſchiedenen Stämmen der Indianer von Nord- und Südamerika bil— det die Geberdenſprache oftmals das ein— zige Verſtändigungsmittel, ja wir hören von wilden Horden, deren Wortſprache ſo unvollkommen iſt, daß ſie zur Ver— vollſtändigung derſelben der Geberden— ſprache gar nicht entraten können, ſodaß eine genügende Verſtändigung in dunkler Nacht nur am Lagerfeuer möglich ſein — ee Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 29 ſoll. Das kleine Kind ſchreit; wir unter— ſcheiden ſehr wohl, ob ſeine Lautgeberde Hunger, Schmerz oder Zorn ausdrückt. Das etwas größere Kind macht eine ab— wehrende oder heranwinkende Handbewe— gung, es bedient ſich der Gliedergeberden— ſprache. Wir wiſſen aber, daß für das normal entwickelte Kind die Geberden— ſprache nur eine ſehr untergeordnete Be— deutung hat, weil die Erwachſenen in der Wortſprache und nicht in Geberden zu ihm reden und weil es die Dienſte, welche ihm die Wortſprache leiſtet, ſehr bald erkennt und zu würdigen weiß. Wir wiſſen aber auch, daß dem unglücklichen Kinde, welches taub geboren oder bald nach der Geburt taub geworden iſt und deshalb ſtumm bleibt, die Geberdenſprache die fehlende Wortſprache erſetzen muß, und es iſt tröſtlich zu ſehen, wie aus— drucksvoll ein ſolches Kind ſich in Ge— berden zu verſtändigen weiß, und welch relativ hoher Ausbildung dieſe vorzugs— weiſe an den Geſichtsſinn, und nur zum kleinen Teil auch an den Taſtſinn ſich wen— dende Sprache fähig iſt. Das taubſtumme Kind deutet entweder auf die von ihm gemeinten Gegenſtände, wenn ſie anwe— ſend und ſichtbar ſind, oder es zeichnet mit der Hand die Umriſſe des Gegen— ſtandes in die Luft, entwirft von ihm eine ſogenannte Luftzeichnung. Nicht aber als ob es den Gegenſtand mit all ſeinen Einzelheiten nachzeichnete, es bildet viel— mehr in aller Kürze nur das Merk— mal des Gegenſtandes nach, welches ihm beſonders aufgefallen iſt und ihm beſon— aber verſchiedenen Kindern an demſelben Gegenſtande, je nach den Umſtänden, unter denen er ihnen zuerſt oder hauptſächlich 1 entgegentrat, ſehr verſchiedene Merkmale als die beſonders charakteriſtiſchen auf, ſodaß alſo jedes Kind hinſichtlich ſeiner Ausdrucksweiſe in Geberden individuelle Eigentümlichkeiten und Abweichungen zeigt. Das eine Kind bezeichnet ſeinen Vater durch die geberdliche Nachahmung des Drehens am Barte, weil dieſes zu— fällig zu den Gewohnheiten ſeines Vaters gehört, ein anderes Kind hat eine andere Bezeichnung für denſelben; das eine Kind, wenn es auf ſeine Haare weiſt, meint ſeinen Bruder, weil derſelbe ſich durch rote Haare auszeichnet, das andere Kind hat für den Bruder eine durchaus ver— ſchiedene Bezeichnung. Trotz ſolcher in— dividuellen Abweichungen zeigen die taub— ſtummen Kinder aber, ohne daß ſie mit einander in Berührung traten, doch eine merkwürdige Übereinſtimmung in ihrer Geberdenſprache, ſodaß die Verſtändigung zwiſchen zwei ſich bis dahin fremden Kindern ohne weiteres vor ſich geht, was uns nicht wundern kann, da ja im Großen und Ganzen dieſelben Erſcheinungen auf die gleichmäßig organiſirten Weſen auch denſelben Eindruck machen und ſomit rein reflektoriſch auch denſelben Ausdruck in Mienen, Geberden u. ſ. w. auslöſen müſſen. Die individuellen Differenzen wer— den in der Anſtalt, in welcher die Kin— der gemeinſam unterrichtet werden, vol— lends abgeſchliffen zu einer allgemein gül— tigen Geberdenſprache, welche ſich zu den individuellen Beſonderheiten dann etwa verhält, wie die Schriftſprache zu den Lokaldialekten, und die dann in ihrer ders charakteriſtiſch erſcheint. Nun fallen chen zu verfügen weiß, ſodaß Erzählun— vollen Entwicklung über etwa 5000 Zei— gen, Gebete, Predigten u. ſ. w. in aus⸗ drucksvoller Weiſe in ihr zum Vortrage 22 30 Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. gebracht werden können. Da die Geber— denſprache aber alles in anſchaubarer, ſichtbarer, alſo auch ganz ſinnlicher Weiſe darſtellen muß, rein begriffliche Abſtrak— tionen ſich aber in ſinnlicher, ſichtbarer Form nicht ausdrücken laſſen, ſo zeigt ſich klar, daß die Geberdenſprache doch in verhältnismäßig ſehr enge Grenzen eingeſchloſſen iſt, wie ja denn auch das Denken des Taubſtummen, der nicht auf die artikulirte Wortſprache hin und in ihr unterrichtet iſt, ein ſehr beſchränktes bleibt, und deshalb in der deutſchen Me— thode des Unterrichts der Taubſtummen in der Wortſprache eine wirkliche Ten— denz zur Erlöſung, Befreiung und Ent— wicklung des Geiſtes dieſer Stiefkinder der Natur liegt, gegenüber der franzö— ſiſchen Methode, die in der Ausbildung der bloßen Geberdenſprache ihre Befrie— digung findet. Intereſſant iſt es und ein ſchöner Beweis für die Einheitlichkeit der menſchlichen Geiſtesart, daß, wie ange— ſtellte Proben erwieſen haben, der euro— päiſche Taubſtumme, der Südſeeinſulaner, der Chineſe, die Lappländerin ſich unter einander ohne Weiteres lebhaft und ver— ſtändlich in der Geberdenſprache zu unter: halten wußten. Die Geberdenſprache des Kindes hat hier für uns nur eine neben— ſächliche Bedeutung; wir wenden uns unſerem eigentlichen Thema, dem Ent— wicklungsgang der Wortſprache des Kin— des, zu. Im Großen und Ganzen fällt die Ausbildung der kindlichen Wortſprache, das eigentliche Sprechenlernen des Kin— des in das 6., 7. und 8. Vierteljahr nach der Geburt. Die individuellen Ver— ſchiedenheiten ſind hier allerdings nicht gering; trotzdem laſſen ſich zwei allgemeine Sätze aufſtellen, erſtens der, daß die Mädchen früher und leichter ſprechen ler— nen als die Knaben; zweitens, daß das Sprechenlernen nach dem Laufenlernen eintritt. Damit ſoll nicht geſagt ſein, daß nicht viele Kinder ſchon Wörter ver— ſtehen, ja einige Wörter ſprechen können, noch ehe ſie den Laufkurſus begannen; im Gegenteil iſt dies faſt immer der Fall. Aber es iſt auch intereſſant, zu bemer— ken, wie das Kind, gewiſſermaßen nach der Maxime, daß man gründlich zur Zeit nur eines betreiben könne, während der Erlernung der Lokomotion die Sprach— entwicklung faſt ganz zur Seite ſchiebt und die linguiſtiſche Aufgabe erſt wieder aufnimmt, wenn die lokomotoriſche abge— ſchloſſen iſt. Nur bei kränklichen, beſon— ders rhachitiſchen Kindern kehrt ſich das Verhältnis um, und geht der Sprechling dem Läufling voran. Auch hinſichtlich des Anfangs der eigentlichen Sprach— erlernungsperiode ſind die individuellen Verſchiedenheiten ſo groß, daß man den Termin dieſes Beginns unmöglich nach Tagen, Wochen, ja ſelbſt nach Monaten ein für alle Mal fixiren kann. Wir kön⸗ nen daher jene ſchon oben angeführten Entwicklungsabſchnitte auch nur als rela— tive gegen einander abgrenzen, ſodaß die Länge der Dauer eines jeden Abſchnitts und der Beginn eines neuen je nach der günſtigeren oder ungünſtigeren körperlichen und geiſtigen Anlage der beſonderen kind— lichen Individualität variirt. Doch bleibt der allgemeine Satz dabei feſtſtehen, daß die eigentliche Spracherlernungsperiode in das 6., 7. und 8. Vierteljahr fällt, ſo— daß mit dem Ende des 2. Lebensjahrs das normal entwickelte Kind im Stande it, ſeine Meinung in einem kleinen aſyn⸗ Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. thetiſchen Satze darzuſtellen. Mit alledem iſt aber auch wiederum keineswegs geſagt, daß der erſte elementarſte Anfang der Sprachentwicklung überhaupt nicht ſchon viel früher gemacht würde; in der That, er tritt ſchon ein in der erſten Entwicklungsperiode beim Säug— ling, ja, wir können das Schreien, in welchem der vokaliſche Laut ä zu Tage tritt, und müſſen es ſogar ſchon als erſten elementaren Anfang betrachten. Wir betonten aber oben, daß das Gehör in— takt und entwickelt ſein müſſe, wenn von ihm aus das Kind zur Nachbildung ge— hörter Laute angeregt werden ſolle, und ſetzten den Zeitpunkt, von wo an dieſes der Fall ſei, ungefähr in die dritte Lebenswoche. Die Wirkung des um dieſen Termin erſchloſſenen Hörſinnes zeigt ſich nun bald. Ungefähr in der Mitte des erſten Vierteljahres hört man plötzlich aus dem Munde des behaglich daliegen— den Kindes die lieblichen Klänge hervor— brechen, welche man als Lallen oder Papeln bezeichnet. Es ſind die Laute: Ma, Ba, Bu, die als Mamamama ..., Babababa . . . ., Bubububu . . .. (letzte⸗ res zwiſchen B und W) in raſcher Folge hinter einander erſcheinen; dazu ebenſo in raſcher Wiederholung Appa-appa— appa . . .., anne⸗anne⸗anne .. .., auch ebub-ebub⸗ebub . . . .; dazu tritt noch ein durch Vibriren der Lippen erzeugtes Brrrr. . . . und ein, wie mir ſcheint, gut- turales erre-erre, das ſich aber bald völlig wieder verliert. Vielfach zeigt ſich auch ein hä, hä, hä (kurz das ä) unter den erſten Lauten. Ein Fortſchritt wird hinſichtlich dieſer Lalllaute im zweiten Vierteljahre nicht gemacht, ja es kann vorkommen, daß 31 dieſelben wochenlang ganz unterbleiben. Aber mit dem dritten Vierteljahre tritt eine neue Entwicklungsphaſe ein.“) Immer deutlicher bildet ſich der Ge— hörſinn des Kindes aus; war es bisher nur im Stande, paſſiv zuzuhören, ſo kommt es jetzt dahin, aktiv hören zu wollen, es beginnt mit Aufmerk— ſamkeit zu horchen. Es findet freu— diges Intereſſe an Tönen und Klängen. Es hört draußen den Hund bellen und will ans Fenſter, ihn zu ſehen; es hört draußen die Stimme ſeiner Mutter und beginnt freudig zu zappeln; nach dem Rhythmus einer leicht ins Ohr fallenden Muſik hüpft es auf dem Arme ſeiner Wärterin; mit großem Vergnügen rüttelt und ſchüttelt es ſelbſtthätig ſeine Klapper. Alles das zeigt, wie das Hören ihm Luſtgefühle erweckt, deren Wiederholung es horchend herbeiwünſcht. Der ſtärkeren Anregung entſpringen nun neue Lall— laute, es treten zu den früheren hinzu die Laute: bäbäbäbä . . ., dädädädä . . . ., (das ä kurz); dazu ein gedehntes fu-fu-fu, das auch oftmals als ein fbusfbu er- ſcheint. Alle dieſe neuen Laute, ebenſo wie die älteren, werden jetzt mit viel mehr Kraft ausgeſtoßen, als es bei den älteren im Anfang der Fall war. Über— haupt iſt es mit dem ſchläfrigen Schreien, wie es im erſten ſogen. dummen Viertel— jahre als langgedehntes ä—ä ä zu Tage trat, vorbei — das Schreien klingt ſehr energiſch, helle Jubeltöne laſſen ſich hören, und das Kind liebt es, viele Minuten lang ſeine Reduplikationen wie dädädädä, babababa ꝛc. mit großer Geſchwindigkeit zu üben. *) Man vergl. hierüber auch Sigismunds Darſtellung der betr. Entwicklungsepochen. N n 32 Das Ergebnis dieſer erſten drei Vier— teljahre find alſo die Lalllaute: Ma, Ba, Bu, Appa, Anne, Ebub, Bä, Fä, Fu, Fbu. Darin treten alſo auf die Vo— kale: A (ſchon im erſten Schreien erſchei— nend, ſpäter als Lalllaut verwendet), A und U; und an Konſonanten die Lippen— laute P, B, M, F und die Zungen— laute D und N; dazu das gewiſſermaßen zwiſchen Vokalen und Konſonanten ſtehende H. Warum verfügt denn das Kind in ſeiner Konſonantur zuerſt nur über Lip— pen- und Zungenlaute? Doch wohl deshalb, weil durch die Ernährungsthä— tigkeit des Kindes, durch das Saugen, gerade die Muskulatur der Lippen und Zungen zuerſt geſtärkt und gekräftigt wird. Beim Saugen müſſen ſich näm- lich zuerſt die Lippen feſt und hermetiſch um die Nahrungsquelle (die Bruſtwarze oder deren Erſatz) herumlegen; jetzt muß die Zunge rückwärts gezogen werden; dadurch entſteht ein luftverdünnter Raum im Munde, in welchen nun die Nahrungs- flüſſigkeit eintritt; fo werden alſo gerade durch das Saugen Lippen und Zunge fortgeſetzt in Anſpruch genommen und geſtärkt. An Konſonanten finden ſich beim Kinde alſo zuerſt nur die ſieben: P, B, M, F, D, N, H; und es iſt inter⸗ eſſant, daß dies beinahe dieſelben Lippen— und Zungenlaute ſind, welche ſich als die einzigen in den Sprachen gewiſſer Naturvölker finden. So zeigen die Süd— ſeedialekte von Rimatara, Rurutu, Tubuai, Raivavai nur die ſieben Konſonanten: P, W, M, T, N, Ng und R (welches letztere, wie oben geſagt, ja unter den Lalllauten auftritt, aber nur um ſehr bald völlig zu verſchwinden, und in der Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. eigentlichen ſpäteren Hauptſpracherler— nungsperiode erſt wieder hervorzutreten). Die Maori Neuſeelands haben die neun Konſonanten P, W, M, T, N, H, R, K (welches letztere erſt im letzten Stadium der Sprachentwicklung vom Kinde her— vorgebracht wird). Schon hier erklärt uns die Kinder— ſprache das Rätſel, warum über den ganzen Erdkreis bei allen Völkern das Wort für Vater und Mutter gebildet iſt aus einem Vokal in Verbindung ent- weder mit einem Lippen- oder einem Zungenlaut und daher überall lautet: Papa, Mama, Baba, Wawa, Fafa, Nana, Dada u. ſ. w. Es ſind das die erſten artikulirten Silben, die das Kind aus dem oben angeführten phyſiologiſchen Grunde überhaupt zu bilden vermag, und es iſt ſehr begreiflich, daß die — Eltern dieſe erſten Lalllaute des Kindes, gewiſſermaßen ſeine erſte Anrede an Vater und Mutter, auf ſich bezogen und davon ihren Namen empfingen. Hin⸗ ſichtlich der europäiſchen Sprachen iſt die Thatſache bekannt genug; es zeigt ſich aber auch, daß in 57 bei Lubbock') angeführten Negerſprachen der Vatername labial Papa, Baba, Wawa, Fa, Tafa, in 17 Negerſprachen lingual Da, Dada, Tada, Ada, Oda lautet; daß der Mutter- name in 15 Negerſprachen labial als Ba, Ma, Mama, Ama, Omma, in 33 Negerſprachen lingual als Na, Nana, Ne, Ni, Pde erſcheint. Aus dem Lallen des Kindes erklärt ſich uns ferner auch die bekannte Nei— gung der Kinderſprache zur Bildung von Reduplikationen, wie ſie uns ja ſchon in Papa und Mama entgegentreten. Das *) Origins of eivilisation p. 323 fgde. ey 3 Fritz Schultze, Die Lallen beſteht ſelbſt ja in nichts anderem, als einem fortgeſetzten Wiederholen der— ſelben Silben, die Gewohnheit bleibt und überträgt ſich auch auf ſpätere Wortbildungen, wie Memmen ( eſſen), Mille-mille — Milch), Täub-täub — Taube), Wauwau u. ſ. w. Auch dieſe Erſcheinung findet ihre Analogie in dem häufigen Vorkommen ſolcher Redupli— kationswörter in den Sprachen der Naturvölker. Nach Lubbock finden ſich im Engliſchen, Deutſchen, Fran— zöſiſchen, Griechiſchen auf 1000 Wörter nur ungefähr 2— 3 ſolcher Verdopp— lungswörter, im braſilianiſchen Tupi dagegen 66, im Hottentottiſchen 75, im Tonga 166 und im Neuſeeländiſchen 169, wie z. B. ahi-ahi —= Abend, aki-aki — Vogel, awa-awa = Thal, awanga-wanga — Hoffnung u. ſ. f. Wenn uns auch im Lallen der erſten drei Vierteljahre offenbar ſchon höchſt wichtige elementare Anfänge des Spre— chens entgegentreten, ſo kommt der eigent— liche große Prozeß der Sprachbildung doch, wie ſchon gejagt, erſt ſpäter zu Stande. Ehe wir aber dazu übergehen, ihn zu ſchildern, müſſen wir erſt noch der wichtigen Thatſache Erwähnung thun, daß das Kind die Bedeutung vieler zu ihm geſprochenen Wörter ſchon verſteht, ehe es ſelbſt mit dem Verſuche beginnt, ſie nachzuſprechen, daß alſo das Ver— ſtehenlernen der Wörter dem Sprechen— lernen vorangeht. Das kann uns nicht Wunder nehmen. Es hörte und ſah z. B. häufig den Hund bellen, es wurde ihm dabei ſtets der ſchallnachahmende Laut Wauwau vorgeſagt. Dieſer Laut Wauwau und das Gehör- und Geſichtsbild des bellenden Hundes verſchmelzen nach Sprache des Kindes. 33 bekannten pſychologiſchen Geſetzen in ihm, ſo daß der geſprochene Laut Wauwau in ihm die Vorſtellung „Hund“, wie der geſehene und gehörte Hund in ihm das Lautbild Wauwau naturgemäß er— weckt, ſo daß alſo es nunmehr verſteht, was Wauwau bedeutet, was das Wort heißt. So geht es aber in all den Fällen, welche im Leben des Kindes häufiger hervortreten und ſein Intereſſe erwecken, wie Licht, Fenſter, Straße u. ſ. f., und Sigismund „Kind und Welt“ giebt an, daß ſein Knabe die Bedeutung von mehr als zwanzig Wörtern ſchon gekannt habe, ehe er ſie ſelbſt nachzu— ſprechen angefangen hätte. Bei vielen Wörtern, wie z. B. lobenden oder tadelnden, Freude oder Trauer aus— drückenden Interjektionen (pfui, ei u. ſ. w.) erkennt das Kind die Bedeutung derſelben auch ſehr bald aus der be— gleitenden drohenden oder freundlichen Miene des Sprechenden, und Eſchricht in ſeinem Vortrage: „Wie lernen Kinder ſprechen?“ Berlin, 1853 (der, nebenbei geſagt, das eigentliche Problem, welches in jener Frage liegt, ſo gut wie gar nicht berührt, ſondern ſich vorzugsweiſe auf die Taubſtummheit der Kinder be— zieht), hat recht, wenn er (S. 17) dar— auf aufmerkſam macht, daß das Kind, während es auf die Anrede horcht, nicht den Mund, ſondern das Auge und die Mienen des Sprechenden betrachte, um den allgemeinen Sinn der Rede daraus zu entnehmen. So verſteht das Kind eher und beſſer die Worte, als es ſelbſt ſie zu ſprechen vermöchte, gerade wie auch der Hund wohl den Sinn gewiſſer Worte ſeines Herrn verſteht, ohne daß er ſie ſprechen könnte, gerade wie auch Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. = 34 Fritz Schulze, Die Sprache des Kindes. wir eine fremde Sprache leichter und beſſer verſtehen, als wir uns in ihr ausdrücken können. Wir wenden uns nun der Schilde— rung der Sprachentwicklung in der eigent— lichen Sprechlingsperiode zu und werfen hier zuerſt die Frage auf, in welcher Reihenfolge das Kind die Lautele— mente der Sprache, Vokale und Konſo— nanten, allmählich in ſeine Gewalt bringt. Hier beſtätigt die Beobachtung den all— gemein giltigen Satz, den ich als das zu Grunde liegende Geſetz hinſtellen möchte, daß die Sprachlaute im Kinder— munde in einer Reihe hervorge— bracht werden, die von den mit der geringſten phyſiologiſchen Anſtrengung zu Stande kommen— den Lauten allmählich übergeht zu den mit größerer, und endet bei der mit größter phyſiologiſcher Anſtrengung zu Stande gebrach— ten Sprachlauten. Unter phyſiolo— giſcher Anſtrengung verſtehen wir hier das Maß der Nerven- und Muskelarbeit, welche nötig iſt, um die zur Hervor— bringung eines Sprechlautes notwendige Stellung der Stimmwerkzeuge herbeizu— führen. Dieſes Geſetz bezieht ſich auf die Vokale wie auf die Konſonanten. Betrachten wir zuerſt die Vokaliſation. Man muß nach Helmholtz zwei Reihen von Vokalen unterſcheiden, näm— lich die Reihe A — O — U und die Reihe AE Bei den Vokalen A, O, U bildet die Mundhöhle vom Kehlkopf an bis zu den Lippen nur eine einzige ununter— brochene Schallröhre, die ſich an keiner Stelle verengert; es iſt alſo auch nur ein einziger Schallraum vorhanden, mithin bildet ſich auch nur ein Reſonanz— ton, ſodaß alſo A, O, U die Vokale mit einem Reſonanzton ſind. Bei den Vokalen A, E, J, O, U dagegen wird durch die Erhebung des vorderen Teiles der Zunge nach dem harten Gau— men hinauf eine Verengerung, ein Spalt zwiſchen Zunge und hartem Gaumen ge— bildet, ſodaß die Schallröhre, welche vor— her nur einen Schallraum bildet, jetzt deren zwei, einen vorderen und einen hinteren, beſitzt. In Folge davon ent— ſtehen zwei Reſonanztöne, ſodaß A, E, J, O, Ü die Vokale mit zwei Re— ſonanztönen ſind. Um A hervorzubringen, wird der Mund nur mäßig geöffnet, die Zunge zieht ſich nur um ein geringes aus ihrer „Indifferenz — oder Ruhelage“, d. h. aus der Lage, in welcher ſie ſich beim ruhigen Atmen befindet, nach rückwärts; bei O wird die Zunge um etwas weiter zurückgezogen und zugleich der Lippenſpalt um etwas verengert; bei U wird die Zunge in ihrer Geſammtheit am weiteſten nach rückwärts gezogen und mit ihrem hinteren Theil gegen den Gaumen er— hoben, während die ein wenig vorge— ſtreckten Lippen ſich zu einer engen, kreis— förmigen Offnung zuſammenziehen. Bei A, E, J wird, wie oben ge— ſagt, der vordere Theil der Zunge gegen den harten Gaumen erhoben, und zwar am wenigſten bei A, mehr bei E, am meiſten bei J, bei welchem letzteren alſo zwiſchen erhobener Zungenſpitze und har— tem Gaumen nur ein enger Spalt übrig bleibt, durch welchen der Luftſtrom aus— ) Sievers, Lautphyſiologie, S. 15. r Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. fließt. Bei O und U verhält ſich die Zunge faſt ebenſo wie bei E und J, nur daß bei O und U noch hinzukommt, daß die Lippen kreisförmig verengert werden, ähnlich wie bei O und U. In welcher Reihenfolge treten nun die Vokale in der Kinderſprache allmäh— lich hervor? Meine Beobachtungen, die in ihren Ergebniſſen mit denen Sigis— munds ſehr gut übereinſtimmen, zeigen als den erſten Vokal das A, welches ſchon im Schreilaut erklingt, als zweiten A, welches in ſehr reiner Weiſe ſchon im Papeln hervortritt; dann folgt U, O tritt erſt nach U auf. Der Grund da— von iſt wohl folgender: A und U bilden in der Reihe A, O, U infofern die Ex— treme, als bei A Lippen und Zunge am wenigſten, bei U am meiſten aus der Indifferenzlage gerückt ſind. O liegt in dieſer Hinſicht in der Mitte; es ſcheint alſo dem Kinde eher zu gelingen, gewiſſer— maßen im Anlauf, die der A-Stellung extrem entgegengeſetzte U-Stellung zu gewinnen, als in exakter Weiſe die feine Mittelſtellung des O zu erlangen, wozu offenbar ſchon ein geübteres und ausge— bildeteres Akkomodations- und Inner⸗— vationsgefühl gehört, wie ja doch überall die ſchroffer hervortretenden Gegenſätze leichter erfaßt werden, als die dazwiſchen liegenden feineren Übergangsnuancen. E, J, O, U treten ſämmtlich erſt nach den ſoeben genannten Vokalen (A, A, U, O) hervor, was nicht Wunder nehmen kann, da bei ihnen allen die phy— ſiologiſche Anſtrengung eine ſehr große iſt; muß doch bei allen der vordere Teil der Zunge beträchtlich gehoben, und bei O und U auch noch eine ſchwierige Lip— penſtellung hervorgebracht werden. Die 35 Schwierigkeit wächſt aber in der Reihe bei jedem folgenden Vokal um einen Grad, und ſo kommt es, daß zuerſt von ihnen E geſprochen wird, J aber über— haupt erſt ſehr ſpät ſich einſtellt. O, beſonders aber U machen dem Kind enorme Schwierigkeiten, es ſetzt zuerſt trotz alles Vorſprechens ſtets E und J dafür z. B. ſchen ſtatt ſchön, iber ſtatt über, wie in vielen deutſchen Dialekten. Wir ſagten, auch E trete erſt nach A, A, U, O hervor, nämlich das lange E iſt gemeint, welches wir in See, geh u. a. ſprechen. Denn der Laut hähähä, den das Kind ſchon in der Papelperiode ausſpricht, enthält ein wirkliches ä, das vom Kinde wegen ſeines ſchwächlichen Exſpirationsſtromes nur ſehr kurzatmig, gewiſſermaßen nur als Achtelnote, nicht als ganze Note hervorgeſtoßen wird. Fer— ner iſt das E, welches wir eben in den Papellauten anne-anne, oder ange-ange geſchrieben haben, nicht das E in See und geh, ſondern der Laut, welcher ent— ſteht, wenn wir z. B. nicht Tan- nén oder fän-gen, ſondern wie gewöhnlich Tänn'n, fäng'n ausſprechen. Die Vokale treten alſo in folgender Reihe nach einander in dem Entwicklungsprozeß des kindlichen Sprechens hervor: A, A, U, O, E, J, O, U, eine Reihe, in der hinſichtlich der phyſiologiſchen Anſtrengung eine allmäh— liche Steigerung ſtattfindet. Die Diph— tonge folgen ſich meinen Beobachtungen nach in dieſer Reihe: zuerſt Ei (ſchon ſehr früh, früher als E und I), dann Au (zuerſt durch A erſetzt), zuletzt Eu und Au, wofür das Kind anfänglich ſtets Ei ſagt. Gehen wir jetzt zu den Konſonanten über. Auch hier müſſen wir erſt einige 2, FF Ergebniſſe der lautphyſiologiſchen Unter ſuchungen voranſchicken. Die Konſonan— ten entſtehen, wenn durch plötzliche Schlie— ßung oder Verengung der Mundhöhle an irgend einer Stelle der erſpirirte Luftſtrom in unregelmäßige Schwingun— gen verſetzt und ſomit Geräuſche erzeugt werden. Der Verſchluß kann erſtens vermittelſt der Lippen hergeſtellt werden; ſo ergeben ſich die Lippenlaute: P, B, M, F (und B mit identiſch), W, und zwar entweder nur mit den Lippen, ſo ergeben ſich die Laute P, B, M, oder durch Anlegen der oberen Zahn— reihe an die Unterlippe, ſo entſtehen F (V) W. Der Verſchluß kann zweitens durch Anlegen der Zungenſpitze an die Zähne oder den harten Gaumen gebildet werden; ſo erhalten wir die Zungenlaute: T, D, N, L, 8, Sch. Der Verſchluß kann drittens entſtehen durch das An— legen des hinteren Teils der Zunge oder des Zungenrückens an den harten Gau— men; ſo entſpringen die Gaumenlaute K, G, Ng (wie in jung), Ch, Jot. Innerhalb jeder dieſer drei Gruppen der Lippen-, Zungen- und Gaumenlaute ſind nun wieder drei Abteilungen zu unterſcheiden. Die erſte Abteilung umfaßt die Verſchlußlaute, welche entſtehen durch ein plötzliches Verſchließen und unmittelbar ſich daran fügendes Wiederaufbrechen der Mundhöhle, ent— weder vermittelſt der Lippen: P, B, oder vermittelſt Zungenſpitze und Zahnreihe, 36 Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. reſp. Gaumens: T, D; oder vermittelſt Zungenrückens und Gaumens K, G. Die zweite Abteilung enthält die Reſonanten, welche ſich bilden, wenn, während der Verſchluß beſtehen bleibt, ein Luftſtrom durch die Naſe ſtreicht; den Verſchluß bilden die Lippen = M; oder Zungenſpitze mit Zahnreihe und Gaumen — N; oder Zungenrücken und Gaumen — Ng. In der dritten Ab— teilung ſtehen die Reibungsge— räuſche, welche ſich bilden, wenn durch einen vermittelſt der Lippen und Zahn— reihe (F, W) oder vermittelſt der Zungen— ſpitze und des Gaumens (S, Sch, L) oder vermittelſt des Zungenrückens und Gaumens (Ch, Jot) hergeſtellten Spalt ein Luftſtrom hindurchgetrieben und da— durch ein Geräuſch hervorgerufen wird. Dieſen drei Abteilungen ſchließt ſich end— lich als vierte noch die der Zitter— laute an, welche erzeugt werden, wenn die nur loſe verſchloſſene Verſchlußſtelle durch die Exſpiration in Schwingungen verſetzt wird. In dieſer Abteilung ſteht nur das N in feinen drei verſchiedenen Formen als Lippen-R, Zungen-R und Gaumen-R. Z iſt nur = Tſ; X = Kſ. H iſt ein Mittelding zwiſchen Konſonant und Vokal, einfach erzeugt durch einen ſtarken aus der Kehle hervorgetriebenen Luftſtrom. Die folgende Tabelle wird am beſten die gegebenen Erklärungen in kürzeſter Form verdeutlichen: Verſchlußlaute Reſonanten Reibungsgeräuſche Zitterlaute Lippenlaute P B M F (V) W̃ R labiale Zungenlaute T D N L S Sch R linguale Gaumenlaute K G Ng Ch Jot R gutturale zum In welcher Reihenfolge lernt nun das Kind die Konſonanten ausſprechen? Auch hier haben mich meine Beobach— tungen das oben aufgeſtellte Geſetz ge— lehrt, nach welchem das Kind die Laute hervorbringen lernt in einer Stufenfolge, die von den mit geringſter phyſiologiſcher Anſtrengung verbundenen Lauten auf— wärts ſteigt zu den mit größeren Anſtren— gungen verknüpften. Wenn wir uns an die oben aufgeſtellte Tabelle halten, ſo können wir das allgemeine Beobachtungs- ergebnis ſo ausdrücken: Es wächſt die phyſiologiſche Schwierigkeit in der Rich— tung von oben nach unten von den Lippen- zu den Gaumenbuch— ſtaben. Die letzteren treten deshalb auch beim Kinde erfahrungsmäßig am ſpäteſten von allen hervor. Verfolgen wir die Richtung von links nach rechts, ſo müſſen wir hier eine Unterſcheidung machen. Bei den Lippen- und Zungenlauten wächſt die Schwierigkeit in der Richtung von links nach rechts; bei den Gau— menbuchſtaben aber umgekehrt (wenn wir das R gutturale hier erſt ganz bei Seite laſſen wollen) wächſt die Schwie— rigkeit für das Kind in der Richtung von rechts nach links. K und G lernt das Kind am ſpäteſten von allen Lauten; hat es auch alle übrigen ſchon in der Gewalt, ſo ſagt es doch noch ſtatt Karl — Tarl und ſtatt Gott — Dott; ſtatt Junge ſagt es Junne. R wird früher als K und G, doch ſpäter als die übrigen Laute gelernt (ſtatt Friede ſagt es Fiede; ſtatt Rot — Hot). Wir wollen dieſe allgemeinen Aufſtellungen noch mehr im Einzelnen erläutern. Unter den oben angeführten Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 37 Papellauten finden ſich an Konſonanten P, B, M, F, W, D, N, H — wie wir ſehen (wenn wir H außer Acht laſſen) lauter Lippen- und Zungenlaute. Unter den Lippenlauten lernt es ein deut— liches W' ſpäter ſagen als F; wie der Verſuch zeigt, iſt die phyſiologiſche An— ſtrengung bei W auch entſchieden größer als bei F. Unter den Zungenlauten lernt es am ſpäteſten L, S, Sch, aber L vor S, und S vor Sch (3. B. Saf [das Scharf] ſtatt Schaf). Über die Gaumen— laute iſt das Nöthige bereits geſagt. Ich glaube ungefähr das Richtige zu treffen, wenn ich behaupte, daß das Kind die geſammte Konſonantur ſich aneignet in den ſechs nachſtehenden, der phyſiologiſchen Schwierigkeit wie der Zeit nach auf ein— ander folgenden Abſchnitten. P, B, M, F, W, D, N bilden den Inhalt der erſten Stufe ſeines Könnens. Den zweiten Abſchnitt bilden L und S; den dritten Ch und Jot; den vierten Sch, den fünften R, den ſechſten Ng, K und G. Man kann dieſe Abſchnitte deshalb mit Recht unterſcheiden, weil wirklich ſtets zwiſchen dem vorhergehenden und dem folgenden Abſchnitt eine geraume Zeit, manchmal mehrere Wochen, ja Mo— nate verſtreichen, ehe die folgende Station erobert wird. Es iſt für den Beobachter allemal ein Ereignis, wenn endlich wieder etwas neues zu Tage tritt. Doch will ich dieſe ſechs Abſchnitte nur mit Vorſicht aufſtellen, weil ich mein dieſer Stufenfolge zu Grunde liegendes Be— obachtungsmaterial noch lange nicht für genügend halte, um ohne weiteres dog— matiſche Sicherheit für die mir allerdings vorläufig als richtig erſcheinenden Sätze in Anſpruch zu nehmen. So macht es 9 38 Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. z. B. noch einen wichtigen Unterſchied, ob einem für das Kind mühſamen Kon— ſonanten ein Vokal oder ein anderer Konſonant folgt. Wenn im erſtern Fall das Kind den ſchwierigen Konſonanten auch ſchon zu ſprechen vermag, ſo iſt damit doch noch nicht geſagt, daß es ihn auch im letztern Fall beherrſcht — im Gegenteil, dies iſt vielfach nicht der Fall: es ſagt z. B. ſchon deutlich Schaf ſtatt des früheren Saf (ſcharfes S); aber es ſagt noch flafen ſtatt ſchlafen; und kann es auch ſchon ſchlafen ſagen, ſo ſpricht es deshalb doch lange noch nicht Straße — Schtraße, in welchem die Ver— bindung von drei an ſich ſchon müh— ſamen Konſonanten ihm lange Zeit die größte Schwierigkeit bereitet, ſondern Traſſe. Wir werfen jetzt, nachdem wir dieſe Ergebniſſe hinſichtlich der Vokaliſation und Konſonantur gewonnen haben, die neue wichtige Frage auf, wie das Kind, ſolange es jene ſchwierigen Laute und Lautverbindungen der höheren Entwick— lungsabſchnitte noch nicht zu ſprechen ver— mag, mit denjenigen ihm zu Gehör ge— brachten Wörtern verfährt, welche gerade ſolche ſchwierigen Laute in ſich enthalten. Es iſt bekannt, daß die Kinder ſolche Wörter verſtümmeln. Aber geht dieſe Verſtümmelung geſetzlos vor ſich? Im Gegenteil, es zeigen ſich dabei ganz feſte Lautverſchiebungsgeſetze, nach denen das Kind unbewußt die Umwandlung vor— nimmt. Meine Beobachtungen haben mich zu folgendem Lautverſchiebungs— oder Verſtümmelungs- oder Ver— wandlungsgeſetz der Kinderſprache ge— führt: Für den dem Kinde noch un— ausſprechbaren Laut (Vokal oder | Konſonant) ſetzt daſſelbe den die— ſem ſchwierigen Laute nächſtver— wandten, mit geringerer phyſio— logiſcher Schwierigkeit ſprech— baren Laut, und wenn es auch dieſen noch nicht zu beherrſchen vermag, ſo läßt es ihn einfach ganz und gar weg. So ſetzt es hinſichtlich der Vokale z. B. ſtatt ö ſtets e, ſtatt ü ſtets i, ſo— lange ihm ö und ü noch nicht geläufig ſind; ja es geht ſoweit, daß es für das Anfangs ſchwierige i ſogar a ſubſtituirt, z. B. den Vogel, der ihm als Pippip bezeichnet wird, Pappap nennt. Statt eu oder äu ſetzt es ei, ſtatt au einen nach a hinüberklingenden Laut. Hinſichtlich der Konſonanten zeigt ſich erſtens, daß das Kind im Anfang der Sprachentwick— lung die Konſonanten derſelben Gruppe überhaupt leicht verwechſelt, daß ihm dieſelben mehr oder weniger ununterſchieden in einander überfließen: ſo M und B beides Lippenbuchſtaben, z. B. Bond ſtatt Mond, ſo W und B, z. B. Baſſe ſtatt Waſſer, ſo F und W, z. B. Faffaf ſtatt Waſſer. Zweitens: es läßt den oder die ſchwierigen Konſonanten ein— fach aus: ſo ſagt es anfänglich Ti ſtatt Tiſch, Ha ſtatt Hals, O für Ohr, Mu für Mund. Drittens: es ſubſtituirt dem ſchwierigen Konſonanten den dieſem, in derſelben Reihe liegenden, nächſtverwand— ten Konſonanten: z. B. ſtatt der Gaumen⸗ laute Zungenlaute, und zwar für den harten Laut (Tenuis) der ſchwierigen Gruppe auch die Tenuis der leichteren Gruppen, für den weichen (Media) dort, die Media hier, z. B. ſtatt Karl Tarl (nicht Darl), für Gott Dott (nicht Tott). Viertens: dieſe Verſchiebung, welche in 4 den hier gegebenen Beifpielen nur um einen Schritt nach rückwärts erfolgt iſt, kann unter Umſtänden gewiſſermaßen durch mehrere Stationen hindurch rück— wärts geführt werden; Station A iſt zu Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. ſchwierig, aber auch die nächſtliegende Sta- tion B iſt noch nicht erreichbar, fo beſchränkt ſonant beſtimmt den Anfangskonſonant: ſich das Kind auf die dieſer nächſtliegende Station C; z. B. Waſſer kann es an— fänglich nicht ſagen, aber auch noch nicht Wafwaf, es ſagt vielmehr Faffaf — das wenn man will, vier Stationen: heißt zuerſt Faffaf (die Reduplikation 39 der Endkonſonant nach dem Anfangskon— ſonant, und zwar ſo, daß der Endkon— ſonant identiſch wird mit dem des An— fangs; Topf wird Tot, aus Stuhl wird Tut, aus Ball Bab (oder richtiger Bapp), aus Bock Bop, aus Setzen Ses u. ſ. f., oder auch umgekehrt der Endkon— z. B. aus Schultze wird Lullul — alſo der für das Kind leichtere Konſonant vertreibt in dieſen Fällen den ſchwereren Wort Waſſer durchläuft alſo drei, oder Es iſt ſchon oben erklärt), dann Wafwaf, darauf Waſſe (ohne r), zuletzt erſt Waſſer. Fünftens: das Kind wendet gelegent- lich bei beſonders komplizirten Worten beide Mittel an: Ausfallenlaſſen und Verwandeln. Statt Großmama, ein Wort, in welchem das Groß von Schwierigkeiten (G, R, S) förmlich umlagert iſt, ſagt es zuerſt einfach weglaſſend: Omama. Spä⸗ ter läßt es aus und verſchiebt zugleich: es läßt R weg, verſchiebt Gin D — und ſagt Doßmama. Es wäre nun ſehr intereſſant, dieſe Verſchiebungsgeſetze der Kinderſprache zu vergleichen mit denen der Völkerſprachen untereinander und innerhalb jeder einzelnen hinſichtlich ihrer verſchiedenen Entwicklungsſtadien — doch muß ich dieſe Aufgabe völlig dem Linguiſten überlaſſen. Ich habe hier in— deſſen noch auf einige andere merkwürdige Eigentümlichkeiten der Kinderſprache hin— zuweiſen. Nämlich ſech ſtens: Innerhalb einer Lautgruppe wirkt die Abänderung iſt aber klar, daß man nicht von einer eines Lautes häufig auch zugleich auf einen anderen Laut der Gruppe ein, ſodaß dieſer in Gefolge jenes ſich mitverändert. Bei einſilbigen Wörtern z. B. richtet ſich und ſetzt ſich an die Stelle. Siebentens will ich hier die Neigung zur Redupli— kation noch einmal hervorheben. So wird auf Grund dieſer Neigung und der vor— hergehenden Geſetze z. B. Kette zu Tettet, Stiefel zu Tittit, Dorchen zu Dodo u. ſ. f. Faſſen wir alle die aufgeſtellten Regeln ins Auge, ſo erklärt ſich uns nun völlig, wie z. B. Bertha — Depta, Gretchen — Dita, Schultze zuerſt — Lullul, ſpäter — Lollo, Wurſtbrot — Fofpoop, Onkel Paul = Olla Oppa (ſpäter Olten Paul) u. ſ. w. wird. Es geht alſo erſtens auch noch daraus hervor, daß ein und daſſelbe Wort in den verſchiede— nen Stadien der ſich entwickelnden Sprache eines und deſſelben Kindes in ſehr verſchiedener Geſtalt er— ſcheint, daß alſo jedes Wort einen viel- fältigen Entwicklungsprozeß durchläuft, ehe es die in der Sprache der Erwach— ſenen feſtſtehende Geſtalt erreicht. In wie weit hier die ontogenetiſche Ent— wicklung mit der phylogenetiſchen übereinſtimmt, muß der Entſcheidung des Sprachforſchers überlaſſen bleiben; ſo viel einzigen bei allen Kindern identiſchen, ja nicht einmal von einer in einem und demſelben Kinde identiſchen Kin— 40 derſprache reden kann, ſondern nur von einem ſich fortgeſetzt verwandelnden Ent— wicklungsprozeß in der Sprache des Kindes, den genau und in allen ſeinen Verzweigungen darzulegen, erſt ganz aus— führliche Vokabularien angelegt werden müßten, wie ſie bis jetzt ja noch nicht exiſtiren.“) Intereſſant iſt es zu ſehen, wie Naturvölker in ganz ähnlicher Weiſe wie unſere Kinder und wahrſcheinlich alſo auch nach ähnlichen Verwandlungsgeſetzen die Wörter europäiſcher Sprachen ſich mund— gerecht machen. So ſagten die Tahitier für Cook O-Tute, gerade ſo wie Sigismunds Knabe den Namen des Kapitäns aus— ſprach. So machten die, nur die oben an— geführten neun Konſonanten beſitzenden Maori, die nach Hochſtetter zu den Eng— ländern ſagten: „Eure Sprache geht zwar in unſer Ohr, aber nicht wieder aus dem Munde heraus,“ aus Samuel = Se: mara, aus Friedrich — Waritarihi, aus David — Rawiri, aus New Zea— land — Niutireni, aus Governor — Kawana, aus Victoria the queen of England — Wikoria te Kuini o Ingireni. Über den Wortſchatz der Kinder— ſprache einerſeits und die Syntax der— ſelben andererſeits können wir uns kurz faſſen. Über den Wortſchatz, den das Kind in ſeiner Rede zu Tage treten läßt, iſt zu ſagen, daß derſelbe ſehr klein iſt (allerdings verſteht es mehr Wörter, als es ſelbſt ſpricht), und daß er ſich, wie natürlich, nur auf die wenigen dem Kinde zugänglichen und ihm intereſſanten, ganz konkreten Gegenſtände und Verhält— *) Vgl. die bei Sigismund, Kind und Welt, S. 136 ff. angeführten Wörter. Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. niſſe bezieht, daß in ihm alſo alle ab— ſtrakten Beziehungen, z. B. die Wörter auf ſchaft, ung, nis, heit, keit u. ſ. w. noch ganz und gar fehlen. Es wäre ge— wiß nicht blos für die Sprache, ſondern beſonders für die Pſychologie und Pä— dagogik wichtig, den Entwicklungsprozeß der Kinderſprache von den konkreten zu den abſtrakten Beziehungen im Einzelnen zu erforſchen, obwol ſich vermuten läßt, daß hierbei außerordentliche Verſchieden— heiten hinſichtlich der einzelnen Indivi— duen je nach ihrer Anlage und ihren Lebensverhältniſſen zu Tage treten wer— den, doch fehlt bis jetzt das Beobachtungs— material hinſichtlich dieſes Prozeſſes noch allzu ſehr. Hinſichtlich der ſyntaktiſchen Ver— hältniſſe iſt zu ſagen, daß die Kinder— ſprache ſich Anfangs ganz und gar auf der Stufe der fog. aſynthetiſchen Sprachen befindet, ſodaß alſo jede Art der Flexion, Deklination, Konjugation, Komparation, alle Präpoſitionen und Konjunktionen zuerſt völlig fehlen und das Kind ſeine Wortfragmente ohne jede Ver— bindung einfach nebeneinander ſtellt nach der Regel, die auch die Geberden der Taubſtummenſprache in ihrer Aufeinan— derfolge beherrſcht, daß das dem Kinde am wichtigſten Erſcheinende von ihm mit beſonderer Betonung hingeſtellt wird. Die von Sigismund mitgetheilte „Erſte Erzählung“ ſeines 20 Monate alten Knaben iſt ein Beiſpiel für dieſe aſyn— thetiſche Satzbildung: „Atten — Beene — Titten — Bach — Eine — Puff — Anna“, ſprach er mit ziemlich langen Zwiſchenpauſen und leb— haftem Geberdenſpiel. Das ſollte heißen: „Wir waren heute im Garten, haben Beeren und Kirſchen gegeſſen, dann in den Bach Steine geworfen und ſind der Anna begegnet.“ Erſt ſehr allmählich entwickelt das Kind aus dieſen formlos neben einander geſtellten viel— deutigen Wortblöcken jene fein geglie— derten Wortſtatuen der flektirenden Sprache, bei denen aus jedem noch ſo kleinen Gliede Geiſt und Verſtändnis auf das klarſte hervorleuchtet. In der Einleitung zu dieſem Verſuch habe ich die Meinung ausgeſprochen, daß durch die genaue Erforſchung des Ent— wicklungsganges der Kinderſprache ſich unzweifelhaft eine Menge ſprachtheo— retiſcher Probleme würden löſen laſſen — ich möchte nun allerdings hin— zufügen, daß zu einem ſolchen Zwecke die Beobachtungen viel weiter reichen müßten, als das bei dem mir zu Gebote ſtehenden, noch ſehr mangelhaften Mate— rial der Fall iſt. Ein Hauptmangel iſt der, daß ſich meine und ebenſo die vor— trefflichen Beobachtungen Sigismunds nur auf deutſche Kinder ſtützen; es müßten die Beobachtungen nicht allein auf Kin— der verſchiedenſter Nationen ausgedehnt, ſondern auch der Einfluß berückſichtigt werden, welchen auf die Entwicklung der Sprache eines Kindes der beſon— dere Dialekt ſeiner Umgebung ausübt. Ich glaube aber auch, daß für die Praxis gewiſſer Zweige der Päda— gogik aus ſolchen Unterſuchungen ein großer Gewinn beſonders in Beziehung auf die Methodik derſelben ſich ergeben Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. Fritz Schultze, Die Sprache des Kindes. 41 loſen Mühe, mit welcher der Lehrer taub— ſtummen und ſchwachſinnigen Kindern das Sprechen beibringt. Die Erfolge auf dieſem Gebiete ſind bisher viel mehr der unglaublichen Geduld und der liebe— vollen Hingebung der Lehrer an ihre Aufgabe als einer wirklich wiſſenſchaft— lichen und theoretiſch begründeten Methode zu verdanken. Aber ich bin überzeugt, wenn man genauer die Entwicklung der Kinderſprache kennte, wenn man genauer wüßte, in welcher phyſiologiſch natur— gemäßen Reihenfolge die einzelnen Laute und Lautverbindungen auf und aus ein— ander folgen, wenn man ferner die natür— liche pſychologiſche Entwicklungsfolge der einzelnen Wortklaſſen“) kennte, jo würde man den Unterricht dieſer Taubſtummen und Schwachſinnigen wirklich methodiſch einrichten, von phyſiologiſch und pſycho— logiſch Leichterem zum Schwererem konti— nuirlich aufſteigen, alſo wirklich rationell verfahren und damit Zeit und Mühe erſparen können. Und daß auch fur die Methodik des Sprachunterrichts bei nor— malen Kindern dabei manch wichtiges Er— gebnis zum Vorſchein käme, ſcheint mir fraglos zu ſein. Auch von der Sprache des Kindes gilt das Rückertſche Wort aus der „Weisheit des Brahmanen“: „Mit jeder Sprache, die du mehr erlernſt, befreiſt Du einen bis dahin in Dir gebundenen Geiſt.“ ) Für die „Psychologie der Konjunktionen“ verweiſe ich auf T. Ziller, Einleitung in die allgemeine Pädagogik, $. 18, als ein Beiſpiel würde. Man erinnere ſich der grenzen— | und Vorbild. Der Schlaf und die Träume.) Von J. Delboeuf, Profeſſor an der Univerſität Lüttich. A SE giebt wohl kein Thema, 2 N Y welches die mürriſchen Philo— 8 = „ ſophen von dem lachenden 5 Jaonien, der Wiege Heraklits E des Traurigen, bis zu dem trüben Oſtſeelande, der Heimat desfinſtern Schopenhauer, in jedem Jahrhundert und unter allen Klimaten mit mehr Vorliebe behandelt haben, als dasjenige der Lei— den der Menſchen. Die religiöſen Schrift— ſteller ihrerſeits, die Paskal und Boſſuet, verfehlten niemals, obwohl ſie die Größe der menſchlichen Seele prieſen, auch deren Niedrigkeit vor ihr Forum zu for— dern. Es möchte ſomit unmöglich er— ſcheinen, dem troſtloſen Gemälde unſerer Schwäche und unſeres Nichts neue Züge *) Der obige Auſfſatz erſchien zuerſt in Th. Ribots Revue philosophique (Octobre et Novembre 1879), ift aber von dem Herrn Verfaſſer für die deutſche Ausgabe mit Aende— rungen und Zuſätzen verſehen worden. ſeine Rolle ſpielen zu laſſen. f Blick auf einige neuere Abhandlungen. hinzuzufügen. Und dennoch vergißt man darin, ein ganzes Dritteil unſeres Seins Jeden Tag werden wir ſozuſagen uns ſelbſt entführt durch einen phantaſtiſchen, bi— zarren und launiſchen Genius, der ſich ein boshaftes Vergnügen daraus macht, die Gegenſätze des Guten und des Böſen, des Laſters und der Tugend zu ver— ſchmelzen. Zu gewiſſen Stunden des Tages wird der rechtſchaffenſte Menſch ohne Gewiſſensbiſſe die ſcheußlichſten Unthaten begehen, er wird zum Räuber, Mörder, Blutſchänder und Meineidigen werden; die junge und keuſche Gattin wird ſich den indecenteſten Handlungen hingeben; die ſchamhafte Nonne wird ſchmutzige Reden ihrem Munde ent— ſchlüpfen laſſen; der fromme Prieſter, durch ſeine Leidenſchaft oder Phantaſie verführt, wird vor keiner Heiligtums— ſchändung zurückſchrecken. Wenn die An— J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. fechtung ihr Ende erreicht hat, und wir wieder in den Beſitz unſeres Selbſt zu— rückkehren, würden wir oftmals das, was wir geträumt haben, andern nicht ein— mal zu erzählen, noch ſelbſt es in unſer Gedächtnis zurückzurufen wagen. Be— unruhigt fragen wir uns, ob wir nicht im Grunde unſres Weſens einen haſſens— werten Gärungsſtoff beherbergen, der uns jeden Augenblick zum Verbrechen treiben kann. Wir verfluchen dieſe un— bekannte Macht, welche, von unſerer Seele Beſitz ergreifend, ihren beſten Eigenſchaften die ſchlimmſten unterſchiebt. Aber im Gegenſatze hierzu und ganz ebenſo häufig iſt die Thätigkeit des Schlummers wohlthätig und tröſtlich. Sie verſetzt uns für einige Augenblicke in die Mitte der teuren Weſen, die wir verloren haben, zurück; ſie läßt den Kranken ſeine Leiden, den Unglücklichen ſein Elend vergeſſen; ſie giebt dem Ge— lähmten die Beweglichkeit, dem Tauben das Gehör, dem Blinden das Geſicht, dem Gefangenen die Freiheit, dem armen verlaſſenen Mädchen das Glück der erſten Liebe wieder. Zu kurze Illuſionen, die nur dazu dienen, die herbe Wirklichkeit noch bitterer zu geſtalten! Der Zauberſtab des Traums ver wandelt die erbärmlichſte Hütte in ein verzaubertes Schloß; er löſt die Zunge des Stammlers und flößt ihm eine hin⸗ reißende Beredſamkeit ein; er treibt den Furchtſamen, den furchtbarſten Gefahren zu trotzen; er liefert dem Forſcher den Schlüſſel zu den geheimnisvollſten Erſchei— nungen; er verleiht ſelbſt unſerm ſchweren und am Boden kriechenden Körper wunder— bare Flügel, die ihn ohne Anſtrengung mitten durch die Unendlichkeit tragen. 43 Bedarf es mehr, um zu erklären, daß man den Träumen zu allen Zeiten einen übernatürlichen Charakter zuge— ſchrieben hat? Man betrachtet ſie als Botſchafter der Gottheit, — wahre oder trügeriſche, je nach ihrer Art; — ſie enthüllen die Geheimniſſe der Zukunft, und wer ihre Sprache zu enträtſeln weiß, wird darin ohne Mühe Verheißungen oder Drohungen entdecken. Und wenn wir, uns nicht weiter an die Mei— nungen des großen Haufens kehrend, die Männer der Wiſſenſchaft fragen, hören wir ſie, ganz im Beginne ihres Kampfes gegen den Aberglauben, eine überraſchende Theorie aufſtellen: die Träume, weit entfernt Götter zu offen— baren, ſollen ſie erſchaffen haben; unſer Geiſt, welcher im Schlafe Phan— tome außerordentliche Dinge vollbringen ſah, legte ihnen eine wirkliche Exiſtenz bei, und begabte ſie mit einer furcht— baren Macht: ſo wurde der Himmel be— völfert.*) Außerdem hat man gejagt, daß die Bilder derer, die nicht mehr ſind, indem ſie uns in der Stille der Nächte beſuchen, den Glauben an ein Jenſeits erweckt haben und daß die Geiſter der Könige oder gefürchteter Häuptlinge unmerklich zum Range gött— licher Weſen erhöht worden ſind, welche das Schickſal der Lebenden in ihren Händen halten. Auf dieſe Weiſe würden die ſeltſamen Kinder der Erſchöpfung und der Nacht, welche uns beim Er— wachen Abſcheu oder Mitleid, Lachen oder Verachtung einflößen, die Religionen erſchaffen haben, und das religiöſe Gefühl, welches nach einer guten Zahl von Philo— luneretius, de Rerum Natura, V, 1168 fl. \ 44 ſophen vielleicht der einzige unterſchei— dende Charakter iſt, durch welchen ſich der Menſch über das Tier erhebt, würde keinen andern Urſprung beſitzen. Die Re— ligion, Tochter der Finſternis, die Wiſſen— ſchaft, Tochter des Lichts: würde nicht dieſer Raſſengegenſatz hinreichen, um uns ihre unaufhörlichen Konflikte, ihren un— vereinbaren Gegenſatz zu erklären? Die den Träumen ſtets beigelegte Wichtigkeit ſollte vermuten laſſen, daß man früh mit ihrem Studium begonnen habe, und heute zu gewiſſen genauen und abſchließenden Begriffen über ihren Charakter und ihre Urſachen gelangt ſei. Nichts von alledem! Aus dem Alter— tum könnten wir nur einige meiſterhafte Seiten des Ariſtoteles über dieſen Gegen— ſtand erwähnen, und die Neuzeit be— treffend, konnte Maudsley') ganz kürz⸗ lich die folgenden Zeilen ſchreiben: „Das Studium der Träume iſt vernachläſſigt worden, und dennoch verſpräche es für einen geſchickten und kompetenten Beob— achter, der es mit Fleiß und Methode unternehmen wollte, ergiebig zu werden; für die Arzte im beſondern würde es wahrſcheinlich höchſt lehrreich ſein.“ Was den gegenwärtigen Stand der Wiſſenſchaft vom Traume betrifft, habe ich nicht genug Autorität, um ihn zu ſchätzen. Ich werde mich deshalb begnügen, die Worte Vierordts zu eitiren, deſſen Kompetenz unbeſtreitbar iſt. „Was die Aufſtellung einer phyſiologiſchen Theorie des Schlafes betrifft,“ jagt er“), „fo kann man noch nicht daran denken. *) The pathology of Mind (1879) p. 49. aer) Grundriß der Phyſiologie des Menſchen, 5. Aufl. Tübingen, 1877, S. 653. a J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. Wozu dieſes allgemeine Bedürfniß einer periodiſchen Verminderung oder teilweiſen Aufhebung der phyſiſchen und pſychiſchen Thätigkeiten? Welches ſind die ohne Zweifel zahlreichen, körperlichen wie pſy— chiſchen Bedingungen, welche den phyſio— logiſchen Schlaf herbeiführen und um— gekehrt während des Schlummers un— merklich das Erwachen vorbereiten? Wie ſind endlich die feſtgeſtellten Formen be— ſchaffen, unter welchen die Funktionen des Schlafenden ſich nach Quantität und Qua⸗ lität darſtellen? Das ſind alles Fragen, auf welche eine Antwort unmöglich iſt.“ Dennoch iſt, beſonders ſeit einiger Zeit, kein Mangel an neu erſchienenen Werken über den Schlaf und die Träume. Ohne von den klaſſiſch gewordenen Bü- chern von Alfred Maury und Albert Lemoine zu ſprechen, und indem ich mich auf die beiden letzten Jahre be— ſchränke, habe ich ein Werkchen von Serge Sergudyeff“), eine ruſſiſch geſchriebene Arbeit von N. Grote“), einen Band von dreihundert Seiten von Heinrich Spitta“ ), Privatdozenten an der Univerſität Tübingen, ein noch um— fangreicheres Werk von Paul Rade— fto +), eine Broſchüre von C. Binz if), eine andere von Paul Dupuyrry), *) Le sommeil et le système nerveux, preparation à l’etude de la veille et du sommeil. Geneve, 1877. **) Les r&ves, comme l'objet d'analyse scientifique. Kiev, 1878. k) Die Schlaf- und Traumzuſtände der menſchlichen Seele ꝛc. Tübingen, 1878. +) Schlaf und Traum, eine phyſiologiſch⸗ pſychologiſche Unterſuchung. Leipzig, 1879. Ii) über den Traum. Bonn, 1878. tr) Etude psycho-physiologique sur le sommeil. Bordeaux, 1879. N J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 45 Profeſſor der mediziniſchen Fakultät von Bordeaux, anzuführen. Ich habe ohne Zweifel die Liſte nicht erſchöpft, und vielleicht vorzügliche Werke überſehen. Ich würde außerdem Werke über Phy— ſiologie und Pathologie zu erwähnen haben, in denen der Schlaf Gegenſtand ausführlicher Kapitel iſt, die einen Band für ſich bilden könnten. So z. B. wid— met ihm Maudsley in dem bereits citirten Werke beinahe 100 Seiten, und Stricker, Profeſſor an der Wiener Univerſität, hat ſeinen „Vorleſungen über allgemeine und experimentelle Patho— logie” *) eine Art Kurſus der Pſychologie folgen laſſen, welcher nicht weniger als elf Kapitel einnimmt und zahlreiche neue und eigene Geſichtspunkte über die Natur der Träume enthält, obwohl er die Erklärung der Geiſteskrankheiten zum ſpeziellen Gegenſtande hat. Ich werde nicht lange bei der origi— nellen, aber wenig ernſthaften Arbeit Sergudyeffs verweilen. Der Verfaſſer beginnt mit der Aufſtellung, daß der Schlaf eine weſentlich vegetative Funktion (2) ſei, da er Allem, was lebt, nötig iſt und zum Zweck hat, den Organismus in ſei— nem normalen Zuſtande zu erhalten. Es find alſo drei Dinge zu entdecken; 1) die Subſtanz (l’aliment), dem Schlafe wie dem Wachen erforderlich, 2) das Organ, 3) der Mechanismus. Eine Subſtanz (aliment) iſt nicht un⸗ bedingt eine greif- und wägbare Materie; nichts hindert zu ſchließen, daß der Ge— genſtand des Wachens und Schlafens eine ätheriſche oder dynamiſche Form oder Kraft ſei. Was Sergusyeff dar- unter verſteht, bin ich außer Stande, *) Wien, 1879. 21.— 23. Vorleſung. zu begreifen. Er hat mir überhaupt den Eindruck hinterlaſſen, über Ather, Bewe— gung, Kraft und Materie nur verwirrte und widerſprechende Begriffe zu haben. Was das Organ des Schlafes betrifft, ſo müſſe es wahrſcheinlich der große Sympathikus ſein. Denn einerſeits kennt man den Sitz dieſer Funktion nicht, und andererſeits nicht die Funktion dieſes Apparates. Dieſer Schluß iſt nicht von der äußerſten Sicherheit. Aber der Autor begnügt ſich mit Recht nicht mit dieſem einfachen logiſchen Argumente. Er er— innert daran, daß die Sektion der ſym— pathiſchen Nerven Veranlaſſung zu kalo— riſchen Erſcheinungen giebt, welche man nicht den ſo herbeigeführten Veränderun— gen des Blutumlaufs zuſchreiben kann, und deren Erklärung noch nicht gefunden iſt. Nun würde die Wärmezunahme ſich leicht durch Hemmung einer vegetativen und centripetalen Bewegung erklären, während des Wachens würde man Kraft anhäufen, während des Schlummers den Überſchuß ausgeben. Grade das Gegen— teil hiervon entſpricht der allgemeinen Meinung. Ich bin nicht Phyſiologe und kann die Schlüſſe Sergudyeffs nicht diskutiren. Ich hätte einzig zu erfahren begehrt — und erwartete das immer als Schlußargument —, bis zu welchem Punkte die Tiere, denen man den ſym— pathiſchen Nerv zerſchneidet, den Schlaf verlieren, und ob z. B. der Hund, bei welchem noch nach 18 Monaten der Wärme— überſchuß nachweisbar war, dieſe ganze Zeit hindurch nicht beinahe wie gewöhn— lich geſchlafen hätte. Der meinem Gefühl nach unfrucht— bare Verſuch Sergusyeffs, ſcheint mir geeignet, erkennen zu laſſen, mit — —— 46 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. welcher tiefen Dunkelheit das phyſiolo— giſche Problem umhüllt iſt. Dieſer Schrift— ſteller hat ſeine Aufgabe gewiß ernſthaft erfaßt; er hat ſich zahlreichen Unter— ſuchungen unterzogen und, begabt mit der. Gewandtheit eines erfinderiſchen Geiſtes, von gebahnten Pfaden auszugehen geſucht. Was ich auch von dem Ergebnis ſeiner Anſtrengungen denken mag, dieſen Be— mühungen kann ich nur Beifall zollen. Das Werkchen von Binz habe ich nicht geleſen, aber einen Bericht darüber in der „Berliner kliniſchen Wochenſchrift“ geſehen. In den philoſophiſchen Monats- heften hat Böhm viel Gutes darüber geſagt. Sich auf die Thatſache ſtützend, daß Opium, Haſchiſch, Ather u. ſ. w., dem Traum und Schlaf analoge Zuſtände hervorbringen, ſchließt Binz, daß dieſe Erſcheinungen pathologiſcher Natur ſeien, und von einer Störung der pſychiſchen Thätigkeit herrührten. Es iſt mir ſchwer, zu begreifen, daß man ein ſo allgemeines, ſo beſtändiges und ſo wohlthätiges Phä— nomen, wie den natürlichen Schlaf, ſei er von Träumen begleitet oder nicht, als patho— logiſchen Zuſtand auffaſſen und irgend einer Störung zuſchreiben könnte. Aber ich halte hier ein, aus Beſorgnis, den Ge— danken von Binz vollkommen zu fälſchen. Das Werkchen von Dupuy habe ich geleſen und darin den merkwürdigen Bericht über einige jener intereſſanten Phänomene, denen Maury den Namen der hypnagogiſchen Hallueinationen “) bei— *) Anmerk. d. Red. Unter hypnagogi⸗ ſchen Hallucinationen verſteht Maury die be— ſonders häufigen Hallucinationen in den Über— gangszuſtänden zwiſchen Schlaf und Wachen, welche die älteren deutſchen Autoren als Halb ſchlaf bezeichnet haben. gelegt hat und ferner die Kritik einiger Theorien des Schlafes gefunden. Dieſer letztere Teil iſt ſehr oberflächlich, aber erhebt allerdings auch keine Anſprüche. Ich werde nichts über das Werk von N. Grote ſagen, da ich nur die Schluß— folgerungen deſſelben, wie ſie A. H. in der Ribotſchen Revue Philosophique?) mitgeteilt hat, kenne. Sie ſind intereſſant genug, um hier wiederholt zu werden: „Die ſubjektiven ſenſoriellen Erregungen wer— den wegen der Abweſenheit der Kontrolle der Sinne und der Intelligenz für Wirk— lichkeiten genommen. Die Traumfaktoren ſind hauptſächlich die Erinnerungen, die Gewohnheiten, die Sinneseindrücke, und die organiſchen Empfindungen, welche den vegetativen Prozeß während des Schla— fes begleiten und ferner die unbewußte Gehirnthätigkeit oder die automatiſche Arbeit gewiſſer weniger ermüdeter oder ſtärker erregter Teile des Gehirns, welche unverſehens fantaſtiſche Bilder, groteske Verbindungen fragmentariſcher Vorſtel— lungen von zufälliger Miſchung, wie die Bilder eines Kaleidoſkopes, liefern. In— deſſen giebt es immer ein mehr oder weniger deutliches Band zwiſchen den ſich folgenden Ideen, weil der Schlaf nicht die Geſetze der Ideen-Aſſociation außer Kraft ſetzt, und die Ideen fort— fahren, durch Ahnlichkeit oder Kontraſt oder nach Übereinſtimmung der gegen— ſeitigen Beziehung von Urſache und Wir— kung, Zweck und Mittel ſich hervorzu— rufen — genau, wie das bei den Irr— ſinnigen ſtattfindet, bei denen gewiſſe Teile des Gehirns ihre Thätigkeit dem Bewußtſein aufdrängen, und es ſo völlig in Beſitz nehmen, daß ſie die objektiven *) November 1878, p. 544. Sinneseindrücke verdunkeln, welche die pſychiſche Arbeit auf den erſten Weg zurückführen könnten.“ Dieſer Satz ſcheint mir ſehr gut den gegenwärtigen Zuſtand des Wiſſens über dieſe Frage auszu— drücken. Ich möchte ein gleiches Urteil über die beiden inhaltsreichen Kapitel fällen, in denen Maudsley ſich mit dem Schlaf und Hypnotismus beſchäftigt hat, und daraus die ziemlich ſonderbare Behaup— tung hervorheben, „daß die Ideen eine natürliche Tendenz beſitzen, ſich in dra— matiſcher Form zu ordnen und zu ver— binden, wenngleich ſie unter ſich keine bekannten Beziehungen haben, oder ſelbſt gänzlich unabhängig, ſogar antagoni— ſtiſch ſind“.“) Noch mehr, fie würden nach ſeiner Meinung „eine Fähigkeit zur aufbauenden Gruppirung haben, dank welcher die Ideen ſich nicht blos ſam— meln, ſondern neuen Produktionen den Urſprung geben würden.“ Das heißt ein wenig allzu vornehm den auf die dramatiſche und ſchöpferiſche Macht des Traumes bezüglichen Schwierigkeiten aus— weichen. Aber Stärke iſt ſehr oft, ſich einem derartigen Gegenſtande gegenüber mit Worten zu begnügen, und Mauds— ley ſelbſt täuſcht ſich nicht über die ver— zwickten Erklärungen, welche er von den ſonderbaren Erſcheinungen der Erinne— rungskraft giebt, welche die Träume dar— bieten. „Welches auch die Bedeutung derſelben ſei, ſagt er“), fie iſt eine zweifel— loſe Thatſache.“ Eine ganz beſonders gehaltvolle Über— ſicht iſt diejenige, in welcher er die Be— dingungen aufzählt, welche den Urſprung und Charakter der Träume beſtimmen. ) A. a. O. S. 15—16.— **) Ebendaſ. S. 20. J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 47 Er klaſſifizirt ſie unter ſechs Hauptſtücke: 1) die vorhergegangene Erfahrung, ſei ſie perſönlich oder ererbt, aus welcher die Elemente des Traumes beinahe ſtets geſchöpft ſind; 2) die Eindrücke auf den einen oder andern Sinn, der mehr oder weniger wach geblieben iſt; 3) die organiſchen Eindrücke, welche ihre Urſache im Zuſtande der Eingeweide, des Blut— umlaufs, der Atmung oder der Geſchlechts— organe haben; 4) die Muskelempfind— lichkeit, welche eine Qual erzeugt und von der Art herrührt, wie man liegt; 5) der Blutumlauf im Gehirn und 6) der Zu— ſtand des wohlgekräftigten oder erſchöpf— ten, friſchen oder ſchlaffen Nervenſyſtems, welches durch Blutarmut oder Reichtum erregt wird ꝛe. Maudsley hat ſich im Allgemeinen mit den Zuſtänden des Schlafes und Traumes nur beiläufig und von dem Ge— ſichtspunkte der Analogie beſchäftigt, die ſie mit dem Irrſinn darbieten. Er hat gleichwohl mit einer großen Klarheit mehrere Fragen in Angriff genommen, welche ſich daran knüpfen und die Un— zulänglichkeit unſerer Kentniſſe über die— ſen Gegenſtand empfinden laſſen. Spitta hat ſich die Aufgabe geſetzt, zu zeigen, daß die Erſcheinungen der Ver— nunft, des Traumes, der Hallueination ſich untereinander durch zahlreiche und feine Abſtufungen verknüpfen, daß ſie zum Teil zuſammenfallen und denſelben phyſiologiſchen Geſetzen unterworfen ſind. Sein Werk iſt mit jugendlichem und poe— tiſchem Schwunge geſchrieben, was einiger— maßen der Schärfe des Ausdrucks ſchadet, die man in einer wiſſenſchaftlichen Ab— handlung zu finden wünſcht. Im Augen— blicke, wo man eine Beweisführung er— 48 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. wartet, trifft man auf eine farbige und reiche Beſchreibung, welche angenehm ein— nimmt, aber nicht viel lehrt, und dieſe Arten von Überraſchungen wiederholen ſich nur zu oft. Aus bloßem Unwillen über dieſen liebenswürdigen Fehler möchte ich nicht ein ſo ſtrenges Urteil, wie Böhm in der oben eitirten Zeitſchrift, über dieſes Buch fällen. Man findet darin Gelehr— ſamkeit, feine Analyſen, geiſtreiche Be— merkungen. Das, was nach Spitta den tiefen Schlaf charakteriſirt, iſt das völlige Ver— ſchwinden des Bewußtſeins. Wenn man träumt oder ſich im ſomnambulen Zu- ſtande befindet, hat man Bewußtſein, aber nicht das feiner Perſon, welches das Vor: recht des wachen Zuſtandes iſt. Es iſt dieſes unglücklicher Weiſe allzu elaſtiſche Kriterium, welches ihm zur Erklärung dient, warum die Träume gewöhnlich bizarr und unzuſammenhängend ſind, weshalb ſie bei dem Träumer kein Er⸗ ſtaunen hervorrufen, weshalb, wenn ſie verbrecheriſch ſind, keine Scham noch Ge— wiſſensbiſſe ſie begleiten. Durch den Mangel an Selbſtbewußtſein erklärt man die Sicherheit und Geſchicklichkeit des Nachtwandlers, auf den Dächern zu ſpazieren, die Phänomene der Ekſtaſe und die Verdopplung der Perſönlichkeit, welche uns z. B. in unſern Träumen andern Perſonen unſere eigenen Gedanken bei— legen läßt. Es iſt ein fernerer Deus ex machina, welcher in dem Buche Spittas eine ganz ebenſo wichtige Rolle ſpielt. Es iſt das Gemüt. Das „Gemüt“ ſchläft niemals. Das Gemüt iſt der größte Feind des Schlum— mers, und wenn es die Seele in Be— ſchlag nimmt, giebt es keine Ruhe mehr. Lärm, Liſt, Geſchäftigkeit, Projekte, nichts ſetzt von dem Augenblicke an, wo das Gemüt nicht mehr beteiligt iſt, dem Schlafe ein Hindernis entgegen. Aber wenn es erregt iſt, z. B. wenn man von der Idee eingenommen iſt, daß man zu einer beſtimmten Stunde aufſtehen muß, iſt der Schlaf leicht und ein Nichts ge— nügt, ihn zu unterbrechen. Die für alle andern Geräuſche taube Mutter erwacht bei der geringſten Bewegung ihres Kin— des. Die Träume, welche ſich der Er— innerung bieten, ſind diejenigen, welche lebhaft unſer Gemüt erregt haben. Die Sorge oder ein ſchlechtes Gewiſſen halten uns wach; ſo groß iſt das Übergewicht des Gemüts auf den Verſtand, welcher vergeblich den Schlaf zurückrufen möchte. Der Traum iſt „die unfreiwillige und bewußte Nachaußen-Projektion einer Reihe von Vorſtellungen der Seele wäh— rend des Schlummers, eine Projektion, welche verurſacht, daß letztere für den Schläfer den Anſchein der objektiven Wirklichkeit annehmen“. Die Aufeinander⸗ folge und Verkettung der Bilder unter einander gehorchen den Geſetzen der Aſſo— ciation und der Reproduktion der Ideen, aber nicht dem Kauſalitätsgeſetze“): Der Traum iſt unlogiſch. Was die von Des— cartes aufgeworfene Frage: „An wel— chen Zeichen kann man den wachen Zu— ſtand von dem des Träumens unterſchei— den?“ anbetrifft, ſo erklärt Spitta ſie für imaginär und hypothetiſch““); ſicher keine Antwort auf dieſe Frage. Im Wachen iſt unſere Welt zugleich die der andern Menſchen, im Schlafe iſt ſie unſere eigene; die zentripetale Stetigkeit ) S. 111 ff. — 5) S. 112. N FFP ᷣͤuͤrKné ũ2 r F ‚ ˙ r J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. erfährt ein Hemmnis; die Ideenbildung wird häufig unterbrochen, und da das Selbſtbewußtſein nicht da iſt, um ſie zu leiten und die Deutung der äußern Ein— drücke durch die Intelligenz naturgemäß unvollkommen, wenn nicht gleich Null iſt, ſo ſieht man ohne Mühe, warum die Träume dunkel, ordnungs- und zuſammen— hangslos ſind. Es iſt vielmehr erſtaun— lich, daß wir manchmal logiſche Träume haben. Dieſe müſſen ſolchen Geiſtern eigentümlich ſein, bei denen es eine feſte Gewohnheit iſt, ihre Ideeen immer lo— giſch zu verketten.“) Das Buch von Radeſtock, welches kurz nach dem von Spitta erſchien, iſt in demſelben Geiſte abgefaßt; aber der Verfaſſer beſteht mehr auf die phyſio— logiſche Seite der Frage und verwendet eine große Seitenzahl, um die Wichtig— keit der Träume für die Phyſiologie der verſchiedenen Völker darzuthun. Dieſes dem Prof. Wundt gewidmete Buch iſt intereſſant, thatſachenreich, mit Methode und Klarheit geſchrieben, leicht lesbar, aber es iſt nicht frei von Neben— werk. Es umfaßt zehn Kapitel. Das erſte beſchäftigt ſich mit dem Einfluß des Schla— fes und der Träume ſowohl auf die In— dividuen, als auf die Nationen. Man findet darin die verſchiedenen Meinungen geſammelt, welche die Alten und die Neueren über die Träume ausgeſprochen haben. „Sie bilden einen Hauptfaktor in dem Glauben an die Unſterblichkeit der Seele,“ und ihre Rolle in der poli— tiſchen Geſchichte iſt fern davon, gering geachtet zu werden: es reicht hin, die delphiſchen Orakel, die Viſionen Moha— ) S. 116 ff. 49 mets und die Hallueinationen der Jeanne d' Are zu erwähnen. Im folgenden Kapitel berichtet Rade— ſtock die zahlreichen Erklärungen, welche die Poeten und Philoſophen aller Zeiten von den Träumen gegeben haben; dann ſeine Anſichten über die Natur der Ver— bindung von Seele und Körper, „welche nur zwei verſchiedene Seiten eines und deſſelben Weſens ſind“ auseinanderſetzend, ſchließt er daraus auf die Notwendigkeit, ſich beim Studium des Schlafes und der Träume nicht ausſchließlich an die phy— ſiſchen Erſcheinungen zu halten, indem man die körperlichen vernachläſſigt. Das dritte Kapitel iſt der „normalen und anormalen“ reproduzirenden Thä— tigkeit gewidmet. Alles wechſelt in der Natur, die Seele ebenſowohl wie der Körper. Aber das Vergangene findet ſich dem Gegenwärtigen durch das Gedächt— nis verbunden. Die Reproduktion kann zweierlei Formen annehmen; je nach— dem das erneuerte Bild weniger oder ebenſo lebhaft iſt als das Original- gemälde, unterſcheidet man Erinnerung und Hallueination (Illuſion). Die Reproduktion hat ihre Wurzel in der Ideen— aſſociation, deren Geſetze wohlbekannt ſind, im Geſetz der Ahnlichkeit, des Kon— traſtes, der Gleichzeitigkeit und Aufein— anderfolge. Radeſtock beſchäftigt ſich, nach dem Beiſpiele der meiſten Pſycho— logen, nicht mit dem letzten dieſer Prin— zipien. Die Ideen folgen nicht nur einander, ſondern ſie verbinden und ver— ſchmelzen ſich manchmal, ebenſo wie die Empfindungen ſich untereinander ver— ſchlingen. So z. B. liefert das Vor— ſtellungsbild der Axt, an diejenigen der Gehölze und des Zimmermanns erinnernd Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. — 22 und ſich mit ihnen vereinigend, das zu ſammengeſetzte Bild eines mit Holzſpalten beſchäftigten Mannes. Die Verſchieden— heit zwiſchen der Erinnerung und der Hallueination hängt von der Stärke der Erregung ab, zwiſchen beiden giebt es alle nur denkbaren Übergänge. Die Hallu— eination iſt eine Reproduktion, welche einen der Wirklichkeit vergleichbaren Glanz beſitzt. Der Hauptfaktor der Illuſion iſt alſo notwendig die Erhöhung der Reiz— barkeit des Centralnervenſyſtems. Ich bemerke im Vorbeigehen, daß dies keine Erklärung, ſondern eine bloße Hypotheſe iſt. Das Unbekannte kann nicht dazu dienen, das Dunkle aufzuhellen. Ich muß hinzuſetzen, daß der Schluß nicht ſtreng aus den Vorderſätzen folgt: die Illuſion könnte auch aus der Schwächung des peripheriſchen Nervenſyſtems ent— ſtehen. Was die Definition der Hallu— eination betrifft, ſo hat ſie eine wahre Seite, aber ſie iſt ſicher unvollſtändig. Das von dem Autor zur Stütze ſeiner Theſe eitirte Beiſpiel iſt geeignet, dieſe Unzulänglichkeit zu zeigen. Brierre de Boismont erzählt von einem Maler, welcher im Stande war, das ähnliche Portrait einer Perſon zu malen, welche er nur einziges Mal geſehen hatte. Die Zahl der Male thut überhaupt nichts zur Sache. Ich frage, ob der Künſtler, welcher in der Erinnerung eine abweſende Perſon mit ſolcher Lebhaftigkeit ſieht, daß er genau ihre Züge wiedergeben kann, unter der Herrſchaft einer Hallu— eination iſt? Entſchieden nein. Es bedarf noch eines andern Umſtandes, es it nötig, daß die Perſon der Spielball einer Illuſion ſei, und dem Gegenſtande, der ganz in ihm ſteckt, eine äußere und gegen— J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. wärtige Exiſtenz zuerteilt, ſelbſt wenn ſein Verſtand ihm ſagt, daß er im Irr— tum ſei. Radeſtock wird auf dieſe Weiſe da— zu veranlaßt, einen flüchtigen Blick auf die Erregungsmittel des Nervenſyſtems, Stech— apfel, Belladonna, Haſchiſch u. ſ. w., dann auch auf das Faſten und die Sinnes— erregungen zu werfen. Unvermeidlich treten bei dieſer ſchwierigen Materie oft genug an die Stelle der Ideen Worte: Nerven, Zellen, Gehirn und Mark, ſo— weit man etwas darüber weiß, kommen mehr als nötig dabei in Rede. Trotz dieſer Kritik freue ich mich, erklären zu können, daß dieſe geſammte Abteilung nüchterne und inhaltsreiche Überſichten enthält. Endlich ſind wir zur Definition des Traumes vorgedrungen: er iſt die Fortſetzung der Geiſtesthätigkeit während des Schlafes. Ariſtoteles hat geſagt: der Traum iſt weſentlich das durch die Sinnesein— drücke hervorgebrachte Bild, wenn man im Schlafe iſt, und ſo weit, als man ſchläft.“) Dieſe Erklärung iſt unendlich vorzuziehen, ja ich muß ſagen, ſie iſt nicht übertroffen worden. Schwach den Hahnenſchrei hören, wenn man ſchläft, iſt kein Träumen, ſagt der Stagirite, denn dieſes Hören iſt die Thätigkeit der wachen Seele und nicht der ſchlafenden. Nichts kann richtiger ſein. Alſo iſt nicht jede Seelenthätigkeit während des Schla— fes notwendig ein Traum; ich träume nicht, wenn ich gegen Morgen noch ſchlummernd dunkel die Geräuſche des Hauſes oder der Straße vernehme; aber ich träume, wenn ich einer Unterhaltung *) Von den Träumen, Kap. III. — J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. beizuwohnen glaube, welche gar nicht ſtattfindet. Daraus folgt, daß die De— finition des Traumes von derjenigen des Schlafes abhängig iſt. Ich werde auf dieſen wichtigen Punkt ſpäter zurückzu— kommen haben. Das folgende Kapitel handelt ein— gehend vom Schlafe, ſeinen Urſachen und feinen Eigentümlichkeiten. Von den Urſachen ſprechend, welche den Schlaf begünſtigen oder hervorrufen, wie die Ruhe, Körperlage u. ſ. w., eitirt Rade— ſtock die Erfahrungen, welche der Preyer'ſchen Theorie widerſprechen. Man weiß, daß dieſer Naturforſcher auf— geſtellt hat, der Schlaf wäre von der Gegenwart eines Ermüdungsſtoffes ab— hängig, der analog der Milchſäure ſei und von der Ermüdung erzeugt würde. Er hat dementſprechend die Wirkungen der Einführung genannter Subſtanz unter die Haut und in den Magen ſtudirt, und glaubte feſtſtellen zu können, daß ſie Schlafſucht herbeiführe. Nach Lothar Meyer ſcheinen dieſe Wirkungen aber nicht entfernt beſtändig zu ſein. Die phyſiologiſche Erklärung des Schlafes betreffend, verſichert der Ver— faſſer, daß keine vorhanden iſt, und daß er nicht verſuchen würde, eine zu geben. Er begnügt ſich damit, ſeine phyſiologi— ſchen Wirkungen auseinanderzuſetzen, welche bekannt genug ſind, um hier mit Stillſchweigen übergangen zu werden. Streitiger ſind ſeine pſychologiſchen Wir— kungen. Gewiſſe Autoren behaupten, daß während des Schlafes das Bewußtſein unterdrückt ſei, andere halten es aufrecht. Der berühmte Fechner hat über dieſen Punkt eine ganz originelle Meinung. Nach ihm erreicht das Bewußtſein im Moment 51 des Einſchlafens ſeinen Nullpunkt, und nimmt, wenn man eingeſchlafen iſt, einen negativen Wert an. Ich habe in früheren Artikeln“) hinreichend die „negativen Em— pfindungen“, wie fie der Vater der Pſy— chophyſik definirt hat, kritiſirt, und nicht nötig auf den noch ſeltſameren Begriff des negativen Bewußtſeins einzugehen. Radeſtock macht, in der Abſicht den Knoten zu löſen, wie Spitta, die Unter— ſcheidung zwiſchen Selbſtbewußtſein und einfachem Bewußtſein. Das erſtere iſt unterdrückt, aber das zweite beſteht fort; denn jede Vorſtellung iſt notwendiger— weiſe bewußt, ſonſt iſt ſie nur eine ein— fache Dispoſition (Wundt). Ich meinesteils bin niemals dahin gelangt, mir eine klare Idee von dem zu machen, was man unter Selbſtbewußt— ſein verſteht, ſofern man es dem ein— fachen Bewußtſein gegenüberſtellt. Ich würde viel beſſer den Ausdruck des Nichtſelbſtbewußtſeins verſtehen. Ich würde ſo die von jedem empfindenden Weſen untrennbare Fähigkeit bezeichnen, kraft welcher es einem Außendinge die Urſache ſeiner Empfindungsarten zu— ſchreibt. Auf dieſe Weiſe würde man in den Erſcheinungen, welche in uns vor— gehen, die unbewußten, die bewußten und diejenigen unterſcheiden, welche von dem Bewußtſein des äußeren Urſprungs begleitet ſind. Aber der Augenblick iſt noch nicht da, mich bei dieſer Unter— ſcheidung aufzuhalten. Es giebt keinen völligen Gegenſatz zwiſchen Wachen und Schlafen. Im Schlafe find die pſychiſchen Thätigkeiten vermindert, aber nicht aufgehoben. In 0 Ribots Revue philosophique, März 1877 und Januar bis Februar 1878. N 52 der That, wie lebhaft auch die Bilder unfrer Träume fein mögen, fie jind ſchwächer und dunkler als die des Wa— chens. Man kann ſomit dieſen Schluß aufſtellen: Im tiefen Schlafe iſt, ebenſo wie die organiſchen und vegetativen Funk— tionen herabgedrückt ſind, die pſpychiſche Thätigkeit auf ein Minimum reduzirt, ohne deshalb gänzlich aufgehoben zu ſein. Das fünfte Kapitel hat die Elemente des Traumes zu ſeinem Gegenſtande. Es iſt eines der beſten und vollſtändigſten des ganzen Buches. Es werden darin die Wirkungen der ſinnlichen und orga— niſchen Eindrücke und ihre Verwandlun— gen in den Träumen geſchildert, ebenſo die Rolle, welche das Gedächtnis darin ſpielt. Da ich indeſſen keine wirklich neue Idee darin entdecke, überhebt mich die Analyſe, welche ich weiter oben von der denſelben Gegenſtand behan— delnden Abteilung des Maudsleyſchen Werkes gegeben habe, länger dabei zu verweilen. Es würden jedoch ſehr inter— eſſante Studien in dieſer Richtung an— geſtellt werden können. Kein Zweifel, daß viele unſrer Träume nur die Dra— matiſirung unſerer während des Schlum— mers empfangenen Eindrücke ſind. So träumen die Perſonen, welche gelegent— lich oder gewöhnlich Atmungsbeſchwer— den haben, von engen Gängen, oder ein— ſtürzenden Plafonds, von Höhlen und Katakomben, von Menſchengedränge oder in die Bruſt ſtoßenden Wagendeichſeln, mit einem Worte, von lauter Scenen, bei denen man erſtickt oder Luftmangel erleidet. Die Beziehung iſt klar. Nun würde man, dieſe Beziehungen verfolgend, nach aller Wahrſcheinlichkeit zu einer phyſiologiſchen Klaſſifikation der Träume J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. gelangen, und mit einem Schlage zu einer Klaſſifikation der wirklichen Vor— gänge, vom Geſichtspunkte ihrer Wirkung auf unſere Körper durch die Vermittlung des Geiſtes.“) Das folgende Kapitel hat zum Zweck, die Verſchiedenheit zwiſchen Träumen und wachem Denken darzulegen. Es iſt dies, wie ich ſchon erwähnt habe, ein Punkt von der höchſten Wichtigkeit, und müßte zu einem der Angelpunkte der gefamm- ten Schlaf- und Traumtheorie gemacht werden. Radeſtock behandelt ihn mit ſeiner ihm eignen Feinheit und Gelehr— ſamkeit. Obwohl dem Problem an— ſcheinend noch näher gerückt werden kann, ſind beinahe alle ihm gewidmeten Seiten ausgezeichnet, voll von richtigen, oft tiefen Bemerkungen, und bilden ein ſehr be— friedigendes und wohlgeordnetes Ganzes. Ich muß geſtehen, ſelten etwas mit mehr Vergnügen geleſen zu haben. Setzen wir hinzu, daß der Gedanke darin im— mer klar, durchſichtig und in einem ein— fachen, leichten und natürlichen Stile ausgedrückt erſcheint. Der Traum iſt beweglich und wech— ſelnd. Nichts iſt gewöhnlicher als darin eine Katze in ein Mädchen, einen Baum in eine Kirche verwandelt zu ſehen. Dennoch — ich halte darauf, es ſchon jetzt auszuſprechen — habe ich hinſicht— lich dieſer angeblichen Verwandlungen meine Bedenken. Ich frage mich, ob das wirkliche Verwandlungen ſind? Wenn ) Nicht als ob es an Verſuchen die Träume zu klaſſificiren fehlte, aber ſie find eutweder willkürlich in ihren Details oder ſie fußen auf bloßen Gefühls- und Sprachunterſcheidungen (angenehme und unangenehme, hiſtoriſche, pro— phetiſche Träume u. ſ. w.). J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 53 man derartige Träume erzählt, ſagt man niemals, daß die Katze ſich in ein jun— ges Mädchen, oder der Baum in eine Kirche verwandelt habe, ſondern man ſagt z. B.: Ich ſpielte mit einer Katze, aber im Augenblicke darauf war es keine Katze mehr, ſondern ein junges Mäd— chen. Oder auch: ich war anfangs unter einem Baume, aber ohne zu wiſſen wie, befand ich mich mitten in einer Kirche. Nun, meiner Meinung nach, hat man dann anfangs von einer Katze und dann von einem jungen Mädchen geträumt, und es iſt unſer Geiſt, der, ſei es im Schlafe oder häufiger beim Munter— werden, eine Verwandlung unterſchiebt, die nicht beſonders im Traum konſtatirt wurde, nur um ſich ſelbſt die Kontinuität gewiſſer anderer Teile des Traumes zu erklären. In Wirklichkeit würde dabei ein einfacher Erſatz eines Bildes durch ein anderes, ohne innere und allmähliche Umwandlung, ſtattfinden. Dieſe wenigen Worte genügen für den Augenblick und ich fahre fort. Der Traum iſt voll Lebhaftigkeit und Uebertreibung. Woher könnte das kommen, wenn nicht von einer Anderung im Blutumlauf, welche die Reizbarkeit des Centralnervenſyſtems erhöht? Wie— der eine Hypotheſe an Stelle einer Er— klärung. Der Verfaſſer fügt indeſſen hinzu, daß die im Schlafe empfundenen Gefühle niemals die Intenſität derjeni— gen beſitzen, welche uns während des Wachens bewegen. Man kann vor Freude oder Furcht ſterben, aber es giebt kein Beiſpiel von tötlichen Träumen.“) Ich *) Anmerk. d. Red. Wer kann das behaupten, da doch niemand tötliche Träume er— zählen kann? Der Verfaſſer erwähnt in einer glaube, daß dieſe Einſchränkung ſich ebenſo genau auf die Traumbilder ſelbſt erſtrecken dürfte, deren Lebhaftigkeit nach meiner Anſicht ganz relativ iſt. Der Traum ſpielt ſich unabhängig von jeder Intervention des Willens ab. Dieſe wahre Behauptung iſt als all— gemeine Aufſtellung vielleicht zu abſolut. Ich träumte eines Tages von einem meiner Freunde, der ſeit lange, aber nur vor dem Civilamt getraut iſt. Er glaubte endlich, ich weiß nicht aus wel— chen, von ſeinen Prinzipien abgeleiteten Urſachen — ſo träumte ich — ſeinen Bund durch den Prieſter einſegnen laſſen zu müſſen. Bei dieſer Gelegenheit mußte es einen Aufzug geben. Dieſe Neuigkeit hatte die ganze Gemeinde auf die Beine gebracht. Neugierig wie die andern, begab ich mich zur Kirche; ich hielt vor allem darauf, das Geſicht des Gatten zu ſehen. Ich durchbreche den Haufen und es gelingt mir, bis zur erſten Reihe vorzudringen. Indeſſen — der Zug kam nicht. Um die Zeit zu töten, dachte ich beim Warten an Dinge aller Art. Die Ungeduld packte mich; ich hatte das beſtimmte Gefühl, daß ich aufwachen würde, ich hörte den Morgenlärm im Hauſe, aber mit aller Kraft willens, dem Vorüberziehen dieſes originellen Zuges beizuwohnen, machte ich An— ſtrengungen, um mich wieder einzu— ſchläfern und meinen Traum als Traum zu beenden. Sie waren erfolglos. Ich erwachte ſehr wider Willen, ohne meine Neugierde befriedigt zu haben. Anmerkung einer ſeiner Familie bekannten jun⸗ gen Perſon, von der man erzählt habe, daß ihr Haar, infolge eines ſchrecklichen Traumes, plötz— lich weiß geworden ſei. 54 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. Dieſer Traum ſcheint mir geeignet zu beſtätigen, was ich oben geſagt habe. Das Selbſtbewußtſein iſt die ausgeſpro— chene Empfindung der Wirklichkeit als ſolche, ſo daß im Traume immer Bewußt— ſein, möge es noch ſo gering ſein, vorhanden ſein müßte, denn es iſt nicht glaublich, daß man jemals von der Wirk— lichkeit gänzlich abgetrennt wäre. Der Traum iſt der Schöpfer neuer Kombinationen, aber ſeine Erzeugniſſe haben ſelten einigen Werth. Beinahe ſtets ſind ſeine Erfindungen reine Dummheiten, wie die der Verrückten. Es tritt alſo im Traume Schwächung der Urteils- und Denkfähigkeit ein. Man findet ganz natürlich, daß die Huſaren auf der Firſte eines Daches exerziren, oder daß man die Alpen im Gefolge Hannibals überſchreitet. Dieſe Sonder— barkeiten beruhen nach dem Verfaſſer auf freiwilligen Aſſociationen und As— ſimilationen, wobei das Geſetz der Ahn— lichkeit den größten Anteil hat, ebenſo wie das Band, welches gewiſſe körper— liche Eindrücke mit den Ideen vereint, welche ſie gewöhnlich hervorrufen. Oft zeigt ſich auch in den Träumen die unter dem Namen der Teilung oder Verdopplung der Perſön— lichke it bekannte Erſcheinung: man legt ſeine eigenen Gedanken und Empfindun— gen einer andern Perſon bei. Zu den ſchon bekannten Beiſpielen möchte ich ein anderes, nach allen Beziehungen äußerſt vollſtändiges, hinzufügen. In einer Geſellſchaft von Freunden brachte ich eines Abends unter andern Geſprächsgegenſtänden dieſe Frage von der Verdopplung der Perſönlichkeit aufs Tapet. Ich erzählte den ſeltſamen Fall von | van Göns, welcher, als er noch Schüler war und den Ehrgeiz empfand, immer der Erſte in der Klaſſe zu ſein, eines Tages träumte, daß der Lehrer ihm einen lateiniſchen Satz zu überſetzen gäbe. Van Göns konnte nicht damit fertig werden, aber dieſer Umſtand quälte ihn noch nicht ſo ſehr als der, einen ſeiner Mitſchüler Zeichen machen zu ſehen, die anzeigen ſollten, daß er den Sinn er— faßt habe. Der Lehrer mußte endlich dieſen Schüler fragen, welcher die Stelle, ohne den geringſten Fehler zu machen, überſetzte und damit den erſten Platz er— oberte. Dieſer Traum war der Gegen— ſtand einiger Erörterungen; dann wurde von andern Dingen geſprochen. Unſere Unterhaltung fand zu einer Zeit ſtatt, wo man ſich ſtark für die ſpäter ver— wirklichten Drohungen intereſſirte, welche der Atna ſeit einiger Zeit vernehmen ließ. In derſelben Nacht nun legte ſich mein Freund, der Profeſſor Spring — welcher die Specialität erfinderiſcher Träume kultivirt — im Traume darauf, ein Mittel zu erfinden, welches geſtattet, die Eruptionen mehrere Tage im voraus anzukündigen. Man kann heute ſchon in einem gewiſſen Maßſtabe die Stürme vorausſagen und ihren wahrſcheinlichen Gang beſchreiben, warum ſollte man nicht daſſelbe für die vulkaniſchen Phänomene verſuchen? Aber Spring mochte noch ſo viel in ſeinem Hirne wühlen, er brachte nichts heraus. Da fällt ihm ein, über dieſen Punkt einen Gelehrten ſeiner Bekanntſchaft, er weiß nicht mehr welchen, zu konſultiren. Er begiebt ſich zu ihm, findet ihn glücklicherweiſe zu Haus und legt ihm ſeine Verlegenheit dar. Der Freund ergreift ſofort die J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 55 Idee und liefert ihm im Augenblick die geſuchte Löſung. Es würde ſich nur darum handeln, in den Boden an Punk— ten in gewiſſer Entfernung von einander thermoelektriſche Säulen einzuſenken, die unter ſich und mit einer Centralſtation verbunden wären, um von dem unter— irdiſchen Steigen der Lavamaſſen benach— richtigt zu werden. Spring bewun— derte die Erfindung ſehr und kehrte von der Leichtigkeit der Auffaſſung ſeines Freundes, des Naturforſchers, entzückt nach Hauſe zurück. Radeſtock erklärt dieſe Seltſamkeit wie folgt: Sie verdankt nach ſeiner Meinung ihren Urſprung der Schwächung eines der Elemente des Selbſtbewußtſeins. Das Selbſtbewußtſein ſchließt die Vereinigung und Verbindung einer gewiſſen Anzahl von Ideen, Gefühlen, Willensäußerun— gen und Erinnerungen mit einer und derſelben Perſon und außerdem die Auf— merkſamkeit und thätige Beobachtung in ſich. Nun iſt im Schlafe dieſer letzte Faktor beſeitigt und der erſte bleibt allein. Der Menſch empfindet dann ſein Ich nur noch in beſchränkter Weiſe; er betrachtet ſich nicht mehr als den ein— zigen Träger ſeiner Ideen, und er be— zieht einen Teil davon auf fremde We— ſen. Das iſt, ſcheint mir, mehr eine Beſchreibung, als eine Erklärung der Thatſache. Was mich betrifft, ſo bin ich ſtark in Verſuchung, darin ganz ein— fach die Dramatiſirung jener Gewohn— heit der Gedanken zu erkennen, ſich in Dialogform zu offenbaren. Im Augen— blick, wo ich ſchreibe, plaudere ich mit einem Leſer, den ich mir einbilde und dem ich die Einwürfe und Zweifel bei— lege, wenn ich mich nicht klar glaube oder mir ſelbſt nicht traue. Nun könnte ich auch ebenſogut ſeine Rolle nehmen und in ſeinen Mund die Antworten und Löſungen legen. Ich beſchränke mich darauf, dieſe Idee anzudeuten, da es meine Abſicht nicht iſt, eine vollſtändige Abhandlung über die Träume zu liefern.“) ) Nachträglicher Zuſatz des Ver— faſſers. Ich bin im Beſitz einer neuen Thatſache, die dieſer Anſicht eine Stütze, ja ſogar einen hohen Grad von Wahrſcheinlichkeit giebt. Einer meiner Freunde, ein trefflicher Bür— ger, welcher, da er ſich für pſychologiſche Fragen intereſſirt, mir mitunter von ſeinen Träumen Rechenſchaft giebt, ſteht im Begriff, ſich ein Haus bauen zu laſſen. In der Baukunſt ſo unwiſſend wie ein Karpfen, hat er nichtsdeſtoweniger jei- nen Einteilungsplan, und wie Herr Pencil, einer der Töpffer ſchen Helden, bemerkt er alle Tage mit mehr Vergnügen, daß er damit zu— frieden iſt. Dieſer Plan vereinigt, wie es ſcheint, alle Arten ſchwer vereinbarer Eigenſchaften, er iſt originell und rationell, praktiſch und künſt⸗ leriſch, kurz ein Meiſterwerk. Der Urheber die— ſes achten Weltwunders ſpaziert zu jeder Tages- ſtunde in ſeinen Zimmerprojekten umher, wo— bei er ihre Verbindung lobt, ihre Dispoſition preiſt und ihre Anordnung bewundert. Eine ſeiner Lieblingserholungen beſteht darin, ſich einzubilden, daß er dieſe Wohnung Beſuchern zeige, die ſich auf etwas wahrhaft Schönes ver— ſtehen, und er wirft ſich in die Bruſt, wenn er die Lobeserhebungen entgegennimmt, welche die ſo tief erwogenen Einrichtungen dieſes unver— gleichlichen Gebäudes ihnen auf Schritt und Tritt entlocken. Seine naive Eitelkeit malt un⸗ endliche Variationen dieſes Themas aus. Kürz— lich, weich in ſeinem Lehnſtuhl ausgeſtreckt, fängt er in feinem Kopfe ein kleines Drama an. Ber- mögensverluſte zwangen ihn, dieſes Haus zu verkaufen, welches, man merke wohl, noch nicht aus der Erde emporgewachſen iſt. Ein Lieb— haber findet ſich ein, und er läßt ihn von Etage zu Etage bis zum Boden reiſen, dann bis zum 56 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. In dem geſammten Verlauf des Ka— pitels giebt uns alſo Radeſtock, einen nach dem andern, die beſondern Charak— tere, welche die Träume von den gegen— Keller hinabſteigen, wobei er ihm den Beſuch keines Winkels ſeines Eigentums erläßt. Wie alle diejenigen, welche vor ihm die Gunſt ge— noſſen hatten, in das Heiligtum eingelaſſen zu werden, war der Liebhaber entzückt und ließ ſich bei jeder Wendung Zeichen einer unbe— ſchränkten Anerkennung entſchlüpfen. Auf dieſen angenehmen Gedankenpfaden läßt ſich mein Freund im Schlummer gehen und plötzlich ſind die Rollen vertauſcht. Nunmehr iſt er derjenige, welcher ſich einem Eigentümer gegenüber befin— det, der gezwungen iſt, zu vermieten oder zu verkaufen, er iſt es, welcher von den zahlloſen Annehmlichkeiten dieſer wohldurchdachten Woh— nung entzückt iſt, und von Überraſchung zu Überraſchung wandert, von dem Erſtaunen zur Bewunderung und von der Bewunderung zur Ekſtaſe übergeht. Dabei muß man ein letztes Detail nicht vergeſſen. Unſer in einen Beſucher umgewandelte Bürger kannte keineswegs die Wohnung, welche man ihm zeigte, und nichts— deſtoweniger war es diejenige, deren Plan er entworfen und deren Vorteile ihm ein anderer auseinanderſetzte. Dieſe Beobachtung iſt charakteriſtiſch und wirft die lebhafteſten Lichter auf das „Verdopp⸗ lung des Ichs“ genannte Phänomen. Verſuchen wir denn bis zur Wurzel dieſer Art von Offen barung vorzudringen. Ich ſetze mich für einen Augenblick an die Stelle meines Freundes und will zu analyſiren ſuchen, was in mir im Augenblicke des Wachens vor ſich gehen wird. Ich gehe und komme in mein projektirtes Haus, aber dieſes bewundernde Ich iſt offenbar nicht das wirkliche Ich, welches ein Haus in Steinen und Ziegeln bewohnt und auf einem Stuhl neben ſeinem Feuer ſitzt. Dieſes vaga— bondirende Ich iſt ein Doppelgänger meines ſitzenden Ichs, das ihm auf ſeiner Promenade überall mit den Augen folgt und Zeuge ſeiner Verzückungen iſt. Ich ſehe mich, die Zimmer durchſchreiten, die Treppen auf- und abſteigen, die Thüren und die Schränke öffnen. In Summa, ſtändlichen Ideen unterſcheiden. Er ſpricht z. B. noch von dem Kauſalitätsbegriff im Traume, von der Unmoralität des Traumes, und bei dieſer Gelegenheit hat ich führe ein Alter Ego, ein anderes Ich, durch das zukünftige Bauwerk, als ob ich einen Fremden darin umherführte. Und die Sache noch näher betrachtend, kann ich dieſes eingebildete, verſchwommene und unbeſtimmte Weſen, welches meine Phantaſie ein ideales Haus durchlaufen läßt, ebenſo gut zu einem Fremden machen. Aber welches auch der Charakter ſei, mit welchem es mir gefällt, ihn zu bekleiden, es bleibt im Grunde eine Emanation von mir, in Wirklichkeit bin ich es ſelbſt. Das geht noch weiter: es kann dabei eine Verdreifachung des Ichs geben. Eine zweite Emanation von mir kann dem Fremden bei ſeinem Beſuche folgen, und nun iſt das Haus von zwei Weſen bevölkert. Ich könnte, der— geſtalt fortfahrend, darin eine unendliche Per— ſonenzahl einführen. Der Fremde könnte z. B. von einem Freunde begleitet ſein, dem er ſeine Eindrücke mitteilen würde; ich würde ihrer Unterhaltung beiwohnen und könnte noch ohne Mühe Kombinationen wie die erſinnen: z. B. daß ſie eine fremde Sprache ſprechen, deren Kenntnis ſie bei mir nicht vermuten, die mir aber ebenſo vertraut wie ihnen ſelbſt iſt. Der Einfachheit wegen halten wir uns an die Ver— dreifachung. Von zwei Perſonen, die ich in das Haus geſetzt habe, trägt die eine den Namen des Ichs, die andere den eines Nicht-Ichs. Die letztere, wird angenommen, habe noch nichts ge— ſehen, die erſtere zeigt ihr alles. Iſt nun von dieſen beiden Individuen eines im Vorzuge, das wahre Ich? Offenbar ſind ſie beide von gleichem Range. Von zweien meiner Emana— tionen kann alſo der eine dieſelbe Sache wiſſen und die andere ſie nicht wiſſen. Es giebt dabei kein anderes Geheimnis, als jenes ewige Ge— heimnis, welches alle Phänomene der Seele umgiebt. Habe ich jetzt nötig, auf den Schlaf zu— rückzukommen? Wer ſieht nicht, daß, was im Schlafe geſchieht, immer eine Verdopplung des J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 57 er zu unterſuchen, bis zu welchem Punkte man für das, was man im Schlafe thut, verantwortlich gemacht werden kann. Er beſpricht, wie ſehr die Träume gewöhn— lich, außer bei Kindern, flüchtig ſind und wenig in der Erinnerung zurücklaſſen. Er handelt dann auf zwei Seiten von der Illuſion, zu deren Spielball uns die Träume machen. In dieſer Hinſicht unterſcheiden ſich die Träume in der That von andern Produktionen der Einbildungs— kraft, deren illuſoriſchen Charakter wir ohne Mühe erkennen. Das iſt meiner Anſicht nach ein anderer weſentlicher, fundamentaler und Hauptpunkt jeder Traumtheorie, und der Verfaſſer geht mit zu vieler Leichtigkeit darüber hin. Er ſagt, wie immer, treffliche Sachen, aber er beruhigt nicht alle Zweifel. Laſſen wir ihm das Wort. Neben der Auffaſſungskraft be— ſitzt das Bewußtſein die nicht weniger wichtige Fähigkeit der Unterſcheidung. Der Menſch trennt ſeine Vorſtellungen von einander; in dem Verein ſeiner gei— ſtigen Thätigkeiten unterſcheidet er die dauernden Gruppen und die beſondern und veränderlichen Eindrücke; er klaſſi— fizirt und ordnet ſeine Ideen nach ge— Ichs iſt, weil das wirkliche Ich „tout nu dans son lit“ ſchläft, und daß das Ich des Traumes, erwacht, angekleidet, ſprechend und geſtikulirend, ein anderes als dieſes iſt? Und was das Phä— nomen betrifft, welches man als Verdopplung des Ichs bezeichnet hat, ſo iſt es in letzter Zer— gliederung eine Verdreifachung des Ichs. Aber da es nicht zwei Ichs, eins dem andern gegen— über, geben kann, ſo wird das eine von beiden fingirten Ichs notwendig „verandert“ (alternisé), wenn ich dieſen Ausdruck ſchmieden darf. Der Liebhaber und der Eigentümer waren wohl das— ſelbe Ich. Im gewöhnlichen Leben iſt ohne # das Ich der Eigentümer, aber im wiſſen Geſichtspunkten in umſchriebenen Kreiſen, in welche er nur die einander ähnlichen bringt und die unähnlichen aus— ſondert. Er weiß ferner zwiſchen den ſchwächeren Erinnerungsbildern und den ſtärkeren Eindrücken der Gegenwart zu unterſcheiden, und unter dieſen letzteren zwiſchen denen, welche aus ſeinem eignen Körper und denen, die von außen ſtam— men. Dadurch lernt er ſeinen eigenen Körper den äußern Dingen, welche Ein— drücke auf ihn machen, entgegenſetzen und ſein eigenes Ich als Summe der körperlichen Eindrücke und geiſtigen Thätigkeiten ebenſo andern Weſen gegenüberſtellen, denen er eine unabhängige Exiſtenz in der Art der Seinigen zuerkennt. Dies bewirkt, daß er im Zuſtande des Wachens und der Geſund— heit weiß, daß eine Erinnerung eine andre Sache iſt als eine unmittelbare Anſchau— ung, und daß er in den meiſten Fäl— len ein Produkt ſeiner Einbildunskraft von einem vorhandenen Dinge unter— ſcheiden kann, wenn er auch nicht immer mit Klarheit über das urteilen mag, was ſpeziell objektiv und ſubjektiv an der ganzen Verſtellung iſt. Aber im Traume oder im Delirium verhält es ſich anders damit. Hier verleiht die Steigerung der ner— Leben der Einbildung giebt es nichts ſonder— bares dabei, daß es der Liebhaber iſt. Dieſe „Veranderung“ iſt eine der gewöhn— lichſten Operationen und ſie kann mehr oder weniger vollſtändig ausfallen. Wenn ich mir meine Kindheit zurückrufe, „verandere“ ich mich in ein Kind; wenn ich mir meine ehemalige Unwiſſenheit zurückrufe, „verandere“ ich mich in einen Ignoranten. Und, halt, — denn jeder Pſychologe iſt verpflichtet, ſogar feine Schwächen einzugeſtehen, wenn er glaubt, dadurch Licht auf irgend ein dunkles Problem zu werfen — ich muß mich noch einmal „verandern“: jener gute Bürgersmann nämlich bin ich ſelbſt. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 58 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. vöſen Centralthätigkeit den Produkten der Phantaſie eine Lebhaftigkeit, welche ge— wöhnlich nur die Eigentümlichkeit un— mittelbarer Eindrücke iſt und die Thätig— keit der Seele lahmlegt. Wir halten alles für wahr, was unſre Einbildungskraft uns darbietet, das Vergangene wird ge— genwärtig, wir nehmen unſre Hoffnungen und unſre Wünſche für Thatſachen, ab— ſolut unmögliche Ungeheuerlichkeiten für Wirklichkeiten. Manchmal geſchieht uns daſſelbe, wenn wir, ohne zu ſchlafen, uns gehen laſſen, um die freiwilligen Narren unſrer Einbildungskraft zu ſein. Aber dieſe Fälle ſind ſelten, „weil die Rück— erinnerungen nicht ganz die Kraft un— mittelbarer Eindrücke haben und wir die Fähigkeit beſitzen, uns nach der realen Welt zu orientiren.“ Im Schlafe hin— gegen empfangen wir von außen nur geſchwächte Eindrücke, denn wenn ſie ſich etwas verſtärkten, würden ſie das Er— wachen herbeiführen; ſie ſind unfähig, das Bewußtſein zu einer Reaktion anzu— regen und der Träumer konſtruirt ſich ohne Nachrichten aus der Welt, die er bewohnt, eine neue aus ſeinen eigenen Ideen. Daher das oben erwähnte hera— klitiſche Wort, daß im Traume jeder ſeine Welt für ſich habe, während im Wachen dieſelbe Welt allen gemeinſam iſt. Erſt gegen Morgen, mit der An— näherung des Aufwachens, werden wir wieder für die äußern Dinge empfäng— lich; die höhern Geiſtesthätigkeiten ſetzen ſich wieder in Gang und die Illuſion erbleicht. Ich habe dieſe Stelle beinahe in ihrer ganzen Ausdehnung wiedergegeben. Wie man ſieht, iſt das ſehr gut geſagt, und manche werden ſogar denken, daß dem nichts hinzuzufügen ſei; meiner An— ſicht nach enthält der Satz, den ich zivi- ſchen Gänſefüße geſetzt habe, das Prin— zip der Löſung. Und dennoch beharre ich auf meiner Anſicht. Ich ſitze hier vor meinen mit Papieren bedeckten Tiſch und ſchreibe vorliegende Zeilen. Ich glaube nicht, das Opfer eines Traumes zu ſein; aber wie es Descartes geſagt hat, ich habe manchmal Ahnliches ge— träumt, ſogar, indem ich mir zum Über— fluſſe in meinem Traume ſagte, daß ich nicht träume. Ganz neuerdings hatte ich einen äußerſt komplizirten, wohl geord— neten und intereſſanten Traum. Plötzlich ſage ich mir, daß er aufgezeichnet zu werden verdiene, und immer weiter träu— mend, bringe ich ihn ſorgſam auf Brouil— lonpapier. Träume ich nicht noch in dieſem Augenblick, wo ich ihn ins Reine ſchreibe? Man wird mir ſagen, daß ich mich nach der Außenwelt orientiren könne, ſehr wahr; die Sonne glänzt, eine er— friſchende Briſe ſpielt im Laubwerk vor meinem Fenſter, von ferne höre ich das Rollen der Wagen und eine Kinder— trompete zerreißt mein Ohr — aber macht alles das nicht einen Teil meines Trau— mes aus? Sagt Radeſtock nicht ſelbſt in den von mir unterſtrichenen Worten, daß man in der Mehrzahl der Fälle die Einbildungen von wirklichen Dingen unterſcheiden könne? Es giebt alſo Fälle, in denen man es nicht kann. Bin ich nicht in einem dieſer Fälle, und wenn ſich das auch nur ein Mal ereignet, wo— durch kann ich mich vergewiſſern, daß das nicht immer ſtattfindet? In einer Note, die in den Text gehört hätte, er— zählt Radeſtock von einem polniſchen Studenten, mit welchem er in einer wiſ— * 5 5 N 10 f ; f J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 59 9 ſenſchaftlichen Geſellſchaft bekannt gewor— den. Dieſer Student iſt Nachtwandler geweſen, und heute paſſirt es ihm oft im Traume, das Bewußtſein zu haben, daß alles, was er träumt, nicht wahr ſei, und dennoch weichen die falſchen Bilder nicht. Ich habe Verrückte gekannt, welche in der nämlichen Lage waren. Wie iſt das möglich? Was heißt Bewußt— ſein der Wirklichkeit? Ich wiederhole, man kann in einem gewiſſen Maße den— ken, daß Radeſtock alles geſagt hat, was er zu ſagen nötig hatte, aber ich würde eine detaillirtere, eindringlichere und tiefere Analyſe dieſes beſondern Punk— | tes gewünjcht haben. Dieſen nämlichen Mangel an Tiefe muß ich noch hinſichtlich des neunten Kapitels hervorheben. Ich ſage nichts vom ſiebenten und achten Kapitel, in denen vom Somnambulismus und der Verſchiedenheit der Träume die Rede iſt, weil mich dies zu weit führen würde. In dieſem Kapitel vergleicht der Verfaſſer den Wahnſinn mit dem Traume. „Der Wahnſinn iſt ein wacher Traum,“ hat Kant geſagt. Der Autor liefert nicht viel mehr als einen Commentar zu dieſem Ausſpruch; er giebt ſich ſeiner Vorliebe für Beſchreibungen hin, in denen er ſtets glücklich iſt, aber unglücklicherweiſe wendet er viele Bilder, Metaphern und Vergleiche an, die ihre Reize haben, aber der So— lidität ermangeln. Die Vergleichung muß die Erklärung aufhellen und kräftigen, aber nicht deren Platz einnehmen. Nun iſt Radeſtock, von Vergleichungen zu Beſchreibungen und von Beſchreibungen zu Vergleichungen übergehend, dahin ge— langt, mich mit Gewalt Ahnlichkeiten und Analogieen erblicken zu laſſen und die Dinge fo wohl zu umnebeln und zu ver- | mengen, daß ich nicht mehr weiß, wo der Unterſchied zwiſchen dem ſchlafenden Menſchen, welcher träumt, und dem Ver— rückten ſteckt. Und dennoch iſt Niemand im Zweifel; der Verrückte iſt weder ein Träumer noch ein Nachtwandler. Die Schlußfolgerung des Werkes for— mulirt der Verfaſſer wie folgt: „Durch zahlreiche, aber allmähliche und unteilbare Abſtufungen geht das wache Bewußtſein in das des Schlafes und Traumes über, und zwiſchen der Geſundheit und Krank— heit der Seele findet man in keiner Weiſe eine beſtimmte Grenze, ſondern es exiſtirt ein großes Zwiſchengebiet der Wirrſale und Unordnungen. Niemand würde beſtimmt zu ſagen im Stande ſein, wo der Verſtand aufhört und der Aber— witz beginnt.“ Sehr gut; aber mein ganzes Weſen revoltirt gegen dieſe Folgerung, welche alle Dinge zuſammenwirft und in letzter Analyſe die Vernunft unterdrückt und aus dem Weltall jagt. Daraus, daß es Zwiſchenglieder zwiſchen den beiden ent— gegengeſetzten Zuſtänden giebt, folgt noch nicht, daß das eine das andre ſei. Zwi— ſchen der krummen und der geraden Li— nie giebt es alle möglichen Übergänge, aber es giebt nur eine gerade Linie; zwiſchen O und 1 giebt es alle denkbaren Werte, aber keiner von ihnen iſt das Nichts und keiner die Einheit. Stricker, deſſen Ideen ich jetzt dar— legen will, hat bis jetzt, ſoviel mir be— kannt, kein Werk über Pſychologie heraus— gegeben, und ſelbſt die Kapitel, welche den Schluß ſeiner pathologiſchen Bor- | leſungen ausmachen, werden gewiſſen Leu- ten vom Fach als reines Nebenwerk er— 60 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. ſcheinen. Aber man kann ſich nur des— halb beglückwünſchen, daß der gelehrte Profeſſor in dieſem Falle den Vorwurf eines Mangels an Einheit auf ſich ge— laden hat. Es iſt mir ſelten vergönnt geweſen, lebendigere, klarere und eigen— artigere Seiten über zum Teil abge— droſchene Gegenſtände zu leſen. Ich werde in meinem Bericht der eigenen Anordnung der Vorleſungen des Meiſters folgen. Unterſcheiden wir zuerſt zwiſchen dem potentiellen und aktuellen Wiſſen. In irgend einem Augenblick meines Da— ſeins kann ich nur an einen ſehr kleinen Teil deſſen, was ich weiß, denken. Das, was ich denke, iſt das lebendige (ak— tuelle) Wiſſen; der Reſt bildet das verborgene (potentielle) Wiſſen. Das lebendige Wiſſen iſt dem Bewußtſein im engern Sinne gegenwärtig. Wo iſt der Sitz des Bewußtſeins? das iſt eine un— lösbare und teilweiſe müßige Frage. Genug, daß die Abhängigkeit der Seelen— thätigkeit von der Gehirnthätigkeit eine ausgemachte Sache iſt. Ob die Zelle allein pſychiſch thätig iſt, und ob die ver— bindenden Nerven nur phyſiſch als ein— fache Leitungsapparate thätig ſind, iſt ſtreitig. Wenn jedoch ein Taubſtummer die Glocke zieht, und ſein blinder Be— gleiter ſie hört, werden weder der erſte noch der zweite ſagen können, „man hat geläutet“, in dem Sinne, welchen ein gewöhnlicher Menſch dieſem Satze bei— legt. Läßt dieſer Vergleich nicht lebhaft die Unmöglichkeit erkennen, eine Iſolirung der pſychiſchen Centren zuzulaſſen? Ich lege den andern Menſchen ein dem meinigen ähnliches Bewußtſein bei. Darin iſt kein unbewußtes Urteil. Dieſer Glaube erklärt ſich ganz einfach durch Ideen-Aſſociation. Wenn ich ein Möbel in Form eines Schrankes ſehe, vermuthe ich, daß es einen Hohlraum einſchließt, obwohl ich niemals bewußter Weiſe das Urteil gebildet habe, daß jeder Schrank hohl iſt. Unſere Ideen erhalten wir urſprüng— lich aus der Erfahrung, in zweiter Reihe aus dem Gedächtnis. Warum übertragen wir die Urſache unſrer Eindrücke nach außen? Durch eine Gewohnheitswirkung. Hier kann keine Rede von angeborner Fähigkeit ſein: Wenn ein Mann während langer Jahre ſtets einen Helm auf dem Kopfe getragen hätte und ihn nach dem Abnehmen noch ſpürte, würde man da von angeborner Fähigkeit ſprechen? Die Sinnesorgane ſind, wie ſchon Johannes Müller gezeigt hat, nur die Vorpoſten des Gehirns. Das Ich, ob gleich am klarſten im Kopfe vorgeſtellt, wird dennoch nicht von der Hirnſchale begrenzt, es reicht ebenſo weit, wie die Empfindungsnerven. Das iſt eine durch die Thatſache, daß die Kranken anato— miſche Kenntniſſe erwerben, bewieſene Behauptung. Denken wir uns ein mit Waſſer gefülltes Becken, von welchem ho— rizontale Röhren ausgehen, die in Pfei— fenköpfe endigen, in welche das Waſſer eintritt. Wenn man nun kleine Kieſel in die Pfeifenköpfe wirft, wird ſich die Welle bis in das Becken fortpflanzen, aber wird ſich dort merklich geſchwächt erweiſen. Wir werden die Bewegung an der Oberfläche im Becken und in dem Pfeifenkopfe ſehen, aber nicht in der Verbindungsröhre. Das iſt die Idee, welche wir uns vom Gehirn, den Sinnes— organen und ihren Beziehungen machen können. en rn A” 2 an J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. Wir ſind geneigt, eine Auffaſſung als direkt, wirklich und objektiv zu be— trachten, wenn das Bewußtſein von dem, was ſich an den peripheriſchen Nerven- endungen abſpielt, in den Vordergrund tritt. Dieſe Projektionsfähigkeit iſt nach und nach erworben worden; aber einmal erworben, verſetzen wir kraft derſelben die Urſache jeder Erregung der peri— pheriſchen Nervenendungen nach außen und knüpfen an das Vorwiegen ihrer Phänomene die Idee, daß wir uns unter der Wirkung einer äußern Urſache befinden, und daß wir einen äußern Gegenſtand empfinden. Aber wir täuſchen uns oft. Die Träume geben uns alle Tage den Beweis davon. Wo iſt alſo das Kri— terium für die Richtigkeit dieſes Urteils über das Außenſein? Wir werden das ſpäter ſehen. Inzwiſchen bemerken wir, daß ein illuſoriſches Bild ſeiner Natur nach ausſchließlich perſönlich iſt, während ein objektives Bild mehreren gemeinſam ſein kann. Darin liegt ein erſtes, ganz praktiſches Kennzeichen. Die normalen Erinnerungsbilder ſind nichts weiter als Reproduktionen der Sinneseindrücke. Die andern, z. B. das Bild einer Venus von Milo zu Pferde, ſind „phantaſtiſch“; ſie enthal— ten mehr als das in Wirklichkeit Er— blickte. Dieſer Art ſind die Traum— bilder. Ideen, die man zur ſelben Zeit hat, verknüpfen ſich. Von dieſen Verknüpfun⸗ gen ſind die einen ablösbar, die andern nicht. Ich kann das Bild eines Theater— ſaales von dem der Zuſchauer trennen, aber ich kann nicht die Idee des Ortes oder der Ausdehnung davon ablöſen. Sprechen wir jetzt von den Illuſio— 61 nen der Sinne. Es giebt da Verſchie— denheiten unter den Hallueinationen, z. B. zwiſchen denjenigen des Einſchla— fens und der Träume. In den Träumen giebt es zunächſt einen Szenenwechſel, ich bin an einem eingebildeten Orte, ohne Kenntnis meiner wirklichen Um— gebung, und falls ich davon irgend einen Eindruck erhalte, mache ich ihn meiner Phantaſie dienſtbar und verwebe ihn in den Traum. Ferner handelt es ſich nicht einzig um Illuſion im Traum. Wenn ich von Räubern träume und von Furcht ergriffen bin, ſo iſt dieſe Furcht reell und logiſch und beſteht manch— mal noch beim Erwachen. Schließlich haben die Ideen im Traume eine an— dere Art ſich zu verketten als im Wachen. Bei der Hallueination im Gegenteil iſt meine Aufmerkſamkeit vom Anfange an herabgeſtimmt; ich kann nicht leicht den Ankunftsaugenblick der Trugbilder fixiren; nichtsdeſtoweniger bleibe ich orientirt, und wenn ſie fort ſind, weiß ich, daß ich dieſe Bilder geſehen habe, und auch, daß ich ſie von dem Orte aus geſehen habe, wo ich mich befinde. Außerdem beobachtet man ſich dabei nicht ſelbſt, man nimmt keinen Teil am Spiel der Akteure, man empfindet weder Freude, noch Furcht, noch Zorn; man bleibt in abſoluter Gleichgültigkeit. Endlich man denkt nicht, man ſucht nicht ſeine Ideen zu ſammeln, man gleicht einer ſehenden Maſchine. N Die Phantaſiebilder ſind Erinnerungs— bilder; aber die Erinnerung reicht nicht aus, die Illuſion zu erklären, denn man glaubt an die Realität nur, wenn die Nervenendungen intereſſirt ſind. Wenn ich zum Beiſpiel die Sonne betrachte — 62 ſo werde ich ſie noch einige Augen— blicke nach dem Schließen der Augen ſehen, und ich werde ſie außer mir ſehen, ſo lange das Bild dauert; aber ſobald es erloſchen iſt und ich er- innere mich des urſprünglichen und des Folgebildes von neuem, erſcheint keines von beiden mehr außen. Zehn oder zwanzig Jahre nach dem Erblinden träumt man noch von Formen und Farben, aber nach und nach überwiegen die auf Gehör und Gefühl bezüglichen Ideen, bis mit der Länge der Zeit Geſichtsträume ganz aufhören. Somit iſt ohne die peri— pheriſchen Nerven und ihre Thätigkeit die Illuſion nicht möglich. Nach der Hypotheſe von Lazarus und Hagen”) nehmen die peripheriſchen Nerven, falls ſie in einem geeigneten Zu— ſtande ſind, wenn die Bilder im Hirne entſtehen, an der Erregung Theil. An dieſer Teilnahme ſpinnt ſich der Traum an. Selbſt bei den normalen Erinnerun— gen kann man immer ein wenig Illuſion nachweiſen, weil die innere Erregung ſich bis zu den peripheriſchen Nervenendungen fortpflanzt. Hier nimmt Stricker ſeinen Vergleich mit dem Becken und den Pfeifen wieder auf. Erinnerung findet nur ſtatt, wenn die Wellen im Becken entſtehen. Werden die Röhren mit erſchüttert, ſo wird die Erinnerung plaſtiſch; aber wenn *) Anmerk. der Red. Die in Rede ſtehende unhaltbare Hypotheſe iſt nicht von La— zarus und Hagen, ſondern bereits von Gib— bert, Johannes Müller und Brewſter auf— geſtellt, und von uns, in einem Buche über die Naturgeſchichte der Geſpenſter (Weimar, 1863, S. 353— 394), ausführlich widerlegt worden, wie denn auch der Verfaſſer des obigen Artikels ſpäter gewichtige Gründe dagegen anführt. Vergl. Kosmos VI, S. 159. J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. der Pfeifenkopf eine Welle empfängt, be— ginnt die Illuſion; es iſt als ob ein Steinchen hineingeworfen werde. Beſchäftigen wir uns einen Augen— blick mit dem Bewegungsbegriff. Wir wiſſen nicht, wie der Muskel uns ſeine Nachrichten mitteilt, aber das Daſein eines Muskelſinnes iſt nicht zweifelhaft. Die Frage, wie in uns die Vorſtellung der Be— wegung entſteht, iſt ſchwierig und hat noch keine befriedigende Löſung erfahren. Mög— lich, daß dieſe Vorſtellung einfach aus den Zeichen entſteht, welche wir von den ſen— ſiblen Nerven der Haut, der Bänder, der Gelenke und der Knochen, und außerdem durch das Sehen und Hören der Be— wegung empfangen. Wie es auch damit ſei, der Wille kann, wie folgt, erklärt werden: Der Eindruck bringt durch Re— flex auf das Organ eine Muskelkontraktion zu Stande. Der Eindruck und die Be— wegung können ſich jeder in einem be— ſtimmten Teil des Gehirnes abmalen. Nehmen wir jetzt an, daß der Teil, wo die Empfindung ihren Eindruck hinter— laſſen hat, durch eine fremde Urſache er— regt wird, welche alſo dort ein Erinne— rungsbild aufweckt, und daß die Erregung ſich bis zu dem Punkte ausbreitet, wo die Bewegung, deren Bild ſo erneuert wird, eingedrückt iſt: wir werden dann ſagen können, daß die Bewegung gewollt iſt, und die Bewegung, die ſich von dieſem Punkte zu dem Muskel auf demſelben Wege fortpflanzt, welche das Bild der Bewegung im umgekehrten Sinne ver— folgt hatte, um ſich dem Gehirn einzu— prägen, wird freiwillig genannt wer— den. Man darf durchaus nicht aus dem Geſicht verlieren, daß man nicht wollen kann, was man ſchon vollführt hat. Bei J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 63 dieſer Gelegenheit hebe ich jenes ſubtile, aber tiefe Paradoxon hervor, welches wert iſt, von allen, die ſich mit dem Problem der Willensfreiheit beſchäftigen, erwogen zu werden: ob, wenn uns die logiſchen Handlungen als Notwen— digkeiten erſcheinen, mit noch ſtärkerem Grunde die unlogiſchen als ſolche be— trachtet werden müſſen, denn es verſteht ſich von ſelbſt, daß, da jeder vorzieht, logiſch zu handeln, wenn er kann, es wider Willen geſchieht, wenn er unlogiſch handelt. Sehen wir zu, wie alles das ſich mit der Theorie über die Beurteilung der Außendinge verknüpft. Zu den wichtigſten unſrer innern Auffaſſungen muß man die der Beziehungen der Vorſtellungen unter einander rechnen. Wenn ich ſage, die Pferde laufen, drücke ich nicht nur eine gedachte, ſondern eine der äußern Wirklichkeit entſprechende Beziehung aus. Man hat einen Unterſchied zwiſchen den erſten und zweiten Qualitäten des Stoffes gemacht, und geſagt, die einen, wie die Ausdehnung, Geſtalt, Bewegung, Ruhe, Undurchdringlichkeit und Zahl ſeien allein objektiv, die andern, wie Farbe, Geruch, Geſchmack u. ſ. w. ſeien nur ſubjektiv. Berkeley verneint ein Begründetſein dieſer Unterſcheidung. Ich kann indeſſen, ſagt Stricker, ohne Bedenken zugeben, daß das, was außer mir der Farben— empfindung entſpricht, keine Farbe ſei, aber ich kann nicht denken, daß das nicht Bewegung und Widerſtand ſei, was außer mir den Ideen, die ich von Bewegung und Widerſtand habe, entſpricht; dieſe Ideen ſind in derjenigen der Materie mit einbegriffen, während die Ideen von Farbe, Geruch u. ſ. w. ihr einfach erſt zuerteilt ſind. Es iſt der Muskel-Prozeß, welcher uns zu den Ideen der Bewegung, des Widerſtandes und der von ihnen ab— hängigen (Volum, Maſſe, Geſchwindig— keit, Zeit, Ort u. ſ. w.) führt, und in dieſer Beziehung ſind auch ſie etwas Sub— jektives; aber wir begreifen nicht, daß dieſem Subjektiven nicht eine analoge Wirklichkeit entſprechen ſollte. Bezeichnen wir zum Unterſchiede von den Sinnes— qualitäten die übrigen von außen gekom— menen Kennzeichen. Wir erblicken von den Außendingen Qualität und Verhält—⸗ nis, und beide ſind unauflöslich in jeder Vorſtellung von der Materie verbunden. Wir können uns weder eine Maſſe ohne Farbe, noch eine Bewegung ohne ein ſinnliches Objekt denken. Die Erfah: rungen ordnen ſich in meinem Gehirn den Verhältniſſen entſprechend, und dieſer Ord— nung gemäß bringe ich die Ideen von den Außendingen untereinander in Be— ziehung und urteile über ſie. Ich bin ſomit im Rechte, zu verſichern, daß meine Urteile über die Verhältniſſe der Dinge, die wahrhaften Bilder dieſer Verhält— niſſe ſind. Wenn dem ſo iſt, in welchem Fall kann man behaupten, daß ein Urteil falſch iſt, und daß der Geiſt deſſen, der es fällt, geſtört iſt? Wo iſt das Kenn— zeichen der Störung? Locke kennt nur Erfahrungsurteile, Kant hat die Urteile a priori und die Urteile a posteriori unterſchieden. Die einen kann ich nicht anders denken, und betrachte ſie wie not— wendige, die andern fälle ich auf Grund meiner Erfahrungen. Der Irrtum kann nur dieſe treffen. Der geſunde Menſch erläutert die Gründe ſeiner Meinung, der Verrückte ſpricht fie wie ein a priori- 64 Urteil aus: es iſt fo, weil es fo ift. Woher wiſſen Sie, fragt man einen Wahn— ſinnigen, daß Ihr Wirt die Abſicht hat, Sie zu vergiften? — Ich weiß darüber nichts, aber es iſt ſo, war die Antwort. Dieſe Irrtümer des Urteils haben alſo ihre Quelle nicht in irgend einer Illuſion der Sinne, und die Motive ſind gänzlich innere. Man kann demzufolge die nach— ſtehende Definition formuliren: Jedes die Außenwelt betreffende a posteriori-Urtetl, welches nach Art eines a priori-Urteils für wahr gehalten wird, muß als eine Verirrung betrachtet werden. Die Worte nach Art eines a priori-Urteils bedeuten „ohne den Verhältniſſen der Außenwelt Rechnung zu tragen und ſelbſt im Wider— ſpruch mit denſelben“.“ Was die über Dinge der innern Erfahrung gefällten Urteile a posteriori — ich bin krank, ich bin glücklich, ich bin weiſe — be— trifft, ſo fehlt uns das Kriterium, wenig— ſtens falls ſie nicht von extravaganten, das Außere betreffenden Urteilen — z. B. man hat mich vergiftet, ich bin reich, man bewundert mich — begleitet ſind. Auf welche Weiſe entſtehen unver— nünftige Ideen? Eine weſentliche Beding— ung iſt, daß dieſe Urteile beherrſchend oder andauernd (fix) ſeien. Indeſſen ſind nicht alle fixen Ideen notwendig krank— haft: derartige find z. B. diejenigen, welche ein Vermögensverluſt, die Betrachtung einer entfernten Gefahr einflößt. Der Unterſchied zwiſchen dieſen und jenen macht die Kenntnis, ob ſie von einer wirk— lichen Urſache abhängen oder nicht, und ob die widerlegende Gegenüberſtellung mit der Wirklichkeit ſie zu zerſtören ver— mag oder nicht. Wenn eine gewiſſe Ideen— reihe ſich häufig ohne merkliche äußere J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. Urſache wiederholt, dann müſſen wir an— nehmen, daß im Gehirn ein begrenzter Teil Nervengewebe vorhanden iſt, wel— cher unter der Einwirkung innerer Er— regungen thätig iſt und eine hohe Reiz— barkeit beſitzt. Und von dem Augenblicke, wo die fixe Idee für wahr gehalten wird, iſt Wahnſinn vorhanden, wohlver— ſtanden, wenn das Urteil äußere Dinge betrifft oder Urteile dieſer Art hineinzieht. Jemand, der ſich eines Vorgefühls von Unglück nicht erwehren kann, braucht darum noch nicht verrückt zu ſein. Wie iſt die Möglichkeit eines irrigen Glaubens an äußere, nicht vorhandene Verhältniſſe zu erklären? Durch den Bruch der Beziehungen, welche die herrſchenden Ideen und einen Teil des potentiellen Wiſſens verbinden. Einige Betrachtungen über den Schlaf und die Träume ſind geeignet, dieſe Anſicht zu unterſtützen. Jedes Organ ſtrebt nach der Thätig— keit zur Ruhe. Gewiſſe Ruhezuſtände des Gehirns nennen wir Schlaf. Wenn wir ſchlafen wollen, beſeitigen wir die äußern Erregungen; aber die Ermüdung führt gewöhnlich den Schlaf ganz natürlich her— bei, indem ſie die Erregungen unwirkſam macht. Dennoch gilt nicht, was vom Muskelſyſtem gilt, auch vom Nervenſyſtem, welches die Überarbeitung, beſonders gegen das Alter von vierzig Jahren, überreizt und nicht abſpannt, ſei es, daß der Blut— zufluß fortdauert, oder die Erregbarkeit zunimmt. Diejenigen, welche das Nerven— ſyſtem in Thätigkeit erhalten, gelangen nicht zum Einſchlafen, außer durch An— wendung von 2—3 Gramm Chloral, welches die Nerventhätigkeit verlangſamt und lähmt. Es würde ohne Zweifel beſſer ſein, ſeine Zuflucht zur Muskelermüdung ; I . * J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. zu nehmen, welche naturgemäß zum Schlaf vorbereitet. Der Schlaf dauert gewöhn— lich bis zur Wiederkehr der Gehirnerreg— barkeit, und während dieſer ganzen Zeit empfängt man keinen Eindruck von der Außenwelt, giebt es kein lebendiges Wiſſen, keine aktuelle Kenntnis, und ſogar das potentielle Wiſſen ſendet keine Erinnerung. Nach und nach kehrt die Erregbarkeit wieder, und mit ihr als Anfang der Traum. Es erheben ſich Erinnerungen, die mehr oder weniger deutlich wahrgenom— menenen Erregungen von außen ver— ſchlingen ſich darin, und ſo entſteht der Traum. Wir haben weiter oben geſehen, daß wenn die Traumobjekte als wirkliche aufgefaßt werden, dies daher kommt, weil die innere Bewegung ſich bis zu den pe— ripheriſchen Endungen der Sinnesnerven ausbreitet. Aber weshalb werde ich ge— täuſcht? Weshalb bin ich das Opfer der Traum⸗Illuſion? Wenn ich die Stimme | eines Freundes vernehme, erweckt ſie in meiner Seele eine Menge Ideenverknü— pfungen, integrirende Teile des potentiellen Wiſſens, welche verurſachen, daß ich mir dieſen Freund vorſtelle. Aber, wenn der Freund gegen Morgen kommt, um mich zu ſprechen, während ich in einem Traum befangen bin, ruft mir ſeine Stimme nicht dieſe Ideen hervor, ſondern andere, die zu meinem Traume paſſen. Und deshalb geben ſie weder zur Berichtigung, noch zum Widerſpruch Anlaß. Etwas ähnliches geht beim Wahn— ſinn vor ſich. Die Geiſteskranken verſtehen nicht ihre fixen Ideen mit ihren Auf— faſſungen zu verbinden; ſie können in ihrer Tollheit logiſch ſein, aber ſie kön— nen ſie nicht motiviren. Sie ſtammt da— her, daß iſolirte Funktionen ſtark hervor— 65 treten, während andere unthätig werden. Gewiſſe Hirnteile funktioniren zu oft, dadurch wird eine Idee herrſchend, und damit wächſt die Tendenz, ſie für wahr zu halten. Andere Teile funktioniren zu wenig, und das iſt die Urſache, daß dieſe Tendenz nicht unterdrückt, und der Irr— tum nicht verbeſſert wird. Faſſen wir dieſe lange Analyſe in ein Wort zuſammen. Der Traum be— wirkt, wie die Viſionen des Wahnſinns Illuſion, weil er die Peripherie hinein— zieht, und er täuſcht, weil die Verbin— dungen des Subjekts mit der Außenwelt zur Zeit unterbrochen ſind, Bande, die ihren Ausdruck im potentiellen Wiſſen haben. In der Arbeit von Radeſtock haben wir einen ähnlichen, aber weniger klar ausgedrückten Schluß gefunden. Ich kann hier nicht alle Punkte der von Stricker berührten Lehre diskutiren. Ich werde nur zwei eng auf meinen Gegenſtand bezügliche aufnehmen. Nach ihm iſt es eine Bedingung für das Eintreten der Illuſion, daß die peri— pheriſchen Organe unter der Thätigkeit des Centralſyſtems in Bewegung geſetzt werden. Zunächſt iſt das eine reine Hy— potheſe; noch mehr, buchſtäblich genom— men, halte ich ſie für den Thatſachen entgegenſtehend. Ich kenne eine heute 84 Jahr alte Perſon, welche im Alter von dreißig Jahren taub wurde. Seit einem Jahrzehnt iſt ſie abſolut taub und empfindet die ſtärkſten Geräuſche nicht mehr. Man kann nur ſchriftlich mit ihr verkehren. Nun, in ihren Träumen ver— ſteht ſie immer und ohne alle Mühe die Perſonen, mit denen ſie ſpricht, und Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 66 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. träumt niemals, daß man ihr ſchreiben müſſe, um ſich ihr verſtändlich zu machen. Ein anderes Beiſpiel. Der berühmte Phyſiker Plateau iſt, wie bekannt, vor ungefähr 35 Jahren blind geworden. Ich habe ihn gebeten, mir die Natur ſeiner Geſichtsempfindungen während des Wachens und Schlafens ſchildern zu wol— len. Hier folgt, was er mir antwortete: 1. Im Allgemeinen träume ich, daß ich ſehe; einigemal auch träume ich, daß ich nicht ſehe; andre Male träume ich, daß meine Augen heilen und daß ich wieder zu ſehen anfange. Wenn ich träume, daß ich nicht ſehe, gehe ich ge— wöhnlich in einer Straße, die ich kenne; aber nach einiger Zeit finde ich mich nicht mehr zurecht, und alsdann kommt gewöhnlich Jemand, um mich unter den Arm zu faſſen, Jemand den ich kenne oder nicht kenne, und führt mich. 2. Wenn ich träume, daß ich ſehe, geſchieht es oft von Gebirgslandſchaften; ich träume nur äußerſt ſelten von Ex— perimenten oder Inſtrumenten; die Dinge, welche ich ſehe, haben ihre natürliche Farbe. 3. Im wachen Zuſtande ſehe ich bei— nahe ſtets in der Einbildung den Ort, wo ich mich befinde und die anweſenden Perſonen. 4. Wenn ich im Traume, ſei es un— bekannte Perſonen oder meine Kinder ſehe, ſehe ich nur ſehr ungenau ihre Phyſiognomie. In dieſem Punkte macht es Jeder— mann wie Plateau. Steht man mit Fremden, welche man nur aus ihren Briefen oder ihren Werken kennt, in Cor— reſpondenz, ſo ſchreibt man ihnen meiſt ohne Grund eine beſtimmte Körperbeſchaf— von a priori-Urteilen. fenheit zu, und wenn man von ihnen träumt, haben ſie notwendig einen Kör— per und ein Geſicht. Das Fehlen intak— ter peripheriſcher Organe beeinträchtigt alſo die Wirſamkeit der Einbildungskraft nicht. Dieſe beiden Thatſachen, welche, da ich ſie nicht geſucht, ſondern angetroffen habe, zweifellos nicht allein ſtehen, be— weiſen, daß der Sinn des Wortes Peri⸗ pherie der Präciſirung bedarf. Man kann ihn nicht buchſtäblich nehmen, und müßte die Peripherie weniger als Körperober— fläche verſtehen. Hier iſt der zweite Punkt. Die Ur- teile der Wahnſinnigen haben, ſoweit ſie wahnwitzig ſind, ſagt Stricker, die Form Es iſt das eine pikante Definition, welche ſicherlich rich— tige Seiten hat. Aber kann man nichts daran ausſetzen? Unſere Antipathien und Sympathien ſind zum Beiſpiel keineswegs vernünftiger. 5 Man kann, ohne geiſtesgeſtört zu ſein, wie ein Axiom behaupten, daß eine be— ſtimmte Perſon böſe oder gut, falſch oder aufrichtig, hart oder nachgiebig ſei. Iſt es denn notwendig ein Anzeichen von Geiſtesſtörung, zu glauben, daß ſie gegen uns von ſchlechten Abſichten erfüllt ſei, daß ſie uns z. B. zu vergiften ſuche? Gehen wir weiter. Was ſind die Eingebungen des Genies, wenn nicht An— ticipationen a priori? Und beruht ſchließ— lich aller Glaube, alle intime und abſo— lute Überzeugung auf dem Verſtande? Der Glaube, der Zweifel, ſind Urteile, welche mehr oder weniger motivirt wer— den können, aber man iſt ſeines Glau— bens und ſeines Zweifels gewiß. Dieſe allgemeine und höhere Gewißheit iſt not— Wahnſinn? Iſt derjenige, welcher ohne armen Melancholiker gekannt, welcher nur über einen Punkt delirirte: der Anblick des Kupfers verſetzte ihn in unausſprech— lichen Schrecken. Er räſonnirte über ſeine Averſion. Das Kupfer bedeckt ſich mit Grünſpan, dieſer Grünſpan beſchmutzt die Hände, und man kann alſo unab— ſichtlich dadurch ſich ſelbſt, ja was noch ſchlimmer, andere vergiften. Das iſt eine vernünftige Schlußfolge; iſt ſie darum weniger das Zeichen einer Geiſtesſtörung? Andrerſeits giebt es junge Mädchen, welche beim Anblick einer Fledermaus, einer Raupe, einer unſchädlichen Eidechſe in Ohn— macht fallen; ſie würden nicht im Stande ſein, ihren Widerwillen zu rechtfertigen, wem würde beifallen zu behaupten, daß man ſie in ein Irrenhaus bringen müßte? Kommen wir zum Schluſſe. Die ſubjektive Gewißheit, der Glaube, wie ich fie anderwärts*) genannt habe, begleitet notwendig unſere Urteile, unſere Be— jahungen, unſere Verneinungen, unſere Zweifel. Dieſe Gewißheit iſt von dem menſchlichen Geiſte unzertrennlich. Wenn ich in einem Traume oder in einem An— falle von Irrſinn urteile, daß zwei mal zwei fünfe machen, dann iſt dieſe Be— hauptung in meinen Augen ebenſo zweifel— los als die andere, zwei mal zwei machen vier, für diejenigen, welche bei gutem Verſtande ſind. Hier die Probe davon. In einer Nacht träumte ich von einem Deutſchen Café, in welchem ich ein Glas Bier getrunken hatte. Es handelt ſich *) ©. meine Logique scientifique, be- ſonders die Vorrede. 1 wendig a priori; iſt fie die Folge von Grund mißtrauiſch iſt, wie dies ſo oft der Fall, wahnſinnig? Ich habe einen J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 67 darum, 371½ Centimes zu bezahlen. Dieſe Zahl iſt nicht ſo ſonderbar, als ſie er— ſcheint, es iſt der Werth von dreißig Pfennigen, oder dreizehntel Mark in fran— zöſiſchem Geld. Wenigſtens erkäre ich mir ſie ſo. Ich näherte mich dem Zahltiſch und legte dort zuerſt ein Stück von 20 Cen- times, dann eins von 10 Centimes hin. Die Dame, vor welcher ich dieſes Geld hinlegte, fand dabei nicht ihre Rechnung und machte mir das bemerklich. Ich er— ſtaunte darüber. „Madame,“ ſagte ich, „machen denn nicht 20 und die Hälfte von 20 37½?“ Die Dame ſchien es nicht zu begreifen. Vergebens verſuchte ich, ihr es klar zu machen, meine Gründe wollten ihr nicht einleuchten. Es näherten ſich Kellner und gaben mir Recht; die Dame beharrt in ihrem Irrtum; die Bür— ger miſchten ſich darein und gaben ihr Un— recht. Endlich verwirrt und dumm gemacht, hört ſie auf, darauf zu beſtehen, und ich gehe endlich davon, ſtark in meinem Rechte, mit ruhigem Gewiſſen, aber mich mehr und mehr über dieſe ſeltſame Geiſtesver— wirrung einer Geſchäftsfrau entzückend, welche nicht einſieht, daß 20 und die Hälfte von 20 genau 371, ausmachen. Die wiſſenſchaftliche Gewißheit iſt von einer andern Natur. Sie iſt mit dem ſpekulativen Zweifel verträglich. So kann ich ſehr wohl den vom wiſſenſchaftlichen Standpunkte völlig legitimen Zweifel aus— ſprechen, ob ich im gegenwärtigen Augen— blick nicht etwa träume oder toll bin. Das pſychologiſche Problem des Trau— mes berührt ſich alſo ebenſowohl mit der Theorie der Gewißheit als mit der Theorie des Gedächtniſſes. Unter dem erſten Ge— ſichtspunkt betrachtet, bringt es mehrere verſchiedene Fragen mit ſich. 68 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 1) Auf welchem Gunde ruht der Glaube im Allgemeinen und der an eine äußere Wirklichkeit im Beſondern? 2) Warum glaubt man, wenn man wacht, nicht an die Realität ſeiner Träu— mereien, und warum glaubt man, wenn man träumt, an die Realität ſeiner Träume? 3) Warum ſchreibt man beim Er— wachen ſeinen Träumen einen lügneriſchen Charakter zu? Welches ſind die Motive dieſer Beimeſſung? Giebt es in dieſer Hinſicht ein abſolutes Kriterium der Ge— wißheit? 0 . 4) Warum mißt der Irrſinnige feinen Verirrungen Glauben bei? An welchem Zeichen erkennen wir die Phantaſien eines geſtörten Gehirns, und welches iſt der lo— giſche Wert deſſelben? Gibt es ein ſicheres Kriterium? Dieſe Zeilen waren geſchrieben, als ich einige Seiten von V. Egger mit— geteilt erhielt, auf denen dieſer junge Gelehrte mit einer großen Feinheit ein ſeltſames Beiſpiel von Verdopplung ana— lyſirt. Das ſcheinbare Ich ſpricht einen abſurden und unzuſammenhängenden Satz aus, ein Pſeudo-Nicht-Ich, welches ihn nicht verſteht, verlangt eine Erklärung, ohne ſie erhalten zu können. Der Leſer wird gut thun, dieſen Artikel und den meinigen zu vergleichen. Er wird ſich auch fragen können, ob in dem oben er— zählten Traum das durch die deutſche Dame gezeigte Erſtaunen, beim Anhören der enormen Leiſtung, daß 20 und die Hälfte von 20 genau 37½ machen, nicht der Beweis iſt, daß mir noch ein Schein von guter Vernunft geblieben war? Als ich beim Erwachen geſucht habe, ausfindig zu machen, was mich zu einer ſo un— gereimten Addition habe verleiten können, bemerkte ich ſogleich, daß ich im Schlafe das unbeſtimmte Gefühl von der Ent— ſtehung der Zahl 371, gehabt haben muß, welche in der That gleich iſt: 20 10 5 ne 2 hg (Schluß folgt.) Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Die Anvoländigkeit der paläonlo— I bgiſchen Aberlieferung. err Theodor Fuchs, Kuſtos am k. k. Hof⸗Muſeum in Wien, hat ſein wird, und jedenfalls zeigt ſchon die in der Sitzung der Geologiſchen Reichs— anſtalt vom 16. Dezember vor. Jahres einen Vortrag „Über die präſumirte Unvollſtändigkeit der paläontologiſchen Überlieferung“ gehalten), der mich zu einigen Entgegnungen veranlaßt. Zweck dieſes Vortrages, der nur als Einleitung eines größeren Feldzuges gegen die Des— cendenzlehre betrachtet werden kann, war, darzulegen, daß es mit „der von den Anhängern der Darwinſchen Lehre mit ſo grellen Farben ausgemalten Unvoll— ſtändigkeit“ nicht ſo ſchlimm beſtellt ſei, daß „die betreffenden Darſtellungen der Darwiniſtiſchen Schule zum großen Teile auf argen Übertreibungen beruhen, daß im Gegenteile die Überlieferung früherer Faunen und Floren in gewiſſen Teilen eine außerordentlich vollſtändige ſei, und daß überhaupt der gegenwärtige Stand der Paläontologie bei richtig angewand— ter Kritik einen vollkommen verläßlichen Boden abgebe, um Fragen ſo allgemei— ner Natur, wie die Darwinſche Lehre ſie aufſtelle, mit Sicherheit zu diskutiren“. ) Verhandlungen der k. k. Geologiſchen Reichsanſtalt in Wien, 1879, Nr. 16, S. 355. Der Vortragende verſprach, dieſe Behauptungen auf Grundlage ſtatiſtiſcher Daten nachzuweiſen, indeſſen glaube ich, daß ihm dies ohne arge Verdrehung und falſche Auslegung der Thatſachen kaum möglich Behandlung des Gegenſtandes in dem in Rede ſtehenden Vortrage, daß Fuchs, um einen Angriffspunkt gegen die Descendenz— lehre zu gewinnen, die bisher allgemein angenommene Lückenhaftigkeit der palä— ontologiſchen Überlieferung durch ziemlich ſophiſtiſche Argumente bekämpfen will. Folgen wir dem Vortragenden in ſeiner Beweisführung, ſo haben wir uns zunächſt mit nachſtehenden Sätzen zu be— faſſen, welche ich wohl am beſten wort— getreu citire. Fuchs ſagt, man müſſe, um eine richtige Grundlage zu gewinnen, vor allen Dingen zwei Gruppen von Organismen unterſcheiden: „a) Solche, welche vermöge ihrer wei— chen Körperbeſchaffenheit, ihres Aufent— haltes oder ihrer Lebensweiſe überhaupt nur durch das exzeptionelle Zuſammen— treffen ſeltener Umſtände als Foſſilien erhalten werden können, wie z. B. Dual- len, Aseidien, Inſekten, Vögel, kleine Säugethiere, krautartige Pflanzen ꝛc.“ „b) Solche, welche widerſtandskräftige Hartteile beſitzen und in Folge ihres Aufenthaltes und ihrer Lebensweiſe im 70 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. regelmäßigen Fortgange der Sediment— bildung notwendigerweiſe in die neuen Terrainbildungen eingeſchloſſen und als Foſſilien der Nachwelt überliefert wer— den müſſen, wie z. B. Korallen, Echino— dermen, Conchylien ꝛc.“ „Organismen der erſten Kategorie werden nur ausnahmsweiſe erhalten wer— den, und bei ihnen iſt die Überlieferung thatſächlich auch eine äußerſt fragmentöſe.“ „Bei den Tieren der zweiten Kate— gorie jedoch iſt die Erhaltung im foſſilen Zuſtand keineswegs durch ausnahmsweiſe Zufälligkeiten bedingt; ſondern dieſelbe iſt vielmehr die notwendige Folge der normalen Sedimentbildung und bei dieſer iſt die paläontologiſche Überlieferung auch erfahrungsgemäß eine äußerſt voll— ſtändige.“ — Soweit Fuchs. Es iſt nun klar, daß der unbefangene Beurteiler ſchon darin, daß die erſte Gruppe von Organismen nur ausnahms— weiſe der paläontologiſchen Unterſuchung zugängliche Reſte darbietet, während von der zweiten nur die Hartteile erhalten blieben, eine weſentliche Lücke in der paläontologiſchen Ueberlieferung ſehen muß. Denn es iſt klar, daß die Deu— tung äußerer Schalen oder iſolirter Hart— teile der inneren Skelette eine ziemlich unſichere iſt und keineswegs die Kenntnis des ganzen Organismus erſetzen kann. Fuchs führt mehrere Beiſpiele für die Vollſtändigkeit der Erhaltung der Orga— nismen ſeiner zweiten Kategorie, und unter anderen auch die folgenden an: „Appelius fand im tyrrheniſchen Meer 337 Arten ſchalentragender Conchylien; von dieſen 337 Arten konnte er jedoch 300 auch in der quaternären Panchina von Livorno nachweiſen und man hätte demnach die Fauna des tyrrheniſchen Meeres aus den Foſſilien mit großer Vollſtändigkeit kennen lernen können.“ „Die Anzahl einheimiſcher Huftiere in Europa beträgt 20. Alle dieſe 20 Arten ohne Ausnahme ſind aber bereits foſſil in den Diluvialablagerungen Eu— ropas aufgefunden worden, und man würde daher, blos auf das Studium der foſſilen Reſte geſtützt, die Huftierfauna Europa's vollſtändig kennen gelernt haben.“ Wenn Fuchs hier behauptet, daß man im Stande ſei, die gegenwärtige Fauna des Tyrrhener Meeres auch durch die Unterſuchung der quaternären Foſſilien mit großer Vollſtändigkeit kennen zu ler— nen, oder daß man die recente Huftierfauna Europa's blos auf das Studium der foſſilen Reſte der Diluvialablagerungen geſtützt, vollſtändig erforſchen könne, ſo iſt er offenbar ſchon deshalb im Irr— tume, weil von den foſſilen Formen nur die Hartteile vorliegen. Niemand wird es wohl heute wagen, mit aller Beſtimmtheit die vollſtändige Identität der zwanzig diluvialen und recenten Huf— tiere blos aus dem Grunde zu behaup— ten, weil die Hartteile ihrer Skelette große Uebereinſtimmung zeigen. Die klei— nen Verſchiedenheiten, welche wir jedoch auch an den Skeletten faſt ausnahmslos beobachten können, mögen vielleicht von noch größeren im Bau der Weichteile, in der Farbe der Haare und in den Lebensgewohnheiten begleitet geweſen ſein, — Unterſchiede, die uns veranlaſſen wür— den, von verſchiedenen Arten zu ſprechen, wenn wir eben die diluvialen Huftiere nicht in Rudimenten ihres Skelettes, ſon— dern „mit Haut und Haar“ in allen Teilen ihres Weſens unterſuchen könn— Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ten. Dieſe Unſicherheit, welche ſich in Folge der mangelhaften Überlieferung des paläontologiſchen Materiales ſchon dann geltend macht, wenn wir von jüngſt vergangenen Perioden und ihren Lebe— weſen ſprechen, tritt noch mehr hervor, wenn es ſich um weiter zurück liegende Epochen und ihre organiſche Welt handelt. Wenn wir heute von zahl— reichen älteren Organismen (Conularien, Receptaculiten, Tabulate Corallen, viele paläozoiſche Pflanzen ꝛc. ꝛc.) nicht mit Sicherheit wiſſen, welchen Gruppen der organiſchen Reiche wir ſie zuweiſen ſollen, ſo danken wir dies doch in erſter Linie der Mangelhaftigkeit des Mate— riales. Allein abgeſehen von dieſer, von Fuchs gänzlich unberückſichtigten Seite der Un— vollſtändigkeit der paläontologiſchen Über— lieferung, begegnen wir einer ebenſo bedeutſamen, in der Zerſtörung urſprüng— lich vorhandener, im Allgemeinen der Er— haltung zugänglicher Hartteile der Or— ganismen. In der Reihe der Formatio— nen finden wir zahlreiche Bildungen, in welchen dieſe früher vorhandenen Hart— teile mehr oder minder zerſtört, bis zur Unkenntlichkeit umgewandelt oder gänz— lich fortgeſchafft werden. In den Ab— ſätzen der Tiefſee iſt, wie Fuchs ſelbſt an anderer Stelle behauptet, die Auf— löſung der kalkigen Gehäuſe allgemeine Regel, aber auch in den Seichtwaſſer— Bildungen iſt die Zerſtörung und Um— wandlung derſelben eine ungemein häufige Erſcheinung. Ich erinnere, um nur das naheliegendſte Beiſpiel anzuführen, an das Vorherrſchen von Sandſteinen mit Steinkernen und Hohldrücken und das un— gemein ſeltenere Auftreten der Sande mit 71 erhaltenen Conchylien in den Sarmati— ſchen Ablagerungen des Wiener Beckens. Fuchs ſelbſt hat in einer höchſt in— tereſſanten Mitteilung über die Entſtehung der Aptychen-Kalke?) dargelegt, wieſo es denn komme, daß im oberen Jura und in den Kreidebildungen ſo häufig plattige Kalkſteine und Mergelkalke auf— treten, welche paläontologiſch durch den ſonderbaren Umſtand ſich auszeichnen, daß ſie faſt gar nichts Anderes als Aptychen und Belemniten enthalten, indem er die Zerſtörung aller anderen Reſte als Ur— ſache dieſer auffallenden Erſcheinung mit überzeugenden Gründen nachwies. Fuchs hat damals die Berechtigung der Annahme, daß im Meere noch unter der Waſſer— bedeckung während der im Gange befind— lichen Sedimentbildung Auflöſungsprozeſſe im ausgedehnteſten Maßſtabe ſtattfinden, durch Hinweis auf die Erfahrung der Challenger-Expedition über die Löſung der Kalkgehäuſe in großer Meerestiefe, und auf die analogen Beobachtungen der deut— ſchen Expedition zur Erforſchung der Oſt— ſee, ſowie durch Erörterung der Bildung der Skulptur⸗Steinkerne nachgewieſeu. Auch die Petrefaktenarmut des Flyſches wurde von Fuchs in die Diskuſſion gezogen. Ich ſehe mich nicht in der Lage, ſeiner Deutung des Flyſches als Produkt von Schlammvulkanen vollſtändig beizupflich— ten, da der Flyſch gewiß nur zum geringſten Teile (Argille scagliose und ihre Des— cendenzen) als wirkliche Schlammvulkan— bildung aufgefaßt werden kann, und vermag deshalb nicht in der eruptiven Natur des Flyſches den Hauptgrund ſeiner Petre— *) Sitzungsberichte der K. Akademie der Wiſſenſchaften in Wien, mathem.-naturw. Kl. J. 76. Bd, 1877, S. 329. 72 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. faktenarmut zu ſehen; wol aber erblicke | demnach Aufgabe der Geologen und Pa— ich denſelben in der von Fuchs erſt in zweiter Linie angeführten Thatſache und in der Zerſtörung der urſprünglich vor— handenen, in den Flyſch eingebetteten Tierreſte. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß ich hierbei nicht wie Fuchs an die auf— löſenden Wirkungen der mit verſchiedenen Gaſen imprägnirten Schlammmaſſen, ſon— dern an die ganz allgemeine Erſcheinung der Auflöſung und Wegführung des kohlen— ſauren Kalkes durch kohlenſäurehaltige Ge— wäſſer während und nach der Sedimen— tirung denke. So ſehen wir eine von Fuchs früher geäußerte Meinung, der wir in ihren Grundzügen vollſtändig bei— pflichten müſſen, in direktem Widerſpruch mit deſſen, im Vortrage vom 16. De— zember v. J. geäußerten Anſichten. Gegen die letzteren können jedoch noch viel ſchwerer wiegende Gründe vorge— bracht werden. Die neueren Anſichten über die Chorologie der Sedimente laſſen ſich unmöglich mit den Behauptungen des Vortrages vom 16. Dezember vereinigen. Das Weſen der Lückenhaftigkeit der paläontologiſchen Überlieferung beruht, wie Mojſiſovies gezeigt hat“), auf dem fortwährenden Wechſel heteromeſiſcher, he— terotopiſcher und heteropiſcher Bildungen, und dieſe Lückenhaftigkeit iſt daher mit der in der Reihe der Formationen allent halben nachweisbaren Anderung der phy— ſikaliſchen Bedingungen notwendig ver— knüpft; ſie iſt um ſo größer, je weniger Terrain die geologiſche und paläontolo— giſche Forſchung auf der Erdbodenfläche erſchloſſen hat, und je ungenauer die be— treffenden Unterſuchungen ſind. Es iſt a ) Vgl. Mojſiſovics, Dolomitriffe, S. 7 u. 8, ſowie Kosmos, Bd. VI. S. 13 u. fgde. läontologen, dieſe Lückenhaftigkeit durch Ausdehnung und Vertiefung ihrer Studien zu bekämpfen, um, ſo weit es möglich iſt, die Entwicklung der Organismen durch die iſomeſiſchen, iſotopiſchen und iſopiſchen Bildungen zu verfolgen. Dabei dürfen wir uns weder durch die vorläufig gähnen— den Lücken in unſeren Kenntniſſen, noch durch andere Schwierigkeiten abſchrecken laſſen, denn wollten wir die Leuchte der Descendenzlehre von uns werfen, ſo hätten in der That die Foſſilien höchſtens noch für den Raritätenſammler, nicht aber für die wiſſenſchaftliche Forſchung Intereſſe. Es iſt nicht zu leugnen, „daß auch ſchon der gegenwärtige Stand der Paläonto— logie bei richtig angewandter Kritik einen Boden abgiebt, um Fragen ſo all— gemeiner Natur, wie die darwiniſche Lehre fie aufſtellt, zu diskutiren;“ — inwieweit jedoch dieſer Boden „vollkommen zu— verläßlich“ und inwieweit eine derartige Diskuſſion mit Sicherheit möglich iſt, darüber giebt uns nur die genaue Ein— ſicht der thatſächlich vorhandenen Lücken— haftigkeit unſerer Kenntnis Aufſchluß. Graz. Prof. R. Hoernes. Die geſchlechllichen Färbungen gewiſſer Schmellerlinge. Dr. Schulte in Fürſtenwalde hat mich auf die ſchönen Farben aufmerkſam gemacht, welche auf allen vier Flügeln eines Schmetterlings, der Diadema bo- lina, erſcheinen, wenn man von einem be— ſtimmten Punkte aus darauf hinblickt. Die beiden Geſchlechter dieſes Schmetterlings differiren bedeutend in der Färbung. Die Flügel des Männchens ſind, wenn von Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 73 hinten betrachtet, ſchwarz mit ſechs Flecken von reinem Weiß und bieten eine ele— gante Erſcheinung dar; aber von vorn geſehen, in welcher Stellung, wie Dr. Schulte bemerkt, das ſich dem Weib— chen nähernde Männchen von erſterem ge— ſehen werden würde, erſcheinen die weißen Flecken mit einem Hofe von ſchönem Blau umgeben. Mr. Butler zeigte mir auch im britiſchen Muſeum ein analoges und noch auffallenderes Beiſpiel aus der Gat— tung Apatura, bei welchem die Geſchlech— ter gleichfalls in der Färbung differiren und bei dem Männchen die prachtvollſten blauen und grünen Tinten einzig einer davor ſtehenden Perſon ſichtbar ſind. Fer— ner erſcheinen bei verſchiedenen Arten von Ornithoptera die Hinterflügel des Männ— chens von einem ſchönen Goldgelb, aber nur, wenn von vorn geſehen; dies gilt auch für O. magellanus, aber hier ha— ben wir, wie mir Mr. Butler zeigte, eine partielle Ausnahme, denn die Hinter— flügel wechſeln, wenn von hinten betrach— tet, aus der Goldfarbe in ein blaſſes, iriſirendes Blau. Ob dieſe letztere Farbe irgend eine ſpezielle Bedeutung hat, könnte einzig durch Jemand ausgemittelt werden, der das Benehmen des Männchens in ſeiner Naturheimat beobachten könnte. Schmetterlinge ſchließen, wenn ſie in Ruhe ſind, ihre Flügel zuſammen ihre Unter— flächen, welche oft dunkel gefärbt ſind, können dann allein geſehen werden, und dies dient, wie allgemein angenommen wird, als Schutzmittel. Aber wenn die Männchen den Weibchen den Hof machen, ſenken und erheben ſie abwech— ſelnd die Flügel, indem ſie dadurch die brillant gefärbte obere Fläche enthüllen, und es ſcheint der natürliche Schluß, daß ſie in dieſer Weiſe handeln, um die Weib— chen zu bezaubern oder zu erregen. Durch die oben beſchriebenen Fälle iſt dieſe Schlußfolge noch wahrſcheinlicher gemacht, da die volle Schönheit des Männchens einzig von dem Weibchen geſehen werden kann, wenn es gegen daſſelbe vorrückt. Wir werden dadurch an die ausgeklügelte und abwechslungsreiche Art erinnert, in welcher die Männchen mancher Vögel, z. B. der Pfauhahn, Argusfaſan u. A., ihr wundervolles Gefieder möglichſt vor— teilhaft vor ihren ungeſchmückten Freun— dinnen entfalten. Die Betrachtung dieſer Fälle veran— laßt mich, einige Bemerkungen darüber hinzuzufügen, in wie weit Bewußtſein bei der erſten Erwerbung gewiſſer In— ſtinkte, einſchließlich geſchlechtlicher Schau— ſtellungen, notwendigerweiſe ins Spiel kömmt; denn da alle Männchen derſelben Art ſich in' gleicher Weiſe benehmen, während ſie den Weibchen den Hof ma— chen, dürfen wir folgern, daß die Schau— ſtellung jetzt inſtinktiv geworden iſt. Die meiſten Naturkundigen ſcheinen zu glau— ben, daß jeder Inſtinkt zuerſt mit Be— wußtſein ausgebildet wurde, aber dies ſcheint mir ein irriger Schluß für viele Fälle, wenngleich zutreffend für andere. Vögel, die in verſchiedener Weiſe erregt werden, nehmen ſeltſame Stellungen an und ſträuben ihr Gefieder; und wenn die Aufrichtung der Federn in einer beſon— dern Art einem dem Weibchen den Hof machenden Männchen vorteilhaft war, ſo ſcheint mir nicht irgend welche Unwahr— ſcheinlichkeit vorhanden zu ſein, daß dieſe begünſtigte Thätigkeit vererbt wurde, und wir wiſſen, daß beim Menſchen oft häß— liche Angewohnheiten und unbewußt an— Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 10 74 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. genommene neue Geberden vererbt wer— den. Wir können einen verſchiedenen Fall nehmen (welcher, wie ich glaube, bereits von jemand angeführt wurde), denjenigen junger Erdvögel, welche ſich ſelbſt un— mittelbar nach dem Ausſchlüpfen aus dem Ei niederkauern und verſtecken, wenn ſie in Gefahr ſind; hier ſcheint es kaum möglich, daß die Gewohnheit gleich nach der Geburt und ohne Erfahrung mit Bewußtſein könnte erworben worden ſein. Aber wenn ſolche junge Vögel, welche, wenn erſchreckt, bewegungslos ſaßen, öfter vor Raubtieren bewahrt blieben, als ſolche, welche zu entfliehen ſuchten, ſo kann die Gewohnheit des Nieder— kauerns ohne irgend welches Bewußtſein von Seiten der jungen Vögel erworben worden ſein. Dieſes Raiſonnement wen— det ſich mit beſondrer Kraft auf ſolche jungen Schreit- und Waſſervögel an, deren Alten ſich ſelbſt nicht verbergen, wenn ſie in Gefahr kommen. Hinwie— derum ein Rebhuhnweibchen fliegt, wenn Gefahr vorhanden, eine kurze Strecke von ihren dicht niedergekauert zurückgelaſſenen Jungen fort, fliegt dann in der faſt jedem bekannten Manier, als wenn ſie gelähmt wäre, aber ungleich einem wirk— lich verwundeten Vogel, dicht über dem Boden hin; ſie macht ſich ſelbſt bemerk— bar. Nun iſt es mehr als zweifelhaft, ob jemals irgend ein Vogel mit hin— reichendem Intellekt exiſtirte, der fähig geweſen wäre, zu denken, daß er einen Hund oder andern Feind von ſeinen Jun— gen hinweglocken könnte, wenn er das Benehmen eines wunden Vogels nach— ahmen würde. Denn dies ſetzt voraus, daß er ſolches Benehmen an einem ver— wundeten Kameraden beobachtet hätte und wüßte, daß es einen Feind zur Ver— folgung reizen würde. Viele Naturfor— ſcher nehmen beiſpielsweiſe jetzt an, daß das Schloß einer Muſchel durch die Er— haltung und die Vererbung allmählicher nützlicher Variationen gebildet worden ſei, indem die Individuen mit einer et— was beſſer konſtruirten Schale in größe— rer Zahl erhalten wurden, als diejenigen mit einer weniger gut eingerichteten; warum ſollten nicht vorteilhafte Abän— derungen in den ererbten Handlungen eines Rebhuhns in gleicher Weiſe erhal— ten worden ſein, ohne einen Gedanken oder bewußte Abſicht ihrerſeits, ebenſo— wohl als in dem Beiſpiele der Muſchel, deſſen Schalenſchloß unabhängig vom Be— wußtſein modifizirt und verbeſſert wor— den iſt? Charles Darwin. Die Glieder von Hauranodon. Im Februarheft des „American Jour— nal of Science“ (Bd. XIX, S. 169, 1880) macht Prof. Marſh folgende hochwichtige Mitteilungen über den Bau der Füße von Sauranodon, welche die älteren Studien Gegenbaurs über die Ableitung der Wirbeltierfüße von der Floſſe der Se— lachier und über die von dem gewöhn— lichen Typus abweichende Form der Hali— ſaurier-Füße weſentlich ergänzen. „Seitdem die erſte Art der neuen Gattung (Sauranodon natans) von dem Verfaſſer beſchrieben worden ift*), ſind acht weitere Exemplare derſelben Gruppe entdeckt und dem PYale-Muſeum einver— leibt worden. Bei dreien derſelben iſt der Schädel erhalten, aber auch dort ſind keine Andeutungen von Zähnen vorhanden, ſo daß wir dieſe Reptilien als vollkom— 5 Kosmos, Bd. V, S. 139. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. men zahnlos betrachten müſſen. Der Schä— del zeigt in vielen Punkten Übereinſtim— mung mit demjenigen von Ichthyosaurus. Auch die Wirbel ſind denen dieſer Gattung ſehr ähnlich. In den Charakteren der Seiten— glieder bietet Sauranodon einige Züge von ſpeziellem Intereſſe. Die vordern und hintern Gliedmaßen ſind wohl entwickelt und dem Schwimmen angepaßt. Dieſe Ex— tremitäten ſind weniger ſpezialiſirt, als diejenigen irgend eines andern bekannten, über den Fiſchen ſtehenden Wirbeltieres. In der Vorderpfote iſt das Ober— armbein allein ſpezialiſirt. Unter dem— ſelben ſind die Knochen des Vorderarms, die Handwurzel-, Mittelhand- und Finger— Knochen im Weſentlichen runde, frei in das urſprüngliche Knorpelgewebe eingepflanzte Scheiben. Der Speichenknochen darf viel— leicht als eine teilweiſe Ausnahme be— trachtet werden, da ſein freier Rand nahezu gerade und etwas dünner als der übrige Rand iſt. Es ſind da drei Knochen von faſt gleicher Größe in der erſten Reihe unter dem Oberarmbein vorhanden. Das Speichen— bein kann mit Gewißheit durch ſeine Stel— lung identifizirt werden. Der nächſte Kno— chen entſpricht augenſcheinlich dem Mittel knochen (Intermedium), und der dritte oder 90 75 andere äußere dem Ellenbein. In der folgen— den Reihe ſind vier halbkreisförmige Kno— chen vorhanden, und fünf in der nächſten Reihe. Dieſe repräſentiren die Handwurzel— knochen. Ferner ſind ſechs Mittelhandkno— chen und auch ſechs wohl entwickelte Finger vorhanden, von denen jeder aus zahlreichen Phalangen zuſammengeſetzt iſt, welche alle frei und von nahezu kreisrunder Form ſind. Im Hintergliede iſt der Aufbau weſent— lich derſelbe. Das äußere Ende des Ober— armbeins hat drei deutliche Facetten, und von dieſen iſt die mittelſte die breiteſte. Zunächſt unter dem Oberarmbein und mit ihm eingelenkt ſind drei Knochen, welche anſcheinend Schienbein, Inter— medium und Wadenbein repräſentiren, wenn auch das erſtere allein nach ſeiner Geſtalt und Stellung beſtimmt werden kann. Die nächſte Reihe enthält vier runde Knochen, und die folgende fünf, wie in dem hier folgenden Holzſchnitt dargeſtellt iſt. Dieſe entſprechen den Fußwurzel— knochen, und in der nächſten Reihe ſind die ſechs Mittelfußknochen. Es ſind hier ſechs Zehen vorhanden. Die äußern Pha— langen ſind klein und kreisförmig; da ihre genaue Stellung nicht beſtimmt werden konnte, ſo wurden ſie unſchattirt gelaſſen. S n * 8000er, Linke Hinterſchaufel von Sauranodon discus Marsh von unten geſehen. Ein Achtel der natür— lichen Größe. f. Oberſchenkelbein, t. Schienbein, 1. Mittelbein, t“ Wadenbein, I. u. V. erſte und fünfte Zehe. 76 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Die obige Figur ſtimmt im Weſent— lichen mit den andern erhaltenen Schau— feln überein und mag alſo als das typiſche Glied bei dieſer Reptilklaſſe betrachtet wer— den. Die auffallendſten Züge in dieſem Sauranodon-Fuße find die drei mit dem Oberſchenkelbein artikulirenden Knochen und die ſechs vollſtändigen Zehen. Dieſe Charaktere markireneine Entwicklungsſtufe, die tiefer als diejenige irgend eines bekannten luftatmenden Wirbeltieres ſteht und einzig in den Gliedern von Ichthyosaurus an— nähernd erreicht wird. Die Bildung von Quer-Segmenten iſt in den fünf erſten Reihen deutlich erkennbar, wenn man Ober— arm⸗ oder Oberſchenkelbein als das erſte Segment, das der Propodial-Knochen!) betrachtet. Wenn die drei Knochen der zweiten Reihe (Epipodial-Knochen) richtig gedeutet wurden, ſo iſt das Mittelſte das Intermedium. Seine Stellung in den Schaufeln beider bekannten Arten von Sauranodon zeigt an, daß ſein wahrer Platz in dem Segmente iſt, wo es ge— funden worden iſt. Wenn dem ſo iſt, ſo folgt, daß es in dem Differenzirungs— fortſchritt dieſer Knochen ſchrittweiſe von ſeiner urſprünglichen Stellung zwiſchen den Randknochen der zweiten oder epipo— dialen Reihe hinausgedrängt worden iſt in die dritte oder meſopodiale Reihe, wo wir es jetzt finden. Bei Ichthyosaurus iſt das Mittelbein (Intermedium) nicht gänzlich aus der epipo— Der Bedarf allgemeiner Bezeichnungen für die korreſpondirenden Segmente der vordern und hintern Gliedmaßen der luftatmenden Tiere iſt offenbar. Während wir die paſſenden Aus— drücke Phalangen und Metapodialknochen für die äußern Teile der Extremitäten beſitzen, ſind keine gebräuchlichen Namen für die obern Teile vor— handen. Daher werden die folgenden vorgeſchlagen: dialen Reihe ausgeſchloſſen, bei Plesiosau- | rus und allen andern Reptilen iſt der Prozeß im Weſentlichen vollendet. Bei einigen Am— phibien trennt dieſer Knochen noch die untern Enden der beiden ſpezialiſirten Knochen über ihm. Sauranodon markirt eine ältere und höchſt intereſſante Stufe in der Diffe— renziation und zeigt in Zuſammenhang mit den hier eitirten Beiſpielen genommen, klar an, wie der Übergang vollführt wurde. Die ſechs vollſtändigen Zehen in den Gliedern von Sauranodon ſtellen einen vorher bei keinem luftatmenden Wirbel— tier beobachteten Charakter dar. Einige Amphibien bewahren Überbleibſel eines ſechſten Fingers und Ichthyosaurus hat öfters an der Außenſeite der Phalangen eine oder mehrere Reihen von Randknöchel— chen, welche offenbar verlorne Zehen dar— ſtellen. Von dieſen Ausnahmen abgeſehen, wird die normale Zahl von fünf Zehen nicht überſchritten. Sauranodon discus Marsh. Eine Vergleichung der verſchiedenen jetzt bekannten Exemplare von Saurano- don zeigt zwei verſchiedene Spezies an, die, wie folgt, unterſchieden werden können: Die typiſche Spezies (Sauranodon natans) hat einen mehr verlängerten Geſichtsteil des Schädels und eine ſchlankere Schnauze. Die Wirbel ſind kurz und tief ausgehöhlt, ja ſogar beinahe durchbohrt. Der Kopf des Oberarmbeins iſt nur ſehr leicht konvex. Ein zweites Exemplar, welches in feinen ſpe— Vorderglied: | Hinterglied: Propodial⸗K.: Oberarm-K. Oberſchenkel-K. Epipodial⸗K. : Ellen- u. Spei⸗Schien- u. Wa⸗ chen⸗K. denbein. Meſopodial-K.: Handwurzel⸗K. Fußwurzel-K. Metapodial K.: Mittelhand-K. Mittelfuß-K. Phalangial-K.: Finger-K. Zehen-K. 3 4 2 N Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. zifiſchen Hauptcharakteren mit dem Typus | | | übereinſtimmt, hat ein faſt freisförmiges | Rabenbein mit nur leichter Ausrandung. In der hier beſchriebenen Spezies, welche auf den größeren Teilen eines Skeletts baſirt iſt, erſcheint das Raben— bein tiefer ausgerandet und der Kopf des Oberarmbeins iſt gerundet, beinahe eben ſo ſehr wie derjenige des Oberſchenkel— beins; die Schaufeln ſind im Verhältniß zu ihrer Größe auch breiter als in der typiſchen Art. Das hier beſchriebene Exemplar deutet ſei. auf ein ungefähr 12 Fuß langes Reptil. Es ſtammt aus den obern Juraſchichten von Wyoming, und wurde in der Reihe wiederholen. Eine Paarung dieſer Vögel war deshalb um eine Nuance beweis— kräftiger als die von Mr. Eyton ver— anſtaltete, welcher Bruder und Schweſter verſchiedener Bruten paarte. Da in einer mariner Ablagerungen gefunden, welche der Verfaſſer Sauranodon-Schichten genannt hat. Fruchtbarkeit von Daftarden zwiſchen der gemeinen und chineſiſchen Gans. In meinem Buche über den „Urſprung der Arten” *) habe ich, auf die ausge- zeichnete Autorität des Herrn Eyton hin, die Thatſache mitgeteilt, daß Ba— ſtarde zwiſchen der gemeinen und der chineſiſchen Gans (Anser cygnoides) vollkommen unter einander fruchtbar ſind, was unter den bis jetzt bekannten That— ſachen hinſichtlich der Fruchtbarkeit von Baſtarden die merkwürdigſte iſt, denn gegen Haſen und Kaninchen hegen viele Perſonen Zweifel. Ich war deshalb er- freut, durch die Güte des Rev. Dr. Goodacre, welcher mir Bruder und Schweſter von derſelben Brut abgab, die Gelegenheit zu erhalten, den Verſuch zu *) Fünfte deutſche Ausgabe, S. 324. benachbarten Landwirtſchaft zahme Gänſe vorhanden und meine Vögel zum Herum— laufen geneigt waren, wurden ſie in einen großen Käfig geſperrt. Aber nach eini— ger Zeit bemerkten wir, daß zur Be— fruchtung der Eier täglich der Beſuch eines Teiches (während dem ſie über— wacht wurden) unumgänglich notwendig Das Reſultat des erſten Eierſetzens war, daß drei Vögel ausgebrütet wur— den; zwei andere waren vollkommen aus— gebrütet, aber gelangten nicht dazu die Schale zu durchbrechen; die übrigen, zuerſt gelegten Eier waren unbefruchtet. Von einer zweiten Anzahl wurden zwei Eier ausgebrütet. Ich würde gedacht haben, daß dieſe geringe Zahl von blos fünf am Leben gebliebenen Vögeln einem gewiſſen Grade von Unfruchtbarkeit bei den Eltern zuzuſchreiben ſei, hätte nicht Herr Eyton acht Baſtarde von einer einzigen Bebrütung erzielt. Mein geringer Erfolg mag vielleicht zum Teil der Einſchließung der Eltern und ihrer ſehr engen Ver— wandtſchaft zuzuſchreiben ſein. Die fünf Baſtarde, Enkel der reinen Vorfahren, waren äußerſt ſchöne Vögel und glichen in jeder Einzelheit ihren hybriden Eltern. Es erſcheint überflüſſig, die Fruchtbarkeit dieſer Hybriden mit irgend welcher rei— nen Spezies feſtzuſtellen, da dies ſchon durch Dr. Goodacre geſchehen iſt, und nach Mr. Blyth und Kapitain Hutton jede nur mögliche Abſtufung zwiſchen ihnen häufig in Indien und gelegentlich in England geſehen werden kann. 7 Die Thatſache dieſer beiden, ſo leicht zu paarenden Gänſe iſt merkwürdig we— gen ihrer Verſchiedenheit, welche einige Ornithologen veranlaßt hat, ſie in ge— trennte Gattungen oder Untergattungen merklich von der gemeinen durch die An— ſchwellung an der Baſis des Schnabels, welche die Geſtalt des Schädels beein— flußt, durch den ſehr langen Hals mit einem daran herunterlaufenden Streifen dunkler Federn, in der Zahl der Kreuz— beinwirbel, in der Geſtalt des Bruſt— beins*), ferner auffallend in dem Trom— petenton der Stimme und nach Mr. Dixon“) in der Brutperiode obwohl dies von andern verneint worden iſt. Im wilden Zuſtande bewohnen die beiden Arten verſchiedene Gegenden.“ ) Mir ift bekannt, daß Dr. Goodaere zu glauben geneigt iſt, daß Anser cygnoides blos eine durch Züchtung erhaltene Varietät der gemeinen Gans ſei. Er zeigt, daß in all den oben erwähnten Kennzeichen parallele oder faſt parallele Variationen bei andern Tieren durch Domeſtikation entitanden ſeien. Aber es würde, glaube ich, ganz unmöglich ſein, ſo viele zu— ſammmen vorkommende und kon— ſtante Unterſchiede, wie in dieſem Falle, zwiſchen zwei domeſticirten Varietäten der— 0h) Charles worth's „Mag. of Nat. Hist.“ Vol. IV, new series, 1840, p. 90. — F. T. Eyton, „Remarks on the Skeletons of the Common and Chinese Goose.“ **) Ornamental and Domestic Poultry“, 1848, p. 85. ** Dr. L. v. Schrencks „Reiſen und Er- forſchungen im Amurland“, Bd. I, S. 457. zu bringen. Die chineſiſche Gans differirt 78 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ſelben Spezies zu finden. Wenn dieſe beiden Spezies als Varietäten klaſſifizirt werden, ſo muß es auch mit Pferd und Eſel, Haſe und Kaninchen geſchehen. Die Fruchtbarkeit der Baſtarde in dem gegenwärtigen Falle hängt wahr— ſcheinlich in einem begrenzten Grade von der reproduktiven Fähigkeit aller Anatidae ab, die durch veränderte Be— dingungen ſehr wenig beeinflußt wird und davon, daß beide Spezies ſeit ſehr langer Zeit domeſticirt find. Denn die von Pallas aufgeſtellte Anſicht, daß Domeſtikation dahin wirke, die faſt voll— ſtändige Unfruchtbarkeit gekreuzter Spe— zies wegzuſchaffen, wird um ſo wahr— ſcheinlicher, je mehr wir über die Ge— ſchichte und den vielfachen Urſprung der meiſten unſerer Haustiere lernen. Dieſe Anſicht, falls ſie bewahrheitet werden kann, entfernt eine Schwierigkeit für die Annahme der Descendenz-Theorie, denn ſie zeigt, daß gegenſeitige Unfruchtbarkeit kein ſicheres und unabänderliches Kenn— zeichen der Artverſchiedenheit iſt. Wir haben indeſſen viel beſſere Beweiſe für dieſen Hauptpunkt in der Thatſache zweier Individuen derſelben Form ungleichgriff— licher Pflanzen, welche ſo ſicher zu der— ſelben Art gehören, als zwei Individuen irgend einer Art, und welche gekreuzt, weniger Samen ergeben als die normale Zahl beträgt, während die von ſolchen Samen erhaltenen Pflanzen in dem Falle von Lythrum salicaria ebenſo unfrucht— bar ſind, als die unfruchtbarſten Ba— ſtarde. Charles Darwin. — — Hellwalds Werk über den vorgeſchichllichen Menfchen. A ohl als eines der beſten Werke, die uns unter den jüngſt erſchie— nenen einen Geſammtüberblick er— öffnen über die Forſchungen auf anthropo— logiſchem und prähiſtoriſchem Gebiete, muß das von Friedrich von Hellwald jetzt in der zweiten Auflage!) vor— liegende angeſehen werden. — Nicht nur die Reichhaltigkeit und Vollſtändigkeit des Gebotenen muß den Leſer einneh— men, ſondern die ganze Verarbeitung des Stoffes, welche von neuen, in der Wiſſenſchaft erſt jetzt zur Geltung ge— kommenen Geſichtspunkten unternommen wurde, bezeugt uns, daß hier eine wichtige literariſche Arbeit vor- liegt, die man nicht ohne großes wiſſen— ſchaftliches Intereſſe aus der Hand legen kann. Nach einer mehrere Kapitel um— ) Der vorgeſchichtliche Menſch. Ur— ſprung und Entwicklung des Menſchengeſchlechts. Für Gebildete aller Stände. Urſprünglich her— ausgegeben von Wilhelm Bär. Zweite völlig umgearbeitete Auflage von Friedrich v. Hell- wald. Leipzig bei O. Spamer, 1880. Literatur und Kritik. faſſenden allgemeinen Einleitung aus den Gebieten der Paläontologie, Geologie, Ethnologie und Völkerpſychologie, wen— det ſich der Verfaſſer zu dem Abſchnitt über „Die vorgeſchichtlichen Zeitalter“. In dieſem werden die Grundfragen be— handelt, welche die junge anthropologiſche Wiſſenſchaft bewegen, und die Entſchei— dung hierüber hat zugleich die Methode für die neue Darſtellung des Geſammt— materials an die Hand gegeben. Be— trachten wir uns dieſes Kapitel daher genauer. Zuerſt behandelt der Verfaſſer die Frage nach der Dauer der Urzeit, und hebt das Reſultat hervor: daß ſich die ganz enorme Reihe urgeſchichtlicher Fundſtücke, welche in das geſellſchaftliche Leben der Urzeit einen Einblick geſtat— ten, und womit ſein Buch eingehender ſich beſchäftigen will, auf weitaus ſpätere, der Gegenwart unendlich näher gerückte Epochen bezieht. So ſehr wir aber in neuerer Zeit in der Anthropologie allmählich zu dieſer Über— zeugung gekommen ſind, ſo wenig ſind wir im ſtande, eine genauere Chronologie über die rückwärts liegenden Zeiträume anzugeben. An einem treffenden Bei— ſpiele wird uns das erläutert: „Man 80 findet in einem Torfmoor in der Tiefe von 1,5m eine Medaille aus dem 13. Literatur und Kritik. Jahrhundert und in 9m Tiefe eine bron- zene Hacke. Da nun ein Torflager von 1,5m Mächtigkeit 600 Jahre gebraucht hat, um ſich zu bilden, ſo hat die Bil— dung einer Schicht von 9m offenbar 3000 Jahre in Anſpruch genommen. organiſche Ablagerungen und Schichten— bildungen ſich nur im Herbſt und nicht auch während des Sommers nach ſehr großen Regengüſſen und Durchſpülungen des Landes in großem Maßſtabe erzeugen könn— ten. — Die genaue Altersfrage, fo Dieſe Argumentation ſetzt voraus, daß die Torfbildung ganz regelmäßig ver— laufe; dies iſt aber unglücklicherweiſe nicht der Fall. Es würde nun in Frage kommen, ob man Ablagerungen anderer Art auffinden kann, in Bezug auf welche ſich die Schichtenbildung ſo verhielte, daß ſich an einer Maßeinheit als Vergleichs— punkt eine Altersberechnung vornehmen ließe. Hier verweiſt uns nun der Ver— faſſer auf die intereſſanten Entdeckungen des Ingenieurs Nene Kerviler bei Ge— legenheit des Flottenbaſſins in Penhoust. Das aufmerkſame Studium der Bai von Penhouét hat in der That gezeigt, daß die Schichten des durch die Loire abge— lagerten Alluviums genau gezählt wer— den können, ähnlich wie man die Jahres— ringe eines Baumes zu zählen und hier— nach das Alter deſſelben zu beſtimmen vermag. Bis zu einer Tiefe von 8m it die Bildung der Ablagerungen abſolut regelmäßig. Dabei kommt in Betracht, daß die oberſte Lage aus organiſchen Reſten gebildet wird, die ſich vorzugs— weiſe durch den Blätterfall im Herbſt anſetzt, während in den übrigen Jahres— zeiten nur Schichten von Sand und Thon eingeſchlemmt werden. Inwieweit Herr Kerviler in die— ſer Hinſicht recht hat, müſſen weitere Beobachtungen lehren; denn immerhin müßte genau feſtgeſtellt werden, daß ſcheint uns daher, wird in der Anthropo— logie immerhin mit Vermutungen ver— ſetzt bleiben, über welche wir in der Forſchung nicht völlig hinauskommen. Begnügen wir uns mit dem allgemeinen Reſultat, das nach dieſer Seite hin die größte Wahrſcheinlichkeit hat, und dieſes lehrt uns, wie Hellwald richtig ſagt: „daß die Urzeit, welche die bisherigen Funde der Forſchung erſchloſſen, ſich nur auf wenige Jahrtauſende erſtreckt.“ Es folgen nun eine Reihe von Er— örterungen über den Begriff der Ur— geſchichte. Wenn die Geſchichte jedesmal von da ab ſich erhellt, wo wir Belege und Zeugniſſe monumentaler und ſchrift— licher Art aufzuweiſen haben, ſo zeigt es ſich, daß der Eintritt der Völker in die— ſelbe ein vielfach verſchiedener war. Wäh— rend ſich z. B. die Römer zur Zeit der Gründung Roms im Stadium des Prä- hiſtoriſchen bewegen (denn wir beſitzen von dieſem Volke aus der ſog. Königs— zeit keine Denkmäler und Urkunden), ſtand Agypten ſchon lange unter der Sonne einer weit zurückreichenden Ge— ſchichte, und damit erhärtet ſich der Satz, daß die Grenzen des Hiſtoriſchen und Prähiſtoriſchen über den Umkreis der Völ— ker gezogen, keineswegs eine iſochrone Linie bildet, ſondern bei den verſchiedenen Völ— kern verſchieden liegt, bei den Agyptern in ziemlicher Höhe beginnend und bei den unkultivirten Stämmen ſelbſt jetzt is == — ä Literatur und Kritik. 81 unter den Nullpunkt ſinkend. Ob man überzeugend, daß man in der anthropo— weiterhin aber, wie Hellwald geneigt cheint, den Satz erhärten kann: „daß N 6 erh die ſich faſt ausſchließlich auf den Nor— den und Weſten Europas beziehen, über jene Zeitgrenze hinausführt, mit welcher die geſchichtliche Kenntnis der orien— taliſchen Völker des Altertums ihren Anfang nimmt, muß vorläufig dahin— geſtellt bleiben. Wir haben gar keine Anhaltepunkte für den Nachweis, wann die erſten und mongoloidenartigen Stämme das nach grönländiſch geartete Europa betreten haben; es iſt aber kein Grund abzuſehen, weshalb das nicht in jener frühen Zeit ſchon ſtattgefunden haben könnte, in welcher (vielleicht kurz nach Erfin— dung des Feuerzündens) an eine wirkliche Kultur ſelbſt bei den am höchſten entwickel— ten Stämmen noch nicht zu denken war. Der Verfaſſer wendet ſich nun zu der wichtigſten Frage: ob die bisherige Periodenteilung der Urgeſchichte in eine ſogenannte Stein-, Bronze- und Eiſen— periode ein Schema darſtellt, das man auf den Kulturfortſchritt aller Länder und Völker auszudehnen im Stande iſt. Ueber dieſe Frage hat ſich Hellwald bereits ausführlicher in einer Reihe von trefflichen Artikeln in dieſer Zeitſchrift geäußert.“) Die von Herrn Hoſtmann gebrachten Einwände hatten das alte herrſchende Syſtem, mit welchem man all— gemein das obige Schema der Perioden— teilung adoptirt hatte, bereits ſehr ſtark erſchüttert. Hellwald kommt dieſem Forſcher entgegen und was von ihm beigebracht wird, iſt in allen Stücken ſo 7 * „Europas vorgeſchichtliche Zeit“, Kos— mos, II. Bd. teilung als zu keine der urgeſchichtlichen Entdeckungen, logiſchen Wiſſenſchaft die alte Perioden— Grabe getragen be— trachten kann. Es fehlt uns der Raum, die einzelnen Gründe hier aufzuführen, die ſchließlich zu dem Satze hinführen: „daß zunächſt die verſchiedenen Unter— abteilungen, in welche die Archäologen die beiden großen Zeiträume der vor— metalliſchen und der Metallzeit zerlegen, lediglich und nur einen lokalen Wert beſitzen, und Niemand ſich darf verleiten laſſen, die Verhältniſſe einer Völkergruppe auf die anderen zu über— tragen.“ Wir ſtimmen Hellwald nicht nur bei in alledem, was er ausführt gegen die Trennung eines allgemeinen paläolithiſchen und neolithiſchen Zeit— alters, ſondern auch die Abteilung von Mammutzeit und Rentierzeit halten wir mit ihm für durchaus hinfällig. Sehr belehrend ſind insbeſondere die Ausfüh— rungen über die ſog. Rentierzeit und der Nachweis, daß das Rentier noch in hiſtoriſcher Zeit im Rheinlande vor— kam. Gerard ſagt uns über die Ver— tilgung der heute bei uns nicht mehr vorkommenden Tiere: „Das Rentier verſchwand unter der Regierung des Au— guſtus. Hierauf kamen das Elen, das Wiſent, der Auerochs, das wilde Pferd, die Gemſe, der Steinbock, der Luchs, der Bär, der Damhirſch und Edelhirſch an die Reihe.“ Im Anſchluß an alle die Beweis— gründe, die von Hoſtmann und Anderen beigebracht wurden gegen das Feſthalten der Unterabteilungen, Beweisgründe, denen Hellwald zuſtimmt, möchte Schreiber dieſes zugleich die vielleicht nicht ganz un— berechtigte Frage aufwerfen, ob man nicht Kosmos, IV. Jahrg. Heft 1. 11 82 auch die ſtrenge Scheidung der Vor— geſchichte in eine allgemeine vor— metalliſche Zeit und Metallzeit anfechten darf? Hierüber ſchreibt Hell— wald: „Über allen Zweifel erhaben iſt und bleibt es, daß die ſogenannte Stein— zeit, welche in die älteſte Menſchenperiode zurückleitet, der Bearbeitung der Metalle voranging, genau wie unſere Kinder bei ihren Spielen und Verrich— tungen des Steines als Hammer oder Werkzeuges ſich noch heute bedienen. Es würde gegen die geſunde Vernunft ver— ſtoßen, anzunehmen, der Menſch habe erſt, nachdem er einmal das Metall kennen gelernt, ſich dem Steine zugewendet; einer ſolchen Hypotheſe widerſprechen auch alle bisher bei Naturvölkern und ander— wärts gemachten Beobachtungen.“ In Bezug auf dieſe Grundfrage wird man ſich zugleich klar werden müſſen über den Begriff Metall. Hinſichtlich vieler Merk— male, unter ihnen auch das der Schwere, unterſcheiden ſich die Metalle genau ge— nommen nicht von den Steinen, zumal wenn wir darauf achten, daß die meiſten nicht in gediegenem Zuſtande, ſondern im Zuſtande chemiſcher Verbindungen (als Erze) vorkommen. Achtet man hierauf, ſo muß man zugeben, daß ſicherlich in der feuerloſen Steinzeit, wo man die Neſter der Feuerſteine in den Kalkgebirgen aus— zubeuten und zu finden verſtand, auch die ſchimmernden Metalle, und zwar dieſe nur als glänzende, ſchwere Steine bekannt ge— weſen ſein müſſen. Nun kennen wir in der That einige Völker, wie Indianer und Polarvölker, welche gediegenes Kupfer oder aber das ſogenannte Meteoreiſen in ähnlicher Weiſe zu Werkzeugen verarbeite— ten, wie das mit den Steinen geſchah. Literatur und Kritik. Lebten nun dieſe Völker, als ſie dieſer rohen Technik mit den Metallen oblagen, im Stein- oder im Metallzeitalter? Schrei— ber dieſes antwortet hierauf kategoriſch: Im Steinzeitalter. Denn wie man auch über den Begriff Metall denken mag, derſelbe wird erſt dann zu Recht beſtehen, wenn man an ihm als weſentlichſtes Merkmal ſeine Schmelzbarkeit ſetzt. Die Vorbedingung für die Schmelzbar— keit und die ſich daran anſchließende Me— talltechnik war daher die Kenntnis des Feuers, d. h. die Verbindung von Feuer und Metall. Es iſt nun recht gut denkbar, daß im ſüdweſtlichen Aſien und im angrenzenden Afrika Völker neben einander lebten, welche die Metalle zu Schmuckſtücken (Amuletten) und Zier— raten roh verarbeiteten, ähnlich wie Bern— ſtein und Elfenbein, ohne die Schmelz— barkeit derſelben zu kennen, während andre, nach dieſe Seite hin erfinderiſcher angelegte Völker, wie z. B. die Turaner, ſchon zur ſelben Zeit mit der Schmelz— barkeit, Guß- und Schmiedekunſt derſelben bekannt waren.) Unter ſolcher Anſchau— ung ſehen wir dann die Steinzeit (Stein— Metallzeit) und Metallzeit mindeſtens ebenfalls ſo unmerklich ineinander über— gehen, daß auch hier in Bezug auf dieſe Grundperioden der Satz ausgeſprochen werden muß: Stein- und Metallzeit find Zeiträume von lediglich lo— kalem Wert, auch dieſe ſind durch die relativen Übergänge mit einander ver— 7 ) Wie man ſich von geiftiger und völker— pſychologiſcher Seite aus den Übergang zur Ent— deckung der Schmelzbarkeit der glänzenden Me— tallſteine zu denken hat, darüber hat ſich Schreiber dieſes in ſeiner Urgeſchichte genauer ausgeſprochen. Vergl. „Urgeſchichte der Menſchen“, 2. Aufl., Bd. II, p. 206 ff. (Leipzig bei Brockhaus). Literatur und Kritik, 83 bunden, fließen in einander vielfach über | und ſpielen und laufen bei verſchiedenen Völkern neben einander her. Auch hier darf man ſich alſo nicht verleiten laſſen, die Verhältniſſe einer Völkergruppe auf die andere zu übertragen; denn während z. B. einige eine ganz allmähliche, lang— währende Übergangsperiode von Stein— und Metallzeit durchmachten, ſodaß beide Zeitalter ſich kaum noch trennen laſſen, iſt das Entgegengeſetzte oft bei Nach— barvölkern der Fall geweſen, welche ſich ohne vermittelnde Übergänge die Erfin— dung des anderen aneigneten und nach— ahmten. Wenn es ſich aber, wie wir hiernach ſehen, inißlich verhält in Bezug auf die ſcharfe Unterſcheidung der Grund— perioden, Steinzeit und Metallzeit, ſo iſt das ſelbſtverſtändlich in noch viel höherem Maße der Fall bezüglich der Unterabtei— lungen von Bronze- und Eiſenzeit. Daß dieſe Einſchnitte nur noch von ſehr rela— tiver und ganz lokaler Bedeutung ſind, wird jetzt zweifelsohne von allen Anthro— pologen zugegeben werden müſſen. Da nun, wie wir aus Obigem erſehen, alle dieſe bisher angenommenen Grenzen ſich verwiſchen und hinfällig werden, mußte ſich Hellwald entſchließen, die ganze Periodenteilung hinſichtlich der Dar— ſtellung der Vorgeſchichte fallen zu laſſen, und es waren neue Wege einzuſchlagen. Die hiermit geſtellte neue Aufgabe hat der Verfaſſer befriedigend gelöſt. Um alles Wiſſenswerte in einen Rahmen zu faſſen hat er ſich zunächſt an die geographiſchen Verhältniſſe der Völker gehalten, und iſt alsdann in Bezug auf die eentral— europäiſchen Forſchungen in der Beſchrei— bung zugleich zu den archäologiſchen Unterſchiedsmerkmalen, ſo wie ſie ſich in Sammlungen und an den Fundorten bie— ten, übergegangen. So werden im Hin— blick auf die am meiſten durchforſchten Gegenden, die Höhlen Weſteuropas, die Höhlen und Stationen Mitteleuropas, und dann die Menſchenreſte aus den Höhlen und Stationen in einem beſon— dern Kapitel behandelt. Hierauf folgt ein Abſchnitt, der alles Gefundene zu einem Bilde über die Urkultur der erſten Euro— päer zuſammenfaßt. Dann folgt die Dar— ſtellung der Muſchelhügel, der nordiſchen Steinartefakte und die Steingräber, end— lich die Pfahlwerke und die germanifchen Altertümer. Nach unſerm Dafürhalten ſind die Betrachtungen über Pfahlwerke etwas zu gekürzt ausgefallen, namentlich iſt die Frage nach dem Zweck und der Bedeutung der Pfahlbauten nur in we— nigen Worten behandelt, obwohl hier— über noch manches zu ſagen bleibt; auch iſt es auffällig, daß der ethnologiſche Teil dieſes Kapitels, über welchen in der erſten Auflage viele Einzelheiten berich— tet wurden, beinahe ganz fortgeblieben iſt. Die Pfahlbauten werden, ebenſo wie die anderen Erſcheinungen der prähiſto— riſchen Welt, nur hinreichend verſtänd— lich, wenn man ſie in Analogie ſetzt mit dem, was wir hierüber noch heute bei wil— den, zurückgebliebenen Völkern aufweiſen können. Die hierhergehörigen Hinweiſun— gen auf ethnologiſche Analogieen vermiſſen wir daher bei dieſem wichtigen Abſchnitte nur ungern. Allein abgeſehen von derlei kleineren Unebenheiten, macht das Werk, wie ſchon im Eingange bemerkt, einen ſo ſehr befriedigenden Eindruck, daß wir dem Verfaſſer ſowohl wie dem Verleger, der wiederum alles angewandt hat, um durch graphiſche Darſtellung der Vor— — — — ſtellung und Phantaſie zu Hülfe zu Toms | men, in jeder Hinſicht nur Dank wiſſen können. Jeder, der ſich an dem heutigen Stande der prähiſtoriſchen Wiſſenſchaft, ſowie über Anthropologie, Archäologie und Kulturgeſchichte unterrichten will, empfehlen wir daher das Hellwaldſche Werk auf das Angelegentlichſte. — Heidelberg. O. Caspari. Materialien zur Vorgeſchichte des Menſchen im öſtlichen Europa. Nach polniſchen undruſſiſchen Quellen be- arbeitet und herausgegeben von Albin Kohn und Dr. C. Mehlis. Zweiter Band. Mit 32 Holzſchnitten, 6 lith. Tafeln und einer archäologiſchen Fund— karte. Jena bei H. Coſtenoble, 1879. Der zweite Teil dieſes ſchon nach dem Erſcheinen des erſten Bandes im Kosmos! beſprochenen Werkes liegt uns vollendet vor und ſchließt ſich hinſichtlich des Reich— tums der Fundzuſammenſtellungen dem erſten Bande ebenbürtig an. Dem Werke iſt zugleich eine Karte beigegeben, die von hohem Werte iſt. Wir überſehen auf ihr das ganze Gebiet mit ſeinen Fund— ſtätten, das von Forſchern begangen und ausgebeutet wurde. Den nördlichiten Punkt bildet Petersburg, in deſſen Um— gebung Kurgane mit Gräbern bezeichnet ſind, nach Oſten hin ſtellen die Städte Jaroslaw, Pereslaw und Moskau die Grenze dar, und ſelbſt aus dem Süden werden uns noch hervorragende Grab— kurgane vorgeführt, die in der Nähe von Kertſch und auf der Tamaniſchen Halb— inſel aufgefunden wurden. Das Studium der Karte zeigt uns freilich auch, wie viel nach Oſten hin der Spezialforſchung ) Bd. V, S. 157. 84 Literatur und Kunſt. | | zu thun noch übrig bleibt. Weite Flächen ſind noch zu durchforſchen; aber dennoch müſſen wir der ruſſiſchen Regierung ſo— wol wie den ſelbſtändigen ſlaviſchen An— thropologen und Forſchern ſehr dankbar ſein für die große Mühe, die ſie in dem ſpärlich bevölkerten, weiten Lande that— ſächlich aufgewandt haben, um die oft mäch— tigen Erdhügel der Kurgane offen zu legen und den Fund zu gewinnen. Die 5 Kurgane, welche uns hier im erſten Kapitel 1 des zweiten Bandes beſchrieben werden, ſind die in der Nähe des ſchwarzen Meeres auf der Tamaniſchen Halbinſel gelegenen. Daß die Kurgane in Polen, Galizien, Lithauen, Ruthenien und Groß-Rußland ſich von denen der Umgegend von Kertſch und Tamanien vielfach hinſichtlich der Funde und anderer Charakteriſtika unter— ſcheiden, durfte man vorausſetzen, die e Eigenartigkeit ihrer Lage rechtfertigt da— her vollkommen ihre geſonderte Behand— lung und Darſtellung. Wie zu vermuten, treffen wir an dieſen Orten die Spuren, welche auf die Verbindung der altklaſſiſchen Kultur zurückweiſen. Ob aber die geſam— melten Funde ausreichen, weitere Schlüſſe in ethnologiſcher Hinſicht, d. h. bezüglich der hier vor ſich gegangenen Völkerentwicklung zu ziehen, müſſen wir bezweifeln. Gerade dieſe Gegenden ſind, wie richtig erwähnt wird, vielfach der Tummelplatz zahlreicher Wandervölker geweſen. Die Küſtenſtrecken des ſchwarzen Meeres ſind, wie die Fluß— thäler der Wolga, der Donau und des Rheins, als große Verkehrswege und Heerwege zu betrachten, wo vieles Ein— zelne ſich aus den verſchiedenſten Zeiten abgelagert hat. Die hier angetroffenen Kurgane ſind daher in dieſen Gegenden l zwar um ſo intereſſanter, aber in der | Literatur und Kritik. 85 Beurteilung und bezüglich der zu ziehen- den Schlüſſe mahnen uns dieſe Funde zu großer Vorſicht. Die Herren Autoren haben denn auch nur unter größerer Re— ſerve einige Andeutungen in dieſer Hin— ſicht zu machen verſucht, denen wir großen— teils beiſtimmen. In den Kurganen Lithauens werden nur Menſchenreſte, keine Tierreſte angetroffen, hier in dieſen Gegenden finden ſich neben dem Menſchen auch die Reſte von beſtatteten Pferden. Wer die Bedeutung des Pferdes für die dort heute noch lebenden Völkerſchaften in Erwägung zieht, wird hierin nichts Befremdliches finden. Daß dieſe Sitte der Beigabe von Pferden in Begräbnis— ſtätten auf eine Verſchiedenheit hindeutet zwiſchen den Bevölkerungen von Lithauen und Tamanien, erſcheint ſelbſtverſtändlich, weitere Schlüſſe aber auf eine eigenartige Raſſe u. ſ. w. werden ſich daraus nicht ableiten laſſen. Daß die in dieſen Gegen— den befindlichen Grabſtätten ſehr oft be— raubt gefunden werden, nimmt inſofern Wunder, als unter allen Völkern, ins— beſondere unter denen, welche mit der alten Kulturwelt in Verbindung ſtanden, die Heiligkeit und Unantaſtbarkeit der Gräber hochgehalten und Frevel in dieſer Hinſicht ſchonungslos beſtraft wurde. Wenn dennoch hier Beraubungen ſehr häu— fig ſind, ſo darf man annehmen, daß Plünderung und Raub durch den Wechſel der Bevölkerungen, welche Sitten und Gewohnheiten der Vorfahren nicht mehr achteten, nicht geſcheut wurden. Oft ſind die Plünderungen der Kurgane wol eben— ſo mühſelig und umſtändlich geweſen, wie die Nachgrabungen, welche wir noch heute nur mit großen Koſten zu bewerkſtelligen im Stande ſind. Wenn man daher alles das nicht geſcheut hat, muß man vor— ausſetzen, daß das Räuberweſen, ohne von der Obrigkeit überwacht zu werden, hier ungeſtört ſein Handwerk treiben konnte. Der hohe Wert der Funde mochte zu dieſem Unweſen ganz beſonders anreizen, iſt doch in einer der hier geöffneten Grabſtätten ein Fußring aus maſſivem Golde, im Gewichte von ¼ Pfund, aufgefunden worden, der ſich jetzt im Kaiſerlichen Kabinette aufbewahrt findet. Daß die hier liegenden Gräber ſchon in der klaſſi— ſchen Zeit beraubt wurden, wie uns die Herren Autoren andeuten, läßt ſich aus oben entwickelten Gründen kaum annehmen. Im hohen Grade beachtenswert ſind die Spuren, welche auf die Beziehungen zur griechiſchen Plaſtik hindeuten. So wurden bei Sjenna zwei Grabſteine auf— gefunden, deren eines mit der Figur eines ſeythiſchen Reiters, der andere mit dem Kopfe eines Mannes verziert war. Die unteren Teile dieſer Grabſteine ſind nicht gefunden worden, ebenſo iſt auch das Grab, zu welchem ſie gehört haben, nicht entdeckt worden. Wenn uns weiter aber hinzugefügt wird, daß es wahrſcheinlich iſt, daß das Grab, zu wel— chem ſie gehört haben, zerſtört und be— raubt und die Steine umhergeworfen wurden, ſo läßt ſich die Triftigkeit dieſer Bemerkung nicht ermeſſen. Solche Zu— ſätze ſind in einem Sammelwerk oft be— denklich, fie präbccupiren das Urteil, das endgiltig doch nur gefällt werden kann durch eine genaue Unterſuchung des That— beſtandes und der Umgebung; denn nicht überall, wo Bildwerke angetroffen werden, hat man an ihren direkten Zuſammenhang mit Grabſtätten zu denken. Oft genug ſind Bildwerke, die anderen Zwecken 15 dienten, um ſie vor Feinden und Räubern zu ſchützen, in Grabkammern gerettet und hier nur aufbewahrt worden. Der nun folgende Abſchnitt iſt den ſog. Burg- oder Ringwällen gewidmet. Daß in dieſen Stätten nicht immer nur Feſtungen oder Verteidigungswerke, ſondern zugleich auch altheidniſche Verſammlungsorte und Opferſtätten geſucht werden müſſen, darf man im Allgemeinen wol mit Recht be— haupten. Ob man aber Grund hat, die Ring— wälle genauer einzuteilen in Schlöſſer, Opferſtätten und Gerichtsſtätten, muß je— denfalls (hier geben wir Dr. Szule Recht) bezweifelt werden, noch weniger aber hat man ein Recht, mit ſeinen Hypotheſen noch weiter auszuholen, um hier die Pal— ladien für Heiligtümer, Schutzgötter und Kriegszeichen zu ſuchen, nach Art der altgriechiſchen Akropolen. Die Frage über die Bedeutung und den Zweck der Ring— wälle iſt noch keineswegs zum Abſchluß gekommen, ſie befindet ſich noch in dem— ſelben Stadium, wie vor vielen Jah— ren — die Frage über den Zweck der Pfahlbauten. Mit dieſer Frage ſteht ſie ſogar in einem gewiſſen Zuſammenhange. Daß ſehr viele Pfahlbauten-Anſiede— lungen Verteidigungszwecken dienten, wird heute allgemein angenommen. Daß die Sitte, zu ſolchem Zweck das Waſſer zu benutzen, ſich ſpäterhin ablöſte mit jener anderen, ſich hinter Steinwällen zu ſchützen und weiterhin Schlöſſer und Burgen zu bauen, iſt leicht begreiflich. Je mehr man mit Hülfe von Schiffs— werkzeugen den Thalbau belagern lernte, um ihn alsdann durch Brand zu zerſtören, deſto mehr mußte das Pfahlbauweſen in ſich hinfällig werden. Viele der ſog. Burg— und Ringwälle ſcheinen in der That den Literatur und Kritik. Übergang von der Waſſerveſte (Pfahlbau) zur Steinveſte (Burg), die wir bis tief in die hiſtoriſche Zeit hinein antreffen, darzuſtellen, doch darf man freilich nicht behaupten, daß alle Funde dieſer Art dem ganz gleichen Zweck gedient haben. Daß das Volk, welches den eigentlichen Zweck dieſer Baudenkmale heute nicht mehr kennt, dennoch eine Sage hierüber aus— gebildet hat, iſt erklärlich, intereſſant nun iſt es, daß vielen der Ringwälle jener Gegend der Name „Schwedenſchanze“ erteilt wird. Der Verfaſſer ſagt in Be— zug darauf mit Recht: „Das Gedächtnis des Volkes reicht eben gewöhnlich blos bis zur letzten großen Kataſtrophe zurück; hier die Invaſion der Schweden. Bei Dürkheim liegende prähiſtoriſche Wohn— ſtätten werden von den Landleuten als ein „franzöſiſches Barackenlager“ bezeich- net. Es iſt ſonſt nicht bekannt, daß an dieſem Punkte franzöſiſche Truppen ſich aufhielten; allein die Phantaſie des Volkes ſubſummirt alle möglichen Denkmäler den Erinnerungen der Jüngſtvergangenheit. Es iſt dies eine rückläufige Sagenbildung. Dieſer Ausdruck „rückläufige Sagenbil— dung“ nimmt ſich ſonderbar aus und iſt mythologiſch ſchwerlich ſtatthaft. Der Fort— gang und die Entwicklung jedes Mythus kennt eben eine ganze beſtimmte Phaſe, innerhalb der mit der Wurzel fälſchliche Hiſtoriſirungen vorgenommen werden. Wir haben alſo in dieſen Wendungen keine eigentümliche Sagenbildung, ſon— dern einen ganz beſtimmten Prozeß al— ler Sagenbildung überhaupt vor uns.“) Das dritte Kapitel iſt nun der anthro— pologiſchen Schädellehre gewidmet. Die N) S. Caspari, „Die Urgeſchichte der Menſchheit“, 2. Aufl., Bd. II, S. 243 ff. Literatur und Kritik. Herren Autoren haben ſich augenſchein— lich bemüht, hier ſo exakt wie möglich zu verfahren. Alle Zahlenbeſtimmungen und Meſſungen finden ſich im Hinblick auf hervorragende Craniologen in beſon— deren Vergleichstabellen überſichtlich zu— ſammengeſtellt. Wenn das gewonnene Reſultat dem Aufwand von Mühe hier nicht entſpricht, ſo liegt das, wie heute wohl mehr und mehr erkannt wird, an der Unfertigkeit der craniologiſchen Wiſ— ſenſchaft. Die Craniologie überhaupt iſt weit davon entfernt, mehr als bloße, vage Anhaltepunkte zu liefern. Die Reihe der Momente, die von den verſchieden— ſten Seiten zuſammenkommen müſſen, um ethnologiſch ſichere Beſtimmungen zu lie— fern, iſt zu groß, als daß man der Cra— niologie und ihren zum Teil unſicheren Ergebniſſen allein folgen könnte. Als viertes und letztes Kapitel finden ſich eine Reihe von archäologiſchen Ein— zelobjekten behandelt, die ſich dem Syſtem, das von den Autoren zur Darſtellung gewählt wurde, nicht völlig einfügen ließen. — Der Raum verbietet uns, die— ſelben hier einzeln zu betrachten, und ſo beſchränken wir uns darauf, dieſelben hier nur zu erwähnen. Es ſind Blei— plättchen, welche im Bug gefunden wur— den, auf denen ſich Geſichte und Zeichen befinden, die heute noch ihrer Deutung harren, ferner eine eiſerne Lanzenſpitze und Steine mit Runenſchrift; ſteinerne Frauen, welche in Rußland und Galizien gefunden worden ſind; zufällige Funde in Kaliſch und Umgegend, Funde am Gogloſee; der Michalkower Schatz, Funde bei Slaboszewo 2c., endlich vorhiſtoriſche Gräber bei Czekonow und Niwiadoma in Polen. — Hieran ſchließt ſich noch ein 87 Anhang über Einzelfunde, welche ſich in der „Zeitſchrift für Ethnologie“ nieder— gelegt finden; ein dem Werke beigegebe— nes Sachregiſter vervollſtändigt das Ganze. Blicken wir zurück auf die Summe der hier aufgebotenen Arbeit, ſo müſſen wir den Herren Verfaſſern unſere Anerken— nung zollen für den großen Fleiß, mit dem ſie ſachlich unparteiiſch alles ſam— melten, was für die hier behandelten Terrains von anthropologiſchem und ethno— logiſchem Intereſſe war. Es fehlt frei— lich noch viel, bevor wir uns ein mög— lichſt richtiges Bild über die Ein- und Auswanderungen und die wichtigſten Sitten und Gewohnheiten der Völker— ſtämme eben jener Gegenden machen können, aber zugeſtanden muß werden, daß durch den uns gelieferten Einblick der ſehr dunkle Schleier ſich inſofern ein wenig gelüftet hat, als uns bezüglich einer Reihe von Anhaltepunkten doch die Grund— linien erkennbar werden, auf denen ſich das prähiſtoriſche Leben des europäiſchen Oſtens entwickelte. Für dieſen uns ge— lieferten erſten Geſammteinblick und flüch— tigen Ueberblick müſſen wir den Herren Verfaſſern in jeder Weiſe dankbar fein. Heidelberg. O. Caspari. Allgemeine Zoologie oder Grund— geſetze des tieriſchen Baues und Lebens. Von H. Alexander Pa— genſtecher. Erſter bis dritter Teil. Mit 433 Textabbildungen. Berlin, Wiegandt, Hempel und Parey. Für unſre Zeit, in welcher die Zoologie gleich allen andern Naturwiſſenſchaften ſo ins Breite gegangen iſt, daß nicht nur der Laie, ſondern auch der auf einem Spe- N 88 zialfelde beſchäftigte Forſcher fürchten muß, | den Überblick zu verlieren, muß ein Werk, wie das in den vorliegenden Bänden be— gonnene als geradezu unſchätzbar bezeich— net werden, und zwar für Lehrer ſowohl als für Lernende. Gewiß war es nicht leicht, in unſerer Zeit der Gährung und Parteiſpaltung auf biologiſchem Gebiete eine ſolche Arbeit in Angriff zu nehmen; daß ſich der Verfaſſer durch dieſe, die innern vermehrenden äußern Schwierig— keiten nicht hat zurückſchrecken laſſen, müſſen wir um ſo dankbarer anerkennen. Auch hat er nach unſerem Bedünken, wenn auch nicht mit völliger Parteiloſig— keit, ſo doch mit einem ſeltenen Grade derſelben, die widerſtreitenden Anſichten und Meinungen verglichen, und jeder, ſo gut es ihm möglich war, ihr Recht widerfahren laſſen. In der Darſtellung iſt dem Hiſtoriſchen ein bedeutender Raum gewidmet, und dies erſcheint uns an einem ſolchen Werke ein bedeutender, fernerer Vorzug: man erfährt nicht nur das That— ſächliche, ſondern auch wie es im Ringen der Geiſter erkannt und bewährt wor den iſt. Der erſte, ſchon 1875 erſchienene Band beginnt mit einleitenden Betrachtungen über die Grundſätze und Geſchichte der Literatur und Kritik. » Naturerkenntnis, geht ſodann zur Be⸗ trachtung der allgemeinen Eigenſchaften tieriſcher Körper (einfache Beſtandteile, Form und Aufbau der tieriſchen Körper, Individualität und Pleomorphie) über, und ſchließt mit einer Darſtellung der Klaſſifikation und Lehre von der Art, immer von hiſtoriſchen Geſichtspunkten ausgehend und die nebeneinander her— gehenden Meinungen berückſichtigend. Der zweite 1877 erſchienene Band zeigt, wie dem Verfaſſer mit der Fortführung des Werkes die Luſt an demſelben gewachſen iſt, denn er behandelt auf 528 Seiten lediglich die Nahrungsaufnahme und Ver— dauung in vergleichender Darſtellung, und zwar ſind dieſe Gegenſtände ſo durchſich— tig behandelt, daß ſelbſt der Laie dem Verfaſſer bequem folgen kann, wie dies in ähnlichen Werken nur ſelten der Fall zu ſein pflegt. Dasſelbe gilt von dem dritten 1878 erſchienenen Teil, der auf 419 Seiten die Atmung und Stimm— bildung behandelt. Wir können dem wohl— geplanten, vorzüglich ausgeführten und ausgeſtatteten Werke nur unſre volle An— erkennung zollen und wünſchen, daß es dem Verfaſſer bald vergönnt ſein möge, dieſes Denkmal deutſchen Fleißes durch den Schlußband zu krönen. K. Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig. Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. Von Moritz Wagner. Bu zeorg Seidlitz hat gegen ö X die Theorie der Artbildung durch Abſonderung, für de- ren Richtigkeit die vorherr— ſchend kettenförmige Vertei— lung der nächſtverwandten Speziesformen auf Kontinenten und Inſeln allein ſchon einen unwiderlegbaren Beweis liefert, die vielbekannte Erſcheinung der Mimiery ins Treffen geführt. Die Migrations- theorie, meint Seidlitz, vermöge die Nachahmung oder „Ausrüſtung“, wie er die Erſcheinung nicht eben glück— lich benennt, das „ganze Heer ſchützen— der Ahnlichkeiten“, welche zwiſchen ſo vielen Tieren und den Pflanzen, auf denen ſie leben, unzweifelhaft beſteht, nicht zu erklären, während die Darwinſche Selek— tionstheorie nach der Meinung des Herrn Seidlitz für dieſe Erſcheinung eine ganz befriedigende Erklärung darbieten ſoll. In Wirklichkeit verhält ſich aber die Sache gerade umgekehrt. Prüft man alle Die Alimicry. | Umftände, unter welchen die zahlloſen Fälle von „Mimiery“ vorkommen, ge— nau und unbefangen, ſo erkennt man vielmehr die ungeheure Unwahr— ſcheinlichkeit ihrer Entſtehung durch eine Ausleſe im Kampfe ums Daſein, wäh— rend zahlreiche Thatſachen für ihre Ent— ſtehung durch einfachen Standortswechſel der Tiere ein beredtes Zeugnis liefern. Selbſt unter den Forſchern, welche feſt an die Richtigkeit der Descendenz— theorie glauben und den Werken Dar— wins den vollen Tribut ihrer Bewun— derung zollen, haben einige gegen die Erklärung der Mimiery durch bloße Zucht— wahl ſtarke Bedenken ausgeſprochen. Schon die Entſtehung der erſten ihrer Futter pflanze täuſchend ähnlichen Tiervarietät würde, wie Lange richtig bemerkt, nach der Selektionstheorie ſchwierig zu erklä- ren ſein und noch viel ſchwieriger die häufige Wiederholung ähnlicher Fälle. Der erfahrene britiſche Entomologe Ben- Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 12 90 net hat in einem zu Liverpool gehalte— nen geiſtvollen Vortrage, worin er all ſeine Bedenken gegen die Darwinſche Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. Zuchtwahllehre zuſammenfaßte, ſehr gut nachgewieſen: daß die übereinſtimmende Ahnlichkeit vieler Inſekten mit den Zwei— gen oder Blättern der Pflanzen, von denen ſie ſich nähren, mit der Farbe und Form der Baumrinde oder der ab— gefallenen dürren Blätter des Waldes, auf denen ſie kriechen oder ruhend ſitzen, mit der Färbung und Zeichnung der Blumen, auf denen ſie ſich vorzugsweiſe niederlaſſen, und ſelbſt mit den anorga— niſchen Beſtandteilen des Bodens, auf dem ſie ſich aufhalten, oft durch eine ganze Reihe täuſchender Züge ſtattfindet, welche den Beobachter in das größte Erſtaunen ſetzen. Bis durch bloßen Zufall der ſpontan entſtehenden Variation, die ja der Natur der Sache nach auch in jeder andern, alſo auch nicht paſſenden Richtung er— folgen könnte und durch die mit ihr operirende Zuchtwahl Formenanpaſſungen, Farbennuancen, Zeichnungsſtriche u. ſ. w. ſich ſo übereinſtimmend zuſammenfinden, wie man ſie in der Natur zwiſchen den Inſekten und den Pflanzen ihres Stand- ortes ſo oft findet, müßte, wie Bennet mit Recht bemerkt und wie auch Lange mit Nachdruck hervorhebt: „eine ſolche Kulmination von günſtigen Zufällen er— forderlich ſein, daß die Wahrſcheinlich— keitszahlen dafür geradezu ins ungeheure führen würden.“ Die unter vielen Schmetterlingen, Käfern und vorzüglich ihren Larven vor— kommenden täuſchenden Ahnlichkeiten be— ſonders hinſichtlich der Farbe und oft auch der Form mit den Stämmen, Zwei— fallendes, rätſelhaftes Phänomen die En- die Diskuſſion der Darwinſchen Theorien Mimiery (Nachäfferei) viele neue Bei— träge erbrachte und ehe dieſelbe mit an— gen, Blättern oder Blüten der Pflanzen, auf denen ſie leben, und ſelbſt mit den Erdklümpchen, dem Sand oder Geſteine des Bodens, auf dem ſie mit Vorliebe ruhend ſitzen, ja ſelbſt mit den Exkre— menten anderer Tiere, hatten als ein auf— tomologen ſchon lange beſchäftigt, bevor zu dieſer Erſcheinung mit der Benennung dern Erſcheinungen bei der Frage nach den Urſachen der Entſtehung der Arten wiſſenſchaftlich verwertet wurde. Der Verfaſſer dieſes Aufſatzes er⸗ innert ſich aus feinen Jugendjahren noch lebhaft der Geſpräche, die er darüber mit Dr. Karl Küſter in Erlangen und mit andern entomologiſchen Freunden in München und Augsburg führte. Uns fehlte damals freilich der hellſtrahlende Leuchtturm, welchen erſt viel ſpäter das Darwinſche Buch: „Über den Urſprung der Arten“ aufgerichtet hat, indem es die beiden Grundurſachen jeder Form— bildung: die individuelle Variabilität und die Vererbungsfähigkeit angeborner und erworbener perſönlicher Merkmale uns licht und klar vor die Augen brachte. Doch über die eigentliche Urſache des ſeltſamen Ahnelns fo vieler Inſekten mit den Pflanzen, auf denen ſie leben, hatte ich ſchon damals nahezu dieſelbe Ver— mutung, die ſpäter zur feſten Überzeugung wurde, nachdem den entomologiſchen Be— obachtungen der Heimat ein vieljähriges Sammlerleben in außereuropäiſchen Län— dern gefolgt war. Die Erſcheinung der Mimiery halte ich für die einfache Folge des allen Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. Tieren angebornen Schutztriebes, der ſie in dem Suchen und der Wahl eines paſſenden Standorts oder ſichern Ver— ſtecks mit richtigem Inſtinkt leitet. Auch die niederen Tiere haben ein Bewußt— ſein oder doch eine dunkle Ahnung der ihre Exiſtenz bedrohenden Gefahren; ſie ſuchen ihnen auszuweichen und ſind ſtets auf ihrer Hut. Viele Käfer laſſen ſich vom Zweige fallen und ſtellen ſich tot, wenn eine Menſchenhand oder ein Vogel ihnen naht. Der Schmetterling, der noch kurz zuvor als Puppe unbeweglich ruhte, weiß die Flügel ſogleich zur Flucht zu benützen und nach einem Standort zu fliehen, der ihm Sicherheit zu bieten ſcheint. Kein Inſekt macht klügere Ma— növer, um dem Auge und der verfol— genden Hand ihres Hauptfeindes, des Menſchen, zu entgehen, als die Bett— wanze, deren Schlauheit geradezu Er— ſtaunen erregt. Während ſie bei ange— zündetem Licht auf das hurtigſte davon— läuft und ſich verſteckt, bleibt ſie bei anbrechender Morgendämmerung weder im Bettkiſſen noch in der Leibwäſche des Schläfers, ſondern ſucht die Riſſe, Löcher und Lücken des hölzernen Bettgeſtelles, der Wandtapeten oder Bilderrahmen auf, zu denen ihre Farbe oder Form paßt, und wo ſie nicht leicht bemerkt wird. Die Larven zahlreicher Inſekten machen es ähnlich, um ſich durch ein paſſendes Verſteck gegen die Verfolgungen der Vö— gel, der Ichneumoniden oder anderer Feinde zu ſchützen, und es kommen da— bei oft die merkwürdigſten Fälle von Mimiery zu ſtande. Jeder Lepidopterologe kennt die Raupe einer unſerer gemeinſten Bandphalänen, Catocala nupta, und weiß, wie ſchwer 91 es ſeinem ſuchenden Auge geworden und wie vieljährige Übung dazu gehörte, die Raupe dieſes Nachtfalters, welche am Tage gewöhnlich zwiſchen den Riſſen und Run— zeln der Rinde alter Weidenſtämme ſitzt, von dieſen zu unterſcheiden. Die Raupe imitirt nämlich in Form und Farbe ihres ganzen Baues, in allen Einzelnheiten ihrer Glieder die Rinde alter Baumſtämme ſo vollkommen, daß die weniger geübten Augen unſerer Begleiter, auch wenn wir nahezu auf die Stelle hindeuteten, wo die Raupe ſaß, dieſe doch oft nicht zu bemerken vermochten. Dieſer ausgezeich— nete Fall von Miniery findet hier aber nur am Tage ſtatt, wo die Raupe der Catocala nupta durch die inſektenfreſſen⸗ den Vögel größeren Gefahren ausgeſetzt iſt, als bei Nacht. Mit einbrechender Dunkelheit tritt dieſelbe regelmäßig ihre Wanderung aufwärts an und beſucht die Zweige und Blätter des alten Weiden— baumes zu ihrem Fraße, um dann ge— gen Anbruch des Morgens regelmäßig wieder herabzuſteigen, und in einer ihr ähnelnden Runzel der Stammrinde un— bemerkt und ſicher zu ruhen. Hier erkennen wir vor unſern Augen ein frappantes Beiſpiel, wie die ſchützende Ahnlichkeit zwiſchen dem Tier und ſei— nem Standort nur durch die täglich wiederholte Wanderung einer Raupe her— vorgebracht wird. Wenn dieſelben auch am Tage auf den grünen Zweigen des Baumwipfels ſitzen bliebe, dann fände ſie dort keinen Schutz und es würde dann auch gar keine „Mimiery“ vorhanden ſein. Die auf der Dornſchlehe lebende Raupe der ſchönen gelben Bandphaläne Catocala paranympha iſt ein noch auffallenderes Beiſpiel von ſchützender ——— 92 Ahnlichkeit. Durch ihre Farbe und Form und beſonders durch den dornähnlichen Zapfen auf ihrem Rücken ſieht dieſelbe dem Zweige ihrer Futterpflanze höchſt täuſchend ähnlich und bleibt daher auch am Tage auf den Zweigen ſitzen, ohne mit jeder Morgendämmerung, wie die obengenannte Raupe einer verwandten Art, eine Wanderung nach dem Stamm anzutreten. Obgleich die Raupe von G. paranympha auch das Laub verſchiedener Obſtbäume verzehrt, ſo legt doch der Nachtfalter, wenn Dornſchlehen in der Nähe ſind, ſeine Eier in der Regel nur auf dieſe. Der vererbte Erhaltungstrieb leitet alſo den Schmetterling faſt immer zur richtigen Wahl der ſeine Larve er— nährenden und zugleich ſchützenden Pflanze. Zu ſeiner eigenen Sicherheit wählt jedoch derſelbe Nachtfalter während der Tages— ruhe einen ganz anderen Aufenthalt. Man ſieht ihn ſtets mit verſteckten Hinterflü— geln an alten Baumſtämmen von Wei— den, Eichen, Linden u. ſ. w. ſitzen, wo dieſer Zufluchtsort zur Farbe und Zeich— nung ſeiner Vorderflügel paßt und ihn ſchwer erkenntlich macht. Einen beſonders merkwürdigen Be— weisfall, wie die Mimiery lediglich durch Ligration und bewußte Wahl des Stand— orts bei unſeren Nachtſchmetterlingen ent— ſteht, lieferte uns vor vielen Jahren die ſogenannte Dammallee am Lechufer bei Augsburg, welche ich als Fundort man— cher ſchönen Phalänenarten mit andern entomologiſchen Sammlern oft zu beſu— chen pflegte. An den Stämmen der alten Weidenbäume, mit welchen der Lechdamm beſtanden, hielten ſich mit Vorliebe ver- ſchiedene Noctuen mit grauen oder bräun— lichen Oberflügeln, darunter beſonders die Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. Bandphaläne Catocala electa auf. In der Nähe wurde einſt in ausgedehntem Umfang der Bretterzaun einer Wieſe auf— geſchlagen, welche der Beſitzer zu einer Bleiche beſtimmte. So lange der neue Zaun die friſche Farbe des Holzes hatte, war er von dieſen Phalänen gemieden. Als derſelbe aber mit der Zeit eine wet— tergraue Farbe bekam, ſetzten ſich all— mählich auch viele Nachtſchmetterlinge auf denſelben, doch gewöhnlich nur ſolche, die wie die genannte Bandphaläne oder wie gewiſſe Arten der Gattung Cucullia eine graue Färbung der Vorderflügel hatten und der grauen Bretterwand ähnlicher ſahen, als der Farbe der nächſten Baumſtämme. Eine analoge Mimiery, welche in ein: fachſter Weiſe durch den Inſtinkt des Schutzes und der Selbſterhaltung her— vorgebracht wird, läßt ſich auf unſern Alpenwieſen beobachten, wo mehr Blu— men verſchiedener Farben gemiſcht durch— einander ſtehen, als auf den Wieſen der Ebene. Betrachtet man dort die zahlreichen gelben Tagfalter der Gattung Colias, die weißen Falter der Gattung Pontia, ſo ſieht man ſie im Sonnenſchein des Tages auf den verſchiedenſten Blumen ſich nieder— laſſen, weil die ungemeine Schnelligkeit ihres Fluges ſie gegen die Verfolgung der Vögel hinreichend ſchützt. Dagegen bemerkt man bei einbrechender Abenddämmerung die verſchieden gefärbten Arten vorzugs- weiſe diejenigen Blumenkronen aufſuchen, die mit ihrer Farbe übereinſtimmen. Die dunkelgefärbten Tagfalter, z. B. die Arten der Gattung Hipparchia, laſſen ſich dagegen vorzugsweiſe im Wald auf düſter gefärbten Standorten, wie Baumſtämmen oder Felſen, mit geſchloſſenen Flügeln nieder und finden hier den beſtmöglichen Schutz. a 1 Ein beſtätigendes Experiment für diefe „Mimiery“ kann man in jeder Kammer anſtellen, deren Wände mit Decken ver— ſchiedener Farbe behängt ſind. Läßt man daſelbſt die verſchieden gefärbten Tag- oder Nachtfalter, die aus der Puppe gekrochen, fliegen, ſo wird man bemerken, daß der mit geſchloſſenen Flügeln ruhende Falter in der Regel diejenige Wanddecke aufſucht, welche mit ſeiner Farbe übereinſtimmt. Unter den Raupen gewährt beſonders die artenreiche Familie der Spanner (Geo- metridae) ungemein viele Beiſpiele von überraſchender Mimiery, d. h. Überein⸗ ſtimmung von Form und Farbe dieſer Spannerraupen mit den Zweigen und Blättern der Bäume, auf denen ſie leben und die der leitende Inſtinkt der Selbit- erhaltung ſie finden ließ. Auch aus den übrigen Ordnungen der Inſekten, den Co- leopteren, Hemipteren, Orthopteren u. ſ. w. laſſen ſich im freien Naturleben tauſende von Fällen nachweiſen, wo die ſchützende Ahnlichkeit zwiſchen dem Inſekt und der Pflanze in augenſcheinlicher Weiſe durch aktive Zuwanderung und Schutzaufent⸗ halt des erſteren hervorgebracht wurde. Jeder Käferſammler, welcher die Kü— ſtenländer Nordafrikas beſucht und die dort ſo eigentümlichen, individuenreichen Arten der merkwürdigen Gattung Sepidium beob— achtet hat, wird mit Verwunderung bemer— ken, wie dieſe auf nackter oder nur mit dürf— tiger Vegetation bedeckter Erde vorkom— menden ſchwerfälligen Käfer, welche bei ihrer geringen Lokomotionsfähigkeit ihren Feinden fo leicht zum Opfer fallen wür— den, den Erdklümpchen des Bodens meiſt täuſchend ähnlich ſehen und daher faſt immer pflanzenloſe Stellen zu ihrem Standort aufſuchen. Die nordafrikaniſchen Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 93 Rüſſelkäfer der Gattung Brachycerus, die beſonders in Kleinaſien und Armenien ſo artenreichen Bockkäfer der Gattung Dor- cadion, welche durch geſchloſſene Flügel— decken zum Fluge unfähig ſind, ſuchen ſich ebenſo zu ſchützen, indem ſie auf Erde, Sand oder Steinen ſitzen, die ihrer Farbe genau entſprechen. Selbſt das geübteſte Auge des Samm— lers unterſcheidet den am ſüdlichen Abhang des Kaukaſus und in den Waldgegenden Georgiens vorkommenden, eigentümlich ge— formten Laufkäfer Carabus septemcari- natus nur äußerſt ſchwer von den dür- ren Blättern und den modernden herab— gefallenen Baumäſten, unter denen er ſich aufzuhalten pflegt. Viel bekannt durch ſeine Ahnlichkeit mit einem dürren Blatt iſt Mormolyce phyllodes auf Java, ein äußerſt bizarr geſtalteter Käfer, der dort im Waldboden in Höhen von 2000 — 30007 neben faulen Blättern ſeinen Aufenthalt in inſtinktiver Vorſicht wählt. Die imi- tirende Ahnlichkeit vieler Orthopteren der Tropenzone, worunter beſonders Arten der Familie der Phasmiden oder Ge— ſpenſtheuſchrecken und der Mantiden oder Hangheuſchrecken, mit den Zweigen, Blät⸗ tern und ſelbſt Stacheln der Pflanzen, die ſie vorzugsweiſe bewohnen, in Bezug auf Form, Zeichnung, Farbe u. ſ. w. iſt oft höchſt überraſchend. Doch mindert ſich die Verwunderung über dieſe häu— figen Beiſpiele von „Mimiery“ gar ſehr, wenn man bedenkt, wie unendlich man⸗ nigfaltig gerade in der Tropenzone die Formen und Farben der Pflanzenwelt und neben ihnen der Inſekten ſind, und wie wenig ſchwer es nicht nur den exiſtiren— den Inſektenarten, ſondern auch ihren von Zeit zu Zeit ſpontan entſtehenden indivi— 94 duellen abnormen Varietäten wird, unter dieſen zahlloſen, verſchiedenartigen Pflan— zen diejenigen ähnelnden Formen und Far— ben zu finden und auf denſelben ſich vor— zugsweiſe aufzuhalten, welche ihnen gegen Verfolger Schutz durch Ahnlichkeit oder gutes Verſteck gewähren. Daß aus inneren (phyſiologiſchen) Urſachen, die ganz unabhängig von den äußeren Verhältniſſen ſind, Individuen, welche in ihren morphologiſchen Merk— malen vom normalen Typus ihrer Stamm: art ungewöhnlich ſtark abweichen, be— ſonders unter den ſehr fruchtbaren Arten zuweilen auftreten, iſt eine unbeſtrittene Thatſache. Es iſt ebenſo begreiflich und natürlich, daß ſolche ſtark abnorme In⸗ dividuen, vom Inſtinkt der Selbſterhal— tung getrieben, teils um den Gefahren zu entgehen, die ihnen eine auffallende Farbe oder Form bringt, teils um den Neckereien ihrer normalen Artgenoſſen ſich zu entziehen, verhältnismäßig leichter und öfter dazu kommen, auf einem an- dern Boden, auf andern Pflanzen als die Futterpflanze der Stammart, einen ihrer Variation entſprechenden neuen Standort zu ſuchen. Um einem ſonderbaren Mißverſtänd— niſſe zu begegnen, welches ſich Johan— nes Huber und ihm nachredend Georg Seidlitz zu ſchulden kommen ließen, be— tone ich hier ausdrücklich das Wort „ver— hältnismäßig“. Die abſolute Zahl normaler oder vom Durchſchnittstypus der Stammart nur ſehr wenig differiren— der Emigranten, welche ſich vom Wohngebiet der Stammart abſondern, muß ſelbſtver— ſtändlich ſehr viel größer ſein als die Zahl ſehr abnormer Emigranten, die ja über— haupt immer nur ſelten als ſpontane Varietäten unter der Individuenmaſſe der Stammart auftreten. Bei ganz normalen oder mit nur ſehr geringer individueller Abweichung ausgeſtatteten Emigranten kann nur der größere oder geringere Grad von Verſchiedenheit der äußeren Lebens— bedingungen des neuen Standorts im Ver— gleich mit dem früheren Areal für die Bildung wenig abweichender Spezies oder lokaler Varietäten maßgebend ſein. Emi— granten von ſtärkerer individueller Abwei— chung werden die Formveränderungen ſtei— gern und bei genügender Dauer der Iſo— lirung ſtets „gute“ Arten ausprägen. Sehr abnorme Individuen, die räumlich ſich abſondernd der Kreuzung ſich ent— ziehen, müſſen, beſonders wenn ſie durch günſtigen Zufall ihre iſolirte Kolonie an einem Standort mit ſtark differirenden äußeren Lebensbedingungen gründen, not— wendig zu einer noch größeren morpholo— giſchen Differenzirung führen, aus welcher ſelbſt neue Gattungen hervorgehen können. Hier will ich auch eine beſonders merkwürdige, von verſchiedenen Samm— lern und Beobachtern des Tierlebens der Tropenzone, namentlich von Bates und Wallace gut beſchriebene Erſcheinung erwähnen. Gewiſſen Formengruppen von Schmetterlingen, welche wegen ihres wi— derlichen Geſchmackes oder Geruches von verfolgenden Vögeln gemieden werden, haben ſich ähnlich gefärbte Schmetter— linge, die aber ganz anderen Gattungen angehören, zugeſellt und halten ſich zu ihrem Schutze vorzugsweiſe unter ihnen auf. Mit der Darwinſchen Zuchtwahl— lehre und dem Kampf ums Daſein als Hauptfaktor der Formbildung würde die— fer hochintereſſante Fall von Mimiery nur eine ſehr gezwungene und unwahr— Ei ea: Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. ſcheinliche Erklärung zulaſſen. Mit der Separationstheorie erklärt ſich dagegen die Erſcheinung auf eine ſehr einfache und natürliche Weiſe. Abnorme, in Farbe oder Zeichnung von ihren Stammarten ſtärker als gewöhnlich abweichende In— dividuen haben ſich von dieſen abgeſon— dert und einer andern Formengruppe von Schmetterlingen zugeſellt, zu der ihre individuelle Variation beſſer paßt. Der allen Tieren angeborene Schutz- und Er— haltungstrieb dieſer variirenden Indivi— duen hat damit in doppelter Weiſe ſei— nen Zweck oder — wenn man lieber das Baerſche Wort wählen will — ſeine „Zielſtrebigkeit“ erreicht. Die Emigranten haben in der neuen Geſell— ſchaft von Schmetterlingen anderer Gat— Zeichnung Ahnlichkeit hatte und die ſie von Vögeln unbeläſtigt ſahen, beſſeren Schutz gefunden und durch lokale Ab— ſonderung von der normalen Stammart, indem ſie dem abſorbirenden Einfluß der Kreuzung ſich entzogen, zugleich ihre in— entwickelt und fixirt. Eine andere höchſt lehrreiche Beob— achtung von ausgezeichneter Mimiery verdanken wir der wiſſenſchaftlichen Welt— expedition der engliſchen Korvette Chal— lenger. Dieſelbe ſcheint uns mehr als irgend eine andere geeignet, auf die Ur— ſache der merkwürdigen Erſcheinung ein helles Schlaglicht zu werfen. Von die— ſer Expedition wurde zuerſt die Fauna der Tanginſeln des Sargaſſomeeres ge— nauer unterſucht. In dieſem Meer ſehen wir den aus zahlloſen ſchwimmenden Pflanzeninſeln des Sargassum bacciferum dividuellen Merkmale ungehindert fort- dition, welche 1875 die äußerſt merk— inſeln gefunden. tungen, mit denen aber ihre Farbe und 95 Atlantiſchen Ozean zwiſchen 22 und 26° N. B. an der verhältnismäßig ruhigen Stelle liegt, die ſüdlich von dem großen Aquatorialſtrom begrenzt iſt, nördlich und weſtlich vom Golfſtrom und öſtlich vom Guineaſtrom, der ſüdwärts fließt. Die gefiederten Zweige dieſer olivenfarbigen Alge erreichen mitunter eine Länge von 300 Metern und ſitzen an dicken, durch runde Luftgefäße über dem Waſſer ge— haltenen Stielen. Die wahrſcheinliche Stammpflanze dieſer ſchwimmenden Alge, welche von dieſer nur wenig abweicht, hat Agardt auf den Klippen von Neufundland ent— deckt. Später wurde eine ganz nahe ver— wandte Form auch auf den Bermuda— Von den Zeiten des Columbus bis auf den heutigen Tag hat die fließende Alge des Sargaſſo— archipels, welcher der große Entdecker ihren Namen gab, die Aufmerkſamkeit und das Intereſſe aller wiſſenſchaftlichen Reiſenden, die jene Stelle des Ozeans berührten, auf ſich gezogen. Die Zoologen der Challenger-Expe— würdige Fauna des Sargaſſoarchipels in eingehender Weiſe unterſuchten, haben gefunden, daß dieſelbe aus Arten beſteht, welche fait ſämmtlich dieſen Pflanzen— inſeln eigen ſind — eine Thatſache, welche die formbildende Wirkung der Migration und Iſolirung glänzend beſtätigt. Frap— pantere Beiſpiele von Mimiery, als ſie dort vorkommen, laſſen ſich kaum ir— gendwo nachweiſen. Faſt alle Tiere die— ſer Algeninſeln imitiren in der Form und noch mehr in der Farbe ihre ſchwim— mende Heimat. Ein goldenes Olivenfarb' herrſcht unter dem Olivengrün aller Schat- 3 Archipel, welcher im nördlichen 4 tirungen der treibenden Algenmaſſen vor und dieſelbe Farbe iſt auch faſt ſämmt— lichen Mollusken, Kruſtern und kleinen Fiſchen eigen, welche ſie bewohnen. Uns ter dieſen ſelbſt bemerkt man wieder zahlreiche geringere oder ſtärkere lokale Varietäten und auch ſie legen ein ſchla— gendes Zeugnis für den verändernden Einfluß der Iſolirung ab. Auch der Schutz— trieb, der die individuellen Varietäten drängt, vorzugsweiſe diejenigen Farben— nuancen der auch unter ſich viel vari— irenden Algen aufzuſuchen, welche ihrer eigenen Farbe am meiſten entſprechen und ſie daher am beſten ſchützen, deutet klar auf die einfache Urſache dieſer ſchüz— zenden Mimiery hin. Nautilograpsus minutus iſt der Name einer dort vorkommenden eigentümlichen kleine Krabbe, welche in zahlloſen In— dividuen auf den Algenbüſchen ſchwärmt und von einer Inſel zur andern über— geht. „Es iſt ſonderbar — heißt es im zoologifchen Bericht des Challenger — zu ſehen, wie dieſes kleine, ſtark vari— irende Geſchöpf in der Farbe meiſt mit dem Gegenſtand correſpondirt, den es ge— rade bewohnt.“ Neben dieſer Krabbe iſt eine kleine, muſchelloſe Molluske Scillaea pelagica ein faſt ebenſo häufiger Be— wohner und auch ſie ſchützt ihre Farbe gegen die Seemöwen, die raubſpähend zahlreich über dieſem Meere fliegen. Auch ein grotesker kleiner Fiſch, Antenarius marmoratus, deſſen Länge 5 Centimeter nicht überſchreitet, gehört zu dieſer endemi— ſchen Sargaſſo-Fauna. Er iſt es, welcher die eigentümlichen Neſter aus Seetang mittels Fäden aus einer klebrigen Sekre— tion zuſammenrollt, die man im Bett des Golfſtroms ſo häufig ſchwimmend antrifft. Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. Befragt man über die Urſache der Entſtehung dieſer eigentümlichen Fauna und ihrer Mimiery-Erſcheinungen die Dar— winſche Zuchtwahllehre, ſo kommt man mit ihr ſchon in große Verlegenheit, auch nur die erſte Erſcheinung der tieriſchen Bewohner dieſer ſchwimmenden Tang— inſeln ohne Zuhilferufen der Migrations- theorie zu erklären. Als Einwanderer aus dem Norden haben dieſe Algen die Stamm: eltern ihrer jetzigen Tierbevölkerung ſicher nicht mitgebracht, denn ihrer Urheimat fehlen die analogen Formen. Die erſten Anſiedler müſſen daher Emigranten aus dem umgebenden Meer geweſen ſein, denn hier leben die nächſt verwandten Arten und Gattungen, welchen aber die eigen— tümliche Färbung der Sargaſſotiere fehlt. Unter den Millionen von Individuen dieſer nächſtverwandten Arten von Kru— ſtern und Weichtieren, wie ſie in den umgebenden Teilen des atlantiſchen Oce- ans, beſonders im Antillenmeer, vor— kommen, bemerkt man jedoch nicht ſel— ten verſchiedene Farbennüancen, wie man bei der Ebbe an den Küſten der weſt— indiſchen Inſeln ſich genau überzeugen kann. Beſonders die dunkelgrauen oder braunen Krabben zeigen ziemlich häufig individuelle Abweichungen von lichterer Färbung, welche mitunter ins Grünliche und Gelbliche ſpielen. Solche Varietäten, vom angebornen Schutztrieb geleitet, wer— den ſtets geneigter ſein, von ihren nor— malen Artgenoſſen ſich abzuſondern und eine Zufluchtsſtätte mit korreſpondirender Färbung zu ihrer Sicherheit zu ſuchen. Es iſt dagegen höchſt unwahrſcheinlich, daß normale Individuen dieſer Seetier— arten von dunkler Färbung ſich eben ſo leicht von ihren Artgenoſſen abſondern Bi jollten, um einen neuen Aufenthalt zu wählen, der ihnen nur Nachteile und vermehrte Gefahr bringen würde, da fie | dann auf dieſen ſchwimmenden Inſeln den ſcharfen Augen der Raubmöwen mehr ausgeſetzt wären als im Meere. Der allen Tieren angeborne Erhaltungstrieb, wel— cher gegenüber der raſtlos drohenden Ge fahren ihre Sinne ſchärft, drängt See— tiere ſogut wie Landtiere, den paſſend— ſten Standort zu ſuchen, der ihrer Farbe und Form entſpricht. In jedem Falle aber war es die Abſonderung und Iſo— lirung von Seebewohnern, welche den Pflanzeninſeln des Sargaſſomeeres die erſten Koloniſten lieferte und damit auch den Anſtoß zu der eigentümlichen For— menbildung dieſer Fauna gab. Auch der merkwürdige Umſtand, daß die „ſchützende Ahnlichkeit“, die dort zwi— ſchen Tier und Pflanze herrſcht, nicht nur ein allgemeiner Charakterzug dieſer endemiſchen Fauna iſt, ſondern daß die— ſelbe Erſcheinung auch als lokales Ge— präge der zahlloſen ſchwimmenden Inſeln in hundertfachen Farbennüancen von Oli— vengrün und Gelb ſich wiederholt, iſt der Annahme günſtig, daß nicht die Thätig— keit einer Zuchtwahl durch den Kampf ums Daſein, welche gerade auf ſo be— ſchränktem Raum eine unglaubliche Cul— mination von Zufällen erfordern müßte, ſondern die aktive Migration, welche, veranlaßt durch den natürlichen Schutz— trieb der Tiere, Ähnliches zu Ahnlichem drängt, als einfache Urſache wirkt. Auch die Erfahrung der künſtlichen Züch— tung, daß jede neue Variation nicht nur die Fähigkeit, ſondern ſelbſt eine ſtarke Tendenz zeigt, ihre Merkmale ſchon in den nächſten Generationen im verſtärkten Maße Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 9 . —— 7 auszuprägen, hilft zur Erklärung der lo— kalen Varietäten dieſer Tanginſelbewoh— ner, denen hier die erleichterte Wande— rung von einer Inſel zur andern auch das Auffinden der geeignetſten Standorte ſo leicht machte. Die Erſcheinung der Mimi— ery war daher im Sargaſſomeer ein ebenſo natürliches Produkt der Migration und Iſolirung, wie die „ſchützende Ahnlichkeit“, welche die Raupen der früher erwähn— ten Bandphaläne durch das Anſchmiegen an die Runzeln alter Baumſtämme bei täglicher Wanderung vor unſern Augen vollziehen. Die bekannte Thatſache der überein— ſtimmenden Farbenähnlichkeit, welche zwi— ſchen dem Boden der Steppen, der Wü— ſten, der ſchneebedeckten Polarzone und ihrer Tierbewohner im Allgemeinen vor— herrſcht, iſt gleichfalls als eine großartige Mimiery-Erſcheinung aufgefaßt worden und kann auch mit Recht als ſolche gelten. Wollten aber die Darwiniſten nach der gewöhnlichen Vorſtellung der Selek— tionstheorie annehmen, daß Steppen, Wü— ſten und arktiſche Schneeflächen urſprüng— lich von einer mannigfaltig gefärbten Fauna bewohnt waren, von der die un— günſtiger gefärbten Formen als nicht vor— teilhaft im Laufe der Zeit durch Ausleſe im Daſeinskampf beſeitigt wurden und erloſchen, ſo wäre dieſe Vorſtellung ganz gewiß ein ſehr großer Irrtum. Hätten ſolche Faunen mit vielfach gemiſchten Far— ben je beſtanden, ſo wäre es von An— fang an ſchon unbegreiflich, warum die bunt oder dunkelgefärbten, mithin un— vorteilhaft organiſirten Tierarten in Ge— genden geblieben wären, wo ſie mit ſpär— licherer Nahrung zugleich weit mehr Ge— fahren ausgeſetzt waren, während die Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 98 Moritz Wagner, Über die Entftehung der Arten durch Abſonderung. benachbarten, bewaldeten Grenzgebiete ih— nen reichhaltigere Nahrung und mehr Sicherheit boten, und die Wanderung dorthin ihnen ſtets offen ſtand. Die Sa— hara iſt jedenfalls erſt ſeit der jüngern Tertiärzeit trocknes Land. Die arktiſchen Flächen hatten während der Miocänpe— riode noch keinen Schnee. Ihre jetzige Tier— welt haben ſie erſt ſeitdem durch Ein— wanderung erhalten. Wenn aus den Wald- und Buſch— ebenen des nördlichen Sudan oder vom ſüdlichen Fuße des Atlasgebirges indi— viduelle Spielarten mit korreſpondirender Färbung vorzugsweiſe nach dem Steppen— gürtel zogen, welcher von beiden Seiten in allmählichen Übergängen die große Sandwüſte von der Waldzone ſcheidet, jo folgten fie durchaus nur ihrem natür— lichen Inſtinkt, d. h. dem angebornen ver— erbten Schutztrieb, der die Tiere ſtets nach Wohngebieten und Standorten mit ſympathiſcher Färbung lockt, wenn ihnen ſolche erreichbar ſind. Hellere Abarten mit ins Gelbliche ſpielender Färbung, wel— che unter den bräunlichen Arten der Steppe als mehr oder minder abweichende indi— viduelle Variationen von Zeit zu Zeit erſcheinen, werden dem angebornen Schutz— trieb und der Erfahrung entſprechend leicht dazu gekommen ſein, in die zugänglichen Oaſen der angrenzenden Wüſte einzuwan— dern. Die räumliche Abſonderung und dauernde Iſolirung paßte dieſe Einwan— derer ihrer neuen Heimat an, d. h. ſie prägte die in ihrer Variationsrichtung liegenden Formen mit Unterſtützung der veränderten äußeren Lebensbedingungen ſo aus, wie wir ſie heute ſehen. Einen intereſſanten Beleg zu dieſer durch zahlreiche Thatſachen unterſtützten Annahme liefert in Egypten das Vor— kommen eines Wüſtenmonitors in naher Nachbarſchaft neben dem gewöhnlichen Flußmonitor, doch von dieſem ſtets räum— lich abgeſondert. Der Monitor oder die Warneidechſe des Nils, Varanus niloti- cus, iſt das bekannte große Reptil, wel— ches neben dem Krokodil nicht nur den Nil, ſondern alle größeren Flüſſe Nord— afrikas bewohnt und Fiſche, Amphibien, Mollusken, vorzugsweiſe aber die Eier des Krokodils verzehrt. Seine Farbe iſt braungrau mit ſchwarzbrauner, netzförmi— ger Zeichnung. Zuweilen beobachtet man unter ihnen auch heller gefärbte Indi— viduen, welche ſich aber nicht erhalten, ſondern bei der Kreuzung mit den normal gefärbten Artgenoſſen wieder verſchwinden. In der dem Nilthal angrenzenden Wüſte kommt eine vikariirende Form die— ſes Nilmonitors vor, der Varanus are- narius, welcher ähnlich der Farbe des Wüſtenbodens hellgrau gefärbt und nach größter Wahrſcheinlichkeit aus Emigran— ten der ſporadiſch erſcheinenden helleren Spielart des benachbarten Nilmonitors entſtanden iſt. Dieſer Wüſtenmonitor hat mit der Abſonderung von ſeinem frühern feuchten Standort und durch die Über— ſiedlung auf trockenem Boden auch ſeine Lebensweiſe geändert, indem er ſtatt der Fiſche und Krokodileier vorzugsweiſe In— ſekten und kleinere Reptilien, im Ganzen eine viel ſpärlichere Nahrung verzehrt. Mit dem Wechſel ſeines Standortes und ſeiner Nahrung hat ſich nebſt der Farbe auch die Form in Folge des Nichtge— brauchs der Schwimmorgane entſprechend abgeändert. Der Nilmonitor hat befannt- lich einen etwas zuſammengedrückten, zum Schwimmen geeigneten Schwanz mit einem Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. Rückenkiel, der aus zwei Reihen Schup— pen gebildet iſt. Seinem Nachbar und nächſtverwandten Vetter, dem Wüſten— monitor, fehlt dieſer Rückenkiel, und der Schwanz hat eine cylindriſche Form be— kommen, die zum Schwimmen nicht ge— eignet iſt. Auch die Zahnbildung hat ſich in— folge der veränderten Nahrung abgeändert. Wenn man bedenkt, daß ſämmtliche Arten der Gattung Monitor in allen Län— dern, wo ſie vorkommen, Flußbewohner ſind, mit Ausnahme eines einzigen ana— logen Falles auf der Inſel Timor, ſo drängt ſich die wohlbegründete Annahme, daß hier durch den einfachen Akt der Mi— gration und Separation eine gute neue Art entſtanden iſt, überzeugend von ſelber auf. Die Einwanderung ſolcher ſympathiſch gefärbten Spielarten eines Flußbewoh— ners in die Wüſte, zu der ihre Varia— tion paßte, iſt im Grunde nicht auffal— lender, als die Migration von bräunlichen oder gelblichen Wiederkäuern, Nagern, Raubtieren, Vögeln, Reptilien, Arachni— den, Käfern, Schmetterlingen u. ſ. w. aus den Wald- und Buſchgegenden des Su— dan und der Berberei nach dem buſch— loſen Steppenrand und den Oaſen der Sahara. Antilopen, Nager, Hühnervögel von entſprechender Färbung lockte der Schutztrieb, Raubtiere von ſympathiſcher Färbung, wie Löwe, Schakal, Fennek, gewiſſe Falken der Nahrungstrieb bei ihren Migrationen aus den Nachbarge— bieten. Dunkelgefärbte oder ſehr bunt gefleckte Arten, wie der Leopard, folgten nicht, ſondern blieben einfach in der an— grenzenden Waldzone. Auch der braune Bär der alten Welt und der große ame— rikaniſche Bär der Rocky-Mountains über: 99 ſchreiten nur ſelten die nördliche Buſch— waldgrenze, während der weiße Bär eben ſo ſorgſam innerhalb der ſeiner Farbe entſprechenden arktiſchen Flächen des ewi— gen Schnees verbleibt und die Hypotheſe rechtfertigt: daß die weißen Tiere des Nordens aus zugewanderten Albinos der Nachbarländer entſtanden ſind, wo ſolche als ſpontane Varietäten bei kälterem Kli— ma öfter erſcheinen als im Süden. In der ältern Tertiärzeit, wo auf Spitzber— gen und Grönland noch Palmen wuch— ſen, gab es dort noch keinen Schnee. Weiße Tiervarietäten hätten daſelbſt noch keinen Schutz gefunden, alſo auch keinen Trieb zur Einwanderung gehabt. Wir haben bei uns das näher lie— gende Beiſpiel des im Winter weiß ge— färbten Alpenhaſen, der mit Vorliebe in den höheren, ſchneereichen Gebirgsregionen verweilt, und unſeres braunen Feldhaſen, der zu ſeinem Aufenthalt den Waldboden der Ebene mit ſeinen dürren Blättern vorzieht und damit, ebenſo wie jener und wie zahl— loſe andere vom Schutztrieb geleiteten Tier— arten durch Beziehen oder Feſthalten eines mit ihrer Farbe korreſpondirenden Stand— orts, die „Mimiery“ ſelbſt hervorbringt. Das „Heer der ſchützenden Ahnlich- keiten“ iſt weit entfernt, im Widerſpruch mit der Separationstheorie zu ſein, wie Seidlitz irrig meint, ſondern findet ge— rade durch den Schutztrieb, die Migra— tion und den Standortswechſel der Va— rietäten und Arten, welche ſympathiſche Farben und Formen zu einander geſellt, ihre natürlichſte Erklärung — was auch der genannte geiſtvolle Forſcher bei un— befangener Prüfung der Thatſache zuletzt ſelber zugeben dürfte. (Fortſetzung folgt.) ie Anſicht von einem Urſtoff, aus dem alle vorhandenen Dinge herſtammen, iſt ſehr alt. Alle Vorſtellungen aber, welche man ſich über die letz— ten Beſtandteile der Materie bildete, wurden einzig und allein mit Hülfe der Spekulation erlangt und waren ihrer ganzen Auffaſſung nach rein metaphy— ſiſch. Die Perſer und namentlich die Magier hielten das Feuer für den Ur— ſtoff aller Dinge, die Agypter aber das Waſſer, und es iſt wahrſcheinlich, daß Thales von Milet, welcher ebenfalls das Waſſer als Grundprinzip aller Dinge betrachtete, dieſe Hypotheſe von den Agyp— tern entlehnte. Sein Schüler Anaxi— menes gab der Luft den Vorzug, wäh— rend Pythagoras die Lehre von den vier Elementen: Feuer, Luft, Waſſer und Erde begründete, welche dann von Empedokles weiter ausgebildet wurde und den entſchiedenſten Beifall fand. Dieſe Lehre hat in der Faſſung, welche hindurch die Wiſſenſchaft beherrſcht und Das Syſtem der chemiſchen Elemente. Von Dr. Otto Dammer. iſt namentlich auf die Entwickelung der Chemie von größtem Einfluß geweſen.“) Ariſtoteles nimmt einen Urſtoff an, der ſich nach Schwegler“) in fol— gender Weiſe definiren läßt: „Der Ur— ſtoff (die Materie) in ſeiner Abſtraktion von der Form gedacht, iſt das völlig Prädikatloſe, Unbeſtimmte, Unterſchieds— loſe, dasjenige, was allem Werden als Bleibendes zu grunde liegt und die ent— gegengeſetzteſten Formen annimmt, das aber ſelbſt ſeinem Sein nach von allem Gewordenen verſchieden iſt und an ſich gar keine beſtimmte Form hat, dasjenige, was die Möglichkeit zu allem, aber nichts in Wirklichkeit iſt.“ Von dieſem Urſtoff unterſcheidet Ariſtoteles die Elemente, die Grundbeſtandteile der Dinge, die der Art nach nicht weiter teilbar ſind und die ganz andre Eigenſchaften beſitzen, als die zuſammengeſetzten Körper, die Produkte aus den Elementen. Dieſe Ele— *) Lorſcheid, Ariſtoteles' Einfluß auf die ; 87 ; | Entwickelung der Chemie. Münfter, 1872, ihr Ariſtoteles gab, viele Jahrhunderte 5 i **) Schwegler, Geſchichte der Philoſophie. Stuttgart, 1857. Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. mente, die fo weit eine gewiſſe Ahnlich- keit mit den modernen zu haben ſcheinen, ſind aber in einander verwandelbar, da ſie gewiſſermaßen Allotropien des Urſtoffs darſtellen, der in jedem Element als Träger von Eigenſchaften (Gegenſätzen), natürlich nur von phyſikaliſchen, auftritt. Indem Ariſtoteles nun vier Eigen— ſchaften: kalt-, warm-, trocken-, feucht- ſein, als die wichtigſten, auf welche alle übrigen zurückgeführt werden können, hinſtellt, gelangt er zu vier Elementen, welche als Träger je einer Paarung je— ner Gegenſätze erſcheinen. Folgendes Schema zeigt die Reihenfolge der Ele— Feuer N 8 0 45 N 22 2 2 2 — 5 Urſtoff = NR Waſſer mente, die gemeinſamen Eigenſchaften und die Fähigkeit derſelben, ſich in ein— ander zu verwandeln. Dem Trocken- und Kaltſein entſpricht alſo die Erde, dem Kalt⸗ und Feuchtſein das Waſſer, dem Feucht- und Warmſein die Luft und dem Warm- und Trockenſein das Feuer. Je— dem Element kommen demnach zwei Haupt— eigenſchaften zu, aber eine vorzugsweiſe: Erde gehört mehr dem Trocknen als dem Kalten, Waſſer mehr dem Kalten als dem Flüſſigen, Luft mehr dem Flüſ— ſigen als dem Warmen und Feuer mehr dem Warmen als dem Trocknen an. So— fern nun das Werden zu Entgegenge— ſetztem aus Entgegengeſetztem geſchieht 101 und alle Elemente vermöge ihrer ent— gegengeſetzten Unterſchiede in einem Ge— genſatz zu einander ſtehen, können ſie auch in einander übergehen und alles kann aus allem werden, nur ſchneller oder lang— ſamer, je nachdem nur eine oder zwei Eigenſchaften gewechſelt werden müſſen. Aus der Vereinigung der Elemente aber entſtehen zuſammengeſetzte Körper, deren Eigenſchaften von dem Verhältnis abhän— gen, in welchem jene zuſammengetreten ſind, und zwar enthält jeder zuſammen— geſetzte Körper ſtets alle vier Elemente.“ Durch die innere Kraft ſeiner Phi— loſophie, durch das tiefere Eindringen in den ganzen Umfang des Wiſſens iſt Ari— ſtoteles der Lehrer des Menſchengeſchlechts geworden und hat, wie nie ein Sterb— licher vor oder nach ihm, einen Einfluß, errungen, welcher bis in die neueſte Zeit bemerkbar geweſen iſt. Namentlich das Mittelalter ſtand vollſtändig unter dem Einfluß des Stagiriten und es kann da— her nicht auffallen, daß auch die erſten Beſtrebungen auf dem Gebiet der Che— mie ariſtoteliſche Leitung erkennen laſſen. Hier aber hatte man ſich vor allem dem Studium der Metalle gewidmet, welche durch ihre Eigenſchaften und ihre Stel— lung im Haushalt der Menſchen beſon— deres Intereſſe darboten. Man muß die ariſtoteliſchen Vorſtellungen von der Na— tur der Elemente im Auge behalten, wenn man die Bemühungen, die Metalle in einander zu verwandeln, welche ſo lange die herrſchende blieben, richtig würdigen will. Aber auch abgeſehen von allen theo— retiſchen Spekulationen mußte die Mög— lichkeit der Metallverwandlung denjenigen, welche die Zuſammenſetzung der Körper nicht ſicher zu ermitteln vermochten, bei . 102 Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. der Verarbeitung der Erze einleuchten. Daher reichen auch die Bemühungen, Gold zu machen, ſehr weit zurück und zeigen ſich ſchon im 4. Jahrhundert in Agyp— ten, welches bis um die Mitte des 7. Jahrhunderts Mittelpunkt dieſer Thätig— keit blieb, um alsdann den Arabern den Vortritt zu laſſen. Die von den letzteren ein— geleitete Periode der Alchemie ſteht ganz beſonders unter der Herrſchaft des Ge— dankens von der Möglichkeit der Metall— verwandlung, aber die Alchemiſten wa— ren durchaus von wiſſenſchaftlichem Geiſte beſeelt und nichts iſt unbegründeter, als die Alchemie mit der Goldmacherkunſt der ſpäteren Zeit zu identifiziren. „Die Al— chemie,“ ſagt Liebig, „iſt niemals etwas anderes als die Chemie geweſen, ihre beſtändige Verwechslung mit der Gold— macherei des 16. und 17. Jahrhunderts iſt die größte Ungerechtigkeit. Die Al— chemie war die Wiſſenſchaft, ſie ſchloß alle techniſch-chemiſchen Gewerbzweige in ſich ein.“ Und ſie erweiterte, können wir hinzufügen, den Kreis erkannter chemi— ſcher Thatſachen außerordentlich. Gleich— zeitig aber gelangte man auch zu einer weiteren Ausbildung der ariſtoteliſchen Anſchauungen über die Elemente und ſchon bei Geber finden wir die Anſicht aus— geſprochen, daß alle Metalle aus „Schwe— fel“ und „Queckſilber“ zuſammengeſetzt ſeien. Man ſah Glanze und Kieſe als Metalle an, fand als Beſtandteile der— ſelben Schwefel und konſtatirte die Um— wandlung dieſer vermeintlichen Metalle in Blei, Eiſen, zum Teil ſogar (da man— che Glanze und Kieſe Silber und Gold enthalten) in edle Metalle. Letztere ſoll— ten reicher an Queckſilber ſein, die un— edlen Metalle dagegen mehr Schwefel enthalten. Dieſe Anſichten blieben lange herrſchend, man behielt die Lehre des Ariſtoteles bei und betrachtete Schwe— fel und Queckſilber als die näheren, die vier alten Elemente als die entfernten Be— | ſtandteile der Metalle. Im 15. Sahrhun- dert fügte Baſilius Valentinus dem Schwefel und Queckſilber als dritten Grundbeſtandteil noch das „Salz“ hinzu und lehrte, daß dieſe nicht nur in den Metallen, ſondern in allen Körpern ent— halten ſeien und daß die augenfälligen Verſchiedenheiten der letzteren durch un— gleiche Proportion, Reinheit und Fixation der Grundbeſtandteile bedingt würden. Da— bei wurde zuerſtausgeſprochen, daß die letz— teren keineswegs mit dem metalliſchen Queck— ſilber, dem gewöhnlichen Schwefel und Salz identiſch ſeien. Fanden dieſe Lehren durch Paracel— ſus noch kräftige Unterſtützung und weitere Ausbildung, ſo begann doch damals bereits eine lebhafte Gegenſtrömung ſich geltend zu machen, als deren erſter Vertreter van Hel— mont (1667) zu nennen iſt. Die neuere Zeit aber datirt von dem Auftreten des Ir— länders Robert Boyle, derzuerſt die Not— wendigkeit betonte, zwiſchen metaphyſiſchen und chemiſchen Elementen zu unterſcheiden, und verlangte, daß die Chemie zunächſt ſich begnügen ſolle, die für ſie nicht weiter zerlegbaren Beſtandteile der Körper nach— zuweiſen. Er wollte die näheren Beſtand— teile der Körper feſtſtellen und dieſelben ſo lange als Elemente betrachten, bis es gelungen ſei, ſie als noch zuſammen— geſetzt nachzuweiſen. Die Metalle be— trachtete er noch als zuſammengeſetzte Körper und glaubte an ihre Verwandel— barkeit. Durch theoretiſche Spekulationen gelangte er zu dem Schluß, daß die Ele— 3 mente aus einer und derſelben Urmaterie beſtehen und daß ihre Verſchiedenheit auf der verſchiedenen Größe, Geſtalt ꝛc. ihrer kleinſten Teilchen beruhe. Dieſe Anſichten Boyles fanden zunächſt geringe Beach— tung, man blieb bei der Annahme von Grundbeſtandteilen als Trägern gewiſſer Beſtandteile ſtehen, Willis, Lefebvre und Lemery fügten den drei alchemiſchen Elemente noch zwei weitere, Waſſer und Erde, hinzu und im 18. Jahrhundert trat Stahl nach dem Vorgange Bechers mit ſeiner Phlogiſtontheorie hervor, welche ebenfalls noch auf ariſtoteliſchen Anſchau— ungen fußte und deren bedeutendſte Ver— treter immer noch von Erde, Waſſer, Licht und Feuer als den unzerlegbaren Subſtanzen ſprachen, unter dieſen Benen— nungen aber freilich etwas ganz anderes verſtanden als Ariſtoteles. Die Ideen Boyles wirkten indes fort und mit der Entwickelung der Phlogiſtontheorie nah— men auch die Anſichten darüber, was Ele— mente ſeien, immer beſtimmtere Geſtalten an, ſodaß nach dem Sturz jener Theo— rie, welche die Metalle wie alle brenn— baren Körper als phlogiſtonhaltig betrach— tet hatte, die neue Lehre von den Elemen— ten annähernd in der Geſtalt fixirt werden konnte, in welcher ſie noch heute gilt. Man bezeichnet gegenwärtig als Ele— mente diejenigen Körper, welche bisher nicht weiter zerlegt werden konnten und die man daher nach dem heutigen Stande des Wiſſens als chemiſch einfache an— ſehen muß. Dieſer Begriff des chemi— ſchen Elements als des nicht weiter in materiell Verſchiedenes Spaltbaren bil— det den erſten Fundamentalſatz der heu— tigen wiſſenſchaftlichen Chemie und wird immer beſtehen bleiben, ſelbſt wenn ſich Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 103 einige oder alle jetzt als chemiſch einfach betrachteten Körper als noch weiter zer— legbar erweiſen ſollten. Mit dem Begriff des chemiſchen Elements trat dann jene alte Vorſtellung von der Unzerſtörbarkeit der Materie in Verbindung und ſo ent— ſtand der weitere Fundamentalſatz von der Unwandelbarkeit der Elemente, der ſeit Lavoiſiers Verſuchen über die viel behauptete Umwandlung von Waſſer in Erde nicht mehr beſtritten worden iſt und der in allen chemiſchen Thatſachen ſeine Beſtätigung findet. Endlich vollzog ſich auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Ausbildung der Atomtheorie, welche zuerſt von Leukipp um 500 v. Chr. auf⸗ geſtellt und nicht viel ſpäter von De— mokrit ausführlich entwickelt worden war. Während aber die Alten, und, wie wir geſehen haben, auch Boyle, die Verſchie— denheit aller Dinge von der Verſchieden— heit ihrer Atome an Zahl, Größe, Ge— ſtalt und Ordnung ableiteten, nahm der engliſche Chemiker Dalton zuerſt in be— ſtimmter Weiſe die Exiſtenz qualitativ, verſchiedener Elementaratome an und ſchrieb dieſen beſtimmte, für die verſchie— denen Elemente charakteriſtiſche Gewichte zu. „Wie der Begriff des chemiſchen Ele— mentes, ſo wird auch der Begriff des chemiſchen Atoms, als der durch chemiſche Vorgänge nicht weiter ſpaltbaren Menge elementarer Materie, immer beſtehen blei— ben. Für die Chemie iſt die Frage, ob die chemiſchen Atome urſprünglich ein— heitliche und abſolut unteilbare Weſen ſeien, von feinem Belang. Mag immer— hin der Nachweis geliefert werden, daß die chemiſchen Atome aus Teilchen fei— nerer Ordnung gebildet ſind, oder mag die von William Thomſon begründete — 104 Theorie der Wirbelringe oder irgend eine ähnliche Vorſtellung, die die Atome als aus kontinuirlicher Materie entſtanden auf- faßt, durch die Fortſchritte der Erkennt⸗ niß ihre Beſtätigung finden, der Begriff der chemiſchen Atome wird dadurch nicht aufgehoben. Der Chemiker wird eine Erz | klärung ſeiner Einheiten ſtets mit Freude begrüßen, denn die Chemie bedarf nur zunächſt, nicht aber zuletzt der Atome“ (Kekulé). Sieht man von einigen neueſten Ent— deckungen ab, ſo beträgt die Zahl der chemiſchen Elemente gegenwärtig 64. Von dieſen nehmen aber nur etwa 12 an der Bildung der Hauptmaſſe der Erdrinde, der Pflanzen und Tiere und der Atmo— ſphäre Teil, die übrigen werden ſämmt— lich, wenn auch zum Teil ſehr allgemein verbreitet, nur ſparſam und in geringe— rer Menge gefunden, manche ſind ſogar ſehr ſelten und nur in wenigen Minera— lien nachgewieſen. Daß aber die Zahl der wirklich vorhandenen Elemente noch keineswegs erſchöpft iſt, beweiſt allein ſchon die Thatſache, daß immerfort noch neue Elemente entdeckt werden, wenn auch dieſe jüngſten Entdeckungen immer nur ſolche Körper betreffen, die für den Haushalt der Natur von ſehr geringer Bedeutung ſind. Viele angeblich neue Elemente haben ſich überdies in der Folge als Miſchungen erwieſen. Bei der verhältnismäßig großen Zahl der Elemente lag das Bedürfnis nahe, ſie in Gruppen zu bringen und man folgte bis in die neueſte Zeit dem Vor— ſchlage von Berzelius, welcher unter Be— tonung einiger weniger oberflächlicher Eigenſchaften die Elemente in Metalle und Nichtmetalle (unpaſſend Metalloide Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. genannt) teilte. Man ging dann auch weiter, teilte die Nichtmetalle in Oxyge— noide und Metalloide, die Metalle in Leicht- und Schwermetalle, erſtere in Al— kali⸗, Erdalkali- und Erdmetalle, letztere in unedle und edle. Dieſe ganze Grup— pirung hat aber geringen Wert, weil ſie die chemiſche Natur der Elemente viel zu wenig berückſichtigt, durch die z. B. Tel— lur, Arſen und Antimon entſchieden zu den Nichtmetallen gewieſen werden. Man hat ſich daher ſeit lange bemüht, an die Stelle des künſtlichen ein natürliches Sy— ſtem zu ſetzen und dieſe Beſtrebungen haben ſich als ſehr dankbar erwieſen. Man gewann größere Sicherheit in der An— weiſung der Stelle, welche ein beſtimm— tes Element im Syſtem einnimmt, und erzielte den Vorteil, daß nicht nur die gegenſeitigen Beziehungen der Elemente zu einander überſichtlicher hervortraten, ſondern auch neue Beziehungen aufgedeckt, neue Wege zum Erforſchen des Weſens der Elemente angebahnt wurden. Daß die Elemente in der That, wie man bisher mehr oder minder ausdrück— lich angenommen hat, unzerlegbare Stoffe ſeien, iſt ſchon aus dem Grunde ſehr un— wahrſcheinlich, weil man dann die Exi— ſtenz von 60 und vielleicht viel mehr grundverſchiedenen Urmaterien annehmen müßte. Jene Annahme wird aber noch unwahrſcheinlicher gegenüber den Be— ziehungen, welche die Atomgewichte der verſchiedenen Elemente zu einander zei— gen. Dieſe Beziehungen hatten bereits 1815 Prout veranlaßt, den Waſſerſtoff als die einzige Urmaterie, aus welcher alle anderen Elemente hervorgegangen ſeien, zu betrachten. Er nahm deshalb an, daß die Atomgewichte aller Elemente Tr er re EEE EEE EEE Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. ganze Vielfache vom Atomgewicht des Waſſerſtoffs ſeien, aber alle ſpätern ge— naueren Beſtimmungen der Atomgewichte haben gezeigt, daß dieſe Anſicht auch in der Form, welche ihr Dumas gab, in— dem er annahm, daß Waſſerſtoff viel— leicht aus 2 oder 4 Atomen beſtehe und die Atomgewichte der Elemente Vielfache von 0,5 oder 0,25 mit ganzen Zahlen ſeien, nicht aufrecht erhalten werden könne. Immerhin bleibt auffällig, daß, worauf Marignac aufmerkſam machte, die Mehr— zahl der Atomgewichte nahezu ganze Zah⸗ len ſind, wie z. B. Lithium 7,01 Stickſtoff 14,01 Sauerſtoff 15,96 Natrium 22,99 Schwefel 31,98 Kalium 39,04 Dieſe Thatſache verdient jedenfalls die höchſte Beachtung und wird früher oder ſpäter eine Erklärung finden, welche dann vielleicht auch ohne weiteres erkennen läßt, wie die Atomgewichte anderer Ele— mente, z. B. von Chlor 35,37 Brom . 79,75 Jod 126,53 Silber . 107,66 ſo erheblich von ganzen Zahlen abwei— chen können. Von irgendwie erheblichen Fehlern in der Beſtimmung dieſer Atom— gewichte kann keine Rede ſein, die Zah— len ſind vielmehr bis auf 0,001, und einige, wie die von Chlor und Silber, auf 0,0001 ihres Wertes genau be— ſtimmt, während allerdings die Atom— gewichte anderer Elemente nachweislich Fehler enthalten, die bei vielen mehrere Hundertteile und bei einigen ſogar Zehn— teile ihres Wertes betragen können. Erſt wenn über alle Atomgewichte ſo aus— 105 gezeichnete Arbeiten wie die von Stas vorliegen, wird es möglich ſein, den ur— ſächlichen Momenten der Beziehungen, in denen die Atomgewichte zu einander ſtehen, mit größerer Ausſicht auf Erfolg nach— zuſpüren. Aber auch ſchon jetzt laſſen ſich die intereſſanteſten Verhältniſſe nach— weiſen, und die überraſchendſten That— ſachen geben den unwiderleglichen Be— weis, daß die Forſchung ſich hier auf dem richtigen Wege nach einem hohen Ziel befindet. Döbereiner zeigte zuerſt, daß in vielen Gruppen von je drei ver— wandten Elementen, welche er „Triaden“ nannte, das Atomgewicht des einen Ele— ments nahezu das arithmetiſche Mittel aus dem der beiden andern iſt. Addirt man z. B. das Atomgewicht des Chlors 35,37 zu dem des Jods 126,52 und dividirt die Summe durch 2, ſo erhält man 80,95, während das gefundene Atom— gewicht des Broms — 79,75 iſt. Ebenſo berechnet ſich das Atomgewicht des Na— triums aus dem Atomgewichte des Ka— liums (39,04) und des Lithiums (7,01) zu 23,02, während es zu 22,99 be⸗ ſtimmt worden iſt. Derartige Triaden laſſen ſich mehrere zuſammenſtellen und aus je drei Triaden ſogar Enneaden be— rechnen. Rundet man die Atomgewichte im Sinne der Prout ſchen Hypotheſe ab, ſo ergeben ſich Regelmäßigkeiten, welche an die homologen Reihen der organi— ſchen Chemie erinnern: Unterſchied: Sauerſtoff O 16 Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 16 Schwefel 8 32 5 Selen Se 80 N Tellur Te 128 nn Lithium I 16 Natrium Na 23 16 Kalium K 39 14 106 Alle derartigen Unterſuchungen wa— ren früher bei der Unſicherheit der Atom— gewichtsbeſtimmungen und ſo lange noch die Atomgewichte mit den Aquivalent— gewichten fort und fort verwechſelt wur— den, ſehr ſchwankend, und erſt nachdem Cannizzaro den vermeintlichen Wider— ſpruch zwiſchen den Regeln von Avo— gadro und von Dulong und Petit durch den Nachweis, daß erſtere zunächſt nur das Molekulargewicht, letztere da— gegen das Atomgewicht beſtimme, geho— ben und dadurch beiden Regeln ihre gegenwärtig allgemein anerkannte Be— deutung beigelegt hatte, gewannen die Beziehungen zwiſchen den Atomgewichten eine größere Gleichförmigkeit. Im Jahre 1864 gab Lothar Meyer!) eine Zu— ſammenſtellung der Elemente nach der Größe der Atomgewichte und zugleich nach dem chemiſchen Wert, worauf Mendele— jeff“) 1869 eine ähnliche, weiter durch— geführte Zuſammenſtellung folgen ließ und entſchiedener als bisher geſchehen be— tonte, daß phyſikaliſches und chemiſches Verhalten der Elemente durch die Größe ihrer Atomgewichte beſtimmt werde, ſo daß die Eigenſchaften Funktionen, und zwar periodiſche Funktionen der Atomgewichte ſind. Ordnet man da— her die Elemente einfach nach der Größe ihrer Atomgewichte, ſo ſieht man beim Durchgehen einer ſolchen Reihe die Eigen— ſchaften von Glied zu Glied ſich ändern, bis bei einer gewiſſen Differenz der Atom— gewichte die Eigenſchaften mehr oder we— niger vollſtändig und zwar in derſelben Reihenfolge wiederkehren. So bilden thium (Li = 7,01), Natrium (Na = Li⸗ ) Die modernen Theorien der Chemie. 3. Aufl. Breslau, 1877.— ) Zeitſchr. f. Chemie. Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. 22,99) und Kalium (K = 39,04) der- artige Wiederholungspunkte; auf jedes dieſer Alkalimetalle folgt ein Erdalkali— metall (Beryllium, Be — 9,3, Magne— ſium, Mg 23,94, Calcium, Ca = 39,9) und auf dieſe Erdalkalimetalle fol— gen dann wieder Elemente, die einander ähnlich ſind und ähnliche Differenzen der Atomgewichte zeigen. Bricht man die Reihe bei Elementen ähnlicher Natur ab, ſo erhält man eine Anzahl von kürzeren Reihen, welche ſich ſo neben einander ſtellen laſſen, daß in den Horizontal— reihen die Elemente nach der Größe der Atomgewichte auf einander folgen, wäh— rend in den Vertikalreihen die chemiſch ähnlichen Elemente, nach natürlichen Fa— milien geordnet, zuſammenſtehen. In der folgenden Tabelle iſt dies mit 58 Ele— menten, deren Atomgewichte bis jetzt feſt beſtimmt wurden, außerdem mit 6 Ele— menten geſchehen, deren Atomgewichte vermutungsweiſe angenommen werden. Um eine richtige Gruppirung zu ermög— lichen, ſind einige Elemente, deren Atom— gewicht als noch nicht ſicher beſtimmt gelten darf, umgeſtellt worden: Tellur vor Jod, Osmium vor Iridium und Platin und dieſe wieder vor Gold. Vergleicht man die Glieder einer Ver— tikalreihe mit einander, ſo bemerkt man, daß dieſelben in ſehr ungleichem Grade ſich ähnlich ſind. Gewöhnlich ſind in einer 7—8 Elemente umfaſſenden Gruppe 4—5 näher mit einander verwandt als die übri— gen, welche dann unter ſich wieder Ahn— lichkeit zeigen. So bilden die 5 Alkali— metalle Lithium, Natrium, Kalium, Ru— bidium und Cäſium eine engere Gruppe, während die drei Schwermetalle Kupfer, Silber, Gold unter ſich wieder in manchen . Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. Li 7,01 0,59 11,9 Na 22,99 0,97 23,7 K 39,04 0,86 45,4 Cu 63,3 8,8 22 Rb 99,2 1,52 56,1 Ag 107,66 Au 196,2 19,3 10,2 Be? 9,3 2,1 4,4 Mg 23,94 1,74 13,8 | Ca 39,90 257 25,4 Zn 64,9 71,15 9,1 Sr 81,2 2,50 | 34,9 Cd 111,6 8,65 12,9 BIC | NINO 1150 V (Diam.), 41 3,6 | — — e 8 „3 28 30,96 31,98 2,56 2,49 2,3 2,04 10% 11% 13, 157 nee — 48 51,2 | 52,4 „„ ns 2, Ga 2 As | Se ber 4 78 5,96 — 5,67 4,6 i 1 6169 1 Zr Nb Mo 89,6 90 94 95,8 415 6% “DT 119,0 1 In | Sn | Sb Te 113,4 117,3 122 1232 7,42 7,29 6,7 6,25 15,3 16,1 18,2 20,8 Ce | La Di 13.101391 ,.147 Er Ta Wo 170,6 — 1382 | 184 — — 10,8 19,3 an Pe 16,9 9,6 TI PD Bi 203,6 206,4 210 — 11,86 11,830 9,82 — FF III, | U 2339 240 — 7,7 — 18,3 — 30,4 — 13,1 F 1,7 101 15,06 19 — er 35,37 — 1538 — (flüssig) | Mn | Fe 54,3 55,9 8,0 7,8 6,9 762 Br r N (flüssig) ? Ru — 103, l — 9,2 J 126,53 — 4985 — 25,6 — 0s 199,6 i — 9,3 107 Co Ni 38,6 33,60 SH. 88 69 6, 7 Rh Pd 104, 106,2 12,1 11,5 86.109 Jr Pt 196,7 196,7 21,15|21,15 93 9,3 108 Eigenſchaften übereinſtimmen, mit jenen aber nur in einzelnen Punkten, beſon— ders im Iſomorphismus mancher Ver— bindungen und in dem Vermögen, ſich mit einem einzigen Atom eines Salzbildners zu vereinen, übereinkommen. In den Hori— zontalreihen trifft man von Element zu Ele— ment einen bald mehr, bald wenigerſchroffen Wechſel in den Eigenſchaften, bei genauerer Unterſuchung aber zeigt ſich derſelbe eben— falls durch ein Geſetz beherrſcht und ab— hängig von der Größe der Atomgewichte. Recht deutlich tritt dies bei Vergleichung der Atomvolumina der Elemente her— vor. Man kann zwar das Atomvolumen, d. h. den Raum, welchen die Maſſe des Atoms erfüllt, nicht nach abſolutem Maß meſſen, wohl aber nach einer relativen Maßeinheit, indem man die Räume ver— gleicht, welche von den Atomgewichten proportionalen Maſſen der verſchiedenen Elemente erfüllt werden. Nimmt man zur Einheit des ſpezifiſchen Gewichts das Waſſer und zur Einheit des Volumens den Raum, welcher von der Gewichts— einheit des Waſſers eingenommen wird, fo ergiebt ſich das Atomvolumen durch Diviſion des ſpecifiſchen Gewichts d in Schon früher hatte man beobachtet, daß ähn— liche Elemente ein gleiches oder nahezu gleiches Atomvolum beſitzen, daß dasſelbe bei andern mit dem Atomgewicht wächſt; zu tieferem Verſtändnis gelangte man aber erſt, als Lothar Meyer das Atomvo— lum als periodiſche Funktion der Atom— gewichte erklärte. In der nach der Größe der Atomgewichte geordneten Reihe der Elemente nimmt das Atomvolumen pe— riodiſch und allmählich ab und zu und in A das Atomgewicht A: V = na: Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. einer graphiſchen Darſtellung, in welcher man die Atomgewichte als Abſeiſſen und die entſprechende Atomvolumina als Or— dinaten einträgt, erhält man durch Ver— bindung der Endpunkte der letzteren eine Kurve, welche durch 5 Maxima in 6 Ab— ſchnitte zerlegt wird und aus deren Ver— lauf man ſofort erkennt, daß die Atom— volumina wie auch andere phyſikaliſche und chemiſche Eigenſchaften eine periodi— ſche Funktion der Größe ihres Atomge— wichtes ſind. An allen entſprechenden Stel— len der einander ähnlichen Kurvenſtücke ſtehen auch Elemente mit ähnlichen Eigen— ſchaften. Die Maxima der Kurve werden durch leichte, die drei letzten Maxima durch ſchwere Metalle gebildet; beſonders beachtenswert iſt aber, daß auch bei glei— chem oder nahezu gleichem Atomvolumen die Eigenſchaften ſehr verſchieden ſind, je nachdem das Element auf ſteigendem oder fallendem Kurvenaſt liegt, je nach— dem ihm alſo ein kleineres oder größe— res Atomvolumen zukommt als dem Ele— ment mit nächſt größerem Atomgewicht. Dehnbarkeit zeigen die Elemente, wel— che in einem Maximum oder Minimum der Kurve liegen oder unmittelbar auf ein ſolches folgen; alle leicht flüſſi— gen, flüchtigen und gasförmigen Elemente befinden ſich auf den aufſtei— genden Kurvenäſten, die ſtrengflüſſigen im oder nahe am Minimum oder auf den abſteigenden Aſten. Jedes Element, das ein größeres Atomvolumen beſitzt, als das ihm unmittelbar mit nächſt klei— nerem Atomgewicht vorhergehende, iſt leichtflüſſig und flüchtig, ſeine Molekeln laſſen ſich leicht von einander trennen. Umgekehrt iſt ſtrengflüſſig und ſchwer— flüchtig jedes Element, deſſen Atom— 0 _ 12 Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. volumen kleiner oder doch nicht größer iſt als das des vorhergehenden Elements mit nächſt kleinerem Atomgewicht. Wor— auf dieſe Beziehungen beruhen, iſt bis jetzt nicht näher anzugeben. Die beſprochenen Eigenſchaften der Elemente ſtehen in nahem Zuſammenhang mit dem innern Gefüge der Maſſe, be— ſonders mit der Kriſtallform und der Ausdehnung durch die Wärme, und es zeigt ſich, daß die im oder nahe am Maximum befindlichen Elemente faſt durch— weg regulär kriſtalliſiren, während die auf ſteigender Kurve liegenden flüchtigen mehr oder weniger ſpröden Elemente nicht regulär kriſtalliſiren. Ferner beſitzen die letzten Elemente faſt ausnahmslos zwi— ſchen O0 und 1009 einen größeren Aus— dehnungsfoeffizienten als die am Mini— mum ſtehenden ſtrengflüſſigen. Auch für die Brechung des Lichtes durch die Ele— mente, die Leitungsfähigkeit für Wärme und Elektrizität, ſowie für die ſpezifiſche Wärme ſind Beziehungen zur Größe des Atomgewichts nachweisbar. Nicht minder als die phyſikaliſchen 109 zeigen ſich nun aber auch die chemiſchen Eigenſchaften der Elemente als pe— riodiſche Funktionen der Atomgewichte. So wechſelt das elektrochemiſche Ver— halten regelmäßig in der Weiſe, daß die Elemente auf fallender Kurve poſitiv, auf ſteigender negativ elektriſch ſind. Ver— gleicht man die auf verſchiedenen, einan— der entſprechenden Kurvenſtücken ſtehen— den Elemente mit einander, ſo zeigen ſich die poſitiven und negativen Eigenſchaf— ten ſehr verſchieden ſtark ausgeprägt. Be— ſonders fällt auf, daß in der Nähe der Minima des Atomvolumens die chemi— ſchen Gegenſätze ſehr gemildert ſind, wäh— rend ſie in der Nähe der Maxima ſchroff hervortreten. Eine Anhäufung von viel Maſſe in wenig Raum ſcheint alſo der Entwickelung eines ausgeprägt poſitiven oder negativen chemiſchen Charakters nicht günſtig zu ſein. Schärfer läßt ſich die Abhängigkeit des chemiſchen Wertes in ſeiner Abhängigkeit von der Größe des Atomgewichts verfolgen. So bilden die Anfangsglieder der Hauptgruppe folgende Verbindungen mit Chlor oder Waſſerſtoff: einwertig zweiwertig dreiwertig vierwertig dreiwertig zweiwertig einwertig LiCl Be Cl. BC], CH, NH, OH, FH NaCl Mg Cl. , E. PH, SH, CH Der chemiſche Wert fteigt alſo allmählich von 1 auf 4 und nimmt dann ebenſo regelmäßig wieder ab. Ag C! | cacı, Die größte Regelmäßigkeit zeigt ſich jedoch in der Zuſammenſetzung der Oxyde, Hydroxyde und Hydride oder, da die letz— teren wenig zahlreich ſind, in deren ent— ſprechenden Methylverbindungen oder Me— thiden, die ein den Hydriden ganz ana— loges Verhalten zeigen: Ahnliches findet ſich in andern Reihen: InCl,; | Sncl, | SbH, | De. JH Oxyde Hydroxyde Hydride | Methide Na,0 | Na0M)| — | Na(CH,) Mg,0, Mg(OH,| — | Mg(CH,), Al,0, Al(OH) ], — AI(CH,), Si,0, Si(OH), SiH, Si(CH,), PO | Po(oH), PH, | P(CH,), 8,0, |‚S0,(OH), SH, S(CH,), C1,0, ‚CIO,(0H)) CIH CI(CH,) 110 Um die Regelmäßigkeit hervortreten zu laſſen, find ohne Berückſichtigung der Mo— lekulargewichte alle Formeln in über— einſtimmender Weiſe geſchrieben worden. Im Allgemeinen wächſt, wie man ſieht, in der nach der Größe der Atomgewichte geordneten Reihe der Elemente die Quan— tität Sauerſtoff, welcher von einem Atom eines anderen Elements gebunden wird, von Glied zu Glied um ein halbes Atom, jedoch nie weiter als bis zu 4 Atomen, worauf ſie wieder plötzlich auf ein hal— bes Atom zurückſinkt. Ganz verſchieden aber vom Sauerſtoff verhalten ſich, wie die Tabelle zeigt, der Waſſerſtoff und die einwertigen Radikale. Auf Grund die— ſer Regelmäßigkeit kann man ausſprechen: Der chemiſche Wert der Elemente, wie er ſich aus der Zuſammenſetzung ihrer Ver— bindungen ergiebt, iſt ebenfalls eine pe— riodiſche Funktion des Atomgewichts. Seine Perioden fallen mit den Perioden des allgemeinen chemiſchen Charakters nahe zuſammen; bis zum Kalium fällt je eine derſelben und von da ab je zwei auf eine Periode des Atomvolumens. Die angegebenen Beziehungen zwi— ſchen den Eigenſchaften der Elemente und den Atomgewichten ſind, wenn uns auch das allgemeine Geſetz, welches dieſelben be— herrſcht, noch unbekannt iſt, für eine Syſte— matik der Elemente von hohem Wert. Sie haben außerdem Anregung zu neuen Atomgewichtsbeſtimmungen gegeben und dadurch die Berichtigung mancher älteren, ungenauen Angabe herbeigeführt. So hatte, um nur ein Beiſpiel anzuführen, Bunſen das Atomgewicht des Cäſiums an der zuerſt dargeſtellten, ſehr geringen Quantität dieſes ſeltenen Elements vor— läufig zu 123,4 beſtimmt. Dieſe Zahl | Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. ſtört aber die Regelmäßigkeit der Dif— ferenzen zwiſchen den Atomgewichten der Alkalimetalle. Differenz: 15,98 16,05 46,16 38,20 Lithium 7,01 Natrium 22,99 Kalium 39,04 Rubidium 85,20 Cäſium 123,40 Daraufhin hat Johnſon und Al— len das Atomgewicht des Cäſiums noch einmal beſtimmt und — 132,7 gefun⸗ den, welche Zahl gleich darauf auch von Bunſen beſtätigt wurde. Hierdurch aber ergiebt ſich eine Differenz von 47,5 ge— gen Rubidium und damit die vorauszu— ſetzende Regelmäßigkeit. Bei Betrachtung der obigen Tabelle fal- len Lücken auf, welche durch die bekannten Elemente nicht auszufüllen ſind. Nach Men— delejeff fehlen hier Elemente, welche noch zu entdecken ſind, und nach der Stellung, welche ihnen das Syſtem von vornherein anweiſt, laſſen ſich ihre Eigenſchaften im Voraus beſtimmen. Mendelejeff führte dieſe Beſtimmungen aus und gab z. B. an, daß ein Element (von ihm proviſo— riſch Ekaaluminium genannt) zu ent— decken ſei, deſſen Atomgewicht etwa 68, deſſen ſpezifiſches Gewicht etwa 6 und deſſen Atomvolumen annähernd 11,5 be— trage. Hier haben wir alſo denſelben Fall wie in der Aſtronomie, wo Leverrier durch Rechnung auf die Exiſtenz eines bis dahin nicht beobachteten Planeten ſchloß und genau angab, zu welcher Zeit derſelbe an einem beſtimmten Ort er— ſcheinen werde. Und ſo wie Galle Le— verriers Rechnungen durch Auffindung des Planeten Neptun glänzend beſtätigte, fo fand auch Lecoq de Boisbaudran das Gallium, deſſen Atomgewicht 69,8, — Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. deſſen ſpezifiſches Gewicht 5,9 und deſſen Atomvolumen 11,8 beträgt. Auch in einem zweiten Falle ſcheint ſich die Vorherſage Mendelejeffs zu beſtätigen, indem Cleve das von Nilſon entdeckte Scan— dium für Mendelejeffs Ekabor hält und angiebt, daß die an dieſem neuen Element aufgefundenen Eigenſchaften ſehr gut mit den von Mendelejeff gefor— derten übereinſtimmen. „Die Vorausbe— ſtimmung der Eigenſchaften der noch feh— lenden Elemente,“ ſagt Lothar Meyer, „iſt jedenfalls eine der reizvollſten, aber auch ſchwierigſten Aufgaben der chemi— ſchen Wiſſenſchaft. Sie entbehrt nicht ganz der Ahnlichkeit mit der Vorausbe— rechnung eines noch unentdeckten Plane— ten. Iſt aber auch die Aufgabe der des Aſtronomen nicht unähnlich, ſo dürfen wir darum nicht überſehen, daß die Hülfs— mittel zu ihrer Löſung, über welche die Chemie gebietet, zur Zeit noch ſehr viel ſchwächer und unzuverläſſiger ſind als die von dem einheitlichen Prinzip des Newtonſchen Gravitationsgeſetzes aus— gehenden, von Maß und Zahl getrage— nen Theorien der Aſtronomie. Sind wir uns aber der Schwäche unſerer Waffen bewußt, ſo wird es immerhin erlaubt ſein, unſere Kräfte dadurch zu erproben, daß wir die Eigenſchaften der noch un— entdeckten Elemente nach möglichſter Wahr— ſcheinlichkeit vorausbeſtimmen, um ſie ſpä— ter vielleicht mit den wirklich beobachte— ten vergleichen und danach den Wert oder Unwert unſerer theoretiſchen Spe⸗ kulationen beurteilen zu können.“ Keinem Zweifel kann es unterliegen, daß die auf die Atomgewichtszahlen ba— ſirte Syſtematik der Elemente die Grund— lage einer künftigen vergleichenden Af— 111 finitätslehre ſein und bleiben wird; die Unterſuchungen über die Beziehungen der Atomgewichte zu einander deuten aber noch auf ein ferneres Ziel, welches ſeit langer Zeit geahnt, ſich immer ſchärfer zu zeigen beginnt, nämlich die Erkennt— nis der Natur der Elemente. An— geſichts der oben vorgeführten Thatſachen wird man ſich kaum noch der Vorſtel— lung verſchließen können, daß wie die Moleküle aus Atomen, ſo die Atome aus Einheiten höheren Grades beſtehen, daß die Elemente in der That nicht chemiſch einfache, ſondern zuſammengeſetzte Kör— per ſind. In dieſer Hinſicht liegen mehrere Hypotheſen vor. So glaubt, um nur eine derſelben anzuführen, Zängerle aus den beobachteten Regelmäßigkeiten innerhalb einer natürlichen Gruppe ſchlie— ßen zu dürfen, daß die zu einer ſolchen gehörenden Elemente Kombinationen dreier Urelemente ſind, und daß ſich demnach das Atomgewicht irgend eines chemiſchen Elementes durch die Formel bDA+cE-+dI ausdrücken laſſe, wo b, c, d die Anzahl, A, E, I die Gewichte der Atome der Urelemente bedeuten. Wichtiger erſcheinen augenblicklich die Experimentalunterſuchungen, welche auf das Zuſammengeſetztſein der Elemente hin— deuten. In dieſer Hinſicht iſt Lockyer durch ſpektralanalytiſche Arbeiten zu weit— gehenden Schlüſſen gelangt“) und Fleck hat, ebenfalls auf ſpektroſkopiſche Ver— ſuche geſtützt, die Vermutung ausgeſpro— chen, daß das Calcium kein elementarer Körper ſei. Dieſer Anſicht iſt Cappell beigetreten, da er fand, daß die Licht— ſtärke, welche die blaue 8-Linie des Cal— ciumſpektrums im Induktionsfunken zeigt, ) Vgl. Kosmos, Bd. VI. S. 219 u. fgde. 112 Otto Dammer, Das Syſtem der chemiſchen Elemente. für die in der Natur vorkommenden Geſteine und Kriſtalle des Caleits unter weſent— lich gleichen Bedingungen des Experimen— tes beträchtlichen Differenzen unterworfen iſt. Die d-Linie ſcheint für ſich allein einen elementaren Körper zu repräſenti— ren, der ſich in den Calcium enthalten— den Körpern in ſehr verſchiedener Menge findet. „Was aber von dieſer Linie gilt, wird notwendiger Weiſe auch von den andern Linien des Calciums gelten müſ— ſen, da die abnehmende Lichtſtärke der einen notwendig die Zunahme der Licht— ſtärke bei andern Linien bedingt. Ver— allgemeinert man dieſe Schlüſſe auf alle Körper und giebt die Annahme ihrer für elementar gehaltenen Beſchaffenheit auf, ſo erſcheint es am natürlichſten, anzu— nehmen, daß die wahre Zahl der Ele— mente ſo groß iſt wie diejenige der me— präſentirt wird.“ Die hier wiedergege— bene Anſicht dürfte wohl einer Modifi— cirung bedürfen, an dieſer Stelle aber genügt es, die thatſächlichen Ergebniſſe der Unterſuchung vorgeführt zu haben. Zu ähnlichen Reſultaten ſind, wie früher in dieſen Blättern (Bd. VI. S. 59) mitgeteilt wurde, Victor Meyer hin— ſichtlich des Chlors und Groß hinſichtlich des Schwefels gelangt, und der Glaube an die Einfachheit unſrer ſogenannten Elemente iſt ſo gründlich erſchüttert, daß Raoul Pictet in Genf ſoeben mit po— ſitiven Vorſchlägen hervorgetreten iſt, die das Ziel verfolgen, koloſſale paraboliſche Hohlſpiegel zu konſtruiren, um mit ihrer Hülfe zunächſt die ſogenannten Metalloide, dann die Metalle in ihre Beſtandteile zu zerſetzen. Man darf auf den Erfolg dieſer Verſuche um ſo mehr geſpannt ſein, talliſchen Linien und daß jeder Körper | als ein pofitives Ergebnis keineswegs mit in ſeinem elementaren Zuſtande durch | Sicherheit zu erwarten iſt. eine und zwar nur durch eine Linie re- en Der Schlaf und die Träume, J. Delboeuf, Profeſſor an der Univerſität Lüttich. der Glaube im allgemeinen, und der Glaube an eine äußere Wirklickkeit im befondern ? einer Gewohnheit. Kraft einer Gewohnheit legen wir dem 5 durch den Spiegel zurückge— worfenen Bilde ein körperliches Weſen bei, kraft einer Gewohnheit glaubt der Hallueinirende an die Wirklichkeit feiner Viſionen. Es giebt etwas außer mir, es giebt ein Nicht-Ich — das iſt das erſte be— wußte, von dem empfindenden Weſen gefällte Urteil. Und von dem Tage, an welchem es dieſes Urteil gefällt hat, da— tirt ſeine erſte Wahrnehmung: es unter— ſcheidet ſich von den Dingen der Um— gebung und lernt ſie kennen. 1. Auf welchem Grunde rulit Ihre Beziehungen zu der Theorie von der Gewißheit. Durch eine ſpätere Erfahrung ſtellt es feſt, daß das empfindende, innere Ich einer äußeren Hülle verbunden iſt, welche es nach Art einer fremden und unab⸗ 5 hängigen Sache wahrnimmt: hier liegt nn har eder Glaube iſt das Ergebnis der Urſprung des Gegenſatzes, welchen das Bewußtſein zwiſchen Seele und Kör— per aufſtellt. Für jedes empfindende We— ſen iſt der eigene Körper ein Objekt der Wahrnehmung. Für den Augenblick habe ich nicht nötig, mich weiter über dieſe Präliminar— feſtſtellungen zu verbreiten, da ich es mit hinreichend ausführlichen Entwicklungen in einer andern Abhandlung?) gethan und darauf ſpäter zurückzukommen habe. Jede Wahrnehmung (perception) iſt im ſtande, ganz oder zum Teil in den Zu— ſtand der Vorſtellung (conception) über— *) La Psychologie comme science naturelle. Paris et Bruxelles. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 114 zugehen. Seit lange haben die Phyſio— logen Wahrnehmung und Vorſtellung un— terſchieden. Die Wahrnehmung iſt das Bild eines äußern Gegenſtandes, wie es ſich in unſerm Geiſte unter der direkten und gegenwärtigen Einwirkung dieſes Ge— genſtandes bildet. Die Wahrnehmung iſt immer begrenzt. So erhalte ich den Ge— ſichtseindruck eines Pferdes oder den Ge— fühlseindruck einer Stecknadel, wenn das Pferd gegenwärtig auf mein Auge oder die Nadel auf mein Taſtgefühl wirkend, in mir die Idee von dieſem Pferde oder von dieſer Nadel, als äußere und auf meine Empfindung wirkende Urſache, ent— ſtehen läßt. Ein anderes iſt das Bild eines früher aufgenommenen Gegenſtandes, das in Ab— weſenheit deſſelben, oder wenigſtens außer— halb des Bereiches ſeiner unmittelbaren Einwirkung in meinem Geiſte hervorge— rufen wird. Derart iſt die Idee, die ich von einem Pferde oder einer Nadel habe, die ich nicht ſehe, oder welche ich in dem Augenblick, wo ich dieſe Idee habe, nicht empfinde. Das ſo hervorgebrachte Bild iſt ein Erinnerungsbild. Neben dieſe Bilder, deren Gegen— ſtand nicht mehr gegenwärtig iſt, ordnen ſich naturgemäß und notwendig die Ein— bildungen ein, welche nicht einem wirk— lichen Gegenſtande entſprechen und das Erzeugnis der abſichtlichen oder unab— ſichtlichen Verbindungen der in den Zu— ſtand von Erinnerungsbildern überge— gangenen Eindrücke ſind. Derart ſind die Ideen, die ich mir von einem Centauren, einer Chimäre oder einem Baume in Menſchengeſtalt mache. In denſelben Rang mit dieſen Einbildungen, welche man phan— taſtiſche nennen kann, muß man ferner | J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. diejenigen ſtellen, welche man als natur— wiſſenſchaftliche, hiſtoriſche, künſtleriſche u. ſ. w. klaſſifiziren könnte. So iſt man dahin gelangt, ſich die Fauna und Flora der Urepochen vorzuſtellen, ſo macht man ſich Ideen von Ländern, welche man nie beſucht hat; ſo giebt man dem Homer, Moſes, Confucius, Alexander, Cäſar beſtimmte Geſichtsformen, und ſo haben die Griechen in unvergänglichem Marmor die Züge aller ihrer Götter und aller ihrer Heroen fixirt. Die Erinnerungs- und Phantaſiebil— der ſind Vorſtellungen. Allerdings be— ſchränken ſich unſere Vorſtellungen nicht auf materielle Bilder. Dank der Sprache, mit der er begabt iſt, treibt der Menſch das Vermögen der Abſtraktion bis zu einem ſehr hohen Grade und gelangt dahin, ſich die einer körperlichen Dar— ſtellung unzugänglichen Dinge vorzuſtellen, wie z. B. die Tugend, die Pflicht, die Güte, die Kraft. Da wir in dem Fol— genden nur ſelten benötigt ſein werden, von dieſer berechtigten Ausdehnung der Bedeutung des Wortes „Vorſtellung“ Gebrauch zu machen, ſo wird es uns bei— nahe ausſchließlich dazu dienen, um die Bil— der zu bezeichnen, welche die Frucht einer direkten Auffaſſung geweſen ſind, oder wie dieſe entſtanden ſind. Ich habe nie— mals die direkte Auffaſſung eines Cen— tauren oder Cäſars haben können, aber dank den Büchern und den künſtleriſchen Darſtellungen machen ſie mir die Wir— kung, als wären ſie der Gegenſtand einer ſolchen, oder könnten es geweſen ſein. Die Wahrnehmungen ſind immer le— bendig (actuell). Die Vorſtellungen kön— nen lebendig oder ſchlummernd (potentiell) ſein. Die Vorſtellung iſt lebendig, wenn — A Her en EEE pe Fe ig fie dem Geiſte ſichtbar iſt, den Gegen— ſtand der Aufmerkſamkeit bildet, einen ſie im Augenblicke nicht den Gegenſtand des inneren Sehens ausmacht. Man darf dieſes ſchlummernde Vermögen nicht mit der Potentialität verwechſeln, wie ſie Ariſtoteles verſteht. Für ihn würde eine beſtimmte Vorſtellung, welche noch nicht gebildet wäre, aber es ſein könnte, potentialiter vorhanden ſein; während eine ſchlummernde Vorſtellung eine ſolche iſt, welche wenigſtens ſchon einmal unter der Form des Sinneseindrucks oder der Wahr— nehmung Daſein gewonnen hatte. Ich habe nicht fortwährend mein ganzes Wiſ— ſen, alle meine Erinnerungen, alle meine Ideen gegenwärtig. Nur ein Teil, ein unendlich geringer Teil dieſes Wiſſens kann jedesmal in einem gegebenen Augen— blick Gegenſtand eines Bewußtſeins-Aktes ſein, der Reſt bleibt in der Dunkelheit der Bewußtloſigkeit verſenkt, und ſtellt das potentielle Wiſſen Strickers dar. Nach den Bedürfniſſen des Moments tau— chen die Elemente des potentiellen Wiſ— ſens an das Tageslicht empor, indem ſie diejenigen in den Schatten zurückdrängen, welche ſich einen Augenblick vorher im vollen Lichte befanden. Solcherart iſt das beſtändige Spiel des Geiſteslebens. Der Kürze halber werde ich unter Vorſtellungen, wenn ich ſie nicht ſpeziell als ſchlummernde bezeichne, nur die le— bendigen verſtehen. Die reale oder fiktive Vorſtellung hat, allgemein geſprochen, ihrem Charakter ge— mäß, ihren Urſprung in einem vorher— gegangenen Sinneseindruck. Ich kann mir weder Pferd, noch Centaur vorſtellen, J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 115 wenn ich noch kein Pferd geſehen habe. Teil des Bewußtſeinszuſtandes ausmacht. Sie iſt im Gegenteil ſchlummernd, wenn Aber von dem Augenblicke, wo ich den Eindruck eines Pferdes erhalten habe, werde ich davon in ungeſchwächter Weiſe — tauſend Thatſachen beweiſen das — die potentielle Vorſtellung bewahren, ob— wohl es geſchehen kann, daß die Gelegen— heit niemals kommt, dieſe Vorſtellung aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit zu rufen. Das iſt für den Augenblick ganz gleichgültig. Aber hier trifft man auf eine Be— merkung von der höchſten Wichtigkeit, nämlich, daß die lebendige Vorſtellung nicht möglich iſt, ſo lange der Gegen— ſtand auf unſre Sinne wirkt. Mit einem Worte, die Wahrnehmung und die Vor— ſtellung eines und deſſelben Gegenſtandes können im Bewußtſein nicht gleichzeitig exiſtiren: die erſtere löſcht vollſtändig die letztere aus. Die Wirklichkeit nimmt uns eiferſüchtiger Weiſe ganz in Beſchlag; die geſammte Gedankenwelt verſchwindet vor ihr wie die Sterne vor der Sonne. Dieſe Erfahrung iſt unſchwer zu ma— chen. Man verſuche ſich lebhaft ein be— kanntes Gemälde vorzuſtellen. Die Sache iſt leicht, wenn man die Augen ſchließt, das Bild wird ſelbſt einen bis zur Illuſion gehenden Glanz gewinnen. Ein Maler kann ein Porträt aus dem Ge— dächtnis zeichnen. Wenn man die Augen weit geöffnet hat, wird die dazu erfor— derliche Anſtrengung ſchon unbequemer ſein, man muß ſozuſagen durch die Kraft des Willens ihre Sehkraft unterdrücken, ſie im Angeſicht der Dinge, welche ihre Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen könnten, mit Blindheit ſchlagen. Aber wenn man ſeine Blicke auf einen beſtimmten Gegen— ſtand, z. B. einen Kupferſtich fixirt, ſo N 116 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. wird es beinahe unmöglich ſein, das in dete Gewißheit ſchwierig, wenn nicht un— Gedanken vorgeſtellte Gemälde zu ſehen. Aber ganz ſicher wird man am wenigſten dazu gelangen, wenn man das Gemälde ſelbſt vor ſich hat und es betrachtet. Ein anderes Beiſpiel. Jeder verſteht es, mehr oder weniger gut im Geiſte eine bekannte Melodie zu ſingen. Ge— räuſch legt der Ausübung dieſer Fähig— keit gewiſſe Schwierigkeiten in den Weg, aber eine verſchiedene Melodie, welche ſich in der Nachbarſchaft hören läßt, ſtört ſie noch mehr und um ſo ſtärker, je mehr ſie ſich durch Bewegung und Rhythmus der gewählten nähert. Sind endlich die beiden Geſänge gleich, ſo iſt jeder Ver— ſuch, die inneren Noten zu hören, abſolut vergeblich. Der Glaube an das Daſein des wahrgenommenen Objekts drängt ſich uns auf. Descartes hat geſagt: „Ich denke, darum bin ich;“ er würde mit ebenſoviel Grund haben hinzufügen können: ich mache Wahrnehmungen, alſo giebt es ein wahrgenommenes Objekt. Ich wieder— hole es: Selbſtbewußtſein haben iſt, exak— ter ausgedrückt, Bewußtſein des Nichtſelbſt. Ohne Zweifel, der Glaube an unſre eigenen Empfindungen iſt logiſch das erſte und dient jeder Art von Glauben als abſolutes Modell, aber der Glaube an eine äußere Wirklichkeit, welcher Art ſie auch ſein möge, iſt ihm an Intenſität gleich. Ebenſo ſicher wie ich weiß, daß ich exiſtire, weiß ich auch, daß ich nicht alles bin, was exiſtirt. Wenn die Empfindung der Wirk— lichkeit ſich ſchwächt, verdunkelt ſich die— jenige des Ich's in gleichem Maße. Es iſt dies dasjenige, was im Traume, in der Trunkenheit, im Wahnſinn ſtattfin— det. In dieſem Fall wird eine begrün— möglich zu erhalten ſein. Der Grund alles Glaubens iſt alſo das Gefühl einer äußern, auf unſre Sinne einwirkenden Realität, und dieſes Gefühl iſt die Frucht einer Gewohnheit, welche das Individuum von ſeinen Ahnen er— erbt und ſeitdem nicht aufgehört hat, durch ſeine eigene Erfahrung zu ver— ſtärken. 2. Warum glaubt man im Wachen nicht an die Realität feiner Träumereien, und warum glaubt man im Traume daran? Hinſichtlich ihrer weſentlichen phyſio— logiſchen Kennzeichen weicht die Vorſtel— lung mithin nicht von der Wahrnehmung ab. Der Unterſchied zwiſchen beiden be— ruht auf einem äußeren Umſtand, der Gegenwart oder Abweſenheit des Objekts derſelben. Nun erfaſſe ich das Objekt nur durch das Zwiſchenglied meines Em— pfindungsvermögens, wie kann ich alſo erkennen, ob eine Vorſtellung nicht eine Wahrnehmung iſt? Oder ferner: Wodurch kann ich mich vergewiſſern, daß eine Wahr— nehmung nicht eine Vorſtellung iſt, und daß ein wirklicher Gegenſtand da iſt, dem ſie entſpricht? Liegt darin nicht eine ma— terielle Unmöglichkeit? Eine der Perſonen von Daudets „Nabob“ giebt mir eine ausgezeichnete An— knüpfung, um auf dieſe Frage zu ant— worten: „Herr Joyeuſe war ein Mann von fruchtbarer, erſtaunlicher Ein— bildungskraft. Die Ideen wirbelten bei ihm mit der Geſchwindigkeit der Spreu— hülſen im Umkreiſe eines Siebes. Im Bureau hielt ihn noch die Beſchäftigung e J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. mit den Zahlen durch ihren poſitiven Charakter feſt; aber draußen entſchädigte ſich ſein Geiſt für dieſes unbarmherzige wöhnung an einen Weg, deſſen geringſte Eigenheiten er kannte, gaben den Fähig— keiten ſeiner Einbildungskraft vollkommene Freiheit. Er erfand dann außerordent— liche Abenteuer, hinreichend, um zwanzig Roman-⸗Feuilletons zu füllen. „So zum Beiſpiel erblickte Herr Joyeuſe, indem er auf dem rechten Trot— toir — er wählte immer dieſes — zum Faubourg Saint-Honors hinaufſtieg, einen ſchweren Wäſcherin-Karren, der im ſchnel— len Trab dahinging, geführt von einer Frau, deren auf einem Wäſchebündel ſitzendes Kind ein wenig überneigte. „Das Kind!“ ſchrie der erſchreckte Bonhomme, „geben Sie Acht auf das Kind!“ „Seine Stimme verlor ſich im Stra— ßenlärm und ſein Mahnruf im Dunkel der Vorſehung. Die Karre fuhr vor— über; einen Augenblick verfolgte er ſie mit dem Auge, und ging dann ſeines Wegs; aber das in ſeinem Geiſte an— geſponnene Drama fuhr fort, ſich mit tauſend Umwegen zu entwickeln. . . . . . Das Kind war geſtürzt. . . ... Die Rä⸗ der mußten ſogleich darüber hinweggehen. .. Herr Joyeuſe ſprang vor, rettete das kleine, dem Tode ganz nahe Weſen, allein die Deichſel traf ihn mitten in die Bruſt und er fiel in ſeinem Blut gebadet nie— der. Darauf ſah er ſich inmitten der angeſammelten Volksmenge zum Apothe— ker getragen. Man legte ihn auf eine Tragbahre, um ihn in ſeine Wohnung hin— aufzutragen, dann hörte er plötzlich den herzzerreißenden Schrei ſeiner heißgelieb— 117 ten Töchter, als ſie ihn in dieſem Zu— ſtande erblickten. Und dieſer verzweifelte | Schrei traf ihn bis ins Herz, er vernahm Handwerk. Das Spazierengehen, die Ge mein theurer Papa. .... daß er ihn ſelbſt ihn ſo beſtimmt, ſo tiefgehend: „Papa, zum großen Staunen der Vorübergehen— den auf der Straße ausſtieß, mit einer heiſern Stimme, die ihn aus den Ban— den ſeines erfinderiſchen Alps befreite.“ Der Verfaſſer fügt ein wenig wei— terhin folgende einſichtige Worte hinzu: „Die Raſſe dieſer wachen Träumer, bei denen ein zu beſchränktes Geſchick un— angewendete Kräfte, heroiſche Fähigkei— ten unterdrückt, iſt zahlreicher als man glaubt. Der Traum iſt das Ventil, durch welches alles das mit ſchrecklichem Auf— ſieden verdunſtet, ein Ofenrauch mit bald zerfloſſenen, ſtrömenden Bildern. Aus die— ſen Viſionen gehen die einen ſtrahlend, die andern niedergebeugt und faſſungslos hervor, indem ſie ſich am Boden und immer am Boden wiederfinden.“ “) Wer von uns iſt nicht jezuweilen dieſer durch den berühmten Erzähler ſo wohl beſchriebene wache Träumer gewe— ſen? Wo wäre eine Literatur, die ſich nicht dieſes Typus bemächtigt hätte, dem man auf dem Theater und bis zu den Fabeln herab begegnet? War es nicht aus Indien, von wo uns durch eine Reihe allmählicher Umbildungen dieſe köſt— liche Perrette zukam, welche in einem Freu— denrauſch den Milchtopf, in welchem ſie ein ganzes Vermögen ſah, hinwirft? Je— dermann kennt die geiſtvollen Commentare des Poeten auswendig: Quel esprit ne bat la campagne? Qui ne fait chäteaux en Espagne Picrochole, Pyrrhus, la laitière, enfin tous, *) Le Nabab. Ch. V. La famille Joyeuse. 118 Autant les sages que les fous. Chacun songe en veillant; il n’est rien de plus doux; Une flatteuse erreur emporte alors nos ämes: Tout le bien du monde est à nous, Toutes les honneurs, toutes les femmes. Quand je suis seul, je fais au plus brave un defi; Je m'écarte, je vais detröner le sophi; On m’elit roi, mon peuple m’aime; Les diademes vont sur ma tete pleuvant: Quelque accident fait-il que je rentre en moi-meme, Je suis Gros-Jean comme devant.*) Es iſt alſo ein „accident“, ein Zwi— ſchenfall nötig, um den Träumer wieder zu ſich ſelbſt zu bringen, hier iſt es der unglückſelige Freudenſprung der Milchfrau, dort der von Herrn Joyeuſe ausgeſtoßene Schrei. Aber wie wirkt dieſer Zwiſchen— fall? Offenbar durch den Contraſt. Ich ſuche für den Moment die Thatſache nur feſtzuſtellen, nicht zu erklären. Zwiſchen dem Eindruck, welchen Herr Joyeuſe von den Reden empfing, die er nur in ſeiner Einbildung hörte, und demjenigen, welchen ihm die wirklich von ihm ſelbſt ausgeſprochenen Worte verurſachten, war der Unterſchied ſo markirt, daß er ſich nicht enthalten konnte, ſie auf zwei ent— gegengeſetzte Urſachen zu beziehen, und er ſchloß, daß die Urſache auf der einen Seite eingebildet, auf der andern wirk— lich war. Ebenſo mußte wohl die hüb— ſche Perrette, welche ſoviel Intereſſe an den Sprüngen der Kuh und ihres Kälb— chens nahm, mit traurigem Blicke von allen dieſen eingebildeten Gütern Abſchied Anm. d. Überſetzers. Die Verſe find aus Lafontaines Laitiere. Da aber der deutſche Leſer dieſe Stelle kaum auswendig wiſ— ſen wird, habe ich ſie (ſtatt der vom Verfaſſer zitirten Anfangs- und Schlußverſe) vollſtändig wiedergegeben. "Se EN HERE J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. nehmen, als die unbarmherzige Wirklich— keit ihren Blicken die vergoſſene Milch zeigte. Die Illuſion war nicht mehr mög— lich. Was fehlt nun den Träumereien, um für Träume gehalten zu werden? Sehr wenig, es reicht hin, daß der Träu— mer im Schlafe ſei. Wenn Herr Joyeuſe, anſtatt ſich nach ſeinem Bureau zu be— geben, ſeinen Roman während der Mit— tagsruhe in ſeinem Lehnſtuhl begonnen und ſich unmerklich in den Schlummer hinübergeträumt hätte, ſo wäre die phy— ſiologiſche Erſcheinung nicht verſchieden geweſen. i Der Traum wird alſo durch einen gänzlich phyſiologiſchen Umſtand charak— teriſirt; er erzeugt ſich im Schlafzu— ſtande. Auf dieſe Art gewinnen wir unſrerſeits die Erklärung des Ariſto— teles zurück: „Das durch die Bewe— gung der Sinneseindrücke, während man ſchläft und ſoweit man ſchläft, erzeugte Bild, das iſt der Traum.“ “) Erläutern wir dieſe Erklärung, ſehen wir zu, warum Ariſtoteles, nachdem er geſagt hat: „wenn man ſchläft,“ hin— zuſetzt: „ſoweit man ſchläft.“ „Der Traum“, ſagt er, „iſt nicht jedes Bild, welches uns während des Schlafes erſcheint; denn es paſſirt uns manchmal, daß wir in einer gewiſſen Weiſe Ge— räuſche, Licht, einen Geruch, und eine Berührung empfinden, — ſchwach aller— dings und wie von ferne. So z. B. wird man mitunter im Schlafe einen ſchwachen Lichtſchein undeutlich erblicken, welchen man im Schlafe für den einer Lampe nehmen wird, und bei ſeinem Erwachen wird man erkennen, daß es wirklich das Licht einer Lampe war, und ebenſo wird ) Von den Träumen, Kap. III. 7 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. es mit dem Krähen der Hähne und dem Bellen der Hunde gehen, welches man beim Erwachen wirklich vorfindet. Manch— mal wird man auf Fragen antworten. Dies kommt daher, daß, ebenſo wie das Wachen, der Schlaf nur teilweiſe iſt.“ Dies iſt eine Bemerkung von tiefer Wahrheit. Wie oft paſſirt es mir nicht, gegen die Stunde des Erwachens zum Beiſpiel in einen angenehmen, obwohl voll— kommen bizarren und ganz unwahrſchein— lichen Traum verſenkt zu ſein, und zur ſelben Zeit über meinem Kopfe die Schritte und das Geplauder der ihre Toilette machenden Kinder zu vernehmen, un— ter mir das Gehen und Kommen der Diener, welche den Eßſaal reinigen und den Frühſtückstiſch bereiten? Ich ſchlafe in Bezug auf meinen Traum; ich bin wach für dieſe verſchiedenen Geräuſche, welche die Wiederkehr des Lebens an— zeigen, — Erſcheinungen der nämlichen Art bieten ſich in der Stunde dar, in welcher man ſich anſchickt, einzuſchlafen. Und giebt es nicht ferner, allgemein geſprochen, in dieſen beiden Übergangs— zuſtänden ein ſchrittweiſes Eindringen, ſei es des Wachens in den Schlaf oder des Schlafs in den wachen Zuſtand? Es giebt alſo Augenblicke, wo man nur teil— weiſe wacht oder ſchläft. Der Bediente, den man beauftragt hat, zum Wecken an die Thür zu klopfen, wendet ſich an den Teil der Seele, der bereits hört und die äußern Geräuſche wahrnimmt. Denn wie würde er ohne dies dahin gelangen, uns aufzuwecken? Wie könnte man ihm ant— worten? Nun, obwohl dieſe Wahrnehmung im Schlafe ſtattfindet, iſt ſie ſicherlich kein Traum. Schließen wir denn, und ſparen die Benennung Traum für diejenigen Bilder 119 und Vorſtellungen, welche ſich unſerm Geiſte darbieten, während und ſoweit wir ſchlafen. Darin haben wir ein erſtes und un— terſcheidendes Merkmal des Traumes. Man ſieht mühelos, daß dieſe Definition ſich völlig gegenüber den Hallueinationen eines Irren, den Delirien eines Fieber— kranken, den wollüſtigen Ekſtaſen eines Opiumrauchers, den Tollheiten eines Be— trunkenen bewährt. Der Traum, die Hal— lueination, das Delirium, die Ekſtaſe, die Trunkenheit ſind das, was ſie ſind, und als ſolche charakteriſirt, auf Grund des phyſiologiſchen Zuſtandes der Perſon, bei welcher ſie ſich zeigen. Man ſpricht ohne Zweifel in der gewöhnlichen Rede— weiſe von den Träumen eines Ir— ren; aber in wiſſenſchaftlicher Sprache muß man in derſelben Weiſe, wie der Wahnſinn und der Schlaf zwei verſchie— dene phyſiologiſche Zuſtände ſind, ebenſo die phantaſtiſchen Bilder, welche ſich dem geſunden Menſchen während des Schlafes zeigen, und die chimäriſchen Vorſtellun— gen eines Irren, eines Fiebernden und eines wahren Trunkenboldes von ein— ander unterſcheiden.“ Indeſſen iſt es nötig, der Einſchrän— kung des Ariſtoteles ihr ganzes Ge— wicht zu geben. Erinnern wir uns deſ— ſen, was Stricker ſagt. Ich träume von Räubern und ich habe Furcht; die Briganten exiſtiren nicht, aber meine Furcht iſt vorhanden. Gehört dieſe Furcht meiner Seele, ſoweit ſie ſchläft? Eine Mutter ſieht im Traume ihr einziges Kind in einen Abgrund rollen und es zerreißt ihr Herz. Iſt die Angſt, welche ſie empfindet, nicht eine Wirklichkeit? Der Beweggrund iſt eingebildet, ich gebe es zu, aber wird dadurch die Empfin— 120 dung verändert? Iſt der Schmerz oder das Vergnügen, welche wir bei der Mit— teilung einer falſchen Neuigkeit empfin— den, darum weniger Schmerz oder Ver— gnügen? Ein anderes Beiſpiel. Ich träume, daß ich mit meinen Freunden, die ich eingeladen habe, im Kaffeehauſe bin; ich mache anſtalt, für alle die Zeche zu be— zahlen, und nehme im geheimen die Zu— ſammenrechnung vor. Iſt nun dieſe Ope— ration eine Thätigkeit meines Geiſtes, ſoweit er unter der Herrſchaft des Schla— fes ſteht? Wenn ich, erwacht, denke, daß zwei mal zwei vier machen, wechſelt die— ſes Urteil ſeinen Charakter, wenn ich es im Traume ausdrücke? Iſt dieſe Folge der Ideen, dieſe Anwendung der gram— matikaliſchen Regeln die Thätigkeit des eingeſchlafenen Menſchen? oder ſollten ſie vielleicht ihren Urſprung in einem Teile der Seele haben, welcher niemals ſchläft? Wir haben früher geſehen, daß Spitta dem Gemüt die Eigenſchaft zuerteilte, niemals zu ſchlafen. Man kann, ſcheint mir, das Gebiet der Thätigkeiten, welche ſich der Umnebelung des Schlummers entziehen, noch erweitern. Mit einem Worte, die Gewohnheiten ſchlafen nicht. Der Teil, welcher ſchläft, iſt der— jenige, welcher augenblicklich aufgehört oder beinah aufgehört hat, in Verbin— dung mit der Außenwelt zu ſein. Man muß alſo ſorge tragen, zu unterſcheiden, was der Traum ſelbſt iſt, und was von dem Eindrucke des Traumes herrührt. Noch ein Beiſpiel, um die Aufhel— lung dieſes Punktes zu vollenden. In den letzten Ferien hatte ich meinen Kin— dern verſprochen, mit ihnen eine Tages— erfurfion zu machen. Tags vorher wur— den alle Einrichtungen dafür getroffen. J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. Es mußte mit dem erſten Zuge abge— fahren, dann auf einer beſtimmten Sta— tion ausgeſtiegen und der Weg zu Fuß fortgeſetzt werden. Wir mußten dazu früh aufſtehen. Gegen fünf Uhr morgens kommt die Magd, mir mitzuteilen, daß es regnet und daß der Regen andauern zu wollen ſcheint. Der Spaziergang wurde gezwun— generweiſe aufgeſchoben. Ich ſchlafe wie— der ein und träume von ſchönem Wetter. Das Exkurſionsprojekt kommt mir wieder in den Kopf: ich hatte unrecht gehabt, nicht trotz der Drohungen des Himmels aufzubrechen, wir würden nunmehr an der Station ſein, wo wir auszuſteigen hatten, und wir würden einen ſchönen Tag vor uns haben; man ſollte doch in unſerm Klima niemals vergeſſen, wie ſehr das Wetter von einem Augenblick zum andern wechſeln kann; manch liebes mal war es mir paſſirt, daß ich mich bei Regenwetter auf den Weg machte und eine Stunde nach meinem Aufbruch die Sonne glänzen ſah. Kurz, ich über— ließ mich allen den Reflexionen, welche ich im wachen Zuſtande nicht unterlaſſen haben würde zu machen, wenn das Wet— ter ſich wirklich zum beſſern gewendet hätte. War es der eingeſchlafene Menſch, welcher ſie anſtellte? Ich denke nicht. Es war der Menſch aller Tage. Im Traume — und dadurch unter— ſcheidet er ſich von der Träumerei — iſt die Illuſion vollſtändig. Der Grund davon iſt einfach. Der wache Träumer, um mich des glücklichen Ausdrucks Dau— dets zu bedienen, gefällt ſich in den Seitenſprüngen ſeiner Einbildungskraft, er überläßt ſich derſelben mit Bewußt— ſein und leitet ſie ſogar oft, aber er weiß, daß er unter der Herrſchaft einer 3 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. mehr oder weniger freiwilligen Lüge ſteht. Dieſes ausgeſprochene Bewußtſein ent— ſtammt einzig dem Umſtande, daß er nicht von der umgebenden Welt abge— trennt iſt. Herr Joyeuſe ſieht die Häuſer, ellbogt (v. s. v.) die Vorübergehenden, erfaßt Worte, Schreie, Geräuſche jeder Art; und dieſe Eindrücke, obwohl ge— ſchwächt durch die Abwendung der Ge— danken, kontraſtiren immer noch vermöge ihrer Stärke mit den weichen und relief— loſen Eindrücken, welche in ſeiner Fabel durch die eingebildete Offizin des Apo— thekers, den umringenden Menſchenhaufen und die ihm in den Mund gelegten Re— flexionen geliefert werden. Die Verwechs— lung iſt nicht möglich. Das Haus, die Menſchenanſammlung, die Stimmen, alles das iſt deutlich eine Schöpfung ſeiner erfinderiſchen Einbildungskraft. Im Traume fehlt dieſer Vergleichs— punkt; unſre müden Sinne führen uns nur noch verſchwommene und abgeſtumpfte Eindrücke zu; unſre thätigſten Organe, vor allem das Auge, funktioniren nicht mehr; und nunmehr ſtellen die an die Oberfläche unſers Hirns ſchwimmenden Bilder eine eingebildete Welt dar, der wir den Charakter der Wirklichkeit leihen, kraft der eingewurzelten Gewohnheit, um uns ſtets eine von uns verſchiedene und ſogar uns entgegengeſetzte Welt zu ſehen. Es iſt mithin natürlich, daß ich im Traume meine eigenen Ideen, welche urſprünglich gegenſtändlichen Urſprungs geweſen ſind, zurückverkörpere, denn ſelbſt das wirk— liche Leben iſt nur eine Kette von Ver— körperungen. Denn, vergeſſen wir das nicht, wir ſehen die Dinge nicht wirklich, wir empfinden nur die Eindrücke, welche ſie uns zuſenden, und ſchließen, daß ſie 9 121 als Urſache dieſer Eindrücke exiſtiren. Der Traum erſchafft alſo keine Illuſion. Die Illuſion ſtammt einzig daher, daß wir nur mit einer beträchtlich vermin— derten Energie die Eindrücke empfinden, welche wir von den Außendingen em— pfangen. Man ſetze neben die Szene der Einbildung eine Szene der Wirklichkeit mit ihrem Glanze und ihren Farben, und das Phantaſiegebilde erbleicht. Wenn man gemeint hat, daß „unſre Erinne— rungen ſich mit mehr Lebhaftigkeit wäh— rend unſerer Träume zeichnen als im wachen Zuſtande“ “), jo hat man rela— tive und abſolute Lebendigkeit verwechſelt. Man kann das alle Tage beobachten und ich habe es wohl zwanzig mal an mir ſelbſt beobachtet. Ich komme vom Diner, fühle mich wenig disponirt, mich ſogleich an die Arbeit zurückzubegeben; ich ſtrecke mich vor dem brennenden Ka— min in einen Lehnſtuhl und nehme einen Roman zur Hand. Die Kinder ſpielen, lachen, ſchreien und ſtürmen im Korridor. Immer in meinem Buche leſend, folge ich den Szenen, die ſich neben mir ab— ſpielen. Nach und nach überlaſſe ich mich der Schläfrigkeit, die Worte und Ge— räuſche werden mehr und mehr unbe— ſtimmt, ich ſetze meinen Roman in einem Halbtraum fort und endige dann ſehr häufig damit, eine Rolle darin zu ſpie— len. Der Schlaf hat die Oberhand ge— wonnen. Aber dieſer Zuſtand dauert nur kurze Zeit. Am Ende von fünf oder zehn Minuten erreichen die Rufe und das La— chen von neuem mein Ohr, die Traum— figuren erbleichen langſam und ich mache zuweilen Anſtrengungen, ſie aufleben zu *) Alfr. Maury, Le sommeil et les reves, ch. 5 p. 98. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. Io, 122 laffen und zu fixiren, aber die Bilder der Kleinen legen ſich darüber, anfangs durchſichtig, ſo daß ich noch beide er— blicke, dann werden ſie immer ſolider, ihre Umriſſe zeichnen ſich ſchärfer, Schatten und Licht machen ſich bemerklich, die Fiktion verſchwindet, um der gewiſſen und eifer— ſüchtigen Wirklichkeit platz zu machen; ich bin erwacht. So werden alſo, allgemein ausge— drückt, unſre Vorſtellungen als ſolche er— kannt, dank der vorwiegenden Lebendig— keit der Wahrnehmungen, auf welche ſie ſich projiziren, wenn wir erwacht ſind; aber aus demſelben Grunde bewirken ſie in unſern Träumen die Illuſion, weil unſre Wahrnehmungen dann ſtumpf und glanzlos ſind. Während des Wachens machen ſie den Eindruck eines Fleckens auf einem leuchtenden Grunde, während des Schlummers erhellen ſie ſich, weil der Grund dunkel wird. Auch haben die Gemälde, welche unſre Träume uns vor— führen, beinahe niemals einen Hinter- grund (cadre). Dieſe ſo einfache Erklärung findet ſich ſchon bei Ariſtoteles.“) „Die Träume,“ ſagte er, „ſind Überreſte von Sinneserregungen, denn eine jede derſelben läßt in der Seele einen dauernden Ein— druck zurück. Am Tage gehen die innern Bewegungen wegen der Eindrücke, die wir empfangen, und der Geſchäftigkeit des Denkens unbemerkt vorüber, wie ein kleines Feuer vor einem immenſen Brande, und die Unannehmlichkeiten und leichteren Ver— gnügungen verſchwinden vor den größeren Übeln und Vergnügungen. Aber wenn während der Nacht unſre Sinne unthätig, weil ohnmächtig ſind, ſo laſſen ſie jene im *) Von den Träumen, Kap. III J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. Wachen unmerklichen Bewegungen zum Zentrum der Empfindung zurückkehren, wo ſie dann vollkommen ſichtbar werden.“ In den neueren Zeiten war es Hob— bes, welcher dieſe Theorie am klarſten dargelegt hat.“) „Ebenſo,“ ſagt er, „wie die durch den Fall eines Steines in ruhi— gem Waſſer hervorgebrachte Bewegung nicht zu Ende iſt, wenn der Stein den Grund erreicht hat, ſo beſteht der durch einen Gegenſtand auf das Gehirn her— vorgebrachte Eindruck noch nachher, wenn der Gegenſtand ſchon aufgehört hat, ein— zuwirken, und obwohl die Empfindung nicht mehr da iſt, beſteht doch die Vor— ſtellung. Iſt man wach, ſo iſt dieſe Vor— ſtellung getrübt, weil immer irgend ein Objekt gegenwärtig iſt, welches die Augen und Ohren erregt und reizt, aber im Schlafe erſcheinen die Bilder, die Über— bleibſel der Sinneserregungen, ſtark und deutlich, weil es dann keine wirkliche Sinneserregung giebt; in der That, der Schlaf iſt die Aufhebung der Sinnes— thätigkeit“ ), und ſomit find die Träume die Einbildungen derer, welche ſchlafen.“ Dieſe im Grunde elementare Idee hat ſich ohne Zweifel allen denen dar— geſtellt, die ſich mit den Träumen beſchäf— tigt haben, wir find ihr bei Radeſtock begegnet. Aber abgeſehen von den bei— den eben eitirten Autoren weiß ich nicht, ob ſich andre dabei aufgehalten und ſie zum Angelpunkt ihrer Theorien gemacht haben.““) Ich leſe zum Beiſpiel bei Al- A ) Von der menſchlichen Natur. Kap. III. ) „Man erkennt, daß der Menſch ſchläft, wenn er nicht empfindet.“ (Ariſtoteles a. a. O. Kap. I.) , Anm. d. Red. Dies iſt in meiner „Naturgeſchichte der Geſpenſter“ geſchehen. Ahn— lich dem ſogleich folgenden Vergleiche Mairans ä — J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 123 fred Maury“): „Damit alſo unſer Geiſt die Verſchiedenheit von Idee und äuße— rer Sinneserregung erfaſſe, muß er die beiden Ordnungen der Erregungen mit ein— ander vergleichen, die Wirklichkeit dem, was bloße Vorſtellung iſt, entgegenſtellen können. Wenn alle Sinne des Ekſtati— ſchen ſich in demſelben Zuſtande befän— den, wie diejenige des wachen Menſchen, ſo würden die äußern Eindrücke ihn ſo— gleich zu der Empfindung der Wirklichkeit zurückrufen, und er würde nicht die Viſionen für Thatſachen nehmen; was jedoch nicht ſtattfindet.“ Darin iſt beſſer, als ich es ver— möchte, das ganze Fundament der Traum— theorie ausgedrückt. Aber Maury hat nur bei Gelegenheit der Ekſtaſe daran gedacht. Maine de Mairan! “ ſagt nahe— zu dasſelbe: „Im gewöhnlichen Zuſtande findet ſich die momentane Überzeugung, welche die Phantome der Einbildungskraft mit ſich bringen, fortwährend durch die lebhafteren Eindrücke der wirklichen Ge— genſtände zerſtört, welche ſie auslöſchen, wie das Licht des Tages das einer Lampe aus— löſcht.“ Unglücklicherweiſe ſchreibt dieſer Autor, deſſen ſtrenge Logik durch den Geift eines Syſtems getrübt wurde, dem Willen das Verſchwinden dieſer vergeblichen Bil— der zu, und wenn ſie ſich uns im Schlafe aufdrängen, geſchieht es, weil wir da völ— lig paſſiv ſind, denn der Schlaf charak— teriſirt ſich nach ihm einzig durch die Ab— weſenheit des Willens. werden dort (S. 253) in der Einleitung der den Traum betreffenden Kapitel die Traumbilder mit den Bildern der Laterna magica auf der Wand verglichen, welche ſo lange unſichtbar ſind, wie die Lichter im Saale brennen. ) A. a. O. Kap. X, S. 242. **) Nouvelles considerations sur le som- meil. 2. Partie, edit. Cousin T. II. p. 251. * Es iſt alſo der verhältnismäßige Man— gel an Glanz und Relief, welcher die Vorſtellung von der Wahrnehmung unter— ſcheidet, und man kann im Allgemeinen ſagen, daß die Vorſtellung im Traume noch weniger abſoluten Glanz beſitzt, als im Wachen. Es iſt die allmähliche Schwächung der Eindrücke, welche verur— ſacht, daß die ferne Vergangenheit uns wie ein langer Traum erſcheint, und manch— mal werden die Spuren der Exeigniſſe fo ſchwach, daß man ſich fragt, ob ſie wirk— lich ſtattgefunden haben, oder ob man ihnen nur im Traume beigewohnt hat. Ich entferne mich darin von der all— gemein angenommenen Meinung. Hören wir Garnier“), der uns ſagt, daß „die Verſchiedenheit zwiſchen Wahr— nehmung und Vorſtellung nicht in der Lebhaftigkeit der einen und der andern liegt, nicht ein Gradunterſchied, ſondern eine Verſchiedenheit der Natur“ ſei. Nach ihm ſind die Traumvorſtellungen ſo deut— lich, daß er, vom Irrſinn ſprechend, ſagt: „Solange der Irrſinn andauert, nimmt die Vorſtellung dieſelbe Stärke und die— ſelbe überſprudelnde Kraft (saillie) an, wie in den Träumen“. Dieſe letzteren Worte enthalten einen offenbaren Irrtum. 3. Warum legt man beim Erwachen fei- nen Träumen einen teügerifhen Charak- ter bei? Welches find die Motive diefer Beimeffung? Giebt es in diefer Hinſickt ein abfolutes Kriterium der Gewißlieit? Jedermann weiß, daß Descartes ſich beinahe das nämliche Problem geſtellt hat, und kennt auch ſeine Antwort: „Aber chette, 1865. T. I. p. 455-465. 124 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. uns mitunter in Betreff wenig deutlicher und ſehr entfernter Dinge täuſchen, han— delt es ſich doch um viele andere, an de— nen man vernünftigerweiſe nicht zweifeln kann, obwohl wir ſie nur durch ihre Ver— mittlung kennen, z. B. daß ich hier bin, neben dem Feuer ſitzend, mit einem Haus— rock bekleidet, dieſes Papier zwiſchen den Händen haltend und andre Dinge dieſer Art. . . . . Dennoch habe ich hier zu er— wägen, daß ich ein Menſch bin und in Folge deſſen die Gewohnheit habe, zu ſchlafen und mir in meinen Träumen die— ſelben Dinge und mitunter weniger wahr— ſcheinliche vorzuſtellen. . . . . Wie oft iſt es mir paſſirt, des Nachts zu denken, daß ich an dieſem Orte war, daß ich ange— kleidet war, daß ich neben dem Feuer ſaß, obgleich ich ganz nackt in meinem Bette lag! Es ſcheint mir wohl jetzt, daß ich nicht mit den Augen des Schlafes dieſes Papier betrachte, daß dieſer Kopf, den ich ſchüttle, nicht eingelullt iſt, daß ich mit Abſicht und Vorbedacht dieſe Hand aus— ſtrecke und fie fühle; was im Schlaf ge— ſchieht, ſcheint nicht ſo klar und ſo beſtimmt, wie alles dies. Aber, indem ich ſorgfältig darüber nachdenke, erinnere ich mich, oft durch ähnliche Illuſionen im Schlafe ge— täuſcht worden zu ſein, und indem ich bei dieſem Gedanken ſtehen bleibe, ſehe ich ſo offenbar, daß es keine gewiſſen Kenn— zeichen giebt, durch welche man klar das Wachſein vom Schlaf unterſcheiden kann, daß ich darüber ganz erſtaunt bin, und mein Erſtaunen iſt ein derartiges, daß es bei— nahe im Stande iſt, mich zu überzeugen, daß ich ſchlafe.““) Descartes richtet ſodann alle ſeine Anſtrengungen darauf, um den Zweifel, ) Meditation premiere (Anfang). mit welchem er anfangen zu müſſen glaubt, zu zerſtreuen, und er löſt, wie folgt, die Schwierigkeit, welche er glaubt erheben zu ſollen: „Gewiß iſt mir dieſe Betrach— tung ſehr dienlich, nicht allein, um alle die Irrtümer zu erkennen, denen meine Natur unterworfen iſt, ſondern auch um ſie zu vermeiden und um ſie leichter zu verbeſſern: denn da ich weiß, daß alle meine Sinne mir gewöhnlicher das Wahre als das Falſche hinſichtlich der Dinge mel— den, welche die Bequemlichkeiten oder Un— bequemlichkeiten des Körpers betreffen, und da ich mich beinahe immer mehrerer von ihnen bedienen kann, um eine und die— ſelbe Sache zu unterſuchen, und da ich außerdem mein Gedächtnis gebrauchen kann, um die gegenwärtigen Erkenntniſſe den vergangenen zu verbinden und zu ver— knüpfen, ſowie meine Vernunft, welche be— reits alle die Urſachen meiner Irrtümer entdeckt hat: ſo brauche ich in Zukunft nicht mehr zu fürchten, daß ſich Falſch— heit in den Dingen vorfindet, welche mir am gewöhnlichſten durch meine Sinne dar— geſtellt werden. Und ich muß alle die Zwei— fel dieſer letzten Tage als übertrieben und lächerlich verwerfen, beſonders dieſe ſo all— gemeine Ungewißheit, den Schlaf be— treffend, den ich nicht vom Wachſein un— terſcheiden konnte; denn jetzt finde ich einen ſehr bemerkenswerten Unterſchied darin, daß unſer Gedächtnis niemals unſre Träume miteinander und mit der ganzen Folge unſres Le— bens verbinden und verknüpfen kann, ſo wie es die Dinge, welche uns im wachen Zuſtande begegnen, zu verknüpfen pflegt. Und in der That, wenn Jemand, während ich wache, mir ganz plötzlich erſchiene und ebenſo 3260 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. verſchwände, wie es die Bilder thun, die ich im Schlafe ſehe, dergeſtalt, daß ich nicht bemerken könnte, von wo er käme und wohin er ginge, ſo würde es nicht ohne Grund ſein, wenn ich ihn, ſtatt für einen wirklichen Menſchen, vielleicht für ein in meinem Gehirn gebildetes Geſpenſt oder ein Phantom hielte, ähnlich denje— nigen, welche ſich geſtalten, während ich ſchlafe. Aber wenn ich Dinge erblicke, von denen ich beſtimmt ſowohl den Ort erkenne, von welchem ſie kommen, als den— jenigen, wo ſie ſind, und die Zeit, zu welcher ſie mir erſcheinen, und wenn ich ohne irgend eine Unterbrechung die Em— pfindung, die ich davon habe, mit der Folge meines übrigen Lebens verknüpfen kann, ſo bin ich ganz verſichert, daß ich ſie im Wachen und nicht im Schlafe er— blicke. Ich darf an der Wahrheit jener Dinge in keiner Weiſe zweifeln, wenn, nachdem ich alle meine Sinne, mein Ge— dächtnis und meine Vernunft herbei— gerufen habe, um ſie zu unterſuchen, mir nichts von einem von ihnen hinterbracht worden iſt, was im Widerſtreit mit dem— jenigen ſtände, was mir durch die an— dern hinterbracht worden iſt. Denn dar— aus, daß Gott kein Täuſcher iſt, folgt notwendig, daß ich darin nicht getäuſcht werde.“) Das iſt ganz die Kontrolle der Sinne und der Intelligenz, ſo wie ſie Grote und alle Autoren definirt haben. Wir leſen bei Albert Lemoine: „Die Zu— ſammenhangsloſigkeit der Bilder iſt für uns das einzige unterſcheidende Kennzei— 125 Zutrauen, welches wir in die objektive Wirklichkeit der Traumbilder ſetzen, liegt zum großen Teil daran, daß wir weder freiwillig noch unfreiwillig von unſern Sin— nen Gebrauch machen können, um die Be— ziehungen der einen durch die andern zu korrigiren.“ “) Ich kenne wahrhaftig nur einen Sinn, welcher ſich erlaubt, die andern zu korrigiren: es iſt der Taſtſinn, welcher uns zum Beiſpiel geſtattet, uns zu vergewiſſern, daß die von dem Spiegel reflektirten Bilder keine Körper beſitzen. Jedoch wem fällt es jemals ein, im wa⸗ chen Zuſtande die Perſonen, Bäume und Häuſer zu berühren, um ſich zu überzeugen, daß dies wirkliche Körper ſind? Und an— drerſeits, inwieweit behütet denn das Zeugnis des Gefühls den Hallueinirenden davor, durch die Phantome, welche er ſieht oder hört, getäuſcht zu werden? Schließ— lich kann die Kontrolle, welche mir in Wirklichkeit erlaubt, den angezweifelten Gegenſtand zu verificiren, nicht im Traume ausgeübt werden. Wir haben geſehen, daß der wache Zuſtand durch die Lebhaftigkeit der em— pfangenen Eindrücke charakteriſirt wird. Aber das iſt nicht alles. Dieſe Eindrücke ſind außerdem logiſch miteinander ver— kettet. Man weiß, wie Descartes ſagt, woher ſie kommen, was vorangegangen, was ihnen gefolgt iſt. Und was ver— ſchafft ihnen dieſe Eigentümlichkeit? Die Außenwelt, in welcher ſich die Ereigniſſe gemäß dem Kauſalitätsgeſetz folgen. Der Bewohner von Lüttich kann ſich nur un— ter der Bedingung, dorthin geſchafft zu chen der Träume.“ “) Und ferner: „Das | fein, in Paris befinden. Das iſt die Ord— ) Meditation sixieme (Ende). ) Du sommeil. Paris, 1855. p. 108. nung der Dinge. Ja, wenn wir in den *) Ibid. p. 112. Ländern der taufend und einen Nacht oder in den Zaubergärten der Armide lebten, ſo iſt es klar, daß wir über gewöhnliche Lebensabenteuer anders urteilen würden. Es braucht nur jemand, wie der berühmte Ritter von la Mancha, einen robuſten Glauben an die Macht der Zauberer zu haben oder mit dem gewöhnlichen Aber— glauben des Volkes erfüllt zu ſein, um unmögliche Dinge als unbeſtreitbare That— ſachen zu betrachten! Aber die Natur auf der einen Seite, die geſellſchaftliche At— moſphäre, der wir zugehören, auf der an— dern, haben unſrem Geiſte eine Erzieh— ung und beſondere Richtungen verliehen, und wir weigern uns, als wirklich zu be— trachten, was mit unſerer Erfahrung un— verträglich iſt. Dieſe Erfahrung — brauche ich es zu ſagen? — iſt niemals abge— ſchloſſen. Jeder teilt mehr oder weniger die Vorurteile ſeiner Zeit; Tacitus zwei— felte weder die Auguren noch die Orakel an. Alles, was in abſolutem Widerſpruch mit den Geſetzen ſteht, deren weltregie— rende Macht ich erkannt habe, wird von mir entſchieden als imaginär angeſehen. Läßt mir ein Traum einen toten Freund aufleben, ſo werde ich nicht zögern, meine Viſion zu bezeichnen, wie es ſich gehört. Ebenſo, wenn die dargeſtellte Scene in— nere Widerſprüche darbietet, wenn z. B. ein Toter ſich darin bewegt und ſpricht. Unter dieſem Geſichtspunkt haben Des— cartes und A. Lemoine Recht und ich unterſchreibe ihre Worte. Aber manch— mal iſt der Traum völlig wahrſcheinlich und in allen ſeinen Teilen verkettet. Eines Tages verlangte eins meiner kleinen Mädchen, 8 ½ Jahr alt, in mei— ner Gegenwart von ſeiner Mutter ein Spielzeug, welches ſich in einer Boden— J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. kammer im Hauſe ſeiner Großmutter fin— den ſollte, bei welcher wir damals wa— ren. Nach der Beſchreibung, die es davon machte, ſollte es einen großen, den Ra— chen weit öffnenden Froſch vorſtellen. Man antwortete ihm, daß man ein ſolches Spiel— zeug nicht kenne, niemals geſehen habe, daß es nicht exiſtire. Die Kleine begann ſodann es genau zu beſchreiben, erörterte ſehr beſtimmt den Platz, wo es ſich befände; ihre Großmutter habe es ihr gezeigt und verſprochen, es ihr zu ſchenken, wenn ihre Eltern es erlauben wollten. Wir hatten die denkbarſte Mühe, ſie zu überzeugen, daß alles das nur ein Traum wäre. Die— ſer Traum war ſo wohl verkettet und ver— knüpfte ſich durch ſo viele Bande mit den alltäglichen Dingen! Je weniger die Intelligenz des Kin— des entwickelt iſt, deſto weniger wird es von Unwahrſcheinlichkeiten überraſcht. Zwiſchen vier und fünf Jahren alt, hatte ich meinen mehr als ſechs Jahre ältern Bruder verloren. Dieſer Bruder hatte ſchöne Soldaten und anderes Spielzeug, das er ſehr in acht nahm und vorſichtig außerhalb des Bereichs meiner Hände hielt. Weder von ſeiner Krankheit, noch von ſeinem Tode bewahre ich eine Er— innerung. Ich erinnere mich blos, daß ich meine Mutter eines Tages frug, wo Henri wäre, und daß ſie antwortete, er wäre auf dem Lande. Ich begehrte jenes ſchöne Spielzeug, welches man pietät— voll in einen Schrank geſtellt hatte. Und eine Nacht träumte ich, daß in dieſem Schranke ſich Marionetten, Harlequins (ich ſehe ſie noch!) befinden, die mit Sprache begabt wären. Beim Aufwachen verlangte ich ſie mit Beharrlichkeit und inſtändiger Bitte. Umſonſt verſuchte meine J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. \ Mutter, mir die Abſurdität dieſer Ein- bildung begreiflich zu machen; für mich war das kein Traum, und ich beharrte in der Überzeugung, daß das Motiv ihrer Weigerung wäre, die Traditionen meines Bruders zu erhalten, und daß mir die Benutzung dieſer Wunderdinge für immer verſagt ſein würde. Die Illuſion entſteht alſo aus der Lebhaftigkeit und der relativen Logik der Eindrücke. Ich habe nicht nötig, be— merklich zu machen, daß zum Fortbeſte— hen der Illuſion nach dem Erwachen noch andre Bedingungen gehören. Wenn meine Kleine das Spielzeug in einem Phantaſie— gemach und nicht in dieſer ihr bis auf die geringſten Einzelnheiten bekannten Bodenkammer geſehen hätte, wenn ſie nicht mit ihrer Großmutter, ſondern mit einer unbekannten Perſon davon geſpro— chen, oder nicht ihr Geſicht und ihre ge— gewöhnlichen Kleider geſehen hätte, würde ſie leicht erkannt haben, daß ſie der Narr eines Traumes ſei. Es iſt alſo, wenig— ſtens, wenn der Irrtum andauernd ſein ſoll, nötig, daß die kleinſten Details des Traumes der Wirklichkeit und Wahrſchein— lichkeit entſprechend ſeien, es gehört außer— dem dazu, daß ſie ſich auf den Hinter— grund unſers alltäglichen Lebens pro— jiziren. Nun, wie wir geſehen haben, zeichnet ſich die Traumſzene auf einem verſchwommenen und einförmigen Hinter— grunde ab; ſie iſt iſolirt. Die Traum— bilder gleichen darin den auf Goldgrund ausgeführten Gemälden der älteſten Ma— lerſchulen oder den Tänzergruppen, welche die Wände der Häuſer in Pompeji zie— ren und von denen man nicht weiß, ob ſie ſich in der Luft oder auf dem Bo— den befinden. 127 Wenn ich in den Straßen der Stadt, die ich bewohne, ſpazieren gehe, ſo bin ich Eindrücken unterworfen, welche zum Teil immer dieſelben bleiben. Wenn ich darin einer bekannten Perſon begegne und ſie anrede, ſo verknüpfen ſich dieſe Begegnung und Unterredung mit ſo ver— trauten Eindrücken und empfangen damit den Stempel der Authentizität. Dieſes Begegnis iſt ſozuſagen in den idealen Stadtplan eingeſchrieben. Ohne Zweifel hängt dieſe Authentizität noch von andern Dingen ab, und der Leſer wird ohne weiteres ſehen, inwiefern dieſe Ausein— anderſetzung unvollſtändig iſt. Es iſt z. B. nötig, daß ich dieſen Freund kommen und davongehen ſehe, daß er ſich ſelber ähnlich ſei und bleibe, daß er ſeinem Charakter und ſeinen Beziehungen gemäß handle; andernfalls werde ich leicht arg— wöhnen, daß ich ihn im Traume geſehen habe. Aber wenn keine dieſer Unwahr— ſcheinlichkeiten vorhanden iſt, kann ich mich anders als durch äußerliche Kennzeichen überzeugen, daß das Begegnis nicht wirk— lich war? Wenn ich z. B. träume, daß ich meine Arbeitslampe brennend gelaſſen habe, und daß ich aufgeſtanden und nach dem Auslöſchen wieder ins Bett zurück— gekehrt bin, wie ſollte ich mich, wenn Zimmer und Lampe ihr gewöhnliches Aus— ſehen darboten, beim Aufwachen über— zeugen können, daß alles das reine Sl luſion geweſen? Wie könnte ich es, wenn nicht wenigſtens jemand neben mir gewacht hätte und mir verſicherte, daß ich nicht aufgeſtanden wäre, oder wenn ich keine zwingenden Gründe hätte zu glauben, daß ich meine Lampe vor dem Niederlegen ausgelöſcht habe? Aber gewöhnlich iſt das entſcheidende 128 Kriterium des Traumes das Aufwachen. Perrette und Herr Joyeuſe werden durch einen Zufall aus ihren Träumereien ge— weckt: der Zufall, welcher den Traum verſcheucht, iſt das Erwachen. Der wahr— ſcheinlichſte Traum, in deſſen Kombina— tionen nur Wirklichkeiten eingeführt wur— den, erſcheint mir von dem Augenblicke an, in welchem ich mich „ganz nackt in meinem Bette“ finde, in ſeinem lügneri— ſchen Charakter. Ich verurteile als Il— luſion alles, was ſich zwiſchen dem Augen— blick des Niederlegens und des Aufwachens begeben hat. Es giebt keine Ausnahmen, außer für Spezialfälle wie der eben be— ſchriebene. Aber man wird bemerken, daß es ſich dort um eine iſolirte Handlung in der Mitte der Nacht handelte, ſozu— ſagen ohne Verbindung mit dem, was folgte und voranging. Dennoch nötigen uns dieſe Ausnahmen, welche nicht blos theoretiſch ſind, die Frage: Beſitzen wir im Hinblick auf die Träume ein Kriterium der Gewißheit? verneinend zu beantworten.“) Nein, es giebt keins. Es iſt kein un— fehlbares und univerſales Kennzeichen da, welches uns erlaubte, mit einer abſoluten Sicherheit zu behaupten, daß ein Traum ein Traum war und nichts weiter. Aber es iſt das kein großes Unglück, voraus— geſetzt, daß wir ein Kriterium des wah— ren Zuſtandes beſitzen, ein Kriterium, welches uns, wenn wir es befragen, ver— gewiſſert, daß wir nicht träumen. Nun fragt ſich, kann man im Wachen daran zweifeln, daß man wacht? ) Anm. d. Red. Wie ſehr der Herr Verf. recht hat, beweiſen die Träume, aus denen man nicht direkt aufwacht, die einem erſt ſpäter einfallen und dann von den wirklichen Erleb— niſſen nicht mehr zu unterſcheiden ſind. J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. Man weiß, was dem Soſius geſchieht.“) Merkur will ihm Namen und Identität rauben. Dieſe Anmaßung empört ihn. .. Je ne puis m'anéantir pour toi, Et soufirir un discours si loin del’apparence. Etre ce que je suis esf-il en ta puissance? Et puis-je cesser d’&tre moi? S'avisa-t-on jamais d'une chose pareille? Et peut-on démentir cents indices pressans? Röve-je? Est-ce que je sommeille? Ai-je l’esprit troublé par des transports puissans? Ne sens-je pas bien que je veille? Ne suis-je pas dans mon bon sens? Mon maitre Amphitryon ne m’a-t-il pas commis Avenir en ces lieux vers Alemène sa femme? Soſius läßt ſo die Folge der Er— eigniſſe an ſich vorübergehen und findet darin die Logik der Wirklichkeit wieder. Aber da er ſieht, daß Merkur mit Um— ſtänden bekannt iſt, welche er allein zu wiſſen glaubte, wird ſeine Gewißheit er— ſchüttert: Il a raison. A moins d’ötre Sosie On ne peut pas savoir tout ce qu'il dit; Et, dans l’etonnement, dont mon äme est saisie, Je commence, à mon tour, à le croire unpetit. Merkur vervielfältigt die Beweiſe, in— dem er immer intimere Details entſchleiert. Soſius' Erſtaunen verdoppelt ſich: Il ne ment pas d'un mot à chaque repartie; N Et de moi, je commence àdouter tout de bon. Pris de moi par la force il est déjà Sosie, Il pourrait bien encore l’etre par la raison. Pourtant quand je me täte et que je me rappelle, Il me semble que je suis moi. Oü puis-je rencontrer quelque clarté fidele Pour demeler ce que je vois. ) Anm. d. Red. Die folgende Stelle iſt aus Molières Amphitryon (Akt J, Sz. II). Calderons Schauſpiel „Das Leben ein Traum“ böte ähnliche Illuſtrationen zu dieſem Kapitel. — Man kennt den Schluß, bei welchem ſein Verſtand ſtille ſteht: Je ne saurais nier, aux preuves qu'on expose, Que tu ne sois Sosie, et j'y donne ma voix. Mais, si tu l’es, dis-moi que je sois: Car enfin faut il bien que je sois quelque chose. Dieſe Geſchichte von einer Perſon, welche dahin gelangt, Zweifel an ihrer eigenen Identität zu hegen, iſt auf ſehr viele Arten in Szene geſetzt worden. Jede Ortlichkeit beſitzt fie ſozuſagen in ihrer Legende. In Lüttich iſt es ein Seifen— ſieder, welchen die Mönche eines Abends totbetrunken in einer Straßenecke auf— raffen und in ihr Kloſter bringen. Man wäſcht, friſirt und tonſurirt ihn, ſteckt ihn in eine Kutte und legt ihn in eine Zelle. Am Morgen bei ſeinem Erwachen begrüßen ihn die Brüder und fragen nach ſeinem Befinden. Der arme Teufel ver— ſucht vergeblich ſeine Ideen zu ſammeln. Man ſucht ihn zu überzeugen, daß ſein ganzes vergangenes Leben ein Traum war. Er kann ſich nicht entſchließen, es zu glau— ben, aber noch weniger begreift er, wie er in dieſe Kleidung und in dieſes Bett kommt. Man reicht ihm einen Spiegel; er iſt nicht ſicher, ſich zu erkennen. „Geh,“ ſagt er endlich zu einem der Beiſtehen— den, „geh nachſehen, ob Agidius der Sei— fenſieder in ſeiner Krambude an der Brücke iſt. Wenn er nicht da iſt, bin ich es, aber wenn er da iſt, ſo mag mich der Teufel holen, wenn ich weiß, wer ich bin.“) Man ſage mir nicht, daß das Fabeln ſind und daß man Fabeln nicht disku— ) Shakeſpeare hat im Prolog der be— zähmten Widerſpenſtigen denſelben Gegenſtand auf die Bühne gebracht. Chriſtoph Sly: „Bin ich ein Lord? Oder iſt es etwa ein Traum, den ich träume? Oder habe ich bis auf dieſen Tag J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. 129 tiren ſolle. Mein Argument iſt ernſthaft. Man beſeitige die Unwahrſcheinlichkeit der Thatſache oder der komiſchen Übertrei— bung, ſo malen uns Soſius und Agidius trefflich die Verlegenheiten der Intelli— genz, welche das Raiſonnement dazu ver— führt, zu bezweifeln, was ſie ſich nicht hindern kann, zu glauben. Ich zweifle ge— wiß nicht an meiner Identität; indeſſen giebt es Narren, die ſich einbilden, der Kaiſer von China zu ſein, und andere, welche ſich erinnern, Ludwig XVII. ge— weſen zu ſein. Bin ich etwa der Spiel— ball einer ähnlichen Tollheit? Bin ich wirklich derjenige, welcher ich zu ſein glaube? Mit einem Worte, worin beſteht das Kennzeichen des vernünftigen Zu— ſtandes? Dies iſt die Frage, der wir uns zuwenden. A. Warum hat der Irre Zutrauen zu fei- nen Herirrungen? An welchen Beicen er- kennen wir die Einbildungen eines geftörten Hiens, und welches ift deſſen logiſcher Mert? Giebt es ein höheres Kriterium? Wir ſahen, worin ſich Traum und Träumerei gleichen und unterſcheiden. Beiderſeits bildet eine Folge mehr oder weniger gut verknüpfter Vorſtellungen das Grundgewebe. Allein in der Träumerei beſtehen ſie zugleich mit beſtimmten Wahr— nehmungen, welche, obwohl infolge un— ſerer Unaufmerkſamkeit geſchwächt, nichts— deſtoweniger durch ihre Beſtimmtheit und ihr Relief die Täuſchung und den Mangel der Lebendigkeit bemerklich machen. Im geträumt? Ich ſchlafe nicht; ich ſehe, ich höre, ich ſpreche; ich rieche dieſe angenehmen Düfte... Bei meinem Leben, ich bin ein wirklicher Lord, und weder ein Keſſelflicker, noch Chriſtoph Sly.“ Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 130 Traume dagegen find die etwa ſtattfin— denden Wahrnehmungen fo verſchwommen und fo dunkel, daß unſre Vorſtellungen gen, deren Intereſſe auf einer optiſchen durch Kontraſt Glanz gewinnen, und die Unmöglichkeit, in der wir uns befinden, einen Vergleich anzuſtellen, bewirkt, daß wir, darin einer angebornen und unwider— ſtehlichen Gewohnheit folgend, die Objekte unſerer Ideen für äußere Wirklichkeiten nehmen. Der Wahnſinn, über den ich einige Worte ſagen werde, hat ſeinen beſtimmten Platz von meinem Standpunkte zwiſchen Traum und Träumerei: die Vorſtellungen des Narren, ſoweit er Narr iſt, haben den— ſelben Glanz wie ſeine Wahrnehmungen. Man erinnere ſich der trefflichen Per— rette, die ſich den lachendſten Fernſichten hingiebt und ſich bereits im Beſitze einer Kuh und eines Kälbchens ſieht. Nehmen wir an, daß die brave Frau ſich einbilde, ſie wirklich zu beſitzen, und wir werden eine arme Irrſinnige vor uns haben. Durch alle ihre Sinne gleichzeitig getäuſcht, wird ſie dieſelbe nicht allein weiden ſehen, ſon— dern auch blöken hören, ſie wird ihre Kuh in eingebildete Eimer melken und in einer Milchwirthſchaft, die nicht exiſtirt, Milch— ſatten und Butterſtücke aufſtellen, welche ebenſowenig exiſtiren. Es würde indeſſen vorkommen können, daß das Auge allein der Sitz des Irrtums wäre. Dann wird es der Unglücklichen niemals gelingen, ihre Tiere, welche bei ihrer Annäherung entfliehen, mit der Hand zu berühren. Sie wird ſich in ihrer Toll— heit ſagen, daß ein boshafter Genius ſie quäle und an der Ausübung ihrer bäuri— ſchen Pflichten hindere; ſie wird ſich ſchließ— lich die Sache auf eine in ihren Augen wahrſcheinliche Art erklären und Gott weiß, J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. bis wohin die Logik der falſchen Unter— ſtellungen ſie führen kann. Man kennt jene Art der Schauſtellun— Illuſion beruht. Auf der Bühne bewegen ſich wirkliche Schauſpieler und auch un— greifbare Schatten, deren Körper den De— gen und den Keulen keinerlei Widerſtand bieten, welche plötzlich erſcheinen und ebenſo verſchwinden. Nehmen wir einen Augen— blick an, daß der Schauſpieler ein Opfer dieſes Spiels ſein könnte. Er wird eine Perſon vor ſich haben, welche er ſehen, aber nicht fühlen kann. Wird er ſich ſagen, daß das eine Illuſion iſt? Vielleicht. Aber welcher Sinn wird der getäuſchte ſein? Das Geſicht, welches ſieht, was nicht da iſt, oder der Taſtſinn, welcher nicht fühlt, was da iſt? Auf die Erfahrung geſtützt, wird er möglicherweiſe dahin gelangen, ſich von einem Irrtum in ſeinen Geſichts— wahrnehmungen zu überführen, aber es iſt auch möglich, daß er den Verſtand dar— über verliert. Der unglückliche Wahnſinnige, welcher den Bauch mit Fröſchen und Kröten er— füllt zu haben glaubt und welcher, wenn ihr ihn durch Demonſtration zu heilen ſucht, ſie mit ſeinen Händen packt und euch vor Augen hält oder ins Geſicht wirft, iſt ohne Zweifel Opfer einer traurigen Il— luſion, aber wie ſollte ſie nicht entſtehen können? Sind denn die Gründe unſers Glaubens an die wirklichen Dinge von einer verſchiedenen Natur? Daher dieſer auf den erſten Blick paradoxe, aber nichts— deſtoweniger ſtreng logiſche Schluß: auch der Hallueinirende gehorcht einem Natur— geſetz, wenn er an die Wahrhaftigkeit der phantaſtiſchen Bilder glaubt, die feinen Geiſt umringen. Darin handelt er genau I J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. wie ich, der ich in dieſem Momente innigſt der Geräuſche, die er hört und ſieht, er überzeugt bin, daß ich eine Feder in der Hand, Papier vor mir habe und daß ich darauf das Reſultat meiner Reflexionen niederſchreibe. Und eben ſo gut wie ich als einen Unſinn den Verſuch von irgend einem betrachten würde, der mich zu über— zeugen ſuchen wollte, daß ich träume, muß er uns für ſolche, die ſchlechte Späße ma— chen, anſehen, wenn wir die Exiſtenz deſ— ſen, was er alle Tage ſieht, hört und mit Händen fühlt, verneinen und in Zweifel ziehen. „Hören wir,“ ſagt Albert Lemoine, „die Antwort einer Hallueinirenden *), wel— cher der Arzt ihren Irrtum demonſtriren wollte. „Wie erkennt man die Gegen— ſtände?“' frug fie. ‚Weil man ſie ſieht und fühlt.“ ‚Nun, ich ſehe, höre und fühle die Dämonen, welche außer mir find, und ich fühle auf die deutlichſte Weiſe diejenigen, welche in meinem Innern ſind. Warum wollen Sie, daß ich das Zeugnis meiner Sinne verleugne, während alle Menſchen es als die alleinige Quelle ihrer Kennt— niſſe anrufen?‘ Und wenn man ihr zum Beweiſe das Beiſpiel der andern Irren vorlegte, deren Irrtum ſie erkannte: „Was mein Auge ſieht und mein Ohr hört, das fühlt meine Hand. Die Kranken, von de— nen Sie ſprechen, täuſchen ſich, der eine ihrer Sinne wird durch den andern wider— legt, ich, im Gegenteil, habe das Gewicht aller für mich.““) So,“ fährt der Ver⸗ ) A. a. O. S. 114. Das Zitat iſt aus Bayle, Revue medicale, 1820. ) Anm. d. Red. Ludwig v. Baczko in Königsberg ſah, hörte und fühlte die Gebilde ſeiner Einbildungskraft, ohne daran zu glauben. Wiederholt erſchien ihm eine borſtige Schlange, 131 wach, an die Wirklichkeit der Bilder und wird dadurch ſogar geweckt und kann aus dieſem Grunde nicht an der Wahrheit des Zeugniſſes ſeiner Sinne zweifeln.“ Wie die Analyſe des Schlafes, ſo führt uns alſo auch die des Wahnſinns dazu, die Phänomene, welche er darbietet, in zwei Teile zu ſondern und von dem, was krankhaft iſt, dasjenige zu unterſcheiden, was naturgemäß kraft unſerer vorherge— gangenen Erfahrung aus unſeren geiſtigen Gewohnheiten und unferen Inſtinkten folgt. Der ſchlafende Menſch ſieht manchmal einen Stock lebendig werden, ein Möbel ſprechen, einen Menſchen ſich in die Ge— ſtalt eines Vogels kleiden. Die Poeten, dieſe freiwilligen Träumer, bevölkern die Wälder mit verzauberten Bäumen, welche bluten, wenn man ſie verwundet, welche bitten oder Drohungen ausſtoßen, welche plötzlich zu Ungeheuern oder zu Frauen werden, um uns zu erſchrecken oder uns zu rühren. Der ſchlafende Menſch iſt ein vorübergehend Getäuſchter; die Poeten ſind freiwillig Betrogene. Aber es giebt auch unfreiwillige und unverbeſſerliche Narren, welche Windmühlen für Rieſen, ſchmutzige Bauerndirnen für Prinzeſſinnen und Marionetten für Perſonen von Fleiſch und Knochen anſehen. Der Grund ihrer Illuſionen iſt uns bekannt, er beſteht darin, daß die nichtigen Bilder ihres Hirns ſich mit derſelben Lebhaftigkeit wie die wirk— lichen Bilder aufdrängen. Wenn ſie nicht an der Wahrheit der letzteren zweifeln, die erſt im Zimmer umherkroch, dann ſich über ſeine Füße und zuletzt auf ſeinen Schoß legte, wobei er die ſteifen Borſten mit den Händen fühlte. S. meine „Naturgeſchichte der Geſpenſter“ S. 341-343. 132 warum ſollten fie es den andern gegen— über thun? In dem Zimmer, in welchem ich dieſe Zeilen ſchreibe, ſind an der mir gegen— überſtehenden Wand Stiche aufgehängt. Ich bin abſolut ſicher, daß ſie da ſind. Wenn ich nun täglich über oder neben lich ſicher ſtehen bleiben, wenn die Erſchei— ihnen andere nicht vorhandene Stiche ſähe, wenn ich mir einbildete, ſie zu berühren, abzunehmen, abzuſtäuben, wenn ich mich zu erinnern glaubte, von wo und wie ich ſie erhalten hätte, ſo müßte ich vernunft— gemäß an ihre Exiſtenz glauben. Ich bin und fühle mich wach, wenn ich die erſteren ſehe, warum ſollte ich zu träumen glauben, wenn ich die andern erblicke? Hat meine irrige Meinung nicht meinen berechtigten Glauben zum Bürgen? Die Verſicherung meiner Verwandten, daß das eine wahn— ſinnige Idee ſei, könnte momentan eine ge— wiſſe Verwirrung in meine Seele werfen; aber ich werde mich wohl leichter und ver— nunftgemäßer überzeugen, daß ſie ein Komplott geſchloſſen haben, um ſich über mich zu mokiren, als daß ich das beſtän— dige Zeugnis meiner Sinne in Zweifel ziehen follte.*) Wenn ich nicht weiß, wie dieſe Gemälde dorthin gekommen ſind, werde ich eher an einen Gedächtnisfehler, als an einen fortdauernden Irrtum glau— ben. Wenn endlich dieſe Gemälde ſich nicht abnehmen laſſen, werde ich in eine große Unruhe geſtürzt werden. Ich werde mir ſagen, daß ich das Opfer eines böſen Trau— mes bin; wenn ich in abergläubiſchen Ideen erzogen worden bin, werde ich eine Inter— vention diaboliſcher Mächte argwöhnen; wenn ich endlich die Erfahrung beſitze, daß ) „Nachdem er vergeblich gegen dieſe Macht, welche ihn beherrſcht, gekämpft, wird er (der Kranke) ſehr häufig zu irrigen Auslegungen ge— J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. derartige Illuſionen die Wirkung einer Krankheit ſein können, werde ich mir Rechen— ſchaft von meinem Zuſtande geben, wie es dabei auch geſchehen kann, daß ich meinen Vorteil daraus ziehe. Man kennt den Ab— grund Pascals und die Hölle Descar— tes'. Bei dieſem Schluſſe werde ich ziem— nungen vorübergehend, ausſetzend oder pe— riodiſch ſind, da die Gründe des Zweifels in dieſem Falle mächtiger ſind, als die Gründe des Glaubens. Ich habe einen flüchtigen Blick auf die verſchiedenen Arten der Hallueinationen geworfen, von der ausgeſprochenſten Toll— heit an bis zu der einfachſten geiſtigen Krankheit. Man wird bemerken, daß die Illuſionen darin durchaus motivirt ſind und daß der Hallueinirende darauf acht— giebt, gerade weil er nach allen andern Rückſichten mit der Außenwelt in Verbin— dung ſteht. Es iſt dies, was ihnen einen Charakter von Zuſammenhang giebt, den man ſehr ſelten in den Träumen an— trifft. Aber er iſt von einer von den Ver— rücktheiten ganz verſchiedenen Natur. Die Wahnſinnigen und gewiſſe melancholiſche Verrückte, deren Zuſtand hauptſächlich von einer Anämie oder einer Gehirnerſchöpfung herrührt, haben Ideen, deren Wunder— lichkeit keineswegs denen unſrer Träume weicht. Ein Gärtner, welcher ein Bündel Weiden trägt, verwandelt ſich in ihren Augen in einen Gensdarmen, der ihren Feind ins Gefängnis führt. Ich habe eine junge Mutter gekannt, welche, durch auf— einanderfolgende Niederkunften geſchwächt, vorübergehend den Verſtand verlor. Sie führt; er ſchreibt z. B. die ihn beherrſchenden Ideen einem fremden Weſen zu.“ (Baillarger, zitirt v. Maury, a. a. O. chap. VII p. 158.) J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. bildete ſich z. B. ein, daß die Hühnchen, welche die Köchin ſchlachtete, ihre eigenen Kinder wären, und nichts war ergreifen— der zu ſehen und zu hören, als ihre müt= terliche Angſt. Es fand dabei eine jener Aufeinanderlegungen der Bilder ſtatt, von denen ich weiter oben geſprochen habe. Man muß die Erklärung dieſer und ande— rer ähnlicher Fälle in der Einſchläferung der Empfänglichkeit ſuchen, was eine An— näherung zwiſchen dieſen Krankheitsformen und dem Schlafe zuläßt. Es gehört nicht zu meinem Plan, die möglichen Urſachen des Irrſinns aufzu— ſuchen. Dennoch kann die Frage unter einem völlig theoretiſchen und völlig pſy— chologiſchen Geſichtspunkt betrachtet wer— den. Es folgt aus dem, was ich bis hier— her gejagt habe, daß die Hallueinationen von zwei oder mehr Urſachen herrühren können. Entweder rühren ſie nämlich da— her, daß die irrigen Vorſtellungen einen demjenigen der Wahrnehmungen vergleich— baren Glanz gewonnen haben, oder im Gegenteil daher, daß die Wahrnehmungs— fähigkeit ſich bis zu dem Grade geſchwächt hat, daß die Bilder der Wirklichkeit eben— ſo grau und ſtumpf geworden ſind, wie die Phantaſiebilder. Es iſt möglich, daß dieſe beiden Urſachen häufig zuſammen— wirken, aber das iſt ein Punkt, den ich nicht zu unterſuchen habe. Aber wie es auch darum ſtehe, man kann auf die Verirrungen des Wahnſinns die Erklärung ausdehnen, welche Ari— ſtoteles von den Träumen giebt, und ſagen, indem man ſie ein wenig erwei— tert, daß ſie dem Verrückten angehören, ſoweit er verrückt iſt. Zwiſchen den Vor— ſtellungen des Verrückten und denen des vernünftigen Menſchen giebt es alſo kei— 133 nen Unterſchied in pſychologiſcher Bezieh— ung, die Verſchiedenheit iſt phyſiologiſch oder beſtimmter geſagt, rein pathologiſch. Ich gehe jetzt zu den andern Fragen über, deren Erörterung ich noch ſchuldig bin. Die erſte iſt, zu wiſſen, an welchem Kennzeichen man praktiſch eine Vorſtel— lung von einer Wahrnehmung unterſchei— den kann, in dem Augenblicke, wo beide den gleichen Glanz beſitzen. Die Antwort iſt ſehr einfach. Die Vorſtellung iſt durch— aus perſönlich, die Wahrnehmung Allen gemeinſam. Die Stiche in meinem Zim— mer kann Jedermann ſehen, Jeder berüh— ren; diejenigen, welche ſich in meiner Ein— bildung befinden, ſind Allen unzugänglich außer mir ſelbſt. In Betreff von Wahrnehmungen und Vorſtellungen iſt alſo das Zeugnis der andern Menſchen das einzige Kriterium, welches uns leiten kann. Aber dieſes Kri— terium iſt unglücklicherweiſe nicht unfehl— bar. Geſchieht es nicht mitunter, daß ganze Volksmaſſen wunderbare Erſcheinungen ſehen? In ſeinem ſo lehrreichen Buche „Über das Studium der Natur“?) erwähnt Herr Houze au, der Direktor des Brüſ— ſeler Obſervatoriums, der von den Rö— mern in ihre Gräber geſtellten Grablam— pen und daß zahlreiche Zeugen verſichert haben, ſie noch brennend geſehen zu ha— ben, als das Innere der Gräber ans Licht gezogen wurde. Das iſt eine vollkommen unmögliche und im übrigen ſehr leicht feſt— zuſtellende Thatſache. Was leſen wir nun zum Beiſpiel in den Protokollen über die Eröffnung eines römiſchen Grabes auf der Inſel von Niſida bei Neapel, welche Porta ) De l’etude de la Nature. Bruxelles, 1876, p. 99. 134 geſammelt hat?“) „Würdige, geehrte, ver ſchiedenen Profeſſionen angehörende Män— ner, unter andern eine namhafte Magi- ſtratsperſon, bezeugen,“ ſagt Houzeau, „mit ihren Augen, auf die ſicherſte und zweifelloſeſte Art, chemiſche Wunder ge— ſehen zu haben, welche für ſie nur ein verlornes Geheimnis waren.“ Mitten im achtzehnten Jahrhundert wurden die Wun— der des Diaconus Paris von einer Beweis— menge geſtützt, wie ſie die beſtbeglaubig— ten hiſtoriſchen Ereigniſſe ſchwerlich vor— weiſen könnten. Endlich, was noch ſtär— ker iſt, ſehen wir nicht in unſern Tagen Philoſophen, Gelehrte, Naturforſcher, die Fechner, Zöllner, Ulrici, Wallace u. ſ. w. durch die ſpiritiſtiſchen Gaukeleien eines Slade myſtifizirt werden? Indeſſen, allgemein geſagt, ſind die Ideen eines Verrückten, ſoweit er verrückt iſt, unmitteilbar; ſie ſind nicht im Stande, ſich andern aufzudrängen; auch iſt er im— mer geneigt, ſeine Unglücksgefährten als Wahnſinnige und die Beſucher von außen— her als bornirte und verblendete Leute zu betrachten. Und nichts deſtoweniger bringt uns eine weitere Überlegung in Verwir— rung. Daß nämlich Menſchen von Genie durch viel weniger kluge Leute als ſie ſelbſt für Narren gehalten werden! Um nur ein aus der Gegenwart genommenes Bei— ſpiel anzuführen, wie viele berühmte Per— ſonen haben beim Anfang nicht an die Zukunft der Eiſenbahnen, ja nicht einmal an ihre praktiſche Ausführbarkeit glau— ben wollen? Und wenn die Irrenhäuſer Erfinder des Perpetuum mobile und an— derer phyſikaliſch unmöglicher Maſchinen beherbergen, haben ſie ſich nicht auch manch— *) Magia naturalis. Große Ausgabe von 1589, lib. XII, von Houzeau zitirt. J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. mal über einen höherſtehenden Träumer geſchloſſen? Daher dieſes im Grunde ab— ſurde, aber für den Haufen wahre Sprich— wort, daß das Genie und die Tollheit mehr als einen Berührungspunkt darbieten. Wir ſind noch nicht am Ende der Schwierigkeiten. Es iſt vorgekommen, daß Verrückte dahin gelangt ſind, andere Ver— rückte zur Annahme ihrer tollſten An— maßungen zu bringen. Herr Spring, der Verfaſſer der Symptomatologie ou Traite des accidents morbides, erzählte mir eines Tages, daß er in einem Ir— renhauſe einen Gott Vater gekannt habe, der ſich eine gewiſſe Anzahl von Anbe— tern verſchafft hatte. Und ſieht man nicht in Wirklichkeit ganze Nationen, große menſchliche Geſellſchaften an die Unfehl— barkeit eines Menſchen glauben, den in letzter Inſtanz andere Menſchen mit die— ſem Vorrecht bekleidet haben? 5 Alles wohl betrachtet und alles wohl erwogen, wird man fatalerweiſe immer wieder zu dieſem anderwärts von mir aus— geſprochenen?) Schluß zurückgeführt, daß wenn einerſeits die Wahrheit exiſtirt, an- dererſeits das abſolute Kriterium der Wahr— heit nicht exiſtirt, daß man unterſcheiden muß zwiſchen ſubjektiver und objektiver Gewißheit; daß unſre Überzeugung, fo feſt ſie auch ſei, nicht begründet werden kann; daß die Wahrheit für uns nur einen ganz proviſoriſchen Charakter haben kann. Thatſächlich wird der einzige Grund, wel— cher uns eine Aufſtellung verwerfen läßt, aus den Widerſprüchen geſchöpft, welche ſie mit andern von uns für wahr gehal— tenen Aufſtellungen darbietet. Wie auch ) Man ſehe meine Logique scientifique. Bruxelles et Liege, 1865, und meine Logique algorithmique, ibidem 1877. J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. die Zahl der letzteren ſich täglich zu ver- mehren ſtrebt, nichts ſtellt uns ſicher, daß nicht eines Tages neue Widerſprüche auf— tauchen werden; die Geſchichte der Wiſ— ſenſchaften hat uns nur zu ſehr an dieſe Art von Überraſchungen gewöhnt. Aber wenn das Mißtrauen in unſer Wiſſen durch die ſchwachen Seiten unſe— rer intellektuellen Fähigkeiten gerechtfer— tigt wird, ſo ergreifen wir im Gegenteil hiermit den wahren Probirſtein des Ver— nunftzuſtandes. Wie jedes andere Phäno— men hat der Irrtum ſeine Urſache, er iſt von dieſem Geſichtspunkte erklärbar und in irgend einer Art logiſch. Dieſe Ur— ſache beſteht in einer unvollkommenen Anſchauung der Dinge.“) Sich korrigi— ren heißt mehr und beſſer ſehen. Ohne Zweifel iſt der menſchliche Geiſt nicht ge— halten, alles zu ſehen, aber er müßte ſich hüten, die Exiſtenz deſſen, was er nicht ſieht, zu leugnen. Es iſt nun dieſe — ent— ſchuldbare aber unkluge — Verneinung, welche die Quelle aller unſerer falſchen Urteile bildet. Dieſe Unvollkommenheit unſerer Natur geſtattet, wenn einmal gründ— lich erkannt, Niemanden eine abſolute und rückhaltloſe wiſſenſchaftliche Überzeugung in Betreff irgend einer Wahrheit zu ha— ben. Gewiß, wenn es ſich um den ſub— jektiven Glauben handelt, ſo iſt es uns unmöglich, denſelben demjenigen zu ver— ſagen, was ſich uns augenblicklich auf— drängt, ſelbſt dem Irrtum. Dieſes ge— wöhnliche und durchaus praktiſche Ver— trauen ſchließt das Zögern aus. Aber wenn es ſich um die überlegte Anhänger— ſchaft handelt, ſo iſt es immer am Orte und wir müſſen dem Zweifel ſeinen Platz gön— *) Man vergleiche meine Logique algo- rithmique, 4. Teil. 135 nen. Es giebt keine Behauptung, ſo ſicher ſie uns erſcheinen mag, die nicht der Ge— genſtand eines Zweifels ſein könnte. Die— ſer Zweifel, welcher ſich durchaus mit der Gewißheit verbündet, iſt der ſpekulative Zweifel. Es iſt ein ſpekulativer Zweifel, den Descartes ausſprach, als er ſich, ſeine Meditationen ſchreibend, frug, ob er nicht träume. Der Zweifel iſt, wie man ſieht, nicht allein mit der bewußten und überlegten Überzeugung vereinbar, ſon— dern kann ſogar nur mit ihr exiſtiren. Wenn Descartes nicht völlig wach und nicht völlig ſicher geweſen wäre, es zu ſein, würde er ſich nicht die Frage in dem Sin— ne geſtellt haben, den er ihr gab. So— ſius und Agidius der Seifenſieder würden nicht an ſich ſelbſt gezweifelt haben, wenn ſie nicht beigutem Verſtande geweſen wären. Der ſpekulative Zweifel iſt thatſäch— lich kein aufrichtiger, kein wahrer Zwei— fel, wie ihn manchmal der wachende wie der ſchlafende und der verrückte Menſch empfindet. Er iſt im Grunde ein ganz theoretiſcher Zweifel, welcher ſich auf Dinge erſtreckt, an denen man im Grunde kei— neswegs zweifelt und der ſich durch all— gemeine und höhere Betrachtungen recht— fertigt. Dieſer Zweifel, der das Urteil nicht trübt, iſt die Mitgift des im vollen Beſitz ſeiner Vernunft befindlichen Gei— ſtes und zur ſelben Zeit das unterſchei— dende, ausreichende und abſolute Zeichen der durchgearbeiteten Gewißheit. Dieſer Schluß iſt beim erſten Anblick fremdartig, und wird manchen Geiſtern troſtlos erſcheinen. Er wird den verzwei— felnden und verzweifelten Philoſophen zum neuen Thema dienen, und ſie werden ihn zu einen Grundtext nehmen, um den Men- ſchen zu einem herabgekommenen Tanta⸗ ; 136 J. Delboeuf, Der Schlaf und die Träume. lus der Wahrheit zu machen. So ſchlimm zum Teil irrige, zum Teil unvollkommene iſt unſer Geſchick nicht. ſchöpflichen Ozean der Wahrheit getaucht, iſt es uns nicht verſagt, unſre Lippen dar— an zu erfriſchen. Ohne Zweifel, wenn In den uner- Überſetzung. Iſt man nicht in jüngſter Zeit ſo weit gegangen, die Feſtigkeit der Grundſätze der Geometrie anzuzweifeln? man die ganze menſchliche Wiſſenſchaft als eine Sammlung von nebeneinander auf- geſtapelten und aufeinander einflußloſen Wahrheiten, Falſchheiten, und Dunkel- heiten betrachtet, und wenn man ferner als das Ziel der Vernunft die Vermeh— rung der Summe des Wahren und die Beſchränkung der Gebiete des Irrtums und des Unbekannten betrachtet, da wird man von dem Tage an, wo man erkennt, daß man keine Gewißheit erlangen kann, ſich von Mutloſigkeit hinreißen laſſen und nach der Vernichtung des Denkens ſtreben. Aber beruhigen und tröſten wir uns. Wenn die abſolute Gewißheit uns entgeht und immer entſchlüpfen wird, ſo wird die re— lative und unbegrenzt fortſchreitende Ge— wißheit, die einzige unſrem endlichen Ver— ſtande zugängliche, unſrem Ehrgeiz genü— gen und im Stande ſein, ihn zu befriedi— gen. Die Wahrheit iſt eine. Es giebt keine Wahrheiten, ſondern nur die Wahr— heit. Die Worte „beſondere, teilweiſe Wahrheit“ ſtellen, ſtreng geſprochen, einen ungenauen Ausdruck und gewiſſermaßen einen Unſinn dar. Alle unſre Wiſſenſchaften, ſelbſt die am meiſten poſitiven, geben von der Wahrheit eine zum Teil zweifelhafte, Hat man nicht die Fundamente der Lo— gik in Frage geſtellt? Die Wahrheit zeigt ſich unſern Augen ſtets nur vom Kopfe bis zu den Füßen verſchleiert, und wie der Göttin von Sais wird keine menſchliche Hand ihr den Schleier wegziehen. Aber dieſer Schleier wird von Tag zu Tag durchſichtiger, weil unſer Blick immer durchdringender, immer ſchär— fer wird. Die Wahrheit gehört alſo nicht zu den Dingen, deren Eroberung wir voll— enden, indem wir ſie Stück für Stück in Beſchlag nehmen; ſie gehört vielmehr zu denen, deren völliger Beſitz uns verſagt iſt, die man aber anbeten muß, und der man ſich immer inniger annähern kann, indem man die Berührungspunkte und die Bindemittel vermehrt. Hüten wir uns ein— zig vor der Selbſtüberſchätzung und dem Rauſch der erſten Einblicke und erſten Um— armungen. Das iſt der Anfang des Wiſ— ſens zu wiſſen, daß man nichts weiß; ver— geſſen wir noch weniger, daß man nie— mals das ganze Nichts weiß. Die Be— ſcheidenheit, das Mißtrauen, der Zweifel find die Zeichen des wahren Wiſſens. Iſt die Selbſtgenügſamkeit nicht die gewöhn— liche Begleiterin der Unwiſſenheit und der Beſchränktheit? Hünftliche Diamanten. 5? 10 die in England kürzlich gelun— gene Darſtellung künſtlicher Dia— manten hat F. W. Rudler im Aprilheft des laufenden Jahrgangs von W. S. Dallas' Popular Science Review einen Artikel veröffentlicht, aus welchem wir un— ter Hinzuziehung des von Prof. Stokes der Royal Society von London am 26. Februar vorgelegten Berichtes das Fol- gende entnehmen: Vor ungefähr drei Monaten erregte der Induſtrielle James Maktear in Glasgow in allen Kreiſen ein nicht unbe— trächtliches Aufſehen durch die Mitteilung, daß das lange umworbene Problem der künſtlichen Herſtellung farbloſer und durch— ſichtiger Kohlenkriſtalle, die den Diaman— ten vergleichbar, wenn nicht identiſch wä— ren, ihm endlich gelungen ſei. Indeſſen erwieſen ſich ſeine Angaben als verfrüht, die vermeintlichen Diamanten hielten einer genauen Unterſuchung von Prof. Maske— lyne und Dr. Flight nicht ſtand, ſie ſchei— nen aus einer Kieſelverbindung beſtanden zu haben. Es iſt wohl in bezug auf andre Dinge geſagt worden, daß die „mißglückten An— Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. | läufe der Vergangenheit den Triumph der | Zukunft vorbereiten“. Auch auf unſere an- gehenden Diamantfabrikanten iſt dies Wort nicht unanwendbar. Kaum waren Mak— tears Unterſuchungen von der Offentlich— keit verſchwunden, als H. A. Allen von Sheffield denſelben Anſpruch für Dr. R. S. Marsden erhob, und bevor dieſes zweite Verfahren veröffentlicht wurde, brachte J. Ballantyne Hannay, ein jun— ger Glasgower Chemiker, wirkliche künſt— liche Diamanten zu ſtande. Seit längerer Zeit iſt Hannay mit einer ſehr intereſſanten Unterſuchungsreihe beſchäftigt geweſen, die ihn unerwartet zu dieſer Entdeckung geführt hat. Um dieſe Unterſuchungen zu würdigen, iſt es nötig, auf einen Gegenſtand zurückzukommen, der beim erſten Anblick keine Beziehung zur künſtlichen Darſtellung der Diamanten zu haben ſcheint. Vor mehr als einem halben Jahrhun— dert machte Cagniard de la Tour einige bemerkenswerte Experimente, um den Ein— fluß der Hitze auf in ſtarken Gefäßen ein— geſchloſſene Flüſſigkeiten feſtzuſtellen. Dieſe Unterſuchung wurde ſpäter durch An— drews in Belfaſt fortgeführt. Er zeigte z. B., daß Kohlenſäuregas über eine ge— Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 18 138 wiſſe Temperatur hinaus durch Druck nicht verflüſſigt werden kann; aber das ſo zu— ſammengepreßte Gas nimmt ein Verhalten an, welches weder das einer Flüſſigkeit, noch das eines Gaſes iſt. Man erniedrige die Temperatur und es wird eine wahre Flüſſigkeit; man erniedrige den Druck und es wird zum wahren Gaſe. Es wurde ge— funden, daß die beiden phyſikaliſchen Zu— ſtände der Flüſſigkeit und Gasförmigkeit durch unmerkliche Stufen in einander über— gehen, jo daß die Kontinuität zwiſchen die— ſen beiden Zuſtänden vollſtändig iſt. Jene beſondere Temperatur, über welcher der Druck das Gas nicht mehr verflüſſigt, wurde ſein kritiſcher Punkt genannt. Zurückkehrend zu den Experimenten von Cagniard de la Tour und Andrews, bei denen Flüſſigkeiten in geſchloſſenen Röhren erhitzt wurden, wollen wir anneh— men, ein feſter Körper ſei in der bis über ihren kritiſchen Punkt erhitzten Flüſſigkeit aufgelöſt. Was wird geſchehen? Die Flüſ— ſigkeit wird in den gasförmigen Zuſtand übergehen, aber was wird dabei aus dem feſten Körper werden? Dieſe Frage ſtellte ſich Hannay bei ſeinen in Verbindung mit Herrn Hogarth angeſtellten Verſu— chen. Beim erſten Anblick möchte als wahr— ſcheinlich angenommen werden, daß der feſte Körper, wenn er nicht ſelbſt bei der Temperatur flüchtig iſt, bei welcher das Löſungsmittel in gasförmige Geſtalt über— geht, in feſter Geſtalt ausgeſchieden wer— den würde. Der Verſuch widerlegte indeſſen dieſe Annahme völlig. Es wurde bald bemerkt, daß der feſte Körper in manchen Fällen nicht abgeſchieden wurde, ſondern in dem Gaſe wie in einer Flüſſigkeit gelöſt blieb. Der Gebrauch des allgemeinſten Löſungs— Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. mittels, des Waſſers, war bei dieſen Ver— ſuchen ausgeſchloſſen, teils weil ſein kriti— ſcher Punkt ungewöhnlich hoch liegt, teils weil es bei hoher Temperatur und ſtarkem Druck eine ungewöhnlich ſtark auflöſende Kraft auf die Glaswandungen ausübt. Als geeigneter wurde Alkohol gefunden, und viele der erſten Verſuche von Hannay und Hogarth wurden mit einer Auflö— ſung von Jodkalium in Alkohol ange— ſtellt. Eine ſtarke Röhre wurde ungefähr zur Hälfte mit einer Auflöſung von Jod— kalium in Alkohol gefüllt, zugeſchmolzen und darauf im Luftbade bis über den kri— tiſchen Punkt des Alkohols hinaus erhitzt. Der Alkohol wurde gasförmig und das Jodkalium blieb, anſtatt niedergeſchlagen zu werden, in dem Gaſe gelöſt. Sogar wenn die Temperatur auf 380% C. (d. h. 150° über den kritiſchen Punkt) erhöht wurde, behauptete das Alkoholgas noch ſeine löſende Kraft auf das Salz. Inzwi— ſchen wurde es durch eine geiſtreiche An— ordnung möglich, ein Stückchen des Jodids der Wirkung des überhitzten Gaſes aus— zuſetzen, und man ſah, wie es ſich in dem unſichtbaren Löſungsmittel langſam auf— löſte. Aber wenn man langſam die gas— förmige Auflöſung von dem Drucke be— freite, unter welchem ſie ſich befunden, ſo wurde das Jodkalium entweder als eine Wolke von zarten, ſchneeförmigen Kriſtal— len oder als eine kriſtalliniſche Decke, wie Rauhfroſt, auf der Röhrenwandung ab— geſchieden. Wurde hingegen der Druck wieder vermehrt, ſo löſten ſich die Kriſtalle von neuem und verſchwanden allmählich. Da ähnliche Verſuche auch mit ſchwer— löslichen Körpern gelangen, und beiſpiels— weiſe Kieſelſäure, Thonerde und Zinkoxyd unter ſtarkem Druck in überhitztem Waſſer— Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. dampf in beträchtlicher Menge aufgelöft wurden, und da auch dieſe gaſigen Löſun— gen die feſten Körper faſt immer in kri— ſtalliniſcher Geſtalt ausſchieden, ſo lag es nahe, auch den Kohlenſtoff, der allen ge— wöhnlichen Löſungsmitteln, den Säuren und Alkalien, Alkoholen und Athern wi— derſteht und ſich nur im geſchmolzenen Gußeiſen auflöſt, aus welchem er in gra— phitähnlichen Schuppen auskriſtalliſirt, den neuen Löſungsmitteln zu unterwerfen. Wie es ſcheint, hat das Aufſehen, welches Mak— tears Verſuche in Glasgow erregten, die beiden genannten Chemiker veranlaßt, ein— ſchlägige Experimente anzuſtellen, da ſich ja die feſten Körper in kriſtalliniſcher Ge— ſtalt aus den gaſigen Löſungsmitteln aus— ſchieden. Indeſſen mußte Hannay bei ſeinen erſten Verſuchen bemerken, daß keines ſei— ner gasförmigen Löſungsmittel hinreichte, Kohle in irgend einer Form, als Graphit, Holzkohle oder Lampenruß, aufzulöſen. Es mußte alſo auf einem Umwege vorgegan— gen werden, um das vorgeſteckte Ziel zu erreichen. Kohlenſtoff iſt bekanntlich durch die Zahl der flüchtigen Verbindungen aus— gezeichnet, die er im Stande iſt, mit dem Waſſerſtoff zu bilden. Nun fand Han— nay, daß wenn ein Kohlenſtoff und Waſ— ſerſtoff enthaltendes Gas in Gegenwart gewiſſer Metalle, wie Magneſium oder Natrium, einer hohen Rotglut unter ſtar— kem Druck ausgeſetzt wird, der Kohlen— waſſerſtoff zerſetzt wird, indem ſich der Waſſerſtoff mit den Metallen, zu denen er bei hoher Temperatur ſtarke Verwandt— ſchaft hat, verbindet, während der Kohlen— ſtoff ausgeſchieden wird. Um die hohen Temperaturen und den ſtarken Druck wirken 1 zu können, wendete Hannay für 139 dieſe Verſuche ſtarke, Flintenläufen ähn— liche Eiſenröhren von ungefähr ½ Zoll innerer Weite bei 3¼ Zoll äußerer Dicke an, und ſelbſt dieſe wurden im Lauf der Experimente meiſtens (neunmal von zehn— mal) aufgeriſſen. Es erſchien wahrſcheinlich, daß der bei dieſer Zerſetzung in Freiheit geſetzte Koh— lenſtoff im Momente feiner Bildung und in statu nascenti in dem Gaſe aufgelöſt und bei Nachlaß des Druckes in kriſtal— liniſchem Zuſtande abgeſchieden werden möchte. Hannay hat gefunden, daß es, um die Kohle in dem gewünſchten kriſtal— liniſchen Zuſtande zu erhalten, nötig iſt, daß eine hitzebeſtändige Stickſtoffverbin— dung zugegen ſei. Als dieſe Bedingungen erfüllt wurden, hatte der Experimentator die Genugthuung, daß ſich die Kohle in der That in diamantähnlicher Form ausſchied. Dieſe diamantartige Kohle iſt nicht nur durch den Entdecker ſelbſt, ſondern auch durch Profeſſor Maskelyne, eine ausgezeichnete mineralogiſche Autorität, ge— nau unterſucht worden. Erſtens, was die Härte, die am meiſten charakteriſtiſche und wertvollſte Eigenſchaft der Diamanten, an- betrifft, ſo hat ſich gezeigt, daß Hannays Kriſtalle leicht tiefe Furchen in einen Sa— phir gruben, alſo eine angreifende Kraft zeigten, welche keine Subſtanz als eben der Diamant beſitzt. In Hinſicht auf die Kriſtallform iſt wenig zu ſagen, da die vorhandenen Stücke eher Diamantſplittern als Kriſtallen gleichen. Doch in einem Falle ſah Maskelyne oktaödriſche Spalt— flächen, und Hannay hat auf das Vor— handenſein der für Diamantkriſtalle ſo cha— rakteriſtiſch gekrümmten Flächen aufmerk— ſam gemacht. Optifch verhalten ſich die Kriſtallfragmente ganz nach Erwartung, 140 und ermangelten nicht, ein entſprechendes ſpezifiſches Gewicht (3,5) zu zeigen. Die chemiſchen Kennzeichen endlich laſſen nichts zu wünſchen übrig. In dem Voltaiſchen Bogen erhitzt, ſchwillt dieſe Kohle auf und wird ſchwarz, grade wie der Diamant, während er wie gewöhnlich in Sauerſtoff verbrennt und reine Kohlenſäure liefert. Der Verſuch zeigte, daß der künſtliche Kri— ſtallkörper 97,85 „ Kohlenſtoff enthält. Alle dieſe Beweislinien konvergiren in dem Punkte, daß wir es hier mit einer Subſtanz zu thun haben, die nach allen Richtungen nicht mehr und nicht weniger als Diamantiſt. Es ſcheint alſo, daß Hannay die Na— tur ſo erfolgreich nachgeahmt hat, um einen von dem natürlichen Edelſtein nicht zu unterſcheidenden Körper hervorzubrin— den. In Verbindung mit dieſer intereſſan— ten Entdeckung erheben ſich indeſſen natur— gemäß zwei Fragen: Erſtens, iſt die künſt⸗ liche Subſtanz auf demſelben Wege er— zeugt worden, wie der natürliche Dia— mant? Und zweitens, kann das künſtliche Produkt in ſolcher Menge und mit ſolcher Leichtigkeit erzeugt werden, um mit Vorteil auf den Markt gebracht werden zu können? Die erſte Frage iſt nicht ſo leicht zu beantworten. Die Natur hat einen ſolchen Reichtum an Hilfsmitteln zu ihrer Verfü— gung, daß ſie, um zu einem beſondern Ziel zu gelangen, keineswegs auf ein einziges Hilfsmittel angewieſen iſt. Nichts mög— licher, als daß der Diamant der einen Ort⸗ lichkeit in der einen und ein anderer in anderer Weiſe gebildet ſein könnte. In der That ſind die Bedingungen ſeines Vor— kommens in verſchiedenen Teilen der Welt einander ſo unähnlich, um es höchſtwahr— ſcheinlich zu machen, daß z. B. die Dia— manten Braſiliens und Südafrikas durch ſeien. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ganz verſchiedene Prozeſſe hervorgebracht Es iſt daher möglich, das Han— nay einen Weg der Natur, Diamanten hervorzubringen, nachgeahmt hat, aber auch dann läge es noch weit entfernt, anzunehmen, daß alle Diamanten ſo entſtanden ſeien. Es war ein altes alchemiſtiſches Dogma, daß „Vulkan eine zweite Natur iſt, die genau nachahmt, was die erſte mit Zeit und Umwegen bewirkt“. Dieſem Grund— ſatze gehorchend, hat Hannay den Vulkan zu ſeinem gehorſamen Diener gemacht, aber ein gut Teil deſſen, was wir über den na— türlichen Diamanten gewiſſer Lokalitäten wiſſen, richtet ſich dahin, anzudeuten, daß Vulkan nicht allerwärts ſeiner Erzeugung vorgeſtanden hat. „Wir ſind gänzlich un— bekannt mit der Art ſeiner Bildung in der Natur“, hat ein berühmter Chemiker kürz— lich geſagt, „das einzige Ding, welches als gewiß betrachtet werden kann, iſt, daß er nicht in hoher Temperatur gebildet wurde“. Nach allem Anſcheine iſt die Diaman— ten⸗Erzeugung ein Gegenſtand von blos wiſſenſchaftlichem Intereſſe; die praktiſche Frage für das unwiſſenſchaftliche Volk lau— tet: Kann Hannay ſein Produkt in hin: reichender Menge erzeugen, um den Dia— mantenmarkt dadurch zu beeinfluſſen? Edel— ſteinbeſitzer mögen ſich indeſſen durch die Verſicherung beruhigen laſſen, daß für jetzt die künſtlichen Diamanten ſehr klein und koſtbar ſind. Wenn der Chemiker ſeine wohlausgedachte Operation beendet hat und das Eiſenrohr öffnet, ſo findet er, daß ſeine Diamanten nicht wie diejenigen Sind— bads „von erſtaunlicher Größe“ ſind. Sie ſind vielmehr von erſtaunlicher Kleinheit. Aber wären ſie auch nicht größer als Na— delköpfe, das Experiment wird doch ein wertvoller Triumpf der Wiſſenſchaft blei— Sr 4 r = F Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ben. Freilich kann man nicht wiſſen, ob die Induſtrie nicht dennoch Mittel finden wird, die wiſſenſchaftliche Methode auszu— beuten und größere Kriſtalle zu erzeugen. Die Virkungen des ununferbrochenen Honnenlichkes auf die Pflanzen der | Volarländer. Prof. Schübeler in Chriſtiania, der ſeit nahezu dreißig Jahren mit der Be— obachtung der klimatiſchen Einflüſſe auf die Pflanzenwelt beſchäftigt iſt, hat in eini— gen kürzlich erſchienenen Nummern der ſkandinaviſchen Zeitſchrift, Naturen“ feine Studien über den Einfluß der nordiſchen Belichtungsverhältniſſe dargelegt, über welche wir nach einem Referat der engli— ſchen Zeitſchrift,, Nature“, Nr. 535 (1880), das Folgende mitteilen. Die erſte ſeiner Beobachtungsreihen be— zieht ſich auf den Winterweizen und wurde aus demſpeziellen Geſichtspunkt unternom— men, feſtzuſtellen, welche Wirkung das faſt ununterbrochene Sonnenlicht des kurzen ſkandinaviſchen Sommers auf die aus frem— dem Samen erwachſenen Pflanzen ausübt. Die Experimente wurden mit Samenproben von Beſſarabien und Ohio angeſtellt und in beiden Fällen wurde bemerkt, daß die Ori— ginalfarbe der Körner ſchrittweiſe jedes Jahr eine ſeit dem erſten Jahr bemerk— bare reichere und dunklere Färbung an— nahmen, bis ſie endlich zu der gelbbrau— nen Färbung des heimiſchen norwegiſchen Winterweizens angekommen waren. Ahn— liche Reſultate wurden mit Mais, ver⸗ ſchiedenen Arten von Garten- und Feld— Gartenpflanzen, wie Sellerie, Perſilie u.f. ! w., erhalten. In keinem Falle hat Dr. | 141 Schübeler gefunden, daß eine eingeführte Pflanze, die fähig war, in Norwegen kul— tivirt zu werden, an Farbenintenſität nach fortgeſetzter Kultur verlor, während in Bezug auf manche der gemeinen Garten— blumen Mitteleuropas, wie er glaubt, mit Gewißheit behauptet werden kann, daß ſie nach ihrer Acelimatiſation in Norwe— gen ſowohl einen Größezuwachs, als eine Erhöhung der Farbe erlangten. Dieſe ver— änderten Bedingungen werden um ſo zwin— gender offenbar, je weiter nach Norden wir gehen, natürlich in den Grenzen der Vegetationsfähigkeit der verſchiedenen Pflanzen. So iſt von Prof. Wahlberg in Stockholm beobachtet worden, daß Epi- lobium angustifolium, Lychnis sylve- stris, Geranium sylvaticum und viele andere in Lapmarken und den ſüdlicheren Provinzen Schwedens gemeine Pflanzen in dem erſteren einen Wuchs und einen Farbenglanz zeigen, wie er in den letzte— ren nicht bekannt iſt. Der Wechſel bei Veronica serpyllifolia und Trientalis eu- ropaea iſt bemerkenswert, indem die erſtere, je weiter man nach Norden kommt, aus einem blaſſen in ein dunkles Blau über- geht, und die letztern von weiß in Roſen— farbe. Es iſt bemerkenswert, daß ein ro— ter Ton für die Vegetation der ſkandina— viſchen Hochebenen (Fjelds) im allgemeinen charakteriſtiſch iſt, und zwar gleicherweiſe bemerkbar in den blauen, gelben, grünen und weißen Färbungen. Die Farbe iſt indeſſen nicht die all— einige, durch das ununterbrochene Tages— licht des ſkandinaviſchen Sommers beein— flußte Eigenſchaft der Pflanzen, denn nach Erbſen ſowie Bohnen und gewiſſen andern Prof. Schübeler iſt das Aroma aller wilden und dort kultivirbaren Früchte viel größer, als dasjenige derſelben Früchte, wenn fie in ſüdlicheren Ländern gewach— ſen ſind. bei Erdbeeren, Kirſchen und den verſchie— denen Arten von wilden Sumpf- und Wald— beeren. In Bekräftigung dieſer Erfahrung hat Prof. Flückiger in Straßburg ge⸗ funden, daß der norwegiſche Wacholder eine viel höhere Ausbeute von ätheri— ſchem Ol giebt, als aus dem in Zentral- europa gewachſenen Strauch erhalten wer— den kann. Dieſer Überſchuß an Aroma iſt in den nördlichen Pflanzen und Früch— ten mit einem niedrigeren Süßigkeitsgrade vergeſellſchaftet. So ermangeln die gemeine Goldtropfenpflaume (golden-drop-plum*) und die Mirabelle (greengage) von Chri- ſtiania oder Drontheim, obwohl ſie groß, wohlgefärbt und aromareich ſind, ſo ſehr der Süßigkeit, daß ſie denen, welche dieſe Früchte in Frankreich oder Süddeutſchland gegeſſen haben, unreif erſcheinen. Dr. Edmund Göze, welcher lange in Coimbra gewohnt hat, teilte Dr. Schübe— ler mit, daß ſeine Beobachtungen über die Früchte Portugals ihn in den Stand ſetzten, feine (Schübelers) Anſicht über die ver— ſchiedenen Bedingungen, von denen das Verhältnis von Aroma und Süßigkeit ab— hängig iſt, zu bekräftigen. Die in großer Zahl unweit Coimbra wachſenden Erdbee— ren ſind, wie er ſagt, groß, äußerſt ſüß, ermangeln aber im übrigen beinahe gänz— lich des Aromas und Geſchmacks. Die— ſelbe Bemerkung paßt auf die portugieſi— ſchen Weine, wenn man ſie mit den höchſt geſchmackreichen Erzeugniſſen der rheini— ſchen und anderer nördlicher Weinberge vergleicht, und eine Erwägung dieſer ver— *) Anm. d. Red. Es kommt hier wohl auf die Sorten ſpeziell nicht an. Als Coés golden drop finde ich die im Deutſchen „Violette Jeru— Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ſchiedenen Bedingungen veranlaßt ihn, als Dies iſt beſonders bemerkbar eine feſtgeſtellte Thatſache anzunehmen, daß Licht in demſelben Verhältnis zum Aroma ſteht, wie die Wärme zur Süßigkeit. Dieſer mit Geſchmacksſteigerung ver— bundene Zuwachs an Aroma, wie er von der ununterbrochenen Wirkung des Son— nenlichts hervorgebracht wird, hat die Fol— ge, einige unſerer höchſt ſchmackhaften Gar— tengewächſe in Skandinavien faſt unge— nießbar zu machen. So hat Dr. Schübe— ler gefunden, daß die gemeine weiße Stock— ſellerie, welche nahe bei Chriſtiania mit ſorgfältiger Beobachtung der in England befolgten Methode gezogen wurde, und welche im äußern Anſehen nicht von der auf den Covent-Garden-Markt gebrachten unterſchieden werden konnte, im Vergleich mit den milderen, angenehm ſchmeckenden engliſchen Gewächſen einen ſcharfen, uner— freulichen Geſchmack beſaß. Daſſelbe gilt vom Knoblauch, Schalotten und Zwiebeln, und dieſe Wahrnehmungen werden nicht allein durch die ſeit dreißig Jahren fortge— ſetzten Beobachtungen Schübelers, ſon— dern auch durch die übereinſtimmenden Zeugniſſe verſchiedener ſeiner Kollegen be— ſtätigt, die gleich ihm praktiſche Verſuche mit der Acclimatiſation fremder Gewächſe in Norwegen machten. Von dieſem Ge— ſichtspunkt ſind einige Beobachtungen Dr. Schübelers von ſpeziellerem Intereſſe, und bei der gegenwärtig niedrigen Stufe der induſtriellen Entwicklung Norwegens würde ihre praktiſche Verwendung höchſt wichtig ſein. So zeigt er, daß während in Holland, Deutſchland und Mittelrußland Leinöl im Verhältnis von 3—4 % vom ſalemspflaume“ genannte Zwetſche bezeichnet; un— ter greengage wird andrerſeits in England auch die Reine-Claude verftanden. — Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Gewicht der Pflanzen, aus denen man es erhält, genommen wird, unkultivirte nor— wegiſche Pflanzen im Ertrage zwiſchen 4 und 8 % variirten. Ferner überzeugten ihn ſeine Experimente über den Ertrag an ätheriſchem Lavendelöl, daß in Chri— ſtiania oder Drontheim gewachſene Pflan— zen, verglichen mit denen von Merton, die bisher als die vorzüglichſten in der Welt galten, dieſe bei weitem an Aroma über— trafen, und er iſt der Anſicht, daß die Kul- teſten und klarſten Nächten und blieben tur dieſer Pflanze in den norwegiſchen Kü— ſtenländern mit zweifelloſem Erfolge ein— geführt werden könnte. Während Dr. Schübeler nicht zögert, zu behaupten, daß Licht Aroma erzeuge, wie die Wärme Süßigkeit hervorbringt, iſt er nicht im Stande geweſen, feſtzuſtel— len, welchen Einfluß beide auf die Erzeu— gung vegetabiliſcher Alkaloide haben. In Verbindung Mit feinen eigenen Beobach— tungen berichtet er einige merkwürdige Ein— zelnheiten, die Wirkung des ununterbroche— nen Sonnenſcheins auf die Pflanzen be— treffend, welche er von intelligenten Be— wohnern erhalten hat, die unter ſeiner Anleitung gewiſſe Experimente ausgeführt haben. So wurde ſowohl zu Alten in Weſt— Finnmarken, als zu Stamſund auf den Lofoten beobachtet, daß Pflanzen von Aca- cia lophanta ihre Blätter während zweier Monate oder länger, ſo lange die Sonne über dem Horizont blieb, niemals zuſam— menlegten. Zu Alten wurde ein Verſuch angeſtellt, bei welchem die Hälfte der Krone einer Akazie während der Nacht beſchattet wurde, und das Ergebnis war, daß nach ungefähr zwanzig Minuten die beſchatteten Blätter ſich zuſammenzulegen begannen und geſchloſſen blieben, bis die Pflanze wieder Er der Mitternachtsſonne ausge— | 143 ſetzt wurde, worauf nach einiger Zeit die Blätter ſich wieder langſam zu entfalten begannen. Zu Stamſund wurde beobach— tet, daß, wenn die Akazien auf der Nord— ſeite eines Hauſes aufgeſtellt wurden, wel— che teilweiſe durch ein benachbartes Fjeld beſchattet wurde, die Blättchen ſich auf— wärts wendeten, ohne ſich indeſſen völlig zu ſchließen und dasſelbe wurde bei Re— genwetter beobachtet. Die Blätter von Mimosa pudica ſchloſſen ſich in den lich— für einige Stunden zurückgefaltet. Ohne die weiteren Details von Dr. Schübelers zahlreichen Experimenten aufzuzählen, wollen wir ihre Reſultate im folgenden kurz zuſammenfaſſen: 1. Der Weizen, welcher in niedriger liegenden Ländereien gewachſen iſt, kann mit Erfolg auf den Hochebenen (Fields) kultivirt werden, und kommt auf ſolchen Höhen trotz der niedrigen Mittel-Tempe— ratur ſogar früher zu Reife. Solches Ge— treide, welches ſeit mehreren Jahren auf der höchſten Ortlichkeit, die fein Gedeihen noch zuließ, kultivirt worden war, wurde, wenn es an feinen urſprünglichen Stand— ort zurückverſetzt worden war, früher rei— fend gefunden, als die andern unbewegt gebliebenen Sorten. Dasſelbe Reſultat iſt bemerkbar bei Getreide, welches von einem ſüdlichen nach einem nördlicheren Stand— orte und zurück verpflanzt worden war. 2. Von einer ſüdlichen Lokalität ein— geführte Sämereien, nehmen in den mit ihrem Gedeihen verträglichen Grenzen an Größe und Gewicht zu, und dieſe ſelben Samen nehmen, nach ihrer mehr ſüdlichen Heimat zurückgebracht, wieder bis zu ihren früheren Dimenſionen ab. Ein ähnlicher Wechſel iſt bei den Blättern und Knospen Le 144 verſchiedener Baumarten und anderer Pflanzen bemerkbar. Ferner wurde ge— funden, daß Pflanzen, die in nördlicher Lokalität gezogen waren, ſowohl härter als größer wurden, als die im Süden gezogenen, und überdies fähiger, heftigen Kältegraden zu widerſtehen. 3. Je weiter wir — in gewiſſen be— ſtimmten Grenzen — nach Norden gehen, um ſo energiſcher iſt die Entwicklung der Farbſtoffe in Blumen, Blättern und Sa— men. Gleicherweiſe wird das Aroma oder der Geſchmack verſchiedener Pflanzen oder Samen an Intenſität vermehrt, und die Menge der zuckerartigen Subſtanz in dem Verhältnis vermindert, je weiter nach Nor— den (in den Grenzen ihrer Kultivirungs— Aber die Phäodarien, eine neue Gruppe kieſelſchaliger mariner Ahizopoden. In der Sitzung vom 12. Dez. 1879 der Jenaiſchen Geſellſchaft für Medizin und Naturwiſſenſchaft hielt Prof. Haeckel den nachſtehenden Vortrag, den wir als Ergänzung ſeiner in dieſen Blättern zuerſt erſchienenen Arbeit über das Protiſten— reich“) vollſtändig aus den Sitzungs— berichten dieſer Geſellſchaft mitteilen: Die Phäodarien bilden eine formen— reiche und in mehrfacher Beziehung ſehr ausgezeichnete Gruppe von großen mari— nen Rhizopoden, die zwar vorläufig am beſten nach den Radiolarien angeſchloſſen werden, aber von den typiſchen Radiola— rien (Sphärideen, Diseideen, Cyrtideen, Cricoideen ꝛc.) nicht weniger abweichen als die Acanthometren. Bisher waren von Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. den Phäodarien nur ſehr wenige Formen bekannt, welche ſämmtlich zuerſt von mir 1859 in Meſſina beobachtet und in mei— ner Monographie der Radiolarien 1862 als Vertreter von drei. verſchiedenen Fa— milien beſchrieben wurden, nämlich 1. Aulacanthida (Genus: Aula- cantha). 2. Aulosphaerida (Genus: Aulo- sphaera). 3. Coelodendrida (Genus: Coe— lodendrum). Außerdem hatte ich daſelbſt noch zwei an- dere, hierher gehörige Formen beſchrieben, nämlich Thalassoplancta, welche ich zu den Thalaſſoſphäriden, und Dietyocha, welche ich zu den Acanthodesmiden geſtellt hatte. Ein ganz neues Licht wird auf dieſe intereſſanten Rhizopoden durch die Entdeck— ungen der Challenger-Expedition gewor— fen, welche auch von den typiſchen Radio— larien eine ſolche Fülle neuer Formen aus den Abgründen des pacifiſchen Ozeans zu Tage gefördert hat, daß ich jetzt bereits über zweitauſend neue Arten zu unterſchei— den im Stande geweſen bin. Außer die— ſen haben die Tiefſeeforſchungen des „Chal— lenger“ auch eine Menge neuer, bisher völlig unbekannter Tiefſee-Phäodarien ans Licht gefördert, während deren An— zahl in den von mir unterſuchten pela— giſchen Oberflächen-Präparaten der Chal— lenger-Sammlung weniger beträchtlich iſt. Über einige der eigentümlichſten Formen von dieſen neuen Tiefſee-Phäodarien hat bereits John Murray 1876 einen kur— zen Bericht abgeſtattet und dieſelben mit dem Namen Challengeridae belegt.“) Der- ſelbe hebt als charakteriſtiſch hervor einer— =) Proceed. of the Royal Soc. 1876, Vol. 24, p. 471, 535, 556, Pl. 24, Fig. 1—6.. %) Kosmos, Bd. III, S. 10, 105 u. 215. — 1 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ſeits die äußerſt zierliche und feingefen- ſterte Gitterſtruktur ihrer großen, auffal— lend geformten Kieſelſchalen, andererſeits die konſtante Anweſenheit von großen, ſchwarzbraunen Pigmentmaſſen, welche außerhalb der Zentralkapſel in der Sar— kode zerſtreut ſind. In der neuen Anordnung der Radio— larien, welche ich 1878 in meiner Schrift über „das Protiſtenreich“ gab, hatte ich die vorher erwähnten, mit hohlen Kieſel— rohren ausgeſtatteten Phäodarien als eine beſondere Ordnung der Radiolarien unter dem Namen Pansolenia zuſammengefaßt: „Skelett beſteht aus einzelnen hohlen Röh— ren, welche bald locker zerſtreut, bald in radialer, bald in konzentriſcher Anordnung verbunden find.” “) Dieſelbe Gruppe wurde 1879 von Richard Hertwig in ſeinem Werke über den „Organismus der Radiolarien“ als beſondere Ordnung dieſer Klaſſe unter der Bezeichnung Tripyleae aufgeführt mit fol= gender Charakteriſtik: „Monozoe einker— nige Radiolarien; Kapſelmembran doppelt, mit einer Hauptöffnung und zwei Neben— öffnungen; Skelett kieſelig, von Röhren gebildet.‘ **) Weder die von Hertwig vorgeſchla— gene Benennung Tripyleae, noch meine frühere Bezeichnung Pansoleniae ſind auf alle die Rhizopoden anwendbar, welche ich gegenwärtig in der Gruppe der Phaeoda- riae zuſammenfaſſe. Denn nur ein Teil derſelben beſitzt in der doppelten Membran der Zentralkapſel die drei Offnungen, wel— che für alle „Tripyleae“ charakteriſtiſch fein ſollten; und nur bei einem Teile derſelben wird das Kieſelſkelett durch „hohle Röh— 8 *) Protiſtenreich, S. 102. 8 J. C. p. 133, p. 87. 145 ren“ gebildet („Pansoleniae“). Dagegen beruht ein eigentümlicher und auffallender Charakter aller dieſer Rhizopoden, wie zuerſt von Murray!) hervorgehoben wurde, auf der beſtändigen Anweſenheit großer, dunkelbrauner Pigmentkörner, wel— che exzentriſch außen um die Zentralkapſel gelagert ſind und einen großen Teil ihrer Oberfläche bedecken. Der Kürze halber will ich dieſen extrakapſularen, dunkeln Pig- menthaufen als das Phäodium bezeichnen (So oder ꝙνͤ,ne — dunkel, braun, dämmerig). Allerdings ſind die Phäodel— len oder die großen, braunen Körner des Phäodiums nicht echte Pigmentzellen, wie Murray“) damals angab; denn ein ech— ter Zellkern iſt in denſelben nicht nachzu— weiſen. Auch iſt die Natur des eigentüm— lichen Pigments dieſer Pſeudozellen noch nicht näher bekannt. Allein die anſehnliche Quantität und die auffallende Konſtanz, in welcher das Phäodium bei allen Phäo— darien ſich findet, während es allen typi— ſchen Radiolarien fehlt, verleiht ihm ge— wiß einen hohen Grad von ſyſtematiſcher Bedeutung. Zur Zeit ſcheinen mir die be— ſtändige Anweſenheit des exrzentrifchen Phäodiums und die eigentümlich gebaute doppelte Membran der Zentralkapſel die einzigen ſyſtematiſch verwertbaren Merk— male zu ſein, welche alle Phäodarien von allen übrigen Radiolarien trennen. Die Größe der Phäodarien tft meiſtens ſehr anſehnlich im Verhältniſſe zu den übri— gen Radiolarien, deren Durſchnittsmaß ſie bedeutend übertreffen. Die meiſten Phäo— darien ſind mit bloßem Auge ſichtbar und viele erreichen 1, —Imm Durchmeſſer und darüber. Die anſehnliche Zentralkapſel iſt meiſtens kugelig oder ſphäroidal, oft aber 9 1876, 1. c. p. 536. — **) J. c. p. 536. — Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 19 146 auch eiförmig oder länglichrund; in vielen Fällen monaxon, in anderen dipleuriſch. Ihre Membran iſt ſehr feſt und ſtets dop— pelt, die äußere ſehr dick, die innere dünn. Die Offnung derſelben, durch welche die Pſeudopodien austreten, iſt von ſehr eigen— tümlicher Struktur, welche R. Hertwig*) genau beſchrieben hat. Viele Phäodarien haben nur eine ſolche Offnung („Monopy- leae“), andere deren zwei, an entgegenge— ſetzten Polen der Zentralkapſel („Amphi- pyleae“); ſehr viele, vielleicht die meiſten, haben drei Öffnungen, eine größere Haupt— öffnung und zwei kleinere Nebenöffnungen („Tripyleae“); noch andere endlich haben eine größere Anzahl von Offnungen, welche regelmäßig oder unregelmäßig verteilt ſind („Sporopyleae“). Trotz dieſer eigentümli— chen Struktur und trotz der anſehnlichen Größe hat dennoch die Zentralkapſel aller Phäodarien nur den Formwert einer einzi— gen, einfachen Zelle. Das beweiſt das mi— krochemiſche Verhalten ihres Protoplasma— Inhalts und des davon umſchloſſenen Kerns. Dieſer Zellkern (von mir 1862 als „Bin— nenbläschen“ beſchrieben) iſt bläschenför— mig und von ſehr anſehnlicher Größe, in— dem ſein Durchmeſſer meiſtens über die Hälfte, oft ?/, oder / von demjenigen der Zentralkapſel beträgt. Bald umſchließt er einen großen Nukleolus, bald mehrere. Der extrakapſulare Weichkörper iſt bei allen Phäodarien durch zwei charakteriſti— ſche Eigentümlichkeiten ausgezeichnet; er— ſtens durch die beträchtliche Quantität der extrakapſularen Sarkode, welche viel vo— luminöſer iſt als die intrakapſulare; und zweitens durch die darin angehäuften Phä— odellen oder „dunkeln Pigmentkörner“. Die Farbe derſelben iſt meiſt dunkelbraun, oft *) 1878, 1. c. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. auch grünlich oder dunkelgrün. Der Mutter- boden der Pſeudopodien iſt ſehr mächtig und von einer voluminöſen, oft von Va— kuolen durchſetzten Gallerte eingeſchloſſen, durch welche die ausſtrahlenden Pſeudo— podien hindurchtreten. Die Phäodellen oder die eigentümlichen Pigmentkörner, welche das mächtige Phäodium zuſammenſetzen, ſind von ſehr verſchiedener Form und Größe, ebenſo wie das exzentriſche Phäodium ſelbſt. Bald hüllt letzteres den größten Teil der Kapſel, bald nur eine Seite derſelben ein. Die extrakapſularen gelben Zellen, welche bei den typiſchen Radiolarien allgemein verbreitet ſind, fehlen den Phäodarien all— gemein. Das Kieſelſkelett iſt bei den Phäoda— rien ſtets extrakapſular und ebenfalls von ſehr eigentümlicher Form und Zuſammen— ſetzung. Obwohl die einzelnen Hauptfor— men dieſer Gruppe im ganzen entſprechende Vertreter unter den typiſchen Radiolarien haben, ſind ſie doch meiſtens leicht von dieſen zu unterſcheiden. Nur bei einer klei— nen Abteilung (welche den nackten Thalaſſi— kollen entſpricht) fehlt das Kieſelſkelett ganz (Phaeodinidae). Alle anderen Phäodarien haben ein eigentümliches Kieſelſkelett, nach deſſen Bildung ich im ganzen in dieſer Le— gion 4 Ordnungen und 10 Familien un— terſcheide: I. Ordnung: Phaeoeystia: Kieſel— ſkelett fehlt entweder ganz oder beſteht aus hohlen Nadeln, welche außerhalb der Zen— tralkapſel bald zerſtreut, bald regelmäßig angeordnet ſind. 1. Familie: Phaeodinidae: Kieſelſke— lett fehlt ganz. Genera: Phaeodina, Phae- ocolla. 2. Familie: Cannorhaphidae: Kiefel- ſkelett beſteht aus zahlreichen einzelnen, hoh— Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. len Nadeln (Cavispicula) oder hohlen Git- | terſtückchen (Caviretula), welche rings in der Peripherie des extrakapſularen Weich— körpers zerſtreut, meiſtens tangential ge— lagert ſind. Genera: Cannorhaphis, Tha- lassoplancta, Dictyocha. 3. Familie: Aulacanthidae: Kiefel- ſkelett beſteht aus hohlen Radialſtacheln, welche rings von der Oberfläche der Zen— tralkapſel ausgehen und die extrakapſulare Gallerte durchſetzen. Die Oberfläche der letzteren iſt gewöhnlich mit einem dichten Mantel von feinen, hohlen Kieſelnadeln bedeckt, welche tangential gelagert und mit einander verfilzt find. Genera: Aulacan- tha, Aulancora, Aulographium. II. Ordnung. Phaeogromia: Kie⸗ ſelſkelett beſteht aus einer einzigen Gitter— ſchale, welche bald kugelig, bald eiförmig oder verſchieden geſtaltet, oft dipleuriſch, ſtets aber mit einer großen Hauptöffnung oder Mündung verſehen iſt (ſeltener mit mehreren ſolchen Mündungen). Oft finden ſich hohle Stacheln und an deren Baſis eigentümliche Porenfelder. 4. Familie: Challengeridae: Kieſel⸗ ſkelett beſteht aus einer einaxigen oder di— pleuriſchen, oft bilateral zuſammengedrück— ten und gekielten Gitterſchale, welche meiſt eiförmig oder länglich rund, und an einem Pole der Axe mit einer weiten Mündung verſehen iſt. Dieſe Mündung iſt ſelten ein— fach, meiſt mit einem hohlen Zahn be— waffnet oder in eine oder mehrere, oft veräſtelte hohle Röhren fortgeſetzt. Die Gitterſtruktur der Kieſelſchale gleicht meiſt derjenigen der Diatomeen; in jedem ſechs— eckigen Feldchen findet ſich ein feiner Po— rus.“) Genera: Challengeria, Tuscarora, *) Vgl. Murray, 1876, 1. c. Taf. 24, Fig. 1, 2, 4. 147 Gazelletta, Porcupinia, Entocannula, Lithogromia. 5. Familie: Castanellidae: Kieſelſkelett beſteht aus einer einfachen kugeligen Git— terſchale, welche an einer Stelle ihrer Ober— fläche eine weite (oft mit beſonderen Fort— ſätzen umgebene) Mündung beſitzt. Mei— ſtens iſt die Gitterſchale mit ſoliden oder hohlen Stacheln bedeckt. Genera: Casta- nella, Castanidium, Castanissa, Casta- nopsis, Castanura. 6. Familie: Circoporidaè: Kieſelſkelett beſteht aus einer ſubſphäriſchen oder po— lyedriſchen Kieſelſchale, von der nach ver— ſchiedenen Richtungen hohle, radiale Röh— ren (einfach oder veräſtelt, oft mit Wimper— quirlen beſetzt), ausſtrahlen, und welche eine große Mündung, ſowie zerſtreute Po— renfelder beſitzt. Die Poren bilden mei— ſtens Kränze um die Baſis der Stacheln.“ Genera: Circoporus, Circospathis, Circo- stephanus, Porostephanus, Porospathis. III. Ordnung: Phaeosphaeria: Kieſelſkelett beſteht aus zahlreichen hohlen Röhren, welche in eigentümlicher Weiſe zu einem großen, meiſt kugeligen oder poly— edriſchen Gitterkörper verbunden ſind. 7. Familie: Aulosphaeridae: Kiefel- ſchale einer Gitterkugel oder ein polyedri— ſcher Gitterkörper, deſſen einzelne Gitter— balken hohle Röhren find. Von den Knoten— punkten des Gitterwerkes ſtrahlen gewöhn— lich hohle Stacheln aus.““) Genera: Au- losphaera, Aulodictyum, Auloplegma. 8. Familie: Cannosphaeridae: Kieſel— ſkelett beſteht aus einer einaxigen, kugeligen oder eiförmigen, einfachen Markſchale, wel— *) Vgl. Murray, 1876, 1. c. Taf. 24, Fig. 5, 6. ) Vgl. Haeckel, Monogr. der Radiol., 1862, S. 357, Taf. X, XI. 148 che durch hohle Radialſtäbe mit einer zuſam— mengeſetzten äußeren Rindenſchale verbun— den iſt; letztere beſteht aus hohlen Röhren, welche eine weitmaſchige Gitterkugel zuſam— menſetzen, und von den Knotenpunkten der letzteren gehen einfache und veräſtelte hohle Radialſtacheln aus.“) Genera: Canna- cantha, Cannosphaera, Coelacantha. IV. Ordnung: Phaeoconchia: Kie— ſelſkelett beſteht aus zwei getrennten, gegit— terten Klappen, gleich einer Muſchelſchale; oft ſitzen auf dem Scheitel beider Klappen einfache oder veräſtelte hohle Röhren. 9. Familie: Concharida: Kieſelſkelett beſteht aus zwei halbkugeligen oder linſen— förmigen, mit der Konkavität einander zu— gekehrten Gitterſchalen, deren Ränder ge— wöhnlich mit einer Zahnreihe beſetzt ſind. Die Zähne greifen gleich den Schloßzähnen einer Muſchelſchale ineinander.“) Genera: Concharium, Conchopsis, Conchidium, Conchoceras. 10. Familie: Coelodendridae: Kieſel— ſkelett beſteht aus zwei halbkugeligen oder linſenförmigen, mit der Konkavität einan- der zugekehrten Gitterſchalen. Von den beiden entgegengeſetzten Polen der Haupt— axe (oder von den Scheitel-Mittelpunkten der Halbkugeln) gehen einfache oder baum— förmig verzweigte hohle Stacheln ab.““) Genera: Coelodendrum, Coelothamnus, Coelodrymus, Coelothauma. Wenn man die Organiſation aller vor— ſtehend angeführten Phäodarien verglei— chend überblickt, ſo läßt ſich der Charakter dieſer Rhizopodengruppe folgendermaßen definiren. ) Vgl. Hertwig, Le. 1879. p. 91, Taf. IX. **) Vgl. Murray, 1876, J. c. Pl. 24, Fig. 3. Fr), Vgl. Haeckel, Monogr. d. Rad., 1862, S. 360, Taf. XIII, Fig. 1—4; Taf. XXXL, Fig. 1—3. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Die Phäodarien ſind einzellige Rhizo— poden, deren großer Zellenleib (oder die Zentralkapſel) einen mächtigen Nucleus (oder Binnenbläschen) einſchließt. Die Zell— membran iſt ſtets doppelt, von einer oder mehreren großen Offnungen durchbrochen, durch welche das intrakapſulare Protoplas— ma mit dem viel voluminöſeren extrakap— ſularen kommunizirt. In letzterem liegt exzentriſch das Phäodium, eine eigentüm— liche, mächtige Anhäufung von dunkeln Pigmentkörnern (oder Phäodellen). Die— ſer ganze Körper iſt umſchloſſen von einer dicken, oft mit Vakuolen erfüllten Gallert— hülle, welche die zahlreichen Pſeudopodien radial durchſetzen, um über ihre Oberfläche frei auszuſtrahlen. Mit ſehr wenigen Aus— nahmen (Phäodiniden) findet ſich allgemein ein ſehr entwickeltes, ſtets extrakapſulares Kieſelſkelett, welches gleich den verſchiede— denen Gruppen der typiſchen Radiolarien ſehr mannigfaltige, oft höchſt zierliche und vielfach zuſammengeſetzte Formen bildet, meiſt ausſtrahlend in hohle Kieſelröhren. Die Vutzfüße der Kruſter. Wie ſelbſt bei nahe verwandten Tieren die verſchiedenſten Teile zu demſelben Dien— ſte herangezogen werden können, dafür giebt die Reinigung der Kiemenhöhle bei Krab— ben und Krebſen ein hübſches Beiſpiel. Die Kiemen dieſer Tiere ſitzen am Grunde der Füße oder über ihnen an den Seiten des Leibes. Über ſie her wölbt ſich von oben, ſie vollſtändig deckend und jederſeits eine geräumige Kiemenhöhle bildend, der Pan— zer der Kopfbruſt. Ein beſtändiger Waſ— ſerſtrom durch die Kiemenhöhle wird un— terhalten durch das Spiel einer großen, r muskelreichen Platte, die außen dem hin— teren Kiefer anſitzt. Bei den Langſchwän— zen (Garneelen, Flußkrebs, Hummer) bleibt ein langer Spalt offen längs des unteren Randes des Panzers, und durch dieſen tritt Die Süßwaſſergarneelen der Gattung Palaemon benutzen zur Reinigung des Lei— bes und namentlich auch der Kiemenhöhle das vorderſte Fußpaar. Während das zweite Fußpaar bei manchen Arten kräf— tige Scheeren trägt, und bei alten Männ- chen bisweilen den Körper weit an Länge übertrifft, iſt das erſte zart und ſchlank und ſeine kleinen Scheeren kaum als Waffe zu Angriff oder Verteidigung zu be— nutzen; ſeine Gelenke geſtatten meiſt der Bewegung der einzelnen Glieder einen wei— ten Spielraum und namentlich iſt die Hand ſo frei eingelenkt, daß ſie ſich nach allen Seiten biegen kann. Am Anfang der Hand ſtehen mehrere Gruppen kurzer, gekrümm— ter, am inneren Rande kammförmig ge— zähnter Borſten (Fig. 2 a, Fig. 3). Die Außenſeite beider Finger trägt mehrere Büſchel langer, gerader, ſteifer Borſten, die mit kurzen, ſpitzen Dörnchen fiedrig beſetzt Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 7 149 der Atemſtrom ein und zu den Seiten des Mundes wieder aus. Wie mit dem Atem— | ſtrome etwa eindringende fremde Körper wieder entfernt werden, hat man erſt bei wenigen dieſer Tiere beobachtet. „ % Fig. 1. Vorderfuß eines Palaemon aus dem Itajahy, 5 mal vergrößert. Fig. 2. Scheere oder Hand dieſes Fußes, ſtärker vergrößert. Fig. 3. Eine der Borſten a; Fig. 4. eine der Borſten b, noch ſtärker vergrößert. | find (Fig. 2 b, Fig. 4) und der geſchloſſe— nen Hand ein bürſtenartiges Ausſehen ge— ben. Endlich ſind die einander zugewand— ten Innenränder der Finger mit je einer Reihe weitläufig ſtehender, ſchief nach der Spitze der Finger gerichteter Zähne be— ſetzt, welche zwei ineinander greifende Käm— me bilden. Schon dieſe Ausrüſtung mit Bürſten und Kämmen würde wie die große Beweglichkeit der vorderen Scheerenfüße ſchließen laſſen, daß dieſelben als Putz— füße dienen, und die Beobachtung lebender Tiere beſtätigt es. Man ſieht dieſe zarten, beweglichen Gliedmaßen überall am Leibe und namentlich auch in der Kiemenhöhle herumtaſten, bürſten oder auch mit der Hand zufaſſen, um Schmutzteilchen zu entfernen. Übrigens ſind die vorderen Scheerenfüße nicht ausſchließlich Putzfüße; ſchon bei der Arbeit des Putzens bemerkt man nicht ſel— ten, daß ſie dieſes oder jenes, was ſie da— 150 bei erwischt, zum Munde führen, und es ſind die Scheeren dieſer Füße, welche von den Leichen größerer Tiere kleine Fleiſch— ſtückchen abzupfen und in den Mund ſchie— ben. Außerdem haben ſie, nach Henſens ſchöner Beobachtung, noch ein drittes wich— tiges Amt zu verſehen. Im Grundgliede der vorderen Fühler hat Palaemon, wie viele andere Garneelen, eine nach oben mit einem Schlitz geöffnete Höhle, deren Wand Hörhaare trägt, und in der man als Hörſteine ein Häufchen feinen Sandes fin— det. Bei jeder Häutung geht mit der in— neren Haut der Ohrhöhle auch der Hör— ſand verloren, aber ſofort leſen die kleinen Scheeren neue Sandkörnchen auf und ſtek— ken ſie ins Ohr, um den Verluſt zu erſetzen. Henſen ließ einen Palaemon der Oſtſee in einem Glaſe mit filtrirtem Salzwaſſer ſich häuten, deſſen Boden mit Kriſtallen von Harnſäure bedeckt war; ſchon nach drei Stunden hatte das friſchgehäutete Tier eine große Menge Harnſäurekriſtalle in beiden Ohrhöhlen. Es ſind dieſe Garneelen (und einige andere Langſchwänze) wohl die einzigen Tiere, die ihre Sinne durch äußere Hülfsmittel ſchärfen, indem ſie, wie wir aus Quarz Brillen ſchleifen, ſo aus Quarzkörnchen ſich ein Mikrophon kon— ſtruiren. Kein Wunder, daß Farres Ent— deckung dieſer Thatſache anfangs wenig Glauben fand. Doch zurück von dieſer Ab— ſchweifung. Bei anderen Garneelen, z. B. Alpheus und Hippolyte, haben die beiden Scheeren— fußpaare ihre Rolle vertauſcht. Das erſte iſt bei weitem ſtärker und trägt oft zu Schutz und Trutz überaus kräftige Schee— ren; das zweite iſt dünn, ſchmächtig, mit nur kleiner Scheere verſehen, und ſeine Beweglichkeit iſt dadurch geſteigert, daß Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. der Unterarm in eine Reihe kleinerer Glie— der zerfallen iſt. Als ich am Meere wohnte, habe ich verſäumt, mir die lebenden Tiere darauf anzuſehen, aber ich zweifle nicht, daß bei ihnen das zweite Scheerenfußpaar die Reinigung der Kiemenhöhle beſorgt. Statt des erſten oder zweiten iſt bei manchen Krebſen das letzte (fünfte) Fuß— paar in Putzfüße verwandelt und ſcheint dann keine weitern Dienſte zu leiſten. So bei den Einſiedlerkrebſen, den Porzellan— krebſen, den Galatheiden, von denen ich eine im Quellgebiet des Uruguay häufige Aeglea lebend beobachtete, bei der Tatuira (Hippa) u. ſ. w. Wie das erſte Fußpaar von Palaemon haben dieſe Putzfüße, welche die Beſchreiber in Muſeen aufgeſtapelter Leichen als verkümmerte, ſcheinbar nutz— loſe Anhänge zu bezeichnen pflegen, dünne, ſehr beweglich mit einander verbundene Glieder, tragen gewöhnlich am Ende eine kleine Scheere und find mit Bürſten, Käm⸗ men und anderen namenloſen Putzwerk⸗ zeugen reichlich ausgerüſtet. Ich habe ſie bei allen genannten Tieren in Thätigkeit geſehen. Sie dienen hauptſächlich zur Rei— nigung der Kiemenhöhle. Ich wurde zuerſt auf ihre Bedeutung aufmerkſam bei einer Porcellana, die als Gaſt bei einem großen Nöhrenwurm(Chaetopterus) lebt, und wel— cher wegen des reichlichen Schleimes, den ihr Wirt abſondert, Reinlichkeit beſonders not thut. Ein eiertragendes Weibchen die— ſer Porcellana hielt ich einige Zeit leben— dig, um die junge Brut zu erhalten; daſſelbe ließ ſeine durch Länge und Beweg— lichkeit ausgezeichneten Putzfüße faſt nie ruhen; bald ſenkte es ſie tief in ſeine Kie— menhöhle, bald kehrte es ſeinen Rücken ab, bald fuhr es damit zwiſchen den Eiern herum, wie ein Bäcker, der Teig knetet. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Beim Flußkrebſe, dem Hummer, den Languſten (Palinurus) und manchen an— deren Langſchwänzen ſcheint keins der fünf 151 menhöhle zu beſorgen, und es wäre wohl der Mühe wert, durch Beobachtung leben— der Flußkrebſe feſtzuſtellen, ob nicht auch Fußpaare geeignet, die Reinigung der Kie— ſie eine beſondere Vorrichtung dazu beſitzen. Kieferfüße einer Bachkrabbe (Trichodactylus), 2 mal vergrößert. — Fig. 5. Vorderer, Fig. 6. mitt- lerer, Fig. 7. hinterer oder äußerer Kieferfuß; a. äußerer, i. innerer Aſt. fl. Flederwiſch (ap— pendix flabelliformis) zum Fegen der Kiemenhöhle. Bei den Krabben legt ſich der untere Rand des Panzers eng an den Leib an und es bleibt in der Regel für den Eintritt des Waſſers in die Kiemenhöhle nur über dem erſten Fußpaare ein enger Spalt, der den Füßen unzugänglich iſt. Hier trägt nun jeder der ſechs Kieferfüße außen an ſeinem Grunde einen langen, rückwärtsge— richteten, in die Kiemenhöhle ragenden An— hang, eine Art Flederwiſch, der die Geſtalt eines ſchmalen Blattes oder eines Säbels hat und mit langen Haaren umſäumt iſt. Der Flederwiſch der vorderen Kieferfüße liegt nach außen, der der mittleren und hinteren nach innen von den Kiemen, zwi— ſchen ihnen und der Wand der Kiemenhöhle ſich auf und ab bewegend und beide abfe— gend. Ein Teil der Haare am Rande der Flederwiſche — bisweilen ſind es nur we— nige, gewöhnlich wohl die Mehrzahl, bis— weilen alle — iſt nach dem Ende zu mit einer Doppelreihe von Zähnen oder Haken beſetzt, deren Zahl und Geſtalt je nach den Arten ſo verſchieden iſt, daß ſich aus ihnen Haare von den in der Kiemenhöhle liegenden Anhängen der Kieferfüße. — Fig. 8. Trichodactylus. Fig. 9. Gelasimus. Fig. 10. Sesarma. Fig. 11. Lupea. Fig. 12. Hepatus. 0 4 . 152 eine reiche Muſterkarte von Kammformen zuſammenſtellen läßt. Ich gebe davon eine kleine Probe. Mit dieſer Ausrüſtung der Haare iſt 13 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. übrigens die Putzvorrichtung noch nicht abgeſchloſſen; auch dieſe Haare werden ihrerſeits wieder ausgekämmt. In der Mittellinie der Kiemen findet ſich an der Fig. 13. Kieme einer neugebornen Bachkrabbe (Trichodactylus), 45 mal vergrößert. Dieſe Art verläßt das Ei als fertige Krabbe, wie es Weſtwood bei einer Landkrabbe (Gecarcinus) gejehen. Fig. 14. Die vogelkopfähnlichen Gebilde, ſtärker vergrößert. Fig. 15. Eines der Vogelköpfchen von der Kieme einer erwachſenen Bachkrabbe, 90 mal vergrößert. der Innenwand der Kiemenhöhle zuge— wandten Seite eine Reihe vorſpringender Knöpfchen, deren jedes einen abwärts ge— richteten, geraden oder leicht gebogenen Dorn trägt. Das Ganze ſieht aus wie ein langſchnabliger Vogelkopf. Wenn die Fle— derwiſche zwiſchen Kiemen und innerer Wand der Kiemenhöhle auf und ab fegen, werden die den Haaren etwa anheftenden Schmutzteilchen durch dieſe Vogelköpfchen abgeſtreift werden. Bis jetzt kenne ich dieſe Einrichtung erſt von einer einzigen Art, doch iſt anzunehmen, daß ſie auch bei vielen anderen Krabben ſich finde. Itajahy, 29. Dez. 1879. Fritz Müller. Ein Analogon des Beulelknochens bei höheren Säugern. In der Sitzung der Royal Society vom 5. Februar 1880 hielt Profeſſor Huxley einen Vortrag über gewiſſe als Beuteltier— Erbſchaften verdächtige Muskelbildungen bei verſchiedenen Raubtieren, aus welchem wir nach dem Berichte der Nature (Nr. 537, S. 362) das Folgende entnehmen. Im Jahre 1871 gab Huxley in ſei— nem Manual of the Anatomie of Verte- brated Animals p. 417 folgende kurze Beſchreibung einer beim Hunde beobach— teten anatomiſchen Bildung: „Im Mus— kelſyſtem des Hundes bietet die Inſertion der Sehne des äußeren ſchiefen Bauchmus— kels einige intereſſante Eigentümlichkeiten dar. Die äußern und hintern Faſern die— ſes Muskels endigen in ein Bündel, wel— ches ſich als Fascia lata teilweiſe über den Schenkel fortſetzt, und teilweiſe einen Bo— gen (Pouperts Ligament) über die Schen— kelgefäße bildet. Durch ihr inneres Ende iſt es der Außenſeite eines dreieckigen Fa— ſerknorpels inſerirt, deſſen breite Baſis an dem vordern Rande des Schambeins zwi— ſchen ſeinem Höcker und der Schambein— fuge befeſtigt iſt, während ſeine Spitze in der Bauchwand liegt. Die innere Flechſe des äußern ſchiefen Muskels vereinigt ſich mit der Flechſe des innern ſchiefen Mus— kels, um den innern Pfeiler des Bauch— rings zu bilden und iſt der inneren Seite Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. des dreieckigen Faſerknorpels inſerirt. Der Kammmuskel (Pectineus) iſt an der Bauch— ſeite, der äußere Teil der Flechſe des gera— den Bauchmuskels an der Rückenſeite des Knorpels befeſtigt; aber der Hauptteil die— ſer Flechſe iſt dem Schambein dahinter in— ſerirt. Dieſer Faſerknorpel ſcheint den Beu— telknochen oder -Knorpel der Kloaken- und Beuteltiere zu repräſentiren.“ Die einzige Bezugnahme auf dieſe Auf— ſtellung, welche ich geſehen habe, findet ſich in Prof. Macaliſters „Introduction to the Systematic Zoologie and the Mor- phologie of Vertebrate Animals“ (1878) p. 265: Prof. Huxley beſchreibt einen „mar— ſupialen“ Faſerknorpel über dem Scham— bein, von deſſen vorderer Oberfläche der Kammmuskel ausgeht. Ich habe mich ver— geblich von ſeiner Exiſtenz als einer kon— ſtanten Bildung bei vielen Hunden, bei dem gemeinen und bengaliſchen Fuchſe, beim Dingo, Schakal, Canis pallipes und Wolf zu überführen geſucht.“ Die Ausdrucksweiſe dieſer Stelle macht es nicht völlig klar, ob der Verfaſſer die Bildung in keinem Falle angetroffen hat, aber nicht in Abrede ſtellen will, daß ſie gelegentlich bei den von ihm erwähnten Caniden vorkommen mag, oder ob er ihn gelegentlich, aber nicht konſtant, bei allen oder einigen derſelben gefunden hat. Unter dieſen Umſtänden mag die Ver— öffentlichung der Thatſache wünſchenswert ſein, daß ich, als ich kürzlich zu Verglei— chungszwecken einen männlichen und weib— lichen Fuchs, und einen männlichen und weiblichen Hund ſezirte, nicht die geringſte Schwierigkeit gefunden habe, die Exiſtenz der 1871 von mir beſchriebenen Bildung bei allen vieren zu demonſtriren. Und der 153 einzige Ausdruck, welcher in jener Beſchrei— bung eine Modifikation zu erfordern ſcheint, iſt die Benennung „Faſerknorpel“. Ich erinnere mich nicht, ob ich damals die Bil— dung einer mikroſkopiſchen Unterſuchung unterwarf oder nicht; aber bei den jüngſt unterſuchten Stücken enthält die dreieckige Platte trotz ihrer Feſtigkeit und Dichtig— keit keine wahren Knorpelzellen, ſondern iſt gänzlich aus Faſergeweben zuſammen— geſetzt, welche in der Mitte der Platte untereinander parallel liegen, während ſie an den verdickten Enden eng mit einander verflochten ſind. Eine Vergleichung dieſer dreieckigen Faſerplatte beim Fuchs mit den Beutel— knochen von Phalangista vulpina zeigt, daß die Faſerplatte des erſteren Tieres ge— nau dem Baſalteil der Beutelknochen des letzteren entſpricht. Es mag deshalb als Epipubis-Ligament bezeichnet und muß als eine Bildung derſelben Ordnung betrachtet werden, wie das rudimentäre Schlüſſelbein und die rudimentäre große Zehe der Ca- nidae, d. h. als die Überbleibſel eines Or— gans, welches bei den Ahnenformen jener Gruppe voll entwickelt war. Es iſt in Verbindung mit dieſer Deu— tung der Thatſachen intereſſant zu bemer— ken, daß bei dem noch lebenden Thylacinus, der ſo merkwürdige Übereinſtimmungen mit den Hunden darbietet, das Epipubis-Liga— ment nicht verknöchert iſt. Da indeſſen die Canidae ſicherlich ſeit der eozänen Epoche exiſtirt haben, ſo iſt keine Wahrſcheinlich— keit für ein direktes genetiſches Band zwi— ſchen den Hunden und Beutelwölfen vor— handen. Die lebenden fleiſchfreſſenden Beuteltiere ſtammen deutlich ſämmtlich von Ahnenformen ab, die durch den Beſitz einer daumenähnlichen großen Zehe ausgezeichnet Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 20 154 waren, eine Eigentümlichkeit, welche we— der bei den Hunden, wenn ſie eine große Zehe beſitzen, noch bei irgend einem an— dern fleiſchfreſſenden Tier mit fünfzehigem Hinterfuß repräſentirt iſt. Indeſſen ſind die frühe Geburt der Jungen und die Ent— wicklung eines Beutels bei den Weibchen Beweiſe von der Abſtammung der jetzt le— benden Beuteltiere von der direkten Linie, durch welche die Säugetiere von dem Orni— thodelphen-Typus aus vorgeſchritten ſind. Daß die Ahnen aller Säugetiere verknö— cherte oder knorplige Epipuben beſaßen, iſt, wie mir ſcheint, höchſt wahrſcheinlich, aber es folgt nicht daraus, daß ſie die Art und Weiſe der Beuteltiere hatten, die Jungen zu tragen und zu nähren. Die Experimente des däniſchen „Alagneliſeurs“ Hanſen vom enlwick— lungsgeſchichllichen Standpunkte, Für denjenigen, der auch den nervöſen Apparat der Menſchen bei aller ſeiner wun— derbaren Vollkommenheit für das Produkt allmählicher Ausbildung betrachtet, müſſen gewiſſe anormale Zuſtände des Menſchen, bei denen derſelbe ſeiner höchſten geiſtigen Fähigkeiten entkleidet erſcheint, beſonders lehrreich ſein. Dieſe höchſten Fähigkeiten beruhen in dem, was wir als bewußtes Denken und Handeln bezeichnen, Fähig— keiten, welche die Descartesſche Schule bekanntlich den Tieren ganz abſprach, und die auch jetzt lebende Pſychologen den Tie— ren nur in einem ſehr beſchränkten Maße zugeſtehen wollen.“) Gewiß ſind dieſe Pſy— chologen im Unrechte, aber ebenſo gewiß iſt es, daß das Reich der bewußten See— *) Vgl. Kosmos, Bd. V, S. 238. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. lenthätigkeit beim Tiere ein erheblich ein— geſchränkteres iſt als beim Menſchen. Nun treten aber beim Menſchen teils freiwillig, teils durch gewiſſe Manipulationen begün— ſtigt, leicht Zuſtände ein, bei denen trotz ungeſchwächter Thätigkeit der Sinne, das Bewußtſein auf ein Minimum eingeſchränkt iſt, in denen der Menſch alſo künſtlich auf eine tierähnliche Stufe hinabgedrückt er— ſcheint, und qus denen deshalb, worauf Ref. wohl zuerſt aufmerkſam gemacht hat, wahrſcheinlich mancherlei über das Ver— hältniß von Tier- und Menſchenſeele zu ler— nen ſein möchte. Es ſind dies die Zuſtände des ſogenannten „magnetiſchen Schlafes“, oder, wie man ſie jetzt lieber nennt, des Hypnotismus. Niemand hat vielleicht in neuerer Zeit mehr zur Aufklärung dieſer Körperzuſtände beigetragen, als der däniſche Magnetiſeur Hanſen, welcher, ſeit einigen Jahren die Großſtädte des Kontinents bereiſend, an vielen Orten die ſcheinbar unerklärlichſten und wunderbarſten Experimente gezeigt hat. Seine Art zu experimentiren iſt gewöhnlich die, daßeraus den fich freiwillig darbietenden Beſuchern ſeiner Vorſtellungen einige ihm beſonders geeignet erſcheinende Perſonen, teils von ſeinem Kennerblick, teils von eini— gen Vorverſuchen geleitet, auswählt und mit ihnen ſeine Schauſtellungen beginnt— Er läßt dieſelben in der Regel zuerſt einige Zeit auf ein facettirtes, ſtark funkelndes Stück Glas hinſtarren. Nach dieſer Vor— bereitung macht er einige Striche über den Kopf, wie um ſie zu „magnetiſiren“, drückt ihnen ſodann, leiſe die Wangen ſtreichelnd, Augen und Mund zu und behauptet, daß ſie beide ohne ſeine Erlaubnis nicht mehr öffnen könnten. Er löſcht mit ihrem Wil— len ihr Gedächtnis aus, verſichert, daß Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ſie ohne ſeinen Willen weder ihren Namen nennen, noch das Alphabet herſagen könn— ten; daß ſie zu vollſtändig von feinem Wil- len abhängigen Maſchinen geworden ſeien. Demgemäß befiehlt er ihnen zu beten und den Himmel offen zu ſehen, ſagt ihnen, der Teppich ſei ein See, auf dem ſie ſchwim— men müßten, der Stuhl ſei ein Pferd, auf dem ſie reiten, oder ein Tiger, den ſie be— kämpfen ſollten, er redet ihnen vor, eine dargereichte Kartoffel ſei eine Birne, die ſie verſpeiſen müßten, und die „Magneti— ſirten“ führen alles das aus, ohne ſich ſpä— ſer deſſen zu erinnern. Damit gehen einige weitere Experi— mente hand in hand, bei denen Hanſen durch einige Striche ihre Muskeln in Starr— krampf verſetzt und unempfindlich macht. Er legt ſolche Perſonen mit den äußerſten Körperenden auf zwei auseinandergezogene Stühle und ſtellt ſich auf die freihängende Mitte des Körpers; er ſtellt ſich ebenſo auf die wagerecht ausgeſtreckten Füße einer ſitzenden Perſon, die von einem Diener im Stuhl feſtgehalten wird u. ſ. w. Nach dem Schluß der Experimente erweckt er die in einem ſchlafähnlichen Zuſtand be— findlichen Perſonen, indem er ſie anbläſt oder ihnen laut „Wach!“ zuruft, und dieſel— ben ſind dann wieder im normalen Zuſtand. Ein Injurienprozeß, den Hanſen in Wien gegen eine Perſon angeſtrengt hat, welche ihn während der Vorſtellung als „Schwindler“ bezeichnet hatte, ergab als ziemlich ſicher, daß bei dieſen Vorſtellun— gen eine Menge Täuſchungen unterlaufen, indem teils rohe, mechaniſche Mittel an— gewandt wurden, bei Perſonen, die ſich nicht ſo leicht in jene Zuſtände verſetzen laſſen, teils mislungene Experimente als gelungene hingeſtellt wurden, teils Simu— 155 lationen ſtattfanden, ſofern manche Per— ſonen ſtets die Komödie mitſpielen, zu der ſie ſich einmal hergegeben haben, und bei vollem Bewußtſein dem „Magnetiſeur“ auf ſeinen Befehl folgen, beten, ſchwimmen und tanzen, wie es verlangt wird. Überdies iſt von dem Experiment, welches in den Vorſtellungen das meiſte Aufſehen zu er— regen pflegt, von dem Stehen eines Men— ſchen auf dem Bauch einer nur an der Schulter und an den Füßen geſtützten Per— ſon bekannt, daß dasſelbe ſchon früher von in Deutſchland herumreiſenden Künſtlern gezeigt wurde, ohne daß dieſelben ſich vor— her in Starrkrampf verſetzen ließen. Es iſt einfach ein ſonſt von den ſogen. „Sim— ſons“ gezeigtes und in Brewſters „Let- ters on natural Magic“ (deutſche Aus— gabe, Berlin 1833) abgebildetes Experi— ment, welches, wie ſchon damals vonDr.De— ſaguliers gezeigt worden iſt, von jeder— mann ohne Starrkrampf ausgeführt wer— den kann. So miſcht ſich dieſen Vorſtel— lungen, wie gewöhnlich, eine gute Doſis Täuſchung des Publikums bei; man muß dies als eine leidige Konſequenz der öf— fentlichen Schauſtellungen hinnehmen, wel— che eben vorausſetzen und verlangen, daß alle Experimente gelingen müſſen. Indeß iſt hier nicht alles Betrug und Täuſchung, vielmehr hat eine Anzahl mit der exakten Forſchungsmethode genau vertrau— ter Naturforſcher die Experimente Hanſens nachgeahmt, geprüft und zum Teil wun— derbarere Reſultate erhalten als er ſelbſt. Prof. Fritz Schultze in Dresden hat dar— über in Vorträgen, Prof. Rühle mann in Chemnitz in der „Gartenlaube“ berichtet, Prof. Dr. Adolf Weinhold in Chem— nitz und Prof. Dr. Rudolf Heidenhain in Breslau haben in beſondern Vorträgen 156 und Brofcehüren *) Darſtellungen ihrer Ver- ſuche und Erklärungen gegeben. Alle dieſe Beobachter gehen davon aus, daß weder Hanſen noch irgend ein anderer Mag— netiſeur eine andere Macht als die des erfahrenen Experimentators beſitzt, daß kei— ne Kraft von ihm auf die Individuen, mit denen er erbeitet, überſtrömt, daß vielmehr alle weſentlichen Bedingungen zum Gelin— gen dieſer Experimente allen Menſchen ei— gen ſind und in einer mehr oder weniger ausgeſprochenen Dispoſition des Nerven— ſyſtems beruhen. Alle Beobachter ſtimmen darin überein, daß es ſich um Herbeifüh— rung eines ſeit längerer Zeit den Phyſio— logen und Pſychologen bekannten Gehirn— zuſtands, des ſog. Hypnotismus, handelt, deſſen Eintritt durch ſehr verſchiedenartige Veranſtaltungen herbeigeführt werden kann, die indeß darin übereinſtimmen, daß ein beſtimmter Sinneseindruck eine längere Zeit auf ein Individuum wirken muß. Han— ſen bedient ſich des ſchon vor vierzig Jah— ren von dem engliſchen Chirurgen Braid empfohlenen Anſchauens glänzender Kör— per, andere „magnetiſiren“ mit regelmäßig über den Körper der Verſuchsperſonen ge— führten Strichen, Heidenhain fand das anhaltende Behorchen einer tickenden Ta— ſchenuhr ebenſo wirkſam; es ſcheint ſich alſo im weſentlichen um die Fortſetzung eintöniger Sinneseindrücke zu handeln, wel— che beſtimmte Teile des Zentralnervenſy— ſtems ſei es ermüden oder überreizen. Der Hypnotismus iſt, wie Heidenhain ſehr ſchön ausgeführt und dargelegt hat, ein Zuſtand, bei welchem Sinneseindrücke durch die ſchmale Spalte der nicht ganz *) „Hypnotiſche Verſuche.“ Von Prof. Dr. Adolf F. Weinhold, Chemnitz, 1880; — „Der ſogenannte tieriſche Magnetismus.“ Von Dr. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. geſchloſſenen Augen, durch Ohr, Naſe und Zunge leicht aufgenommen werden, aber nicht zum Bewußtſein kommen, weshalb die hypnotiſchen Perſonen auch nach dem Erwachen nicht wiſſen, was man mit ihnen gemacht hat. Der Reiz überſchreitet nicht die „Bewußtſeinsſchwelle“, wie die Pſycho— logen ſagen, gleichwohl iſt ſein Eindruck vorhanden, und wie man ſich eines Traums nachträglich erinnert, wenn man tags darauf an ähnliche Dinge denkt, ſo kann auch der hypnotiſch Geweſene durch Anſpielungen an dasjenige erinnert werden, was er in jenem Zuſtand gethan hat. Dagegen ſind jene ſchwachen, nicht zum Bewußtſein kom— menden Eindrücke ſehr geeignet, ſofort Be— wegungen auszulöſen, ähnlich den unbe— wußt gewordenen Bewegungen der Hand— arbeiten, des Schreibens, Klavierſpielens u. ſ. w., zu denen nur allgemeine Impulſe nötig ſind. Wie wir automatiſch das Auge ſchließen und die Hand vorhalten, wenn uns ein unabwendbarer Schlag, Stoß oder Fall droht, ſo ſind alle Handlungen des Hypnotiſchen zu vollführten Reflexbewe— gungen geworden; die äußere Anregunglöſt bei ihnen, ohne zum Bewußtſein zu kommen, die entſprechende Bewegung unmittelbar aus. Es iſt der Zuſtand eingetreten, den Carpenter vor vielen Jahren als „un— bewußte Gehirnthätigkeit“ bezeichnet hat. Hierbei kommen nun für das Verſtänd— nis insbeſondere eine Menge Handlungen in Betracht, die ſchon im gewöhnlichen Le— ben unwiderſtehlich und ohne Bewußtſein nachgeahmt werden. Jedermann kennt die anſteckende Macht des Gähnens und des Lachens. Unzählige Menſchen ſind voll— Rudolf Heidenhain, ord. Profeſſor der Phy- ſiologie und Direktor des Phyſiologiſchen In— ſtituts zu Breslau. Leipzig, 1880. J Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. kommen unvermögend, einen lachenden Menſchen anzuſehen, ohne mitzulachen. Re— ferent kannte einen älteren Theater-Enthu— ſiaſten, der unbewußt das geſammte Mie— nenſpiel der im Momente handelnden Hauptperſonen in ſeinem Antlitze repro— duzirte. Dieſe Nachahmungsſucht iſt nicht nur den Affen, ſondern auch dem Natur— menſchen in einem außerordentlichen Grad eigen; die Wilden benahmen ſich den Zivi— liſirten gegenüber an vielen Orten nicht nur wie die Affen, indem ſie alle ihre Be— wegungen nachahmten, ſondern auch wie die Papageien, indem ſie alles, was dieſe ſprachen, nachplapperten, und zwar mit einer ganz erſtaunlichen Geſchicklichkeit und Auffaſſungsgabe. Auch bei unſern Kin— dern iſt dieſe Nachahmungsſucht in einem ſtarken Maße vorhanden, und wahrſcheinlich trägt ſie weſentlich dazu bei, daß ſie ſprechen lernen. Erſt beim Erwachſenen wird dieſe Nachahmungsſucht durch Erziehung herabgemindert, aber die Dispoſition bleibt und iſt, wie die Verſuche mit Hypnotiſchen gezeigt haben, auch noch bei Erwachſenen vorhanden, wenn ſie bei thätigen Sinnes— organen ihres Bewußtſeins beraubt ſind. Sie ſind alſo dann nach dieſer Richtung in den Zuſtand des wirklichen Naturmen— ſchen zurückverſetzt, und ihr Seelenzuſtand kann vielleicht am nächſten mit dem eines nichtdenkenden, aber inſtinktiv nachahmen— den Tieres verglichen werden, was dieſen Verſuchen ein höheres Intereſſe gibt. Alles, was man verlangt oder ihnen vormacht, machen ſie nach, und um den Hypnotiſchen eine Kartoffel als Birne eſſen zu laſſen, braucht man ihm dieſelbe nur in den Mund zu ſtecken und dazu hörbare Kaubewegungen zu machen. Ebenſo ahmt der Hypnotiſche die Hand- und Fußbewe— z 157 gungen des „Magnetiſeurs“ nach, ſoweit er ſie ſieht und hört; eine heimlich hinter ſeinem Rücken geballte Fauſt ahmt er nicht nach, weil er ſie nicht ſieht. Dagegen ge— langen andere Verſuche, namentlich die Nachahmung des Sprechens, nicht, und hier haben Prof. Berger in Breslau und Prof. Weinhold in Chemnitz als Experimenta— toren Hanſen weit übertroffen. Erſterer erinnerte ſich des Goltz' chen Froſchver— ſuchs, bei welchem Fröſche, die ihres Hirns beraubt ſind, deutlich quarren und quaken, ſobald man ihnen den Rücken ſtreicht. Eine ähnliche Reflexthätigkeit, die ſich als eine Art Seufzen vernehmbar machte, kam nun auch bei Menſchen zu Stande, und es zeigte ſich, daß ſie das Geſprochene nachzureden begannen, wenn man zugleich mit der Hand einen leichten Druck in der Nackengegend ausübte. Weinhold fand ferner, daß Worte, die man mittels eines Schalltrich— ters gegen die Nackengegend oder gegen die Magengrube richtet, von dem Hypnotiſchen nachgeſprochen werden, mögen ſie nun einen Sinn haben und in einer dem Hypnotiſchen bekannten Sprache geſprochen werden oder nicht. Dadurch kommt auch die Magen— grube, mit welcher bekanntlich die Som— nambulen hören und’ ſehen wollten, zu Ehren. Der Grund ſcheint zu ſein, daß in beiden Körpergegenden ſenſible Faſern des Nervus vagus verlaufen, die mit den Sprachwerkzeugen in Verbindung ſtehen. Eine andere, mit der Abweſenheit des Bewußtſeins in Verbindung ſtehende Er— ſcheinung iſt die, daß die Muskeln der Hyp— notiſchen unempfindlich gegen Schmerzen ſind und leicht in Starrkrampf gerathen, wenn man wiederholt leicht darüber hin— ſtreicht. Daß man ohne Bewußtſein keinen Schmerz empfindet, iſt durch die analogen 158 Zuſtände der Chloroformirung 2e. ohne wei— teres verſtändlich, und der Muskelkrampf beruht vielleicht nur darauf, daß die zuſam— menziehenden Nerven einſeitig gereizt wer— | | | | den, während die antagoniſtiſch wirkenden Organe außer Thätigkeit ſind. Die Erfah— rung hat gezeigt, daß dieſe hypnotiſchen Zu— ſtände nebſt der Empfindungsloſigkeit gegen Schmerz und der Krampfneigung im all— gemeinen um ſo leichter eintreten, je öfter ſie ſchon erzeugt worden ſind, ſodaß ſchließ— lich, wie Heidenhain fand, der bloße Befehl oder die Androhung, jemand zu einer beſtimmten Stunde aus der Ferne zu magnetiſiren, genügen kann, dieſen mit der Uhr in der Hand in Schlaf zu ſenken. Wir erhalten dadurchauchein leichteres Ver— ſtändnis für die oft beobachtete Anſteckung von Krämpfen in Nonnenklöſtern und Er— ziehungsanſtalten, und es liegt eine ernſte Mahnung darin, derartige Verſuche mit einer Perſon nicht unbefugt zu wiederholen, und namentlich nicht mit nervöſen unverhei— ratheten Frauen, bei denen ſolche Zuſtände leicht bleibend werden und zu beſtimmten Zeiten regelmäßig wiederkehren. Auch die halbſeitigen Krämpfe, Lähmungserſcheinun— gen und Empfindungsloſigkeiten, wie ſie bei hyſteriſchen Frauen ſo oft beobachtet wer— den und neuerdings zu den ſehr intereſſan— ten Verſuchen über Metallotherapie Anlaß gegeben haben, gelang es auf dieſe Weiſe zu erzeugen, kurz ein ganzer Komplex myſte— riöſer Erſcheinungen ſcheint hier der induk— tiven Wiſſenſchaft die erſte Handhabe zur genauern Unterſuchung zu bieten. Was nun das Weſen dieſer Erſchei— nung betrifft, ſo ſcheint, wie Heidenhain meint, die Urſache des hypnotiſchen Zu— ſtandes in einer Thätigkeitshemmung der Ganglienzellen der Großhirnrinde geſucht Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. werden zu müſſen, welche durch jene an— haltenden Eindrücke des Gehörs- Geſichts— oder Gefühlsſinn bewirkt wird. Die neu— ern Unterſuchungen über das Gehirn haben uns dahin geführt, in der Großhirnrinde den Sitz des Bewußtſeins und der bewuß— ten Willensimpulſe zu ſuchen, während die andern Gehirnteile als Träger ſolcher gei— ſtigen Thätigkeiten bekannt ſind, welche, wie z. B. die Sinnesempfindungen, Bewe— gungen, das Gleichgewichtsgefühl u. ſ. w., bei den Hypnotiſchen unbeeinflußt ſind. Wir dürfen nicht vergeſſen, daß das Be— wußtſein nur eine Begleiterſcheinung der Körperthätigkeiten iſt, welches im gewöhn— lichen Leben nur dazu dient, mit Aufmerk— ſamkeit die Dinge zu erkennen und Fertig— keiten durch Nachahmung zu erwerben. So— bald wir eine Thätigkeit wie das Gehen, Sprechen, Schreiben, Tanzen, irgendeine Hand- oder Stimmfertigkeit erlernt haben, können wir dieſelbe ohne Bewußtſein aus— führen.“) Vor einigen Jahren hat man in Paris einen ausgedienten Soldaten beob— achtet, bei dem jener Zuſtand infolge einer Gehirnverletzung durch eine Schußwunde eingetreten war. Dieſer ſogenannte „Au— tomatmenſch“ verfiel von Zeit zu Zeit in Zuſtände von Bewußtloſigkeit, in welchem er eine Menge von Obliegenheiten des täg— lichen Lebens erfüllte, ohne mit der Außen— welt eine andere Verbindung zu haben als die des Hautgefühls. Wir wiederholen es: Das Wichtigſte an dieſen Erſcheinun— gen iſt, daß ſie uns den Menſchen in einem ſeiner höhern Fähigkeiten entkleideten Zu— ſtande zeigen und deshalb ſehr nützlich für das Studium der niedern ſeeliſchen Thätig— keiten und des Nervenmechanismus werden können. E. K. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Die egypfifchen Mumien und Wand ungenügende Zeit zur Verwandlung von gemälde von Tieren und Pflanzen, die noch heute in Egypten leben, ſind bekanntlich ſeit den Tagen Cuviers häufig als Beweiſe für. die Konſtanz der Lebensformen angeführt worden, und noch in neuerer Zeit iſt dies von Flourens, de Quatrefages und Bateman geſchehen. Was die Mumien betrifft, ſo könnten nur genauere Unter— ſuchungen, als ſie bisher angeſtellt wor— den ſind, beweiſen, daß die betreffenden Tiere wirklich in jeder Beziehung den heute lebenden, ſelbſt in den noch erkennbaren Teilen, gleichen, denn wie Forſyth Major vor kurzem in dieſen Blättern (Bd. VI, S. 359) gezeigt hat, iſt wenigſtens die ebenfalls behauptete Identität heute leben— der Tiere mit quaternären illuſoriſch, und wenn es ſich auch bei den egyßptiſchen Mumien um ein verhältnismäßig geringe— res Alter handelt, ſo darf man doch die Identität nicht ohne weiteres behaupten. Was ferner die aus den Wandgemälden gezogenen Schlüſſe betrifft, ſo hat J. W. Slater im Märzhefte des laufenden Jahr— gangs vom Quarterly Journal of Science (S. 166) ein ſehr treffendes Gegenargument beigebracht. Die Wandmalereien ſtellen nicht nur Tiere und Pflanzen, ſondern ſo— gar Menſchenraſſen, wie Neger, Araber und Juden, mit allen den Merkmalen dar, welche dieſe Raſſen heute zeigen. Nun zweifelt aber niemand daran, daß dieſe Raſſen, obwohl fie fett 3—4000 Jahren unveränderlich erſcheinen, bloße Varietäten einer Stammraſſe ſind. Alles, was man aus dieſen Wandgemälden alſo ſchließen 159 könnte, wäre, daß 3—4000 Jahre eine Menſchen, Tieren und Pflanzen ſind, wenn ſie unter wenig veränderten Klima— und Lebensverhältniſſen in demſelben Lande geblieben ſind. Eine fruchlbare Alauleſelin iſt bekanntlich ſo ſelten, daß die Alten ſie in ähnlichem Sinne, wie wir den weißen Raben, zur Bezeichnung höchſt ſeltener Vor— kommniſſe ſprüchwörtlich verwendeten. Nun berichtet Dr. Yaudell, daß ſich im Jar- din des Plantes in Paris ein ſolches Phä— nomen befinde, welches bereits ſechs Junge zur Welt gebracht habe, und zwar zwei vom Zebra, zwei vom Eſel und zwei vom Pferde. Man ſieht alſo auch hier die Wahrheit des alten Sprüchworts beſtätigt: Ce n'est que le premier pas qui coüte, Archaeopteryx lithographica. Unſere neulich (Bd. VI, S. 228) aus- geſprochene Befürchtung, daß auch das neue Exemplar des in Deutſchland ge— fundenen hochintereſſanten Mittelgliedes zwiſchen Vögeln und Reptilien nach dem Auslande gehen würde, iſt glücklicher— weile noch in letzter Stunde beſeitigt wor— den. Profeſſor Beyrich in Berlin hat daſſelbe für die dortige Sammlung, dem Vernehmen nach um den Kaufpreis von 20,000 Mark, erworben. Hinſichtlich der Beſchaffenheit dieſes Exemplars verweiſen wir unſere Leſer auf obigen ausführlichen Artikel. | | | | | | = Literatur und Kritik. I. Beobachtung der Sterne Alſonſt und jetzt von J. Norman Lockyer. Autoriſirte deutſche Aus— gabe, überſetzt von G. Siebert. Braunſchweig, Friedrich Vieweg und Sohn, 1880. 552 S. in 8, mit 217 in den Text eingedruckten Holzſchnitten. Der berühmte Aſtrophyſiker, über def ſen ſpektralanalytiſche Unterſuchungen und Spekulationen wir öfter in dieſer Zeit— ſchrift zu berichten hatten, giebt in dieſem Buche eine reich illuſtrirte Geſchichte der Beobachtungsmethoden und Hülfsmittel der Aſtronomie von den älteſten Zeiten bis zu den modernſten Fortſchritten. Wenn man ſein überaus klar und anregend ge— ſchriebenes Buch lieſt, ſo überkommt uns ein Bedauern, daß die in demſelben be— folgte hiſtoriſche Methode nicht überall an— wendbar iſt. Denn eine Darſtellung, die mit den erſten rohen Anſchauungen und Beobachtungsmitteln beginnt, gibt nicht nur auf ihren erſten Seiten die dem Men- ſchengeiſte zunächſtliegenden und alſo leicht— faßlichſten Anſchauungen und Deutungen, ſondern ſie läßt den Leſer den ganzen Ent— wicklungsprozeß der Menſchheit auf dem be- treffenden Forſchungsgebiete durchmachen. Zwiſchen dem Geiſte der lernenden Menſch— heit und dem lernenden Individuum be— ſteht aber ein Parallelismus, der dieſe Methode zur naturgemäßeſten und geſun— deſten macht, der geſundeſten ſchon deshalb, weil er die Umwege und Irrtümer der Forſchung nicht vernachläſſigt und ſie für die Zukunft deſto ſicherer vermeiden lehrt. Freilich ſind dieſe Umwege viel zu weit, als daß ſie in der Schule berückſich— tigt werden könnten, die Maſſe des Lehr— ſtoffs iſt zu groß, als daß dort tiefer auf die Geſchichte der einzelnen Disziplinen eingegangen werden könnte, es muß des— halb dem Lernbegierigen überlaſſen blei— ben, dieſe Verbindung des jetzigen Men— ſchen mit ſeiner Kindheit, die Entwicklungs— geſchichte jeglicher Seite ſeiner Kenntniſſe nachträglich zu ſtudiren. Dazu bietet nun dieſes Buch eine treff— liche Gelegenheit. Es iſt, wie ſchon er— wähnt, keine Geſchichte der Aſtronomie, ſon— dern eine Geſchichte der Beobach— tungsmethoden, die ſoweit mit aus— führlichen mathematiſchen, phyſikaliſchen und chemiſchen Erörterungen durchflochten iſt, um uns zum vollen Verſtändnis der in der Neuzeit durch die außerordentlichſten Erfolge belohnten Beobachtungskunſt des Himmels zu verhelfen. Das Werk teilt 1 5 Literatur und Kritik. ſich naturgemäß in ſechs Bücher, von de— nen das erſte die vorteleſkopiſche Zeit von Hipparch und Ptolemäus bis auf Ty— cho Brahe ſchildert, deſſen Inſtrumente uns durch zahlreiche, nach alten Stichen ko— pirte Abbildungen vorgeführt werden. Das zweite Buch iſt ausſchließlich dem Teleſkop, ſeiner Fortbildung, Herſtellung und Auf— ſtellung gewidmet, wobei die phyſikaliſchen Geſetze, auf denen die verſchiedenen For— men und Verbeſſerungen beruhen, ausführ— lich erörtert werden. Im dritten Buche handelt es ſich um die Inſtrumente zur Meſſung von Zeit und Raum, während das vierte und fünfte Buch den modernen Meridianbeobachtungen und dem Aquato— real gewidmet ſind. In dem ſechſten und und letzten Buche endlich wird die phyſi— kaliſche Aſtronomie, die jüngſte an Erfol— gen reiche Entwicklungsperiode der Wiſſen— ſchaft, mit ihren ſpektralanalytiſchen und photographiſchen Methoden und Inſtru— menten geſchildert und dadurch der hoff— nungsvollſte Eindruck für die Zukunft die— ſer „königlichen Wiſſenſchaft“ bei dem Le— ſer zurückgelaſſen. Man ſieht es dem Buche an, daß es aus Vorträgen entſtanden iſt, die einem großen und gemiſchten Zuſchauerkreiſe die oft ſchwierigen Einzelnheiten verſtändlich zu machen ſuchten: ſo leicht faßlich und klar iſt das Ganze gehalten. Überſetzung und Ausſtattung ſind muſterhaft. Alle Freunde der Sternkunde werden an dem ausgezeich— neten Buche ihre Freude haben. Das Protoplasma als Träger der pflanzlichen und tieriſchen Lebensverich— tungen für Laien und Fachgenoſſen dar— geſtellt von Dr. Johannes von Han- ſtein, Prof. an der Univerſität Bonn. 161 Mit ſechs Holzſchnitten. Heidelberg, Carl Winters Univerfitätsbuchhdl. 1880. 312 Seiten mit 8 Holzſchnitten. In dieſem kleinen Buche wird in drei Hauptabſchnitten (1. die organiſche Zelle, 2. die Bildung der organiſchen Gewebe und 3. der Lebensträger) Weſen und Funk— tion des Grundſtoffs alles Lebens ſo ein— fach und anſchaulich und dabei doch ſo tief eingehend dargeſtellt, daß wir dieſes kleine Buch angelegentlichſt allen unſern Leſern zum Studium empfehlen möchten. Und zwar trotz der wunderlichen Schlußfolge— rungen (303 - 307), daß, weil die Deszen— denz- und Zuchtwahltheorie offenbar falſch ſeien, die Arten aber nicht unmittelbar aus dem anorganiſchen Stoff geformt fein könn— ten, jede Gattung, ja jede Art (S. 307) ihren beſonderen Stammbaum gehabt haben müſſe, ſo daß von einer wirklichen Blutsverwandtſchaft keine Rede ſein könne, vielmehr die Formähnlichkeit nur die not- wendige Folge einerſeits einer ebenſo ähnli— chen Begabung der Urkeime und deren plan- gerechter Entwicklung, andererſeits des mor— phologiſchen Grundgeſetzes, daß „ähnliche Bedürfniſſe ähnliche Geſtalten bedingen“, wäre. „Wie heute aus den Eiern und Samen der Tierleib, der Baum ſich immer wieder aus derſelben Geſtaltung herausbildet, ſo kann jedem Urkeim feine ganze Geſtaltungs— regel als virtuelle Begabung von Anfang an mit auf den Weg gegeben ſein. Was heute jede Eizelle an ſolcher Begabung ererbt, muß die erſte Zelle jeder Reihe auch, da ſie nicht erben konnte, ſonſt irgendwoher erhalten haben“ (S. 304). Ein netter Baſtard Leibniz-Wigand-Darwin— ſcher Ideen, der hier zum beſten ge— geben wird! Sieht denn der Herr Verfaſ— ſer nicht ein, daß dieſer Ideenbaſtard eben— Kosmos, IV. Jahrg. Heft 2. 162. ſo unfruchtbar fein muß, wie die Tier- und Pflanzenbaſtarde? Wozu bedarf das ge— ſchaffene Weſen einer Entwicklung? Und wäre es nicht beſſer, ſtatt von Stamm— bäumen der einzelnen Arten zu reden, dieſe zweig- und aſtloſen Artſtammbäume lieber gleich als Stamm-Hopfenſtangen zu bezeichnen? Die neuere Weltanſchauung muß man entweder ganz leugnen oder ganz anerkennen; die Halbheit ſolcher Anſchau— ungen wie die Hanſteinſchen muß auf beiden Seiten 1 erregen. Verſuch einer Entwicklungsge— ſchichte der Florengebiete der nördlichen Hemiſphäre von Dr. Adolph Engler. Mit einer chromolithogra— phiſchen Karte. Leipzig, Wilh. Engel: mann, 1879. 202 S. in 8. Dieſes Werk, welches zugleich den erſten Teil einer allgemeinen Entwicklungsge— ſchichte der Pflanzenwelt ſeit der Tertiär— epoche bildet, ſucht, den Fußtapfen Ungers, Ettingshauſens, Heers und Sapor— tas folgend, die heutige Verteilung der Pflanzen aus der Länder-Konfiguration in den unmittelbar voraufgegangenen Epochen der Vorwelt zu erklären, und damit der Pflanzengeographie diejenige genetiſche Grundlage zu geben, die von dem bedeu— tendſten Pflanzengeographen der letzten Zeiten, von Griſebach, nur zu ſehr ver— nachläſſigt worden war. So viel auch Klima und Bodenbeſchaffenheit — die von letzterem beinahe allein in Rechnung gezo— genen Faktoren — zur Erklärung der ak— tuellen Geſtaltung der Flora und Fauna beitragen, ſo vermögen ſie doch die Grund— geſetze der geographiſchen Verbreitung nicht aufzuklären und laſſen uns über den all— extratropiſchen Literatur und Kritik. gemeinen Zuſammenhang im Unflaren. Mit Recht iſt der Verfaſſer hierbei nur bis zur Tertiärperiode zurückgegangen, da ja die meiſten der heute vorhandenen Gat— tungen, ja ſogar die Mehrzahl der Fami— lien nicht weiter zurückverfolgt werden kön— nen. Von der arktiſchen Flora der Mio— cänzeit ausgehend, gelangt der Verfaſſer über Nordaſien nach Europa, wobei die Rolle der Hochgebirge beſonders in Be— tracht gezogen wird und mannigfache neue und geiſtreiche Aufſtellungen gemacht wer— den. In manchen Punkten, beſonders über das Verhältnis der europäiſchen Flora zur aſiatiſchen, kommt der Verfaſſer zu ähn— lichen Schlüſſen, wie ſie faſt gleichzeitig von John Ball“) aufgeſtellt wurden, ohne indeſſen die Meinung deſſelben über den Urſprung und den primitiven Charakter der Gebirgspflanzen zu teilen. Die Ein— flüſſe der Glazial-Periode auf die Vertei— lung der Pflanzen, ihr Rückzug und die Vorbereitung des gegenwärtigen Zuſtan— des werden in der zweiten Hälfte des Bu— ches geſchildert, worauf ein letztes Kapitel die durch die Ausbreitung des Menſchen bewirkten Anderungen der Flora behan— delt. Ein ungemeiner Reichtum ſpezieller Kenntniſſe iſt hier in knapper, aber klarer Darſtellung zu einem erſten Entwurf ver— wertet worden, welcher die Grundlinien ergiebt, nach denen die Pflanzen-Geogra— phie, die bisher eine Wiſſenſchaft der Ober— fläche war, in die Tiefe hinabſteigen muß, um dort die ſichern Wurzeln ihres Ge— deihens zu finden. Statt eines näheren Eingehens wollen wir hier die von dem Herrn Verfaſſer auf— geſtellten leitenden Ideen 5 Ar⸗ beit wiedergeben: 9 Vgl. Kosmos, Bd. VI, S. 257. 1. Die gegenwärtige Verbreitung der Pflanzen iſt nicht blos bedingt durch die jetzt auf der Erde herrſchenden klimati— ſchen Bedingungen und die Bodenver— hältniſſe. 2. Ein wahres Verſtändnis der Ver— breitung der Pflanzen iſt nur dann mög— lich, wenn man die allmähliche Entwicklung derſelben zu ermitteln ſucht. 3. Hierzu iſt vor allem notwendig die Berückſichtigung der verwandtſchaftlichen Verhältniſſe, in welchen die Formen eines Gebietes oder mehrerer Gebiete zu ein— ander ſtehen. Die bloße Pflanzenſtatiſtik läßt einen Einblick in die Entwicklungs— Rgeſchichte nicht gewinnen. 4. Ferner iſt es notwendig, die Ver— breitungsverhältniſſe zu berückſichtigen, welche in den früheren geologiſchen Perio— den herrſchten und die verwandtſchaftlichen Verhältniſſe der ausgeſtorbenen Formen mit den gegenwärtig noch exiſtirenden in Betracht zu ziehen. 5. Der Wechſel in der Verteilung von Waſſer und Land, welcher namentlich ſeit der Tertiärperiode ſtattgefunden hat, iſt für die Entwicklungsgeſchichte der Floren— gebiete von großer Bedeutung. 6. Namentlich iſt es von Wichtigkeit, wenn durch Rückgang des Waſſers oder von Gletſchern oder auch durch Hebung eines Landes neues Terrain eröffnet wird, auf dem ſich die Formen der benachbarten Gebiete anſiedeln können und ihre neuge— bildeten Varietäten Platz zur Entwicklung vorfinden. 7. Die Beobachtung lehrt, daß nahe verwandte Formen einer Artengruppe kol— lokal entſtehen. 8. Allmählich verbreiten ſich die For— men eines Formenkreiſes, ſoweit Boden— Literatur und Kritik. 163 verhältniſſe, klimatiſche Verhältniſſe und Konkurrenz anderer Pflanzen es geſtatten. 9. So können nahe verwandte For— men auch an entferntere Teile eines gro— ßen Gebietes gelangen und ſich nun ſelb— ſtändig weiter entwickeln. 10. So lange noch in dem größeren, umfaſſenden Gebiet der alte Zuſammen— hang des Terrains fortbeſteht, iſt auch die Zuſammengehörigkeit der Formen mehr oder weniger leicht zu erkennen. 11. Wenn aber geologiſche Ereigniſſe eine Iſolirung der früher zuſammenhän— genden Teile bewirken, dann iſt die ſelb— ſtändige Entwicklung der verwandten For— men mehr begünſtigt. 12. So entſtehen korreſpondirende oder vikariirende Varietäten, Arten, Gruppen, Gattungen, Gattungsgruppen. 13. Wenn auch annehmbar iſt, daß eine Art an zwei gleichartigen, aber ge— trennten Orten eines Gebietes gleichartige oder wenig verſchiedene Varietäten erzeugt, ſo iſt es doch nicht denkbar, daß nun an beiden Orten fortdauernd dieſelben Ver— hältniſſe und Urſachen auf dieſelbe Varie— tät einwirken, und im Lauf der Zeit an beiden Orten die Nachkommenſchaft der zuerſt entſtandenen Varietäten ſich in durch— aus gleicher Weiſe entwickelt. 14. Scharf abgegrenzte, an getrenn— ten Gebieten vollkommen identiſche Arten können demzufolge nicht die Summe ihrer Eigenſchaften gleichzeitig an zwei oder mehr getrennten Gebieten gewonnen haben. 15. Die geologiſchen Ereigniſſe haben ſehr oft eine Iſolirung früher zuſammen— gehöriger Gebiete und der dieſelben be— wohnenden Pflanzen bewirkt. Mit Ver⸗ ſenkung eines Teiles des Gebietes unter Waſſer oder in anderer Weiſe wurde ſehr 164 oft ein Teil der Formen, welche als Binde: glieder zwiſchen den verſchiedenen Formen der mehr entfernten Teile die Zuſammen— gehörigkeit zu einem Verwandtſchaftskreis erkennen ließen, vernichtet. 16. Darauf beruht das Vorkommen verwandter Arten oder Gruppen an ge— trennten Gebieten, ohne daß noch andere verwandte Formen in dem dazwiſchen lie— genden in anderer Weiſe veränderten Ge— biet gefunden werden. 17. Demzufolge hat namentlich die Verwandlung von Seebecken, deren Ufer ehemals bewaldet waren, in trockene Step— pen oder Wüſten das Verſchwinden vieler Formen zur Folge gehabt, welche früher jetzt getrennte Standorte und getrennte Formen verbanden. 18. Wenn in getrennten Gebirgs— ſyſtemen urſprünglich nahe verwandte For— men Hochgebirgsvarietäten bilden, welche den in höheren Regionen herrſchenden Ver— hältniſſen ſich allmählich anpaſſen, ſo ſind dieſe ſpäter zu Arten gewordenen Varie— täten im ſtande, bei eintretender Erniedri— gung der Temperatur ſich zu erhalten, während die in den wärmeren Regionen der Ebene verbliebenen Formen nun nach wärmeren Landſtrichen wandern oder un— tergehen müſſen. 19. Aus 17 und 18 geht hervor, daß in Ländern von hohem Alter, namentlich in gebirgigen Gegenden, deren Vegetation ſeit langem nicht durch geologiſche Ereig— niſſe vollſtändig vernichtet wurde, ein rei— cher Endemismus herrſchen muß. 20. Endemiſche Formen können aber auch in verhältnismäßig jungen Gebieten reichlich auftreten, wenn nämlich dieſe Ge— biete, wie die aſiatiſchen Steppen, die amerikaniſchen Prärien oder die ſüdameri— Literatur und Kritik. kaniſchen Pampas, durch ihre Beſchaffen— heit nur einer beſchränkten Zahl von Ve— getationsformen die nötigen Exiſtenzbe— dingungen gewähren. 21. Der Unterſchied zwiſchen alten und neuen Florengebieten mit reichem Ende— mismus beſteht gewöhnlich darin, daß in den älteren Gebieten die Artenzahl der Gattungen eine geringere, in den neueren die Artenzahl einzelner Gattungen gewöhn— lich eine ſehr große iſt. 22. Bei einigen Familien finden wir, daß ihre natürlichen Gruppen ſich auf ein— zelne geographiſche Gebiete beſchränken; dies hängt bisweilen damit zuſammen, daß einzelne dieſer Gruppen phyſiologiſche Ei— gentümlichkeiten beſitzen, welche in einem klimatiſch Scharf charakteriſirten Gebiete von beſonderem Vorteil ſind. Es hat aber das auch häufig darin ſeinen Grund, daß von einem Entwicklungszentrum nach verſchie— denen Richtungen hin verſchiedene Formen gelangten, die nun in den getrennten Ge— bieten Ausgangspunkte natürlicher Grup— pen wurden. Es findet alſo im großen dasſelbe ſtatt, was wir bei kleineren For— menkreiſen auch wahrnehmen. 23. In großen Gebieten, welche im Lauf der geologiſchen Epochen nur wenig Veränderungen unterworfen waren, konn— ten ſich ſolche Gattungsgruppen wohl er— halten; wir finden daher dieſe Erſcheinung nur in den tropiſchen und ſubtropiſchen Gebieten, während wir in den ſeit der Ter— tiärperiode mehrfach veränderten Gebieten ähnliche Erſcheinungen innerhalb einer Gattung häufiger wahrnehmen. 24. Daß auch im tropiſchen Gebiet nur wenige Familien eine Beſchränkung ihrer Gruppen auf beſtimmte geographi— ſche Gebiete zeigen, hat einerſeits in dem Pr verſchiedenen Alter der einzelnen Familien, andererſeits in der verſchiedenen Dauer der Keimfähigkeit der Samen ſeinen Grund. | Samen mit lang andauernder Keimfähig— keit ſind für lange Wanderungen mehr be— fähigt, als ſolche, welche bald keimen müſ— | fen, um zur Entwicklung zu gelangen. 25. Die große Mehrzahl der tropiſchen Pflanzenfamilien, alſo der Familien, von welchen ein hohes Alter vorausgeſetzt wer— den darf oder nachgewieſen iſt, zeigt eine ſehr unregelmäßige Verteilung, oft nahe verwandte Gattungen auf der öſtlichen und weſtlichen Hemiſphäre. 26. Die Unterſuchung der Verbrei— tungsverhältniſſe der foſſilen Pflanzen zeigt uns, daß viele Gattungen, welche jetzt auf eine Art oder ein enges Gebiet beſchränkt ſind, noch in der jüngeren Ter— tiärperiode mehr Arten oder ein größeres Verbreitungsgebiet beſaßen. 27. Daraus ergibt ſich, daß wir die Heimat einer Pflanze oder einer Pflanzen— gruppe nicht immer da zu ſuchen haben, wo dieſelbe jetzt exiſtirt oder am reichſten entwickelt iſt. 28. Ferner iſt daraus erſichtlich, daß artenarme oder monotypiſche Gattungen in den meiſten Fällen Reſte von früher viel reicher entwickelten Typen ſind. 29. Die Erhaltung von monotypifchen Gattungen in einem Gebiet iſt meiſt etwas Zufälliges und für das Gebiet nur inſo— fern von Bedeutung, als ſie zeigt, daß in demſelben frühere Verhältniſſe längere Zeit fortgedauert haben; die monotypiſchen Gat— tungen eignen ſich daher nur zur Charak— teriſirung größerer Gebiete, in denen ſie allgemein verbreitet ſind, aber nicht zur Charakteriſirung engerer Gebiete. | 30. Für die Feſtſtellung der engeren Literatur und Kritik. 165 Florengebiete innerhalb eines größeren Ge— bietes eignen ſich am beſten Gattungen, welche in einem ſolchen auf der Höhe ihrer | Entwicklung ſtehen und in anderen Gebie- ten gar nicht oder nur ſpärlich vertreten ſind. 31. Scharfe Grenzen zwiſchen den ein— zelnen Florengebieten exiſtiren nicht, ſon— dern es greifen immer Elemente des einen in das andere hinüber und zwar in den verſchiedenen Epochen der Erdgeſchichte in verſchiedenem Grade. 32. Die Pflanzengeſchichte zeigt, daß einzelne Typen ſich bis in die Gegenwart in formenreicher Entwicklung erhalten ha— ben, während andere eine Abnahme, noch andere eine bedeutende Zunahme ihrer For— menkreiſe erkennen laſſen; die pflanzenſta— tiſtiſchen und pflanzengeographiſchen Ver— hältniſſe reichen aber da nicht aus, um das relative Altersverhältnis der einzelnen Familien zu einander feſtzuſetzen. 33. Dagegen iſt es wohl möglich, in- nerhalb eines engen Formenkreiſes, ſogar innerhalb einer Familie mit eingehendſter Berückſichtigung der morphologiſchen Ver— hältniſſe und der geographiſchen Verbrei— tung der verwandten Formen eine relative Altersbeſtimmung vorzunehmen, die auf wiſſenſchaftlichen Wert Anſpruch machen darf. 34. Daraus, daß mit Sicherheit die Entwicklung zahlreicher jetzt exiſtirender Formen bis in die Tertiärperiode zurück— reicht, folgt nicht, daß nicht ſpäter noch neue Arten entſtanden ſind. 35. Ebenſo folgt aus der unverän— derten Erhaltung einiger tertiären Formen nicht, daß überhaupt die Arten unveran- derlich ſind. 36. Bei der Bildung von Varietäten wirken innere Urſachen. Wenn wir in ein— — 166 zelnen geographiſchen Gebieten, die durch ein eigentümliches Klima charakteriſirt find, einen großen Reichtum von Formen fin— den, die dieſem Klima angepaßt zu ſein ſcheinen, ſo hat dies darin ſeinen Grund, daß das Klima, ſekundär wirkend, die wei— tere Entwicklung gewiſſer, vorher ſchon er— zeugter Formen begünſtigt, der Entwick— lung und Ausbreitung anderer Formen aber hemmend entgegentritt. m — nn —. * Das Pflanzenleben der Schweiz von H. Chriſt. Mit vier Vegetationsbil— dern in Tondruck nach Original-Auf— nahme von C. Janslin, vier Pflan— zenzonenkarten in Farbendruck und einer Tafel der Höhengrenzen verſchiedener Gewächſe, 2—4. (Schluß)-Lieferung. Zürich, Friedrich Schultheß, 1879. Wir haben unſere Leſer ſchon früher (Bd. VI, S. 161) bei dem Erſcheinen der erſten Lieferung auf dieſes ausgezeichnete Werk aufmerkſam gemacht. Jetzt, nachdem es vollendet vorliegt, können wir den gün— ſtigen Eindruck, den uns die erſte Liefe— rung hervorbrachte, lediglich wiederholen. Es gibt keine gründlichere, überſichtlichere, klarere Schilderung des an Formen und Problemen reichen Gebietes der Alpenflora als die vorliegende, und wer jemals mit den Augen des Botanikers oder Pflanzen— Geographen die Schweiz durchwandert hat, wird das Werk mit ebenſo reichem Genuß als Belehrung leſen. Unſere Abſicht, auf das Kapitel über die Entſtehung der Schwei— zerflora näher einzugehen, iſt uns indeſſen nach dem Erſcheinen des betreffenden Ka— pitels in der letzten Lieferung als nutzlos erſchienen. Der Herr Verfaſſer iſt über das Werden zu keinen poſitiven Anſchau— ungen gelangt, und obwohl er feſthält, Literatur und Kritik. „daß die aufſteigende Reihe im Sinne der ſtufenweiſen Klärung, Vervollkomm— nung und idealen Vollendung auch in der Geſchichte der Pflanzenwelt klar zu Tage liegt,“ ſo hält er doch jedes Unterſuchen und Ableiten der Geſetze, nach denen dieſe „ideale Vollendung“ vor ſich gegangen ſein könnte, offenbar für eine Art Einbruch in das geheime Archiv Gottes, und er ruft (S. 450) zornig aus: „Spielend glaubt eine ſolche Naturbetrachtung die ewig dunkle Frage von der Entſtehung aller Dinge zu löſen und merkt dabei kaum, daß ſie nur das alte Chaos und die alte Nacht wieder herſtellt.“ In der That, das merkt fie kaum, und dieſes Anathema wird ihr da— her wie eine „Offenbarung“ klingen. Dieſe Befangenheit den neueren Fortſchritten der Wiſſenſchaft gegenüber berührt indeſſen den Werth des Werkes, welches es ja nur mit dem gegenwärtigen Zuſtande zu thun hat, wenig oder gar nicht, und wir machen es uns grade deshalb zur doppelten Pflicht, denſelben in vollem Maße anzuerkennen. Die Ausſtattung iſt eine ſehr gediegene, die Vegetationsbilder ſind charakteriſtiſch und die Karten, welche die Verbreitung einer anſehnlichen Reihe charakteriſtiſcher oder merkwürdiger Arten graphiſch dar— ſtellen, find höchſt überſichtlich. Der Zoologiſche Garten. Zeitſchrift für Beobachtung, Pflege und Zucht der Tiere. Redigirt von F. C. Noll. Frankfurt a. M. In Commiſſion bei Mahlau und Waldſchmidt enthält in dem uns vorliegenden Jahr— gang 1879 wie immer eine ſehr große Mannigfaltigkeit von Artikeln, Berichten und Correſpondenzen, die jeden Tierfreund auf das höchſte intereſſiren müſſen und 2 eine Mitteilung beſonderm Intereſſe. \ Literatur und Kritik. 167 ſich auf alle Zweige der Tierpflege und valle laſſen uns insgeſammt nur den kur— | des Tierlebens überhaupt erftreden. von zen Zeitraum vom Ende der Eiszeit bis | befonderem Intereſſe darunter ſind drei zur Ausrottung des Heidentums am Mittel- Artikel über die Lebensdauer der Tiere rhein verfolgen. Wenn in Freitags Ah— im Hamburger zoologiſchen Garten von nen ein beſtimmtes Geſchlecht den rothen Direktor Dr. Bolau, acht Artikel mit Faden bildet, an dem ſich die Begeben Beobachtungen am Orang Utan von Dr. heiten aufreihen, ſo iſt hier die Landſchaft | Mar Schmidt und fünf Artikel über das einende Element dieſer mit Geſtalten Tierleben und Tierpflege in Irland von der Vorzeit belebten Nebelbilder, und zwar Ernſt Friedel. Von den mannigfachen, | die mittelrheinifche Landſchaft, welche den dem Aquarium gewidmeten Artikeln iſt dreifachen Vorzug beſitzt, ſtets das Theater des Redakteurs über großer Vorgänge im erſten Jahrtauſend Meeresleuchten im Zimmer-Aquarium von unſerer Zeitrechnung gebildet zu haben, in Unter den Mit- ſeinem mit Lebensſpuren aller Epochen ge— arbeitern bemerken wir die Gebrüder | düngten Boden reiche Zeugniſſe zu bewah— Karl und Adolf Müller, Dr. Frdr. ren und drittens dem Verfaſſer von außen Knauer, K. Th. Liebe, H. v. Na- und innen auf das genaueſte bekannt zu thuſius, E. von Homeyer, Dr. W. ſein. Freilich ſind es nicht viel mehr als Stricker, Prof. L. Glaſer, H. Schacht, lebende Bilder, die er gibt, eine Jagd, H. von Roſenberg und viele andere ein Totenopfer, ein Überfall, eine Rache, Namen von gutem Klange, jo daß dieſe | eine Bekehrung u. ſ. w., aber Bilder mit Zeitſchrift ihrer Aufgabe als „gemein- | möglichiter Treue des hiſtoriſchen und ſelbſt ſames Organ für Deutſchland und an- des vorhiſtoriſchen Kolorits. Sicherlich muß grenzende Gebiete“ beſtens gerecht wird man erſtaunt fein, daß ſich aus einem ge— und den weiteſten Kreiſen zu empfehlen iſt. fundenen Dolch, einer Spange und einem — ä — Linnenfetzen ſo viel Koſtümkunde und Sit— Bilder aus Deutſchlands Vorzeit tengeſchichte rekonſtruiren ließ; es wäre von Dr. C. Mehlis. Jena, Hermann noch die Aufgabe eines großen Dichter— Coſtenoble, 1879. 127 Seiten in 12. genius, dieſen Geſtalten wirkliches Leben In dieſem der zehnten Jahresverſamm- einzuhauchen, wie es Scheffel mit viel— lung der deutſchen Anthropologiſchen Ge- leicht weniger Studium, aber mit der un— ſellſchaft gewidmeten und deshalb auf das endlichen Ueberlegenheit der Phantaſie in geſchmackvollſte ausgeſtatteten Bändchen ſeinem Ekkehard gethan. Durch das Meh— läßt der Verfaſſer acht hiſtoriſche Gemälde lisſche Buch glauben wir in der Über— auf dem feſten Grunde ſorgfältiger Quel- treibung der gekünſtelten Freitag ſchen len-, reſp. Gräberforſchung vor unfern Ahnenſprache einen Zug feiner Ironie Augen vorüberziehen, ungefähr in der gehen zu ſehen. Wie unfehlbar iſt nicht Weiſe Chidhers des Unſterblichen: „Und die komiſche Wirkung, wenn er ſagt (S. 28): abermals nach fünftauſend Jahren bin „Und thränenden Auges wandte ſich Schön— ich deſſelbigen Weges gefahren.“ Aber hier Siglinde dem Dorfe zu, in einer der Hüt— find die Pauſen kürzer und die 8 Inter- ten aus dem ſchöngeglätteten Kruge das r 168 Literatur und Kritik. Waſſer zu entleeren, in den Bottich, in welchem Rüben und Kraut und die Rippe des Schweines lagen, zum Mahle zu die— nen den Familiengenoſſen der Hütte“; oder wenn Siglinde mit wahrhaft Auerbach— ſchem Pathos der Radaberga auf ihre Frage: „Was iſt gefaltet deine Stirn und warum umſchleiert dein dunkles Augenpaar?“ erwidert: „Die Sehnſucht malt mir den Schleier um das Antlitz und Loki, der Arge, führt den Wahn mir in den Sinn, den Liebtrauten mögen zur Un— treue verführt haben die dunkelgelockten Schönen, denen das Feuer aus den Augen zuckt.“ Man kann die Verirrung der ge— nannten Dichter, Naturmenſchen ſo ge— künſtelt ſprechen zu laſſen, nicht beſſer per— ſifliren, und dieſe humorvolle Behandlung giebt dem an ſich etwas trockenen Stoffe eine ſehr erwünſchte Würze. Die typo— grapiſche Ausſtattung iſt ſehr ſplendid und gereicht der Verlagshandlung zur höchſten Ehre. Dr. Hermann Frerichs, Über Na— turerkenntnis. Bremen 1879, J. Kühtmann. 36 S. In dieſer ſehr gut geſchriebenen klei— nen Arbeit werden uns namentlich die Grenzen unſeres Erkenntnisvermögens, über die wir gerne hinwegzuſehen pfle— gen, vorgerückt. Es iſt das ebenſo ver— dienſtlich als leſenswert, nur hätten wir gewünſcht, von dem Verfaſſer ſtärker be— tont zu hören, daß uns dieſe Erkenntnis nicht hindern darf, weiter zu forſchen, denn jene Grenzen ſind doch nicht mehr die engen, welche ſie früher waren, und der Naturforſcher gleicht dem Gebirgs— bewohner, der aus dem engen Thalkeſſel mit völlig verhülltem Blick immer höher an den Wänden emporklimmt, und aus den unterwegs ſich darbietenden entzücken— den Ausblicken in die Ferne die Herr- lichkeit ahnt, die ſich ihm aufthun werde, wenn er den für unerſteiglich geltenden „Gipfel der Erkenntnis“ erreichen könnte! Herrn Profeſſor Dr. Jägers ver— meintliche Entdeckung der Seele von G. H. Schneider. Leipzig, Am— broſius Abel, 1879. 62 S. in kl. 8. Dieſes Schriftchen nimmt ungefähr denſelben Standpunkt ein, wie das Referat unſerer Zeitſchrift über Jägers intereſſan— tes Buch.“) Es verkennt keineswegs die Bedeutung der Jägerſchen Beobachtun— gen an ſich, ſondern bekämpft einzig die denſelben untergelegte Deutung. Vor al— lem hebt der Verfaſſer hervor, daß der Geruchsſinn nicht eine ſo ausſchließliche Herrſchaft im Sinnes- und Seelenleben der Tiere ausübt, wie Jäger anzunehmen ſcheint, und weiſt dies namentlich an der Hand ſeiner zahlreichen eigenen Beobach— tungen über die große Rolle des Geſichts— ſinns im Tierſeelenleben nach, die ja wohl von niemandem bezweifelt wird. Der Ver— faſſer operirt mit Thatſachen und voneigent— licher Polemik, wie ſie der Titel erwarten läßt, iſt in dem flüſſig geſchriebenen und leicht lesbaren Büchelchen wenig zu finden. 99 Kosmos, Bd. VI, S. 321. + Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig. N n 4 | a Über die Eutſtehung der Arten durch Abſonderung. a N durch ihre Hahn ea und Lebensweiſe beſonders ge— eignet iſt, für die form— bildende Wirkung einer dauernden individuellen Abſon— derung, ohne jede Mitwirkung ei— ner Selektion durch den Kampf ums Daſein, einen unwiderleg— baren Beweis zu erbringen. Dieſe Klaſſe iſt der Erforſchung ihrer individu— ellen Entwicklung ſchwerer zugänglich als die meiſten andern Abteilungen des Tier— reiches und wurde daher erſt in neuerer Zeit von den Zoologen genauer unterſucht und erkannt. Spongien oder Schwämme nennen wir jene tieriſchen Organismen von höchſt eigentümlichem Bau, welche mit Ausnahme einer einzigen Gattung, die im ſüßen Waſſer vorkommt, auf dem Grunde des Meeres, befeſtigt an iſolirten Stand— orten, leben und während ihrer ganzen in— dividuellen Lebensdauer abgeſondert blei— ben. Die verdienſtvollen Unterſuchungen Von or Moritz Wagner. III. Lieberkühns über Spongilla, das mei— ſterhafte monographiſche Werk Ernft Haeckels über die Kalkſchwämme und die trefflichen Arbeiten Oskar Schmidts über die Spongien im allgemeinen und diejenigen des Adriatiſchen Meeres im be— ſondern haben uns die nähere Kenntnis dieſer wichtigen Tierklaſſe aufgeſchloſſen. Die bleibende räumliche Abſonderung der einzelnen Schwämme oder Schwamm— ſtöcke, welche jede Konkurrenz der Artge— noſſen, jede Mitbeteiligung einer Ausleſe im Kampfe ums Daſein ſchon durch dieſe dauernde individuelle Iſolirung von ſelbſt ausſchließt, eignet dieſe Tierklaſſe ganz vorzüglich zur Prüfung der Streitfrage: ob die Wirkung der Migration und Iſo— lirung bei einfachem Wechſel des Stand— orts, welchen ſtets eine Anderung der Nahrungsverhältniſſe begleitet und der gleichzeitig die ungehinderte Fortentwick— lung der perſönlichen Merkmale des Kolo— niſten begünſtigen muß, auch für ſich allein ſchon genügt, um eine namhafte morpho— logiſche Abweichung von ſeinem Mutter- Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 22 170 ſtock hervorzubringen? Das Ergebnis der Unterſuchung antwortet auf dieſe Frage mit einem entſchiedenen Ja. Die normale Fortpflanzung der Spon— gien geſchieht bekanntlich durch befruchtete Eier. Männliche und weibliche GGenerations— organe (Spermatozoen und Eier) entwickeln ſich entweder in ein und demſelben Stock oder in getrennten Stöcken und Individuen. Die männlichen Spermazellen bewegen ſich mittels ihrer Geißelbewegung zu den weib— lichen nackten Eizellen und dringen in ihr Inneres ein. Damit wird bei den Schwäm— men der einfache Befruchtungsakt voll— zogen. Aus dem befruchteten Ei entſteht durch deſſen totale Furchung ein maulbeer— förmiger Körper mit einer Zentralhöhle verſehen, aus welchem durch eine Diffe— renzirung der Zellen eine Larve hervorgeht, die am vordern Teil mit Flimmerzellen, am hintern mit großen kugeligen oder ver— ſchmolzenen Zellen verſehen iſt. Die flimmernde Larve (Planula), wel- che bei den Kalkſchwämmen zuweilen ſchon winzige Skelettnadeln beſitzt, ſondert ſich ganz vom Mutterkörper ab und ſchwärmt aus, d. h. ſie wandert frei im Meere umher. Nachdem ſie eine zeit— lang in aktiver Migration umherge— ſchwommen, bezieht fie einen vom Mutter- ſtock ſtets getrennten, mehr oder weniger entfernten neuen Standort. Dies geſchieht, indem ſie an irgend einer ihr paſſenden Stelle des Meerbodens ſich niederſenkt, feſtheftet und dauernd ſich anſiedelt. An dieſem iſolirten Standort beginnt nun in den mannigfaltigſten Formen der Aufbau und die Geſtaltung des merkwürdigen chung einen ſo hohen Grad. Jeder räum— lich abgeſonderte Stock, jede iſolirte In- Spongienſkeletts, aus Kalknadeln, Horn— faſern oder Kieſelnadeln beſtehend. Die Abſonderung dieſer wunderbaren Gebilde Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. geſchieht aus der äußern Sarkodinenſchicht, dem ſogenannten Exoderm, welches in Ver— bindung mit der innern Zellenſchicht bei den Spongien den Weichteilen der höheren Tiere entſpricht und alle Funktionen der Empfindung, Reſpiration, Ernährung und Fortpflanzung erfüllt. g Zwiſchen den Zellen der Körperſub— ſtanz treten bei den Schwämmen ſchlauch— oder blaſenförmige Hohlräume auf, welche von kleineren, je eine Wimper tragenden Zellen ausgekleidet werden und in die Ka— näle münden. Die Kanäle führen zu den Aus- und Einſtrömungsöffnungen, die oft durch beſondere Nadeln geſtützt werden. Der durch die Wimpern unterhaltene Strom des umgebenden Waſſers führt Nahrungsſtoffe an den Zellen vorbei, von * denen jede einzelne nach Art der Amöben Nahrung in ſich aufnehmen kann.“ Daß bei dieſem Bildungsprozeß der einzelnen Spongienſtöcke von der Lage und Beſchaffenheit ihres iſolirten Standortes und ſeiner Nahrungsbedingungen, ſowie von der individuellen Variationsfähigkeit des in Larvenform zugewanderten, feſt— angeſiedelten Koloniſten alles abhängt, und daß der Einfluß eines Konkurrenz— kampfes, eines struggle for life mit den verwandten Stammgenoſſen bei dieſer Ent— ſtehungs- und Lebensweiſe vollſtändig ausgeſchloſſen iſt, wird niemand zu beſtreiten vermögen. Die Formenmannig— faltigkeit iſt beſonders bei den Kalk— ſchwämmen, die wir dank der ausgezeich— neten Monographie Haeckels ſehr genau kennen, ungemein groß. Bei keiner andern Tierklaſſe erreicht die individuelle Abwei— dividuenkolonie unterſcheidet ſich von an— | Moritz Wagner, Über die Entftehung der Arten durch Abſonderung. deren, nicht immer weit entfernten Stöcken in einem Grade, welcher den Grad des gewöhnlichen morphologiſchen Artunter— ſchiedes anderer Tierklaſſen mitunter ſelbſt überſchreitet. Der ſubjektiven Auffaſſung des Syſtematikers iſt bei dieſer ungemei— nen Formenmannigfaltigkeit der Spongien ein weites Feld geöffnet und die Feſtſtel— lung von Spezies und Gattungen begegnet daher wirklich oft großen Schwierigkeiten. Wie ſehr die aktiven Migrationen der flimmernden Larven und oft auch die paſſive Migration eines von ſeinem ur— ſprünglichen Standort losgeriſſenen und von den Meeresſtrömungen mit ſeiner Un— terlage weit fortgetragenen Schwammes zu dieſer Vielgeſtaltigkeit beitragen muß, fällt in die Augen. Ob die freiſchwim— mende Planula bei ihrer Wanderung zu— fällig in eine wärmere oder kältere Meeres— ſtrömung gerät, ob ſie nach der Mündung eines Stromes, der viele organiſche Reſte in das Meer trägt, oder fern davon an einem für die Nahrungsſtoffe, die ſie be— darf, minder günſtigen Punkt ſich auf den Boden ſenkt, um ſich feſtzuſetzen, ob lokale Umſtände, wie z. B. eine größere oder ge— ringere Meerestiefe des Standorts, die Er— nährung durch die Beſtandteile des den Schwammſtock umſpülenden Waſſers be— günſtigen oder benachteiligen, all das muß ſelbſtverſtändlich mächtig dazu beitragen, die individuelle Variationsfähigkeit des iſolirten Koloniſten entweder zu unter— ſtützen oder zu beeinträchtigen. Jeden- falls bleibt hier die Abſonderung ſelber die eigentliche, anſtoßgeben— de, nächſte mechaniſche Urſache aller Geſtaltveränderungen. Haeckel iſt in den der Biologie der Kalkſchwämme gewidmeten Kapiteln ſeines inhaltreichen Werkes einer Unterſuchung der Frage nach der causa efficiens, welche zu den Formabweichungen dieſer merkwür— digen Organismen den Anſtoß giebt, viel- leicht abſichtlich aus dem Wege gegangen. Ob dies geſchehen, weil er merkte, daß gerade die Entſtehungs- und Lebensweiſe der Calciſpongien jeder weſentlichen Mit— beteiligung einer Zuchtwahl oder Ausleſe durch den Kampf ums Daſein widerſpricht, will ich nicht behaupten. In ſeinen kurzen Bemerkungen über die „Urheimate“ oder „Schöpfungsmittelpunkte“, die man richtiger „Entſtehungszentren“ nennen ſollte, macht Haeckel jedoch der Migrationstheorie eine weſentliche Kon— zeſſion. Er bemerkt dort Bd. J, S. 448: „Daß hier wie überall in der or— ganiſchen Welt die mannigfalti— gen, beſonders von Moritz Wagner gewürdigten Migrationen eine große Rolle ſpielen und die „Ent— ſtehung der Arten“ vielfach ver— mitteln, kann mit Sicherheit ange— nommen werden. Für die Chorologie der Kalkſchwämme wird hierbei namentlich der Umſtand in betracht zu ziehen ſein, daß dieſelben nicht nur als freiſchwimmende Flimmerlarven weit umherſchwimmen und ſich durch aktive Wanderung ausbreiten können, ſondern daß ſie auch ſich mit be— ſonderer Vorliebe auf Seepflanzen, na— mentlich auf Fucus- und Sargaſſum-Arten anſiedeln, welche leicht von ihrem Stand— ort losgeriſſen und dann durch Strömun— gen über weite Meeresſtrecken ſchwimmend fortgeführt werden können. Eine ziemliche Anzahl, beſonders von pazifiſchen und in— diſchen Kalkſchwämmen, iſt bis jetzt blos auf ſolchen ſchwimmenden Tangen ange— troffen worden und es iſt daher ſehr die Frage, ob ihre urſprüngliche Heimat nicht weit von ihrem Fundort entfernt war. Jedenfalls iſt in dieſen paſſiven Wan— derungen ein vorzügliches Mittel für die weite geographiſche Verbreitung vieler Calciſpongien gegeben.“ Mit dieſen Außerungen Haeckels, in denen wir ein bemerkenswertes Zugeſtänd— nis zu unſern Anſichten erkennen, ſind wir ſelbſtverſtändlich vollkommeneinverſtanden. Indeſſen wäre es uns doch lieber geweſen, wenn der geiſtvolle Forſcher ſich bei dieſer Gelegenheit über folgende Fragen beſtimmt geäußert hätte: Welchen Anteil kann an der Entſtehung neuer morphologiſcher Merk— male die Zuchtwahl durch den Kampf ums Daſein bei tieriſchen Gebilden haben, deren Lebensweiſe bei dauernder, individueller Iſolirung dieſen Konkurrenzkampf zwiſchen den Artgenoſſen ſo gut wie unmöglich macht? Hat die Bezeichnung Selektion hier noch einen Sinn für Formbildungen, die doch ſo einfach nur durch die zwei Fak— toren der veränderten Nahrungsbedingun— gen des neuen Standortes und der in— dividuellen Variationsfähigkeit iſolirter Koloniſten zuſtande kommen? Die Migration vermittelt bei den Cal— eiſpongien als zwingende, mechaniſche Urſache die Artbildung nicht nur viel— fach, wie Haeckel zugeſteht, ſondern offen— bar ganz allein. Gerade die außeror— dentliche Formenmannigfaltigkeit bei einer durch individuelle Abſonderung ſo ausge— zeichneten Ordnung des Tierreiches ſcheint uns das beredteſte Zeugnis für die Richtig— keit der Separationstheorie zu ſein. Die paſſiven Wanderungen, welche die auf Fucusarten und andern Algen feſt— — = 5 N 3 + | ſitzenden Schwämme mit den losgeriſſenen Pflanzen oft durch weite Meere unfreiwil— 1 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. lig machen, ſind nicht nur ein vorzügliches Mittel zu der ſehr weiten geographiſchen Verbreitung, wie Haeckel richtig bemerkt, ſondern auch ein noch ausgezeichneteres Mittel, um durch außerordentliche Verän— derungen in den äußeren Lebensbedingun— gen jene ſtärkere morphologiſche Differen— zirung hervorzurufen, die wir thatſächlich bei ihnen ſehen. Dafür liefert gerade das Faktum, daß ſo manche ausgezeichnete Gattungen und Arten von Kalkſchwämmen ausſchließlich nur auf ſolchen ſchwimmen— den Fucusarten beobachtet worden ſind, einen Beweis, wie ihn die Separa— tionstheorie ſich nicht günſtiger wünſchen konnte. * Betrachten wir zum Vergleich mit den Spongien eine andere Tierklaſſe und wäh— len wir aus derſelben eine nicht minder formenreiche Gruppe aus, welche durch ausgezeichnetſte Lokomotionsfähigkeit und ſonſtige individuelle Lebensweiſe ſich im ſchroffſten Gegenſatz zu den oben beſchrie— benen Organismen befindet. Wir können uns in der That den Schwämmen gegenüber keinen ſtärkeren Kontraſt denken, als die äußerſt mobile und zu den höchſten Leiſtun— gen aktiver Migration befähigte Klaſſe der Vögel, und wir finden in derſelben eine Familie, welche durch geographiſche Ver— breitung und lokales Vorkommen der ver— ſchiedenen Gattungen, Arten und Varie— täten, ebenſo wie durch ihren merkwürdigen Formenreichtum ganz ungemein geeignet iſt, uns belehrende Aufſchlüſſe über die Ur— ſache der Entſtehung dieſes Formenreich— tums zu geben. 2 Die Familie der Trochiliden zeigt uns 34 Gattungen mit nahezu 500 beſchriebe— nen Arten und vielen konſtanten lokalen Varietäten. Die wirkliche Artenzahl dürfte Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. wohl doppelt ſo groß ſein, da gerade die Gegenden, wo ſie am zahlreichſten erſchei— nen, die ausgedehnten Waldlandſchaften im Quellgebiete der großen ſüdamerikani— ſchen Ströme und der ganzen öſtlichen Ge— hänge der tropiſchen Anden, in ornitholo- giſcher Beziehung noch ſehr wenig durch— forſcht ſind. So auffallend der Formenreichtum die ſer Vogelfamilie iſt, ſo hat dieſelbe doch in ihren Hauptzügen ſehr viel übereinſtim— mendes. Der Schnabel der Trochiliden iſt immer lang und dünn, die lange Zunge geſpalten. Die Flügel ſind lang und ſpitz, die Füße ſehr klein, dünn und ſchwach. 173 Schnee der Andeſitkegel bei Quito über 15,000 Meereshöhe. Während ziemlich viele Arten echte Wandervögel ſind und daher eine ſehr weite geographiſche Verbreitung haben, be— ſteht doch die weit überwiegende Zahl aus wirklichen Stand vögeln, welche oft einen ſehr eng begrenzten Wohnbezirk inne haben und dieſen nicht leicht verlaſſen. Hier zeigt ſich aber der wichtige Umſtand, daß letztere, die Standſpezies, ſtets' vikariirende, | d. h. jehrnaheverwandte Arten oder lo— kale Varietäten meist in nächſter Nach— Aber neben dieſen die ganze große Fami- lie charakteriſirenden Zügen — welche ſtau— nenswerte Mannigfaltigkeit von morpho— logiſchen Eigentümlichkeiten in der Größe, Form, Zeichnung, Farbe der Federn, be- ſeonders bei der Unterfamilie Trochilinae, den Kolibris im engeren Sinne, zu deren aus ſchuppenartigen Federn gebildetem Kehl— ſchild eine wunderbare Pracht der Metall— farben und Zeichnungen, ſowie die verſchie denartigen Formen von Federzierden an Kopf, Schwanz, Füßen u. ſ. w. ſich geſellt! Die Trochiliden ſind auf den Weltteil Amerika beſchränkt, da fie trotz ihrer außer- ordentlichen Flugkraft den weiten Ozean nach beiden Seiten doch nicht zu überſchrei— nen die verſchiedenen Gattungen und Ar— ten die verſchiedenſten Klimate der geogra— Südſpitze Patagoniens und dem Feuerland und nordwärts bis zur Hudſonsbai und und in allen Regionen, von den heißen Kü— ſtenebenen beider Ozeane bis zum ewigen ten vermochten. In Amerika aber bewoh- phiſchen Breite wie der Meereshöhe. Man findet fie vom Äquator bis zur äußerſten Labrador, alſo durch 120 Parallelkreiſe, barſchaft ihres Areals und doch ge— wöhnlich räumlich abgetrennt uns zeigen, während bei den Wanderarten die vikariiren— den Formen im gleichen Areale faſt immer gänzlich fehlen und erſt jenſeits der tren— nenden Gebirgsketten erſcheinen oder, wenn es deren in demſelben Verbreitungsgebiet giebt, doch immer nur an ſporadiſchen Lü— cken derſelben auftreten. So z. B. iſt in den Pampas von Pata— gonien und an der ſüdlichen Küſte von Chile der Rieſe unter den amerikaniſchen Kolibris, Patagona gigas Viellot, bis zur höchſten Region der Anden in Bolivia ver— breitet, wo ihn Warzewicz zwiſchen 12,000 bis 14,000“ Höhe fand. Innerhalb dieſes weiten Verbreitungsgebietes ſehen wir kei— ne andere ihm ſehr nahe ſtehende Form. Dagegen iſt eine andere Art, Eustephanus galeritus, nach Darwin's Mitteilung ſogar noch weiter verbreitet. Dieſer Kolibri geht von Tierra del fuego, wo ihn Kapitän King inmitten eines Schneeſturmes fand, durch ganz Chile und einen Teil von Bo- livia und Peru bis gegen 10S. B.,über einen Raum von 2500 engl. T Meilen. Eine noch größere Verbreitung hat in Nord— amerika der allen Spaziergängern in den 174 Wäldern bei den Niagarafällen und in Ka- nada ſo bekannte und häufige Trochilus | colubris, ein überaus mobiler Wandervo- | gel, der im Sommer bis Labrador, unter 61 nordwärts, im Winter bis Mexiko und der Weſtküſte von Guatemala bis gegen den Parallel 15° ziebt. Dagegen überſchrei— tet dieſe Art nicht die Rocky Mountains, ſondern geht nur bis zum öſtlichen Fuß die- ſes gewaltigen Gebirges. Erſt jenſeits des— | jelben tritt als ſein eigentlicher Stellver- treter der Trochilus Alexandri an der Weſt⸗ | küſte Nordamerikas auf, der im Sommer | bis nach Britifch = Columbia zieht und im | Winter ſeine Station im ſüdweſtlichen Me⸗ rifo einnimmt, aber von der vikariirenden Form des Oſtens ſtets räumlich ſcharf geſchieden bleibt. Andere ſehr merkwürdige und weit ver- breitete, wandernde Arten unter dieſen Trochiliden ſind Lampornis mango, Peta- sophora serrirostris, Cometes sparganu- rus, Chrysolampis moschitus. Überaus viel zahlreicher, als ſolche ein ſehr großes Territorium bewohnende Spezies ſind in dieſer amerikaniſchen Familie die Stand⸗ vögel im ſtrengſten Wortſinne Trochiliden⸗ arten, deren Wohnbezirk ſich ſeltſamerweiſe oft auf ein ganz enges Areal beſchränkt, von dem wohl einzelne Individiduen oder Paare mitunter emigriren, welches ſie aber in größerer Zahl nie zu verlaſſen ſcheinen. Standvögeln der großen Koli- brifamilien zeigt uns aber die formbildende Wirkung der räumlichen Abſonderung die überraſchendſten Reſultate. „Jede Höhen— ſtufung der amerikaniſchen Kordilleren — ſchreibt der erfahrene britiſche Ornithologe Gould — hat ihre eigentümliche Form von Kolibri. Die Arten wechſeln etwa von tauſend zu tauſend Fuß auf den verſchie⸗ Bei dieſen Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. tikaler Richtung. Jeder ſehr hohe iſo— nach der Lokalität gewöhnlich konſtante ſeinen eigenen Kolibri, der von den vikari⸗ denen Gehängen von der Baſis bis zur Schneeregion.“ Gould hätte hinzufügen können: Auch in horizontaler Richtung tritt bei den iſolirten Vulkanen und Andeſit— kegeln derſelbe Artenwechſel ein, wie in ver— lirte Kegel beſitzt in der oberen Re— gion eine oder mehrere Arten, die ihm ganz eigentümlich ſind, und in der Regel zeigen dieſelben die näch— ſte Verwandtſchaft mit der Nach— barart auf den nächſt gelegenen Bergen. Am auffallendſten offenbart ſich dieſe merkwürdige Thatſache bei der auf die höch- ſten Andesregionen beſchränkten, äußerſt charakteriſtiſchen Gattung Oreotrochilus, deren Arten oder Spielarten in den Ein- zelheiten der Farbe und der Zeichnung je Differenzen aufweiſen. Der koloſſale Berg Akonkagua in Chile hat an dem von Brid ges dort in der Region von 10,0007 entdeckten Oreotrochilus Leucopleurus irenden Arten in Bolivia und Peru ent: ſchieden abweicht. Die Vulkane Koto— paxi und Pichincha beſitzen in der Re— gion von 10,000 bis 14,0007 eine ihnen eigene Art, die aber auf den hohen Nach— | barbergen Chimboraſſo, Antiſana, Tunguragua und Kay ambe fehlt und dort durch andere ſehr ähnliche, aber doch 4 konſtant abweichende Arten erjegt wird. 2 Wenn man dieſe auch nur als lokale Was rietäten betrachten will, ſo iſt es doch immerhin überaus lehrreich und für die zwingende mechaniſche Urſache der Form: bildung bedeutſam genug, wie hier die räumliche Abſonderung ſelbſt in ſo gro— ßer Nähe und bei faſt völliger Gleichheit e- der äußeren Lebensbedingungen verän— So z. B. hat der von Lattre entdeckte Oreotrochilus Chimborazo, welcher auf den Berg, deſſen Namen er trägt, aus— ſchließlich beſchränkt, bis zur Höhe von 16,000“ kleine Dipteren auf dem ewigen Schnee jagend) vorkommt, unter der blauen Kehle ſtets einen grünen Streifen, der ſei— nem nächſten Nachbar Oreotrochilus Pi- chincha, welcher den nach ihm benannten Vulkan bewohnt, ganz fehlt. Analoge, intereſſante Fakta zeigt uns die Gattung Ramphomicron. Der von Bour— eier auf dem Vulkan Pichincha entdeckte R. Stanleyi hat an der Kehle einen großen metallſchimmernden Fleck, der oben ſma— ragdgrün, unten rubinroth iſt, aber bei den vikariirenden Arten dieſer Gattung, die auf andern iſolirten Bergen von Ekuador, Ko— lumbia, Peru und Bolivia vorkommen, ent— weder durch andere Farben und Zeichnun— gen erſetzt iſt oder auch ganz fehlt. Der— ſelbe Vulkan beſitzt in ſeinen mittleren und oberen Regionen noch einige andere ihm eigentümliche Trochilidenarten, welche bis jetzt an keinem anderen Berge gefunden wurden. Darunter iſt der von Dr. Jame— fon entdeckte, hochintereſſante, düſter ge— färbte Eriocnemis lugens eine der auf— fallendſten, ſtreng endemiſchen Formen. Eine gute Anzahl anderer Spezies, welche beſonders der unermüdliche Samm— ler Warzewicz auf den iſolirten, erlo— ſchenen Vulkanen in Zentral- und Süd— Amerika ſammelte und Gould beſchrieb, ſind gleichfalls ſtreng endemiſch, d. h. in ihrem Vorkommen auf einen eng begrenz— ten Standort, meiſt auf einen einzigen Berg beſchränkt, ſo der prachtvolle Kolibri Se— Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. 175 laphorus Seintilla mit rubinrother Kehle, dernd wirkt und in der Regel den Anſtoß zu irgend einer konſtanten Variation giebt. grünem Rücken und weißem Bauche, wel— chen der genannte Naturforſcher am Vulkan von Chiriqui in der Höhe von 9000 ent- deckte, und den ich ſpäter am gleichen Fund— orte in einer etwas niedrigeren Region ſammelte. Auch einige der tief eingeſchnittenen Eroſionsſchluchten in den Anden, die ſoge— nannten Quebradas und Barrancas, zei— gen uns merkwürdigerweiſe ganz eigen— tümlich ſtreng endemiſche Arten, welche bis jetzt noch nirgend ſonſtwo gefunden wur— den. So z. B. iſt die prachtvolle Art Eu— genia imperatrix, welcher Gould der Gemahlin Napoleon III. zu Ehren die— ſen ſyſtematiſchen Namen gab und in ſei— nem großen Trochilidenwerk abbildete, auf den einzigen Standort einer tiefen Bar— ranca der Hochebene von Quito beſchränkt und bis jetzt, ſo viel wir wiſſen, noch in kei— ner anderen Gegend gefunden worden. Ahnliche Beiſpiele von ſtreng iſolirtem Vorkommen endemiſcher Arten könnten wir noch in beträchtlicher Zahl anführen. Da dieſe Angaben jedoch ſtets von dem unver— meidlichen ſyſtematiſchen Namen begleitet ſein müßten, ſo unterlaſſen wir das nähere Eingehen, um den der Ornithologie un— kundigen Leſer nicht zu ermüden. Faſſen wir die Reſultate der Choro— logie der Trochiliden für die vorliegende Frage in kurzen Worten zuſammen. Alle wandernden, weitverbreiteten Arten dieſer formenreichen Vogelfamilie zeigen inner— halb ihrer großen Verbreitungsgebiete nur . ſelten vikariirende, d. h. ſehr ähnliche, nächſt verwandte Spezies unter oder auch neben ſich. Letztere treten aber gewöhnlich erſt jenſeits der trennenden Schranken angren-® zender Hochgebirge auf. Wo Ausnahmen 2 176 von dieſer Regel ſtattfinden, deutet die ver— gleichende Unterſuchung der chorologiſchen Verhältniſſe ſtets auf abgeſonderte Stand— orte an den von der Stammart noch unbe— ſetzten ſporadiſchen Lücken hin, welche den Einwanderern eine Iſolirung von genü— gender Dauer geſtatteten. Bei den an Zahl bedeutend vorherr— ſchenden Standvögeln dieſer großen Fami— lie, deren Arten in ihrer Verbreitung auf Areale von geringer oder mäßiger Ausdeh— nung ſich beſchränken, erſcheinen dagegen die vikariirenden Arten und Varietäten überaus zahlreich und gewöhnlich in naher Nachbarſchaft. In horizontaler Richtung ſehen wir den Wechſel der Arten in den geſchloſſenen Plateaux und Hochthälern der Kordilleren oder auf iſolirten Kegel— bergen in Intervallen von 10 bis 20 Mei— len, in vertikaler Richtung in kürzeren Zwi— ſchenräumen von 1000 bis 1500 Fuß von einander getrennt. Erſcheint die ganzgleiche Art ſporadiſch an verſchiedenen, ſehr weit von einander getrennten Standorten ohne lokale Variation, ſo deutet die Seltenheit der Speziesform, ihre äußerſt geringe In— dividuenzahl, ſtets ihr hohes Alter an. Alternde Arten, die das Stadium der Variationsfähigkeit überſchritten haben, ſind, wie die Thatſachen lehren, auch bei dauernder räumlicher Abſonderung einzel— ner Emigranten unfähig, neue Formen zu bilden. Alle Fakta der Geographie und Chorologie der Trochiliden find den Re— ſultaten der Separationstheorie entſchie— den günſtig. Betrachten wir vergleichungsweiſe die geographiſche Verbreitung und das lokale Vorkommen einiger anderer morphologiſch beſonders charakteriſtiſcher Familien und Gattungen des Tierreiches, deren Lebens— weiſe und Lokomotionsfähigkeit zu den Schwämmen wie zu den Luft bewohnenden Vögeln in gleich ſchroffem Gegenſatz ſtehen. Wenn trotz dieſes Gegenſatzes die chorolo— giſchen Ergebniſſe die gleichen Argumente für die Migration und Iſolirung als zwin— gende Urſache der Artbildung liefern, ſo muß uns dies bedeutſam genug erſcheinen. Wir wählen hier beiſpielsweiſe aus der Klaſſe der Reptilien und der Ordnung der Ophi— dier, eine durch ihre morphologiſchen Merk— male wie durch die räumliche Verbreitung gleich intereſſante Gattung, an welcher der formbildende Einfluß der geographiſchen Abſonderung trotz ihrer verhältnismäßig nicht großen Spezieszahl ſich beſtimmt ge— nug erkennen läßt. Die Gattung der Klapperſchlangen, Crotalus, iſt gleichfalls auf Amerika be— ſchränkt. Eine von ihr ſyſtematiſch abge— trennte, nahe verwandte ältere Genusform der Giftſchlangen, die Gattung Trigonoce- phalus, hat dagegen ihre Repräſentanten ſowohl in der alten wie in der neuen Welt. Doch bedingt auch bei dieſem Genus die geographiſche Trennung und nicht das Klima zwei weſentliche morphologiſche Un— terſchiede, ſo daß die Syſtematiker aus den— ſelben zwei Untergattungen gemacht haben. Sämmtliche amerikaniſche Arten der Gat— tung Trigonocephalus haben nur einrei— hige, ſämmtliche aſiatiſchen Spezies dage— gen zweireihige Subcaudalſchilder. Die verſchiedenen Arten der durch eine Klapper am Schwanzende ausgezeichneten Gattung Crotalus bewohnen entweder wirklich getrennte oder in der Ausdehnung der Peripherie ihrer Grenzen bedeutend abweichende Areale, die aber doch wie die Ringe einer Kette aneinander gereiht ſind und auf die räumliche Sonderung als die . * Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. „ ge Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. zwingende Urſache der Artbildung deutlich genug hinweiſen. Die ſehr charakteriſtiſche Gattung iſt offenbar von einem gemein- ſamen Urſprungszentrum ausgegangen, don welchem aus die Emigranten in ver— ſchiedenen Richtungen ſich verbreiteten. Crotalus durissus, die bekannteſte nördliche Form der Klapperſchlangen mit vielen lokalen Varietäten geht im öſtlichen Nordamerika vom 45.“ N. B. bis Texas. Von dieſer Speziesform räumlich geſchieden tritt weiter ſüdlich Crotalus rhombifer ein. Im Südweſten der Vereinigten Staaten auf trockene Savannen beſchränkt, erſcheint C. miliarius als ſtellvertretende Form. Im nordweſtlichen Quellgebiet des Miſſiſ— ſippi am Fuße der Rocky Mountains ſehen wir als nächſt verwandte vikariirende Spe— zies C. tergeminus eintreten; während im ſüdlichen Texas und Nordamerika C. con— fluentus dieſe Nachbarform erſetzt. weſtlichen Kolumbia, Venezuela und Bra— ſilien häufig vorkommenden Form C. bor— ridus, der bekannteſten und verbreitetſten aller Klapperſchlangen. Nach der Sepa— rationstheorie dürfte als Hypotheſe a pri- ori angenommen werden, daß in den da— zwiſchenliegenden, noch ſehr wenig erforſch— ten zoologiſchen Provinzen Mittelamerikas andere, noch unbeſchriebene Arten vorkom⸗ men müßten. In der That hat ſich dieſe Hypotheſe auch teilweis bereits beſtätigt, indem die von mir in Koſtarika geſammelte Klapperſchlange von dem erfahrenen Rep— tilienkenner Dr. Fitzinger nach genauer Unterſuchung als eine neue „gute“ Spe— zies erkannt wurde. Von der Ordnung der Krokodilinen, welche von den Zoologen früher mit den 17 * Eidechſen zu einer Ordnung vereinigt war, jetzt aber allgemein als eine morphologiſch ſcharf getrennte Gruppe durch die ganze Bildung des Skeletts, beſonders des Schä— dels, wie auch der Ernährung-, Cirku— lations- und Generationsorgane betrach— tet wird, hat nur eine Gattung, die der eigentlichen Krokodile, ihre Vertreter in— nerhalb der warmen Zone der alten wie der neuen Welt. Auch von dieſer ſicherlich uralten Gattung ſind aber die einzelnen Arten und Varietäten geographiſch ge— trennt und meiſt auch an den Grenzen ihres Verbreitungsgebietes genügend abgeſon— dert. Selbſt das gemeine afrikaniſche Kro— kodil des Nils zeigt uns vier verſchiedene, räumlich geſonderte, lokale Varietäten, wel— che als in einzelnen konſtanten Merkmalen von einander abweichend von Dumeril beſchrieben wurden. Die durch größere räumliche Entfernung getrennten Arten, Ein weites Gebiet trennt die letztge— nannte Art von der ſüdamerikaniſchen, im wie Crocodilus biporcatus an den Fluß— mündungen Hindoſtans und der Sunda— inſeln, C. galeatus bis jetzt nur in Siam gefunden, C. catakractus an der Küſte des ſüdweſtlichen Afrika, C. Gravesi im Kongo, ſowie die in den Flüſſen der Antillen und Südamerika vorkommenden Krokodilarten ſind morphologiſch ſcharf genug getrennt, um ganz im Einklang mit ihrer geographi— ſchen Abſonderung als „gute“ Spezies be— trachtet zu werden. Analoge Thatſachen der geographiſchen Verbreitung zeigt uns die nächſt verwandte amerikaniſche Familie der Alligatoren. Die— ſelbe iſt auf die warme Zone 30° bis 34°. S. B. beſchränkt und ſämmtliche Arten er— ſcheinen in abgeſonderten Provinzen. Bei der noch immer ungenügenden und unvoll— ſtändigen Erforſchung der Küſtenländer des tropiſchen Amerika durfte man der Sonde— L Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 178 rungstheorie zufolge a priori als jehr wahr⸗ ſcheinlich annehmen, daß in der weiten Lücke zwiſchen Mexiko einerſeits, Kolumbia und Peru andererſeits, noch einige unbe— ſchriebene Arten vorkommen müßten, wel- che als nächſte Verwandte von Alligator Lucius im Norden, A.sclerops in Guyana und A. punctatus in den Antillen ſich dar— ſtellen würden. Dieſe hypothetiſche An— nahme wurde auch bereits teilweiſe beſtä— tigt. Die von mir aus dem Weſten des Staates Panama (Provinz Chiriqui) mit⸗ gebrachte Art hat ſich durch die genaue Unterſuchung Siebolds und Fitzingers wirklich als eine neue gute Spezies der Gattung Alligator ganz in Übereinſtim⸗ mung mit den Poſtulaten der Separations⸗ theorie ergeben und berechtigt uns zur An— nahme, daß auch die weiter nordwärts im Nikaragua-See und in den Flüſſen am Guatamala vorkommenden, bis jetzt noch nicht unterſuchten Alligatoren ſo— wohl von den ſüdlichen als von den nörd— lichen Arten dieſer Gattung morphologiſch abweichen. Aus der Klaſſe der Säugetiere iſt es die Ordnung der Primaten und in dieſer ſind es beſonders die afrikaniſchen Affen— gattungen, welche durch ihr chorologiſches Vorkommen, die weite Trennung der Ent— ſtehungszentren und die kettenförmige Auf— einanderfolge der Wohnareale ausgezeich— nete Argumente für die Theſe liefern: daß in den Wanderungen und in den Iſolirungen der von einer gemeinſamen Urheimat aus- gegangenen Individuen die züchtende Ur— ſache der Arten liegt und daß eine Selektion durch den Kampf ums Daſein dabei gar keine oder nur eine äußerſt geringe mitwir⸗ kende Rolle ſpielte. Die durch Migration von einem gemeinſamen Ausgangspunkt, Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. den man früher „Schöpfungszentrum“ nannte, ſich verbreitenden Affenindividuen mußten da, wo ein durch Entfernung oder mechaniſche Schranken die Iſolirung be— günſtigender Wohnort ſie lange Zeit gegen die Kreuzung mit der Stammart ſchützte, zu veränderten Formen ſich ausprägen. Jeder iſolirte- Standort, wo der Koloniſt von der Maſſenkonkurrenz ſeiner Artgenoſ— ſen befreit iſt, bringt auch eine Anderung in den Nahrungsverhältniſſen mit ſich und muß die individuellen Merkmale der Stammeltern in ihren Nachkommen weiter entwickeln. Afrika, der an Tierformen, namentlich aus der Klaſſe der Säugetiere, reichſte Erdteil, it durch ſeine Raumver— hältniſſe und vertikale Gliederung unter allen Kontinenten auch der geeignetſte, in der geographiſchen Verteilung der Arten die einfache Urſache ihrer Bildung erken— nen zu laſſen. Ausſchließlich afrikaniſch iſt die Affen— gattung Cercopithecus, die „Meerkatzen“, von denen nahezu 30 Arten bekannt ſind, welche die Küſtenländer des gewaltigen Weltteils innerhalb der heißen Zone be— wohnen und ſich von dort auch teilweiſe nach den höheren Stufen und Plateaux der Binnenländer verbreitet haben. Vom jüd- lichen Kafferland ſehen wir die verſchiede— nen Spezies im weiten Halbringe einerſeits, in nordöſtlicher Richtung gegen Mozam— bique, Abeſſinien, Nubien, andererſeits in nordweſtlicher Richtung durch Guinea nach dem Senegal auf einander folgen. Die vom Kontinent abgeſonderten Inſeln Zanzibar und Fernando haben der Iſolirungstheorie genau entſprechend ihre eigenen Spezies. Einige Arten von ſehr weiter Verbreitung, wie z. B. Cercopithecus sabaeus, gehen unverändert durch die ganze Breite des TR u ee Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. Kontinents von Senegambien bis Kordo— fan, Sennar, Abeſſinien. Die Maſſen— wanderungen, der ſtarke Nachſchub vieler Individuen der gleichen Art, verhinderte auch bei dieſer Art neue Speziesbildungen, welche ohne eine Iſolirung von genügender Dauer nicht zuſtande kommen können. Die große Mehrzahl der afrikaniſchen Affenarten zeigt uns entweder ſcharf ge— trennte oder doch in der Ausdehnung ihrer Grenze ſehr abweichende Areale, wo die verſchiedenen Nachbarſpezies gewöhnlich nur an den Enden ihrer Verbreitungs— gebiete ſich berühren. Immer aber folgen dieſe Wohnbezirke der Arten auf einander, wie die Ringe einer Kette oder wie die Maſchen eines Netzes. Die Nachbarſpezies ſtehen ſich in der Regel morphologiſch ein— ander näher, als die ferner wohnenden Arten, wenn auch bei letzteren die klima— tiſchen Verhältniſſe ihrer Standorte ſich mitunter beinahe gleichen, während Nach— bararten, beſonders auf den nächſten Ge— birgsſtufen, oft weſentlich verſchiedene Klimate bewohnen. Nur bei ſtarken Ab— weichungen in den äußeren Lebensbeding— ungen des Nachbargebietes kommen auch ſtärkere morphologiſche Sprünge vor. Dieſe zoo-geographiſchen Thatſachen ſind mit der Separationstheorie ganz im Einklang, ebenſo das Faktum der meiſt durch große Entfernungen getrennten Entſte— hungszentren oder Urheimate der Arten. Letzterer Umſtand aber, auf deſſen Bedeu— tung wir großes Gewicht legen, iſt dage— gen in ſcharfem Widerſpruch mit der Dar— win'ſchen Selektionstheorie, welcher zu— folge in dem am dichteſten bevölkerten Zen— trum des Wohngebietes der Stammart oder doch nahe demſelben bei einem inten— ſiven Kampfe ums Daſein durchſchnittlich 179 die Chancen für neue Formbildungen am größten ſein müßten. Analoge Thatſachen der Verbreitung der Spezies, wie der Anreihung ihrer Wohnareale zeigen uns auch andere arten— reiche Affengattungen, wie z. B. die afri— kaniſche Gattung der Paviane (Cynocepha- lus), die ſüdaſiatiſche Gattung der Schlank— affen (Semnopithecus) und die anthropo— morphe Gattung der Gibbons (Hylobates), deren gute Arten nach neueren Forſchun— gen in größerer Zahl ſich zeigen, als man früher angenommen hatte. Der formbildende Einfluß der räum— lichen Trennung tritt bei letztgenannter Gattung auffallend hervor. Die geogra— phiſch auf einander folgenden Inſeln Su— matra, Java, Solo, Borneo haben jede ihre beſondere Art von Gibbon. Die Halb— inſel Malakka und das Innere von Kam— bodſcha haben wieder ihre beſondere ein— heimiſche Spezies. Wenn auf der großen Inſel Sumatra neben dem Siamang noch eine zweite Art der Ungko (Hylobates variegatus) in verſchiedenen lokalen Va— rietäten auftritt, ſo ſind doch Umfang und Grenzen der Wohnbezirke beider Spezies von einander abweichend. 0 Unter den Arten der platyrhinen Affengattungen Amerikas herrſchen in der räumlichen Verteilung ähnliche Verhält— niſſe. Wo größere Lücken in der geogra— phiſchen Verbreitung vorkommen, wie z. B. bei dem ſüdamerikaniſchen Genus Chryso- thrix, darf man immer auf die Erſchei— nung einer neuen Art gefaßt ſein. So hat die von mir im Nordweſten des Staates Panama geſammelte, dem zoologiſchen Muſeum Münchens zugehörige Art dieſer Gattung, welche dort ausſchließlich nur in der Provinz Chiriqui vorzukommen ſcheint, 180 in den ſüdöſtlichen Provinzen Panamas aber fehlt und von ihren ſüdamerikani— ſchen Verwandten ſehr weit abgetrennt iſt, durch vergleichende Unterſuchung ſich als eine neue gute Spezies ergeben, wie nach ihrer geographiſchen Abſonderung und in voller Übereinſtimmung mit dem Poſtulate der Separationstheorie a priori anzuneh— men war. Auch in der formenreichen Klaſſe der Fiſche offenbart die vergleichende Betrach— tung der geographiſchen Verbreitung der Gattungen, Arten und das lokale Vor— kommen mancher auf ein enges Wohnge— biet beſchränkten Varietäten zahlreiche That— ſachen, welche für die Theorie der Form— bildung durch räumliche Abſonderung nur eine günſtige Deutung zulaſſen. Wirklich kosmopolitiſche Arten fehlen unter den Fiſchen. Wenn die zuſammenhängenden Meere ihren ſchwimmenden Bewohnern ein unermeßliches Wandergebiet offen laſ— ſen, ſo wird daſſelbe doch niemals von den einzelnen Arten in ſeiner vollen Ausdeh— nung benützt. Die Fiſche des hohen Mee— res zeigen uns meiſt andere Spezies als die Fiſche der Küſtenregionen. Die Gat— tungen und Arten wechſeln auch oft mit den größeren Tiefen. Wenngleich bei vie— len Arten die Verbreitungsgebiete ſehr groß ſind, ſo haben ſie doch immer ihre Grenzen, die, wenn auch im gewiſſen Sinn dehnbar und veränderlich, doch auf große Diſtanzen nur von einzelnen Emigranten, ſehr ſelten aber von ganzen Individuen— maſſen überſchritten werden. Ein ſchmaler Iſthmus wie die Land— enge von Panama ſcheidet zwei ſpezifiſch ganz verſchiedene Faunen, wenn ſie auch generiſch die größte Ahnlichkeit mit einan— der zeigen. Aber auch ohne die trennende Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. Schranke eines Kontinents wechſeln die Arten bei großer Entfernung ſelbſt unter den gleichen Breiten. Jede Inſelgruppe, wenn ſie fern von einem Kontinent und von anderen Archipeln liegt, ja ſelbſt ein— zelne, fernliegende Inſeln, wie St. Helena, Aszenſion und Waihu, beſitzen an ihren Küſten faſt nur eigentümliche Spezies, ob— wohl dieſelben meiſt weit verbreiteten Gat— tungen angehören. Sämmtliche Seefiſche, welche die wiſſenſchaftliche Expedition des britiſchen Schiffes Beagle von dem Archi— pel der Galapagos mitbrachte, waren durchaus endemiſche Arten, welche an der gegenüberliegenden Küſte Südameri— kas nie beobachtet wurden. Der Hawal— archipel, die Fidſchiinſeln, die Samoa— gruppe, die Marqueſas haben ebenſo ihre beſonderen endemiſchen Arten. Bei ozeani— ſchen Archipeln, welche, wie die Kanariſchen Inſeln, die Madeiragruppe, die Azoren, nicht ſehr weit entfernt von einander liegen, ſinkt dagegen die Prozentzahl der ende— miſchen Spezies beträchtlich. Die vikariirenden Arten der Seefiſche ſcheinen, ſoweit die bisherigen Unterſu— chungen ihres Vorkommens reichen, auf eine ähnliche geographiſche Verteilung, wenn auch mit viel größeren Verbreitungs— gebieten, hinzudeuten, wie die vikariiren— den Arten aller ſehr formenreichen Gat— tungen der Landtiere, namentlich der In— ſekten. Die Wohnareale mit ihren oft wechſelnden Grenzen ſind ſtets aneinander gereiht, wie die Maſchen eines Netzes, und die Nachbararten ſind ſich in der Regel morphologiſch ähnlicher, als die in den entfernten Gebieten vorkommenden Arten, wenn auch letztere unter den gleichen Pa— rallelkreiſen erſcheinen. Wenn man aus dem Umſtande der ſehr b Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. weiten Verbreitung vieler Arten von Süß— waſſerfiſchen durch verſchiedene, jetzt ge— trennte Flußgebiete und Seebecken ein Argu— ment gegen die formbildende Wirkung der Iſolirung deduziren wollte, ſo würdeman ſich bedeutend irren. Der Fall gehört eben zu den vielen Fällen, wo nach Goethes richtiger Bemerkung das Naturgeſetz ſich oberfläch— lich verbirgt, bei eingehender Unterſuchung ſich aber doch offenbart und uns auch den Grund des ſcheinbaren Widerſpruches der Thatſache mit der Theorie enthüllt. Die jetzigen Stromſyſteme Europas, Nordaſiens und Nordamerikas ſind verhält— nismäßig von ſehr rezentem Urſprung. Die eingefurchten Flußbetten, in welchen die Ge— wäſſer gegenwärtig laufen, bildeten ſich erſt ſehr allmählich ſeit der Eiszeit. Ihre Eroſionsfurchen gehören, wie auch die mei— ſten Becken der Süßwaſſerſeen in ihrer ge— genwärtigen Ausdehnung, der quaternären Periode an. Noch in der Diluvialzeit über— deckten die ſüßen Waſſer ſehr weite Lan— desſtrecken und begünſtigten die Maſſen— wanderung, nicht aber die Iſolirung ein— zelner Individuen ihrer Tierbewohner. Dazu kommt noch ein wichtiger Umſtand in der Lebensweiſe der Süßwaſſerfiſche, von denen nicht wenige Arten auch das Meerwaſſer gut vertragen und von einer Flußmündung zur andern wandernkönnen. Dieſe Umſtände erklären die ſehr weite Verbreitung vieler Arten von Süßwaſſer— fiſchen, ohne der Theorie der Formbildung durch Abſonderung zu widerſprechen. Im Gegenteil liefert das Vorkommen von ausge- zeichneten, vikariirenden Nachbararten und Varietäten in den Gebirgswäſſern, wo der ſchmale Damm der Waſſerſcheide die Fiſche meiſt ſcharf und beſtimmt trennt und die dauernde Abſonderung weniger Individuen 181 begünſtigt, auch bei gewiſſen weitverbrei— teten Fiſchgattungen, z. B. der Gattung Salmo und noch mehr bei einigen beſon— ders charakteriſtiſchen, tropiſchen Siluriden, ſchlagende Argumente für die Lehre der Artbildung durch räumliche Sonderung. Das Genus Salmo gehört zu den weit— verbreitetſten, artenreichſten Gattungen und zeigt beſonders unter den Bachforellen neben den verwandten guten Arten auch eine außerordentlich große Zahl lokaler Varietäten, bei denen beſonders die Ab— weichungen in Form und Farbe der Fle— cken thatſächlich von ihrer räumlichen Tren— nung herrühren. Identiſche Arten haben auch bei den Forellen in der Regel ein großes zuſammenhängendes Verbreitungs— gebiet. Die nördliche Form unſerer euro— päiſchen Forelle, Salmo fario L., welche maſſenhaft über ſchmale Meere ſchwimmt, kommt in Island, Skandinavien, Irland und Schottland faſt gleichförmig mit 59 bis 60 Wirbeln vor. Die zentraleuropäi— ſche Form, Salmo Ausonii, hat nur 56 bis 58 Wirbel. Auf den ſüdlichen Gehän— gen der Alpen wird dieſelbe durch eine in der Farbe und Form der Flecken abwei— chende Spielart erſetzt. Nordafrika, Weſt— aſien, Zentralaſien, Indien, China, Japan, Nordamerika haben ihre eigentümlichen Forellenarten. An dem gleichen Abfall des Gebirges haben die neben einander in gleicher Rich— tung fließenden Bäche in der Regel iden— tiſche Spezies. Auf dem entgegengeſetzten Abfall der Waſſerſcheiden treten aber faſt in allen Hochgebirgen mehr oder minder charakteriſtiſche Spielarten auf, welche in der Farbe und Form der Flecken von der | Nachbarform des andern Abfalls merklich differiren. Nicht nur die beiden Gehänge 182 Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. E der Alpen, ſondern auch die Waſſerſcheiden des Kaukaſus, Albrus und Taurus zeigen uns in den zwei verſchiedenen Richtungen der Flußläufe konſtante Varietäten. Ge— gen die Annahme, dieſe Erſcheinung auf Rechnung der Verſchiedenheit des Klimas und der Temperatur in den einerſeits nach Süden, anderſeits nach Norden fließenden Gebirgsbächen zu ſetzen, ſpricht der Um— ſtand: daß auch die nach der Meridianrich— tung ſtreichenden Hochgebirge, wie die Rocky Mountains von Nordamerika und die Kordilleren von Südamerika, bei ganz glei— chen klimatiſchen Verhältniſſen beider Ge— birgsgehänge dennoch dieſelbe plötzliche An— derung der Faunen zeigen. Aus den Rocky Mountains giebt der amerikaniſche Reiſende Richardſon fol— gende intereſſante Notiz: Wenn alte Trap— per, welche dort bis zur Waſſerſcheide em— porſteigen, ſich mitunter auf den Plateaux verirren und an dem oft ſchlangenartig ge— wundenen Laufe der Bäche nicht zu erken— nen vermögen, ob dieſe dem atlantiſchen oder dem ſtillen Ozean zufließen, pflegen ſie, um ſich zu orientiren, die Angel aus— zuwerfen. Die rote oder ſchwarze Flecken— farbe der gefangenen Forellen giebt ihnen dann genaue Auskunft, nach welchem Ozean der Bach ſich wendet. Eine der merkwürdigſten zoo-geogra— phiſchen Thatſachen, welche für die vorlie— gende Streitfrage beſonders bedeutſam iſt, bietet uns das Vorkommen einiger Arten von Siluriden in den Gewäſſern der höch— ſten Andesregionen des äquatorialen Ame— rika. Dort wurde von Alexander von Humboldt im Hochland von Quito ein ſeltſam geſtalteter, kleiner Fiſch aus der Familie der Welſe entdeckt, welchen die Eingebornen Prenadilla nennen, und den Humboldt unter dem Namen Pimelodus Cyclopum beſchrieb. Der berühmte fran— zöſiſche Naturforſcher Bouſſaingault brachte 30 Jahre ſpäter aus demſelben Hochlande eine zweite Art vom öſtlichen Gehänge der Waſſerſcheide, ſowie auch eine Zahl von Exemplaren der vom Chim— boraſſo und Pichincha in weſtlicher Rich— tung ſtrömenden Bäche nach Paris. Die nähere Unterſuchung durch Cuvier und den erfahrenen Ichthyologen Valen— ciennes ergab, daß die Fiſche wirklich zwei verſchiedenen Arten angehören, deren mor— phologiſche Abweichung trotz ihrer ſonſti— gen großen Ahnlichkeit dieſen Forſchern be— trächtlich genug erſchien, um ſogar zwei verſchiedene Gattungen aus ihnen zu machen. Die gabelförmig zugeſpitzten, et— was umgebogenen Zähne, wie ſie nach dem Ausſpruch des genannten franzöſiſchen Ichthyologen ſonſt bei keiner andern bekann— ten Welsart vorkommen, ſind für beide Fiſcharten charakteriſtiſche Eigentümlichkei— ten, ebenſo wie die kleinen Stacheln, mit denen der erſte Strahl der Bruſt- und Bauchfloſſen unterhalb beſetzt iſt und durch welche die kleinen Höhlenfiſche befähigt wer— den, auf dem Boden der ſehr reißenden Gebirgsbäche gleichſam zu klettern. Beide Fiſche ſind, wie neuere Nachforſchungen, die auf meine Veranlaſſung in Imbabura und Riobamba angeſtellt wurden, durchaus beſtätigten, ſtets Nachbararten, aber durch die Waſſerſcheide in ihrem Vorkommen ſcharf getrennt. Das Vorkommen dieſer beiden endemiſchen Welsarten gehört zu den wichtigſten Thatſachen, welche uns die Chorologieder Organismen in Bezug auf die mechaniſche Urſa— che der Entſtehung der Arten dar— Moritz Wagner, Über die Entſtehung der Arten durch Abſonderung. bietet. Schon Antonio de Ulloa hatte in ſeinem 1792 zu Madrid erſchienenen „Noticias Americanas“ die ungeheure In— dividuenzahl der in den ſtehenden Waſſern kleiner Seen und Weiher noch mehr als in den Bächen vorkommenden Prenadillen erwähnt. Dieſelben wurden während ſei— ner Anweſenheit in der Provinz Imbabura von den Indianern an den ſeichten Stellen der Seen ſogar in Sieben gefangen. Die gefräßigen, kleinen, ſchwach ſehenden Fiſche beißen, wie ich mich ſelbſt während meines längeren Aufenthaltes im Hochlande von Quito oft überzeugte, an den verſchieden— ſten Ködern und werden von den Indianer— buben mit den roheſten Angeln, wie z. B. mit umgebogenen Stecknadeln, an welche ſie Würmer, Schnecken und Fliegen befe— ſtigen, aus dem Waſſer gezogen. Haupt— nahrung der Prenadillen ſcheinen die klei— nen Dipteren zu ſein, die dort in keiner Jahreszeit fehlen. Der See von Colta bei Alt-Riobamba (10,340 P. F.), der kleine Gebirgsſee am Fuße des Capac-Urcu (11,5257 ebenſo wie die Seen der Provinz Imbabura haben immer nur eine Form der Prenadillas. Nirgendwo wurde ein gemeinſames Vor— kommen der beiden Arten und ebenſowenig das Vorkommen von zwei Varietäten in einem gemeinſamen Seebecken beobachtet. 183 Trotz der ungeheuren Individuenzahl dieſer eigentümlichen Welſe in den hochge— legenen Gewäſſern der Anden, wo der Kampf ums Daſein zwiſchen den gefräßi— gen Fiſchen in intenſivſter Weiſe geführt wird, und daher alle Bedingungen für eine Selektion im Darwin'ſchen Sinn günſtig liegen, hat ſich im gleichen Seebecken, am gleichen Gehänge der Waſſerſcheide in der oberſten Region keine zweite Spezies ge— bildet. Dagegen ſehen wir eine ſolche nahe verwandte, mit derſelben eigentümli— chen Zahnform und ähnlichen Stachelfloſ— ſen verſehene, ſonſt aber morphologiſch weſentlich abweichende „gute Art“ jenſeits der ſchmalen, aber trennenden Schranke der Waſſerſcheide am entgegengeſetzten Ge— hänge erſchienen. Unter den zahlreichen induk— tiven Beweiſen, welche die Choro— logie der Organismen in dem Vor— kommen der ſogenannten vikari— irenden Formen darbietet, kenne ich keinen Fall, der ein beredteres Zeugnis gegen die Selektion im Darwinſchen Sinn und für die artbildende Wirkung der räum— lichen Sonderung enthält, wie das Vorkommen der beiden vikari— irenden Wels arten im Hochland von Quito. Über einen toten Punkt in der Phyfiologie der I usgehend von den wenig be— —friedigenden Erklärungen, die in den Lehrbüchern der Phy— ſtandekommens der Herzer— weiterung gegeben ſind, drängt ſich mir die Überzeugung auf, daß der Grund dieſer auffallenden Thatſache in letzter Inſtanz in der bisherigen einſeitigen Be— handlung und Beurteilung der Erſchei⸗ nungen liegt, welche uns die phyſiolo— giſche Thätigkeit der Muskelzelle darbietet. Als Hauptfaktor der Herzdilatation fin- det man entweder den in der Bruſt— höhle herrſchenden negativen Druck oder aber die Elaſtizität angeführt, mit wel— cher das Herz nach abgelaufener Kon— traktion in ſeinen eigentlichen Ruhezuſtand zurückſchnellen ſoll; von der einen Seite faßt man alſo die Erweiterung der Herz— höhlen als paſſiven, von der andern als aktiven Vorgang auf. So legt Prof. J. Ranke den Hauptnachdruck auf den negativen Druck in der Bruſthöhle. höh Schon a priori ift es in hohem Dr. H. ſiologie von der Art des Zus Muskelzelle. Von Kühne. ſchwankender Faktor bei der Füllung des Herzens mit Blut die Hauptrolle ſpielen ſollte, auf der doch in erſter Linie die Möglichkeit der feineren Anpaſſung an die wechſelnden Blutbedürfniſſe der übri— gen Körperteile beruht. Ausſchlaggebend in dieſer Frage iſt indeſſen die bekannte Thatſache, daß das Herz nicht allein bei geöffneter Bruſthöhle mit künſtlich unter— haltener Reſpiration normal pulſirt, fon- dern ſogar nach vollſtändiger Trennung ö aller ſeiner Verbindungen mit dem übrigen Organismus noch eine zeitlang fortfährt, ſich rhythmiſch zu kontrahiren und zu di— latiren — unter Umſtänden alſo, wo von einem negativen Drucke keine Rede mehr ſein kann; wobei kaum darauf hin— gewieſen zu werden braucht, daß letzterer in der Bruſthöhle auch unter phyſiolo— giſchen Verhältniſſen keineswegs konſtant iſt, ſondern bei mannigfachen Vorgängen, wie z. B. bei der Stuhlentleerung, durch Preſſen in den poſitiven übergeht. Dieſe Gründe dürften wohl genügen, um jene Erklärungsweiſe des Zuſtandekommens Grade unwahrſcheinlich, daß ein ſo | der Herzerweiterung abzuweiſen. Gehen wir nun zu dem von anderer Seite beſonders betonten Faktor der Ela— ſtizität über, jo möchte es ſich zunächſt empfehlen, den Begriff der letzteren feſt— zuſtellen. Wir nennen einen feſten Kör— per elaſtiſch, der ſeine durch äußern Zug oder Druck veränderte frühere Form alsbald wieder anzunehmen vermag, wenn die äußere Kraft zu wirken auf— hört. Geſtützt auf dieſe Definition kön— nen wir ohne Bedenken ſehr viele tieri- ſche Gewebe für mehr oder weniger ela— ſtiſch erklären: Knochen, Knorpel, Sehnen, Bänder und vor allem die elaſtiſchen Häute, die, wo ſie auch immer vor— kommen mögen — in Verbindung mit dem willkürlichen Muskel oder im Zir— kulationsapparate — ihre durch eine äußere Kraft veränderte Form und Lage wieder annehmen, ſobald die äußere Beeinfluſſung aufhört. Anders ſieht es aber mit den ſupponirten elaſtiſchen Eigenſchaften der Muskelzelle aus, die man, geſtützt auf die bekannten Experi— mente E. Webers, als erwieſen annimmt. Letzterer machte ſeine Beobachtungen an lebensfriſchen Muskeln, die er aufhing und mit einem Gewichte belaſtete. Aus der nach Abnahme deſſelben allmäh— lich erfolgenden Wiederverkürzung des Muskels ſchloß er auf deſſen elaſtiſche Eigenſchaften. Schon eine oberflächliche Betrachtung läßt uns derartige Verſuche als zweifelhaft erkennen, weil eine durch Zug ungewöhnlich ausgedehnte Muskel— zelle immerhin noch ſoviel Kontraktions— fähigkeit behalten haben kann, um ſich, wenn auch langſam, auf die frühere Länge zurückzuziehen. Nehmen wir trotz— dem den Muskel als elaſtiſch an, ſo kann ſich dieſe Eigenſchaft doch nur H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. 185 auf den verlängerten Muskel beziehen, der ſich durch ſeine ihm innewohnende Elaſtizität verkürzt, nicht aber auf den | verkürzten Muskel, der ſich verlängert. Nun tritt aber bei den Hohlmuskeln die Höhlenerweiterung nach der Muskelver— kürzung ein; wir müßten hier alſo an— nehmen, daß der kontrahirte Muskel ſich durch ſeine eigentümlichen elaſtiſchen Eigenſchaften verlängerte, was herzlich ſchlecht mit den Experimenten E. Webers | ſtimmen würde. Fernerhin vermiſſen wir aber noch die in der Definition der Elaſtizität po— ſtulirte äußere Kraft, die der betreffen— den Formveränderung des Körpers vor— aufgehen muß, und zum Schluß möchten wir noch darauf hinweiſen, daß es doch ohne Zweifel kaum ſtatthaft erſcheint, die zweckmäßigen Bewegungen eines ſo hochſtehenden Gewebes, die ſich mit einer ſo wunderbaren Präziſion anpaſſen und in den nächſten Beziehungen zum Nerven— ſyſteme ſtehen, von einer Körpereigen— ſchaft abhängig zu machen, die, ſelbſt toten Körpern zukommend, noch nirgends als motoriſchen Reizen zugängig erkannt worden iſt. N Dies dürfte wohl genügen, um auch die Elaſtizität als Hauptfaktor der Herz— erweiterung von der Hand zu weiſen, denn die im Peri- und Endokardium vorhandenen, wirklich elaſtiſchen Faſern können nur dann die Kontraktion un— terſtützen, wenn fie durch die dilatirende Kraft vorher ausgedehnt wurden. Da nun aber im Herzen bekanntlich keine Muskelanordnung beſteht, durch de— ren Kontraktion eine Erweiterung der Herzhöhlen bewirkt werden könnte, ſo bleibt uns zuletzt nur noch übrig, mit Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 186 einigen Worten den Faktor der Erſchlaf— fung zu beſprechen, der ja auch hin und wieder von Phyſiologen bei der Erklä— rung der Herzerweiterung gebraucht wird. Erſchlaffungszuſtand der willkürlichen Muskeln etwas näher, ſo finden wir, daß dieſer Ausdruck ziemlich unglücklich ge— giſchen Zuſtänden des Muskels keiner befindet, auf den er mit Recht angewen— det werden kann. jede Muskelwunde, und jeder durchſchnit— tenen Sehne folgt eine Muskelverkürzung, genannten Muskeltonus geführt haben. Ebenſo läßt ſchon die oberflächliche Be— trachtung eines pulſirenden Herzens, mag es nun noch Blut führen oder vollſtän— kennen, und auch die Art und Weiſe der Erweiterung der kleineren Arterien macht auf den Beobachter entſchieden den Ein— druck des aktiven Vorſichgehens, wenn man quellen umgeſehen hat, durch welche die— ſer aktive Vorgang geleiſtet werden könnte. | Nach den obigen Auseinanderſetzun— gen ſind wir gezwungen anzunehmen, wie es die Herzerweiterung iſt, in der Art genehmen Lücke vorliegt, jo bleibt uns zur Erklärung dieſes auffallenden Um— ſtandes nur übrig, auf die elementare Betrachten wir zunächſt den ſogenannten wählt iſt, weil ſich unter den phyſiolo- In der That klafft Erſcheinungen, die zur Annahme des ſo-⸗ dig aus feinen Verbindungen herausge- trennt fein, von Erſchlaffung nichts er- ſich auch bis jetzt vergebens nach den Kraft- daß wir uns hier vor einem ſogenann- ten toten Punkte in der Phyſiologie be finden. Wenn es unſern eminenten For- ſchern auf dieſem Gebiete bis jetzt nicht gelungen iſt, eine ſo wichtige Bewegung, ihres Zuſtandekommens klarzuſtellen, und hiermit die Thatſache einer recht unan- H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. phyſiologiſche Thätigkeit der Muskelzelle ' zu rekurriren und nachzuſehen, ob ſich nicht etwa ſchon hier Urſachen finden | lafjen, welche unſer mangelhaftes Wiſſen auf dieſem Gebiete erklären. In der That wird bei der Prüfung der phyſiologiſchen Arbeiten über die Thätig— keit der Muskelzelle der auffallende Um— ſtand unſere Aufmerkſamkeit erregen, daß es immer nur der Vorgang der Muskel- verkürzung iſt, den man eingehend behan— delt, während die Verlängerung der Mus— kelzelle ſtets als paſſiv vor ſich gehend gelehrt und im Übrigen kaum der Beachtung werth gehalten wird. Daß dieſe Anſchauung unberechtigt iſt, läßt ſich leicht am lebens— friſchen Muskel experimentell beweiſen. Trennen wir einen dazu geeigneten langen | Muskel mit feinen Sehnen von den Anſatz— punkten, iſoliren ihn auf einer glatten, horizontalen Fläche und reizen ihn auf die bekannte Weiſe zu einer kräftigen Kontraktion, ſo beobachten wir zunächſt, daß er ſich verbreitert und verkürzt und dann, nach aufgehobener Reizung ſich ver— längernd, annähernd wieder in ſeine frü— here Lage zurückgleitet, wobei nicht allein ſeine eigentlichen bewegenden Elemente, ſondern auch die zu ihm gehörigen Seh— nen, Fett- und Bindegewebe mit fort— geriſſen werden, womit eine Arbeitslei— ſtung erwieſen iſt, die, ſo unbedeutend ſie in dem vorliegenden Falle auch ſein mag, dennoch den Ausgangspunkt einer durch— greifenden Veränderung unſerer Anſchau— ungen über die Phyſiologie der Muskel— zelle bildet, und uns in den Stand ſetzt, nicht allein die oben erwähnten Lücken aus— zufüllen, ſondern auch überhaupt einen | weſentlichen Fortſchritt in der Mustel- phyſiologie anzubahnen. Wie es möglich fein konnte, die Wie— derverlängerung der Muskelzelle ſo lange Zeit als ganz nebenſächlich zu behandeln, begreift ſich nur aus dem Mißbrauche eines Wortes, deſſen eigentlichen Sinn man ſich vorher nicht recht klar gemacht hatte. Es iſt der Erſchlaffungsbegriff, der, ganz ungerechtfertigterweiſe auf die Muskelthätigkeit angewendet, die For— ſchung faſt ganz einſeitig auf die hervor— ſtechendere Erſcheinung der Muskelkon— traktion lenkte. Wo hat man aber jemals einen phyſiologiſch erſchlafften Muskel be— obachtet? Hält eine Muskelgruppe zehn Pfund, nachdem ſie vorher funfzehn Pfund gehalten hatte, ſo iſt das doch gewiß kein Grund, ſie deshalb als im Erſchlaf— fungszuſtande befindlich zu erklären! Über— dies iſt durch die allgemeine Annahme des Muskeltonus ja von vornherein zugegeben, daß es ſich bei der phyſiologiſchen Thä— tigkeit der Muskelzelle nur um einen größeren oder geringeren Kontraktions— zuſtand handelt, wobei nebenbei nicht außer Acht zu laſſen iſt, daß es keines⸗ wegs die Muskelverkürzung allein iſt, welche Arbeit leiſtet, da derſelbe Muskel in derſelben Lage und von derſelben Länge ſehr verſchiedene Laſten in der— ſelben Stellung halten kann. Ein wei⸗ terer Grund der auf dieſem Gebiete herr— ſchenden einſeitigen Anſchauungen iſt in der übertriebenen Bedeutung zu finden, welche an ſogenannten lebensfriſchen Mus- keln angeſtellten Experimenten beigelegt wurde, während man doch nur patholo— giſche Erſcheinungen vor ſich hatte. Die nach künſtlichen Reizen eintretende Zuk⸗ kung ſteht allerdings zu der nachfolgen— den Wiederverlängerung des Muskels in ſo ſchroffem Gegenſatze und macht ſich H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. 187 ſo hervorragend als aktiv geltend, daß daraus das Einſchleichen des Wortes Er— ſchlaffung leicht erklärlich wird; indeſſen läßt ſich noch ein anderer und noch ſchwe— rer wiegender Grund anführen, warum bis jetzt immer nur die Muskelkontrak— tion als aktiver Vorgang angeſehen wurde, nämlich die ganz auffällige Vernachläſ— ſigung der Lehre von dem Weſen der Reize. Will man ſich über den Begriff des Reizes näher unterrichten, ſo wird man zu ſeinem Erſtaunen finden, daß er in manchen gangbaren Lehrbüchern der Phyſiologie (Ranke, Vierordtu. a.) in den Inhaltsregiſtern keine Stelle ge— funden hat und nur ganz nebenſächlich be— handelt iſt. Die Einteilung in mechani— ſche, phyſikaliſche und chemiſche Reize wird für genügend angeſehen, auf genaue De— finitionen wird kein beſonderer Wert ge— legt und über das eigentliche Weſen der Reize verlautet ſo gut wie nichts. De— finiren wir den Reiz als eine Verände— rung der Lebensbedingungen und halten wir uns ſtreng an dieſe Definition, ſo iſt es ganz unmöglich, ſich einen ein— fachen Reiz vorzuſtellen, denn das Aufhören des primären Reizes ſetzt ſtets eine zweite Veränderung, die ebenfalls reizend wirken muß, voraus. Iſt es nun nicht denkbar, daß die auf die Zuckung folgende Verlängerung des Muskels, angeregt durch das Auf— hören des primären Reizes, aktiv vor ſich geht? Vertiefen wir den Reiz— begriff in dieſer Weiſe, ſo fällt damit ein wichtiger Einwurf, der wenigſtens gegen den aktiven Vorgang der Ver— längerung der willkürlichen Muskeln leicht gemacht werden könnte: daß uns näm— lich keine künſtlichen Reize bekannt ſeien, ) 188 welche ihn auslöſen könnten. In Bezug auf dieſen Einwurf darf in der That nicht ver— geſſen werden, daß noch nie ein natürlicher Reiz künſtlich nachgemacht worden, alle künſtlichen Reizungen nur pathologiſche Er— | ſcheinungen zur Folge haben können und das Weſen der phyſiologiſchen Reize uns ſo gut wie unbekannt iſt. Dem gröberen Mechanismus der Muskelbewegungen kön— nen wir vielleicht auf die Spur kommen, wenn wir die Bedeutung der ſogenann— ten Hemmungsnerven feſtzuſtellen ſuchen, die als Träger von musfelverlängernd wirkenden Reizen ſehr wohl eintreten können. Wie ſchon oben bemerkt, handelt es ſich bei der phyſiologiſchen Muskel— thätigkeit um Reize und aus dieſen reſultirende Kräfte, welche im ſtande ſind, das Bewegungsorgan bei verſchie— denen Widerſtänden in einer beſtimmten Länge zu halten. Die Auslöſung der hierzu nötigen ent— gegengeſetzten Bewegungen durch eine und dieſelbe Nervenart hat ſchon von vorn— herein ſehr viel Unwahrſcheinliches, weil es ſich kaum annehmen läßt, daß es die— ſelbe Kraft iſt, welche die Muskelzellen— moleküle in kurzer und langer Anordnung aufſtellt. Um dieſen Vorgang zu begrei— fen, iſt es nötig, noch einen andern Reiz vorauszuſetzen, der die ſpezielle Aufgabe hat, diejenige Kraft auszulöſen, welche durch die Längsanordnung der Moleküle die Muskelzelle verlängert. Nur die An— nahme einer ſolchen ſo zu ſagen zügel— artigen Beherrſchung der Bewegungen, die denen größerer antagoniſtiſcher Mus— kelgruppen vollkommen analog iſt, läßt uns deren wunderbar ſcharfe Anpaſſung an die feinſten Anforderungen ver— ſtehen, die jeden Augenblick an ſie ge— H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. ſtellt werden können. Eine Begründung für die Richtigkeit dieſer Anſchauungen | liefern uns nun die ſogenannten Hem— mungsnerven, die als ſolche jedoch ihren Namen kaum verdienen. Wählen wir zu näherer Betrachtung den N. vagus, ſo finden wir zunächſt als ſicher konſtatirte Thatſache, daß ſeine Reizung bei An— paſſungsſtörungen nicht allein die Herz— bewegungen nicht hemmt, ſondern ſie ſo— gar zu erhöhter Leiſtung anſpornt, ein Vorgang, der ſeine ganz zwangloſe Er— klärung in der weiteren Thatſache findet, daß bei ſtärkerer Vagusreizung die Dila— tation des Herzens eine immer ausgie— bigere wird, bis zuletzt das Herz im Zu— ſtande der Erweiterung ſtill ſteht. Unter dieſen Umſtänden bleibt uns nur der Schluß übrig, den Vagus als Verlängerungsnerven der Herzmuskelfaſern anzuſehen, der durch Einſtellung derſelben in die gewünſchte Länge den einzigen haltbaren Faktor der Erweiterung der Herzhöhlen liefert, nach— dem ſowohl der negative Druck in der Bruſthöhle, als auch die Elaſtizität als ganz ungeeignet zur Erklärung dieſer Funktion oben nachgewieſen wurden. Aber auch im Vagusſtamme ſind nicht aus— ſchließlich dieſe Art von Nervenfaſern enthalten, auch hier ſind ſie mit ihren Antagoniſten, den exeito-motoriſchen, vermiſcht, wenn ſich letztere auch in der Minorität befinden; es iſt deshalb nicht zu verwundern, wenn künſtliche Reizungen nicht immer reine Reſultate ergeben. In den motoriſchen Nerven der willkür— lichen Muskeln findet nun eine derartige gröbere Trennung beider Nervenarten überhaupt nicht ſtatt, woraus ſich auch die Schwierigkeit ergibt, jede einzelne H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. künſtlich zu reizen; wir werden ſtets beide treffen, und nur von der weiteren Ent— wickelung der Reizlehre im allgemeinen läßt ſich in der Zukunft die Beſeitigung dieſes Übelſtandes erwarten. Daß es wirklich Reize giebt, welche rein muskel— verlängernd wirken, wird durch die un— mittelbar hautrötende Eigenſchaft der Wärme bewieſen, während niedrige Tem— peraturen bekanntlich zunächſt Gefäß— kontraktion hervorrufen. Ferner ergiebt ſich aus der Wirkung von Digitalis und anderer Mittel, daß die Doſirung der Reize von der einſchneidendſten Bedeutung in der uns beſchäftigenden Frage iſt. Wir werden danach vollberechtigt ſein — geſtützt auf die Thatſache der Arbeits— leiſtung während der Muskelverlängerung und den ſichern Nachweis von Nerven (N. vagus 2c.), die vorwaltend antago— niſtiſche Faſern führen — die alte, ganz einſeitige und jede weitere Forſchung hem— mende Theorie der Muskelbewegungen fallen zu laſſen und die antagoniſtiſche an ihre Stelle zu ſetzen. Wie klar ſteht dann der Mechanis— mus der Herzbewegungen vor unſern Augen! Indem wir uns von dem grund— falſchen und durch keine einzige That— ſache geſtützten Erſchlaffungsbegriffe frei machen, ſtellt ſich uns jede Phaſe der Herzaktion als einzig von der Länge der Muskelfaſern abhängig dar, die, von der Reizung zweier antagoniſtiſcher Nerven beſtimmt, ſtets nur einem größeren oder geringeren Kontraktionsgrade entſpricht. Die urſächlichen Momente der Erweite— rung und Verengerung der Herzhöhlen ſind dadurch in befriedigendſter Weiſe klar geſtellt, und für die übrigen Teile des Zirkulationsapparates gilt dasſelbe. 189 Die Bewegungen der Blutgefäße ſind nur dann allſeitig beurteilt, wenn ſtreng feſtgehalten wird, daß jede Formverän— derung der ihnen zu Grunde liegenden Muskelfaſern als aktiver Vorgang auf— zufaſſen iſt, wobei ihre Verlängerung der Erweiterung, ihre Verkürzung aber der Verengerung des Gefäßrohrs entſpricht. Was die willkürlichen Muskeln betrifft, ſo ſind zwar, ſoviel ich weiß, noch keine künſtlichen Reize bekannt, welche rein muskelverlängernd wirken, indeſſen iſt nach dem Obigen kaum ein Zweifel an ana— logen Verhältniſſen ihrer Bewegungs— mechanismen erlaubt. Sehr ſtark zu Gun— ſten der antagoniſtiſchen Theorie ſpricht ihre Erklärungskraft. Während man früher nicht einmal die gröbſten Herz— bewegungen erklären konnte, iſt uns jetzt der Mechanismus der allerſubtilſten Be— wegungen leicht verſtändlich, und nähere Prüfungen der neuen Theorie von kom— petenter Seite werden ſowohl ihre Be— rechtigung, wie auch ihre volle Bedeu— tung für den Fortſchritt der Phyſiologie der Muskelzelle darthun. Beiläufig ver— dient noch hervorgehoben zu werden, daß der Bewegungsmodus der einzelnen Mus— kelzelle dem antagoniſtiſchen Zuſammen— wirken größerer Muskelgruppen, wie z. B. der Streck- und Beugemuskeln, vollfom- men analog iſt. Ebenſo wie das Zuſtande— kommen jeder coordinirten phyſiologiſchen Bewegung nur durch Zuſammenwirken antagoniſtiſcher Muskelgruppen ermöglicht wird, geht auch die elementare Aktion der Muskelzelle durch die entgegengeſetzte Thätigkeit zweier Kräfte vor ſich, welche ihren Kontraktionsgrad beſtimmen und die genaue Einſtellung ihrer Moleküle in voll— kommenſter Weiſe ſichern. — 7 190 Als Rekapitulation mögen folgende Sätze dienen: 1. Die Unmöglichkeit, die Herz: dilatation auf der Baſis der bisher gültig geweſenen Theorie der Muskelbewegungen zu erklären, beweiſt die Unzulänglichkeit der letzteren. 2. Durch den Nachweis einer Arbeits- leiſtung durch Verlängerung von Mus— kelfaſern iſt die Annahme der ausſchließ— lichen Aktivität der Muskelkontraktion als unhaltbar hingeſtellt. 3. Da ein phyſiologiſcher Erſchlaf— fungszuſtand der Muskeln noch nirgends konſtatirt wurde, ſo iſt jede phyſiologi— ſche Formveränderung der Muskelzelle als aktiv vor ſich gehend anzuſehen, wo— bei auch der Faktor der Elaſtizität aus— geſchloſſen iſt. 4. Die eigentümliche Innervation des Herzens durch antagoniſtiſche Nerven giebt uns den Schlüſſel zum beſſern Ber: ſtändniſſe der Muskelbewegungen über— haupt. 5. Die Molekularverſchiebung, welche die Verlängerung der Muskelzelle herbei— führt, wird durch einen Nervenreiz aus— H. Kühne, Über einen toten Punkt in der Phyſiologie der Muskelzelle. gelöſt, der dem Kontraktionsreize entgegen— geſetzt iſt. 6. Jede Phaſe zwiſchen äußerſter Herzkontraktion und Dilatation iſt dem— nach durch eine beſtimmte Länge der ſtets aktiven Muskelfaſern bedingt, die ihrer— ſeits wieder von zügelartig wirkenden antagoniſtiſchen Nerven abhängt, womit die offenbare Saugkraft des Herzens ihre endgültige Erklärung findet. 7. Da ſich auch an den willkür⸗ lichen Muskeln ein permanenter, aktiver Zuſtand, der ſchon längſt mit dem Na- men Muskeltonus bezeichnet wurde, nach— weiſen läßt, ſo liegt es nahe, auch bei ihnen einen dem obigen analogen Mecha— nismus vorauszuſetzen. Schon in dem Artikel über die organi— ſchen Anpaſſungsmechanismen in ihren Be— ziehungen zur Heilkunde“) habe ich auf die hervorragende Rolle hingewieſen, welche die antagoniſtiſchen Nerven bei der An- paſſung ſpielen. Die vorliegende Theo— rie der feinen Muskelbewegung iſt als ein weiterer Verſuch anzuſehen, die all— gemeine Verbreitung dieſes wichtigen organiſchen Vorganges nachzuweiſen. *) Kosmos, Bd. II. S. 312 u. fgde. Die Baſtard-Theorie zur Erklärung der Weſen- Mannigfaltigkeit. n dem Feldzuge gegen die Dar— “winſche Theorie, welchen der Kuſtos am k. k. Hofmuſeum in Wien, Herr Theodor Fuchs, neuerlich eröffnet hat), greift derſelbe, um die Variationstendenz der Tiere und Pflanzen zu erklären, zu einer Theorie zurück, die man als den älteſten Verſuch betrachten muß, die natürliche Verwandtſchaft der Naturweſen unter ein— ander nach natürlichen Prinzipien zu er— klären, nämlich zu der ſeit mehr als hun— dert Jahren in völlige Vergeſſenheit ge— ratenen Baſtardirungshypotheſe. Seit Jahrhunderten haben nämlich nicht nur zahlreiche Kirchenſchriftſteller, ſondern auch angeſehene Naturforſcher, darunter Linné, der ältere Gmelin und Bonnet, ſich der Meinung zugeneigt, es ſei im Ur— anfange nur eine beſchränkte Anzahl ſo— wohl von Pflanzen- als von Tiergattungen erſchaffen worden, dieſe aber hätten ſich durch allſeitige geſchlechtliche Vermiſchung vermehrt und ſo ſeien nicht nur die un— zähligen Arten, ſondern namentlich die *) Kosmos, Bd. VII, S. 69. Von Ernſt Krauſe. allmählichen Übergänge und Zwiſchenfor— men erzeugt worden, welche die Anhänger der neueren Schule diametral entgegen- geſetzt deuten. Da Erasmus Darwin, der Groß— vater des Reformators der Biologie, in feiner Zoonomie angedeutet hat, daß er gerade durch dieſen Gedanken Linnés zur Aufſtellung ſeiner von Lamarck wei— tergeführten Anſichten gelangt ſei, ſo habe ich in meinem ſoeben erſchienenen Buche über denſelben?) die Geſchichte dieſer Theorie ausführlicher und — wie ich vermute — überhaupt zum erſten male behandelt, ohne freilich daran zu denken, daß dieſe Theorie noch einmal zum Gegen— ſtande wiſſenſchaftlicher Deduktionen ge— macht werden könnte. Umſomehr erſcheint es mir aber angezeigt, das in jenem Buche *) Erasmus Darwin und feine Stel— lung in der Geſchichte der Descen denz— theorie von Ernſt Krauſe. Mit ſeinem Le- bens- und Charakterbilde von Charles Dar- win. Nebſt Lichtdruck-Porträt und Holzſchnitten. Leipzig, Ernſt Günthers Verlag. 1880. — Siehe das Referat in dem literariſchen Teil dieſes Heftes. b ER En ee 192 zerftreute Material hier durch einige fer— nere Nachweiſe ergänzt darzuſtellen. Die ältere Geſchichte der Baſtarde iſt, wenn man von den wenigen Bemerkungen des Ariſtoteles und einiger anderer Naturforſcher abſieht, eine im weſentlichen theologiſche und philoſophiſche. In den Baſtarden ſah man aus der Vermiſchung zweier verſchiedener Lebeweſen neue For— men hervorgehen, welche die Charaktere der Eltern vereinigt zeigten und als neue durch die Kunſt erzeugte Weſen gelten konnten, da man zunächſt keine ſichere Kunde von in der freien Natur vorkom— menden Baſtarden beſaß. Die in der Natur- erklärung zum höchſten Anſehen gelangte platoniſche Philoſophie, die Lehre von den vorher erſchaffenen und in den lebenden Weſen verkörperten Ideen, geriet in die ſchiefe Lage, Kopulation und Baſtardirung der Ideen annehmen zu müſſen, und die Schöpfungslehre in die nicht weniger ſchwierige Alternative, entweder auch dieſe Weſen als Gottes Geſchöpfe zu betrachten oder das Entſtehen und Fort— leben ungeſchaffener Weſen zugeſtehen zu müſſen. Ich kenne die patriſtiſche Literatur nicht genau genug, aber aus dem Umſtande, daß die neueren Theologen, die ſich mit dem Gegenſtande beſchäftigt haben, ſich nicht wie ſonſt in ſolchen Doktorfragen auf die Anſichten der Kirchenväter beru— fen, ſchließe ich, daß dieſe dem bedenk— lichen Thema ausgewichen ſind. Die Frage, wie ſich dieſe Tiere zum Schöpfungspro— blem ſtellen, ſcheint vielmehr ſich erſt im Mittelalter erhoben zu haben und viel— leicht erſt durch den Streit der Nomina— liſten und Realiſten brennend geworden zu ſein. Wie ich aus einem Buche von Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. Abraham van der Mylius*) ent— nehme, ſcheint ſie zuerſt durch Rupert von Deutz (F 1135) in feinen Bibel- kommentarien (I, Cap. 57) ausführlicher behandelt worden zu ſein. Derſelbe neigte anſcheinend der Meinung zu, daß dieſe Baſtarderzeugungen nicht in das natür— liche Schöpfungswerk gehörten und nur durch die ſündhafte Kunſt der Menſchen hineingebracht worden ſeien, und er beruft ſich dabei auf 3. Moſe 19, 19: „Meine Satzungen ſollt ihr halten, daß du dein Vieh nicht laſſeſt mit anderlei Vieh zu ſchaffen haben, und dein Feld nicht beſäeſt mit mancherlei Samen und kein Kleid an dich komme, das mit Wolle und Leinen gemenget iſt.“ Man unterſuchte nun zunächſt, wer der Erſte geweſen ſei, der die Kunſt der Baſtardirung gewiſſermaßen erfunden und dieſe ſündhaften Geſchöpfe in die Welt gebracht habe. Da wieſen die Rabbinen nun auf eine Bibelſtelle hin (1. Moſe 36, 24), die in der Vulgata heißt: Iste est Ana, qui invenit aquas calidas in soli- tudine, cum pasceret asinos Sebeon pa- tris sui, in welcher fie eine falſche Lesart (jamin ſtatt jemin im Urtext) witterten, weshalb auch Luther überſetzte: „Das iſt der Ana, der in der Wüſte Maulpferde erfand, da er ſeines Vaters Zibeons Eſel hütete.“ So warf man nun alle Schuld auf Ana und ſah in der vorherrſchenden Unfruchtbarkeit der Mauleſel den Beweis, daß dieſe Geſchöpfe mit dem Fluche be— haftet ſeien. Freilich ſahen die einſichti— geren Theologen wohl ein, daß damit die Frage ſelbſt nicht erſchöpft ſei, und die ſpäteren Verfaſſer von Geneſiskommenta— 9 De Generatione Animalium et Mi- gratione Populorum. Salzburg, 1670. — — N Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. rien, wie z. B. Molina ( 1600), Mar- tinengus ( 1600), Gregor von Va— lenzia (+ 1603), Pererius (+ 1610) und Cornelius a Lapide (7 1637), neigten mehr oder weniger ausgeſprochen dazu, auch die Baſtarde als wirkliche Ge— ſchöpfe Gottes anzuerkennen. Mit dieſer Wandlung der Anſichten hatte es eine eigentümliche, für unſern Gegenſtand ſehr lehrreiche Bewandtnis. Der gewöhnliche Mann, wenn er Tiere und Pflanzen betrachtet, empfindet unwill— kürlich das, was wir „natürliche Ver— wandtſchaft“ nennen. Er fühlt aber nicht nur die Verwandtſchaft nach der einen Seite, z. B. die der Hyäne mit den Katzen, ſondern auch die mit den Hunden, und nach ſeinen mit dem Mauleſel gemachten Erfahrungen macht er einen Baſtard von Wolf und Panther daraus. Noch heute ſehen wir immerfort ſolche zoologiſche Mythen entſtehen. So iſt noch in neueſter Zeit eine weichhaarige, ſchwanzloſe Katzen— art (rabbit cat) der Boſtoner Naturfor— ſchenden Geſellſchaft als Baſtardraſſe von Kaninchen und Katze vorgeführt worden; aus Mexiko kommen fortwährend Geſchich— ten über dort gefundene Baſtarde zwiſchen Hund und Schwein, zu denen, wie Pagen— ſtecher ſcharfſinnig bemerkt, wahrſchein— lich der Naſenbär (Nasua) die unſchuldige Veranlaſſung giebt, und ſo wird von den Jägern in Pernambuco das nur an den Seiten Schilder tragende Gürteltier Scle— roderma Bruneti für einen Baſtard zwi— ſchen Gürteltier und Ameiſenfreſſer (Ta— mandua) angeſehen. Dieſe zoologiſchen Märchen zirkulirten ſchon im Altertum, und die zuſammengeſetzten Namen Leo- pardus und Cameleo-pardus find Denk— male dieſer Proben der Volkszoologie. Es 193 iſt leicht zu verſtehen, daß ſich ſolche Mythen beſonders an abſonderliche Geſtalten wie die Giraffe hefteten, die wie eine natürliche Mißgeburt, als Baſtard von Kamel und Leopard — letzterer angeblich ſelber ein Baſtard von Löwe und Panther! — be— trachtet wurde. Diversum confusa genus panthera camelo ſingt Horaz in ſeiner Epiſtel an Auguſtus. Auch das Zebra (Hippotigris) galt als einen Baſtard von Tiger und Pferd oder Tiger und Hirſchkuh, und auf dieſe Sage über das in den Triumph— zügen nach afrikaniſchen Feldzügen nach Rom gekommene Tier (Dio Caſſius erwähnt es unter obigem Namen) ſcheint Horaz jene Zeilen ſeiner Epode an das römiſche Volk gemünzt zu haben, in denen er ſolche Vermiſchungen als Unmöglich— keiten hinſtellt: Novaque monstra junxerit libidine Mirus amor, juvet ut tigres subsidere cervis, Adulteretur et columba milüo. Auch unter den Pflanzen glaubte man ähnliche Beiſpiele nachweiſen zu kön— nen, und eine Melde, welche eine oberfläch— liche Ahnlichkeit in der Geſtalt der Blät— ter mit dem Stechapfel darbietet, mit dem ſie obendrein als Schuttpflanze vermiſcht vorkommt, wurde von den alten Botanikern für einen Baſtard von Melde und Stech— apfel angeſehen, darnach Chenopodium hybridum getauft und ſogar für giftig aus— gegeben, wie der Name „Sautod“ beweiſt. Dieſe Ideen erlangten aber eine be— deutende Popularität, als nach der Ent— deckung Amerikas eine Menge neuer und fremdartiger Tiere und Pflanzen, von de— nen weder die alten Schriftſteller, noch die Herbarii und Bestiarii, das Speculum Naturae und der Hortus sanitatis des Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 25 194 Mittelalters eine Ahnung hatten, von den Seefahrern mitgebracht, plötzlich vor den erſtaunten Blicken erſchienen. „Mein Gott, wie verwundern wir uns darob,“ ruft Mylius aus, „wenn wir derartige ſelt— ſame Tiere aus ſo fern entlegenen Orten zu ſehen bekommen! Wie genau betrachten wir alle ihre Lineamenten, Geſtalt, Haar— farben, ja ganze Leiber! Als ob ſie vom Himmel herabgeregnet wären!“ Die da— mals eben mit der Erkenntnis der wahren Natur der Foſſilien in die Schranken ge— tretene Schule der Diluvianiſten mußte ungeſäumt in Noahs Arche Platz für den ungeheuren Zuwachs ſchaffen. Hatten ſchon die Kirchenväter mit der Unterbringung der altweltlichen Tiere Not genug gehabt, namentlich hinſichtlich der Fragen, wie Noah die wilden Tiere verhindert habe, die zahmen zu freſſen, und womit er beide ernährt habe, ſo wuchs nun mit einem male die Schwierigkeit ins ungeheure. Schon in einigen der älteſten dieſer Schrif— ten, nämlich in Joh. Buteo's Buche: De Arca Noé (Lugd. 1559) und in der In- quisitio in fabricam Arcae Noae des 1588 verſtorbenen Matthäus Hoſt aus Frank— furt a. O. wird die Platzfrage brennend und es trat angeſichts des Reichtums der Natur das Beſtreben hervor, in dem Raum— überſchlage die Zahl der unterzubringen— den Tierarten möglichſt zu verringern, um den durch die in der Bibel angegebenen Größenverhältniſſe berechenbaren Raum als völlig ausreichend zu erweiſen. Dazu bot nun der Glauben an die Ba— ſtardnatur unzähliger wilder Tiere eine will— kommene Gelegenheit. Natürlich brauchte man dieſe Miſchlinge nicht beſonders neben ihren Eltern unterzubringen, und das war keine ganz unbedeutende Erleichterung für Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. eine Zeit, in der man nicht etwa blos ein Drittel aller Tiere für Baſtarde der an— dern beiden Drittel hielt, ſondern an eine ſchrankenloſe Vermiſchbarkeit aller Tiere untereinander und nach dem Beiſpiele der von Pferd und Eſel abſtammenden Maul- tiere und Mauleſel von jedem Paar zwei neue Formen ableiten zu können glaubte. So hielt man ſchon im Altertum verſchie— dene wilde Schafraſſen für Baſtarde zwi— ſchen Schaf und Ziege, und zwar ſollte das Mufflon aus Widder und Ziege, der Tityrus aus Ziegenbock und Schaf ent— ſtanden ſein. Die Hyäne wurde für einen Baſtard von Wolf und Pantherweibchen, der Schakal für einen ſolchen zwiſchen Wolf und Hund oder Wolf und Fuchs an— geſehen; aus Wolf und Hirſchkuh ſollte der Luchs, aus Kuh und Pferd oder aus Kuh und Eſel das Gnuentſtanden ſein u.ſ.w. In manchen dieſer Beiſpiele iſt wenig— ſtens ein gewiſſes Gefühl der natürlichen Verwandtſchaft leitend geweſen, aber die geiſtlichen Autoren führten das Prinzip bald völlig ad absurdum. Daß der be— kannte Jeſuit Athanaſius Kircher in ſeinem Buche über die Arche Noäh das Murmeltier für einen Baſtard von Dachs und Eichhorn und das Gürteltier für einen ſolchen von Igel und Schildkröte?) erklärte — ſollte doch auch Schlange und Muräne ſich fruchtbar paaren! — das wurde frei— lich dem aufgeklärteren Altmann zu ſtark und er erklärte, daß er wohl den Leopar— wandtſchaft des Gürteltiers mit der Schildkröte iſt bei dem amerikaniſchen Klerus auf guten Boden gefallen, und noch heute verſpeiſt man dort, wie uns Carl Sachs (Aus den Llanos, Leipzig 1879, S. 168) erzählt, die ſehr wohl— ſchmeckenden Armadille als Schildkröten in den Faſten, und macht alsdann große Jagd auf ſie. Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. 195 den für einen Baſtard von Löwe und Panther halten wolle, aber das Murmel— tier ſei eine Art Dachs und gehöre mit dieſen zu den Schweinen! Nachdem auch der berühmte Reiſende Sir Walter Ra— legh in ſeiner 1640 zuerſt gedruckten History of the world ſich für die Anſicht erklärt hatte, daß Noah nur wenige Grund— formen in die Arche hätte aufzunehmen brauchen, die ſich nachher durch Baſtardi— rung und Ausartung vermehrt hätten, und nachdem berühmte Naturforſcher der Zeit, wie Aldrovandi, Gesner, Scheuch— zer u. A. keine eigentlichen Bedenken ge— gen die Baſtardirungshypotheſe beigebracht zur Erklärung gewiſſer Bibelſchwierigkeiten geeignetſte Lehrmeinung hoher Geiſtlichen, z. B. der engliſchen Biſchöfe Wilkins und Stillingfleet, ja verſchiedene Autoren unſerer Zeit, wie z. B. Maegregor und Prof. Zöckler in Greifswald, haben noch in neueren Schriften die Anſicht verteidigt, daß Noah nur die Grundformen der Tiere zu erhalten brauchte, die ſich dann nach der Sintflut durch Ausartung oder Ba— ſtardirung vermehrt hätten. Doch hat Zöckler neuerdings dieſe Anſicht wegen ihrer bedenklichen Konzeſſionen an den Darwinismus entſchieden verleugnet. Dabei trat nun das Beſtreben in den Vordergrund, namentlich die häßlichen und ſchädlichen Tiere für Baſtarde und Ausartungen zu erklären, um dem Schöpfer den Vorwurf, ſie überhaupt erſchaffen zu haben, zu erſparen; ja einige Autoren gin— gen ſchließlich ſo weit, die Baſtardzeugun— gen ſammt der allgemeinen Verſchlechte— rung der Tier- und Pflanzenwelt für direkte Folgen des Sündenfalls und der Sintflut anzuſehen. Vor der Sintflut ſei die ganze Erde ein bewohnbares Land geweſen, durch dieſelbe ſeien aber ſo viel Einöden, Ge— birge und unbewohnbare Zonen entſtanden, daß nicht nur viele Tiere aus Mangel an genügender Pflanzennahrung zu Raub— tieren wurden, ſondern auch durch die dich— tere Zuſammendrängung zu allerlei Ba— ſtardirungen gedrängt wurden, aus denen dann zahlloſe Mißgeburten, namentlich die Affen, entſtanden. Im Paradieſe gab es weder Raubtiere noch Baſtarde. So ſchreibt D. S. Büttner in feinem Buche Rudera Diluvii Testes (Leipzig, 1710), S. 106: „Ich bin auch deſſen ſehr überredet: Es werde ſich dißfalls eine Anderung mit hatten, wurde dieſelbe für einige Zeit die den haben. Da viele Thiere, welche zuvor Thieren, die Nahrung betreffende, gefun— Erdfrüchte, Graß, Geſtäude, Obſtfrüchte gefreſſen, hernach wegen Mangel und da— her erfolgten Hungers, Fleiſch freſſen ler— nen, welches noch die Thiere bezeugen müſſen, die ſowohl Fleiſch als oberzählte vegetabilia, dieſe aber viel lieber genüſſen. Gleichfalls iſt wahrſcheinlich, daß nachdem die Thiere enger zuſammenwohnen müſſen, ſie in eine ſchändliche und unnatürliche Vermiſchung unter einander gerathen, wel— che theils Affen, Meerkatzen, Leo— parden und andre Thiere zulänglich zeu— gen, und der bekannte Urſprung der Maul— eſelallenWiderſpruch allein nehmen kann.“ Jemehr dieſe Anſichten herrſchend wur— den, um ſo dringender trat nun auch an Theologen und Philoſophen die Aufgabe heran, die Frage zu unterſuchen, ob, wenn die halbe Lebewelt aus Baſtarden beſtünde, nicht auch dieſe auf göttliche Schöpfungs— akte zurückgeführt werden müßten, da doch wohl nicht ein ſo großer Teil der Schö— pfung ungöttlichen Urſprungs ſein könne. Die ſchon oben erwähnten Theologen gin— 196 gen in ihren Kommentarien über das Sechs— tagewerk größtenteils hierbei von dem durch die Kirchenväter Baſilius, Ambroſius und Auguſtinus herausgearbeiteten Prinzip der mittelbaren Schöpfung (creatio indirecta) aus. Es gäbe eine Menge Tiere, die von Gott am ſechſten Tage noch nicht in Wirklichkeit, ſondern nur in der Idee erſchaffen wären und zu denen Auguſtinus ſogar den Menſchen gerechnet hatte. Zu dieſen nicht unmittel— bar erſchaffenen Tieren müſſe man z. B. die erſt aus der Fäulnis anderer entſtehen— den Tiere rechnen. Man glaubte befannt- lich nach dem Beiſpiele des Ariſtoteles allgemein, daß alle niedern Tiere und ſo— gar einige Fiſche (Aale) und Vögel (Ber— nikelgänſe) ſich nicht auf geſchlechtlichem Wege vermehrten, ſondern aus der Zer— ſetzung und Umwandlung organiſcher Sub— ſtanzen entſtänden. Schon bei Iſidor von Sevilla (+ 738) finden wir dabei die Meinung, daß nicht aus jeglichem ver— weſenden Fleiſche jede beliebige Sorte von Bienen und Fliegen entſtünde, oder etwa, wie ſpäter Moufetus in ſeinem Theatrum insectorum meinte, daß die kampfesmuti— gen Bienen aus Löwenfleiſch und die fei— gen aus Rindfleiſch entſtünden, ſondern jeglicher Tierart ſei es eingepflanzt, bei ihrer Verweſung eine beſtimmte Art von niedern Tieren zu erzeugen, und zwar ſoll— ten aus Rindern Bienen, aus Pferden Käfer, aus Maultieren Heuſchrecken, aus Krebſen Skorpione u. ſ. w. hervorgehen. Dieſen Anſichten entſprechend, lehrte nun van den Steen (Cornelius a Lapi— de, 7 1637) in feinen Kommentarien zum Pentateuch ad diem VI, Lect. 24: „Mi- nuta animalia, quae ex sudore, exhala-, tione aut putrefactione nascuntur, uti Ernſt Krauſe, Die Baſtard-Theorie. pullices, mures aliique vermiculi, non fuerunt hoc sexto die creata formaliter sed potentialiter et quasi in seminali ratione, quia scilicet illa hoc die creata sunt, ex quorum certa affectione haec naturaliter erant exoritura.“ Soweit dieſe Tiere ſchädlich oder läſtig für den Menſchen waren, wollte man ſie nicht un— mittelbar von Gott erſchaffen ſein laſſen, ja es gab eine Anzahl von Theologen, die alle Tiere und Pflanzen urſprünglich un— ſchädlich ſein ließen und erſt von dem Sün— denfall ihre Umwandlung zum ſchlechteren herleiteten. Daſſelbe Prinzip der hindurch wirkenden Schöpfungsidee wurde von geiſt— lichen Skribenten bald darauf noch viel weiter ausgedehnt. So ſollten nach Atha— naſius Kircher auch Pflanzen, welche tierähnliche Blüten oder Früchte tragen, z. B. die Orchideen, aus verweſenden Tier— körpern entſtehen, und die den Bienen, Mücken, Fliegen und Spinnen ähnlichen Ophrysarten ſollten, ſtatt aus dieſen Tie— ren zu entſtehen, auch direkt aus deren Ahnen, d. h. aus dem Fleiſche verſchiede— ner Vierfüßler, hervorgehen können. Hier wirkt die creatio indirecta alſo durch zwei Stufen hindurch, und zwar mit gelegent— licher Überſpringung der Mittelftufe.*) 1 In einer ganz ähnlichen Weiſe glaubte man nun auch die Baſtarderzeugung aus denſelben Grundſätzen erklären zu können, und anknüpfend an die eben geſchilderte Schöpfung der Fäulnistiere meinte nun van den Steen, auch die Baſtarde ſeien auf dieſem Wege am ſechſten Tage mit— telbar von Gott miterſchaffen worden. Es iſt dabei nun ſehr intereſſant für das Verſtändnis der analogen Gedanken Lin— nes und Bonnets, zu ſehen, wie van ) Vgl. Erasmus Darwin, S. 227.230. 3 Ernſt Krauſe, Die Baſtard⸗Theorie. 197 den Steen alsbald die Baſtardtheorie ſowohl zur Erklärung der faſt erſchrecken— den Tiermannigfaltigkeit überhaupt, als beſonders für diejenige der fremden Erd— teile anwendet. „Hybrides,“ ſagt er, „i. e. animalia, quae ex congressu diver- sarum specierum generantur, uti mulus ex equa et asino, lynx ex lupo et cer- va, ex hirco et ove tityrus, ex leaena et pardo leopardus, haec inquam non necesse est dicere, hoc die esse creata. — In Africa in dies novae oriuntur monstrorum species atque oriri possunt ex nova aliarum et aliarum specierum sive animalium commixtione. Haec com- mixtio est praeter naturam et adulte- rina.“ In Übereinſtimmung damit hatte auch Mylius*) das Thema behandelt. In den hitzigen und dürren Wüſten Afrikas kämen die wilden Tiere von weit entlegenen Orten an den feuchten Oaſen zuſammen, um ih— ren Durſt zu ſtillen, und es werde an die— ſen Rendezvousplätzen der aus allen Welt— gegenden herbeiſtrömenden Tiere „durch allerhand Vermiſchungen immerdar was Neues und Ungewöhnliches erzeugt, um das alte Sprüchwort Africa semper aliquid novi wahrzumachen“. Alle dieſe Baſtard— tiere ſeien nicht immediate von Gott ge— ſchaffen, denn Gott habe „jegliches Tier nach ſeiner Art gemacht“, wie Moſes fünfmal wiederhole. „Nun werden aber dieſe Thiere, als Maulthiere und derglei— chen Baſtarde mehr, nicht nach ihrer Art, ſondern aus einem andern Geſchlecht er— zeuget. Denn das Maulthier gehöret ja weder zu der Art der Pferde noch der Eſel, ſo zeuget auch weder der Wolf noch ) De Origine Animalium. Deutſche Aus- gabe 1670, S. 289 ff. das Wildſtück ihnen ein gleichförmiges Tier, nemblich einen Luchſen. Woraus dann der Schluß zu machen, daß der all— mächtige Gott dergleichen Thier im An— fang nicht würcklich und immediate er— ſchaffen habe. — Andertens. Hat der all— weiſe Gott geboten: daß alle Thiere, wel— che er durch ſein Göttliches Wort erſchaf— fen, ſich ſollen beſaamen und vermehren, auch jedes nach ſeiner Art die Erde erfül— len. Weßwegen er ſie dann auch geſegnet, und ihnen gebotten hat, daß ſie wachſen, ſich vermehren, auch die Waſſer und Er— den erfüllen ſollten. Seid fruchtbar und mehret euch. Nun ſind aber die Baſtardthiere unfruchtbar; können ſich dannenhero dieſes Segens nicht theilhaf— tig machen. Folget alſo darauß, daß die Baſtardthiere von Gott anfänglich nit erſchaffen worden. — Drittens Was von Gott herkommt, iſt ordentlich, wie Paulus ſagt. Nun aber ſeynd dieſe Arten der Baſtardthiere nicht nach dem ordent— lichen Lauff der Natur. Kann alſo Gott dieſe Thiere im erſten Anfang nicht er— ſchaffen haben, ſondern Gott hat allein denjenigen Thieren, von welchen ſolche Baſtardarten hernach erzeuget worden, die Krafft und Haupturſachen eingepflanzet, daß ſie mit der Zeit, ſolche auß ihrer Art abgewichne und geſchlagene Thiere, auff die Welt gebracht haben. Und kommen dergleichen Geſchlechter, unter die anderer Thiere, als wie die unehelichen Kinder und Baſtarden öffters in ein Eheliches Geſchlecht, unrechtmäßig eingedrungen wer— den.“ (sic!) Dieſen Anſichten widerſprachen aber andere damalige Autoritäten und Nie— venbergius*) wies auf das nicht ſeltene ) Hist. natur., Lib. V, c. 21. 198 Vorkommen von fruchtbaren Mauleſelin— nen zum Beweiſe dafür hin, daß auch dieſe Tiere am ſechſten Tage mittelbar erſchaf— fen ſeien und deshalb auch Fortpflanzungs— fähigkeit beſäßen. Von einem wirklichen Intereſſe bei dieſem theologiſchen Streite iſt nur der Umſtand, daß der große Linné der Idee beitrat, Baſtardirung könne die Urſache der Vermehrung einer urſprünglich be— ſchränkten Zahl von Urformen geworden ſein und die allmählichen Übergänge er— klären, welche ſich zwiſchen den meiſten Pflanzen und Tieren finden. Leibniz’ kontinuirliche Reihe der Schöpfungsformen hätte dann nur auf die Wurzelformen An— wendung gefunden, die Reihe ſei durch Baſtardirung um Mittelformen bereichert worden. Linns ſchrieb im ſechſten Bande ſeiner Amoenitates academicae, 1763, p. 296: „Suspicio est, quam diu fovi, neque jam pro veritate indubia vendi- tare audeo, sed per modum hypothe- seos propono: quod scilicet omnes spe- cies ejusdem generis ab initio unam constituerint speciem, sed postea per generationes hybridas propagatae sint.“ Godron*)fagt, Linns ſei hierin dem Beiſpiel Gmelins gefolgt, der in einer Inauguraldiſſertation vom Jahre 1749 ebenfalls den Gedanken ausgeſprochen hat, daß die Arten der Pflanzen vielleicht nur die Baſtarde der urſprünglich erſchaffenen Gattungen untereinander ſeien. Gmelins Abhandlung hat den Titel: Joann. Georg. Gmelini Med. D. sermo academicus de novorum vegetabilium post creationem divinam exortu. die 22. Aug. 1749 ) De l’espece et des races dans les etres organisés. 2. edit. Paris, 1872, T. I, p. S—9. Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. — ans publice reeitatus. Tübing. Ehrhard, und in derſelben wird in der That auseinander— geſetzt, wie durch Baſtardirung die weni— gen urſprünglich erſchaffenen Pflanzenfor— men beträchtlich vermehrt worden ſein könnten, ohne daß darin eine Entweihung der göttlichen Majeſtät gefunden werden dürfe, welche ja die Geſchlechtsorgane und damit die Möglichkeit der Baſtardirung der Pflanzen gegeben habe. Er glaubt auch, daß manche von den älteren Schrift— ſtellern beſchriebene Pflanzen, welche die neueren Botaniker nicht auffinden konnten, vielleicht ſolche Hybriden geweſen wären, die wieder eingegangen und zu den Urformen zurückgekehrt ſeien. Dieſe be— merkenswerteſte Stelle findet ſich auf Seite 78 dieſer Diſſertation und lautet wie folgt: 7 nullum supererit dubium plantas novas subinde oriri citra novam Divini artificis ereationem, et tandem ita multiplicari, ut plantarum instar ali- arum primitus creatae videantur. Nihil quidem Majestati Divinae hie contra- rium subesse existimo, quum novus ejusmodi plantae ortus ipsiis illis or- ganis perficiatur, quae DEVS in plantis creavit, adeoque virtus illa, plantas no- vas ex se generandi plantis in creatione concessa credi possit. Sed dubito, an ex unico hocce exemplo quaestio ita decidi queat, ne metus contrarii adhuc obtineat. Multae quidem adhue plantae sunt, a veteribus recensitae, quarum notitiam hodie nullam habemus, et su- spicio facile oriri de illis posset, Hibri- dae hujus generationis modo supposito, fuisse illas hibridas et paullatim eva- nuisse et ad pristinas species rediisse.“ Es iſt merkwürdig genug, daß Linné — — dieſer Idee Geſchmack abgewinnen konnte, da er doch ſchwerlich geglaubt hat, daß ſich Tiere oder Pflanzen, die man zu verſchie— denen Gattungen rechnet, fruchtbar unter— einander vermiſchen könnten, was ſchon die Arten ſo ſelten thun, da ſelbſt fruchtbare Mauleſel zu den Seltenheiten zählen. Eine Veranlaſſung für Linné, die alte Idee wieder aufzunehmen, mögen aber Koel— reuters 1761 veröffentlichte Verſuche ge— geben haben, in denen die Idee, durch Ba— ſtardirung neue Pflanzen zu erzeugen und eine Art in eine andere überzuführen, prak— tiſch verwirklicht ſchien. Auch Bonnet fand andiefer Idee Ge— ſchmack, und obwohl er urſprünglich in der ununterbrochenen Reihenfolge der Lebens— formen den Plan des in geſetzmäßiger Stu— fenordnung ſtattgefundenen Schöpfungs— werkes erkennen wollte, glaubte er doch auch, daß die urſprüngliche Reihe der Grundformen noch nachträglich durch Ba— ſtardformen und klimatiſche Veränderungen interpolirt worden ſei und daß ſich ſo die frappanten Zwiſchenformen und Übergänge von der einen Art zur andern am beſten er— klären ließen. Er ſagt im fünften Bande feiner Oeuvres d'histoire naturelle et de philosophie (Ed. Neuchatel 1779, p. 230) in einem „Que le nombre des espèces peut s’etre acerü par des con- jonctions fortuites“ überſchriebenen Ab— ſchnitte: „On ne peut douter, que les especes qui existaient au commence- ment du monde, ne fussent moins nom- breuses, que celles qui existent aujour- dhui. La diversite et la multitude des conjonctions, peut-etre meme encore la diversité des elimats et des nourritures ont donné naissance à des nouvelles especes ou à des individus intermedi- Ernſt Krauſe, Die Baſtard-Theorie. 199 aires. Ces individus s’etant unis à leur tour, les nuances se sont multipliees, et en se multipliant elles sont devenues moins sensibles. Le Poirier parmi les plantes, la Poule parmi les oiseaux, le Chien parmi les quadrupedes, nous fournissent des exemples frappants de cette verite, Et que n'aurions nous point à dire à cet égard, des varietes qui s’ob- servent parmi les Hommes, sortis origi- nairement de deux individus!“ Übrigens iſt ſchon im Altertum die Meinung ausgeſprochen worden, daß die einzelnen Arten artenreicher Geſchlechter die Reſultate von Baſtardirungen ſein könnten. In dem merkwürdigen, dem Ariſtoteles zugeſchriebenen Buche de mirabilibus auscultationibus findet ſich Capitel LXI (Ed. Beckmann, S. 127) die Darlegung, wie die verſchiedenen Arten der Adler, Geyer und Habichte durch Baſtardzeugung fortwährend ent— ſtünden. Die Stelle ſcheint verderbt und iſt von Geſſner, Natalis de Comi— tibus, Beckmann u. A. ziemlich ver— kehrt wiedergegeben. Richtiger hat ſie Plinius verſtanden, der offenbar mit die— ſer Stelle (oder ihrer Quelle) vor Augen (X. 3. 3) ſchrieb: „Der Meeradler (Ha— liaetos) bildet keine beſondere Art für ſich, ſondern entſteht durch Paarung mit andern Adlerarten. Den von ihnen ſelbſt erzeugten nennt man Ossifragus (unſer Fiſchadler), von dem wieder die kleinen Geyer (im ſogenannten Ariſtoteles ſind auch die Habichte genannt) abſtammen, auch wohl einzelne größere, die ſich aber nicht fortpflanzen.“ Niemand habe das Neſt derſelben geſehen, fügt, die Un— fruchtbarkeit dieſer Baſtarderzeugungen beſtätigend, die erſtere Quelle hinzu. | I ——ͤ—— 200 Eine, wie mir ſcheinen will, auf den— ſelben Anſchauungskreis hinauslaufende Hypotheſe über die Entſtehung der Arten iſt nun neuerlich von Herrn Theodor Fuchs, Kuſtos am k. k. zoologiſchen Mu— ſeum in Wien, in einem Vortrage „Über die geſchlechtliche Affinität als Baſis der Speziesbildung“ entwickelt worden, den er in der Sitzung vom 3. Dezember 1879 der dortigen Zoologiſch-botaniſchen Geſell— ſchaft gehalten hat, vielleicht ohne daß es ihm bekannt geweſen, daß er damit nur eine ſehr alte Anſicht erneuert und ſehr il— luſtre Vorgänger auf dieſem Erklärungs— wege gehabt hat. Um ſeine Schlußfolge möglichſt getreu wiederzugeben, möge hier ein Stück des mutmaßlich von ihm ſelbſt verfaßten Referates über dieſen Vortrag aus dem XXIX. Bande der Sitzungs- berichte dieſer Geſellſchaft in wörtlichem Abdrucke folgen: „Die einzelnen Arten ſind von Haus aus weder einfache, noch gleichwertige, ſondern ſie ſind zuſammengeſetzte Grö— ßen, deren Natur und Umfang von der Anzahl und Beſchaffenheit der konſtitui— renden Elemente, ſowie von dem Grade ihrer Verſchmelzung abhängt. Iſt eine Art nur aus einander ſehr ähn— lichen Individuen entſtanden, und ſind die— ſelben ſehr innig mit einander verſchmol— zen, ſo werden wir eine ſehr engbegrenzte, homogene Art haben; iſt eine Art hin— gegen aus der Verſchmelzung von Indivi— duen hervorgegangen, welche morpholo— giſch ſehr verſchieden ſind, und iſt die Aus— gleichung der individuellen Charaktere nur unvollkommen erfolgt, ſo werden wir das vor uns haben, was wir eine polymorphe Art nennen. Variabilität und Polymorphismus ſind Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. keine ſekundären, ſondern primäre Erſcheinungen, und die Varietäten einer Art ſind keineswegs Neubildungen, ſon— dern ſtellen nur die nicht vollſtändig verwiſchten Reſte der urſprünglichen Stammformen vor, aus deren Vereinigung und Verſchmelzung die betreffende Art entſtand. Ebenſo iſt es klar, daß auf Grund— lage dieſer Anſchauungen die Züchtung verſchiedener Raſſen aus einer und derſel— ben Art, auf dem Wege der Auswahl und Iſolirung, nichts anderes iſt als die Zer— legung einer zuſammengeſetzten Größe in ihre näheren Elemente. Die Variabilität einer Art iſt nicht un— begrenzt, ſondern beſchränkt durch die Be— ſchaffenheit der Stammformen, aus deren Vereinigung ſie hervorgegangen. Die naturhiſtoriſche Erfahrung, daß die Individuen einer und derſelben Art in der Regel unter einander vollkommen fruchtbar ſind, die Individuen verſchiede— ner Arten aber nicht, darf nicht in dem Sinne aufgefaßt werden, daß dieſe phyſio— logiſche Eigentümlichkeit jeder einzelnen Art bei ihrer Erſchaffung gleichſam als Mitgift mitgegeben wurde; denn nicht die Art iſt das urſprünglich Gegebene und die geſchlechtliche Affinität eine ihrer Eigen— ſchaften, ſondern, umgekehrt, die geſchlecht— liche Affinität iſt das urſprünglich Gege— bene und die Bildung der Art nur eine Folge derſelben. Würden eine Art A und eine andere Art B unter einander vollkommen frucht— bar ſein, ſo müßten ja dieſe beiden Arten, woferne keine äußeren Hinderniſſe entge— genſtehen, in kurzer Zeit zu einer Art ver— ſchmelzen, und dieſes Einbeziehen und Ver— ſchmelzen der Formen müßte ſich ſoweit Ernſt Krauſe, Die Baftard-Theorie. ausdehnen, als überhaupt die vollkommene Affinität reicht. Viele Tierarten, welche ſich im freien Naturzuſtande nicht kreuzen, können im Zu— ſtande der Domeſtikation dazu gebracht werden und die Folge davon ſind unſere vielgeſtaltigen Haustiere, welche äußerlich ganz wie polymorphe Arten erſcheinen. fie aus der Verſchmelzung verſchiedener wil- der Stammformen entſtanden ſind (Hund, Rind) auch bei anderen (Schaf, Ziege, Huhn) iſt dies kaum mehr zu bezweifeln. Durch die Zucht des Menſchen ſind allerdings neue Arten künſtlich gebildet worden, aber nicht in dem Sinne, daß er aus mütterliche Form darſtellen würde) mit einer Art mehrere machte, ſondern viel— mehr, daß er aus mehreren ſcheinbar eine (allerdings ſehr polymorphe) machte. Indem der Menſch verſchiedene wilde Tierarten durch Auswahl und Iſolirung in ihre Elemente zerlegte und dieſelben wie- der durch Baſtardirung in mannigfacher Weiſe kombinirte, erzielte er die große Menge von verſchiedenen Raſſen, welche unſere Haustiere thatſächlich aufweiſen. Das Weſen dieſer Züchtung beſteht aber der Hauptſache nach nur in der ver— ſchiedenartigen Kombinirung und Miſchung bereits vorhandener Elemente und nicht in der Neubildung von ſolchen.“ So weit Fuchs. Es iſt nicht zu verkennen, daß dieſe Auffaſſungsart viel Beſtechendes für ſich hat und auf viele Zuhörer und Leſer als einfache Erklärung der Variationstendenz vieler Pflanzen und Tiere einen bedeuten— den Eindruck machen wird, denn es laſſen ſich gar manche ſcheinbare Stützen dafür anführen. Es iſt nämlich allſeits bekannt, zeigen, in die elterlichen Formen zurückzu— ſchlagen, ſich alſo wieder in die Compo— nenten der Kreuzung zu zerſetzen. Als be— kannteſtes und ſo zu ſagen perpetuirliches Beiſpiel eines ſolchen Rückſchlagens kann der berühmte Baſtard zwiſchen dem Gold— regen (Cytisus Laburnum) und C. pur— | pureus betrachtet werden, der durch Steck— Bei mehreren polymorphen Haustieren iſt es bereits ſehr ſicher nachgewieſen, daß linge weitverbreitet iſt, und neben un— fruchtbaren Baſtardblüten fruchtbare Blü— ten der beiden elterlichen Arten, ſowie allerlei Miſchungen beider Formen durch— einander zeigt. Man erzählt, daß dieſe von Poiret Cytisus Adami getaufte Art zuerſt in dem Garten des Gärtner Adam zu Vitry bei Paris durch Befruchtung der Blüten des Goldregens (welche alſo die dem Blumenſtaube der rothen Art erzeugt worden ſei, aber leider weiß man dies nicht gewiß, und nach anderer Nachricht wären die beiden Arten nur aufeinander gepfropft geweſen. Aber mögen dieſe oder ähnliche Fälle von Rückſchlag der Baſtarde in Stamm— arten noch ſo verführeriſch klingen, um die ſtarke Variationstendenz gewiſſer Pflan— zen und Tiere zu erklären, ſo wird doch jede ſorgfältige Erwägung aller Umſtände ergeben, daß die Baſtardirungstheorie durchaus nicht geeignet iſt, die Mannig— faltigkeit der Naturweſen und die zahl— reichen Übergänge der Formen zu erklären, wenn wir nicht annehmen wollen, die Eigenſchaften der Lebeweſen ſeien ehe— mals ganz andere geweſen als heute. Denn wenn man aufſtellt, daß unſere Arten durch Kreuzung entſtanden ſeien, ſo müßte man doch mindeſtens an eine Kreuzung weit auseinander ſtehender Formenkreiſe, d. h. daß Baſtardformen eine große Neigung | ſogenannter Gattungen untereinander den- 201 9 | | | | | | | 2 Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 26 202 Ernſt Krauſe, Die Baſtard-Theorie. ken. Nun weiß man aber, wie ſchwer, ja Haſe und Kaninchen u. ſ. w., aber man weiß nicht, ob dieſe Tiere ſich auch im ſelbſt unmöglich es oft iſt, Nachkommen von zwei einander ſogar ziemlich naheſte— henden Arten derſelben Gattung — dieſe Bezeichnungen in dem gewöhnlichen Sinne genommen — zu erhalten. So z. B. hat man noch keine Baſtarde zwiſchen Apfeln und Birnen erzielen können, und ſelbſt die Pfropfung, die ſonſt unter Gattungen der— ſelben Familie gewöhnlich ziemlich leicht gelingt, führt hier ſo ſelten zu einem glück— lichen Reſultate, daß der Dr. Neubert aus Cannſtatt auf der vorjährigen Natur— forſcherverſammlung auf ein Unikum diefer | Art beſonders aufmerkſam machte, einen | Apfelbaum in Fellbach bei Stuttgart, der alle Jahre zugleich weiß und rot blüht, und Apfel und Birnen neben einander trägt. Es handelt ſich hier um ein verein— zeltes Gelingen einer ſolchen wahrſchein— lich in Folge bloßer Verwechſelung der Reiſer geſchehenen Pfropfung, und der Mann, der dieſes Kunſtſtück vor dreizehn ſehen“auf feinen „ungeſchickten“,inzwiſchen nach Amerika ausgewanderten Bruder. völlig und beiderſeits wilden Zuſtand mit einander fruchtbar paaren. Die ſo erziel— ten Baſtarde ſind entweder ganz unfrucht— bar oder nur für wenige Generationen fruchtbar, wenn ſie nicht völlig in die Stammraſſen zurückſchlagen. Aus einer Stelle des Ariſtoteles, in welcher von in Syrien lebenden „Mauleſeln“ die Rede iſt, die ſich begatten und Junge gebären, hat man ſchließen wollen, daß dies in war men Ländern überhaupt nicht ungewöhnlich ſei, aber die genaue Betrachtung der Stelle zeigt, daß Ariſtoteles hier von Wildeſeln (Hemippus oder Onager), nicht aber von Baſtarden ſpricht. Franzöſiſche Schriftſtel— ler haben erzählt, daß derſelbe Fall in Algier ebenfalls häufig vorkomme, aber Gratiolet erinnert an das ungeheure Aufſehen, welches im Jahre 1838 im fran— zöſiſchen Algier bei allen Muſelmännern durch die Nachricht veranlaßt wurde, daß Jahren vollbracht hat, leugnet die Urhe⸗ berſchaft obendrein und ſchiebt das „Ver- Im Gegenteil hat bereits Buffon die Möglichkeit fruchtbarer Kreuzung und Erzeugung unbegrenzt ſich fortpflanzender Baſtarde für ein Kriterium der Varietä- ten im Gegenſatze zu den guten, völlig ge— trennten Arten angeſehen. Allerdings lie— fert die Vermiſchung verſchiedener domeſti— in der Nähe von Biskra eine Maultierſtute trächtig geworden ſei. „Das Entſetzen dar— über“, erzählt Gratiolet, „verbreitete ſich ringsum, die Araber glaubten, das Ende der Welt ſtehe bevor, und verſuchten durch längeres Faſten den Zorn des Him— mels abzuwenden. Glücklicher Weiſe ver— warf die Maultierſtute. Aber noch lange nachher erzählten die Araber von dieſem „ hchrecklichen Vorfalle“, was gewiß nicht zirten Tiere mit andern domeſtizirten oder wilden Tieren verwandter Art leicht Ba— ſtarde. So paaren ſich Pferd, Eſel, Dſchig- getai und Zebra fruchtbar unter einander, ebenſo Hund, Wolf und Schakal; Pak, Zebu und Hausrind; Kamel und Dromedar, Vikung und Alpaka, Steinbock und Ziege, geſchehen wäre, wenn dieſer Fall dort öfter vorkäme. Wir müſſen daher ſchließen, daß die Möglichkeit einer fruchtbaren Baſtar— dirung nur unter Arten derſelben Gat— tung möglich iſt, namentlich zwiſchen ſo— genannten beginnenden Arten, und in dieſem Sinne wird ſie heute im Ernſt Krauſe, Die Baſtard⸗Theorie. 203 vollendeten Gegenſatze zu der alten Auf— faſſung als beſtes Erkennungsmittel einer ſogenannten unveränderlichen Art von den Vertretern der Art-Conſtanz betrachtet. Wie ſollte daher eine dauerhafte Vermi— ſchung weitauseinander ſtehender Gattun— gen möglich ſein? Es giebt zwar viele Er— zählungen darüber, aber ſie ſind insge— ſammt wenig glaublich. So erwähnt Bel— lonius eine fruchtbare Kreuzung zwiſchen Pferd und Hirſchkuh, deren Ergebnis ſich am Hofe Franz J. befunden haben ſoll, und Hellenius erzählt von einer frucht— baren Kreuzung zwiſchen Widder und Reh— kuh, deren Baſtarde durch zwei Generatio— nen mit dem Vater gekreuzt wurden und wieder in deſſen Typus zurückſchlugen. Aber die vermeintliche Rehkuh war, wie A. de Quatrefages bemerkt, vielmehr das den Berichterſtattern nicht genauer bekannte Wildſchaf (Moufflon) geweſen. So mag es mit manchen dieſer Erzählungen ſtehen. Andrerſeits bezeugt gerade das Zurück— ſchlagen der Baſtarde auf die Stamm— arten, wie wenig Baſtardirung zur Erzeu— gung neuer Arten beigetragen haben kann. Was die noch von Iſidor Geoffroy— Saint-Hilaire vertretene Meinung an— betrifft, daß bei den Baſtarden eine völlige Fuſion der Eigenſchaften beider Eltern, unter Hervorbringung alſo eines wirklichen Novums ſtattfinde, ſo haben die gründ— lichen, namentlich an den Schädeln von Schweinebaſtarden durch Nathuſius an— geſtellten Unterſuchungen vielmehr erge— ben, daß eine Miſchung aus einem Anteil der väterlichen und einem Anteil der müt— terlichen Eigenſchaften, aber keineswegs ein Durchſchnitt aus allen Eigenſchaften beider Eltern entſtehe. Es iſt im weitern Kreiſe nicht anders, als wie Goethe im engeren Kreiſe von ſich ſelber eingeſtand: „Vom Vater hab' ich die Natur, des Lebens ernſtes Führen, vom Mütterchen die Froh— natur und Luſt zum Fabuliren.“ Die Möglichkeit der Baſtardirung überhaupt zeigt aber anderſeits, wie ſchon Locke aus— einanderſetzte, daß die Arten keine unver— änderlichen Formen, d. h. Verkörperungen unwandelbarer Ideen ſind. Im Übrigen wird jeder Verſuch, die Variationstendenz ſowohl als die Man— nigfaltigkeit von Tier- und Pflanzen— reihen durch Vermiſchung von Endglie— dern zu erklären, ſchließlich an den That— ſachen der Paläontologie ſcheitern müſſen, denn dieſe Anſicht würde ein gleichzeitiges Vorhandenſein der Anfangs- und End— glieder jeder Reihe vorausſetzen, und die Entwicklung der Pferde z. B. ginge nicht von Eohippus durch Oro-, Meso-, Mio- und Pliohippus zum Equus, ſondern letz— teres müßte ſchon in den Eozänſchichten ſich finden, um mit dem Eohippus die Mit— telformen hervorzubringen. Herr Fuchs hält dem Anſcheine nach, wie man aus einer ſpätern Deduktion deſſelben (vergl. weiterhin S. 208) erſieht, auch die foſ— ſilen Übergangsformen für „Miſchformen“. Das klingt ſeltſam, aber zu ähnlichen er— fahrungswidrigen Schlüſſen wird jeder ge— trieben werden, der es verſuchen will, die— ſer längſt verblichenen Hypotheſe in irgend einer Form neues Leben einzuhauchen. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Die ankidarwiniſtiſchen Vorträge in den Sitzungen der k. k. Geologiſchen Neichsanftalt in Wien. er eingehenden Beſprechung des erſten PVortrages ) laſſen wir hier ein kür— zeres Referat der beiden nächſten folgen. Da wir auf eine eingehende Beſprechung verzichten müſſen und darauf vertrauen, daß die Unanwendbarkeit der meiſten hier aufgeſtellten Folgerungen unſern Leſern unmittelbar ins Auge fallen wird, erlauben wir uns nur einige Fragezeichen und kurze Bemerkungen einzuſtreuen. In der Sitzung vom 20. Jan. ſprach Herr Th. Fuchs „Über einige Grunderſcheinungen in der geologiſchen Entwicklung der organiſchen Welt“ und ging darin nach einigen Vor— bemerkungen | zur ausführlicheren Be— ſprechung folgender Punkte über: 1. Die Periodizität. Die Ent: wicklung der organiſchen Welt erfolgt nicht durch eine kontinuirlich gleichmäßig fortſchreitende Veränderung, ſondern durch eine periodiſch eintretende Umformung der Organismen. Es wechſeln längere Zeit— räume relativer Ruhe mit kürzeren Epochen der Umwandlung. (?? Red.) ee) Kosmos, S 69—72 dieſes Bandes. Der Grad der Umwandlung iſt nicht ein durchſchnittlich gleich bleibender, ſon— dern wechſelt im regelmäßigen Rhythmus ſeine Intenſität. Reihen leichter Verände— rungen wechſeln in regelmäßiger Weiſe mit Perioden tiefer greifender Umgeſtal— tung ab. (? Red.). Die Darwiniſtiſche Schule ſucht dieſe periodiſchen Umgeſtaltungen durch eine periodiſche Veränderung der äußeren Le— bensverhältniſſe zu erklären, indem ſie gleichzeitig annimmt, daß die verſchiedenen Grade der Umgeſtaltung von der verſchie— denen Intenſität dieſer äußeren Verände— rungen bedingt werden. (? Red.) Der Vortragende ſucht das Unzurei— chende dieſer Vorſtellungsweiſe nachzu— weiſen. Wir kennen die phyſikaliſchen Mo— mente, welche in der Jetztzeit den Charak⸗ ter der Lebewelt beſtimmen, und vermögen deren Effekt zu beurteilen. Wir kennen die Fauna des feſten Landes, des Süßwaſſers und des Meeres, die Fauna des Strandes und die Fauna der Tiefſee, die Fauna der Tropen und die Fauna der höheren Brei— ten. Wir wiſſen aber auch, welche Folgen eine Veränderung in den äußeren Lebens— verhältniſſen nach ſich zieht. Wenn ein trockener Landſtrich verſumpft, ſo verwan— Kleinere Mitteilungen und Jonrnalſchau. deln ſich keineswegs die xerophilen Pflan— zen in Sumpfpflanzen, ſondern die erſteren ſterben allmählich aus und die Sumpf— pflanzen wandern ein. Wenn ein Meeres— becken allmählich ausgeſüßt wird, ſo ent— ſteht die Süßwaſſerfauna keineswegs aus einer Umwandlung der Meeresfauna, ſon— dern die Meerestiere ſterben allmählich aus und die Süßwaſſertiere wandern all— mählich ein. Wenn das Klima in Europa allmählich kälter würde, würden ſich nicht die gegenwärtig daſelbſt lebenden Tiere und Pflanzen in arktiſche verwandeln, ſondern es würden diejenigen Arten, wel— che das rauhere Klima nicht zu vertragen vermöchten, ausſterben und dafür die ark— tiſchen Tiere und Pflanzen weiter nach Süden rücken. Wenn die Sahara durch eine Verän— derung der meteorologiſchen Verhältniſſe regelmäßige und ausgiebige Regen erhielte, ſo würden ſich gewiß nicht die jetzigen Wüſtenpflanzen in neue Pflanzenarten ver— wandeln, ſondern das ganze Gebiet würde durch einwandernde Mediterranpflanzen okkupirt werden; würden die klimatiſchen Verhältniſſe tropiſchen Charakter anneh— men, ſo würde ganz einfach die tropiſche Flora Sudans weiter nach Norden rücken. Alle dieſe Erſcheinungen laſſen ſich aber auch bei den foſſilen Faunen und Floren nachweiſen. Wir mögen jeden beliebigen geologi— ſchen Zeitabſchnitt in betracht ziehen, ſo finden wir darin Land-, Süßwaſſer- und Meeresbildungen, Strandbildungen und Bildungen der Tiefſee, Ablagerungen höhe— rer und Ablagerungen niederer Breiten, wir ſehen den Übergang von Meeresbil- dungen in Süßwaſſerbildungen, von Süß⸗ 205 Landes, und in vielen Fällen iſt es auch gelungen, Wanderungen der Faunen von Nord nach Süd, von Süd nach Nord nach— zuweiſen. Alle dieſe Veränderungen haben aber gar nichts mit jenen Veränderungen zu thun, durch welche die Unterſcheidung verſchiedener geologiſcher Stufen bedingt wird, nichts zu thun mit der Umwandlung der juraſſiſchen Fauna in die kretaziſche, der kretaziſchen in die tertiäre, und es folgt hieraus, daß dieſe Veränderungen in eine ganz andere Kategorie gehören und gar nichts gemein haben mit jenen, die durch einen Wechſel der äußeren Lebensverhält— niſſe hervorgerufen und bedingt werden. Man pflegt zwar häufig zu ſagen, daß die Umänderung der Fauna in eine an— dere, wie wir ſie von einer geologiſchen Epoche zur anderen finden, durch uns un— bekannte äußere Kräfte hervorgebracht werde; dieſer Ausſpruch iſt jedoch vom Standpunkte der exakten Naturforſchung durch gar nichts zu rechtfertigen. Wir können, auf dem Boden der Erfahrung ſtehend, nur ſagen, daß die Kräfte, welche die Umänderung hervorbrachten, uns un— bekannt ſind, ob es aber Kräfte der äuße— ren phyſiſchen Natur ſind, wiſſen wir nicht, da es ebenſogut innere phyſiologiſche Kräfte ſein können. 2. Koordinirtheit der Faunen und Floren der einzelnen geologi— ſchen Zeitabſchnitte. Wenn wir die Floren zweier verſchiedener Provinzen, et— wa Spaniens und Kleinaſiens, mit ein— ander vergleichen, ſo können wir in den— ſelben drei Elemente unterſcheiden: a. Eine große Anzahl identiſcher Arten. b. Eine ebenfalls große Anzahl voll— kommen heterogener Arten, welche zu ver— waſſerbildungen in Bildungen des feſten | ſchiedenen Gattungen gehören oder doch 206 feine nähere Verwandtſchaft zu einander zeigen. c. Eine kleine Anzahl vikariirender, d. h. ſolcher Arten, welche, ohne gerade ident zu ſein, ſich doch ſo nahe ſtehen, daß man ſie als Varietäten einer Grundart betrachten könnte. Genau daſſelbe finden wir aber, wenn wir die Faunen zweier unmittelbar auf⸗ einander folgenden geologiſchen Zeitab— ſchnitte, etwa die Fauna der erſten und zweiten Mediterranſtufe, oder des älteren und jüngeren Pliozäns mit einander ver⸗ gleichen. Auch hier finden wir eine große Anzahl identiſcher, eine große Anzahl he— terogener und eine kleine Anzahl vikari— irender Arten, und wir können es als all— gemeinen Grundſatz aufſtellen, daß die Faunen und Floren zweier aufeinander folgender geologiſcher Zeitabſchnitte ſich ähnlich verhalten wie Faunen und Floren zweier benachbarter tier- oder pflanzen⸗ geographiſcher Bezirke. Da nun aber die Faunen und Floren verſchiedener geographiſcher Bezirke als koordinirte Größen aufgefaßt werden und Niemand behaupten wird, daß die eine durch die Umwandlung einer andern ent⸗ ſtanden iſt, ſo muß man konſequenter Weiſe dieſe Vorſtellung wohl auch auf die zeit- Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. geſtreut vereinzelte Vorläufer der ſpätern Fauna. 5) An einem beſtimmten Zeitpunkte an⸗ gelangt, verſchwindet mit einemmal die große Mehrheit der bisher herrſchenden Typen und ebenſo raſch entfalten die bis— her gleichſam unterdrückt geweſenen Vor- läufer der neuen Zeit einen außerordent— lichen Formenreichtum. Die neue Fauna erſcheint daher durch— aus nicht als eine direkte Fortſetzung der vorhergehenden, die neuen Typen ſind kei— neswegs aus einer Umwandlung der Ty— pen hervorgegangen, welche in der vorher— gehenden Fauna die herrſchenden waren, die beiden Faunen ſcheinen ſich vielmehr aus gemeinſamer unbekannter Tiefe, wie aus gemeinſamer unbekannter Baſis neben⸗ einander zu erheben; ſie verhalten ſich auch hier wie zwei koordinirte Größen und kei— neswegs wie eine Stammform und eine abgeleitete Form. Dieſes iſt das Reſultat, wenn wir z. B. die Fauna der Tertiärzeit mit jener der meſozoiſchen Periode, oder wenn wir die meſozoiſche Fauna mit der paläozoiſchen ver⸗ gleichen. In beiden Fällen hat die jüngere lich auf einander folgenden Faunen und Floren anwenden. (So! Wo liegt da die Konſequenz? Red.) Wenn man die Faunen oder Floren größerer geologiſcher Zeitabſchnitte mit ein— ander vergleicht, um zu erfahren, wie ſich die ältere Fauna in die jüngere verwan⸗ delt, ſo findet man regelmäßig folgendes: a) Zwiſchen den herrſchenden charak— teriſtiſchen Typen der älteren Fauna finden ſich gleichſam unregelmäßig ein— Fauna der älteren gegenüber nicht den Charakter eines Umwandlungsproduktes, ſondern den Charakter einer Neubildung. (2 Red.) Die allgemein herrſchende Regel, daß neue Typen nach wenigen iſolirten Vor— läufern ſogleich eine große Mannigfaltig- keit an Gattungen und Arten entwickeln, iſt namentlich von Barrande zu wieder— holten Malen hervorgehoben worden, in— dem derſelbe zugleich betonte, daß dieſe Er— ſcheinung im direkten Gegenſatz zu den For— derungen der Darwinſchen Lehre ſtünden. Hier iſt nun der Punkt, wo von Seite U r Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. der Anhänger Darwin's ſtets auf die Un— vollſtändigkeit unſerer Kenntniſſe hingewie— daß bei fortgeſetzter Forſchung ſich die erforderliche Anzahl der Vorläufer ſchon finden werde. Der Vortragende wendet ſich nun mit Nachdruck gegen ein derartiges Vorgehen, indem er hervorhebt, wie vollſtändig unzu— läſſig eine derartige einſeitige und willkür— liche Korrektur unſerer Erfahrung ſei. Wenn ein Uhrmacher, der ein Uhrrad um die Hälfte zu klein gemacht, ſich dadurch zu helfen ſuchte, daß er das Rad mit einer Lupe vergrößerte, würde nicht Jedermann lächeln über einen ſolchen Akt der Selbſt— täuſchung? Und wird nicht trotzdem dieſe Selbſttäuſchung täglich von Seite der Dar— winiſten geübt, ſo oft es ſich darum han— delt, ſtatiſtiſche Diſſonanzen mit einander und mit den Forderungen die Lehre in Ein— klang zu bringen? Die künſtliche Vergrö— ßerung, welche man anwendet, beſteht in der Eskomptirung der noch zu erhoffenden Funde, man wendet dieſe künſtliche Ver— größerung aber nur auf der einen Seite an und redet ſich ein, man habe dadurch das Mißverhältnis aufgehoben, das erfor— derliche Gleichgewicht wieder hergeſtellt! (Welcher Vergleich! Red.) 3. Die behauptete Ergänzung des naturhiſtoriſchen Syſtems durch die Foſſilien. Der Vortragende beſpricht die allgemein adoptirte Anſicht, daß unſer naturhiſtoriſches Syſtem durch die Mitein— beziehung der Foſſilien ergänzt werde, und ſucht den Nachweis zu liefern, daß dies wohl in einem gewiſſen idealen Sinne, kei— neswegs aber im Sinne der Darwinſchen Lehre der Fall ſei. Verſteht man unter der Ergänzung des 207 Syſtems die Bereicherung desſelben durch b neue Typen, ſo iſt dies jedenfalls richtig. ſen wird, indem ſie die Überzeugung nähren, Verſteht man darunter jedoch den direkten Nachweis der wirklichen Stamm— formen, ſo iſt dies entſchieden unrichtig. Wenn wir die Huftiere betrachten, ſo iſt es allerdings richtig (alſo doch! Red.), daß durch die foſſilen Anchitherien, Ano— plotherien, Oreodonten ꝛc. viele Lücken teilweiſe ausgefüllt werden, welche die ge— genwärtig lebenden Huftiergruppen tren— nen, andererſeits iſt es aber ebenſo richtig, daß durch die Dinoceraten, Brontotherien, Sivatherien u. ſ. w. neue Typen gegeben wurden, welche ſich außerhalb der bekann— ten Huftiertypen ſtellen und ohne im Min— deſten irgend welche Lücke auszufüllen, im Gegenteile nur ihrerſeits neue Lücken ſchaffen. Dasſelbe Reſultat erhalten wir aber immer wieder, wir mögen welche Gruppe immer betrachten. Die weitaus überwiegende Mehrzahl der meſozoiſchen Typen, wie die Dino— ſaurier, die Dieynodonten, die Sauropte— rygier, die Ganoiden, die Ammoniten, die Belemniten, die Nerineen, Pleurotomarien 2c. ꝛc. füllen durchaus keine Lücken der gegenwärtigen Schöpfung aus, es ſind vielmehr neue Formen, neue Typen, wel— che, ohne welche Lücken auszufüllen, nur neue Lücken ſchaffen, neue Rätſel aufgeben. Daſſelbe zeigt in noch verſtärktem Maße die paläozoiſche Fauna. Wenn wir die ſogenannten Zwiſchen— formen, wie fie die früheren Schöpfungs— epochen uns liefern, näher ins Auge faſ— ſen, ſo ſtellt es ſich faſt regelmäßig her— aus, daß wir dieſelben nicht als die wirk— lichen direkten Vorfahren und Stammfor— men der jetzt lebenden Organismen be— Be 208 trachten können, ſondern daß dieſelben nur der problematiſchen gemeinſamen Stamm— form näher ſtehen als die betreffenden lebenden Formen und ſo gewiſſermaßen unſerer Phantaſie in dem Beſtreben, ſich ein Bild der wirklichen Stammform zu bilden, zur Hilfe kommen. Bei ideeller geiſtiger Auffaſſung des Syſtems erſcheint dies allerdings als ein großer Fortſchritt (wie ſo? R.), keineswegs aber vom Darwiniſtiſchen Standpunkt aus, der das naturhiſtoriſche Syſtem für einen wirklichen und reellen Stammbaum hält und unter den Foſſilien effektiv die wirk— lichen materiellen Glieder ſucht. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. die Darwiniſchen Erforderniſſe iſt jedoch durch dieſen Fund gar nichts gewonnen, denn nicht nur, daß man von den Gliedern a6 —a keines gefunden hat, ſtellt ſich viel— mehr noch die Notwendigkeit heraus, die Glieder bs, bs, b! nachzuweiſen, die An— zahl der fehlenden Glieder iſt demnach nicht verringert, ſondern vermehrt, die ef— fektive Lücke iſt nicht ausgefüllt, ſondern erweitert, die geſtellte Aufgabe nicht ver— kleinert, ſondern vergrößert worden. Da nun, wie bereits erwähnt, in der weitaus größten Mehrzahl der bekann— ten Fälle die neuen, vermittelnd auftreten— den foſſilen Typen nicht direkte Vorläufer, nicht Jugendformen und embryonale For— men der lebenden Organismen, ſondern vielmehr Miſchformen und Zwiſchenformen darſtellen, welche ſich gewiſſermaßen zwi— ſchen die bekannten Formenreihen hinein— ſtellen, ſo geht daraus hervor, daß unſer naturhiſtoriſches Syſtem durch die foſſilen A In beiſtehender Skizze ‘ möge a eine Stammform 41 bezeichnen, aus welcher ſich a ö B einerſeits durch al—a® die 97 > Form A, anderſeits durch 4 Ri jes bi, bo, b3 die Form B ent- a 1 zo: wickelt. 1 421 Stellen wir uns nun a 1 vor, daß X eine uns be⸗ kannte lebende Form vorſtellt, jo erwächſt uns nun die Aufgabe, unter den Foſſilien die Glieder as, ad, at, as, a?, an bis zur Stammform a zu ſuchen. Stellen wir uns nun weiter vor, daß wir thatſächlich keines dieſer Glieder, wohl aber die Form B finden, welche zwar kein direkter Vorfahre von A iſt, aber doch der gemeinſamen Stammform a näher ſteht als dieſes, was ergiebt ſich hieraus? Für das ideelle Bedürfnis iſt der Fund, die Form B, ein großer Fortſchritt, weil ſie der Stammform a näherſtehend uns der Vorſtellung derſelben näher führt“), für *) Wieſo ein großer Fortſchritt, wenn es nach dem Herrn Verfaſſer keine Stammformen giebt? Red. Organismen wohl in ideeller Richtung er— gänzt wird, daß jedoch im Darwiniſtiſchen Sinne die vorhandenen Lücken dadurch nicht ausgefüllt, ſondern vielmehr ins Un— endliche erweitert werden. (Das verſtehe, wer es kann! Neue Formen können wohl neue Lücken ſchaffen, aber doch die alten nicht erweitern. Red.) Zur Erläuterung weiſtder Vortragende auf die bekannte, meiſterhafte Arbeit Pro— feſſor Claus’ über den Stammbaum der Kruſtazeen hin. Prof. Claus“) hatte es verſucht, auf Grundlage der Unterſuchung der lebenden Kruſtazeen die Grundzüge eines Stammbaumes der Kruſtazeen zu entwerfen, und zog ſodann auch die foſ— ) Unterſuchungen zur Erforſchung der ge nealogiſchen Grundlage des Cruſtaceenſyſtems. Ein Beitrag zur Deszendenzlehre. Wien, 1876. ** denſelben Stützen für ſeinen Stammbaum zu finden. Was war aber das Reſultat da— von? Wir finden es auf Seite 103, und es lautet folgendermaßen: „Leider ſind wir freilich zur Erfor— ſchung der Abſtammung der Kruſtazeen auf die aus den jetzt lebenden Organismen gewonnenen Erfahrungen ſo gut als be— ſchränkt. Die foſſilen Kruſtazeenreſte, ſo groß auch die Fülle von Formen iſt, die uns von den älteſten, verſteinerungsfüh— renden Schichten bis zur Diluvialzeit vor— liegen, bieten für unſere Aufgabe erſtaun— lich ſpärliche Anhaltspunkte, nicht einmal ausreichend, um zur Kontrolle auf die Rich— tigkeit unſerer Ableitungen verwertet wer— den zu können. Auch auf dem Gebiete der Kruſtazeen tritt die Paläontologie neben Anatomie und Entwicklungsgeſchichte total in den Hintergrund.“ In ſeinem dritten Vortrage (am 17. Februar) ſprach Herr Th. Fuchs „Über die ſogenannten Mutationen und Zonen in ihrem Ver hältniſſe zur Entwicklung der organiſchen Welt“ und knüpfte dabei, um auf ein konkretes Beiſpiel einzugehen, an die bekannte, in den Schriften der Geologiſchen Reichs— anſtalt erſchienene Arbeit Profeſſor Neu— mayrs „Über unvermittelt auftretende Cephalopodentypen im Jura Mitteleuro— pas“, welche Arbeit in neuerer Zeit in einer anderen „Zur Kenntnis der Fauna des unterſten Lias in den Nordalpen“ eine teilweiſe Ergänzung gefunden hat. Nach einigen Vorbemerkungen, die kei— nen unmittelbaren Bezug zu dem Thema haben, bemerkte der Vortragende, daß dieſe Arbeit in dem Reſultate gipfle, daß wir im mitteleuropäiſchen Jura eine un- Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ſilen Formen heran, in der Hoffnung, in 209 unterbrochene, kontinuirliche Reihe von 33 verſchiedenen Faunen vor uns haben, von denen eine jede durch eine kleine Umände— rung der vorhergehenden entſtanden ſei, durch eine Umänderung, welche beiläufig den Wert einer ſogen. Mutation habe. Unvermittelt auftretende Typen wer— den als Einwanderer aus anderen Ent— wickelungsgebieten und mithin nur für lo— kale Erſcheinungen erklärt. Was für die Juraformation gilt, muß wohl auch in analoger Weiſe für die übrigen Formationen Geltung haben, und wenn bei denſelben auch bisher eine ähnliche, auf Mutationen gegründete Zoneneintei— lung noch nicht faktiſch durchgeführt wurde, ſo können wir doch die Anzahl der in ihnen enthaltenen Zonen nach Analogie der in der Juraformation nachgewieſenen inner— halb gewiſſer Grenzen abſchätzen. Ich habe dies nach einem, wie ich glaube, übertriebenen Maßſtabe gethan und erhalte dabei, vom Unterſilur ange— fangen bis zur Gegenwart, doch nicht mehr als 153 Zonen. 153 mal hat ſich alſo ſeit dem Silur bis zur Gegenwart die Fauna geändert und alles, was ſeit Beginn des Silur auf Erden gelebt hat, alles, was noch auf Erden von Organismen vorhanden iſt, alles dies muß ſich bei konſequenter An— wendung der leitenden Idee aus den Or— ganismen des Silur entwickelt haben, und zwar einfach dadurch, daß dieſe Organis— men 153 mal mutirten. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. Silur | Devon gn 40 m) Bas m Hl. 3 Jura 8 Heide. a Känozoiſche . . 20 153 27 210 Der Verfaſſer zeigt nun weiter, daß auch dieſe Zahl noch zu groß iſt und daß man, auf Neumayrs Prämiſſen weiter bauend, auf 70 oder gar auf blos 24 Mutationen komme, durch die ſich nach dieſer Anſicht die heutige Lebewelt aus der ſiluriſchen gebildet haben ſollte. Wir gehen aber nicht näher darauf ein, weil uns dieſer geſammte dritte Vortrag nur ein einziges großes Mißverſtändniß zu ſein ſcheint. Aber ein neues, äußerſtes Glied in der Neihe der amorphen Kohlenarken. Die Kohle als Überreſt organiſcher Weſen, namentlich von Pflanzen, findet ſich in den Schichten der Erde bekanntlich in ſehr verſchiedenen Stufen der Zerſetzung. Bei der langſamen Verweſung, wie ſie unter Waſſer oder in der Erde vor ſich geht, gehen zuerſt Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Stickſtoff fort, und das Endziel dieſes Prozeſſes würde ein mehr oder weniger reiner, von obigen Stoffen freier Kohlen— ſtoff ſein. Man unterſcheidet in populärer Ausdrucksweiſe drei Hauptgruppen, die man Braunkohlen, Steinkohlen und An— thrazite nennt, unter denen ſich aber Über— gänge aller Art finden, ſo daß man eigent— lich viel mehr Stufen unterſcheiden müßte. Es iſt natürlich, daß die älteren Kohlen— lager weiter vorgeſchrittene Zerſetzungs— produkte, d. h. kohlenſtoffreichere Kohlen enthalten müſſen, die ihre ehemalige Struk— tur vollkommener eingebüßt haben, als die jüngeren, und daher findet man in der Tertiärformation, in den Kreide- und Jura— ſchichten die noch deutliche Holzſtruktur zeigenden Braunkoͤhlen, in den permiſchen und karboniſchen Schichten die dichteren | | | 2 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Steinkohlen, in den karboniſchen, devoni— ſchen und ſiluriſchen Schichten dagegen Anthrazite, die älteſten bisher bekannten amorphen Kohlen. Natürlich iſt dieſe Al— tersklaſſifikation keine bindende, denn je nach der Lokalität und den Umſtänden kann hier oder da eine ſchnellere oder langſamere Karboniſirung vor ſich gegangen fein, und ſo kommen bisweilen Anthrazite in karboni— ſchen Schichten, und Steinkohlen in den gewöhnlich nur Anthrazite enthaltenden älteren Schichten vor. Eine wohl unterſcheidbare noch ältere Modifikation iſt nun neuerdings an den nordweſtlichen Ufern des Onegaſees von A. Inoſtranzeff unterſucht und charak— teriſirt worden, worüber wir einem Be— richte im „Neuen Jahrbuch für Minera— logie, Geologie und Paläontologie“ (1880, I, S. 97) das folgende entnehmen. Man hatte von dort eine ſogenannte „ſchwarze Olonezer-Erde“ in den Handel ge— bracht und Anſtalten getroffen, die vermeint— lichen Steinkohlenlager auszubeuten. Bei einer genaueren Unterſuchung der Profile fand nun Inoſtranzeff, daß die dort an— ſtehenden Thonſchiefer zur huroniſchen For— mation gehören, was der von ihnen ein— geſchloſſenen, vermutlich von den älteſten organiſchen Weſen herrührenden Kohle ein um ſo höheres wiſſenſchaftliches Intereſſe verlieh. In der That entſpricht ſie nach ihren phyſikaliſchen und chemiſchen Eigen— ſchaften den Vorausſetzungen, die man einer ſo alten Kohle gegenüber hegen mußte. In den reinſten Proben zeigt ſie einen ſchwarzen, diamantartigen Metall— glanz, der ſich ſelbſt durch ein Erhitzen bis zur dunklen Rotglut nicht verliert und nach einer Behandlung mit ſchwacher Salzſäure nur noch eklatanter auftritt. Dieſe Kohle ) Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 211 beſitzt ferner eine überraſchende, zwiſchen 3 ½ und 4 in der Skala ſtehende Härte, ſo daß ſie isländiſchen Spath mit Leichtig— keit ritzt. Das ſpez. Gewicht wurde — 1,841 gefunden. Unter ihren chemiſchen Eigenſchaften fällt am meiſten die ſchwere Verbrennlich— keit auf. Ein Gramm gepulverter Probe war in einem offenen Tiegel über einem Gasbrenner erhitzt, erſt nach neun Stun⸗ den völlig verbrannt, während ein gleich— ſchweres Stück dichten Graphits unter den— ſelben Umſtänden ſchon in 3 ½ Stunden verbrennt. Die chemiſche Analyſe ergab eine Zuſammenſetzung der friſchen Kohle reinſter Qualität aus 90,50 % Kohlen— ſtoff, 0,40% Waſſerſtoff, 0,41% Stick⸗ ſtoff, 1,01 %ĩ” Aſche und 7,76% Waſſer. Der Kohlenſtoffgehalt der völlig ausge— trockneten Kohle wurde durch Verbrennung in trockenem Sauerſtoff auf 98,11% be— ſtimmt. Durch dieſen Kohlenſtoffreichtum bei bedeutend vermindertem Waſſerſtoff— gehalt, ſowie durch die Anweſenheit von Stickſtoff und das Fehlen von Sauerſtoff unterſcheidet ſich die Olonezer Kohle von | allen bisher unterſuchten Kohlenarten, auch den kohlenſtoffreichſten Anthraziten. Im Kohlenſtoffgehalt dem Graphit nahe— kommend, weicht ſie von dieſem in ihrem chemiſchen Verhalten durchaus ab. Sie liefert nämlich bei Behandlung mit oxydi— renden Mitteln durchaus keine Graphit— ſäure, ſondern verhält ſich wie gewöhn— licher amorpher Kohlenſtoff. Auch die genauere Vergleichung ihrer phyſikaliſchen Eigenſchaften mit denen des Anthrazits und Graphits ergab, daß ſie ſich ſowohl von der kohlenſtoffreichſten amorphen Kohle, dem Anthrazit, als von dem kriſtalliniſchen Graphit weſentlich un— 1 —— terſcheidet. In der Härte übertrifft ſie | ſehr erheblich beide, denn die Härte des Anthrazits überſteigt nicht 2 — 2,5, die des Graphits iſt noch geringer (1 — 2). Nach ihrem ſpezifiſchen Gewichte und der Leitungsfähigkeit für Elektrizität ſteht ſie dem Graphit näher als dem Anthrazit. Nach allen Richtungen ſtellt ſo die Olonezer Kohle ein höchſt merkwürdiges äußerſtes Glied in der Reihe der bis jetzt be— kannten Kohlen organiſchen Urſprungs dar. Konſtante Hkafaridenbildung des Gehäuſes bei einer Landſchnecke und regelmäßige Vererbung dieſer Eigen— ſchaft bei ihrer Nachkommenfchaft. Von einem ganz wunderbaren Faktum haben uns die Herren H. Blanc und C. A. Weſterlund in ihrem ſoeben erſchiene— nen „Apergu sur la faune malacologique de la Grèce, Naples, 1879, p. 32“ Nach— richt gegeben. Sie beſchreiben daſelbſt als fragliche Subſpezies von Patula ru- pestris Drap., einer auch in Deutſchland in Kalkgebieten häufigen kleinen Schnecken— art, eine konſtant ſkalarid auftretende He— licee unter dem Namen chorismenostoma Blanc. Dieſe Form wird vom Berg Ma— coleſſos in Böotien, wo fie ſich in Maſſe finde, und von der Inſel Syra aus der Um: gebung des Dorfes St. Georgios ange— geben. Ich war vor wenigen Tagen ſo glücklich, von der eifrigen Naturforſcherin Frl. Joſéphine Thieſſe in Chalkis, der Entdeckerin dieſer Form am erſtgenannten Fundorte, ein ganzes Glas voll (50 Expl.) dieſer wunderbaren Schnecke zu erhalten, und ich kann nach eingehendſter Prüfung derſelben nur beſtätigen, daß die Herren N 212 Blanc und Weſterlund richtig geſehen haben, d. h. daß die vorliegende Schnecke in der That zu Pat. rupestris Drap. ge— hört, und daß ſie als konſtante Skalaride aufgefaßt werden muß. Bei allen vorlie— genden Stücken vom Berg Macoleſſos iſt nämlich der letzte Umgang der Schale nach Art der Gattung Vermetus weit abgelöſt, vollkommen röhrenförmig, und die Schnecke iſt mithin als echte und zweifelloſe Ska— laride zu betrachten. Vergeſſen dürfen wir nicht, daß ſchon Roth in feinem Spicilegium Moll., Mün- chen, 1855, p. 7 auf dieſe in Attika nicht gar ſeltene Abnormität aufmerkſam macht; aber daß dieſelbe an gewiſſen Lokalitäten kon— ſtant und ohne Vermiſchung mit der Stamm— form auftritt, daß ſie ſeit Jahren von Ge— neration zu Generation ſich erneut, daß mithin die bis jetzt allgemein für patholo— giſch gehaltene ſkalaride Gehäuſebildung ſich unter Umſtänden vererbt, iſt neu und angeſichts des Hilgendorff-Sandberger— ſchen Streites über die Planorbiden des Steinheimer Beckens und ſeine wirklichen und vermeintlichen Skalaridenformen ge— wiß nicht blos von theoretiſchem Intereſſe! Schon v. Ihering kam zu der An— ficht *), daß es ſich in den Steinheimer Ska— lariden nicht um Mißbildungen im Sinne S. Cleſſins, die ihre Form niemals den Nachkommen vererben ſollten, handelt, ſon- dern um echte, durch Übergänge verbun dene, aber in beſtimmten Schichten mehr oder minder ſtark fixirte Varietäten einer einzigen Spezies. Unſer von Frl. Thieſſe zuerſt beobachteter Fall der konſtanten erb— lichen Skalaridenbildung läßt ſomit von Iherings Vermutung als eine durchaus ) Amtl. Bericht der 50. Verſ. d. Naturf. München, 1877, S. 159. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. gerechtfertigte und folgenreiche Thatſache erſcheinen. Es muß allerdings zugegeben werden, daß an zwei der genannten Fundorte, in Attika (Roth) und auf Syra (Blanc) ge— legentlich auch typiſche Stücke von Pat. rupestris unter den Skalariden vorkom— men, aber könnte das nicht ſehr einfach als ein Rückſchlag in die urſprüngliche Art zu deuten ſein? Auf dem Macoleſſos dagegen lebt die Form ſicher nur ſkalarid in tau— ſenden von Stücken ohne jede Miſchung mit normalen Exemplaren. Über die näheren Verhältniſſe des Vorkommens dieſer intereſſanten Schnecke ſchreibt mir Frl. Thieſſe d. d. 30. März 80 Folgendes: „Je ne puis pas attribuer à aucune cause quelconque la difformite des Pa- tula rupestris du Mt. Macolessos. Pour mon compte je ne crois pas que ce soit une difformite; puisque tous les indivi- dus sont pareils. Ce n'est donc pas un hasard! Je les trouve dans un ravin du Mt. Macolessos. Elles ne sont pas collées sur les rochers comme les autres Pat. rupestris (normales), mais collees au dessous des pierres comme les Pupa rhodia Roth. Exposition nord; hauteur 500-600 metres du niveau de la mer.“ An eine jedesmal von Neuem wirkende Urſache, welche die Loslöſung des letzten Gehäuſeumgangs verurſachen könnte, iſt natürlich ebenſowenig zu denken, wie an den Fall, daß die normalen Stücke der Schnecke vor ihrer vollkommenen Entwicke— lung ſämmtlich zu Grunde gegangen ſein ſollten. Bleibt demnach nur die einzige Möglichkeit, daß in der That die vorlie— gende Skalaridenform auf dem Wege iſt, eine neue Spezies zu bilden, und daß Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ſie ihre ſo auffallende Eigentümlichkeit nun ſchon ſeit wenigſtens einem Vierteljahr— hundert konſtant vererbt. Ich zweifle nicht daran, daß Pat. rupestris chorismeno- stoma dazu berufen iſt, der Lehre von der Unmöglichkeit der Vererbung urſprünglich pathologiſcher Bildungen einen gründlichen Stoß zu verſetzen.“) Frankfurt a. M. Dr. O. Boettger. Die Olegoſaurier. Marſh vor kurzem (American Journal of Science, March 1880) einige inter- eſſante Einzelheiten veröffentlicht, aus de— nen wir das folgende entnehmen: Unter den Charakteren, welche die ty— piſche Gattung Stegosaurus von allen an- deren bekannten Dinoſauriergruppen un— terſcheiden, ſind bisher die folgenden auf— gefallen: 1. Alle Knochen des Skeletts ſind ſolid. 2. Das Oberſchenkelbein iſt ohne dritten Rollhügel. 3. Der Kamm an dem äußern Höcker des Oberſchenkelbeins, wel— cher bei den Vögeln den Kopf vom Schien— und Wadenbein trennt, iſt rudimentär oder fehlend. 4. Das Schienbein iſt mit den angrenzenden Fußwurzelknochenenden ver— knöchert. Der Schädel der Stegoſaurier iſt, ſoweit bekannt, merkwürdig klein. In ſei— nen hauptſächlichſten Zügen ſtimmt er mit *) Für etwaige Intereſſenten bemerke ich, daß das Naturhiſtoriſche Inſtitut „Linnaea“ in Frankfurt a. M. zahlreiche Exemplare der ge— nannten Schnecke auf Lager hält und ſie zum geben in der Lage iſt. **) Vgl. Kosmos, Bd. VI, ©. 388. 213 dem der Brückeneidechſe (Hatteria) von Neuſeeland näher überein, als mit dem irgend eines andern Reptils. Die Quadrat- beine waren fixirt und ein Quadratjoch— bogen vorhanden. Die Kinnladen waren kurz und maſſig. Über das Gehirn der Dinoſaurier war bisher wenig bekannt, aber glücklicher— weiſe war bei einem Exemplar des Stego- saurus die Gehirnkapſel wohl erhalten und anſcheinend ohne Verzerrung. Die nachſtehenden Figuren zeigen die betreffen— den Teile des Schädels mit einem Abguß Über dieſe vor einigen Jahren neu— entdeckte Dinofauriergruppe**) hat O. C. des Gehirnes darin und darunter in der Seitenanſicht. Das Gehirn dieſes Reptils war ſtark verlängert und ſeine am meiſten auffallenden Züge beſtehen in der großen Ausdehnung der Sehhügel (op) und den kleinen Hemiſphären des Vorderhirns (c). Die letzteren übertrafen im Querdurch— meſſer nur wenig den des verlängerten Markes (m). Das Kleinhirn (ob) war ganz klein. Der Sehnerv (on) entſpricht in ſei— ner Größe der der Sehhügel. Die Riech— lappen (ol) waren von bedeutender Größe. Als Ganzes war dieſes Gehirn mehr ei— dechſen- als vogelartig. Intereſſant iſt die Vergleichung mit dem Gehirn eines jun— gen Alligators, welches dem hier abgebil— deten ähnlich iſt, nur daß das Großhirn bedeutend an Breitenausdehnung zugenom— men hat. Das Maſſenverhältnis beider Gehirne auf ungefähr gleichgroße Tiere abgeſchätzt, ergiebt, daß die heutigen Alli— gatoren ein ungefähr hundertmal größeres Gehirn haben, als die Stegoſaurier im Verhältnis zu ihrer Körpergröße. Im Ver— gleich zu Morosaurus und andern Dino— eden e e ab | ſauriern, die Marſh unterſuchen konnte, beſaß Stegosaurus unter allen bis jetzt bekannten foſſilen und lebenden Land— 214 wirbeltieren, imBerhältnis zu ſeinerͤKörper— größe, daskleinſte Gehirn. Es brauchtnicht daran erinnertzu werden, daß dieſe beſonders an den Großhirnlappen — die hier dieſen Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Namen nicht verdienen — hervortretenden Erſcheinungen auf das ſchönſte mit den von MarſhaufgeſtelltenGeſetzen über das Ge— hirnwachstum in der Zeit übereinſtimmten. A. von oben, B. von der Seite geſehen. ol Riechlappen, e Großhirn, op Sehhügel, on Sehnerv, cb Kleinhirn, m verlängertes Mark, f Augenhöhlen, k“ Schläfengruben, oc Hinterhauptshöcker. Die Zähne des Stegosaurus waren | tilien ſehr ſchnell abgenutzt und durch ſehr zahlreich und von meiſt langer Die Kronen ſind cylindriſcher Form. meiſt in der Quere zuſammengedrückt und mit dünner Emaille bedeckt. Die Kinn— lade enthält nur eine einzelne Reihe von in Gebrauch befindlichen Zähnen, aber daneben mehr Erſatzzähne, als je— mals bei einem Reptil beobachtet wurden. Fünf Erſatzzähne in verſchiedenen Ent— in der Höhle gefunden, in welcher die Wurzel des im Gebrauche befindlichen Zahnes ſteckte. Sie wurden, wie es ſcheint, von dieſen pflanzenfreſſenden Rep⸗ durch neue erſetzt. i Die Wirbel find ſämmtlich beider: ſeits, wenn auch nur leicht, an der Gelenk— fläche ausgehöhlt und alle ohne Luft- oder Markhöhlungen. Zum Teil ſind ſie mit langen Rückendornen verſehen, und na— mentlich ſcheinen die vordern Schwanz— wirbel eingerichtet geweſen zu ſein, einen ſchweren Hautpanzer zu tragen. Die Zahl wicklungszuſtänden wurden in einem Falle der Kreuzbeinwirbel konnte bei obiger Art nicht feſtgeſtellt werden. Die Vorderbeine waren ſehr kräf— tig und verſchiedenen Bewegungsarten an— 9 Vgl. Kosmos, Bd. II, S. 421. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 215 gepaßt; der Schultergürtel vom echten ähnlichen vor mehreren Jahren in Eng— land gefundenen Dinoſaurier (Omosau— Dinoſauriertypus. Von Becken und Hinterbeinen, die nicht vollſtändig vorhanden ſind, ſcheint, Oberſchenkelbein iſt bei weitem der größte Knochen im ganzen Skelett. Es iſt be— merkenswert lang und ſchlank und in ſei— nen Endbildungen ſowohl den Vögeln als den Dinoſauriern ähnlich. Auch die Unter— ſchenkelknochen zeigen mancherlei Analo— gien mit dem Vogeltypus. Eine der merkwürdigſten Eigentüm— lichkeiten des Stegosaurus bildet die Rei— henfolge von Verknöcherungen ſeines An— griffs- und Schutzpanzers. Dieſelben be— ſtehen aus zahlreichen Dornen, zum Teil von bedeutender Größe und Macht und aus vielen Knochenplatten von verſchieden— artiger Größe und Geſtalt, wohlgefügt, um das Tier gegen Angriffe zu ſchützen. Einzelne dieſer Platten haben einen Meter Durchmeſſer. Die Dornen waren von ver— ſchiedenen Geſtalten und variirten ſehr in der Größe. Einige derſelben ſind mehr als zwei Fuß lang. Dieſe Dornen zeigen eine runzlige, ſchiefe Baſis, und ihre Sei— ten ſind mit Gefäßeindrücken und Gruben verſehen, ähnlich den knöchernen Gehörn— kernen der Huftiere. Sie waren augen— ſcheinlich mit einer hornigen Subſtanz be— deckt und bildeten bei Lebzeiten eine ſehr mächtige Waffe. Von den größeren Dor— nen ſind neun bei einem Skelett gefunden worden, daneben mannigfache kleinere. Möglich, daß ſie einen Kamm auf dem mit breiten Schildern beſetzten Rücken gebildet haben, wie man es bei einigen anderen Dinoſauriern angenommen hat. Jedenfalls ſcheinen viel mehr Panzerplatten, als Dor— nen vorhanden geweſen zu ſein. Bei einem rus) hat Owen angenommen, daß die wenigen daſelbſt gefundenen Dornen an ſoweit erkennbar, daſſelbe zu gelten, das der Handwurzel befeſtigt waren. Dieſes Tier war im übrigen ſo ähnlich gebaut, daß es wahrſcheinlich mit zu den Stego— ſauriern gerechnet werden muß, doch weiß man nicht, ob es ebenfalls Hautſchilder beſaß. Die beiden bisher bekannten Stego- saurus- Arten waren ungefähr dreißig Fuß lange Pflanzenfreſſer und wahrſchein— lich mehr oder weniger Waſſertiere. Es wäre möglich, daß der Unterſchied zwiſchen beiden Arten nur ein ſexueller wäre, da nur bei dem Skelette der einen Art Dor— nen gefunden worden ſind. Das Mißverhältniß in der Länge der Vorder- und Hinterbeine war bei Stego— saurus wahrſcheinlich größer, als bei ir— gend einem andern bekannten Dinoſaurier und läßt annehmen, daß ſie bei ihren Be— wegungen am Lande mehr oder weniger zweibeinig geweſen ſind. Die ſehr kurzen, mächtiger, freier Bewegung fähigen Vor— derglieder mögen wohl bewaffnet mit Dornen und höchſt wirkſam zur Verteidi— gung geweſen ſein, der Rücken war augen— ſcheinlich ebenſowohl mit Angriffs- als mit Schutzwaffen verſehen. Auf dieſe Weiſe muß Stegosaurus bei Lebzeiten von allen bisher entdeckten Dinoſauriern bei weitem den ſeltſamſten Anblick dargeboten haben. Die Überbleibſel der hier beſchriebe— nen Tiere ſtammen ſämmtlich aus den At- lantoſaurus- Schichten des oberen Jura von Kolorado und Wyoming. Durch ihre Auffindung haben Arthur Lakes, W. H. Reed und S. W. Williſton der Wiſſenſchaft wichtige Dienſte erwieſen. 216 Prfiozän-Sirfche im oberen Arnolhale. In einer der vorjährigen Sitzungen der Societä Toscana di Scienze Naturali führte Dr. C. J. Forſyth Major folgende Pliozän-Hirſche als im oberen Arnothale vorkommend an: 1. Cervus (Eucladoceros) Sedgwickii Fal c.-C. dicranius Nestii M. S. S. 2. Cervus ctenoides N estii, ähnlich dem C. tetraceros Dawkins im Pliozen von Seyrolles (Puy de Dome) 3. Cervus Perrieri Croiz. e Job. 4. Cervusetuariarum Croiz.eJob.? 5. Cervus Nestii F. Major. 6. Cervus Nestii F. Major (neue Spezies?) und ſchließt nachſtehende all— gemeine Betrachtungen daran an: Der Parallelismus zwiſchen der onto— genetiſchen und phylogenetiſchen Entwick— lung der Hirſche, wie er von Gaudry und Boyd Dawkins nachgewieſen wurde“), macht es zuweilen ſchwer, zu entſcheiden, ob eine gewiſſe Art von Geweih eine er— wachſene oder eine junge Form konſtituirt. So iſt z. B. der C. Sedgwickii Falc. des Foreſtbed aller Wahrſcheinlichkeit nach nur eine nicht erwachſene Form von C. diera- nius Nestii im florentiner Muſeum, ſowie das am ſelben Orte aufbewahrte Geweih, welches B. Dawkins dem C. etuariarum zuſchreibt, weiter nichts ſein könnte, als eine nicht ausgewachſene Form von G.“ Perrieri Cr. et Job. oder von C. Nestii F. Major. *) Anm. d. Red. Dieſelben haben bekannt⸗ lich gezeigt, daß die älteſten Cerviden, in denen noch Hirſch und Antilope verſchmolzen waren, ein ſehr einfaches Gehörn beſaßen, welches ſich nur an der Spitze einfach gabelte und nicht regel- mäßig abgeworfen wurde, weshalb es auch die Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Die Hirſche mit ſehr komplexem Ge— weih, d. h. C. dicranius und C. etenoides kommen hauptſächlich aus der Umgegend von Figline (oberes Arnothal), die mit ein— facherem Gehörn (C. Perrieri, Nestii etc.) meiſtens von San Giovanni und Monte— varchi. Da die einfach gehörnten Hirſche in der geologiſchen Folge zuerſt erſcheinen, ſo iſt es nicht unmöglich, daß die Ablage— rungen der Umgegend von Figline, woher die Überreſte der genannten Hirſche her— rühren, erheblich jünger ſind, als die der Umgegend von San Giovanni und Monte— varchi, der Fundſtätte des C. Perrieri; dieſe Annahme wird auch durch andere Thatſachen bekräftigt. Um Mißyverſtändniſſe zu vermeiden, muß jedoch hervorgehoben werden, daß die Fauna der C. dieranius und ctenoides jedenfalls der quaternären vorhergeht; wie andrerſeits die Fauna von C. Perrieri uns bedingt nach der von Kaſino kommt. Die pliozänen Hirſche, deren Geweihe 3 und 4 Spitzen beſitzen, gehören alſo, ſo— viel man nach dem Gehörn urteilen kann, zur Gruppe der heute in der öſtlichen Re— gion (nach Wallace) lebenden Hirſche, d. h. zur Gruppe der Axis, Russa, C. ta&vanus C. manchurius. Boyd Dawkins ſchließt daraus, daß die öſtliche Region den Axidae eine ſichere Zuflucht vor jenen Veränderun— gen gewährt habe, welche ſie zwangen, ſich von Europa zurückzuziehen. Man kann jedoch noch zwei andere Fälle annehmen: bekannte Roſe am Grunde nicht beſaß. Bei etwas jüngeren Hirſchen wurden dann anſcheinend nur die Spitzen abgeworfen und es blieb ein langer Fuß ſtehen, auf dem ſich die Spitze ergänzte, worauf ſchließlich von den Nachkommen das geſammte Geweih abgeworfen wurde. Be Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 1. daß zur Pliozänzeit auch in der öſtlichen Region bereits dieſe Hirſchgruppe exiſtirt habe, von der die heute lebenden Abkömmlinge ſeien. Daß man ſie bisher noch nicht in der öſtlichen Region gefunden, iſt von keinem großen Werte als Wider— legung dieſer Annahme. 2. daß die Axidae der europäiſchen Pliozäns, wie die heutigen Axidae der öſt— lichen Region, ſich unabhängig die einen von den andern entwickelt haben, von Stäm- men, die vielleicht unter ſich verſchiedener waren, als es ihre Endprodukte ſind. So z. B. wurden von Marſh in Nordamerika 40 Intermediär-Arten gefunden, welche den Übergang vom Eohippus des unteren Eozens zum quaternären Equus zeigen. Andrerſeits beſitzen wir in Europa vom Mittel-Eozen an eine in den älteren Ablage— rungen weniger vollſtändige, aber in den rezenteren gewiß nicht weniger kontinuir— liche Serien, ohne daß man bisher eine Identität in den Gattungen hätte konſta— tiren können, ausgenommen am Endaus— lauf einer jeden Serie, welchen das Genus Equus bildet. — Ein Paläontologe, der zur mittleren Miozänzeit kontemporän in Europa mit dem Anchitherium, in Amerika mit dem Miohippus gelebt hätte und der ſich über die Glieder, welche dieſen beiden Gattungen in ihrer betreffenden Serie vorausgehen, Rechenſchaft abgelegt hätte, würde haben vorausſagen können, daß eine Zeit kommen würde, — wenn die in den vorhergehenden Epochen begonnenen Übergänge in derſelben Richtung ſich wei— ter entwickeln, d. h. einerſeits die Reduk— tion der ſeitlichen Metatarſen und Meta— karpen (zugleich mit der größeren Entwick— lung der mittleren Metakarpen und Meta- nannte Läufigkeit oder Menſtruation natur— tarſen), andrerſeits die größere Verlänge— den Erſcheinungen: 217 rung des Körpers der Molare, zuſammen mit den Modifikationen in der Faltung der Glaſur u. ſ.w. — wo ſich gewiſſe Formen entwickeln würden, die auch in der that nach dem Mittelmiozän gelebt haben, und die wir Hipparion, Equus Stenonis, E. caballus in Europa — Protohippus, Plio- hippus, Equus curvidens u. ſ. w. in Ame— rika nennen. In derſelben Weiſe können wir heute vorausſetzen, daß wenn den heutigen Vertretern der Gattung Equus hinreichende Zeit gelaſſen wird, die beiden ſeitlichen Metakarpen und Metatarſen immer mehr abnehmen werden, bis ſie nicht mehr ge— trennt exiſtiren, ſondern nur noch in ihren Proximalteilen vorhanden, vollſtändig mit dem mittleren Metakarpus und Meta— tarſus verſchmolzen ſein werden und in— folge deſſen weitere Veränderungen in den Karpus- und Tarſusknochen ſtattfin— den werden. Das vergleichende Studium ähnlicher Parallelformen in zwei Regionen und in Epochen, in denen man die Emigrations— möglichkeit aus der einen in die andere ausſchließen kann, wie im alten Tertiär Europas und Nordamerikas, wird uns mit der Zeit beſſer, als wir es heute wiſſen, leh— ren, welche Charaktere einer gewiſſen Form prädeſtinirt ſind — wenn es erlaubt iſt, dieſen einigermaßen kompromittirten Ausdruck in der Wiſſenſchaft anzuwenden und welche aceidentell erworben wurden. Eine Vankloffeln ſäugende Hündin. Meine anderthalbjährige Hühnerhün— din „Leda“ überraſchte mich mit folgen— Schon zweimal habe ich bemerkt, daß dieſelbe, unbegattet, zu der auf die ſoge— _—— —— Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 218 gemäß folgenden Wurfzeit Milcheinſchuß bekommt und dann ſehr unruhig wird. Hiernach iſt der Milcheinſchuß unabhängig geworden von der Entwickelung der Em— bryonen, hält ſich aber an deren, in der Gewohnheit des mütterlichen Organismus gleichſam imaginär liegenden, Erſchei— nungsfriſt. Vor einigen Wochen fand erſt wieder ein ſolcher wurfzeitlicher Milchein— ſchuß ſtatt, der von intereſſanten pſychiſchen Vorgängen begleitet war. Die Hündin war gegen Menſchen ſehr liebebedürftig, aber bös gegen andere Hunde, was man ihr ſonſt entſchieden nicht nachſagen kann; be— ſchäftigte man ſich nicht mit ihr, ſo konnte man es vor dem ewigen Gewinſel gar nicht aushalten. und auf ihren Lieblingsplatz am Ofen legte Auf den Stubenboden fie ſich nicht mehr, verlangte dagegen wei- che Unterlage, was ſie dadurch zu erkennen gab, daß ſie auf eine wollene Decke, ſonſt nur als Nachtlager dienend, oder gar in die Betten ſich zu legen unterſtand. Dem Tiere thuen die angeſchwollenen Milch- drüſen auf dem harten Boden weh, dachte ich, und würde dieſen Erſcheinungen keine weitere Aufmerkſamkeit zugewendet haben, hätte ich nicht plötzlich eine Manie an der Hündin wahrgenommen, ein altes Fuchs— fell zu lecken, zu flohbeißen und auf ihr | Lager zu ſchleppen. Dasſelbe geſchah mit Taſchentüchern und andern weichen, trans— portablen Gegenſtänden, wie Abwiſchlap— pen, Filzpantoffeln, Strümpfen und ähn— lichen in Haushaltungen vorkommenden Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Dingen. Auch den übrigen Perſonen fiel dies veränderte Benehmen Leda's ſehr auf. Eines Morgens entdeckte ich aber, daß genannte Gegenſtände mit dem Maule an die Zitzen geſchoben wurden und, da ſie nicht ſaugen wollten, ſo leckte die Hündin ſich ſelbſt ſo lange, bis etwas Milch her— vortrat. Alle Prozeduren, wie fie die Mut— ter mit jungen Hunden vornimmt, wurden von der niemals Junge geworfen habenden Hündin mit ein Paar Filzpantoffeln aus— geführt; namentlich war das Verlangen augenſcheinlich, die imaginären Kinder ſau— gen zu lehren und durch Lecken zur Von— ſichgabe der Loſung zu bewegen, welche, ſo lange die Jungen ſaugen, bekanntlich von der Hündin gefreſſen wird. Daß wir es hierbei nicht mit einem am Individuum, ſondern an der kontinuirlichen Art haften— den Phänomen zu thun haben, liegt auf der Hand. Das ganze merkwürdige Ge— baren muß als erbliche Gewohnheit auf— gefaßt werden, geknüpft an die reguläre Fortpflanzungsart und Jungenbehandlung des Stammes, bei dem in der Freiheit ein Nichtbelegtwerden und Nichtwerfen einer Hündin wohl gar nicht vorkommt. Auch bei den Vögeln kommt etwas Ana— loges vor, bezüglich deſſen ich auf meine eben im Verlage dieſer Zeitſchrift erſchie— nene Abhandlung über „Die Neſter und Eier der Vögel in ihren natürlichen Be— ziehungen“ zu verweiſen mir erlaube. Mainz. Wilhelm von Reichenau. Literatur und Kritik. Gafton Vonniers angebliche Wider— legung der modernen Blumenkheorie.“ n zahlreichen Aufſätzen des Kosmos iſt die Sprengel-Darwinſche Blumen— theorie als eine wohlbegründete dar— geſtellt und ſind die mannigfachſten Rätſel der Blumenwelt auf grund derſelben zu löſen verſucht worden. Wenn daher plötz— lich ein umfaſſendes Werk erſcheint, deſſen Verfaſſer den Anſpruch erhebt, auf grund vieljähriger biologiſcher Beobachtungen be— wieſen zu haben, daß dieſe ganze Theorie weiter nichts als ein Phantaſiegebilde ſei, daß Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und Inſekten überhaupt gar nicht exiſtiren, ſo können die Leſer dieſer Zeitſchrift gewiß mit Recht verlangen, mit den Thatſachen und Schlüſſen, auf die der Gegner ſich ſtützt, ſoweit bekannt gemacht zu werden, daß ihnen dadurch ein eigenes Urteil über die Stichhaltigkeit derſelben ermöglicht wird. Das Gaſton-Bonnierſche Werk zerfällt in einen kritiſchen, einen anatomiſchen und einen phyſiologiſchen Teil. Da ſich von ) Les Nectaires, étude critique, ana- tomique et physiologique par Gaston Bon- nier, maitre de conférences à l’Ecole nor- dieſen drei Teilen nur der erſte mit der modernen Blumentheorie beſchäftigt, ſo haben wir es hier ausſchließlich mit ihm zu thun. In dieſem Teile giebt der Ver— faſſer zunächſt einen geſchichtlichen Über— blick über die bis jetzt veröffentlichten Un— terſuchungen und Erklärungsverſuche und unternimmt es endlich, dieſelben durch ei— gene Beobachtungen und Verſuche zu wi— derlegen. Um aber zunächſt den Geſammt— eindruck dieſes „kritiſchen“ Teiles zu bezeichnen und thatſächlich zu begründen, ſo muß leider geſagt werden, daß es wohl ſchwer ſein dürfte, in der geſammten wiſ— ſenſchaftlichen Literatur einkritikloſeres Machwerk, einen größeren Gegenſatz zwi— ſchen eingebildeter und wirklicher Leiſtung, zwiſchen Anmaßung und Erfolg ausfindig zu machen. Der geſchichtliche Überblick läßt erken— nen, daß der Verfaſſer ſich mit den wich— tigſten, die moderne Blumentheorie betref— fenden Arbeiten hinreichend eingehend be— kannt gemacht hat. Seine Darſtellung dieſer Theorie aber zeigt, daß er von dem Weſen derſelben, ſowie von dem der Se— male supérieure. (Extrait des Annales des Sciences naturelles, Botanique, 6me série, Tome VIII.) Paris, 1879. G. Masson. 220 Literatur lektionstheorie überhaupt nicht das min— deſte Verſtändnis gewonnen hat. Sein eigener Bericht über ſeine biolo— giſchen Beobachtungen legt von bedeuten— den Anſtrengungen und großer Ausdauer Zeugnis ab. Denn acht Jahre hindurch (187178) hat der Verfaſſer in verſchie— denen Gegenden Frankreichs, der Pyre— näen, der Alpen und Skandinaviens Be— obachtungen geſammelt, die ſich auf etwa 800 Pflanzenarten erſtrecken. Aber durch die Kritikloſigkeit der angewandten Beob— achtungsmethode hat er ſich von vornherein der Möglichkeit beraubt, ſelbſt über die erſten und einfachſten Fragen, welche die Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und Inſekten betreffen, ein richtiges Urteil zu gewinnen. Die Frucht ſeiner achtjährigen Anſtrengungen iſt daher die, daß nicht eine einzige ſeiner Beobachtungen das wirklich beweiſt, was ſie beweiſen ſoll. Der Verfaſſer blickt auf die bisherigen Leiſtungen auf dem Gebiete der Blumen— erklärung wie auf lächerliche Hirngeſpinnſte herab und bildet ſich ein, durch eigene Be— obachtungen und Verſuche mit mathema— tiſcher Schärfe unantaſtbare Ergebniſſe gewonnen zu haben. Aber ſeine Beweis— führung iſt weiter nichts als eine ununter— brochene Kette unbegründeter Vorausſez— zungen, grober logiſcher Fehler, willkür— licher Verdrehungen und für die in betracht kommenden Fragen bedeutungsloſer Be- Frag 9 obachtungen und Schlüſſe. Und das End— ergebnis eines ſo beiſpielloſen Aufwandes in wiſſenſchaftliche Form gekleideten Un— ſinns iſt weiter nichts als eine Beiſeite— werfung jedes Verſuchs einer Blumen— erklärung überhaupt, eine vollſtändige ta— bula rasa, auf die der Verfaſſer als das eine neue Epoche der Wiſſenſchaft begrün- 8 und Kritik. dende Geſammtergebnis ſeiner eigenen Un— terſuchungen den Satz ſchreiben kann: „Die nektarhaltigen Gewebe, mögen ſie in oder außer der Blüte vorkommen, mögen ſie eine Flüſſigkeit nach außen treten laſſen oder nicht, bilden beſondere Nahrungsvor— räte in direkter Beziehung mit dem Leben der Pflanze.“ Wir wenden uns zunächſt zu den all— gemeinen Mißverſtändniſſen: 1. Gaſton Bonnier hat weder von dem Weſen der modernen Blumen— theorie, noch von dem der Selek— tionstheorie überhaupt das min— deſte Verſtändnis gewonnen. Während thatſächlich die Darwinſche Selektionstheorie den Zweckbegriff aus der Betrachtung auch der organiſchen Welt ver— bannt, erblickt Bonnier in derſelben und in ihrer Anwendung auf die moderne Blu— mentheorie nur teleologiſche Spekula— tionen. In jedem Satze ſeiner Charakte— riſtik der modernen Blumentheorie ſtellt er dieſelbe in unzweideutigſter Weiſe als unveränderte Fortſetzung und Weiterent— wickelung der Sprengel'ſchen teleologi— ſchen Anſchauungen dar, ohne von der Elimination der Teleologie durch Ch. Dar win auch nur eine Silbe zu erwäh— nen. Ausdrücklich erklärt er, daß in Be— zug auf die Rolle der Nektarien bei der Befruchtung in Deutſchland, England und Italien jetzt teleologiſche Betrachtungen herrſchen. Das Sachsſche Lehrbuch der Botanik, das allerdings gerade bei der Beſprechung der Blüteneinrichtungen in rein teleologi— ſcher Ausdrucksweiſe abgefaßt iſt, bietet ihm die bewußt oder unbewußt willkom— mene Gelegenheit, einige der wichtigſten Sätze der modernen Blumentheorie in rein 1 e Literatur und Kritik. 991 teleologiſcher Faſſung wörtlich zu zitiren.?) Auch ein großer Teil ſeiner Einwürfe ge— gen dieſe Theorie hat, wie ſich ſpäter zei— gen wird, nur bei roheſter teleologiſcher Auffaſſung derſelben irgend welchen Sinn. Noch am Schluſſe feines ganzen Werkes er— klärt er, in Bezug auf alle Vertreter der mo— dernen Blumentheorie, ſich mit der Hinwei— ſung auf einige Sätze Claude Bernards begnügen zu können: „Das Geſetz der phyſiologiſchen Finalität iſt in jedem leben— den Weſen beſonders und nicht außer ihm. Der lebende Organismus iſt für ſich ſelbſt gemacht, hat ſeine eigenen inneren Geſetze. Er arbeitet für ſich und nicht für andere.“ Wenn wir alſo nicht die ziemlich voll— ſtändige Literaturkenntnis des Verfaſſers als Beweis gelten laſſen wollen, daß er wider beſſeres Wiſſen die ganze moderne Blumentheorie als auf teleologiſcher Vor— ausſetzungen beruhend dargeſtellt habe, ſo bleibt eben nur die Möglichkeit übrig, daß es ihm trotz des Studiums der einſchlä— gigen Literatur nicht gelungen iſt, von dem Weſen dieſer Theorie, ſowie der Selektions— theorie überhaupt irgend welches Verſtänd— nis zu gewinnen. 2. Durch die Kritikloſigkeit der von ihm angewandten Beobach— tungsmethode hat ſich Gaſton Bon— nier von vornherein der Möglich— keit beraubt, ſelbſt über die erſten und einfachſten Fragen, welche die Wechſelbeziehungen zwiſchen Blu— men und Inſekten betreffen, ein richtiges Urteil zu gewinnen. 2) Ich habe gegen dieſe rein teleologiſche Ausdrucksweiſe des ſo hervorragenden, auf dem Standpunkte der Selektionstheorie ſtehenden For— ſchers bereits früher (Befruchtung der Blumen, S. 425) meine Bedenken geäußert. Durch den Um beurteilen zu können, wie die Stei— gerung der Augenfälligkeit der Blumen, ihr Duft, die Reichlichkeit des Honigs, die Bergung deſſelben u. ſ. f. auf den In— ſektenbeſuch wirken, muß man natürlich im Stande ſein,den geſammten Beſucher— kreis ſolcher Blumen mit einander verglei— chen zu können, die, wenn ſie in allen übrigen auf den Inſektenbeſuch Einfluß übenden Bedingungen möglichſt gleich ſind, nur in der Augenfälligkeit oder nur im Duft u. ſ. w. erheblich differiren. Man muß alſo ſelbſtverſtändlich, als erſte Vorbe— dingung für derartige Vergleiche, an hin— reichend zahlreichen und mannigfaltigen Blumen längere Zeit hindurch ſämmtliche beſuchende Inſekten beobachtet, eingeſam— melt, beſtimmt und zu überſichtlichen Liſten zuſammengeſtellt haben, wie ich ſelbſt es in meinem Werke über Befruchtung der Blu— men durch Inſekten auszuführen verſucht habe. Sobald man irgend eine umfaſſende Abteilung von Blumenbeſuchern von der Beobachtung ausſchließt, erhält man na— türlich ein verkehrtes Reſultat. Man ſtreiche z. B. aus der tabellariſchen Überſicht des Inſektenbeſuchs der häufigſten Kompoſiten und Umbelliferen, die ich auf S. 413 mei— nes Werkes gegeben habe, blos die Bie— nen (Apiden) oder blos die Fliegen (Di- pteren), und das intereſſante Ergebnis die— ſer Überſicht iſt vollſtändig vernichtet. Wenn man ſich aber gar auf die Beob— achtung einer engbegrenzten Zahl geſchick— teſter und einſichtigſter Blumenbeſucher, der Hummeln und Honigbienen, beſchränkt, ſo giebt man damit von vornherein jede begriffsverwirrenden Gebrauch, den G. Bon— nier von den Sachs'ſchen Sätzen macht, wird die Berechtigung dieſer Bedenken wohl klar ge— nug bewieſen. 222 thatſächliche Grundlage preis, von der aus ſich über die Wirkung der Farbe, des Duftes ꝛc. auf den Inſektenbeſuch ein Ur— teil gewinnen läßt. Denn die einſichtigſten Beſucher wiſſen (wie ich unter anderm auch im Kosmos, Bd. III, S. 494 gezeigt habe) den Honig auch in den unſcheinbarſten und geruchloſeſten Blumen mit Leichtigkeit auf— zufinden. Die ſtaatenbildenden Bienen (Honigbienen und Hummeln) beuten da— her, infolge des vervielfachten Nahrungs— bedürfniſſes und der geſteigerten Arbeits— teilung der Geſellſchaft, die allermannig— faltigſten honigloſen und honighaltigen Blumen aller Größen und Farben mit gleicher Emſigkeit aus, ſo daß ſie von den Eigentümlichkeiten der Farbe, des Dufts, der Honigabſonderung ꝛc. unter ſämmt⸗ lichen blumenbeſuchenden Inſekten den höchſten Grad von Unabhängigkeit erlangt haben. Es kann daher zur Löſung der hier in betracht kommenden Fragen eine un— zweckmäßigere Beobachtungsmethode über— haupt gar nicht ausgeſonnen werden als die, die farben- und düfteliebenden Falter und die vielen hunderte kurzrüſſeligerer Inſekten, die als Reagentien auf die Wirkung mancher Blumeneigentümlichkei— ten allein brauchbar ſind, von der Beob— achtung auszuſchließen und dieſelbe auf Hummeln und Honigbienen zu beſchränken. Dieſe denkbar unfruchtbarſte aller Beob- achtungsmethoden iſt es aber, die Gaſton, Bonnier von vornherein auserwählt und acht Jahre hindurch unverändert in An- wendung gebracht hat. Vollſtändige Be— ſucherliſten für die einzelnen Blumenarten aufzuſtellen, findet er unnütz für derartige Unterſuchungen und langweilig für den Leſer. Wer nach ſolchen Verlangen trage, könne fie ja für zahlreiche Blumen in mei- Literatur und Kritik. nem weitſchichtigen (vaste) Werke über Befruchtung der Blumen durch Inſekten nachſehen. Er ſelbſt habe es vorgezogen, ſeine Beobachtungen auf Hymenopteren, in der Regel ſogar auf Bienen allein zu beſchränken. Nur in einigen beſonders in— tereſſanten Fällen habe er auch andere Inſekten ins Auge gefaßt. Eine genauere Durchſicht der Bonnierſchen Arbeit läßt ſogar erkennen, daß ſeine Beſchränktheit in bezug auf Mannigfaltigkeit der ins Auge gefaßten Arten noch vielmal größer iſt, als man nach ſeiner eigenen Angabe vermuten ſollte. Denn es werden im gan— zen überhaupt nur 20 Bienen- und 3 Wespenarten angeführt, und ſelbſt von dieſen die überwiegende Mehrzahl nur in ganz vereinzelten Fällen. In der Regel beſchränken ſich die biologiſchen Beobach— tungen und Verſuche Bonniers auf Ho— nigbienen und unbeſtimmte Hummeln, in vielen Fällen ſogar ausſchließlich auf die Honigbiene. Die beſonders intereſſanten Fälle, in denen Bonnier auch die übri— gen Blumenbeſucher feſtgeſtellt zu haben angiebt, hat er leider für ſich behalten! Es iſt nun höchſt komiſch zu ſehen, wie tollkühn Herr Gaſton Bonnier mit ſei— nen ſoeben gekennzeichneten, für den vorliegenden Zweck denkbar unbrauch— barſten Waffen umſpringt, um mit einem Streich ganze Regimenter ſachgemäßer Beobachtungen vom Boden zu fegen, als daß ich es mir verſagen könnte, irgend welchen Abſchnitt ſeiner Beweisführung herauszugreifen, um eine Probe ſeiner Leiſtungen vorzuführen. Dieſelbe kann zu— gleich als thatſächliche Begründung der dritten oben aufgeſtellten Behauptung dienen: 3. Gaſton Bonniers Beweis— 1 „Kw mb. .ũ ũc tete Fr — führung tft weiter nichts als eine | ununterbrochene Kette unbegrün— deter Vorausſetzungen, grober lo— giſcher Fehler, willkürlicher Ver— drehungen und für die in betracht kommenden Fragen bedeutungs— loſer Beobachtungen und Schlüſſe. Ein kleines Stück dieſer Kette wird genügen, uns, wenn wir es einer qualita— tiven Analyſe unterwerfen, die genannten Beſtandteile erkennen zu laſſen. Ich wähle dazu G. Bonniers Beweis, daß die Blumenfarbe auf die Anlockung der Inſekten ohne Einfluß ſei. Er ſtützt denſelben zunächſt auf die Erfah— rungen der Bienenzüchter, denen die trüb— gefärbten Blüten der weiblichen Weiden, des Ahorn, der Reſeda, des Epheu als eine wichtige Quelle für die Honigbienen bekannt ſeien, wogegen die Chryſanthemum— arten, die Roſen, die Lilien und eine große Zahl anderer augenfälliger Blümen nicht beſucht würden. Daß es außer der Honig— biene noch Tauſende anderer blumenbeſu— chender Inſekten giebt, die auf die An— lockung der Blumen in ganz anderer Weiſe reagiren, kümmert natürlich Herrn Gaſton Bonnier, der ſich über die Logik aller bisherigen Blumenforſcher weit erhaben weiß, ebenſowenig als die ihm wohlbe— kannte Thatſache, daß für Rosa centi- folia 3) von mir nicht weniger als 35, für Chrysanthemum leucanthemum #) ſo— gar 72 verſchiedenartige Beſucher feſtge— ſtellt worden ſind. Nachdem er ſo mit geſchloſſenen Au— gen mit Hilfe der Bienenväter dieſen er— ſten Sieg errungen hat, beginnt er auf eigene Fauſt einen wahren Windmühlen— 3) Hermann Müller, Befruchtung der Blumen, S. 205. — ) Daſelbſt, S. 394. Literatur und Kritik. 223 — kampf gegen zwei ſeiner eigenen Einbil— dung entſprungene, wohl noch keinem Ver— treter der modernen Blumentheorie jemals in den Sinn gekommene Gedanken: daß nämlich die unſcheinbarſten Blumen zu— gleich die honigärmſten, die am lebhafteſten gefärbten zugleich die honigreichſten, und daß deshalb unter allen Umſtänden die er— ſteren ſpärlich, die letzteren reichlich beſucht ſein müßten — und läßt als Sturmkolonnen gegen dieſe eingebildeten Feinde zwei Li— ſten ſelbſtbeobachteter Blumen vorrücken: 1. trübgefärbte, ſehr honigreiche Blumen, die er reichlich von Honigbienen und Hum— meln beſucht fand; 2. lebhaft gefärbte Blumen, die nach ſeiner eigenen Beobach— tung entweder honiglos ſind oder kaum oder gar nicht von Inſekten beſucht wer— den. Die zarte Rückſicht, den Leſer mit langweiligen Beſucherliſten zu verſchonen, weiß Bonnier ſelbſt im Kampfe fo gut zu beobachten, daß er jenen in der ganzen erſten Liſte, die nicht weniger als ein halbes Hundert reichbeſuchter Blumen umfaßt, mit nur drei Beſuchernamen be— helligt, aber ſelbſt dafür durch die neue Entdeckung entſchädigt, daß Erica carnea s) grüne Blüten beſitze, die nur von Hyme— nopteren beſucht werden! In der zweiten Liſte iſt die Verſchonung des Leſers mit ermüdenden Einzelheiten ſogar noch weiter getrieben, indem hier in voller Nacktheit 39 Blumennamen ſich verzeichnet finden. Was braucht ſich der Leſer darum zu be— kümmern, welche dieſer 39 Blumen Bon— nier honiglos, welche er inſektenlos befun— den hat? Er weiß ja aus ſeinem eigenen Munde, daß alle bisherigen Blumenfor— ſcher nur teleologiſche Phantaſten waren und daß er der erſte in exakter Weiſe auf Beobachtung und Experiment ſich ſtützende Blumenforſcher iſt. Der Leſer kann ſich alſo, ohne ſich ſelbſt weiter um die That— ſachen zu kümmern, auf die überlegene Beobachtungs- und Urteilsfähigkeit Bon— niers unbedingt verlaſſen. Und wenn ſich in dieſer zweiten Liſte auch zahlreiche Blu— men verzeichnet finden, die von anderen Beobachtern ſowohl honighaltig, als auch reich beſucht gefunden wurden (wie z. B. Atragene, Chrysanthemum, Dryas), ſo muß das der geneigte Leſer eben der Beſchränktheit dieſer anderen Beobachter zugute halten, die ſich noch nicht zur Kunſt des Herrn Verf. aufgeſchwungen haben, aus einer einzelnen Bienenart über den geſammten Inſektenbeſuch einer Blume zu urteilen. Nachdem ſo Bonnier auch die beiden ſeiner eigenen Einbildung entſprungenen Rieſen zu eigener Befriedigung glücklich zu Boden geſtreckt hat, läßt er mit gleicher Kühnheit zwei wirklich aufgeſtellte Erklä— rungen ſich gegenſeitig vernichten. Die größere Farbenpracht der Alpenblumen iſt bekanntlich von mehreren Seiten aus der großen Spärlichkeit der Alpeninſekten erklärt worden ), während man anderer— ſeits aus dem gänzlichen Fehlen blumen— beſuchender Inſekten die Blumenloſigkeit des rauhen, ſturmgepeitſchten Kerguelen— landes, den Mangel von Düften und leb— haften Farben in ſeiner Flora erklärt hat. Nach Bonnier ſtehen dieſe beiden Erklärun— gen im abſoluteſten Widerſpruch mit ein— ander, während die bisherigen Blumen— forſcher, gleich anderen beſchränkten Men— ſchenkindern, bisher die Anſicht hegten, daß bei ſtarkem Angebot und ſchwacher Nachfrage geſteigerte Reklame ſehr wohl N 6) Vgl. Kosmos, Bd. I, S. 396 u. 541. * Literatur und Kritik. von Erfolg ſein könne, daß dagegen nach gänzlichem Ausſterben aller Nachfrage hal— tenden Individuen jede Reklame erfolglos ſein müſſe. Den vierten Streich richtet Bonnier gegen die Bedeutung, die ich ſelbſt der Augenfälligkeit der Blumen zuſchreibe. Er ſcheint es aber für einen zu leichten Sieg zu halten, meine einfache und klare Be— hauptung: „Unter übrigens gleichen Bedingungen wird eine Blumen— art um ſo reichlicher von Inſekten beſucht, je aug enfälliger ſie iſt,“ zu widerlegen, und zieht es wohl blos aus dieſem Grunde vor, den Satz, den er mir in den Mund legen will, vorher nach ſeinem eigenen Geſchmacke ſelbſt zurecht zu machen — natürlich mit Ingredienzen, die meinen eigenen Ausſprüchen entnom— men ſind. Schon meine folgende allge— meine Behauptung bietet dazu hinreichen— den Stoff dar. Sie lautet: „Wenn nächſtverwandte und in ihrer Blü— teneinrichtung übrigens überein— ſtimmende Blumenfoͤrmen in der Augenfälligkeit und zugleich in der Sicherung der Fremdbeſtäubung bei eintretendem, der Sichſelbſt— beſtäubung bei ausbleibendem In— ſektenbeſuche differiren, ſo hat unter übrigens gleichen Umſtänden ohne Ausnahme diejenige die am meiſten geſicherte Fremd beſtäubung, deren Blumen die augenfälligſten ſind und deren Inſektenbeſuch in Folge deſſen der reichlichſte iſt.“ Dieſer Satz bezieht ſich zwar nicht auf die Wirkung der Blumenfarben auf den In— ſektenbeſuch, um die es ſich hier handelt, ſondern auf die Beſtäubungsanpaſſungen der Blumen. Aber ein ſo kleinliches Be— 1 — # Literatur und Kritik. denken kann den Gedankenflug Gaſton Bonnier nicht hemmen. Viel— mehr gelingt es ihm mit größter Leichtig— keit, aus meinen beiden ſo eben buchſtäb— lich wiedergegebenen Sätzen einen völlig neuen, ſeinen eigenen Bedürniſſen entſpre— chenden Satz zu gewinnen, für den ich mich um ſo mehr zu bedanken habe, als ich ſelbſt ſicher niemals auf denſelben ge— kommen ſein würde. Er lautet: „Ohne Ausnahme iſt bei den ſich nahe ſte— henden Pflanzen die Augenfällig— keit der Blume proportional dem Inſektenbeſuche und der Entwicke— lung der Blüteneinrichtung hin— ſichtlich der Kreuzbefruchtung.“ Wer dieſe von Bonnier präparirte und mir in den Mund gelegte Behauptung mit meinen eigenen Worten vergleicht, wird nicht umhin können, dem Umwandlungs— talente des Herrn Bonnier volle Bewunde— rung zu zollen. Wie geſchickt ſind durch Beſeitigung des läſtigen ceteris paribus und durch Vermiſchung, Abkürzung und Verdunkelung beide Sätze mit einem Male völlig wehrlos gemacht! Was für dumme Teufel ſind dagegen alle früheren Blumen— forſcher geweſen, die ſich bei Bekämpfung anderer Anſichten mit knechtiſcher Unfrei— heit an die eigenen Worte des Gegners zu klammern pflegten! Faſt noch mehr aber als die freie Umwandlung fremder Ausſprüche muß uns im vorliegenden Falle die geniale Art der Beweisführung in Erſtaunen ſetzen, die ſelbſt vom Zwange der Logik ſich gänzlich befreit hat. „Durch eine präziſe Beobachtung“ ſtellte Bonnier feſt, daß die weißlichen, honigreicheren Blumen von Teucrium Scorodonia häufi- ger von den Honigbienen beſucht wurden, als die roten, honigärmeren von T. Cha- eines 225 maedrys, daß auch bei vier Alliumarten die Häufigkeit der Beſuche der Honigbiene der Augenfälligkeit der Blumen nicht propor— tionial war, und ſchließt daraus: „Man ſieht, daß es zwiſchen der Augen— fälligkeit und dem häufigen Be— ſuche der Inſekten keine Beziehung giebt.“ Um dieſen Sieg noch unzweifel— hafter zu machen, wird auch von unſeren drei gewöhnlichen Ribesarten, der Stachel— beere, der ſchwarzen und der roten Johan— nisbeere noch mitgeteilt, daß ſie von Honig— bienen und Hummeln nicht im Verhältnis ihrer Augenfälligkeit, ſondern ihrer Honig— menge beſucht gefunden wurden. Inzwiſchen ſind aber die beiden der Einbildung des Herrn Verf. entſprunge— nen und von ihm kühn zu Boden geſtreck— ten Rieſen, die wir oben kennen lernten, in ſeiner Einbildung wieder lebendig ge— worden, und er ſchlägt ſie noch einmal tot, indem er nachweiſt, daß es auch unter den Orchideen lebhaft gefärbte, ſehr augenfällige Blumen ohne Honig, und anderſeits honighaltige, unſcheinbare Blu— men giebt. Aber auch der von ihm ſelbſt präparirte und mir in den Mund gelegte Satz läßt ihm noch keine Ruhe. Er führt deshalb gegen ihn noch an, daß er auch Reseda odorata und luteola reichlich von Hymenopteren beſucht fand, während er auf der weit auffälligeren Polonisia gra- veolens kein einziges Inſekt finden konnte. Es folgt nun als fünfter gegen die Be— deutung der Blumenfarben von Herrn Bon— nier ausgeführter Streich eine Beobach— tung von ſolcher Einfachheit und Klarheit, daß man ſie recht wohl auch einem gewöhn— lichen Menſchenkinde zutrauen könnte, wenn nicht Herrn Bonniers überlegene Genialität doch auch hier wieder darin ſich zu erken— Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 226 nen gäbe, daß er aus dem Beſuche einiger Bienen und Hummeln ein entſchiedenes Urteil über den geſammten Inſektenbeſuch ſich zu bilden vermag. Um nämlich zu ſehen, obdie Farbe eine gewiſſeRolle ſpielt, wenn die übrigen Bedingun— gen ganz dieſelben ſind, wurden ver— ſchiedenfarbige Varietäten derſelben Art, rote, weiße und blaß roſafarbene Blumen von Althaea rosea, rote und weiße von Digitalis purpurea und Epilobium spica- tum, weiße und blaue von Centaurea Cya- nus, weiße und gelbe von Brassica olera- cea, in Bezug auf die Häufigkeit ihres Bienen- und Hummelbeſuches mit einander verglichen und kein Unterſchied in dieſer Beziehung zwiſchen ihnen gefunden. Der ſechſte Hieb des Herrn Verf. gegen die Erklärung der Blumenfarbe richtet ſich direkt gegen die Genauigkeit meiner Be— obachtungen und veranlaßt mich dadurch, zunächſt als Kampfrichter zurückzutreten, die Akten dem Leſer ſelbſt in vollem Wort— laute vorzulegen und dann erſt einige Be— merkungen hinzuzufügen. In Bezug auf den Beſenſtrauch heißt es auf S. 242 meines Buches über Be— fruchtung der Blumen durch Inſekten: „Bei Sarothamnus scoparius ſind, ebenſo wie bei Cytisus Laburnum, am Grunde der Fahne dunklere Linien zu ſehen, welche nach dem Blütengrunde zuſammenlaufen und, wenn die Blume Honig enthielte, nur als Saftmal gedeutet werden könnten; aber hier haben die Blüten weder frei abge— ſonderten Honig, noch, wie bei Cytisus Laburnum, einen ſaftreichen Wulſt um die Einfügungsſtelle der Fahne. In dieſem Falle können die dunkleren Linien der Fahne alſo nur entweder eine nutzlos gewordene Eigentümlichkeit honigführender Stamm— Literatur und Kritik. eltern ſein, oder ſie können der Pflanze in ſofern nützen, als ſie die zum erſtenmale dieſe Blumen beſuchenden Bienen zunächſt zur Hoffnung auf Honig und damit zu den zum Herabdrücken des Schiffchens nötigen Bewegungen veranlaſſen. Erfolgt nun die Exploſion, ſo ſieht ſich die Biene zwar in ihrer Hoffnung auf Honig ge— täuſcht, findet aber, ſobald ſie ſich vom erſten Schrecken erholt hat, ihre Mühe durch eine ſo reiche Pollenernte belohnt, daß ſie nun andere Blüten in der bloßen Abſicht, Pollen zu ſammeln, in glei— cher Weiſe bearbeitet.“ — Gegen dieſeErklä— rung führt Bonnier folgende nach ſeiner An— ſicht meine Erklärung vernichtende Bemer— kungen zu Felde: „Einer der Gründe, die man an— geführt hat, um der Farbe der Blumen— blätter eine anlockende Rolle zuzuſchreiben, iſt der, daß die Bienen auf gewiſſe nicht honighaltige Blumen gehen, nicht blos um den Pollen zu ſammeln, ſondern mit ihrem Rüſſel im Grunde der Blüte ſu— chen, in der Hoffnung, da Honig zu fin— den.“) Hermann Müller behauptet den häufigen Beſuch der Honigbienen auf den Blüten von Ulex®) und Sarothamnus, wo ſie fo in unerklärlicher Weiſe (ainsi in- definiment) einen Nektar ſuchen, der nicht exiſtirt. Lub bock zitirt Genista tinctoria. Ich habe Gelegenheit gehabt, dieſe Blu— men in Eure reichlich von Honigbienen beſucht zu ſehen. Wenn Müller ein an— 5) Obgleich ich gegen dieſe mir zugeſchrie— bene Anſicht nichts einzuwenden habe, ſo muß ich doch ausdrücklich ausdrücklich konſtatiren, daß ich die von dem Verf. mir zugeſchriebenen Worte nicht gebraucht habe. ) Auch dieſe Angabe hat Bonnier nur ſei— ner eigenen Phantaſie entnommen. Ich habe Ulex noch niemals zu unterſuchen Gelegenheit gehabt. r deres Verfahren, als eine ſo einfache ober— flächliche Unterſuchung angewandt hätte, würde er geſehen haben, daß dieſe angeb— liche Hoffnung auf Honig von den In— ſekten verwirklicht wird. Bei Ulex enthält der äußere Teil der Staubgefäßröhre, wie bei Cytisus, nur weniger anatomiſch diffe— renzirt, ein honigreiches Gewebe. Bei Saro— thamnus ſind dieſelben Teile und auch der Kelch reichlich mit zuckrigen Stoffen ver— ſehen. Unter dem Mikroſkop ſieht man bei ſchwacher Vergrößerung zu einer Zeit des Mehltaues (!) die Oberfläche dieſer Organe mit feinen Nektartröpfchen bedeckt. In einigen Fällen habe ich ſogar ſehr große, mit bloßem Auge ſichtbare Tropfen geſehen. Dieſer im Kropf (jabot) der Bienen in dem Augenblicke, wo ſie dieſe Ginſterarten beſuchen, geſammelte Honig, hat ſich durch die Analyſe als verhältnismäßig ſehr reich an Saccharoſe und Glykoſe erwieſen; er enthält viel weniger Waſſer, als die mei— ſten Nektararten. Das erklärt die Gier der Inſekten bei ſeinem Einſammeln viel beſſer, als eine beſtändig getäuſchte Hoff— nung.“) Der zu Gunſten der Rolle der Farbe angeführte Grund hat alſo keinen Wert; er beruht auf ſchlecht beobach— teten Thatſachen.“ Und in welchem einzelnen Punkte, darf ich wohl fragen, hat mir Herr Bonnier eine unrichtige Beobachtung nachgewieſen? Hat er beim Beſenſtrauch in normalem Zuſtande frei abgeſon— derten Nektar aufgefunden? Nein! Hat er den Beweis geliefert oder auch nur zu liefern behauptet, daß die Honigbienen in den Blüten des Beſenſtrauchs die honig— reichen Gewebe der Staubgefäßröhre oder Literatur und Kritik. „ des Kelches anbohren und ausſaugen? Aber— mals nein! Mich ſelbſt trifft alſo höchſtens die Bemerkung — als einen Vorwurf kann ich fie nicht anerkennen —, daß ich die Blüten des Beſenſtrauchs nur im nor— malen Zuſtande, nicht zu einer Zeit des Honigtaues beobachtet habe, während Herrn Gaſton Bonniers eigene, ſieges— jubelnde Bemerkung mit nicht weniger als drei erdichteten Angaben verunziert tft und mit einem Satze ſchließt, der das gerade Gegenteil von dem ausſagt, was aus ſeiner Behauptung wirklich folgt. Denn wenn thatſächlich die Honigbienen durch den Nektar des honighaltigen Zellgewebes zu andauerndem Beſuche des Beſenſtrauchs angelockt werden, wie Bonnier meint, ſo läßt ſich gegen die Deutung der am Grunde der Fahne ſichtbaren dunkleren Linien als Saftmale eben gar nichts mehr einwenden, und Bonnier ſelbſt hat dann das letzte Be— denken gegen eine Erklärung beſeitigt, die er widerlegt zu haben ſich einbildet. Um nun endlich die Frage, ob lebhafte Farben die Inſekten mehr anlocken als wenig augenfällige, durchſchneidend zu er— ledigen (trancher definitivement), rückt Bonnier zu ſeinem ſiebenten Angriffe das ſchwere Geſchütz folgender biologiſcher „Experimente“ ins Feld: Vor eine Reihe von Bienenſtöcken legt er in gleicher Ent— fernung von denſelben ein rotes, ein grünes, ein gelbes und ein weißes honig: beſtrichenes Viereck, alle vier von gleicher Größe, hin und beobachtet, daß auf allen eine immer ſteigende und mit dem Schtwin- den des Honigs wieder abnehmende Zahl von Honigbienen ſich einfindet, ohne daß zwiſchen der Wirkung der verſchiedenen ti von zul gel cher Farben ein erheblicher Unterſchied ſich Hoffnung geſprochen. herausſtellt. Und da in der Vorſtellung 228 Literatur und Kritik. des Herrn Bonnier von allen Käfern, Flie— gen, Faltern u. ſ. w. ſelbſtverſtändlich ganz daſſelbe gelten muß, wie von der Honigbiene, ſo iſt damit der Gedanke, daß die Farben der Blumen als Anlockung der | Inſekten irgend eine Rolle ſpielen könnten, durchſchlagend widerlegt. Aber ſelbſt mit dieſem ſiebenten, ent— ſcheidenden Siege giebt ſich Herr Bonnier noch nicht zufrieden. Er wendet ſich viel— mehr nach demſelben ſofort wieder gegen mich, ſchreibt mir mit bereits erprobtem Umwandlungstalente die Behauptung zu: „daß bei den für Selbſtbefruchtung einge— richteten Blumen die Farben wenig augen— fällig ſeien, während die der Kreuzbe— fruchtung angepaßten Arten reich gefärbte Korollen beſitzen“, und erklärt es zur Wi— derlegung dieſes (ſelbſtverfertigten!) Satzes für hinreichend, die Verſuchs-Er— gebniſſe Ch. Darwins zu betrachten. „In der Liſte, die er von den ſelbſtſterilen Pflanzen giebt, findet man Reseda odo- rata und lutea und die größte Zahl der Orchideen mit trüben Blüten, dagegen fin— det man in ſeiner Liſte ſelbſtfertiler Pflanzen 61 bis 63 Arten, deren Blumenkrone reich an Farbſtoffen iſt. Das von H. Müller verkündete Geſetz wird alſo durch die Ver— ſuche Darwins vollſtändig widerlegt.“ „Als allgemeines Ergebnis der vor— hergehenden Beobachtungen und Verſuche können wir ſchließen: „Die Entwickelung der Farben bei den Blütenorganen und die des Nektars fallen nicht zuſammen (ne sont pas concordants). „Unter denſelben Bedingungen ſind die am meiſten gefärbten Blü— ten nicht die am meiſten von In— ſekten beſuchten. „Die Augenfälligkeit der Blü— ten iſt nicht proportional ihrer An— paſſung an Kreuzbefruchtung.“ Der Wert dieſer Sätze ergiebt ſich aus den Beweiſen, auf die ſie ſich ſtützen, von ſelbſt. Gehen wir deshalb ohne weitere Bemerkung zum Schluſſe des ganzen gegen die Bedeutung der Blumenfarben gerich— teten Abſchnittes über. Es bilden den— ſelben: Verſuche in bezug auf das Sprengelſche Geſetzüber die honig— haltigen dikliniſchen Pflanzen. Nach Sprengels auch von mir ver— tretener Anſicht werden die augenfälligeren männlichen Blüten dieſer Pflanzen durch— ſchnittlich früher beſucht als die weiblichen, und dadurch Kreuzung begünſtigt. Bon— nier glaubt dieſe Anſicht durch folgenden Verſuch widerlegt zu haben: Er pflanzte zwei große Zweige von Salix aurita, an deren jedem nur 150 gerade in Blüte befindliche Kätzchen ge— laſſen wurden (die männlichen mit durch— ſchnittlich 200, die weiblichen mit durch— ſchnittlich 160 entwickelten Blüten), in glei— cher Entfernung vor eine Reihe von Bie— nenſtöcken auf und zählte ſiebenmal nach ein— ander, in Zwiſchenräumen von jedesmal einer Viertelſtunde, die Bienen auf jedem der beiden Zweige. Durchſchnittlich verhielt ſich die Bie— nenzahl auf dem männlichen zu der auf dem weiblichen Zweige wie 95:90, und ſchon bei der erſten Zählung wurden ſo— wohl auf dem männlichen als auf dem weiblichen Zweige Bienen getroffen, auf letzterem 11, auf erſterem 10. Ahnliche Reſultate erhielt Bonnier mit Ribes alpi- num, Asparagus (nach Bonnier monzziſch!) und Bryonia dioica. Der Verſuch iſt ge— rade ſo ſinnreich und gerade ſo entſchei— 1 e 3 dend, als wenn man, um zu erfahren, welches von zwei Wirtshäuſern eines Or— tes größere Anziehung auf die Gäſte aus— übe, einem nahrungsbedürftigen Volks— haufen freien Zutritt und freien Genuß in denſelben geſtattete. Herrn Gaſton Bonnier genügen aber ſeine Ver— ſuche, um als Ergebnis derſelben aus— zuſprechen: „Bei den nektarhaltigen dikli— niſchen Blüten gehen die Bienen nicht erſt auf die männlichen, dann auf die weiblichen Blüten, und die | größere Augenfälligkeit der männ— | lichen Blüten iſt ohne Bedeutung.“ Das Unverſtändnis G. Bonniers für die Theorie, die er widerlegt zu haben ſich einbildet, die Unfruchtbarkeit ſeiner Beobachtungsmethode, die Armſeligkeit ſeiner Beweisführung haben wir hinrei— chend kennen gelernt, um für unſere Blumentheorie im ganzen von ihm nichts mehr zu fürchten zu brauchen. Aber ver— ſetzt nicht trotzdem vielleicht der eine oder andere ſeiner Angriffe irgend welchem ein— zelnen, untergeordneten Teile dieſer Theorie einen Schlag, der Deckung oder Rückzug nötig macht? Um auch darüber uns völlig beruhigen zu können, bleibt nichts anderes übrig, als das ganze Heer der feindlichen Einwendungen an uns vorüberziehen zu laſſen und dieſelben, je nachdem es ſich paßt, einzeln oder abteilungsweiſe zu ent— waffnen. Viele dieſer Einwendungen des Herrn Verfaſſers ſind ihm nur durch ſeine Nichtbeachtung des bereits Klargeſtellten ermöglicht worden und werden daher mit einem kurzen Hinweis auf daſſelbe abge— than werden können. Manche andere ſind nur aus der grob teleologiſchen Auffaſ— Literatur und Kritik. 229 mentheorie unterlegt, und machen es nö— tig, dieſe Auffaſſung noch vor der zuſam— menhängenden Vorführung des Wider— legungsverſuches näher zu kennzeichnen. Gaſton Bonnier ſtellt ſich die An— paſſungen, mit denen die moderne Blu— mentheorie zu thun hat, nicht, wie wir, als auf natürlichem Wege allmählich ge— wordene vor, bei denen irgend welche neu auftretende Funktion zunächſt von bereits vorhandenen, aber urſprünglich anderen Funktionen dienenden Organen ausgeübt wird, dann durch verſchiedene Abſtufungen die allmähliche Ausprägung eines beſon— deren Organes zu ſtande kommt, endlich unter veränderten Lebensbedingungen nicht ſelten die Funktion deſſelben wieder er— liſcht oder ſich umändert, während das Organ unverändert oder allmählich ver— kümmernd ſich forterbt oder umbildet. Nach ſeiner Auffaſſung müßten wir viel— mehr jede Blumeneigentümlichkeit, der wir eine phyſiologiſche Deutung geben wollen, als von vornherein in der Weiſe fertig erſchaffen auffaſſen, daß fie einen einzigen beſtimmten Zweck voll— kommen und unter allen Umitän- den erfüllt und daß auch ſie allein dieſen Zweck erfüllt. Wird die einem Organe zugeſchriebene Funktion irgendwo ohne dieſes Organ ausgeübt, oder tritt daſſelbe Organ in gewiſſen Fällen funk— tionslos auf, ſo nimmt das Herr Gaſton Bonnier als Beweis, daß das Organ und die ihm zugeſchriebene Funktion nichts mit einander zu thun haben. Ebenſo fin— det er es unmöglich, anzunehmen, daß die— ſelbe organiſche Bildung gleichzeitig oder unter verſchiedenen Umſtänden verſchiedene Lebensdienſte leiſte, oder daß ſie ihren be— Br ſung verſtändlich, die er unſerer Blu— | ſtimmten Lebensdienſt unvollkommen leiſte 230 oder daß andere Bildungen denſelben Dienſt leiſten. In jedem dieſer Fälle ruft er aus: „Das Organ und die ihm zuge— ſchriebene Funktion ſtimmen nicht zuſam— men“ (ne sont pas concordants), und die gegebene Deutung wird damit als leeres Hirngeſpinſt beiſeite geworfen, ſo daß er zu dem Schlußergebniſſe gelangt: „Man kann nicht zugeben, daß es eine gegenſeitige Anpaſſung zwiſchen Blumen und Inſekten giebt.“ Wir haben unſere antiteleologiſche Er— klärung der gegenſeitigen Anpaſſungen zwiſchen den Blumen und den ihre Kreu— zung vermittelnden Inſekten bereits ſo wiederholt und ſo eingehend auseinander— geſetzt, daß Herr Bonnier, der die einſchlä— gige Literatur kennt, durch ſein vollſtändi— ges Ignoriren unſerer Auffaſſung nur be— weiſt, daß er dieſelbe entweder nicht ver— ſtehen kann oder nicht verſtehen will. In dem einen wie in dem andern Falle würde es ſelbſtverſtändlich völlig nutzlos ſein, gegen die grobteleologiſche Auffaſſung, die er unſerer Blumentheorie unterlegt, hier nochmals zu Felde zu ziehen. Wir werden uns daher in der Regel damit begnügen, diejenigen Einwendungen des Herrn Verf., die nur von ſeiner willkürlichen Vor— ausſetzung aus irgend welchen Sinn ha— ben, einfach durch ein in Klammern geſetz— tes Ausrufungszeichen () zu kennzeichnen. Als zwei Thatſachen, die eigentlich ſchon für ſich allein hinreichend wären, die Unzulänglichkeit der modernen Blumen— theorie in bezug auf die Bedeutung der Nektarien zu beweiſen, führt Bonnier zu— nächſt an, daß bei Melittis Melissophyl- lum, obgleich fie die übrigen die Labiaten auszeichnenden Blumeneigentümlichkeiten beſitze, die Nektarien verkümmert ſeien und Literatur und Kritik. daß man bei ihr weder Nektar noch beſu— chende Inſekten beobachte () 10, daß da— gegen bei Vicia sativa die Nektarien der Nebenblätter, obgleich ſie der Anlockung durch Farbe und Duft, des Saftmals und der Beziehung zur Kreuzbefruchtung ent— behren, von der Honigbiene ausgebeutet werden (). Dann beginnt der planmäßige Widerlegungsverſuch: § 1. Allgemeine Betrachtungen. Obgleich es zahlreiche Inſektenblüten giebt, die ihren Beſuchern nur Pollen dar— bieten, ſchreibt Sachs allen Inſektenblü— ten Nektarien zu (was offenbar für unſere Blumentheorie ſehr gleichgiltig iſt. Ref.). Darwins Verſuche beweiſen die vor— teilhaften Wirkungen der Kreuzung. Aber bei ungünſtigem Wetter bleibt der Inſek— tenbeſuch aus und es erfolgt keine Kreu— zung. Inſekten können den Pollen auch von einer Varietät auf eine andere, von einer Art auf eine andere übertragen. In vielen Fällen endlich findet vorwiegend Selbſtbefruchtung ſtatt (ö). § 2. Beobachtungen und Ver— ſuche über die Schutzorgane des Nektars. a. Safthalter. Hohle Sporne wer— den in der Regel als Safthalter gedeutet. Bei vielen Orchideen giebt es indes hohle Sporne ohne Nektar ()). H. Müller und beſonders Delpino beſchreiben als Saft— halter die Zwiſchenräume zwiſchen den Staubgefäßen und dem Ovarium, zwiſchen 10) Für die Genauigkeit dieſer Bonnierſchen Bemerkung iſt es, abgeſehen von ſeinen Inſek— tenbeobachtungen überhaupt, jedenfalls bezeich— nend, daß er an Melittis Melissophyllum we— der ſpontane Selbſtbefruchtung, noch beſtändige Sterilität bemerkt hat, obgleich doch eines von beiden die notwendige Folge völlig ausbleiben— den Inſektenbeſuches ſein müßte. Literatur und Kritik. der Blumenkrone und dem Kelch, die Röhre der Gamopetalen u. ſ. w.; aber man weiß, daß dieſe Einrichtungen ebenſowohl auch bei den nicht nektarhaltigen Blumen exi— ſtiren. Es iſt alſo unmöglich, anzunehmen, daß ſie in der beſondern Abſicht getroffen ſeien, die zuckerhaltige Flüſſigkeit aufzu— nehmen. Andererſeits haben zahlreiche Blumen (z. B. Umbelliferen) Nektar ohne beſondere Safthalter (ö). Die Entwickelung von Spornen in den Blütenorganen und dieje— nige des Nektars fallen alſo nicht notwendig zuſammen. 11) b. Schutz des Nektars. Die umge— kehrte Stellung der Blumen kann nicht als Schutz des Nektars gedeutet werden, da auch viele honiglofe Blumen eine umge— kehrte Stellung haben (). Der Haarring in der Corolla der Labiaten kann nicht als Schutz des Nektars gedeutet werden, da ihn auch nektarloſe Labiaten beſitzen (); überdies ſteigt bei nektarreichen Labiaten das Niveau der zuckerigen Flüſſigkeit meiſt über den Haarring hinaus. 12) Es giebt zahlreiche ungeſchützte Nektarien (Um— belliferen, Hedera u. a.) und dagegen Haare im Innern honigloſer Blüten (h. Bei denjenigen Boragineen, deren Blumen— röhre ſelbſt eng genug iſt, um keine Tröpf— chen hineinzulaſſen (Myosotis), oder deren Blüten nach unten gekehrt ſind, dienen die Schuppen, Falten oder Haare der Blumen- 11) Gegen dieſen naiven Satz, der etwas Allbekanntes als neue Entdeckung hinſtellt, und die Blumentheorie, gegen die er gerichtet iſt, gar nicht berührt, wird wohl niemand etwas einzu— wenden haben. 2) Belege giebt Bonnier nicht. Nach meinen Beobachtungen iſt ſein Ausſpruch mindeſtens eine ſtarke Übertreibung. 231 krone nicht als Saftdecke (nicht als Saft— decke gegen Regen, wohl aber gegen un— berufene Gäſte. Ref.). Verſuche: 1. Zehn ihrer Haare künſt— lich beraubte Blüten von Symphoricarpus racemosa wurden eben jo häufig von Bienen und Wespen beſucht gefunden, als zehn unverſehrt gelaſſene, und zwar ſelbſt während eines andauernden Regens, ohne daß ſie durch das auf die Blüten fallende Waſſer aufgehalten zu werden ſchienen. !“) 2. Zehn ihrer Schuppen künſtlich be— raubte Blüten von Lycopsis arvensis ent- hielten nach einem ſtarken Regen durch— ſchnittlich ebenſoviel Nektar wie zehn un— verſehrt gelaſſene. 13) Die Entwickelung innerer Schup— pen der Blumenkrone, von Haaren im Innern der Blüte 2c. und die des Nektars fallen alſo nicht notwen— dig zuſammen. (Siehe Anm. 11!) §S 3. Beobachtungen und Ver— ſuche über die Anlockung zu den Nektarien. 1. Farbe. Dieſer Abſchnitt iſt be— reits hinreichend beſprochen worden. 2. Gefärbte Flecken und Strei— fen. Eine große Zahl von Blumen mit ſehr entwickelten Flecken und Streifen ſind honiglos oder werden nicht von Inſekten beſucht (mehrere Clematis und Anemone, viele Papaveraceen, einige Dianthus, Agrostemma, Ononis, Rosa, Gentiana, Melittis, Cyclamen, eine ſehr große Zahl 13) Daß ſich, nach der Anſicht der heutigen Blumenforſcher, Schutzmittel des Nektars nicht blos gegen Regen, ſondern auch gegen unberu— fene Gäſte ausgebildet haben, wird von Bonnier auch hier einfach ignorirt, obwohl ihm die ein- ſchlägige Literatur ſehr wohl bekannt iſt. Seine obigen Verſuche ſind daher ganz bedeutungslos. 232 von Orchideen, Tulipa, Fritillaria, Lilium, Crocus ꝛc.). 10 Darwin ſagt, daß ſich Saftmale viel häufiger bei unregelmäßigen als bei regel— mäßigen Blumen finden, was Bonnier beſtreitet. (Bedeutungslos!) Lubbock hat gezeigt, daß nach leichter Verſchiebung des Nektartröpfchens am Grunde eines Blumenblattes die beſu— chende Biene zum Wegſaugen deſſelben mehr Zeit braucht. Wie Bonnier richtig bemerkt, iſt das überhaupt der Fall, wenn man ſie in ihrer angenommenen Gewohn— heit der Honiggewinnung ſtört. (Die Aus— prägung einer beſtimmten Art der Honig— gewinnung und die unmittelbare Anwen— dung derſelben auf zum erſten male be— ſuchte Blumen kann aber durch beſonders gefärbte Linien der Blumenkrone, die nach dem nicht unmittelbar ſichtbaren Honig zuſammenlaufen, offenbar ſehr erleichtert und begünſtigt werden. Die Bemerkung des Verf. iſt alſo nicht, wie er ſich einbil— det, eine Widerlegung, ſondern nur eine Beſtätigung der dem Saftmal zugeſchrie— benen Funktion. Ref.) Die Entwickelung der Flecken und Streifen auf der Corolla ſteht alſo in keiner Beziehung (n'est pas correlatif de) mit derjenigen des Nektars. (Ich kann für dieſe Behaup— 14) Wohlweislich führt der Verf. keine be— ſtimmte Blumenart als Beleg ſeiner Behaup— tung an, ſondern nur unbeſtimmte Arten be— ſtimmter Gattungen. Kein Sterblicher, der nicht ſämmtliche Arten dieſer Gattungen kennt, wird daher im ſtande ſein, Bonniers Behauptung ganz zu widerlegen. Freilich ſinkt auch die Glaubwür⸗ digkeit derſelben mit der Unbeſtimmtheit der Be— lege auf null herab, Für ſämmtliche von mir unterſuchten Arten der von Bonnier genannten | Literatur und Kritik. tung in den vorhergehenden Angaben des Verf. auch nicht die Spur eines Beweiſes erkennen. Ref.) 3. Größe der Blumenkrone. Die anlockende Rolle, die man derſelben zu— ſchreibt, ſagt Bonnier, ſei hauptſächlich auf meinen Vergleich einiger Geranium— arten gegründet. 15) Einerſeits aber ſeien von mir mehrere Geraniumarten von dieſem Vergleich ausgeſchloſſen worden 16); an— dererſeits habe er ſelbſt keine Beziehung zwiſchen der Größe der Blumenkrone und dem Inſektenbeſuche der von ihm ſelbſt beobachteten Geraniumarten gefunden.“) Übrigens gebe es zahlreiche große, honig— loſe Blumen, die ſpärlich, und zahlreiche kleine, honigreiche, die reichlich von Inſek— ten beſucht würden. (Nochmalige Geltend— machung des bereits beleuchteten Unſinns!) Alſo: Die Entwicklung der gro— 15) Bonnier weiß nicht oder will wohl vielmehr nicht wiſſen, daß ich mich nicht auf die— ſen einen, ſondern auf 15 zu demſelben Ergeb— niſſe führende Vergleiche geſtützt habe! Vgl. H. Müller, Befr. der Bl., S. 426. 2 10) Von ſelbſtbeobachteten Arten habe ich ausgeſchloſſen G. sanguineum, wie ausdrück— lich angegeben, wegen abweichenden Standorts, G. robertianum wegen ſeiner (7mm) tiefen Honigbergung. Gaſton Bonnier zeigt ſich auch hier, ſowohl bei ſeiner Beurteilung meines Ver— gleichs, als bei ſeinen eigenen an Geraniumarten angeſtellten Beobachtungen, als endlich bei ſeiner Aufzählung großblumiger, ſchwach beſuchter und kleinblumiger, ſtark beſuchter Pflanzen über jeg— lichen Zwang der Logik weit erhaben! Die For— derung, daß, wenn die Wirkung einer variabeln Bedingung durch vergleichende Beobachtungen feſt— geſtellt werden ſoll, alle übrigen Bedingungen möglichſt gleich hergeſtellt werden müſſen, iſt ihm offenbar nur eine lächerliche Kleinigkeitskrämerei. *) Sehr natürlich, wenn man nur die Bienen als Inſekten betrachtet und überdies ſämmtliche Bedingungen, die auf den Inſekten— Gattungen iſt ſeine Behauptung nicht zutreffend. beſuch Einfluß haben, gleichzeitig variiren läßt! 1 0 * Literatur und Kritik. 233 ßen Dimenſionen der Blumenkrone | honigreiche und ſehr beſuchte Blumen mit entſpricht nicht der des Nektars (was auch noch niemand je behauptet hat; der Verf. kämpft wieder einmal gegen Wind— mühlen); ſie iſt unabhängig von dem häufigen Beſuche der Inſekten. (Daß der häufige Beſuch der Inſekten nicht die Blumenkronen vergrößert, wird, außer Herrn Rev. Henslow, wohl jeder ohne weiteres zugeben. Daß aber Blumen mit größerer, lebhafter gefärbter Corolla unter übrigens gleichen Umftänden | nicht reichlicher von Inſekten beſucht wer— den, als ſolche mit kleinerer, dafür hat G. Beweiſes beigebracht.) 4. Duft. Von Roſen, Lilien, gefüll— ten Nelken und vielen anderen wohlriechen— den Gartenblumen wird, nach Bonnier, ſozuſagen kein Inſekt angelockt. Die Blüten des Weißdorn (Crataegus oxyacantha) ſind, nach Bonnier, gleicher Augenfälligkeit ſtärker duftend und dabei ſchwächer von Inſekten beſucht als die des Schwarzdorns (Prunus spinosa). Zahlreiche Arten der Gattungen Achil- lea, Tanacetum, Chrysanthemum, Rosa, Orchis ꝛc. ſind, nach Bonnier, duftend und zugleich honiglos oder nicht von In— ſekten beſucht. 189 Andererſeits giebt es zahlreiche ſehr 18) Herr Bonnier hätte meine „langwei— ligen“ Beſucherliſten nicht durchzuleſen, ſondern nur mit einem Blicke anzuſehen gebraucht, um dieſe und ſeine folgenden Behauptungen als ziemlich albern zu erkennen. Denn für Rosa centifolia habe ich 35, für Crataegus oxya- cantha 57, für Prunus spinosa 27, für Tanacetum 27, für Chrysanthemum leu- canthemum 72, für Achillea, Millefolium und Ptarmica 87 verſchiedenartige Beſucher feſt— geftellt. Übrigens gilt auch hier z. Th. Anm. 14. bei wenig hervortretendem Duft. tungslos !) Faſt alle ſehr honighaltigen Pflanzen lafjen zur Zeit eines ſtarken Honigtaues den von den Bienenzüchtern ſogenannten Honigduft erkennen. Dieſer, aber nicht der Wohlgeruch irgend welcher flüchtigen Ole, der ſie oft zu honigloſen Blumen führen würde, kann die Honigbienen anlocken. 9) Alſo: Die Entwickelung der Wohlgerüche bei den Pflanzen und die des Nektars fallen nicht zuſam— (Bedeu: men. (Richtig, aber als Einwand gegen Bonnier auch nicht den Schatten eines die Blumentheorie wiederum bedeutungs— los. Ref.) „Der zuckerhaltige Stoff iſt es, der die Inſekten (in Bonnier's Munde gleichbedeu— | tend mit Bienen) anzieht, unabhängig von allen Blumenanpaſſungen. Sie wiſſen ihn in den dunkelſten und am wenigſten duf— tenden Blumen zu finden.“ 20) §. 4. Beobachtungen und Erfah— rungenüber die gegenſeitige Anpaſ— ſung der Inſekten und der Blumen. „Nach dem S. 25 zitirten Ausſpruche von Sachs könnte man glauben, daß ein gegebenes Inſekt immer eine beſtimmte Blumenart beſuche, daß es ſie immer auf 19) Bonnier legt den modernen Blumen— forſchern die Anſicht unter, daß alle Pflanzen— düfte als Anlockungsmittel der Kreuzungsver— mittler dienen, obwohl Kerner viele derſelben ausdrücklich als Schutzmittel gedeutet hat. Er kennt auch in dieſem Falle nur die Honigbiene als blumenbeſuchendes Inſekt und denkt gar nicht daran, die ekelhaften Düfte vieler Aasfliegen— blumen, die würzigen vieler Falterblumen auch nur mit einer Silbe zu erwähnen. 20) Vgl. meine Bemerkung über die Un— fruchtbarkeit der Bonnierſchen Beobachtungsme— thode S. 221, 222. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. I 234 dieſelbe Weiſe beſuche, daß alle Organe der Blume, und insbeſondere die Nektarien ſtimmte Stellung des angepaßten Inſekts die Kreuzung bewirkt werde. Es iſt aber nichts davon der Fall.“ 21) Denn: „1. Ein unddieſelbe Blume kann von einem und demſelben Inſekte auf mehrere verſchiedene Arten be— ſucht werden. “() Daß dies der Fall, iſt längſt be— kannt und von mir bereits in zahlreichen Fällen, die Bonnier einfach ignorirt, feſt— geſtellt. Wenn derſelbe in dieſer Thatſache einen Einwurf gegen unſere Blumentheorie erblickt, ſo iſt dies wiederum nur in ſofern von Intereſſe als es ſeine grob teleologi— ſche Auffaſſung derſelben kennzeichnet. 2. Anderung der Blüte ohne merkliche Modifikation des Inſek— tenbeſuchs. Um zu zeigen, daß die Form der Corolla nicht notwendig den beſuchen— den Inſekten angepaßt ſei, weiſt Bonnier darauf hin, daß er Honigbienen den Honig einiger Blumen noch nach dem Abfallen der Blumenblätter habe ſaugen ſehen, ohne zu bedenken, daß bei allen Bienenblumen mit der Entfernung der Corolla die ſonſt ge— ſicherte Kreuzung durch Bienen vereitelt oder zu einem bloßen Zufalle gemacht wird. Weiter führt Bonnier an: „Kurr hat bei 32 Pflanzenarten die Blumenkrone ent— 21) Bonnier macht es ſich in der That mög— lichſt leicht, indem er aus einem Lehrbuche der Botanik, das die Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und Inſekten, in teleologiſcher Faſſung, nur eben andeutet, einen einzelnen Satz heraus— greift und als Inbegriff einer umfaſſenden Lehre bekämpft. Er ſcheint wirklich keine Ahnung da— von zu haben, daß er damit wieder nur einen ſeiner Windmühlenkämpfe ausführt, von denen dieſe Lehre ganz unberührt bleibt. derart berechnet ſeien, daß durch die bes Literatur und Kritik. fernt, ohne einen Unterſchied in der Menge | der hervorgebrachten Samenkörner zu beo— bachten.“ Aber dieſe Angabe iſt der Haupt— ſache nach erdichtet und beweiſt daher nur die große Unzuverläſſigkeit Gaſt on Bonnierſcher Angaben. 3. Die Inſekten können Nah: rung von der Pflanze entnehmen, ohne Befruchtung zu bewirken. (ö) 4. Der Inſektenbeſuch der⸗ ſelben Pflanze differirt nach der Menge des von ihren Blüten ab— geſonderten Honigs. (!) In manchen Blumen (z. B. Pulmona— ria officinalis) kann, wie Bonnier richtig be— merkt, ein und daſſelbe Inſekt (3 B. die Honigbiene) den Honig, wenn er in gerin— ger Menge abgeſondert iſt und daher in der Blumenkronenröhre wenig emporſteigt, nicht erreichen, wenn er dagegen in reich— licher Menge abgeſondert iſt und höher emporſteigt, kann es ihn erreichen. Andere Blumen (Sambucus Ebulus, Draba verna u. a.) ſondern unter günſtigen Witterungs— verhältniſſen Honig ab, während unter ungünſtigen Umſtänden die Honigabſonde— rung unterbleibt. Auch nach der Meeres— höhe und geographiſchen Breite kann die Honigabſonderung ein und derſelben Pflan— zenart variiren. Ein und dieſelbe Pflanzen— art müßte alſo, wenn es eine Anpaſſung gäbe, unter verſchiedenen Umſtänden ver— ſchiedenen Beſucherkreiſen angepaßt fein. (J) Es giebt nach dem Verf. wenige Formen, die unter ſich weniger angepaßt ſind, als faſt alle Blumen und Inſekten, die ſie am meiſten beſuchen: Medicago lupu- lina und Apis mellifica 22), Caltha pa- lustris und Andrena etc. 25) Medicago lupulina iſt wie andere Pa— pilionaceen den Bienen angepaßt. Daß bei ihr W Zi . ei 1 — Bekanntlich werden Hymenopteren beim Beſuche von Asklepiasblüten ſehr oft an den Krallen feſtgehalten, ohne ſich wieder los machen zu können. Die Nukka-Motte, welche die Pukkablüten beſucht, verzehrt die Eier: Das ſind, wie man zugeſtehen wird, ſeltſame gegenſeitige Anpaſſungen.?s) 5. Beobachtungen über die Ent— fernung der nicht angepaßten In— ſekten. Da auch alle unter dieſer Überſchrift vorgebrachten Einwände nur von Bonniers grob teleologiſcher Vorausſetzung aus ir— gend welchen Sinn haben und thatſächlich nichts Neues darbieten, ſo begnügen wir uns, ſeine Schlußſätze mitzuteilen: „Man der ganze Mechanismus ſich ungewöhnlich ver— kleinert hat, thut ſeiner Wirkſamkeit, wie der Erfolg zeigt, keinen Eintrag. Gerade bei M. lup. iſt übrigens von Ch. Darwin durch den Ver— ſuch bewieſen, daß ſie, gegen den Zutritt der Bienen abgeſchloſſen, viel weniger fruchtbar iſt. Caltha palustris fand ich von 7 verſchieden— artigen Fliegen, 1 Käfer, 4 Bienen, darunter 1 Andrena, beſucht! Ich kann übrigens nicht erkennen, weshalb Andrena und Caltha nicht zu einander paſſen ſollten, ſondern finde im Gegenteile beide auf ſich entſprechender Anpaſ— ſungsſtufe ſtehend. Vgl. meine Bemerkung über Halictus und Ranunculus (Weitere Beobach- tungen, I, S. 50). Weitere Belege als dieſe zwei nichtsſagenden führt der Verf. überhaupt nicht an und ſpricht dabei von faſt allen Blumen. 23) Die Anführung der Asclepias beweiſt nur von neuem die teleologiſche Begriffsverwir— rung des Herrn G. Bonnier; die Anführung der Yucca-Motte in der Weiſe, wie es hier geſchieht, iſt dagegen geradezu als eine Fälſchung zu be— zeichnen. Denn dem Verf., der Rileys Ori— ginalaufſatz zitirt, muß ſehr wohl bekannt ſein, daß nach den Beobachtungen dieſes Forſchers die Vucca-Motte nicht die Eier, ſondern nur einen kleinen Teil der Eier von Yucca verzehrt und für die übrigen die einzige Be— fruchtungsvermittlerin iſt. Literatur und Kritik. 235 kann nicht ſagen, daß die Farbe oder der Geruch die nicht angepaßten Inſekten aus— ſchließt.?“) Man kann nicht ſagen, daß die Blumen zum Zwecke haben, durch ihre Form gewiſſe, angeblich der Kreuzbefruch— tung nicht angepaßte Inſekten zu entfernen. 6. Rolle der Dichogamie und Heteroſtylie. Darüber hat der Verf. weiter nichts zu bemerken, als daß Axell über die Bedeutung der Kreuzung und Selbſtbefruchtung anders geurteilt hat, als Darwin, Delpino, Hilde brand und 9. Müller. (Gleichgültig!) 7. Nektarien ohne äußeren Nek— tar. Auch bei allen honigloſen Pflanzen giebt es, nach Bonnier, in gewiſſen Blüten— teilen Zuckeranhäufungen, die man Nek— tarien ohne Nektar nennen kann. In eini⸗ gen Fällen werden dieſe nektarhaltigen Gewebe von beſuchenden Inſekten aufge— riſſen und der zuckerige Stoff gewonnen, in anderen nicht. Auf dieſe letzteren iſt die von der modernen Blumentheorie den Nektarien zugeſchriebene Rolle, wie der Verf. richtig bemerkt, nicht anwendbar. Noch weniger aber, fügen wir hinzu, können ſie einen Einwand gegen dieſelbe begründen. Im Gegenteil! Wenn ſich zuckerhaltige Ge— webe in den Blütenteilen aller Pflanzen fin— den, und wenn, worauf Bonnier nachdrück— lich beſteht, eine Grenze zwiſchen abſondern— den und nicht abſondernden Nektarien ſich in keiner Weiſe ziehen läßt, ſo begreift man um ſo leichter, wie beim Übergange der Windblütler zur Inſektenblütigkeit, bei verſchiedenen Pflanzen in verſchiedener Weiſe Nektarien durch Naturausleſe zur Ausbildung gelangen konnten. Mit dem 24) Wenn aus dem „nicht“ ein „nicht un⸗ bedingt“ gemacht wird, ſo können wir uns mit dieſem Satze einverſtanden erklären. 236 letzten entſcheidenden Streiche, den Herr Gaſton Bonnier unſerer Blumentheorie zu verſetzen meint, giebt er derſelben alſo nur eine neue Stütze. Wir überlaſſen daher den Herrn Ver— faſſer gern dem Hochgefühl, mit dem er in §. 5 die Schlußfolgerungen ſeiner vorhergehenden Prüfungen in die Sätze zuſammendrängt: „Mankann nicht zu— geben, daß es gegenſeitige Anpaſ— ſungen zwiſchen Blumen und In— ſekten giebt. Die moderne Theo— rie über die Rolle der Nektarien erſcheint ungenügend,“ — undſcheiden von ihm mit dem beruhigenden Bewußt— ſein, daß er, in blindem Eigendünkel mit kindiſchen Waffen bemüht, eine der um— faſſendſten und beſtbegründeten Theorien zu vernichten, derſelben nur einige neue Stützen beizubringen vermocht hat. Hermann Müller. Erasmus Darwin und ſeine Stel— lung in der Geſchichte der Des— zendenztheorie. Von Ernſt Krauſe. Mit ſeinem Lebens- und Charakterbilde von Ch. Darwin. Nebſt Lichtdruck— Porträt und Holzſchn. Leipzig, Ernſt Günthers Verlag, 1880. 236 S. in 8“. Die kleine Skizze über Erasmus Darwins wiſſenſchaftliche und poetiſche Werke, welche zuerſt im Februarheft des vorigen Jahrganges dieſer Zeitſchrift er— ſchien, ſodann auf Veranlaſſung der Fa— milie Darwin ins Engliſche überſetzt wurde, liegt hier in beträchtlich erweiterter und vervollkommneter Geſtalt vor. Sie hat nach zwei Seiten hin ein ſehr erhöhtes Intereſſe gewonnen: einerſeits durch eine 72 Druckſeiten umfaſſende Einleitung von Charles Darwin, in welcher derſelbe Literatur und Kritik. über die Herkunft ſeiner Familie und über den Lebensgang ſeines Großvaters berich— tet, indem er darin Bemerkungen über die Überlieferung gewiſſer körperlicher und geiſtiger Eigentümlichkeiten durch mehrere Generationen knüpft; andererſeits durch einen ungemeinen Reichtum von neuem zuverläſſigem Material für eine Geſchichte der Deszendenztheorie bis zu Erasmus Darwins Zeit, welches der deutſche Ver— faſſer als Frucht mannigfacher Spezial— ſtudien, teils im Text, teils in nachträg— lichen Anmerkungen, in engen Raum zu— ſammengedrängt, hier niedergelegt hat. Beide Erweiterungen des urſprüng— lichen kurzen Aufſatzes wirken vereint da— hin zuſammen, das Lebensbild des Groß— vaters von Charles Darwin, der als Menſch, Philoſoph und Dichter ſeine Zeit— genoſſen gewaltig überragt hat, in ſchar— fen Zügen vor uns auszuprägen und zu— gleich durch Klarlegung zahlreicher Fäden geſchichtlichen Zuſammenhanges unſerem Verſtändniſſe näher zu rücken. Gleichzeitig wird unſere Kenntnis des Enkels nicht nur dadurch weſentlich vertieft, daß wir viele ſeiner Eigentümlichkeiten als vom Groß— vater ererbt erkennen und von den meiſten Fragen, deren wiſſenſchaftliche Löſung das große Lebenswerk des Enkels bildet, ſchon des Großvaters Geiſt poetiſch angeregt ſehen, wir lernen außerdem auch den großen Naturforſcher hier von einer ganz neuen Seite kennen, nämlich als gemüt— und humorvollen Berichterſtatter über Le— ben und Haushalt ſeiner Familie in alten Zeiten, wobei nicht nur jenes unbedingte Feſthalten an der hiſtoriſchen Treue und das milde Urteil hervortritt, welches alle ſeine Schriften kennzeichnet, ſondern auch eine Vorliebe für kulturgeſchichtliche Ein— Literatur und Kritik. zelheiten, die dem Leſer neu ſein wird. Wir erfahren daraus, daß die älteſten Vorfahren der Familie, von denen etwas bekannt iſt, während des ſiebzehnten Jahr- hunderts im Staatsdienſte ſtanden und teilweiſe durch ihre Anhänglichkeit an die Sache des unglücklichen Königs Karl ſchwere Einbußen an ihrem Vermögen er— litten. Schon unter den älteren Mitglie— dern zeigte ſich eine deutliche Hinneigung zur Naturforſchung und Poeſie, die dann bei Erasmus Darwin in einer ſehr en— gen und ſeltenen Verbindung auftrat, während der Sinn für Naturerkenntnis, und zwar im allgemeinen in der von ihm inaugurirten Richtung, nicht nur in ſeinem berühmten Enkel die allgemein gewürdig— ten Früchte getragen, ſondern auch in einer Schar von Urenkeln — wir nennen nur Francis und George Darwin und Francis Galton — weiter blüt. So wird die Familie ſelbſt zu einer Demon— ſtration für die Vererbung erworbener Eigentümlichkeiten. Aus der Jugend von Erasmus Darwin wird ein humoriſtiſcher Brief— wechſel mit ſeiner drei Jahre älteren Schweſter mitgeteilt, in welchem die Frage erörtert wird, ob die Schweine, ſeitdem die Teufel in ſie fuhren und ſie in den See ſtürzten, als Fiſche uud Faſtenſpeiſe zu gelten haben, wobei einerſeits ein in— tereſſanter Bericht über die Mäßigkeit der Lebensweiſe jener guten alten Zeit ge— geben wird, anderſeits die erſten Andeu— tungen der Mäßigkeitsbeſtrebungen her— vortreten, die in Erasmus' Leben und Wirken eine ſo bedeutende Rolle ſpielen. Der Verfaſſer ſchildert hierauf kurz deſſen Studiengang, ſeine Niederlaſſung als Arzt, ſeine Werbung um Marie Ho— 237 ward, mit einem humoriſtiſchen Liebes— briefe, ſeine ſchnell zunehmende Praxis und ſeinen Umgang mit zahlreichen Män— nern der Wiſſenſchaft und Praxis. Es be— finden ſich unter dieſen größtenteils lebens— langen Freunden eine Reihe der bedeutend— ſten Männer jener Zeit, von denen wir als in Deutſchland bekannte nur den Sohn des vielgenannten Populärphiloſophen Reimarus, Watt und Boulton, die Väter der Dampfinduſtrie, Brindley, den Schöpfer des engliſchen Kanalweſens, den berühmten Thonwaarenfabrikanten Wedgwood, Edgeworth, den Vater der noch immer hochgeſchätzten Schriftſtellerin, Hutton, den Reformator der Geologie, und J. J. Rouſſeau nennen. Nach Mit⸗ teilung mancher zum Teil ſehr origineller Briefe verweilt der Verfaſſer etwas län— ger bei einigen Punkten in der Biographie ſeines Großvaters von Miß Seward, um deren gänzliche Haltloſigkeit darzu— thun. Wenn je das Sprüchwort: „Gott behüte mich vor meinen Freunden u. ſ. w.“ für Jemand zur verhängnisvollen Wirk— lichkeit geworden iſt, ſo geſchah dies dem älteren Darwin, deſſen „Freundin“ ihn in der That ärger verleumdet hat, als ſeine ſchlimmſten Feinde. Man muß die Mäßigung bewundern, mit welcher der Enkel ihre durchaus haltloſen Verläſte— rungen widerlegt und uns den Schlüſſel zu dieſem Verhalten in verſchmähter Liebe nachweiſt. Nicht weniger herzgewinnend iſt die Art, in welcher der Verfaſſer ſeinen Großvater gegen den Vorwurf des Athe— ismus verteidigt. Seine ſeltene Objektivi— tät tritt ferner in der Schilderung des Niederganges von Erasmus Darwins poetiſchem Ruhmesglanze hervor, und nach aller und jeder Richtung wird der Leſer durch die Unbefangenheit des Urteils und | durch die edle Einfachheit der Darſtellung erquickt. E. Krauſes unbeſtreitbares Verdienſt iſt es, Charles Darwin zu dieſer authen- tiſchen Auskunft über ſeinen Großvater und ſeine Familie veranlaßt zu haben, und dies allein würde hinreichen, ihm unſere Dank— barkeit für den von ihm geſchriebenen Teil der vorliegenden Schrift, der dieſe Anre— gung gegeben hat, zu ſichern. Aber auch an und für ſich iſt dieſer zweite Teil nicht weniger leſenswert als der von Charles Darwin geſchriebene erſte; jeder von bei— den fordert den andern als notwendig zu ſeiner Ergänzung. Ernſt Krauſe eröffnet ſeinen Teil mit einer gedrängten Schilderung der allge— meinen Weltanſchauung, die er, namentlich ſoweit ſie den Urſprung der Lebeweſen be— trifft, von der Griechenzeit an bis zu den Tagen Erasmus Darwins verfolgt, ſchildert dann deſſen Anteil an der Fort— bildung derſelben ausführlicher und ſchließt mit einer reichen Folge von Anmerkungen, in denen viele originelle Einzelheiten erör— tert und ausgeführt werden. Seine Arbeit zeigt nicht allein klar, daß nicht Lamarck, ſondern Erasmus Darwin als der Be— gründer der Deszendenztheorie betrachtet werden muß, ſondern iſt auch als eine erſte Skizze von der Entwicklung der Deszendenz— theorie in den älteren Zeiten wertvoll. Ein ſpäterer Geſchichtsſchreiber derſelben dürfte in dieſer kleinen Schrift eine reichere Fund— grube zuverläſſigen Materials finden, als ſie irgend wo ſonſt bis jetzt exiſtirt. Hermann Müller. Literatur und Kritik. Il Suicidio, Saggio di Statistica morale e comparata; opera pre- miata dal R. Istituto Lombardo; Bi- blioteca Scientifica Internazionale, vol. XXI. Milano, Fratelli Dumolard, 1879. Die internationale wiſſenſchaftliche Bibliothek iſt um ein neues Werk von höchſtem Intereſſe bereichert worden, in— dem der verdienſtvolle Direktor der Pro— vinzial-Irrenanſtalt in Macerato, Prof. E. Morſelli, dafür eine höchſt wichtige und in mancher Hinſicht vollendete Studie der vergleichenden Moralſtatiſtik unter dem Titel „Der Selbſtmord“ (Il Suicidio) ge— liefert hat. Es iſt dies ein Werk, welches uns jedenfalls das vollſtändigſte Material vorführt, das bis jetzt über dieſe nachdenk— liche Erſcheinung unſerer geſellſchaftlichen Zuſtände geſammelt wurde. Wir können, um dem deutſchen Leſer eine vorläufige Idee von dieſem Werke zu geben, nichts beſſeres thun, als dem aus— gezeichneten Überblick folgen, den Herr E. Regalia in dem Archivio per !’An- tropologia etc. über den Inhalt des vor— liegenden Bandes giebt. Um die breite Grundlage dieſer Stu— dien darzulegen, wollen wir hier nur an— deuten, daß, während Esquirol 200 Fälle beobachtete, Kayſer 2800, Que— telet 30,000, Lisle 52,000, Guerry 60,000, Wagner und Oettingen 120,000, der Autor ſelbſt nicht weniger als 300,000 derſelben unterſuchte, ein Material, welches gewiß zu allgemeinen Schlußfolgerungen berechtigt und uns in der That zu überraſchenden Konſequenzen von pſychologiſcher und ſozialer Wichtig— keit führt. Vor allem konſtatirt der Autor, daß n der Selbſtmord durchaus nicht mehr va— riirt als andere Erſcheinungen phy— ſiologiſcher und organiſcher Natur, derſelbe mithin auch nicht in ein der Sta— tiſtik nicht zugängliches Gebiet gebannt werden darf, — wie dies in erſter Linie das Zunehmen und die Regelmäßig— keit des Selbſtmordes in den zivili— ſirten Staaten aufs deutlichſte beweiſt. Welches aber ſind denn die Urſachen dieſes ſich unter ſo manchen verſchiedenen Umſtänden zeigenden Phänomens? Sollte das Klima vielleicht die Anzahl der Selbſt— mörder beeinfluſſen oder gar beſtimmen? Dies ſcheint jedoch, nach den Durchſchnitts— zahlen der verſchiedenen Staaten zu ur— teilen, inſofern nicht der Fall zu ſein, als dieſelben durchaus keinen beſtimmten und abſoluten Einfluß des Klimas dar— thun. Nur ſteht im allgemeinen, Europa betreffend, ſo viel feſt, daß der Süden (Italien, Spanien und Portugal) das Minimalverhältnis zeigt, während das— ſelbe zunimmt, je mehr wir uns dem Zen— trum, und zwar dem 50. Breitegrade, nähern. Aber auch die Jahreszeiten zeigen deutlich eine Regelmäßigkeit im Vorkom— men des Selbſtmordes, und zwar bemerkt man, daß beim freiwilligen Tode wie beim Wahnſinn nicht ſo ſehr die intenſe Wärme in der vorgerückten Som— merſaiſon, ſondern mehr die erſte Wärme des Frühjahrs und Sommers einwirken, welche den Organismus in einer Zeit treffen, wo derſelbe noch ungewöhnt iſt und ſich unter dem Eindrucke der kal— ten Jahreszeit befindet. Eigentümlich ſind die Unterſuchungsreſultate bezüglich der Tage und Stunden, wie auch, nach Oettingen, das häufigere Vorkommen Literatur und Kritik. 239 der weiblichen Selbſtmorde in den zwei Wochenhälften, Sonnabend ausgenommen, in umgekehrtem Verhältniſſe zu den männlichen. Die Maximalſtunden find von 6 Uhr morgens bis Mittag, während das Minimum in die Stunden vor Sonnen— aufgang fällt. Die tägliche Verteilung der Selbſtmorde geht alſo parallel mit der Geſchäftsthätigkeit, der Arbeit, mit dem Geräuſch, welches das Leben der modernen Geſellſchaft charakteriſirt, und nicht mit dem Schweigen, der Ruhe und Abſonderung. Ethnologiſch ordnet ſich die Fre— quenz des Selbſtmordes in Europa in ab— nehmender Reihe wie folgt: In erſter Linie ſtehen die Süd- und Mitteldeutſchen, dann kommen die Nord— deutſchen, dann die Skandinavier, Kelto— Romanen, Angloſachſen, Magyaren, Flam— länder, Nordſlaven, Finnen, Kelten, Süd— ſlaven und Slovenen, Italo-Romanen und Latiner. Für Italien insbeſondere wird das Faktum konſtatirt, daß die Häufigkeit des Selbſtmordes im allgemeinen in den ver— ſchiedenen Teilen des Landes in direktem Verhältnis zur Statur ſteht und daß die Neigung zum Selbſtmorde vom Süden zum Norden zunimmt, im Maße wie all— mählich die Statur der Italiener zunimmt. Selbſtverſtändlich dürfen ſolche Beziehun— gen zwiſchen Selbſtmord und Statur als ethniſches Kriterium nur im allgemeinen Sinne genommen werden, da natürlich, wie zu erwarten war, Ausnahmen vor— handen ſind. Nehmen wir andere anthropolo— giſche Charaktere der zwei Hauptvolks— typen Europas mit in betracht, jo finden wir von Oſt nach Nordweſt gehend die Spur von der Einwanderung der Arier 240 oder Blonden, mit großer Neigung Literatur und Kritik. zum Selbſtmord bei hoher Statur. Das breite Band, welches der Autor auf ſeiner geographiſchen Karte des Selbſtmordes „suicidigen“ nennt, deutet uns die Rich— tung und den Weg an, welchen in jenen entlegenen Zeiten jene ſtarke und zähe Raſſe einſchlug, die ſich nach ſo vielen Jahrhunderten an der Spitze der Zivili— ſation befinden ſollte. Betreffs der Sitten erkennt der Au— tor, daß die Statiſtik impotent iſt, in Zahlen einen ſo komplexen Einfluß zu beſtimmen. Bei den niederen Völkern finden wir Selbſtmorde faſt nur durch Hunger oder Fanatismus veranlaßt; ſo z. B. konſtatirt man bei den in Newyork, alſo unter einer höheren Raſſe lebenden Negern in ſieben Jahren 9 Fälle auf eine Million, während die Weißen nicht weniger als 140 aufzuwei— ſen haben. Seine Betrachtung über die ſozialen Einflüſſe ſchließt der Autor mit den Worten: „Wer in dem beſtändi— gen Kampfe, den der Menſch gegen die Natur und ſich ſelbſt zu kämpfen hat, die erſte Urſache ſeiner Fortſchritte und auch ſeiner Übel erkennt, dem erſcheint der Selbſtmord als was er wirklich iſt: ein un— vermeidliches und notwendiges Phänomen in der Kulturentwicklung der Menſchheit.“ Den gewaltigen Einfluß des religiö— ſen Gefühls verkennt der Autor nicht, obwohl er denſelben als rein „phyſiolo— giſch“ bezeichnet. Aus ſeinen Unterſu— chungen des ſpeziellen Einfluſſes ver— ſchiedener Glaubensbekenntniſſe ſchließt er, daß wirklich bewieſen nur das Faktum tft, daß die proteſtantiſchen Länder die katholiſchen in der Anzahl der Selbſtmorde übertreffen. Bekenntniſſe ſtellt ſich in erſter Linie fo: Proteſtanten, Katholiken, Juden; dann folgt aber gleich eine zweite: Pro— teſtanten, Juden, Katholiken. Bei den Muhamedanern iſt der Selbſtmord ſelten, doch konſtatirte man bereits, daß derſelbe bei den Arabern in Algier im Zunehmen begriffen iſt. Jedenfalls ſind der Natur der religiöfen Glaubensbekenntniſſe jene ſchrecklichen Selbſtmord-Epidemien zuzu— ſchreiben, welche uns die indiſchen Reiſen— den mit ſo ſchwarzen Farben als bei den Bekennern Buddhas und Brahmas vorkom— mend ſchildern. Statiſtiſche Daten fehlen uns jedoch hierüber. f In allen Ländern hat es ſich erwieſen, daß Selbſtmord und Geiſteskrankheiten. hauptſächlich in den Klaſſen vorkommen, welche die Ziviliſation mit der Gabe der Bildung beglückt hat; und dies iſt der Fall ſowohl in Deutſchland und Frank— reich wie in Italien und England; kurz, es gilt dies für ganz Europa. Ferner ſind es die ein höheres Niveau von all— gemeiner Kultur beſitzenden Länder, welche das größte Kontingent zum frei— willigen Tode liefern. Der Einfluß der öffentlichen Mo— ralität iſt in dieſer Frage ſehr ſchwer zu erfaſſen, umſomehr, als man ſich über den Begriff von „öffentlicher Moral“ nicht leicht verſtändigen wird. Gewiß ſind die den moraliſchen Satzungen am meiſten er— gebenen und die häuslichen Affekte am lebhafteſten empfindenden Völker (wie Ger— manen und Skandinavier) durchaus nicht die dem Selbſtmorde abgeneigten, wenn nicht ſogar das Gegenteil. Die von der Statiſtik in betracht gezogenen Sozial— phänomene, welche den Moralitätsgrad Eine Klaſſifizirung der vorherrſchenden eines Landes ausdrücken, ſind nur die Literatur ten. Der Vergleich dieſer Daten mit de— nen des Selbſtmordes führt zu keinem kla— ren und befriedigenden Reſultate; Mor— ſelli glaubt nur ſchließen zu dürfen, daß dort, wo der jährliche Durchſchnitt der freiwilligen Todesfälle eine ſtarke Zus | und Kritik. Verbrechen und unehelichen Gebur⸗ nahme aufweiſt, man auch im allgemeinen ein gleichzeitiges Zunehmen des Verbrecher ſtandes bemerkt. Wo die Vergehen gegen das Eigentum vorherrſchen, ſind die Selbſt— morde häufiger als dort, wo Blutsver— brechen oft vorkommen. Den Einfluß der allgemeinen wirt— ſchaftlichen Verhältniſſe behandelt der Autor mit großer Umſicht und Bered— ſamkeit, doch genügt es auch hier, die all— gemeinen Thatſachen anzudeuten. Jahre von Mißernten, allgemeinem Notſtande und Finanzkriſen zeigen eine konſtante Zu— nahme in der Proportion von Geiſtes— kranken, und alles, was zur Verſchlechte— rung der wirtſchaftlichen Verhältniſſe eines Landes oder einer Menſchenklaſſe beiträgt, iſt dort auch Urſache zum Selbſtmord. Die Wirkung iſt jedoch nicht augenblicklich: der Sozial-Organismus braucht, ebenſo wie der individuelle, eine gewiſſe Zeit, damit ſich die durch den ſchädlichen Einfluß her— vorgebrachte Störung in ihren Konſequen— zen entwickle. Aus dem Vergleich zwiſchen den frü— heren und heutigen politiſchen Re— gierungsformen und aus der Zu— nahme der Selbſtmorde erſah man, daß letztere in dem Maße ſtattfand, wie ſich die zuerſt konzentrirten Kräfte nach und nach aus einander teilten, und der Begriff und die freiere Ausübung des In— dividualismus (Self help) in das Volks— gewiſſen eindrang. Den Beweis dieſer 241 größeren individuellen Teilnahme an den allgemeinen politiſchen Phaſen beſitzen wir in der augenſcheinlichen Abnahme der frei— willigen Todesfälle während Revolutions— und Kriegszeiten. Jedoch werden unſere Nachkommen beſſer als wir die Wirkungen der höheren Gehirnſenſibilität und Gehirn— funktion ſchätzen können. Der allgemeine Gang des Selbſtmor— des folgt der Bevölkerungszunahme und übertrifft dieſe ſogar in faſt ganz Eu— ropa. Wenn, nach Wappäus, eine ge— wiſſe Bevölkerungsdichtigkeit zum materi— ellen und moraliſchen Fortſchritte nötig iſt, ſo vermehrt dieſelbe aber auch die Schwie— rigkeiten des Lebens, die Konkurrenz, die Armut, die Auswanderung und die Wir— kungen der wirtſchaftlichen Störungen. Dennoch ſcheint der Einfluß auf die An— zahl der Selbſtmorde nicht groß, oder we— nigſtens nicht abſolut zu ſein. Daß in den Städten die Anzahl der Selbſtmorde die auf dem Lande über— trifft, läßt ſich durch die mannigfachen Kontakte und Reibungen, denen das Stadt— leben ausgeſetzt iſt, erklären. Doch iſt die— ſer Einfluß der Stadt nicht ſo allgemein und ausſchließlich. Das Stadtleben iſt ein wirkſamer Modifikator des menſchlichen Willens, doch wirkt es nicht auf alle an— deren ſozialen und individuellen Faktoren neutraliſirend. Die relative Intenſität des Selbſtmordes bietet in einem gegebenen Diſtrikte dieſelben Charaktere, welche Be— völkerung man auch immer in betracht zie— hen mag; wenn die Intenſität der Stadt eine große iſt, ſo iſt ſie es auch auf dem Lande; in jener nimmt ſie ab, parallel mit dem allgemeinen Durchſchnitt. Das Kapitel über die Einflüſſe der individuellen biologiſchen und ſo— Kosmoß, IV. Jahrg. Heft 3. 242 zialen Verhältniſſe beginnt mit einer Abhandlung über den Begriff „morali— ſche Freiheit“. Dem Schluſſe des Ver— faſſers ſtimmen wir durchaus bei: daß die Mannigfaltigkeit der in den Individuen wirkenden Urſachen „eine unendliche und entſprechende Mannigfaltig— keit von Wirkungen erzeugt; daher der täuſchende Anſchein, als ob dieſe Wirkungen den Charakter der individuellen Spontaneität beſäßen“. Geſchlechtlich iſt in allen Ländern das Verhältuis von 1 Frau zu 3 oder 4 Männern, wie auch die Proportion des Verbrechens 1:4 oder 5 iſt. In Italien ſind die ſexuellen Mittel während 1864/77 auf 100 Selbſtmorde: 79,7 männliche und 20,3 weibliche. Woher rührt das große Übergewicht des männlichen Elementes? Der Verf. findet, daß die Frau haupt— ſächlich durch phyſiſche Urſachen dazu geführt wird (Wahnſinn, Pellagra, Ge— hirnkrankheiten), während beim Manne Beweggründe vorwalten, welche direkt von den Lebensſchwierigkeiten und dem Kampf ums Daſein abhängen. Hören wir nun, was der Verf. betreffs des Alters ſagt: „Die Phyſiologie und die Embryogenie beweiſen, daß die menſch— liche Entwicklung die Phaſen der ganzen Serie der Lebeweſen darſtellt: von den Primordialzuſtänden bis zur Vervollkomm— nung des Organismus. Wenden wir dies Prinzip im Bereiche der Soziologie an, ſo können wir annehmen, daß die Evolution des Individuums in ſich die der ganzen Geſellſchaft verkörpert, beſonders in den moraliſchen (pſychologiſchen) Erſcheinun- gen. Die Tendenz zum Verbrechen variirt in den menſchlichen Geſellſchaften je nach ihrem Organiſationszuſtande, und auch Literatur und Kritik. beim Individuum iſt dieſelbe am höchſten in dem der vollſtändigen Reife vorhergehenden Zeitraume vorhanden. Dieſes pſychologiſche Zuſammentreffen wiederholt ſich beim Selbſtmord, aber in umgekehrter Weiſe. Der freie Tod iſt der ziviliſirteſten Geſell— ſchaft eigen. Dieſer Kollektivdifferenz ent— ſpricht ein verſchiedener Grad in der ſelbſt— mörderiſchen Tendenz je nach dem Alter des Individuums; ſie nimmt in beiden Ge— ſchlechtern in direktem Verhältniſſe zum Alter zu. In ganz Europa iſt der Selbſt— mord frühzeitiger bei dem weiblichen als bei dem männlichen Geſchlecht; bei erſterem herrſcht er unter 30 bis höchſtens 35 Jahren vor, bei letzterem von 40 Jahren an. Der Autor beſteht dann auf der nicht genug gewürdigten Wichtigkeit des Zivil— ſtandes und zeigt, wie die Liebe und die Familie aus der Umwandlung des ur— ſprünglichen geſchlechtlichen Bedürfniſſes entſprangen. Aus den weiteren Betrach— tungen geht hervor, daß Witwenſchaft, Trennung und Cölibat einen ſchädlichen, die Ehe einen wohlthätigen Einfluß aus— üben. Die beiden Abſätze über die Profeſ— ſion und die ſoziale Stellung ſind reich an Vergleichen und wichtigen Betrachtun— gen; wir heben hier blos daraus hervor, daß Soldaten und Gefangene, bei denen, trotz ſo mancher Unterſchiede, durch den mit— telſt der Disziplin auf den individuellen Willen ausgeübten Druck eine gewiſſe Über— einſtimmung exiſtirt, einen bedeutenden Tribut zur Selbſtmordſtatiſtik beitragen. „Der Autor ſpricht dann von den be— ſtimmenden Beweggründen, welche wir ebenfalls in den Bereich der Sta— tiſtik ziehen können, welch letztere uns | lehrt, daß bei gegebenen Verhältniſſen — — Literatur und Kritik. a 243 einer geſelligen Vereinigung eine beſtimmte Anzahl Individuen ſich das Leben nehmen werden. Der Alkoholismus liefert dem Selbit- morde eine beträchtliche Anzahl Opfer; in Deutſchland 56% ,q in Schweden (vor 24 Jahren 65½½ %) jetzt nur 11,2 %, in Italien nur 1¼ bei dem männlichen und 0,16 % bei dem weiblichen Geſchlechte. Hand in hand mit den phyſiſchen Urſachen geht die Armut (miseria), worin Italien das Primat beſitzt. Die Selbſtmorde we— gen Armut ſtimmen wieder mit denen we— gen Pellagra überein; Armut und Pel— lagra ſind alſo Schweſtern und es ſcheint die Annahme nicht begründet, daß Pellagra allein vom Gebrauch des verdorbenen Mais herrühre. Nach dem Verf. iſt die Meinung von Ferrus und Despine, beim verſtandes— geſunden Menſchen ſei der Selbſtmord meiſtens von edlen und generöſen Gefüh— len herzuleiten, nicht richtig. Je näher man die beſtimmenden Urſachen unter— ſucht, findet man, daß ſie das Erzeugnis eines raffinirten egoiſtiſchen Gefühles ſind. Die Selbſtmorde aus erhabenen und groß— mütigen Beweggründen kommen vor, ſind aber äußerſt ſelten. Man bedenke, wie die Reihe der beſtimmenden Gründe ſich auf einen einzigen zurückführen läßt, auf die Verzweiflung darüber, das nicht erreicht und verloren zu haben, was man im erregten Zuſtande der Leidenſchaft mehr als das Leben ſchätzte. Die die Natur der Gründe modifizi— renden Einflüſſe ſind dieſelben, welche auf die allgemeine Dispoſition der Selbſt— morde einwirken. Während im Süden die Leidenſchaften, Liebe, Armut wirken, ſind es im Norden Alkoholismus, und in Mittel— europa, wo auch die größere Kultur ihren Sitz hat, das taedium vitae und die Schande oder Furcht vor Strafen. Der Wahnſinn entſteht faſt in demſelben Maße, in welchem Klima es auch ſein mag, während die anderen Urſachen, be— ſonders die moraliſchen, je nach dem Grade und beſonderen Charakter der Ziviliſation variiren müſſen. Die Betrachtung der Art und Weiſe und des Ortes, wie und wo der Selbſt— mord geſchieht, beweiſt, daß in einer Geſell— ſchaft von Menſchen, welche unter denſelben phyſiologiſchen und moraliſchen Bedin— gungen leben, auch die Natur und die Anzahl der Mittel zur Ausführung des Selbſtmordes immer dieſelben bleiben, in— ſofern dieſelbe an der allgemeinen Regel— mäßigkeit der ſozialen Erſcheinungen teil— nimmt. Die Wahl der Mittel wurde ſchon von Guerry als regelgemäß erkannt. Sie wird von zwei Hauptmotiven geleitet: von der Sicherheit des Ausgangs und dem Mangel oder der Kürze des Schmerzes. Eine wichtige ſtatiſtiſche Thatſache iſt es, daß die Wahl beſtändig von Jahr zu Jahr in einer beſtimmten Gruppe von Menſchen dieſelbe iſt, woraus auch um ſo augenſcheinlicher der modifizi— rende Einfluß erhellt, den die äußeren Bedingungen auf den menſchlichen Willen ausüben. Die von den beiden Geſchlechtern getroffene Wahl zeigt überall eine wunder— bare Regelmäßigkeit und Beſtändigkeit; worin ſich die Fälle zwiſchen beiden Ge— ſchlechtern am meiſten unterſcheiden, iſt im Gebrauch der Feuerwaffen. Eigentümlich iſt auch der Unterſchied in der Wahl mit dem Alter und derſozialen Stellung. 244 In Betreff des Ortes, wo der Selbſt— mord geſchieht, beſteht ein Unterſchied zwi- ſchen den beiden Geſchlechtern. Die Frau, deren Reich um den häuslichen Herd iſt, ſcheint ſich z. B. gegen den Selbſtmord im Freien oder an öffentlichen Plätzen zu ſträuben. | Im zweiten Teile des Werkes, Syn— theſis, Natur und Therapie des Selbſtmordes, entwickelt der Verf. allgemeine philoſophiſche Betrachtungen, die wir hier nur eben andeuten können: Alle individuellen Verſchiedenheiten ſind rein nebenſächlich. Das Vorhandenſein von univerſellen, konſtanten und (wenn ſich die äußeren Bedingungen nicht mo— difiziren) notwendigen Geſetzen beſchränkt die einem jeden angewieſene Aktions- ſphäre auf Minimalgrenzen und beweiſt, daß die pſychiſchen Thätigkeiten den näm— lichen Einflüſſen und denſelben langſamen Umwandlungen nach Zeit und Raum unter— worfen ſind, denen alle anderen Thätig— keiten des lebenden Organismus und der Art unterſtehen; es iſt ſogar bemerkens— wert, daß letztere unregelmäßiger und weniger klar von bekannten Urſachen ab— hängen, als der Selbſtmord. Nach der ge— machten Analyſis kommen wir zu dem Gene— ralſchluſſe: Der Selbſtmord iſt eine Folge des Kampfes ums Daſein und der menſch— lichen Ausleſe, welche ſich nach dem Ent— wicklungsgeſetze der Kulturvölker vollzieht. Die einzige Prophylaxis gegen den Wahnſinn und Selbſtmord beſtände darin, die Lebenskonkurrenzzwiſchen den Menſchen zu verringern, während heute Alles dahin ſtrebt, dieſelbe überall und in allen menſch— lichen Thätigkeitszweigen zu vermehren. Das einzige ſo ſehr ſchwer in die Praxis zu bringende und ſo ſtark verpönte Mittel Literatur und Kritik. wäre: die übermäßige Vermehrung der Kämpfenden zu zügeln! Die ganze Kur kann daher nur prophylaktiſch ſein und be— ſteht einzig darin: Im Menſchen die Kräfte zu entwickeln, um ein gewiſſes Ziel im Leben zu erreichen, kurz, dem moraliſchen Charakter Kraft und Energie zu verleihen. Florenz. J. E. Zilliken. Studien über die naturwiſſen— ſchaftlichen Kenntniſſe der Tal— mudiſten von Dr. Joſeph Bergel, Leipzig, W. Friedrich, 1880.102 S. in 8. Dieſe kleine Schrift giebt in acht Ab— ſchnitten, die der menſchlichen Anatomie, Phyſiologie, Pathologie, Zoologie, Chemie, Geologie, Phyſik und Aſtronomie gewid— met ſind, eine Blumenleſe der natur— wiſſenſchaftlichen Anſchauungen, Kenntniſſe und Irrtümer der Talmudiſten, wobei manche intereſſante Streitfragen zur Erör— terung kommen. An die Erörterung moſai— ſcher Vorſchriften über reine und unreine Tiere, Fleiſchgenuß und Zubereitung, Sab— bathgeſetze, Geſellſchaftsverhältniſſe knü— pfen ſich ſubtile Erörterungen, z. B. ob man am Sabbath in den Thermen von Tiberias kochen dürfe, was Rabbi Joſe verneint, da ihr Waſſer immerhin durch unterirdi— ſche Feuer (Höllenfeuer) erhitzt werde. Die Arzte des vorigen Jahrhunderts, welche an eine Selbſtentſtehung der Paraſiten im tieriſchen Körper glaubten, werden von einem alten Rabbi beſchämt, welcher vor— ſchreibt: Würmer, die in der Leber gefun— den werden, zu ſpeiſen, iſt verboten, weil ſie von auswärts dahin gelangt ſind. Ein Mangel des Buches iſt, daß viele der an— gezogenen Stellen nur im hebräiſchen Ur— texte mitgeteilt werden, was eine allge— = Literatur und Kritik. meine Brauchbarkeit verhindert. Viel eher hätte dagegen der Kommentar des Ver— faſſers eingeſchränkt werden dürfen, zumal er keineswegs auf der Höhe der natur— wiſſenſchaftlichen Anforderungen unſerer Zeit ſteht. So bemerkt der Verfaſſer zu der rabbiniſchen Fabel, daß ein Toten— gräber in einem engen unterirdiſchen Ka— nale einen Hirſch verfolgt und erſt ſpäter erfahren habe, daß er in der Höhle eines Schenkelknochen von Og, König von Ba— ſchan, gejagt habe, und daß er einmal in der Augenhöhle des Abſalonſchädels bis an die Naſe verſunken ſei: „Die aufgefun— denen ägyptiſchen wie amerikaniſchen Mu— mien, welche zum Teil älter ſind, als die Skelette von Og und Abſalon, ſowie die Abbildungen menſchlicher Figuren auf al— ten Monumenten zeigen durchaus keine größeren Geſtalten, als die jetztlebenden. Die erwähnten Rieſenſkelette müßten dem— nach, wenn deren Angabe nicht auf Täu— ſchung beruht, ganz iſolirt daſtehen“ (S. 9). Ahnlich klingt es, wenn der Kommentar S. 90 über die Sternſchnuppen bemerkt: „Erſt in neuerer Zeit ſchenkte man denſel— ben mehr Aufmerkſamkeit und fand, daß die Sternſchüſſe von außerhalb unſerer Atmoſphäre, von entfernten Himmelskör— pern herabkommen, was mit der talmu— diſchen Anſicht, daß ſie am Orion vorüber— gehen, übereinſtimmen möchte.“ Abgeſehen von dieſen Erläuterungen dürfte Jeder, der ſich mit der Geſchichte irgend eines na— turhiſtoriſchen Faches beſchäftigt, hier ganz intereſſante Beiträge finden. Methodiſches Lehrbuch der ällge- meinen Botanik für höhere Lehran— ſtalten. Nach dem neueſten Standpunkte der Wiſſenſchaft von Dr. Wilh. Jul. 245 Behrens. Mit zahlreichen Original— abbildungen in 400 Figuren vom Ver— faſſer nach der Natur auf Holz gezeich— net. Braunſchweig, Schwetſchke und Sohn (M. Bruhn), 1880. 337 S. in 8. Endlich ein Lehrbuch der Botanik, wel— ches der neuen Weltanſchauung Rechnung trägt. Unſere bisherigen Lehrbücher be— ſchränkten ſich darauf, dem Lernenden not— dürftig die Terminologie beizubringen, um ihn nur ſchnell zum Beſtimmen der Pflanzen zu befähigen und den „deſkriptiven Natur— forſcher“ vorzubereiten, oder verloren ſich in ein Detail, welches man den Handbüchern überlaſſen ſollte, wie das Sachsſche Lehr— buch. Das vorliegende Buch iſt aus der Praxis entſtanden, wie man dem Verfaſſer aufs Wort glaubt, und fördert den ſtreb— ſamen Schüler nach rein induktiver Methode ſo weit, daß er nachher ohne Zagen bei dem gelehrteſten Profeſſor ſeine botaniſchen Stu— dien fortſetzen können wird. Es iſt in fünf Abſchnitte getheilt, deren erſter die Morpho— logie enthält, alſo dasjenige, was die ge— wöhnlichen Elementarwerke lediglich zu bringen pflegen. Derzweite (Biologie) iſt ein erſter Verſuch, die bewährte Unterrichts— methode von Dr. Hermann Müller zum Gemeingut zu machen, indem er die für die Schüler ungemein anregenden Beſtäu— bungsverhältniſſe, die Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und Inſekten in vortreff— licher Weiſe darſtellt. Auch der dritte Abſchnitt, die Diagrammatik oder Geo— metrie der Blüte, enthält einen mehr oder weniger neuen Schritt, indem er die Eichlerſchen Blütendiagramme in umfaſſenderem Maße als es ſeither ge— ſchehen, in den Schulunterricht zieht, und zwar nicht, um die Schüler von der leben— den Pflanze zu emanzipiren, ſondern um 246 Literatur und Kritik. ihnen zur Erläuterung und zum haftenden | Anhängern über die Deutung der von Verſtändnis desjenigen, was ſie ſehen, zu verhelfen. In richtiger Stufenfolge behan— delt der vierte Abſchnitt Anatomie und Phy— ſiologie, und der fünfte die Kryptogamen. Da der Verfaſſer bittet, ihm Verbeſſerungs— vorſchläge zugänglich zu machen, ſo möchte Referent ſeiner nochmaligen Erwägung em— pfehlen, ob es nicht doch beſſer ſein würde, die zur Morphologie gehörige Diagram— matik vor die Biologie zu ſtellen, den zwei— ten und dritten Abſchnitt ihre Stellen tau— ſchen zu laſſen. Einen weitern Vorzug des Buches ſtellen auch die vorzüglichen, von dem Verfaſſer mit wenigen Ausnahmen nach der Natur auf Holz gezeichneten und unter ſorgfältiger Kontrolle geſchnittenen Abbildungen dar, ſo daß hier durch ver— ſtändnisvolles Zuſammenwirken von Ver— faſſer und Verleger eine höchſt vollendete Leiſtung erzielt wurde. Wir bitten alle Lehrer der Botanik, ſich dieſes Buch ge— nau anzuſehen. K. Karl Sachs, Aus den Llanos, Schil— derung einer naturwiſſenſchaftlichen Rei— ſe nach Venezuela. Leipzig, Veit & Comp. 1879. 369 S. in 8., mit Abbildungen. Der durch einen Unfall in den Alpen der Wiſſenſchaft zu früh entriſſene Ver— faſſer dieſes Buches war auf Koſten der Humboldtſtiftung nach Südamerika ge— gangen, hauptſächlich mit dem Auftrage, die Gymnotenfrage zu löſen. Unter Hum— boldts Beobachtungen und Naturſchilde— rungen giebt es kaum eine bekanntere als die der elektriſchen Aale (Gymnoten) und ihres Kampfes mit den Steppenroſſen in den Llanos von Venezuela. Humboldt hatte Europa verlaſſen, als der Streit zwiſchen Volta und Gal va ni und ihren Galva ni entdeckten Thatſachen zu voller Höhe entbrannt war, und er ſelber hatte ſich kurz vorher in ſeinem Werk „Über die gereizte Muskel- und Nervenfaſer“ für das Daſein einer tieriſchen Elektrizität aus— geſprochen. Der Anblick der gewaltigen Zitteraale, deren Körper ſcheinbar aus je— dem ſeiner Teile willkürlich einen nieder— ſchmetternden Blitz entſandte, war daher für ihn vom hinreißendſten Intereſſe. Aber leider hatte er Europa etwas zu früh ver— laſſen, um noch Nachricht von der Ent— deckung der Säule durch Volta zu erhal— ten, welche über dieſes Gebiet wenigſtens den erſten Schimmer von Helligkeit ver— breitete, und ſo kam es, daß die damals von ihm angeſtellten Verſuche, trotz allem darin entfalteten Eifer und Geſchick, weder für die Lehre von den elektromotoriſchen Organen, noch für die damit nahverwand— te von den Nerven und Muskeln ausgie— bige Frucht trugen. Merkwürdigerweiſe ſind ſeitdem über drei Viertel Jahrhun— derte verfloſſen, ohne daß in Südamerika eine einzige Beobachtung am Zitteraale angeſtellt worden wäre, obſchon dieſe Fi— ſche wiederholt nach Europa, beſonders nach London gebracht wurden, wo Fara— day daran eine berühmte Verſuchsreihe ausführte. Dr. Sachs hatte ſich mit einem mög— lichſt vollſtändigen hiſtologiſchen und elek— trophyſiologiſchen Apparate am 26. Sep: temper 1876 in Hamburg eingeſchifft, war am 21. Oktober in La Guayra gelandet, und hatte in Caracas bei dem kaiſerlich deutſchen Geſchäftsträger und General— Konſul, Dr. Stamman, den zuvorkommend— ſten Empfang gefunden. Nachdem er ſich in Caracas mit den nötigen Empfehlungs— F briefen und Ausrüſtungsgegenſtänden ver— ſehen, hatte er die Kordillere überſchritten und war am 19. November in Raſtro, einem armſeligen Dorf in der Steppe, eingetrof— fen, welches einſt die Stätte von Hum— boldts eigenen Verſuchen war, und wo dem Dr. Sachs ein reicher Grundbeſitzer, Don Carlos Palazios, „EI Rey de los Llanos“ genannt, ein Haus zur Ver— fügung geſtellt hatte. Hier aber fand ſich Dr. Sachs in feinen Erwartungen ſchlimm getäuſcht. Die Sumpfwaſſer in der Nähe des Dorfes, welche zu Humboldt's Zeit von Gymnoten wimmelten, gaben nicht einen her und hauchten um ſo gefährlichere Miasmen aus. Die Vorſtellung, nach Humboldts Beſchreibung Gymnoten zu fangen, indem man, um ſie zu erſchöp— fen, erſt Pferde oder Maultiere von ihnen erſchlagen läßt, wurde von allen Llaneros mit Gelächter aufgenommen, kein Wunder, da Dr. Sachs die Mula, die ihn von Caracas in die Steppe trug, mit 270 ſpa— niſchen Talern bezahlen mußte. Beſſer ge— ſtalteten ſich die Verhältniſſe im benach— barten Kalabozo, einer anſehnlichen Stadt mit vielen Bequemlichkeiten, wohin ſich Dr. Sachs nun begab. Der General Guancho Rodriguez nahm ſich freund— lich ſeiner an und ritt mit ihm drei Stun— den weit nach dem Rio Urituku, einem wilden, von prächtigem Urwald umgebe— nen Fluſſe, in deſſen Gewäſſern das Ver— derben in vielfacher Geſtalt kauerte: denn es wimmelte von Alligatoren, gefräßigen Karibenfiſchen, tückiſchen Stachelrochen und glücklicher Weiſe auch von Gymnoten. Der Verfaſſer kam hier und ſpäter in Beſitz eines ausreichenden Materials, um die Fragen zu löſen, die ſich namentlich auf den Bau der den größten Teil des Körpers Literatur und Kritik. Bo. III, S. 91. 247 fullenden elektriſchen Organe bezogen, wobei auch die Frage, ob dieſe Tiere bis zu einem gewiſſen Grade Immunität gegen den eige— nen Schlag beſitzen, bejahend beantwortet wurde. Leider gelang es aber nicht, die für unſere Betrachtungsweiſe der Natur intereſſanteſte Frage nach der Entwick— lungsgeſchichte dieſer elektriſchen Aale zu löſen, um Andeutungen darüber zu erhal— ten, wie ſich dieſe Organe im Laufe einer natürlichen Entwicklung zu einer ſo wir— kungsvollen Waffe haben ausbilden können. Es glückte Dr. Sachs nicht, junge Em— bryonen zu erhalten oder den Fortpflan— zungsweg zu beobachten. Glücklicherweiſe war dieſes Problem inzwiſchen von Prof. Babuſchin durch Beobachtungen an alt— weltlichen Zitterfiſchen in befriedigender Weiſe gelöſt und gezeigt worden, daß dieſe Organe aus Muskelgewebe entſtehen.“) Die Schilderungen der Erlebniſſe des Verfaſſers ſind ſehr lebendig und anziehend, Szenen ſeines Naturforſcherlebens, Aben— teuer, Schilderungen der Natur und der geſellſchaftlichen und politiſchen Zuſtände wechſeln in unterhaltender Reihe mit ein— ander ab, ſo daß die Lektüre einen ſehr angenehmen und nachhaltigen Eindruck hin— terläßt. Die Ausſtattung iſt trefflich. Aus Egyptens Vorzeit von Dr. J. F. Lauth. Erſtes Heft: Die prähiſtori— ſche Zeit, Berlin, Theodor Hofmann, 1879. 100 S. in 8. Dieſes erſte Heft des der Archäologie und Geſchichte Egyptens gewidmeten Wer— kes beſchäftigt ſich nicht, wie der Neben— titel erwarten laſſen könnte, mit der prähi— ſtoriſchen Zeit im Sinne der Anthropologie, — Vergl. Kosmos, Bd. I, S. 255 und 248 ſondern mit der mythiſchen Zeit, aus der ſchriftliche Überlieferungen exiſtiren. Der Verfaſſer ſucht darin nachzuweiſen, daß die Sagen vom Paradieſe, von der Sintflut und vom Turm zu Babel nicht blos in Aſ— ſyrien, ſondern auch im alten Egypten ein— heimiſch waren, und eine zum Teil ähnliche Faſſung wie dort beſaßen. Die Flutſage ſchöpft Lauth aus der Ergänzung eines im Grabe Seti J. gefundenen Textes durch einen Papyrus des Muſeum von Bulag und erzählt, wie Ra nach allgemeinem Rat— ſchluß der Götter das ſeine Majeſtät läſtern— de Menſchengeſchlecht im Waſſer umkom— men ließ, bis auf die Bewohner eines Schif— fes. Weniger vollkommen gelingt dem Ver— faſſer der Nachweis der Turmſage, der ſich eigentlich darauf beſchränkt, daß Heliopo— lis, die uralte Stadt On oder Anu, im Altertum als das egyptiſche Babylon galt und ein aſtronomiſches Obſervatorium, ähn— lich der Stufenpyramide von Babylon be— ſaß, das Haus Benben oder Belbel. Hin— ſichtlich des Paradieſes zeigt der Verfaſſer, daß die Gefilde Elyſiums aus dem egyp— tiſchen Sochet (Gefilde) Aalu entſtanden ſind, ebenſo wie das griechiſche Acherunti aus der „göttlichen Unterwelt“ (Acheru- nuti) der Egypter abgeleitet iſt. Das Paradies galt bei den Egyptern ebenſo wie bei vielen andern Völkern zugleich als die Urheimat und als das Ziel der Seelen nach dem Tode. Das Buch regt viele wichtige Fragen der vergleichenden Mythologie an, Literatur und Kritik. und wir dürfen auf die Fortſetzung ge— ſpannt ſein. Illuſtrirtes Pflanzenleben. Ge— meinverſtändliche Originalabhandlun— gen über die wichtigſten und intereſſan— teſten Fragen der Pflanzenkunde, nach zu— verläſſigen Arbeiten der neueſten wiſſen— ſchaftlichen Forſchungen. Mit zahlrei— chen Original-Illuſtrationen von Dr. Arnold Dodel-Port. Zürich, Ver: lag von Cäſar Schmidt, 1880. Lief. J und II, S. 1— 112, gr. 8. Man muß nach dem Titel nicht etwa erwarten, daß hier ein Seitenſtück zu Brehms „Illuſtrirtem Tierleben“ eröff— net wird; der Verfaſſer will vielmehr, wie er im Proſpekt ſagt, darin die intereſſan— teſten Tagesfragen der wiſſenſchaftlichen Botanik in anſchaulicher, leicht verſtänd— licher Sprache und in einer Weiſe, die dem gegenwärtigen Stande der Wiſſenſchaft ent— ſpricht, behandeln. Darnach iſt der Stoff journalartig in bunter Reihe angeordnet, und auf zwei Artikel über niedere Pilze, Miasmen und Kontagien folgt ein ſolcher über fleiſchfreſſende Pflanzen — ſehr anzie— hende Themata, die mit einer gründlichen Kenntnis behandelt und reich durch neuge— zeichnete Abbildungen teils in Steindruck, teils in Holzſchnitt und Lichtdruck illuſtrirt ſind. Wir zweifeln nicht, daß dieſe Schil— derungen vielen Leſern Freude machen werden. Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig. Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der e Theorie. Eine im Londoner Royal Institution gehaltene Vorleſung 4 iele von Ihnen werden mit dem Anblick dieſes kleinen, grün gebundenen Buches vertraut ſein. Es iſt ein Exemplar der erſten Aus- gabe von Darwins „Ori- gin of Beleg und trägt das Datum feiner Vollendung — des erſten Oktobers 1859. Nur wenige Monate ſind deshalb noch erforderlich, um die volle Zahl der einundzwanzig!) ſeit feinem Geburtstage verfloſſenen Jahre zu vervollſtändigen. Diejenigen, deren Gedächtnis ſie bis zu dieſer Zeit zurückführt, werden ſich er— innern, daß das Kind bemerkenswert leb— haft war und daß eine große Anzahl aus— gezeichneter Perſonen die Außerungen ſei— ner kräftigen Individualität mißverſtänd— lich für bloße Ungezogenheit nahm; ein in der That ſehr munterer Aufruhr umtobte ſeine Wiege. Meine Erinnerungen an dieſe Periode ſind beſonders lebhaft, denn da ich eine zärtliche Zuneigung zu dem Kinde, welches mir ſo merkwürdig viel zu ver— ) Nach altem ſächſiſchen Recht beginnt die Großjährigkeit mit erreichtem 21. Jahre. von C. H. Hunley. ſprechen ſchien, gefaßt hatte, war ich für einige Zeit in den Obliegenheiten einer Art von Hilfsamme (under-nurse) thätig und bekam ſo meinen Teil von den Stür— men, welche ſogar das ſtarke Leben dieſer jungen Kreatur bedrohten. Für einige Jahre war das unzweifelhaft heiße Arbeit, aber erwägend, wie höchſt unliebſam die Erſcheinung des neuen Ankömmlings für diejenigen geweſen ſein muß, die ſich nicht auf den erſten Anblick darin verliebten, denke ich, daß man es unſerm Zeitalter zur Ehre anzurechnen habe, daß der Krieg nicht grimmiger geworden iſt und daß die mehr bittern und unverantwortlichen An— griffsformen ſo ſchnell verſchwanden. Ich ſpreche von dieſer Periode wie von einer vergangenen und begrabenen, weil ich daran nur ein hiſtoriſches, faſt hätte ich geſagt: antiquariſches Intereſſe habe. Denn während der zweiten Exiſtenz— dekade des „Urſprungs der Arten“ nahm die Oppoſition, obwohl keineswegs er— loſchen, ein verſchiedenes Ausſehen an. Auf ſeiten aller derer, die einige Urſache hatten, ſich ſelbſt zu achten, gewann ſie Rosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 250 einen durchaus reſpektvollen Charakter. Zu dieſer Zeit begann auch der Dümmſte einzuſehen, daß das Kind keine Neigung hatte, an angeborner Schwäche oder einer Kinderkrankheit zugrunde zu gehen, viel— mehr zu einer tapfern Perſönlichkeit aus— gewachſen war, für welche bloßes gutes Schelten oder Drohen mit der Birkenrute weggeworfene Mühe war. In der That, diejenigen, welche den Fortſchritt der Wiſſenſchaft in den letzten zehn Jahren beobachtet haben, werden mir völlig beiſtimmen, wenn ich verſichere, daß es kein Feld der biologiſchen Unterſuchung giebt, auf welchem der Einfluß des „Ur— ſprungs der Arten“ nicht verfolgbar wäre; die erſten Männer der Wiſſenſchaft in je— dem Lande ſind entweder ausgeſprochene Kämpfer für ſeine leitenden Doktrinen oder enthalten ſich doch in jeder Weiſe, ihnen Oppoſition zu machen; eine Schar von jungen und glühenden Forſchern ſtrebt vorwärts und ſucht Anregung und Füh— rung in Darwins großem Werke; und die allgemeine Lehre der Entwicklung findet in den Erſcheinungen der Biologie eine feſte Operationsbaſis, von der ſie ihre Er— oberungen über das geſammte Reich der Natur ausdehnen kann. Die Geſchichte warnt uns indeſſen, daß es das gewöhnliche Schickſal neuer Wahrheiten iſt, als Ketzereien zu beginnen und als Aberglauben zu enden; und wie die Dinge jetzt ſtehen, iſt es kaum vor— ſchnell, zu prophezeien, daß in weiteren zwanzig Jahren die neue, unter dem Einfluß des heutigen Tages erzogene Generation in Gefahr ſein wird, die Hauptlehren des „Urſprungs der Arten“ mit ebenſo gerin— gem Nachdenken und vielleicht mit ebenſo— wenig Urteil aufzunehmen, wie ſo manche T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. unſerer Zeitgenoſſen ſie vor zwanzig Jah— ren verwarfen. Gegen ein ſolches Ende wollen wir Alle dringende Wünſche richten; denn der wiſ— ſenſchaftliche Geiſt iſt von höherem Wert als ſeine Erzeugniſſe, und durch Unver— nunft geſtützte Wahrheiten ſind verhäng— nisvoller als mit Vernunft verteidigte Irr— tümer. Heut iſt das Weſen des wiſſen— ſchaftlichen Geiſtes Kritik. Sie ſagt uns, daß, zu welcher Lehre auch unſer Anlauf führe, wir antworten müſſen: „Nimm ſie an, wenn du ſie bewältigen kannſt.“ Der Daſeinskampf gilt nicht weniger in der intellektuellen als in der phyſiſchen Welt. Eine Theorie iſt eine Denkſpezies und ihr Exiſtenzrecht geht hand in hand mit ihrem Vermögen, der Ausrottung durch ihre Gegner zu widerſtehen. Von dieſem Geſichtspunkte aus ſcheint mir, daß es nur ein ärmlicher Weg ſein würde, die Großjährigkeit des „Urſprungs der Arten“ zu feiern, wollte ich nur bei den Thatſachen ſeiner weitreichenden Wirkung und des großen Gefolges eifriger Schüler weilen, die beſtrebt ſind, die Lehre fort— zuentwickeln und ſie auszubreiten. Laßt uns vielmehr jenen wunderbaren Meinungsum— ſchwung erſuchen, ſich ſelbſt zu rechtfertigen; laßt uns unterſuchen, ob ſich irgendetwas ſeit 1859 ereignet hat, welches mit ver— nünftigen Gründen erklären kann, warum ſo viele anbeten, was ſie verbrannt haben, und verbrennen, was ſie anbeteten. Auf dieſem Wege allein können wir die Mittel erwerben, zu beurteilen, ob die wahrge— nommene Bewegung ein bloßer Wirbel der Mode iſt oder ob ſie wirklich eins iſt mit dem unwiderſtehlichen Strom des gei— ſtigen Fortſchrittes und gleich ihm ſicher | vor rückſchrittlicher Reaktion. | 75 T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. Jeder Glaube iſt das Produkt zweier Faktoren: der erſte iſt der Zuſtand des Verſtandes, dem der Beweis zu gunſten jenes Glaubens dargeboten wird; der zweite iſt die zwingende Logik des Bewei— ſes ſelbſt. Nach beiden Richtungen ſcheint mir die Geſchichte der biologiſchen Wiſſen— ſchaften eine ausführliche Erklärung der während der letzten zwanzig Jahre vor— gegangenen Veränderung zu erheiſchen; Axioms eine kurze Betrachtung der hervorragend ſten Ereigniſſe dieſer Geſchichte wird uns be= | fähigen, zu verſtehen, warum der „Ur— ſprung der Arten“, wenn er heute erſchiene, einer von der ihm 1859 bereiteten ganz verſchiedenen Aufnahme beg gegnen würde. Vor einundzwanzig Jahren war trotz des von Hutton begonnenen und von Lyell mit ſeltener Kenntnis und Geduld fortgeſetzten Werkes die herrſchende Auf— faſſung der Urgeſchichte der Erde der Ka— taſtrophentheorie zugeneigt. Große und plötzliche phyſiſche Revolutionen, groß— artige Schöpfungen und Austilgungen le— bender Weſen bildeten die übliche Ma— ſchinerie des durch das falſch gebrauchte Genie Cuviers in Mode gekommenen geologiſchen Epos. Es wurde nachdrück— lich behauptet und gelehrt, daß das Ende jeder geologiſchen Epoche durch einen Um— ſturz bezeichnet geweſen ſei, durch welchen jedes lebende Weſen von der Erdkugel weggefegt wurde, um durch eine funkel— nagelneue Schöpfung erſetzt zu werden, wenn die Welt wieder zur Ruhe gekom— men war. Ein Naturſchema, das anſchei— nend nach dem Bilde einer Folge von Whiſtrobbers, mit wechſelnden und nach jedem Robber die Karten zuſammenwer- fenden Spielern, modellirt war, ſchien nie— mand vor den Kopf zu ſtoßen. | 251 Ich mag mich täuſchen, aber ich be— zweifle, daß in der Jetztzeit noch eine klare Vorſtellung von dieſen aufgegebenen Mei— nungen vorhanden iſt. Der Fortſchritt der wiſſenſchaftlichen Geologie hat das Fun— damentalprinzip des Uniformitarianismus, nach welchem die Erklärung des Vergan— genen in dem Studium des Gegenwärtigen geſucht werden muß, zu dem Range eines erhoben; und die wilden Speku— lationen der a er denen wir alle vor einem Vierteljahrhundert mit Ehr— furcht lauſchten, würden am heutigen Tage kaum einen einzigen geduldigen Zuhörer finden. Kein beobachtender Zoologe denkt im Traume daran, die Erklärung irgend— eines vor Millionen von Jahren geſchehe— nen Ereigniſſes außerhalb der Ordnung bekannter natürlicher Urſachen zu ſuchen, ebenſowenig als er ſich der gleichen Ab— ſurdität in Hinblick auf laufende Ereig— niſſe ſchuldig machen möchte. Die Wirkung dieſes Meinungsum— ſchwunges auf die biologische Spekulationiſt klar. Denn wenn es keine allgemeinen pe— riodiſchenNaturkataſtrophen gegeben hat — was veranlaßte die angenommenen allge— 1 Austilgungen und Neuſchöpfungen des Lebens, welche die entſprechenden bio— logiſchen Kataſtrophen darſtellen? Und wenn derartige Unterbrechungen des ge— wöhnlichen Laufes der Natur weder in der organiſchen noch in der unorganiſchen Welt ſtattfanden, welche Alternative iſt da für die Annahme der Evolutionstheorie? Die Evolutionstheorie iſt in der Bio— logie das notwendige Ergebnis von der logiſchen Anwendung der Grundſätze des Uniformitarianismus auf die Erſcheinun— gen des Lebens. Darwin iſt der natür— liche Nachfolger von Hutton und Lyell, 252 und der „Urſprung der Arten“ die natür— liche Folge der „Prinzipien der Geologie“. Die Grundlehre des „Urſprungs der Arten“ wie aller Formen der auf die Bio— logie angewendeten Evolutionstheorie iſt, „daß alle die zahlloſen Arten, Gattungen und Familien organiſcher Weſen, von denen die Welt bevölkert wird, jede in ihrer beſondern Klaſſe oder Gruppe, von gemeinſamen Eltern abſtammen und alle im Laufe der Zeiten abgeändert wor— den ſind.““) Und in Hinblick auf die Thatſachen der Geologie folgt, daß alle lebenden Tiere und Pflanzen „die geraden Abkömmlinge derjenigen ſind, welche lange vor der Si— lurepoche lebten.“ ““) Es iſt eine klare Folge dieſer Theorie der „Abſtammung mit Abänderung“, wie ſie mitunter genannt wird, daß alle Pflan— zen, und Tiere, wie verſchieden ſie auch jetzt ſein mögen, in der einen oder andern Zeit durch direkte oder indirekte Mittel— ſtufen mit einander verbunden geweſen und daß der von verſchiedenen Gruppen organiſcher Weſen dargebotene Anſchein von Iſolirung unwirklich ſein muß. Kein Teil von Darwins Werk wi— derſprach direkter den Voreingenommen— heiten der Naturforſcher vor zwanzig Jah— ren, als dieſer. Und ſolche Voreingenom— menheiten waren ſehr entſchuldbar, denn zu jener Zeit ließ ſich unzweifelhaft ſehr viel anführen zu gunſten der Konſtanz der Arten und des Vorhandenſeins großer Lücken zwiſchen den verſchiedenen Grup- pen der organiſchen Weſen, zu deren Aus— füllung keine Wahrſcheinlichkeit vorhan— den war. *) Darwin, erſte engl. Aufl., p. 457. **) Ebendaſ., p. 458. T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. Aus verſchiedenen Gründen, wiſſen— ſchaftlichen und unwiſſenſchaftlichen, iſt ſehr viel aus der Kluft zwiſchen dem Men— ſchen und dem Reſte der höheren Säuge— tiere gemacht worden, und es iſt kein Wunder, daß die Entſcheidung ſich zuerſt an dieſen Punkt der Kontroverſe knüpfte. Ich habe kein Verlangen, vergangene und glücklich vergeſſene Kontroverſen zu er— neuern, aber ich muß die einfache That— ſache feſtſtellen, daß die Unterſchiede im Gehirn und anderen Charakteren, von de— nen man 1860 ſo hitzig verſichert hat, daß ſie den Menſchen von allen Tieren trennten, ſämmtlich als nicht vorhanden erwieſen worden und die entgegengeſetzte Doktrin jetzt allgemein angenommen und gelehrt wird. Aber es gab andere Fälle, bei denen der weite Riß im Körperbau zwiſchen der einen Tiergruppe und der andern durch— aus nicht künſtlich eingebildet war; und ſolchen wirklich vorhandenen Lücken in der Organiſation konnte Darwin einzig durch die Annahme rechnung tragen, daß die Übergangsformen, welche einſt exiſtirt hätten, untergegangen ſeien. In einer bemerkenswerten Stelle *) jagt er: „Wir mögen ſogar der Verſchieden— heit ganzer Klaſſen von einander — z. B. der Vögel von allen anderen Wirbeltieren — durch den Glauben rechnung tragen, daß viele tieriſche Lebensformen gänzlich verloren gegangen ſind, durch welche die erſten Urzeuger der Vögel mit den erſten Urzeugern der Wirbeltierklaſſen früher verbunden geweſen ſind.“ Gegneriſche Kritiken machten ſich lu— ſtig über derartige Folgerungen. Ohne Zweifel war es leicht, durch angenomme— ) A. a. O., S. 431. — T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. 253 nes Ausſterben ſich aus der Schwierigkeit zu ziehen; aber wo war der leiſeſte Be— weis, daß ſolche Mittelformen zwiſchen Vögeln und Reptilien, wie ſie die Hypo— theſe erforderte, jemals exiſtirt hatten? Und darauf folgte wahrſcheinlich eine Ti— rade über dieſes ſchreckliche Verlaſſen der Fußtapfen Baconiſcher Induktion. Aber der Fortſchritt der Erkenntnis hat Darwin bis zu einem Grade gerecht— fertigt, welcher ſchwerlich vorausgeſehen werden konnte. Im Jahre 1862 wurde das Exemplar des Archaeopteryx, wel— ches bis vor zwei oder drei Jahren das einzige geblieben war, entdeckt und erwies ſich als ein Tier, welches in ſeinen Federn und dem größern Teil feiner Organiſation ein wahrer Vogel iſt, während es in an— deren Punkten ein entſchiedenes Reptil iſt. Im Jahre 1875 vervollſtändigte die Entdeckung der gezähnten Vögel der nord— amerikaniſchen Kreideformation durch Pro— feſſor Marſh die Reihe der Übergangs— formen zwiſchen Vögeln und Reptilien und verſetzte Darwins Behauptung, daß „viele tieriſche Lebensformen gänzlich ver— loren gegangen ſind, durch welche die er— ſten Urzeuger der Vögel mit den erſten Urzeugern der andern Wirbeltierklaſſen früher verbunden geweſen find“, aus dem Bereiche der Hypotheſe in das der bewie— ſenen Thatſache. Im Jahre 1859 ſchien eine ſehr ſcharfe und klare Lücke zwiſchen Wirbelloſen und Wirbeltieren vorhanden zu ſein, und zwar nicht allein in ihrem Bau, ſondern, was ſchwerwiegender war, in ihrer Entwick— lung. Ich meine nicht, daß wir jetzt ſchon die genauen Verwandtſchaftsketten zwiſchen beiden kennen, aber die Unterſuchungen Kowalewskys und anderer über die Entwicklung des Lanzetttieres und der Manteltiere beweiſen über allen Zweifel, daß die Verſchiedenheiten, welche eine förm— liche Barriere zwiſchen beiden bilden ſoll— ten, nicht vorhanden ſind. Es iſt nun nicht länger eine Schwierigkeit vorhanden, um zu verſtehen, wie der Wirbeltiertypus aus dem der Wirbelloſen entſtanden ſein mag, wenn auch der volle Beweis der Art und Weiſe, in welcher der Übergang thatſäch— lich bewirkt wurde, noch fehlen mag. Andererſeits ſchien im Jahre 1859 eine nicht weniger ſcharfe Trennungslinie zwiſchen den beiden großen Gruppen der blühenden und blütenloſen Pflanzen vor— handen zu ſein. Einzig infolge der von Hofmeiſter begonnenen Reihe wertvoller Unterſuchungen ſind die außerordentlichen und ganz unerwarteten Abänderungen des Geſchlechtsapparates bei den Lycopodia— ceen, Rhizokarpeen und Gymnoſpermen ans Licht gekommen, durch welche die Mooſe und Farne ſchrittweiſe mit der phanerogamiſchen Abteilung der vegetabi— liſchen Welt verbunden worden ſind. Ebenſo haben wir erſt ſeit dem Jahre 1859 jenen Kenntnisreichtum von den niederſten Formen des Lebens erworben, der die Vergeblichkeit eines jeden Verſuches zeigt, die niederſten Pflanzen von den nie— derſten Tieren zu trennen, und beweiſt, daß die beiden Reiche der lebenden Natur ein gemeinſames Grenzland beſitzen, wel— ches entweder beiden oder keinem angehört. Es wird demnach bemerkt werden, daß die geſammte Tendenz der biologiſchen Unterſuchungen ſeit 1859 ſich in der Rich— tung bewegt hat, die Schwierigkeiten zu entfernen, welche die ſcheinbaren Unter— brechungen der Reihen zu jener Zeit ſchu— fen; und die Anerkennung der Abſtufung 254 ift der erſte Schritt zur Annahme der Evolutionstheorie. Als einen andern großen Faktor in der Hervorbringung des Meinungsum— ſchwungs, der unter den Naturforſchern platzgegriffen hat, betrachte ich den er— ſtaunlichen Fortſchritt, der im Studium der Entwicklungsgeſchichte gemacht worden iſt. Vor zwanzig Jahren entbehrten wir nicht allein einer genauen Kenntnis des Entwicklungsmodus vieler Gruppen der Pflanzen und Tiere, ſondern auch die Un— terſuchungsmethoden waren roh und un— vollkommen. Zur gegenwärtigen Zeit giebt es keine wichtige Gruppe von organiſchen Weſen, deren Entwicklung nicht ſorgſam ſtudirt worden wäre, und die modernen Methoden der Härtung und Verfertigung von Durchſchnitten befähigen den Embryo— logen, die Natur des Vorgangs in jedem Falle mit einem Grade von Vollendung und Genauigkeit zu beſtimmen, der für diejenigen, deren Gedächtnis ſie rückwärts zu den Anfängen der neueren Hiſtologie geleitet, wahrhaft erſtaunlich iſt. Und die Ergebniſſe dieſer embryologiſchen Unter— ſuchungen ſind in voller Harmonie mit den Erforderniſſen der Evolutionslehre. Die erſten Anfänge aller höheren Formen des tieriſchen Lebens ſind einander ähnlich, und wie ſehr immer die Verhältniſſe ihres erwachſenen Zuſtandes abweichen, ſo gehen ſie doch von gemeinſamer Grundlage aus. Und zwar iſt der Entwicklungsprozeß der Pflanze oder des Tieres von ihrem erſten Ei- oder Keimzuſtande an ein wahrer Evo— lutionsprozeß — ein Fortſchritt von faſt formloſer zu mehr oder weniger hoch or— ganiſirter Materie, kraft der dieſer Materie einwohnenden Eigenſchaften. Denjenigen, welche mit dem Prozeß T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. der Entwicklung vertraut ſind, erſcheinen alle A-priori-Einwürfe gegen die Theorie der Evolution des Lebens kindiſch. Wer irgend einmal die ſtufenweiſe Bildung eines | zuſammengeſetzten Tieres aus der Proto— plasmamaſſe, die den weſentlichen Be— ſtandteil des Froſch- und Hühnereies dar— ſtellt, verfolgt hat, hatte hinreichende Be— weiſe dafür vor ſeinen Augen, daß eine ähnliche Entwicklung der Tierwelt von der gleichen Grundlage aus in irgend einer Weiſe möglich iſt. Noch ein anderes Forſchungsergebnis hat reichlich beigetragen zu der Beſeitigung der im Jahre 1859 landläufigen Einwürfe gegen die Evolutionstheorie. Nämlich der durch allmähliche Unterſuchungen gelieferte Beweis, daß Darwin die Unvollkommen— heit des geologischen Berichtes nicht über— ſchätzt hat. Wir bedürfen keiner ſchlagen— deren Illuſtration hierfür, als eine Ver— gleichung unſerer Kenntnis der tertiären Säugetierfauna mit derjenigen von 1859. Gaudrys Unterſuchungen der Foſſilien von Bifermi wurden1868 veröffentlicht, die— jenigen von Leidy, Marſh und Cope über die Foſſilien der weſtlichen Gebiete Nordamerikas ſind faſt gänzlich erſt ſeit 1870 erſchienen, diejenigen von Filhol über die Phosphorite von Quercy 1878. Die allgemeine Wirkung dieſer Unterſu— chungen iſt geweſen, uns eine Mannigfal— tigkeit von ausgeſtorbenen Tieren zuzufüh— ren, deren Exiſtenz vorher kaum vermutet wurde, gerade als wenn Zoologen mit einem bisher unentdeckten Lande bekannt geworden wären, welches ſo reich an neuen Lebensformen iſt, wie Braſilien und Süd— afrika einſt den Europäern entgegentraten. In der That, die foſſile Fauna der weſt— lichen Gebiete Nordamerikas ſchickt ſich — T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. 255 durch ihren Reichtum an, an Intereſſe und Wichtigkeit diejenigen aller anderen ter— tiären Ablagerungen zuſammengenommen zu überbieten; dabei haben ſich dieſe Un— terſuchungen, mit Ausnahme derjenigen in den amerikaniſchen Tertiärſchichten, nur über ſehr beſchränkte Gebiete erſtreckt, und zu Pikermi waren fie auf einen äußerſt engen Raum begrenzt. Die erwähnten ſcheinen mir die Haupt— ereigniſſe in der Geſchichte des Wiſſens— fortſchrittes der letzten zwanzig Jahre zu ſein, welche für das veränderte Empfinden in betracht kommen, mit welchem die Evo— lutionslehre gegenwärtig von denen be— trachtet wird, die dem Fortſchritte der bio— logischen Wiſſenſchaft in denjenigen Pro— blemen gefolgt ſind, die indirekt auf jene Lehre Bezug haben. Aber alles dies bleibt nur ſekundärer Beweis. Er mag Widerſpuch entfernen, aber keine Zuſtimmung erzwingen. Pri— märer und direkter Beweis kann nur von der Paläontologie geliefert werden. Der geologiſche Bericht muß, ſobald er ſich der Vollſtändigkeit nähert, wenn er auf ge— eignete Weiſe befragt wird, entweder eine bejahende oder eine verneinende Antwort geben. Wenn Evolution ſtattgefunden hat, wird ſie dort ihre Spur gelaſſen haben; wenn ſie nicht ſtattgefunden, wird ſie dort ihre Widerlegung finden. Welches war der Stand der Dinge im Jahre 1859? Laßt uns Darwin ſelbſt hören, bei em man ſtets verſichert ſein kann, das gegen ihn Sprechende ſo ſtark als möglich zu hören. „Warum iſt bei dieſer Lehre von der Austilgung einer Unendlichkeit von ver— bindenden Gliedern zwiſchen den lebenden und ausgeſtorbenen Bewohnern, und in jeder folgenden Periode zwiſchen den er— loſchenen und noch älteren Arten, nicht jede geologiſche Formation mit ſolchen Bindegliedern erfüllt? Warum liefert nicht jede Sammlung foſſiler Überreſte vollen Beweis für die Abſtufung und Ver— änderung der Lebensformen? Wir begeg— nen einem ſolchen Beweiſe nicht, und dies tft der deutlichſte uud plauſibelſte von den vielen Einwürfen, die gegen meine Theorie vorgebracht werden können.““) Nichts konnte für die Oppoſition ver— wendbarer ſein, als dieſes charakteriſtiſche offene Geſtändnis, unmittelbar verflochten mit einer Anerkennung, daß die Anſich— ten des Verfaſſers durch die Thatſachen der Paläontologie widerlegt würden. Aber thatſächlich machte Darwin ein ſolches Zugeſtändnis nicht. Was er in Wirklich— keit ſagte, iſt nicht, daß der paläontologi— ſche Beweis gegen ihn ſei, ſondern daß er nicht entſchieden zu ſeinen Gunſten ſei, und ohne zu verſuchen, die Thatſache ab— zuſchwächen, rechnet er dabei auf die Mangelhaftigkeit und Unvollkommenheit jenes Beweiſes. Welches iſt der Stand dieſer Ange— legenheit jetzt, nachdem der Zuwachs un— ſerer Kenntnis hinſichtlich der tertiären Säugetiere auf das Fünfzigfache geſtiegen iſt und ſich in manchen Richtungen ſogar der Vollſtändigkeit nähert? Einfach der, daß, wenn die Evolutions— lehre nicht bereits exiſtirte, die Paläonto— logen ſie erfunden haben müßten, ſo un— widerſtehlich wird ſie durch das Studium der Überreſte der ſeit 1859 ans Licht ge— brachten tertiären Säugetiere dem Ver— ſtande aufgezwungen. Unter den Foſſilien von Pikermi fand ) A. a. O,, S. 463. 256 — T. H. Huxley, Zur bevorſtehenden Großjährigkeit der Darwinſchen Theorie. Gaudry die aufeinanderfolgenden Stu: ſend Wegen modifizirt worden; Raſſen fen, durch welche die alten Zibethkatzen | haben ſich erhoben, welche, ſich befeſtigend, in die mehr modernen Hyänen übergingen; auf dieſe Weiſe eine entſprechende Zahl durch die tertiären Ablagerungen des weſt— | ſekundärer Arten hervorgebracht haben.“ lichen Amerika verfolgte Marſh die Spur | der aufeinanderfolgenden Formen, durch welche der alte Grundſtamm des Pferdes in feine jetzige Form übergegangen iſt, unzählige weniger vollſtändige Nach— weiſe des Entwickelungsmodus anderer Gruppen der höheren Säugetiere ſind er— halten worden. In der wertvollen Abhandlung über die Phosphorite von Querey, auf welche ich hingewieſen habe, beſchreibt Filhol nicht weniger als ſiebzehn Varietäten der Gattung Cynodictis, welche den ge— ſammten Zwiſchenraumzwiſchen denZibeth— katzen und dem bärenartigen Hunde Am— phicyon ausfüllen; auch weiß ich keinen ſoliden Grund zu einem Einwurf gegen die Annahme, daß wir in dieſer Cy— nodictis-Amphicyon-Gruppe den ge— ſammten Grundſtock beſitzen, aus welchem alle Zibethkatzen, Katzen, Hyänen und Hunde und vielleicht auch die Waſchbären und Bären hervorgegangen ſind. Im Ge— genteil, es läßt ſich ſehr viel zu ihren Gun— ſten ſagen. Im Laufe ſeiner Schlußfol— gerungen bemerkt Fil hol: „Während der Epoche der Phospho— rite fand ein großer Wechſel in den tie— riſchen Formen ſtatt, und faſt dieſelben Typen, welche heute exiſtiren, wurden von einander geſondert. „Unter dem Einfluſſe natürlicher Be— dingungen, von denen wir keine genaue Kenntnis haben, wenn auch Spuren von ihnen erkennbar ſind, ſind Arten auf tau— Im Jahre 1859 wurde eine Sprache, von der das Vorſtehende eine unabſicht— liche Umſchreibung iſt, wo ſie im Urſprung der Arten vorkam, als wilde Spekulation verſpottet: jetzt iſt ſie eine nüchterne Dar- ſtellung der Schlüſſe, zu denen ein ſcharf— ſinniger und kritiſch geſtimmter Forſcher durch umfaſſendes und geduldiges Studium der Thatſachen der Paläontologie geleitet wird. Ich wage zu wiederholen, was ich ſchon oben geſagt habe, daß die Evolution, ſoweit ſie die tieriſche Welt angeht, nicht länger ein Spekulation, ſondern die Feſt— ſtellung eines hiſtoriſchen Faktums iſt. Sie nimmt ihren Platz an der Seite jener angenommenen Wahrheiten, denen die Phi— loſophen aller Schulen Rechnung zu tra— gen haben. Wenn alſo am erſten Tage des näch— ſten Oktobers der „Urſprung der Arten“ in das Alter der Großjährigkeit tritt, wer— den die Verſprechungen ſeiner Jugend reich erfüllt ſein; und wir werden gerüſtet ſein, dem verehrten Verfaſſer des Buches zu gra— tuliren, nicht allein dazu, daß die Größe ſei— nes Werkes und ſein dauernder Einfluß auf den Fortſchritt der Wiſſenſchaft ihm einen Platz neben unſerem Harvey er— worben haben; ſondern noch mehr dazu, daß er gleich Harvey lange genug gelebt hat, um Verleumdung und Widerſpruch zu über— dauern und den Stein, welchen die Bau— leute verwarfen, zum Grundſtein des Baues werden zu fehen.*) *) Nature, Vol. XXIII, N. 549, 1880. Skizzen aus der Eutwicklungsgeſchichte der Entwick- lungsgeſchichte.“ Von Ernſt Krauſe. N ährend Ad. Wurtz einſt mit geringer Berechtigung E ausrief, die Chemie ſei eine franzöſiſche Wiſſen— ſchaft, ſo kann man mit f vollſtem Recht von der Entwicklungsgeſchichte ſagen, ſie ſei eine deutſche Wiſſenſchaft, denn die geſammte Grundlage nebſt dem Aufbau iſt deut— ſchem Fleiße zu danken. Zwar glaubte Kaspar Friedrich Wolff, der Grün— der dieſer Wiſſenſchaft, an das Buch des Ariſtoteles über die Entſtehung der Tiere anknüpfen zu ſollen, in welchem jener die Ewigkeit der Individuen leugnete und be— hauptete, ſie entſtänden durch eine aufein— anderfolgende Neubildung (Epigenesis) aller ihrer Teile, allein dieſe wahre Er— kenntnis gründete ſich mehr auf logiſches Denken als auf ausreichende Beobachtung und mußte erſt von deutſchen Forſchern *) In dieſen „Skizzen“ wird nur die aus— führlichere Schilderung einiger Epiſoden beab— ſichtigt, während für die zuſammenhängende Dar— = == * I. im harten Kampfe der Wiſſenſchaft wieder— gewonnen und zum unveräußerlichen Eigen— tum erworben werden. Das Studium der Entwicklungsge— ſchichte hat gleich bei ſeiner erſten Wieder— aufnahme durch Fabricius ab Aqua— pendente (um 1600) dadurch Schiffbruch gelitten, daß es bei den denkbar ſchwierig— ſten Objekten, dem menſchlichen Fötus und dem Hühnerei, begonnen wurde und daß man, ſtatt den Vorgang an dem Keim niederer Tiere zu beobachten, wo man ein— fachere Verhältniſſe angetroffen hätte, aus Bequemlichkeitsrückſichten immer wieder zum Hühnerei griff, weil man es jederzeit in jedem Bebrütungsſtadium haben konnte. Die ſich hierbei dem Blicke darbietenden komplizirteren Verhältniſſe boten keine ge— eignete Handhabe zur Widerlegung und Beſeitigung einiger durch Ariſtoteles ſelbſt verſchuldeten wilden Spekulationen ſtellung auf die ausgezeichnete hiſtoriſche Ueberſicht in den Eingangskapiteln von Haeckels Anthro— pogenie verwieſen wird. Komos, IV. Jahrg. Heft 4. 33 — ——— 258 und Theorien über die elternloſe Zeugung von Tieren und Pflanzen, und infolge deſſen blieb die geſammte Entwicklungs— geſchichte lange ein bloßer Spielball der einander ablöſenden philoſophiſchen Sy— ſteme und Träumereien. Den Standpunkt der Ratloſigkeit in dieſen Dingen malt uns im ſiebzehnten Jahrhundert das Verhalten des großen Harvey, der in ſeinem epochemachenden Werke über die Erzeugung der Tiere die Möglichkeit einer doppelten Entſtehungs— weiſe, 1) durch Verwandlung (Metamor— phosis) und 2) durch Neubildung (Epi— genesis) zugab, die erſtere für die niederen, die andere für die höheren Tiere. In dem— ſelben Geiſte vertrugen ſich alſo die ein— ander diametral gegenüberſtehenden Theo— rien des ewigen Seins und des Werdens, die des achtzehnten und die des neunzehn— ten Jahrhunderts noch mit einander, wie in irgend einer foſſilen Form noch die Ge— ſtalten divergirender Entwicklungswege verſchmolzen ruhen. Ebendeshalb kann er aber auch weder als der Verkünder der einen noch der andern Theorie gelten, ob— wohl er beide ſehr klar unterſchied. „Wir haben gefunden,“ ſchreibt er!), „daß etwas ſowohl in der Kunſt als in der Natur auf zweierlei Weiſe entſtehen kann, erſtens aus einem bereits vorhande— nen Stoffe, wie ein Bettgeſtell aus Holz, eine Bildſäule aus Stein, wenn nämlich der geſammte Stoff des künftigen Baus ſchon vorhanden iſt, ehe dieſer feine Ge- ſtalt erlangt hat, oder bevor das Werk angefangen wurde. Die zweite Art iſt, wenn der Stoff zugleich mit der Geſtal— tung auch entſteht. Nach der erſten Art *) De Generatione Animalium Exer- eit. XLV. Ernſt Krauſe, Eutwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. bearbeitet der Künſtler den vorhandenen Stoff, er nimmt das überflüſſige weg und zuletzt bleibt die Bildſäule übrig. Nach der zweiten Manier verfertigt z. B. ein Töpfer ein gleiches Bild wie der Bild— hauer, aus Thon, indem er immermehr von dem Material hinzufügt und ihm ſeine Geſtalt giebt, wobei er das Material zu— gleich zubereitet und das Bild macht, ſtatt es herauszubilden. Eine gleiche Bewandt— nis hat es mit der Zeugung der Tiere. Einige werden aus einem ſchon fertigen Stoffe vollends gebildet und aus einer Geſtalt in die andere umgewandelt, und alle Teile werden gleichzeitig durch eine Verwandlung geboren und unterſchieden, woraus dann ein vollkommnes Tier her— vorgeht. Andere Tiere hingegen, bei denen ein Teil nach dem andern gebildet wird, werden darnach aus demſelben Stoffe zu— gleich ernährt, vergrößert und gebildet. Der Aufbau dieſer Tiere geht von einem deſſelben erhält das Tier auch die übrigen Glieder. Von ſolchen Tieren ſagen wir, daß ſie durch Hinzufügung der Teile (Epi— genesis) nach und nach entſtehen; es wird nämlich ein Teil nach dem andern hervor— gebracht, und das verſteht man eigentlich unter einer Geburt oder Zeugung, wenn ein Teil eher da iſt als der andere. „In der erſten Weiſe findet die Zeu— gung der Inſekten ſtatt. Hier wird durch eine Verwandlung (Metamorphosis) ein Wurm aus einem Ei geboren, oft werden auch aus einem verfaulenden oder ver— gehenden Stoffe, wo eine Feuchtigkeit aus? trocknet oder eine trockene Maſſe feucht wird, die urſprünglichen Weſen erzeugt. Daraus wird, wie aus einer Raupe, wenn ſie zu ihrer vollen Größe gelangt iſt, oft- Anfangsteile aus und durch Vermittlung Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 259 mals auch aus einer Puppe, durch eine Verwandlung ein Schmetterling oder eine Fliege in ihrer vollen Größe geboren. Sie wird ſeit ihrem erſten Hervorkommen nicht im geringſten größer. Vollkommnere Tiere aber, die Blut haben, werden durch eine Hinzufügung der Teile (Epigenesis) geboren, nach der Geburt werden ſie auch größer . . . Man bezeichnet die Bienen, Bremſen, Schmetterlinge und alle diejeni— gen, die aus einer Raupe durch Metamor— phoſe entſtehen, als ſolche Tiere, die durch Selbſtzeugung entſtehen und ihr Geſchlecht nicht erhalten. Aber ein Löwe oder ein Hahn entſtehen niemals durch Selbſtzeu— gung, ſetzen vielmehr ein Etwas voraus, welches ſeinesgleichen als Art erzeugt und den Stoff zu ſeiner Hervorbringung liefert. In der Hervorbringung durch Verwand— lung (Metamorphosis) erhalten die Tiere eine Geſtalt wie durch ein eingedrücktes Siegel, oder eine ſchon vorher fertige Form, das geſammte Weſen wird verän— dert. Ein ſolches Tier hingegen, welches durch Hinzufügung der Teile (Epigenesis) fortgepflanzt wird, zieht den Stoff zugleich heran, bereitet und verbraucht denſelben, indem es feine Geſtalt erhält und wächſt. .“ So hatte alſo Harvey das richtige in bezug auf die Entſtehung der Wirbel— tiere erkannt, nur hinſichtlich der niederen Tiere, über deren Entſtehungsweiſe eine Menge Märchen umliefen, unterlag auch er dem allgemeinen Irrtum. Die Entwick— lung dieſer Tiere wurde nun damals durch einen der geſchickteſten Zergliederer aller Zeiten, durch Johann Swammerdam (16371685), zum Gegenſtande eines eindringlichen und erfolgreichen Studiums gemacht. Durch einen beſondern Kunſt— griff, indem er nämlich die beginnende Verpuppung abwartete und die Raupe abhäutete, wenn ſie bereits aufgehört hatte, zu freſſen, gelang es ihm, den Schmetterling nicht nur in der Puppe, ſondern ſogar ſchon in der Raupe nachzu— weiſen, und nachdem er auch die Raupe im Ei vorgebildet geſehen zu haben glaubte, rief er entzückt: „Um in zwei Worten eine Meinung zu äußern, ich glaube, daß es gar keine wahre Erzeugung in der Natur giebt und noch viel weniger eine zufällige Entſtehung; ſondern die Entſtehung der Weſen iſt nur eine Enthüllung ihrer ſchon exiſtirenden Keime.“ Man ſieht leicht, wie ihn die von Harvey betonte Umwandlung dieſer Tiere in ihrer geſammten Weſenheit, das plötz— liche Hervorgehen eines in allen ſeinen Teilen neuen Weſens täuſchte. Er begann nun, dieſelbe Metamorphoſe in allen Natur— weſen zu ſuchen. In dem ſchwarzen Pünkt— chen des befruchteten Froſchlaichs ſah er bereits die fertige Kaulquappe, und auch der Menſch kröche als Räupchen aus einem Ei, verpuppe ſich dann in allerlei Hüllen, aus denen er ſchließlich hervorkomme, „ebenſo wie ein gehäutetes Haft oder Schillebold die Mutter (verläßt), um ein neues Leben und neue Nahrung anzuneh— men . . . Doch kommt dieſes elende Ge— ſchöpf (d. h. der Menſch) dem Glück des Hafts oder des Schillebolds bei weitem nicht bei. Denn dieſe werden in einem Augenblick vollkommen geboren, dahin— gegen der elende Menſch, der in Thränen geboren wird, noch lange Zeit Kummer und Beſchwernis, ſowie der Froſch ſeinen Schwanz, nach ſich ſchleppt, bevor er zu reifen Jahren und Verſtande kommt.““) N ) Swammerdam, Bibel der Natur, Leipzig, 1752, S. 313. 260 Auch bei den Pflanzen ſei es ebenſo, die junge Nelke liege, wenn man das Ver— größerungsglas anwende, ſchon deutlich vorausgebildet in ihrem Samen, obwohl alle ihre Liebesſeufzer — ſo bezeichnet Swammerdam ihren Duft — ver— geblich geweſen ſeien und gar keine geſchlechtliche Vermiſchung ſtattgefunden habe. Kurz, es giebt keine Neuerzeugung in der Natur, ſondern nur eine Enthüllung (Evolution) ſchon vorhandener Keime — der verkörperten Ideen Platos! Wer konnte glücklicher über dieſe Ent— deckung ſein, als die beklagenswerten Phi— loſophen, welche ſchon damals, wie Dre— lincourt, der Lehrer Boerhaaves, bemerkt, wohlgezählte 252 Hypotheſen über das Weſen der Zeugung ihrem Hirne ausgepreßt hatten, von deren Laſt ſie nun mit einem male befreit waren, da es nach Swammerdams Entdeckung gar keine Zeugung mehr gab. „Die Philoſophie,“ ſchrieb Bonnet mit einer rührenden Offen— heit, „hat, nachdem ſie ihre Unfähigkeit erkannt hatte, die Bildung der organiſchen Körper mechaniſch zu erklären, den glück— lichen Einfall gehabt (aimagine heureuse- ment), daß ſie in der Geſtalt von Keimen oder organiſirten Körpern ſchon in ganz kleiner Form vorhanden waren.“ “) An die von Heraklit aufgeſtellte Theorie der Panſpermie, nach welcher das geſammte Weltall mit organiſchen Keimen erfüllt ſei, die durch die Zeugung einen Boden zur Entfaltung fänden, anknüpfend, glaubte man aller Schwierigkeiten überhoben zu jein, indem man annahm, alle organiſchen Weſen, die ſich jemals in der Welt ent— wickeln ſollten, ſeien gleich bei der erſten *) Considerations sur les corps orga- nises, S. 1. Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. Schöpfung von Gott mit einem male fer— tig erſchaffen und als Keime in einander geſchachtelt worden, ſo daß ſich immer einer nach und aus dem andern entwickeln könne. Nun wollte man natürlich auch von kei— ner wirklichen Metamorphoſe der Inſekten und Fröſche mehr etwas wiſſen. Es handle ſich, verficherte Malebranche, der Schüler des Carteſius, nur um eine äußere Um— wechſelung der Kleider und Waffen. Das Tier wirft eine Hülle ab, und immer iſt es ein neues; „Gott,“ ruft der fromme Pater, „hat' in einer einzigen Mücke alle diejenigen geformt, welche davon ausgehen ſollten.“ Wie „glücklich“, um mit Bonnet zu reden, dieſe Erfindung war, die ich an ei— nem andern Orte eine körperliche Wieder— belebung der Platoniſchen Ideen ge— nannt habe, ergiebt ſich ſchon aus der viel— ſeitigen Verwendung, welche dieſelbe als— bald fand. Leibniz wußte ſie geſchickt mit ſeinem religiös-philoſophiſchen Syſtem zu verweben und ſagte: „Ich glaube, daß die Seelen, welche eines Tages menſch— liche Seelen werden ſollen, wie diejenigen anderer Weſen, in den Voreltern bis auf Adam vorhanden geweſen ſind, und in— folge deſſen von Anbeginn und immer in einer Art von organiſchem Körper exiſtirt haben.“) „Dies vorausgeſetzt,“ ſagt er an einer andern Stelle, „wird es klar ſein, daß ein Weſen, welches nicht zu leben an— fängt, auch niemals zu leben aufhören kann, und daß der Tod, ebenſo wie die Zeugung, nur eine Umwandlung deſſelben Weſens iſt, deſſen Maſſe ſich bald ver— mehrt, bald vermindert.“ Auch die Phy— ſiologie konnte das neue Theorem gut ge— brauchen. Wie ſchwer war es nicht, die Bildung aller einzelnen Organe des leben— D Theodicde, $ 91. — den Körpers zu erklären, nun brauchte man gar nichts zu erklären, „denn,“ ſo ſagte A. von Haller, der berühmteſte Phyſio— loge des vorigen Jahrhunderts, „alle Ein— geweide und ſogar die Knochen waren ſchon vorher gebaut und im Keime gegen— wärtig, obgleich in einem faſt flüſſigen Zuſtande“.“) Auch das Herz war fertig da und wartete nur des Augenblickes, in welchem es durch den äußern Anſtoß der Befruchtung zu ſchlagen beginnen ſollte. Um dieſe Träumereien zu begreifen, müſſen wir uns erinnern, daß wir uns in der Zeit der Entdeckung und erſten An— wendung des Mikroſkops befinden. Mit Staunen hatte man geſehen, wie ein ver— ſchwindender Punkt durch dieſes Inſtru— ment zu einer auf das feinſte organiſirten Geſtalt ausgedehnt werden konnte; ſo ſtand alſo hinter der ſichtbaren Welt eine noch viel wunderbarere, dem bloßen Auge un— ſichtbare Welt, und nichts hinderte, in je— dem Pünktchen des vergrößerten Bildes wieder einen ebenſolchen vergrößerbaren Keim und ſo in infinitum zu vermuten. Dazu kam nun die erregbare Phantaſie der mit unvollkommnen Inſtrumenten ar— beitenden Forſcher. Ein geſchicktes Mikro— ſkopiren iſt ein neues Sehenlernen, und wer mit erregbarer Phantaſie ins Mikro— ſkop ſchaut, kann, wie unzählige Beiſpiele dargethan haben, alles ſehen, was er ſehen will. Kein Wunder, daß man jetzt begann, in den kleinſten Keimen bereits die voll— kommen ausgeſtaltete Miniaturausgabe des künftigen Weſens zu erkennen. Nun hatte der junge Mediziner Ludwig von Hammen aus Danzig im Jahre 1677 in einem Tropfen männlicher Samen— ) Citirt von Blumenbach, Über den Bildungstrieb, Ausgabe von 1791, S. 23. Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 261 flüſſigkeit ſchier unzählige lebendige Weſen (animalcula) mit dem Mikroſkop entdeckt, und bald ſahen der Maler Gautier und der Akademiker Hartſoeker in dem menſchlichen Samentierchen die leibhafti— gen Seelen des Herrn von Leibniz zap— peln und bildeten ſie als zuſammengebo— gene menſchliche Geſtalten, wie die Kinder im Mutterleibe ſitzend, zu jedermanns Gemütsergötzung deutlich ab.“) Daraus entſtand die große Frage: Sind die Keime im väterlichen oder im mütterlichen Körper in einander geſchachtelt vorhan— den? Iſt das Animalculum des Männchen das präformirte Weſen, welches im Ovulum nur ſeine Wiege und Nahrung findet, oder it das Oyulum des Weibchen dieſer Schach— telkeim? Leibniz neigte mit Leeuwen— hoek, Hartſoeker und dem Abbé Spal— lanzani zu der Partei der Animalku— liſten, Haller und Bonnet dagegen zu derjenigen der Ovuliſten, und am beſten zogen ſich ſchließlich diejenigen aus der Sache, welche zweierlei präformirte Keime, Seelen- und Körperkeime, annah— men, die erſt bei der Zeugung mit einan— der verbunden würden. Jean Paul hat ſich in den „Grönländiſchen Pro— zeſſen““ !) bekanntlich den Animalkuliſten -angefchloffen, um dem „groben Ahnen— ſtolz“ wenigſtens einen Funken von Be— rechtigung laſſen zu können. Da nach die— ſer Theorie nämlich der jüngſte Junker in der That ſchon bei allen Thaten ſeiner Ur— Ur⸗Ahnen, bei ihren ruhmreichen Feld— und Raubzügen körperlich dabei geweſen, Man findet dieſe Abbildungen in Gau⸗ tiers Generation de homme et des ani- maux, Paris, 1750, 12 und in Hartſoekers Essay de Dioptrique, Paris, 1694, 4. ) Sämmtliche Werke, Ausgabe von 1841, Bd 9, S. Nl. — fo dürfe er ſich immerhin etwas auf dieſe mit feinen Ahnen gemeinschaftlich verübten Thaten einbilden. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß dieſe präformirten Keime, die materiell gewor— denen ewigen Ideen Platons, unter ein— ander mit einer unabänderlichen Verſchie— denheit begabt, gedacht wurden. Sogar das männliche und weibliche Geſchlecht war nach Leeuwenhoek bereits den Ani— malkulis ſeit Ewigkeit eigen, und da nun keine Veränderung an ihnen denkbar war, ſo mußten alle Verſchiedenheiten der In— dividuen von Anfang an in ihnen gelegen haben. So wurde die Präformations— theorie zur natürlichen Ergänzung der Prädeſtinationstheorie. Um nun zu er— klären, wie es komme, daß die lebenden Tiere und Pflanzen teilweiſe eine gewiſſe Ahnlichkeit mit einander darbieten, ſo nah— men Leibniz und Bonnet an, der Schöpfer ſei bei der Bildung der Keime nach einer beſtimmten kontinuirlichen Rei— henfolge vorgegangen, indem er von dem niedrigeren zu dem höheren aufſtieg, wes— halb ſich alle Weſen, obwohl ſie an ſich unveränderlich ſind, in eine einzige gerade Stufenleiter vom Mineral zum einfachſten Pflänzchen, von dieſem zum Pflanzentier, und vom Tiere ſelbſt zum Menſchen, ja zum Engel anordnen ließen. Die geſchickteren Mikroſkopiker, wie Leeuwenhoek und andere, geſtanden bald zu, daß man die Geſtalt des künfti— gen Tieres nicht im Samentierchen erken— nen könne, was ſie aber einzig auf eine der Kraft ihrer Mikroſkope ſpottende Klein— heit derſelben deuteten. Ihre Lebendigkeit mußte für die Unſichtbarkeit der Form ein— treten, aber das fernere Bedenken, daß man, wenn man den präformirten Keim Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. — in den Samentierchen ſuchen wollte, eine ungeheure Verſchwendung derſelben zu— geben mußte, führte die beſonneneren Präformiſten immer mehr dazu, im Ovu— lum die aus der Unſichtbarkeit in die Sicht— barkeit gewachſene jüngſte Keimhülle zu ſuchen. Man mußte natürlich, um durch ſeine Berufung auf das Unſichtbare nicht allen Halt in der Welt des Wirklichen zu verlieren, annehmen, daß die Keime ſich nach und nach immer mehr ausdehnten, um kurz vor ihrem Inslebentreten als deutliche präformirte Keime im Körper der Mutter ſichtbar zu werden, wie man denn die ganze unmittelbare Deszendenz eines Huhnes in ſeinem Eierſtocke und einer Pflanze in ihrem Fruchtknoten ſchon vor ſtattgehabtem Verkehr mit dem Männchen vorgebildet findet. In ſeinem auf dieſes Verhalten begründeten „Entwurf einer Geſchichte der organiſirten Körper vor ihrer Befruchtung“, in welchem das gleiche Alter aller Menſchen von Adam bis auf die damalige Welt herab betont und auf rund ſechstauſend Jahre berechnet wurde, hatte Bonnet der Idee Bazins beige— pflichtet, „daß wir,“ um mit Blumen— bach“) zu reden, „ſeit der lieben langen Zeit, da wir mit Kain und Abel und den 200,000 Millionen übrigen Menſchen zu— ſammenſteckten, die der gemeinen Rechnung nach ſeitdem vor uns dahingegangen ſind, kurz ſeit der erſten Schöpfung, zwar in— kognito und ſchlaftrunken, aber doch nicht ganz ohne Bewegung brach gelegen haben, und daß wir während der 57 Jahrhun— derte, eh' uns die Reihe traf, daß wir durch den oberwähnten Reiz (der Zeugung) entwickelt wurden, doch immer nach und nach ſachte gewachſen ſind: wir konnten ) A. a. O., S. 24. Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. uns nämlich bei Kains Schweſter ſchon ein bißchen mehr ausdehnen, als bei ihrer Mutter, wo fie ſelbſt nebſt ihren Geſchwi- ſtern noch bei uns lag und uns den Raum beengte; und ſo kriegten wir mit jeder neuen Entwicklung eines unſerer Vorfahren ein geräumiger Logis, und das that uns wohl, da ſtreckten wir uns mehr und mehr, bis endlich die Reihe der Entwicklung auch an uns kam!“ Natürlich mußten die nächſten zum Her— vortreten auch ſchon ſichtbarlich in Er— ſcheinung treten, und hier boten die ſchon vor aller Befruchtung ſichtbaren jungen Eier im Tierkörper und die Samenanlagen im Fruchtknoten einen ſcheinbaren Beweis für die Wahrheit der Präformations— theorie. Noch viel lauter ſprechende Be— weiſe lieferten aber gewiſſe vorzeitige Ent— wicklungen, wie die ſproſſenden Blumen der ſogenannten Roſenkönige, die „ſchwan— geren Orangen“, die eine junge Frucht ent— halten, und die Vogeleier, welche in ihrer Schale ſchon ein zweites vollſtändig aus— gebildetes Ei mit Schale bergen. Das waren Antizipationen der künftigen Ent— wicklung. Linné wendete die neue Lehre alsbald auf die Botanik an und wies auf die Zweige hin, die auseinander hervor— knospen und deren Keime von Anfang an in der erſten Knospe zuſammengeſchoben vorhanden geweſen ſein müßten, wie man ſolche mehrjährige Vorausbildung von Knospen in den Zwiebeln von Scilla- und Ornithogalum - Arten erkennen könne. Weniger reichlich genährt, verlängern ſich dieſe Zweige nicht in infinitum, ſondern bringen am Ende eine Blüte hervor, mit welcher jeder weitern Verlängerung des Endes dieſes Zweiges ein Ziel geſetzt er— ſcheint. Deshalb glaubte Linné, mit dem 263 Blühen ſei eine ſechsjährige Blattknospen— entwicklung des Zweiges, in den ſechs Blattkreiſen der vollkommnen Blüte anti- zipirt, die Blüte ſelbſt ſei dem Schmetter— ling zu vergleichen. Nichts aber kam der Theorie, daß es keine wahre Erzeugung in der Natur gebe, mehr zugunſten, als die 1740 gemachten Beobachtungen Bonnets über die Fort— pflanzung der Blattläuſe. Dieſe Tiere pflanzen ſich während des größten Teils der wärmern Jahreszeit anſcheinend ohne jede Mitwirkung der Männchen fort, in— dem immer nur Weibchen zur Welt kom— men, die nach wenigen Tagen wieder Eier legen, aus denen Weibchen hervorkom— men, und ſo fort durch zehn oder mehr Generationen, bis am Ende der Saiſon auch Männchen erſcheinen, während, wie Balbiani neuerdings wahrſcheinlich ge— macht hat!), in dem erſteren Falle eine Art Selbſtbefruchtung ſtattfindet. Hier ſchien nun die Ineinanderſchachtelung der Keime und die Entbehrlichkeit der Be— fruchtung, dieſer ganze Luxus der Männ— chen offenbar, und dieſer Schein wurde nach Kräften für die herrſchende und von den erſten Autoritäten der Zeit unterſtützte Lehre ausgenützt. Juſt als man ſolche Beſtätigungen brauchen konnte, wies dann auch ein Dr. Otto auf einen von ſeinem Großvater beobachteten und durch den namhaften Leibmedikus Clauder in den Annalen der Kaiſerlich Leopoldiniſchen Akademie ſeinerzeit beſchriebenen Fall hin, in welchem eine Müllerfrau mit einem be— reits in guter Hoffnung befindlichen Kinde niedergekommen ſei. „Acht Tage darnach wird das kleine dickleibige Mädchen,“ ſo ) S. den Bericht über Balbianis Studien in den Kleineren Mitteilungen dieſes Heftes. 264 erzählt Otto mit den Worten feines Groß— vaters, „mit großen Wehtagen und Un— ruhe befallen, ſehr weinend und ängſtlich, daß alle die Umſtehenden nicht anders vermeint, als es würde im Nu ſterben. Inmittelſt gebiert das kranke Kind ordent— licher Weiſe ein artiges, vollſtändiges, lebendiges Töchterlein in der Länge des mittleren Fingers, welches auch getauft worden. Bei der Geburt iſt alles an After— bürde und andere Unreinigkeit abgegangen, beide Kinder aber ſind kurz folgende Tage darauf geſtorben.““) Haller hat dieſe Geſchichte ſelbſt unter den beſten Beweiſen für die Präformationstheorie aufgeführt, und man kann es daher dem wackern Geiſt— lichen nicht verdenken, der in einem von Blumenbach angeführten lateiniſchen Briefe ſeinen Gewiſſensbedenken darüber Luft gemacht hat, ob man ſolche Kinder acht Tage alter Mädchen eigentlich taufen dürfe? Die Anhänger der männlichen Keim— bewahrung (Animalkuliſten) ſpielten übri— gens dem von Haller protegirten Müller— kinde gegenüber einen in den Schriften der Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften an die Offentlichkeit gebrachten Abbs aus, dem, nachdem er „mitten in einem Ver— ſuche über das Zeugungsgeſchäfte ſehr zur Unſichtbare jubelte ihm alle Welt zu, und Unzeit unterbrochen“ hernach ein verhär— tetes Kindlein — on y distinguoit la tete, les pieds et les yeux — aus dem Leibe geſchnitten werden mußte! Es handelte ſich nun höchſtens noch darum, auch am Embryo höherer Tiere das Vorher-Vorhandenſein deſſelben und die Geringfügigkeit der bis zur Reife nöti— gen äußeren Umbildungen nachzuweiſen. ) D. C. Ottonis Epistola de foetu puer- pera seu de foetu in foetu. Weißenfels, 1748, 8. Citirt von Blum enbach. Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. In der That glaubten Malpighi und Croune ſchon in unbebrüteten Hühner— eiern das Miniaturbild des nur heran— wachſenden Vogels geſehen zu haben, ja der letztere konnte es mit ſeinen ſcharfen Augen ſogar in ſogenannten Windeiern von Hennen, die nie mit einem Hahn zu thun gehabt hatten, erkennen. Dieſer Traum hatte ſich nun zwar nicht bewährt, aber von ſeinem Grundſatze der Unſicht— barkeit und urſprünglichen Flüſſigkeit aller feſten Teile ausgehend, ſuchte A. von Haller noch am 13. Mai 1758 in einer Sitzung der von ihm präſidirten Göttingi— ſchen Geſellſchaft der Wiſſenſchaften die Präformation des Küchelchens im Ei nach— zuweiſen, indem er darauf hinwies, daß die Haut des Dotters im bebrüteten Ei in die des daran hängenden Küchelchens, und die Blutgefäße des letzteren in die Adern der ſogenannten Figura venosa des Dotters unmittelbar übergingen. Nun aber habe der Dotter mit ſeiner Haut ſchon im Eierſtock der unbefruchteten Henne präexiſtirt, folglich nach aller Wahrſchein— lichkeit auch zugleich mit derſelben, obgleich unſichtbar, das damit zuſammenhän— gende Hühnchen. Trotz dieſer geſchraubten Erklärung mit ihrer Berufung auf das Bonnet ſchrieb am 30. Oktober 1758 an Haller: Vos poulets m’enchantent: je n'avois pas espéré que le secret de la Generation commenceroit sitöt à se devoiler. C'est bien vous, monsieur, qui avait sgu prendre la Nature sur le fait.“ Um den Jubel eines ſo ſcharfſinnigen Mannes wie Bonnet, um die allgemeine Zuſtimmung der erſten Geiſter der Zeit zu begreifen, muß man ſich der vollkom— menen Ratloſigkeit erinnern, in welcher befanden, wenn es galt, die Neubildung eines organiſchen Weſens durch die Zeu— gung zu begreifen. Die Epigeneſistheorie war ja, wie wir geſehen haben, bereits von Ariſtoteles aufgeſtellt worden, aber jedermann, der der Sache tiefer nachge— gangen war, fühlte ſich unfähig, ſie zu begreifen. Dieſem Problem gegenüber hatte ſich daher eine vollkommene Re- Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 1 265 ſich Forſchung und Philoſophie jener Zeit den, der betitelt iſt: „Ob die allgemeinen Geſetze der Bewegung zur Bildung der Tiere zureichen?“ und welcher ſo lehrreich iſt, daß ich ihn in etwas abgekürzter Form hier wiedergeben will, weil er am beſten erklärt, weshalb Bayle und alle ſcharf— ſinnigen Köpfe feiner Zeit der Präforma⸗ | tionstheorie, die doch nur ein Verzicht auf jede Erklärung iſt, zuflüchteten: ſignation aller Geiſter bemächtigt. Ein Naturphiloſoph des ſechzehnten Jahrhun- nicht philoſophiren. Will man zu den all— zu behauptet, es ſchiene ihm viel leichter derts, Franz Titelmann, hatte gerade— begreiflich, daß Gott unmittelbar Pflanzen und Tiere hervorbringe, als daß der männ— liche Samen (foetidissima, et vix nomi- nanda substantia, quam absque abomi- natione nemo conspicit) die Kraft haben ſolle, jene wunderbaren Organe der Lebe— weſen hervorzubringen, gegen welche alle Werkzeuge der Phyſiker und Mathematiker Pfuſchereien ſeien. Man hatte von einer vis plastica, der Vorgängerin des nisus formativus Blumenbachs, geſprochen, die alles erklären ſollte, und Daniel Sennert (1572 — 1637) ſuchte die Schwierigkeit zu löſen, indem er ſagte, eine Artſeele ſei ſchon im männlichen Sa— men enthalten und bilde den Leib mit ſei— „Will man,“ ſagt Bayle, „zu Gott, als der unmittelbaren Urſache (der Ent- ſtehung) ſeine Zuflucht nehmen, ſo heißt das gemeinen Geſetzen von der Mitteilung der Bewegung ſeine Zuflucht nehmen, ſo iſt dies eine armſelige Hilfe: denn weil nach dem Bekenntniſſe aller philoſophiſchen Parteien dieſe Geſetze nicht vermögend ſind, ich will Idee, eine in ſeinem Buche De Genera- tione viventium ausgeſponnene Hypo⸗ theſe, die ſpäter von Stahl aufgenommen wurde und urſprünglich, wenn auch in modifizirter Geſtalt, das Glaubensbekennt— nis aller Anhänger der Epigeneſistheorie ausmachte. Dieſe Hypotheſe iſt ſehr treffend von Bayle in dem Artikel „Sennert“ ſeines Lexikons in einem Abſchnitt widerlegt wor— nicht ſagen eine Mühle oder Uhr, ſondern nur das allergröbſte Werkzeug hervorzu— bringen, das man in der Werkſtatt eines Schloſſers ſieht; wie ſollten ſie vermögend ſein, den Körper eines Hundes oder auch einer Roſe und eines Granatapfels hervor— zubringen? Will man zu den Sternen oder ewigen Ideen ſeine Zuflucht nehmen; ſo iſt dies eine erbärmliche Freiſtatt. Hier muß eine Urſache ſein, welche einen Begriff von ihrem Werke hat und die Mittel kennt, dasſelbe zu verfertigen. Denn alles dies nen Organen nach der ihr immanenten iſt denjenigen nötig, welche eine Uhr oder ein Schiff machen; wieviel mehr muß es ſich bei demjenigen finden, welches die Or— ganiſation der lebendigen Körper voll— bringt? Es iſt wohl gewiß, daß die Sterne keinen Begriff von einem menſchlichen Kör— per haben, und daß ihnen desſelben Bil— dungsart unbekannt iſt. Die Peripatetiker geben zu, daß die „ewigen Ideen“ der Pflan— zen und Tiere nicht wiſſen, wie die Mate— rie gebildet werden muß, um ihr die Werk— Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 34 266 zeuge zu geben, welche in einem Baume und in einem Küchlein ſind. Sie ſind alſo nicht die Urſache dieſer Organiſation. Die— jenigen, welche ſagen, daß ſie die Urſache derſelben ſeien, ob ſie gleich das künſtliche dieſes Werkes nicht wiſſen, ſind tauſend— mal lächerlicher als diejenigen, welche ſag— ten, daß der Menſch von ungefähr eine Uhr machen könnte, ohne daß er jemals einen Begriff davon gehabt; ohne daß er wüßte, was er macht und was er ſucht. Dieſer Einwurf ſtürzt Sennerts Lehre, denn er würde ſich nimmermehr erkühnen zu ſagen, daß die Seele, welche er in den Samen von Pflanzen und Tieren angenommen hat, den Begriff von allen Werkzeugen derPflan— zen und Tiere hätte und die Art wüßte, wie dieſelben zu bilden und an ihren Platz zu ſetzen wären. Man hätte ihm alſo eine ſehr bedeutende Erleichterung geboten, wenn man ihm gelehrt hätte, daß organi— ſirte Tierchen in dem Samen wären, denn es iſt viel leichter zu begreifen, daß eine mit dergleichen Tierchen vereinigte Seele ſie im Wachſen machen kann, als daß ſie einen Tropfen flüſſige Materie organiſi— ren und in einen Hundskörper verwan— deln könnte. „Ich kenne geſchickte Perſonen, welche ſich rühmen, zu begreifen, daß die allge— meinen Geſetze von der Mitteilung der Bewegung, ſo einfach und von ſo geringer Zahl ſie auch ſeien, zureichend wären, einen foetus wachſen zu laſſen, inſofern man vorausſetzt, daß ſie ihn organiſirt finden. Allein ich bekenne meine Schwäche, ich kann dies nicht begreifen. Nach meinem Bedünken iſt es notwendig, daß, wenn ein kleines organiſirtes Stäubchen ein Huhn, ein Hund, ein Kalb und dergl. werden ſoll, eine vernünftige Urſache die Bewegung Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. der Materie leiten muß, eine Urſache, ſage ich, welche den Begriff dieſer kleinen Ma⸗ ſchine beſitzt, und die Mittel hat, dieſelbe auszudehnen und nach ihrem richtigen Ebenmaße zu vergrößern. Man wird mir zugeben, daß es nicht begreiflicher iſt, anzu— nehmen, daß die Geſetze der Bewegung die einzige Urſache von der Erbauung eines. kleinen Hauſes ſeien, als es begreiflich iſt, daß ſie es in einen großen Palaſt verivan- deln, wo jedes Zimmer, jede Thür, jedes Fenſter u. ſ. w. eben dieſelben Verhältniſſe behält, welche der Baumeiſter des kleinen Hauſes beobachtet hat. (Ich erkenne, wohl zu bemerken, an, daß zwiſchen der Vergrö— ßerung eines Hauſes und dem Wachstum des Fötus der Unterſchied iſt, daß die Or— gane des Fötus Formen ſind, durch wel— che die neuen Wachstumsſtoffe durchdrin— gen und ſich ausbreiten können, wovon bei einem kleinen Hauſe keine Rede wäre.) Wenn dieſe zwei Sachen gleich ſchwer ſind, warum wollen wir glauben, daß die Ge— ſetze der Bewegung, welche unvermögend ſind, einen Punkt der Materie zu organi— ſiren, die Fähigkeit haben ſollten, wenn ſie dieſelbe organiſirt finden, ſie in ein tauſendmal größeres Tier zu verwandeln, und alle Verhältniſſe in einer faſt unend— lichen Zahl von Werkzeugen zu beobach— ten, welche jo verſchiedener Natur find, einige weich, einige flüſſig, einige hart u. ſ. w.? Ich würde es alſo für ſehr wahrſcheinlich halten, daß das Wachstum des Fötus, welcher, wenn man will, vom Anfange der Welt an organiſirt ſein mag, von einer beſonderen Urſache bewirkt werde, die einen Begriff von dieſem Werke und die Mittel hat, es zu vergrößern; wie z. B. ein Baumeiſter den Begriff von einem Ge— F 14 bäude und die Mittel hat, daſſelbe zu ver— | | größern, wenn er einen Riß ausführt, den er ganz fertig findet und vor ſich auf den Tiſch legt. Es werden mir unzählige Leute zugeben, daß ſich die Tiere in der Gebär— Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 267 muß, von Gott erhalten hat. Die Schwie— mutter entwickeln, daß ſie ſich darinnen ernähren; daß ſie darinnen durch die Füh— rung einer Vorſehung wachſen: allein ſie werden wollen, daß Gott alle dieſe Wir— kungen regiere. Ich antworte ihnen, daß ſie die Frage verändern: denn wir ſuchen hier nicht die erſte Urſache, den allgemei— nen Urheber aller Dinge, wir ſuchen hier nur die letzte Urſache, den Grund von ei— ner jeden Wirkung. Wenn man Gott bei dieſer Unterſuchung für die ganze Urſache ausgiebt, ſo heißt dies nicht philoſophiren. Man ſage mir doch, wenn es vernünftige Einwohner in den Planeten gäbe, welche auf die Erde und in eins von unſern Häu— ſern kämen, den Gebrauch der Zimmer, der Fenſter, der Thüren, der Schlöſſer u. ſ. w. errieten und endlich nur die Vor— ſehung Gottes bewunderten, welche ein ſo bequemes Gebäude für den Menſchen auf— geführt hätte, würde man ſie nicht mit gutem Grunde für Dummköpfe halten? Sie würden nicht wiſſen, daß dieſes Ge— bäude durch Menſchen aufgeführt worden und daß ein menſchlicher Baumeiſter die Lage der Steine, der Dielen u. ſ. w. nach ſeinen vorgeſetzten Abſichten eingeſetzt hätte. Es iſt freilich wahr, daß der Menſch dieſen Verſtand von Gott erhalten hat; allein Gott iſt nicht die nächſte, die natür— liche und unmittelbare Urſache dieſes Ge— bäudes. Wir wollen ebendaſſelbe in Ab— ſicht auf die Organiſation der Bäume und der Tiere ſagen; ſie iſt der beſonderen Führung irgend einer andern Urſache un— terworfen, welche den Verſtand und die rigkeit liegt darin, dieſe Urſache zu beſtim— men . . . Heinrich Morus, welcher die Präexiſtenz der Seele geglaubt hat, lehrte“), daß ſie, indem ſie ſich mit der Materie vereinige, ſich ſelbſt darin eine organiſche Wohnung baue. Dieſe Meinung wird da— mit beſtritten, daß wir nicht wiſſen, was man thun muß, um die Nerven, die Beine, die Adern u. ſ. w. zu ordnen. Man könnte ſagen, daß die Seele alle dieſe Be— griffe vergeſſe, ſobald ihre Woh— nung fertig iſt, weil die Grobheit der Werkzeuge des menſchlichen Körpers den Zuſammenhang zerreißt, den ſie zuvor mit den ſehr ſubtilen zufälligen Urſachen hatte. Allein ich möchte lieber vorausſetzen, daß die Seele ſelbſt die Bewegungen nicht re— giere, welche ihren Fötus wachſen laſſen; ich wollte dieſe Regierung lieber einem fremden Geiſte zueignen . ..“ Man erſieht, daß ſich hier in der Be— trachtung der Entwicklungsgeſchichte die Keime einer Philoſophie des Unbe— wußten ausbildeten, wie ſie noch in un— ſerm Jahrhundert möglich geweſen iſt. Allein Bayle erinnerte ſich wohl der gro— ßen Gelehrſamkeit, welche Johann Bap— tiſte Morin (1583— 1656) dieſer Keim— ſeele zuſchreiben mußte“), um fie ihres *) De Anima, Lib. II, Cap. IV. ++) Die Worte Morins lauten iu der Über- ſetzung wie folgt: „Ich glaube, die phyſiſche, jub- ſtantielle Form der zuſammengeſetzten Körper (mit Ausnahme der Vernunftſeele) iſt nichts anderes, als der körperloſe Samengeiſt jedes Dinges, derſelbe, dem Severinus die eigen— tümlichen und ſpezifiſchen inneren Signaturen der Farbe, des Geruchs und Geſchmackes und die wunderbare, ihm von Gott im Anfang der Schöpfung mitgeteilte Wiſſenſchaft (scientia) Geſchicklichkeit, die man dabei anwenden zuſchreibt, durch welche der von wirkſamen Ur— I 7 Amtes würdig walten zu laſſen, und er ſchauderte vor dieſer ungeheuren unbe— wußten Gelehrſamkeit ſo zurück, daß er ſich lieber der Bonnet-Leibnizſchen Hypo— theſe zuwandte, bei der alle dieſe Schwie— rigkeiten wegfielen. Und ſo ging es jeder— mann und darum freute ſich die geſammte gelehrte Welt, als Haller die Präfor— mationstheorie 1758 feierlichſt als feſtge— gründet anerkannte. Aber ſchon im Jahre nach dieſem „Triumph“ der Präformationstheorie wagte der Zögling des Königlich Preußi— Kaspar Friedrich Wolff, in ſeiner am 28. Nov. 1759 zu Halle verteidigten Pro— ſich gemütvoll ausdrückte, „die erquickende Freude am Neuwerden in der Natur ver— darb, indem ſie die luſtigen, farbenreichen ſachen zur Erzeugung gereizte Geiſt irgendeines Samens zuerſt das dem zu erzeugenden Dinge kongruente Element herbeizieht . . . und darauf der Verarbeitung und Organiſation deſſelben obliegt, und ſo regelrecht nach der ihm einge— bornen und ihm weſentlichen Wiſſenſchaft (scien- tia), daß alle Blumen derſelben Pflanze unter ſich und alle Blätter und Früchte unter ſich in allen Kennzeichen übereinſtimmen, und ferner überein— ſtimmen mit den Blättern, Blüten und Früchten irgendeiner andern Pflanze derſelben Spezies: was nur mit der dem Vermögen ſolches Samens ein— er in den Spinngeweben, Bienenwaben und offen liegt, auf andre Weiſe aber unter Zuſtim— mung der Vernunft nicht begriffen werden kann.“ So ſchloß alſo Morin hundertundfünfzig Jahre ſchen Collegium medico-chirurgicum, gepflanzten mechaniſchen Wiſſenſchaft (scientia | mechanica) und deſſen weſentlichen Eigentümlich⸗ keiten leicht begriffen werden kann, gleichſam als das regelmäßige Werk irgendeines Verſtandes, wie den übrigen Erzeugniſſen der Tiere noch klarer Verjüngungen mit der Theorie vom ewi- 268 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. gen Sein umflorte“. Während nun die Anhänger der Evolutionstheorie immer nur das Längſtfertige im Ei oder Samen geſucht hatten, konnte den Neuſchöpfer der von Ariſtoteles betonten, aber kaum durch eigene Forſchungen begründeten Epi— geneſistheorie auch die genaueſte Zerglie— derung des Fertigen nicht befriedigen, er wollte nun einmal das „Werden“ ſehen und ſein Blick vertiefte ſich zunächſt in die beiden „Vegetationspunkte“ an den beiden End— polen der Pflanze. Er ſah dort am obern : Pol, wie die Verſchiedenheit der Laub- und Blütenblätter ſich aus gleichen Anfängen entwickelte, und ohne ſich, wie Linné, in ſchimmernden Vergleichen der Blüte mit motionsſchrift über die Theorie der zeugung den Kampf gegen jene damals alle Geiſter | beherrſchende Theorie, welche ihm, wie er Schmetterlingen u.ſ.w. zu ergehen, erkannte er, daß alle Organe der Pflanze ſich auf die beiden Grundformen von Stengel und Blatt zurückführen laſſen und daß die Blüte aus Kreiſen verwandelter Blätter beſtehe. Auch die Zuſammenſetzung dieſer Grundorgane aus den entfernteren Ele— vor Erasmus Darwin, daß man auch den Pflanzen und allen Keimen eine denkende Seele beilegen müſſe, welche den der Pflanze nötigen Nahrungsſtoff auswählt und verteilt. „Nichts Abſurderes kann ausgeklügelt werden,“ fährt Morin fort, „als daß jene Ahnlichkeit der Blü— ten, Blätter und Früchte eines Baumes in Farbe, Geruch, Geſchmack und Form aus der bloßen Bewegung der Atome hervorgehe, von welcher Stand und Ordnung derſelben abhän— gig ſeien. Unter allen Blüten, Blättern und Früchten eines Apfelbaumes komme nicht eine einzige Blüte. Blatt oder Frucht der Birne oder irgendeiner andern Pflanze aus der Be— wegung derſelben Atome zum Vorſchein. Wenn hier alſo nicht irgendeine ſpezifiſche „Wiſſen— ſchaft“ im Spiele ſei, würden gar keine be— ſtimmten Spezies, ſondern nur chimäriſche For- men entſtehen können.“ Man findet den latei— niſchen Urtext dieſer Stellen bei Bayle im Artikel „Morin“. — Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. menten der Zellen und Gefäße erkannte er deutlich und zeigte, daß die Gefäße nachträgliche Bildungen ſeien, wobei die Stengelorgane, die ſozuſagen das Tranſit— geſchäft zu beſorgen hätten, als vorzugs— weiſe aus Kanälen, die Blätter hingegen, als Aufſpeicherungsorgane, als vorzugs— weiſe aus Zellen beſtehend erkannt wurden. Daſſelbe, was Wolff für die Ent— wicklungsgeſchichte der Pflanze leiſtete, konnte er mit ſeinem durch die Beobach— tung dieſer einfacheren Verhältniſſe ge— ſchärften Blick auch für die Entwicklungs— geſchichte der Tiere ſchaffen, nämlich die exakte Grundlage aller künftigen Forſchung auf dieſem Gebiete. In ſeiner bereits 1768 erſchienenen Arbeit über die Bildung des Darmkanals“) zeigte Wolff auf das klarſte, daß von irgend einer Vorausbil— dung dieſer oder anderer Organe im Hühnerei umſoweniger die Rede ſein könne, als ſelbſt in den erſten Tagen der Bebrü— tung keine Spur von der demſelben eigen— tümlichen Röhrenform vorhanden ſei, daß vielmehr der geſammte Embryo urſprüng— lich die Geſtalt eines flachen, ovalen Blat— tes darbiete, welches, anfangs einfach, ſich ſpäter in mehrere Blätter teilt, deren innerſtes durch Verwachſung der einander genäherten Ränder ſchließlich zu dem Darmkanale wird, deſſen Ausbildung er von Anfang bis zu Ende verfolgte. In— dem er ferner erkannte, daß aus den übri— gen Blättern in ähnlicher Weiſe durch Zuſammenſchließung die übrigen Organ— ſyſteme entſtehen, wie das Nerven-, Muskel- und Gefäßſyſtem, und daß dieſelbe Bil— dungsweiſe bei andern Wirbeltieren wieder— kehrt, wurde er nicht nur der erſte Ent— ) De formatione intestinorum. Petrop. 1768—69. 269 decker jener wunderbaren Gleichförmigkeit der Entſtehung aller Organſyſteme aus denſelben Grundlagen, die Pander 1817 zu der berühmten Keimblättertheorie er— hob, ſondern er wies ſeine Kollegen mit Nachdruck auch auf den tiefern Sinn dieſer Entſtehung aus gleichen Grundformen hin, die, wie er ahnte und ausſprach, „in eng— ſter Verbindung mit der Erzeugung und der geſammten Natur der Tiere“ ſtehen müſſe. Wolffs Arbeiten brachten nicht den reformatoriſchen Eindruck hervor, den man heute vorausſetzen möchte, und dies erklärt ſich vollkommen durch die allzu beſcheidene Art ſeines Auftretens. Nicht wie ein Neu— erer und Bekämpfer der herrſchenden Schule trat er in die Schranken, ſondern wie ein bloßer Erneuerer und Vertreter der Ari— ſtoteliſchen Anſicht vom Werden, d. h. alſo einer längſt abgethanen Theorie. Auch die Taktik ſeiner Gegner trug nicht wenig dazu bei, den in ſeinem Vaterlande verkannten und förmlich zur Auswanderung nach Pe— tersburg gedrängten Forscher bei uns inVer— geſſenheit zu bringen, fo daß Goethe ſpäter ſeinen „trefflichen Vorarbeiter“, wie er ſich ausdrückte, förmlich „entdecken“ mußte. Statt ihn nämlich zu bekämpfen und da— durch ſeine Streitluſt zu reizen, lieferte Hal ler ſelbſt in den „Göttinger Gelehrten Anzeigen“ von 1760 eine ſehr anerken— nende Rezenſion ſeiner Erſtlingsſchrift und trat mit ihm in einen Briefwechſel, und die bloße Ablehnung der neuen Theorie, der Machtſpruch Hallers: „Nulla est epigenesis“ brachten in jener Zeit des blühendſten Autoritätsglaubens dieſelbe Wirkung hervor, wie die gründlichſte Wi— derlegung. Es ſoll nicht geſagt werden, daß Haller, einmal durch freundliches Entgegenkommen und andererſeits durch 270 vornehmes Schweigen den als gefährlich erkannten Gegner abſichtlich mundtot zu machen geſucht habe, denn eine ſolche Handlungsweiſe lag wohl nicht in ſeinem Charakter, aber der Mangel an Kampf: luſt auf Wolffs Seite kam ihm entgegen, und die thatſächliche Folge des vermiede— nen Streites war das Vergeſſen, welches ſich über Wolffs Entdeckungen und Schrif— ten breitete, der deutlichſte Beweis dafür, daß auch ein neuer Forſchungsweg nur im Kampfe um ſeine Berechtigung und ſeinen innern Wert zu der ihm gebührenden An— erkennung gelangen kann und daß über- haupt nichts dem Fortſchritt der Wiſſen⸗ ſchaft förderlicher iſt als der Streit, nichts * ſchädlicher als der Frieden. Die das Studium der Entwicklungs- geſchichte geradezu negirende Präforma— tions- oder Evolutionstheorie im älteren Sinne mußte ſchließlich an Altersſchwäche ſterben und vorher zum Geſpötte der Nicht— fachleute werden, ehe ſie von den Fach- leuten aufgegeben wurde. Am wirkſam— ſten wurde ſie, und zwar mit den Waffen des Spottes und Witzes, um die Neige Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. als den erwachſenen Weſen, während ſich doch der Embryo, wie ſpäter E. v. Baer hervorhob, vielmehr durch Einfachheit oder, wie er ſich ausdrückte, „Grobheit“ ſeines Baues dem vollendeten Weſen gegenüber auszeichnet. Darwin, der Wolffs Schriften nicht gekannt zu haben ſcheint, faßte den Begriff der Epigeneſe wohl am tiefſten, indem er einesteils betonte, daß der junge Keim — für den er das Sper- matozoid hielt —eine Fortſetzung des Va— ters ſei, die auch die neueſten Erwerbun⸗ gen deſſelben entfalten müſſe, andererſeits aber aus eigener Machtvollkommenheit befähigt ſei, über denſelben hinauszugehen. Der witzige Blumenbach, ehemals, wie beinahe alle damaligen Anatomen und Philoſophen, ein eifriger Hallerianer und Evolutioniſt, wurde im Sommer 1789 durch die Beobachtung der Reproduktions⸗ fähigkeit des Armpolypen zur Theorie der Neubildung bekehrt. Es ſchien ihm nicht denkbar, daß das Reproduktionsvermögen der niedern Tiere nach der Präformations⸗ theorie erklärbar ſein könne. Natürlich war dieſer bedenkliche Umstand den An⸗ des Jahrhunderts von Blumen bach und Goethe in Deutſchland, und von Eras— | mus Darwin in England bekämpft. Während Goethe ſchon in ſeiner Kam— | pagne in Frankreich ſich bitter beklagte, daß „die ſtarre Vorſtellungsart, nichts könne werden als was ſchon ſei, ſich aller Geiſter bemächtigt“ habe, wurde Eras— mus Darwin durch die Millionen der ineinander geſchachtelten Keime an die zwanzigtauſend auf einer Nadelſpitze tan— zenden Teufelchen des heiligen Antonius erinnert, und betonte ſarkaſtiſch, daß dieſe Theorie ja den Embryonen in ihrer Klein— heit einen viel wunderbareren Bau zumute, hängern der Theorie nicht entgangen. „Man muß annehmen,“ hatte ſchon Ré⸗ aumur in einer 1712 erſchienenen Ab— handlung über die Reproduktion der Krebs⸗ ſcheeren geſagt, „daß dieſe kleinen Beine, welche wir wachſen ſehen, in kleinen Eiern eingeſchloſſen waren und daß, nachdem ein Teil des Beines abgeſchnitten wurde, die— ſelben Säfte, welche ſonſt dazu dienten, dieſen Teil zu ernähren und wachſen zu laſſen, nunmehr angewendet werden, um den in dieſen Eiern enthaltenen Erſatzteil ſich entwickeln und wachſen zu laſſen“. Obgleich Neaumur mit feinem geſunden Menſchenverſtande ausgeſprochenerweiſe * err Ba a a a u N — Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. nicht glaubte, daß jemand dieſe weither— geholte Erklärung annehmen würde, blieb doch Bonnet nichts weiter übrig, als die Unzahl der präformirten Keime noch durch ein Magazin von „Flickkeimen“ (des ger- mes reparateurs“) zu vermehren, die nur das enthalten, was häufiger auszu— beſſern iſt, wie ſich vorſichtige Hausfrauen beizeiten Erſatzſtückegewiſſer, häufig ſchad— haft werdender Kleiderſtellen beſorgen. Blumenbach konnte dieſen Notkei⸗ men keinen Geſchmack abgewinnen, er wies darauf hin, daß der Erſatz verlorener Teile in der Regel mit Subſtanzverluſt der be— nachbarten verbunden iſt, und ſuchte na— mentlich aus der Betrachtung der unvor— hergeſehenen Bildungen der Natur, der Gallen, Roſenäpfel, Baſtarde und Mißge— burten, zu beweiſen, daß in den Säften der Organismen ein körperliches, geſtal— tendes Vermögen wirkſam ſei, welches er den Bildungstrieb (nisus formativus) nannte. Er ſchloß demnach: „daß keine präformirten Keime präexiſtiren, ſondern daß in den vorher rohen, ungebildeten Zeu— gungsſtoff der organiſchen Körper, nachdem er zu ſeiner Reife und an den Ort ſeiner Beſtimmung gelangt iſt, ein beſonderer, dann lebenslang thätiger Trieb rege wird, ihre beſtimmte Geſtalt anfangs anzuneh— men, dann lebenslang zu erhalten, und wenn ſie ja etwa verſtümmelt werden, wo⸗ möglich wieder herzuſtellen.“) Blumen: bach geſteht ſelbſt zu, daß er damit nur die Taufe einer qualitas occulta vollzo— gen, indeſſen legte er damit wenigſtens die formbildende Urſache in die Lebeweſen ſelbſt und gab die Neubildung aller Ge— * Bonnet, Oeuvres completes. T. VI, P. 267. a/ Q., S. 31. 271 ſtalten und ihr Veränderungsvermögen durch äußere Umſtände zu. Durch ihre Beeinflußbarkeit glaubte er ſich nun er: klären zu können, daß nicht nur auf geſetz⸗ mäßige Weiſe Mißgeburten und Baſtarde — deren Formen daher auch geſetzmäßige und darum wiederkehrende ſeien — ent— ſtehen könnten, ſondern daß auch tieriſche Bildungen im Menſchen aufträten, und männliche Tiere oftmals äußerlich die Kenn— zeichen von weiblichen darbieten könnten. „Bekanntlich haben die Weiber,“ ſagt er“), „nach dem ordentlichen Laufe der Na— tur zur Aufnahme ihrer neuempfangenen Frucht ein einfaches Organ. Die mehr— ſten übrigen Säugetiere hingegen ein dop— peltes. Nun aber ſind die Fälle nicht ſel— ten, wo man auch bei Frauenzimmern einen förmlichen ſolchen tieriſchen uterus bicornis gefunden, ſo daß es dann von dieſer Seite geſchienen, als wenn wirklich die Iphigenia verſchwunden und ein Reh an ihre Stelle gezaubert wäre.“ Den ver- meintlichen „Schlüſſel,“ welchen Blu— menbach für dieſe richtige Beobachtung giebt, daß der Bildungstrieb nämlich bei der Bildung der einen Art organiſcher Körper zuweilen die für eine andere Art beſtimmte Richtung annähme, iſt, wie man leicht erkennt, kein Schlüſſel, wenn nicht wenigſtens ein einheitlicher Urſprung der beiden Richtungen des Bildungstriebes vorausgeſetzt wird, was nicht geſchieht. Gegen dieſe Unzulänglichkeit und We— ſenloſigkeit des erſt in neuerer Zeit zu einem gewiſſen Inhalte gelangten Blumen⸗ bachſchen — Wortes wandte ſich Wolff in einer beſonderen Schrift““), die auch dar- A a. O., S. 108: **) Von der eigentümlichen und weſentlichen Kraft der vegetabiliſchen und animaliſchen Sub- ſtanz. St. Petersburg, 1789. 4. 272 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. um intereſſant iſt, weil ſich durch Miß-“ Zweck iſt es, die Prinzipien der Pflanzen— verſtändnis aus ihr, und nicht, wie man gewöhnlich angiebt, aus Blumenbach, der perhorreszirte Begriff der Lebenskraft entwickelt zu haben ſcheint. „Sollte unter dieſem Trieb,“ ſagt Wolff, „eine einfache Kraft verſtanden werden, ſo könne man nur gleiche Wirkungen von ihr erwarten, ſie könne nur eine Art organiſcher Körper, nicht aber unzählige hervorbringen. Wollte man aber die Ver— ſchiedenheiten der Bildungen aus ſekundä— ren Wirkungen erklären, ſo werde der Be— griff des Bildungstriebes auf den der allen Organismen gemeinſamen Ernährungs— kraft zurückgeführt. Dieſe Nutritionskraft äußere ſich zwar ſchließlich nur in der Anzie— hung gleichartiger und in der Fernhaltung. (Abſtoßung) fremdartiger Stoffe, aber ſie ſei in dem Einzelweſen ſo individuell, daß man auch der Pflanzenart eine Art unbe— wußt mit Gefühl und Geſchmack begabter Ernährungsſeele zugeſtehen müſſe, die eine ihr allein eigentümliche Art der Stoffan— eignung und Stofforganiſirung beſitze.“ Hier berührt ſich Wolffs Anſchauung ziemlich innig mit derjenigen von Eras— mus Darwin, der ebenfalls keinen be— ſtimmt gerichteten Bildungstrieb, ſondern vielmehr ein Vermögen, ſich den äußeren Umſtänden anzupaſſen, in Pflanzen und Tieren ſelbſt ſuchte.“) Aber Wolff ging weiter, und nichts zeigt deutlicher, wie voll— kommen in ihm der Geiſt unſeres Jahr— hunderts lebendig war, als ein Ausſpruch, den er ſchon in feiner Theoria generatio- nis gethan“), woſelbſt er jagt: „Mein 9 Erasmus Darwin. Leipzig, 1880. S. 177 ff. **) 8.71. Schol. II. Vergl. Alfr. Kirch— hoff, Die Idee der Pflanzenmetamorphoſe bei Wolff und Goethe. Berlin, 1867. S. II. entwickelung und deren Grundgeſetze er— fahrungsmäßig zu finden, und wenigſtens zu zeigen, daß die vollendete Pflanze nicht ein Ding iſt, zu deſſen Hervorbringung die Naturkräfte gar nicht hinreichten, welche vielmehr die ſchöpferiſche Allmacht (d. h. die Präformation) verlange.“ Niemals iſt vor Kant und Darwin die Notwen— digkeit einer mechaniſchen, oder ſagen wir moniſtiſchen Auffaſſung entſchiedener betont worden, als in dieſen Worten Wolffs. Wie ſchon erwähnt, galt der Prophet in ſeinem Vaterlande nichts, und ſeine Auf— forderung zur Beobachtung des Werdens, ſeine Verkündigung einer höheren Auf— faſſung der Natur verhallten ſo vollſtändig vor dem Rufe „Es giebt kein Werden!“, daß der deutſche Naturforſcher Ludwig Oken im Jahre 1806 von neuem die Entwickelungsgeſchichte des Darmkanals zu ſtudiren begann, ohne übrigens zu ſo klaren Ergebniſſen zu kommen, wie der ſcharfſinnige Vorgänger, von deſſen Arbeit er keine Ahnung hatte. Man hat die dies— bezüglichen Arbeiten Okens in ſpäterer Zeit mit ſehr geringſchätzigem Auge ange— ſehen, weil er nicht unterlaſſen konnte, jeden Augenblick ſeine Augen von dem mit großer Genauigkeit beobachteten Objekte emporzuheben und in die Ferne zu ſchauen, um ſich aus dem beſonderen zu allgemei— nen Reſultaten zu erheben. Mit Recht ſagte aber Karl Ernſt Baer von ihm, daß ſeine Unterſuchungen der „Wendepunkt für eine richtigere Er— kenntnis des Eies der Säugetiere geworden ſind“. Wenn man die entwicklungsge— ſchichtlichen Arbeiten Okens genauer be— — trachtet, ſo drängt ſich die Empfindung auf, | Ernſt Kraufe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. als habe man eine fortwährende unausge- ſprochene Oppoſition gegen jenes Wort Hallers vor ſich, „daß kein Teil im Tier— körper vor dem andern gemacht worden ſei, ſondern alle zugleich erſchaffen worden ſeien“. Oken erkannte nun deutlich ein Vorauseilen der Entwickelung des einen Organſyſtems vor dem anderen und baute darauf, von der Idee des allgemeinen Zu— ſammenhanges der Tierformen ausgehend, ſofort ein Syſtem, in welchem die Abtei— lungen nach dem Vorwiegen der einen oder andern Organentwickelung abgegrenzt wur— den. „Aller Unterſchied der Tiere von ein— ander beruht auf der übermäßigen Aus— bildung eines Syſtems bei Vernachläſſi⸗ gung der andern,“ ſagt er“), nur im Men⸗ ſchen ſeien alle Organe harmoniſch ausge— bildet, und das Tierreich ſei der „durch— leuchtende Embryo des Menſchen“. So ſehr dieſes übereifrige Fruchtpflücken vom Baume der Erkenntnis den entwicklungs— geſchichtlichen Studien ſelbſt geſchadet hat, ſo findet ſich doch mancher geniale Fingerzeig auch in dieſem Teile ſeiner Arbeiten, und als Beiſpiel mag nur darauf hingewieſen werden, wie er ſchon 1806 die Zähne von den Knochen getrennt und zu den Hautbil- dungen geſtellt wiſſen wollte.“) In ruhigere Bahnen und auf eine ge— ſichertere Grundlage wurde das Studium der Entwicklungsgeſchichte erſt wieder zu— rückgeführt, nachdem Meckel 1812 das Wolffſche Werk über die Entwickelungsge-⸗ ſchichte des Darmkanals ins Deutſche über— | jest und auf den außerordentlichen Wert des Werkes hingewieſen hatte. Es war in *) Oken und Kieſer, Beiträge zur ver- gleichenden Zoologie, Anatomie und Phyſiologie. | Bamberg u. Würzburg, 1806. S. 104. MA D. 109. 273 Würzburg, wo der Gedanke Wurzel ſchlug, die von ihren erſten Anläufen bis zu dem böchſten Ausbau ſpezifiſch deutſche Wiſſen— | ſchaft der Entwicklungsgeſchichte weiter zu bauen. Über das Aufkeimen des Ge— dankens hat uns Karl Ernſt von Baer in dem Vorwort ſeiner Entwicklungsge— ſchichte der Tiere“) genau unterrichtet. Der berühmte Biolog Döllinger äußerte ge— gen Baer den Wunſch, „daß ein junger Naturforſcher unter ſeinen Augen eine neue Reihe von Unterſuchungen über die Entwicklungsgeſchichte des Hühnchens an— ſtelle,“ indem er hinzufügte, daß er auf wichtige Reſultate hoffe. Baer veran- laßte ſeinen Freund Chriſtian Pander, dieſe Unterſuchungsreihe, zu welcher be— deutendere Mittel gehörten, als er damals aufwenden konnte, vorzunehmen, und als Reſultat legte letzterer in feiner 1817 er— ſchienenenPromotionsſchrift eine auf Wolff— ſcher Grundlage vollendete Entwicklungs— geſchichte des Hühnchens mit der ſchon in erſterer angeregten „Keimblättertheorie“ vor. Nach ihm zerfällt die blattartige Keim— anlage des Hühnereis ſchon am erſten Bebrütungstage in ein äußeres Haut- und ein inneres Schleimblatt, zwiſchen denen ſich ſpäter eine dritte Schicht, das Gefäß— blatt entwickelt, um die Grundlagen zur Ausbildung der verſchiedenen Organſyſte— me zu liefern. 5 Zuerſt in der Abſicht, die Panderſche Arbeit beſſer zu verſtehen, ſie gleichſam mit lebendigen Illuſtrationen zu leſen, nahm Baer 1819 dieſe Unterſuchung ſelbſt auf, und führte ſie ſpäter auf Burdachs Ver— anlaſſung in Königsberg, wo er ſich habili— tirt hatte, weiter, und zu einem ſolchen ) Erſter Teil. Königsberg, 1828. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 35 274 Grade der Vollendung, daß er nächſt Wolff, dem Begründer, als Vollender die größ— ten Verdienſte um die Erforſchung der Entwicklungsgeſchichte der Wirbeltiere er warb. Nachdem er mancherlei darüber in kleineren Abhandlungen veröffentlicht hatte, legte er den geſammten Schatz ſeiner Be— obachtungen in ſeinem ſchon zitirten großen Fundamentalwerke nieder, deſſen beide Bände in dem langen Zwiſchenraum von 1828 — 183) erſchienen. Das große Er— gebnis desſelben iſt die allgemeine Über— einſtimmung in der erſten Entwicklung aller Wirbeltiere, vom Hühnchen bis zum Menſchen, deſſen winziges, kaum mit blo— ßem Auge erkennbares Ei Baer zuerſt (1837) entdeckte. Er unterſchied zunächſt das obere animale Keimblatt, aus dem ſich die Organe der tieriſchen Funktionen (Empfindung und Bewegung) bilden, von dem unteren vegetativen Blatt, aus dem die Organe der ſogenannten vegetativen Thätigkeiten (Ernährung, Verdauung, Blutbildung, Atmung, Abſonderung und Fortpflanzung) hervorgehen. Jedes dieſer primären Keimblätter ſpaltet ſich wieder in zwei ſekundäre Blätter, das obere in die Hautſchicht, aus der die Bedeckungen des Körpers und das Rückenmark nebſt allen davon ausſtrahlenden nervöſen Organen hervorgehen, und die Fleiſchſchicht, aus der Muskeln und Knochen entſtehen. Eben— ſo ſpaltet ſich das untere oder vegetative Keimblatt in zwei neue Blätter, von denen aus dem oberen (Gefäßſchicht) Herz und Adern, Nieren und Geſchlechtsorgane, aus dem untern (Schleimſchicht) der Darm— kanal mit allen ſeinen Nebenorganen und die Lunge gebildet werden. Von größter Wichtigkeit war ferner ſein Nachweis eines ſchon auf den erſten Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. Stufen erkennbaren, für alle Wirbeltiere typiſchen Organes, der Chorda dorsalis oder des Rückenſtabes, aus dem ſich die Wirbelſäule entwickelt. In dieſem frühen Auftreten eines bleibenden und charakte— riſtiſchen Organes erkannte er das in allen Veränderungen der Entwicklungen blei— bende Grundſchema des Wirbeltiertypus, und ſeine Verſchiedenheit von der Ent— wicklung der übrigen Tierkreiſe, in denen ſich ebenſo früh ein anderer Spezialtypus andeutet. Von dieſen Beobachtungen aus— gehend, unternahm er die Scheidung der Tiere in vier von Grund aus verſchiede— nen Haupttypen: Wirbeltiere, Gliedertiere, Weichtiere und Strahltiere, welche Cuvier und Rudolphi ungefähr um dieſelbe Zeit, von ſyſtematiſchen und vergleichend anatomiſchen Geſichtspunkten ausgehend, aufgeſtellt hatten. Damit wurde Baer zugleich der Begründer der verg leichen— den Entwicklungsgeſchichte und mit ſeinem Hinweis auf die Wichtigkeit des Studiums der Entwicklung der niederen Tiere hebt die neue Zeit an, die wir im nächſten Kapitel betrachten wollen. Baer iſt Zeit ſeines Lebens nicht über die Unvereinbarkeit der vier Entwicklungs- typen hinausgekommen. Mit vollem Recht kämpfte er gegen die aus den Zeiten der Präformationslehre von den Naturphilo— ſophen hinübergenommene, und nun im andern Sinne gedeutete kontinuirliche Ent— wicklungsreihe, die man „wie eine Eiſen— bahn nur vorwärts und rückwärts gehen läßt, aber nicht zur Seite“, und er konnte ſich auch ſpäter, als man ſie in viele Ne— benlinien gehen ließ und nur den gemein— ſamen Ausgangspunkt behauptete, nicht mehr von jener vorgefaßten Meinung tren— nen. Sein Werk wird darum nichts von ſeinem Ruhme verlieren, das richtige Ver: ſtändnis der Thatſachen der Entwicklungs— geſchichte mußte eben durch den faſt unver— meidlichen, aber doch verhängnisvollen Umſtand erſchwert werden, daß man mit dem Studium der komplizirteren Verhält— niſſe der höchſten Tiere, ſtatt mit den ein— facheren der niederſten das Werk begonnen hatte, ein beim Dache angefangenes Ge— bäude, dem man nun nachträglich vorſich— tig die Fundamente und Pfeiler unterſchie— ben mußte, um es in die Höhe des wahren Wertes und weitſchauenden Glanzes zu heben. Baer überſchätzte ſeine Arbeit am wenigſten. Die Einfachheit ſeiner Funde erfüllte ihn mit Hoffnung, denn „die Ein— Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 275 RN fachheit,“ fo ſchrieb er als Motto auf fein Buch, „iſt das Siegel der Wahrheit“. Er wußte, daß der Bau dieſer Wiffen- ſchaft noch nicht vollendet war und ſchrieb 1828: „Noch manchem wird ein Preis zu teil werden. Die Palme aber wird der Glückliche erringen, dem es vorbehalten iſt, die bildenden Kräfte des tieriſchen Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder Lebensrichtungen des Weltganzen zu— rückzuführen. Der Baum, aus welchem ſeine Wiege gezimmert werden ſoll, hat noch nicht gekeimt.“ Glücklicherweiſe war letzteres der größte Irrtum Ba ers, der Baum zur Wiege Darwins war damals längſt gefallen. Die Bedentung der Alpenblumen für die Blumentheorie. Von 75 ES nſere Blumentheorie grün— es det ſich auf die Voraus- 1 ſetzung der vorteilhaften Wirkung der Kreuzung. So oft aus Kreuzung her— vorgegangene Nachkom— men — ſo behaupten wir — mit aus Selbſt— befruchtung hervorgegangenen in ernſten Wettkampf verſetzt werden, bleiben die erſteren Sieger. Nur wo dieſer Wettkampf erſpart bleibt, kann auch Selbſtbefrucht— ung oft viele Generationen hindurch der Fortpflanzung genügen. Bei Blumen, de— nen regelmäßig hinreichender Inſektenbe— ſuch zu teil wurde, mußten daher, durch Naturausleſe, Kreuzung begünſtigende oder ſichernde Abänderungen zur Aus— Inſektenbeſuche dagegen Abänderungen, die ſpontane Selbſtbefruchtung ermöglich— ten oder ſicherten, ohne jedoch daneben gelegentliche Kreuzung auszuſchließen. Den direkten Beweis für dieſe grundlegenden Sätze finden wir in den im erſten Hefte des Kosmos beſprochenen Verſuchen Dar— wins“) „Über die Wirkungen der Kreu— 9 Kosmos, Bd. I, Heft 1, S. 57. Dr. Hermann Müller. zung und Selbſtbefruchtung im Pflanzen— reiche“, einen indirekten in den Blüten— einrichtungen der Pflanzen überhaupt, be— ſonders aber in denen der Blumen. Bei den darauf unterſuchten Blumen hat ſich nämlich, wie ich zuerſt in meinem Buche über „Befruchtung der Blumen durch Inſekten“ in umfaſſender Weiſe dar— gethan habe, als allgemeine Regel, die nur einige wohl erklärbare Ausnahmen darbietet, herausgeſtellt, daß Blumen, denen ſtets hinreichender Inſektenbeſuch zu teil wird, in der That ausſchließlicher Kreuzung durch denſelben angepaßt ſind, daß dagegen in dem Grade, als ihr In— ſektenbeſuch unſicherer iſt, in ihrer Blüten— einrichtung, neben der Beibehaltung der prägung gelangen, bei unzureichendem Möglichkeit der Kreuzung, Ermöglichung oder Begünſtigung ſpontaner Selbſtbe— fruchtung ſtattfindet. Kreuzung ergiebt ſich alſo, wie aus den direkten Verſuchen Dar— wins, ebenſo auch aus der Betrachtung der Beſtäubungseinrichtungen der Blumen erhellt, durchaus als die vorteilhaftere Art der Befruchtung. Und wenn einerſeits das Experiment den Vorzug unmittelbarer Beweiskraft hat, ſo läßt ſich andrerſeits Ns Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. der indirekte Beweis aus den Beſtäubungs— einrichtungen in viel größerem Umfange erbringen. Es iſt vielleicht kaum ſchwieri— ger, ihn an einigen hundert Blumen durch— zuführen, als das Experiment an einigen wenigen. Wenn ferner er auch für ſich allein uns wohl kaum befriedigen könnte, ſo erlangt er doch, mit den Ergebniſſen der Darwinſchen Verſuche zuſammenge— nommen, volle Überzeugungskraft und führt uns ſogar noch einen Schritt weiter als dieſe. Aus den elfjährigen Verſuchen Dar— wins geht nämlich nicht hervor, und es würde vielleicht ſelbſt aus hundertjährigen nicht hervorgehen, ob die Fähigkeit ge- wiſſer Blumen, durch ſpontane Selbſtbe— fruchtung ſich fortzupflanzen, eine be— ſchränkte oder unbegrenzte iſt. Aus den Blüteneinrichtungen dagegen können wir ſchließen, daß ſie ihre Grenzen haben muß. Denn wäre ſie unbegrenzt, ſo würde die kleiſtogame Blütenform die vorteilhafteſte mit ausſchließlich kleiſtogamen Blüten aus— prägen müſſen. Thatſächlich iſt uns aber nicht eine einzige Blume bekannt, die ſich ausſchließlich durch ſpontane Selbſtbe⸗ fruchtung fortpflanzt. Die Unterſuchung der Beſtäubungs— einrichtungen der Blumen im Zuſammen— hange mit ihrem thatſächlichen Inſekten— beſuche ſcheint mir deshalb, wenn auch erſt in zweiter Linie beweiskräftig, nun eine nicht weniger weſentliche Stütze un— ſerer Blumentheorie zu bilden, als der ex— perimentelle Nachweis, daß aus Kreuzung in der That kräftigere Nachkommen her— vorgehen, als aus Selbſtbefruchtung. Faſt alle bisher veröffentlichten der— artigen Unterſuchungen waren im Tief— 277 lande, alſo unter anſcheinend weit günſtige— ren Bedingungen, als ſie das Hochgebirge darbietet, angeſtellt. In meinem jetzt unter der Preſſe befindlichen Buchen) werden zum erſtenmale die Blüteneinrichtungen und der thatſächliche Inſektenbeſuch von mehreren hundert Alpenblumen mitgeteilt. Indem nun dieſe Beobachtungen den umfaſſenden Nachweis liefern, daß bis zu den äußer— ſten Vorpoſten des Blumenlebens, bis zum ewigen Schnee hinauf, dieſelbe Regel gilt, daß auch dort ſpontane Selbſtbefruchtung niemals als alleiniger Befruchtungsmodus, ſondern nur als Notbehelf bei ausbleiben— der Kreuzung in Anwendung kommt, daß auch dort Kreuzung immer und überall, wo ſie zu haben iſt, als die vorteilhaftere Fortpflanzungsart zur Geltung gelangt, ſichern ſie der Blumentheorie nicht nur eine breitere thatſächliche Grundlage, ſon— dern zugleich eine weſentlich neue Stütze, deren ſie bedürftig war. Sobald aber die Grundlage unſerer Theorie geſichert iſt, ſein und es hätten ſich zahlreiche Pflanzen können wir ſie nach verſchiedenen Rich— tungen hin zu einem wirklichen Fortſchritte unſerer Erkenntnis der Blumenwelt in Anwendung bringen: 1) können wir bei jeder einzelnen Blumenart von der Kenntnis der Form zum Verſtändnis der Funktion fortſchrei— ten und für die bisher von den Botanikern faſt ausſchließlich berückſichtigten morpho— logiſchen Merkmale die biologiſche Erklä— rung gewinnen. Wir werden dies mit ei— niger Sicherheit zwar nur ſelten als Stu— benbotaniker, durch Unterſuchung unſerer Gartenblumen, erreichen können, wohl aber, wenn wir die Blumen an ihren na— *) Alpenblumen, ihre Befruchtung durch Inſekten und ihre Anpaſſungen an dieſelben. Leipzig, Wilh. Engelmann. 278 Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. türlichen Wohnorten aufſuchen und in ihren mannigfachen Beziehungen zu ihrer Umgebung, zu anderen gleichzeitig eben— daſelbſt blühenden Arten, zu kreuzungs⸗ vermittelnden und plündernden Tieren, ins Auge faſſen; 2) können wir Gruppen auf dieſe Weiſe erforſchter, nächſtverwandter Arten ver— gleichend überblicken, als aus dem näm— lichen Stamme divergirend hervorgegan— gene oder aufeinander gefolgte Entwicke— lungsſtufen uns verſtändlich machen und ſo für die ſyſtematiſche Gliederung, wenig— ſtens der letzten Auszweigungen der Blu— menſtammbäume, den genetiſchen Zuſam— menhang und die ihn bedingenden biolo— giſchen Momente ermitteln; 3) können wir die in den verſchiede— nen, auf dieſe Weiſe durchforſchtenPflanzen— abteilungen in ihrer natürlichen Aufein— anderfolge zu tage getretenen Anpaſſungs— ſtufen der Blumen, zuſammen mit den An— paſſungsſtufen der als ihre Kreuzungs— vermittler beobachteten Inſekten, benutzen, um von der allmählichen Ausprägung der Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und Inſekten zu ihrer heutigen Mannigfaltig⸗ keit ein beſtimmtes, auf Thatſachen ge— ſtütztes Geſammtbild zu gewinnen. Die an den Alpenblumen von mir an- geſtellten Unterſuchungen ſind nun, wie ich glaube, nicht nur für das Fundament unſerer Blumentheorie, ſondern auch für ihren Ausbau in den drei fveben bezeich- neten Richtungen von Bedeutung. Denn J) iſt durch dieſelbe erreicht worden, daß wir nun von mehreren hundert Alpen— blumen der verſchiedenſten Familien und Anpaſſungsſtufen durch Beobachtung an Ort und Stelle nicht nur die Beftäubungs- einrichtung, ſondern auch in einigem Um: fange den Inſektenbeſuch und die Wechſel— beziehungen zwiſchen beiden kennen, wor— aus ſich ein Einblick in die Eigentümlich— keiten der einzelnen Blumen ergiebt; 2) habe ich im unmittelbaren Anſchluß an diejenigen Familien, aus denen mir eine größere Zahl auf verſchiedener Ent— wickelungshöhe ſtehender Formen vorlagen, jedesmal einen vergleichenden Rückblick über dieſelben gegeben und ihren genea— logiſchen Zuſammenhang, ſoweit er ſich, aus den Beſtäubungseinrichtungen erken— nen läßt, klar zu legen verſucht. 3) Wie und in welcher Aufeinander— folge die verſchiedenenen Anpaſſungsſtufen der Blumen zur Ausprägung gelangt ſein mögen, habe ich bereits in meinem Auf— ſatze „Die Inſekten als unbewußte Blumen⸗ züchter““) in allgemeinen Umriſſen darzu⸗ ſtellen verſucht, großenteils, wie den Leſern dieſer Zeitſchrift bekannt, auf grund mei— ner an den Alpenblumen geſammelten Be- obachtungen. Eine weſentliche Vervoll— ſtändigung hat dieſe Skizze nun dadurch erfahren, daß ich auch von der ſtufenwei— ſen Entwickelung der Blumenfarben aus den vorliegenden Beobachtungen ein Ge— ſammtbild zu gewinnen und in meinem Alpenblumen-Werke darzuſtellen verſucht habe. Von grundlegender Wichtigkeit für alle dieſe drei Richtungen, nach denen ich in dieſem Buche die Blumentheorie weiter auszubauen verſucht habe, ſind Tauſende von Einzelbeobachtungen, die einen großen Teil deſſelben füllen, hier aber ſelbſtredend nicht wiedergegeben werden können. Auch in bezug auf die einzelnen eingehend er— örterten und durch Abbildungen veran— ſchaulichten Alpenblumen muß ich den Leſer 9 Kosmos, Bd. III. 4 S u Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. auf das demnächſt erſcheinende Werk ſelbſt verweiſen. Nur die in bezug auf Ver— wandtſchaftsverhältniſſe von Blumen ge— wiſſer Familien und auf Entwickelung von Blumenfarben erlangten allgemeinen Er— gebniſſe erſcheinen mir von hinreichend all— gemeinem Intereſſe, um hier Platz finden zu dürfen. Bei den Liliazeen (im weiteren Sinne) läßt ſich aus den Blumeneinrich— tungen der betrachteten Formen ſchließen, daß ihre Stammeltern offene, regelmäßige, honigloſe Blüten beſeſſen haben, die nur von Pollen aufſuchenden Inſekten beſucht und gekreuzt wurden und im Notfall durch ſpontane Selbſtbefruchtung ſich fortpflanz— ten. Erſt nach der Spaltung in verſchie— dene Familienzweige hat ein Teil der Li— liazeen die Abſonderung offenen, allgemein zugänglichen Honigs, teils aus den Peri— gonblättern, teils aus den Fruchtblättern erlangt, während ein anderer Teil honig— los“) geblieben iſt. Die letzteren werden noch heute entweder nur von Pollenſamm— lern und Pollenfreſſern gekreuzt (Tulipa) oder ſind zu Täuſchblumen geworden, die dumme, fäulnisſtoffliebende Fliegen an ſich locken (Paris).““) Die aus den Frucht— blättern Honig abſondernden Liliazeen haben zum teil offene Blüten mit allge— mein zugänglichem Honig behalten (Tofiel- dia, Anthericum), zum teil haben ſie durch Zuſammenſchließen der Blumenblätter ei— nem beſchränkteren, aber doch noch ſehr gemiſchten Beſucherkreis (Allium), oder auch einer beſtimmten langrüſſeligen In— ſektenform ſich angepaßt (Paradisia: Nacht- faltern und Schwärmern), oder ſie ſind *) D. h. ohne Abſonderung von Nektar nach außen. ) Kosmos, Bd. III, S. 336. 1 279 durch Zuſammenwachſen der Blütenhülle zu einer kürzeren oder längeren Glocke zu Bienenblumen (Convallaria verticillata) oder Hummelblumen (C. Polygonatum) geworden. Die aus den Perigonblättern Honig abſondernden Liliazeen ſind ebenfalls teils völlig oder ziemlich offenblumig geblieben und vorzugsweiſe von kurzrüſſeligen In—⸗ ſekten, namentlich Dipteren, in Beſchlag genommen und auf ſie als Kreuzungsver— mittler angewieſen (Veratrum, Gagea, Lloydia), teils ſchließen ihre unverwachſen bleibenden Perigonblätter zu herabhan— genden Glocken zuſammen, die von Bienen befruchtet werden (Fritillaria), teils haben ſich ihre Nektarien zu engen, gedeckten Rin— nen umgebildet, die nur Faltern zugäng— lich ſind (Lilium); endlich hat ſich bei den letzteren wiederum eine Umprägung von Tagfalterblumen (eine ſolche iſt noch Li- lium bulbiferum) zu Schwärmerblumen (L. Martagon) vollzogen. Dieſe mannig- fachen Anpaſſungen ſind faſt alle mit faſt völliger Beibehaltung der Regelmäßigkeit der Blumenform vor ſich gegangen; nur die Anpaſſung an Falter (Paridisia, Li- lium) und die Wagerechtſtellung der Blü— ‚ten bei Anthericum hat eine unregel— mäßige Biegung der Befruchtungsorgane, beſonders des Griffels, mit ſich geführt. Ein Rückblick auf die Orchideen der Alpen zeigt, daß über der Grenze des Baumwuchſes faſt nur noch falterblumige Arten dieſer Familie vorkommen, während in tieferen Regionen mehr und mehr an— deren Beſucherkreiſen angepaßte Formen verbreitet ſind. Von neun Orchideenarten, die von der Baumgrenze aufwärts noch in großer Häufigkeit auftreten oder in dieſer Region ſogar ihre hauptſächliche Verbrei— — 0 280 tung haben, ſind nämlich 6 (Orchis ustu— lata und globosa, Gymnadenia conopsea und odoratissima, Nigritella angustifolia und Platanthera solstitialis) unzweifel- haft, 2 (Gymnadenia albida und Peri- stylus viridis), nach ihrem engen Sporn— eingange zu ſchließen, höchſt wahrſchein— lich Falterblumen. Während hiernach von | den hochalpinen Orchideen mindeſtens ¾, wahrſcheinlich ſogar den Schmetter— lingen angepaßt ſind (nur bei Chamae- orchis alpina iſt dies ſicher nicht der Fall“), kommen z. B. in Weſtfalen von 35 | verſchiedenen Orchideenarten nur 6, alſo nur wenig über ¼ auf die Schmetterlinge, und ſelbſt dieſe wenigen wurden meiſt nur ſehr ſpärlich von Faltern beſucht gefunden, während unter den hochalpinen, falterblu— migen Orchideen namentlich Nigritella angustifolia ein wahrer Tummelplatz der mannigfaltigſten Schmetterlinge iſt (es wurden nicht weniger als 47 verſchiedene Falterarten auf ihr beobachtet). Die Craſſulazeen ſind durch die in offenbarem Zuſammenhang mit der Va— riation der Größe erfolgte Abänderung der Zahl der Blütenteile ““) von beſonde— rem Intereſſe. Mit der Verkleinerung der Blumen iſt die urſprüngliche Fünfzahl der Blütenteile bei Bulliardia auf 4, bei Til- laea auf 3 herabgeſunken; dagegen hat ſie ſich mit der Vergrößerung der Blumen bei Sedum von 5 bis zu 7, bei den be- trachteten Sempervivum- Arten ſogar ſtu— fenweiſe bis zu 16 geſteigert. Von den Saxifragen ſagt ihr gründ— | *) Denſelben Geſichtspunkt habe id) bereits in meinem Aufſatze „Das Variiren der Größe gefärbter Blütenhüllen“, Kosmos, Bd. II, S. 134, geltend gemacht. Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. lichſter Kenner Dr. A. Engler, der nicht weniger als 162 verſchiedene Arten mono— graphiſch bearbeitet hat: „Die Blüten aller Saxifragen find protandriſch, d. h. ihre Staubblätter entwickeln ſich vor Entfal— tung der Narbe und verſtäuben, ehe die Narbe in der Lage iſt, den Pollen ihrer Blüte anzunehmen.“ “) Es verdient daher gewiß Erwähnung, daß unter 13 von mir eingehender unterſuchten und abgebildeten alpinen Saxifraga-Arten 3 proterogyn ſind, d. h. gerade im Gegenteil die Narben vor den Staubgefäßen entwickeln, nämlich Se- guieri, muscoides und androsacea, wäh— rend die hochalpine oppositifolia, ebenſo wie im Tieflande tridactylites, an der einen Lokalität proterandriſch, an der an— dern proterogyn auftritt. Eine beſonders bemerkenswerte Eigen— tümlichkeit der ausgeprägt proterogynen Arten iſt die außerordentliche Größever— ſchiedenheit ihrer Blumen im erſten, weib— lichen, und im zweiten, männlichen Zu— ſtande. Nach dem Verſchrumpfen der Nar- ben wachſen ſie nämlich noch in dem Grade, | daß ſich ihr Durchmeſſer fait auf das Dop— pelte oder ſelbſt darüber hinaus ſteigert. Offenbar wird dadurch die für die Kreuzung der Blumen geeignete Reihenfolge der Beſuche eines und deſſelben Inſekts we— ſentlich begünſtigt, da Inſekten im allge— meinen die augenfälligeren Blumen früher beſuchen, als die ihnen weniger in die Augen fallenden. Bei den proterandriſchen Arten findet eine derartige Blumenver— größerung im zweiten Entwickelungsſtadi— um nicht ſtatt. Auch unſere Kenntniß der Gattung Viola wird durch die eingehendere Be— | Ns 5 Dr. A. Engler, Monographie der Gat— tung Saxifraga L. Breslau, 1872. S. 26. eee 4 trachtung der alpinen Arten weſentlich er— weitert. Denn während unſere Tieflands— veilchen, ſoweit bekannt, ſämmtlich den Bienen angepaßt ſind und von den Fal— tern nur eine untergeordnete Mitwirkung an der Kreuzungsvermittlung erfahren, treffen wir auf den Alpen einerſeits die aus einer Bienenblume zu einer Falter: blume umgezüchtete Viola calcarata, an- dererſeits die auf einer niederen Anpaſ— ſungsſtufe ſtehen gebliebene, kurzrüſſeligen Dipteren angepaßte V. biflora. An der Kreuzungsvermittlung der letzteren betei— ligt ſich in ſehr untergeordneter Weiſe auch eine ſehr kleine Biene (Halictus cy- lindricus), aber in ſo wenig geſchickter und zweckmäßiger Weiſe, daß ſie uns ge— rade dadurch den Übergang einer Bienen— art zur Ausnützung eines bis dahin den Dipteren angehörigen Veilchens in ſeinen erſten Anfängen klar vor Augen legt und uns verſtändlich macht, wie die urfprüngs lich kurzrüſſeligen Dipteren angepaßten Veilchen ſpäter großenteils zu Bienen⸗ blumen haben ausgeprägt werden können. Ebenſo bietet uns für den Übergang der bienenblumigen V. tricolor in die falter⸗ blumige V. calcarata die in der ſubalpi— nen Region häufige var. alpestris der er⸗ ſteren ſowohl in bezug auf Blütenbau als auf thatſächlichen Inſektenbeſuch eine lehr— reiche Zwiſchenſtufe dar. Die Karyophylleen zeigen in be— ſonders einfacher und klarer Weiſe den Übergang von offenen, geruchloſen Blüten mit allgemein zugänglichem Honig, mit weißlicher oder gelblicher Blumenfarbe lingsarten beſucht gefunden. Gleichwohl und mit einem ſehr gemiſchten Beſucher— kreiſe, der haupſächlich aus Dipteren be— ſteht, zu becherförmigen und röhrenförmi— gen Blumenbildungen mit immer tiefer Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 281 geborgenem Honig und dadurch immer engerer Beſchränkung des Beſucherkreiſes, mit immer vorwiegenderer Beteiligung der Schmetterlinge und gleichzeitig immer ent— ſchiedenerer Ausprägung lieblichen Wohl— geruchs, roter Blumenfarbe, feiner Zeich— nung um den Blüteneingang herum und zierlicher Auszackung und Zerſchlitzung des Blütenumriſſes. Die Ausprägung die— ſer uns ſelbſt ſo angenehm berührenden Blumeneigentümlichkeiten in gleichem Ver— hältniſſe mit der vorwiegenden Beteiligung der Falter an der Kreuzungsvermittlung läßt kaum einen Zweifel, daß ſie durch deren Blumenauswahl gezüchtet worden ſind. Und zwar ſcheint von dieſen auf Rechnung der Falter zu ſetzenden Züch— tungsprodukten zuerſt die rote Farbe, zu— letzt erſt der liebliche Wohlgeruch zur Aus— prägung gelangt zu ſein. Denn die erſtere finden wir bereits bei Formen, an deren Kreuzungsvermittlung ſich auch Bienen noch erheblich beteiligen (z. B. Lychnis flos cuculi), während den letzteren ſelbſt ausgeprägtere Tagfalterblumen (Silene acaulis, Saponaria ocymoides) noch ver— miſſen laſſen. Der große Falterreichtum der Alpen ſpricht ſich, wie bei den Orchideen, ſo auch bei den Karyophylleen nicht nur darin aus, daß eine verhältnismäßig große Zahl ihrer die Alpen bewohnenden Arten Falterblu— men ſind, ſondern auch in dem außeror— dentlich reichen Falterbeſuche, der einzel— nen derſelben zu teil wird. Saponaria ocymoides z. B. wurde von 32, Silene acaulis von 31 verſchiedenen Schmetter— vermag die einzige Macroglossa stellata- rum mit ihrer hervorragenden Rüſſellänge und ihrer ſtaunenswerten Leiſtungsfähig— \ a Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 36 282 keit im Blumenfreuzen*) das ganze Heer der Tagfalter in dem Grade aus dem Felde zu Schlagen, daß ſie ſich zwei Nel— ken der Alpen (Dianthus silvestris und superbus) zu ihrer alleinigen Ausnützung gezüchtet hat. Die ſtufenweiſe Steigerung der ur— ſprünglich offenblumigen Karyophylleen bis zu langröhrigen Schwärmerblumen iſt mit voller Beibehaltung der Regelmäßigkeit und der nach oben gekehrten Stellung der Blüten erfolgt. Die Neigung, in dieſer Beziehung abzuändern und ſeitlich gerich— tete oder ſenkrecht abwärtshängende Blu— menabänderungen darzubieten, die von den Bienen als Ausgangspunkt zur Züch— tung von Bienenblumen hätten benutzt werden können, ſcheint, ſoweit meine Be— kanntſchaft mit derſelben reicht, der ganzen Karyophylleen-Familie vollſtändig fremd geblieben zu ſein. Die Roſifloren ſind faſt durchweg auf einer ziemlich niedrigen Stufe der Anpaſſung an kreuzungsvermittelnde In— ſekten ſtehen geblieben. Außer Geum ri— vale, das durch feine glockig geſchloſſenen, nickenden Blumen den Hummeln angepaßt erſcheint und thatſächlich faſt nur von Hummeln, von dieſen aber mit beſonderer Vorliebe beſucht wird““), finden wir unter ihnen keine einzige ausgeprägte Bienen- oder Falterblume, dafür aber um ſo mannig— fachere Abſtufungen von den niedrigſten, urſprünglichſten Blumenformen, die in offener, regelmäßiger Blüte nur Pollen darbieten (Spiraea Ulmaria und Arun- ) Siehe Kosmos, Bd. III, ©. 425. *) Bei Lippſtadt z. B. laſſen die Hummeln, ſobald Geum rivale aufgeblüht iſt, die in der Nähe wachſende Primula elatior, die ſie bis dahin unausgeſetzt in großer Zahl beſucht haben, faſt unberührt. Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. cus) oder daneben völlig offen liegenden Honig (Sibbaldia, Alchemilla, Aronia) zu ſolchen, die den Honig im Grunde eines flachen oder tiefen, napfförmigen bis tief becherförmigen Kelches bergen und ſo den Inſektenbeſuch immer mehr beſchränken, bis endlich die Bienen wenigſtens einen vorwiegenden Anteil an der Kreuzungs— vermittlung nehmen. Von beſonderem In— tereſſe ſind von dieſen Abſtufungen einige gerade unter den Alpenblumen vertretene Arten, die eine nicht ſehr tiefe, aber honig— reiche Schale durch die zuſammenneigenden Blumenblätter und Staubgefäße ſo über— decken, daß der reiche Honigvorrat nur höhlengrabenden Hymenopteren bequem zugänglich bleibt, die gewohnt ſind, den Kopf zwiſchen Hinderniſſen hindurchzu— drängen. Die wenig tiefe Lage des Honigs dieſer Blumen (Cotoneaster, Rubus sa- xatilis) macht es wahrſcheinlich, daß ſie von noch ziemlich kurzrüſſeligen Hymenop— teren (Grabwespen, echten Wespen) ge— züchtet worden find, und die Felſenmispel (Cotoneaster vulgaris) kennzeichnet ſich auch durch den ihr thatſächlich zu teil wer— denden Inſektenbeſuch noch heute als Wes— penblume. Ich fand ſie nämlich an den— ſelben Felsblöcken und Klippen, an denen die Steinwespe, Polistes biglumis, ihr eine nackte, einſchichtige, geſtielte Wabe bildendes Neſt angekittet hatte, und aus— ſchließlich von dieſer, von ihr aber ſehr häufig beſucht. Wie die Familie der Ranunkulazeen, ſo enthält auch die der Roſazeen einzelne Windblütler. Während aber die wind— blütigen Ranunkulazeen (Thalictrum) mit ihren wenig ausgebreiteten Narben und bei einigen Arten noch etwas kleberigem Pollen von der Inſektenblütigkeit zur Windblütigkeit zurückgekehrt zu fein ſchei— nen, macht unter den Roſazeen die inſekten— blütige Sanguisorba mit ihrem Büſchel divergirender Narben vielmehr den Ein— druck, der Abkömmling eines Poterium- ähnlichen Windblütlers zu ſein. Die Papilionazeen haben einſeitige Anpaſſung an einen beſtimmten Beſucher— kreis höhlengrabender Hymenopteren ſchon von ihren gemeinſamen Stammeltern er— erbt, und laſſen daher einen Fortſchritt von niederen zu höheren Anpaſſungs— erkennen. Die Boragineen ſtehen in ihrer Ausbildungsrichtung in einem bemerkens— werten Gegenſatze zu den Karyophylleen. gepaßt fanden, ſind dagegen bei den Bora— gineen alle Formen mit tiefer geborge— nem Honig den Bienen angepaßt. Für das Verſtändnis der beiderlei Anpaſſun— beide Familien vergleichend zu überblicken. ihren niederen Anpaſſungsſtufen völlig offene, allgemein zugängliche Blüten von fachen kurzrüſſeligen Inſekten, vorwiegend werden. Allmählich tritt tiefere Bergung des Honigs und damit Beſchränkung des Beſucherkreiſes auf eine engere Zahl lang— und mehr an der Kreuzungsvermittlung beteiligen, kommen ſtatt der weißen immer ſchönere, rote Blumenfarben zur Ausprä— gung. Zahlreiche rote Tag- und weiße der Kreuzungsvermittlung der Falter an- gen kann es daher nur förderlich ſein, | meiſt weißer Blumenfarbe, die von mannig- rüſſeliger Fliegen, Bienen und Falter ein, und in dem Grade, als Tagfalter ſich mehr Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. 283 Nachtfalterblumen find jedoch die höchſten ſtufen nur innerhalb engerer Grenzen Blumenleiſtungen, zu welchen die Familie der Karyophylleen ſich aufgeſchwungen hat. Eine andere Anpaſſungsrichtung hat ſie, ſoweit ſich aus den betrachteten Formen er— kennen läßt, überhaupt nicht eingeſchlagen. Andere Blumenfarben als Weiß und Rot ſcheinen nur bei ſehr vereinzelten Arten vorzukommen (3. B. Gelblich-grün bei Si- lene chlorantha, Schwefelgelb bei Sapo- naria lutea, die ich beide nicht näher kenne); bienen- oder hummelblütige Kary— ophylleen ſind, bis jetzt wenigſtens, nicht bekannt. Während wir bei letzteren die höher ent- wickelten Blumenformen immer einfeitiger | Die Boragineen dagegen haben einen gewiſſen Grad von Bergung des Honigs im Grunde einer kurzen Blumenröhre offen— bar ſchon von ihren Stammeltern ererbt. Schon auf der unterſten Stufe (Asperugo, Echinospermum, Omphalodes, Myoso— tis) ſehen wir ſie von einem gewählteren Kreiſe von Fliegen (beſonders Syrphiden), Bienen und Faltern beſucht und gekreuzt und mit roten, violetten und blauen Far— ben geſchmückt, die wir wohl als das Züchtungsprodukt dieſer Gäſte betrachten Die Karyophylleen zeigen uns auf dürfen. Doch weiſt uns der bei vielen Arten im Laufe der individuellen Entwick— jedoch von Dipteren, beſucht und gekreuzt lung erkennbare Fortſchritt in der Aus— bildung der Blumenfarbe (Weiß, Roſenrot, Blau bei verſchiedenen Myosotis-Arten, Gelb, Bläulich, Violett bei M. versicolor, Rot, Violett, Blau bei Pulmonaria u. ſ. w.) mit Beſtimmtheit darauf hin, daß auch hier Weiß und Gelb die zuerſt entwickelten Blumenfarben geweſen ſind, und daß ſich, wenigſtens in vielen Fällen Violett und Blau erſt aus dem Rot entwickelt haben, eine Annahme, die uns zugleich die weißen und roſenroten Abänderungen violett- und blaublumiger Arten (Myosotis, Anchusa, 284 ge Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. Symphytum) als Rückfall in urelterliche Eigentümlichkeiten verſtändlich macht. Von den bezeichneten Anfängen aus iſt dann die Familie der Boragineen in verſchiedenen Richtungen zur Anpaſſung an Bienen und Hummeln fortgeſchritten. Pulmonaria hat durch einfache Verlänge- rung der Röhre die weit überwiegende Mehrzahl aller Nicht-Hummeln vom Ge— nuſſe des Honigs ausgeſchloſſen und durch ausgeprägte dimorphe Heteroſtylie Kreu— zung bei eintretendem Hummelbeſuche ge— ſichert. Anchusa hat eine noch wirkſamere Beſchränkung auf Bienen durch Verſchlie— ßung des Blüteneinganges erreicht und lokal ebenfalls Anfänge zur Ausbildung dimorpher Heteroſtylie gemacht (teste War— ming), die aber noch nirgends zur Durch— führung gelangt ſind. Echium hat, ohne andere Gäſte auszuſchließen, durch Anpaſ— ſung der Blumenform an die den Bienen bequemſte Bewegungsweiſe einen erſtaun— lich reichlichen und mannigfaltigen Bienen— beſuch und durch Proterandrie und her— vorragende Stellung der entwickelten Nar— ben Sicherung der Kreuzung erlangt. Bo— rago kehrt ſeine Blüten nach unten, legt ſeine Antheren zu einem den Blütenein— gang verſchließenden Kegel zuſammen und ſchließt dadurch alle diejenigen Beſucher vom Honiggenuſſe aus, welche nicht, wie die Bienen, von unten angeklammert, ihren Rüſſel zwiſchen eng zuſammenſchließenden Teilen hineinzudrängen vermögen. Sym— phytum und Cerinthe endlich erfordern zur Gewinnung ihres Honigs nicht blos dieſelben Anſtrengungen, ſondern über— dies, da ſie denſelben im Grunde einer langen, nach unten gekehrten Glocke ber— gen, einen langen Rüſſel des von unten angeklammerten Inſekts, und ſind daher nur Hummeln und eben ſo langrüſſeligen Bienen zugänglich. Wie in andern Familien, ſo ſehen wir auch bei den Boragineen von den Bienen die verſchiedenſten Blumenfarben gezüchtet. Von den Skrophulariazeen laſſen ſich meinem früher gegebenen Rückblicke“) auch die auf den Alpen von mir beobachteten Arten einordnen. Dieſe geben ihm aber nicht allein eine breitere thatſächliche Unterlage, ſondern vertiefen auch unſeren Einblick, na— mentlich in Bezug auf die mit Beſtreuungs— einrichtungen ausgerüſteten Arten. Denn an Euphrasia lutea, welche von den früher betrachteten Arten die niedrigſte Entwick— lungsſtufe der Beſtäubungsmechanismen darſtellt, ſchließt ſich nun Tozzia alpina als eine noch niedrigere Stufe an, und es iſt bemerkenswert, daß ſie ſich ſowohl durch ihre Farbe als durch ihren thatſäch⸗ lichen Inſektenbeſuch als Dipterenblume kennzeichnet. Während wir bisher von dem— jenigen Familienzweige der Skrophularia— zeen, der ſich durch loſen, ausſtreubaren Pollen auszeichnet, den Rhinanthazeen, nur 1) den Bienen und Fliegen, 2 ausſchließ— lich den Bienen, namentlich Hummeln, an⸗ gepaßte Blumenformen kannten, kennen wir nun von demſelben Familienzweig: 1) eine den Dipteren angepaßte Form (Tozzia); dann liegen uns 2) in den Eu- phrasia-Arten eine Anzahl von Blumenfor— men vor, die neben Fliegen teils ebenſo— viel, teils ſelbſt noch mehr Bienen als Kreuzungsvermittler an ſich locken, 3) kennen wir in den Arten der Gattungen Rhinan- thus, Melampyrum, Bartsia und Pedicu— laris eine noch weit größere Zahl noch hö— her ausgebildeter Beſtreuungsmechanis— men, die urſprünglich ganz ausſchließlich 9 Befruchtung der Blumen, S. 303305. n EEE 4 . Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. Bienen und zwar hauptſächlich den nah— unſerer wildlebenden Bienen, den Hum— meln, angepaßt waren und größtenteils auch geblieben ſind (Hummelblumen). Nur in der Gattung Rhinanthus hat ſich beim Vordringen in falterreiche Gegenden die Hummelblume erſt der gleichzeitigen, dann der ausſchließlichen Kreuzung durch Fal— ter angepaßt, fo daß wir 4) in Rhinanthus Alectorolophus eine Hummel- und Falter: Blume und 5) in Khinanthus eine Falter: blume beſitzen. Bei letzterer iſt der Be— ſtreuungsmechanismus wohl noch vorhan— den, aber die Thür, welche zu den ihn in Bewegung ſetzenden Hebeln führt, iſt ver— ſchloſſen; er kommt daher wenigſtens den normal ſaugenden eigentlichen Kreuzungss | vermittlern, den Faltern, gegenüber nicht P. palustris ſchärfer vom Fruchtknoten abſetzt und bei den Rhinanthus-Arten zu mehr als Beſtreuungsmechanismus in An— wendung. In Bezug auf die Vervollkommnungs⸗ ſtufen der Beſtreuungseinrichtungen inner— halb dieſes Familienzweiges verweiſe ich auf meinen frühern Rückblick. In dem— ſelben würde Bartsia neben Melampyrum zu ſtellen ſein, die Pedicularis-Arten mit annähernd wagrechter Korolla (verticilla- ta, palustris) und die mit noch ſymmetriſch geſtellter Unterlippe verſehene P. recutita vor P. silvatica, während endlich die nicht blos ihre Unterlippe, ſondern auch ihre ſchnabelförmig verlängerte Oberlippe un— ſymmetriſch nach einer Seite drehenden Ar— ten (rostrata, tuberosa, asplenifolia) in einſeitiger Anpaſſung an Hummeln noch über P. silvatica hinausgehen, obwohl ſie offenbar einem anderen Zweige der Gat— tung angehören. f Beſonders lehrreich iſt die Familie der Skrophulariazeen überhaupt, insbeſondere 285 aber auch der durch Beſtreuungseinrich— rungsbedürftigſten und blumeneifrigſten tungen ausgezeichnete Zweig derſelben, durch die allmählichen Abſtufungen, die er in der Ausbildung der Nektarien dar— bietet. Zunächſt ſcheidet ein Teil eines be— reits vorhandenen Organes, und zwar hier der unterſte Teil der Außenwand des Fruchtknotens, aus ſeinem Zellgewebe Saft ab, und zwar erſt ringsum (Tozzia), dann vorzugsweiſe oder ausſchließlich nach unten (Euphrasia). Mit der Steigerung dieſer ſeiner neuen phyſiologiſchen Funktion ver— dickt ſich das ausſcheidende Gewebe und hebt ſich allmählich ſtärker und ſtärker her— vor, bei Euphrasia minima als faſt un⸗ merklicher, bei E. salisburgensis und Pe— dicularis asplenifolia als deutlicher Höcker, bei P. verticillata und recutita als ſtark vorſpringende Anſchwellung, die ſich bei einem vorn an der Unterſeite des Frucht— knotens hervortretenden, ſich mit Nektar füllenden Napfe geſtaltet, der endlich bei Rh. alpinus in ſchönſter Ausbildung vor— liegt. So führt uns eine Reihe von Ab— ſtufungen von der Saftausſcheidung eines bereits vorhandenen, aber urſprünglich einer ganz anderen Funktion dienenden Organes zur Ausbildung eines beſonderen Nektariums. Die Labiaten ſind, ebenſo wie die Papilionazeen, in ihrer großen Mehrzahl ausgeprägte Bienen- und Hummelblumen. Nur haben auf der einen Seite Mentha, Thymus und einige andere Gattungen zwar Blumenkronenröhren mit völlig ge— borgenem Honig, ſind aber übrigens noch nicht einſeitig den Bienen oder überhaupt nur höhlengrabenden Hymenopteren ange— paßt und werden thatſächlich von einer ge— en 286 Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. miſchten Geſellſchaft nicht ganz kurz rüſſe— liger Inſekten beſucht und befruchtet. Sie ſtehen ohne Zweifel den Stammeltern der Familie noch am nächſten und ſtellen die— jenige niedere Anpaſſungsſtufe dar, von der uns die bienen- und hummelblütigen Labiaten zur Ausprägung gelangt ſind. Auf der anderen Seite haben wir, nach Errera“), in Monarda eine falterblumige Labiate; ſie iſt jedenfalls aus einer Bienen— oder Hummelblume erſt nachträglich zu einer Falterblume umgezüchtet worden. Über die geſchichtliche Entwickelung der Gattung Gentiana habe ich bereits vor Jahren aus den Blüten-Einrichtungen der alpinen Arten eine Überſicht abgeleitet und veröffentlicht“), die jetzt nur durch G. cili- ata eine Erweiterung erfährt. Dieſe ge— hört demjenigen Familienzweige an, der aus dem unterſten Teile der Korolla Ho— nig abſondert. Durch Franſen der Blu— menblätter haben ihre Blüten einen un— vollkommnen Schutz gegen nutzloſe Beſu— cher erlangt und durch Verengung der Blumenglocke Berührung ſowohl der Nar— ben als der Antheren durch die beſuchenden Hummeln geſichert. So ſtellt ſie eine eigen— tümliche hummelblütige Untergattung (Crossopetalum) dar, aus der ſich erſt durch Vervollkommnung des Franſengitters und noch engeres Anſchließen der Korolla an das Ovarium die hummel- und falterblü— tige Untergattung Endotricha entwickelt haben dürfte. Die Primulazeen bieten in ihren Blü— tenformen mannigfache Abſtufungen dar *) LEO Errera & Gustave Gevaert, Sur la structure et les modes de fécon— dation des fleurs. Bruxelles, 1879, p. 95-98. ) Vgl. Kosmos, Bd. I, S. 162. Dort von offenen, honigloſen oder mit allgemein zugänglichem Honig verſehenen Blumen bis zu ſolchen, die durch die Art ihrer Honig— bergung und ihren ganzen Blütenbau einem beſtimmten engeren oder weiteren Kreiſe langrüſſeliger und blumeneifriger Inſek— ten (Bienen, Falter) angepaßt ſind. Die Regelmäßigkeit der Blumenformen iſt bei keiner dieſer Anpaſſungen in bedeutendem Grade verloren gegangen. Die von mir unterſuchten alpinen Primulazeen gehören nur drei Gattungen an, die ſich ſämmtlich durch Abſonderung von Nektar aus der Fruchtknotenwand und durch mehr oder weniger tiefe Bergung desſelben ſchon viel weiter als z. B. Trientalis und Lysimachia von der Stammform entfernt haben. Die Androsace-Arten bergen ihren Nektar im Grunde einer zwar kurzen Röhre, deren Eingang aber in ähnlicher Weiſe wie bei Myosotis jo bedeutend verengt iſt, daß nur ein gewählter Kreis zwar zum Teil ziemlich kurzrüſſeliger, aber durchaus blu— meneifriger und blumenſteter Gäſte (Fal- ter, Bienen, blumenſteter Fliegen) Zutritt zu demſelben behält. Die Soldanella-Arten haben ſich durch Umbildung der Korolle zu einem mehr oder weniger geneigten oder herabhangenden Glöckchen, durch enges Zuſammenſchließen der Antheren um den Griffel herum und verſchiedengradige Aus— bildung eines den Honigzugang verengen— den Schirmes mehr oder weniger eng den Bienen und Hummeln, die Primula-Arten im Tieflande (P. elatior, officinalis) den Hummeln, auf den Alpen den Tagfaltern (farinosa, integrifolia, villosa, viscosa, minima) und Tagſchwärmern (longiflora) angepaßt. Auch unſere Kenntnis der Erikazeen ift ſtatt Cyclanthera Cyelostigma zu ſetzen! wird durch die Hinzunahme der alpinen 1 Hermann Müller, Die Bedeutung der Alpenblumen für die Blumentheorie. Arten nach mehreren Richtungen hin we— ſentlich erweitert. Während uns nämlich die bisher betrachteten Erica Calluna- und Vaceinium-Arten unſeres Tieflandes nur mehr oder weniger durchgeführte Anpaſ— ſungen einer glockigen Korolle an Bienen zeigen, mit völliger Beibehaltung der Re— gelmäßigkeit (nur bei Calluna biegen ſich Stempel und Staubgefäße in die obere Hälfte der Blüte), lernen wir in Arcto— staphylos*) eine noch hochgradigere An— paſſung gleicher Art, in den beiden Rhodo— dendron-Arten dagegen Hummelblumen mit wagrecht geſtellter, ſymmetriſch geſtalteter Blumenröhre, in Erica carnea**)eine aus einer Bienenblume gezüchtete Tagfalter— blume, in Azalea procumbens endlich eine der Stammform der Familie noch weit näherſtehende einfachere, urſprünglichere Blumenform kennen. Mein früherer Überblick über die Ka— prifoliazeenk“ ) umfaßt bereits mannig— fache Abſtufungen von regelmäßigen, offe— nen, honigloſen (Sambucus) oder mit völlig offenem Honig ausgerüſtetenBlumen (Ado— ) Kosmos, Bd. III, S. 490. ) Kosmos, Bd. VI, S. 449. er) Befruchtung der Blumen, S. 367. 287 xa, Viburnum) bis zu ſolchen, die im Grunde langer Röhren ausſchließlich den langrüſ— ſeligen Schwärmern zugänglichen Honig bergen (Lonicera Caprifolium und Peri— clymenum). Durch die Hinzunahme der alpinen Arten ſchalten ſich dieſen Abſtu— fungen noch vier ſehr intereſſante Anpaſ— ſungen an beſtimmte Beſucherkreiſe ein: 1) eine bereits mit trichterförmiger Korolle ausgerüſtete, aber hauptſächlich Fliegen anlockende Blumenform (Linnaea), 2) eine Loniceraform, deren Honig zwar ziemlich flach geborgen, aber doch durch eine Saft— decke ſo gut verwahrt liegt, daß nur oder vorzugsweiſe Bienen ihn ausbeuten und die Blumen kreuzen (L. nigra), 3) eine andere Art dieſer Gattung, die nach ihren Anpaſſungen und dem thatſächlich ihr zu teil werdenden Inſektenbeſuch den Namen einer Wespenblume verdient (L. alpigena); endlich 4) eine ausgeprägte Hummelblume (L. coerulea). Die Familien der Ranunkulazeen, Gruciferen, Umbelliferen, Compoſiten u. a. ſind hier unerwähnt geblieben, weil meine früher gegebenen Rückblicke auf dieſelben durch die Hinzunahme der Alpenblumen keine weſentliche Umgeſtaltung erfahren. Sen Beobachtungen an einem Affen. Von N 3 handelt ſich — zur Beru- higung des Leſers ſei es voraus bemerkt — in die— ſem Artikel nicht darum, unter dem Deckmantel der gewählten Überſchrift Pro— ſelyten für den Darwinismus zu werben, noch gedenkt der Verfaſſer ſich in lang— atmigen Beſchreibungen über die Höhe der Kulturſtufe, auf die er, ohne Mühe und. Arbeit zu ſcheuen, einen der geiſtig ent— wickelteren Affen, alſo mindeſtens einen Schimpanſe oder Gorilla, durch ſeine neueſte Abrichtungsmethode gebracht, zu ergehen. Es ſoll vielmehr nur ein ge— wöhnliches, auf ganz niederer Stufe ſte— hendes kleines Javaäffchen, auf welches nie die geringſte Mühe zur Abrichtung verwandt iſt, in ſeinem Thun und Trei— ben, in ſeinem Verkehr mit den Menſchen und in ſeinem ungekünſtelten und natür— lichen Gebaren geſchildert werden, und ich glaube, daß ſolche Beobachtungen für ei— nen ernſten Forſcher wohl ebenſoviel In— tereſſe haben dürften, als Beobachtungen über die Abrichtungsfähigkeit. H. Schneider. Die große Vorliebe, welche ich ſtets für Affen gehabt habe, rief immer leb— hafter den Wunſch in mir wach, ſolch ein Tier zu beſitzen, und ſo faßte ich mir denn vor etwa viertehalb Jahren ein Herz und bat den Direktor unſeres zoologiſchen Gar— tens, Herrn Dr. Bodinus, mir ein Ex— emplar von einem der hier in größter Zahl vorhandenen Affen zu überlaſſen. Ich fand bei Herrn Dr. Bodinus — dem ich, be— kannt mit feiner Sorge für das Schickſal fortgegebener Tiere, die beſte Behandlung zugeſichert hatte — freundliches Gehör und durfte mir bald darauf gegen mäßigen Preis ein Javaäffchen in einem zugebun— denen Korbe holen. Ich ſchildere den Trans— port nicht näher und erwähne nur, daß ſich das Tier in dem verbundenen Korbe ſehr ungeberdig benahm und daß ich froh war, meine Wohnung erreicht zu haben. Aber feine Aufnahme im Hauſe mußich ein— gehender ſchildern und zunächſt bemerken, daß meine Frau alle meine voraufge— gangenen Erzählungen von einem Affen lediglich für Scherz gehalten hatte; ja als ich tags zuvor ein altes Eich— H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen. 289 hörnchenbauer zum Empfange des Affen wohnlich hergerichtet hatte, lächelte ſie leicht ihr Erſtaunen ausmalen, als ich mit einem wirklichen, leibhaftigen Affen nach Hauſe kam: ich, mit dem im Korbe ſchreienden und tobenden Affen, meine Frau mit dem Dienſtmädchen, ſprachlos, und meine kleine Tochter mit verzweiflungs— vollem Geſicht, das Kleid der Mutter feſt— haltend — ein Vorwurf für einen Maler! Ich mußte recht viele gute Worte ge— ben, um die Überführung des Tieres in das Bauer zu erwirken — dann erſt kam ich einigermaßen zu Atem und redete nun meiner Frau in allen Ton— arten freundlich zu, ſich des Tieres an— zunehmen, allein vergebens — meinem Zureden wurde hartnäckiges Stillſchwei— gen entgegengeſetzt. Der Krieg war alſo erklärt, während ich mich alsbald auf mein Bureau begeben mußte! Jetzt trat aber auch gleichzeitig die Ernüchterung bei mir ein und ich fing an zu überlegen: „Häuslicher Unfrieden eines Affen wegen? Unmöglich! Der ſcheußliche Geruch des Tieres im Zimmer! Das Tier wird dir für Hunderte von Mark Haushaltungs— gegenſtände verderben und vernichten! Es wird jeden, der ſich ihm nähert, beißen und kratzen! Außerdem iſt ja das Bauer viel zu klein und zu leicht gebaut; am Ende gar — wahrhaftig — wenn es den dünnen Draht auseinander biegt, kann es ſich mit Leichtigkeit befreien — niemand iſt im ſtande, es zu fangen und zu bändigen!“ Alle dieſe Gedanken ſchoſſen mir auf meinem Wege zum Bureau durch den Kopf. „Wenn du nur erſt einmal wieder zu Hauſe * wärſt und mit deiner Frau ein vernünfti— ges Wort ſprechen könnteſt; ſie wird ſich noch halb ungläubig, halb ſpöttiſch, un- gewiß, worauf das ganze wohl hinaus- laufen würde. Es kann ſich demnach jeder ja bis heut Abend beruhigt und einiger— maßen in die Situation gefunden haben! Vielleicht — es wäre ja immerhin mög— lich —iſt das Tier recht artig und fie findet Gefallen an ihm — doch daran iſt ja nicht zu denken.“ Endlich kam auch der Abend heran; ich trete zu Hauſe ein; mein erſter Blick trifft meine Frau, die ſich zwar abgewandt hat — ich merke indeſſen, daß ſie lächelt. Gott ſei Dank! ein Unglück hatte alſo der Affe jedenfalls noch nicht angerichtet! Ich wünſche freundlich „guten Abend“ und trete an das Bauer heran. Was iſt das? Die Thür ſteht offen, das Bauer leer! Meine Frau nimmt jetzt langſam ein klei— nes Tuch von ihrem Schoß und darunter liegt, zuſammengekauert, mein Affe und ſchläft! Darauf war ich nicht vorbereitet, eher hätte ich ja den Einſturz des Him— mels für möglich gehalten, als dies! Der Affe, durch die Berührung mun— ter geworden, beginnt nun alle jene Ge— berden auszuführen, wie man ſolche täg— lich an einem erwachenden Kinde beobach— ten kann; er reckt und ſtreckt ſich in allen Dimenſionen, er gähnt — mit zugekniffe— nen Augen — laut hörbar, reibt ſich die Augen mit der Fauſt und kratzt ſich am ganzen Körper; dann aber, wie durch Fe— derkraft, ſchnellt er in die Höhe, um ſich ein wenig auszutoben, aber ein kräftiger Griff und — hinein in das Bauer! Wie aber hatte ſich das Blatt gewendet! Meine Frau bat inſtändigſt, das „niedliche, artige, poſſirliche Tierchen“ doch nicht in den engen Raum zu ſperren und noch ein wenig herumſpielen zu laſſen! Alle meine Einwendungen, daß Affen oft falſch und 1 ih Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 37 hinterliſtig wären, halfen nichts — er ſollte durchaus noch ſpielen; warum auch nicht? er hatte ja ſchon den ganzen Nach— mittag — während meiner Abweſenheit — im Zimmer geſpielt! Ich mußte alſo ſchon nachgeben und ihn noch weiter ſpielen laſſen. Die Hauptſchwierigkeit war alſo glück— lich beſeitigt, nur eins ging mir noch im Kopfe herum: das Bauer war entſchie— den viel zu klein und zu leicht, und an die Ausgabe für ein großes Bauer hatte vor— her meine Seele nicht gedacht, zumal der Wirtſchaftsetat durch Bezahlung des Affen ohnehin etwas ſtark belaſtet war. Doch auch dieſe letzte Sorge ſollte ſehr bald ſchwinden. Als ich tags darauf um Mit— tag nach Hauſe kam, präſentirte ſich mir mein Affe in einem großen ſchönen Bauer. Meine Frau hatte ſchon aus Liebe zu dem „allerliebſten“ Tierchen ihre Spargroſchen angewandt und mich damit überraſcht. Eine ſolche Umwandlung kann ſich nur vollziehen, wenn durch ein lebendiges Bei- ſpiel alle über das Halten von Affen im Munde des Volkes befindlichen Erzählun— gen und ſonſtige Hiſtörchen Lügen ge— ſtraft und ſolche einfach zu den Ammen- märchen oder in das Bereich der Fabeln verwieſen werden; um dies aber recht klar und deutlich von vornherein zu zeigen, habe ich es nicht für überflüſſig gehalten, H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen. gegenüber im Vorteil ſind, und ich habe ſo recht Gelegenheit, dies beim Spielen meines Affen mit meinem kleinen, eben- des Tieres Eintritt in meine Behauſung was ſie nicht haben ſoll oder nicht freſſen ſtänden hier wiederzugeben, und will mit allen Einzelnheiten und Nebenum— in nachſtehendem nun das tägliche Leben des Tieres im Bauer und außerhalb deſſelben, wie auch ſelbſtverſtändlich ſeine Unarten, ſchildern. Es iſt ja bekannt, wie ſehr die Affen durch den Gebrauch ihrer Hände, noch dazu ihrer vier Hände, allen anderen Tieren falls ſehr flinken Bologneſer Seidenſpitz zu beobachten. Meine kleine Affin, die ich von jetzt ab kurzweg bei ihrem Namen „Tſchega“ nennen werde, ſpielte eines Tages im Zimmer; plötzlich ſetzt ſie mit ihrer ſprüchwörtlich gewordenen Geſchwin— digkeit über den Tiſch fort und führt eine vor mir ſtehende, noch halb mit Kaffee ge— füllte Taſſe mit ſich fort, ohne daß ich im ſtande geweſen wäre, dies zu verhindern; ich will ihr nacheilen, die Taſſe fortzuneh— men, ſie flüchtet indeſſen, aufrecht gehend, nach dem grünen Rippsſopha, das ich im Geiſte ſchon geliefert ſah; ich hielt es daher für ratſam, ſie nicht zu jagen, ſondern ihr vielmehr gütlich zuzureden, was denn auch zur Folge hatte, daß ſie auf der Sophalehne, aufrecht ſtehend, mit aller Gemütsruhe den Kaffee austrank, alsdann vom Sopha herab zur Erde klet— terte und die Taſſe hinſtellte; es iſt dabei nicht ein Tropfen verſchüttet worden. Das Benehmen Tſchegas iſt faſt durch— weg das eines verzogenen, ungezogenen Kindes. So lange man freundlich mit ihr ſpricht, iſt ſie ungeheuer artig und ſpielt in ihrer originellen, oft tölpelhaften Weiſe um uns herum; verſagt man ihr aber den geringſten Wunſch oder nimmt ihr etwas, darf, fort, ſo erhebt ſie ein fürchterliches, kreiſchendes Geſchrei, ſträubt ſich mit Hän— den und Füßen und geht auch auf den Betreffenden — vorausgeſetzt, daß ich mich nicht in allzugroßer Nähe befinde — aufrecht mit feſt angelegten Ohren zu. Infolge meines ihr wohlbekannten abſolu- ten Mangels an Neigung, mich einſchüchtern zu laſſen, wird fie natürlich letzteres mir gegenüber nicht wagen, wenigſtens für gewöhnlich nicht, allein in einem Falle, den ich weiterhin erwähnen werde, ver— ſuchte ſie auch das. „Gehorchen“ iſt ihre ſchwache Seite; ſie klettert beim Spielen an mir auf und ab und würde ſomit jeden Augenblick zu greifen ſein, ja, ſie ſetzt ſich, wenn ich Karten ſpiele, auf meinen Arm und blättert fortwährend in den Karten her- um, oder ſie viſitirt meine ſämmtlichen | Taſchen, wobei ihr die Uhr den Haupt: ſcherz bereitet, aber ſobald ſie merkt, daß ſie gegriffen werden ſoll, hilft alles | Zureden nichts, und wenn fie auch das „Beſteigen der Gardinen“ ſeit einer beim erſten Verſuch empfangenen Tracht Prügel unterläßt, ſo wird ſie doch immer die äußerſten Winkel unter Sophas oder Bet- ten aufſuchen. Iſt man ihr endlich dort ganz nahe auf den Leib gerückt, ſo daß ſie das Unglück, ergriffen zu werden, vor ſich ſieht, ſo macht ſie ein ganz verzweif— lungsvolles Geſicht, die Zähne feſt auf— einander gepreßt und weit geöffnete Lippen, wobei ſie einen eigentümlich ſchmatzenden Ton ſchnell hinter einander ausſtößt, ſo lange ſie eben noch fürchtet, Schläge zu bekommen. Sobald ihr aber die Gefahr vorüber zu ſein ſcheint und man das erſte freundliche Wort zu ihr ſpricht, weiß ſie ſich vor Liebenswürdigkeit gar nicht zu laſſen; fie hält meinen Hals feſt umklammert, ſchließt die Ohren eng an den Kopf an, wobei ſich jene Hautfalten | auf der Stirn bilden, die dem Tiere ein ſo unendlich gutmütiges Ausſehen geben, und macht nun mit den Lippen unzählige male eine ganz reizende Bewegung des Küſſens, die ſie ſo lange fortſetzt, als man H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen. 291 mit ihr ſpricht. Auch wenn ſie im tiefſten Schlafe liegt und ich zu einem Dritten von ihr ſpreche — ſofort blickt ſie auf und macht jene Bewegung, verbunden zwiſchen— durch mit einem klagenden, etwas wim— mernden, nach äh-ho-hä klingenden Ton. Soll Tſchega von mir Prügel bekom— men, ſo ergiebt ſie ſich, einmal ergriffen, vollſtändig in ihr Schickſal; ſie würde ſich dies aber in keinem Falle von einem an— dern, auch nicht von meiner Frau, gefallen laſſen, und hierin unterſcheidet ſie ſich ſehr weſentlich von einem Hunde, der ſich ja von jedem Familienmitgliede ſchlagen läßt und hinterher noch wedelnd um Ver— zeihung bittet. Hier möchte ich des Falles er— wähnen, in dem auch ich nicht ganz vor ihr ſicher bin: Schlage ich das Tier, was, beiläufig bemerkt, niemals von Bedeutung und wohl zu ertragen iſt, ſo hält es, wie geſagt, ruhig ſtill mit ſeinem verzweif— lungsvollen Geſicht; iſt nun aber meine Frau im Zimmer, ſo ſpringt dieſe gewöhn— lich ſchnell zu, um es zu ſchützen — und ſo wie Tſchega Hilfe wittert und weiß, daß ſie von meiner Frau wirklich geſchützt oder erfaßt iſt, bedarf es einer ſehr ſchnel— len und geſchickten Bewegung von mir, um nicht in aller Eile einen kleinen Biß wegzubekommen, wobei ſie einige male ſchnell hintereinander einen gewiſſermaßen triumphirenden, gluckſenden und ruckenden Ton ausſtößt. Es iſt dies Benehmen — ich wieder— hole — total anders als das eines Hundes im ähnlichen Falle, allein es iſt, um es ge— radeheraus zu ſagen, menſchlicher! Hat Tſchega irgend eine Tollheit be— gangen, ſo wird ſie ſich ſofort, ſelbſt wenn es niemand geſehen hat, durch ihr böſes Gewiſſen verraten. Trete ich in das Zim— 292 mer, und fie drückt fich mit jenem verzweif— lungsvollen Geſicht und Zähnefletſchen in die äußerſte Ecke des Bauers, ſo weiß ich poſitiv, daß ſie, wie man treffend zu ſagen pflegt, „etwas ausgefreſſen hat!“ und richtig; da hat fie denn irgend eine ſtarke Stange Draht vom Bauer losgebogen oder dem Kinde eine Puppe fortgenommen oder H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen. ſonſt eine Ungezogenheit begangen. Alſo auch in dieſem Falle iſt ihr Beneh— men genau das eines Kindes, deſſen wiſſen verrät. Ich könnte nicht behaupten, daß Tſche— ga beim Freſſen gierig wäre, wenigſtens iſt dies nur der Fall, wenn es gilt, etwas zu erlangen, was man ihr gutwillig nicht geben würde! So greift ſie wohl in aller Eile mit beiden Händen in einen But— tertopf oder in eine Kaffeebüchſe und ſtopft ſich dann die beiden fehr tiefen Backen— taſchen ſo voll, daß ſie hernach wohl eine halbe Stunde daran zehren kann, ſonſt aber, bei ihrer gewöhnlichen Mahlzeit, iſt ſie oft furchtbar langweilig. Wird ihr eine kleine Taſſe Milch ſo in das Bauer gehalten, daß das Licht den Schatten eines Stäbchens über die Milch wirft, ſo ſieht ſie minuten— lang den Schatten an, greift mit den Häns | den danach und ſieht dann höchſt vertvun- dert, daß ſie nichts in der Hand hat. Schließlich wird noch die Taſſe von allen Seiten, von oben und von unten revidirt, und dann endlich bequemt ſie ſich zu trinken. Ahnlich geht es beim Eſſen zu, ſie ißt auch nicht die dünnſte Schale oder Haut; grüne Bohnen werden erſt ganz ſorgfältig an den verbotene Früchte am beſten ſchmecken, und daß Tſchega — wie ich vorher erwähnte — nur dann flink iſt, wenn es etwas zu er— haſchen giebt, was ſie nicht haben ſoll, meinen Plan, wenn es gilt, ihr Medika— mente einzugeben: Rhabarber ſchmeckt ihr nicht; hat ſie ſich nun den Magen verdor— ben, ſo ſpiele ich mit einem Stückchen Rha— barber; Tſchega ſieht lange neugierig zu, allein ich wehre ſehr energiſch ab, damit ſie das Stück nur ja nicht bekomme; plötz— ſcheues Benehmen ſofort das böſe Ge greifen und damit verſchwinden iſt das lich fällt es mir aus der Hand — danach Werk eines Momentes von Seiten Tſche— gas! Ich eile nun hinterher, ihr das Stück zu entreißen — vergeblich — es iſt bereits in größter Schnelligkeit verzehrt. In glei— cher Weiſe laſſe ich ſie Natron einnehmen, nur mit dem Unterſchiede, daß ſie bei die— ſer Gelegenheit auch gleichzeitig eine kleine Düte unumgänglicherweiſe mit verzehren muß. Eine merkwürdige Erſcheinung iſt die, daß Tſchega mein kleines Töchterchen un— geheuer haßt. In meiner Gegenwart ſpielt ſie zwar ruhig um ſie herum, allein ich würde nicht wagen, auch nur einen Blick von dem Kinde abzuwenden, ich glaube, ſie würde das Kind in gefährlicher Weiſe beißen. Kommt das Kind nur in die Nähe des Bauers, ſo ſtreckt die Affin beide Arme ſo lang wie möglich zum Bauer heraus, um es heranzuziehen, und wenn ſie ſeine Hand erlangen könnte, ich bin überzeugt, dieſelbe würde rein zerfleiſcht werden, ſo groß iſt der Haß des Tieres gegen das Kind. Wie ich übrigens höre, ſollen Affen ſtets zu: Seiten abgefaſert und ſelbſt die dünne Haut | Gefühl der Eiferſucht, teils aus dem Be— von einer Nuß wird vorher entfernt. Ich baue nun darauf, daß — wie es Kindern böſe ſein, was teils aus einem wußtſein der Überlegenheit hervorzugehen auch bei dem Menſchen der Fall iſt — | ſcheint; das wäre wenigſtens für mich die einzige und gleichzeitig natürlichſte Erklärung. | Sehr intereſſant iſt es, das Spie— len des Affen mit meinem kleinen vorer— wähnten Seidenſpitz männlichen Geſchlechts zu beobachten. Während der Hund hier rein durch geſchlechtliche Empfindung geleitet wird, liegt ſolche dem weiblichen Affen voll— ſtändig fern, und der letztere übt nun an demHunde, der ſchließlich ganz ermattet, lech— zend und mit heraushängender Zunge hinter ihm hertrollt, die allertollſten Streiche aus. Zunächſt geht er ſcheinbar auf die Lieb— koſungen ein, plötzlich ſchnellt er hoch empor | und packt den Hund ins Genick, ſchüttelt ihn, wirft ihn hin und iſt auch ſchon wieder da— | vongelaufen — alles das Werk eines Mo— mentes; oder aber, er ſitzt ihm plötzlich auf dem Rücken oder zieht ihn an einer Hin— terpfote rückwärts das ganze Zimmer durch hinter ſich her — ein beſonders poſſirlicher gehabt, zu beobachten, wie ſich das weib— Anblick — u. ſ. w. Geradezu überraſchend war mir fol⸗ gendes: Nach langer Jagd ſpringt der Affe auf das Sofa — der Hund, entſpre⸗ chend langſamer, folgt; der Affe ſpringt vom Sofa auf den Tiſch — der Hund nach; jetzt ſpringt der Affe auf der dem Sofa gegenüberliegenden Seite vom Tiſch hinunter — dem Hunde iſt das aber zu hoch und er bleibt, dem Affen nachſehend, ſtehen. Dieſen Moment benutzt der Affe, faßt die Tiſchdecke mit beiden Händen an: ein kräf— tiger Ruck — und die Tiſchdecke ſammt dem Hund liegen an der Erde! Unterdeß ſich der Hund langſam und höchſt verwundert aus der Tiſchdecke entwickelt, iſt mein Affe längſt wieder auf dem Fenſterbrett und klatſcht mit dem ſichtlichſten Zeichen des Vergnügens über den gelungenen Streich wiederholt in die Hände. H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen. 293 Es zeigt dies von einem abſoluten Nachdenken und Überlegen, wie es von einem ſo kleinen und verhältnismäßig tief ſtehenden Tierchen, das ebenſo wenig wie ſeine Vorfahren jemals unter Menſchen gelebt hat, geradezu bewundernswürdig iſt. Des Abends vor dem Zubettegehen wird Tſchega nach allen Regeln der Kunſt „abgehalten“ und zwar — zum Fenſter hin— aus. Tſchega hat nämlich wie alle Kinder eine ungeheure Angſt um ihr Leben und in der höchſten Angſt wird ſie ſich — wieder— um wie alle Kinder — beſchmutzen. Ich öffne nun einfach das Fenſter und laſſe ſie hinausſehen, thue wohl auch, als ob ich ſie hinausſtoßen will. Sowie ſie den Abgrund vor ſich gewahr wird, erſchrickt ſie heftig und — befriedigt ſofort ihre Bedürfniſſe. Als— dann geht es zu Bett! Tſchega ſchläft ſeit nunmehr drei Jahren ſtets in meinem Arm. Ich habe hier wiederum recht Gelegenheit liche Tier zum männlichen Menſchen, und das männliche Tier zum weiblichen Men— ſchen hingezogen fühlt. Der Hund ſchläft einzig und allein im Arme meiner Frau, während Tſchega wie geſagt nur bei mir ſchläft. Wird ſie von meiner Frau gerufen, geht ſie wohl auch zu ihr und ſchläft ein, doch nach einer Stunde iſt ſie bereits wie— der bei mir. Ich habe den rechten Arm um ihren Hals gelegt, und ſie hält mit ihrem linken Arm meinen Hals umfaßt, während ihre rechte Hand in meiner linken ruht; ſo ſchläft ſie feſt die ganze Nacht hin— durch. Sehr ſelten wird ſie einmal mun— ter, vollführt aber dann auch ſofort wieder dumme Streiche, kitzelt mich, zieht mich leiſe an den Haaren oder vollführt ihre Lieblingsbeſchäftigung, indem ſie thut, als wenn ſie Ungeziefer ſuche. Wache ich auf, 294 fo bekommt fie einen leiſen Schlag, wird darob ſehr empfindlich, legt ſich hin und ſchläft weiter. Damit Tſchega nicht etwa des Nachts einmal dem Bette meiner kleinen Tochter einen unliebſamen Beſuch abſtatte, trägt ſie ein Halsband, von dem aus wiederum eine Schlinge um meinen Hals führt. Dieſe Vorſicht erwies ſich in der erſten Zeit als ſehr weiſe. Wollte Tſchega davon— laufen, ſo kam ſie nur wenige Schritte weit, da ich durch den Ruck an meinem Halſe notwendigerweiſe aufwachen mußte. Allein ſie hat ſich auch hierin zu helfen ge— wußt, und es zeigt dies wieder von einem eminenten geiſtigen Überlegen: Wacht das Tier jetzt einmal auf, ohne daß ich es be— merke oder doch ohne daß ich es zu be— merken ſcheine, ſo verhält es ſich vorläu— fig ganz ruhig und rührt ſich nicht, als— dann löſt es ganz leiſe mit den zierlichen Fingerchen das Ende des Halsbandes aus der Oſe, entfernt den Dorn, legt das Halsband mit größter Vorſicht bei Seite, ſchnellt dann wie von Federkraft getrieben in die Höhe und läuft davon, oder beſſer geſagt, will davonlaufen, denn mein Schlaf iſt ein ſo wenig feſter, daß ich bei der lei— ſeſten Bewegung des Tieres erwache und dann als Erſatz wenigſtens meine Freude daran habe, mit welcher Ruhe, Sicher— heit und Geſchicklichkeit ſich das Tier zu befreien ſucht. Zum Schluſſe möchte ich noch Folgen— des erwähnen. Das Einſchlafen des Tieres führt ſehr häufig eine Erſcheinung mit ſich, die wohl auch jedem Menſchen bekannt iſt. Der Menſch träumt im Halbſchlummer oft, er fiele von einem hohen Gerüſte H. Schneider, Beobachtungen an einem Affen. oder Hauſe herunter, und zuckt dann kon— vulſiviſch zuſammen, wovon er gewöhnlich ſofort wieder erwacht. Bei Tſchega muß es ſich ohne Zweifel ähnlich verhalten: ſie zuckt im erſten Schlafe genau ebenſo zu— ſammen, erwacht ſofort und ſchmiegt ſich dann um ſo feſter an mich an, indem ſie noch lange die anfangs geſchilderte Bewe— gung des Küſſens macht, verbunden mit dem wehmüthigen, klagenden Ton. Wenn ich auf dieſe Weiſe das Leben mei- nes durchaus niemals künſtlich gezähmten Affen in ausführlicherer Weiſe geſchildert habe, ſo verlange ich natürlich nicht, daß ſich etwa „Nichtintereſſirende“ beſonders dafür erwärmen ſollen, aber ich glaube doch, für Fachkreiſe gerade durch dieſe ausführliche Schilderung manches Intereſſante, viel- leicht auch Neue und Anregende gebracht zu haben. Es war ja außerdem hier nicht meine Abſicht, eine „literariſche Leiſtung“ zu voll— führen, denn ich gehöre auf dieſem Gebiete durchaus zu den Laien; was ich aber ge— ſchrieben habe, ſo ſchlicht und anſpruchslos es iſt, ebenſo wahr iſt es. Ich habe nicht übertrieben, nichts fortgelaſſen, nichts hin= zugefügt! Die eine Überzeugung habe ich jedenfalls gewonnen, und zwar nicht aus Büchern oder durch Erzählungen, ſondern durch den Augenſchein: daß der Affe ein Tier iſt, das in wirklich vollkommner Weiſe nachzudenken und zu überlegen im Stande iſt. Bedenkt man nun, daß die Kluft zwiſchen einem auf ſo niedriger Stufe ſtehenden Java-Affchen und einem Schimpanſe oder Gorilla noch immer eine ſehr große iſt, fo kann die logiſche Fol: gerung wohl keinen Augenblick zweifel— haft ſein. Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Pſychologie. Von Zr n der Pſychologie find neuer— hervorgetreten, die man als N Fundamentalfragen bezeich- 8 nen darf und über welche die Wiſſenſchaft nicht aufgehört hat und nicht aufhören wird, zu denken und zu forſchen. Die eine dieſer Grundfragen wurde von neuem in hohem Maße angeregt durch Prof. Guſtav Jäger; es iſt die Frage nach dem Weſen und nach der Natur der Seele; ſie iſt verknüpft mit der weiteren Frage, ob die Seele als ſolche neben dem ſog. Geiſte (den Jäger davon unterſcheide) eine eigene geſon— derte Exiſtenz friſtet und ihr dem— gemäß ein beſonderes Subſtrat zuzuſprechen ſei. Die zweite, wiederum neu belebte Grundfrage iſt die nach dem ſog. Seelenvermögen, das iſt die Frage, wie man ſich genauer die Natur und Geartung der Seele zu denken habe. Durch den Streit, in welchen vor kurzem zwei hervorragende Forſcher (Profeſſor Wundt und Horwicz) hierüber geraten Dis dings zwei Fragen wieder Vrof. Dr. ©. Caspari. ſind, iſt auch dieſe Fundamentalfrage wie— der zu einer brennenden geworden, und wir werden daher in einem ſpäteren Artikel | Gelegenheit nehmen, auch hierüber zu ſpre— chen. Zunächſt aber ſoll uns hier die erſte Frage über die Exiſtenz der Seele über— haupt beſchäftigen. Wir werden der Be— antwortung dieſes Problems näher kom— men, wenn wir uns mit dem Begriff der Seele und mit der Entſtehung deſſelben zugleich bekannt machen. Über die Ent— ſtehung und urſprüngliche Entwicklung der Vorſtellung von der Seele hat ſich Schreiber dieſer Zeilen in feiner Urgeſchichte ?) ge— nauer geäußert; außerdem hat noch jüngſt Prof. Fritz Schultze dieſe Frage ein— gehender in dieſer Zeitſchrift“ ) behandelt, ſo daß wir uns auf wenige Erörterungen hierüber beſchränken können. Die Unterſuchungen über die Urge— ſchichte der Vorſtellung „Seele“ führen uns in eine Zeit, wo wilde Naturvölker eben— *) Vgl. Caspari, Urgeſchichte der Menjd- heit, 2. Auflage, Bd. II, S. 114 ff. *) Vgl. dieſe Zeitſchrift, Jahrg. III, S. 247. 3 296 O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Pfychologie. ſowenig wie die Kinder eine Reihe von beſtimmten Begriffen und Anſchauungen zu bilden und zu würdigen imſtande ſind. Schreiber dieſes hat nachgewieſen, daß hierzu vor allem die Vorſtellungen über Tod und Seele gehören. Wie ſind nun dieſe ſo eingreifenden Grundvorſtellungen aufgetaucht und in welcher Form? Ich vermag bezüglich der hier zu gebenden Völkerpſychologen, daß ſie der prähiſtori— ſchen Anthropologie und Archäologie nicht die genügende Aufmerkſamkeit ſchenken. Weshalb ſoll der Forſcher ſich nicht berech— tigterweiſe die Frage vorlegen dürfen, ob die Seelenvorſtellung ſchon in einer Zeit unter den Völkern entſtehen konnte, wo man die Metalle, Feuer und Steinſchliff nicht kannte, folglich die für den Seelenbe— Antwort nicht in allen Stücken die An | griff und feine Apperzeptionen jo wichtig ſichten zu teilen, welche uns Fritz Schultze in ſeinen trefflichen Aufſätzen über die Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung Seele gegeben hat. Durchgehen wir das uns ſchichtliche Material, ſo ſtoßen wir auf erſcheinenden Hilfsvorſtellungen, wie feu— rige Wärme, Rauch, Schatten, verzehrendes und ſich durch Dampf unſichtbar verflüchti— gendesElement, Abſcheid ungldesRauchs vorliegende ethnologiſche, reſp. völkerge⸗ ſehr verſchiedene Anſchauungen. Will man dieſelben klaſſifiziren, ſo darf man zu die— ſem Zweck von keinen bloßen Voraus— ſetzungen über das ſog. kindliche Denken des Naturmenſchen ausgehen, ſondern man muß die Summe aller ethnologiſchen Daten zuſammennehmen, um ſie im Verein mit andern Vorſtellungen, die gleichzeitig ent— ſtanden ſein müſſen, innerhalb eines hiſto— riſchen (reſp. prähiſtoriſchen) Geſammt— rahmens zu erklären. Hält man ſich empi— riſch hiervon fern und unterſucht nur den Seelenbegriff für ſich, ohne ſich in anthro— pologiſcher Beziehung die zugleich wichtige Frage vorzulegen, in welcher prähiſtoriſchen Epoche der betreffende Begriff wohl ap— von der Flamme), noch nicht vor Augen tra— ten, weil man die Erzeugung der Wärme, d. h. das Feuer, ſo wie es der Menſch ſpäter verwerten und betrachten lernte, noch nicht kannte? Ferner, wenn man über die Entſtehung von Seele, Leben und Tod ſpricht, weshalb ſoll man dann die Vor— ſtellung der Zeugung (ein den Menſchen ſo unmittelbar und lebhaft intereſſirender Vorgang) außer acht laſſen? Betrachtet man nun alle hierher gehörigen Vorſtel— lungsgruppen im Zuſammenhange, jo überſieht man raſch, daß die feuerloſe Steinzeit noch wenig geeignet war zur Bildung aller hier zur Geltung kommen— den Vorſtellungskomplexe. Die Vorſtel— lung der Zeugung als Feuerreibung und perzipirt ſein könnte, ſo verfällt man in ein bloßes Raten und Mutmaßen. Wie man pſychologiſch keinen hiſtoriſchen Charakter ohne die Zeitumſtände, unter denen er wirkte, beurteilen kann, ſo auch keinen Be— griff und keine Vorſtellung ohne Hinblick auf die äußere prähiſtoriſche Kulturepoche, unter welcher er allein geprägt werden konnte. Es iſt noch immer der Fehler vieler Entzündung des lebengebenden Funkens, ferner die Vorſtellung, daß die Wärme (Leben) innerhalb des materiellen Leibes etwas völlig Geſondertes war, das ſich abſcheiden und verflüchtigen konnte und im Körper wohnte, wie der Funke im Stein und im Holze, alles das konnte ſicherlich zu einer Zeit, wo man den Funken als Wärme überhaupt nicht kannte, keinen allgemeinen Boden gewinnen. Das O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Pfyhologie. 297 Weſentlichſte der Merkmale über die eigent— liche Bildung der Seelenvorſtellung iſt nun vor allem die Geſondertheit der Seele gegenüber ihrer Umhüllung, dem Leibe. Von hier aus unterſcheiden ſich ſogleich alle diejenigen Völker, welche ei— klaren Seelenbegriff entwickeln, von jenen andern, die denſelben nur in abge— blaßter Form ausbilden. Daß der Körper im Tode kalt wurde, hatte die Folgerung immerhin noch nicht genau nachziehen kön— nen, daß die Wärme im Körper etwas völlig Geſondertes war, das ſich abſchei— den und wie der Vogel den Bauer ver— laſſen konnte. Die nur halb entwickelten Vorſtellungen über Leben, Tod und Seele, ſo wie dieſelben nach unſerer Anſicht in der Vorfeuerzeit exiſtirten, werden uns hier nicht beſchäftigen; hierüber ſei nur in kurzem bemerkt, daß Kraft, Mut, Leben und Körper der früheſten Beobachtungs— weiſe gemäß mit einander verſchmolzen waren. War der Leib gebrochen, ſo auch Mut und Leben, dies ſowohl im Schlafe wie im Tode, welcher letztere nur als Fortdauer des Schlafes erſchien. Sofort aber mußten ſich dieſe naiven Anſchauun gen ändern, als man auf Stoffe und Er— ſcheinungen aufmerkſam wurde, die ſich als Hauch und Wärme abſchieden, in— dem der Körper erkaltete. Hier liegt die urſprüngliche Beobachtung, die zum See— lenbegriff hinführte. Wenn hiernach die Seele ein Begriff iſt, deſſen weſentlichſtes Srundmerkmalihre Geſondertheit und Spezifität dem Leibe gegenüber ausmacht, ſo daß ihre Abſcheidung von demſelben nach dem Tode gefolgert wurde, ſo leuchtet ein, daß wir nur allen denjenigen Völkern eine Seelenvorſtellung zuſprechen | können, welche ſich eben dieſe Seele als Atem, Dampf (Pneuma), Rauch, Funken, Feuer, Wärme und Schatten vorſtellten. Freilich findet ſich, daß die größte Anzahl der Völker in dieſer oder ähnlicher Geſtalt die Seelenvorſtellung entwickelt, wenn— gleich einzelnen Stämmen ein klarer Aus— druck hierüber mangelt. Wichtig iſt es nun, zu bemerken, daß die Frage nach dem Sitze der im Leibe geſonderten Seele eine erſt ſpätere iſt. Wenn wir daher bei einigen Völkern, z. B. bei den Hebräern, finden, daß ſie das Blut als Seele betrachten, während außer— dem ihr Nephesch und Ruach zugleich den von Gott eingeblaſenen Atem, ſowie das Lebengebende und Geiſtige überhaupt bedeuten, ſo läßt das erkennen, daß man Herz und Blut wiederum (bei ſchon weite— rem Fortſchritt)als Sitz dieſes geſon— derten Atemdampfes im Körper auffaßte. Im Sanskrit haben wir ät— man und präna, im Griechiſchen psyche und pneuma, im Lateiniſchen animus, anima, animal, im Slaviſchen ſteht duch für Seele und Atem. Wenn die griechi— ſchen Philoſophen ſpäter ihrem pneuma einen dreiteiligen Sitz im Leibe angewie— ſen haben, ſo bleibt doch unverkennbar, daß die Vorſtellung des ſich abſcheidenden Atems den Grund zu früheſter Apperzep— tion abgegeben hat. Ich vermag daher der Anſchauung Fritz Schultzes nicht zuzu— ſtimmen. Ihm zufolge wurde zuerſt nach dem Sitz des Lebens (Pulſe, Herz und Blut) gefragt. Nach meiner Anſchauung entdeckte man mit dem Atem und der Körperwärme zuerſt ein Prinzip, das ſich vom Körper ſondern und abſchei— den ließ. Bisher war unter der tieriſch— naiven Weltanſchauung (wie auch noch Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 38 Sg 298 O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Piychologie. heute bei einigen Naturvölkern) Körper und Leben eines. Die Seele exiſtirte noch nicht. Erſt jetzt, im Atem und in der Wärme, die man ſich als ein geſondertes lebendiges Feuer oder als einen Dampf (Hauch, Pneuma) im Körper vorſtellte, war das Subſtrat für die ſich vom Kör— per ſcheidende Seele gefunden. Erſt nach dieſer allgemeinen Beobachtung wandte man ſich alsdann zur Unterſuchung, an welchen vornehmſten Körperſtellen wohl dieſes Pneuma ſitzen und ſei— nen Aufenthaltsort haben könnte, und nun erſt kam man auf die Beſtandteile von Blut, Herz, Leber, Pulſe, Haupt u. ſ. w. Halten wir alſo daran feſt, daß die Sonderung und Abſcheidung vom Körper den Hebek für die ſich ins Unſichtbare verflüchtigende ſog. Seele und ihre Vorſtellung gege— ben hatte. Wie Rauch und Dampf gen Himmel ſteigen, wenn man den Körper auf dem Altar oder dem Scheiterhaufen verbrennt, wie der Funke dem geſchlagenen Stein entſpringt, wie der Rauch ſich ins Unſichtbare (Überſinnliche) verflüchtigt, wenn er ſich vom brennenden Körper ab— ſcheidet, jo die Seele — dieſelbe war eben das ſich vom Körper ſondernde und ab— ſcheidende Prinzip ſelbſt. Wir ſehen, bei der Entſtehungsgeſchichte der Seelenvor— ſtellung handelt es ſich um die Einſicht in ein Prinzip, das man dem Materiellen und Körperlichen relativ gegenüber— ſtellte; wir haben hier zugleich die erſte Ausbildung des Begriffes vom Unſicht— baren, Überſinnlichen und rein Geiſtigen. Welche Erfahrungen des frü— heſten, prähiſtoriſchen Volkslebens konn— ten die Anregung zu dieſer eigentümlichen Vorſtellung des Unſichtbaren darbieten? Ich möchte mit Rückſicht auf die völker— pſychologiſchen und anthropologiſchen For— ſchungen daran feſthalten, daß der Begriff der unſichtbaren, überirdiſchen Gottheit eine Wurzel in den Erlebniſſen des Familien— und Gemeindelebens hatte, während er die andre mit dem der Seelenvorſtellung teilt, nämlich die der Erhebung ihres Subſtrats in die überirdiſche Höhe (Himmel) und in die Region, in wel— cher ſich das Sichtbare (Sinnliche), ähnlich dem Rauch, verflüchtigt zum Unſichtbaren. Die Frage, welches Erlebnis zur Bildung der Unſichtbar— keits vorſtellung die erſte Gelegenheit gegeben hat, iſt oft aufgeworfen worden. Einige, wie Lubbock, Tylor u. a., ver— weiſen in dieſer Hinſicht auf den Traum, andere auf den Schatten, aber auch Steine und Häuſer werfen Schatten, zudem folgt derſelbe doch ſtets dem Körper und hängt ihm ſichtbar an; wie ſehr er daher auch die Phantaſie ergötzt, wie wenig er körper— lich greifbar erſcheint, den Hebel für die Vorſtellung einer völligen Trennung und Abſcheidung vom Körper ins Unſichtbare iſt auch ſein Bild nicht imſtande abzugeben. Dennoch muß zugeſtanden werden, daß die Schattenvor— ſtellung über die Seele unter ſo vielen Völkern verbreitet iſt, daß man gut thun wird, dem Gedankengang weiter nachzu- forſchen, der darauf hinführen konnte, den körperlichen Schatten vom Körper loszu— löſen, um ihn ins völlig Unſichtbare (Über— ſinnliche) ſich verflüchtigen zu late Wir beſtehen nun darauf, daß hier Thatſachen und allgemeine Erfahrungen zugrunde gelegen haben, die während des allmählichen Überganges der Steinzeit in die Metallzeit die Beobachtung mehr und O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Pſychologie. mehr auf die Abſcheidung und Verflüch— tigung von Dampf und Gaſen, die ſich von brennenden Stoffen und Kör— pern trennten, hinführten. Auch das flak— kernde Feuer warf körperliche Schatten, und die zum Himmel emporſteigenden Dampfſäulen mit ihren mächtigen Schat— ten, die zugleich mit dem Licht des Feuers kamen und verſchwanden, waren gewiß allgemein auffällig. Bei hervorragenden Gelegenheiten, wo ſich das Volk an den Opferſtätten gemeinſam verſammelte, wur— den gemeinſame und objektive Beobach— tungen gemacht, die allgemeingiltig wur— den. Zu ihnen gehörte neben anderem ſicherlich auch der Hinweis auf Rauch und Schatten, die als etwas an ſich Flüchtiges und Körperliches zum Himmel ſteigend ins völlig Unſichtbare verſchwanden, ſich gleich— ſam allmählich immaterialiſirten. Nun iſt es richtig, daß nicht alle Völker ihren Seelenbegriff derart vergeiſtigten, wie die höchſten Kulturvölker; aber den Anſatz zu dieſer Immaterialiſation im Hinweis auf Atem, Dunſt, Dampf, Hauch und Schatten und, was das wich— tigſte iſt, auf deren Loslöſung vom Leibe und Körper, beſitzen beinahe alle Naturvölker hinſichtlich der Vorſtellungen, die ſie ſich über die Seele bilden. Von dieſem Geſichtspunkte aus erhält weiter die Geſchichte der Vorſtellung Seele ihr volles Verſtändnis. Die Seele war et— was Luftiges und Flüchtiges, fie konnte ſich wie der Vogel in die Lüfte erheben und wandern, — ſo konnte ſich bei den Egyptern eine wunderbare Seelenwande— rungslehre und eine Geſchichte der Seele im abgeſchiedenen Jenſeits mit ihren Schick— ſalen ausbilden. Wie ſchon oben hervorge— hoben, iſt es wichtig, in der Geſchichte dieſer 299 Vorſtellung das Frühere von dem Späteren zu unterſcheiden. War die Uranſchauung die geweſen, daß man Leib und Leben für untrennbar hielt, ſo daß der Kannibale meinte, mit dem Leibe auch das Leben (d. h. Mut und Kraft) des Feindes zu ver— zehren, ſo ſuchte man ſpäter die entflohene Seele im unſichtbaren Jenſeits und gab ihr ſogar im Metallzeitalter den Leib mit auf den Weg, den man zu dieſem Zweck auf Scheiterhaufen verbrannte; ja nicht nur dies, um zugleich alles Hab und Gut eines Fürſten mit ins Jenſeits zu ſchaffen, verbrannte man mit ſeinem Leibe auch deſſen Frauen und Pferde, ſowie andere zeitliche Güter, die man ins Feuer warf. Unter ſolchen Geſichtspunkten er— klärt ſich uns die weitgehende Sitte der Leichenverbrennung bei den Metallvölkern. Erſt nach dieſer Zeit, wo ſchon tieferes Nachdenken lebendig wurde, wurde der Leib näher unterſucht, um im Käfige des Leibes die Orte zu entdecken, in denen ſich die luftige und flüchtige Seele aufhielt. Das führte nun zu allen den weiteren Vorſtellungen, wie wir ſie in hervorragen— der Weiſe bei den Griechen und andern Völkern antreffen, Vorſtellungen, die wäh— rend des Mittelalters allerlei wunderliche Ausbildungen erfuhren und ſtets im Zu— ſammenhange mit den allgemeinen Welt— anſchauungen ſtanden, die ſich an den Grundunterſchied von Materialismus und Spiritualismus anlehnten. Noch heute ſuchen wir in gewiſſer Weiſe nach dem Sitz der Seele, und ob wir ihn im Nerven— ſyſtem überhaupt, oder wie Descartes in der Zirbeldrüſe, oder im Balken in der Varolsbrücke, oder im ſog. Flourensſchen Lebensknoten finden wollen, — das bleibt ſich im Prinzipe ganz gleich. Wenn nun * 300 O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Pfychologie. Guſtav Jäger wieder auf eine ältere Anſchauung zurückgreift und die Seele ſo— wohl vom Körper, als auch vom Geiſte geſchieden wiſſen will, als ein mittleres und zwar als ein Pneuma (Dunſt, Hauch, Geruchsſtoff), ſo reiht ſich dieſe Anſchauung völlig in den Rahmen ein, der alle Vor— ſtellungen in dieſer Hinſicht umgiebt — nämlich in die Allgemeinanſchauung, daß die Seele etwas Flüchtiges und vom Leibe im engern Sinne relativ Getrenntes iſt. Dennoch, jo müſſen wir vom pſychologi— ſchen Geſichtspunkte behaupten, ſind alle dieſe Anſichten über die Seele roh und naiv, ſie unterſcheiden ſich nur dem Grade nach von alledem, was man, wie wir ſahen, in allerfrüheſter Zeit darüber an- nahm und feſtſtellte. Die moderne Pſychologie, die immer mehr von den Ergebniſſen der durch Kant reformirten Erkenntnislehre abhängig ge— worden iſt, hat ſich über die Naivetät die— ſer Anſichten zu erheben geſucht, und wir wollen nun im folgenden zuſehen, welche Anknüpfungspunkte ſie hierzu benutzte. Die Erkenntnislehre fußt zunächſt auf Grundthatſachen, die von vornherein dem Intellekt aufgenötigt werden, bevor er noch daran geht, mit ſeinem Auge über— haupt in die Außenwelt hinein zu ſinnen und zu forſchen. Dieſe Grundthatſache iſt die Unterſcheidung überhaupt, d. h. die ſich unabweislich aufdrängende That— ſache der Trennung einer erlebten Innen— d. h. vom unmittelbaren Innern trennen und ſomit als Objekt anſehen und wahr— nehmen. Zunächſt ſind dies die über die Grenze unſeres Leibes hinaus liegenden Gegenſtände; zu dem objektiv (äußerlich) Wahrgenommenen geſellen ſich aber eine große Reihe von Leibesteilen. Daß unſere Haare, Nägel, Finger, Arme, Füße nicht unmittelbar mit unſerm Innern identiſch ſind, leuchtet von ſelbſt ein, genauer unter- ſucht aber geſellen ſich dieſen Teilen ſelbſt die Endapparate der Sinne hinzu, denn unſer Inneres kann im Traume fühlen, vorſtellen und wollen, ohne daß die äuße— ren Sinne mitwirken. Damit treten pſycho— logiſch betrachtet ſelbſt große Partien des Nervenſyſtems noch zu dem Gebiete hinzu, das wir Außenwelt nennen und zu den Objekten zählen müſſen. Was bleibt nun demgegenüber für unſer Inneres als Sub— jekt in der Unterſcheidung übrig? Offen— Nervenapparate vollzieht. welt gegenüber alledem, was wir Außen- welt nennen —es iſt die Grundthatſache der Trennung von Subjekt und Objekt, ohne welche wir nicht denken und wiſſenſchaftlich leben und atmen können. bar alle in uns verlaufenden Vor— ſtellungen, Empfindungen, Gefühle und Willensimpulſe, alſo alle diejenigen Teile hinter den Endapparaten der Sinne, in welchen nachweislich ſich dieſe Vorgänge gleichzeitig abſpielen. Die Phyſiologen haben in dieſer Beziehung längſt erforſcht, daß der Verlauf dieſer ſpezifiſch innerlichen Vorgänge ſich in den Zentralteilen der Zugleich iſt feſtgeſtellt worden, daß es hauptſächlich Prozeſſe elektriſcher Natur ſind, die als Begleiterſcheinungen in den Nerven ver— laufen und teilweiſe den inneren Empfin— dungen parallel gehen. Was wir aber Sehen wir nun zu, was wir thatſäch⸗ lich als ein uns Außerliches empfinden, thatſächlich nicht wiſſen und beobachten können, iſt dies: wie ſich hier der äußere Prozeß als elektro-chemi— ſcher Vorgang in den innern der Vorſtellung und Gefühle u. ſ. w. I O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Piychologie. verwandelt. Hier iſt uns eine Grenz— ſcheide gezogen, die von der Natur an— gelegt iſt und die wir nicht überſpringen können; denn um dies zu vermögen, müßte erſtens jeder ſein eigenes Gehirn gleich— zeitig mit ſeinen Gefühlen, Vorſtellungen und Willensimpulſen wahrnehmen können, oder wir müßten das innere Gehirn un— ſeres Nebenmenſchen ſo durchſchauen, daß wir ſeine Nervenprozeſſe und gleichzeitig ſeine Vorſtellungen und deren Rückver— wandelung als unmittelbar ſich deckende Objekte wahrnehmen. Wer Du Bois-Reymonds Vortrag über die Grenzen der Naturerkenntnis ge- leſen hat, wird nicht im Zweifel ſein dar- über, daß unſer phyſiologiſches (äußeres) Forſchen dort aufhört, wo wir die Domäne | des Innern (als Subjekt) anheben ſehen, die dort beginnt, wo alle äußeren Bewe- gungen in eine Empfindung umſchlagen, um ſo im Innern zu verlaufen als Vor— ſtellungen, Gefühle, Willensimpulſe u. ſ. w. Wir können Du Bois-Reymond in die— | ſer Beziehung um fo mehr glauben, als wir ihm die oben erwähnte Entdeckung verdanken, daß in unſern Nervenprozeſſen elektriſche Vorgänge ſtattfinden. | Wir ſehen alfo, wie ſich Subjekt und Objekt als inneres und äußeres ſcheiden. Zum ſogenannten Innern gehören alle Vorgänge der ſogenannten inneren Wahr— nehmung, das ſind alle inneren Vorſtel— lungen, einbegriffen das Gedächtnis und Bewußtſein, ferner alle Empfindungen und Gefühle von Luft und Unluft, endlich alle Willensanſtöße und Strebungen. In das Gebiet der äußeren Wahrnehmungen fallen neben der ſogenannten Außenwelt alle Körperteile und deren Vorgänge, bei denen wir nicht gleichzeitig unter Beobach- + 301 tung ihres äußeren Verlaufs in das In— nere derſelben blicken können, um ſo zu er— kennen, was ſie bei ihrer äußeren Bewe— gung innerlich für ſich erleben. In dieſer Hinſicht ſind uns aber die Prozeſſe des vegetativen Lebens im Leibe ebenſo fremd, wie die Bewegung toter Steinchen, die auf einen Stoß einen Berg herabrollen. For— ſchen wir, was ſie bei dieſem Stoß inner— lich in ſich erleben, ſo geben ſie darauf ebenſo wenig Antwort wie unſer Magen, a der, wenn er Hunger hat, nicht, wie der - Laie glaubt, wirklich ſeinen eigenen Hun— ger fühlt und wahrnimmt, ſondern nur be— ſtimmte Nerven reizt, die wir dann in den Zentralorganen als Hunger empfinden. Erſt in die Zentralapparate des Nerven— ſyſtems verlegen wir regelmäßig die Vor— gänge, wo ſich das Objekt (Außenwelt) mit dem Subjekte verbindet. Die Art aber, wie dieſe Verbindung cauſaliter ſtattfin— det, iſt, wie geſagt, ein pſychologiſches reſp. philoſophiſches Problem. Wenden wir uns nun nach dieſen er— kenntnistheoretiſchen Vorerörterungen zur Vorſtellung über die Seele zurück. Wir haben feſtgeſtellt, daß uns die Unterſcheidung auf das Verhältnis von einem Inneren zu einem Außeren (Subjekt und Objekt) hinführt. Bilden wir uns den Begriff Seele, ſo leuchtet ein, daß mit ihm nichts äußeres, nichts in die Sphäre der Objekte fallendes gemeint ſein kann. Niemand, der ſich über die primitiven Vorſtellungen der Naturvölker und der Alten erhoben hat, wird daher verlangen wollen, die Seele zu ſehen; denn ſie iſt eben nichts objektives und äußeres, ſondern das Innere ſelbſt, ſie iſt die rein innerlich wirkende Kraft im Körper. Damit ſtimmt auch die ety— mologiſche Herleitung unſeres deutſchen 4 302 O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Piychologie. | Wortes „Seele“. Das Wort Seele wird nach Adelung von Sawl, Sahl, nach Grimm von Saiwa, Saivala, Sahl abge⸗ leitet und bedeutet eine rauſchende, treibende Kraft. Es hängt zuſammen mit Saal und Siel und bezeichnet hier einen innern, hoh— len Raum, eine Höhle und Kanal. Wirkende, treibende Kraft und innerer Höhlenraum ſind alſo die Grundbedeutungen der Wur— zel. Die Bedeutung des inneren, hohlen Raumes und treibender Kraft zeigt heute noch der Inhalt des Wortes Seele und feiner Nebenbedeutungen. Seele nennt man in der Geſchützgießerei den inneren hohlen Raum des Kanonenrohres, dem die trei— bende Kraft des Schuſſes zukommt, gegen— über dem Gehäuſe. Im Gänſekiel, beim Spinnen ꝛc. bezeichnet man mit Seele die inneren Hohlräume, in welchen ſich Luft, bezw. beim Spulen die Spindel befindet. Sehen wir weiter zu, wie ſich der Ge— brauch und die Bedeutung des Wortes geſtaltet hat, ſo ſchließt ſichdie Verwendung dem bisher geſagten an. Wir nennen irgend eine Perſon die Seele der Familie, die Seele des Staates oder Seele einer Ver— ſchwörung, um zu bezeichnen, daß jemand die treibende Kraft derſelben ſei. Seele iſt ſomit das treibende, wirkende Weſen gegenüber ſeinem Anhang und ſeiner Um— gebung, die ihm als Stütze, als Körper, als Hülle und als Gehäuſe dient. Ob— wohl man nun innerhalb der Seele wie— der von einem Geiſte und Gemüte redet, ſo wird damit doch die Seele nicht dem Geiſte gegenüber zu einem Äußeren, Ob— jektiven. Wenn Platon der Seele eine dreigeteilte Geſtalt verleiht und einen Teil in die Leber, den anderen in die Bruſt und den dritten in das Haupt verlegt, ſo ſteht er mit dieſer Anſchauung eben noch den primitiven Vorſtellungen nahe, wie ſie die Naturvölker ausbildeten. Wer heute aber von dem Begriffe Seele Gebrauch macht, muß ſich die oben erwähnte erfenntnis- theoretiſche Unterſcheidung vor Augen füh— ren über Inneres und Außeres als Sub— jekt und Objekt. Hiernach muß alsdann Seele immer das Terrain des rein In⸗ neren (des Subjekts) bedeuten, und niemals kann ſie im Körper als wirkende Kraft etwas anderes ſein. Will man nun, wie ſpäter geſchah, innerhalb des Seelen— innern nochmals Geiſt, Gemüt, Verſtand, Vernunft u. ſ. w. unterſcheiden, ſo iſt eine ſolche Trennung rein innerlich und pſychologiſch, und ein Forſcher, der ſich mit Unterſuchungen der Sinnes- oder anderer Körperorgane beſchäftigt, darf, ohne Verwirrungen anzurichten, ſich des Wortes „Seele“ nicht bei Phänomenen be— dienen, die über das ſogenannte Innere (als Bewußtſein, Vorſtellung ꝛc.) hinaus⸗ fallen. Selbſt die ſogenannten Inſtinkte gehören, wie man nicht unterlaſſen darf zu bemerken, dem Gebiete des rein Innern (der Seele, dem Subjekt) an; denn was ſie auch ſein mögen, ſie ſind ſtets mit unklaren Vorſtellungen und Gefühlen reſp. Willens- impulſen vermiſcht, in denen das Bewußtſein nur ſchwach und tief herabgedrückt erſcheint. Werfen wir nun die Frage auf, ob es ein Mittleres zwiſchen Innerem und Außerem, zwiſchen Subjekt und Objekt geben kann, ſo muß dieſe Frage vom Ge— ſichtspunkte der modernen Pſychologie ver- neint werden. Nur wenn man ſich einer Seelenvorſtellung überläßt, wie ſie in naiver Weiſe die Naturvölker und die Alten bildeten, kann man ſich den Körper geſpalten denken in Geiſt, Seele (Inſtinkt), ſinnliche Organe u. ſ. w. Es ſcheint offen— O. Caspari, Die Seelenvorſtellung und ihre Bedeutung für die moderne Psychologie. 303 bar, als habe Jäger ſich zu dieſen primi— tiven Seelenvorſtellungen zurückgewandt. Ob dies aber zum Nutzen ſeiner Forſchun— gen oder zum Schaden der pſychologiſchen Wiſſenſchaft und ihrer Fortſchritte gefche- hen iſt, das iſt eine andere Frage. Es er- ſcheint wiſſenſchaftlich wichtig, daß alle Ge— biete genau abgegrenzt werden, um Ver— wirrungen zu verhüten. Phyſiologie und Pſychologie, ſo innig ſie zuſammengehören, forſchen ohne Zweifel auf verſchiedenen Terrains. Der Phyſiologe erfaßt die Erſcheinungen des Inneren von äu— ßerer, körperlicher Seite, er konſtatirt zunächſt nur äußere Bewegung. Die Pſychologie arbeitet mit rein inneren Vor— ſtellungen, Empfindungen u. ſ. w., d. h. mit Bewegungen unſeres Inneren. Es muß nochmals hervorgehoben werden, daß die Umſetzung Beider ein pſychologiſches und erkenntnistheoretiſches Problem ein— ſchließt mit Rückſicht auf Unterſuchungen, die im rein ſinnesphyſiologiſchen Gebiete nicht zum Abſchluß gebracht werden können. Die hier anzuſtellenden Forſchungen erge— ben aber, daß ein Mittleres zwiſchen Sub— jekt und Objekt, das man gegenüber einer Unterſcheidung von Körper und Geiſt als Seele anſetzt, nicht angenommen wer— den kann. Denn entweder iſt dieſes mitt— lere Dritte ein Inneres (Vorſtellung, Be- wußtſein ꝛc), jo fällt es ſchon dem Geiſte zu, oder es gehört dem Außeren, das iſt dem Körper an. Die Ausdrücke Geiſt und Seele dürfen zu einer ſolchen Trennung nicht verführen; denn ſie ſind, vom andern pſychologiſchen Geſichtspunkte aus geſehen, im grunde einerlei; beide fallen in das Terrain des Subjekts (des Inneren). Wer hier Unterſchiede von neuem ziehen will, verfällt, wir wiederholen, den veralteten naiven Seelenanſchauungen. Dabei ſei bemerkt, daß auch das deutſche Wort Geiſt wieder mit ſeiner Bedeutung etymologifch auf die Bedeutung Seele zurückführt. Geiſt, Geſcht, Giſcht bedeutet wie Pon und ani- ma ein Hauchen, Rauſchen, Brauſen, deutet alſo auf das Weſen der im Innern des Körpers treibenden Kraft. Wir erfehen hier- aus, daß man im grunde die Seele als ſolche nicht entdecken kann; denn das Innere läßt ſich als Inneres eben nicht äußerlich aufdecken. Die Seele als das Terrain des Inneren iſt aber für die innere Wahrnehmung längſt entdeckt, ſie iſt von hier aus geſehen ein Komplex von pſychiſchen Erſcheinungen, die ihren Verlauf in den Zen— tralorganen des Nervenapparates haben. Die Frage aber, ob man für das Subjekt (als Inneres, Seele ꝛc) einen beſtimmten Punkt ausfindig machen darf, als ſogenannten feſten Seelenſitz, iſt rein phyſiologiſcher Natur. Wir wiſſen, daß die moderne Phyſiologie heute ſoweit vorgeſchritten iſt, um mit hoher Wahrſchein— lichkeit dieſe Frage zu verneinen. Doch ſind die hierüber zu verfolgenden Unter— ſuchungen, die im weiteren darauf hinfüh— ren würden, zu erforſchen, ob man neben einem beweglichen phyſiſchen Schwerpunkt im Körper auch einen beweglichen pſychiſchen Schwer— punkt in den Zentralorganen der Nervenapparate anzuſetzen ein Recht habe, nicht mehr hierher ge— hörig; denn was uns zunächſt hier be— ſchäftigte, war nur die Bedeutung des Begriffes und der Vorſtellung „Seele.“ EN Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Der große Komet von 1880. I die die Mücken und Nachtſchmetter— linge die Lampe, fo umſchwärmen die aus ungeheurer Ferne heran— eilenden Kometen die Sonne, aber keiner, von dem man weiß, iſt der Sonne ſo nahe gekommen, wie der vom Winter 1880, der ſich dem ſtrahlenden Licht-und Wärmeherde unſeres Weltſyſtems am 27. Januar 1880 bis auf den eilften Teil des Sonnendurch— meſſers (17,000 Meilen) genähert hat. Bekanntlich wurde zu Anfang Februar d. J. auf den europäiſchen Sternwarten eine hochgeſpannte Erwartung erregt durch ein von der Sternwarte zu Kordoba in der argentiniſchen Republik durch den Aſtronomen Gould abgeſandtes Tele— gramm, welches kurz beſagte: „Großer Komet paſſirt die Sonne nord— wärts.“ Schon nach einigen Tagen wurde dieſe Erwartung enttäuſcht durch ein zweites Telegramm deſſelben Aſtrono— men, welches eben ſo kurz lautete: „Komet geht ſüdwärts.“ Der Widerſpruch wurde dahin aufgeklärt, daß es ſich um einen Kometen gehandelt habe, welcher der Sonne ſo nahe gekommen ſei, daß er, wie der große Komet von 1843, innerhalb weniger Tage bei ſeinem überaus ſchnellen Um⸗ ſchwung um die Sonne einen vollſtändigen Wechſel der Bewegungsrichtung erfahren habe. Seitdem ſind nähere Nachrichten über die von den Sternwarten der ſüd— lichen Halbkugel, insbeſondere am Kap der guten Hoffnung, angeſtellten Beobach— tungen jenes Kometen eingegangen, und es hat ſich herausgeſtellt, daß er ſich in der That in ganz derſelben Bahn bewegt hat, wie der große Komet von 1843, wenngleich er bei weitem nicht ſo hell ge— worden iſt, wie jener, welcher bekanntlich zur Zeit ſeiner größten Sonnennähe am Tage dicht neben der Sonne wahrgenom— men wurde. Der diesjährige Komet iſt aber ſonſt dem großen Kometen von 1843 auch darin ähnlich geweſen, daß er einen mächtigen, etwa 40 — 50 Grad langen Schweif entwickelt hat, und die Berech— nung der Bahnelemente läßt keinen Zweifel darüber, daß es ſich hier um ein und den— ſelben unſerem Sonnenſyſtem angehörigen Kometen, mit einer Umlaufszeit von 36 Jahren 11 Monaten, handelt. Bekannt⸗ lich hatte man jenen Kometen bei ſeinem vorigen Erſcheinen mit dem Namen des ariſtoteliſchen ausgezeichnet, weil er unter m Annahme einer viermal fo langen Umlaufs— zeit — 147,5 Jahre) mit dem 371 vor Chriſti Geb. von Ariſtoteles beobachteten Kometen durch Zwiſchenerſcheinungen ver— bunden werden konnte. Den Umſtand, warum man dieſen im Jahrhundert nahe— zu dreimal wiederkehrenden Kometen bis— her ſo ſelten beobachtet hat, erklärt ſich leicht aus den Eigentümlichkeiten ſeiner Bahn, die ſo lang geſtreckt iſt, daß die kleine Axe, bei einer zweiundzwanzigfachen Länge der großen Axe, kaum die Länge des Durchmeſſers einer Erdbahn erreicht und eine ſo eigentümliche Lage hat, daß der Komet für das unbewaffnete Auge immer nur ganz kurze Zeit ſichtbar ſein kann, nämlich in der für die früheren Jahr— hunderte allein in Betracht kommenden nördlichen Hemiſphäre ſtets nur dann, wenn ſeine Sonnennähe entweder im Fe— bruar und März oder im Oktober und No- | vember ſtattfindet. Wenn daher der Komet irgendwo einmal in ſeinem Glanze geſehen worden iſt, ſo geht ſeine nächſte, nächſt⸗ nächſte und drittnächſte Erſcheinung unbe— merkt vorüber und erſt die viertnächſte tritt wieder unter ähnlichen Sichtbarkeitsbedin— gungen auf, ſo daß ſich der erwähnte Irr— tum über die Umlaufszeit leicht erklärt. Zu dieſem von Prof. E. Weiß in Wien hervorgehobenen Umſtand kommt nun noch die ſchnelle Abnahme ſeines Glanzes. Der Komet entwickelt bei ſeiner Annäherung an die Sonne ſeinen ſchönen Schweif eben— ſo überraſchend ſchnell, wie er nachher ver— ſchwindet, in wenigen Wochen iſt die kurz vorher ſo großartige Erſcheinung ſelbſt Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. dem Teleſkope entſchwunden. Durch dieſe Schnelligkeit feines Vorüberganges bei der Sonne erklärt ſich wohl die mangelhafte | Berechnung der Bahnelemente im Jahre 1843, die eben nur durch die diesjährigen 305 Beobachtungen auf der ſüdlichen Hemi— ſphäre korrigirt werden konnte. Die unge— heure Schweifentwicklung dieſes Kometen, zuſammengehalten mit der großen Nähe, in welcher er bei dem anziehenden Geſtirn vorübereilt, laſſen wieder jene alten, un— gelöſten Fragen auftauchen, woraus die Kometen beſtehen, und auf welche Weiſe die ungeheure Schweifbildung zu erklären iſt. Handelt es ſich wirklich, wie Zöllner glaubt, um die ſchnelle Verdunſtung einer von der Sonnenelektrizität abgeſtoßenen Materie in dem Millionen Meilen langen Schweife, oder iſt derſelbe nur, wie früher in dieſen Blättern zu zeigen ver— ſucht wurde“), eine bloße optiſche Erſchei— nung? Vielleicht wird gerade dieſer Komet durch die Rapidität ſeiner Veränderungen bei ſeinen nächſten Erſcheinungen zur Lö— ſung dieſer Frage das ſeinige beitragen; einſtweilen müſſen wir uns damit begnü— gen, durch ſeine neueſte Erſcheinung die Gewißheit erhalten zu haben, nicht mehr auf den alleinigen Beſitz des Halleyſchen Kometen in unſerm Syſteme angewieſen zu ſein, ſofern ſeine teleſkopiſchen Neben— buhler für die große Menge überhaupt nicht mitzählen. Die aufrechtſtehenden Baumſtämme der Oleinkohlenſchichten, welche in unſerer Zeitſchrift vielfache Er— örterungen gefunden haben!), weil fie zu der Hypotheſe Kuntzes vom ſchwimmen— den Steinkohlenwalde Veranlaſſung gege— ben hatten, erfahren eine ſehr einfache Erklärung in einigen Beobachtungen von *) Kosmos, Bd. III, S. 29 ) Kosmos, Bd. IV, S. 33 u. S. 239. 7 430; Bd. VI, Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4.“ U 306 Matthieu Williams, die derſelbe kürz— lich (Journal of Sciences, Ser. III, Vol. II 1880, p. 81) veröffentlicht hat. Derſelbe ſah nämlich im Sommer 1855 den Boden des in einem tiefen Thale zwiſchen wald— bedeckten Wänden gelegenen Achenſees mit einem förmlichen Wald von Baumſtämmen und Aſten bedeckt, unter denen er durch Schwimmen und Tauchen nicht wenige er— kannte, die aufrecht ſtanden, die Wurzeln im lehmigen Schlamme begraben, als ob ſie daſelbſt gewachſen und überflutet wor— den wären. Ein emporgebrachter, arm— dicker Aſt war ſtark vermodert, fo daß ſich die Jahresringe zum Teil leicht von ein— ander löſen ließen. Über die Entſtehung dieſes untergeſunkenen Waldes konnte kein Zweifel ſein, denn an den waldigen Ufern ſah man lange, entwaldete Streifen, in denen offenbar durch gewaltig angeſchwol— lene Gewitterſtröme die Bäume in den See geriſſen worden waren. Da viele dieſer Bäume mit ihrem Wurzelgeflecht eine Menge Erde mitgeführt haben werden, erklärt es ſich leicht, daß ſie in aufrechter Stellung zu Boden ſanken und dort feſtge— gehalten werden mußten, während andere Stämme ſo lange im Waſſer ſchwimmen, bis ſie ſich voll ſaugen und dann in den verſchiedenſten Stellungen zu Boden ſinken. In ſpätern Jahren hat dieſer Beobach— ter dieſelben Vorkommniſſe vielfach in noch größerem Maßſtabe in den Fjorden Nor— wegens beobachtet, woſelbſt die Waldla— winen eine bekannte Erſcheinung ſind; ähnliche, gewaltige, mit donnerartigem Getöſe vor ſich gehende Waldſtürze, bei denen große Strecken im Zuſammenhange verſinken, hat Bates als eine am Ama— zonenſtrome gewöhnliche Erſcheinung in ſeinem bekannten Buche „Der Naturforſcher Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. am Amazonas“ beſchrieben. Wohl nicht mit Unrecht wendet Williams dieſe Er— ſcheinungen auf die Erklärung mancher Vorkommniſſe in den Steinkohlenlagern an, wobei es ſich natürlich ſowohl um tiefe Landſeeen und marine Buchten, als um Flußmündungen handeln kann. Das weit— ausgebreitete Wurzelwerk der Sigillarien— bäume mußte dieſes aufrechte Unterſinken wohl noch beſonders begünſtigen. Ahulichkteit vou Blumen und Früchlen. Daß Blumen und Früchte in mehreren ihrer hervorſtechendſten Eigentümlichkeiten übereinſtimmen, iſt ſchon wiederholt und mit Recht hervorgehoben worden. Beide locken durch augenfällige Farbe, angeneh— men Duft und beſondere, ſehr häufig zuckerhaltige Genußmittel Tiere an ſich, die, ihrem eigenen Nahrungsbedürfniſſe folgend, ohne es zu wiſſen und zu wollen, ihre freie Ortsbewegung zum Nutzen der im Boden feſtgewurzelten Pflanze ver— wenden und ihr die weſentlichſten Lebens— dienſte leiſten: die Blumen ihre Kreuzungs— vermittler, die ihnen eine reichliche und entwicklungsfähige Nachkommenſchaft ver— ſchaffen, die Früchte ihre Ausſäer, die die erzeugten Nachkommen an neue, zum Teil günſtigere Wohnſitze verpflanzen. Aber kein einziger Fall dürfte vielleicht bis jetzt bekannt fein, in dem die Ähnlichkeit zwi— ſchen Blumen und Früchten überraſchender in die Augen ſpränge, als in einem Bei— ſpiele, über das mir mein Bruder Fritz 1 in einem Briefe vom 11. Febr. d. J. von Südbraſilien aus mit folgenden | Worten berichtet: „Im Küſtengebiete ii eine Clusia ‚ (Guttifera) häufig, ein Strauch mit gro— Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ßen, glänzenden, lederartigen Blättern und weißen, duftenden, zweihäuſigen Blumen. In der Nähe von Cambiu ſtießen wir auf einen ſolchen Strauch (ſpäter am Itajahy auf noch mehrere), der mit ganz fremd— artigen Blumen bedeckt ſchien. Bei nähe— rem Zuſehen waren es aber nicht Blu— men, ſondern die aufgeſprungenen, ganz blumenähnlichen Früchte. In der Mitte eine abge— ſtumpfte Mittelſäule mit fünf vorſpringenden Kan— ten und ebenſoviel ein— ſpringenden Winkeln. Um ſie breiten ſich ſternförmig die fünf Klappen der Frucht aus; Säule und Klappen weißlich. Auf jedem dieſer anſcheinenden Blumenblätter liegt ein länglicher mennigroter Körper — der in eine weiche, ölreiche, rote Maſſe ein— gebettete Samen.“ Lippſtadt, 1880. Hermann Müller. Aeber die fogenannte Jungferngeburt (Parthenogenesis) hat der Profeſſor der vergleichenden Em— bryologie am College de France Bal⸗ biani in ſeine voriges Jahr erſchienenen Leons sur la génération des vertébrés“) ein ſehr intereſſantes Kapitel aufgenommen, aus welchem wir an dieſer Stelle die nach— ſtehende neue Deutung jener merkwürdigen Erſcheinung berichten wollen. Seit dem Jahre 1845 haben Wittich, von Sie— bold und zahlreiche andere Forſcher in den Eiern zahlreicher Spinnen und Krebs— tiere eine Zelle entdeckt, über deren Be— deutung ſie ſich keine Rechenſchaft geben konnten; nachher iſt dieſelbe auch bei ) Paris. Octave Doin, 1879. = 307 zahlreichen Wirbeltieren erkannt und von Milne Ewards als embryobildende Zelle (Cellule ou Vesicule embryogene) be= zeichnet worden. Dieſe Zelle iſt wie ges wöhnlich mit einem nucleus (nebſt nucle- olus) verſehen, welcher von Protoplasma umgeben iſt. Die beiden erſteren Elemente ſind in der Regel nicht ſchwierig zu erken— nen, aber das Protoplasma iſt oft von dem des Eies nicht zu unterſcheiden, weil es dieſelbe Brechbarkeit beſitzt. Nur in den Spinneneiern iſt es infolge einer Verän— derung ſeiner Subſtanz deutlicher. Der Kern färbt ſich durch Karmin rot (bei den Spinnen ſehr langſam infolge der Dichtig— keit ſeiner Hüllen). Dieſes embryogene Bläschen entſteht durch Abknospung von einer der Epithelzellen, welche das Ei in dem Graafſchen Follikel umgeben. In das Ei eindringend, bewahrt dieſe Zelle ihre Individualität, ihr Protoplasma ver— ſchmilzt nicht mit dem Dotter, dieſer wird vielmehr von der Zelle durchbrochen, die ſich darin eine Höhlung gräbt, in der ſie wie eingefaßt liegt. Mitunter iſt der Durch— bruchsweg längere Zeit erkennbar, ge— wöhnlich ſchließt er ſich durch Annäherung der Wände wieder völlig . . . „Der epitheliale Urſprung des em— bryogenen Bläschens macht es zu einem der Samenzelle analogen Element, wel— ches auch auf das Ei eine ähnliche Wir— kung ausüben muß, wie ein Spermatozoid. Man wird mir einwerfen, daß dieſe Zelle weder die Geſtalt, noch die Struktur, noch die Beweglichkeit der gewöhnlichen Samen— fädchen beſitze. Aber wir kennen eine große Anzahl von Tieren, bei denen dieſe Ele— mente weder Fadengeſtalt noch Beweglich— keit beſitzen. So z. B. bei faſt allen Kru— ſtern, bei den chilognathen Tauſendfüßern, „ 308 wo ſie ſtrahlige und ſtarre Zellen oder (gleichfalls unbewegliche) Stäbchen bilden. Bei den Nematoiden unter den Würmern ſind es kleine gerundete, zuweilen kern— haltige Zellen mit oder ohne amöboide Be— wegung. Die fadenförmige Bildung und Beweglichkeit iſt demnach nicht immer für die Samentierchen charakteriſtiſch. Es geſchieht nun unter dem Einfluß einer Art von Befruchtung, die von dem das männliche Element vorſtellenden, em— bryogenen Bläschen ausgeübt wird, daß ſich der Keim in dem weiblichen Ei bildet. Man findet in der That, daß ſich ſtets um dieſes Element die plaſtiſchen Granula— tionen anlegen. Da die embryogene Zelle ein urſprüng— lich männliches Element iſt, ſo begreift man, daß ihre Wirkung ſich in gewiſſen Fällen nicht auf die Bildung des Keimes beſchränken wird. Sie wird hinreichen, auf eine mehr oder weniger vollſtändige Art entweder die erſten Phaſen der Ei— entwicklung einzuleiten oder die vollſtän— dige Entwicklung zu bedingen und ein voll— kommnes Tier zu erzeugen, d. h. den Vor— gang, welchen man als Parthenogeneſis bezeichnet. Es giebt in der That wiſſenſchaftlich feſtgeſtellte Fälle, die beweiſen, daß bei mehreren Tierarten und ſogar bei Wirbel— tieren nicht befruchtete Eier fähig werden, ſich mehr oder weniger vollſtändig zu ent- wickeln. Biſchof hat zuerſt (1844) die Keim— furchung nichtbefruchteter Eier beim Fro— ſche, der Hündin und dem Mutterſchwein beobachtet, und ſeitdem ſind ähnliche Fälle von einer großen Anzahl von Beobachtern feſtgeſtellt worden. So von Henſen (1869) beim Kaninchen, von Agaſſiz und Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Burnett bei amerikaniſchen Schellfiſchen, von Oellacher (1872) bei der Henne. Aber bei keinem Wirbeltier ſchreitet die Entwicklung bis zur Bildung eines voll— kommenen Individuums fort. Anders bei den Wirbelloſen, bei denen es viele Arten giebt, deren Eier ſich ohne Befruchtung vollſtändig entwickeln können. Dieſe Thatſache iſt ſeit lange bei dem Seidenwurm bekannt und alle Seiden— züchter kennen ſie. Bei dieſem Spinner iſt die Zahl der ohne Paarung fruchtbaren Eier ſehr veränderlich unter den einzelnen Individuen. Die parthenogenetiſchen Ge— lege ſind gewöhnlich viel weniger reichlich als die normalen, und die Zahl der zur Ausſchlüpfung gelangenden Eier iſt ſehr beſchränkt. Barthelemy hat bei ſeinen Beobachtungen (1859) nur ein einziges mal ein Gelege beinahe vollſtändig zur Entwicklung kommen ſehen. Überhaupt iſt das Gelege ſpärlich (diffieile); anſtatt der gewöhnlichen Ziffer von 3 — 400 Eiern liefert es etwa 40 — 50, von denen ſich nur eine ſehr kleine Zahl entwickelt, um kleinen Räupchen das Daſein zu geben, die keine große Lebenskraft zu beſitzen ſcheinen; die Mehrzahl der Eier überlebt den Winter nicht und man findet im Frühling die mei— ſten Larven tot in ihren Schalen. Um ſich von dieſem Phänomen Rechenſchaft zu geben, hat Barthelemy auf den Herma— phroditismus des Eies hingewieſen, denn das Tier ſelbſt iſt niemals hermaphrodi— tiſch. Es war ein die Wahrheit ſtreifender Geiſtesblick, den ſein Urheber nicht be— gründen konnte. Bei vielen andern Schmetterlingen iſt es ſicher, daß nur eine ſehr kleine Zahl von Männchen vorhanden iſt; bei den Pſychiden iſt die Jungferngeburt ganz ge— b 0 wöhnlich. Unter den Hautflüglern finden ſich zahlreiche Gallwespen=(Cynips-) Arten, deren Männchen nicht bekannt ſind. Wie man weiß, hat der deutſche Bienenzüchter Dzierzon die Parthenogeneſis bei der Biene entdeckt. Die Beobachtungen, welche er als Züchter gemacht hat, ſind durch Siebold und Leuckardt vom anatomi— ſchen Geſichtspunkte aus beſtätigt wor— den, und er vermochte von der Erſcheinung eine bereits dem Ariſtoteles ungefähr bekannte Erklärung zu geben: die Königin— Mutter legt nach ihrem Willen befruchtete oder nicht befruchtete Eier, dieſe erzeugen die Männchen oder Drohnen, jene die Weibchen oder Arbeiterinnen. Jedermann weiß, daß die Blattläuſe ſich während der warmen Jahreszeit ohne Mitwirkung der Männchen durch Lebendig— gebären fortpflanzen. Jedes Junge wird in wenigen Tagen ein dickes Weibchen, welches ſeinerſeits Eier legt, und ſo geht es fort bis zum Herbſt. In dieſem Zeit— punkt iſt die letzte durch Jungferngeburt lebendiggeborne Generation geſchlechtlich. Die Paarung und darauf das Gelege fin— den ſtatt, und die Eier überwintern, um im Frühling auszukriechen und lebendig= | gebärenden Blattläuſen das Leben zu ge— ben. Bonnet in Genf hat innerhalb dreier Monate zehn lebendiggeborne Ge— nerationen beobachtet, Kyber hat Kolo— nien von Aphis rosae in einem geheizten Zimmer gehalten und ſie während vier Jahren ſich fortpflanzen ſehen, ohne daß ſie eine einzige geſchlechtliche Generation hervorbrachten. Verfolgen wir kurz den Vorgang der ungeſchlechtlichen Erzeugung bei den Blatt— läuſen, wie ihn Balbiani zuerſt (1869 bis 1870) ermittelt hat. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 309 Der Reproduktionsapparat der leben— diggebärenden Blattlaus, die immer ein Weibchen iſt, zeigt ſich nach demfelben Typus wie der Eierſtock aller Inſekten ge— baut. Er beſteht aus Bündeln von je nach den Arten mehr oder weniger zahlreichen Röhren, welche letzteren hintereinander eine Reihe von Kammern oder Zellen ent— halten, in denen ſich bei der Blattlaus nicht Eier, ſondern Embryonen, oder viel— mehr Eier, die ſich ſehr ſchnell in Embryo— nen umwandeln, entwickeln. Die eiführenden Zellen oder Kammern der Inſekten ſind die Aequivalente der Eierſtock-Follikel bei den Wirbeltieren. Zwiſchen dem jüngſten Ei und der Zell— maſſe, welche das Ende jeder Röhre bildet, entſtehen fortwährend neue Eier, woraus folgt, daß ſich die Scheide der Eiröhren beſtändig verlängert. Jedes Ei entwickelt ſich für ſich in einer Zelle der Eiröhre. Solcher Röhren finden ſich bei der Blatt— laus 4— 7 auf jeder Seite. Am Ende jeder Scheide oder Röhre befindet ſich eine aus einer Häufung kleiner Zellen gebildete kugelförmige Erweiterung: es iſt dies die Keimkammer. In der Mitte befindet ſich eine Zelle, welche fortwährend an ihrem hinteren Teil durch Knospung eine Reihenfolge geſtielter Zellen hervor— treten läßt. Jede dieſer geſtielten Zellen ſtellt ein Eichen dar. In dem Maße, wie es ſich entwickelt, ſetzt ſich dieſes Eichen in Beziehung zu der Wandung des Eierſtockrohres, welches mit einem Epithel austapezirt iſt, und drängt dieſelbe zurück, um ſich darin eine Aufent— haltszelle für alle Phaſen ſeiner embryo— nalen Entwickelung zu bilden. Unter dem Einfluſſe dieſer Berührung zwiſchen Ei und Epithel bringt eine in der Nähe des 310 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. hinteren Eipoles gelegene Epithelzelle durch Sproſſung ein kleines Zellenhäufchen hervor, das auf der Wandung der eifüh— renden Scheide einen Vorſprung erzeugt. Von dieſen Zellenhäufchen erhebt ſich eine Knospe, welche das immerfort wachſende Eichen zuſammendrückt, es am Berührungs— punkte zurückdrängt und ſich darin durch Zu— rückſchieben eine kleine Kammer aushöhlt. Dieſe Knospe iſt ein embryogenes Bläs— chen und das Homologon eines Samen— kernes (Spermatoblaste) der männlichen Geſchlechtsdrüſe. Aber dieſer Spermato— blaſt iſt, wie wir ſehen werden, einer ferne— ren und unabhängigen Entwickelung fähig. Sobald dieſe Zellknospe oder Sper— matoblaſt den Eidotter berührt hat, wirkt er auf denſelben nach Art eines männlichen Elementes. Man ſieht alsdann in der That an der Oberfläche des Eies die Keimbläs— chen ſich bilden und den Embryo ſich ent— wickeln. Bald nimmt die Epithelknospe, der man auf Grund ihrer befruchtendenWir— kung den Namen eines „Androblaſt“ bei— legen kann, an Umfang zu, und treibt auf ihrer geſammten Oberfläche Tochterzellen hervor. Dieſe Zellen ſind mit den Lappen der Wirbeltier-Spermatoblaſten identiſch, welche gleichfalls durch Knospung einer Epithel-Mutterzelle erzeugte wahre Zel— len ſind. Der Stiel der Androblaſten trennt ſich von der eiführenden Scheide, und die be— freite Maſſe des letzteren begiebt ſich an die innere Fläche des Embryo-Bauches. Dieſe Maſſe ſpielt keine weitere Rolle, ſie lebt und entwickelt ſich auf eigene Fauſt in den Organen des Inſekts und beſteht ſelbſt in dem erwachſenen Tiere weiter, woſelbſt ſie die grüne oder gelbe Subſtanz ausmacht, die man bei allen Blattläuſen wahrnimmt. So iſt, um es zuſammenzufaſſen, das Ei oder weibliche Element durch die Epi— thelknospe als männliches Element befruch— tet worden und aus dieſer Befruchtung iſt die Entwickelung des Eies bis zur Aus— bildung des vollendeten Tieres erfolgt. Noch mehr, die Epithelknospe iſt ihrerſeits durch das weibliche Ei befruchtet worden und hat ſich in einen wahren Spermato— blaſten umgebildet. Verlaufen die Dinge bei den andern Tierarten, welche ſich ohne Mitwirkung des Männchens entwickeln, ebenſo wie bei den Blattläuſen? Iſt das neue Weſen dort ebenfalls das Reſultat dieſer Vor— befruchtung des Eies durch das Eier— ſtock⸗Epithel? Bis jetzt iſt das noch nicht feſtgeſtellt. Aber alle dieſe Thatſachen, welche uns für jetzt den gewöhnlichen Ge— ſetzen zu entſchlüpfen ſcheinen, werden ſich ſicherlich eines Tages in dieſelben einord— nen, „und die Ausnahme von heute wird,“ wie der große Dichter und Naturforſcher Goethe ſagt, „morgen die Regel bilden“. Die Organifalion und Klaffilikafion der höheren Aleduſen-Akraspeden bildete den Gegenſtand einer Mitteilung von Prof. Häckel in der Februarſitzung der Jenaiſchen Geſellſchaft für Medizin und Naturwiſſenſchaft, aus deren Sitzungsbe— richten wir das Folgende entnehmen: Die höheren Meduſen, welche Gegen— baur (1856) als Akraspeden zuſam— menfaßte (Phanerocarpae von Eſch— ſcholtz, Steganophthalmae von Forbes), ſind durch die genaueren Unterſuchun— gen der letzten Jahre mehr und mehr als eine ſelbſtändige Hauptgruppe der Neſſel— tiere erkannt worden. Dieſe Hauptgruppe — . ERREGER N ſteht der anderen, äußerlich ſehr ähn— lichen Hauptgruppe der niederen Meduſen oder Kraspedoten (Cryptocarpae oder Gymnophthalmae) in wichtigen Bezie— hungen ſchroff gegenüber und iſt durch keinerlei wahre „Übergangsfor- men“ phylogenetiſch mit ihr verbunden. Die auffallende Ahnlichkeit, welche zwiſchen einigen Meduſen-Familien beider Haupt: gruppen beſteht und welche oft zur Ver— wechſelung beider geführt hat, beruht nicht auf wahrer Stammverwandtſchaft, auf Vererbung gleicher Eigenſchaften von einer gemeinſamen Stammform, ſon— dern vielmehr auf der Convergenz von Formen, welche ſehr verſchiedene diver— gente Ausgangspunkte beſitzen, welche aber in Folge von Anpaſſung an gleiche Exi— ſtenz-Bedingungen ſich bis zur Berührung genähert haben. Meine eigenen, auf ein ſehr reiches Beobachtungsmaterial gegründeten Unterſuchungen haben mich zu der Über— zeugung geführt, daß Akraspeden und Kraspedoten verſchiedenen Urſprungs und in ähnlicher Weiſe aus zweierlei ver— ſchiedenen Polypen-Gruppen hervorgegan— gen ſind. Die Akraspeden beſitzen ganz allgemein und ohne Ausnahme Gaſtral— Filamente (Magenfäden) und, nach Hertwig, entodermale Gonaden (d. h. Geſchlechtsdrüſen); dagegen fehlt ihnen ein echtes Segel, ſie ſtammen ſowohl ontogenetiſch als phylogenetiſch ab von Be— cher-(Skypho-) Polypen, d. h. von Poly: pen, deren Magenraum durch vier in ter— radiale Taeniolen (oder vorſpringende longitudinale Leiſten der Magenwand) in vier perradiale peripheriſche Niſchen ge teilt wird (Scyphistoma, Stephanoscy- phus, Spongicola). Man kann daher die Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Akraspeden auch als Skyphomeduſen 311 (Ray-Lankeſter) bezeichnen; ihre charak— teriſtiſchen Gaſtral- Filamente entwickeln ſich (gleich denjenigen der ſtammverwand— ten Korallen) aus den Taeniolen der Sky— phopolypen. Auf der andern Seite fehlen jene typiſchen Gaſtral-Filamente gänzlich den Kraspedoten, welche aber dafür ſtets ein echtes Velum und (nach Hertwig) exodermale Gonaden beſitzen; die Kras pedoten ſtammen ſowohl ontogenetiſch als phylogenetiſch ab von Hydropolypen, d. h. von Polypen, deren Magenwand keine in— terradialen Täniolen bildet und deren Magenraum daher einfach iſt. Die Kras— pedoten werden deshalb mit Recht als „Hydromeduſen“ bezeichnet (Bietor Carus). Die Phylogenie der Neſſeltiere (Acalephae oder Cnidariae — Zoophyta oder Coelenterata im engeren Sinne! —) dürfte mithin jetzt in der Geſtalt des nach- folgenden Stammbaumes ihren naturge— treuen Ausdruck finden: Die gemeinſame Stammform bilden Hydropolypen oder Hydrarien einfachſter Art, nahe verwandt der heutigen Hydra. Aus dieſer entwickel- ten ſich zunächſt als zwei divergirende Haupt— gruppen einerſeits die Hydropolypen (ohne Taeniolen), anderſeits die Skyphopolypen (mit Taeniolen). Aus verſchiedenen Grup— pen der Hydropolypen entwickelten ſich einerſeits die Hydromenen (die Hydro— korallen, die eigentlichen Sertularien ꝛc.), d. h. Hydropolypen, welche niemals Medu— ſen bilden, anderſeits die Kraspedoten oder Hydromeduſen. In ganz analoger Weiſe entwickelten ſich aus verſchiedenen Gruppen der Skyphopolypen einerſeits die Korallen oder Anthozoen, welche niemals Meduſen bilden, anderſeits die Akraspeden oder Skyphomeduſen. Von den Kraspe— 312 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. doten (und zwar von der Ordnung der wandten der Ktenophoren ſind heutzutage Anthomeduſen) find phylogenetiſch ſo- noch die Pteronemiden (Ctenaria, Gem- wohl die Ktenophoren als die Siphono- | maria), diejenigen der Siphonophoren hin— phoren abzuleiten, die nächſten Stammver- gegen die Kodoniden (Codonium, Sarsia).*) Hypothetiſcher Stammbaum der Neſſeltiere— a (Acalephae vel Cnidariae): SIPHONOPHORAE | Cubomedusae Discomedusae CTENOPHORAE | Peromedusae Trachomedusae | | | Ephyroniae | RUN | 8 Cpbyra) Narcomedusae Anthomedusae Stauromedusae f Leptomedusae i | Trachylinae Leptolinae : Tesseroniae (Tessera) —ͤͤ —é •—„D—— TE ee — — 8 Craspedotae Acraspedae (Hydromedusae) (Seyphomedusae) HyYDROMENAE | CORALLA (Sertulariae) i (Anthozoa) 5 (Hydrocoralla) | 50 Hydropolypi - Scyphopolypi (Hyarostoma) f (Seyphostoma) | ah: | HyYDRARIA (Hydra) Gastraea Wenn demnach die Abſtammung beider wegs, daß der Begriff Meduſe deshalb Meduſen-Legionen von verſchiedenen Poly- als ſolcher aufzugeben ſei. Vielmehr wird pengruppen gegenwärtig als höchſt wahr— es s für das Syſtem (welches als ſolches ſcheinlich, wenn nicht als ſicher, angeſehen 7 ee mein „Syſtem der Medufen“, werden darf, jo folgt daraus doch keines— 20, 108. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ja doch mehr oder weniger künſtlich bleiben muß) von Vorteil ſein, die Klaſſe der „Meduſen“, wie es früher geſchah, beizu— behalten, und als zwei „Subklaſſen“ oder „Legionen“ die Kraspedoten (Hydro- medusae) und die Akraspeden (Scypho- medusae) zu unterſcheiden; beide zeigen höchſt intereſſante Analogien in ihrer ſtufen— weiſen Entwicklung. Die Akraspeden oder Skyphome— duſen wurden bisher ganz vorzugsweiſe durch diejenige formenreiche Gruppe von großen und ſchönen Meduſen repräſentirt, welche wir Discomedusae oder Disco- phorae („Scheibenquallen“ im engeren Sinne) nennen ( Rhizostomeae und Semaeostomeae von Agaſſiz). In vielen Werken (auch aus neuerer Zeit) werden die „Ordnungen“ der Akraspeden und Diskomeduſen als identiſch betrachtet. In der That aber bilden die Discomedusae nur eine von den vier Ordnungen der Akraspeden⸗Legion, und dieſer ſtehen als drei gleichwertige Ordnungen gegenüber die Stauromedusae, Peromedusae und Cubomedusae. Allerdings kann man aber auch wieder dieſe drei letzteren in einer Sublegion als Tesseroniae zuſammen⸗ faſſen, und dieſen als zweite Sublegion die Ephyroniae (— Discomedusae) gegen- überſtellen. Die große Anzahl von neuen, zum Teil höchſt merkwürdigen und inter: eſſanten Meduſen, welche ich aus beiden Sublegionen unterſuchen konnte, hat mich zu der folgenden, ganz veränderten Auf— faſſung des Akraspeden-Syſtems geführt. Die Stammgruppe aller Akraspeden bildet die Familie der Teſſeriden, mit der prototypiſchen Stamm-Gattung Tessera und der zunächſt davon abgeleiteten Tes- serantha. Tessera, die einfachſte und Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. 313 älteſte unter allen akraspeden Meduſen, gleicht im weſentlichſten einem freiſchwim— menden Skyphoſtoma-Polypen, deſſen „Mundſcheibe“ oder Periſtom ſich zu einer konkaven „Subumbrella“ vertieft hat und an vier interradialen Knotenpunkten (oder „Septalknoten“) mit den vier Tae- niolen oder gaſtralen „Längsleiſten“ der Umbrella verwachſen iſt. Dadurch zerfällt der geſammte, urſprünglich einfach becher- förmige Gaſtralraum in einen einfachen Zentralmagen und vier weite peripheriſche „Magentaſchen“; letztere ſind noch nicht durch vollſtändige Septa, ſondern blos durch jene vier interradialen Hauptknoten, die primären Septalknoten oder „Ver— wachſungsknoten“, von einander getrennt. An der Axialſeite dieſer letzteren entwik— keln ſich die Gaſtralfilamente und die Ge— ſchlechtsdrüſen; und zwar ſitzt urſprüng⸗ lich an der Axialſeite jedes der vier Haupt⸗ knoten nur ein einziges einfaches Gaſtral— filament, und unmittelbar davor eine einfache hufeiſenförmige Gonade, deren Konvexität nach innen, deren beide Schenkel nach außen gegen den Schirmrand gerich— tet ſind und gewöhnlich den Hauptknoten umfaſſen. Tessera beſitzt noch keine Sinnes⸗ kolben oder „Randkörper“, ſondern an deren Stelle acht einfache Tentakeln (vier perradiale und vier interradiale). Die nahe verwandte Tesserantha beſitzt außerdem noch acht adradiale Tentakeln, ſowie im Magen zahlreiche Gaſtralfilamente, welche in Doppelreihen auf den vier interradialen Taeniolen aufſitzen. | Unter den bisher bekannten Akraspe⸗ den gab es nur eine einzige Art, welche dieſen beiden Teſſeriden nächſt verwandt iſt und ſich ihnen unmittelbar anſchließt, nämlich das Depastrum cyathiforme 40 314 Goſſe, welches zuerſt von Sars als Lu- cernaria cyathiformis, ſpäter von All- mann als Carduella cyathiformis be- ſchrieben wurde. In allen weſentlichen Ver— hältniſſen der Organiſation mit Tessera und noch mehr mit Tesserantha überein- ſtimmend, unterſcheidet ſich Depastrum durch die große Zahl der Tentakeln, welche am Schirmrande in mehreren Reihen über— einanderſtehen, ſowie namentlich dadurch, daß der Schirm mittelſt eines langen, aboralen Stieles am Meeresboden befeitigt iſt. Die nahe verwandte, ebenfalls feſt— ſitzende Depastrella hat nur eine einzige Reihe von Tentakeln. An dieſe primitiven und höchſt inſtruk— tiven Teſſeriden, welche für alle Akras— peden den phylogenetiſchen und morpholo— giſchen Ausgangspunkt bilden, ſchließen ſich unmittelbar die nächſtverwandten Lu— zernariden an, die durch die Monogra— phien von Keferſtein, Clark, Kling, Taſchen— berg u. a. neuerdings ſo genau bekannt ge— worden ſind. In allen weſentlichen Ver— hältniſſen des Körperbaues ſtimmen die Luzernariden mit den Teſſeriden überein, unterſcheiden ſich aber dadurch, daß die acht urſprünglichen Prinzipal-Tentakeln (vier perradiale und vier interradiale) ent— weder in „Randanker“ umgewandelt oder verloren gegangen ſind. Hingegen iſt der Schirmrand zwiſchen denſelben in acht adradiale hohle Randlappen oder „Arme “ausgezogen, deren jeder ein Büſchel von hohlen, geknöpften Tentakeln trägt. Die beiden Familien der Teſſeriden und Luzernariden konſtituirenzuſammen die Akraspeden-Ordnung der Staurome— dusae, die ſich von den drei übrigen Ord— nungen durch die urſprüngliche Ein— fachheit ihrer Organiſation unterſcheidet, Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. namentlich aber durch den Mangel be— ſonderer Sinneskolben. Die drei anderen Ordnungen beſitzen allgemein ſol— che Sinneskolben („Randkörper“ oder Rhopalia); dieſe ſind phylog enetiſch aus den Prinzipal-Tentakeln der Tessera (und ihres Stamm-Polypen Scyphostoma) entſtanden, und beſtehen aus einer eigentümlichen Verbindung eines akuſtiſchen und eines optiſchen Organes (Otolithen-Sack und Ocellus). Die Pero— meduſen beſitzen vier interradiale Sinneskolben (in den Radien der Tae— niolen und Gonaden), die Kubomeduſen hingegen vier perradiale Sinnes— kolben (in den Radien des Mundkreuzes und der Mittellinien der vier Magentaſchen), die Disko me duſen endlich acht oder zahlreiche Sinneskolben (vier perra— diale und vier interradiale, oft dazu noch viele acceſſoriſche). Von Tessera, der oftonemalen Stamm: form aller Akraspeden (und zunächſt der Stauromeduſen), laſſen ſich die Stammformen der drei anderen Ordnun— gen mit Leichtigkeit ableiten. Pericolpa, die Stammform der Peromeduſen (mit vier interradialen Sinneskolben und vier perradialen Tentakeln) iſt aus Tessera dadurch entſtanden, daß ſich die vier interradialen Tentakeln der letzteren in Rhopalien verwandelten. Procharagma, die Stammform der Kubomeduſen (mit vier perradialen Sinneskolben und vier interradialen Tentakeln), entwickelte ſich umgekehrt aus Tessera dadurch, daß deren vier perradiale Tentakeln ſich in Rhopa— lien umbildeten. Ephyra endlich, die Stammform der Diskomeduſen, hat ſich von Tessera am weiteſten entfernt, indem alle acht Tentakeln derſelben zu Sinnes— kolben ſich geſtalteten, in der Mitte zwischen dieſen entwickelten ſich acht ſukkurſale, ad— radiale Tentakeln (Nausithoe, Pelagia ꝛc). hin als drei divergirende Hauptäſte des Akraspeden-Stammes, aus deſſen gemein— ſamer Wurzelgruppe, den Stauromeduſen, phylogenetiſch abzuleiten, und zwar bildet deſſen urſprüngliche Stammform das Teſſe— ridengenus Tessera (eine freiſchwimmende oftonemale Scyphoſtomaform). Obwohl die Ontogeneſe der drei Teſſeronien-Ord— nungen zur-Zeit noch völlig unbekannt iſt, ſo läßt ſich doch vorausſagen, daß ſie alle während ihrer individuellen Entwicklung ein Tessera-förmiges Stadium durchlaufen werden (Tesserula); in ähnlicher Weiſe, wie alle Ephyronien (oder Diskomeduſen) ein Ephyra-förmiges Stadium durchlaufen (Ephyrula). Die Peromeduſen bilden eine höchſt merkwürdige und eigentümlich entwickelte Akraspeden-Ordnung, die bisher ſo gut wie unbekannt war. Die Abbildungen der Charybdea periphylla von Péron und Leſueur, ſowie der Charybdea bicolor von Quoy und Gaimard, zeigen nur leere Gallertſchirme von Peromeduſen. Die einzige Abbildung (ohne Beſchreibung), welche einen Teil ihrer Organiſation (ſehr unvollſtändig und teilweiſe falſch) zeigt, iſt diejenige, welche Mertens gegeben und Brandt als Dodecabostrycha dubia aufgeführt hat. Ich konnte zahlreiche wohl— erhaltene Peromeduſen genau unterſuchen, darunter koloſſale Tiefſeemeduſen der Challenger-Expedition. Sie zerfallen in zwei Familien: I. Pericolpidae: mit vier perradialen Tentakeln, vier interradialen Sinneskolben und acht adradialen Rand— Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 315 lappen (Pericolpa, Perierypta) — und II. Periphyllidae: mit zwölf Tentakeln (vier perradialen und acht adradialen), Die drei Ordnungen der Peromeduſen, Konomeduſen und Diskomeduſen ſind mit mit vier interradialen Sinneskolben und ſechzehn Randlappen, die mit jenen alter— niren (Peripalma, Periphylla). Die Sin⸗ neskolben ſind ähnlich wie bei Nausithoe gebaut. Bei allen Peromeduſen iſt das Gaſtrokanalſyſtem von höchſt eigentüm— lichem Bau. Der weite Magen zerfällt in drei Abteilungen, einen Baſalmagen (mit vier interradialen Taeniolen und Filament— reihen), einen Zentralmagen (mit vier per— radialen Oſtien) und einen Buckalmagen (mit vier perradialen Backentaſchen); leb- terer ragt als muskulöſes „Mundrohr“ frei in die Schirmhöhle hinein. Die vier perradialen Oſtien des Zentralmagens führen in einen koloſſalen ( der Sub— umbrella umfaſſenden Ringſinus; die Tei— lung des letzteren in vier weite Magen— taſchen (homolog jenen der Charybdeiden) wird nur dadurch angedeutet, daß ſeine Subumbralwand durch vier interradiale Septalknoten (in der Mitte der Sinus— höhe) mit der Umbralwand des Schirms verwächſt. Beiderſeits dieſer „Verwach— ſungsknoten“ entwickeln ſich in der Sub— umbralwand des Ringſinus die Gonaden (in Form von vier Paar wurſtförmigen Geſchlechtswülſten). Vom unteren oder oder oralen Rande des Ringſinus gehen Taſchen in die Randlappen, ſowie Kanäle in die hohlen Tentakeln und Sinneskolben hinein. Ein mächtiger marginaler Ring- muskel bildet ein Velarium mit acht oder ſechzehn Feldern. Die Kubomeduſen zerfallen in zwei Familien, Charybdeiden und Chirodropi— den. Die Charybdeiden haben vier ein— fache interradiale Tentakeln und keine 316 Taeniolen an der Umbralwand der vier Magentaſchen; bald iſt ihr Velarium (oder Pſeudovelum) einfach, ohne Velarkanäle und ohne Frenula (Procharagma, Pro- charybdis), bald von Velarkanälen durd)- zogen und durch vier perradiale Frenula an die Subumbrella angeheftet (Charyb- dea, Tamoya). Die Chirodropiden haben vier interradiale Tentakelbüſchel, ſowie fingerförmige oder büſchelförmige Täniolen an der Umbralwand der vier Magentaſchen (Chirodropus, Chiropsalmus). Die drei Ordnungen der Staurome— duſen, Peromeduſen und Kubomeduſen können in der Sublegion der Tesseroniae zuſammengefaßt werden, weil ſie den ur— ſprünglichen Teſſeracharakter der Akras— pedenform viel getreuer konſervirt haben, als die Discomedusae. Bei allen Tesse- roniae iſt der Schirm hochgewölbt, koniſch oder vierſeitig-pyramidal, und die Gonaden entwickeln ſich zentrifugal, in der Sub— umbralwand der vier weiten Magentaſchen; ſie haben entweder gar keine Sinneskolben (Stauromedusae) oder nur vier (Pero- medusae und Cubomedusae). In der Jugend durchlaufen ſie wahrſcheinlich alle die Teſſeraform (Tesserula). In dieſen und anderen wichtigen Be— ziehungen erſcheinen die Discomedusae, welche wir als Ephyroniae den Tessero— niae gegenüberſtellen, viel weiter von der Teſſeraform entfernt. Bei allen Ephyro- niae iſt der Schirm flachgewölbt, ſcheiben— förmig abgeplattet, und die Gonaden ent— wickeln ſich zentripetal in der Subumbral- wand des Magens ſelbſt; fie haben min- deſtens acht Sinneskolben, oft noch mehr. In der Jugend durchlaufen ſie wahrſchein— lich alle die Ephyraform (Ephyrula). Die Ephyronien oder Diskomeduſen zerfallen Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. in drei Unterordnungen: I. Cannostomae: mit einfachem, vierſeitig prismatiſchen Mundrohr (Ephyridae, Nausithoidae, Atollidae ꝛc.). II. Semostomae: mit vier faltigen Mundlappen (Pelagidae, Cyanei- dae, Aurelidae 2c.). III. Rhizostomae: mit verwachſenen Mundarmen (Cepheidae, Leptobrachidae, Crambessidae 2c.). Syſtem der Akraspeden-Legion. (Scyphomeduſen oder Phanerokarpen). Meduſen mit Gaſtralfilamenten und mit entodermalen Gonaden, ohne echtes Velum. I. Sublegion: Tesseroniae. Akras⸗ peden ohne Sinneskolben oder mit vier Sinneskolben; ſtets mit vier weiten Ma⸗ gentaſchen. Gonaden in der Subumbral- wand der Magentaſchen, mit zentrifugalem Wachstum. Schirm hochgewölbt, koniſch. Phylogenetiſche Stammform und onto— genetiſche Larvenform: Tessera. I. Ordnung: Stauromedusae. Keine Sinneskolben. Gonaden vier hufeiſenför— mige Geſchlechtsdrüſen (oder acht adradiale Wülſte) in der Subumbralwand der vier Magentaſchen. — 1. Familie: Tesseridae. Keine Randlappen, acht oder ſechzehn ein: fache Tentakeln (oder zahlreiche Tentakeln) am Schirmrande. (Genera: Tessera, Tes- serantha, Depastrella, Depastrum.) — 2. Familie: Lucernaridae. Acht adradi- ale hohle Randlappen (oder Arme), deren jeder ein Tentakelbündel trägt. (Genera: Lucernaria, Haliclystus, Halimocya- thus, Craterolophus.) II. Ordnung: Peromedusae. Vier interradiale Sinneskolben. Vier Magen: taſchen zu einem weiten Ringſinus zuſam⸗ mentretend, nur durch vier einfache Ver— wachſungsknoten getrennt. Vier Paar wurſtförmige Gonaden in der Subumbral- wand des Ningſinus.— 3. Familie: Peri- Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. colpidae: vier perradiale Tentakeln, acht adradiale Randlappen. (Genera: Peri— colpa, Pericrypta.) — 4. Familie: Peri- phyllidae: zwölf Tentakeln (vier perradi- ale und acht adradiale), ſechzehn Rand— lappen. (Genera: Peripalma, Periphylla.) III. Ordnung: Cubomedusae. Vier perradiale Sinneskolben, vier interradiale Tentakeln oder Tentakelbüſchel. Gonaden vier Paar Geſchlechtsblätter, welche längs der interradialen Septa befeſtigt ſind und frei in die Magentaſchen hineinragen. — 5. Familie: Charybdeidae: vier einfache interradiale Tentakeln mit oder ohne Pe— dalien. Keine Taeniolen an der Umbral— wand der Magentaſchen. (Genera: Pro- charagma, Procharybdis, Charybdea, Tomoya.) — 6. Familie: Chirodropidae: vier interradiale Pedalien, deren jeder ein Tentakelbüſchel trägt. Einfache fingerför— mige oder zuſammengeſetzte büſchelförmige Taeniolen an der Umbralwand der Magen: taſchen. (Genera: Chiropsalmus, Chiro- dropus.) II. Sublegion: Ephyroniae. Akras⸗ peden mit acht oder mehr Sinneskolben (vier perradialen und vier interradialen, oft noch acceſſoriſchen). 16— 32 oder mehr Magentaſchen (oder Radialkanäle). Go⸗ naden in der Subumbralwand des Magens, mit zentripetalem Wachstum. Schirm flach— gewölbt, ſcheibenförmig. Phylogenetiſche Stammform und ontogenetiſche Larven— form Ephyra. IV. Ordnung: Discomedusae. (L. Un⸗ terordnung: Cannostomae. II. Unterord— nung: Semostomae. III. Unterordnung: Rhizostomae.) | | | | | 0 317 Das Bruftbein der Dinosaurier. Wie Prof. O. C. Marfh, der uner- müdliche Erforſcher der vorzeitlichen Tier- welt Amerikas, berichtet, hat das Pale— Muſeum neuerlich ein nahezu vollſtändiges Skelett von Brontosaurus excelsus, ei⸗ nem der größten bekannten Dinoſaurier, erhalten. Dieſes mächtige Gerippe befand ſich nahezu in der Lage, in welche die Knochen beim Tode naturgemäß fallen mußten, und glücklicherweiſe war der Schulterbogen in ausgezeichneter Erhal— tung befindlich. Die Rabenbeine befanden ſich jederſeits in Verbindung mit ihren re— ſpektiven Schulterknochen, und zwiſchen ihnen lagen zwei platte Knochen, die offen— bar zum Bruſtbein gehört haben. Dieſe ebenſo intereſſante als unerwartete Ent— deckung hebt die Hauptunſicherheit hinſicht— lich des Schultergürtels der Dinoſaurier und zeigt außerdem eine neue, bisher bei erwachſenen Tieren niemals beobachtete Stufe in der Entwicklung dieſer Bildung an. Dieſe beiden Bruſtbeinknochen ſind im Umriß faſt oval, oben konkav und un— ten konvex. Sie ſind gepaart und in ihrer urſprünglichen Stellung nahezu oder voll- ſtändig in der Mittellinie mit einander verbunden. Das vordere Ende jedes Kno— chens iſt beträchtlich verdickt und es iſt dort eine deutliche Facette für die Ver— bindung mit dem Rabenbein vorhanden. Das hintere Ende iſt dünn und unregel— mäßig. Der innere vordere Rand jedes Knochens iſt glatt und gerundet und macht eine Verbindung mit einem epiſternalen Ele⸗ mente nicht wahrſcheinlich, ſo den Mangel | eines ſolchen erklärend. Sie waren augen— ſcheinlich durch Knorpel von den Raben- beinen getrennt. Vielleicht die nächſte Ana— 4 318 logie zu dieſem Bruſtbein wird unter den lebenden Tieren bei unausgebildeten Vö— geln angetroffen. Eine ſtarke Ahnlichkeit iſt in dem Schultergürtel des jungen amerikaniſchen Straußes bemerkbar. Wenn die Verknöcherung des Bruſtbeins bei dem— ſelben auf dieſer frühen Stufe beharrte, würde faſt genau die bei der Gattung Brontosaurus beobachtete Bildung erhal— ten werden, und dies iſt offenbar die echte Erklärung der foſſilen Bildungen. Es iſt mehr als wahrſcheinlich, daß bei vielen Dinoſauriern das Bruſtbein lange knorplig oder ſo unvollſtändig verknöchert blieb, daß es gewöhnlich nicht erhalten iſt. Ei— nige Exemplare der Gattung Camptonotus, die nahezu in ihrer natürlichen Lage ge— funden wurden, ermangelten anſcheinend eines verknöcherten Bruſtbeins. Die be— deutende Größe und das zweifellos an— ſehnliche Alter des oben erwähnten Bronto— saurus-Exemplars mag vielleicht die Ur— ſache der vollkommenen Entwicklung ſeines Bruſtbeins geweſen fein. (American Jour- nal of Science. May 1880.) Ein fünfzehiger Naubvogel. Im Dezember vorigen Jahres wurde in hieſiger Gegend beim Treiben ein wohl— genährter Rauchfußbuſſard (Archibu- teo lagopus J.) geſchoſſen und mir vorge: zeigt. Der Wintergaſt war ein ganz nor— males Exemplar bis auf die Füße, welche ſofort durch ihr unſymmetriſches Verhal— ten auffielen. Der linke Fuß glich ganz dem anderer Rauchfußbuſſarde, nur war die Hinterzehe auf ihrer Außenſeite noch mit einer weit kleineren Zehe verſehen, welche jedoch faſt bis zur Krallenwurzel von der Hornbedeckung ihrer Mutterzehe Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. (wenn anders hier Zehenteilung vorliegen mochte) umſchloſſen war; die Kralle der Anhangzehe war halb ſo ſtark wie die andere, und alles deutete darauf hin, daß der Fuß normal funktionirte. Was beim Abſtreifen auffiel, war die etwas ſchwächere Entwicklung der Schenkel- und Unterſchenkelmuskeln, welche die Deutung eines geringern Gebrauchs zuläſſig machte. Der rechte Fuß hat ein merkwürdiges Anſehen: fünf Zehen ſtehen nach vorn, ſo zwar, daß die drei normalen Vorderzehen auf der Innenſeite des Laufes die Geſell— ſchaft von zwei gleich großen, der inneren Vorderzehe ähnlich gebildeten Seitenzehen, welche bedeutend höher hinaufgerückt ſind und eigentlich eine Hinterzehe hätten wer— den ſollen, erhalten haben. Dieſe abnor— men Zehen hängen als nicht funktioni— rendes, überflüſſiges Anhängſel vom Lauf herab. Der letztere iſt doppelt ſo ſtark als am linken Fuße und hinten breit abge— plattet. Die Nacktheit und ſonſtige auf ſtarken Gebrauch hinweiſende Beſchaffen— heit der hintern Laufſeite beweiſt, was ich der Mitteilung wert erachte, daß dieſer Vogel auf der ganzen Sohle des rechten Laufes geſeſſen haben muß. Die Schenkel— muskeln ſind demgemäß höchſt kräftig ent— wickelt geweſen, und die lange und dichte Befiederung des Unterſchenkels zeigt durch ihr Abſtehen an der Ferſenbeuge, daß die Ferſe zum Tragen des Körpers benutzt wurde; der rechte Lauf iſt kürzer als der linke. Bei dem Mangel einer Hinterzehe als ſolcher, d. h. als eines zangen- oder daumenartig ſich den Vorderzehen entgegen— ſetzenden, den Fuß zum Greiforgan ſtem— pelnden Gliedes, kann der rechte Fuß nur zum Sitzen, nicht aber zum Ergreifen der Beute gedient haben. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Der zierliche linke Fuß mag leicht da— neben geſetzt worden oder, was mir wahr— ſcheinlicher iſt, in die Bauchfedern zurück— gezogen worden ſein; er diente als Greif— fuß zum Erhaſchen der Beute, welche faſt ausſchließlich aus kleineren Nagern beſteht. Mißgeboren, wie er war, mußte alſo unſer Vogel eine ſeltene Arbeitsteilung eintreten laſſen, indem er den rechten Fuß zum Dar— aufruhen, den linken aber zum Fangen der Beute benutzte. Mainz. W. von Reichenau. Die vorhiſtoriſche Zeit in Eguplen. Die archäologiſchen Unterſuchungen der Gräber aus der „alten Zeit“ haben bekannt lich ergeben, daß Egypten damals ein un— gemein fruchtbares, herdenreiches Land geweſen, ähnlich wie das altteſtamen— tariſche Paläſtina in den Zeiten der Erz— väter, und erſt nachher durch einen im geſammten Morgenlande ſichtbaren Klima— wechjel*) zu einem trockenen, einzig auf die Befruchtung durch den Nil angewieſenem Lande geworden ſei. Für dieſen Erfah— rungsſchluß hat neuerlich Delamotte, einer der gründlichſten Kenner Egyptens und der alten Geographie in dem Bulletin de la societ€ de geographie commerciale 1880 neuere Beweiſe erbracht, denen wir das Folgende entnehmen. Er weiſt zu— nächſt nach, daß der Nil urſprünglich keines- wegs der einzige Strom dieſes Landes ge⸗ weſen, ſondern daß das prähiſtoriſche Egypten eine Menge anderer Flüſſe ge- *) Vgl. Kosmos, Bd. IV, S. 506. 319 habt habe, welche jedoch ſeit Jahrtauſenden ausgetrocknet ſind. Nur ihre Flußbetten ſeien übrig geblieben und würden ſelbſt noch von den heutigen Egyptern Bahr-El⸗ Abjad, d. h. Flüſſe ohne Waſſer genannt. Jetzt ſeien dieſe ausgetrockneten Flußbet— ten nichts als große Sandlager, in denen Linant und Somard ebenſo große La— ger von Flußkonchylien vorgefunden haben. Im Zuſammenhange mit dieſem Flußreich— tum des prähiſtoriſchen Egyptens hat na— türlich auch eine größere Fruchtbarkeit des Bodens und reichere Bevölkerung beſtan— den. In prähiſtoriſcher Zeit war nach De— lamotte die geſammte Ebene von Kar— tum, mit einer Senkung von 16 Metern, ein großer See, aus welchem der Nil ent— ſprang. Die Katarakte waren vor Jahr— tauſenden ungleich höher, ihre Granit— und Porphyrdämme hielten den Strom auf und teilten die Waſſermaſſen in viele kanalartige Nebenarme, welche rechts und links von dem Nil ausſtrömten und das Land bewäſſerten. Dieſe Felſendämme ver- loren jedoch ſeit zwei bis drei Jahrtauſen— den an Maſſe und Höhe, ſo daß die Neben— ſtröme verſiegten und verſandeten, und das Waſſer nur noch in das Nilbett ſelbſt ſich ergoß. Um die jetzigen Bahr-El-Abjad wieder mit Waſſer zu füllen und das Land von neuem zu befruchten, ſchlägt Dela— motte vor, die Felſendämme der Kata— rakte wieder zu erhöhen und Schleuſen zu bauen, wozu natürlich vorher die genaueſte Landesaufnahme durch geſchickte Inge— nieure erforderlich ſein würde. — r. Guido Hauck, Profeſſor der de— ſkriptiven Geometrie und Graphoſtatik an der königlich techniſchen Hochſchule zu Berlin. Die ſubjektive Per— ſpektive und die horizontalen Kur vaturen des doriſchen Styles Eine perſpektiviſch-äſthetiſche Studie. Eine Feſtſchrift zur fünfzig— jährigen Jubelfeier der techniſchen Hoch— ſchule zu Stuttgart. Stuttgart. Ver— lag von Konrad Wittwer. 1879. XII u. 147 Seiten, 2 Tafeln. Die mathematiſche Aſthetik iſt noch eine ſehr junge Wiſſenſchaft und noch dazu eine ſolche, deren Charakter als Wiſſenſchaft nicht einmal allſeitig anerkannt wird. In Ulrieiszeitſchrift für Philoſophie hat erſt vor kurzem eine Autorität erſten Ranges, Schlömilch, die Anſicht ausgeſprochen, daß es völlig hoffnungslos ſei, mathema— tiſche Prinzipien auf die Geſetze der Schön— heitslehre anwenden zu wollen; eine Dis— ziplin ſchließe die andere aus. Die Extra— vaganzen Zeiſings, von denen dieſer hochverdiente Mann ja durchaus nicht frei— zuſprechen iſt, mögen ein ſo herbes Urteil wohl guten Teils hervorgerufen haben. Immerhin hoffen wir, daß daſſelbe ge— eignete Kräfte nicht abhalten werde, ſich Literatur und Kritik. immer von neuem an den hier vorliegenden — ſchwierigen Problemen zu verſuchen und ſo vielleicht durch die That den Beweis zu erbringen, daß Schlömilchs Auf— faſſung eine allzu ſkeptiſche geweſen ſei. Jene drei Entwicklungsſtufen, welche wir bei einem nahe verwandten Gegen— ſtande “), nämlich bei der mechaniſchen Theorie der Blattſtellung, unterſchieden haben, finden wir bei genauerem Zuſehen auch hier vor. Wer als der erſte Streif—⸗ züge auf ein Grenzgebiet zweier weit aus— einander liegenden Wiſſenſchaften unter- nimmt, bleibt notwendigerweiſe leicht an Außerlichkeiten kleben und nimmt als höch— ſtes und einzig maßgebendes Grundgeſetz eine zunächſt dem Auge ſich darbietende, häufig wiederkehrende Erſcheinung, die aber ſelbſt wieder nur eine der vielen Mani- feſtationen einer viel weiter zurückliegenden Norm darſtellt, die wiederum als Unter— fall in einer noch mehr verborgenen Ge— ſetzmäßigkeit enthalten ſein kann. So iſt es Zeiſing mit ſeinem Geſetze des gol— denen Schnittes ergangen, an welchem zweifellos ſehr viel Wahres iſt. Gewiß ) Vergl. unſern Aufſatz in dieſer Zeit— ſchrift, „Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers“, Bd. IV, S. 270 ff. würde daſſelbe weit früher und energiſcher zu allgemeiner Anerkennung durchgedrun— gen ſein, wenn nicht der geiſtreiche Forſcher ſeine Leiſtung in allerdings ſehr verzeih— licher Weiſe überſchätzt und nun etwas kritiklos“), insbeſondere aber ohne jede Rückſicht auf mechaniſche Kauſalität, all- überall nach Bethätigungen ſeines Geſetzes geſucht und ſolche auch zu finden geglaubt hätte.“) Einen wichtigen Nachtrag zu Zeiſings Ergebniſſen lieferte ſodann P. Langer in ſeiner Schrift: „Die Grund— probleme der Mechanik“ (Halle 1878), in- dem er, den Zeiſingſchen Satz mit den Gra— vitationserſcheinungen verknüpfend, den Nachweis führte, daß eine nach äußerer und innerer Proportion geteilte Strecke nicht unter allen Umſtänden äſthetiſch gün— ſtig wirke, ſondern nur dann, wenn ihre Richtung eine vertikale ſei, ſchritt er ge— wiſſermaßen von der erſten zur zweiten Stufe vor; die empiriſch an einzelnen Fällen erkannte Wahrheit war, mit den nötigen Einſchränkungen allerdings, als kauſal ge— rechtfertigt erkannt worden. Die dritte Stufe haben wir heute noch nicht erreicht, ) Vergl. den Aufſatz des Verf.: „Adolph Zeiſing als Mathematiker.“ (Zeitſchr. f. Math. u. Phyſ., 21. Bd. Hiſt. liter. Abth., S. 157 ff.) ) Es wird indes nicht zu leugnen ſein, daß der feinſinnige Mann bei aller Kühuheit ſeiner Konzeptionen doch hie und da auch in Materien, die ſich gegen feſte Regeln irgendwel— cher Art ſehr ſpröde zu verhalten ſcheinen, das richtige getroffen hat. So hat jüngſt Lehnbach in den „Jahrb. f. Philol. u. Pädag.“ auf eine merkwürdige Beſtätigung des Zeiſingſchen Satzes hingewieſen: bei der überwiegenden Mehrzahl als gut anerkannter Hexameter liegt die ſoge— nannte Zäſur nicht etwa in der Mitte, ſondern ſie teilt den Vers in zwei Teile von der Länge a und b jo, daß wirkliche die Proportion (a + b) : a an b mit großer Annäherung zu recht beſteht. Literatur und Kritik. 321 ein Werk, wie das Schwendenerſche, welches die mathematiſche Botanik auf durchaus rationeller, d. h. mechaniſcher Ba— ſis begründet, iſt auf dem Gebiete der ma— thematischen Aſthetik noch nicht geſchrieben worden und wird auch ſobald noch nicht ge— ſchrieben werden. Um ſo dankbarer aber hat man zu ſein für jede Leiſtung, welche uns wenigſtens wieder um ein Stück vorwärts bringt und Bauſteine zu dem künftig aufzu— richtenden Gebäude ſo weit herrichtet, daß ſie dereinſt nur am paſſenden Ort verwendet zu werden brauchen. Ein Buch dieſer Art iſt das vorliegende, deſſen Verfaſſer als ſcharf— ſinniger Geometer bereits ſich bekannt ge— macht hatte, ehe man noch von ihm wußte, daß er auch in künſtleriſcher Hinſicht in dem Maße das Zeug beſitze, wie wir es jetzt durch ſeine Schrift erfahren, und wie es freilich auch zur Löſung ſeiner Doppel— aufgabe unumgänglich nötig war. Schon die Erwägung, daß faſt alle hervorragen— den Künſtler früherer Zeit, ein Jan van Eyck, Brunelleschi, Raffael“), Dürer, auch als beſonders gründliche Ken— ner des perſpektiviſchen Zeichnens gerühmt werden, mußte den Gedanken nahe legen, daß nicht blos die formale Weiterausbil— dung der perſpektiviſchen Methoden, ſon— dern auch die Unterſuchung der perſpekti— viſchen Grundgeſetze mit Bezug auf deren äſthetiſche Bedeutung Pflicht der Wiſſen— ſchaft ſei. Nach dieſer letzteren Richtung hin nun hat Herr Hau d ſein Arbeitsgebiet 5 Bezüglich dieſes in allen Sätteln gerech— ten Malers kann man neue und intereſſante Aufſchlüſſe vergleichen, welche Pietro Riccardi in feinen „Cenni sulla storia della geodesia in Italia dalle prime epoche fin oltre alla metä del secolo XV“ (Modena, 1879, p. 47 ff.) gegeben hat. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 4. ee 1 322 gelangt, welche, ſofern ſie auch teilweiſe nur als vorläufige betrachtet werden dür— fen, doch immer von jedem Freunde exak— ter Forſchung gekannt zu werden verdienen. Bekanntlich beruht die geometriſche Perſpektive weſentlich auf dem Prinzipe der ſogenannten Camera obscura, die Pupille wird als Punkt angenommen, durch welchen die Lichtſtrahlen hindurchpaſſiren, um dann auf der Netzhaut des Auges ein zwar verkehrtes, aber ſonſt in allen Teilen dem Licht entſendenden Gegenſtande ähn— liches Bildchen zu entwerfen. Für prak— tiſche Zeichnungszwecke reicht die durch dieſe Hypotheſe gewährte Genauigkeit denn auch vollſtändig hin, allein hier, wo es ſich um den Urgrund aller bezüglichen Erſcheinungen, handelt, müſſen auch die Modalitäten des Sehprozeſſes einem eingehenden Studium unterzogen werden. Dies thut denn unſer Verfaſſer auch, geſtützt auf eine Reihe be— kannter Wahrheiten der phyſiologiſchen Optik, wie man ſie hauptſächlich Helmholtz und Wundt verdankt. Das Auge iſt kein ruhender photographiſcher Apparat, wel— cher die Lichtſtrahlen ohne Aktion ſeiner— ſeits auf ſich wirken ließe, ſondern eine ſich raſch nach allen Richtungen hin bewe— gende Kugel, deren Axe bald der einen, bald der andern Stelle des gerade betrach— teten Objekts zugewandt iſt, ſo daß das Netzhautbild durchaus nicht immer Ge— ſichtsvorſtellungen zu erzeugen braucht, welche mit ſeiner eigenen Form überein— ſtimmen. Der ſehr komplizirte Mechanis— mus der Augenbewegungen wird ſehr aus— führlich beſchrieben, die Augenmuskeln er— möglichen dem Augapfel eine Seitwärts— drehung um eine vertikale und eine Auf— und Abwärtsdrehung um eine horizontale Rotationsaxe, außerdem aber noch eine ſo— Literatur und Kritik. genannte Raddrehung oder Rollung. Dieſe letztere aber ermüdet das Auge am leichte- ſten, und unwillkürlich ſucht es dieſelbe zu vermeiden. Iſt alſo ein Akt der Betrachtung durch die Beſchaffenheit des Betrachteten mit weniger Raddrehungen verbunden, als ein anderer, ſo wird erſterer vom Auge jedenfalls mit mehr Bequemlichkeit und Behagen ausgeführt, als letzterer. Hierin liegt ſchon ein wichtiger Fingerzeig: „Das Auge bevorzugt im Falle freier Wahl die— jenige Bewegung, welche die relativ klein— ſten Raddrehungen bedingt.“ Ein Bild beiſpielweiſe wird unter ſonſt gleichen Um— ſtänden einen verhältnismäßig wohlgefäl— ligen Eindruck hervorbringen, wenn es ſo angelegt iſt, daß das beſchauende Auge zu einem Minimum unangenehmer Drehun- gen ſich gezwungen ſieht, und es kommt darauf an, die für dieſes Verhältnis maß— gebenden Elemente theoretiſch zu fixiren. Bezeichnet man jenen Punkt, in welchem die Axe des normal ſtehenden, d. h. ohne beſondere Muskelanſpannung adjuſtirten Auges die Bildebene trifft, als den Fixa— tionspunkt, ſo wird die Bewegungsrich— tung, welche der am Bilde hingleitende Blick einſchlägt, im allgemeinen durch drei Eigenſchaften eines beſtimmten Bildpunktes beſtimmt, nämlich durch deſſen Entfernung vom Fixationspunkt, von ſeiner Lichtſtärke und von der unmittelbar vorher innegehal— tenen Bewegungsrichtung. Gewiſſe Leit— linien des Bildes müſſen alſo ſo beſchaffen ſein, daß das ihnen folgende Auge zugleich unbewußt nach Bedingungen ſich richtet, welche aus den ſoeben erwähnten Normen abgezogen ſind. Es tritt nun aber noch eine wichtige Eigenſchaft der Augenbewe— gungen hinzu. Durch unmittelbare geome— triſche Betrachtung läßt ſich nämlich zeigen, daß eine gerade Linie, welche das Auge von der oben gekennzeichneten Primärſtel— lung aus verfolgt, auch als gerade Linie geſehen wird, wogegen die Netzhautabbil— dung jeder Geraden, welche das Auge von irgend einer anderen Sekundärſtellung aus durchläuft, gekrümmt wird. Insbeſondere aber erſcheint eine horizontale Linie unter ſolchen Umſtänden konkav gegen die Seh— axe gebogen. Beim binokularen Sehen verhält ſich, wie Hering dargethan hat, im weſentlichſten alles ähnlich; was die Herrſchaft anlangt, welche wir zufolge der Beweglichkeit unſerer Halsmuskeln über unſeren Kopf und damit zugleich über un— ſer Auge ausüben können, ſo wenden wir dieſelbe dazu an, dem letzteren die Einſtel— lung nach der lein ſchärfſtes Fixiren) zu— laſſenden Primärſtellung zu erleichtern. Iſt all' dies wahr, ſo ſieht man that— ſächlich in jedem Augenblicke viele Linien krumm, die in Wirklichkeit gerade und als ſolche uns hinlänglich genau bekannt ſind, um in gewöhnlichen Fällen der betreffen— den Augentäuſchung eingedenk zu werden. Natürlich iſt auch der Betrag dieſer Ver— zerrung ein äußerſt geringfügiger, und es bedarf einer gewiſſen Übung, dieſelbe un— ter beſonders günſtigen Verhältniſſen wahr— zunehmen; hervorgehoben werden vom Verfaſſer zu dieſem Zweck namentlich die Illuminationen. Auch bei vertikalen Linien ergiebt ſich eine Kurvatur, doch wird uns dieſelbe infolge unſeres ſtatiſchen „Bewußt— ſeins“ noch weit weniger leicht zum Be— wußtſein kommen. Auf dieſe neue Auf— faſſung gründet nun der Verfaſſer ſein Prinzip einer verallgemeinerten Perſpek— tive: Unter der Vorausſetzung, daß die Zeichnung eines Gegenſtandes keine ſkla— viſche Kopie, ſondern eine freie Wieder— Literatur und Kritik. 323 N gabe des empfangenen Eindruckes ſein ſoll, kann man von dieſem ſubjektiven An— ſchauungsbilde eines von zwei Dingen verlangen, daß nämlich die ſcheinbare Größe jeder Strecke proportional dem Geſichtswinkel ſein, oder daß die Geſammt— heit gerader Linien des Originales als Komplex gerader Linien ſich reproduziren muß. Unerläßlich bleibt für jede Art der Auffaſſung, daß alle vertikalen Geraden dieſe ihre Eigenſchaft beibehalten und daß die auf der primären Axe ſenkrechte Ge— rade, der Horizont, wieder als horizontale Gerade) erſcheint —im übrigen kann ent- weder das „Prinzip der Konformität“ oder aber das „Prinzip der Kollinearität“ das vorwaltende ſein. Beiden Grundſätzen in ein und derſelben Zeichnung mit mathe— matiſcher Genauigkeit rechnung zu tragen, iſt unmöglich; ſtrenge Durchführung des einen oder andern Prinzipes würde zu Härten und Unregelmäßigkeiten führen, und ſo erwächſt für die wiſſenſchaftliche Zeichnungskunſt neben ihrer bisherigen geometriſch-techniſchen noch eine zweite äſthetiſche Aufgabe, welche der Verfaſſer (S. 41) mit folgenden Worten formulirt: „Die Perſpektive lehrt die Herſtellung von Kompromiſſen in dem Konflikt zwiſchen der Bedingung der Kollinearität und der Konformität — zum Zweck der bildlichen Darſtellung von Naturobjekten.“ Dies wird denn nun weiter im Detail ausgeführt. Um einen konkreten Anhalts— punkt zu gewinnen, wird ein und derſelbe Gegenſtand, eine Doppelreihe prismatiſcher ) Von der richtigen Wahl dieſes Horizontes hängt, wie wir hier des näheren erfahren und wie inſtinktiv wohl ſchon mancher ſelbſt in Ge— mäldegalerien bemerkt hat, der Effekt eines Bil— des in hohem Grade ab. Hauck giebt hierüber den Künſtlern beherzigenswerte Winke. 324 Säulen, das einemal in konformer, das anderemal in kollinearer Perſpektive wie— dergegeben und darauf aufmerkſam ge— Naturtreue entſpreche. Verzerrungen im konformen Sinne werden durchſchnittlich dem geübten Auge minder unſympathiſch ſein, als ſolche im kollinearen. Wir er— halten ſodann einen höchſt intereſſanten Einblick in die Geſchichte der perſpektivi— ſchen Zeichnung, wobei zumal die pom— pejaniſche Wandmalerei Beachtung findet; je ſchärfer die wiſſenſchaftliche Begründung der perſpektiviſchen Lehrſätze wurde, um— ſomehr trat die kollineare Anſchauung in den Vordergrund. Große Künſtler freilich, wie Raffael, wußten durch Ausgleichung der Gegenſätze jenen harmoniſchen Ge— ſammteindruck zu erzielen, welcher ihren Werken in ſo unübertrefflicher Vollkommen— heit eigen, und auch bei modernen Meiſtern kann man in manchen Fällenkonſtatiren, daß und wie ihr Genie dem überwältigenden Einfluſſe des allzuſtarren Kollinearitäts prinzipes ſich entringt. Recht merkwürdig in dieſer Beziehung ſind die Beobachtungen, welche Herr Hauck an einem Gemälde der Berliner Nationalgalerie (Graebs Epi— taphien der Mansfeldſchen Grafenfamilie) angeſtellt hat und an dieſem Orte mitteilt. Ein Exkurs über die — meiſtenteils über— ſchätzte — Mitwirkung der Illuſion und über die Anfertigung von Bildern auf ge— krümmten Oberflächen“) beſchließt den mehr theoretiſchen erſten Teil der Hauck— ſchen Schrift. Literatur und Kritik. es alſo mit Vaſen- oder, wie ſie hier heißen, mit keramiſchen Abbildungen zu thun, ſo drängt erſichtlich das Prinzip des Konformen das Kol- geſchränkter Alleinherrſchaft. Indes folgt demſelben noch ein An— hang „über phyſiſche und pſychiſche For— menfreude“, der, an das frühere an— macht, daß erſteres Bild im allgemeinen mehr als letzteres den Anforderungen der knüpfend, äſthetiſche Fragen an ſich be— handelt und für die Möglichkeit einer Anwendung exakter Beobachtungsweiſen auf Themata der Schönheitslehre plaidirt. Man hat es hier ſelbſtverſtändlich nur mit Aphorismen zu thun, die aber den Keim zu weiterer Ausarbeitung in ſich tragen. So erklärt der Verfaſſer z. B. die bekannte Wahrnehmung, daß aus Kreisbogen zu— ſammengeſetzte Pſeudoellipſen, auch wenn der Fehler ein geringer iſt, einen unſchönen Anblick gegenüber der reinen geometriſchen Form gewähren, dadurch, daß das Auge mit Leichtigkeit eine ſtetige mathematiſche Kurve verfolgt, dagegen die Unſtetigkeits— punkte in der Kontur erſt ſozuſagen über— winden muß. Die Zeiſingſche Teilung nach der sectio aurea wird auf das „Prin— zip der Wiederholung der Geſammtform in den Details“ zurückgeführt — eine Idee, die allerdings noch der tieferen Begrün— dung bedarf, vorläufig jedoch nicht wohl dazu dienen kann, den an ſich richtigen aber viel zu ſpeziellen Satz —worauf oben ſchon angeſpielt worden — einem allgemei— neren Grundgedanken zu ſubſumiren. Die zweite Abteilung unſerer Feſt—⸗ ſchrift verfolgt die Tendenz, durch An— wendung der entwickelnden Grundſätze auf ein ſchwieriges archäologiſches Problem ſowohl deren Verwendbarkeit nachzuwei— ſen, als auch indirekt die Richtigkeit der— ſelben in ein neues Licht zu ſtellen. Im Jahre 1838 machte Profeſſor Hoffer in . en Athen die wichtige Entdeckung, daß an *) Iſt dieſe Fläche eine konvexe, hat man BR, linearitätsprinzip energiſch zurück, und hier öff⸗ net ſich ſonach jenem ein Feld ziemlich unein⸗ 7 ; einer Reihe althelleniſcher Bauwerke von klaſſiſchem Styl, wie z. B. am Parthenon, Theſeion und an den Propyläen die hori— zontalen architektoniſchen Linien nicht Ge— rade, ſondern vielmehr, nach oben konvexe, Kurven ſeien. Penrohl nahm die Hoffer— een nicht nur beſtätigt, ſondern konſtatirte auch ganz die gleiche Erſcheinung bei den Tem— peln von Nemea im Peloponnes und von Päſtum in Unteritalien. Da nun an dem Faktum nicht mehr zu zweifeln war, ſo begann für die Altertumsforſcher das ſchwierige Werk der Aufklärung. Böt— des Stereobates zu Hülfe, welche gegen die Enden hin, wo der Widerſtand auf— hörte, ſich am ſtärkſten fühlbar gemacht habe; Thierſch war der Anficht, der grie— chiſche Baumeiſter ſei ſich des Umſtandes bewußt geweſen, daß bei der perſpektivi— ſchen Baues eine ſcheinbare Krümmung wärtskrümmung der fraglichen Linie be— gegnen wollen; Penrohl griff auf Zöll— „ 4 und noch andere Argumente von ſichtlich ſchiedenen Gelehrten ins Feld geführt. In ausführlicher Darlegung des Für und Wider ſucht der Verfaſſer dieſe Theorien, obwohl er denſelben eine teilweiſe ſekun— däre Bedeutung zugeſteht, zu widerlegen; wenig Gewicht auf die merkwürdige That— ſache gelegt, daß die Korrekturen ausſchließ— lich bei doriſchen, nicht aber bei Bauten irgend eines anderen Bauſtiles uns ent— namentlich, meint er, habe man viel zu | ſchen Meſſungen mit äußerſter Genauig- keit wieder auf und fand deſſen Nefultate | Literatur und Kritik. tiche r nahm als Grund eine Komprimirung ſchen Schräganſicht eines parallelopipedi- nach unten eintritt, und habe derſelben durch das Korrektiv einer abſichtlichen Auf- ners Pſeudoſkopie der Linienmuſter zurück, geringerer Berechtigung wurden von ver- tig belebt. 325 gegentreten. Dem gegenüber weiſt er auf „das perſpektiviſche Bewußtſein“ der Hel— lenen hin, durch welches ganz und voll „die perſpektiviſchen Kenntniſſe“ unſeres von der Natur entfernteren Zeitalters erſetzt worden ſeien. Gerade aus dieſem Grunde dachten und empfanden die Griechen naiver als wir, und da, wie wir ſahen, nach des Verfaſſers Anſicht das Kollinearitätsprin— zip anerzogen wird, ſo war die Perſpek— tive der Griechen bei weitem mehr eine konforme, als eine kollineare. Als Beispiel hierfür wird auch die Entaſis oder Säu— lenanſchwellung beigebracht, als deren Prototyp die Hyperbel gelten kann. Im Ganzen haben alſo die griechiſchen Archi— tekten ihre Grundriſſe und Entwürfe im— mer genau nach dem ſubjektiven Empfin⸗ dungsbilde ausgeführt, und dies war eben ein konformes; die graphiſche und infolge deſſen ſpäter auch die materielle Darſtel— lung war eine „konſtruktive Imitirung der Erſcheinungsform“. Der Detailbeweis, den der Autor für dieſe ſeine Anſicht antritt, iſt ein ſo verzweigter, daß wir ihm nicht Schritt für Schritt nachzufolgen vermögen; als Nerv des Beweiſes erſcheint die von der Mitte nach außen hin fortſchreitende Verkürzung des Abſtandes zwiſchen je zwei aufeinanderfolgenden Säulen, denn die— ſelbe richtet ſich genau nach den Regeln, welche die ſubjektive, d. h. mehr oder min— der konforme, Perſpektive an die Hand giebt. Natürlich ſpielen auch noch andere Motive mit, ſo beſonders die „jungirende Funktion der Kurvaturen“. Die Darſtellungsweiſe Haucks iſt eine lebendige, friſche; durch Beiſpiele und inſonderheit auch inſtruktive pädagogiſche Winke wird der Entwicklungsgang anmu— Dieſem erſten Hefte ſeiner 326 Prolegomena zu einer künftigen mathema— tiſchen Aſthetik gedenkt er weitere Beiträge folgen zu laſſen, über welche wir uns freuen werden auch in dieſen Blättern berichten zu können. Ansbach. Prof. S. Günther. Unterſuchungen über den Farben— ſinn der Naturvölker von Dr. Hugo Magnus, Dozent der Augen— heilkunde zu Breslau. Mit einem chro— molithographiſchen Fragebogen. Jena, Guſtav Fiſcher. 1880. 50 Seiten in 8. Dieſe Broſchüre zeigt ſchlagend, wie ſchwierig es iſt, ſich von einem einmal ein— geſchlagenen Irrwege wieder auf die ge— rade Straße der Forſchung zurückzufinden. Nachdem ich in meiner Kritik der erſten Schrift des Herrn Verfaſſers“) auf die Not— wendigkeit, Unterſuchungen über den Far— benſinn der Naturvölker anzuſtellen, hinge- wieſen hatte, fand der Verfaſſer in Herrn Dr. Pechuel Löſche in Leipzig einen Ethnologen, der dieſe Unterſuchung aus- führte und durch eingeſandte Fragebogen (die freilich meines Erachtens ſehr un— geeignet hergeſtellt waren!) bei zahlreichen Naturvölkern Nachfragen anzuſtellen be— Literatur und Kritik. gann, in wiefern ſie die einzelnen Farben unterſcheiden und benennen könnten. Das Reſultat war hier, wie in zahlreichen an— deren Unterſuchungsfällen, die früher ange- ſtellt wurden, genau dasjenige, welches ich im Jahre 1877 vorausgefagt hatte: ſämmt— liche Völker konnten alle Farben, auch Blau und Grün, ſehr wohl von einander unter— ſcheiden, aber viele hatten nur einen Aus— druck für beide Farben und manche gar keinen. Im höchſten Grade ſonderbar und die Sachlage auf den Kopf ſtellend iſt es ) Kosmos, Bd. I, S. 264 ff. demnach, wenn Herr Magnus auf S. 44 zwar ſeinen früheren Irrtum eingeſteht, aber nichtsdeſtoweniger ſich rühmt, dieſen Irrtum der „Anhänger der Ent— wicklungstheorie“ (11) widerlegt zu haben. „Wir haben uns überzeugt,“ ſagt der ſeltſame Mann, „daß die Anhänger der Entwicklungstheorie, ſobald ſie einen derartigen Schluß zogen, nämlich daß der Farbenſinn des Menſchen erſt ſeit Homer entwickelt worden jet, ohne noch — andere Beweismittel zu Hülfe zu nehmen, einen Irrweg gewandelt ſind und erheb— lich über das Ziel hinweggeſchoſſen haben.“ Das iſt in der That die ärgſte Ver— ſchleierung der Wahrheit, die mir in dieſer Angelegenheit vorgekommen iſt. Mir iſt kein namhafter Anhänger der Entwicklungs- theorie bekannt, der dieſes Hirngeſpinſt einiger Philologen und Arzte geteilt hätte; wohl aber iſt Herrn Magnus ſehr genau bekannt, daß von Darwiniſtiſcher Seite das genaue Ergebnis feiner überdem längft von andern Seiten überholten Unter— ſuchungen mit Beſtimmtheit vorhergeſagt worden iſt, —welchen Umſtand er indeſſen vollſtändig zu verſchweigen für gut hält. Im übrigen iſt er noch lange nicht von ſeinem Hirngeſpinſt befreit und glaubt trotz des vollkommen negativen Ergebniſſes ſeiner Unterſuchungen, wie aus vielen Stellen ſeiner Schrift erhellt, noch immer, daß die Perzeptionsfähigkeit der Natur— völker für Grün und Blau dennoch nicht völlig entwickelt ſei. „Ausdrücke wie Spracharmut, ungenügende Entwicklung der Sprache u. ſ. w.,“ ſagt er S. 36, „vermögen gewiß das Thatſächliche an der Erſcheinung in ſehr charakteriſtiſcher Weiſe zu bezeichnen, aber eine Erklärung der Erſcheinung bieten ſie doch eigentlich nicht dar; denn fie erklären ebenſowenig das Warum der ungenügenden Sprach— entwicklung, als ſie auch nicht den gering— ſten Aufſchluß geben über die ſo eigen— tümliche Geſetzmäßigkeit, welcher dieſer Entwicklungsfehler in ſo auffälliger Weiſe unterliegt. Sie vermögen uns weder zu ſagen, warum die mangelhafte Farben— terminologie mit ſo eigenartiger Regel— mäßigkeit ſich im Gebiete der kurzwelligen Farben bewegt, noch erklären ſie uns, warum die Farbennomenklatur gerade am roten Ende des Spektrums am ſchärfſten entwickelt ſein mag und warum ſie gegen das blaue Ende hin immer undeutlicher wird, und zwar noch dazu in einem ganz geſetzmäßigen Gange.“ Ich habe für dieſes „Wunder“ nicht blos einen, ſondern gleich drei zuſammen— wirkende Erklärungen angegeben, nament— darauf aufmerkſam gemacht, daß die Men— ſchen nur für die Farben beſondere Worte haben, die ſie färben können, und daß grün und blau und violett diejenigen Farb— ſtoffe ſind, die der Menſch zuletzt ermittelt. Herr Grant Allen, den Gladſtone auf meinen Eſſay aufmerkſam machte, hat meinen Wink beſſer verſtanden und daher auf ſeinen Fragebogen ausdrücklich die Frage hinzugefügt: Welche Pigmente wiſ— |» ſen die betreffenden Völker anzuwenden? Und ſiehe da, es ergab ſich, daß diejenigen Wilden, die grün und blau zu färben wußten, auch beſondere Worte für dieſe Pigmente haben. Darin liegt alſo das große Geheimnis, über welches Herr Magnus noch immer phantaſirt. Was das Bezeichnen zweier naheſtehenden Far— ben mit einem Worte betrifft, ſo will ich den Verfaſſer auf ein noch viel haar— ſträubenderes Beiſpiel mitten im gebilde— Literatur und Kritik. 327 ten Deutſchland aufmerkſam machen. Im ſüdlichen Thüringen und nördlichen Bayern bezeichnet man ſalzig und ſauer mit dem letzteren Worte, und wenn die Köchin, wie man in Norddeutſchland ſagt, verliebt ge— weſen iſt, ſo ſagt man, die Suppe ſei ſauer, und ebenſo heißt das Kompott, dem der Zucker fehlt, auch ſauer. Sollten die lieben Meininger und Hildburghauſener vielleicht in der Entwicklung des Geſchmacks nach der ſalzigen Seite noch zurück ſein? K. Die Sprachenwelt in ihrem geſchicht— lich-literariſchen Entwicklungsgange zur Humanität. Bearbeitet von Dr. J. A. Manitius. 1. Band: Aſien, Afrika und Auſtralien. Leipzig 1879. C. A. Kochs Verlagsbuchhandlung (J. Sen— gebuſch). Das vorliegende Buch iſt von einem etwas zurückliegenden Standpunkte der Sprachforſchung verfaßt, wie ihn etwa W. v. Humboldt, Laſſen und Max Müller einnahmen, und ſeine Tendenz ſpricht ſich genau in folgenden Worten der Einleitung aus: „Es iſt demnach, ſagt der Verfaſſer, die geſammte ſittliche und geiſtige Bildung des Menſchengeſchlechts, von der früheſten Zeit an bis zu uns herauf, als eine un— unterbrochene, in und durch ſich zuſammen— hängende Erziehung ſämmtlicher Völker der Erde zu betrachten, da Gott die Na— tionen der alten wie der neuen Welt durch ſein allmächtiges Werde an das Licht ge— rufen und für das Licht beſtimmt hat, daß ſich aber Alles in dem Reiche der Natur wie des Geiſtes nach einem weiſen Geſetze des Schöpfers nur allmählich emporbilden kann und ſoll.“ Ohne ein tieferes Einge— hen auf Weſen und Urſprung der Sprache . y - 14 „ 25 x . PR = 398 Literatur und Kritik. * » überhaupt und der einzelnen Sprachen im Beſondern wird unter Einſtreuung einer reichen Anzahl von Überſetzungen zahlrei— cher poetiſchen Citate mehr eine Art ver— gleichender Litteraturgeſchichte, als ein Werk über Sprachen geboten. Im übrigen läßt fich eine ganz anerkennenswerte Belehrung über die allgemeinſten Züge der Sprache und Litteratur der drei Weltteile aus dem Buche ſchöpfen. Kinnorlieder Althebr äifche Dichtungen in metriſcher Übertragung von Dr. Martin Schultze. Leipzig, Ernſt Günthers Verlag, 1879. 120 S. in 12. In dieſem kleinen Buche werden Leſer dreier ſehr verſchiedener Kategorien ihre Rechnung finden: 1) Freunde der Poeſie, 2) Bibelforſcher und Theologen, 3) Kulturgeſchichtsforſcher überhaupt. Der durch die Metrik und bisweilen durch den Reim wirkſam gehobene Gedankenparal— lelismus dieſer Kinnor- (d. i. Harfen—) Lieder erweckt dem Leſer nicht nur infolge ihrer kunſtvollen Übertragung eine Ahnung von ihrer originalen Schönheit, ſondern ſie bieten auch ein tieferes kulturhiſtori— ſches Intereſſe dar, da ſie zum Teil die älteſten Teile der Bibel darſtellen. Wie der gelehrte Verfaſſer bereits in un— ſerer Zeitſchrift?) zu zeigen unternahm, ſtellt ein Teil Erntelieder dar, die erſt von der ihren Sinn nicht erfaſſenden Nachwelt in Epen umgewandelt wurden, wie das ſchöne Deborahlied. Ein anderes Gedicht, „Die zehn Stämme“ (Richter 5, 14— 18), wird von dem Herausgeber treffend mit dem angelſächſiſchen Wandererliede und dem homeriſchen Schiffskatalog verglichen. ) Kosmos, Bd. I, S. 153. Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig. hier genügen, auf die deutſche Überſetzung, Ein ſehr intereſſanter Fund ſcheint das „Fuchslied“ aus dem Hohenliede (2, 15): Fangt uns doch die kleinen Füchſe! Sie verderben unſern Wein, Und der Weinſtock trägt ſchon Trauben; Fangt die kleinen Füchſe ein! — * zu ſein, denn es iſt nach Schultzes An— 5 ſicht ein harmloſes Spielliedchen, wie es | Kinder der verſchiedenſten Nationalitäten und Zeitalter beim Ringelreigen fingen. Man erkennt, wie verſchiedenartige Ele- mente in die heilige Schrift hineingeraten ſind und wie unentbehrlich ſelbſt in den J poetiſchen Teilen die kritiſche Sonde iſt. | | Die Ausftattung des kleinen Buches iſt überaus geſchmackvoll und anheimelnd. 1 | Die Tropenwelt, nebſt Abhandlungen verwandten Inhalts von Alfred Ruſ⸗ ſel Wallace. Autoriſirte deutſche Überſetzung von Dr. David Bruns. Braunſchweig, Vieweg u. Sohn, 1879. Da wir bei dem Erſcheinen der eng- liſchen Ausgabe?) ausführlich auf dieſes * ebenſo lebendig als anregend geſcheichene Buch hingewieſen, auch bereits damals eini- ge längere Proben daraus in dieſer Zeit⸗ ſchrift“ ) wiedergegeben haben, ſo mag es die als eine durchaus gelungene bezeichnet werden darf, kurz hinzuweiſen. Das Buch zieht das Fazit aus einer ganzen Reihe von Beobachtungen verſchiedener Reiſender und Naturforſcher, die in den Tropen gelebt haben, und giebt auf wenigem Raum ſehr gediegene Überſichten nebſt Erläuterungen zahlreicher wichtiger Probleme. Die Aus- ſtattung iſt derjenigen aller Werke des be— rühmten naturhiſtoriſchen Verlags ent— ſprechend. ) Bd. IV, S. 247. — *) Bd. IV. Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Daſein. ie ſoeben von mir veröffent— lichte Monographie der mexi— kaniſch-karaibiſchen Spongien ſchließt mit den Worten: „Sie it für die Deszendenzlehre und für Darwin.“ Faſt an demſelben Tage, wo ich mein Opus ge— druckt in die Hände bekam, las ich“) Mo— ritz Wagners Erklärung, daß die Spon— gien die geeignetſten Organismen ſeien, „für die formbildende Wirkung einer dauernden individuellen Abſonderung, ohne jede Mitwirkung einer Selektion durch den Kampf ums Daſein, einen un— widerlegbaren Beweis zu erbringen“. Dieſer auf den erſten Blick handgreifliche Gegenſatz der Meinungen bedarf einer Erläuterung, wodurch er ausgeglichen und womit der Konfuſion, die durch ihn im Urteile des außerhalb der Fachkreiſe ſtehen— den Laien angerichtet werden könnte, be— gegnet wird. Ich will mir zu dieſem Zwecke zunächſt erlauben, auseinanderzuſetzen, wie ich zu dem oben angeführten Satze als dem Re— ſultate einermühſamen Detailunterſuchung, *) Im Juniheft des Kosmos. Von Oskar Schmidt. der Fortſetzung einer ganzen Reihe ſeit zwanzig Jahren geführter Spezialarbeiten auf demſelben Gebiete, gekommen bin. Erſt dann wollen wir damit vergleichen, wie M. Wagner die Sache ſeinerſeits anſieht. Es wird, deſſen ſind wir ſchon jetzt ſicher, weſentlich auf eine etwas engere oder wei— tere Faſſung von Begriffen und Aus— drücken ankommen, während in der Sache der verehrte Münchner Forſcher von uns kaum abweicht. Ohne Frage ſind die Spongien unter den lebenden Organismen die flüſſigſten. Es giebt unter ihnen viele „gute Arten“, die ſich im Stadium einer gewiſſen Be— ſtändigkeit befinden, aber noch viel mehr ſchlechte. Dies Miteinandergehen von, gut“ und „ſchlecht“ mag hier einmal beſonders betont werden, weil die Vorſtellung noch vielfach verbreitet iſt, daß die Arten alle— ſammt entweder für beſtändig oder für unbeſtändig angeſehen werden müßten. Unter den vielen Formen der Reihen ſchlechter Arten befindet ſich nun wieder eine große Anzahl, bei denen wir vergeb— lich nach den zwingenden Urſachen oder nach den durch das Variiren geleiſteten Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 42 f 330 Vorteilen ſuchen. Es mögen deren oft vor— handen ſein, aber der Beobachtung unzu— gänglich; eben ſo oft und häufiger werden wir aber die Veränderung und Abweichung in der Geſammtform und in den feineren Formbeſtandteilen auf Rechnung der Ver— änderlichkeit ſchlechthin ſetzen müſſen. Ab— ſolut grundlos iſt natürlich in jedem ein— zelnen Falle die Veränderung nicht, ſei es, daß der Anſtoß im Organismus ſelbſt oder von der Umgebung angeregt wird. Aber die Folgen der Veränderung ſind für den phyſiologiſchen Wert gleich null. Gleich— wohl können ſolche Veränderungen ſich vererben und fixiren. Die Maſſe ſolcher thatſächlich vorhandenen rein morphologi— ſchen Varietäten und mehr oder minder ſchlechter Arten, welche die Klaſſe der Spongien aufweiſt, fordert ſchon an ſich zur Beſchränkung der Anſicht auf, als ob ſie in kürzeſter Friſt durch Kreuzung mit den nicht variirten Individuen wieder ni— vellirt werden müßten. Aber bereitwillig geben wir zu, ja es iſt ſelbſtverſtändlich und nie von Darwin und ſeinen An— hängern in Abrede geſtellt worden, daß zur Konſervirung ſolcher morphologiſcher Varietäten die Abſonderung außerordent— lich viel beiträgt. Alle, welche die neuere Litteratur der Spongien etwas verfolgt haben, wiſſen, daß die Verzeichniſſe über— reich an ſolchen, gewiſſermaßen gleichgilti— gen Arten und Abarten ſind, dasjenige meiner mexikaniſchen Spongien nicht min— der. Daß dieſe Fälle „für die Deszendenz— lehre“ ſprechen, wird nur von ſolchen pro— blematiſchen Naturforſchern geleugnet, wel— « che nichts als die Varietäten innerhalb der feſten Arten gelten laſſen. Eine andere Reihe von Fällen, welche aber unmittelbaren Anſchluß an obige Oskar Schmidt, Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Daſein. haben, umfaßt die Umformung einfacherer tuypiſcher Grundbeſtandteile der Spongien— ordnungen und -familien in ſcheinbar ganz neue Organe, welche zur Aufſtellung neuer Gattungen und Arten oder Varietäten— gruppen geeignet ſind. An ſolchen Beob— achtungen habe ich dieſesmal eine beſon— ders reiche Ernte gehalten, namentlich bei den Hexaktinelliden und den Lithiſtiden, weniger bei den übrigen Abteilungen. Bei den Hexaktinelliden iſt mir der Nachweis gelungen, die ſcheinbar abweichendſten Kieſelkörper, auch ſolche, welche bisher ganz unvermittelt ſtanden, nach ihrer Ent— ſtehung als Modifikationen der Grund— geſtalt zu erklären, welche der ganzen höchſt intereſſanten und anſprechenden Ab— teilung das charakteriſtiſche Gepräge giebt. Ich konnte auch wiederholt den Zuſammen— hang lebender Formen mit foſſilen kon— ſtatiren, wobei ſich ergab, daß die Deca— dence der gegenwärtigen Hexaktinelliden ſich u. a. in dem Abhandenkommen der einſt viel mehr verbreiteten Deckſchichten ausſpricht. Ganz unverändert iſt dieſe Oberflächenbildung bei Cystispongia, ei— nem Kreideſchwamm, geblieben, der mit geringen Modifikationen noch heute uns als Cystispongia superstes entgegentritt. Wir müſſen neben dem Erſcheinen neuer morphologiſcher Arten die Erſchöpfung und das Verſchwinden der Arten einſt— weilen noch als eine Thatſache hinnehmen, deren Urſachen mit dem Worte Erſchöpfung geahnt werden ſollen. Ich habe ferner den Zuſammenhang von Gattungen aufgefun— den, die nach dem bisherigen Wiſſen ein— ander gar nichts anzugehen ſchienen, alſo z. B. gezeigt, daß der bekannte, durch ſeine äußerſte Zierlichkeit des Kieſelnetzwerkes ausgezeichnete Aphrocallistes in ſeinen — Oskar Schmidt, Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Dafein. Anfängen der nicht minder berühmten Farrea gleicht und ſich in feinem ganz eigentümlichen Bau nur durch das eine Moment entfaltet, daß viele der grund— legenden ſechsſtrahligen Nadeln in den Winkeln zweier Axen von den typiſchen Sechsſtrahlern abweichen. Wir ſind hier immer noch im Gebiete der rein morphologiſchen Umbildungen, wo von Funktionswechſel, erhöhter Tei— lung der Arbeit, Fortſchritt der Organi— ſation nichts zu merken iſt. Nur die all— gemeine Tendenz zur Verkümmerung konn— ten wir aus dem Zurücktreten der Deck— bildungen entnehmen. Weiter hat mich die Unterſuchung der Lithiſtiden gebracht. Zunächſt glaube ich den, allerdings auch auf einer Art von Ver— kümmerung beruhenden, Zuſammenhang zweier Hauptabteilungen dieſer Ordnung, der Tetraktinelliden und Rhizomorinen, gezeigt zu haben. Zittel hatte in ſeinen höchſt wichtigen Unterſuchungen über die foſſilen Spongien angenommen, daß aus den unregelmäßigeren, mit meiſt drei— ſtrahligen Skelettkörpern verſehenen Rhizo⸗ morinen ſich die durch vierſtrahlige Skelett— körper charakteriſirten Tetrakladinen ent— wickelt hätten. Ich habe, glaube ich, ſehr wahrſcheinlich gemacht, daß der umgekehrte Gang ſtattfand. Daneben und im engen Zuſammenhange mit dieſem Nachweiſe war es mir von großem Intereſſe, die Ent— ſtehung der ſogenannten Oberflächen- oder Rindenkörper zu verfolgen, welche ſich bei Gattungen beider Abteilungen finden. In dieſen Gattungen haben wir es mit Diffe— renzirungen zu thun, welche ganz offenbar von einem Fortſchritt begleitet ſind. Die Dif- ferenzirung führt zur Bildung einer Rin— 331 ſameren Schutz bietet als da, wo die Skelett— körper, ohne jene Modifikation einer Geſtalt— anpaſſung, auch die oberſte Körperſchicht bilden. Der Hauptherd, wo dieſe Umbil— dung der Skelettkörper in Rindenkörper ſtattgefunden hat, ſind die Tetrakladinen, und zwar ſtammt die eine Sorte, die der geſtielten Scheiben, von der vorherrſchen— den Art der die Lithiſtiden charakteriſiren— den Skelettkörper, die andere, nämlich die Gabelanker, von den vierſtrahligen Kieſel— teilen, durch welche ſich die engſten ver— wandtſchaftlichſten Beziehungen der Lithi— ſtiden zu der noch jetzt ſehr reich vertrete— nen Ordnung der Tetraktinelliden erhärten laſſen. Von jenen Tetrakladinen ſind die Skelettkörper auf verſchiedene Gattungen von Rhizomorinen vererbt worden, das heißt, während Tetrakladinen ſich dadurch in Rhizomorinen umwandelten, daß die indifferenten Skelettkörper von dem ſtreng vierſtrahligen Typus abwichen, behielten die zu beſtimmter Leiſtung adaptirten Rin— denkörper den mit ihrer Leiſtung im Ein— klang ſtehenden Typus bei. Aber auch innerhalb ſolcher Rhizomorinen, welche von ihren Vorfahren keine Rindenkörper ererbt hatten, haben ſich in einem Falle (Neopelta) ſolche gebildet, und zwar wiederum nachweislich auf demſelben Wege wie dort, durch Anpaſſung der Skelett— körper an die Oberflächenverhältniſſe. Die Reſultate meiner Studien an den Lithi— ſtiden Discodermia, Collectella, Coral- listes, Neopelta waren mir daher, wie meine ſämmtlichen früheren Spongien— arbeiten, Beſtätigungen „für die Deszen— denzlehre und für Darwin“. Übergänge, wo man hingreift, und dieſelben oft verbunden mit Vervollkommnungen durch Befeſtigung denſchicht, welche dem Innern einen wirk- und Vererbung von vorteilhaften Verän— L ) Nein 332 Oskar Schmidt, Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Daſein. derungen. Das iſt eben die Entſtehung von Arten nach Darwiniſtiſchem Prinzip.“) Noch viel klarer und überzeugender ſind nun aber eine andere Reihe von Fällen der Artentſtehung, welche teils die Hexaktinelliden, teils und vorzüglich die Ankerſchwämme oder Tetraktinelliden be— treffen. Der Unterſchied zwiſchen den obi— gen und den gleich zu beſprechenden Er— ſcheinungen iſt der, daß dort die Erklärung durch die Hypotheſe der vorteilhaften und fortſchrittlichen Anpaſſung nur aus all— gemeinen Gründen als die am meiſten naturgemäße und richtige ſich ergiebt, während ich nunmehr die Entſtehung von Arten, reſp. die Bildung von vorteilhaften neuen Organen, welche die neuen Formen von den alten unterſcheiden, auf die An— paſſung an ganz beſtimmt vorliegende Verhältniſſe nachweiſen kann. Es iſt alſo abermals zwiſchen hier und dort nur ein Unterſchied dem Grade nach: Überwindung von Hinderniſſen und von Mächten, welche den Individuen feindlich ſind und von den beſten und ſtärkſten der letzteren überwunden werden. Ich ſpreche von der Entſtehung der Schutz- und der Befeſtigungsapparate, wo— durch eine Anzahl von Spongien ſich vom Stamm abgezweigt und ihre Exiſtenz auf ungünſtigem Boden ermöglicht haben. Die Entwicklung der Spongien aus zarten, bewimperten Larven, die Lebens— verhältniſſe der meiſten rechtfertigen die Annahme, daß feſter Grund der Nieder— laſſung und Anſiedlung am günſtigſten und naturgemäßeſten ſei. Es braucht nicht gerade ein Felſen zu ſein; ein Algenſtengel, Krebsrücken, eine Muſchel thun dieſelben Dienſte. In allen dieſen, den weitaus ge— *) Es ift eine wiederholte Entſtehung von Rhizomorinen aus Tetrakladinen anzunehmen. —— wöhnlichſten Fällen geſchieht das Anſäſſig— machen auf die einfachſte Weiſe, durch Ankleben mittelſt nackter Zellen oder proto— plasmatiſcher Maſſe, welche ja eine Haupt— eigentümlichkeit darin ſucht, daß ſie klebrig iſt. Sie wird bald dichter und feſter, bäckt mehr und mehr an ihrer Unterlage an und ſehr bald iſt die junge Spongie „an— gewachſen“. Das iſt ganz offenbar der, allgemeinere und urſprüngliche Vorgang. Ich habe nun ſchon früher gezeigt und belege es in meiner neuen Monographie mit den frappanteſten Beiſpielen, wie in den verſchiedenſten Familien mit der An— paſſung an Schlamm- und Sandgrund jene Organe gezüchtet worden ſind, die Schutzſiebe und Wurzeln vom verſchieden— ſten Ausſehen und Umfang, in denen dieſe, ihrem Urſprung nach oft weit von einander abſtehenden Schlammbewohner konver— giren. Mit dieſen neu erworbenen Ein— richtungen verbindet ſich oft genug eine größere Konzentration des Spongienleibes, welches gleichbedeutend erſcheint mit höhe— rer Entwicklung. Ich glaube, daß man ſich dieſer Auffaſſung nicht verſchließen kann, wenn man lieſt, was ich in meinem Werke (7. ff.) über Tisiphonia und Fango- philina und ihr Verhältnis zu den näch— ſten Verwandten beigebracht habe, von den vielen anderen früher und jetzt er— läuterten Fällen nicht zu ſprechen. Daher wiederum „für Darwin“. Aber unſer verehrter Mitarbeiter iſt der Anſicht, daß ich hätte ſagen müſſen: „für Moritz Wagner“; denn er hat jetzt gefunden, daß ſein Prinzip und das Darwinſche ſich ausſchließen. Er erklärt, daß alle die Umwandlungen, wie ſie un— erſchöpflich reich in der Spongienklaſſe vorliegen, ihre „zwingende Urſache“ in . Oskar Schmidt, Die Abſonderung und die Ausleſe im Kampfe ums Daſein. der Abſonderung haben. Wagner hat zur Erhärtung ſeiner Migrationstheorie, jo viel ich ſehe, in feinen jüngſt im Kosmos erſchienenen Aufſätzen weſentlich neues nicht gebracht. Er hat den Kampf ums Daſein im allgemeinen nicht geleugnet und die Ausleſe, dieſes punctum saliens, ausdrücklich anerkannt, indem er unter die wirkſamen Faktoren der Artbildung auf— nimmt die „Ausprägung und Entwicklung individueller Merkmale der erſten Koloniſten in deren Nachkommen bei blut— verwandter Fortpflanzung“. Wenn er aber, um gleich den Kern der Sache zu bezeichnen, ſagt: „Nach der Selektions— theorie iſt der Kampf ums Dafein, nach der Separationstheorie die räumliche Ab— ſonderung die nächſte zwingende Urſache der Artbildung“), fo verwechſelt er die causa occasionalis mit der causa efficiens. Es iſt unſerm Streiter für die Abſonderung ſeit Jahren von Dar— win und allen Anhängern der Selektions— prinzipien zugeſtanden, daß von Anfang an auf die Iſolirung, als ein die Selektion im Kampfe ums Daſein begünſtigendes Moment, wohl zu wenig Gewicht gelegt worden ſei. Aber weiter als eine häufige Gelegenheit für die Wirkſamkeit der Dar— winiſtiſchen Prinzipien iſt ſie nicht. Sind die Auswanderer Schwächlinge, ſo gehen ſie zugrunde. Das wußten die Römer gar gut, wenn ſie das ver sacrum weihten. Doch was ſage ich das dem unter uns am weiteſten Gereiſten! Wenn es dem Kolo— niſten an den Kragen geht, mögen das nun europäiſche Menſchen im Kampfe gegen Indianer ſein, oder Spongien, die ) Kosmos, IV, I, S. 3. 333 vom Rande ihres heimatlichen Felsſtückes in den Schlamm fallen, dann gewinnt der am beſten mit Waffen und individueller Kraft verſehene. Unbedingt iſt jede Iſo— lirung nur die Gelegenheit, nie die zwin— gende mechaniſche Urſache zur Umbildung. Die Konzeſſion, welche Darwin an Mo— ritz Wagner gemacht hat, geht über das, was wir oben auch als ſelbſtverſtändlich bezeichnet haben, nicht hinaus: Modifika— tionen, „which are neither of advantage or disad vantage of the modified organ- ism“. Es iſt ja niemals ernſtlich beſtritten worden, daß, wenn von Auswanderern ſchon eine beſtimmte Anlage mitgebracht wird, dieſelbe unter günſtigen äußeren Verhältniſſen zu einem Charakter ſich be— feſtigen kann. Sowie ein ſolcher Charakter mit einem minimalen Vorteile für den in— dividuellen Träger verbunden iſt, tritt die Konkurrenz und die Selektion ein. Kon— kurrenz tritt überall ein, wo veränderte Lebensverhältniſſe erhöhte oder neue An— ſprüche an den Organismus machen. Da— bei iſt die Konkurrenz unter Artgenoſſen nur ein ſpezieller Fall im struggle for life. In dieſer Weiſe und viel eindringlicher iſt die ſog. Migrationstheorie ſchon wieder— holt von Haeckel, Weismann, neueſtens von Semper auf ihr richtiges Verhältnis zur Selektionstheorie zurückgeführt wor— den. Wenn ich dennoch auch das Wort in der Angelegenheit genommen habe, ſo war es in der Hoffnung, daß gerade die nähere Betrachtung der Spongien, von welcher wir beide, M. Wagner und ich, aus— gingen, den ſehr verehrten Biologen über— zeugen könnte, wie die Abſonderung ohne Konkurrenz und Selektion nichts oder ſehr wenig vermag. Skizzen aus der Entwicklungsgeſchichte der Entwick- lungsgeſchichte. Ernſt Krauſe. m Schluſſe des vorigen Jahr— hunderts und in den erſten Jahrzehnten des laufenden finden wir die Entwicklungs— geſchichte ganz allgemein von den Ideen der „Naturphi— loſophen“ beherrſcht, und die Natur— forſcher bemüht, dieſes Joch abzuſchütteln. Es iſt nicht ganz leicht, aus den zum Teil höchſt dunkeln Ausſprüchen der erſteren eine genau entſprechende Vorſtellung von dem zu erlangen, was ſie eigentlich gewollt ha— ben; wir können nur im allgemeinen die Geſichtspunkte charakteriſiren, von denen ſie ausgingen, um den Kampf Baers und Cuviers gegen fie zu begreifen. Zunächſt muß zugegeben werden, daß die Grundidee der neuen Schule, welche die Welt und ihre Bewohner als veränderliche, ſich zu höherer Vollkommenheit erhebende Größen anſah, eine bloße Umbildung der Leibniz Bonnetſchen Idee von einer Stufenleiter war, in welche ſich alle Organismen ein— ordnen laſſen ſollten. Buffon hatte dieſe U Idee weiter ausgebildet, im Süßwaſſer— polypen die vermeintliche Mittelſtufe von Pflanzen und Tieren erkannt, und die Idee eines allgemeinen Grundtypus al— ler Tiere aufgeſtellt. „Wenn wir,“ ſo ſchrieb er 1753, „aus der grenzenloſen Ver— ſchiedenheit, welche die lebendige Natur uns darbietet, den Körper eines Tieres oder ſelbſt den des Menſchen auswählen, um uns ſeiner als Modell für die Vergleichung der Körper anderer organiſcher Weſen zu be— dienen, ſo werden wir finden, daß, obgleich alle dieſe Weſen eine ihnen eigentümliche Individualität beſitzen und nur durch un— endlich feine Abſtufungen von einander un— terſchieden ſind, zur ſelben Zeit ein pri— mitiver und allgemeiner Plan vor— handen iſt, dem wir auf einer langen Strecke folgen können, und von dem die Ausartungen weit geringer ſind, als die— jenigen von der mehr äußern Ahnlichkeit. Nicht zu gedenken der Organe der Ver— dauung, Zirkulation und Fortpflanzung, welche allen Tieren gemeinſam ſind, und neee Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. | 335 ohne welche das Tier aufhören würde, ein chen Prinzipien „das einfache Tier in dem Tier zu ſein, und weder fortfahren könnte Hauptverſchiedenheit des äußern Anſehens bedingen, eine ſchlagende Ahnlichkeit vor— handen, welche unwiderſtehlich zuder Idee eines einzigen Vorbildes führt, dem alle nachgebildet zu ſein ſcheinen“.“) Dieſe Stelle, auf welche ſich Goethe in ſeinen Werken wiederholt bezieht, bil— dete den Ausgangspunkt der Naturauffaſ— ſung des großen Dichters und der natur— philoſophiſchen Schule, in deren Mitte er ſtand, bis gegen das Jahr 1830. Seine Beobachtung der ſich „bildenden und um— bildenden Pflanze“, des Gemeinſamen im Knochenbau der Tiere, die Auffindung des als trennenden Charakter des Menſchen von den Tieren betrachteten Zwiſchenkiefers bei dem erſteren mußte ihn mit dem Buffonſchen Gedanken des Urtypus (dessin primitif et general) oder der Einheit des Typus befreunden, wobei er warnt, denſelben als „Unité du plan“ aufzufaſſen, welche Idee zu Mißverſtändniſſen führe. „Ich war völ— lig überzeugt,“ ſchrieb Goethe in den Tags und Jahresheften von 1790, „ein allge— meiner, durch Metamorphoſe ſich erhebender Typus gehe durch die ſämmtlichen organi— ſchen Geſchöpfe hindurch, laſſe ſich in allen ſeinen Teilen auf gewiſſen mittleren Stu— fen gar wohl beobachten und müſſe auch da noch anerkannt werden, wo er ſich auf der höchſten Stufe der Menſchheit ins Ver— borgene beſcheiden zurückzieht.“T Demgemäß ſuchte er in ſeiner 1796 verfaßten Abhand— lung über die Bedeutung der vergleichen— den Anatomie nach entwicklungsgeſchichtli— *) Histoire naturelle T. IV. (1753), p. 379 ff. zuſammengeſetzteren Menſchen wieder zu zu exiſtiren, noch ſich fortzupflanzen, ſo iſt im geringſten derjenigen Teile, welche die entdecken,“ nachdem er im Voraus be— merkt, daß er hier vorzüglich die Wirbel— tiere im Auge habe. Dieſe Schlüſſe waren die ganz natür— lichen und beinahe unvermeidlichen Folgen des bereits wiederholt hervorgehobenen Umſtandes, daß man das Studium der Entwicklungsgeſchichte an den Wirbeltieren begonnen und bis dahin ausſchließlich fort— geſetzt hatte. Dabei war nun früh die Ahnlichkeit der vorübergehenden Entwick— lungszuſtände der höheren Wirbeltiere mit den bleibenden Formen der niedern Wir— beltiere aufgefallen, und ſchon 1793 hatte Karl Heinrich Kielmeyer (1765 — 1844) den Grundſatz aufgeſtellt, daß der Embryo höherer Tiere die Formenzuſtände niederer Klaſſen durchlaufe, eine Er— kenntnis, die durch den philoſophiſchen Un— fug, der in der Folge damit getrieben wurde, nichts von ihrer Fruchtbarkeit einbüßte. Kielmeyer ſelbſt ſtand entwicklungsge— ſchichtlichen Unterſuchungen fern, und wir wiſſen nicht, wie weit der geiſtreiche Mann in ſeinen aus jener Erkenntnis gezogenen Schlüſſen gegangen iſt, da er ſehr wenig Gedrucktes hinterlaſſen hat, doch ſcheinen ſeine Anſichten einen bedeutenden Einfluß auf die naturphiloſophiſche Schule geäu— ßert zu haben. Aus dieſen Grundlagen baute ſich die „Naturphiloſophie“ im engern Sinne als eine an ſich folgerichtige und unvermeidliche, wenn auch in ihren Schlüſſen zu weitge— hende, und ſich in einzelnen Köpfen in ein myſtiſches Träumen verlierende Weltan— ſchauung auf. Ihre allgemeinen Grund— ſätze, daß die Welt entwickelt, nicht erſchaf— fen jet, daß die organischen Weſen und 4 336 Grundkräfte nicht von denen der anorga— niſchen Körper verſchieden ſeien, daß der Menſch ins Tierreich hineingehöre und aus demſelben emporgeſtiegen ſei, gelten heute als allgemein anerkannte Wahrheiten und wir haben demnach keine Urſache, dieſe Er— kenntnisſtufe an ſich gering zu ſchätzen. Bei dem vielgeſchmäheten Oken finden wir, gerade wie bei Lamarck, die Idee eines allmählichen Aufbaus der höheren Orga— niſationen aus den niederen, und beiden iſt gemeinſam, daß ſie die einzelnen Klaſſen der Tiere nach dem Beſitz oder dem Fehlen beſtimmter Organſyſteme und nicht nach einem Grundtypus abgrenzten, etwa ſo, wie wir noch heute Tiere mit Leibeshöhle und ohne Leibeshöhle gegenüberſtellen. „Die Natur,“ ſchrieb Lamarck in ſeiner 1809 erſchienenen Philosophie zo00lo- gique*), „hat nicht gleich anfangs die her— vorragendſten Fähigkeiten der Tiere ſchaf— fen können, denn dieſe können nur mit Hilfe höchſt komplizirter Organſyſteme zu Stande kommen. Sie hat nun, um ſolche Organ— ſyſteme ins Daſein zu rufen, allmählich die Mittel dazu vorbereiten müſſen. Die Na— tur hat alſo, um bei den Organismen den Zuſtand der Dinge, den wir wahrnehmen, herbeizuführen, direkt, d. h. ohne irgend welchen organiſchen Vorgang, nur die ein— fachſt organiſirten Tiere und Pflanzen her— vorbringen müſſen, und ſie erzeugt dieſel— ben noch tagtäglich in derſelben Weiſe an günſtigen Orten und zu günſtigen Zeiten. Dadurch nun, daß ſie dieſen Organismen, die ſie ſelbſt erſchaffen hat, die Fähigkeiten der Ernährung, des Wachstums, der Fort— pflanzung und der jeweiligen Vererbung der in der Organiſation erworbenen Fort— ſchritte verlieh, und daß ſie allen organiſch deutſche Ausgabe von A. Lang, S. 142. Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. erzeugten Individuen endlich dieſe näm— lichen Fähigkeiten übertrug, wurden die Organismen aller Klaſſen und aller Ord— nungen mit der Zeit und durch die unend— liche Verſchiedenartigkeit der immer wech— ſelnden Verhältniſſe nach und nach her— vorgebracht.“ Hieran ſchließt Lamarck Betrachtun— gen über die Stufenleiter der Tiere, deren einzelne, von den Anfängen bis zu dem höchſten Organismus hinaufführende Stu— fen nach dem Beſitz gewiſſer Organſyſteme und deren relativer Ausbildung abgegrenzt werden. So wird die unterſte Klaſſe der Tiere, zu welcher er Monaden, Wechſeltier— chen, Kugeltierchen und Infuſorien zählt, durch den Mangel jeglicher Organe charak— teriſirt, nicht einmal eine Magenhöhle, nach Lamarck das niederſte Organ, tft bei ihnen vorhanden. Bei der nächſt höhern Stufe, den Polypen, iſt dieſes primitivſte Organ, die Magenhöhle, vorhanden, dagegen feh— len noch die ſpeziellen Organe der At— mung, des Kreislaufes und der Nerven. In die nächſt höhere Stufe rechnet er die Strahltiere und niedern Würmer, bei denen die Anfänge eines Nervenſyſtems ohne Zentralorgane ſich fänden, dagegen ein Kreislaufſyſtem noch fehle. Die Ringel— würmer mit den Kruſtern, Inſekten und Mollusken werden zu den beiden nächſt höheren Klaſſen (3. und 4. Stufe) gerech— net, bei denen die Organe der Atmung, des Kreislaufs und Nervenſyſtems fort— gebildet ſeien, um in der 5. und 6. Stufe (den niedern und höhern Wirbeltieren) ihre höchſte Vollendung zu erreichen. Von der Art, wie er ſich die Aufeinanderfolge der einzelnen Organſyſteme und ihrer Funk— tionen konſtruirte, mag als Beiſpiel ſeine allerdings nicht ganz ſtichhaltige Betrach— L Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. tung über die Aufeinanderfolge von Wil— lensnerven-, Muskel- und Sinnesnerven- Syſtem dienen: „Da es anerkannt iſt,“ ſagt er, „daß Muskelthätigkeit ſtattfinden kann ohne den Nerveneinfluß, ſo folgt dar— aus, daß das Muskelſyſtem erſt nach der Anlegung des allereinfachſten oder am wenigſten komplizirten Nervenſyſtems hat gebildet werden können . . . . Ich glaube berechtigt zu ſein, aus dieſen Betrachtun— gen zu ſchließen, daß das Muskelſyſtem ſpäter als das Nervenſyſtem in ſeiner ein— fachſten Zuſammenſetzung gebildet worden iſt, daß aber die Fähigkeit, vermittelſt der muskulöſen Organe Thätigkeiten und Orts— bewegungen auszuführen, bei den Tieren derjenigen, Senſationen erfahren zu kön— nen, vorausgegangen iſt.“ “) In gewiſſem Sinne ähnliche Anſichten hatte Oken in ſeiner 1806 erſchienenen Abhandlung „Über die Entwicklung der wiſſenſchaftlichen Syſtematik“ ausgeſpro— chen. „Jede Tierklaſſe,“ ſagt er darin, „und jede Tiergattung iſt charakteriſirt durch den ausſchließlichen Beſitz eigentüm— licher Organe . . . Der Menſch iſt die Ver— einigung aller Tiercharaktere, die Tiere ſind daher nur einzelne Ausbildungen ein— zelner dieſer Charaktere, folglich ſind ſie nichts anderes als totale Darſtellungen einzelner Organe des Menſchen, und dieſes in ihnen rein auskriſtalliſirte Organ iſt ihr Weſen und ihre Form, dieſes einzelne Organ iſt das ganze Tier, während es im Menſchen nur einen kleinen Teil aus— macht. Dieſe einzelnen zur Totalität gekommenen, oder zu einem ganzen Tier gewordenen Organe ſind im höchſten Über— maße entwickelt und überhaupt in Geſtalt und Aktion am reinſten, unvermiſchteſten 12 313. 337 ausgeprägt. Denn alle anderen Organe ſind ja unterdrückt, ſobald die Idee der Tierheit in einzelne Tiere zerfällt; eben darin beruhet ja die Möglichkeit der vie— len Tierformen, ohne doch vom Grund— typus abzuweichen, daß ſich Organe auf Koſten der andern ausbilden, daß die Nahrung u. ſ. w., die allen zugeführt werden ſollte, vorzüglich ſich nur auf ein Syſtem wirft; würden durch das ganze Tierreich alle Organe in jedem Tiere gleich ſtark ernährt, ſo wäre ſchlechterdings keine Verſchiedenheit der Tiere zu denken, alle müßten ganz dieſelbe Form, und zwar, weil ſich alle im Gleichgewicht entwickel— ten, die menſchliche haben, nur würde das eine dieſer Tiere größer, das andere kleiner ſein als das andere . . . Aller Unterſchied der Tiere von einan— der beruht auf dieſer übermäßigen Ausbildung eines Syſtems bei Vernachläſſigung der andern . . . Wenn aller Tierunterſchied in dem Ungleichgewicht der Organe liegt, ſo muß notwendig alle Klaſſifika— tion auf dieſes nämliche Prinzip gegründet fein... Vor allem tft klar, daß ſo viele einſeitige Aus— bildungen von Organen wirklich vorhanden ſind, als überhaupt Or— gane in die Idee der Tierheit ge— hören; da aber das überwichtige Organ die Tierklaſſe beſtimmt, ſo muß auch die Natur ſo viele Klaſſen produzirt haben, als ſie Tierorgane in ſich trägt. Wir haben hiermit den Schlüſſel zur Sy— ſtematik ſchon gefunden, wenn wir nur einmal zu der Hauptthüre hineingegangen ſind, die uns den Anblick der Zahl und Natur der Organe der Tierheit überhaupt freigiebt; denn das Tierreich iſt nur das Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 43 @ 338 zerſchnittene individuale Tier, deſſen los— getrennte Organe dasſelbe ſpezifiſche Leben fortleben, welches ſie im Individuum leb— ten, nur jetzt ungebunden von andern Organen.“) Es gehört nicht hierher, weiter zu verfolgen, wie Oken nach dieſen Prinzipien die ſämmtlichen Tiere in Darm-, Gefäß-, Atem- und Fleiſchtiere einteilte. In der Gegenüberſtellung dieſer we— nigen Sätze ſehen wir den ganzen Gegen— ſatz der Naturauffaſſung dieſer beiden taturphiloſophen, die alle beide das Tier— reich nach dem ausſchließlichen Beſitz ge— wiſſer Organe klaſſifiziren wollten, alſo in der Syſtematik von demſelben Prinzip ausgingen. Bei Lamarck baut ſich das höhere Tier mit Organen auf, die dem niedern Tier nach und nach zugewachſen 7 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. ſind, bei Oken find die Tiere nur unregel- mäßige Entwicklungen aus jenem „weit zurück verfolgbaren Grundſchema“ Buf- fons [dessin primitif et général qu'on peut suivre tres-loin], welches nur im Menſchen vollkommen ausgeführt iſt. Der Menſch, als „das Maß aller Dinge“, wie Protagoras geſagt, iſt alſo jener dem geſammten Tierreiche zugrunde liegende Typus, und da der Menſch ſich in feiner Entwicklung aus jenen Organen aufbaut, die in den einzelnen Klaſſen des Tierreichs zur einſeitigen Ausbildung gekommen ſind, jo iſt das erreich der „durchleuchtende Embryo des Menſchen“. In weiterer Aus— führung dieſer Ideen durfte dann Schel— ling jenes der geſammten lebendigen Vom erſten Ringen dunkler Kräfte Bis zum Erguß der erſten Lebensſäfte. Dieſe Ideen fanden in ihrer apriori— ſtiſchen und darum der Philoſophie deſto mundgerechteren Faſſung nur zu viel Bei— fall und beherrſchten denn auch die Ent— wicklungsgeſchichte lange Zeit vollſtändig. Die neueren und genaueren Beobachter, Pander und Baer voran, konnten ja die Kielmeyerſche Behauptung, daß die Em— bryonen der höheren Wirbeltiere den voll— endeten niedern Wirbeltieren ähnlich ſeien und daß in ihnen Zuſtände des Blutum— laufs, der Atmungs- und Ausſcheidungs— organe, ja äußere Formbildungen auf— träten, die den bleibenden Zuſtänden der unteren Stufen genau entſprechen, nicht leugnen, und als Martin Heinrich Rathke gegen das Ende des dritten Jahr— zehnts unſeres Jahrhunderts auch an den Embryonen der höheren luftatmenden Wirbeltiere das Auftreten der Kiemen— ſpalten der Fiſche erkannt hatte, ſchien die Idee des im Tierreich „durchleuchtenden Embryo des Menſchen“ vollends zu trium— phiren. Sie hatte einen tapfern Bundesge— noſſen in Etienne Geoffroy Saint— Hilaire (1772— 1844) gefunden, der das Studium der vergleichenden Anatomie, welches Oken unaufhörlich predigte, mit großem Erfolg betrieben und nebenbei dem Studium der menſchlichenMiß bildungen obgelegen hatte. Die Mißgeburten, welche Schöpfung zugrunde liegende Urbild von der Natur ſprechen laſſen: Ich bin der Gott, den ſie im Buſen hegt, Der Geiſt, der ſich in allem regt, * ) Oken und Kieſer, Beiträge zur ver- gleichenden Zoologie, Anatomie und Phyſiologie. 1806. S. 103-106. teufliſchen Umganges man lange Jahrhunderte nur als Straf— gerichte, Wunderzeichen und Folgen eines betrachtet hatte, wurden durch ihn in die Reihe der natür— lichen Entwicklungsergebniſſe eingereiht. In der Idee war dies bereits durch Mon— taigne (1533 — 1592) geſchehen, der in feiner bewunderungswürdigen Unbefan— genheit erkannte, daß auch die Mißgebur— ten Erzeugniſſe der Natur ſind, die nach ihren Geſetzen erklärt werden müſſen. Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 339 Studien „Über menſchliche Monſtruoſi— täten“, und er faßte ſein Urteil über die „Ce que nous appellons monstres,“ ſchrieb er über dieſelben, „ne le sont pas a Dieu, qui voit en l’immensite de rachen, Haſenſcharte, mit im Körper ver— son ouvrage linfinite des formes qu'il y a comprinses. Et est à croire que cette figure qui nous estonne, se rap- porte et tient & quelque autre figure de mesme genre, incognu à l'homme. De sa toute sagesse il ne part rien que bon et commun et reiglé: mais nous n’en voyons pas l’assortiment et la re- lation.“ *) Die ſpätere Zeit war darüber nicht einfachen Mißgeburten in die Worte zu— ſammen: „Ce qui manque dans les mon- stres simples rélève un arrét, ce qu'ils ont de trop un excès de developpe- ment.“ Die Mißgeburten mit Wolfs— bliebenen Hoden, die Mikrokephalen u. |. w. ſtellen Hemmungen der regelrechten Ent— wicklung des menſchlichen Embryos dar, bei denen der Körper Formen und Bil— jo klar. Im Anfang des vorigen Jahr hunderts fand in der franzöſiſchen Akademie eine lange Diskuſſion zwiſchen Lemery und Winslow ſtatt, in welcher der letztere behauptete, die Mißgeburten entſtänden aus monſtröſen Keimen, die ſeit aller Ewig— keit dazu präformirt und prädeſtinirt ſeien, ſich zu Zwergen, Krüppeln, Doppelgeſtal— ten u. ſ. w. zu entwickeln. Lemer y äußerte dungen behält, die in beſtimmten, unter dem Menſchen ſtehenden Tierklaſſen als normale und charakteriſtiſche Bildungen auftreten, die aber für den regelrecht ent— wickelten menſchlichen Embryo nur Durch— gangsſtationen ſind. Dieſe wohlbegrün— dete und in der bekannten Vogtſchen Mikro— kephalentheorie aufrecht erhaltene Hem— mungstheorie Geoffroys wurde nun von einigen deutſchen Naturphiloſophen auf das geſammte Tierreich übertragen. Denn ebenſogut, wie man den Mikro— kkephalen als einen Menſchen charakteriſirt, die für ſeine Zeit kühne, aber im grunde doch weniger als die andere an Blasphemie ſtreifende Meinung, der Keim könne nor⸗ mal geweſen und erſt durch Zufälligkeiten und äußere Einflüſſe in eine widernatür— liche Entwicklungsrichtung gedrängt wor— den ſein. Dieſelbe Idee, auf entwicklungs— geſchichtliche Studien näher begründet, vertraten in Deutſchland Joh. Friedrich Meckel und in Frankreich der ältere Geoffroy in ſeinen 1822— 34 erſchie— nenen und ſpäter von ſeinem Sohne Iſi⸗ dor in demſelben Sinne fortgeſetzten 0 Essais de Montaigne. Londres 1754. T. 6, p. 266. deſſen Gehirnausbildung auf derjenigen der letzten Vorſtufe des Menſchen, näm— lich des Affen, ſtehen geblieben iſt, ſo konnte man dieſen ſelbſt als einen nicht ganz fertig gewordenen Menſchen, und die unter ihm ſtehenden Tiere als ſchon auf früheren Stufen ſtehen gebliebene, „ge— hemmte“ Aſpiranten der Menſchenwürde betrachten, die niederſten aber als die er— ſten Anläufe der Natur zur Menſchwer— dung. Der Menſch ſelbſt alſo war jener im Anfange aller Schöpfung als Ziel vor— geſtellte Urtypus, die Menſchwerdung das alle Entwicklung regelnde Prinzip oder Leitmotiv, daher ſei alle Entwicklung im grunde dieſelbe, nur in den einzelnen 340 Klaſſen auf verſchiedenen Stufen gehemmt und aufgehalten. Das iſt Idee und Urſprung der be— rühmten Hemmungstheorie, welche lange Zeit das leitende Prinzip einer Reihe von Forſchern auf dem Gebiete der Ent— wicklungsgeſchichte blieb. Indem Geof— froy die Skelette des Vogels und Fiſches mit dem menſchlichen verglich, konnte er unzweifelhaft nachweiſen, daß ihre Ver— ſchiedenheiten viel geringer erſchienen, wenn des höherſtehenden Tieres Teile vor ihrer vollkommnen Ausbildung mit den entſprechenden Teilen des ausgebildeten niederen Tieres verglichen wurden. Er zeigte dies vorzugsweiſe am Schädel, wäh— rend andere Naturforſcher, wie Meckel, Tiedemann, Serres, von Baer, Rathke ähnliche Übereinſtimmungen der vorübergehenden Entwicklungszuſtände des Nervenſyſtems, Blutumlaufs, der Herzbil— dung, Geſchlechts- und Ausſcheidungsor— gane höherer Tiere mit den bleibenden der Fiſche, Amphibien und Reptile nachwieſen. Die Theorie der Hemmungsbildungen ver— vollkommnete ſich durch dieſe und ähnliche Unterſuchungen immer mehr und Serres zögerte nicht, ſie in allen ihren Konſequen— zen zu verteidigen. Die Stufenleiter der tieriſchen Organismen und die Einheit ihres Planes ſchien damit feſtgeſtellt, denn nach dieſer Annahme waren gewiſſermaßen alle Tiere nur ein und dasſelbe Tier (das „individuale Tier“ Okens), deſſen Teile früher oder ſpäter auf beſtimmten Stufen der Entwicklung angehalten, jedesmal die Merkmale einer andern Klaſſe, Familie oder Gattung erkennen ließen. „Einige Verteidiger,“ erzählt Baer“), ) Über Entwicklungsgeſchichte der Tiere. I. 1828. S. 200. NS Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 9 „wurden ſo eifrig, daß ſie nicht mehr von Ahnlichkeit (der Fötalformen mit niedern Tieren), ſondern von völliger Gleichheit ſprachen und thaten, als ob die Überein— ſtimmung in jeder Einzelnheit nachgewie— ſen wäre. Noch kürzlich laſen wir in einer Schrift über den Blutlauf des Embryo: nicht eine Tierform laſſe der Embryo des Menſchen aus. Man lernte allmählich die verſchiedenen Tierformen als aus einander entwickelt ſich denken . . . Unterſtützt durch die Erfahrung, daß in den älteren Schich— ten keine Reſte von Wirbeltieren vorkom— men, glaubte man erweiſen zu können, daß eine ſolche Umformung der verſchie— denen Tierformen wirklich hiſtoriſch be— gründet ſei, und erzählte endlich ganz ernſt— haft und im einzelnen, wie ſie aus einan— der entſtanden wären. Nichts war leichter. Ein Fiſch, der ans Land ſchwimmt, möchte dort gern ſpazieren gehn, wozu er ſeine Floſſen nicht gebrauchen kann. Sie ver— ſchrumpfen in der Breite aus Mangel an Übung und wachſen daher in die Länge. Das geht über auf Kinder und Enkel ei— nige Jahrtauſende hindurch. Da iſt es denn kein Wunder, daß aus den Floſſen zuletzt Füße werden. Noch natürlicher iſt es, daß der Fiſch auf der Wieſe, da er kein Waſſer findet, nach Luft ſchnappt. Dadurch treibt er endlich in einer ebenſo langen Friſt Lungen hervor, wozu nur er— fordert wird, daß einige Generationen ſich unterdes ohne Atmung behalfen. — Der lange Hals der Reiher rührt daher, daß ihre Stammeltern dieſen Teil oft aus— ſtreckten, um Fiſche zu fangen. Die Jun— gen bekamen nun ſchon etwas ausgezogene Hälſe mit auf die Welt und kultivirten dieſelbe Unart, die ihren Nachkommen noch längere Hälſe gab, woraus denn zu hoffen Er Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. iſt, daß wenn die Erde nur recht alt wird, der Hals der Reiher gar nicht mehr zu meſſen ſein werde.“ Man ſieht hieraus, Baer polemiſirte in ſeinen jüngeren Jahren ebenſo lebhaft gegen Lamarck, wie er in ſeinen älteren Jahren gegen Darwin polemiſirt hat. Und doch ging ſeine Polemik nur aus dem Mißverſtändnis hervor, daß er glaubte, ihre Theorien ſetzten das einreihige Tier— ſyſtem als unausweichliche Konſequenz vor— aus, woran nicht einmal Lamarck, ge— ſchweige Darwin gedacht hat. Geoffroy hatte allerdings in demſelben Jahre (1828) ſeine Schrift: Sur le principe de l’unite de composition organique veröffentlicht, aber dieſe Einheit keineswegs ſo einſeitig aufgefaßt, wie Baer ſie, immer von der Entwicklungsgeſchichte der Wirbeltiere aus— gehend, verſtand. Dieſer hielt freilich damals und ſpäter die einreihige Entwick— lung des geſammten Tierſtammes für die notwendige Konſequenz der Lamarckſchen Anſichten. „Eine unvermeidliche Folge je— ner als Naturgeſetz betrachteten Vorſtel— lungsweiſe,“ ſo fährt Baer nach der De— monſtration am Reiher fort, „war die, daß eine früher herrſchende, ſeitdem ziem— lich allgemein als unbegründet betrachtete Anſicht von der einreihigen Stufenfolge der verſchiedenen Tierformen allmählich wieder feſtern Fuß gewann und, wenn auch oft nicht deutlich ausgeſprochen, ja ſelbſt ohne Bewußtſein der Forſcher, bei Urteilen über tieriſche Formen in Anwendung kam. Auch muß man geſtehen, daß, wenn jenes Naturgeſetz angenommen wurde, die Kon— ſequenz ebenfalls die Annahme dieſer An— ſicht forderte. Man hatte dann nur einen Weg der Metamorphoſe, den der ferne— ren Ausbildung, entweder erreicht in einem 341 Individuum (die individuelle Meta— morphoſe) oder durch die verſchiedenen Tierformen (die Metamorphoſe des Tierreichs), und die Krankheit durfte man geradezu eine rückſchreitende Me— tamorphoſe nennen, weil eine einreihige Metamorphoſe, wie eine Eiſenbahn, nur vorwärts und rückwärts gehen läßt, nicht zur Seite.“) Das Verhältnis der individuellen zur allgemeinen Metamorphoſe des Tierreichs oder, wie wie wir heute ſagen würden, der Ontogenie zur Phylogenie mußte, wenn es überhaupt beſtand, natürlich am beſten durch das genaue Studium der Ent— wicklungsgeſchichte eines beſtimmten Tieres kontrollirt werden können. Für Baer, der längſt ſeine Aufmerkſamkeit auf die durchgreifende Verſchiedenheit der einzel— nen Tierklaſſen in ihrem Grundtypus ge— richtet hatte, war es klar, daß ihr gegen— ſeitiges Verhältnis in keinem Falle als ein— reihige Fortbildung gefaßt werden könne. „Eine einreihige Fortbildung, wenn auch nur als logiſcher Begriff, ſcheint aber für die bleibenden Tierformen ganz notwen— dig, wenn ſie ſich in der Entwicklung der Individuen wiederholen ſoll.“ Wir erken— nen jetzt leicht den Trugſchluß, dem er hier unterlag. Allerdings muß jedes Lebeweſen nach der neueren Weltanſchauung das Endglied eines beſondern („geraden“) Ent: wicklungszweiges ſein, allein Baer ſchien nicht ſehen zu wollen, daß trotz der not— wendigen gegenſeitigen Divergenz dieſer Zweige ein Zuſammenhang, ein Ausſtrah— len aus gemeinſamem Stamme ſtattfinden konnte, ſo daß die Deszendenzlinie jedes— mal von der Zweigſpitze bis zur Wurzel, ) A. a. O., S. 201. 342 aber die andern Zweige beiſeite laſſend, verfolgt werden könne. Mit Mißtrauen prüfte er die Theorie an der Entwicklungsgeſchichte des Hühn— chens, und ſeine erſten Unterſuchungen überzeugten ihn ſogleich, daß der weſent— liche Charakter des Wirbeltiertypus ſo ungemein früh im Hühnerembryo durch— blickt und alsbald die geſammte fernere Entwicklungsfolge beherrſcht, daß an ein Durchlaufen der verſchiedenen Klaſſen der wirbelloſen Tiere nicht gedacht werden könne. Schon 1823 trug er dieſe, Wahres und Falſches miſchende Erkenntnis in ei— ner Diſſertation“) vor, der die Theſis an— gehängt iſt: Legem a naturae scrutato— ribus proclamatam „evolutionem, quam prima aetate quodque subit animal, evo- lutioni, quam in animalium serie ob- servandam putant, respondere“ a na- tura alienam esse contendo. Daß die Wirbeltiere in ihrer allgemeinen Entwick— lung nicht erſt durch die Zuſtände z. B. der Gliedertiere und Sterntiere hindurchgehen, ließ ſich leicht beweiſen, aber nicht einmal die Säugetiere gehen durch die Zuſtände der Vögel hindurch, und die Vögel ſind in ihrer beſondern Richtung viel höher entwickelt als die Säugetiere, welche auf ihrem ganzen Leibe keine einzige Feder haben, ſondern nur dünne Federſchafte, „ſo daß wir,“ läßt er die Vögel ſprechen, 5 können, nie ſich frei vom Erdboden er— heben, wollen höher organiſirt ſein, als wir!“ Weniger berechtigt und auch von ihm ſelber ſpäter widerlegt, war der Ein— wurf, daß vom Standpunkte des obigen Geſetzes im Embryo keine Verhältniſſe vorkommen dürften, die nicht wenigſtens in einzelnen Tieren bleibende ſeien. So z. B. dürfte der Embryo keinen heraus— hängenden Dotterſack haben, weil kein Tier ſeinen Futterbeutel derartig mit ſich herumſchleppe. Später gab er ſelbſt zu, daß dieſer Vorratsſack eine bloße Mitgift der Mutter des Tieres ſei. Zum mindeſten glaubte Baer vier durch die Entwicklungsgeſchichte unverein— bare Typen im Tierreich erkannt zu haben, den peripheriſchen oder ſtrahligen Typus (Strahltiere), den gegliederten oder Längen— typus (Gliedertiere), den maſſigen oder Molluskentypus und den Wirbeltiertypus. „Typus,“ ſagt er, „nenne ich das La— gerungs verhältnis der organiſchen Elemente und der Organe. Dieſes Lagerungsverhältnis iſt der Ausdruck von gewiſſen Grundverhältniſſen in der Rich— tung der einzelnen Beziehungen des Lebens, z. B. des aufnehmenden und ausſcheiden— den Poles. Der Typus iſt von der Stufe der Ausbildung durchaus verſchieden, Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. ſo daß derſelbe Typus in mehreren Stufen „ſchon im Neſte weiter ſind, als ſie (die mehreren Typen erreicht wird. Der Grad Säugetiere) jemals kommen“. „. . . An der Fähigkeit zu fliegen haben allein die Fledermäuſe, die unter ihnen die vollkom— menſten ſcheinen, teil, die andern nicht. Und dieſe Säugetiere, die ſo lange nach der Geburt ihr Futter nicht ſelbſt ſuchen ) Dissertatio de fossilium mammalium reliquiis. Regismont. 1823. 4. der Ausbildung beſtehen kann und umge— kehrt dieſelbe Stufe der Ausbildung in der Ausbildung des tieriſchen Körpers beſteht in einem größeren oder geringeren Maße der Heterogenität der Elementar— teile und der einzelnen Abſchnitte eines zuſammengeſetzten Apparates in der grö— ßeren hiſtologiſchen und morpho— logiſchen Sonderung. Je gleichmäßi— ger die ganze Maſſe des Leibes iſt, deſto geringer die Stufe der Ausbildung. Eine höhere Stufe iſt es, wenn ſich Nerv und Muskel, Blut und Zellſtoff ſcharf ſondern. Das Produkt aus der Stufe der Ausbildung mit dem Typus giebt erſt die einzelnen größeren Grup— pen von Tieren, die man Klaſſen genannt hat. In der Verwechslung des Grades der Ausbildung mit dem Typus der Bildung ſcheint mir der Grund man— cher mißlungenen Klaſſifikation und in der offenbaren Verſchiedenheit beider Verhält— niſſe ſchon hinlänglicher Beweis zu liegen, daß die verſchiedenen Formen der Tiere nicht eine einſeitige Fortbildung der Tiere von der Monade bis zum Menſchen dar— ſtellen.““) 5 In der Unterſcheidung der Entwick— lungshöhe vom Grundtypus ging Baer 1827 über Geoffroy und Cuvier hin— aus, von denen der erſtere in ſeiner Theorie der Konnexionen die Idee des hindurch— wirkenden Grundtypus erfaßt, Cu vier aber ebenſo wie Lamarck nicht genau genug erwogen hatte, daß jeder Typus auf verſchiedenen Entwicklungsſtufen vor— kommen kann, wodurch die täuſchenden Ahn— lichkeiten zwiſchen verſchiedenen Typen an— gehörenden, auf gleicher Entwicklungsſtufe ſtehenden Organismen entſtehen, vor wel— chen Baer warnte. Wir haben hier ſo— wohl die erſte klare Erkenntnis jener Ent— wicklungsverhältniſſe, die R. Owen ſpäter mit den glücklichen Ausdrücken der Homo— logie und Analogie unterſchieden hat, als auch die deutliche Erläuterung jenes Hauptgeſetzes der fortſchreitenden Vervoll— *) A. a. O., S. 208 u. 209. Die Zitate wurden der leichteren Überſicht wegen ineinander- geſchoben. Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 343 kommnung, welches ſpätere Morphologen als Differentiation oder Arbeitstei— lung unter den Organen bezeichnet haben. Während jedoch Baer von einer Grundverſchiedenheit und Unvereinbarkeit der vier Typen ausging, ſuchte Geoffroy die Buffonſche Anſicht von der Einheit des Typus dadurch zu retten, daß er die Mög— lichkeit der Zurückführung des einen Typus auf den andern, die Übergänge und Ana— logien derſelben ins Auge faßte. Es war die Zeit der „geiſtreichen“, in neuerer Zeit wieder aufgelebten Vergleiche, in denen das Inſekt wegen ſeines Bauchmarks als ein umgekehrtes, auf dem Rücken kriechen— des Wirbeltier und ſein Schlundring als ein durchbohrtes Gehirn betrachtet wurde. So wollte Geoffroy (1822) den ur— ſprünglichen Wirbelkörper für einen Ring oder ein Rohr anſehen, um darin eine Analogie mit den Ringen der Ringeltiere finden zu können, und verteidigte ſpäter (1830) die Idee von Meyraux und Laurencet, nach welcher die Kephalo— poden zu dem Wirbeltiertypus Analogien zeigen ſollten, mit Eifer, weil ſie die „Ein— heit des Typus“ begünſtigte. Bekanntlich rief dieſe Parteinahme den berühmten Streit in der franzöſiſchen Akademie zwi— ſchen Cuvier und Geoffroy hervor, dem Goethe ſo viele Betrachtungen gewidmet hat und den er für wichtiger erklärt haben ſoll, als die gleichzeitig ausgebrochene Julirevolution. Aber ſchon zwei Jahre vor Cuvier hatte ſich Baer ganz in dem— ſelben Sinne gegen die von Geoffroy vertretenen Prinzipien erklärt. „Es ſcheint mir,“ ſchrieb er 1828, „daß aus längſt— verfloſſener Zeit ſich eine Menge von Vor— ſtellungen, die auf der Anſicht von einer Stufenleiter beruhen, fortgepflanzt haben Be 344 und, ohne daß wir es wüßten, unſer An- ſicht von der organiſchen Verwandtſchaft eine Farbe geben, die nicht aus der Unter— daß die Kephalopoden oder die Krebſe ſich anſicht? Aus einer unmittelbaren und freien Vergleichung der Organiſation kön— lusken. Gehen dieſe Verſuche, zwiſchen zwei entlegenen Ländern Brücken zu ſchla— gen, nicht aus dem Beſtreben hervor, jedes Glied auf zwei Seiten anzuknüpfen? ..“) Baer hatte recht. Es war das Auf— treten der Panzerfiſche als Nachfolger der Trilobiten in den älteſten. ſiluriſchen Schichten, welches dieſe Verſuche wachrief. Allein ihm und Cuvier konnte es nicht ſchwer werden, dieſe Anſichten Geoffroys und ſeiner Geſinnungsgenoſſen zu wider— legen, und Goethes Parteigenoſſe unter— lag, obwohl er in unſern Augen der weiter— ſchauende war. Geoffroy hatte vom phi— loſophiſchen Standpunkte recht, einen Zu— ſammenhang auch der verſchiedenſten Typen unter einander, die Möglichkeit eines ge— meinſamen Urſprungs aus derſelben Wur— zel ins Auge zu faſſen, allein an beſtimmte Eigentümlichkeiten der weiteſt divergirenden und ausgebildetſten Formen anknüpfend und von dem entſchuldbaren Irrtum aus— gehend, daß die höchſtentwickelten Glieder— tiere oder Weichtiere am nächſten an die niederſten Wirbeltiere hinanreichen müß— ten, machte er ſeinen Gegnern den Sieg leicht. „Uns iſt dieſes ein merkwürdiges Beiſpiel,“ ſchreibt Goethe mit ebenfo ) A. a. O., S. 238. ſuchung ſtammt. Sind die Behauptungen, an die Fiſche anſchließen oder gar in fie übergehen, nicht Ausdrücke dieſer Grund Geiſtes war die natürliche Folge des Auf— nen ſie doch wohl nicht hervorgegangen | ſein. Ebenſo unbegreiflich iſt die Verbin- dung zwiſchen den Echinodermen und Mol- Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. großem Scharfſinn als Vertrauen in die Sache Geoffroys, „welchen großen Schaden es bringe, wenn der Streit um höhere Anſichten bei Einzelnheiten zur Sprache kommt.““) Wie dem auch ſein mag, dieſer Streit und das Unterliegen des tieferblickenden baus der Entwicklungsgeſchichte als Wiſſen— ſchaft durch einſeitiges Studium der Ent— wicklungsgeſchichte an den höchſten Tieren. Nachdem Erasmus Darwin und La— marck die Abſtammung der höheren Tiere von den niederen gepredigt hatten, hätte es wohl nahe gelegen, dieſen Aufbau mit der Beobachtung der Entwicklung der nie— derſten Tiere zu beginnen, und hier hätte man bei der größeren Einfachheit der in betracht kommenden Verhältniſſe ohne Zweifel viel leichter die von der Natur— philoſophie geforderte Übereinſtimmung der erſten Entwicklungsſtufen aller Tiere erkannt. Beweis dafür iſt, daß Baer bei dem erſten flüchtigen Blick auf die Ent— wicklungsgeſchichte der Meduſen ſofort die Gaſtrulalarve erkannte, deutlich beſchrieb und erkennbar abbildete, die er bei ſpezi— eller Verfolgung dieſer Unterſuchungen leicht bei der Mehrzahl ſeiner Typen wie— dergefunden haben würde. Aber jedenfalls lag es näher, an das bekanntere, den Wir— beltierkörper anzuknüpfen, um von der Beobachtung ſeiner Entwicklung langſam Schritt für Schritt zurückgehend, unter Abweiſung der erſten Früchte der Erkennt— nis nach manchen Irrwegen ſchließlich doch bei einer den erſten Ahnungen der Natur— philoſophen naheſtehenden Erkenntnis an— zulangen. N *) In feinem 1830 geſchriebenen Bericht über dieſen Streit. * Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. Es iſt ebenſo lehrreich als intereſſant, dieſen allmählichen mühſamen Erkenntnis— weg, der hier weniger einer Bergerſtei— gung als dem Hinabklettern in einen ſtei— len, dunklen Schacht gleicht, bei Baer zu verfolgen. Er geht von der Überzeugung aus, die Typen ſeien ohne Beziehung auf einander. In jedem Entwicklungsſtadium gehört jedes Tier von unten herauf ſeinem ſpeziellen Typus an, die Entwicklung ſelbſt beſteht nur in der Differentiation der Ge— webe und Organe. „Vor allen Dingen iſt es klar,“ ſchreibt er, „daß die Verhältniſſe, welche wir den höhern und niedern Grad der Ausbildung des Tieres genannt haben, ganz übereinſtimmen mit der in der Ent— wicklungsgeſchichte des Individuums im— mer mehr hervortretenden hiſtologiſchen Sonderung. In dieſer Hinſicht iſt alſo große Übereinſtimmung. Die Grundmaſſe, aus der der Embryo beſteht, iſt überein— ſtimmend mit der Körpermaſſe der einfach— ſten Tiere. In beiden ſind wenig beſtimmte Formen, ein geringer Gegenſatz von Tei— len, und die hiſtologiſche Sonderung bleibt noch hinter der morphologiſchen zurück. Wenn wir nun die niederen Tiere über— blicken, in einigen mehr innere Ausbildung bemerken als in andern und ſie dann nach dieſer Ausbildung in eine Reihe ſtellen oder aus einander entwickelt uns denken, ſo iſt es notwendig, daß wir in der einen wirklich hiſtoriſch begründeten Folge und in der andern, genetiſch gedachten Reihe eine Übereinſtimmung eben in dieſer fortgehenden innern Sonderung finden, und es laſſen ſich alſo eine Menge Über— einſtimmungen zwiſchen dem Embryo höhe— rer Tiere und der bleibenden Form niede— rer Tiere nachweiſen. „Dadurch iſt aber noch nicht erwieſen, 4; daß jeder Embryo einer höhern Tierform allmählich die niederen Tierformen durch— laufe. Vielmehr ſcheint ſich der Typus jedes Tieres gleich anfangs im Embryo zu fixiren und die ganze Entwicklung zu beherrſchen. „Unſere Erzählung der Entwicklungs— geſchichte des Hühnchens iſt nur ein langer Kommentar zu dieſer Behauptung. Die Wirbelſäule iſt der zuerſt ſich ſondernde Teil. Von dieſer erheben ſich die Rücken— platten, bald treten auch die Bauchplatten hervor und das Rückenmark ſondert ſich. Alle dieſe Bildungsmomente treten ſehr früh auf, und man ſieht, daß von jetzt ab von einer Übereinſtimmung mit einem wir— belloſen Tiere nicht mehr die Rede ſein darf, daß vielmehr die Verhältniſſe, welche den weſentlichen Charakter der Wirbel— tiere bilden, die erſten ſind, die auftreten. Es iſt aber der Anfang der Entwicklungs— geſchichte für alle Klaſſen von Wirbeltieren ſehr ähnlich. Deshalb können wir nicht blos für die Vögel, ſondern allgemeiner ſagen: Der Embryo des Wirbeltiers iſt ſchon anfangs ein Wirbeltier, und hat zu keiner Zeit Übereinſtimmung mit einem wirbelloſen Tiere. Eine blei— bende Tierform aber, welche den Typus der Wirbeltiere hätte, und eine ſo geringe hiſtologiſche und morphologiſche Sonde— rung, wie die Embryonen der Wirbel— tiere, iſt nicht bekannt. Mithin durch— laufen die Embryonen der Wirbel— tiere in ihrer Entwicklung garkeine (bekannten) bleibenden Tierformen. „Sollte ſich aber für die Entwicklungs- geſchichte des Individuums als Inhaber einer beſonderen organischen Form gar kein Geſetz finden laſſen? Ich glaube, ja, und will verſuchen, es aus folgenden Betrach— Kosmos, Jahrg. IV. Heft 5. 4 346 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. tungen zu entwickeln. Die Embryonen der därme heraus, es tritt ein Unterſchied in Säugetiere, Vögel, Eidechſen, Schlangen, den Extremitäten ein, und der Schnabel wahrſcheinlich auch Schildkröten, ſind in | wächſt hervor; die Lungen rücken nach oben, frühern Zuſtänden einander ungemein ähn- lich im ganzen ſowie in der Entwicklung der einzelnen Teile, ſo ähnlich, daß man oft die Embryonen nur nach der Größe | Entwicklung der Flügel und Luftſäcke, unterſcheiden kann. Ich beſitze zwei kleine Embryonen in Weingeiſt, für die ich ver— ſäumt habe, die Namen zu notiren, und ich bin jetzt durchaus nicht im Stande, die | Landvogel. Der Schnabel, die Füße gehen Klaſſe zu beſtimmen, der ſie angehören. Es können Eidechſen, kleine Vögel, oder ganz junge Säugetiere ſein. So überein— ſtimmend iſt Kopf- und Rumpfbildung in dieſen Tieren. Die Extremitäten fehlen aber jenen Embryonen noch. Wären ſie auch da, auf der erſten Stufe der Ausbil— dung begriffen, ſo würden ſie doch nichts lehren, da die Füße der Eidechſen und Säugetiere, die Flügel und Füße der Vö— gel, ſowie die Hände und Füße der Men— ſchen ſich aus derſelben Grundform ent— wickeln. Je weiter wir alſo in der Ent— wicklungsgeſchichte der Wirbeltiere zurück— gehen, deſto ähnlicher finden wir die Em— bryonen im ganzen und in den einzelnen Teilen. Erſt allmählich treten die Charak— tere hervor, welche die größern und dann die, welche die kleineren Abteilungen der Wirbeltiere bezeichnen. Aus einem all- gemeineren Typus bildet ſich alſo der ſpeziellere hervor. Das bezeugt die Entwicklung des Hühnchens in jedem Momente. Im Anfange iſt es, wenn der Rücken ſich ſchließt, Wirbeltier und nichts weiter. Indem es ſich vom Dotter ab— ſchnürt, die Kiemenplatten verwachſen und der Harnſack hervortritt, zeigt es ſich als Wirbeltier, das nicht frei im Waſſer leben kann. Erſt ſpäter wachſen die beiden Blind— | die Bruſtſäcke ſind in der Anlage kennt— | lich, und man kann nicht mehr zweifeln, daß man einen Vogel vor ſich habe. Wäh— rend ſich der Vogelcharakter durch weitere durch Verwachſung der Mittelfußknorpel u. ſ. w. noch mehr ausbildet, verliert ſich die Schwimmhaut, und man erkennt einen aus einer allgemeinen Form in eine be— ſondere über, der Kopf bildet ſich aus, der Magen hatte ſich ſchon früher in zwei Höh— lungen geſchieden, die Naſenſchuppe er— ſcheint. Der Vogel erhält den Charakter der Hühnervögel und endlich desHaushuhns.“) Ich habe dieſe klaſſiſche Zuſammen— faſſung unverkürzt geben wollen, um dar— an die Vermutung knüpfen zu können, wie der Verfaſſer durch rein logiſche Folgerun— gen aus dieſen Beobachtungen zur Erkennt— nis höherer, ſeinen unmittelbaren Beob— achtungen widerſtreitender Wahrheiten ge— langen mußte. Er hatte geſehen, daß das Gemeinſame einer größeren Tiergruppe ſich früher im Embryo bildet, als das Beſon— dere, und mußte wohl ſchließen, daß dieſes Geſetz auch über den Wirbeltiertypus hin— aus wirken müſſe, und daß die Beſonder— heit des Wirbeltiertypus ſich aus einer grö— ßeren, das geſammte Tierreich umfaſſen— den Allgemeinheit entwickelt haben müßte. Die wenigen genauen Beobachtungen, die er und andere Beobachter damals über die erſte Entwicklung von Vertretern der andern Typen gemacht hatten, waren einer der— artigen Verallgemeinerung auch keineswegs entgegen. Baer ſagt darüber: „Eine un— 4) A. a. O., S. 220—221. BE — Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. mittelbare Folge, ja nur ein veränderter Ausdruck des oben Gezeigten iſt es, wenn wir ſagen: Je verſchiedener zwei Tierformen ſind, um deſto mehr muß man in der Entwicklungsge— ſchichte zurückgehen, um eine Über— einſtimmung zu finden Dieſe Bemerkungen führen uns zu der Frage, ob wir denn nicht immer weiter zurückgehend auf eine Stufe gelangen können, wo auch die Embryonen der Wirbeltiere und der Wirbelloſen übereinſtimmen. Ich werde in einem ſpätern Zuſatze zu erweiſen ſuchen, daß auch die gegliederte Tierreihe mit einem Primitivſtreifen ihre Entwicklung beginnt. In dieſem kurzen Momente würde alſo Übereinſtimmung zwiſchen ihnen und den Wirbeltieren ſein. In dem eigentli— chen Keimzuſtande iſt aber wahrſcheinlich Übereinſtimmung unter allen Embryonen, die aus einem wahren Ei ſich entwickeln. Hierin liegt ein weſentlicher Grund, den Keim für das Tier ſelbſt anzuſehen ... Je weiter wir alſo in der Entwicklung zu— rück gehen, um deſto mehr finden wir auch in ſehr verſchiedenen Tieren eine Überein— ſtimmung. Wir werden hierdurch zu der Frage geführt: ob nicht im Beginne der Entwicklung alle Tiere im weſentlichen ſich gleich ſind, und ob nicht für alle eine ge— Da der Keim das unvollkommene Tier iſt, ſo kann man nicht ohne Grund behaupten, daß die einfache Blaſenform die gemeinſchaftliche Grundform iſt, aus der ſich alle Tiere nicht nur der Idee nach, ſondern hiſtoriſch entwickeln.“) Mit dieſer Verallgemeinerung erreichte Ba er, feiner Zeit vorgreifend, eines der letzten greifbaren Reſultate der Entwick— *) A. a. O., S. 223—224. 347 lungsgeſchichte. Er hatte gezeigt, wie ſich aus der völlig homogenen Grundmaſſe des Keims das im Aufbau höchſt Heterogene durch hiſtologiſche Sonderung erzeugt, nun ſuchte er auch auf das Urſprüngliche der Form zurückzugelangen und kam auf die Bla⸗ ſenform, ſtatt auf die Kugelform der einfa— chen Zelle, welche erſt eine ſpätere Genera— tion erkannte. Seine Arbeit war im gewiſſen Sinne eine das ganze Gebiet reformirende, vor allem hatte er das Vorurteil der Na— turphiloſophen, daß die Idee der Menſch— werdung hinter aller tieriſchen Entwicklung ſtünde und jenes treibende Motiv bilde, welches Sennert, Morus, Morin und Stahl in einer Art Seele ſuchten, wider— legt, er hatte gezeigt, daß die Anfänge der Entwicklung nur auf den unterſten Stufen dieſelben ſeien, daß die Wege dann immer auseinanderliefen, daß zuerſt die Klaſſe, dann die Abteilung, hierauf die Gattung, endlich Art und Individuum ſich aus den gleichen Anfängen hervorbilde und aus— präge. Wir müſſen uns wundern, daß er nicht noch ein wenig weiter ging, denn er ſtellte ſchon 1828 ein Schema der Tiere nach ihrer Entwicklungsgeſchichte auf, das, wenn man von der ſpätern Trennung der Strahltiere in Pflanzentiere und Stachel— häuter abſieht, unſern heutigen genetiſchen Vorſtellungen vom Tierreiche ſogar in ſo weit entſpricht, als darin Amnioten und amnionloſe Wirbeltiere bereits als die bei— den Hauptgruppen geſchieden und unter den erſteren wieder Vögel und Reptilien als zuſammengehörige Gruppe (Huxleys Sauropſiden!) den Säugetieren gegen— übergeſtellt werden. Sogar die einzelnen Abteilungen der Säugetiere ſchied er nach ihrer Entwicklungsgeſchichte und zeigte auf dieſe Weiſe klar, daß das natürliche 348 Syſtem der Tiere nur ein genetiſches ſein könne. Er ahnte das hinter dieſemFFortſchreiten aus dem Allgemeinſten in das Beſonderſte der Bildung ſtehende Grundgeſetz und ſprach es in den ſchönen Worten aus: „Hat aber das eben ausgeſprochene allgemeinſte Reſultat Wahrheit und Inhalt, ſo iſt es ein Grundgedanke, der durch alle Formen und Stufen der tieriſchen Entwicklung geht und alle einzelnen Verhältniſſe be— herrſcht. Derſelbe Gedanke iſt es, der im Weltraum die verteilte Maſſe in Sphären ſammelte und dieſe zu Sonnenſyſtemen ver— band, derſelbe, der den verwitterten Staub an der Oberfläche der metalliſchen Plane— ten in lebendige Formen verwandeln ließ. Dieſer Gedanke iſt aber nichts als das Leben ſelbſt, und die Worte und Silben, in welchen es ſich ausſpricht, ſind die ver— ſchiedenen Formen des Lebendigen.“ ) Nirgends wohl, dürfen wir hinzuſetzen, iſt der Gedanke des Monismus ſchöner aus— geſprochen worden. Baers Arbeiten wirkten befruchtend, wie keine andern auf das Studium der Entwicklungsgeſchichte und riefen eine all— gemeine Begeiſterung für dieſelbe hervor. War Wolff der Begründer dieſer Wiſſen— ſchaft, ſo wird Baer in aller Zeit den Ruhm in Anſpruch nehmen dürfen, der Baumeiſter des Gebäudes geweſen zu ſein, auf welches wir Deutſche mit beſonderem Stolz zurückblicken. Denn auch der weit aus wichtigſte Teil der ſpätern Arbeit wurde von deutſchen Forſchern geleiſtet. lich. Hier ſind vor allem noch die Arbeiten von Martin Heinrich Rathke in Königs— berg ſowohlüber die Entwicklungsgeſchichte der Wirbelloſen (Krebſe, Inſekten, Mollus- 9 A. a. O., S. 264. Ernft Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. ken) als der Wirbeltiere, ferner die muſter— gültigen Unterſuchungen von Wilhelm Biſchof in München über die Entwicklung der Säugetiere und die von Johannes Müller in Berlin über die Stachelhäu— ter zu erwähnen. Dieſe älteren Unterſuchungen hatten die von Baer entdeckte Thatſache beſtä— tigt, daß in den Eiern aller Tiere bis zum Menschen, deſſen Ei Baerzuerſt?) erkannte, die Entwicklung von dem Keimbläschen ausgeht, aber wie das Keimbläschen ſelbſt und die aus ihm hervorgehenden Keim— blätter, die ſchon Wolff beſchrieben hat— te, entſtehen, klar zu erkennen, blieb einer jüngern Generation vorbehalten. Schon Wolff hatte ausgeſprochen, daß ſich der Pflanzenkörper aus Zellen aufbaue, deren elementarer Charakter aber von ihm nicht klar erkannt wurde, ſondern erſt 1838 von Schleiden in Jena nach ſeiner wahren Bedeutung gewürdigt wurde. Unmittel— bar darauf wendete Theodor Schwann in Berlin, ein Schüler Johannes Mül— lers, dieſe Entdeckung auf den Tierleib an, und nachdem man ſchließlich das Wer— man, daß das Ei der Tiere und Pflanzen in ſeiner Urform urſpünglich eine einfache Zelle iſt, die ſich erſt durch wiederholte Teilung zu dem Zellenkomplex entwickelt, den wir als Keimblaſe kennen gelernt haben. Nun wurden einige ſchon früher gemachte Beobachtungen über die früheſten Entwid=. lungszuſtände der Embryonen erſt verſtänd— Einige ausländiſche Forſcher, wie Prevorſt und Dumas (1824) und Rus⸗ coni (1836), hatten nämlich bemerkt, daß die Entwicklung mit einer Furchung (seg- ) 1827, nicht 1837, wie es im erſten Artikel durch einen Druckfehler heißt. — den des Eies ſelbſt verfolgt hatte, fand - * mentation) des Ei-Inhalts beginne, die durch immerwährende Wiederholung in den meiſten Fällen erſt zwei, dann vier, acht, ſechzehn u. ſ. w. Zellen liefert, welche einen kleinen Zellenhaufen bilden, der die Grundlage der weiteren Entwicklung dar— ſtellt. Dieſe Furchungen und aus ihnen her— vorgehende Zellhäufchen waren in der Folge häufiger beobachtet worden, aber erſt Ro— bert Remak in Berlin verſtand es 1851, in ſeinen ausgezeichneten Unterſuchungen nachzuweiſen. Er zeigte gegen Reichert, klärt hatte, wie die Zellen des durch wie— derholte Teilung entſtandenen Häufchens ſich ſchließlich in mehrere Lagen ſondern und die ſchon von Wolff beobachteten Keimblätter bilden, von denen alſo jedes urſprünglich aus einer einfachen Zellen— nur den erſten Urſprung der Gewebe, ſondern er machte auch auf die in dieſen Zellen und den von ihnen zuſammengeſetz— aufmerkſam, wobei übrigens die früher mitgeteilten Baerſchen Anſichten nur un— weſentlich modifizirt wurden. Erkenntnis war, daß das Auftreten der beiden primären Keimblätter als der An— fang aller weiteren Differenzirung durch das geſammte Tierreich erkannt wurde, mit Ausnahme der allerniederſten Tiere, Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 349 bei denen überhaupt keine weitere Diffe— renzirung ſtattfindet, weil ſie zeit ihres Lebens entweder aus einer einfachen Zelle oder aus einer Geſellſchaft gleichwerti— ger Zellen beſtehen. Der berühmte eng— liſche Naturforſcher Thomas Huxley erkannte 1849 dieſe Keimblätter in dem Körper der Pflanzentiere, den ſie vielfach ausſchließlich zuſammenſetzen, ſo daß keine weitere Vermehrung der Schichten ſtatt— findet, und bezeichnete das äußere die— über die Entwicklung der Wirbeltiere denUr⸗ ſprung der Keimblätter aus dieſen Zellen | der die Frage mehr verwirrt als aufge- | ſchicht beſteht. Remak zeigte hierin nicht ſer Blätter, aus welchem ſich die äußere Haut und das Fleiſch entwickelt, als das Außenblatt oder Ectoderm, und das innere Blatt, aus welchem die Organe der Ernährung und Fortpflanzung hervor— gehen, als das Innenblatt oder Ento— derm. Allmählich wurde das Auftreten dieſer beiden primären Keimblätter als gleichmäßiger Anfang der Arbeitsteilung unter den durch Teilung vermehrten Zel— len der Keime aller Tierkreiſe erkannt, ſo daß alſo hier eine Homologie der erſten Entwicklung auch der verſchiedenſten Typen deutlich erkannt wurde. Die Bedeutung ten Blättern eingetretene Arbeitsteilung Der wichtigſte Fortſchritt der ſpätern aller dieſer Beobachtungsthatſachen konnte aber erſt viel ſpäter erkannt werden, nach— dem in der Darwinſchen Theorie die Leuchte für alle auf dem weiten Ozean der Biologie umherirrenden Forſcher auf— gegangen und damit auch der entwicklungs— geſchichtlichen Forſchung der Kompaß in die Hand gedrückt worden war, welcher ihr eine beſtimmte Richtung gab und das Pfadfinden erleichterte. (Schluß folgt.) 9 Über die Entwicklung der Blumenfarben. Bon (mM) habe bei früheren Gelegen- ee heiten, insbefondere in meinem e Aufſatze „Die Inſekten als i unbewußte Blumenzüchter“ ), N in allgemeinen Umriſſen dar— S zulegen verſucht, wie aus den Windblütlern erſt einfache, offene, allgemein zugängliche, dann mehr und mehr beſtimm— ten Beſucherkreiſen angepaßte Blumen her— vorgegangen ſein mögen, und dabei auch die beſondere Geſchmacksrichtung einerſeits der fäulnisſtoffliebenden Dipteren, andrer— ſeits der Tagfalter in bezug auf Farben und Düfte berückſichtigt und zur Erklärung ihrer Züchtungsprodukte benutzt, im übri— gen aber die den einzelnen Anpafjungs- ſtufen der Blumen eigentümlichen Farben unberückſichtigt gelaſſen. Die geordnete Zuſammenſtellung meiner in den letzten ſechs Sommern (1874 — 79) auf den Al- pen geſammelten Beobachtungen hat mir nun Veranlaſſung gegeben, die Entwick— lung der Blumenfarben in umfaſſenderer Weiſe in betracht zu ziehen und dabei na— mentlich auch die Frage ins Auge zu faſſen: *) Kosmos, Bd. III, Heft 4—6. Dr. Hermann Müller. Iſt die Entwicklung der Blumen von urſprünglichen, allgemein zu— gänglichen zuſpäteren, auf gewiſſe Beſucherkreiſe beſchränkten Anpaſ— ſungsſtufen von der Entwicklung beſtimmter, in gleicher Ordnung auf einander gefolgter Blumenfarben begleitetgeweſenund welches iſt, im bejahenden Falle, die ſtattfindende Reihenfolge? Oder ſind die ver— ſchiedenen Blumenfarben in ganz verſchiedener Reihenfolge aus ein— ander hervorgegangen und — abge— ſehen von den Dipteren- und Fal— terblumen — ohne erkennbaren Zu— ſammenhang mit den Anpaſſungs— ſtufen der Blumen? Zur Beantwortung dieſer Frage habe ich die auf den Alpen von mir geſammel— ten Beobachtungen auf dreierlei Weiſe zu verwerten geſucht: a. ſummariſch, indem ich ſämmtliche von mir näher unterſuchte Blumen nach den Anpaſſungsſtufen, auf denen ſie ſtehen, klaſſifizirte und die ſo gebildeten Ab— teilungen in bezug auf ihre Blumen— <> We Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. farben und den Inſektenbeſuch mit einan— der verglich; b. phylogenetiſch, indem ich in den— jenigen Familien, in denen die mir näher bekannten Arten einen deutlichen Fortſchritt von niederen zu höheren Anpaſſungsſtufen erkennen ließen (ſie ſind in meinem letzten Aufſatze behandelt), dieſe ebenfalls in Be— zug auf ihre Blumenfarbe und die ihnen zuteil werdenden Kreuzungsvermittler ins Auge faßte; c. ontogenetiſch (nur an einem ein— zigen Beiſpiele durchgeführt), indem ich die in der individuellen Entwicklung nach einander auftretenden Blumenfarben als Wiederholung der in der Stammesentwick— lung nach einander aufgetretenen nachwies. A. Summariſche Behandlung der Frage. Um die ganze Summe der von mir beobachteten Blumenbeſuche *) in der an— gegebenen Richtung zu verwerten, habe ich ſämmtliche beobachteten Blumen nach An— paſſungsſtufen und Farben geordnet und dann umfaſſende ſtatiſtiſche Tabellen an— gefertigt, aus denen die Beteiligung der verſchiedenen Zweige des Inſektenſtammes am Beſuche dieſer verſchiedenen Blumen— abteilungen leicht erſichtlich iſt. Da es ſich hierbei vor allem um eine klare Geſammt— überſicht handelte, ſo mußten bei Aufſtel— lung dieſer ſtatiſtiſchen Tabellen alle fei— neren Abſtufungen ſowohl der Farben als der Formanpaſſung der Blumen vernach— läſſigt werden. Ich bin dadurch zu folgen— den Ergebniſſen gelangt: 1) Pollenblumen, d. h. einfache, offene, regelmäßige Blumen, die keinen Honig abſondern, ſondern ihren Kreuzungs— ) 5712 verſchiedenartige Beſuche, ausge— führt von 841 verſchiedenen Inſektenarten an 422 verſchiedenen Blumen. 351 vermittlern nur Pollen darbieten. Faſſen wir ihre Blumenfarben ins Auge, ſo ſcheint die aufgeworfene Frage ſogleich beim er— ſten zu ihrer Löſung gethanen Schritte ver— neint werden zu müſſen. Denn ſchon un— ter den Pollenblumen, die doch zu den ur— ſprünglichſten zu gehören ſcheinen, finden wir alle Hauptblumenfarben vertreten: Weiß (Spiraea Aruncus, Ulmaria, Ane- mone-Arten, Sambucus), Gelb (Helian- themum, Anemone alpina, Papaver alpi- num), Roth (Papaver Rhoeas, Rosa), Blau (Hepatica, Anagallis coerulea, So- lanum Dulcamara). Bei einer Betrach— tung des Inſektenbeſuchs der einzelnen Pol— lenblumen zeigt ſich aber, daß nur diejeni— gen von ihnen rote oder blaue Blumen— farbe beſitzen, die ausſchließlich oder vor— wiegend von Bienen und Schwebfliegen, alſo von bereits auf einer hohen Anpaſ— ſungsſtufe ſtehenden Blumengäſten beſucht und gekreuzt werden. Da überdies manche roten und blauen Pollenblumen ganz un— zweideutige Anpaſſungen an Pollen ſam— melnde Bienen beſitzen, Verbascum, Ana- gallis und Tradescantia z. B. augenfäl- lige Haare an den Staubfäden*), die den Pollen ſammelnden Bienen nicht nur die Stelle, wo ſie ſich anklammern müſſen, auf den erſten Blick kennzeichnen, ſondern auch für das Anklammern ſelbſt die nötigen Stützpunkte gewähren, ſo unterliegt es kei— nem Zweifel, daß auf manche Pollenblu— men, trotz faſt unveränderter Beibehaltung ihres einfachen Baues, die Blumenaus— wahl der Bienen nachträglich züchtend ein— gewirkt hat, und es iſt ſehr wahrſcheinlich, ) Vergl. Delpino, Ult. oss. II, fasc. II, p. 296—98. Auch Solanum Dulcamara deutet Delpino (daſelbſt, p. 295), wie ich glaube, mit Recht, als Pollen ſammelnden Bienen angepaßt. ) 352 daß die roten und blauen Pollenblumen überhaupt ihren hochbegabten thatſächlichen Kreuzungsvermittlern ihre Blumenfarbe verdanken. Von den auf tiefſter Stufe ſtehenden Pollenblumen hat alſo nach zwei verſchie— denen Richtungen hin eine Weiterentwick— lung ſtattgefunden: 1) durch wirkſameres Herbeilocken nach Pollen gehender Inſekten, namentlich der eifrigſten und als Kreu— zungsvermittler wirkſamſten, der Schweb— fliegen und Bienen, 2) durch Abſonderung von Honig, und zwar zunächſt von völlig offen liegendem, unmittelbar ſichtbarem Honig, wodurch eine größere Mannigfal— tigkeit verſchiedener Inſektenabteilungen herbeigelockt wurde. Die erſtere dieſer Entwicklungsrichtungen konnte natürlich nicht weiter als bis zur vollſtändigen An— paſſung an Pollen ſammelnde Bienen, da— mit aber auch zur Ausprägung aller von dieſen gezüchteten Blumenfarben führen; der letzteren dagegen ſtand, durch die Mög— lichkeit ſtufenweiſe tieferer Bergung des Honigs, ein viel weiterer Spielraum für Anpaſſungen offen, und ſie hat in der That zu einer ganzen Reihe von Anpaſſungsſtu— fen geführt, die wir nun in Betracht zie— hen wollen. 2) Die tiefſte dieſer Anpaſſungsſtufen bilden diejenigen einfachen regelmä— ßigen Blumenformen, die völlig offenliegenden, unmittelbar ſicht— baren, freiabgeſonderten Honig darbieten. Es gehören dahin Veratrum, Rhamnus, Alchemilla, die meiſten Saxi— fragen und Umbelliferen, Euphorbia u. ſ.w., im Ganzen 42 der von mir unterſuchten Alpenblumen. Mit Ausnahme dreier Um— belliferen (Pimpinella rubra, Gaya, Me- um), die wahrscheinlich durch die intenſivere 4 Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. | Lichteinwirkung der Alpen ihr Weiß zu Roſenrötlich geſteigert haben, und der präch— tig roten honigreichen Azalea procumbens, die zu 80% von hochgeſteigerten Blumen— gäſten (Bienen, Faltern, Schwebfliegen) beſucht wird, beſitzen ſie ſämmtlich grün— gelbe, gelbe oder weiße Blumenfarbe; die weißen Blumenblätter ſind bei einigen mit gelben, die gelben Blumenblätter bei Saxi— fraga aizoides mit orangeroten Sprenkel— flecken geziert; ſie werden ſämmtlich ſehr überwiegend (durchſchnittlich zu 85%) von kurzrüſſeligen Inſekten, hauptſächlich Dip— teren, beſucht und haben daher ohne Zwei— fel deren Blumenauswahl die Ausprägung ihrer Farbe zu verdanken, die geſprenkel— ten weißblumigen Arten wahrſcheinlich den unter den Dipteren durch Farbenſinn aus— gezeichneten Syrphiden; jedenfalls gilt dies wenigſtens von der zierlich rotge— ſprenkelten Saxifraga rotundifolia. An dieſer wurden nämlich wiederholt zwei zier— liche Schwebfliegen (Sphegina clunipes und Pelecocera scaevoides) beobachtet, die in augenſcheinlichem Ergötzen vor den Blüten ſchwebten, dann anflogen, um Nek— tar zu ſaugen oder Pollen zu verzehren, dann wieder vor der Blüte ſchwebend ſich an ihrem Anblick weideten u. ſ. f., und zwar in ſolcher Häufigkeit, daß dieſe beiden Arten allein offenbar die wichtigſte Rolle als Kreuzungsvermittler und damit als unbewußte Blumenzüchter ſpielten. 3) Blumen mit teilweiſe gebor— genem Honig, der nur unter günſti— gen Umſtänden unmittelbar ſicht— bar iſt. Es gehören dahin Sedum, Ra— nunculus, die meiſten Cruziferen, Alſineen und Roſifloren, im ganzen 61 der von mir unterſuchten Alpenblumen. Mit der teilweiſen Bergung des Honigs Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. ſinkt die Zahl der verſchiedenen Beſucher— arten (von durchſchnittlich 18 auf 12 für jede Blumenart) herab. Statt der nun wegbleibenden kurzrüſſeligſten finden ſich aber zahlreichere langrüſſeligere und blu— meneifrigere Beſucher ein, die an Zahl der Arten zwar den wegbleibenden nicht gleich— kommen, an Individuenzahl aber, und noch mehr an Zahl der von ihnen ausgeführten Blumenbeſuche, fie bedeutend übertreffen. Die Zahl der Bienen- und Falterarten | ſteigert ſich nämlich mit der teilweiſen Ber— gung des Honigs von 14 auf 30%; die Zahl der Bienenarten wird mehr als ver— dreifacht, die Zahl der kurzrüſſeligen Bie— nenarten ſogar mehr als verfünffacht. Die vorherrſchenden Blumenfarben dieſer An— paſſungsſtufe ſind intenſives Gelb und Weiß. Die ſchmutzig grüngelbe Blumen— farbe, die bei völlig offener Lage des glän— zenden Nektars ſich als ebenſo wirkſam erwies wie Weiß oder Gelb, reicht bei teilweiſer Bergung deſſelben zur Anlockung nicht mehr aus und kommt nicht mehr in Anwendung. Außerdem ergiebt ſich aus den von mir aufgeſtellten ſtatiſtiſchen Ta— bellen, daß gelbe Blumen mit teilweiſer Honigbergung zahlreichere verſchiedene Inſektenarten an ſich locken, als weiße, durchſchnittlich etwa die doppelte Zahl. Dieſe Steigerung der Anlockung betrifft aber die verſchiedenen Abteilungen der Inſekten in jo ungleichem Grade, daß da- durch ihr verhältnismäßiger Anteil am Blumenbeſuche bedeutend verſchoben wird. Im großen und ganzen laſſen ſich hiernach die Blumen mit teilweiſer Honigbergung, wie nach der Farbe, ſo auch nach der Ge— ſellſchaft ihrer unbewußten Züchter, in zwei Klaſſen teilen: weiße, die unter dem überwiegenden Einfluſſe der Dipteren ſte— 353 hen, und gelbe, die von Dipteren und kurz— | rüſſeligen Bienen gleichzeitig ſtark beein- flußt werden. Nur einige wenige Alpen— blumen dieſer Anpaſſungsſtufe zeigen rote Blumenfarben: Empetrum nigrum, von deſſen Farbe und Inſektenbeſuch daſſelbe gilt, wie von Azalea procumbens; San- guisorba, deſſen Schwärzlichpurpur von Fliegen gezüchtet ſein dürfte“), und Ra- nunculus glacialis, bei dem es zweifel— haft bleibt, ob er nur wie Pimpinella rubra ꝛc. intenſiver Belichtung oder zu— gleich der Blumenauswahl der thatſächlich an ſeiner Kreuzung ſich beteiligenden Tag— falter ſein Rot verdankt. 4) Blumen mit vollſtändig ge— borgenem Honig, die eine beſtimm— te Anpaſſung an einen beſonderen Beſucherkreis noch nicht erlangt haben. Es gehören dahin z. B. Allium, Sempervivum, die nicht falterblütigen Sileneen, Geranium, Myosotis, Veronica, Thymus, Calluna u. a., zuſammen 66 der von mir unterſuchten Arten, die keine ge— ſchloſſenen Blumengeſellſchaften bilden, zu— dem aber die Scabiosa-, Phyteuma-, Vale- riana-Arten und Kompoſiten, zuſammen 84 Arten, die als geſchloſſene Blumengeſell— ſchaften wirken, im ganzen alſo 150 Arten. Es iſt nun höchſt auffallend, wie mit der völligen Bergung des Honigs unter den Kreuzungsvermittlern die langrüſſeli— geren intelligenteren, und gleichzeitig unter den Blumenfarben die roten, violetten und blauen in den Vordergrund treten. Der Beſuch der kurzrüſſeligen Inſekten, der mit teilweiſer Bergung des Honigs bereits von 85% auf 70% herabgeſunken war, ſinkt nämlich mit feiner vollſtändigen Bergung in noch weit ſtärkerem Verhält— 9 Vergl. Kosmos, Bd. III, S. 320. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 354 Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. nis, von 70% bis zu 36% der Beſucher- haben (Polygonum viviparum, Polemo- zahl und noch darunter. Umgekehrt ſteigert ſich aber dafür die Zahl der Bienen- und Falter-Arten nun in dem Grade, daß ſie der beſuchenden Arten 63% ausmachen, an Individuenzahl und noch mehr an Zahl der von ihnen ausgeführten Blumenbe— ſuche aber in noch ungleich ſtärkerem Ver— hältniſſe im entſcheidenden Übergewichte ſind. Gleichzeitig treten uns rote, violette und blaue Blumenfarben nun ſo zahlreich entgegen, daß ſie die weißen, gelblichweißen und gelben an Menge überwiegen. Von den 150 unterſuchten Arten dieſer Anpaſ— ſungsſtufe ſind nicht weniger als 82 von roter, violetter oder blauer Blumenfarbe. Wenn es ſchon an ſich kaum zweifel— haft ſein kann, daß diejenigen Blumenbe— ſucher, die als Kreuzungsvermittler im be— deutenden Übergewichte ſind, auch als un— bewußte Blumenzüchter die wichtigſte Rolle ſpielen müſſen, daß alſo im vorliegenden Falle die Ausprägung ſo zahlreicher roter, violetter und blauer Blumen hauptſächlich der Blumenauswahl der zu ſo ſtarkem Übergewichte gelangten Bienen und Falter zuzuſchreiben iſt, ſo wird dieſe Schlußfol— gerung noch zwingender dadurch, daß die Ausprägung der Blumenformen, die wir auf dieſer Anpaſſungsſtufe finden, zu ganz derſelben Annahme hindrängt. Statt der offenen, regelmäßigen, nach oben gekehrten Blumenformen der vorhergehenden Abtei— lungen treffen wir nämlich hier vielfach ſol— che, bei denen die Baſalteile der Kelchblät— ter oder der Blumenblätter zu einer Röhre verwachſen ſind (Sileneen, Myosotis, Ve- ronica, Androsace u. a.), andere, die ſich nach der Seite gewendet und im Zuſammen— hange damit bilateral ſymmetriſch geſtaltet nium u. a.), noch andere, die ſich mit Bei⸗ behaltung der Regelmäßigkeit mehr oder weniger nach unten gekehrt haben (Solda- zuſammen nun ſchon von der Geſammtzahl nella, Vaccinium Vitis idaea), endlich auch ſolche, deren Blütenteile ſo feſt zuſammen— ſchließen, daß ein Inſekt mit nicht faden— förmig dünnem Ruſſel ſie aus einander zwängen muß, um zum Honig zu gelangen (Rubus idaeus, saxatilis), lauter Über— gänge zu einſeitiger Anpaſſung an Falter oder Bienen, die deren blumenzüchtenden Einfluß unzweifelhaft bekunden. Wir haben ſo eben nur die verhält- nismäßige Beteiligung der Falter, Bie— nen und kurzrüſſeligen Inſekten am Beſuche der Blumen mit völlig geborgenem Honig ins Auge gefaßt. Eine andere Frage iſt es, wie die abſolute Häufigkeit des Inſektenbe— ſuches durch die völlige Bergung des Honigs geändert wird. Während wir durch den Übergang von völlig offener zu teilweiſe geborgener Lage des Honigs die durchſchnittliche Zahl ver— ſchiedener Beſucherarten von 18 auf 12 her— abſinken ſehen, indem weit mehr kurzrüſſeli— ge und dumme Gäſte wegbleiben, als lang— rüſſelige und intelligentere hinzutreten, wird dagegen bei vollſtändiger Honigbergung der weitere Verluſt an unbrauchbareren Beſu— chern durch viel ſtärkeres Herbeiſtrömen der brauchbareren ſelbſt der Zahl der Arten nach reichlich erſetzt. Es kommen nämlich durchſchnittlich 12,7 verſchiedene Beſucher— arten auf jede nicht zur Geſellſchaftsbil— dung fortgeſchrittene Blumenart dieſer An— paſſungsſtufe. Die meiſten Blumen mit völlig geborgenemHonig (84 von 150) haben aber durch Vereinigung zu geſchloſſenen Geſellſchaften, die nun mit vereinter Kraft anlocken, ihre Wirkung auf die in der Luft DB J 1 3 L umberfliegenden Blumengäſte noch ſehr ſtark geſteigert. Jeder dieſer Blumenge— ſellſchaften mit völlig geborgenem Honig Beſucherarten zu teil. Eine weitere Frage, die uns hier ge— rade in erſter Linie intereſſirt, iſt die, wie die verſchiedenen Blumenfarben dieſer An— paſſungsſtufe ſich in ihrer Wirkung auf die verſchiedenen Beſucherkreiſe unterſcheiden. Geeignetes Material zu ihrer Beantwor— tung bieten vor allem die gelblichweißen, gelben, roten und blauen Blumengeſell— ſchaften der Kompoſiten, Phyteuma- und Skabioſa⸗Arten dar, die ſich nur in der Blumenfarbe weſentlich unterſcheiden, wäh— rend ſie in den übrigen auf den Inſekten— beſuch Einfluß übenden Bedingungen an— nähernd gleich ſind. Wie ein Vergleich derſelben ergiebt, werden von den Faltern die roten und blauen Blumengeſellſchaften weit reichlicher beſucht, als die gelblich— weißen und gelben, und zwar am ſtärkſten von allen die blauen, am ſchwächſten die gelblichweißen. Entgegengeſetzt verhalten ſich die kurzrüſſeligen Gäſte, die im Gegen— teile von gelblichweißen und gelben Blu— mengeſellſchaften mit völlig geborgenem Honig ſehr viel ſtärker angelockt werden, als von roten und blauen, bei weitem am ſchwächſten von den blauen. Die langrüſſe— ligen Bienen, auf den Alpen hauptſächlich durch Hummeln vertreten, erweiſen ſich auch den Blumenfarben gegenüber als die intelligenteſten Blumengäſte, indem ſie ſich in ihrer Blumenauswahl weit weniger durch die Farben, als durch den Nahrungs— wert der Blumen beſtimmen laſſen. Meine bereits früher“) ausgeſprochene Vermutung, daß dieſelbe Vorliebe der *) Kosmos, Bd. III, S. 417, 418. Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. 355 Tagfalter für gewiſſe Farben, welche ſich in dem von ihnen durch geſchlechtliche Aus— leſe gezüchteten eigenen Putzkleide aus- werden durchſchnittlich 21,9 verſchiedene ſpricht, auch ihre Blumenauswahl beein— | fluſſen möge, erhält durch denſelben Ver— gleich des Inſektenbeſuches verſchieden ge— färbter Blumengeſellſchaften eine neue Stütze. Bei den vier beſuchteſten Blumen— geſellſchaften von a. gelblichweißer, b. gel— ber, e. roter und d. blauer Farbe kommen nämlich von der Geſammtzahl verſchiede— ner Beſucherarten auf Bläulinge (Lycae- na): a. O, b. 1, c. 1,9, d. 8%, bei den Blumengeſellſchaften dieſer vier Farben insgeſammt: a. O, b. 2,4, C. 2,5, d. 7,9%. 5) Dipterenblumen. Ich habe bereits früher“) auseinandergeſetzt, wie es gekommen ſein mag, daß als Anpaſſun— gen an fäulnisſtoffliebende Dipteren Efel=, Fallen- und Täuſchblumen von ſchmutzi— gen, meiſt gelblichen oder ſchwärzlich pur— purnen Färbungen zur Ausprägung ge— langt ſind, während gewiſſe, ſelbſt zier— lich gefärbte Schwebfliegen ſich die mit ſcharf abſtehender, weißer Mitte gezierten und von dunkleren Strahlen durchzogenen roſafarbenen und himmelblauen Blumen von Veronica urticifolia und Chamae- drys gezüchtet haben. Auch von den Al— penblumen haben diejenigen, denen (wie z. B. Cynanchum Vincetoxicum) aus⸗ ſchließlich oder (wie z. B. Veratrum) vor— wiegend durch fäulnisſtoffliebende Dipteren Kreuzung zu teil wird, ſchmutzige, grün— gelbe oder gelbliche oder auch (wie z. B. nicht ſelten Saxifraga Aizoon) ſchwärzlich purpurn punktirte oder, wie Sanguisorba, ganz ſchwärzlich purpurne Blumen, und von den reinen Blumenfarben der Züch— tungsprodukte der Schwebfliegen liefern 9 Kosmos, Bd. III, S. 4—6. — 356 uns hier die zierlichen ſchneeweißen Blüten⸗ ſterne der Moehringia muscosa und die bereits charakteriſirten Blumen der Saxi- | | Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. Wenn nämlich eine Biene Blumen ver— ſchiedenen Baues, die zur Gewinnung des fragia rotundifolia neue Belege. Gleich- zeitig lernen wir aber unter den Alpen- blumen außer den drei bisher bekannten noch eine vierte Kategorie von Dipteren— blumen kennen, ſolche nämlich, die nach der Farbe und dem Baue ihrer Blüten eben ſo gut auch von den kurzrüſſeligen Bienen ausgebeutet und gekreuzt werden könnten, in Folge der außerordentlichen Bienenarmut ihrer Wohnorte aber ſich in dem faſt ausſchließlichen Beſitze der Dip— teren befinden. Es ſind die beiden in Ver— wandtſchaft und Blütenbau weit von ein— raſchend ähnlichen Viola biflora und Toz- | zia alpina. 6) Bienenblumen. In Bezug auf die Beteiligung der übrigen Hymenopteren— abteilungen an der Kreuzung und unbe— wußten Züchtung der Blumen habe ich meinen früheren Aufitellungen”) fo wenig neues hinzuzufügen, daß ich mich hier auf die Bienen beſchränken kann. Wie im Tief- land, ſo verdanken wir auch auf den Al— pen den bei weitem größten Teil des Reich— tums nicht nur an Blumenformen, ſondern auch an Blumenfarben dieſen nahrungsbe— dürftigſten, arbeitſamſten, einſichtigſten und geſchickteſten aller blumenbeſuchenden Inſekten, und auch die von ihnen gezüch— tete Farbenmannigfaltigkeit läßt ſich, eben ſo wie der Formenreichtum der Bienen— blumen, aus der überwiegenden Intelli— genz der Bienen erklären. Denn in ihrem eigenſten Intereſſe mußte eine weitgehende Farbendifferenzirung liegen. 8 *) Kosmos, Bd. II, S. 476-495. Honigs und Pollens verſchiedene Bearbei— tung erfordern, ohne Wahl, wie ſie ihr gerade in den Weg kommen, ausbeutet, ſo braucht ſie dazu offenbar erheblich mehr Zeit, als wenn ſie erſt unmittelbar nach— einander alle Blumen der einen Art, dann unmittelbar nacheinander alle Blumen der andern Artin Angriff nimmt. Das hatſelbſt dann ſeine volle Richtigkeit, wenn die aus— gebeuteten Blumen bei übrigens gleichem Bau nur in der Röhrenlänge differiren und daher nur ein verſchieden langes Vor— ſtrecken des Rüſſels nötig machen. Ihrer geſteigerten Intelligenz entſprechend haben ander abſtehenden, in Größe, Umriß und ſattgelber Farbe der Blumen aber über- daher, wie die Beobachtung gezeigt hat, die langrüſſeligen Bienen die Gewohnheit angenommen, ſich andauernd an dieſelbe Blumenart zu halten. Setzen wir nun den Fall, daß von zwei in ihrem Bau et— was verſchiedenen, in der Farbe aber völ— lig gleichen Blumen bei der einen eine Farbenabänderung auftritt, die ſich den Augen der Biene auf den erſten Blick kennt— lich macht, ſo wird es der Biene offenbar vorteilhafter ſein, ſich andauernd an dieſe Färbung zu halten, die ihr gleichartige Blumenarbeit und damit raſcheren Erfolg ſichert, als an die andere, die Verwechſe— lungen und damit Zeitverluſt verurſacht. Die beſonders gefärbte Abart empfängt alſo am regelmäßigſten und in derſelben Zeit am häufigſten die Wohlthat der Kreu— zung, hinterläßt in Folge deſſen die zahl— reichſte und kräftigſte Nachkommenſchaft und bleibt daher ſchließlich die allein über— lebende. Sobald daher der Farbenſinn der Bienen ſich ſoweit ausgebildet hatte, daß ſie auch kleinere Farbendifferenzen leicht wahrnahmen, und ſobald ihre Erfahrung in der Blumenarbeit ſich ſoweit geſteigert hatte, daß ſie möglichſt andauernd die ein— mal in Angriff genommene Blumenart verfolgten, mußten ſie auch, ſoweit auf— tretende Farbenabänderungen Gelegenheit dazu boten, verwandte Bienenblumen, die an denſelben Standorten gleichzeitig neben einander blühten, zu verſchiedenen Farben züchten. Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. Dadurch iſt nun eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit der Bienenblumen zur Ausprägung gelangt, die bis jetzt voll- ſtändig überſehen worden zu ſein ſcheint. Während nämlich die einem gemiſchten Be⸗ ſucherkreiſe kurzrüſſeliger Gäſte angepaß— ten Blumenformen gewöhnlich durch um— faſſende Gruppen verwandter Arten hin— durch dieſelbe (meiſt weiße oder gelbe) Blumenfarbe beſitzen, ſelbſt wenn mehrere dieſer Arten gleichzeitig an demſelbenStand— orte blühen, ſind dagegen nächſtverwandte Bienenblumen deſſelben Standortes in der Regel von verſchiedener Farbe, die ſie auf den erſten Blick unterſcheiden läßt, und nur in ſelteneren Fällen hat ſich bei Bie— nenblumen dieſelbe Blumenfarbe auf eine mannigfach differenzirte Nachkommenſchaft unverändert vererbt. Zum Nachweiſe dieſes bedeutungsvollen Unterſchiedes wird es genügen, wenn ich an folgende allbekannte Thatſachen erin— nere. Von Umbelliferen, Euphorbia, Al- chemilla, Salix, Ranunculus, Potentilla, Alſineen und Kruziferen, wie überhaupt von Blumengattungen und Familien mit offe— nem oder nur teilweiſe geborgenem Honig, finden wir ſehr gewöhnlich mehrere Arten derſelben weißen oder gelben Blumenfarbe gleichzeitig neben einander blühen, und ſelbſt ſo einſichtige Blumengäſte wie die Honig— biene ſieht man z. B. die Blüten von Ra- 357 nunculus acris, bulbosus und repens, die von Potentilla verna und alpestris, die- jenigen verſchiedener Salix-Arten ꝛc., ohne Unterſchied nacheinander und durcheinander ausbeuten. Auch bei Blumen mit bereits völlig geborgenem, aber doch noch einer gemiſch— ten Geſellſchaft ziemlich kurzrüſſeliger Gäſte zugänglichem Honig iſt das Nebeneinan— derblühen gleichgefärbter Arten derſelben Gattung äußerſt häufig, z. B. bei Semper- vivum, Mentha, Androsace, Phyteuma und vielen Kompoſiten, beſonders Cicho— riazeen. Daß dagegen nahverwandteund gleich— zeitig blühende Bienenblumen deſſelben Standortes in ihrer Farbe in der Regel weit auseinandergehen oder ſonſt in Größe oder Höhe über dem Boden ſich auffallend unterſcheiden, zeigen uns Aconitum Lyco- ctonum (gelb) und Napellus (blau); La- mium album. (weiß), maculatum (roth) und Galeobdolon luteum (gelb); Salvia glutinosa (gelb) und pratensis (blau); Teucrium montanum (weiß) und Chamae- drys (purpurn); Pedicularis tuberosa (weißgelb) und verticillata (purpurn); Trifolium badium (gelb bis braun), mon- tanum (kleine weiße, hochſtehende Köpfchen), repens (größere weiße, tiefſtehende Köpf— chen), pratense nivale (noch größere, ſchmutzig weiße), alpinum (purpurn) und zahlreiche andere Beiſpiele, beſonders aus den bienenblumigen Familien der Labiaten und Papilionazeen.“) ) Ausnahmen bietet namentlich die gelbe Blumenfarbe dar, die ſich z. B. in gewiſſen Zweigen der Papilionazeenfamilie ſo ſtreng ver— erbt zu haben ſcheint, daß Abänderungen, die natürlich für die Züchtung differirender Blumen— farben immer die notwendige Vorbedingung bil— den, gar nicht aufgetreten ſein mögen. So fin⸗ 7 358 Wenn dieſe Farbendifferenzirung, wie ich glaube, durch das Unterſcheidungsver— mögen und Unterſcheidungsbedürfnis der Bienen zur Ausprägung gelangt iſt, ſo dürfen wir uns nicht wundern, bei den | Bienenblumen nicht nur Weiß, Gelb, Rot, | Violett, Blau, Braun und ſelbſt Schwärz— lich (Bartsia) in den verſchiedenſten Ab— ſtufungen vertreten zu finden, ſondern auch mehrere Farben an derſelben Blume in mannigfachſter Weiſe kombinirtzu ſehen. Ich erinnere nur an Polygala Chamaebuxus, Viola tricolor, Cerinthe major, Galeop- sis versicolor, Astragalus depressus, alpinus und zahlreiche andere Papilio— nazeen. Dieſelben unbewußten Blumenzüchter, die aus rein praktiſchem Intereſſe ſich und uns die bunteſte Farbenmannigfaltigkeit der Blumen gezüchtet haben, die langrüſſe— ligen Bienen, haben, wo ein Bedürfnis oder eine Möglichkeit der Differenzirung für ſie nicht vorlag, rote, violette und blaue Blu— men vor gelben, weißgelben und weißen ent— ſchieden bevorzugt. Unter den 422 von mir unterſuchten Alpenblumen ſind näm— lich gerade 100 Bienenblumen, und von dieſen ſind nur 34 von weißer, weißgelber oder gelber Blumenfarbe, dagegen 66 in den verſchiedenſten Abſtufungen rot, violett oder blau gefärbt oder wenigſtens mit einer oder mehreren dieſer Farben gezeichnet. Ein ähnliches Verhältnis ſtellt ſich heraus, wenn man die geſammte deutſche und Schweizer Flora in betracht zieht; dann kommen nämlich auf 152 Bienenblumen von weißer, weißgelber oder gelber Blu- menfarbe 330, alſo ebenfalls etwa doppelt den ſich in der Ebene verſchiedene Genista-Arten, auf den Alpen Coronilla vaginalis und Hippo- erepis comosa von völlig gleicher Blumenfarbe Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. ſo viel Bienenblumen, die rot, violett oder blau gefärbt oder wenigſtens mit der einen oder andern dieſer Farben gezeichnet ſind. Bei fo eminent praktiſchen Blumen— gäſten, die mit raſtloſem Eifer nur auf das Zuſammenbringen möglichſt großer Mengen von Blumennahrung bedacht ſind, wie die Bienen, iſt die Annahme einer nicht zugleich praktiſch nützlichen Farbenlieb— haberei jedenfalls ſehr unwahrſcheinlich. Sehr wohl aber mag ſich durch die Erfah— rung, daß rote, violette und blaue Blumen im ganzen von kurzrüſſeligen Inſekten viel weniger beſucht und ausgeplündert wer— den, als weiße und gelbe, eine größere Sympathie für die erſteren als für den Nahrungserwerb vorteilhafter Charakter— zug der Bienen ausgebildet haben. 7) Falterblumen. Daß dieſelbe Farbenliebhaberei auch den Faltern inne— wohnt, geht aus der ſchon früher?) von mir nachgewieſenen Thatſache hervor, daß die Tagfalterblumen der deutſchen und Schweizer Flora faſt ſämmtlich rot oder (Globularia) blau gefärbt ſind. Nur die— jenigen machen eine leicht erklärbare Aus— nahme, welche aus bereits ausgeprägten Hummelblumen erſt nachträglich in falter— reicherer Alpengegend zu Falterblumen umgezüchtet worden ſind (Viola calcarata, Rhinanthus alpinus, Cyclostigma). Ein ſummariſcher Überblick über die Anpaſſungsſtufen der Blumen, ihre Far— ben und ihren Inſektenbeſuch ſcheint hier— nach für eine teilweiſe bejahende Antwort der oben aufgeworfenen Frage zu ſprechen. Um ſicher zu gehen, habe ich jedoch vor der Formulirung eines Urteils dieſelben ſehr häufig vergeſellſchaftet und gleichzeitig in Blüte. *) Kosmos, Bd. III, Heft 5; Bd. VI, Heft 6. Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. Verhältniſſe auch erſt noch von der ent— gegengeſetzten Seite aus ſummariſch über— blickt, indem ich die blumenbeſuchenden Inſekten nach ihren Anpaſſungsſtufen klaſſifizirte und die von ihnen beſuchten Blumen nach Anpaſſungsſtufe und Farbe geordnet zu ſtatiſtiſchen Tabellen zuſam— menſtellte. Das Ergebnis iſt ein durchaus beſtätigendes. Kurzrüſſelige, in der Blu— menausbeutung ungeübte Inſekten beſu— chen allgemein viel mehr weiße, weißgelbe und gelbe Blumen, als rote, violette und blaue; langrüſſelige, in der Blumenaus— beute geübte verhalten ſich entgegengeſetzt. Das geht ſowohl aus dem Überblick über die größeren am Blumenbeſuche beteilig— ten Inſektenabteilungen, als innerhalb derſelben aus dem Vergleich ihrer auf verſchiedener Anpaſſungsſtufe ſtehenden Unterabteilungen unzweideutig hervor. Von je 100 verſchiedenartigen Blumen— beſuchen kommen z. B. à. auf weiße, weiß— gelbe und gelbe (einſchließlich der grünlich— gelben) Blumen, b. auf rote, violette und blaue Blumen: bei den Käfern a. 76,8, b. 23,2; bei den weniger blumentüchtigen Dipteren a. 85,8, b. 14,2; bei den blumen— tüchtigeren Dipteren (Bombyliden, Konopi— den, Empiden, Syrphiden) a. 67,9, b. 30,3; bei den Wespen im weiteren Sinne (Hyme— nopteren außer den Bienen) a. 81,2, b. 18,8; bei den kurzrüſſeligen Bienen (Melitta Kirby) a. 63,8, b. 36,2; bei den langrüſſeligen Bienen (Apis Kirby) a. 36,6, b. 63,3; bei den Faltern a. 43,8, b. 56,1. Bei den Faltern würde ohne Zweifel b gegen a noch viel ſtärker im Übergewicht ſein, wenn nicht die große Überzahl, in der ſie auf den Alpen umher— flattern, ſie zu häufigen Beſuchen auch ihnen weniger entſprechender Blumen ver- 359 anlaßte. Bei den einzelnen Zweigen des Hymenopterenſtammes geſtaltet ſich das— ſelbe Verhältnis folgendermaßen: Bei den Nichtbienen zuſammen: à. 81,2, b. 18,8; bei den Bienen zuſammen: à. 42,9, b. 57,1; innerhalb der Nichtbienen bei den Blattwespen: a. 84, b. 15,4; bei den Schlupfwespen und Verwandten: a. 90,0, b. 10,0; bei den Grab- und Goldwespen: a. 75,4, b. 24,6; bei den Ameiſen: à. 79,1, b. 20,9; bei den echten Wespen: a. 79,4, b. 20,6; innerhalb der Bienen bei den kurz— rüſſeligen Bienen (Melitta K.): a. 63,8, b. 36,2; bei den langrüſſeligen Bienen außer Honigbiene und Hummel: a. 48,9, b. 51,1; bei der Honigbiene: a. 39,3, b. 60,7; bei den ſtaatenbildenden Hummeln (Bombus): a. 35,3, b. 64,7; bei den Schmarotzerhum— meln (Psithyrus): a. 22,2, b. 77,8. Auch das letzte dieſer Ergebniſſe, daß nämlich die Kuckuckshummeln in der Bevorzugung roter und blauer Blumen noch viel weiter gehen als die ſtaatenbildenden, iſt gewiß nichts weniger als zufällig. Der Sorge für ihre Nachkommenſchaft überhoben und nur mit ihrer eigenen Ernährung beſchäf— tigt, können ſie eben frei ihren Liebhabe— reien nachgehen, wie man ſie ja in der That in größter Gemächlichkeit ihre Blu— menarbeit verrichten ſieht, während die Staatenhummeln auf möglichſt vollſtändige Ausbeutung der umgebenden Blumenwelt bedacht ſein müſſen. Selbſt innerhalb der Ordnung der Dipteren läßt ſich die mit der Blumen— tüchtigkeit zunehmende Vorliebe für rote und blaue Blumenfarben in verſchiedenen Familien deutlich nachweiſen. So kommen z. B. bei den kurzrüſſeligen dunkel ein— farbigen Syrphiden (Cheilosia und Chry- sogaster) von je 100 Blumenbeſuchen auf 360 Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. rote, violette und blaue Blumen 15,3, bei den kurzrüſſeligen zierlich gefärbten (Melanostoma, Melithreptus, Syrphus) 26,4, bei den langrüſſeligſten (Volucella und Khingia) 77,2, bei den mit den lang— rüſſeligſten Syrphiden an Rüſſellänge wetteifernden Bombyliden 75,0. Zu ähn— lichen Ergebniſſen führt der Vergleich blumenſteter und nicht blumenſteter Dip— terenfamilien, der Vergleich verſchiedener Museidengattungen u. a. m. Selbſtverſtändlich können dieſe That— ſachen über den Einfluß chemiſcher und phyſikaliſcher Urſachen auf die Blumen— farben keinerlei Auskunft geben. So gut bei Kryptogamen (Chara, Polytri- chum) und Windblütlern (Larix, Corylus) infolge der das Blühen begleitenden che— miſchen Vorgänge lebhaft rote Farben hervortreten und für die Vegetation der ſkandinaviſchen Hochebenen ein durch die andauernde Belichtung hervorgerufener roter Farbenton im allgemeinen charakte— riſtiſch iſt“), mögen auch unter den ur— ſprünglichſten Blumen ſolche von roter Farbe geweſen ſein. Soweit aber die Ausprä— gung der Farben durch die Blumenaus— wahl der Inſekten bedingt geweſen iſt (und wir können ganz ſicher ſein, daß gegen dieſen Einfluß der phyſikaliſche und che— miſche, obwohl er ſtets ſeine notwendige Vorbedingung bildet, weit zurückſteht), ſind wir wohlberechtigt, folgende Sätze als durch die vorliegenden Thatſachen wahrſcheinlich gemacht hinzuſtellen: 1) Aasfliegen und ſonſtige fäulnisſtoff— liebende Dipteren bevorzugen als Blumen— gäſte diejenigen Farben und Gerüche, durch die ſie zu ihren gewöhnlichen Nahrungs- *) Kosmos, Bd. VII, S. 141. quellen geleitet werden. Sie züchten daher, wo ſie als Kreuzungsvermittler das ent— ſcheidende Übergewicht haben, trübe, ſchmutzig gelbe, leichenfarbig fahlbläuliche (Unterlippe von Ophrys muscifera!) und ſchwärzlich purpurne Blumenfarben. 2) Bei den übrigen kurzrüſſeligen und der Gewinnung der Blumennahrung we— nig oder gar nicht angepaßten Blumen— gäſten iſt ein ſolcher Zuſammenhang zwi— ſchen der Farbe ihrer urſprünglichen Nah— rung und derjenigen der von ihnen bevor— zugten Blumen nicht zu erkennen. Wohl aber ſteht feſt, daß ſie von weißen und gelben Blumen ſtärker angelockt werden, als von roten, violetten und blauen. 3) Der Übergang von Windblütigkeit zur Inſektenblütigkeit und die Ausprägung men (Pollenblumen, Blumen mit unmittel— bar ſichtbarem oder nur teilweiſe geborge— nem Honig) konnte natürlich nur unter dem kreuzungsvermittelnden Einfluſſe kurz— rüſſeliger, der Gewinnung der Blumen— nahrung noch nicht angepaßter Inſekten erfolgen. Es konnten alſo auch anfänglich nur einerſeits die oben bezeichneten trüben, andererſeits weiße, weißgelbe und gelbe Blumenfarben gezüchtet werden. 4) Sobald die gegenſeitige Anpaſſung der Blumen und ihrer Kreuzungsvermittler bis zur Bildung vertiefter Safthalter und verlängerter Rüſſel fortgeſchritten war!), waren weniger lichtvolle Blumenabände— rungen, da ſie vorwiegend von den aus— gebildetſten, eifrigſten, alſo auch für die ſten aufgeſucht wurden, offenbar den Blu— men von Vorteil; ebenſo aber auch den | Inſekten die Fähigkeit, dieſe konkurrenz— ) Vergl. Kosmos, Bd. III, S. 408-411. — der niederſten Anpaſſungsſtufen der Blu- Kreuzungsvermittlung brauchbarſten Gä⸗ Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. freieren Honigquellen leicht aufzufinden. Wie Röhrenlänge und Rüſſellänge, ſo mußten ſich alſo nun auch die Ausbildung weniger lichtvoller Farben ſeitens der Blumen und der Fähigkeit, ſie zu unter— ſcheiden, ſeitens der Inſekten gegenſeitig ſteigern. Die Züchtung roter, violetter und blauer Blumen (die oft, aber keines— wegs immer, in dieſer Reihenfolge fort— geſchritten iſt) mußte daher auf der An— paſſungsſtufe der Blumen mit völlig gebor— genem Honig, und die gleichzeitige Aus— bildung der Fähigkeit, dieſe Farben leicht zu unterſcheiden, auf der Anpaſſungsſtufe mäßig langrüſſeliger Falter, Bienen und Fliegen (Syrphiden, Bombyliden) ihren Anfang nehmen. 5) Von den auf dieſe Weiſe zu einem ausgebildeten Farbenſinn gelangten Blu— mengäſten konnten diejenigen, welche nur für ihre eigene Beköſtigung zu ſorgen hat— ten (Falter, Schwebfliegen), ſich der Be— vorzugung ihrer Lieblingsfarben frei über- laſſen. Durch ihre Blumenauswahl ge— langten daher nur rote, violette und blaue Schwebfliegen- und Falterblumen zur Aus— prägung. 6) Dagegen waren diejenigen mit aus— geprägtem Farbenſinn begabten Blumen— gäſte, die nicht nur ſich ſelbſt mit Blumen— nahrung zu beköſtigen, ſondern auch für ihre Brut möglichſt maſſenhaft Pollen und Honig zuſammenzuſchleppen hatten (Bie- nen), zu vielſeitigerer Ausbeutung der Blumenwelt und damit, wie oben gezeigt, zur Züchtung mannigfaltiger Blumenfar— ben veranlaßt. In hervorragendem Grade gilt dies, wegen der koloſſalen Steigerung ihres Nahrungsbedarfs, von den Geſell— ſchaftsbienen, insbeſondere den Hummeln. 7) Bollenblumen hatten um jo mehr 361 Ausſicht, von langrüſſeligen Bienen und Schwebfliegen bevorzugt zu werden, je weniger kurzrüſſeliges und zur Kreuzungs— vermittlung untauglicheres Geſchmeiß ſich auf ihnen einfand. Sobald daher die An— paſſung blumenbeſuchender Inſekten bis zur Ausbildung von langrüſſeligen Bienen und Schwebfliegen fortgeſchritten war, konnten die urſprünglich weißen und gel— ben Farben der Pollenblumen von den genannten Langrüſſlern in Rot, Violett und Blau umgezüchtet werden und wurden zum Teil in dieſer Richtung umgezüchtet. 8) Durch die Blumenauswahl der Abend- und Nachtfalter konnten natürlich nur Blumenfarben gezüchtet werden, die „in der Dämmerungsſtunde, wenn bei Abweſenheit der Sonne das Himmels— gewölbe noch eine Fülle blauen Lichts herniederſtrahlt““), oder im Halbdunkel der Nacht ſich leicht bemerkbar machen, d. h. violette und blaue“) oder blaßge— färbte und ſchneeweiße.““ “) B. Phylogenetiſche Behandlung der Frage. Wenn wir diejenigen Blumenfamilien, deren genealogiſche Verzweigung ſich aus ihren Beſtäubungseinrichtungen erkennen läßt, vom Geſichtspunkte der Entwicklung der Blumenfarben ins Auge faſſen, ſo ſehen wir, wie ſich die ſoeben ermittel— ten allgemeinen Beziehungen im einzelnen geſtaltet haben. In bezug auf Karyo— phylleen und Boragineen iſt dies bereits in meinem letzten Aufſatze gezeigt worden. Einige weitere Beiſpiele folgen hier: *) Dr. E. Krauſe, Kosmos, Bd. III, S. 48. ) Hesperidenblumen Braſiliens, Kosmos, Bd. IV, S. 481; Crocus, Kosmos, Bd. VI, S. 449. ec) Convolvulus sepium, Platanthera etc. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 46 362 Bei den Liliazeen dürfte die Farbe der Perigonblätter urſprünglich, wie bei Paris noch jetzt, grünlich geweſen ſein, ſo daß ſich die Blüten zunächſt nur durch die ab- weichende Farbe der Befruchtungsorgane den Inſekten bemerkbar machten. Wäh— | rend dann aus den urſprünglich honig- den, aus einer lebhaften zu einer trüben loſen Blüten ſolche mit unmittelbar ſicht— barem und dann ſolche mit teilweiſe ge— | borgenem Honig wurden, prägten ſich durch die Blumenauswahl der kurzrüſſeligen Kreuzungsvermittler grüngelbe (Vera— trum) und gelbe (Tofieldia, Gagea), menhange mit der Anpaſſung der Blumen grünlichweiße und weiße (Lloydia, An— thericum) Blumenfarben aus, und die kreis geändert. Bei den Sedumarten, deren Honig noch unmittelbar ſichtbar und allge— mein zugänglich iſt, find die Blumen grüne Perigonblätter übernahmen ſo allein die Funktion der Bemerkbarmachung. Erſt als Grabwespen, Bienen, langrüſſeligere Fliegen und Falter als Kreuzungsvermitt— ler eine vorwiegende Rolle zu ſpielen be gannen und ſich Blumen züchteten, welche dem großen Heere der kurzrüſſeligen Gäſte nicht mehr zugänglich waren, gelangten auch rote, violette und blaue Blumen zur Wulfeni, deſſen Honig noch tiefer gebor- gen liegt und dem hauptſächlich Hummeln Ausprägung. Innerhalb der Gattung Al- lium z. B. beſitzen die Arten mit zugäng— licherem Honig (ursinum, Victoriale) noch weiße, diejenigen mit feſter umſchloſſenem, beſonders von Grabwespen, Bienen, Fal— Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. die nachtfalterblumige Paradisia in blen⸗ dendes Weiß gekleidet; das erſt nachträg— lich den Schwärmern anheimgefallene Ei- lium Martagon iſt, ſeit es aufgehört hat, eine Tagfalterblume zu ſein und von ſei— nen Kreuzungsvermittlern nach Maßgabe ſeiner Blumenfarbe ausgewählt zu wer— Farbe hinabgeſunken. Eben fo hat ſich bei den Kraffula- zeen die Blumenfarbe im engen Zuſam— an einen weiteren oder engeren Beſucher— lich gelb, gelb oder weiß, bei Semper vivum Funkii, montanum, arachnoideum, tectorum, die von einer gemiſchten Geſell— ſchaft von Bienen, Faltern und langrüſſe— ligen Fliegen ausgebeutet und gekreuzt werden, purpurrot, bei Sempervivum als Kreuzungsvermittler dienen, aus pur— tern und langrüſſeligen Fliegen ausgeben: | tetem Honig (z. B. rotundum) rote Perigon- blätter. Welche Farbenmannigfaltigkeit ſich auch in der Familie der Liliazeen die Bienen gezüchtet haben, zeigt ein einziger Blick auf die Gattungen Tulipa, Fritilla- ria, Scilla, Muscari, Hyacinthus, Aspa- ragus und Convallaria. Dagegen halten ſich die Falterblumen innerhalb der oben (Satz 5 und 8) ihnen geſteckten Grenzen. Unſere tagfalterblumige Liliazee (Lilium bulbiferum) ſehen wir in feuriges Rot, purrot in ſchwefelgelb umgezüchtet, nur noch am Grunde der Blumenblätter, als faſt erloſchene Erinnerung an purpurblu— mige Ahnen, einen kleinen Reſt der Pur— purfarbe zeigend. Die ſchön rot gefärbten Kraſſula- und Echeveria-Arten weiſen durch ihre engröhrige Korolle ebenfalls auf lang— rüſſelige Inſekten (vermutlich Falter) als ihre Kreuzungsvermittler und unbewußten Züchter hin. Von allen von mir unterſuchten alpi— nen Saxifragen hat nur oppositifolia völlig geborgenen Honig, nur ihr werden häufig Tagfalter als Kreuzungsvermittler 4 Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. zu teil, nur fie iſt mit prächtigem Rot ge— ſchmückt. Unter den Ranunkulazeen haben wieder diejenigen urſprünglicheren Formen, die in einer offenen, regelmäßigen Blüte nur Pollen oder neben demſelben ziemlich allgemein zugänglichen Honig darbieten, meiſt weiße oder gelbe Blumenfarben, nur bei Myosurus, der mit ſeinem noch höchſt ſchwankenden Zahlenverhältnis der Blüten— teile vielleicht zu den urſprünglichſten Ra— nunkulazeenformen gehört und völlig offe- nen Honig darbietet, ſind die Blumenblätter grüngelb. Von der roten Farbe des Ranun- culus glacialis und der blauen des Leber— blümchens (Hepatica) war bereits oben die Rede. Alle ſonſtigen blauen und vio— letten Ranunkulazeen, die ich näher kenne (Pulsatilla, Delphinium, Aquilegia, Aco- nitum), ſind mehr oder weniger ausge: prägte Hummelblumen. Ich überlaſſe es dem Leſer, die übri— gen in meinem vorigen Aufſatze beſproche— nen Familien von demſelben Geſichtspunkte aus zu durchmuſtern, und bemerke nur, daß mir weder auf den Alpen noch im Tieflande irgend ein Beiſpiel bekannt ge— worden iſt, das mit den oben aufgeſtellten Sätzen in Widerſpruch ſtünde. C. Ontogenetiſche Behandlung der Frage. Wir ſind zu dem Schluſſe geführt worden, daß, abgeſehen von den fäulnis— ſtoffliebenden Dipteren, durch die ſechs— beinigen Kreuzungsvermittler urſprünglich nur weiße, weißgelbe und gelbe, erſt ſpä— ter, auf einer gewiſſen höheren beiderſeiti— gen Anpaſſungsſtufe, auch rote, violette und blaue Blumen gezüchtet worden ſind. Alle diejenigen mir bekannten Fälle, in denen im Laufe der Entwicklung einer einzelnen 363 Blume nach einander verſchiedene Farben hervortreten, können, nach dem biogeneti— ſchen Grundgeſetz, als Beſtätigungen dieſes Schluſſes gelten. Denn immer nur ſehen wir in denſelben rote, violette und blaue Blumenfarben aus weißen oder gelben her— vorgehen, niemals umgekehrt. Ich brauche zum Belege deſſen an die in meinem vori— gen Aufſatze bereits erwähnten Beiſpiele (Myosotis, Pulmonaria, Echium etc.) nur eben flüchtig zu erinnern und nur auf Vi- ola, als in dieſer Beziehung beſonders lehrreich, hier näher einzugehen. Das kurzſpornigſte mir bekannte Veil— chen, Viola biflora, iſt von gelber, das un- ausgebildetſte Stiefmütterchen (V. trico- lor var. arvensis) von weißgelber Blumen- farbe. Bei phylogenetiſcher Behandlung der Frage werden wir alſo das Violett und Blau höher ausgebildeter Viola-Arten als aus Weißgelb oder Gelb hervorge— gangen betrachten müſſen. Die großblumi— gen bunten Stiefmütterchen, die auf Ackern bei Lippſtadt hie und da vorkommen, be— ſonders aber die zahlreichen Abänderun— gen der Viola tricolor var. alpestris, die auf den Alpen unterhalb der Baumgrenze wachſen, liefern in eingehendſter Weiſe die ontogenetiſche Beſtätigung dieſes phyloge— netiſchen Schluſſes. Bei der einen dieſer ſubalpinen Abän⸗ derungen (wir wollen ſie mit A bezeichnen) iſt die Blume unmittelbar nach dem Auf— blühen (A!) etwa 16 bis 17mm lang, 12 bis 13 mm breit und ausſchließlich mit drei verſchiedenen Schattirungen von Gelb gefärbt, die beiden oberen Blumenblätter nämlich weißgelb, die beiden ſeitlichen er— heblich dunkler, etwa zitrongelb, das un— paare unterſte noch dunkler, zwiſchen zitron- und orangegelb, nur feine Baſis iſt inner- 364 halb der als Saftmal dienenden ſchwarzen Strichelchen, dieſes verſtärkend, orangegelb. Im Verlaufe des Blühens wachſen nun die Blumenblätter, während die drei unte— ren ſich gleichzeitig etwas intenſiver färben und die beiden oberen einen äußerſt ſchwa— chen, kaum bemerkbaren Anhauch von Blau bekommen, bis die ganze Blume et— wa 24mm Länge und 19mm Breite er— reicht hat (A2). Nur die Baſis der beiden oberen Blumenblätter iſt bis dahin deut— lich bläulich geworden. Während nun die ausgewachſene Blüte älter wird und ihre Blumenblätter ein wenig weiter ausein— ander treten läßt, ſtellt ſich dieſelbe bläu— liche Farbe auch am Rande der beiden oberen Blumenblätter ein, dehnt ſich von da beiderſeits abwärts aus und verteilt ſich in verwaſchener Weiſe zwiſchen das Weißgelb der ganzen Fläche. Die inten— ſiv gelbe Farbe des unteren Blumenblattes bleibt während dieſer Zeit dieſelbe, wäh— rend die der beiden ſeitlichen vom Rande her etwas verblaßt. Nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze dürfen wir annehmen, daß das Einzel— weſen hier in raſchem Verlaufe nur die— ſelbe Reihenfolge von Entwicklungsſtufen durchläuft, die ſeine Ahnen langſam nach einander erreicht haben. Ein Fortſchritt in der Entwicklung einer Generationsreihe wird nun bekannt— lich oft dadurch erreicht, daß von den Stamm— eltern erworbene vorteilhafte Eigentüm— lichkeiten, auf die Nachkommen vererbt, bei dieſen ſchon in jugendlicherem Alter auftreten, und daß dann von den Nach— kommen im Laufe ihrer weiteren Entwick— lung weitere vorteilhafte Eigentümlichkeiten neu hinzu erworben werden. | Eine zweite Abänderung (B) ſcheint da— Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. “ nach einer weiter fortgeſchrittenen Ausbil— dungsſtufe anzugehören, als die oben be— ſchriebene (A). Denn kurz nach dem Auf— blühen gleichen ihre Blüten (B) ganz den oben aufgeblüten; aber ehe ſie noch die Größe von A? erlangt haben, find fie ſchon bei der Färbung von As angelangt (B?), ja ſogar inſofern ſchon etwas über dieſelbe hinaus, als das Gelb der mittleren Blumen— blätter von den Rändern her weiter ein— wärts verblaßt iſt. Als weitere fortge— ſchrittene Entwicklungsſtufe kennzeichnet ſich die Form B auch dadurch, daß ihre Blumen eine bedeutendere Größe erreichen. Schon ehe ſie völlig ausgewachſen ſind (BB), ha— ben ſie 24mm Länge und 19 mm Breite erreicht. In ihrer Färbung ſind ſie dann über A3 ſchon weit hinausgegangen; auf ihren beiden oberen Blumenblättern iſt das Weißgelb durch das Blau ſchon faſt völlig verdrängt, bis auf eine kleine Stelle an der Baſis; auf dem blaßgelb ge— wordenen Randteile der mittleren Blumen— blätter hat ſich vom Rande her die blaue Farbe ebenfalls deutlich ſichtbar eingeſtellt. Auf ihrer letzten Entwicklungsſtufe (B) beſitzt dieſe Form intenſiv violettblaue obere Blumenblätter, und auf ihren mittleren Blumenblättern iſt der verblaßte Randteil von einem zwar nicht ganz ſo intenſiven, aber doch ſehr entſchiedenen Violettblau eingenommen. Ich kann dieſer Stufenleiter auf ver— ſchiedener Entwicklungshöhe ihrer Blumen— formen angekommener Formen der V. al- pestris noch drei weitere Glieder hinzu— fügen. Einerſeits nämlich findet ſich auf den Alpen ſehr häufig und maſſenhaft, oft ausgedehnte Wieſenabhänge bedeckend, Vio— la alpestris mit rein gelben Blumen, die zu— weilen bedeutende Größe erreichen, aber auch Hermann Müller, Über die Entwicklung der Blumenfarben. im ausgebildetſten Zuſtande keine Spur von Violett oder Blau zeigen, alſo in bezug auf Blumenfarbe der Stammform noch näher ſtehen, als die oben mit A bezeichnete. Andererſeits fand ich bei Malix (31/5 79) eine Form C, und im Tuorsthale (2/6 79) eine Form D, welche beide über die Farben— entwicklung der Form B noch hinausgehen. Bei C erreichen die Blumen 29 mm Länge und 22 — 23 mm Breite; ihre obe— ren Blumenblätter ſind dunkelviolett, die beiden ſeitlichen etwas heller, blau, das untere erſt gelblichweiß, dann hellblau, ſchließlich den beiden mittleren gleichge— färbt. Nur das Saftmal der Unterlippe iſt von Anfang an orangegelb. Bei D erreichen die Blumen 30 mm Länge, 27 mm Breite. Die beiden oberen Blumenblätter ſind geſättigt dunkelviolett, die drei übrigen ſchon vom Aufblühen an ſattblau, nur das Saftmal orangegelb. Selbſt in ganz geſchloſſenen Knospen find die unteren Blumenblätter ſattblau, in noch jüngeren blaulich, in noch jüngeren weiß. Indem dieſe Thatſachen das Hervor— gehen der violetten und blauen Violafar— ben aus der gelben Schritt für Schritt dar— thun, beweiſen ſie zugleich, daß die gelbe Blumenfarbe, mit der Viola calcarataſz. B. auf dem Albulapaſſe) ausnahmsweiſe auf— tritt, nur ein Rückfall in urelterliche Cha- raktere iſt. Ebenſo dürften die roten und weißen Abänderungen, in denen viele ſonſt blaublühende Bienenblumen bisweilen auf— treten (3. B. Polygala vulgaris, comosa, alpestris, Myosotis palustris, Ajuga reptans, gene vensis und pyramidalis) auf Atavismus zurückzuführen ſein und ſomit auf das Hervorgegangenſein dieſer blauen Blumenfarben ausRot und Weiß hindeuten. 365 | Kehren wir nun, zum Schluſſe unferer Betrachtung, zu der am Eingange derſelben aufgeworfenen Frage zurück, ſo müſſen wir dieſe, mit einigen Einſchränkungen, bejahen. In der That iſt die Entwicklung der Blumen von urſprünglichen, allgemein zu— gänglichen zu ſpäteren, auf beſtimmte Be— ſucherkreiſe beſchränkten Anpaſſungsſtufen von einer fortſchreitenden Entwicklung der Blumenfarben begleitet geweſen. Rot, Vio— lett, Blau ſind immer erſt ſpäter gezüchtet worden als Weiß oder Gelb. Wir haben aber keinen Grund anzunehmen, daß die Entwicklung verſchiedener Blumenfarben immer von einer und derſelben Grundfarbe ausgegangen ſei '“), und ſicher iſt die Reihen— folge der auseinander hervorgegangenen Farben nicht immer dieſelbe geweſen. ““) Die Fähigkeit, rote, violette und blaue Farben zu unterſcheiden, haben die blumen— ſuchenden Fleiſch- und Aasfliegen in ge— wiſſem Grade jedenfalls ſchon durch die Übung im Aufſuchen ihrer urſprünglichen Nahrungsquellen erlangt. Dagegen ſcheint ſie ſich bei den Faltern (oder deren Stamm— eltern!), Bienen und langrüſſeligen Fliegen (Syrphiden, Konopiden) erſt gleichzeitig und im engeren Zuſammenhange mit der Aus— bildung langer Rüſſel entwickelt zu haben. ) Bei Liliazeen und Ranunkulazeen z. B. ſcheint aus urſprünglichem Gelbgrün zunächſt einerſeits Weiß, andererſeits Gelb hervorgegan— gen zu ſein. In anderen Fällen dagegen könnte ganz wohl die urſprüngliche Farbe der Blüten— hüllen weiß (wie bei der windblütigen Luzula nivea) oder gelb (wie bei Luzula lutea) oder rot (wie bei Larix) geweſen fein. ) Blau z. B. hat ſich bei Viola jeden- falls aus Gelb, bei Hepatica, Echium, Pul- | monaria und anderen Boragineen dagegen wahr— ſcheinlich aus Rot entwickelt. Die Geſchichte der Schrift. Ein im Londoner Royal Institution gehaltener Vortrag ie Geſchichte der Schrift iſt in großem Maßſtabe die Ge— IE ſchichte des menschlichen Gei- & tes. Genau wie etwas einem abſtrakten Gedanken Ahn— liches ohne eine Sprache ir— gend welcher Art unmöglich iſt, ſo iſt es ſchwer, ohne Schrift ſich einen Begriff von einer fortſchreitenden Ziviliſation oder ei— ner entwickelten Kultur zu machen. Das geübte Gedächtnis iſt ohne Zweifel fähig, wunderbare Thaten zu vollbringen, wie wir von den Hindus lernen können, welche mittelſt desſelben lange Jahrhunderte hin— durch nicht blos Gedichte, ſondern ſogar wiſſenſchaftliche Werke ganz wohl aufbe— wahrt haben; nichtsdeſtoweniger hat das Gedächtnis eine Grenze, und die meiſten von uns, denke ich, würden mißvergnügt ſein, ihm allein die Erinnerung ihrer eige— nen Gedanken und Entdeckungen, geſchweige denn diejenigen anderer anzuvertrauen. von Vrof. A. H. Sayce. Wenn die Sprache dem Menſchen die Macht des verlieh, ſo hat ihn die Schrift befähigt, zuſammenhängenden Denkens Es giebt eine auffallende Analogie zwiſchen der Geſchichte der Sprache und der Schrift. Beide ſind von einem niedern Anfange entſprungen. Die Sprache be— gann mit wenigen Tönen und Ausrufen, welche eine gleich geringe Zahl von Ideen verſinnlichten und ausdrückten; das Schrei— ben begann mit der Abbildung ſolcher Gegenſtände, wie ſie ſich dem Geſichts— kreiſe der erſten Zeichner darboten. Wie früh dies in der Geſchichte unſers Ge— ſchlechts geſchehen iſt, wurde uns neuer— dings durch archäologiſche Nachforſchungen erſchloſſen. Gleich dem Kinde vergnügte ſich der Urmenſch durch Abzeichnen der Dinge, die er um ſich ſah, und gleich früh— entwickelten Kindern zeigte er mitunter ein bemerkenswertes Talent in Ausübung die— ſer Kunſt. Die Zeichnungen des Rens und anderer Tiere, welche mittelſt roher Kieſelſteinwerkzeuge auf Rentierhorn oder Mammutzahn eingeritzt in den Höhlen Frankreichs und Englands gefunden wur— den, ſind häufig von hohem Verdienſt und beweiſen, daß beträchtliche Geſchicklichkeit dasſelbe zu entwickeln und zu gebrauchen. in der Zeichnenkunſt mit der niederſten Wildheit in andern Richtungen vergeſell— ſchaftet geweſen ſein mag. Es iſt dies eine Lektion, die wir bereits von den Eskimos erhalten haben, deren Gravirungen auf Walfiſchknochen denen europäiſcherKünſtler nicht unwürdig ſind, oder von den Buſch— männern Südafrikas, die ſich ſeit lange in der Abbildung von Tiergeſtalten auf der glatten Oberfläche der Felſen hervor— gethan haben. Aber jene Zeitgenoſſen des Rentiers und Mammuts, welche zu dem Zeitalter der polirten Steinwerkzeuge ge— hörten, in welchem England und Frankreich noch ſechs Monate im Jahre unter einer Decke von Gletſchern und feſtem Eiſe la— gen, waren nicht die erſten, welche die Zeichnenkunſt im Weſten ausübten. Eine bemerkenswerte, im vergangenen Jahre in den Pyrenäen gemachte Entdeckung hat erwieſen, daß lange vor ihnen, als Höhlen— bär, Höhlenhyäne und andre ausgeſtorbene Urtiere noch in der alten Welt exiſtirten und als die Geographie Europas weit von derjenigen unſerer Tage abwich, Menſchen vorhanden waren, welche ihre Muße an— wendeten, um ſowohl die ſie umgebenden Tiere als ſich ſelbſt abzubilden. In einer Höhle der älteren Steinzeit oder paläo— lithiſchen Periode ſind eine Anzahl von Zähnen des Höhlenbärs gefunden worden, die mit Zeichnungen verziert waren, von denen einige menſchliche Weſen darſtellten, die, wie es den Beobachtern erſcheint, gleich dem Mammut mit langem Haar bedeckt waren. Ich habe mitunter darüber geträumt, daß die Sprache ſelbſt ihren erſten Anlauf und Fortſchritt der Malerei zu danken haben möchte. Es wird erzählt, daß zwei Chineſen, die daran verzweifel— ten, einander mit Hilfe einer Sprache zu verſtehen, die ſo mancherlei verſchiedene A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. ä 367 | Begriffe mit demſelben Laut bezeichnet, ihre Zuflucht zur Schrift genommen haben, und die meiſten von uns erinnern ſich noch, wie unſere eigenen Anſtrengungen zum Leſen— lernen und unſere Bekanntſchaft mit un— ſerer Mutterſprache durch den Gebrauch von Bildern unterſtützt wurden. Ein Appell an das Auge iſt ſichrer und eindrucksvoller als ein Appell an das Ohr, und wir er— kennen Gegenſtände leichter an ihrer bild— lichen Darſtellung als an ihrem Namen. Nach alledem mag es deshalb nicht para— dox erſcheinen, ſich einzubilden, daß die Anfänge der Schrift älter ſein mögen, als die Anfänge der Sprache, daß Menſchen früher Zeichnungen entwarfen, als ſie ar— tikulirte Laute ausſtießen. Sei dies, wie es ſei, die Entwicklung der Schrift wurde bald weit durch diejenige der Sprache überholt. Die Sprache be— fähigte den Menſchen, ſich Ideen zu ſchaf— fen und ihrer ſich wieder zu erinnern; ſeine Zeichnungen waren blos Abbildungen vor— handener Gegenſtände. Bis er dem Auge Begriffe ſowohl als Gegenſtände darſtellen konnte, war ſeine Schrift in der That ein ſehr armſeliges Werk. Es iſt eine bloße Artigkeit, ſie als Schrift zu bezeichnen. Aber es kam eine Zeit, in welcher ein großer Schritt vorwärts gemacht wurde. Die Begriffe, welche ergänzt werden muß— ten, wenn man die Gemälde der einzelnen Gegenſtände ſchrittweiſe zu einer Geſchichte verband, wurden endlich in den Bildern ſelbſt geleſen. Ein paar Beine z. B. ge— langten dazu, nicht mehr blos eines Men— ſchen Beine, ſondern ebenſowohl den Be— griff des Gehens zu bezeichnen. Die Schrift begann aus ihrem Jugendalter herauszu— treten, aufzuhören, blos maleriſch zu ſein und ideographiſch zu werden. 8 368 Dies iſt der Punkt, an welchem die Entwicklung der Schrift unter einigen Menſchenraſſen ſtehen geblieben iſt. So haben gewiſſe nordamerikaniſche Indianer— ſtämme ſeit lange eine Kunſt beſeſſen, mit einander zu korreſpondiren und magiſche Zeichen und Verfluchungen auf Felſen und Baumrinde zu ſchreiben mit Hilfe von Gemälden und Begriffszeichen (Ideogra- phen). Wenn dieſe Hieroglyphen, wie wir ſie bezeichnen dürfen, gemalt werden, wird das Schriftſyſtem Kekinowin genannt, und einige der darin angewendeten male riſchen Symbole ſind merkwürdig genug. Ein Krieger z. B. wird durch das Bild der Sonne mit Augen und Naſe nebſt zwei daran hängenden Linien dargeſtellt, weil er ſo kühn und ſtark wie die große Leuchte des Tages ſein muß. Eine auf— wärts gehaltene Hand mit ausgeſpreizten Fingern bedeutet Tod und eine Anzahl in einander befindlicher Kreiſe: Zeit. Dieſes Schriftſyſtem iſt unter den Mikmaks zu ſolcher Ausbildung gelangt, daß zu Wien ein gänzlich in demſelben geſchriebenes re⸗ ligiöſes Werk, welches nicht weniger als 5701 verſchiedene Zeichen enthält, publi— zirt worden iſt. Sobald die Schrift zur ideographiſchen Stufe fortſchreitet, hört die genauere Aus— führung der äußeren Gegenſtände natür— lich auf, notwendig zu ſein. Wenn es ein— mal feſtgeſtellt iſt, daß ein paar Beine den Begriff des Gehens ausdrücken ſollen, dann iſt die genauere Ausführung der Beine nicht länger eine Notwendigkeit. Die beiden Linien eines Winkels können die Idee ebenſo wirkſam darſtellen, wie ein ſorgſam gezeichnetes Beinpaar. Ge— dächtnis und Verſtand werden durch ſie ebenſowohl angeregt als das Auge, und | A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. wir können uns gleich leicht erinnern, daß der Begriff des Gehens durch die beiden Linien oder durch die beiden Beine dar- geſtellt iſt. Wir werden infolge deſſen finden, daß, ſobald das ideographiſche Stadium der Schrift erreicht iſt, die For- men ihrer Symbole auszuarten beginnen. Gerade wie die Laute, aus denen die Worte zuſammengeſetzt ſind, im Laufe der Zeit durch phonetiſchen Verfall dahin— ſchwinden ohne irgendeine notwendige Ab— ſchwächung ihrer Bedeutung, ſo werden auch die Geſtalten der Schriftcharaktere unbeſchadet ihrer Bedeutung verändert und modifizirt. Es verurſacht weniger Mühe, die menſchliche Geſtalt durch ein paar gekreuzte Linien darzuſtellen, als durch eine ausgearbeitete Malerei, und wenn das Symbol verſtändlich bleibt, wird die weniger umſtändliche Darſtellung unzweifelhaft die ältere erſetzen. Male— reien gehen nicht allein in anbetracht ihres innern Sinnes, ſondern auch ihrer äußern Form nach in Begriffszeichen über. So iſt die große Erfindung gemacht worden. Begriffe können dem Auge nicht durch gegenſtändliche Malereien wachge— rufen werden, ſondern nur durch die eigen— mächtige Beſtimmung, daß ein beſtimmtes Zeichen für eine beſtimmte Idee ſtehen ſoll. Die Malereien des Urmenſchen ſind Cha— raktere geworden. Sie wenden ſich nicht . mehr an die äußern Sinne, ſondern an das Gedächtnis. Kurz, es iſt ein Schrift— ſyſtem erfunden, welches wie eine Sprache erlernt werden kann. Es iſt nur noch übrig, die Erfindung zu vervollkommnen, zu ent— decken, wie das geſammte Reich der menſch— lichen Ideen durch die wenigſten und ein— fachſten Zeichen ausgedrückt werden kann. Aber die Entwicklung und Vervoll— — ET TEL = IN EEE Fun = 2 — — — — — — u Bun rn A. H. Sayce, Die kommnung der Erfindung war ein lang— ſamer und allmählicher Vorgang. Wenn wir auf vergangene Zeiten zurückblicken, ſcheint es uns ſonderbar, daß die Charak— tere nicht auf einmal in ein Alphabet um— gewandelt wurden, deren Buchſtaben nur noch Laute bedeuteten. Wir mögen fragen, warum die Menſchen ſo lange Zeit brauch— ten, um herauszubringen, daß es ganz ebenſo leicht iſt, Laute zu ſymboliſiren, als das viel mehr Unerfaßliche, die Idee. In— deſſen, was uns einleuchtend ſcheint, war keineswegs einleuchtend, bevor die Kennt— nis und Erfahrung, welche wir erben, langſam und mühſam erworben worden war. Keine große Entdeckung, wie dieſe, iſt jemals auf einmal gemacht worden, durch einen Sprung. Sie mußte vorberei— tet und herbeigeführt werden; die Zeit mußte, wie wir ſagen, dafür reifen. Und die Geſchichte der Schrift iſt dieſelbe wie diejenige aller andern großen Entdeckun— gen. Da die Begriffe ſich vervielfältigen, wurde es unmöglich befunden, für jeden von ihnen beſondere Charaktere zu finden, noch weniger ſich ihrer insgeſammt zu er— innern. Zuerſt wurde der Schwierigkeit durch Verbindung zweier oder mehrerer Begriffszeichen entſchlüpft, um dadurch eine neue Idee auszudrücken, die in andere, be— reits bekannte und durch Zeichen darſtell— bare Ideen zerlegt wurde. So hatten die alten Babylonier be— ſondere Charaktere, um „Waſſer“ und „Auge“ zu bezeichnen; durch Verbindung dieſer beiden gelangten ſie dazu, dem Ver— ſtande des Leſers die Bezeichnung einer „Thräne“ vorzuführen. So wurde anderer— ſeits, da die Sonne durch einen Kreis dar— geſtellt wurde, ein Monat ſchnell durch Einſchreiben des Zahlzeichens für dreißig Geſchichte der Schrift. 369 in den Kreis, die dreißig Tage des Mond— monats bezeichnend, dargeſtellt. Dieſe Art Begriffe auszudrücken, mag als klaſſifikatoriſch bezeichnet werden. Die Begriffe wurden, einer unter dem andern, in Klaſſen geordnet, und gerade wie wir einen Begriff definiren, indem wir ihn zu einer Spezies eines andern, mehr umfaſſen— den Begriffs machen, wurden neue Be— griffszeichen durch Aneinanderſetzung von zweien oder mehreren gebildet, eins um die Gattung, und eins um die Spezies zu bezeichnen. So wird, wie Dr. Legge gezeigt hat, eine verheiratete „Frau“ oder „Gattin“ in der alten chineſiſchen Schrift durch die beiden Begriffszeichen für „Weib“ und „Beſen“ bezeichnet, ſofern der chine— ſiſche Begriff einer ſorgſamen Hausfrau derjenige eines weiblichen Weſens war, die das Haus durch beſtändiges Kehren rein erhält. So ſtanden auch in dem hiero— glyphiſchen Syſtem, aus welchem die Keil— ſchrift der Babylonier und Aſſyrier ent— ſprang, die Begriffszeichen für „groß“ und „Mann“ ſtatt „König“, welcher als eine beſondere Spezies des Männerge— ſchlechts betrachtet wurde. Dagegen wurde der Begriff „Vater“ maleriſch durch den „Neſtmacher“ und derjenige eines „Ge— fängniſſes“ durch „Haus der Finſternis“ ausgedrückt. Aber nach alledem blieb eine Grenze für die Zahl der Begriffe, die durch Be— griffszeichen ausgedrückt werden konnten. Da Ziviliſation und Kultur fortſchritten, fand es die Bilderſchrift ſchwierig, mit den neuen Begriffen, welche beſtändig ins Da— ſein gerufen wurden, Schritt zu halten. Und ſogar wenn Mittel entdeckt wurden, ſie alle darzuſtellen, wurde dem Gedächt— nis die Bürde übergroß und unerträglich, 3 Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 47 370 A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. ein Lebensalter wurde erforderlich, um ein | einen einzelnen Laut, ſondern eine Silbe Schriftſyſtem zu erlernen, welches durch beſondere Bildzeichen oder Bildgruppen alle die mannigfaltigen Begriffsbildungen des ziviliſirten Lebens zu bezeichnen ver— ſuchte. Ein ziviliſirtes Volk gerät überdies notwendig mit ſeinen Nachbarn in Berüh— rung. Es kann verſucht werden, ſich gleich den Egyptern des alten Reichs oder den Japaneſen einer jüngern Zeit in ſchwei— gender Iſolirung abzuſchließen, aber frü— her oder ſpäter werden die umringenden Völker ſich Aufmerkſamkeit erzwingen, wenn nicht auf friedlichem Wege, ſo durch alle Eventualitäten des Krieges. Dann kommt die Frage, wie durch Schrift fremde Eigennamen ausgedrückt werden ſollen, die keinen Sinn in der Sprache derjenigen beſitzen, die ſich ihrer erinnern möchten? Auf dieſe Frage giebt es nur eine Ant— wort, nur eine Löſung der Schwierigkeit. Man mußte aufhören, die Darſtellung von Gegenſtänden und Ideen zu verſuchen und mußte an ihrer Stelle Worte, das heißt Laute, darſtellen. Der Tag, an welchem dieſe Thatſache der menſchlichen Intelligenz aufdämmerte, war einer der wichtigſten unſers Geſchlechts. Ein Al— phabet wurde möglich und mit ihm die faſt unbegrenzte Macht, die Gedanken und Bedürfniſſe der Menſchheit auszudrücken. Aber es erforderte noch einige Zeit, ’ | bevor die Möglichkeit verwirklicht wurde. Große Entdeckungen werden, wie ſchon vor— hin bemerkt, nicht auf einmal gemacht; ein— fach, wie ſie erſcheinen, nachdem ſie gemacht ſind, mußten ſie dennoch langſam und Schritt für Schritt vorwärts gebracht wer— den. Dem Alphabet ging eine Silben— ſchrift vorauf, d. h. ein Syſtem von Schrift— zeichen, in welchem jedes einzelne nicht bezeichnete. Daß es ſo kam, war faſt unver— meidlich. Wir teilen naturgemäß unſere Worte nicht in Buchſtaben, ſondern in Sil— ben und eine Silbe ſtand häufig für ein Wort. Dies war beſonders der Fall bei den drei leitenden Erfindern der Schrift, den Chineſen, Egyptern und der akkadiſchen Bevölkerung des urſprünglichen Chaldäas. Viele der von dieſen Nationen gebrauch— ten Begriffszeichen ſtellten nicht blos Be— griffe, ſondern auch einzelne Silben vor, und es war einleuchtend, daß ſie ange— wendet werden konnten, um beide auszu— drücken. Im Akkadiſchen bezeichnete das Wort bat beiſpielsweiſe „ſterben“ und wurde durch das Bild eines Leichnams dar— geſtellt, aber bat bedeutete auch „Feſtung“ und ſo wurde das urſprüngliche Zeichen eines Leichnams in das Bild einer „Um— friedigung“ eingefügt, wenn die letztere eine Feſtung oder Zitadelle bezeichnen ſollte. Sobald die Gewohnheit ſich feſtgeſetzt hatte, den Charakteren als phonetiſche Werte ihre Ausſprache als Begriffszeichen beizulegen, breitete ſie ſich reißend aus, bis jedes Bildzeichen ſowohl eine ihm eigene rein phonetiſche, als begriffliche Bedeutung hatte. Der Vorgang wurde ohne Zweifel ſtark durch den Verfall und die Zerſetzung der alten Schriftgemälde befördert; es war leichter, ein Schriftzeichen, welches ſeine ur— ſprüngliche Bildform verloren hatte, als bloßen Vertreter einer Silbe zu behandeln, als eins, welches noch als ein getreues Bild irgend eines Naturgegenſtandes verharrte. Aber der Vorgang war von einer großen Erleichterung begleitet. Begriffszeichen tra— ten oft, wie wir geſehen haben, für mehr als einen Begriff ein, oder derſelbe Begriff mochte unter verſchiedenen Namen bekannt N A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. 371 ſein; wenn daher das alte ideographiſche Syſtem in eine ſillabariſches verwan— delt wurde, ſo ſtellt jedes Begriffszeichen mehr als eine Silbe vor. Die Polyphonie jedes Zeichens, d. h. das Vermögen meh— rere phonetiſche Werte zu bezeichnen, iſt ein großer Stein des Anſtoßes für die Ent— zifferer der egyptiſchen und aſſyriſchen In— ſchriften geweſen und nur allmählich aus dem Wege geräumt worden. Sie war auch den Egyptern und Aſſyrern ſelbſt ein Stein des Anſtoßes, und verſchiedene Erfindun— gen wurden gemacht, um ihn zu vermeiden. Weshalb es niemals feſtgeſetzt ward, ihn völlig aus dem Weg zu ſchaffen, indem man jeden Charakter auf den Ausdruck einer einzelnen Silbe beſchränkte, muß wahr— ſcheinlich derſelben Urſache zugeſchrieben werden, welche uns ſo zähe an unſerem eigenen polyphonen Alphabet feſtkleben läßt, ich meine dem eingebornen Konſerva— tivismus des menſchlichen Gemüts. In ir— gend einer Weiſe war es einer ſpätern Zeit und den fremden Entleihern der aſſyriſchen Silbenſchrift überlaſſen, eine Verbeſſerung vorzunehmen, die uns ebenſo einleuchtend als notwendig erſcheint. Bis dahin konnte alſo ein aſſyriſches Schriftzeichen nicht blos begrifflich, ſondern auch als Vertreter meh— rerer beſtimmter und verſchiedener Laute gebraucht werden. Nehmen wir z. B. das Zeichen, welches, wie wir geſehen haben, urſprünglich einen Leichnam bedeutet. Da das gebräuchliche Wort für einen Leichnam im Akkadiſchen bat war, ſo blieb bat der gewöhnliche phonetiſche Wert des Zeichens, aber außer der Silbe bat bezeichnete es auch die Silben mit, til und be und konnte, ganz wie der Schreibende wollte, für die Bezeich— nung irgend eines dieſer Silbenlaute ge— braucht werden. In dem achten Jahrhundert vor un— ſerer Zeitrechnung wurde die aſſpriſche Schriftweiſe von den Völkerſchaften ange— nommen, welche zu jener Zeit Armenien im Norden und Medien im Oſten bewoh— ten, und die erſte große Reform wurde in der Beſchränkung jedes Zeichens auf den Ausdruck einer einzelnen Silbe eingeführt. Um indeſſen die Silben darzuſtellen, wurde eine ziemliche Menge von Charakteren er— fordert, an der Seite von ba z. B., war es nötig bi, be und bu zu haben, und jeder, der leſen und ſchreiben zu lernen wünſchte, mußte ein gutes Gedächtnis haben. Es war den Perſern vorbehalten, die letzte Verbeſſerung an dem Keilſchrift-Syſtem zu machen, indem fie erfindungsreich ein Alpha— bet herauszogen. Und der Weg, auf wel— chem ſie dazu kamen, war folgender: Eine gewiſſe Zahl von Charakteren wurde ge— nommen, ihre Bedeutung als Begriffszei— chen ins Perſiſche überſetzt, und der beſon— dere Laut, mit welchem jedes dieſer per— ſiſchen Worte begann, wurde dem Schrift— zeichen als ſein alphabetiſcher Wert bei— gelegt. Was die vereinten Anſtrengungen meh— rerer verſchiedener Raſſen und Nationen in dem Falle der Keilſchriftzeichen der Aſſyrer und Babylonier erforderte, wurde ohne Hilfe und allein von dem wunder— baren Volke des alten Egypten vollbracht. Das Aſhmolean-Muſeum in Oxford ent— hält eines der älteſten Monumente der Ziviliſation in der Welt, wenn es nicht thatſächlich das allerälteſte iſt. Es iſt der Denkſtein eines Grabes, welches die letzte Ruheſtätte eines Beamten ausmachte, der zur Zeit des Königs Sent aus der zweiten Dynaſtie lebte, deren Datum durch Ma— riette auf mehr als 6000 Jahre zurück— 372 A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. geſetzt wird. Der Stein iſt mit jener zar— ten und vollendeten Skulptur bedeckt, wel— che die früheſte Periode der egyptiſchen Ge— ſchichte auszeichnet und unvergleichlich hö— her ſteht, als die ſteife und konventionelle Kunſt der ſpäteren egyptiſchen Zeitalter, die wir in unſern europäiſchen Muſeen zu ſehen gewöhnt ſind. Aber er iſt außerdem mit etwas noch Koſtbarerem alsfeine Skulp— tur bedeckt: mit Hieroglyphen, welche zei— gen, daß die egyptiſche Schrift ſogar in dieſer fernen Epoche eine ausgebildete und vollendete Kunſt war, hinter welcher lange Jahre früherer Entwicklung lagen. Die hieroglyphiſchen Charaktere find jedoch nicht allein als Bildzeichen und Ideographen, ſondern auch bereits zum Ausdruck von Silben und Buchſtaben gebraucht, indem z. B. der Name des Königs in Buch— ſtaben geſchrieben iſt. In den Händen der egyptiſchen Schreiber machte indeſſen die egyptiſche Schrift niemals einen ferneren Fortſchritt. Mit dem Fall des ſogenann— ten alten Reiches (ungefähr 3500 v. Ch.) ſchwand die friſche und expanſive Kraft des Volkes dahin. Das egyptiſche Leben und Denken verſteinerte ſich, und durch die lange Reihe der folgenden Jahrhunderte glich Egypten einer ſeiner eigenen Mumien, in— dem es getreulich die Geſtalt und Züge eines vergangenen Zeitalters und eines Le— bens, welches in ſeinen Adern aufgehört hatte zu pulſiren, aufbewahrte. Bis zur Einführung des Chriſtentums beſtand die einzige an der egyptiſchen Schrift vorge— gangene Anderung in der Erfindung einer fließenderen Schrift, welche in ihrer frü- heren und einfacheren Form die hieratiſche und in ihrer ſpäteren Geſtalt die demotiſche genannt wurde. Aber was die Egypter ſelbſt zu thun unterließen, wurde von unternehmenden und wißbegierigen Fremden vollbracht. Für mehrere Jahrhunderte nach dem Fall des alten Reiches war Egypten dem Verfall und inneren Unruhen anheimgefallen, und wenn es wiederum im Lichte der Geſchichte auftaucht, ſo iſt es unter den Fürſten des hundertthorigen Thebens in der als mitt— leres Reich bekanntenPeriode. Während die— ſe Fürſten Theben mit Tempeln und Granit— koloſſen verzierten und in den Felſen von Beni⸗Haſſan Gräber für ſich aushöhlten, geſchah es, daß ums Jahr 2700 v. Ch. eine kleine Anzahl von Einwanderern, ſieben und dreißig im ganzen, im Delta ankam. Es waren Schäfer und Rinderhirten von der Küſte Phöniziens und Paläſtinas, und wie mit einer inſtinktiven Ahnung der großen Rolle, die ihre Nachkommen ſpäter in der Ge— ſchichte Egyptens ſpielen ſollten, wurde ihre Ankunft in Malerei und Hieroglyphen auf den Wänden eines der Gräber vonBeni-Haſ— ſan verewigt. Dort können wir ſie noch in Mennigfarbe und Ocker porträtirt ſehen, und in ihren Habichtsnaſen und ſchwarzen Haaren die Züge der Schäferkönige, wel— che Nordegypten 600 Jahre unter ihrem Szepter behielten, wie auch der Kinder Israels und der ſpätern Bevölkerung des Deltas. Denn es kam eine Zeit, wo die Egypter aus dem reichen und fruchtbaren Lande des Deltas, dem erſten Sitze ihrer Macht und Ziviliſation, ausgetrieben und ihre Plätze eingenommen wurden von den Händlern von Tyrus und Sidon und den Ackerbauvölkern Südkanaans. Von dieſer Zeit empfing das Delta einen neuen Na— men bei den Unterthanen der Pharaonen, es wurde Kaphtor oder Großphönizien genannt, ſeit hier die phöniziſchen Semiten ein reiches Gebiet und weitere Länder, ſich A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. auszubreiten, fanden, als in dem eigenen engen Küſtenſtrich ihrer Heimat. Dieſe phöniziſchen Anſiedler ſind es, denen wir unſer jetziges Alphabet verdan— ken. Sie waren, wie ich geſagt habe, ein unternehmendes Volk, und ihre kommerzi— elle Geſchäftigkeit lehrte ſie bald den Wert der Schrift ſchätzen, welche ihre egyptiſchen Nachbarn beſaßen. Aber ſie waren, wie Geſchäftsleute zu werden pflegen, nicht blos ein unternehmendes, ſondern auch ein praktiſches Volk, ſie empfanden nichts von jener konſervativen Ehrfurcht vor der Ver— gangenheit, welche unter den Egyptern Wechſel und Neuerung verhinderte, und nahmen, als ſie ſo in Egypten in die Schule kamen, nicht das geſammte be— ſchwerliche Hieroglyphenſyſtem mit ſeinen Ideographen, Silbenzeichen und ſeiner Polyphonie mit nach Hauſe, ſondern blos ihr Alphabet. Alles übrige wurde beiſeite geworfen ;ſie fanden zweiundzwanzig Buch— ſtabenzeichen ausreichend, um all ihr Den— ken und Sprechen aufzuzeichnen, und nahmen demgemäß blos zweiundzwanzig Zeichen mit. Dieſe zweiundzwanzig Zeichen ſtellen das ſogenannte phöniziſche Alphabet dar, welches von den Phöniziern einerſeits den Hebräern und andererſeits den Grie— chen überliefert ward, von denen es durch die Römer auf uns gekommen iſt. Die egyptiſchen Charaktere wurden von den Phöniziern des Deltas nicht in ihren hiero— glyphiſchen, ſondern in ihren hieratiſchen Formen entliehen, wie zwei oder drei Bei— ſpiele deutlich machen werden. Das neue Alphabet nahm ſchließlich ſeinen Weg von dem Delta nach der alten Heimat der Phönizier an der Küſte von Paläſtina. Bereits in der Zeit Davids hatten die alten Syrier, ihre Geſchichts- 1 373 ſchreiber und Reichsannalen, und Hiram von Tyrus ſchrieb, wie uns erzählt wird, Briefe an König Salomon. Das phöni— ziſche Alphabet, wie wir es nunmehr nen— nen können, wurde den Israeliten zugleich mit andern Kulturelementen überbracht und die benachbarten Völker von Edom, Ammon und Moabempfingen es zuderſelben Zeit. Auch waren bereits den Buchſtaben Namen beigelegt worden, die von phö— niziſchen Worten, welche mit den betreffen— den Buchſtaben des Alphabets anfingen, herſtammten; a zum Beiſpiel wurde aleph, „ein Ochs“, b beth, „ein Haus“, genannt und ſo weiter. Auf dieſe Weiſe wurde die Bedeutung jedes Buchſtabens um ſo leichter dem Gedächtnis der phöniziſchen Schul— knaben eingeprägt, gerade wie in unſeren heutigen Kinderſtuben der Gedanke herrſcht, daß wir weniger Schwierigkeit finden, un— ſer A-B-C zu lernen, wenn wir belehrt werden, daß „A ein Affe wäre, der einen Apfel frißt“ “), als wenn uns einfach ge— jagt würde, A wäre A. Namen und Buch— ſtaben wurden gleichzeitig in die Grenz— länder Phöniziens eingeführt, und im Laufe der Zeit wurden Inſchriften in den neuen Charakteren ſowohl auf Stein eingegraben, als auch auf das vergänglichere Material des Papyrus oder der Baumrinde gemalt. Das älteſte auf uns gekommene Monu— ment mit dem phöniziſchen Alphabet iſt der vor einigen Jahren in der Gegend von Dibon entdeckte Moabiter Stein, welcher an die Eroberungen und Bauten des Kö— nigs Meſha, des Zeitgenoſſen von Ahab, erinnert. Die in den Charakteren dieſes Steines angewendeten Formen müſſen die— ſelben geweſen ſein, wie die von den jüdi— *) Anm. d. Überſ. Im Engliſchen heißt es: „A was an archer, who shot a frog.“ 374 ſchen Propheten beim Niederſchreiben ihrer Prophezeiungen und hiſtoriſchen Erinne— rungen aus ihrer Zeit gebrauchten. Mittlerweile hatten die nördlichen Nachbarn der Phönizier, welche am Golfe von Antiochia wohnten, Handelsreiſen in den fernen Weſten unternommen und gleich- zeitig mit den Waaren und den Gefäßen des Oſtens eine Bekanntſchaft mit dem Alphabet verbreitet. Sie hatten die Be— wohner Kleinaſiens und der benachbarten Inſeln im Beſitz einer Silbenſchrift ge— funden, deren Urſprung noch ein Rätſel iſt, aber als ſie weiter weſtlich gegen die Inſeln des Ageiſchen Meeres und zu den Buchten Griechenlands vordrangen, ent— deckten ſie ein gänzlich ſchriftloſes und ſo— gar mit den Anfängen der Schriftmalerei unbekanntes Volk. Unter dieſem Volke, welches wir jetzt Griechen nennen, errich— teten ſie bald Kolonien, deren wichtigſte in Theben und auf den Inſeln Melos und Thera lagen. Die Inſel Thera war wahr— ſcheinlich der erſte Fleck auf europäiſchem Boden, auf welchem Worte in geſchrie— bene Symbole übertragen wurden. Die älteſten griechiſchen Inſchriften gehören, wie von kompetenten Autoritäten ange— nommen wird, nach Thera, und das Al— phabet dieſer Inſchriften iſt das älteſte Alphabet, welches wir kennen. Die Ge— ſtalten dieſer Schriftzeichen zeigen eine ſo nahe Ahnlichkeit mit denen des Moabiter Steins, um unſern Schluß zu rechtfertigen, daß das Ahnenalphabet, von dem die von Moab und Thera beide abſtammten, das— ſelbe, und daß das Datum der In— ſchriften von Thera nicht ſehr entfernt von demjenigen der Inſchrift des Königs Meſha war. In dieſem Fall wird es in Griechenland während des neunten Jahr— A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. hunderts vor unſerer Zeitrechnung einge— führt worden ſein. Die Griechen ſelbſt glaubten, daß die alte phöniziſche Kolonie im böotiſchen Theben die Quelle und das Zentrum ge— weſen, von welchem das Alphabet über das Land ausgebreitet worden ſei. Kad— mos, der „Oſtliche“, wie ſein Name ſa— gen will, war ſein mythiſcher Erfinder, obgleich ſpätere Legenden vermeldeten, wie der geſchickte Palamedes und der Poet Simonides in der Folge neue Buch— ſtaben hinzugefügt hätten. Aber dieſe Le— genden gehören insgeſammt zu den Fabeln des litterariſchen Zeitalters; der Kern von Wahrheit, den ſie enthalten, iſt die That— ſache, daß das griechiſche Alphabet aus Phönizien kam. Es iſt eine Thatſache, für welche thatſächlich noch das Wort Alpha— bet ſelbſt Zeugnis ablegt; alphabet oder alpha, beta, die beiden erſten Buchſtaben des Alphabets, ſind beide, wie wir ge— ſehen haben, phöniziſche Worte. Es würde langweilig und überflüſſig ſein, den Schickſalen des Alphabets wei— ter zu folgen, nachdem es einmal feſten Fuß auf europäiſchem Boden gefaßt hatte. Die Formen und in manchen Fällen die Bedeutungen der Schriftzeichen wechſelten allmählich und manche derſelben unter— lagen beſonderen Modifikationen in ver— ſchiedenen Teilen der griechiſchen Welt. Eine geringe Praxis befähigt uns, durch einen bloßen Blick auf die Formen der Buchſtaben, ſofort zu unterſcheiden, zu wel— chem ſpeziellen Zweige der griechiſchen Raſſe eine Inſchrift gehört. Gleich den Phöniziern vor ihnen, be— zahlten die Griechen die empfangene Wohl— that, indem ſie dieſelbe in ihrem Alphabet den noch weiter weſtlichen Nationen über— 0 A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. brachten. Die griechiſchen Kolonien in Sizilien und Süditalien, meiſtens doriſcher Abkunft, brachten das doriſche Alphabet mit ſich und demgemäß verwandten die Eingebornen Süditaliens, als ſie zuerſt zu ſchreiben begannen, das doriſche Al- phabet ihrer Nachbarn. Von da geſchah es, daß die Lateiner und wir ſelbſt nach ihnen, dem Buchſtaben R einen Schwanz anhefteten, der in dem alten phöniziſchen Alphabete fehlt; von hier auch haben wir durch die Römer den Buchſtaben @ geerbt, der in allen griechiſchen Alphabeten mit Ausnahme des doriſchen, verloren gegan- gen iſt. Andererſeits lernten die Etrusker, jenes geheimnisvolle Volk Norditaliens, die Kunſt, Vaſen zu formen und zu be— malen, von athenienſiſchen Töpfern, und da die letzteren die Gewohnheit hatten, die Namen der auf dieſen Darſtellungen abgebildeten Götter und Heroen darüber zu ſchreiben, ſo lernten die Etrusker zur ſelben Zeit das altattiſche oder joniſche Alphabet. Wir brauchen nur die Alpha— bete Etruriens und Athens neben einander zu ſtellen, um uns ſofort von dieſer That— ſache zu überzeugen. R zum Beiſpiel wird in beiden durch das ſchwanzloſe P wieder— gegeben, wir ſuchen vergeblich in beiden nach E, und die beiden verſchiedenen Zei— chen, welche einſt für die Gaumenlaute e und k ſtanden, ſind in eins verſchmolzen. Al— phabete können, gleich Worten, durch rich— tige Frageſtellung veranlaßt werden, ihre eigene Geſchichte ſowohl wie diejenige des Volkes, welches ſie anwendete, zu erzählen. Die Alphabete des weſtlichen Europas ſind die geraden Abkömmlinge des römi— ſchen. Unſere (ſogenannten lateiniſchen) Anfangsbuchſtaben ſind identiſch mit den— jenigen, die auf den Monumenten der ewi— 375 gen Stadt eingegraben wurden, und wir können mit Hilfe gleichzeitiger Dokumente die aufeinanderfolgenden Anderungen ver— folgen, welche dieſe Anfangsbuchſtaben in die kleineren Typen der Druckerpreſſe oder unſerer Handſchrift verwandelt ha— ben. Auf ſolche Weiſe wurde AN, A, @ auf der einen, und N, a auf der andern, während b und b zu B rückwärts ver— folgt werden kann durch die Mittelſtufen B. B, P. &, und 5. Aber beim Entleihen oder Ableiten eines Alphabets von dem andern hat ſtets eine große Schwierigkeit überwunden wer— den müſſen. Nicht bei zwei Völkern iſt die Ausſprache genau die nämliche, vielmehr differirt ſie, allgemein geſprochen, ſehr weit. Infolge deſſen werden die von dem einen Volke mit den Buchſtaben des Al— phabets verknüpften Laute nicht in allen Fällen mit denjenigen übereinſtimmen, die von dem andern mit denſelben Buchſtaben verbunden werden. Es wird ſich ferner häufig ereignen, daß Laute in einer Sprache fehlen werden, die in einer andern ſehr im Gebrauche ſind. Bei der Entleihung eines Alphabetes wird es daher nötig ſein, mehr zu thun als es einfach zu übertragen; es muß angepaßt werden, gerade wie die Ausſprache franzöſiſcher Worte wie Paris oder Marseille dem Genius der engliſchen Ausſprache angepaßt worden ſind. Neue Laute mußten den altenBuchſtaben beigelegt werden, neue Buchſtaben mußten erfunden oder aus alten umgeformt werden, wäh— rend einige der alten Buchſtaben völlig verſchwunden ſind. Es iſt indeſſen nicht oft vorgekommen, daß ein Alphabet in ſo wiſſenſchaftlicher Weiſe angenommen und angepaßt worden iſt, daß es ſogar an— nähernd all die eigentümlichen Lautabän— 376 derungen der Sprache der Entleiher aus- drückt. Allgemein geſprochen iſt die An— paſſung in roher und ſchnellfertiger Weiſe geſchehen, und diejenigen, welche davon Gebrauch machen, ſind oft in Streit ge— raten, ob die Worte nach ihrer Ausſprache klar verſtändlich ſeien in der Niederſchrift. Oft iſt auch das Alphabet bei einem ſchrift— loſen Volke oder bei einer Raſſe, die bisher eine verſchiedene Schreibweiſe an— wendeten, nicht gewiſſenhaft und mit Über— legung eingeführt worden. Die meiſten un— ſerer weſteuropäiſchen Alphabete ſind all— mählich in dasjenige hineingewachſen, was ſie durch die langſam wirkende Kraft der Zeit und Umſtände und die auf einander folgenden Verbeſſerungsverſuche einzelner Perſonen geworden ſind. Wir können z. B. nicht mit irgend wirklichem Zutrauen ſa— gen, daß das engliſche Alphabet z. B. in demſelben Sinne entliehen und angepaßt worden ſei, in welchem es ſelbſt entliehen und angepaßt wird, um die Laute eines polyneſiſchen Dialektes darzuſtellen. Von der Zeit an, in welcher es zuerſt auf dieſem Inſellande unter der Geſtalt des ſogenannten angelſächſiſchen Alphabets eingeführt worden iſt, hat es eine fort— laufende Geſchichte, eine Geſchichte von langſamer und mitunter kaum merklicher Anderung und Entwicklung durchgemacht, welche, wenn es ihr geſtattet geweſen wäre, ohne Einhalt und Hindernis vorwärts zu ſchreiten, zu einem leidlich brauchbaren Werkzeug zur Darſtellung und Einprägung unſerer Worte geführt haben würde. Aber ſie war unglücklicherweiſe vor nahezu 400 Jahren durch die Erfindung der Buch— druckerkunſt plötzlich gehemmt. Die Be— dingungen der Buchdruckerpreſſe ſtereoty— pirten das Alphabet und die Rechtſchrei— A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. GT — —— N 0 7 u bung der Zeit mit all ihren Unvoll- kommenheiten und, was noch mehr, ſie fixirten die Ausſprache der Worte, welche jene Rechtſchreibung zu ſymboliſiren ver— ſuchte. Es war vergeblich, daß ein geſun— der Unabhängigkeitsſinn lange vorzuwal— ten fortfuhr unter jener großen Zahl ge— bildeter Engländer, die weder Drucker, noch Autoren, noch Schulmeiſter waren, und daß es noch bis zum Ende des letzten Jahrhunderts als keine Schande für ir— gend ein gebildetes Mitglied der Ariſto— kratie galt, ſeine Rechtſchreibung einzu— richten, wie es ihm bequem dünkte. Wir brauchen blos die hinterlaſſenen Original— handſchriften einiger der hervorragendſten Engländer des achtzehnten Jahrhunderts zu unterſuchen, um zu entdecken, daß ſie noch fähig waren, die Freiheit der Privat— rechtſchreibung gegen die Tyrannei der Druckerpreſſe aufrecht zu erhalten. Denn eine Sprache und ihre Aus— ſprache müßte trotz aller Anſtrengungen der Drucker und Pedanten, ihr eine enge Jacke anzulegen, von Generation zu Gene— ration wechſeln. Wir haben nur nötig, unſere Ohren zu gebrauchen, um wahrzu— nehmen, daß ſelbſt in dieſem gegenwärti— gen Augenblick die Ausſprache des gebilde— ten Engliſch in langſamer, aber ſicherer Ver— änderung begriffen iſt. Ich möchte wiſſen, wie Viele noch an dieſem Abend wie ich ſelbſt, an der alten Ausſprache von either und neither feſthalten und noch nicht zu dem immer wachſenden Lager derjenigen übergegangen ſind, welche den reinen Vokal der erſten Silbe in einen Diphthong ver— wandeln, oder die in der Betonung von con- template und retinue noch nach der Weiſe unſerer Großeltern mit dem gekrönten Poeten übereinſtimmen? So lange eine = A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. Sprache lebt, muß ſie wachſen und ſich | buchſtabiren, ohne zu wiſſen weshalb, au— verändern, gleich einem lebenden Organis— mus, und bevor dieſe Thatſache nicht von unſeren Schulmeiſtern anerkannt iſt, wer- den unſere Kinder niemals die wahre Na- tur der Sprache, die ſie ſprechen, und die zu ihrem Eigentum machen. Der Wechſel, Ausſprache des Engliſchen vor ſich ge— gangen, iſt größer, als ohne Mühe ein— geſehen wird. Sollte Jener noch einmal wie— derkommen, um unter uns zu leben, ſo würde das Engliſch, was wir ſprechen, ihm faſt ſo unverſtändlich ſein, wie ein auſtrali— ſcher Jargon, der Thatſache zum Trotze, daß unſer Wörterbuch und unſere Grammatik nur leicht von den ſeinigen abweichen. Aber ein geläufiges Wort klingt fremd, wenn ſeine Ausſprache auch noch ſo wenig ver— ändert wird, und wenn die äußere Form einer ganzen Gruppe von Worten verän— dert iſt, würde ſich ſelbſt der geſchickteſte Philologe in Verlegenheit befinden. ſchmackter ſein, als der Verſuch, eine er— loſchene Phaſe der Ausſprache zu mumi- ficiren, beſonders wenn der Mumiendeckel in ſeiner beſten Zeit nur eine rohe und un— zureichende Hülle war, die nur ſchwach und entfernt die Züge des darunter befindlichen Leichnams porträtirte? Die engliſche Recht— ſchreibung iſt eine bloße Reihe von will— kürlichen Rätſeln, eine Sammlung der wil— den Spekulationen und Etymologieen eines vorwiſſenſchaftlichen Zeitalters und des lau— niſchen Ungefährs unwiſſender Buchdrucker geworden. Sie iſt kaum zu etwas ande— rem gut, als unſere Sprache zu entſtellen, die Erziehung zu erſchweren und falſche Etymologieen nach ſich zu ziehen. Wir Grammatik, die ſie in der Kindheit lernen, ßer daß es in den Wörterbüchern ſo vor— geichriebenift. Als man Voltaire erzählte, daß a-g-u-e ague und p-l-a-g-u-e plague ausgeſprochen würde, erwiderte er, er wünſche, daß das kalte Fieber (ague) die eine Hälfte der engliſchen Sprache und die | Peſt (plague) die andere Hälfte hole, aber der ſeit den Tagen Shakeſpeares in der der Fehler liegt nicht in der engliſchen Sprache, ſondern in der engliſchen Recht— ſchreibung. Die Unwiſſenheit iſt ſowohl die Ur— ſache unſerer ſchlechten Orthographie, wie ſie die Urſache des meiſten Mißgeſchicks iſt, welches die Welt betrübt. Die kleine Skizze der Geſchichte der Schrift, welche wir ſoeben kurz verfolgt haben, hat uns den Zweck gezeigt, dem die Schrift nach— ſtreben ſollte, das Endziel, in welchem die Anſtrengungen der früheren Jahrhunderte ihre Erfüllung finden ſollten. Die Schrift ſollte klar, glatt und ſo genau wie mög— lich den individuellen Klang der Wörter darſtellen, und wenn ſie das nicht thut, iſt Kann deshalb irgend etwas abge— ſie nicht viel über jene Kindheitsſtufen des Wachstums vorgeſchritten, durch welche wir ihren Kampf um den Fortſchritt beob— achtethaben. Die Hauptlaute einer Sprache ſollten jeder ſein eigenes Zeichen haben, das beſonders geſetzt wird, um ihn zu be— zeichnen, und jedes Symbol ſollte einen Laut und nur dieſen Laut bezeichnen. Wir ſollten niemals nur einen Augenblick we— gen der Ausſprache eines Eigennamens oder eines Wortes, welches wir niemals - ausſprechen hörten, zu zögern haben. Bis wir ein Alphabet haben, welches dieſe Be— dingungen erfüllt, iſt unſer Schriftſyſtem noch unvollkommen und irreführend und unſere Ziviliſation iſt nach dieſer Seite weniger vorgerückt, als die der alten Hindus. 1 Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 48 378 Wir dürfen wohl die wilden Raſſen des weſtlichen oder ſüdlichen Amerikas beneiden, welche die Miſſionare mit entſprechenden und rationellen Alphabeten verſehen haben, um in ihnen ihre erſten litterariſchen Ver— ſuche niederzuſchreiben. Ein Alphabet, wel— ches uns geſtattet, den Laut e auf dreizehn verſchiedene Arten auszudrücken, welches keine ſpeziellen Zeichen für ſo häufige Laute wie th in then oder a in man hat und dennoch haſſenswerte und unnötige Buchſtaben wie ce und x beſitzt, iſt ſeines Namens unwürdig und noch mehr deſſen, das Endreſultat aller jener Mühſal und Gedankenarbeit zu ſein, die das phöniziſche Alphabet zuerſt zurichtete, um die Idiome von Athen und Rom dadurch auszudrücken. Mitunter erzählt man uns, daß die Refor— men unſeres Alphabets die Etymologieen unſrer Worte zerſtören würde. Wiederum nur Unwiſſenheit iſt die Urſache einer ſo vorſchnellen Behauptung. Die Wiſſenſchaft der Etymologie hat mit Lauten und nicht mit Buchſtaben zu ſchaffen, und keine wahre Etymologie iſt da möglich, wo wir nicht die genaue Weiſe kennen, in welcher die Worte ausgeſprochen wurden. Die ge— ſammte Wiſſenſchaft der vergleichenden Philologie iſt auf die Annahme gegrün— det, daß die alten Hindus, Griechen, Rö— mer und Gothen nahezu ſo ſchrieben, wie ſie ausſprachen, oder, mit anderen Worten, die glücklichen Beſitzer wirklicher Alphabete waren. Es liegt in uns ſelbſt, zu beſtimmen, ob wir auch ſo glücklich ſein werden. Ich kenne die praktiſchen Schwierig— keiten, welche auf dem Reformwege liegen, aber ich weiß auch, daß ſie nicht unüberſteig— lich find. Es iſt nicht durch Faullenzerei und durch Scheu vor Mühe und Anſtrengung A. H. Sayce, Die Geſchichte der Schrift. geweſen, daß England den Platz gewon— nen hat, welchen es jetzt unter den Völ— kern der Welt einnimmt, und der Wert eines Dinges wird durch die Arbeit ge— meſſen, die nötig war, es zu vollbringen. Nach alledem iſt die Einführung eines neuen Alphabets nicht viel verlangt. Es iſt nicht mehr, als von den alten Phöni— ziern des Deltas, von den Griechen, Rö— mern, ja auch von unſern eigenen Ahnen verlangt und erlangt wurde. Und viele von ihnen hatten obendrein ihre geliebten Idole aufzugeben, bevor ſie es annehmen konnten. Ich bilde mir ein, es muß den angelſächſiſchen Runenſchneidern einen ſo harten Kampf gekoſtet haben, die neumo— diſchen Alphabete der römiſchen Miſſionare anzunehmen, wie es irgend einem von uns koſten kann, das Alphabet der Drucker aufzugeben für eines, welches bequem unſer eigenes glänzendes Sprach-Erbe aus— drückt. Aber damit kein Mißverſtändnis über die Sache bleibe: Es iſt nicht eine Reform der Rechtſchreibung, wie es oft irr— tümlich und unrechtmäßig ausgeſprochen wird, ſondern ein reformirtes Alphabet, was verlangt wird. Wir können zu gutem Zweck nicht mit unvollkommnen und ver— brauchten Inſtrumenten arbeiten. Die höhere Landwirtſchafterfordert den Dampf— pflug und nicht das primitive Werkzeug des egyptiſchen Bauers. Wenn die Ge— ſchichte der Schrift uns etwas gelehrt hat, ſo iſt es, daß die Schrift der Vervollkomm— nung zugänglich iſt, und daß das, was in alten Tagen durch diejenigen geſchehen iſt, deren Ziviliſation wir als eine der unſri— gen untergeordnete betrachten dürfen, auch durch uns ſelbſt vollbracht werden kann.“) 9 Vgl. Nature, Nr. 538—539 (1880). Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. George Darwins Rechnungen über die ſäkularen Anderungen der Nlond— und Planekenbewegungen durch den Einfluß der Gezeiten. enn die Erde eine ganz feſte Maſſe ohne alle Flüſſigkeiten wäre,“ ſo ſchrieb der alles erwägende Kant in ſei— ner 1755 veröffentlichten Allgemeinen Naturgeſchichte der Erde und des Himmels, „ſo würde die Anziehung we— der der Sonne noch des Mondes etwas thun, ihre freien Axendrehung zu verän— dern. In dem Falle aber, daß die Maſſe eines Planeten eine beträchtliche Menge des flüſſigen Elementes in ſich faßt, werden die vereinigten Anziehungen des Mondes und der Sonne, indem ſie dieſe flüſſige Ma— terie bewegen, der Erde einen Teil dieſer Erſchütterung eindrücken. Die Erde befindet ſich in ſolchenUmſtänden. Das Gewäſſer des Ozeans bedeckt wenigſtens den dritten Teil ihrer Oberfläche und iſt durch die Attrak— tion der gedachten Himmelskörper in un— aufhörlicher Bewegung, und zwar nach ei— ner Seite, die der Axendrehung gerade entgegengerichtet iſt. Es verdient alſo er— wogen zu werden, ob dieſe Urſache nicht . der Umwälzung einige Veränderungen zu— zuziehen vermögend ſei.“ Kant ſtellte eine Rechnung an, welche ergab, daß zwei Mil— lionen Jahre hinreichen würden, die Be— wegungskraft der Erde aufzuzehren, wenn die Kraft der Fluten bis ans Ende gleich bliebe, und die Erde zu gleicher Dichtig— keit mit dem Waſſer angenommen würde. Nach dieſer Rechnung müßte aber, wie er hinzuſetzt, in zweitauſend Jahren die Jah— reslänge um 8,5 Stunden verkürzt wer— den, und er ſchließt dieſe Betrachtungen mit der Bemerkung: „Nun ſollten billig die Zeugniſſe der Geſchichte herbeigeführt werden, um die Hypotheſe zu unterſtützen; allein ich muß geſtehen, daß ich keine Spu— ren einer ſo wahrſcheinlich zu vermutenden Begebenheit antreffen kann und andern da— her das Verdienſt überlaſſe, dieſen Man— gel womöglich zu ergänzen.“ Dieſe intereſſante Frage wurde im Jahre 1848 von Robert Mayer von Heilbronn, dem Entdecker der mechaniſchen Wärmetheorie, wieder aufgenommen, und derſelbe berechnete, daß die Tageslänge in Folge der Verlangſamung der Axen— drehung in einem Zeitraume von 2500 Jahren um ½¼16 Sekunde vergrößert wer— den würde, doch hält er auch dieſe kleinere 380 Ziffer nach den inzwiſchen bekannt gewor— Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. aus der Kant-Laplaceſchen Theorie er— denen genaueren Daten über die Erddich- ſchloſſenen. tigkeit u. ſ. w. nur unter der Bedin- gung für annähernd richtig, daß ſich in— zwiſchen die Temperaturverhältniſſe und der Erddurchmeſſer nicht weſentlich ge— ändert hätten. i Inzwiſchen kamen verſchiedene Aſtro— nomen, Hanſen, Adams und Delau— nay (1863— 65), von einer andern Seite Über die allgemeinen Reſultate dieſer in ihrem ſpezielleren Teile nur Mathema— wegen der von ihnen bemerkten Säkular⸗ änderung der mittleren Länge des Mondes auf einen ähnlichen Schluß, nämlich daß die Tagesdauer jet Hipparchs Tagen um den 85. Teil einer Sekunde zugenommen haben müſſe, und ſie fanden ſchließlich keine andere kosmiſche Urſache, der ſie dieſe Ver— änderung zuſchreiben konnten, als die Ge— zeiten-Reibung. Eine Reihe hierauf be züglicher Unterſuchungen ſind nun in den Jahren 1878— 1880 von Mr. George H. Darwin der königlichen Geſellſchaft der Wiſſenſchaften in London vorgelegt die Erde als ein zähflüſſiger Körper be— trachtet werden dürfe, was im weſentlichen zu denſelben Reſultaten führt, wie die aus— gehende Rechnung, ſich aber beſſer auf die älteren Zuſtände der Erde anwenden läßt, bei denen es ſich mehr um die Reibung dichterer Maſſen handelte. Zugleich hat gemeiner gefaßt, daß er auch die Wirkun— gen derſelben Urſache auf die Achſenrich— tungen und Bahnformen ſtudirte und zu dem Schluſſe kam, daß man, von dieſer Urſache ausgehend, die jetzigen Verhält- niſſe von einem Anfangszuſtande ableiten Erde ſchließlich von den Gezeiten der Meere aus— | tellit die Ausdrücke Erde und Mond ge: braucht werden . . . . Es ſcheint, daß wir, müſſe, der ziemlich verſchieden iſt von dem tikern und Aſtronomen zugänglichen Rech— nungen hat ihr Urheber kürzlich in einem Artikel der engliſchen Zeitſchrift Nature (Nr. 532. 1880) einen Bericht erſtattet, dem wir das folgende wörtlich entnehmen: . „Wir wiſſen,“ ſagt der Verfaſſer, „daß keine feſten Körper vollkommen ſtarr oder vollkommen unelaſtiſch ſind, und daß keine Flüſſigkeiten der innern Reibung er— mangeln, weshalb die in irgend einem Planeten erregten Gezeiten, mögen ſie nun in ozeaniſchen Gezeiten oder in körperlicher Verzerrung beſtehen, Reibung hervorbrin— gen müſſen. Daraus folgt, daß die dyna⸗ miſche Unterſuchung in einiger Ausdeh— nung auf gegenwärtige Planeten und Sa— telliten anwendbar ſein muß. Was mich anbetrifft, ſo glaube ich, daß dies den Schlüſ— ſel zur Geſchichte des Syſtems giebt, aber worden, Unterſuchungen, in denen ur- ſprünglich davon ausgegangen wurde, daß vielleicht wird hier der Kritik ein weites Feld eröffnet. „Die Unterſuchung ſoll ſich hier in ihrer ſpeziellen Anwendung auf den Fall der und des Mondes richten und deshalb werden anſtatt Planet und Sa— wenn wir die durch die Gezeitenreibung in das Syſtem der Erde und des Mondes Darwin das Problem noch in ſofern all- hervorgebrachten Anderungen in der Zeit rückwärts verfolgen, zu einem Anfangs— zuſtand geführt werden, der ſich wie folgt darſtellen läßt: „Mond und Erde werden als anfangs nahezu einander berührend gefunden; der Mond kehrte der Erde ſtets dieſelbe Seite zu oder war in ſehr langſamer Bewegung | 4 91 + A 3 2 9 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. der Erdoberfläche gegenüber befindlich; | 381 minimum, in welchem das Syſtem von das ganze Syſtem kreiſte innerhalb 2—4 ſeinem Anfangsſtadium nad) eben erfolg: Stunden um eine Axe, deren Neigung zur Ekliptik einen Winkel von 11045“ oder etwas weniger betrug, und der Mond be— wegte ſich in einer kreisrunden Bahn, de— ren Ebene nahezu mit der des Erdäquators zuſammenfiel. „Dieſe Anfangsbildung unterſtellt, daß der Mond durch das Zerreißen eines urſprünglichen Planeten, der die vereinig— ten Maſſen der Erde und des Mondes in ſich ſchloß, infolge ſchneller Rotation oder ter Zerreißung in zwei Körper bis zu ſei— nem jetzigen Zuſtande fortgeſchritten ſein könnte, vierundfünfzig Millionen Jahre beträgt. Die thatſächlich durch dieſe Um— anderer Urſachen hervorgebracht wurde. trächtlichen Anſpruch auf Annahme ha— In einer früheren Arbeit habe ich das Zuſammentreffen nachgewieſen, daß die | kürzeſte Umdrehungszeit einer flüffigen | »Maſſe von derſelben mittleren Dichtigkeit wie die Erde, welche noch mit einer ellip— toidiſchen Gleichgewichtsform verträglich iſt, zwei Stunden und vierundzwanzig Minuten beträgt und daß, wenn der Mond in dieſer Zeitperiode um die Erde kreiſte, die Oberflächen der beiden Körper mit einander in Berührung ſein mußten. „Die Zerreißung des urſprünglichen Planeten in zwei Teile iſt ein Gegenſtand der Spekulation, aber wenn ein Planet und ein Satellit in der oben beſchriebenen anfänglichen Konfiguration gegeben ſind, dann würde notwendigerweiſe ein dem unſrigen ſehr ähnliches Syſtem unter dem Einfluſſe der Gezeitenreibung entwickelt werden müſſen. „Die Theorie fordert, daß im Raume nicht genug zerſtreute Materie vorhanden ſei, um den Bewegungen der Erde und des Mondes durch den Raum materiellen Widerſtand zu leiſten. Auch wird eine hin- reichende Zeitdauer verlangt. In einer früheren Arbeit zeigte ich, daß das Zeit— änderungen eingenommene Zeit wird ſicher— lich viel länger ſein. „Es ſcheint mir, daß eine auf einer vera causa beruhende Theorie, welche die Längen des jetzigen Tages und Monates, die Schiefe der Ekliptik, die Neigung und Exzentrizität der Mondbahn in quantita= tive Beziehung zu einander bringt, be— ben muß. „Es wurde konſtatirt, daß die periodi— ſchen Zeiten des Umlaufs ſowie der Um— drehung des Mondes und der Erde bis zu einer gemeinſamen Periode von zwei bis vier Stunden rückwärts verfolgt wer— den können. In einer früheren Arbeit war die gemeinſame Periode zu einer Länge von etwas über fünf Stunden gefunden worden; aber jenes Reſultat war einge— ſtandenermaßen auf einer teilweiſen Ver— nachläſſigung der Sonnenanziehung baſirt. . .. Die Periode von zwei bis vier Stun— den iſt hier angegeben, weil es für den Mond aus mechaniſchen Gründen unmög— lich iſt, in weniger als zwei Stunden um die Erde zu kreiſen, und es ungewiß iſt, wie die Zerreißung des urſprünglichen Planeten ſtattfand. „Aber wenn Gezeitenreibung das Agens geweſen iſt, durch welches Erde und Mond in ihr jetziges gegenſeitiges Verhältnis gebracht worden ſind, ſo müſ— ſen ähnliche Anderungen auch in den übri— gen Syſtemen vor ſich gegangen ſein, welche das Sonnenſyſtem zuſammenſetzen. . 9 382 Ich will deshalb einige Bemerkungen über die andern Satelliten und Planeten machen. „An erſter Stelle iſt es im ſtrengſten Einklang mit der Theorie, daß der Mond der Erde ſtets dieſelbe Seite zuwenden mußte. Helmholtz war, glaube ich, der erſte, welcher ſchloß, daß die Gezeiten— reibung die Urſache der Reduktion der Axendrehung des Mondes bis zur Iden— tität mit ſeiner Kreisbewegung ſei. Es iſt in dieſem Zuſammenhange intereſſant, zu bemerken, daß das Teleſkop zu zeigen ſcheint, daß die Jupitersmonde und wenig— ſtens einer der Saturnmonde ebenfalls die— ſelbe Eigentümlichkeit beſitzen. „Der Vorgang, durch welchen die Gezeitenreibung die Anderungen in der Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Konfiguration eines Planeten und Satel- liten hervorbringt, iſt eine Zerſtörung von Energie (oder vielmehr ihre teilweiſe Um— wandlung in Wärme im Planeten mit teilweiſer Wiederverteilung) und eine Über— tragung von dem Winkelmomente der Pla— netenumdrehung auf dasjenige des Kreis— umlaufs der beiden Körper um ihr gemein- ſchaftliches Trägheitszentrum. „Nun hat ein großer Planet ſowohl mehr Rotationsenergie, als auch mehr Winkelmoment, woher zu erwarten iſt, daß große Planeten in ihren Umwand— lungen langſamer vorwärts ſchreiten wer— den, als kleinere. „Mars iſt der kleinſte von Monden begleitete Planet und bei ihm allein fin— den wir einen geſchwinder, als der Planet rotirt, umlaufenden Mond. Dies wird auch das ſchließliche Schickſal unſeres Mon- des ſein, weil, nachdem vereinigte Mond— und Sonnen-Gezeitenreibung die Erd— rotation zu einer Gleichheit mit des Mon— Gezeitenreibung fortfahren wird, ſie noch weiter zu vermindern, ſo daß die Erde langſamer rotiren wird, als der Mond umläuft. a „Bevor dies jedoch bei uns geſchehen kann, muß der Mond zu einer ungeheuren Entfernung von der Erde zurückweichen und die Erde muß 40 — 50 Tage, ſtatt 24 Stundem zu einer Umdrehung gebrau— chen. Aber die Marsmonde ſind ſo klein, daß ſie nur eine ſehr kleine Strecke von ihrem Planeten zurückzuweichen brauchten, bevor die Sonnen-Gezeitenreibung die Planetenrotation bis unter den Mond— umlauf verminderte. Der ſchleunige Um— lauf des innern Marsmondes mag alſo im gewiſſen Sinne als eine Erinnerung an die urſprüngliche Rotation des Plane— ten um ſeine Axe betrachtet werden. „Die Planeten Jupiter und Saturn ſind ſehr viel größer als die Erde; hier ſehen wir die Planeten mit großer Schnelligkeit rotiren und die Monde in kurzen Zeiträumen umlaufen. Die Nei— gungen der Bahnen der Jupitersmonde zu ihren eigenen Ebenen ſind vom Ge— ſichtspunkte der vorliegenden Theorie ſehr intereſſant. „Das Saturnſyſtem iſt viel komplizir⸗ ter als das Jupiterſyſtem; es erſcheint teilweiſe in einem frühen Entwidlungszu- ſtande und teilweiſe weit vorgeſchritten. „Die Details der Mondbewegungen ſind kaum genau genug bekannt, um ge— wichtige Argumente für oder gegen dieſe Theorie zu liefern. „Ich habe bis jetzt nicht den Fall ei— nes von mehreren Satelliten begleiteten Planeten oder Sterns unterſucht, aber vielleicht werden künftige Unterſuchungen des Kreislauf reduzirt hat, die Sonnen- ferneres Licht ſowohl auf den Fall des Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Saturns als des geſammten Sonnen— ſyſtems ſelbſt werfen. „Die berühmte Nebelhypotheſe von Laplace und Kant nimmt an, daß ein rotirender Nebel einen Ring abſchleuderte, welcher zuletzt ſich zu einem Planeten oder Satelliten verdichtete, und daß der Zentral— teil des Nebels fortfuhr, ſich zuſammen— zuziehen und den Kern der Sonne und des Planeten bildete. Die hier vorgeſchla— gene Theorie iſt eine beträchtliche Modi— fikation dieſer Anſchauung, denn ſie nimmt an, daß die Zerreißung des Zentralkörpers nicht eher eintrat, als bis er teilweiſe ver— dichtet war und nahezu ſeine jetzigen Di— menſionen erreicht hatte.“ Aber die Flora iſolirter Inſeln im allgemeinen und der oftlfrieſiſchen im beſonderen hat Dr. W. Behrens in Braunſchweig in dem letzten Jahresbericht der „Natur— wiſſenſchaftlichen Geſellſchaft von Elber— feld“ einige biologiſche Bemerkungen mit— geteilt, die wir um ſo lieber hier wieder— geben, weil ſie Bemerkungen über die Frage nach der Entſtehung der Blumen— farbe enthalten, der Dr. Hermann Mül— ler im vorliegenden Hefte unſrer Zeit— ſchrift eine längere Arbeit gewidmet hat. „Im Jahre 1875,“ erzählt der Ver— faſſer, „hatte ich Gelegenheit gehabt, die Flora einiger oſtfrieſiſchen Inſeln genauer unterſuchen zu können. Neuerlich bin ich durch das Studium verſchiedener pflanzen— geographiſchen Schriften auf dieſes Thema zurückgekommen; ich will verſuchen, hier einige, vielleicht neue, allerdings nur frag— mentariſche biologiſche Bemerkungen über 383 die Flora der oſtfrieſiſchen Inſeln nieder— zulegen. Die Schriften, welche ich im Auge habe, ſind die Arbeiten über die Floren der meiſten ozeaniſchen Inſeln, wie ſie ſich in den verſchiedenſten Werken und Zeit— ſchriften zerſtreut finden?); ferner A. R. Wallace: „On the peculiar relations of plants and insects as exhibited in islands“**) und ein Aufſatz von Bonnier und Flahault: „Observations sur les modifications des vegetaux suivant les conditions physiques du milieu.“ ***) Wallace bringt die Armut kleiner Inſeln an Pflanzen mit der Inſektenarmut in Verbindung. Die Inſekten ſind als Beſtäuber für die Pflanzen unumgänglich notwendig; fehlen ſie, ſo gehen die auf die Inſeln durch Luft- und Waſſerſtrö— mung gelangten Pflanzen zu grunde; ebenſo, wenn die auf der Inſel vorkom— menden Inſekten nicht für die Beſtäubung angeſchwemmter Pflanzen paſſen. Es er— klärt ſich hieraus die ſeltſam fragmenta— riſche Natur mancher Inſelfloren, auch das Vorherrſchen gewiſſer Ordnungen und Gattungen. Die große Armut an Schmet— terlingen und Hymenopteren auf den öſt— lichen Inſeln des ſtillen Ozeans hat die Spärlichkeit und die ſo merkwürdige Ver— teilung der Pflanzen auf dieſen Inſeln zur Folge. Hingegen finden ſich auf den Fidji— Inſeln viele Schmetterlinge und entſpre— chend auch mannigfaltigere Gewächſe mit auffallenden, für jene Thiere leicht er— kennbaren Blüten. Auf Juan-Fernandez *) ef. Griſebach, Die Vegetation der Erde, a. a. O. f **) Nature, 1879. Nr. 358, p. 406-408. ***) Annales des sciences naturelles. Partie botanique, 6e serie. Tome VII (1869). 384 hat man bis jetzt nur 5 Inſekten (3 Schmet⸗ terlinge und 2 Hautflügler) gefunden; es fehlen hier faſt ſämmtliche Blütenpflanzen, während die Farnkräuter ganz außer— Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ordentlich vorherrſchen. Anderwärts, auf den Galapagosinſeln und Neuſeeland, ſind gleichfalls nur wenige Inſekten vorhan- den; Blütenpflanzen finden ſich jedoch in überwiegender Zahl, allein ihre Blüten ſind faſt ausſchließlich der Beſtäubung durch den Wind angepaßt, ſind alſo von dem Inſektenbeſuche unabhängig. Ja, auf Triſtan d'Acunha, wo faſt alle Inſekten fehlen, haben viele Pflanzen, z. B. ein Pelargonium, die Blütenfarbe als nutz— loſes Erbteil eingebüßt und im Laufe der Zeit farbloſe Blüten erhalten. (Einen anderen, ähnlichen Fall habe ich irgendwo geleſen: Pringlea antiscorbutica, eine endemiſche Crucifere von Kerguelen, ſcheint | urſprünglich windblütig geweſen zu ſein; für die Wahrſcheinlichkeit des von den vorkommt, bildet fie an den vor Wind ges ſchützten Stellen ſolche bisweilen noch aus.) während ſie gewöhnlich ohne Blütenblätter Wallace erzählt uns ſchließlich, daß auf ſehr vielen Inſeln die bevölkernden Pflan— zen größtenteils windblütig geworden ſind, während gleichzeitig der Duft ihrer Blüten ſchwand: Verhältniſſe, welche durch die Inſektenarmut jener Lokalitäten her— vorgebracht werden. Es iſt eine bekannte Thatſache, daß an denjenigen Orten (z. B. auf dem Hoch- gebirge, in den Polargegenden), die im gan— zen eine ſpärliche Inſektenfauna beſitzen, | die Pflanzen große und durch lebhafte Farben ſchon von weitem in die Augen fallende Blüten beſitzen. Man erklärt die— | jes dadurch, daß an jenen Orten nur ſol— chen Blütenpflanzen genügender Inſekten— beſuch und genügende Kreuzung zu teil . wird, die den emſigen Beſtäubern ſchon von weitem auffallen, alſo mit Leichtigkeit gefunden werden können. Die weniger auffälligen würden von den Beſtäubern übergangen werden, würden feine Beſtäu- bung erfahren und daher im Laufe der Zeit (im Kampf um die Exiſtenz) unter⸗ gehen. Die großen Blüten der Pflanzen von Hochalpen und Polarländern ſind alſo die Produkte einer durch die Inſekten be— werkſtelligten, natürlichen Zuchtwahl.“) Gegen dieſe Erklärung wendet ſich die oben citirte Arbeit von Bonnier und Flahault, welche beweiſen wollen, daß die Größe und Färbung der Korolle von dem Inſektenbeſuch unabhängig iſt, daß ſie ſich vielmehr richtet nach der Beleuch— tungsintenſität, welcher die Pflanzen unter verſchiedenen Breitengraden und in ver— ſchiedenen Elevationen ausgeſetzt find. **) Bezüglich der dort erbrachten Gründe beiden Forſchern ausgeſprochenen Satzes müſſen wir auf ihre Abhandlung ſelbſt verweiſen, die Darlegung würde uns hier zu weit führen. Es mag jedoch hinzuge— fügt werden, daß Sachs“) und Aske— naſyc) in ihren Unterſuchungen über den Einfluß des Lichtes auf die Bildung der Blütenfarbe zu dem Reſultate gelangt ſind, daß letztere ſich unabhängig von erſterem entwickelt. Ich glaube hier für die Annahme, daß die Größe der Blüte und die Intenſität ihrer Färbung von der beſtäubenden In— ) Anm. d. Red. Vergleiche hiergegen je— doch die Bemerkungen von Dr. H. Müller, Kosmos, Bd. J, ©. 541. ) Anm. d. Red. Vergl. Kosmos, Bd. VII, S. 141. ' s) Sachs, Bot. Ztg. 1863, 1865. ) Askenaſy, ibid. 1876. N Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ſektenwelt abhängig iſt, einige neue That⸗ ſachen vorbringen zu können. Für die Un— terſuchung dieſes Phänomens iſt meiner Meinung die Flora der oſtfrieſiſchen In— ſeln ſehr geeignet. Denn auch für ſie gilt der von Wallace ausgeſprochene Satz, daß auf den kleineren Inſeln gewöhnlich Inſektenarmut herrſcht und abhängig da— von die Flora ſehr unentwickelt iſt. Die Inſektenfauna der oſtfrieſiſchen Inſeln iſt bis jetzt noch nicht genauer unterſucht wor— den; diejenigen Gründe, aus welchen ich die große Spärlichkeit folgere, habe ich bei einer Beſprechung von Cerastium te- trandrum auseinander geſetzt.“) Bezüg- lich der Flora liegen aber ſehr genaue Daten vor; nach den fleißigen Zuſammen— ſtellungen von Büchenau““) ergeben ſich Pflanzenarten: Borkum 271. Norderney 229. Langeroog. . 184. Spiekeroog , 162. Juiſt 156. Wangeroog 155. Baltrum 126. Als ich zu Ende Mai 1875 das ab— geſchloſſene Eiland Spiekeroog beſuchte, eine Zeit, zu welcher die Frühlingsflora von blühenden Pflanzen im ganzen 22 Arten, alſo 15% aller dort bis jetzt ge— ſammelten. Die genannten 22 Arten laſ— ſen ſich in zwei Gruppen teilen, nämlich in ſolche, welche windblütig oder anemo- phil ſind (7 Arten — 32) und ſolche, deren Beſtäubung durch Inſekten geſchieht, (15 Arten = 68%), alſo entomophile Ta RE nur die ſchon von weitem erkennbare Ar- ) cf. Flora 1878, S. 229, 230. *) Büchenau in Abhandlungen, heraus- 385 1 Pflanzen. Die blühenden Frühlingspflan⸗ zen von Spiekeroog waren die folgenden: I. Anemophile Arten (7 — 320). Plantago Coronopus, Rumex Acetosella, Triglochin maritimum, Triglochin pa- lustre, Luzula campestris, Carex are- naria, Carex vulgaris. II. Entomophile Arten (15 = 680). Cochlearia danica, Viola canina lanci- folia, Viola tricolor sabulosa, Cerastium hemidecandrum, Cerastium tetrandrum, Cerastium triviale, Erodium cicutarium, Lotus corniculatus, Potentilla anserina, Bellis perennis, Senecio vulgaris, Taraxa- cum officinale, Myosotis hispida, Arme- ria vulgaris maritima, Salix sepens. Zunächſt die Bemerkung, daß die An— zahl der anemophilen Pflanzen (32%) im Vergleich zu den entomophilen (68% ,) eine ungemein große iſt. — Bezüglich des Standortes auf der Inſel laſſen ſich gleich— falls anemophile und entomophile Pflan— zen ſondern. Die der Beſtäubung durch den Wind angepaßten wachſen vorzüglich in der Nähe des Wattſtrandes, auf den Wieſendiſtrikten der Inſel, welche den hef— tigen, um jene Zeit faſt unaufhörlich wehenden Winden ungehinderten Zutritt der Inſel ſich entfaltet hat, fand ich dort | gegeben vom Naturwiſſenſchaftlichen Verein zu | | durch welche man ſchon beim erſten An— Bremen, Bd. IV, S. 260 — 271. geſtatten. Die entomophilen hingegen ve— getiren faſt ausnahmslos in den Dünen, jenen oft ſo wandelbaren Sandhügeln, zwiſchen welchen ſich tiefe, vor dem Winde geſchützte Thäler ausbreiten, die der In— ſektenwelt als willkommne Wohnſtätten dienen. Nur hier entfaltet ſich denn auch im Frühling ein farbenreicher Blumenflor, während ſich auf das grüne Weideland meria maritima hinauswagt. Es iſt nun eine auffallende Thatſache, Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 49 386 blick jener Dünenflora überraſcht wird, daß ſehr viele der entomophilen Früh— lingspflanzen viel ſchöner, d. h. intenſiver gefärbte und größere Blüten beſitzen, als dieſelben Arten auf dem Feſtlande, nur wenige Meilen von ihnen entfernt. Von den in Rede ſtehenden 15 ento— mophilen Pflanzen waren durch dieſes Merkmal folgende 7 (alſo die Hälfte) aus— gezeichnet; 1) Lotus corniculatus L. Blüten tief orangegelb und teilweiſe rot angeflogen. 2) Viola canina L. var. lancifolia Thore, Blüten tiefer blau als bei der Normalform, größer und viel zahlreicher. Auf Spiekeroog fanden ſich noch Exemplare mit vollſtändig weißen Blüten. 3) Viola tricolor L. var. sabulosa DO. gleichfalls durch große und intenſiv gefärbte Blüten ausgezeichnet. 4) Taraxacum officinale Wigg. Blü⸗ tenköpfchen groß, ſehr dichtblütig, geſättigt orangegelb, oft ins Rötliche ziehend (nicht ſchwefelgelb wie auf dem Kontinente). 5) Senecio vulgaris L., desgleichen; Blütenköpfchen groß. 6) Armeria vulgaris L. Dieſe Pflanze nimmt auf den Inſeln einen höchſt eigen— tümlichen Habitus an. Sie iſt niedriger als die Kontinentalform, der Stengel be— haart, die Blätter bewimpert, die Blüten— köpfchen wie die einzelnen Blüten ſind groß und von ſchön rot-violetter, zarter Farbe. Sie bildet den Hauptbeſtandteil der ſendiſtrikte deſſelben. Weidelandflora; wenn man vom Strande her ſich ihren Standorten nähert, ſo be— merkt man ſchon von weitem die von ihr bedeckten, hellroſafarbenen Flächen. Will— denow hat ſie als eigene Art maritima anſehen wollen; mit Büchenau*) bin ich ) Büchenau, a. a. O. S. 266. — Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. jedoch der Meinung, daß ſie nur eine Lo— kalform von A. vulgaris darſtellt. Die hier angeführten Daten ſprechen für ſich ſelbſt. Die ärmliche Inſelflora bietet, wenigſtens im Frühlinge, wenn nur ſehr wenige Inſektenarten das ſturm— gepeitſchte Eiland bevölkern, dieſen weni— gen Gäſten ihre auffallenden, den ſüßen Nahrungsſtoff enthaltenden Blüten dar. Die auffälligſten Blüten werden von den in der Einöde einzeln umherirrenden In— ſekten am leichteſten bemerkt, ihre Beſtäu— bung wird dem entſprechend regelmäßiger vor ſich gehen, als die der unſcheinbareren Nebenbuhler: ſie allein haben deshalb Ausſicht auf Nachkommenſchaft. Daß die Blütengröße und Farbe hier nicht mit geographiſcher Breite, nicht mit Sonnen— beleuchtung und dergl. zuſammenhängt, iſt klar: der Beobachter, welcher der Inſel den Rücken kehrt, betritt ſchon nach halb— ſtündiger Fahrt auf ſchwankender Scha— luppe das Feſtland wieder, wo ihm die ſo eben verlaſſenen Bekannten, jedoch in bläſ— ſeren Blütenfarben und umſchwirrt von zahlreichen Inſekten, entgegentreten. Daraus ergeben ſich folgende Sätze: 1) Die Flora der oſtfrieſiſchen Inſeln beſitzt verhältnismäßig mehr anemophile Pflanzen, als die der Kontinental-Gegen— den Nordweſtdeutſchlands. 2) Die Flora der Dünenthäler der Inſeln beſitzt weniger anemophile Pflan— zen, als die dem Winde exponirten Wie— 3) Die Inſektenfauna der Inſeln iſt im Vergleich zum naheliegenden Feſtlande arm, die Kreuzungsvermittlung entomo— philer Blüten durch dieſelbe daher erſchwert. 4) Viele Pflanzen der Inſeln, zumal die der Frühlingsflora, unterſcheiden ſich, ähn— | . lich wie die der Hochalpen und Polargegen— den, durch Auffälligkeit der Blüten; ſie ſind deshalb zumal durch intenſivere Ko— rollenfärbung von den gleichen Species des nahen Feſtlandes teilweiſe verſchieden. 5) Die Intenſität der Korollenfärbung wächſt nicht, wie Bonnier und Fla— hault annehmen, proportional mit der geographiſchen Breite, iſt nicht abhängig von der Inſolation, ſondern ſie iſt abhängig von der mehr oder minder großen Spärlich— keit der beſtäubenden Inſekten, ſo zwar, daß ſie der Menge der pollenübertragenden Tiere etwa umgekehrt proportional iſt. Die Duftorgane des männlichen Liguſterſchwärmers (Sphinx Ligustri). Seit Dr. Fritz Müller in Braſilien die Funktion wenigſtens einer Klaſſe von Schmetterlingsſchuppen, der Duftſchup— pen, entdeckte, hat man letztere bei vielen Schmetterlingen vorgefunden und ſich von ihrer Thätigkeit überzeugt. In den erſten Tagen des Juni prüfte ich denn auch der Puppe entſchlüpfte Liguſter- und Kiefern— ſchwärmer hinſichtlich dieſes intereſſan— ten Punktes und fand ſogleich beim An— faſſen des lebenden Schwärmers ſowohl, als auch beim Drücken auf den Hinterleib des toten Inſektes“) die am Rande der Unterſeite des erſten Hinterleibsringes ſpielenden Duftorgane (Fig. 1). Dieſel⸗ ben beſtehen aus je einem Büſchel, ſchon bei unbewaffnetem Auge leicht auffallen— der, Haarſchuppen, welcher ausgebreitet und eingezogen wird. Beim Ausbreiten der beiden ſymmetriſch angebrachten Duftor— | * Der Druck auf den Hinterleib ſpannt Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 387 gane ſtrömt bei Sphinx Ligustri ein deut— licher, noch in der Entfernung eines hal— ben Meters bemerkbarer Moſchusduft aus, welcher in Wegfall kommt, ſobald der Schwärmer ſich zur Ruhe begiebt, wobei nämlich der ganze Apparat in einer Falte verſchwindet. Schon mit bloßem Auge ge— wahrt man, daß je ein Duftorgan aus ei— nem nach Art eines Beſens zuſammenge— fügten Büſchel einzelner Haarſchuppen be— ſteht, die am untern Ende feſt anein— ander liegen, nach oben aber ſtrahlig aus— einander ſtehen. Das Mikroſkop zeigt uns aber bei 140 bis 200maliger Ver: größerung ſehr deutlich, daß wir in dieſer Vereinigung von Haarſchuppen mehr als einen bloßen Duftſchuppenkomplex, daß wir ein komplizirtes Organ darin vor Augen haben. Die Haarſchuppen (Fig. 5, dd d. . . .) find Kapillarröhren, welche ich allmählich nach der Spitze hin verdünnen und mit Bläschen einer eigentümlichen Sub— ſtanz, dem Dufte, angefüllt ſind. Säßen dieſe Haarſchuppen, die Dufthaare wol— len wir ſie nennen, nun ausſchließlich mit einer einfachen Wurzel (wu bei Fig. 8 u. 9) gleich den gewöhnlichen Deckſchuppen in Grübchen des Chitinſkelettes loſe eingeſteckt, fo bliebe es unerklärt, wie ſie gerade nur bei Erregung des Schwärmers funktioniren könnten; das iſt aber auch nicht der Fall. Die Dufthaare (Fig. 5, ddd....) ſind nicht, gleich den Deckſchuppen, auf dem Chitinpanzer eingelenkt, ſondern wurzeln (Fig. 5, wu wu) in einem gemeinſchaftlich ſie umſchließenden Hautſacke (sss), wel— cher eine weiße, wolkige Maſſe enthält und durch Muskelzug (mm) angeſpannt werden kann. Sämmtliche Dufthaare ſte— hen geſchloſſen neben einander (Fig. 3a) und ſind durch ein Band (Fig. 6, ba) un⸗ nämlich die noch friſchen Muskeln ſtraff an. 388 I] 9. * Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Funktionirende Duftorgane (DD) des Liguſterſchwärmers, mit unbewaffnetem Auge geſehen. Ein ſolches (D) in der Ruhe, d. h. in der es umſchließenden Muskelfalte (t), begrenzt und zugedeckt von haarähnlichen Grenzſchuppen (8). . Dasjelbe, aus den umgebenden Muskeln und der Falte herausgenommen, im Ruheſtand; 3b natürliche Größe. in Erregung. Durch ſeitlichen Muskelzug iſt die Falte (f), worin das Duftorgan ruhte, breit geöffnet und letzteres ausgeſpreizt worden; 4b natürliche Größe. Duftorgan, Wurzelpartie (200 mal vergr.). Die Dufthaare (d) ſtecken mit der Wurzel (wu) in einer durch einen Sack (s) nach außen abgeſchloſſenen weißen Maſſe (ma); zu beiden Seiten dieſes Sackes ſieht man die den Duftapparat in Funktion ſetzenden Muskeln (m.) Unteres Ende eines Dufthaares; ca iſt ein Stück des mit Moſchusduft angefüllten Ka— pillarrohres, ba ein Stück des ſämmtliche Dufthaare zu einem einheitlich funktionirenden Organ verbindenden Bandes, welches bei Fig. 5 ebenfalls ſichtbar iſt; wu die zangen— förmige, farbloſe Wurzel, welche in der weißen Maſſe ſich befindet. Oberes Ende (Spitze) eines Dufthaares, zeigt bei ca das zufällig leere Ende der Kapillar— röhre, welche übrigens mit Moſchusduft gefüllt iſt. Die einfachen Wurzeln gewöhnlicher Hinterleibsſchuppen. Eine Kielſchuppe, gleichfalls mit einfacher Wurzel und flach. 8 ter einander über der Wurzel verbunden, und zwar ſo feſt, daß man kein einziges verliert, wenn auch ein Apparat aus der Chitinumhüllung am Ende der Falte (Fig. 4a, f) mit Anſtrengung herausgezo— gen wird. Die Wurzel (wu bei Fig. 6) iſt zangenförmig geſtaltet und von zarter, wahrſcheinlich membranartiger Beſchaffen— heit. Die Art und Weiſe der Funktion der Duftorgane denke ich mir nun folgen— dermaßen: Wird der Schmetterling erregt, ſo wirkt ſein Nervenſyſtem auf die Mus— keln, welche die Falte (Fig. 2 u. 41) aus⸗ einanderbreiten, ſo daß ihre Mulde kahn— förmig ſich öffnet und uns das ſichere Ge— wahrſam des offenbar hochwichtigen Or— ganes zeigt. Gleichzeitig ziehen die Mus— keln (mm, Fig. 5) am gemeinſamen Bande (ba, Fig. 5 u. 6) ſämmtlicher Dufthaare, infolge deſſen letztere nachgeben und, die gemeinſchaftliche Form einer Rute oder eines Beſens verlierend, einen Strahlen— büſchel (Fig. 4) bilden. Der Trichter des letzteren erweitert und verengert ſich fort— während beim Spiel der Muskeln, bleibt ſtarr geöffnet, wenn dieſelben ſtraff ange— zogen ſind, ſchließt ſich dagegen und fällt ſchließlich in die Falte zuſammen, wenn jeglicher Muskelzug aufhört. Die Mus— keln ziehen aber auch den die Dufthaar— wurzeln (wu) umhüllenden Sack (s bei Fig. Za u. Fig. 5) ſtraff, wodurch ein Druck der ihn ausfüllenden weißen Maſſe (Duft— maſſe?) auf die weichen Wurzeln erfolgt, der die Duftmaſſe durch das höchſtfeine Kapillar— rohr ausſpritzen läßt, wie man aus teilweiſe leergewordenen Spitzen der Dufthaare ei— nerſeits und dem nur von der Stelle des Duftorganes ausſtrömenden Moſchusduft andererſeits ſchließen muß. Trotz öfterem Gebrauche werden die Dufthaare nicht 1 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 389 leer, entweder weil die Duftmaſſe ſehr ausdehnungsfähig und im verdünnten Grade die ſehr enge und folglich ohne Druck keinen Luftaustauſch zulaſſende Röhre auszufüllen imſtande iſt, oder weil die weiche Wurzel einen Teil der faſt zellen— artig wolkig um dieſelbe lagernden weißen Maſſe, die ganz anders ausſieht als die Muskeln und ziemlich ſicher auch etwas anderes iſt, aufnimmt und ſolchergeſtalt den verlorenen Inhalt vermöge ihrer Quell— barkeit und des horror vacui der Ka— pillarröhre wieder erſetzt. Wie kommt es, daß unſere Sphinxe gerade die Duftorgane auf der Unterſeite haben, und welche Bedeutung haben die— ſelben? müſſen wir uns fragen. Bezüglich der Bedeutung hat uns Fritz Müller bereits aufgeklärt. Wir wiſſen jetzt, daß ſie Korrelationsprodukte der Geſchlechts— teile ſind, geeignet zur geſchlechtlichen Anregung oder Reizung des Weib— chens (Bewerbung). Die geſchlechtliche Annäherung beim Genus Sphinx findet aber nur im Fluge ſtatt. Die beiden Ge— ſchlechter wirbeln im tollſten Fluge mit zu— gekehrter Unterſeite oder Vorderſeite (denn die Augen ſind auch etwas nach, unten“ gerichtet) um einander, krümmen den Hin— terleib und wenn das Weibchen genügend erregt iſt, was es durch Hervorſtrecken der Legeröhre bekundet, ſo erfaßt die Zange des Männchens das Hinterleibsende, und die Begattung iſt vollzogen. Verkehrt ſitzend findet man nächſten Tages zuweilen noch das Paar an einem Baumſtamme vereinigt, um ſich ſpäteſtens bei einbrechen— der Dämmerung zu trennen. Das Weib— chen beſitzt an Stelle der Duftorgane nur Rudimente, vergleichbar dem rudimentä— ren penis (clitoris) des Weibes oder den 390 rudimentären (weiblichen) Zitzen des Man— nes, als eine Folge der Vererbung ur— ſprünglich eingeſchlechtlicher Errungen— ſchaften, ohne welche jede ſtarke ſexuelle Verſchiedenheit ſchwer zu erklären wäre. Wenn nämlich das Weib nicht alle Teile des Mannes der Anlage nach beſäße, wie könnten ſich aus unbefruchteten Bieneneiern Drohnen entwickeln — ohne Zuthat des Männchens?) Während die Färbung des Leibes und der hinteren Flügel der duftenden Sphinxe mir ein faſt bedeutungsloſes Ergeb— nis ihrer Schuppenkonſtruktion zu ſein ſcheint, indem ſelbige in tiefer Dämmerung dem ſchwachglühenden Auge kaum als eine leuchtende auffallen dürfte, analog der Farbe der Sphinxblumenkronen, welche dieſe Wirkung entſchieden ausübt (weiße Petunia, gelbe Nachtkerze, helle Schweizer— hoſe, Geisblatt), müſſen wir einer wich— tigen Beziehung gedenken, welche zwiſchen dem Geſchlechtsdufte und dem Nahrungs— dufte beſteht. Keine Blüten werden näm— lich von den von mir beobachteten Duft— faltern mehr geliebt, als ſolche, welche ihren eigenen Geſchlechtsduft nach— äffen. Winden- und Liguſterſchwärmer beſuchen am liebſten die moſchusduf— tende Schweizerhoſe (Weigelia), dann die einen betäubenden Honig-Moſchus— duft aushauchende Petunie; die Zygänen, welche ihren honigduftenden Reiz— apparat am letzten Hinterleibsring zu beiden Seiten der Zange in Geſtalt zweier gelber, wohlgefüllter Blaſen mit darauf befind— lichen Haarſchuppen aufzuweiſen haben, treiben ſich zu halben Dutzenden auf der honigduftenden Scabioſe und Flocken— blume herum. Die Richtigkeit der Jäger— m x) Vgl. Kosmos. I. S. 505. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 8 7 Noiré'ſchen Anſicht, daß Geruch, Ge— ſchmack und Geſchlechtsſinn in ihrer nahen urſächlichen Zuſammengehörigkeit unter Affinität zu begreifen ſeien, wird hier— durch weſentlich beſtätigt. Andere Nacht— falter, wie z. B. der große Hollunder— ſpanner, folgen gleich den Tagfaltern bei geſchlechtlicher Annäherung auf Entfernung zuerſt dem Auge, in der Nähe erſt dem ſie ſicher machenden Dufte. Das Weibchen übt dabei jedoch keine willkürliche Wahl aus.“) Mainz. W. von Reichenau. Aber die Variabilität der Alilch⸗ drüſen bei den Schafen der niederen Cevennen legte Dr. V. Tayon, Dozent an der land— wirtſchaftlichen Lehranſtalt von Mont— pellier, der Pariſer Akademie der Wiſſen— ſchaften in den Sitzungen vom 19. April und 3. Mai 1880 mehrere intereſſante Arbeiten vor, aus denen wir das nachfol— gende entnehmen: Darwin drückt ſich in ſeinem Buche über das Variiren der Pflanzen und Tiere unter dem Einfluſſe der Domeſtikation hin— ſichtlich der Euter der Schafe wie folgt aus: „Das Vorhandenſein eines Milch— drüſenpaares iſt ein gewiſſes Kennzeichen der Gattung Ovis, ſowie der benachbarten Formen; indeſſen hat Hodgſon bemerkt, daß dieſer Charakter ſelbſt bei den wahren und echten Schafen nicht abſolut beſtändig iſt, denn er hat mehr als einmal bei den 9 Vgl. 1) Die Nefter und Eier der Vögel (vom Verf.). Leipzig, Ernſt Günthers Verlag. 1880. S. 92. — 2) Entomologiſche Nachrichten. Jahrg. 1879. S. 224. — 3) Dr. Rößler in den Naſſ. Jahrbüchern f. Naturkunde. Jahrg. XXVXI. u. XXXII. S. 240. — Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Cagias (einer am Fuße des Himalaya do— meſtizirten Raſſe) vier Zitzen tragende In— dividuen bemerkt. Dieſer Fall iſt um ſo bemerkenswerter, als ein Teil oder Organ, welches im Verhältnis zu demſelben Teile bei verwandten Gruppen in einer geringen Zahl vorhanden iſt, gewöhnlich nur wenig der Variation unterliegt.“) Wir haben zum erſten Male während des Januars bei Herrn von Saint-Maurice zu Tonnels, unweit Montpellier, in einer aus 40 Larzak-Schafen, 20Cauſſinards und einigen gekreuzten Individuen (Larzak-Bar⸗ barin und Cauſſinard-Barbarin) drei Schafe mit vier ſämmtlich milchgebenden Zitzen getroffen. Zwei dieſer Tiere waren Lar— zaks, das dritte Larzak-Barbarin.““) Jedes von ihnen hat ein mit vier Zitzen verſehenes Lamm geworfen. In derſelben Herde zeigte ein Widder der letzterwähnten Baſtardraſſe 4 gleiche Warzen. Die Cauſſi⸗ nards hatten alle nur 2 ſichtbare Zitzen. In Folge dieſer Beobachtung faßten wir den Entſchluß, in das Land zu gehen, wo man die Schafmilch ausbeutet, in der Hoffnung, dieſe Thatſache verallgemeinern ) Dritte deutſche Ausgabe (1878), I. S. 104. **) Anm. d. Red. Über die hier erwähn— ten Schafraſſen iſt folgendes zu bemerken: Das Barbarin oder franzöſiſche Fettſchwanzſchaf iſt nach Bohm, „Schafzucht“, Bd. 2, S. 474 offen⸗ bar nur ein von Algier herüber gebrachter Stamm des berberiſchen oder algieriſchen Fettſchwanz⸗ ſchafes und unterſcheidet ſich nach Moll und Gayot von demſelben durch geringere Größe, ſchwächeren Schwanz, Hornloſigkeit und kürzere Wolle. Es wird hauptſächlich in den ſüdlicheren Departements von Frankreich, und zwar in Ge- | genden, in denen das Merinoſchaf nicht gedeiht, gezüchtet. Die Larzaks und Cauſſinards ſind lo— kale Varietäten, die nach dem Causse de Lar- zak und nach den übrigen Plateaux des Caus- ses der ſüdlichen Cevennenausläufer benannt find. 391 zu können. Wir begaben uns gegen Ende des Februars auf das Plateau von Lar— zak nach Caylar, einem in 833 m Höhe be— legenen Dorfe des Departement l'Herault, zu der Herde des Herrn Salze, die aus 90 Tieren der Larzakraſſe beſtand. Wir haben daſelbſt nur ein einziges mit vier Zitzen (die ſämmtlich Milch geben) verſehe— nes Schaf angetroffen. Zu Sankt Felix hatten beinahe alleLarzak-Barbarin-Schafe der aus 110 Tieren beſtehenden Herde vier Zitzen. In la Cavalerie (Aveyron), dem Mittelpunkte der wichtigen und alten Produktion, haben wir mehr als 4000 Schafe unterſucht und bei einer großen Zahl derſelben vier Zitzenkonſtatirt. Ebenſo in Roquefort und Lauras. Die Entwicklung der ſupplementären Zitzen oder Euter ſcheint, trotz aller großen Unterſchiede, welche vorkommen, nach einer gewiſſen Ordnung ſtattzufinden. Die bei— den hintern Zitzen ſind immer voluminös und oft ſtärker entwickelt als die anderen. Sie entſprechen in ihrer Lage den norma— len Zitzen. Die vordern beiden oder vier überzähligen Zitzen ſind gewöhnlich kleiner und geben nicht immer Milch. Mitunter iſt nur eine überzählige Zitze, ſei es auf der linken oder der rechten Seite, aber im— mer vorn belegen. Die überzähligen Eu— ter treten alſo ohne Ausnahme an den vor der Drüſe belegenen Teilen auf, während ſich das Gegenteil bei unſern Milchkühen zeigt (Sanſon). Die Gegenwart von vier Zitzen iſt alſo bei den Schafen der untern Cevennen eine ſehr gewöhnliche Thatſache. Wir ha— ben fie zu Caylar, Saint Felix, La Cava- lerie, Roquefort u. ſ. w. konſtatirt. Es iſt kaum zu bezweifeln, daß man dieſe Dispo— ſition auch an andern Punkten, wo die N 392 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Milchinduſtrie eine hohe Vollendung er- reicht, finden wird, z. B. zu Camares und Saint Maurice. Bei allen dieſen Milch— ſchafen iſt eine allgemeine Tendenz zur Hy— pertrophie vorhanden, anfangs einfach, dann mit Vermehrung der Zitzenzahl. Wenn wir irgend einen mit vier Zitzen verſehenen Ahnen der Schafe kennten, ſo könnten wir an einen einfachen Rückſchlag auf ein typiſches Urſchaf mit vier Zitzen, welches zu einer gegebenen Zeit gelebt hätte, denken. Wenn die vier Zitzen in den Käſe— fabriken geſucht würden, dann könnte man glauben, daß ein oder mehrere Schafe mit vier Zitzen gelegentlich ohne nachweisbare Urſache erſchienen ſeien, und daß ein in— telligenter Züchter ſie abſichtlich konſervirt und verbreitet hätte. Die Tiere mit vier Zitzen ſind, wie wir es geſagt haben, oft Kreuzungen von Larzak und Barbarin; ja es iſt ſogar ſchwer, abſolut reine Barbarins anzutref— fen; die 1810 durch den General Soli— gnac erfolgte Einführung der Merinos zu Labaume hat Spuren bei vielen Tieren mit vier Zitzen zurückgelaſſen. Man würde ſich fragen können, ob dieſe Kreuzungen mit den Merinos und Barbarins nicht eine gewiſſe Rolle bei der Erſcheinung der neuen Zitzen geſpielt haben. „Gewiſſe Eigentümlichkeiten,“ ſagt Darwin, „welche, die unmittelbaren El— tern nicht charakteriſiren, von ihnen alſo auch nicht herſtammen können, erſcheinen öfter in der Nachkommenſchaft zweier ge— kreuzten Raſſen, während ſie niemals oder wenigſtens höchſt ſelten auftreten, ſo lange man ſich enthält, ſie zu kreuzen.“ Endlich können ſicherlich das Alter der Milchſchafe in den niederen Cevennen und die ſpezielle Behandlung, der ſie un— terworfen werden, als modifizirende Ur— ſachen angeſprochen werden. Mehrere Dokumente erlauben uns thatſächlich zu verſichern, daß die Schaf— herden von Larzak ſeit langen Jahrhun— derten zur Milchwirtſchaft benutzt wurden. Plinius ſpricht von den Käſen des Berges Luzara (Lozere), welche man zu feiner Zeit von Nimes nach Rom brachte. Bose, der Geſchichtsſchreiber von Rouergue, konſta— tirt, daß im Jahre 1070 Flotard von Cor- nus, als er dem Kloſter von Conques eine Landſchenkung machte, unter ihren Ein— künften zwei Käſe aufzählte, welche ihm durch ebenſoviele aus den Felſenhöhlen von Roquefort wiedererſtattet werden mußten. Die Milchergiebigkeit hat ſich demnach ſeit Jahrhunderten langſam von Genera- tion zu Generation übertragen und ver— mehren können. Die Züchter von ehemals und ſelbſt die von heute haben, indem ſie immer die Lämmer der beſten Milchſchafe auswählten, unbewußt Reſultate erzielt, an welche ſie nicht haben denken können. Fügen wir dem vorſtehenden hinzu, daß man die Schafe auf eine beſondere, der Aufmerkſamkeit würdige Art behan— delt. Die Melkung kann in drei verſchie— dene Operationen geteilt werden. Die erſte beſteht darin, alle Milchdrüſen zugleich zwiſchen beiden Händen zu drücken, als ob man einen Schwamm auspreßt. Die zweite oder eigentliche Melkung wird wie bei den andern Milchtieren ausgeführt. Wenn die Drüſen keine Milch mehr zu enthalten ſcheinen, operirt der Schäfer mittelſt der Massage oder Soubatage weiter. Erfchlägt die drüſigen Teile kräftig mit dem Hand— rücken und führt dann eine neue Melkung aus. Nach dieſem neuen Zuge wird die Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Maſſage von neuem mit derſelben Heftig⸗ tigkeit ausgeführt. So wird von gefchid- | ten Schäfern fortgefahren, bis die Drüfen auch nicht die kleinſte Milchmenge mehr liefern. Wir haben dieſer Methode zu— ſchauen und ihre Nützlichkeit erkennen kön— nen. Sie veranlaßt gleichzeitig eine völ— lige Entleerung der Drüſen und einen ſtarken Blutzufluß zu denſelben. Kurz, eine ausgedehnte Ausleſe und die eben beſchriebene beſondere Behand— lungsweiſe haben zuſammen wirken müſ— ſen, um das Volum der beiden Euter zu vermehren und die Erſcheinung von 2, 4 oder 6 neuen Zitzen hervorzurufen. Es iſt nicht zu bezweifeln, daß wir in kurzer Zeit im Beſitz einer vierzitzigen Schafraſſe ſein würden, wenn die Züchter ſich mehr als bisher darauf verlegen woll— ten, dieſe merkwürdige Abart zu erhalten und zu fixiren.“ Dieſen Mitteilungen fügte Herr V. Ta yon in der Sitzung der Pariſer Aka— demie vom 3. Mai 1880 die folgenden hinzu: „Am 15. Februar habe ich bei dem Eigentümer Herrn Gauthier zu Launas ein mit ſechs gleichmäßig entwickelten Zitzen verſehenes Schaf von den Larzakplateaux unterſucht. Das männliche Schaf, welches ſie nährte, zeigte ſeinerſeits vier Warzen und nahm nach Belieben die eine oder andere der ſechs Zitzen. Herr Gauthier hat mir verſichert, daß er im vorigen Jahre ein mit acht, ſämmtlich Milch gebenden Zitzen verſehenes Larzakſchaf dem Metzger übergeben habe. Am 30. April habe ich Gelegenheit gehabt, in meinem Laborato— rium in der landwirtſchaftlichen Lehranſtalt von Montpellier ein mit vier Zitzen ver— ſehenes Larzakmutterſchaf zu unterſuchen. | 393 Eine ſorgfältige Sektion geftattet mir zu verſichern, daß jede von den Zitzen einer unabhängigen und iſolirten Milchdrüſe ent— ſpricht. Man findet, wie bei der Kuh, zwei— ſeitige Drüfen, die durch eine mittelſtän— dige, aus gelbem Faſergewebe gebildete Scheidewand getrennt werden. Die beiden Euter derſelben Seite ſind nur durch ein wenig feſtes Bindegewebe (tissu conjonctif peu serré) von einander geſondert, aber im übrigen völlig ſelbſtändig. „Schließlich habe ich noch in der Um— gegend von Saint-Georges eine Ziege mit vier Zitzen geſehen, was anzudeuten ſcheint, daß bei allen Tieren, deren Zitzen anormal funktioniren, eine Neigung zur Hypertro— phie und Vermehrung der Milchdrüſen vorhanden iſt.“ (Revue internationale des Sciences par L. de Lanessan. Mai et Juin 1880.) Zur hiſtoriſchen Entwicklung des Farbenlinnes. In der Mai-Sitzung der Berliner An- thropologiſchen Geſellſchaft hielt Herr Ober— ſtabsarzt Dr. Rabl-Rükhard über die in den letzten Jahren vielfach von wiſſen— ſchaftlicher Seite ventilirte Frage über die Entwicklung des Farbenſinnes einen Vor— trag, dem wir kurz nach dem Bericht der „Voſſiſchen Zeitung“ folgendes entnehmen: Herr Dr. Hugo Magnus, der be— kannte Breslauer Ophthalmolog, war be— kanntlich lediglich auf Grund ſprachlicher Beweiſe zu dem auffallenden Schluß ge: langt, daß den Griechen der homeriſchen Zeit, ja ſelbſt den Zeitgenoſſen des Pytha— goras und Kenophanes, die beide im ſechs— ten Jahrhundert vor Chr. Geb. lebten, die Unterſcheidung der lichtſchwächeren Farben Kosmos, IV. Jahrg. Heft 3. 50 394 des Spektrums, des Grün und Blau ab- gegangen ſei. Dieſen Ausführungen wurde bald darauf von zwei Seiten entgegenge— treten, durch Herrn Ernſt Krauſe in der Zeitſchrift „Kosmos““ ), und durch den Vor— tragenden, Dr. Rabl-Rükhard, und da— bei geltend gemacht, daß es unlogiſch ſei, die Entwicklung des ſprachlichen Ausdrucks zum Maßſtab der Höhe der phyſiologiſchen Leiſtung des Sinnesorganes zu machen, da beide auch auf anderen Gebieten durch— aus nicht mit einander Schritt halten. Es wurden u. a. die altegyptiſchen bildlichen Darſtellungen dafür als Beweis ins Feld geführt, daß jenes uralte Volk die Farben korrekt angewendet und ſomit korrekt ge— ſehen hatte. Wenn dieſe Bilder die Bäume grün, das Waſſer des Nil blau, das Gold gelb, das Kupfer rot zeigen, ſo kann man doch unmöglich annehmen, daß das Volk, für welches ſie berechnet waren, Grün und Blau als nicht von einander verſchiedene Farben anſah. Gleichzeitig mit dieſen Erörterungen fiel die Veröffentlichung eines Verfahrens, die Farbenblindheit zu erkennen, zuſam— men, nachdem die frühere Methode, nach welcher der zu Unterſuchende die Farbe eines bunten Papierſtreifens anzugeben hatte, deshalb als mangelhaft erkannt worden war, weil weniger gebildete Per— ) Bd. 1, S. 264 (1877). In Anbetracht der vielfachen, zum Teil unqualifizirbaren Ver— ſuche, mir das geringe Verdienſt, die Geigerſche Träumerei zuerſt gründlich widerlegt zu haben, wegzunehmen, bin ich Herrn Oberſtabsarzt Dr. Rabl-Rükhard doppelt dankbar, daß er ſo⸗ wohl vor der Naturforſcher-Verſammlung in Baden-Baden, als auch in der Berliner Anthro— pologiſchen Geſellſchaft Veranlaſſung genommen hat, die Priorität einer ihm völlig unbekannten Perſon in dieſer Angelegenheit gebührend zu wahren. K Be Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ſonen aus mangelnder Uebung und Un— ſicherheit in der Bezeichnung der Farben dabei irrtümlich für farbenblind gehal— ten werden konnten. Dieſes neue Holm— gren'ſche Verfahren, bei dem der zu Prü— fende ohne irgend eine Farbenbezeichnung aus einer Anzahl von bunten Wollproben diejenigen herauszuſuchen hatte, die in der Farbe gleich oder ähnlich waren, zeigte ſich zugleich als ein außerordentlich geeignetes Mittel, den Farbenſinn der Naturvölker zu unterſuchen. Wenn nämlich wirklich, wie Dr. Magnus zu beweiſen verſucht hatte, der Farbenſinn, d. h. die phyſio— logiſche Leiſtung des Sehorgans in Bezug auf die Unterſcheidung der verſchiedenen Farben ſich in der relativ kurzen Zeit von Homer bis jetzt ſo vervollkommnet hat, mußte die Annahme ſehr nahe liegen, daß noch jetzt gewiſſe rohe Völkerſchaften, deren Kultur eine primitive und deren geiſtige Entwicklung eine weit zurückgebliebene war, mit Bezug auf die Farbenunterſchei— dung auf dem Standpunkt der Homeri— ſchen Zeit verharrten. Bereits 1877 wurden auf Holmgren's Veranlaſſung von den imNorden Schwedens anſäſſigen Arzten derartige Unterſuchungen bei den Lappländern angeſtellt. Bis jetzt ſind 269 Fälle unterſucht worden, von denen 158 Männer mit ca. 6 Proz. und 111 Weiber mit noch nicht ganz 1 Proz. farbenblind waren. Weiterhin legte Holmgren im Beginn des Jahres 1878 dem Chef und dem Arzt der letzten Vega-Expedition die Unterſuchung der Polarvölker dringend ans Herz. Auch die in Deutſchland vor— geſtellten Nubier und Lappen wurden un— terſucht. Während die Reſultate der letz— ten Forſchungen bereits durch die wert— volle und exakte Arbeit des Prof. Schö— — Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ler in der Berliner Zeitſchrift für Ethno— — 0) 39 Sie achten überhaupt ſehr wenig auf Far: logie veröffentlicht find, liegen abermals ben. Ferner prüfte Herr Dr. Alm quiſt zwei Publikationen auf dieſem Felde vor. Ein ſchwediſcher Aufſatz Holmgrens, „Beitrag zur Beleuchtung der Frage über die hiſtoriſche Entwicklung des Farben- obgleich auch unter dieſem Volk die Be— ſinnes“ und eine Broſchüre von Magnus: „Unterſuchungen über den Farbenſinn der Naturvölker.“ Ueber die Ergebniſſe beider Arbeiten ſtattet der Vortragende einen Be— richt ab. Der Arzt der „Vega“, Herr Dr. Almquiſt, hat, getreu der an ihn von Holmgren gerichteten Mahnung, die Ge— legenheit benutzt und verſchiedene Polar— völker, mit denen die Expedition in Be— rührung trat, unterſucht. Von nicht ganz 20 Lappen und 10 Samojeden erwies ſich je Einer als farbenblind, alle anderen wa— ren normal. Reichlichere Gelegenheit bot ihm der längere Aufenthalt in dem Win— terquartier am Vorgebirge Serdze bei den Tſchuktſchen. Hier unterſuchte er 300 Per- | mittelft der Holmgren’shen Methode, ſonen, d. h. etwa den zehnten Teil des ganzen Volkes. Die Holmgren'ſche Me- thode kam, ohne Vermittelung von Dol— metſchern leicht zur Anwendung. Von den 300 Geprüften konnten 27 nicht als nor— malſehend bezeichnet werden; von dieſen dürften neun, und zwar lauter Männer, vollſtändig farbenblind ſein. Was die Farbenbezeichnung dieſer Leute anbelangt, ſo haben ſie ein viel gebrauchtes Wort für Rot; Gelb nennen ſie meiſt Weiß, Grün oft Weiß oder Schwarz, geſättigtes Blau aber ſie iſt doch immer eine außerordent— liche Minderzahl gegenüber der Zahl Nor— faſt immer Schwarz. Selten bezeichnen ſie farbige Gegenſtände anders als Rot, Weiß oder Schwarz. und im Spektrum unterſcheiden ſie ſprach— lich drei Farbenbänder, die ſie Rot, Weiß, Schwarz oder Rot, Weiß, Blau nennen. Im Regenbogen in Port Clarence auf der amerikaniſchen Seite des Beringsſundes und auf der Inſel Lawrence 125 Eskimos. Von die— ſen erwies ſich nur Einer als farbenblind, zeichnung der Farben höchſt unvollſtändig iſt. Dieſe Unterſuchungen, namentlich die der Tſchuktſchen, ſind von außerordentlicher Wichtigkeit für die Entſcheidung der vor— liegenden Frage. Wir haben hier offen— bar ein Volk vor uns, das auf einer äu— ßerſt niedrigen, faſt prähiſtoriſchen Bil— dungsſtufe verharrt, und abgeſchloſſen von allem Verkehr mit ziviliſirten Völkern in einer verhältnismäßig farbloſen Umgebung lebt. Wie die Zeitgenoſſen Homer's be— zeichnen ſie am Regenbogen nur drei Far— ben; wie bei dieſen, ſind ihre Benennungen der lichtſchwachen Farben des Spektrums, Grün und Blau, unvollſtändig und un— beſtimmt. Trotzdem erwies die Prüfung daß ſich unter ihnen nur 3 Proz. vollſtän— dig Farbenblinde befanden, alſo eine Zahl, die der Mittelzahl unter Männern zivili— ſirter Nationen entſpricht. Rechnen wir die 18 Fälle, wo die Unterſuchung zwei— felhaft blieb, als unvollſtändig farbenblind, und nehmen an, daß die Hälfte der Unter— ſuchten Weiber waren, ſo kommen wir aufl2 Proz. Farbenblinde, ja ſelbſt wenn wir alle 27 Fälle als wirklich farbenblind anſehen, auf 18 Proz. Die Zahl iſt relativ hoch, malſehender. Und trotzdem ſteht der Sprach— gebrauch auf ungefähr derſelben niedrigen Stufe, wie bei Homer. Es geht aus die— ſem einen Beiſpiel alſo mit Sicherheit her— ! I 396 vor, daß es ein Fehler iſt, aus der Un— vollkommenheit der ſprachlichen Bezeich— nung eines Volkes auf die Unvollſtändig— keit ſeiner Sinneswahrnehmung zu ſchlie— ßen, weil Beide eben nicht Hand in Hand mit einander gehen. Ein dritter Weg, eine Vorſtellung von der Entwicklung des Farbenſinnes zu ge— winnen, wäre der einer möglichſt ausge— dehnten Unterſuchung von rohen, unzivili— ſirten Völkern und einer Vergleichung der ſo erhaltenen Prozentzahlen mit denen, welche die Zahl der Farbenblinden unter einer ziviliſirten Bevölkerung ausdrücken. Bis jetzt iſt die Geſammtzahl derartiger Unterſuchungen nicht groß, dahin gehören die von dela Renondidre an 693 Erwach— ſenen aus verſchiedenen Volksraſſen Algiers angeſtellten. Leider begründen ſich dieſel— ben auf der Favre'ſchen Benennungs— methode der Farben und ſind ſomit unzu— verläſſig. Vergleicht man die gefundene Prozentzahl 3,40 mit der, welche Favre nach derſelben Methode bei der franzöſi— ſchen Bevölkerung konſtatirte, ſo erſcheint die Zahl der farbenblinden Afrikaner ver— hältnismäßig ſogar niedrig gegen die der un— terſuchten Franzoſen. Ferner hat Dr. Bur— nett in Waſhington nach Holmgren's Methode die Schüler der Negerſchulen im Columbiadiſtrikt unterſucht. Er fand unter 3040 Kindern nur drei Viertel Prozent Farbenblinde, darunter 1349 Knaben mit 1,6 Proz. und 1691 Mädchen mit 0,11 Proz.; unvollkommen farbenblind waren zudem 1,87 Proz. Mädchen und 5,7 Proz. Knaben. Alſo auch dieſe Unterſuchungen ergaben keine höheren Prozente Farben— blinder, als beiziviliſirten Völkern. Holm— gren macht in Bezug hierauf den Ein— wand, daß die in einem ziviliſirten Lande Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. geborenen Negerkinder ſchwerlich zu den unziviliſirten Völkern gerechnet werden können. Dem Vortragenden ſcheint dieſer Einwurf nicht ſtichhaltig zu ſein. Wir haben es hier doch immerhin mit einer Generation zu thun, die mehr oder weni— ger direkt von einem rohen Naturvolk ab— ſtammt und deren Kulturerbteil kaum zwei Jahrhunderte alt iſt. Es liegt wol viel näher, anzunehmen, daß der Farbenſinn der urſprünglichen Stammeltern jener Ne— gerkinder auf derſelben Entwicklungsſtufe ſich befand, wie der der ziviliſirten Natio— nen. Bekanntlich haben auch die Unter— ſuchungenüber die Nubier *), Lappländer 2c. keinen Beleg für die Annahme ergeben, daß der Farbenſinn unter dieſen Völkern geringer entwickelt ſei, als bei den zivili— ſirten Nationen. Der Anthropolog Herr Schaaffhau— ſen in Bonn ſtellte die Behauptung auf, daß Kinder eine unvollkommnere Wahr— nehmung für Farbenabſtufungen haben, als Erwachſene Wir würden hiermit den vierten Weg der Unterſuchung betreten, nämlich den der Prüfung des Farbenſinnes in ſeiner Entwicklung in den verſchiede— nen Lebensaltern. Holmgren, der den— ſelben gleichfalls ins Auge faßte, und dem wir gewiß eine nicht gewöhnliche Erfah— rung und Übung in der Prüfung zutrauen können, erklärt eine ſolche erſt bei geiſtig vorgeſchrittenen Kindern von 3—4 Jah— ren für möglich. So viel über die Holmgrenſchen Ver— öffentlichungen. Was nun die Unter— ) Anmerk. der Red. Profeſſor Schöler fand bei ſeiner Unterſuchung der Nubier, daß ihnen die Bezeichnungen für alle Farbentöne zwiſchen Orange und Grün fehlten! (Zeitſchrift für Ethnologie 1880. 1. Heft.) Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ſuchungen von Dr. Magnus betrifft, ſo geſteht dieſer Gelehrte jetzt offen und ehrlich ein, daß er ſich über die Tragweite der durch | ger ſprachvergleichende Unterſuchungen wonnenen Erkenntniſſe getäuſcht und Kon— ſequenzen aus denſelben gezogen habe, die mit dem thatſächlichen Verhältnis nicht identiſch ſind. Er ſtellt nunmehr u. a. folgende Sätze auf: 1) Alle unterſuchten Naturvölker beſitzen einen Farbenſinn, der in ſeinen Grenzen mit dem der ziviliſirten Nationen im allgemei- nen übereinſtimmt. Doch ſcheint innerhalb dieſer allgemeinen Grenzen inſofern eine Verſchiedenheit ſtattfinden zu können, als einige Naturvölker eine größere Energie in der Empfindung der langwelligen Far— ben bethätigten und eine ausgeſprochene Gleichgiltigkeit gegen die Farben kurzer Wellenlänge an den Tag legten. 2) Die Farbenempfindung und die Far— benbezeichnung decken ſich nicht; d. h. aus dem Mangel der letzteren darf man nicht auf das gleichzeitige Fehlen der Empfindung ſchließen. 3) Die Farbenempfindung und Far— benbezeichnung ſtehen bei ſehr vielen Na— turvölkern in einem eigentümlichen Miß— verhältnis, inſofern bei gut entwickelter Empfindung eine nur höchſt mangelhafte Farbenterminologie vorhanden iſt. Was das Material betrifft, welches Dr. Magnus zu dieſer Anderung ſeiner Anſicht geführt hat, fo hebt Herr Dr. Rabl— Rükhard nur einiges daraus als inte— reſſant hervor: Dr. Magnus hatte im Ver— ein mit Dr. Pechuel-Löſche eine Farben— tafel und einen Fragebogen entworfen, der an Arzte, Miſſionäre, überſeeiſche Handels— häuſer ꝛc. mit der Bitte um Ausfüllung überſendet wurde. Solcher Fragebogen 397 wurden im ganzen 61 mehr oder minder vollſtändig ausgefüllt. Aus denſelben geht u. a. hervor, in wie direkter Beziehung die Farbenbezeichnung zu dem Bedürfnis und der täglichen Beobachtung ſteht. Die Hirtenvölker Afrikas, z. B. die Kaffern, Herero, Baſuto ꝛc. ſind wohlbewandert in der Bezeichnung der Farben Schwarz, Grau, Weiß und Gelb, wie ſie bei ihrem Vieh vorkommen. Die Kaffern beſitzen ſo— gar, obgleich bei ihnen noch kein beſonde— rer Ausdruck für Grün und Blau exiſtirt, eine äußerſt entwickelte Nomenklatur für die Färbungen und Zeichnungen ihres Viehes. Laſſen wir alſo ganz die phyſiologiſche Seite der Entwicklung des Farbenſinnes aus dem Spiele, ſo bildet die Differenzi— rung der ſprachlichen Ausdrücke für die verſchiedenen Farben an ſich ſchon genug des Intereſſanten. Es ſcheint daraus her— vorzugehen, daß zunächſt das Rot als Farbe eine ſchärfere Bezeichnung erhält. Holmgren fand auf anderem Wege, nämlich bei der Prüfung der ſprachlichen Entwicklung von Kindern, ganz dasſelbe. Er macht ferner darauf aufmerkſam, daß in zahlreichen Fällen Erwachſene aus den ungebildeteren Ständen dieſelbe Vorliebe für das Rot und dieſelbe Sicherheit in der Bezeichnung desſelben zeigen, während ſie ſich gegen blaue und grüne Färbungen gleichgiltig und in der Bezeichnung un— ſicher verhalten. Ebenſo ſpielen die lang— welligen Farben, die in der Malerei ja auch als „warme“ bezeichnet werden, Rot und Gelb, eine hervorragende Rolle in Schmuck, Nationaltracht und Uniform. So ſteht es jetzt um die Frage der phyſio— logiſchen Entwicklung des Farbenſinnes. Sie iſt vom hiſtoriſch-linguiſtiſchen Gebiet 2 398 völlig auf das phyſiologiſch-naturwiſſen— ſchaftliche hinübergedrängt worden und wird, wenn überhaupt, nur durch ſtatiſti— ſche Zuſammenſtellungen möglichſt ausge— dehnter Unterrichtsreſultate an Lebenden ſicher beantwortet werden können. In der Juniſitzung derſelben Geſell— ſchaft wurde über dieſen Vortrag eine Diskuſſion eröffnet: Prof. R. Hartmann machte einige Bemerkungen über die Arbeiten der afri— kaniſchen Bewohner. Dieſe Leute zeichnen ſich durch eine geſchickte Auswahl von Gelb, Rotbraun u. ſ. w. bei der Wahl ihrer Farbenzuſammenſtellungen aus; dieſe Farben haben einen dunklen Ton und wir— ken angenehm aufs Auge. Bei dieſer, großen Geſchmack verratenden Bewegung in den mittleren Farben, welche dem Red— ner bei ſeinem Aufenthalte in Afrika ſehr gefallen hat, fragt man ſich unwillkürlich, ob bei dieſen Völkern überhaupt von ei— nem Mangel an Farbenſinn geſprochen werden könne. Prof. Lazarus bittet, daß die Beobachtungen zur Unterſuchung des Farbenſinnes namentlich an Kindern fort— geſetzt werden mögen. Es handelt ſich bei den letzteren um eine intereſſante pſycho— logiſche Frage. Der Grund, warum un— ſere Kinder die Farbenbezeichnungen nicht verſtehen, liegt weſentlich darin, daß das Auge der einzige Sinn iſt, bei dem in der Regel zu gleicher Zeit mehrere Wahrneh— mungen gegeben werden. Die Erfindung des Pfluges bildete den Gegenſtand einer Abhandlung, welche Edw. Tylor in der Sitzung des Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. zu Londoner Anthropologiſchen Inſtitus am 24. Februar c. las. Das erſte landwirt— ſchaftliche Hilfsmittel ſcheint nach ihm in einem zugeſchnitzten, 4 — 5 Fuß langen Stabe beſtanden zu haben, wie ihn viele wilde Völker benutzen, um Wurzeln aus— zuroden, Früchte herunterzuholen. In einer ſpätern Zeit wurde der Stab gebogen und als Hacke gebraucht, wie ihn die nordame— rikaniſchen Indianer in dieſer Form noch gebrauchen. In Südſchweden zeigen lange Landzüge Spuren eines frühen Ackerbaus, den die Eingebornen einem vorhiſtoriſchen Volke zuſchreiben, welches ſie die Hacker nennen, deren rohe Hacke ein Fichtenſtamm mit einem kurzen, hervorſpringenden, zuge— ſpitzten Zweige war, wie er ſtets den my— thologiſchen Rieſen in die Hand gegeben wird. Später kam ein größeres Inſtru— ment derſelben Art in Gebrauch, welches nicht wie die Hacke gebraucht, ſondern durch Menſchen oder Ochſen gezogen wurde. Darſtellungen dieſer primitiven Pflüge werden auf egyptiſchen Gemälden und Bas— reliefs gefunden. Der Pflug iſt in ſeinem Urſprung prähiſtoriſch, wie die ihm beige— legte religibſe Weihe bei Griechen, Chineſen und Egyptern beweiſt. Als Beweis dafür kann auch der Name Sita (Furche) ange— führt werden, welcher Bramahs Gattin beigelegt wurde. Ein hölzerner, mit Eiſen beſchlagener Haken war die nächſte Ver— beſſerung, und in Virgils Zeiten finden wir einen mit Rädern verſehenen Pflug in Ge— brauch, der wenig verſchieden war von den beſten, die noch vor einem Jahr— hundert in Europa gebraucht wurden. (Nature No. 541, March 1880.) Litteratur und Kritik. as Religionsweſen der rohe— ſten Naturvölker von Guſtav Roskoff. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1880. 179 S. in 8. Das vorliegende Buch iſt eine Art Antikritik, in welchem der Verfaſſer ſeine in der „Geſchichte des Teufels“ gemachte Behauptung, daß auch bei den roheſten Völkern Spuren von religiöſen Vorſtel— lungen wahrgenommen werden, gegen einige, auf grund der gegenteiligen Be— hauptungen Lubbock's gemachten Ein— wände vertheidigt. Natürlich kommt hier alles darauf an, wie weit man den Be— griff der Religion ausdehnt, ob man blos die katholiſchen, oder alle chriſtlichen, oder überhaupt die mondtheiſtiſchen, oder gar auch die polytheiſtiſchen und fetiſchiſti— ſchen Kultusformen als Religionen aner— kennen will. Der Verfaſſer dehnt den Begriff der Religion mit Recht auf jeg— lichen Glauben an Überſinnliches aus und zeigt, daß zu einem ſolchen mit Furcht durchſättigten Glauben alle Völker der Erde, die man kennen gelernt hat, ge— langt waren, und daß die gegenteiligen Annahmen einzelner Reiſenden und Miſſio— nare entweder auf mangelhafter Beobach— tung, falſcher Frageſtellung, auf zu hohen Bo) Anſprüchen oder wohl auch auf vorgefaß— ten Meinungen beruhen. Wie den alten Ariern die Urbewohner Indiens als, ade va“ erſchienen, ſo bezeichneten die Griechen jeden Anhänger des Chriſtentums als Atheiſten, weil er ihre Götter verleugnete, ebenſo gelten heute die Darwiniſten und alle Philoſophen, welche die Offenbarung leug— nen und nicht an die Unfehlbarkeit des Papſtes glauben, als Atheiſten und reli— gionsloſe Menſchen, und noch viel mehr mußten es vielen Miſſionaren die Men— ſchen ſein, die gar nichts ihrer eigenen Religion vergleichbares beſaßen. Um nun die Notwendigkeit einer All— verbreitung der niederen Religion nachzu— weiſen, giebt der auf dem Standpunkte der Entwicklungstheorie ſtehende Verfaſſer zunächſt eine vortreffliche Schilderung des leiblichen und geiſtigen Zuſtandes des Na— turmenſchen (S. 124— 125): „.. Er ſieht ſich von Gefahren umgeben und ſtets im harten Kampfe mit der Außenwelt, die ihm daher im feindlichen Lichte erſcheint. Namentlich muß ſie ihm feindlich erſchei— nen, wenn ſie der Erfüllung ſeines Grund— triebes, der Selbſterhaltung, hemmend ent— gegentritt. So lange er jenen befriedigen kann, bleibt die Außenwelt von ihm wenig 400 oder gar nicht beachtet und er lebt in einem gewiſſen Grade geiſtiger Dumpfheit da— hin, in einem Seelenzuſtande, den man mit dem des Träumenden verglichen hat. 2 Er hat noch nicht das klare, ge— feſtete Bewußtſein von ſeiner eigenen Na— tur, ſondern lebt noch mehr oder weniger in der Natur ſelbſt, die ihn umgiebt. Weil die Scheidelinie zwiſchen dieſer und ſeinem bewußten Geiſte noch nicht klar und ſcharf gezogen iſt, fühlt er ſich mit der Tierwelt befreundet. So erklärt ſich die unter Wil— den herrſchende Vorſtellung, daß ſie von Tieren abſtammen, daß der Geiſt der Ah— nen oft in Tiergeſtalt erſcheine; daß der Wilde die Tiere als ſelbſtbewußte Weſen betrachtet, denen er ſeine Gedanken mit— teilt und von ihnen verſtanden zu werden glaubt; daß die Rothäute die Tiere ihre jüngern Brüder zu nennen pflegen ꝛc. Ein Analogon des noch nicht völlig erſtarkten Selbſtbewußtſeins bieten die Kinder in der Periode, in welcher ſie das Ich zu ge— brauchen anfangen und wieder zeitweiſe, wie vorher, in der dritten Perſon von ſich ſprechen. . . . . In der geiſtigen Dämme— rung des Wilden bleibt die Scheidelinie zwiſchen ſeinem Ich und der objektiven Natur gewiſſermaßen eine fluktuirende. Aus dem Mangel an ſcharfem Unterſchei— den zwiſchen Subjektivem und Objektivem, zwiſchen Einbildung und Wirklichkeit, er— klärt es ſich, daß der Wilde Träume als objektiv verurſachte Geſtaltungen auffaßt und ihnen große Bedeutung zuerkennt.“ „Man pflegt gewöhnlich Kinder die größten Egoiſten zu nennen. In bezug auf ſchon Herangewachſene liegt ein be— rechtigter Tadel darin, der ſie für uner— zogen erklärt, weil durch die Erziehung univerſelle Menſchen aus Egoiſten werden denken. Er genießt und geht im Genuſſe Litteratur und Kritik. ſollen. Kleine unmündige Kinder können nicht anders, als egoiſtiſch ſein, und der Säugling kann die Bruſt der Mutter nicht loslaſſen, wenn dieſe darob auch des Todes würde. Das Kind will zunächſt leben, es folgt dem Grundtriebe der Selbſterhal- tung. Dieſer Grundtrieb macht ſich auch im Wilden ſehr vernehmlich geltend und die Schilderungen der Reiſenden ſind in dieſer Hinſicht gewiß richtig; unberechtigt iſt aber die vorwurfsvolle Verachtung, die ſich dabei auszuſprechen pflegt. Man ver— gißt, daß der Wilde eben ein unerzogener Menſch iſt, daß er, bei ſeinen Umſtänden außerhalb des erziehenden Einfluſſes der geſchichtlichen Entwicklung ſtehend, nicht anders ſein kann, als er iſt. Wie das Kind alles, was es ergreifen kann, zum Munde führt, ſo bezieht der Wilde alles auf ſich, und ſein Streben iſt, alles mit ſeinem Daſein in Einheit zu ſetzen . . . .“ Man hat ſich oft darüber verwundert, was der Wilde, wenn er nicht durch Hunger in Thätigkeit geſetzt iſt, im Faullenzen leiſten kann; man braucht aber dazu nicht in die amerikaniſchen Urwälder zu gehen. 3 Auch in dieſer Beziehung zeigen ſich Abſtufungen. Der Wilde erhebt ſich von ſeinem Lager nur, wenn ihn der Hunger dazu treibt, Nahrung zu ſuchen; der Halb— gebildete arbeitet nur, um zu leben und das Leben zu genießen; der -Gebildete findet ſein Leben in vernünftiger Thätigkeit und den Lebensgenuß in freier Arbeitſamkeit. . . So lange dem Wilden die Mittel zur Befriedigung ſeiner ſinnlichen Bedürfniſſe zur Hand ſind, er ſich in Harmonie mit ſich und ſeiner Außenwelt fühlt, liegt es im Weſen ſeines Zuſtandes, weder über die Welt, noch über ſich ſelbſt weiter zu Litteratur und Kritik. auf und erinnert inſofern an das Tier. Er fühlt das phyſiſche Wohlbehagen, führt es aber nicht zum Bewußtſein. Ahnlich verhält es ſich mit dem Zuſtande der Ge— ſundheit, dem harmoniſchen Zuſammen— wirken der organiſchen Thätigkeiten zur Darſtellung des vollen Lebens, worüber der Geſunde gewöhnlich auch nicht nach— denkt, ſo lange er im Beſitze der Geſund— heit iſt . . . Die Aufmerkſamkeit und das Denken darüber ſtellt ſich erſt ein, wenn dieſe Harmonie geſtört iſt. So wird die Aufmerkſamkeit des Wilden erſt bei der aufgehobenen Harmonie der ihn umgeben— den Natur auf gewiſſe Erſcheinungen hin— gelenkt, durch welche er ſein Daſein ge— fährdet ſieht oder glaubt. Solche ſeine Exiſtenz bedrohenden Erſcheinungen, die nicht vom Menſchen herrühren, erwecken in ihm nicht nur das Gefühl der Furcht, ſondern es taucht in ſeinem Geiſte zugleich die Annahme einer Urſache auf, die er, weil er ſie ſinnlich nicht wahrnehmen kann, für eine überſinnliche halten muß . . . „Weil der Menſch überhaupt im Hori- zonte ſeiner Anſchauungen lebt, die er ob— jektivirt, und der Wilde von der Qualität der auf ihn geübten Wirkung auf die Qualität der Urſache ſchließt, ſo kann er als Urſache einer für ihn ſchlimmen Er— ſcheinung . . . auch nur eine ſchlimme an— nehmen, . . ein ſchlimmes, beſonderes We— ſen hinter der ſchlimmen Erſcheinung er— kennen. Der Unklarheit ſeines Denkens gemäß umhüllt der Schleier des Geheim— nisvollen dieſes böſe Weſen; er hegt Furcht vor ihm, weil deſſen Macht ſeine Exiſtenz gefährden kann, und da er es mit den Sinnen nicht wahrnimmt, anerkennt er es als überſinnliches, mächtiges bö— ſes Weſen, d. h. nach unſerm Sprach— — gebrauch als Dämon. Der Wilde kann dieſes Weſen ſich nicht anders vorſtellen, denn als ein dem Menſchen ähnliches, mit Willen handelndes, aber mit ungleich grö— ßerer Macht ausgerüſtetes Weſen. Er ſchreibt ihm die Macht zu, durch Natur— erſcheinungen dem Menſchen zu ſchaden, Krankheiten, Tod, überhaupt alles zu be— wirken, was das menſchliche Daſein in Frage ſtellt . . . Und jo knüpft ſich der erſte Gottesbegriff, wie Lubbock bemerkt, faſt immer an ein böſes Weſen. „Der Glaube an Zauberei, der mit dem an böſe Weſen in unzertrennlicher Verbin— dung ſteht, findet ſich bei allen Völker— ſtämmen, die auf niedriger und niedrigſter Stufe ſtehen, bei Jäger-, Fiſcher- und Hirtenvölkern . . . Die Zauberei ſoll die Übel, welche die Wilden bedrohen oder befallen haben, beſeitigen . . . Der Wider— ſpruch, in welchen ſich der Wilde mit der Natur verſetzt ſieht, ſoll durch Zauberei gelöſt werden. Weil der Wilde alle ihm ungünſtigen Erſcheinungen von einer übel- geſinnten, überſinnlichen Macht, von ei— nem oder mehreren böſen Dämonen ab- leitet, die er als Anſtifter aller Übel er— kennt und fürchtet, ſo ſucht er ſie gelegent— lich durch Gaben, Opfer u. ſ. w. zu be— ſchwichtigen, womit aber einer dauernden Sicherheit ſeines Daſeins keine genügende Gewähr geleiſtet iſt. Gegen ſichtbare Feinde, die ihn bedrohen, gegen wilde Tiere, feindliche Menſchen ſetzt er ſeine eigene Kraft ein, ſie zu bekämpfen und zu bewältigen, aber der überſinnlichen, über— menſchlichen Macht gegenüber fühlt er ſich zu unmächtig. Sein Selbſtgefühl und Selbſtbewußtſein nötigt ihn aber um der Erhaltung willen, ſich von der Natur zu befreien, die Herrſchaft über ſie zu gewin— Kosmos, IV. Jahrg. Heft 5. 51 402 nen. Sein Selbſtbewußtſein kann ſich nicht mit der zeitweiligen Beſchwichtigung der feindlichen Naturmacht durch Sühnegaben begnügen; er will poſitiv beſtimmend auf ſie einwirken, ſein Selbſt zum Herrn über feſtſtellen. Damit kommen wir zu der ſie ſetzen. Zu unmächtig, durch eigene Kraft die Naturgewalten ſich zu unter— werfen . . . fühlt er ſich innerlich gedrängt, zu einer höheren, überſinnlichen Macht ſeine Zuflucht zu nehmen, deren Anerken— nung aus der Tiefe ſeines Gemütes auf— taucht, mit deren Hilfe er ſeine Individua— lität durch das Zaubern ſicherzuſtellen ſucht. Dieſe höhere, überſinnliche Macht, in deren Namen er Zauberei treibt, muß notwendig als eine ihm freundliche, gün— ſtige anerkannt ſein, weil er von ihr die Abwehr und Bewältigung der ihm feind— lichen Naturmacht erwartet . . . Das Zau— bern iſt die Reaktion des Selbſtbe— wußtſeins gegen die Natur, welche als feindliche, die menſchliche Individualität gefährdende Macht gedacht wurde . . .“ Der Verfaſſer ſchildert nun die Mittel der Zauberei bei den niedrigſtehenden Völ— kern, den Fetiſchdienſt, die Totemwählerei, das Tabu-Machen u. ſ. w. und zeigt, wie in allen dieſen Einzelheiten die Keime der höheren Religion liegen, das Abhän— gigkeitsgefühl, Entſagung, Reinigung, Opfer, Beſchwörung und Gebet, wobei er darauf hindeutet, wie gar manche Kultus— handlungen der höheren Religionen ſich kaum über den Begriff des Zauberns er— heben, wenn z. B. dem Gebet eine die natürliche Ordnung umwerfende Kraft beigemeſſen wird. Alle jene alten Zauber— mittel ſind in unſerm Aberglauben, der ſich als die überlebte Religion (das Über— lebſel, superstitio) darſtellt, erhalten; man kann keinen Unterſchied zwiſchen Litteratur und Kritik. Glauben und Aberglauben machen, und ſelbſt der vom Verfaſſer vorgeſchlagene Ausweg, nur das unmoraliſche Wünſchen als Aberglauben zu brandmarken, verfängt nicht, denn dieſer Begriff läßt ſich nicht Schlußunterſuchung, ob Sittlichkeit und Religion in einem urſprünglichen Zuſam— menhange ſtehen. Der Verfaſſer bejaht dieſe Frage im Gegenſatze zu Waitz, Tylor und Lubbock. „Die Thatſache,“ ſagt er (S. 155), „daß im geſammten Altertum Religion und Sittlichkeit (Staat) in unmittelbarer Einheit auftreten, daß ſie ferner nur in— nerhalb der Menſchenwelt wahrzunehmen, alſo dem Menſchen allein eigentümlich ſind, ſchon dieſe Thatſachen könnten zu der Annahme hinleiten, daß ſie im menſch— lichen Weſen ihren Grund haben müſſen, und, da die Funktionen des menſchlichen Geiſtes als eines Organismus auch orga— niſch auf einander bezogen ſind, wohl auch Religioſität und Sittlichkeit in einem or— ganiſchen Zuſammenhange ſtehen. Es kön— nen alſo nicht „zwei weſentlich verſchiedene Quellen“, ſondern nur zwei verſchie— dene Punkte oder Seiten ſein, von welchen aus das Menſchengemüt an- geregt wird, und das Gemüt iſt die Quelle, aus welcher Religioſität und Sitt— lichkeit fließen.“ Wir glauben im Gegenteil, daß Waitz vollkommen durch ſeine Studien berechtigt war, zu ſagen: „Die ſittlichen Vorſtellun— gen entſpringen aus einer weſentlich an— deren Quelle, als die Religion; beide tre— ten überhaupt erſt auf einer höheren Kul— turſtufe des Menſchen in irgend eine Be— ziehung zu einander.“ Ref. weiß nicht, wie Waitz dieſen Satz begründet hat. a Litteratur und Kritik. Allein er möchte hervorheben, daß auch ihm die Quellen der Moral und Religion als gänzlich verſchiedene erſcheinen: die Moral iſt ein Bedürfnis der menſch— lichen Geſellſchaft, die Religion ein Bedürfnis des Einzelnen, dar— um hat auch die Geſellſchaft das aner— | kannte Recht, Übertretungen der Geſell— | ſchaftsmoral zu beſtrafen, nicht aber dem Einzelnen wegen ſeiner religiöſen Anſich— ten zu nahe zu treten. Die Verbindung beider, die ja in neueſter Zeit in den An— erbietungen der Kurie, die Maſſen zu zü— geln, ſehr in den Vordergrund tritt, war lediglich das Werk geſchickter Theokraten und älterer Geſetzgeber. Ihre Abſicht iſt dabei vorwiegend politiſcher Natur gewe- ſen, wie man ſogleich erkennt, wenn man die allerſeits fühlbar gewordene Notwen— digkeit erwägt, Gerechtigkeitspflege und Kirche zu trennen. Der Staat überläßt mit Recht nur diejenigen moraliſchen Aus— ſchreitungen, die er wegen ihrer Allver— breitung nicht beſtrafen kann, Mangel an Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, ehelicher Treue u. ſ. w. der Kirchenzucht; mit wel— chem Erfolge, lehren die klerikal regierten Länder. Nichts verträgt ſich im Gegenteil beſſer, als ſog. „Religion“ und Unmoralität. Abgeſehen von dieſer kleinen Meinungs— verſchiedenheit glaubt Referent nicht zu irren, wenn er das an den Quellen ge— ſchöpfte Buch als eine der klarſten und lehrreichſten Darſtellungen des Religions— weſens der roheſten Naturvölker betrachtet und allen Leſern dieſer Zeitſchrift an— gelegentlichſt empfiehlt. 403 La Teoria di Darwin, Criticamente exposta da Giovanni Canestrini (Biblioteca Scientifica Internazionale, Vol. XXV). Milano, Fratelli Dumo- lard, 1880. 350 P. in 8. Der Verfaſſer des vorliegenden Bu- ches, Profeſſor der Zoologie, Anatomie und vergleichenden Phyſiologie an der Univerſität Padua, hatte bereits vor drei Jahren ein Buch über die Darwinſche Theorie (La Teoria dell’ Evoluzione. To- rino, 1877) veröffentlicht, welches einen mehr einleitenden Charakter hatte, wäh— rend das vorliegende die Theorie ſelb— ſtändig weiter zu bauen ſucht und eine große Anzahl eigener Beobachtungen und Gedanken bringt. Für den deutſchen Leſer wird es von beſonderem Intereſſe ſein, darin die beſondere Phyſiognomie zu ſtu— diren, welche dieſe Theorie durch italieni— ſche Forſcher, wie Beccari, Bianconi, Berti-Pichat, Buccola, Caneſtrini, Filippi, Forſyth Major, Mante— gazza u.a. erhalten hat, über deren Arbeiten unſer geſchätzter italieniſcher Mitarbeiter uns meiſtens auf dem laufenden hielt. In dem vorliegenden Buche ſind die beiden erſten Kapitel dem bibliſchen Schö— pfungsberichte und deſſen Kritik gewidmet; die beiden folgenden behandeln die künſt— liche Züchtung und das fünfte das Varia— tionsvermögen der Pflanzen und Tiere. In dem ſechſten und ſiebenten Kapitel wird die Vererbung in trefflicher Weiſe darge— ſtellt und namentlich in dem erſteren findet ſich eine längere Abhandlung „Über die Ur— ſache, welche das Geſchlecht beſtimmt“, von der wir unfern Leſern in einem unſerer näch— ſten Hefte eine Überſetzung zu bieten ge— denken, weil das Buch aus äußerlichen Ur— ſachen kaum in deutſcher Überſetzung er I 404 ſcheinen wird. Eine in dem darauffolgen— den Kapitel mitgeteilte und durch eine Abbildung illuſtrirte Beobachtung des Ver— faſſers über eine merkwürdige Abnormität wollen wir hier gleich wiedergeben. „Ich will hier,“ ſagtderVerfaſſer S. 170, „einen Fall von Atavismus mitteilen, den ich kürzlich an einem menſchlichen Schädel be— obachten konnte, der von Levico ſtammt, woſelbſt ihn mein Aſſiſtent Dr. Lamberto Moſchen fand. Der beſagte Schädel be— ſitzt außer den beiden gewöhnlichen Hinter— haupthöckern eine dritte, hervorſpringende Gelenkfläche, die ſich in der Mitte des vordern Randes des großen Hinterhaupt— loches befindet. Sie hat einen elliptiſchen Umriß, deren große, der Randlinie folgende Axe 12 Millimeter lang iſt, während die kleinere 9 Millimeter beträgt. Andere Fälle einer ähnlichen Anomalie wurden von Vitali Vitale!) beobachtet, der ihre große Wichtigkeit nicht erkannte. In Wahr— heit, hier handelt es ſich nicht um einen bedeutungsloſen Scherz der Natur, ſondern um eine Rückſchlagserſcheinung auf die— jenigen älteſten Ahnen des Menſchen, welche, gleich den heutigen Vögeln und Reptilien, ein dreifaches Hinterhauptgelenk beſaßen. Denn der ſogenannte einzige Hin— terhauptshöcker dieſer Wirbeltierklaſſen iſt in Wahrheit ein dreifacher, indem zu ſeiner Bildung drei verſchiedene Hinterhaupts- knochen zuſammenwirken.“ Solchen höchſt wichtigen Beobachtungen begegnet man an verſchiedenen Stellen des Buches. Das achte und neunte Kapitel behan— delt die natürliche Zuchtwahl und ihre Folge— erſcheinungen (Mimiery ꝛc.), das zehnte giebt eine ſehr intereſſante Vergleichung von ) Arch. per l’Antropol. e l’Etnologia. Vol. IX, p. 180, Firenze, 1879. Litteratur und Kritik. Juſtinkt und Verſtand, während das elfte die geſchlechtliche Zuchtwahl, das zwölfte die Anwendung der Darwinſchen Theorie auf den Menſchen, und das dreizehnte einen Rückblick nebſt Schlußbetrachtungen ent— hält. Das ganze iſt eine wertvolle Berei— cherung der Darwiniſtiſchen Literatur ſo— wohl in Hinblick auf die geſchickte Dar— ſtellung und Gruppirung des geſammten Materials, als durch originelle Ideen, von denen wir beſonders noch dasjenige her— vorheben möchten, was der Verfaſſer als „geſellſchaftliche Zuchtwahl“ (Velezione civile) bezeichnet. N Aurel Andersſohn. Die Theorie vom Maſſendruckaus der Ferne in ihren Umriſſen dargeſtellt. Bres— lau. Verlag von Eduard Trewendt. 1880. IX u. 71 S. 8 Tafeln. In unſerm Berichte über Iſenkrahes „Räthſel der Schwerkraft“ thaten wir be— reits der intereſſanten Arbeiten des Herrn Andersfohn*) in Breslau Erwähnung, durch welche an Stelle der Newtonſchen Gravitation eine mechaniſche Erklärung für die kosmiſchen Anziehungsphänomene gewonnen werden ſollte. Einer Reihe klei— nerer Publikationen hat jetzt der Verfaſſer eine größere ſyſtematiſche Schrift folgen laſſen. Die hier vorgetragene Theorie hat viel Ahnlichkeit mit jener der ſtrahlenden Materie, reſp. des vierten Aggregatzuſtan— des, für welche jetzt von Seiten engliſcher Phyſiker (Crookes u. ſ. w.) Propaganda gemacht wird; die Welträume ſind erfüllt von einem imponderablen Fluidum, durch welches die Bewegung nach allen Seiten fortgeleitet wird; ein Springbrunnen, aus deſſen Zentrum durch radiale Ausflußröh— Damals irrtümlich „Auerbach“ genannt. N — N 1 4 4 Litteratur und Kritik. ren nach allen Seiten hin Waſſer geſen— det wird, repräſentirt das Attraktionszen— trum, und wenn eine leichte Kugel auf dieſe Waſſerſtrahlen geworfen wird, ſo ſieht 405 men. Allein ſobald wird denn doch noch man ſie, wie man nicht erwarten ſollte, zentripetal zu der Offnung hin getrieben. Dies iſt das Fundamentalinſtrument des Verfaſſers, der Grundverſuch, auf welchem er ſeine Theorie vom Maſſendruck in erſter Linie begründet. Zu einer eingehenderen Kritik fühlen wir uns heute noch nicht genügend vorbe— reitet. Indeß ſeien zwei Punkte ſpeziell her- vorgehoben. Solange der eifrige und ge- ſchickte Verfaſſer ſich lediglich auf eine re— flektirende Erläuterung ſeiner Anſichten beſchränkt und es unterläßt, in exakt rech— neriſcher Weiſe zu zeigen, daß ſeine Theo— rie mit der Newtonſchen in Bezug auf alle einzelnen Erſcheinungen zu konkurriren im ſtande ſei, ſo lange wird er auf ſorgfältige Prüfung und eventuelle Zuſtimmung ſei— tens mathematiſch geſchulter Naturforſcher kaum rechnen dürfen. Und zweitens iſt der ſehr nette, zerlegbare Weltglobus, eine mehrfach prämiirte und patentirte Erfin— dung Herrn Andersſohns, durchaus keine fo ſichere Stütze für feine Hypotheſe; viel- mehr kann derſelbe, worin wir keinen Nach— teil erblicken, recht wohl auch von einem Newtonianer beim Unterricht benützt wer— den. Referent iſt, wie die Leſer des Kos— mos wiſſen, kein Anhänger der Fernwir— kungen um jeden Preis), er hält eine Zu— rückführung derſelben auf kinetiſche Vor— gänge für möglich und hat auch von die— ſem neueſten Verſuch, eine ſolche zu erzie— kein Werk geſchrieben werden, welches nicht blos bezüglich des darauf verwandten Geiſtes, ſondern auch bezüglich des greif— baren Erfolges mit Newtons „mathema— tiſchen Grundlagen der Naturphiloſophie“ ſich meſſen könnte. Ansbach. Prof. S. Günther. Lorenz Ofen. Eine biographiſche Skizze von Alexander Ecker. Mit dem Por— trät Okens und einem Fakſimile der Nr. 195 des erſten Bandes der Iſis. Stuttgart, E. Schweizerbart'ſche Ver— lagsbuchhandlung (E. Koch) 1880. 220 S. in 8. Neben der von dem Verfaſſer auf der vorjährigen Naturforſcher-Verſammlung gehaltenen Gedächtnißrede zu Okens hun— dertjähriger Geburtstagsfeier, bringt die— ſes Buch eine Anzahl erläuternder Zuſätze und eine ganze Reihe von Briefen, die teils von ihm geſchrieben, teils an ihn gerichtet waren. Namentlich durch dieſe Zuſätze und Briefe erhalten wir ein leben— len, mit großem Intereſſe Kenntnis genom— ) Vergl. z. B. die Programmſchrift von ziehungskraft iſt auf Bewegung nicht zurück— Gilles, einem energiſchen Champion der Lehre von der unvermittelten Wirkung durch den Raum, diges Bild des berühmten Naturphiloſo— phen, der durch Wort und Schrift ſo un— gemein vielſeitig und im allgemeinen förder— lich auf das wiſſenſchaftliche und politiſche Leben unſrer Nation eingewirkt hat. Seine Forſchungen ſind nur auf entwicklungs— geſchichtlichem Gebiete förderlich geweſen, und ſeine philoſophiſchen Anſichten waren zum Teil mehr irreführend als nütz— lich, aber ſeine agitatoriſche Thätigkeit für die Befreiung des Univerſitätslebens, der litterariſchen Kritik und andrer öffentlichen Angelegenheiten aus höchſt verrotteten Zu— welche den Titel führt: „Die Newtonſche An— führbar“ (Düſſeldorf, 1880). 406 ſtänden, feine Bemühungen für die Ver— breitung der Wiſſenſchaft im Volke und des perſönlichen Verkehrs der Gelehrten untereinander, müſſen dem Manne, der ſo richtig empfand und ſo unerſchrocken die Wahrheit bekannte, für alle Zeit ein liebe- volles Andenken im Herzen der deutſchen Nation ſichern. Wir gewinnen dabei einen höchſt charakteriſtiſchen Einblick in die Zu— ſtände des Univerſitätslebens im Beginne des neunzehnten Jahrhunderts, ſo daß wir uns bald ſelbſt erklären können, wie ein Mann von ſolchem Freimut trotz des günſtigen perſönlichen Eindrucks, den ſein Auftreten überall hervorrief, überall zum Enfant terrible werden mußte. Die That— ſachen ſprechen hier ſo für ſich ſelber, daß der Herausgeber gar nichts zu den mitge— teilten Dokumenten hinzuzuſetzen braucht, um unſere Sympathieen für den überall Gemaßregelten zu erwecken, wobei Goethe in einem weniger günſtigen Lichte erſcheint, als der Oken freundlich geſinnte Großher— zog von Weimar. Die Unterſuchung we— gen der ſehr ſelten gewordenen Beſchrei— bung des Wartburgfeſtes in der hier durch Lichtdruck reproducirten Iſisnummer iſt mit der durch ſie erzeugten Aufregung höchſt ergötzlich zu leſen. Unter den Brie— fen iſt nächſt der Korreſpondenz zwiſchen Oken und Schelling namentlich die— jenige zwiſchen Döllinger, Pander, d' Alton, Baer und Oken intereſſant. Man ſieht, mit welcher Liebe und Achtung die Väter der neueren Entwicklungsge- Litteratur und Kritik. * * * Pr er | ſchichte zu ihm aufblickten; man lädt ihn von allen Seiten ein, nach München zu kommen, um die neuen entwicklungsge— ſchichtlichen Entdeckungen zu ſehen, die man mit Aufopferung von 3000 Hühner— eiern dort gemacht, aber Oken, deſſen entwicklungsgeſchichtliches Syſtem längſt fertig war, bleibt trotz der wärmſten Ein— ladungen zu Hauſe, er glaubt nicht recht an den Forſchritt, und nimmt noch 1829 gegen Baer, der gar nichts mehr davon hielt, die Idee von dem Durchlaufen der Tierklaſſen durch den Embryo als ſeine Idee in Anſpruch (S. 170). Zwanzig Jahre vorher hatte Tiedemann an ihn geſchrie— ben: „Vor einigen Wochen habe ich die Metamorphoſe der Fröſche beobachtet und eine Menge dieſer Fröſche zergliedert, wo— bei ich auf folgenden Satz geſtoßen bin: die Fröſche durchlaufen während ihrer Metamorphoſe die Organiſation der Anne— liden, der Mollusken, der Fiſche, und erſt zuletzt werden ſie Amphibien. Was ſagen Sie dazu?“ (S. 129.) So kommt man⸗ ches Moment, ſowohl aus der Geſchichte der Wiſſenſchaft als aus der Zeitgeſchichte hier zur Beſprechung, und auf vieles fal— len merkwürdige Streiflichter. Das Buch iſt eine wertvolle Abſchlagszahlung auf eine eingehendere Biographie Okens, denn ſie erweckt den Wunſch, mehr von dem Manne zu erfahren, der ſeine Mei— nung ſo gerade herausſagte und ſo oft den Nagel auf den Kopf traf. Der heliocentriſche Standpunkt der Weltbetrachtung. Grundlegungen zu einer wirklichen Naturphiloſophie von Dr. Alfons Bilharz. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta'ſchen Buch— handlung. 1879. XVI u. 326 S. Referent muß bedauern, dieſe Schrift nicht verſtanden zu haben. Ob dies an ihr oder an ihm ſelbſt liegt, kann er natürlich nicht entſcheiden, vermutet jedoch das erſtere. Der Verfaſſer operirt gerne mit mathematiſchen Formeln; aus der gonio— Litteratur und Kritik. metriſchen Relation tang 4 — 1 zieht er z. B. (S. 103) den Schluß, „daß das Geſetz von der Rectangularität der freien oder Bewegungskraft darin begründet iſt, daß Raum und Zeit die Aprioriformen der Erkenntnis ſind“; S. 237 iſt von „dem Vorzeichen des moraliſchen Differentiales“ die Rede. Derartige Verknüpfungen von Begriffen heterogener Disziplinen machen ſtets den Eindruck geiſtreicher, aber zweck— loſer Spielereien, beſtenfalls willkürlicher Spekulationen, und ſo ſehr man im all— gemeinen die Erſchließung neuer Wiſſens— gebiete für die mathematiſche Deduktion wünſchen mag, ſo wird man in ſolchem Analogienſpiel doch keinen wirklichen Fort— ſchritt erkennen können. Es kann wohl ſein, daß das gewandt geſchriebene und ſelbſt— bewußt auftretende Buch bei vielen Leſern Glück machen wird, denen die exakte Form der Darſtellung imponirt; in anderen Kreiſen dagegen wird man ſich trotz der mathematiſchen Außenſeite — vielleicht auch gerade wegen derſelben — ablehnend gegen dieſe Erneuerung einer glücklicher— weiſe überwundenen Periode naturphilo— ſophiſcher Konſtruktion verhalten. Ansbach. Prof. S. Günther. Eneyklopädie der Naturwiſſen— ſchaften. Verlag von Eduard Tre— wendt in Breslau. Es gereicht uns zur Freude, das rüſtige Fortſchreiten eines Werkes zu ſehen, dem wir unſere beſten Sympathieen zuwenden. Außer der durch mehrere Lieferungen be— gonnenen botaniſchen Abteilung liegen be— reits zwei vollſtändige Bände vor, näm— lich der erſte Band des von Dr. Schlö— milch redigirten Handbuchs der Mathe— 407 matik, und der erſte Band des von Prof. Guſtav Jäger redigirten Handwörter— buchs der Zoologie, Anthropologie und Ethnologie. Einen vorzüglichen Schatz enthält das Werk in den ethnologiſchen Artikeln Hellwalds, die ihren Gegen— ſtand in der That erſchöpfend behandeln und in erſtaunlicher Vollſtändigkeit auf— treten. Sehr wertvoll ſind uns außerdem in der Schlußlieferung des erſten Bandes die Artikel: Boreale Fauna, Brackwaſſer— fauna, Brachiopoden u. a. von Prof. E. von Martens, ſowie Bothriocephalus von Dr. Weinland, Bovina von Dr. A. von Mojſiſovies und Brieftaube von Prof. Röckel erſchienen; die phyſiologi— ſchen Artikel des Herausgebers zeichnen ſich, wie immer, durch Originalität der Anſchauung aus. Im allgemeinen läßt ſich ſchon jetzt ſagen, daß ſämmtliche Aufgaben bei dieſer komplizirten Leiſtung in guten Händen ruhen und daß jeder Mitarbeiter beſtrebt iſt, fein beſtes zu lei— ſten. So darf man hoffen, in nicht allzu— ferner Zeit ünſere naturhiſtoriſche Lite— ratur durch ein höchſt brauchbares Nach— ſchlagewerk bereichert zu ſehen. Die Sprache des Kindes. Eine An— regung zur Erforſchung des Gegenſtan— des von Dr. Fritz Schultze, Profeſſor der Philoſophie und Pädagogik. Leip— zig, Ernſt Günthers Verlag, 1880. Seit Charles Darwin ſeine „Bio— graphiſche Skizze eines kleinen Kindes“ *) und Preyer ſeine „Unterſuchungen über die Phyſiologie der Neugeborenen“ im dritten Bande unſerer Zeitſchrift mit— teilte, iſt die Beobachtung der geiſtigen und körperlichen Entwicklung des Kindes, ) Kosmos I, S. 367. je welche früher faſt nur von Laien und Pädagogen in Angriff genommen worden war, als ein ſehr verheißungsvolles For— ſchungsfeld von Biologen, Phyſiologen, Pſychologen, Sprachforſchern und Beob— achtern aller Art anerkannt worden. Die höchſt anziehende Studie von Prof. Fritz Schultze, die ebenfalls zuerſt im, Kosmos“ erſchien, liegt hier in einer durch mannig— fache Zuſätze und Anmerkungen bereicher— ten Geſtalt vor und braucht unſern Leſern wohl nur in dem auf dem Titel ausge— drückten Sinne, als „Anregung zu weite— ren Forſchungen“, empfohlen zu werden, ein Zweck, dem Weiterempfehlung in gebil— dete Familien am beſten entſprechen würde. Prof. Dr. E. L. Taſchenbergs Prak— tiſche Inſektenkunde oder Natur— geſchichte aller derjenigen Inſekten, mit welchen wir in Deutſchland nach den bisherigen Erfahrungen in nähere Be— rührung kommen können, nebſt Angabe der Bekämpfungsmittel gegen die ſchäd— lichen unter ihnen. 5 Teile mit 326 Ab— bildungen. Bremen, W. Heinſius, 1880. Was wir den erſten beiden Teilen dieſes Werkes nachrühmen konnten, gilt auch von den drei letzten, welche die Schmetterlinge, Zweiflügler, Kaukerfe und Schnabelkerfe behandeln; ſie bieten eine gediegene Beſchreibung und die beſten bisher bekannt gewordenen Mittel zur Be— kämpfung derſelben, eine Art von „Höl— lenzwang“, um die kleinen Scharen des Teufels wirkſam zu bekämpfen, denn die ſchädlichen Inſekten ſind bekanntlich ins— Litteratur und Kritik. gemein Schöpfungen Belzebubs, des Flie— gendämons. In dem Titel iſt inſofern eine kleine Ungenauigkeit vorhanden, als dieſes Buch nicht „alle diejenigen Inſek— ten, mit welchen wir in Deutſchland in nähere Berührung kommen können“, be— ſchreibt — von der Schar unſerer Tag— falter ſind beiſpielsweiſe nur ſechs berück— ſichtigt —, ſondern nur diejenigen, mit denen wir in unliebſame Berührung kommen können. Außerſt praktiſch ſind offenbar die am Schluſſe ſtehenden „Al— phabetiſchen Verzeichniſſe der Geſchädig— ten mit Angabe der Schädiger.“ Die Aus— ſtattung iſt in jeder Beziehung lobenswert. Meyers deutſches Jahrbuch für die politiſche Geſchichte und die Kulturfortſchritte der Gegen— wart (18791880). Leipzig, Verlag des Bibliographiſchen Inſtitutes, 1880. 1003 S. in 8. In einem handlichen Bande die Fort— ſchritte und Ereigniſſe eines ganzen Jah— res auf den Gebieten des Staatenlebens, der Litteratur und ſchönen Künſte und der Naturwiſſenſchaften zu geben, iſt ein, wie es uns ſcheint, ſehr glücklicher Gedanke, dem wir unſererſeits um ſo lebhafter zu— ſtimmen müſſen, als den Fortſchritten des Darwinismus in dieſem Jahrgang ein über zwanzig Seiten langer Bericht ein— geräumt iſt. Das ganze Buch iſt ſo prak— tiſch gedacht und ausgeführt, wie die mei— ſten Unternehmungen des bibliographiſchen Inſtituts, und verdient nach jeder Richtung warme Anerkennung. — Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig. Jur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.“ Noch eine Betrachtung über die Erziehung der Zukunft. Von dem verſuchen, einige An- Md ben, wie wir uns eine künftige Erziehung in den Wahrheiten der „einheit— lichen Weltanſchauung auf grund der Ent— wicklungslehre“ denken, ſo ſcheint es vor allem notwendig, zu definiren, was wir unter Erziehung verſtehen. Da wir aber in dieſer Frage vielfach von der herrſchen— den Auffaſſung abweichen, ſo werden wir uns klarer darüber werden, wenn wir zu— vor an der Hand der bisherigen Doktrinen darlegen, was wir nicht darunter ver— ſtehen. Kant““) verſteht unter Erziehung *) Vergl. „Zur Würdigung erſchütterter Autoritäten.“ Kosmos, Bd. V, S. 165 ff. %) Kant in feinen ſparſamen und zer— ſtreuten Bemerkungen über Pädagogik wird, nicht minder als alle ſpäteren bekannten Päda- gogen, in den entſcheidendſten Punkten von der Pſychologie nur allzuoft im ſtiche gelaſſen und vielfach in die ſchreiendſten Widerſprüche ver— wickelt. Das Geheimnis ihres Mißerfolgs liegt 3 Nenn wir es in nachſtehen- eutungen darüber zu ges | Theodor Vuy. „die Wartung, Disziplin und Unterwei— ſung nebſt der Bildung“ und ſetzt zu ihrer erfolgreichen Wirkung drei Hauptpunkte im Charakter des Kindes voraus: 1) Ge— horſam, 2) Wahrhaftigkeit, 3) Geſelligkeit und Frohſinn: „denn nur das fröhliche Herz allein iſt fähig, Wohlgefallen an dem Guten zu empfinden.“ Ahnlich findet Fichte als Anknü— pfungspunkt für jede Erziehung im Men— ſchen den „Trieb nach Achtung“, Peſta— lozzi die „Liebe“. Schon in unſerm früheren Artikel ha— ben wir nachgewieſen, wie traurig es mit dieſen im ganzen richtigen, wenn auch ein— ſeitigen Vorausſetzungen beſtellt iſt und wie der Mangel an Wahrheit auf ſeiten einzig und allein darin, daß ſie die Wahrheit des biogenetiſchen Grundgeſetzes in ſeiner An— wendung auf die Erziehungslehre ignorirten, d. h. den einzig richtigen Weg bei der Erziehung des Kindes, wie ihn die Natur im großen und ganzen bei der Entwicklung der Körper- und Sinnesorgane vorgezeichnet hat, nicht zu finden wußten. Peſtalozzi ahnte ihn, unklar, inſtinkt⸗ mäßig, vermochte ihm aber nicht zu folgen. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 52 410 der Autorität nicht nur die drei Kantiſchen Vorausſetzungen ſchon bedeutend gelockert habe, ſondern auch den nach Fichte im— manenten und unausrottbaren „Affekt der Achtung“ ernſtlich in Frage zu ſtellen drohe. Wir haben zur Bekämpfung dieſer drohenden Eventualitäten ebendort Stel— lung genommen gegen die vielgeprieſenen preußiſchen „Beſtimmungen vom 15. Okt. 1872% die ſowohl eine wahrhaftige Über— einſtimmung und Einheitlichkeit der Lehre, als auch eine genügende und harmoniſche Ausbildung des zu Lehrenden unmöglich machen, ja in gewiſſer Beziehung ein Rückſchritt gegen die Stiehlſchen Regula— tive ſeien, die andrerſeits allerdings jeden Fortſchritt in der Erkenntnis ausſchließen. Nach der Schablone, die für die „Be— ſtimmungen“ gedient hat, ſind mehr oder minder auch die übrigen deutſchen Schul— geſetze und verordnungen ausgearbeitet. Alle ſind bemüht, dem Volke nicht nur für den öffentlichen Schul-, ſondern auch „Kirchſchuldienſt wohl vorbereitete“ Leh— rer zu geben (königl. ſächſ. Geſetz vom 22. Aug. 1876) und „gewährleiſten nicht nur das Aufſichtsrecht auf die Religions- und Sittenlehre“, ſondern auch das ganze „tt liche und religiöſe Leben an den Unter— richts- und Erziehungsanſtalten“ der kirch— lichen Oberbehörde (kgl. bayr. Verordnung vom 29. Sept. 1866). Blicken wir über die Grenzen unſers deutſchen Vaterlandes hinaus, ſo iſt in England bis zur Stunde noch gar keine leitende und beaufſichtigende Zentralbe— hörde für den vielfach in haarſträubender Weiſe verkommenen Volksunterricht ge— Lehrkörper mit den betreffenden Kirchen— ſchaffen. In Frankreich richtet ſich die ganze Fürſorge auf die alles überwuchern- Theodor Vuy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. den bureaukratiſchen Vorſchriften und An— ordnungen, und die Verbreitung natur— wiſſenſchaftlicher Kenntniſſe bis in die höchſten Unterrichtsſtufen beſchränkt ſich auf die „notions des sciences physiques et d'histoire naturelle, applicables aux usages de la vie“ (Programme des Examens :2c.), ein Beweis für die einſeitige Dreſſur, die man den wiſſens— durſtigen Stellenjägern jedes Alters und jedes Standes an Stelle einer Erziehung dort angedeihen läßt. a Entwicklungsfähig in unſerem Sinne erſcheint uns höchſtens das öſterreichiſche Organiſationsſtatut der Bildungsanitalten. für Volksſchullehrer vom 26. Mai 1874, das in auffallender Weiſe gegen ſämmtliche deutſche Emanationen dieſer Art kontra— ſtirt. Schon die miniſterielle Ausführungs— verordnung verweiſt als „Ziel und Zweck“ der betreffenden Bildungsanſtalten und als eine „höchſt wichtige erziehliche Aufgabe“ derſelben nur auf § 56, der wörtlich ſo lautet: „Die Bildungsanſtalten haben den künftigen Beruf ihrer Zöglinge als Jugend- und Volksſchullehrer ſtets im Auge zu halten. Es gehört zu den weſentlichen Aufgaben ſämmtlicher Lehrer, durch Un— terricht, Wort und Beiſpiel zu ſittlich-reli— giöſer Erziehung der Zöglinge mitzuwirken, ſie zur Selbſtändigkeit im Denken und Thun, zur Genauigkeit in der Pflicht— erfüllung, zu geſetzlichem Sinn, zur An— hänglichkeit an den Kaiſer und zur Vater— landsliebe zu erziehen.“ Es folgt darauf in $ 57, deſſen Inhalt die Einführungs— verordnung mit keiner Silbe gedenkt, die kühle Beſtimmung: „Bezüglich der reli— giöſen Übungen der Zöglinge hat ſich der behörden ins Einvernehmen zu ſetzen und, et f im Falle eine Einigung nicht er— zielt wird, die Entſcheidung der Landes— ſchulbehörde einzuholen.“ () (Das Lehr— ziel der Religionslehre [2 St., ſpäter nur 1 St. w.] wird von den kirchlichen Ober— behörden beſtimmt und durch die Landes— ſchulbehörde vorgezeichnet.) Allerdings liegt, öſterreichiſchen Verhältniſſen ange— meſſen, der Hauptnachdruck des ganzen Statuts auf einer weniger zur Erziehung geeigneten Disziplin, dem Sprachunterricht, wie denn die miniſterielle Verordnung feſt— ſetzt, daß „aller Unterricht zugleich Sprach— unterricht zu fein habe“. Immerhin iſt Um: fang und Ziel des naturgeſchichtlichen Unter— richts nach bewandten Umſtänden verſtän— dig bemeſſen. „In jedem Sommer wird derſelbe durch Exkurſionen unterſtützt“, und „auf allen Unterrichtsſtufen iſt das Er— klären der Erſcheinungen in der Natur, namentlich der landwirtſchaftlich wichtig- ſten, beſonders zu berückſichtigen“. Uns will es ſcheinen, als ob es, wie geſagt, möglich ſei, daß dieſes, von einem aufgeklärten, guten Willen zeugende Statut bei richtiger Handhabung mit der Zeit Lehrkräfte hervorbringen könnte, die den Weg zu einer rationellen Methode und wünſchenswerten Weiterentwicklung in un— ſerm Sinne finden müßten. Wenden wir uns dagegen zu dem Ziele zurück, das unſere deutſchen amt— lichen Beſtrebungen erreichen, ſo kann daſſelbe nicht anders als himmelweit von dem aufgeſteckten verſchieden ſein. Statt der erhofften harmoniſchen Ausbildung in ſittlicher und geiſtiger Richtung ſehen wir eine durch alle „gebildete“ Klaſſen gehende Unſicherheit, Unreife und Zerfahrenheit der Anſchauungen auf ethiſchem und in— tellektuellem Gebiet, ein eitles Haſchen Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. 411 nach Schlagwörtern, ein Prunken mit falſch verſtandenen Prinzipien, die im beſten Falle ſo weit von einem wirklich objektiven Werte entfernt ſind, wie die landläufige Humanitätsduſelei von einer richtigen Einſicht in die uns regierenden Naturgeſetze. Dieſe Richtung ſpiegelt ſich denn auch deutlich in unſerer Tagespreſſe und den Revüen, den wahren Fortbildungs— ſchulen unſers gebildeten Volkes, wieder. Hier löſen ſich die Evangelien des Kirchen— fürſten und des Atheiſten, des Militärs und des Sozialiſten in der bunteſten, un— vermitteltſten Weiſe ab und laſſen den aufklärungsſüchtigen Leſer darnach genau. ſo urteilsfähig, wie er vorher geweſen iſt. Man wäre ſchließlich vielleicht noch berechtigt, zu fordern, daß die Schule dem Menſchen in ſeinem angebornen, alles überwältigenden Streben nach Glückſelig— keit in dieſer und „jener“ Welt die nötige Grundlage liefere, mittelſt deren ihm jenes höchſte Gut einigermaßen erkennbar und erreichbar werde. Nichts von alledem. Kenntniſſe werden gerade ſo wenig und viel verbreitet, um dem heranwachſenden Herrn der Schöpfung keinen Zweifel über ſeinen Wert und die Anſprüche zu laſſen, die er an die Güter dieſer Welt zu erheben nicht müde wird, und Bedürfnisloſigkeit wird nur noch dort gepredigt und geübt, wo man durch den Verzicht auf die irdiſche Wurſt die himm— liſche Speckſeite zu erlangen hofft. Nir— gends ein feſter Halt, nirgends ein Kom— paß, nirgends eine Autorität, die die glaubensſüchtige Menge nach einem er— ſehnten Ziele führte. Wenn es uns nun dennoch gelänge, eine Autorität zu finden, zu deren Leitung wir das Vertrauen haben könnten, daß ſie 412 unter einheitlicher, harmoniſcher Ausbil— dung aller Kräfte, Anlagen und Fähig— keiten des Individuums demſelben den Weg zur wohlverſtandenen Glückſeligkeit zu ebnen vermöchte, ſo wäre uns damit wohl der Begriff nebſt der Wiſſenſchaft der Erziehung aufgegangen. Wir meinen, dieſe Autorität iſt ge— funden. Naturganze, an der Hand der Entwick— lungslehre, muß uns in den ſtand ſetzen, ſowohl über den relativen Wert und Un— wert unſrer ſelbſt wie unſrer Umgebung in einer Weiſe klar zu werden, die nur veredelnd und beglückend auf uns wirken kann. Die Einſicht in die Naturgeſetze wird es uns ermöglichen, den unſern Leiſtungen angemeſſenen Teil der materiellen Güter einerſeits leichter zu erringen und andrer— ſeits die vielbegehrte Richtſchnur nicht im materiellen Überfluſſe zu ſuchen, ſondern in einer Beſchränkung unſerer Bedürfniſſe auf das Notwendige und Erreichbare, unter Anſammlung eines abgerundeten Fonds von Kenntniſſen, der uns über die bangen Zweifel, Hoffnungen und Befürchtungen bezüglich „jener“ Welt hinweghilft. Wie wir zu dieſer Art Kenntniſſe ge- langen? Auf keinem der eingeſchlagenen Wege. Ob konfeſſionelle oder Simultan— ſchule, ſie befinden ſich beide gleich weit von unſerm Ideal entfernt. Die konfeſſio— nelle Schule erfüllt — wie die Stiehlſchen Regulative — eine Hauptforderung der Pädagogik: die Einheitlichkeit der Erzie— hung — im beſten Falle. Wenn der Lehrer von dem Glauben an ſeine alleinſeligmachende Religion er— füllt iſt und jede Unterrichtsſtunde um die Sätze ſeiner Kirche, wie um ein Ideal, zu Theodor Vuy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. gruppiren, alles damit in Einklang zu ſetzen und zu durchgeiſtigen verſteht, wer— den ſeine Kinder einen abgerundeten und einheitlichen Schatz mit nach Haufe nehmen — um im ſpätern Leben das Ideal zumeiſt als ein Trugbild zu erkennen und einen um ſo tiefern Fall aus allen Illuſionen zu thun; vorausgeſetzt, daß nicht ſchon Eine richtige Einſicht in das | häusliche Lehre und Beiſpiel dieſen „Fall“ vor der Zeit herbeiführen. Iſt der Lehrer, wie in der Regel, nicht der ideale und gläubige Mann, ſo wird das Reſultat mit nachſtehendem zuſammen— fallen. In den Simultanſchulen iſt die un- vermittelte Scheidung der religiöſen Unter— weiſung und der übrigen Unterrichtsſtun— den eine unverſiegbare Quelle der Wider— ſprüche, des Mißtrauens, des Unglaubens und der Lüge. Die beſcheidenen Kenntniſſe in den Realien werden zwar objektiver ge— geben werden können als im erſten Falle; in ihren Kreiſen aber reifen gerade die Früchte, die unſere Zeit kennzeichnen. Ehe wir uns nun zum poſitiven Teile unſerer Betrachtungen wenden, erübrigt uns nur noch, eine Frage ins Auge zu faſſen: die nach dem Ziel und dem Um— fang der Erziehung. Wir können uns auch ferner darin nur an das Gegebene halten. Der Kampf ums Daſein wird immer ſchwerer auf dieſer beſten der Welten. Um im Schweiße ſeines Angeſichts ſein täg— liches Brot eſſen zu können und daneben eine Anzahl bevorzugter Konſumenten zu erhalten, deren Aufgabe es iſt, den er— worbenen Kulturſchatz zu hüten und zu mehren, wird die Maſſe der Produzenten immer mehr Stunden des Tages und Tage des Jahres zu Körper und Geiſt tötender D Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. 413 Arbeit heranziehen müſſen. Allerdings die Macht, den Willen und die Einſicht wird die Auffaſſungsgabe von Generation zu Generation wachſen; daß aber die tiefe Kluft, die den wahren Gebildeten von der Mitteilung und Verbreitung poſitiver Kenntniſſe ausgefüllt werden könnte, wird niemand zu behaupten wagen. Wir ſind jedoch der Anſicht, daß nicht aus Oppor— tunitätsgründen hier eine eſoteriſche, dort eine qualitativ verſchiedene exoteriſche Lehre gelehrt werden dürfe. Die Wahr— heit iſt nur eine, und dieſe Wahrheit iſt die Weltbeherrſcherin, mögen wir uns an— erkennend vor ihr beugen oder Vogel— Strauß⸗artig uns vor ihr verbergen. Iſt Ricardos ehernes Lohngeſetz nicht ob— jektive, herrſchende Wahrheit, wenn auch unſere Optimiſten mit Händen und Füßen dagegen ankämpfen? Geht die natürliche Ausleſe einen andern Gang, je nachdem wir ſie bejahen oder verneinen? Was wir dem Volke mitteilen, ſei die als rein und lauter erkannte Wahrheit. Die Geſittung wird dadurch nicht zu Schaden kommen. Es handelt ſich jedoch darum, dieſe Wahrheit in einer Form mitzuteilen, die nicht nur ein gläubiges Hinnehmen der Reſultate verlangt, ſondern auch eine Ein— ſicht vermittelt in den Gang, der zu dieſen Reſultaten geführt hat. Wir können nach dem oben Geſagten nicht erwarten, daß jemals das Ideal in dieſer Richtung allgemeiner wird, nämlich die mit allen Unterrichtsmitteln ausgeſtat— tete, unabhängige und harmoniſch gebil— dete, das Erziehungsgeſchäft mit der er— forderlichen Hingebung, Ausdauer und Einſicht übernehmende Familie. Wir müſ— ſen an die öffentlichen Schulen anknüpfen unter Aufſicht einer Zentralbehörde, welche hat, darüber zu wachen, daß das Niveau der Volksbildung ſich überall möglichſt | gleihmäßig auf einer Höhe erhalte, die Maſſe des Volkes trennt, jemals durch die bei einer geſchickt geleiteten ſechsklaſſigen Volksſchule mit einer Anzahl von 24 bis 30 Unterrichtsſtunden (abgeſehen vom Turnen) zu erreichen iſt. Dem Schüler werden auf der unter— ſten Stufe die Sinne geweckt, er wird auf— merken, ſprechen und leſen gelehrt, wobei man ſich jedoch nur des durch reich— liche Anſchauung unterſtützten mündlichen Unterrichts bediene; ebenſo werden die Elemente des Rechnens experimentell, unter Zuhilfenahme der Rechenmaſchine, beigebracht. Es iſt nicht zu überſehen, daß hier, wie beim geſammten folgenden Unter— richt, demſelben die anziehendſte, leben— digſte Form gegeben werde, um dem Kinde die ungewohnte Thätigkeit des Denkens und Aufmerkens von vornherein zu einer angenehmen zu machen. Aus demſelben Grunde ſind raſchere Abwechslung des Unterrichts, zahlreiche kurze und erholende Unterbrechungen deſſelben erforderlich. Jede Ermüdung iſt zu vermeiden; Mit— teilung von Regeln, Auswendiglernen ſtreng auszuſchließen; ſchon hier iſt dem Verlangen nach Glückſeligkeit die beſtimmte Richtung und Genugthuung zu geben. Im Anſchluß daran wollen wir gleich hier bemerken, daß die Grammatik aus der Volksſchule überhaupt fernbleiben ſollte. Eine achtſame Behandlung der Un— terrichtsſprache ſeitens des Lehrers, ſowie die mündliche und ſchriftliche Ausdrucks— weiſe ſeitens des Schülers, zuſammenge— halten mit einer mäßigen, bis in die höchſte Stufe praktiſch und umſichtig geleiteten Lektüre proſaiſcher und poetiſcher Muſter— ae er 414 ſtücke dürfte hinreichen, den in dieſer Rich- tung geſtellten Anforderungen des ſpätern Lebens zu genügen. Den ſich an die „vier Spezies“ ſpäter anreihenden Unterricht in der Mathe— matik wünſchten wir nur wenig über das Ziel der heutigen Mittelſchule erweitert, ſo zwar, daß der Schüler in den ſpäteren, feine Lehrzeit begleitenden Fortbildungs- ſchulen im ſtande iſt, den ſeinem Beruf zu— grunde liegenden Zweig der Mechanik und Technik, von deſſen Kenntnis ein ſo großer Teil ſeiner künftigen Wohlfahrt abhängt, ſich völlig zu eigen zu machen. Bezüglich der Methode iſt jedoch der Unterricht in der Arithmetik und Raum— lehre, wie ſchon bemerkt, weit anregender und fruchtbarer zu machen, als es gewöhn— lich geſchieht, und zwar durch Kultivirung des gern geübten Zeichnens, umfaſſendere Anwendung konkreter Maße, geradliniger (ſtereometriſcher) Körper u. dgl. Es ge— nügt nicht, daß man den alten Satz „Vom Einfachen zum Zuſammengeſetzten“ oder „Vom Konkreten zum Abſtrakten“ beachte; der Lehrer wiſſe von den Lehrbüchern ab— zuſehen, die Schüler ſelbſt ſich mutig durch die Schwierigkeiten durchkämpfen zu laſſen und ſie auf eigne Entdeckungen zu leiten. Nachdem auf der erſten Stufe neben der Pflege des Körpers (Turnen und Ge— ſang), wie angedeutet, die oben berührten Lehrſtoffe in ihren erſten Elementen in Angriff genommen ſind, wage man ſchon auf der zweiten Stufe daneben auf die Realien überzugehen. Wir ſind dafür, allem bisherigen ent— gegen, mit der phyſikaliſchen Geo— graphie (im weiteſten Sinne) zu begin— nen. Die Fenſterſcheiben, eine Glasſchüſſel mit Waſſer, einige Geſteinsarten und ein Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. Globus geſtatten bei geſchickter Hand— habung den Schüler über die Bodengeſtal— tung, die atmoſphäriſchen Erſcheinungen, die auffallendſten Naturerſcheinungen, die ganze Erd- und Weltbildung nach und nach eine Überſicht gewinnen zu laſſen, wie ſie bisher auf niederen und mittleren Schulen, ja überhaupt noch gar nicht er— reicht iſt. In dieſes Unterrichtsfach gerade möchten wir den Schwerpunkt der ganzen Erziehung verlegt wiſſen; alle anderen Disziplinen ſollten von ihm ausſtrahlen, alle andern immer wieder auf ſeine Lehren zurückführen. Mehr aber als irgendwo gilt es hier, die jungen Hörer zu Mithandeln— den zu machen, ſie mit ſich und ſich mit ihnen von Fortſchritt zu Fortſchritt, von Entdeckung zu Entdeckung zu führen. Der Lehrer hüte ſich aber, zu früh mit Be— griffen zu operiren. Man laſſe eine Er— ſcheinung nach der andern, eine Wahrheit nach der andern vor den Augen der Schü— ler entſtehen und faſſe erſt dann vorſichtig die Erfahrungen in eine Verallgemeinerung zuſammen. Wenn auf der zweiten Stufe etwa ein Viertel der Unterrichtsſtunden dieſem Lehr— fach gewidmet wird, ſollte er auf den höheren Stufen bis zur Hälfte der Unter— richtsſtunden beanſpruchen dürfen. Es iſt nicht erforderlich, daß die poſitiven Kennt— niſſe in quantitativer Hinſicht mit jeder Stufe eine weſentliche Erweiterung er— fahren. Wenn irgendwo, iſt hier das Herbartſche Wort, der Unterricht ſolle „zeigen, verknüpfen, lehren, philoſophi— ren“, mit dem richtigen Verſtändnis auf den oberen Stufen wahr zu machen. Wer wird als der erſte dem verſtän— digen Lehrer einen Leitfaden hierzu in die Hand drücken? Be Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten.“ Von der Chemie raten wir gänzlich ab; ſie paßt höchſtens in Real- und Gewerbe— ſchulen. Das Wiſſenswerteſte über die Exiſtenz der hauptſächlichſten Elemente wird ſchon in dem Lehrſtoff des obigen Faches ſeine Stelle finden können. Die zu jedem weitern Schritt nötigen Verſuche erfordern eine ſolche ernſte Konzentration des Intereſſes und eine Reife des Urteils, wie ſie nur ſelten ſogar in den höheren Klaſſen des Gymnaſiums angetroffen wird. Wir möchten deshalb dieſe Disziplin, ebenſo wie ein tieferes Eingehen in die Phyſik und Geologie, überhaupt auf die höhe— ren techniſchen Unterrichtsanſtalten be— ſchränkt wiſſen, die mehr der Verbreitung notwendiger und nützlicher Spezialkennt— niſſe der betreffenden Berufsarten dienen jollen.*) Sit durch jene Unterweiſung ein eini- germaßen feſter Boden/gewonnen, fo kann auf der folgenden Stufe im Sommer zur Botanik, im Winter zur Zoologie übergegangen werden. Dabei iſt aber nicht ernſtlich genug vor einem Überwuchern der Syſtematik und dem Auswendiglernen zu warnen. Ein Herausgreifen und Verglei— chen allgemein bekannter, die Hauptklaſſen vertretender Typen in concreto wird da— gegen Lehrer wie Schüler gemeinſam in der anregendſten Weiſe zu Ahnlichkeiten und Unterſcheidungen in der Entwicklung der verſchiedenen Organe führen und ſie unvermerkt zur Feſtſtellung der notwendi— gen ſyſtematiſchen Anhalte veranlaſſen. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß dieſer *) Anm. d. Red. Hierin können wir dem Herrn Verfaſſer nicht beiſtimmen. Die Grund— lehren der Chemie und Phyſik find für das täg— liche Leben eines jeden beinahe ebenſo unent— behrlich wie die Mathematik, und erfordern zu 415 Lehrgang durch regelmäßige, womöglich allwöchentliche Exkurſionen unterſtützt wer— den muß. Wenn der Lehrer hier die ganze Klaſſe beim Sammeln und Vergleichen zu beteiligen verſteht, konſequent darauf hält, daß kein Organismus (Pflanze oder Tier) aus ſeinen Lebensbedingungen geriſſen und getötet werde, es ſei denn im Inter— eſſe der Wiſſenſchaft oder im ehrlichen Kampfe für Leben und Wohlfahrt, dann wird ſich bald eine warme Teilnahme und Liebe für die organiſche Natur entwickeln, die ſich nicht nur in unklaren ſympathiſchen Gefühlen für Waldesluft und Vogelſang zeigen, ſondern auch in der Sorgfalt und Schonung für Blatt und Blume, für Wurm, Spinne, Käfer, Froſch, Nachtigall bethätigen wird. Der ſpäter ſo ſtark auf uns eindringende Kampf ums Daſein in Verbindung mit dem Auftreten äſthetiſcher Bedürfniſſe wird uns vor ſentimentalen oder buddhiſtiſchen Übertreibungen ſchützen. Auf dieſe Weiſe muß es gelingen, ſchon auf den mittleren Stufen einen ge— wiſſen Einblick in den Zuſammenhang des Naturganzen, ſowie eine annähernd ſichere Erklärung der alltäglichen Naturerſchei— nungen zu gewinnen. Auf den beiden obern Stufen ſind die gewonnenen Kennt— niſſe noch weiter zu befeſtigen und zu ver— tiefen, ohne im einzelnen viel weiter dar— über hinauszugehen, als es die künftigen Bedürfniſſe bei Garten-, Feld- und Wald- kultur erfordern. Indeſſen iſt es natürlich unbedingt notwendig, daß der Menſch von ſeiner ihrer Aufnahme viel weniger Anſtrengung des Geiſtes als dieſe, die doch niemand entbehren wollen wird. Viel eher würde unſers Erachtens für die Volksſchule die Zoologie und Botanik zu entbehren ſein. 416 bisherigen Ausnahmeſtellung mit in die Reihe der objektiv zu betrachtenden Orga- nismen gezogen wird. Mit Hilfe mikro— ſkopiſcher Zeichnungen iſt die mannigfache Differenzirung der in der Anlage überein— ſtimmenden Organe klarzulegen. Feſt und verſtändig iſt auf der oberſten Stufe der Schleier vor den Geheimniſſen der Ent— ſtehung und Entwicklung des menſchlichen Weſens zu lüften und die notwendigen Winke für das künftig ihm obliegende, ſeither ſo arg vernachläſſigte Erziehungs— geſchäft anzuknüpfen. Es ſpricht alles da— für, daß bei einer ſolchen Unterweiſung die bisher anerzogene faule Überhebung einer wohlbegründeten Beſcheidenheit und Strebſamkeit weichen wird, und die „My— ſterien“ der Geſchlechtsunterſchiede, die gerade die geweckteſten Jünglinge infolge der Mangelhaftigkeit und Verkehrtheit der Erziehung ſo oft in die drohendſten Sümpfe locken, werden zum großen Teil ihre ge— fährlichſten Lockungen verlieren. Das auf ſolche Weiſe gewonnene Reſultat wird ſich aber in der Zukunft dauernder, lebendiger und entwicklungsfähiger erweiſen, als das bisher beliebte, durch Jahre geübte Ein— pauken unverſtandener Unterſcheidungs— merkmale. Aber auch dem nach unſerer Anſicht erſt ſpäter anzuhebenden Unterricht in der politiſchen Geographie und in der Geſchichte möchten wir eine durchgehende Reform wünſchen. Hat der Schüler, nach früheren An— deutungen, eine anſchauliche, klare und zuſammenhängende Kenntnis von der Bo— dengeſtaltung und den phyſikaliſchen Ver— hältniſſen ſeines Erdteils erlangt und ſei— nen Vorrat an Erfahrungen und Begriffen erweitert, ſo möge ihm, etwa mit der dritten Theodor Buy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. Stufe, die für nötig gehaltene politiſche Einteilung deſſelben beigebracht werden. Am beten geſchieht dies aber unſeres Erach— tens in enger Verbindung mit der Geſchichte. Letztere iſt ſeither lediglich Kriegs— und Fürſtengeſchichte geweſen. Volks- und Kulturgeſchichte, aus der unſere heutigen Zuſtände herausgewachſen und durch de— ren Kenntnis allein ſie verſtändlich ſind, iſt nahezu gänzlich unberückſichtigt geblie— ben. Was Wunder, daß uns überall die unbegreiflichſten Widerſprüche entgegen— treten und dem Schüler Urteile zugemutet werden, die unſern heutigen Begriffen von 2 Recht und Moral geradezu ins Geſicht | ſchlagen? So pflegt man ſich gemeiniglich 3 darauf zu beſchränken, den Urſprung der 5 europäiſchen Kultur in einer Anzahl mit? geteilter Biographien nachzuweiſen, deren ö Helden, bei heutigem Licht beſehen, nicht viel mehr als eitle Klopffechter waren, im beſten Falle heißblütige, ehrgeizige Kirchturmpolitiker, die nebenbei, ſo oft ihren Erfolgen ein Damm entgegengeſetzt wurde, ſofort bei der hand waren, den großen Nachbar und Erbfeind zu Hilfe zu rufen. Unvermittelt, wie unſere Schulen dieſe griechiſchen Größen bisher kennen lernten, iſt es ganz unbegreiflich, daß man ihnen jene Prototypen des Partikularis— mus heutzutage noch zur Nacheiferung empfehlen kann! Auch die ſogenannte * griechiſche Kunſt erſcheint ihnen wie vom N Himmel geſchneit. Der Athener Perikles und ſein künſtleriſcher und kriegeriſcher Generalſtab taucht inſelgleich aus dem dunklen Meere und gilt dabei mit ſei— nen verfeinerten Bedürfniſſen für ein blo— ßes Beiſpiel der geſammten Bevölkerung Griechenlands. Es fällt niemandem ein, danach zu fragen, wo die Mittel zu 4 4 — dem luxuriöſen Leben dieſer Auserwählten herkamen und wie ſie beſchafft wurden. Eine eingehendere Kenntnis der ſtaatlichen, wirtſchaftlichen und Familienverhältniſſe auf der griechiſchen Halbinſel, der Zuſam— menhang der griechiſchen Kultur mit den älteren Kulturen Aſiens und Egyptens wird vollſtändig mit Stillſchweigen über— gangen. Unſerer modernen Entwicklung entgegen kommt ſogar das ſtaatenbildende, in der Amalgamirung fremder Elemente ſo überaus geſchickte, durch und durch vom ſtolzeſten Nationalgefühl getragene Römer— volk zu kurz. Faſt bei keinem Unterrichtszweig, ſoll— ten wir meinen, tritt die antiquirte, gänz— lich untaugliche und verwirrende Methode ſo zutage, wie beim Geſchichtsunterricht. Wie ſchön ließe ſich an die noch ſicht— baren Spuren unſerer altariſchen Geſit— tung anknüpfen, die uns nach Aſien ver— weiſt, wo wir — die Chineſen beiſeite laſſend —vom Ganges aus ihre mehr oder weniger ausführlich und lebendig ſprechen— den Züge über Babyloner, Aſſyrer, Phö— niker verfolgen können, bis wir ſie, auf dieſer Reiſe reichlich mit ſemitiſchen und egyptiſchen Elementen untermiſcht, endlich auch in Griechenland Wurzel faſſen ſehen, wo ſie, dank dem Zuſammentreffen günſti— ger Verhältniſſe, eine ſo raſche und frucht— bare Entwicklung fand. Wenn daneben die beſtimmenden Einflüſſe des Klimas, der Raſſenanlagen, der Volksſchichtung, des Sklavenweſens u. ſ. w. nicht überſehen werden, ſo werden wir auch die angedeu— teten Kehrſeiten in der Entwicklung des griechiſchen Volkes nicht länger zu ver— ſchweigen brauchen und den verhältnis— mäßig raſchen Niedergang uns erklären können. Theodor Vuy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. SU, Ihr Staatenkomplex, feine Bewohner und Lenker werden uns greifbarer, allge— mein menſchlicher, aber auch verſtändlicher erſcheinen, wenn wir erkennen, daß jede dieſer „Größen“ ein Kind ſeiner Zeit und dieſe Zeit das Produkt einer natürlichen Entwicklung war. Wie ſodann die Kultur zu den Römern überging und von dieſen darauf, verwebt mit dem roten Faden des Chriſtentums, zu den übrigen Abendländern, davon ge— ben die eingeführten Lehrbücher, trotz ihrer haarſträubenden Einſeitigkeit, ſchon genü— genden Aufſchluß. Wenn die Schule auf dieſe Weiſe ge— lernt hat, die relativen Vorzüge und Nach— teile eines jeden Kulturzuſtandes und eines jeden Staatsweſens als das notwendige Produkt des „Volkswillens“, ſeiner Raſſe— anlagen, der klimatiſchen Verhältniſſe des Landes anzuſehen, wird ein weſentlicher Grund zu politiſcher und ſozialer Unzu— friedenheit, die in dieſer wie in jeder an— dern Art perverſer Kundgebung größten— teils auf Unwiſſenheit beruht, beſeitigt ſein. So gewiß, wie auf die Dauer das herrſchende Prinzip ſich nur halten kann, wenn es das Durchſchnittsmaß der Volks— bildung und des Volkswillens repräſentirt, ſo gewiß iſt eine Steigerung zu Beſſerem an leitender Stelle nur durch allmähliche Hebung und Steigerung der Volksbildung und des Volkswillens herbeizuführen. Wir halten es völlig an der Zeit, wenn, erſt hier angelangt, dem engeren Vaterland und der herrſchenden Dynaſtie ein breiterer Raum gegönnt wird. Der Schüler wird darnach verſtehen, warum die erſten Anfänge im Aufſteigen der letz— teren auf dem wirklichen und gegründeten Recht des Stärkeren beruhen mußte, und Kosmos, Jahrg. IV. Heft 6. on = 418 wie die lange, bis in die Neuzeit reichende rückſichtsloſe Geltendmachung deſſelben — gewollt oder ungewollt — zur Erfüllung des Geſetzes vom Überleben des Paſſen— deren führte. Es bleibt uns nicht mehr viel zu un— ſerer gewünſchten Reform zu ſagen. Die Pflege fremder Sprachen hal— ten wir für die Volksſchule durchaus ent— behrlich. Sie bildet mit ihren Anforde— rungen an geiſttötendes Auswendiglernen einen Ballaſt, der in den meiſten Fällen weggeworfen wird, ſobald das Kind die Schule verläßt. Die Stunden der Volks- erziehung ſind aber zu knapp bemeſſen, als daß wir nicht wünſchen ſollten, ſie mit rein erziehlichem Stoff ausgefüllt zu ſehen. Geſang und Turnen könnten gleich— Theodor Vuy, Zur Wiederaufrichtung erſchütterter Autoritäten. Wort, „die Religion an und für ſich ent— halte keinen Antrieb zu wirken“, täglich ſeine Beſtätigung findet. Die Moral da— gegen beſteht doch jedenfalls darin, ſich und andern das Leben ſo vollkommen wie möglich zu geſtalten. Es kann dies aber nur in möglichſt vollkommener Anpaſſung an den geſellſchaftlichen Organismus, dem wir angehören, geſchehen. Je beſſer wir deſſen Vertrauen in unſere Zuverläſſigkeit und Leiſtungsfähigkeit zu entſprechen wiſ— ſen, ein um ſo tauglicheres und vollkomm— neres Glied werden wir ſein, um ſo mehr Glück werden wir auf uns und unſre Um— gebung ziehen. Wenn der Lehrer daher die Liebe zur Wahrheit und Wiſſenſchaft in den Herzen | ſeiner Pflegebefohlenen anzufachen weiß; wenn jede Unterrichtsſtunde auch eine falls noch vernunftgemäßer betrieben wer- den. In betreff des erſteren können wir nicht dringend genug vor dem ſonderbaren Ehrgeiz warnen, über das vorhandene Verſtändnis gehende Kompoſitionen zum Vortrag bringen zu wollen, ſtatt bei der dankbaren Pflege und geſchmackvollen Ein- übung unſerer einfachen melodiöſen Volks— lieder zu beharren. Das Turnen muß weit fleißiger betrieben, alle Kräfte, auch die geiſtigen, dabei gleichmäßiger in Anſpruch genommen und geübt werden.“) Wo bleibt aber die, wenn ſchon nicht religiöſe, ſo doch moraliſche Ausbildung? höre ich von allen Seiten fragen. Ich bemerke darauf, daß Fichtes *) Wir möchten hierbei beſonders auf die trefflichen Bemerkungen über dieſen Gegenſtand in dem Buche des Prof. Dr. G. Jäger, „Die menſchliche Arbeitskraft“. München, 1878, S. 425 u. ff. verweiſen. Stunde der Erziehung zu jener Vollkom— menheit iſt; wenn der Lehrer es verſteht, durch die Art ſeiner Unterweiſung die Neigungen und Begehrungen der Jugend fort und fort an ſeine Darſtellungen zu feſſeln; wenn er ſeine Zöglinge von Fort— ſchritt zu Fortſchritt, von Entdeckung zu Entdeckung führt; kurz, wenn er ſich durch eine möglichſt einheitliche, konſequente und erfolgreiche Handhabung des Unterrichts die Liebe und Achtung ſeiner Schüler zu ſichern, ſie durch ſeine Erziehung in einen Zuſtand der Glückſeligkeit zu verſetzen weiß, dann wird ſeine Perſon und ſein Wort eine Autorität, einen Zauber und einen Wetteifer, ihm zu gefallen und ihm nachzuahmen, ausüben, deſſen Wirkung keine Art des religiöſen Unterrichts, möge ſie nun in Geboten, Heiligengeſchichten oder Biographien berühmter Männer be— ſtehen, zu erreichen vermag. Skizzen aus der Eutwicklungsgeſchichte der Entwick- lungsgeſchichte. Von ie Extravaganzen der natur— plhiloſophiſchen Schule in % Oken, Schelling und ihren Nachfolgern hatten, wie auf ſyſtematiſchem Gebiete, ſo ſpekulation erzeugt, daß das Wort Natur— wurde. Zufrieden, weder die Entwicklung auch auf dem ſpeziellen der | Entwicklungsgeſchichte eine ſolche Abnei-⸗ gung gegen alle wiſſenſchaftliche Über- tigte, daß man jene als embryonale philoſoph zum Schimpfwort geworden war und auch das Gute, was dieſe Rich- tung angeregt hatte, lange völlig verkannt | des Lebens der Welt noch die des Einzeln- ja in einem Plane das frühere im Hin— weſens erklären zu können, legte man das gequälte Haupt nochmals im Schoße des Moſes zur Ruhe und nahm an, daß alle Ernſt Krauſe. III. Tieren, namentlich durch die Arbeiten von Karl Vogt und Agaſſiz, ſolche kennen, die eine neue Entwicklungsreihe eröffnen, und nannte ſie bibelfeſt prophetiſche Typen, während man der Thatſache, daß die allgemeinen Charaktere der älteſten Fiſche in den Embryonen der heute leben— den wiederkehren, einfach dadurch abfer— Formen bezeichnete und gar von ſyn— thetiſchen ſprach, welche die Organiſa— tionen ſpäter getrennter Formen vereinigt haben ſollten, ſomit ein für allemal das frühere nach dem ſpäteren benennend, weil blick auf das ſpätere angelegt wird. Ein verſchämtes Hindurchwirken der natur— verführeriſchen Ahnlichkeiten und Über- Zieh aller Entwicklung auch ihre Ur— gangsformen ſowohl zwiſchen den embryo— nalen und ausgebildeten, als zwiſchen Braun, Agaſſiz u. a. geäußerten Ideen ihnen und den ausgeſtorbenen, durch die Paläontologie bekannt gewordenen Weſen im „Schöpfungsplan“ begründet ſeien. Man lernte unter den ausgeſtorbenen philoſophiſchen Idee, daß der Menſch als ſache ſei, blieb in dieſen von Link, überall erkennbar, während die Kraft- und Staoffſchule durch die Kühnheit ihres Rück— | gangs auf Lamarck und die Eneyklopä— 420 dienſt und wegen ihrer Unfähigkeit, den natürlichen Entwicklungsweg plauſibel zu machen, die beſonneneren Forſcher nur noch mehr zurückſtieß. Auf dieſe Weiſe mußte das nicht un— vorbereitet und doch plötzlich auftauchende Licht der Darwinſchen Theorie im erſten Augenblick mehr blenden als erleuchten, und nur allmählich und nicht ohne Schmer— zensrufe gewöhnten ſich die Naturforſcher an dieſes neue Licht und begannen die Dinge der Welt bei demſelben von neuem zu be— trachten. Gerade in der Entwicklungsge— ſchichte war nun aber die Oken-Geoffroy— ſche Entwicklungs-Idee, die als ſolche mit der Darwinſchen ihre Vergleichspunkte darbot, am gründlichſten durch Baer und ſeine Schüler widerlegt worden. Johan— nes Müller in Berlin, der ganz in Baers Fußtapfen getreten war, fand an der na— turphiloſophiſchen Lehre nur noch ſoviel wahr, daß jeder Embryo anfangs nur den Typus ſeiner Abteilung an ſich trage, wo— raus ſich erſt ſpäter der Typus der Klaſſe, Ordnung, Familie, Gattung und Art her— vorbilde. Baer hatte als Schlußergebnis aller ſeiner Studien prägnanter den Satz hingeſtellt: „Die Entwicklungsge— ſchichte des Individuums iſt die Ge— ſchichte der wachſenden Individua— lität in jeglicher Beziehung“, der ſich, weil ſtreng richtig, nur dadurch mit dem andern Satze vereinigen läßt, daß eben die Geſchichte des Individuums auf den früheren Stufen völlig zuſammenfällt mit derjenigen ſeiner Art, Gattung, Familie, Ordnung und Klaſſe. Weniger allgemein richtig ſind einige andere Sätze Johan— nes Müllers. Er glaubte, daß die Rei— henfolge der Entwicklung durch die Wich— tigkeit der betreffenden Organe geregelt Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. werde, indem die wichtigſten ſtets zuerſt gebildet würden, eine Meinung, die für die teleologiſche Richtung der geſammten äl— teren Naturauffaſſung charakteriſtiſch iſt. Darwins Lehre, „daß alle die zahl— loſen Arten, Gattungen und Familien or— ganiſcher Weſen, von denen die Welt be— völkert wird, jede in ihrer beſondern Klaſſe oder Gruppe, von gemeinſamen Eltern ab— ſtammen“, wurde zuerſt von Huxley in England, Oskar Schmidt in Deutſch— land und Fritz Müller in Braſilien auf das Studium der Entwicklungsgeſchichte angewendet. Mit glücklichem Griffe nahm der letztere, ein Schüler Johannes Mül— lers, die Entwicklungsgeſchichte der for— menreichen Gruppe der Krebstiere in An— griff, um daran die Wahrheit oder Falſch— heit der neuen Lehre zu erproben. Ent— hielt ſie die Wahrheit, ſo mußten ſich dieſe Tiere bei all ihrer großen Man— nigfaltigkeit auch durch die Entwicklungs— geſchichte als Glieder einer großen Fa— milie erweiſen. Nun war ihm aufge— fallen, daß jene Baer- und Müllerſchen Geſetze, daß Tiere ſich um ſo ähnlicher würden, je weiter man in ihrer Entwick— lungsgeſchichte zurückgeht, und daß ſich die wichtigſten Organe immer zuerſt anlegen ſollten, gerade bei den Krebstieren keines— wegs immer zutreffen. Viele der nieder— ſten Krebſe erheben ſich in ihrer geſamm— ten Organiſation nicht viel über ihre ſechs— füßige Larvenform mit werkzeugloſem Munde und einfachem Rückenauge, dem von dem däniſchen Naturforſcher Fried— rich Müller ſogenannten Nauplius. Mit einer im allgemeinen ähnlichen Nauplius— form beginnen auch die Rankenfüßler und Schmarotzerkrebſe ihre Entwicklung als freilebige Larve, worauf ſie ſich ſpäter auf Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. ſchwimmenden Hölzern, Klippen oder leben— den Tieren feſtſetzen und in einer rückläu— figen Metamorphoſe nicht nur alle Krebs— ähnlichkeit verlieren, ſondern ſchließlich ſo— gar alle Tierähnlichkeit, ſo daß die einen als Weichtiere (Entenmuſcheln), die anderen überhaupt nicht mehr als Tiere angeſehen wurden, bevor man ihre Entwicklungsge— ſchichte kannte. Sprach die gemeinſame Ent— wicklung jo grundverſchiedener Endformen | aus einer den niederſten Krebstieren nahe— ſtehenden Anfangsform nun allerdings ſehr für Darwin, jo ſtritt das Fehlen der ge— dachten jüngſten Larvenform (des Nau— plius)in der Entwicklung unſerer Flußkrebſe, Krabben und anderer höheren Krebstiere, ebenſo ſehr gegen Darwin als gegen Baer, nach deſſen Anſicht ja alle Tiere desſelben Typus um ſo ähnlicher ſein ſollten, je wei— ter man in ihrer Entwicklung zurückgeht. Im Jahre 1862 entdeckte Fritz Müller jedoch auch bei Garneelen, alſo einer hö— heren Kruſterform, die Nauplius-Larve*), ſo daß die Annahme, alle, auch die höch— ſten Kruſter, ſeien aus einer und derſel— ben, dem Nauplius ähnlichen Grundform hervorgegangen, keine Schwierigkeiten mehr bot, da man nun wohl annehmen mußte, diejenigen der Garneele verwandten hö— hern Kruſter, welche die Naupliusform in ihrer perſönlichen Entwicklung nicht zei— gen und nahezu fertig aus dem Ei aus— kriechen, ſeien einer Abkürzung des Entwick— lungsprozeſſes unterlegen. Indem Fritz Müller die Entwicklung jener Seegar— neele weiter verfolgte, ſah er ſie nach der Naupliusform durch eine Reihe anderer Formen hindurchgehen, die man früher, wie den Nauplius, wegen ihrer Ahnlichkeit mit ) Tro chels Archiv für Naturgeſchichte 1863. J S8. 421 völlig ausgebildeten mittleren Krebsformen als beſondere Tiere betrachtet und Zo&a, Mysis u. ſ. w. genannt hatte. Er legte dieſe Studien in dem zwar nicht für wei— tere Kreiſe berechneten, aber in zoologi— ſchen Kreiſen zur fruchtbarſten Wirkung gelangten kleinen Buche: Für Darwin) nieder, indem er ſchloß, daß jene Nau— plius-, Zo&a- und Mysis-Formen mehr oder weniger getreue Nachbilder der Ahnen die— ſer Garneele ſeien. Im Gegenſatz zu den Tieren, bei welchen die ganze Entwicklung im Ei verläuft, oder bei denen eine oder mehrere Larvenformen verloren gegangen ſind, erklärte er ſich dieſes regelrechte Durch— laufen mannigfacher, ebenſovielen Klaſſen der niedern Kruſter entſprechender Larven— formen als eine durch die gleichmäßigen Bedingungen des Meereslebens faſt unver— ändert erhaltene Wiederholung des Weges, auf welchem ſich dieſe hochentwickelte Kru— ſterart langſam im Laufe der Zeiten aus niedern Arten entwickelt habe. Man wird leicht erkennen, daß dieſer Schluß Fritz Müllers, den Haeckel in der abgekürzten Form: Die Entwicklung des Individuums (Ontogeneſe) iſt die gedrängte Wiederholung der Stammesgeſchichte (Phylogeneſe) zum „biogenetiſchen Grundſatz“ erhoben hat, nicht eine Folgerung aus der Theorie der Hemmungsbildungen, ſondern vielmehr die Umkehrung derſelben iſt; bei jener wurden die niedern Tiere aus dem höhern, bei dieſem werden die höhern aus den nie— dern Tieren hergeleitet. Der lange ge— ahnte Zuſammenhang zwiſchen Ontogeneſe und Phylogeneſe, der ja ſchon den Spe— kulationen Erasmus Darwins über die Bedeutung der rudimentären Organe zu *) Leipzig, 1864. Grunde lag, war ſo an einer geeigneten Tierklaſſe beſtätigt, und die daraus gezo— genen Schlüſſe erwieſen ſich von der weit— tragendſten Bedeutung und Fruchtbarkeit. Vor allem wurde damit das Rätſel von der Gelehrſamkeit der Keimſeele Sen— nerts, Morus und Morins gelöſt, wel— ches Bayle und ſeine Zeitgenoſſen ſo ſehr erſchreckte, denn da die perſönliche Entwick— lung nunmehr nur als die Wiederholung eines ſehr allmählich mit denkleinſtenSchrit— ten begonnenen und unzählige male von neuemzurückgelegten, immer einige Schritte weiter ausgedehnten Weges aufgefaßt wird, ſo ſchwindet jene auf den erſten An— blick unüberwindlich erſchienene Schwierig— keit in nichts zuſammen. Denn wenn man, wie ſchon Erasmus Darwin betonte, zugiebt, daß jeder Organismus in irgend einer Richtung neue Fähigkeiten erwirbt und die Wiedererzeugungskraft derſelben ſeinen Nachkommen vererbt, ſo ſieht man leicht, wie ſich aus den geringfügigſten An— ſätzen durch dieſes Erinnerungsvermögen der lebenden Materie das Wunderbarſte aufbauen muß; der Entwicklungsprozeß wird dadurch zu einem — ich will nicht ſa— gen, in ſeinem innerſten Weſen begreif— baren, — aber zu einem verſtändlichen, weil durch immerwährende Wiederholung eben ſo ſicher eingelernten, mechaniſchen Vorgang, wie wir durch Übung jede belie— bige Kunſtfertigkeit uns aneignen, um ſie nachher ohne Bewußtſein auszuüben. Fritz Müller faßte jedoch nicht blos die Fälle ins Auge, wo die möglichſt ge— treuliche Wiederholung des Ahnenweges in der perſönlichen Entwicklung klar vor— liegt, ſondern auch die ſchon angedeuteten, wo es anders kam. „Die Urgeſchichte der Art,“ ſchrieb er 1863, „wird in | Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. ihrer Entwicklungsgeſchichte um ſo vollſtändiger erhalten ſein, je län— ger die Reihe der Jugendzuſtände iſt, die ſie gleichmäßigen Schrittes durchläuft, und um ſo treuer, je weniger ſich die Lebensweiſe der Jungen von der der Alten entfernt und je weniger die Eigentümlich— keiten der einzelnen Jugendzuſtän— de, als aus ſpätern in frühere Ju— gendzuſtände zurückverlegt oder als ſelbſtändig erworben ſich auf— faſſenlaſſen.““) Daß ſolcheZuſammen— ziehungen und Abänderungen des urſprüng— lichen Entwicklungsweges ſtattfinden, iſt eine Thatſache, die ſich vielfach in der Natur aufdrängt und ſich auch bei den Krebstieren darin darſtellt, daß viele der— ſelben faſt ihre geſammte Entwicklung in einem Ei durchmachen und als beinahe ausgebildete Tiere dasſelbe verlaſſen. Wahrſcheinlich ſind es in den meiſten Fäl— len äußere Umſtände geweſen, die eine ſolche abgekürzte Entwicklung begünſtigten. So haben wir in der Neuzeit Fröſche ken— nen gelernt, die auf den vulkaniſchen In— ſeln Weſtindiens leben, in deſſen poröſem Tuffboden ſich keine dauernden Waſſer— tümpel halten. Dieſe Fröſche können dem— nach ihre Entwicklung nicht als Kaul— quappen im Waſſer durchmachen und ent— wickeln ſich daher im Ei vollſtändig. In ihrer Entwicklung iſt daher auch ganz wie bei den höheren Wirbeltieren (Amnioten) die Kiemenentwicklung völlig unterdrückt, und ähnliches findet mit vielen Organ— bildungen ſtatt, die nicht als Bauſteine neuer Organbildungen dienen, denn in dieſem Falle müſſen ſie, wenn auch unbe— nutzt, in der Entwicklungeſchichte immer 900, 8 55 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 423 von neuem erſcheinen, wie z. B. die Kiemen— bögen des Wirbeltier-Embryos. Fritz Müller faßte dieſe Erkenntnis in den Satz zuſammen: „Die in der Entwick— lungsgeſchichte erhaltene geſchicht— liche Urkunde wird allmählich ver— wiſcht, indem die Entwicklung ei— nen immer geraderen Weg vom Ei zum fertigen Tier einſchlägt, und ſie wird häufig gefälſcht durch den Kampf ums Daſein, den die frei— lebenden Larven zu beſtehen ha— ben.“) Dieſer ſpäter von Haeckel als Cenogeneſe bezeichnete Vorgang wurde durch Fritz Müller ſpeziell als Urſache der ſo höchſt ſeltſam verlaufenden Inſekten— metamorphoſe erkannt. Um nur das in die Augen ſpringendſte zu erwähnen, ſo iſt es ja klar, daß der Puppenzuſtand der Inſekten kein Nachbild eines aktiven Ahnen ſein kann, er iſt vielmehr das Nachbild ei— nes durch äußere Umſtände (Kälte und Trockenheit) erzwungenen paſſiven Zu— ſtandes, einer Einſpinnung oder eines Jahreszeitenſchlafes, der nun der Entfal— tung des vollkommnen Inſekts voraufgeht und dieſem für ſeine Exiſtenz und Fortpflan— zung ev. die geſammte gute Jahresperiode ſichert. Dieſes ſelbſtändige Variiren der Larven ſcheint übrigens, wie Weis mann ſpäter wahrſcheinlich gemacht hat, das Ziel der Entwicklung nicht weſentlich zu beein— fluſſen; trotz aller Kürzung und Abände— rung der Entwicklung entſteht immer wie— der die eingeprägte Endform; wie bei der Kurzſchrift werden nur die Charaktere ge— ändert, aber der Inhalt muß derſelbe bleiben. Würtenberger und Weis— mann haben, um dies gleich hier zu er— wähnen, ſpäter (1875 und 76) zu zeigen geſucht, wie die jüngſt erworbenen Ab— änderungen durch ſpätere in der Entwick— lungsgeſchichte des Individuums fortlau— fend weiter zurückgedrängt werden, wor— aus ſich' dann erklärt, daß in Familien, deren Arten einen ſehr großen Wechſel durchgemacht haben, die urſprünglichſten Formen ſo zuſammengedrängt erſcheinen, daß ſie faſt unkenntlich werden und da— durch der Anſchein der abgekürzten Ent— wicklung entſteht, in welchem die Ahnen— formen ganz ſummariſch durcheilt werden. Wir erkennen leicht, wie in dieſen ent— wicklungsgeſchichtlichen Geſetzen das Mit— tel entdeckt wurde, die Darwinſche Theorie zu beweiſen, den von ihr geforderten Stammbaum der lebenden Weſen, den die lückenreiche paläontologiſche Überlieferung höchſtens in vereinzelten Zweigen zu lie— fern verſpricht, und die geſammten natür— lichen Verwandtſchaften der Lebeweſen aus ihrer eigenen Entwicklung zu entziffern. Auf dieſem Gebiete nun gab Ernſt Haeckel in ſeiner 1866 erſchienenen „Ge— nerellen Morphologie“ den gewaltigſten Anſtoß und legte in ſeinen ſo vielfach miß— verſtandenen Stammbäumen den Spezial— forſchern auf dem Gebiete der vergleichen— den Entwicklungsgeſchichte ebenſoviele Fragebogen und Arbeitspläne vor, deren Anerkennung oder Ablehnung durch ent— ſcheidende Beobachtungen für die Wiſſen— ſchaft gleich wichtig geworden iſt, und die darum eine unvergleichlich größere Be— deutung erlangt haben, als die homeriſchen Stammbäume, mit denen ſie von unein— geweihter Seite ſpöttiſch verglichen wur— den. Haeckels Werk lieferte durch Auf— ſtellung eines gemeinſamen, an der Wurzel zuſammenhängenden Stammbaums des Reiches aller Lebeweſen die erforderliche / 424 ſyſtematiſche Grundlage der Darwinſchen Theorie, wie ſie unentbehrlich war, wenn die darin vorhandenen Lücken in ſyſtema— tiſcher Arbeit ausgefüllt werden ſollten. Das Wort Baers: „Die Entwick— lungsgeſchichte iſt der wahre Lichtträger für Unterſuchungen über organiſche Kör— per; bei jedem Schritte findet ſie ihre Anwendung, und alle Vorſtellungen, wel— che wir von den gegenſeitigen Verhält— niſſen der organiſchen Körper haben, wer— den den Einfluß unſerer Kenntnis der Ent— wicklungsgeſchichte erfahren“), wurde nun mit einemmale lebendig, und dieſe Studien nahmen ſeit der Anregung durch Darwin, Fritz Müller und Haeckel die Führung der biologiſchen Wiſſenſchaft. Das Studium der Entwicklungsgeſchichte bot ſeitdem nicht mehr blos das ſpezielle Intereſſe an dem Vorgange ſelbſt, ſondern erhob ſich durch die Beziehungen auf die allgemeine Anſchauung der Natur als ei— nes einheitlichen Ganzen zu höheren gei— ſtigen Genüſſen. Erſt jetzt wußte man wirk— lich, zu welchem Zwecke man Entwicklungs— geſchichte ſtudirte, nämlich um die Geheim— niſſe des Gewordenen aus dem Werden zu entſchleiern und dem Schöpfungsvorgange, ſoweit dies möglich iſt, nachträglich beizu— wohnen. Wir können hier nicht die zahlloſen Arbeiten über Entwicklungsgeſchichte, die nun erſchienen, aufzählen, ſondern wollen nur bei einigen der wichtigſten verweilen. Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. Als eine der folgenſchwerſten muß dar unter die des ruſſiſchen Zoologen Auguſt Kowalewsky betrachtet werden, der im Herbſt 1866 zufällig kurz nach einander die Entwicklung einer Aſeidie und des Lanzetttieres ſtudirte und dabei die merk— 5) A. a. O D., S. 231. würdigſte Übereinſtimmung der erſten Ent⸗ wicklungsſtufen beider wahrnahm, trotz— dem daß das erſtere Tier zu den Wirbel— loſen und das letztere an die unterſte Stufe der Rückenmarks- oder Wirbeltiere geſtellt werden muß. Durch dieſe gänzlich uner— wartete und alle Zoologen überraſchende, aber bei allen Nachprüfungen ſtichhaltig befundene Entdeckung war ſomit der ſo lange vergeblich geſuchte Anſchluß der Wirbeltiere an die Wirbelloſen, jene Ver— einbarkeit der höheren und niederen Tiere nachgewieſen, an welche Baer nicht ge— glaubt hatte und über welche Cuvier mit Geoffroy in ſo heftigen Streit geraten war. Gerade dasjenige Organ, welches Baer als typiſch für die Wirbeltiere be— zeichnet hatte, die Rückenſaite, zeigte ſich dabei als vorübergehende Bildung in den Embryonen von Tieren, die ſpäter meiſt eine rückſchreitende Metamorphoſe durch— machen, indem ſie ſich einer feſtſitzenden Lebensweiſe anpaſſen. Das wichtigſte war dabei die außerordentliche Ahnlichkeit der unterſten Entwicklungsſtufen zweier Tiere, von denen das eine ſeine nächſten Ver— wandten unter den Würmern, das andere unter den Wirbeltieren beſitzt, Entwick— lungsſtufen, die bei den höheren Wirbel— tieren nach den oben entwickelten Grund— geſetzen undeutlich geworden zu ſein pfle— gen, die aber um ſo wichtiger ſind, als ſie die ſchon früher von Huxley bemerkte Homologie der primären Keimblätter durch das Geſammttierreich bewieſen. Durch dieſe Verknüpfung der höher— ſtehenden Organismen mit den niederen, die ſich jetzt von ſelbſt als eine genetiſche aufdrängte, gewann natürlich das Stu— dium der letzteren noch an Intereſſe, und hier ſind nun vor allen andern die Ar— beiten Ernſt Haeckels bahnbrechend ge— worden. Schon im Jahre 1862 hatte er die Radiolarien monographiſch bearbeitet, und von fundamentaler Bedeutung für die Biologie wurden dann ſeine 1870 ver— öffentlichten „Studien über Moneren und andere Protiſten“. Sie machten uns mit Organismen bekannt, die keine Organe haben, mit Lebeweſen, die nur aus einem Klümpchen belebten Schleimes beſtehen und einfacher gar nicht einmal gedacht werden können. Noch mehr, dieſe Weſen, die am An— fange aller Entwicklung ſtehen, haben ſelbſt gar keine andere Entwicklung, als daß ſie über ihr urſprüngliches Maß hinauswachſen und ſich dann in zwei Hälften teilen. In ihnen erhielt alſo die berühmte „Stufenleiter“ einen Anfang, der Stammbaum des Le— bens eine Wurzel, wie ſie die Naturphilo— ſophie nicht beſſer hätte erdenken können, zumal da auch die höchſten Lebeweſen ihr Daſein als kernloſes Schleimklümpchen beginnen. Schon in ſeiner „Generellen Morphologie“ hatte Haeckel gezeigt, daß man beſſer thue, dieſe und eine Reihe an— derer einfachſter Organismen, über die bisher ein endloſer Streit zwiſchen Bota— nikern und Zoologen geherrſcht hatte, ob man ſie zu den Pflanzen oder zu den Tie— ren ſtellen ſollte, in ein neutrales Zwiſchen— reich, das Reich der Protiſten oder Ur— weſen, zu ſtellen, welches man als gemein— ſame Wurzel des Pflanzen- und Tierreichs betrachten könne. Im Laufe der Zeit hat ſich dieſer Begriff dahin ausgedehnt, daß man dahin alle Lebeweſen rechnet, deren Entwicklung nicht über den Wert einer einzelnen Zelle oder einer Vereinigung aus gleichwertigen Zellen hinausgeht, bei denen alſo noch keinerlei Arbeitsteilung unter den Elementarbeſtandteilen des Kör— Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 425 pers aufgetreten iſt. Innerhalb des Pro— tiſtenreiches finden ſich hingegen alle nur wünſchenswerten Übergänge von dem blo— ßen ſich teilenden Schleimklümpchen zum kernhaltigen Schleimklümpchen, zur um— grenzten Zelle, deren Wandungen Wim— pern, Geißeln und allerlei proviſoriſche Organe bilden, und zu maulbeerartigen Häufungen ſolcher Zellen, die ſich ſpäter trennen und durch wiederholte Teilungen neue Kugelhäufchen bilden. Zu dieſen niederſten Lebeweſen oder Protiſten hatte man früher auch die Mee— res- und Süßwaſſerſchwämme oder Spon— gien gerechnet, die in den Jahren 1869 bis 71 für Haeckel das Material zu dem Verſuche einer analytiſchen Löſung des Problems von der Entſtehung der Arten gaben. Schon im Jahre 1867 hatte die Einfachheit des Baues der Kalk— ſchwämme an den Küſten der Inſel Lanza— rote ſeine Aufmerkſamkeit erregt und die Vermutung nahegelegt, daß ſie vielleicht die geeignetſte Tiergruppe ſeien, um daran die erſten Schritte der Organiſation zu ent— rätſeln. Ein Aufenthalt an der norwegi— ſchen Küſte (Sommer 1869) und ein zwei— ter auf der Inſel Leſina (Frühjahr 1871) bot neben dem Studium unzähliger, in zahlreichen Sammlungen enthaltener Kalk— ſchwämme das erforderliche, umfangreiche Material, um dieſe Fragen zu prüfen. Das Reſultat wurde in der „Monographie der Kalkſchwämme““) niedergelegt, mit welcher eine neue Epoche der Entwicklungs— geſchichte anhebt: die Epoche der Abrun— dung nach unten und der kauſalen Erklä— rung der erſten Schritte aller tieriſchen Entwicklung. Haeckels Studien hatten zunächſt er— *) Berlin, 1872. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 54 426 geben, daß die als vollendete Geſtalten äußerſt mannigfach und wandelbar in For— men und Farben erſcheinenden Schwämme in ihrer Jugend ſämmtlich einem topf- oder ſackförmigen Kalkſchwamm (Olynthus) gleichen, der demnach, wenn man ſich die ſeinen Wandungen eingelagerten Kalk— nadeln wegdachte, ein Nachbild des Ahnen aller Schwämme, alſo des unbekannten Urſchwamms(Protascush), darſtellen konnte. Die Entwicklungsgeſchichte dieſes Olynthus verlief im weſentlichen in derſelben Weiſe, wie die erſte Entwicklung aller niederſten Tiere, namentlich der Pflanzentiere, ſo daß damit die Zugehörigkeit der Schwamm— tiere zu den Pflanzentieren und die Not— wendigkeit der Entfernung aus dem Pro— tiſtenreiche dargethan wurde. Die Ahn— lichkeit dieſer Entwicklung iſt ſo groß, daß wir als ſchematiſch völlig zutreffendes Bild derſelben die bildliche Darſtellung der er— ſten, ebenfalls von Haeckel beobachteten Entwicklung eines ganz verſchiedenen Tie res, einer Koralle des Roten Meeres, be- nützen können. Wir ſehen auf der beiſtehenden Ab— bildung, wie ſich aus dem anfangs kern— loſen, einer Monere gleichenden Ei (A) des Pflanzentiers anfangs durch Abſchei— dung eines einfachen Kerns einer Kernzelle (B) und dann durch wiederholte Teilung oder ſogenannte Furchung (Segmentation) in 2, 4, 8, 16, 32 u. ſ. w. Zellen (C, D) ſchließlich ein Zellhäufchen gebildet hat, welches ſchon von verſchiedenen früheren Beobachtern geſehen worden war und Maulbeerkeim (Morula, Fig. D, E) ges | Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. ner einfachen Zellenlage umſpannten Hohl— kugel (6) auseinanderrücken, entſteht die Keimblaſe (Blastula oder Blastosphaera, Fig. 1, G), die man aber nicht mit der Keimdarmblaſe verwechſeln darf, welche Baer als den gemeinſamen Ausgangs— punkt aller Tierentwicklung betrachtet hatte. Indem ſich dieſe Keimblaſe an einer Stelle zurückſtülpt (F, ), entſteht ſchließlich durch Aneinanderlegen der Wandungen bei voll— ſtändiger Verdrängung der Furchungs— höhle durch Einſtülpung (Invaginatio) der Becherkeim oder die Darmlarve (Gastrula, Fig. I. J, K) mit einer aus zwei Zellen— lagen, dem Außenblatt (Exoderma oder Ectoderma) und dem Innenblatt (Ento- derma), beſtehenden Wandung, die ſich mit dem verſchloſſenen, dem Urmunde ent— gegengeſetzten Pol nach kurzem Umher— ſchwärmen feſtſetzt und unmittelbar zu dem ähnlich geſtalteten Schwamm auswächſt, der ſich in der Regel nur dadurch weſent— lich von der Gaſtrulalarve unterſcheidet, daß er die äußeren Wimpern verloren hat, während ſeine Wandungen von einem Po— renſyſtem durchbohrt werden. Bei der Beobachtung dieſer frei im Meere umherſchwimmenden Larvenformen, die ſich, wie man ſieht, zu ihrer Bewegung teilweiſe beſonderer Wimpern bedienen, wird es klar, daß man es in dieſen erſten | Entwicklungsphaſen, ebenſowohl wie in nannt wurde. Dadurch, daß ſich inmitten dieſer Zellengemeinſchaft Flüſſigkeit ab- ſondert und die urſprünglich einen dichten der Nauplius-, Zoea- und Myſisform der Krebſe, mit den Nachbildern der Ahnen jenes Schwammes und jener Koralle zu thun hat, von denen ſie abſtammen. Wenn ſchon Baer aus der Gleichheit der im Ei der höheren Tiere ſehr veränderten An— fangsformen der Entwicklung ſchloß, daß dieſer Keim immer das Tier ſelbſt vor— Haufen bildenden Zellen zu einer von ei- ſtelle, um wieviel mehr werden wir es bei n nnn Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 427 Fig. 1. Entwicktungsſtufen von Monoxenia Dar winii, einer Koralle des Roten Meeres, nach Haeckel. A. Monerula. B. Kernzelle (Cytula). C, D. Produkte der erſten und zweiten Furchung. E. Maulbeerkeim (Morula). F, G. Blaſenkeim (Blastula). H. Längsſchnitt des eingeſtülpten Blaſenkeimes. I, K. Darmlarve (Gastrula).— dieſen munter umherflanirenden Larven thun müſſen. Und in der That finden die Stufen A—6 zahlreiche noch heute le— bende Ebenbilder im Reiche der Protiſten; fo find A und B den Moneren und Amö— ben gleichwertig und die ferneren Stufen gleichen den ſogenannten Synamöben oder Kugeltierchen, deren Entwicklungsgang mit der Bildung einer kugligen Gemeinde gleichwerter Zellen abgeſchloſſen iſt und durch Trennung und Neufurchung der ein— zelnen Gemeindeglieder immer wieder von vorn anfängt. Eben deshalb kann man dieſe Synamöben auch von den einfachen Amöben kaum trennen, ſie bilden die oberſte Stufe der Protiſten oder Urweſen, unter deren Zellen eine dauernde Arbeitsteilung noch nicht eingetreten iſt. Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. Anders liegt der Fall bei der ſoge— nannten Gaſtrulalarve, bei der eine deut— liche Verſchiedenheit der die Doppelwan— dung zuſammenſetzenden Schichten ſchon auf den erſten Blick in die Augen ſpringt, und auch daraus, daß nur die äußeren derſelben mit Wimpern verſehen ſind, welche die Bewegung und Erneuerung des Waſſers an der Oberfläche bewirken, hervorgeht. Wenn ihr in der Jetztwelt ein lebendes Weſen entſpräche, ſo müßte dies unbedingt unter die wirklichen Tiere ge— rechnet werden, und demgemäß unterſchei— det Haeckel als echte, wirkliche Tiere (Metazoen) von den Urweſen (Protozoen) alle diejenigen, die in ihrer Entwicklung, wenn auch noch fo wenig, über die Darm— larve hinausgehen. Fig. 2. Gaſtrulaformen von ſechs Vertretern der Hauptklaſſen des Tierreichs. A. Pflanzentier (Gastrophysema). B. Wurm (Sagitta). C. Seeſtern (Uraster). D. Krebs (Nauplius). E. Schnecke (Limnaeus). F. Wirbeltier (Amphioxus). — In ſämmtlichen Figuren bedeutet e Hauptblatt( Exoderma), i Darmblatt (Entoderma), d Urdarm, o Urmund,s Furchungshöhle. U Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. Da nun Vertreter ſämmtlicher fünf oder ſechs Hauptklaſſen der Tiere in ihrer individuellen Entwicklung deutlich dieſe Gaſtrulalarve erkennen laſſen (Fig. 2), ſo erklärte Haeckel bereits 1872: „Aus dieſer Identität der Gaſtrula bei Reprä— ſentanten der verſchiedenſten Tierſtämme von den Spongien bis zu den Vertebraten ſchließe ich nach dem biogenetiſchen Grund— geſetze auf eine gemeinſame Deszendenz der tieriſchen Stämme von einer einzigen unbekannten Stammform, welche im we— ſentlichen der Gaſtrula gleichgebildet war: der Gastraea.” “) Dies iſt die berühmte, viel angefochtene, aber mit jedem Tage ſieg— reichere Gaſträatheorie, von der im vollſten Maße das Baerſche Motto gilt: „Simplex est sigillum veritatis!“ Wir müſſen hier einen Augenblick ver— weilen, um uns den unſchätzbaren Gewinn klar zu machen, den die moniſtiſche Welt— anſchauung aus der Gaſträatheorie zu ziehen vermag. Sie lehrt uns erſt die früheſten Entwicklungszuſtände der Embryonen ver— ſtehen, indem ſie die Entſtehungsweiſe und Homologie der erſten beiden Keimblätter durch das geſammte Tierreich erläutert und dadurch jene mechaniſche Erklärung der Entwicklung von unten herauf anbahnt, die ſchon Wolff forderte und die Baer gegen Serres geltend machte (als dieſer ein getrenntes Auftauchen der Organe im Ei wahrzunehmen glaubte), indem er ihn darauf hinwies, daß die Entwicklung im- mer nur von einem Gegebenen weiter gehen könne und daß kein Organ aus nichts ent— ſtehen oder von ungefähr dazu wachſen könne, ſondern immer nur durch fernere Differenzirung einer ſchon vorhandenen *) Haeckel, Die Kalkſchwämme, S. 467. 429 Grundmaſſe oder durch Umbildung eines vorhandenen Organs. Sehen wir zu, wie ſich Haeckel die Entſtehung der hypothetiſchen Gafträa und mit ihr der beiden Keimblätter aus einer der einfachen Keimblaſe gleichwerti— gen Synamöbe vorſtellt. Er dachte ſich den Vorgang ſo, daß die einſchichtige Zellengemeinde angefangen haben mag, eine Stelle ihrer Oberfläche vorzugsweiſe der Nahrungsaufnahme zu widmen. Da es für dieſen Zweck vorteilhafter ſein mußte, wenn dieſe Stelle etwas geſchützt lag, ſo bildete ſich durch natürliche Züch— tung allmählich ein Grübchen, welches ſich im Fortſchreiten dieſes Prozeſſes immer weiter vertiefte und, indem ſich die Er— nährungsfunktionen ganz hierher zurück— zogen, zu einem vollkommenen Magen wurde. Das ganze Tier iſt nichts als ein ſchwimmender Magen und daher iſt der zugleich Form und Funktion bezeichnende Namen Gastraea beſonders glücklich ge— wählt. Es iſt von zwei Zellenſchichten, den Grundlagen aller ſpäteren Gewebe, gebildet, die ein Reſſort des Außern und ein Reſſort des Innern bilden: dem Haut— blatt, welchem die Bewegung und Orien— tirung obliegt, und dem Magenblatt, welches hauptſächlich der Nahrungsauf— nahme dient. Wir ſehen ſo den Aufbau des tieri— ſchen Körpers ganz den Gedanken La— marcks gemäß, der den Magen als das urſprünglichſte Organ des Tieres bezeich— net hatte, mit dem Magen beginnen und ſo auch jene alte, durch die fleiſchfreſſen— den Pflanzen ſehr in die Enge getriebene Definition des Tieres als „Magenbeſitzer“ gerechtfertigt. Die Ernährung iſt eben die Grundfunktion alles Lebens und darum Ma | 430 der Ausbau ihrer Organe im Tier- und Pflanzenreiche das erſte Geſchäft der na— türlichen Zuchtwahl. Darin liegt die lo— giſche Seite der Gaſträatheorie. Es braucht wohl kaum geſagt zu werden, daß dieſer Urmagen und dieſer Urmund keine Homo— loga des Wirbeltiermagens und -mundes ſind; nur unter den Pflanzentieren iſt dies teilweis der Fall, im Verlaufe der Ent: | wicklung der übrigen Tiere aber werden Fig. 3, 4. Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. ſie regelmäßig, der letztere durch einen meiſt am entgegengeſetzten Pole entſtehen— den Nachmund und der erſtere durch eine aus dem Darmblatt entſtehende Speiſe— röhre, erſetzt, ebenſo wie die urſprüng— lichen Bewegungs-, Atmungs-, Fortpflan⸗ zungsorgane, die ſich nach und nach durch weitere Differenzirung der beiden Keim— blätter ausbildeten, ſpäter durch neue Organe ausgelöſt wurden. Haliphysema primordiale nach Haeckel, von außen und im Längsſchnitt. d Urdarm, m Urmund, g Magenblatt (Entoderma), h Hauptblatt (Exoderma), e amöboide Eichen. Eine weſentliche Stärkung ihrer an— fangs ſtark beſtrittenen Poſition hätte die Gaſträatheorie — wenn nicht ſchon in der Logik allein ihre Stärke läge — in der Ent⸗ deckung einer Reihe von „Gaſträaden der Gegenwart“, d. h. von jetzt lebenden Tie— ren finden können, die in ihrer geſammten Entwicklung nur wenig über die Organi- ſationshöhe der Gaſträa hinausgehen. Mehrere dieſer von Haeckel in ſeinen „Studien zur Gaſträatheorie“ *) zuerſt nach ihrer Stellung im Naturreiche ge— würdigten Weſen wurden von ihm ſelbſt entdeckt, andere in älteren natur— hiſtoriſchen Werken beſchrieben gefunden, deren Verfaſſer ſie zum Teil völlig miß— verſtanden hatten. Als Haeckel im Jahre } *) Biologiſche Studien, 2. Heft, Jena, 1877. — 4 1869 an der norwegiſchen Küſte nach Kalkſchwämmen ſuchte, fand er dort einen kleinen, wenige Millimeter langen Schlauch, der ihn wegen der Ahnlichkeit, welche er mit der oben beſchriebenen einfachſten Form der Kalkſchwämme (Olynthus) darbot, lebhaft intereſſirte und der wahrſcheinlich identiſch mit einem ſchon früher von Bower— bank als Meerfläſchchen (Haliphysema) beſchriebenen Organismus war, den dieſer unter die Schwämme geſtellt hatte. Zu den Schwämmen gehören die Meerfläſch— chen aber eigentlich nicht, denn ihre Wan— dungen entbehren gänzlich der Poren und Kanalſyſteme, die für die Schwämme ſo charakteriſtiſch ſind. Im Jahre 1876 fand Haeckel eine verwandte Form (Haliphy- sema primordiale, Fig. 3 u. 4) in der Bucht von Ajaccio auf Korſika. Sie ſtellt einen ſpindelförmigen, höchſtens 2 Millimeter langen, in der Regel auf Algen feſtge— wachſenen Schlauch dar, deſſen äußere Haut in dem untern Teile mit Sandkörn— chen, in dem obern mit mundwärts gerich— teten Kieſelnadeln eingepanzert iſt. Ein Längsſchnitt offenbart ſofort die charakte— riſtiſche Organiſation eines einfachen Ga— ſträaden. Die dicke Wandung der ſpindel— förmigen Höhlung beſteht nur aus zwei völlig verſchiedenen Schichten, den beiden primären Keimblättern, Entoderm und Exoderm. Das Entoderm beſteht nur aus einer einzigen Schicht von Geißelzellen, zwiſchen denen einzelne amöboide Eier zer— ſtreut liegen. Das Exoderm dagegen, in welchem die fremden Panzerſtoffe aus— ſchließlich eingebettet liegen, bildet ein ſogenanntes Syneytium, wie bei den Schwämmen und in vielen andern tieri— ſchen Geweben, ſofern die ſtrenge Um— grenzung der Zellen verloren gegangen Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 431 und eine gegenfeitige Verſchmelzung ein- getreten iſt; die maſſenhaft in dem Ge— webe eingeſtreuten Zellkerne zeigen aber deutlich die echte Keimblattnatur auch die— ſer Schicht. In der Mundöffnung bildet eine Spirale ſtärker entwickelter Wimper— zellen einen Strudelapparat, der dazu dient, das Waſſer im Innern zu erneuern und Nahrung herbeizuſchwemmen. Zwei in den Hauptverhältniſſen ähn— liche Gaſträaden derſelben Gattung (Ha— liphysema echinoides und H. globigerina, Fig. 5 und 6) erhielt Haeckel aus Ber— gen und von den Far-Oer-⸗Inſeln zuge- ſandt, von denen die erſte ihren kugeligen, auf einem langen Stiele ſtehenden Bauch ſehr zierlich mit Kieſelnadeln aller Art eingepanzert hat, während die letztere ſich ganz in die zierlichen Beſtandteile des Tiefſeeſchlammes, Globigerinen und Ra— diolarien aller Arten gekleidet hat. Es iſt ein Rätſel, wie dieſe wenig beweglichen Weſen im Stande ſind, dieſe meiſt gleich— langen Nadeln zu erlangen und ſo zierlich der Außenſchicht einzufügen. Neben dieſen durch die früher bekann— ten, auf die Zahl fünf geſtiegenen Gaſträ— aden, gelang es Haeckel in Smyrna eine ſechſte (Gastrophysema dithalamium, Fig. 6) zu entdecken, die von dem größten Intereſſe iſt und ihm erſt zu dem wahren Verſtändnis der erſteren verhalf. Bei die— ſer Gaſträade iſt inſofern eine Fortbildung eingetreten, als der Innenraum ſich durch Einſchnürung in zwei Höhlen geteilt hat, deren obere Abteilung die Nahrung auf— nimmt, während ſich in dem unteren Teile die Eier ausbilden. Die Gaſträaden ſind nämlich die älteſten und niederſten Tiere, bei denen ſich, ſoviel bekannt, ein Gegen— ſatz der Geſchlechter und eine wirkliche Be— 432 fruchtung ausgebildet hat. Haeckel konnte die Entwicklung der Keimzellen bis zur Gaſtrulaform (Fig. 2A) beobachten, die ſich in nichts von der bei anderen Tieren bekannten Gaſtrula unterſcheidet. Die wei— tere Entwicklung ſah er nicht, aber ſie wird bilden, wenn es ſich um höhere Pflanzen— tiere handelt. ohne Zweifel in derſelben Weiſe wie bei den Pflanzentieren erfolgen, an deren un— terſte Grenze die Phyſemarien zu ſtellen ſind. Bei den übrigen Pflanzentieren ſetzt ſich die Gaſtrulalarve nach längerem Umherſchwärmen mit ihrem dem Munde 4 M HUNGER x. 2 Haliphysema echinoides. 30: J. Nach Haeckel. m Urmund, e Exoderm, i Entoderm, v Magenhöhle, o Eichen. Fig. 5. 8 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. entgegengeſetzten Pole feſt, verliert die äußeren Wimpern, um dafür innere zu entwickeln und feine Wandungen zu durchlöchern, wenn es ein Schwamm werden will, oder die ſtrahlig die Mund— öffnung umgebenden Tentakel hervorzu— In der That iſt nichts natürlicher, als den ſtrahligen Typus der Pflanzentiere davon herzuleiten, daß ſie aus ſolchen früh vor Anker gegangenen Gaſträaden entſtan— Fig. 6. Haliphysema globigerina. 100: 1. Nach Haeckel. G K Globigerina. O Orbulina. T Textilaria. E II u. D Radiolarien. er den find, während ſich bei Gaſträaden, die ſchwimmend blieben oder auf feſter Un— terlage zu kriechen begannen, ebenſo na— turgemäß der allen übrigen Tieren ge— meinſame bilaterate Typus mit ſeinem Gegenſatz von vorn und hinten, oben und unten, rechts und links herausbilden mußte. Wir haben hier dieſen Spekulationen nicht weiter zu folgen und wollen nur bemer— ken, daß es ebenſo wie unter den Pflan— zentieren auch unter den Wurmtieren ſolche giebt, die kaum oder nur höchſt unerheblich Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 433 über die Organiſationshöhe der Gaſträaden hinausgekommen find. Bei ihnen entwickelt ſich dann ebenſo wie bei manchen Pflanzen— tieren aus den primären Keimblättern ein mittleres Keimblatt (Meſoderm), aus dem die ſekundären Keimblätter und die Organe der vom Magen abgeſchloſſenen Leibes— höhle in der Ontogeneſe hervorgehen. In dieſer Weiſe knüpfen ſich alſo die Entſtehung der beiden Haupttypen des Tierreichs, der ſtrahlige und der zweiſeitig ſymmetriſche, unmittelbar an die Fig. 7, 8. Gastrophysema dithalamium Haeck. Außere Anſicht b Bruthöhle, y enge Einſchnürung zwiſchen ihr und der Magenhöhle, d Drüfenzellen des Magens, a Geißelſpirale, n Kerne des Synzytium, g junge Gaſtrulalarven, k Geißelzellen des Magenblatts. Die übrigen Buchſtaben wie in Fig. 5. . Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 434 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. fernere Entwicklung der Gaſträaden; die ideale Gaſträa läßt ſich als die letzte gemein— ſame Grundform, als das eigentliche Urtier auffaſſen, von dem alle höheren Tiere ab— zuleiten ſind. Und deshalb eben kehrt ſie in der Entwicklung aller Tiere wieder. Freilich nicht in unveränderter Geſtalt! Und darum wurde ihr Vorkommen in dem Entwicklungsgange namentlich der höheren Tiere, wo ihre urſprünglich einfache Ge— | tiſches Produkt iſt und darum notwendig ſtalt ſehr verändert iſt, lange verkannt, bis Rauber ihr Vorhandenſein im Hüh— nerembryo und van Beneden im Kanin— chenei erkannte, wonach man ſie dann als gemeinſame Durchgangsſtufe aller Tiere anerkannte. Die ſtarke Umbildung (Ceno— geneſe) eines ſo frühen Entwicklungsſtadi— | ums, namentlich bei höheren Tieren mit langer Geſchichte, iſt um jo weniger ver: wunderlich, als ſich meiſt die Urſachen der nachträglichen Umbildung nachweiſen laſ— ſen. Zunächſt darf man nicht vergeſſen, daß die Gaſträaden ſelbſt eine ſehr ver— ſchiedene Lebensweiſe führen können. So find die Dicyemiden nach van Beneden ſchmarotzende Gaſträaden, die wie die meiſten echten Schmarotzer keiner eigent— lichen Magenhöhlung bedurften. Bei ihnen ſind daher Urdarm und Urmund verloren gegangen. Diejenige Zelle der erſten Fur— chung, welche die Magenwandzellen lie— fern ſollte, teilt ſich daher gar nicht mehr, ſondern wächſt blos und wird von den durch fernere Teilung entſtehenden Haut— blattzellen bis zur Schließung des Ur— mundes umkleidet. Im Gegenſatz zu der totalen Furchung, welche die regelmä— ßige Gaſtrula, die Urdarmlarve (Archi- gastrula) liefert, ſehen wir eine ſolche ab— geleitete Gaſtrulaform durch ungleiche oder partielle Furchung bei den meiſten derjenigen Tiere entſtehen, deren Keim | nicht als Larve frei im Waſſer lebt und ſeine Nahrung nicht ſelbſt erwirbt, ſondern von der Mutter Dotternahrung mit auf den Weg erhält und ſich im geſchloſſenen Ei bis zu einer mehr oder weniger weit ausgedehnten Stufe entwickelt, bevor er ſelbſtändig ſeine Nahrung erwirbt. Man muß bedenken, daß dieſer Nahrungsdotter in allen Fällen ein ſekundäres, cenogene— von Einfluß auf die Geſtaltung des eigent— lichen Keimes ſein muß. Haeckel hat im erſten Hefte ſeiner „Studien zur Gaſträa— theorie“ und ſpäter in der überaus klaren Neubearbeitung dieſer erſten Entwicklungs— prozeſſe in der neueſten Auflage der „An— thropogonie“ dieſe Ableitungsformen un— ter die drei Hauptformen des meiſt bei den Säugetieren vorkommenden Hauben— keimes (Amphigastrula), des bei den Fi— ſchen und eierlegenden Amnioten verbrei— teten Scheibenkeimes (Discogastrula) und der namentlich bei Kruſtern und Inſekten durch blos die Oberfläche treffende Fur— chung entſtehenden Perigastrula geordnet. Damit man aber nicht verſucht werde, in dieſen nachträglichen Ableitungsformen typiſche Grundverſchiedenheiten zu ſuchen, ſei erwähnt, daß dieſe Formen in denſel— ben Tierklaſſen auch nebeneinander vor— kommen, ſo z. B. die charakteriſtiſche Hau— bengaſtrula vieler höheren Wirbeltiere auch bei zahlreichen Kalkſchwämmen. Der ſo oft in dieſen Blättern betonte Übelſtand, daß man die entwicklungsge— ſchichtlichen Studien, ſtatt an niederen Tie— ren, an dem Hühnchen begonnen hat, deſ— ſen Gaſtrula durch das reiche Dottermate— rial ſehr ſtark cenogenetifch verändert und in die ſogenannte Keimſcheibe 3 e Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. wurde, gab die Veranlaſſung, daß die erſten Entwicklungszuſtände der Tiere fo lange unbekannt blieben und ſelbſt heute noch vielfach mißverſtanden werden. Noch ungünſtiger liegt der Fall bei den Säuge— tieren, deren Stamm ja von demjenigen eierlegender Tiere abgeleitet werden muß, und bei denen daher eine ſo ſtarke wiederholte Umprägung ſtattgefunden haben muß, daß man den Scharfſinn van Benedens be— wundern muß, der ſich in dieſem Wirrſal zurechtgefunden hat. Es glückte demſel— ben, zu zeigen, daß die in den vorigen 0 Fig. 9. Gaſtrula des Kaninchens. e Hautblatt (Exoderma). i Darmblatt (Ento- derma), d o Darmblattzellen, welche die Ur— darmhöhle und die Urmundöffnung ausfüllen. Artikeln mehrfach erwähnte Keimblaſe der Säugetiere keineswegs, wie man anfangs glaubte, mit der Blastula (Fig. 16 F) des urſprünglichen Entwicklungsganges iden— tiſch iſt. Die Entſtehung dieſes beſſer als Keimdarmblaſe (Gastrocystis) zu bezeich— nenden Entwicklungsſtadiums aus der vor— hergehenden Amphigastrula der Säuge— tiere iſt nach van Beneden die folgende: „Der Urmund der Amphigastrula ver⸗ ſchwindet, indem die Entodermzelle, welche den Dotterpfropf bildete, in das Innere des kugeligen Keimes zu den anderen Zel— 435 len des Darmblattes tritt. Der Säugetier— keim bildet jetzt eine ſolide Kugel (Fig. 9), be— ſtehend aus einem zentralen Haufen dunkler, polyedriſcher, größerer Entodermzellen und einer peripheriſchen Hülle, welche aus einer einzigen Schicht von helleren, rundlichen, kleineren Exodermzellen zuſammengeſetzt iſt. Nun ſammelt ſich an einer Stelle zwiſchen beiden Keimblättern klare, helle Flüſſig— keit an, und dieſe wächſt bald ſo bedeu— tend, daß ſich die Exodermhülle zu einer großen kugeligen Blaſe ausdehnt. Die Maſſe der dunkleren Entodermzellen, welche eine Kugel von viel kleinerem Durchmeſſer bildete, bleibt an der Stelle des Dotter— pfropfs mit dem Exoderm im Zuſammen— hange. Sie flacht ſich hier erſt halbkugelig, darauf linſenförmig, dann ſcheibenförmig ab, indem ſich die Entodermzellen verſchie— ben und in Geſtalt einer kreisrunden Scheibe in einer Schicht ausbreiten. So entſteht an einer Stelle der Keimdarmblaſenwand die bekannte kreisrunde Keimſcheibe der Säugetiere, welche man mit van Beneden als Keimdarmſcheibe be— zeichnen kann. Dieſe allein beſteht aus den beiden primären Keimblättern — einer äu— ßeren Schicht heller Exodermzellen, einer inneren Schicht trüber Entodermzellen —, während die ganze übrige Wand der Keimdarmblaſe blos aus einer Schicht Exodermzellen beſteht.““) Wir ſehen hier deutlich, wie der von früheren Beobachtern als erſter Keim der Säugetiere betrachtete Gastrodiscus eine ſehr veränderte Ableitungsform der Gaſtru— lalarve darſtellt, die namentlich dadurch entſtanden iſt, daß die Vorfahren der Säuge- tiere als eierlegende Tiere ein reichliches Nahrungsmaterial in die Gaſtrula auf— 9 Haeccke el, Biologiſche Studien, S. 256. 436 nahmen. Der Leib des Säugetierembryos wird einzig aus dem Gaſtrodiskus gebil— det, während der übrige Teil der Gaſtro— cyſtenwand den vergänglichen Dotterſack oder die Nabelblaſe darſtellt. Die Nabel— blaſe der Säugetiere verhält ſich, wie zu— erſt Oken völlig klar erkannt hat, homo— log dem Dotterſack der Vögel und Rep— tilien, und daraus geht klar hervor, was auch aus anderen Gründen der vergleichen— den Ontogenie ſchon längſt wahrſcheinlich war, daß der kleine und unbedeutende Dotterſack der Säugetiere ſtark zu— rückgebildet iſt, das Rudiment oder ſchwache Ueberbleibſel von einem viel grö— ßeren und bedeutenderen Dotterſack, wel— chen die Vorfahren der Säugetiere be— ſaßen. „Vielleicht,“ ſetzt Haeckel hinzu, „iſt dieſer letztere bei den Monotremen noch heute vorhanden, vielleicht noch bei einem Teile der Marſupialien. Jedenfalls ſteht zu erwarten, daß die richtige, leider faſt noch ganz unbekannte Keimesgeſchichte dieſer beiden niederen Säugetierklaſſen uns noch viele wichtige Aufſchlüſſe über die Ontogenie der Placentalien und ihre ceno— genetiſche Entſtehung aus älteren Kei— mungsformen geben wird. Das cenogene— tiſche Anpaſſungsverhältnis, welches die Rückbildung des rudimentären Dotterſacks der Säugetiere veranlaßt hat, liegt klar auf der Hand. Es iſt die Anpaſſung an den lange dauernden Aufenthalt im Ute— rus der lebendig gebärenden Säugetiere, deren Vorfahren ſicher eierlegende waren. Indem der Proviantvorrat des mächtigen Nahrungsdotters, welchen die eierlegenden Vorfahren dem gelegten Ei mit auf den Weg gaben, durch die Anpaſſung an den längeren Aufenthalt im Fruchtbehälter bei ihren lebendiggebärenden Epigonen über— Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. flüſſig wurde, und indem hier das mütter— liche Blut in der Uteruswand ſich zur wich— tigſten Nahrungsquelle geſtaltete, mußte natürlich der überflüſſig gewordene Dot— terſack durch „embryonale Anpaſſung“ zu— rückgebildet werden.““) Nach dieſen An— deutungen, auf welche wir hier eingehen zu müſſen glaubten, um die früher er— wähnten Anſichten Hallers über die Con— tinuität der Dotterhaut mit dem Embryo und diejenige Baers über die Keimblaſe in das rechte Licht zu ſtellen, iſt es klar, wie weit die erſten Keimungsprozeſſe der Vögel und Säugetiere, — bei denen das Studium begann, von der urſprünglichen Form entfernt ſind, wie aus der Archi— gaſtrula erſt eine Amphigaſtrula, dann eine Diskogaſtrula geworden iſt, um wie— der zur Amphigaſtrula zurückzukehren, ſo daß die bloße Gaſtrulation ſchon ein rudi— mentäres Organ — das Nabelbläschen — als Spur ihrer Wandlungen zurückließ. Die Schwierigkeit, ſich aus dieſem Laby— rinth auf die einfache Gaſtrula zurückzu— finden, erklärt die Unmöglichkeit, der die älteren Forſcher gegenüberſtanden, die erſten Schritte der Wirbeltierentwicklung zu begreifen und ſie mit derjenigen der niederen Tiere in Einklang zu bringen; ſie erklärt auch einen Teil der Oppoſition heute lebender Forſcher gegen die Gaſträa— theorie. Viele unter ihnen, welche die Giltigkeit des biogenetiſchen Grundgeſetzes vollkommen anerkennen, zögerten dennoch, eben durch dieſe Unregelmäßigkeiten der Gaſtrulation abgeſchreckt, der ſo einfachen und einleuchtenden Gaſträatheorie zuzu— ſtimmen. Einige dieſer Forſcher wollten in dieſen erſten Furchungs- und Teilungs— prozeſſen überhaupt nichts weiter als die ) A. a. O., S. 257. Entſtehung des Baumateriales zum Em: bryo erblicken, womit dann aber die Kette des kauſalen Zuſammenhanges jäh zerriſ— ſen und die Entſtehung der beiden pri— mären Keimblätter unerklärt gelaſſen wird. Einige Beobachter behaupteten, ge— ſehen zu haben, daß ſich die Gaſtrulalarve dern auch bisweilen durch einfache Spal— tung (Delaminatio) der einfachen Blaſtula— ſchicht, wie ſie bei einem Kalkſchwamm und bei der Rüſſelqualle (Geryonia) beob— achtet worden ſein ſoll. Bei dem Kalk— ſchwamm iſt dieſe Angabe durch F. E. Schultze widerlegt worden, und wenn der andere höchſt vereinzelte Fall ſich wirk— lich bewähren ſollte, ſo würde er als eine ſeltene cenogenetiſche Ausnahme daſtehen, die in keiner Weiſe gegen die Regel ins Gewicht fällt. Im Übrigen haben zwei ausgezeichnete ausländiſche Embryologen, Ed. van Beneden*) und Ray-Lan— keſter““) die Gaſträatheorie bei ihren zum Teil vorhin erwähnten tiefer eindringen— den Arbeiten ſo lichtgebend gefunden und ſo treffend mit Thatſachen bewieſen, daß ſie ſeitdem als die beſte Theorie, die wir zur Erklärung der erſten tieriſchen Ent— wicklungsſtufen beſitzen, von der Mehr— zahl der entwicklungsgeſchichtlichen For— ſcher anerkannt wird. Zwar giebt es einige unter ihnen, die ſie allerdings nicht annehmen können, weil ſie jeden Zuſammenhang zwiſchen Hhuunterſuchungen über die erſten Phaſen der Reifebefruchtung und Entwicklung des Ka— ninchens und über die Dizyemiden. Bulletins de l' Académie royale de Belgique. T. XL, XLI u. XLII (1875 76). **) E. Ray -Lankester, Quarterly Journal of microsc. Science. Vol. XV (1875), p. 163. 1 nicht überall durch Invaginatio bilde, ſon⸗ Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 437 Phylogenie und Ontogenie leugnen, wie z. B. Wilhelm His und Alexander Götte. Der Letztere kommt für uns nicht in betracht, da er als Motiv aller Entwick— lung ein der Materie nicht inhärentes „Grundgeſetz“ aufſtellt, alſo einen weſent— lich dualiſtiſchen Standpunkt einnimmt. His ſuchte ihr dagegen eine andere me— chaniſche Erklärung entgegenzuſtellen, die in der That ſehr — mechaniſch iſt. In ſeiner Rektoratsrede „Über die Bedeutung der Entwicklungsgeſchichte für die Auffaſ— fung der lebenden Natur“ ) ſtellt derſelbe ſeine in dem 1875 erſchienenen Werke „Unſere Körperform“ weiter entwickelte Theorie mit folgenden Worten dar: „Der Keim des Wirbeltier-Eies iſt ein flaches, blattförmiges Gebilde. Dies Gebilde wächſt von dem Eintritte der Entwicklung ab fort und fort, es nimmt dabei an Flä— chenausdehnung und an Dicke zu. Das Wachstum aber erfolgt nicht überall mit gleicher Energie, es ſchreitet in den zen— tralen Teilen raſcher voran, als in den peripheriſchen. Die notwendige Folge hier— von muß die Entſtehung von Faltungen ſein, da eine ſich dehnende Platte nur dann flach bleiben kann, wenn ihre Dehnung an allen Punkten dieſelbe iſt. Solche Falten treten nun, wie oben erwähnt, in der That ein, und mit ihnen die erſten fundamenta— len Gliederungen der Keimſcheibe. Nicht nur die Abgrenzung von Kopf und Rumpf, von rechts und links, von Stamm und Peripherie, nein auch die Anlage der Gliedmaßen, ſowie die Gliederung des Ge— hirns, der Sinnesorgane, der primitiven Wirbelſäule, des Herzens und der zuerſt auftretenden Eingeweide laſſen ſich mit zwingender Notwendigkeit als mechaniſche ) Leipzig, 1870, S. 32. 438 Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. Folgen der erſten Faltenentwicklung de— monſtriren.“ Die vier Extremitäten der Wirbeltiere ſollen hiernach „den vier Ecken eines Briefes ähnlich, durch die Kreuzung von vier den Körper umgrenzenden Fal— ten“ entſtehen! Sollte man es wohl für möglich hal— ten, daß ein Univerſitätslehrer ſo kindi— ſchen Blödſinn ſchwatzen könnte, wie er in dieſer von Haeckel ſcherzhaft als „Brief— kouverttheorie“ bezeichneten Erklärung zu Tage kommt? Abgeſehen von der Unwahr— heit, mit der ſie debütirt, da keineswegs der Keim aller Wirbeltiere anfangs als flache Scheibe erſcheint, entbehrt ſie der Hauptſache, nämlich eines jeden kauſalen Hintergrundes, der uns ſagt, wie die flache Scheibe dazu kommt, ſich zu bilden und ſo in die Breite zu gehen, warum ſie es in anderen Fällen nicht thut u. ſ. w. Für die Wiederkehr der Ahnenformen in der Jugendgeſchichte der Nachkommen und für die Rückſchlagsformen und rudimentären Organe hat ſie keine irgend plauſible Er— klärung, wenn man nicht etwa den von Haeckel treffend als „Höllenlappentheo— rie“ bezeichneten Scherz ſo nennen will. Während die Phylogenie in den rudimen— tären Organen die verkümmerten Reſte uralter, längſt außer Dienſt geſtellter Or— gane erblickt, die bei den Vorfahren wirk- liche Funktionen ausübten, betrachtet His ſie als „embryologiſche Reſiduen, den Ab— fällen vergleichbar, welche beim Zuſchnei— den eines Kleides, auch bei der ſparſam— ſten Verwendung des Stoffes, ſich nicht völlig vermeiden laſſen.“ „Höllenlappen alſo,“ ruft Haeckel mit Recht“), „welche die ſchlaue Schneiderin „Natur“ beiſeite ) Haeckel, Ziele und Wege der heutigen Entwicklungsgeſchichte. Jena, 1875, S. 27. ſteckt und hinter den Ofen in die „Hölle“ wirft!“ Zwiſchen ſolchen Erklärungen, die ſchlimmer ſind, als gar keine, und der durch tauſend und abertauſend Thatſachen unterſtützten, welche die Darwinſche The— orie an die Hand giebt, ſollte wohl von irgend einem Schwanken bei denkenden Be— urteilern nicht die Rede ſein können. Man kann den Dualiſten begreifen und achten, der in jeder neuen Dehnung und Streckung jedes einzelnen Embryo die unmittelbare Hand Gottes ſieht, wenn man auch Bayle Recht geben wird, daß die Berufung auf Gott kein Philoſophiren iſt, aber einen ſolchen Aberwitz wie die „mechaniſche Er— klärung“ von His kann man wirklich nur mit Humor genießen. Alle ſolche „mechaniſchen“ Theorien müſſen dem geſunden Menſchenverſtande unannehmbar bleiben, weil ſie einerſeits keine wirklich kauſale Erklärung anbah— nen, warum der Embryo ſo viele Umwege einſchlagen muß, um zu einem auf gerade— rem Wege zu erreichenden Ziele zu gelan— gen — wie wir dies bei der abgekürzten Entwicklung manchmal ausgeführt ſehen — und uns vor allem die Erklärung ſchuldig bleiben, warum der Embryo höherer Tiere die Organiſationsſtufen niederer Abteilun— gen durchläuft und deshalb unter Umſtän— den auf früheren Stufen ſtehen bleiben kann, bei dem ſogenannten Rückſchlag auf die Ahnenform. Suchen wir uns einmal klar zu machen, was hierbei eigent— lich ſtattfindet, jo werden wir alsbald fin— den, daß auch dieſe Erſcheinung ſchon für ſich gebieteriſch die Annahme des biogene— tiſchen Grundgeſetzes fordert. Bekanntlich tritt ein ſolcher Rückſchlag am häufigſten nach einer Baſtarderzeugung, der — — Vermiſchung zweier zwar verwandter, aber doch hinlänglich verſchiedener For— erfahrungsgemäß nur möglich bei ſolchen einander naheſtehenden Weſen, die eine nahezu gleiche Entwicklungsweiſe bewahrt haben, weil ſie in nicht zu ferner Vorzeit aus einer gemeinfamen Stamm— form hervorgegangen ſind. Entfern— ter ſtehende Formen, deren Entwicklungs— weiſe ſchon lange eine ſehr verſchiedene ge— worden iſt, deren Wege ſich alſo auch in der individuellen Entwicklung früh trennen, kön— nen ſich zu keiner gemeinſamen Entwicklung verbinden, ihre Geſchlechtsprodukte üben vielmehr gar keine befruchtende Wirkung mehr auf einander, weil die ſpätere Di— vergenz der Entwicklung einen rückwirken— den und modifizirenden Einfluß ſchon auf die erſten Entwicklungsſtufen ausgeübt hat. „Die Entwicklungsgeſchichte iſt,“ wie Baer ſagt, „die Geſchichte der ſich entwickelnden Individualität in jeglicher Beziehung.“ Schon Ei und Samenzelle bergen ja alle ihre ſpäteſten Erwerbungen und ſind, ob— wohl morphologiſch vielleicht nicht zu un— terſcheiden, doch in ihrem Weſen durchaus individuell. Die Gaſtrula des einen Tie— res, ſo ähnlich ſie derjenigen eines andern ſein mag, iſt von Anfang an z. B. eine Pflanzentier- oder Wurmgaſtrula und die der beſondern Art. Aber wie nun in je— dem Keime ſich die Eigentümlichkeiten von Männchen und Weibchen vermiſchen, ſo können ſolche Formen, deren Vorgeſchichte es ihnen möglich macht, in ihrer Entwick— lung eine weite Strecke, beinahe bis zu Ende denſelben Weg zu gehen, mit einan— der gekreuzt werden, während zwei andere, wenn auch ganz nahe verwandte Arten, 8 men ein. Die Baſtarderzeugung tft Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. 439 von denen die eine in ihrer Keimesgeſchichte eine cenogenetiſche Einwirkung erfahren hat, keinenfalls Baſtarde liefern werden. Denken wir uns nun, daß bei der Ent— ſtehung eines Baſtardembryos die Ent— wicklung bei dem Punkte angekommen ſei, wo eigentlich die Wege des väterlichen und mütterlichen Anteils ſich trennen müß— ten. Was wird nun geſchehen? Von der einen Seite iſt dieſe, von der andern jene Direktion eingeboren. Es wird alſo in der Regel eine diagonale Richtung befolgt werden müſſen, deren Lage wahrſcheinlich von der relativen Lebenskräftigkeit der beiden Komponenten beſtimmt wird und zugleich davon, ob mehr oder weniger Samenfäden in die weibliche Zelle einge— treten ſind. Je ſtärker die Zugkraft und je länger alſo die väterliche Seite des Kräfteparallelogramms iſt, deſto weniger weit wird die Diagonale von ihr divergi— ren und umgekehrt. Wir können uns bild— lich die nach Vollendung des letzten gemein— ſamen Schrittes drohende Verwirrung aus— malen, durch die in einen gewiſſen Wider— ſtreit tretenden ferneren Entwicklungsten— denzen, die erſt jetzt in ihrer ganzen Schärfe auftreten. Oftmals werden ſich dieſelben ausgleichen, aber in anderen Fällen wird der Embryo noch einige unſichere Schritte nach der einen oder andern Richtung thun, aber im allgemeinen bei der Ahnen— form ſtehen bleiben, die beiden elterlichen Arten geme inſam war, es wird ein partieller oder vollſtändiger Rückſchlag eintreten. Das iſt wohl die einfachſte Erklärung der Rückſchlagstendenz der Baſtarde.“) ) Vergl. dagegen Fritz Müller, Kos— mos, Bd. II, S. 56, der eine auf den erſten Anblick ähnliche, aber doch weſentliche verſchie— 2 440 Wenn wir uns der erwähnten rück— wirkenden Kraft der individuellen Weiter— entwicklung auf die Geſchlechtsprodukte erinnern, ſo werden wir leicht verſtehen, weshalb dieſelben ſo gewöhnlich bei Ba— ſtarden ihre Entwicklungsfähigkeit völlig einbüßen. Sie beſitzen nicht mehr die durch unzählige Wiederholungen eingeprägte, einheitliche Entwicklungsenergie der Eltern, ihr „Gedächtnis“ iſt getrübt, es fehlt die Übung, den neuen Weg nochmals zu fin— den. Das ſind natürlich nur Worte und Umſchreibungen, aber ſie eröffnen uns ei— nen Begriff ſowohl von der Urſache der Rückſchlagsneigung als von derjenigen der herrſchenden Unfruchtbarkeit der Baſtarde. Sie machen uns auch begreiflich, warum Baſtarde, wenn ſie unter glücklichen Um— ſtänden einmal fruchtbar geworden ſind, es in ihrer Deszendenz bleiben können, ſofern ſich der „diagonale Entwicklungs— weg“ mit jeder Wiederholung mehr be— dene Anſicht: Ausgleichung der Divergenzen zweier Arten zur Urſprungsrichtung, aufſtellt. Dieſe An- ſicht würde eine Spaltung der Ahnenform in zwei einander ergänzende Hälften vorausſetzen, feſtigen kann. Wie man aber dieſe und andere Erſcheinungen der Entwicklungs— geſchichte anders als durch das biogenetiſche Grundgeſetzerklären wollte, iſt unerfindlich. Wir glauben, daß noch mancherlei auf dem Gebiete der tieriſchen Entwicklungs— geſchichte entdeckt werden wird und daß noch manche auch der beſten heutigen Theo— rien Modifikationen erfahren werden. Aber die allgemeine Grundlage dürfte geſichert ſein und wir haben in ihr, was das wich— tigſte iſt, eine Theorie, die ſich begreifen läßt. Wir brauchen nicht mehr an die tiefe Gelehrſamkeit, die Morin im Keime woh— nend dachte, zu glauben, und uns in der Verzweiflung, ſie zu begreifen, dem ab— gründigſten Aberglauben zuzuflüchten; und daß wir ſo glücklich ſind, eine von den unterſten bis zu den oberſten Stufen ab— gerundete Entwicklungsgeſchichte zu be— ſitzen, verdanken wir weſentlich dem Fleiße und Scharfblick deutſcher Forſcher. während es ſich doch bei neuen Arten um Neu— erwerbungen handelt, die beim Rückſchlag nicht ausgeglichen, ſondern eliminirt, aus— geſchieden werden. Ernſt Krauſe, Entwicklungsgeſchichte der Entwicklungsgeſchichte. Die Variabilität der Alpenblumen. Von Dr. Hermann Müller. em unverſöhnlichſten Gegenſatz „„nicht nur gegen Ch. Darwins „Selektionstheorie, ſondern ge— Fr O gen die Deszendenztheorie über— e haupt ſteht der für die Linné— “ſche Schule charakteriſtiſche Glaube an die Konſtanz der Arten. Die übrigen Vorausſetzungen, aus denen die Selektionstheorie als unabweisbare Kon— ſequenz ſich ergiebt: die Vermehrung der organiſchen Weſen in geometriſcher Pro— greſſion, das dadurch unvermeidliche Zu— grundegehen zahlloſer Individuen jeder Art im unentwickelten Zuſtand, die Erb— lichkeit individueller Eigentümlichkeiten — wird auch jeder Anhänger der alten Schule ohne beſondere Schwierigkeit als unbe— ſtreitbare Thatſache anerkennen. Daß aber Tier⸗ oder Pflanzenarten von den in latei— niſchem Lapidarſtil ihnen aufgeprägten Diagnoſen in dem Grade ſollten abweichen können, um aus individuellen Abänderun— gen im Laufe der Zeiten verſchiedene Raſ— ſen, Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w. werden zu laſſen, iſt mit dem Glauben an die innerhalb gewiſſer Grenzen abſolute Konſtanz der Arten unvereinbar. Daß es ſich aber hier in der That nur um einen von früher Jugend an eingeſogenen Glau— ben, nicht um eine auf Thatſachen gegrün— dete Überzeugung handelt, dürfte wohl ohne weiteres jedem klar werden, der mit offenem Auge auch für die individuellen Abänderungen — jahrelang irgendwelches Gebiet organiſcher Formen durchmuſtert. Ich habe bei meinen Unterſuchungen von Alpenblumen auch die mir ungeſucht begegnenden Beiſpiele von Variabilität derſelben aufgezeichnet und dieſelben in meinem jetzt unter der Preſſe befindlichen Werke über Alpenblumen!) geordnet zu— ſammengeſtellt. Die Anſicht, daß es für jeden Anhänger der Entwicklungslehre von einigem Intereſſe ſein müßte, zu ſehen, wie die ſeiner Auffaſſung der organiſchen Welt zugrunde liegende Vorausſetzung hinlänglicher Variabilität ſich in irgend— einem ſpeziellen Gebiete thatſächlich be— gründet zeigt, veranlaßt mich, die wichtig— *) Alpenblumen, ihre Befruchtung durch Inſekten und ihre Anpaſſungen an dieſelben. Leipzig, Wilh. Engelmann. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 56 442 ſten von mir zuſammengeſtellten That— ſachen hier mitzuteilen. A. Abänderung der Blumenfarben. Aus Schübelers Verſuchen!) wiſſen wir, daß mit der Dauer intenſiver Licht— einwirkung die Intenſität der Blumenfar— ben, ſo wie der Pflanzenfarben überhaupt, ſich ſteigert. Die Alpen haben nun zwar vor dem umgebenden Tieflande keine län— gere Belichtungszeit, wohl aber eine leich— ter durchſtrahlbare Atmoſphäre voraus; auch das kann, wenn Schübelers Schluß— folgerungen begründet ſind, auf die Farben der Alpenblumen nicht ohne Einfluß ſein, und wir werden kaum zweifeln können, daß die durchſchnittlich etwas intenſivere und glänzendere Farbe der Alpenblumen eine direkte Folge der intenſiveren Belichtung iſt. Eine ſolche direkte phyſikaliſche Wir— kung kann uns nun zwar gewiſſe klima— tiſche Abänderungen (3. B. die roſenröt— liche Blumenfarbe der alpinen Pimpinel- la magna), aber niemals die Anpaſſungen der Farben und Formen der Blumen an ihre Kreuzungsvermittler, niemals über— haupt die Anpaſſungen gewiſſer Lebeweſen an ihnen fördernd oder feindlich entgegen— tretende andere, verſtändlich machen. Den notwendigen Ausgangspunkt ſolcher An— paſſungen bilden vielmehr vererbungsfä— hige individuelle Abänderungen, die nur indirekt durch äußere Einflüſſe bedingt ſein können. Um bei den Farben der Alpenblumen ſtehen zu bleiben, ſo müſſen, wenn dieſel— | ben durch Naturausleſe erklärbar fein ſol— len, 1) verſchiedene Pflanzenindividuen der— ſelben Art, was die Hervorbringung von Blumenfarben betrifft, auf dieſelben phy— | ſikaliſchen Einwirkungen verſchieden, wenn | Kosmos, Jahrg. IV, Heft 2, S. 141 fl. Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. auch nur ungleich empfindlich, reagiren, ſo daß unter ganz gleichen äußeren Umſtän— den individuelle Farbenvarietäten auftre— ten; 2) müſſen dieſe erblich ſein, ſo daß ſie durch fortgeſetzte Ausleſe fixirt und zu reinen Raſſen ausgeprägt werden können. Daß beides bei unſeren Kulturblumen that— ſächlich der Fall iſt, haben die Blumen— farbenzüchtungen unſerer Gärtner durch direkten Verſuch tauſendfältig bewieſen. Daß beides aber in gleicher Weiſe auch für die Blumen im Naturzuſtande gilt, geht indirekt aus den thatſächlich vorliegenden Erſcheinungen kaum weniger unzweideu— tig hervor, wofür nachfolgende Beiſpiele als Belege dienen mögen. Pimpinella magna kommt auf den Alpen allerdings in der Regel in der roſen— farbigen, von Hoppe P. rubra getauften Abart vor; in gleicher Meereshöhe finden ſich aber, wenn auch weit ſeltner, auch weißblumige Exemplare. Myotis, Polygala, Campanula, Echi- um treten auf den Alpen durchſchnittlich dunkler und glänzender blau auf, als in der Ebene; doch ſind auch blaſſere Abän— derungen nicht ſelten. Primula farinosa erreicht auf den Alpen zwar in einem gro— ßen Teile ihrer Exemplare ein intenſive— res Rot als es bei den pommerſchen Exem— plaren jemals vorkommt, ein noch größerer Teil bietet aber alle Farbenabſtufungen bis zu Blaßlila dar. Achillea Millefolium kommt auf den Alpen (wie übrigens auch im Tieflande) an denſelben Standorten mit weißen und mit ſchwächer oder ſtärker ro— ſenroten Blumenformen vor (ebenſo in der Ebene Anemone nemorosa, ſelbſt bis zu ziemlich kräftigem Karminrot). Von Lo- tus corniculatus finden ſich neben rein gelbblumigen Exemplaren andere, deren Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. Blumen ſich zu Ende der Blütezeit orangerot färben und ſo (wie andere Blumen, z. B. Ribes aureum in allen Exemplaren) noch zuletzt die Augenfälligkeit der Blumenge— ſellſchaft ſteigern und zugleich ihren intelli— genten Kreuzungsvermittlern nutzloſe Ver— ſuche an bereits ausgebeuteten und befruch— teten Blumen erſparen. Während in allen dieſen Beiſpielen, deren Zahl ſich leicht vervielfältigen ließe, die Empfindlichkeit der verſchiedenen In— dividuen derſelben Art gegen dieſelbe äu— ßere Einwirkung die mannigfachſten Ab— ſtufungen darbietet, kommen, wie bei den Gartenblumen ſo auch bei den wildwach— ſenden, andere Fälle vor, in denen einzelne Individuen urplötzlich und aus völlig un— bekannten Urſachen von allen übrigen weit abweichen; z. B.: Von Pinguicula alpina fand ich mit- ten unter vielen Tauſenden von weißen Blumen mit zwei gelbgefärbten Ausbuch— tungen“) ein paar einzelne dicht neben ein— ander ſtehendeStöcke, wahrſcheinlich Schöß— linge desſelben Individuums, an deren Blumen die drei Lappen der Unterlippe ganz gelb gefärbt waren, und die beiden Ausſackungen im Blüteneingange ſich nur durch noch etwas dunkleres und intenſive— res Gelb auszeichneten. Von Polygala Chamaebuxus fand ich unter Tauſenden von Exemplaren mit Blumen der gewöhn— lichen Färbung eine kleine Gruppe wahr— ſcheinlich ebenfalls demſelben Stocke ent— ſproſſener Exemplare, bei denen die als Fahne dienenden ſeitlichen Kelchblätter, anſtatt gelblichweiß, ſchön purpurn gefärbt waren. Mitten unter vielen Tauſenden von Blumen der Saxifraga aizoides mit goldgelber Grundfarbe und orangefarbe— *) Kosmos, Bd. III, S. 334. 443 nen Tüpfelflecken der Blumenblätter fand ich am Bernina eine kleine Gruppe, deren Blumenblätter bis auf einen ſchmalen orangegelben Saum brennend orangerot ohne Tüpfelflecken, und deren Nektarien dunkel karmin- bis zinnoberrot waren. Die Erblichkeit dieſer in freier Na— tur vorkommenden individuellen Abände— rungen der Blumenfarben ergiebt ſich in— direkt aus folgender Erwägung: Daß und wie von verſchiedenen Kreu— zungsvermittlern verſchiedene Blumenfar— ben bevorzugt werden, iſt in meinem letz— ten Aufſatze („Über die Entwicklung der Blumenfarben“) gezeigt worden. Wenn nun die nachgewieſenen individuellen Ab— änderungen der Blumenfarben erblich ſind, ſo muß in denjenigen Fällen, wo eine Blume nur von einem ganz beſtimmten Beſucherkreiſe gekreuzt und immer nur eine beſtimmte ihrer Farbenabänderungen be— vorzugt wird, dieſe mit mindeſtens derſelben (wegen der vielmal längeren zur Verfü— gung ſtehenden Zeit ſogar mit noch grö— ßerer) Sicherheit ausgeprägt werden, mit der der Gärtner durch bewußte Auswahl beſtimmte Blumenfarben erzielt. Wo da— gegen ein gemiſchter Beſucherkreis mit ver— ſchiedener Farbenauswahl ſich gleichzeitig an der Kreuzungsvermittlung einer Blume beteiligt, muß dieſelbe, wenn verſchiedene erbliche individuelle Abänderungen auftre— ten, die der Farbenliebhaberei verſchiedener Kreuzungsvermittler entſprechen, dauernd in einem unentſchiedenen Schwanken zwi— ſchen verſchiedenen Blumenfarben verhar— ren. Der thatſächliche Befund der Blumen— farben entſpricht, wie gleich gezeigt wer— den ſoll, dieſer aus der Vorausſetzung der Erblichkeit der individuellen Farbenabän— 9 Kosmos, Bd. VII, S. 350. 8 444 derungen gezogenen Konſequenz und läßt alſo auf die Richtigkeit dieſer Voraus— ſetzung zurückſchließen. In der That ſehen wir diejenigen Blu— men, an deren Kreuzung ſich eine gemiſchte Geſellſchaft mit verſchiedener Farbenaus— wahl beteiligt, nicht ſelten zwiſchen ver— ſchiedenen von ihren Kreuzungsvermittlern bevorzugten Farben völlig unentſchieden ſchwanken: Von den Alpenblumen, die of— fenen, unmittelbar ſichtbaren Honig dar— bieten und kurzrüſſelige Inſekten mannig— facher Art anlocken, blüht z. B. Saxifraga aizoon bald rein weiß, bald weiß mit ſchwärzlich purpurnen Sprenkelflecken; 8. exarata bald weiß, bald gelblich; 8. muscoides bald grünlich weiß, bald gelb— lich weiß, nach Koch auch rein gelb (v. ero- cea) oder ſchwärzlich-purpurn (V. atropur- purea). Die Pollenblume Anemone al- pina blüht an denſelben Standorten gelb und daneben weiß. Bei manchen Falterblumen ſchwankt die Farbe ebenſo wie die Tageszeit, in der ihre Kreuzungsvermittler fliegen. So ſchwanken z. B. Gymnadenia conopsea und Daphne striata, die ſowohl von Tag— wie von Nachtfaltern beſucht und gekreuzt werden, zwiſchen roſenroter und ſchneewei— ßer Blumenfarbe, während die mehr auf Nachtfalter angewieſeneGymnadenia odo- ratissima mehr den blaſſen Farbenabſtu— fungen zuneigt. Crocus, dem da, wo ich ihn in Maſſe zu beobachten Gelegenheit hatte?), vorzugsweiſe Abend- und Nacht- falter als Kreuzungsvermittler zu teil wer— den, ſchwankt daſelbſt zwiſchen dem bei klarem Himmel unmittelbar nach Sonnen— untergang am vorteilhafteſten wirkenden | Violett und dem in tieferer Dämmerung | 9 Kosmos, Bd. VI, ©. 448 ff. 8 N Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. wirkſamſten Weiß, während derſelbe Cro- cus an einem ſüdlicheren Standorte (Val Camonica), wo ihn Nieca beobachtete und häufig von Tagfaltern beſucht fand, nur Schwankungen zwiſchen Weiß und Roſenrot darbot. Bei denjenigen Blumen dagegen, de— nen ausſchließlich von einem ſo beſtimmt ihnen angepaßten Beſucherkreiſe, wie z. B. Hummeln oder Tagfaltern, die Wohlthat der Kreuzung zu teil wird, pflegt in der Regel auch eine ganz beſtimmte Farbe zur Ausprägung zu gelangen und faſt aus— ſchließlich aufzutreten, wie das an den Hummelblumen und Tagfalterblumen be— reits in meinem früheren Aufſatze hinläng— lich gezeigt worden iſt. Dieſe letzte Regel hat jedoch einige ſehr bemerkenswerte Ausnahmen, die uns auf den Atavismus als eine beſondere Urſache gewiſſer Abänderungen, auch von Blumenfarben, hinweiſt. Zahlreiche Blu— men nämlich, die von urſprünglich gelber, roter oder weißer Farbe durch die un— bewußte Züchtung einſichtigerer Kreu— zungvermittler zu Rot, Violett oder Blau fortgeſchritten ſind, fallen bisweilen in eine urſprünglichere Farbe wieder zurück. Ich erinnere nur an Ajuga genevensis, Poly- gala- und Myosotis-Arten, die aus der blauen bisweilen in die violette, roſenrote oder weiße, an Salvia pratensis, die bis- weilen im Freien, und Hepatica, die ſehr leicht in der Kultur in die roſenrote Farbe zurückfallen, ſowie an die bereits in mei— nem vorigen Aufſatze erwähnte gelbe Ab— änderung von Viola calcarata. B. Schwankungen der Blumengröße und mit denſelben zuſammenhängende Ab— änderungen. Wie die Abänderungen der Blumen— — farbe, ſo müſſen ſich alle Blumenabände— rungen überhaupt auf a. unmittelbare phyſikaliſche Wir— kungen, b. vererbungsfähige individuelle Ab— änderungen, c. durch Ausleſe mehr oder weniger befeſtigte Abänderungen, d. Rückfälle in urelterliche Merkmale zu: rückführen laſſen; oder mit anderen Worten: Als Urſachen der Abänderungen kon— kurriren: a. äußere phyſikaliſche Einflüſſe, viduellen Anlage, C. die die letzteren erhaltende und an— häufende Wirkung einer beſtimmt gerich— teten Ausleſe zur Fortpflanzung, d. die Rückerinnerung des ſich geſtal— tenden Organismus an die in früheren Generationen geübten Thätigkeiten.“) Welcher der vier Fälle oder welche Kom— bination derſelben aber bei irgend einer gegebenen Blumenabänderung vorliegt, iſt in der Regel ſchwieriger zu unterſcheiden. Schwankungen der Blumengröße ſind auch bei den Alpenblumen etwas ſo gewöhn— liches, daß faſt jede meiner Einzelbeſchrei— bungen ſolche nachweiſt. In wiefern dieſe Schwankungen nun, wenn ſie als erbliche individuelle Abänderungen auftreten, durch Steigerung oder Verringerung der Augen— fälligkeit die Reichlichkeit des Inſektenbe— ſuchs und dadurch mittelbar auch die Na— turzüchtung der Blumen in ausgedehnter Weiſe beeinfluſſen können, habe ich bereits *) Samuel Butler, Kosmos, Bd. V, S. 22—38; Ewald Hering, Über das Ge— dächtnis als eine allgemeine Funktion der or— ganiſchen Materie. Zweite Auflage. Wien, Ge— rolds Sohn. 1876. b. innere Eigentümlichkeiten der indi⸗ Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 445 in einem früheren Auffage*) dargethan, der auch für manche neuen Fälle von Blumenpolymorphismus, die mir auf den Alpen begegnet ſind, eine Erklärung enthält. Auch darauf, daß mit der Verkleine— rung der Blumen nicht ſelten eine Ver— minderung der Zahl der Blütenteile ver— bunden erſcheint, wurde bereits in jenem Aufſatze hingewieſen. Die Betrachtung der Alpenblumen hat aber gerade hierfür ſo zahlreiche neue Belege geliefert, daß es ſich wohl der Mühe verlohnt, die wichtig— ſten derſelben hier zuſammenzuſtellen, um ſo mehr, als andere Beiſpiele ſich ihnen zugeſellen, die auch nach der entgegen— geſetzten Seite hin eine gewiſſe Abhängigkeit der Zahl der Blütenteile von der Blumen— größe beweiſen. In vielen Fällen ſinkt und ſteigt mit der Blumen— größe auch die Zahl der Blüten— teile. Belege: Unter den urſprünglich 5zähligen Roſa— zeen ſind diekleinblumigſten (Alchemilla**) 4Jzählig, ausnahmsweiſe ſogar 3zählig ge— worden, ihre Blumenblätter ſind ver— ſchwunden, die Zahl ihrer Stempel iſt auf 1 reduzirt, nur ſelten findet noch einmal ein Rückſchlag der Kelchblätter und Staub— gefäße in die Fünfzahl ſtatt. Dagegen bringen die großblumigenPotentilla-Arten, anſtatt 5, bisweilen 6 oder 7, die Geum— Arten 6—8, Dryas 7—9 Kelch- und Blumenblätter hervor und die Zahl der Staubgefäße ſteigert ſich in noch ungleich ſtärkerem Verhältnis. 1 Bon den Gentiana-Arten zeigen die ) Das Variiren gefärbter Blütenhüllen ꝛc. Kosmos, Bd. II, S. 11, 128. au) Die mit * bezeichneten Arten find in meinem Werke über Alpenblumen durch Abbil— dungen erläutert. Pe 446 Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. kleinblumigen (campestris“, tenella* und | finden ſich bisweilen 6zählige, niemals 4“ nana“) große Hinneigung zur Vierzählig— keit, während die großblumige punctata* 6=, 7 und 8zählige Blüten hervorbringt. (Bei den höher entwickelten Coelanthe- und bei den Cyclostigma-Arten! ſcheint dagegen mit dem beſtimmteren Bau auch die Fünfzahl ſich weiter befeſtigt zu haben.) Beſonders auffällig hat ſich bei den Kraſſulazeen mit der Größe der Blumen die Zahl der Blütenteile geſteigert und vermindert. Sempervivum arachnoideum hat 9—11, montanum 9—12, Funkii* 10—13, tectorum 11—13, die noch großblumigere Wulfeni 13—16zählige Blüten, wogegen bei unſeren kleinblumig— ſten Kraſſulazeen nur 4= und zzählige Blüten vorkommen. Bei der kleinblumigen Rhamnus pu- mila“ ſind ähnlich wie bei Alchemilla die Blüten 4zählig geworden und die Blumen— blätter oft bis auf 0 reduzirt; doch kommt auch ein Rückfall in 5zählige Blüten mit der vollen Zahl der Blumenblätter nicht eben ſelten vor. Die kleinen und bereits Jzähligen Blüten von Thesium alpinumè und Aspe- rula taurina® ſinken (wie Alchemilla) nicht ſelten ſogar zur Dreizähligkeit hin— ab; die kleinblumigen Exemplare von Par- nassia palustris“ haben nur 3 Frucht— blätter ſtatt 4 und auf jedem Stamino— dium nur 7 geſtielte Knöpfchen (Schein— nektarien) ſtatt 9 oder 11. Sechszählige Blüten mit 3 Stempeln habe ich unter allen Saxifraga-Arten nur bei der großblumigſten (aizoides) gefunden. Primula farinosa“ neigt in der nord— deutſchen Tiefebene zu einer Verbreite— rung, auf den Alpen zu einer Verſchmä— lerung det Saumlappen der Korolle; dort zählige, hier bisweilen 4zählige, niemals 6zählige Blüten. Wenn alle dieſe Fälle kaum einen Zweifel geſtatten, daß in der That zwi— ſchen Blumengröße und Zahl der Blüten— teile ein urſächlicher Zuſammenhang be— ſteht, fo giebt es dagegen zahlreiche andere Beiſpiele, in denen uns eine Abänderung der Zahl aller oder gewiſſer Blütenteile als eine von der Blumengröße ganz unabhän— gige individuelle Eigentümlichkeit entgegen— tritt. So fand ich z. B., ohne erkennbaren Zuſammenhang mit der Blumengröße, einzelne 4zählige Blüten bei Crocus ver- nus“, 6zählige und Zwiſchenſtufen zwi— ſchen 6- und 5zähligen bei Sedum atra- tum, 4⸗, 5 und 6zählige und Zwiſchen— ſtufen bei Saxifraga oppositifolia“, 6- zählige bei Soldanella pusilla® und Aza- lea procumbens*, Verdopplung eines ein— zelnen Blumenblattes und des vor ihm ſtehenden Staubgefäßes bei Saxifraga oppositifolia* und muscoides*, höchſt ſchwankende Zahl und Anordnung der Kelch- und Blumenblätter bei Trollius*, 3—6 Kelchblätter, 1—3 Blumenblätter bei Ranunculus parnassifolius“, 1—5 Blumenblätter bei Ranunculus pyre- naeus, ein gablig geteiltes und an jedem Gabelaſt eine entwickelte Anthere tragen— des Filament bei Arenaria biflora“ u. ſ. w. Als Atavismus endlich dürfte es, au— ßer den bereits genannten Fällen, aufzu— faffen fein, wenn Veronica aphylla“ bis- weilen einmal mit 5 Blumenblättern, Sanguisorba, anſtatt mit 4, mit 5 Kelch— blättern und Staubgefäßen auftritt; wenn bei Cotoneaster vulgaris“ und Aconitum Napellus* die Griffelzahl, ſtatt 3, noch ſehr oft 4 oder 5 beträgt, oder bei Stel- \ 5 In * 77 e a Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. laria cerastiodes“, ſtatt 3, ſehr gewöhn— lich 4, bisweilen 5; bei Arenaria biflora“, ſtatt 3, nur ſelten 4 oder 5; bei Rubus saxatilis*, ſtatt 3, bisweilen 4; bei Di- anthus superbus“, ſtatt 2, bisweilen 3 oder 4; oder wenn bei Valeriana tripte- ris“, ſtatt 3, hie und da einmal 4 Staub» gefäße vorkommen.“ C. Variabilität der Stellung und Ge— ſtalt der ganzen Blumen und ihrer Teile. Wie zwiſchen Blumengröße, ſo findet auch zwiſchen Stellung und Geſtalt der Blumen ein unverkennbarer Zuſammen— hang ſtatt. In zahlloſen Fällen iſt von nächſtverwandten Blumenformen die eine gerade nach oben oder unten gerichtet und nach allen Seiten gleich geſtaltet, die an— dere nach der Seite gerichtet und nach rechts und links gleich, nach unten und oben aber verſchieden geſtaltet. Und zwar läßt ſich dieſer Unterſchied von den Blüten desſelben Individuums bis zu umfaſſen— den ſyſtematiſchen Abteilungen verfolgen. Einige wenige Beiſpiele werden genügen, dies darzuthun. An demſelben Stocke ſind bei Saxi- fraga stellaris“ die gerade nach oben ges richteten Blüten regelmäßig, die ſeitlich gerichteten zum Teil bilateral ſymmetriſch geſtaltet und mit gelben Flecken gezeichnet. Innerhalb derſelben Art finden ſich bei Soldanella pusilla Stöcke mit ſenkrecht herabhangenden, ringsum gleichgeſtalteten Blumenglocken (forma pendula“ m.), an⸗ dere mit ſchräg abwärts geneigten, unten etwas weiter ausgebreiteten Blumenglocken (forma inclinata“ m.). In derſelben Gat— tung Pyrola haben die Arten uniflora* und minor gerade nach unten gekehrte, regelmäßige Blumen mit zentralem und in 447 der Richtung der Axe verlaufendem Griffel, wogegen in den nach der Seite gerichteten Blumen von P. rotundifolia“ der Griffel ſich nach unten gebogen vorſtreckt, die Staubgefäße ſich aufwärts biegen und von den Blumenblättern die drei unteren an Größe die beiden oberen übertreffen. Innerhalb derſelben Familie ſehen wir die Gattung Geranium* regelmäßige, nach oben gerichtete Blüten hervorbringen, wo— gegen in den ſeitlich gerichteten Blüten von Erodium die unteren Blumenblätter ſich verlängern und die oberen ein beſon— deres Saftmal erlangen. Innerhalb der— ſelben Ordnung (der Leguminoſen) bieten uns die Papilionazeen und Mimoſazeen entſprechende Beiſpiele dar. Jeder Pflan— zenkenner wird die Zahl dieſer Beiſpiele ohne weiteres aus eigener Erinnerung vervielfältigen können. Dagegen iſt kein einziges Beiſpiel bekannt, in dem von zwei nächſtverwandten Blumenformen die eine ſenkrecht nach unten oder oben gerichtet und bilateral ſymmetriſch, die andere ſeit— lich gerichtet und regelmäßig geſtaltet wäre. Ein urſächlicher Zuſammenhang zwiſchen Stellung und Geſtalt der Blumen findet alſo unzweifelhaft ſtatt. Es fragt ſich nur, in welchem Grade auch hier einer— ſeits unmittelbar phyſikaliſche Wirkung, andererſeits vererbungsfähige individuelle Eigentümlichkeiten, infolge deren auf die— ſelbe äußere Einwirkung das eine Indi— viduum erheblich, ein anderes weniger, ein drittes gar nicht reagirt, eine Rolle ſpielen. Schon bei den Blüten desſelben Stockes tritt eine ſolche individuelle Verſchiedenheit auffallend zutage. Bei Saxifraga stella- ris z. B. beſitzen keineswegs alle, ſondern nur ein mehr oder weniger großer Teil der ſeitlich gerichteten Blüten, und dieſe 448 Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. in verſchiedenem Grade, die bilateral ſym— metriſche Form und Zeichnung. Daß bei Berberis-, Campanula-, Gentiana-Arten und in zahlloſen anderen Fällen die Blu— men häufig nichts weniger als ſenkrecht | gerichtet und trotzdem regelmäßig geſtaltet ſind, iſt allbekannt. Seitliche Stellung kann alſo, muß aber nicht unbedingt eine nach oben und unten verſchiedene Ausbil- dung der Form zur Folge haben. Bei vielen Arten wirkt eine Abweichung der Blumen von der ſenkrechten Stellung gar nicht formverändernd ein; bei den Arten, wo ſie formändernd einwirkt, thut ſie es nicht unmittelbar an allen Pflanzenſtöcken, bei den reagirenden Pflanzenſtöcken nicht an allen Blumen, bei den reagirenden Blu— men endlich in ſehr ungleichem Grade. Haben dann die ſymmetriſch geſtalte— ten Blumen vor den regelmäßigen keinen beſonderen Vorteil voraus, und bei völlig offener Lage des Honigs läßt ſich ein ſol— cher in der That kaum erkennen, ſo kann eine Naturausleſe der erſteren ſelbſtver— ſtändlich nicht ſtattfinden, und es bleibt bei dem individuellen Schwanken, wie es uns Saxifraga stellaris darbietet. Gewährt dagegen die ſymmetriſche Geſtaltung den Blumen einen entſcheidenden Vorteil, z. B. eine Bevorzugung ſeitens der Kreuzungs— vermittler, ſo muß ſie, wenn geeignete individuelle Abänderungen auftreten, durch Naturausleſe zur feſten und alleinigen Aus— prägung gelangen. | Käme es vor, daß durch unmittelbare pyyſikaliſche Wirkung der Stellung alle ſeitlich geſtellte Blüten einer Pflanze um— geſtaltet würden, ſo müßten wir auch ſol— che Pflanzen mit lauter bilateral ſymme— triſchen Blüten finden, bei denen die ver— ſchieden geſtalteten unteren und oberen Blütenteile keinen verſchiedenen Lebens— dienſt leiſteten, und irgend ein Vorteil der ſymmetriſchen Geſtaltung für das Leben der Pflanze überhaupt nicht aufzufinden wäre. Thatſächlich aber läßt ſich in allen mir näher bekannten Fällen, wo urſprüng— lich ſenkrecht geſtellte regelmäßige Blumen zugleich mit ſeitlicher Stellung Symmetrie der Geſtalt als befeſtigte Eigentümlichkeit erlangt haben, ein entſcheidender Vorteil erkennen, den die ſymmetriſchen Blüten vor den regelmäßigen voraushatten. In der Regel beſteht derſelbe darin, daß die ver— längerten unteren Blumenblätter den Kreu— zungsvermittlern eine bequemere Stand— fläche zum Gewinnen des meiſt völlig ge— borgenen Honigs darbieten (wie z. B. bei Erodium), was dieſe natürlich zu einer Be— vorzugung der ſymmetriſchen vor den re— gelmäßigen Blüten veranlaſſen mußte; oft außerdem oder allein in einer Begünſti— gung oder Sicherung regelmäßiger Kreu— zung durch die Beſucher (Verbascum, Ve— ronica, Lopezia ete.), was ebenfalls ſchließ— liches alleiniges Überleben der ſymmetri— ſchen Blüte zur Folge haben mußte. Senkrechte regelmäßige Blüten pflegen zwar in der Regel auch nach allen Seiten gleichmäßig abzuändern, wie z. B. bei Soldanella pusilla“ der aus dem ſoge— nannten Schlundſchuppen gebildete, als Saftdecke dienende Schirm, der bald mehr, bald weniger ausgebildet auftritt; aber ausnahmslos iſt dies doch keineswegs der Fall. Auch völlig unabhängig von der Stellung kommen Unregelmäßigkeiten der Geſtaltung der Blumen vor. Der ſchiefe Narbenknopf der langgriffeligen Blüten von Primula integrifolia“, das verdop— pelte Blumenblatt nebſt davor ſtehendem Staubgefäß in Blüten von Saxifraga mus- N | | . — | | | I 9 Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. coides* und oppositifolia“, das gabeltei— lige Staubgefäß in einer Blüte von Are- naria biflora®, die höchſt unregelmäßige Entwicklung der Blumenblätter und Nek— tarien bei Ranunculus parnassifolius“ und pyrenaeus“ ſind dafür ganz unzwei— deutige Belege. Auch derartige individu— elle Abänderungen können, wenn ſie dem Inhaber einen entſcheidenden Vorteil ge— währen, durch Naturausleſe zu dauernden Eigentümlichkeiten ausgeprägt werden, wie die nach der Seite gebogenen Griffel der gerade nach unten gerichteten Blumen von Lilium Martagon (und Methonica glo— riosa) beweiſen. Aus dem allem ſcheint klar hervor— zugehen, daß zwar die Stellung der Blu— men auf ihre Geſtaltung unzweifelhaft einwirkt, daß namentlich zum Übergang urſprünglich regelmäßiger Blumenformen in ſymmetriſche in der Regel ſeitliche Stel— lung den erſten Anſtoß gegeben hat, daß aber die Fixirung ſymmetriſcher Blumen- formen nur durch vererbungsfähige indivi— duelle Abweichungen und durch das ſchließ— lich alleinige Überleben der vorteilhaften Abänderungen zu Stande gekommen iſt. Und was von der Fixirung, gilt ſelbſtver- ſtändlich auch von der weiteren Ausprä— gung ſymmetriſcher Blumenformen. Auch wenn ſie bereits ſo befeſtigt ſind, daß ſie nie mehr oder nur noch höchſt ausnahms— weiſe in die regelmäßige Urform zurück— fallen, treten mannigfache neue individuelle Abänderungen an ihnen auf. Auch dieſe erlangen, wenn ſie nutzlos ſind, wie z. B. die Nebennektarien in den Blüten von Va- leriana montana“, feine weitere Verbrei— tung. Wenn ſie dagegen von entſcheiden— dem Vorteile ſind, wie z. B. die beſonders tiefe Honigbergung von Falterblumen in 449 einer von Makrogloſſen reichbeſuchten Ge— gend (Viola calcarata“ u. a.) oder die un⸗ ſymmetriſche Verdrehung der Blumen von Pedicularis asplenifolia“ ), fo werden auch ſie durch Naturausleſe zu konſtanten Merk— malen ausgeprägt. Auch in Bezug auf die Stellung und Geſtalt der Blumen oder einzelner Blüten— teile haben wir den Rückfall in urelterliche Eigentümlichkeiten als eine beſondere Klaſſe von Abänderungen beſonders zu berück— ſichtigen. Die mannigfachen Zwiſchenſtu— fen zwiſchen ſenkrecht nach unten gerichteter und wagerechter oder ſchräg abwärts fal— lender Blumenſtellung bei Lilium Marta- gon“, zwiſchen gar nicht gedrehter und halb umgedrehter Blumenſtellung bei Nigritel- la angustifolia“, zwiſchen ausgeprägter Schlagbaumform und Hufeiſenform bei den Staubgefäßen der weiblichen Blüten von Salvia pratensis“, zwiſchen zungen- und röhrenförmigen Blüten bei Senecio car- niolicus* find uns als bald mehr, bald weniger gelungene Rückerinnerungen der Blumen an eine unter andern Lebens— bedingungen durchlebte Vergangenheit am leichteſten verſtändlich. D. Variabilität der Entwicklungsreihen— folge und Verteilung der Geſchlechter, der Sicherung der Kreuzung bei eintre— tendem, der Ermöglichung ſpontaner Selbſtbefruchtung bei ausbleibendem Inſektenbeſuch. Wie durch die nachgewieſene Varia— bilität der bisher beſprochenen Merkmale die außerordentliche Mannigfaltigkeit der Blumenfarben und Formen, Größen und Zahl enverhältniſſe unſerem Verſtändniſſe näher gerückt wird, ſo läßt uns ein Ein— blick in die Variabilität der Entwicklungs— *) Kosmos, Bd. III, S. 493. Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 57 450 reihenfolge und Verteilung der Geſchlech— ter begreifen, wie die Blumen im ſtande ſind, ihre Fortpflanzungsart veränderten Lebensbedingungen anzupaſſen und, je nach— dem der Beſuch der Kreuzungsvermittler geſichert oder zweifelhaft iſt, ſich auf aus— ſchließliche oder blos ermöglichte Kreuzung durch dieſelben und auf den Notbehelf ſpon- taner Selbſtbefruchtung einzurichten. Um die Betrachtung dieſer Variabilität mit Aus⸗ ſicht auf Erfolg in Angriff nehmen zu können, müſſen wir uns erſt über die urſprüngliche Verteilung und Entwicklungsreihenfolge der Geſchlechter zu orientiren ſuchen. Da der erſte Urſprung der Blumen auf Windblütler zurückzuführen iſt, die ge— legentlich ihres Pollens wegen von Inſek⸗ ten beſucht und dabei zufällig auch gekreuzt wurden, ſo kann es kaum zweifelhaft ſein, daß diejenigen Eigentümlichkeiten, welche den Beſuch kreuzungsvermittelnder Inſek⸗ ten und Kreuzung durch denſelben völlig ſichern, in der Regel nur langſam und all— mählich erworben worden ſind. Entweder nämlich erfolgte der Über— gang von der Windblütigkeit zur Inſek— tenblütigkeit mit Beibehaltung der ur— ſprünglichen Trennung der Geſchlechter, wie bei Salix, und dann konnte aller— dings ein Klebrigwerden des Pollens und damit ein Verzicht auf die Kreuzungsver— mittlung des Windes natürlich nicht eher durch Naturausleſe zur Ausprägung ge— langen, als bis durch Steigerung der dar— gebotenen Genußmittel (Honigabſonderung in beiderlei Blüten) ein die Kreuzung ſichern— der Inſektenbeſuch erreicht worden war. Oder es traten zwitterblütige Abän— derungen auf, die die Möglichkeit ſpontaner Selbſtbefkuchtung eröffneten, und denen es daher auch ſchon bei noch unſicherem | Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. Inſektenbeſuch vorteilhaft war, klebrigen Pollen zu beſitzen und infolgedeſſen durch gelegentlichen Inſektenbeſuch leichter ge— kreuzt zu werden: dann konnte natürlich ein Aufgeben des Notbehelfs der ſpontanen Selbſtbefruchtung nicht eher erfolgen, als bis durch Steigerung der Augenfälligkeit, der dargebotenen Genußmittel ꝛc. ein die Kreuzung ſichernder Inſektenbeſuch erreicht worden war. Im erſteren Falle tritt die Pflanze mit voller Sicherung der Kreuzung in die Inſektenblütigkeit ein, im letzteren muß ſie ſich zur Sicherung der Kreuzung erſt langſam emporarbeiten. Der erſtere Fall iſt eine ſeltene Ausnahme (ich weiß nur Salix anzuführen), der letztere iſt die Regel. In allen mir bekannten Pflanzenfami— lien, in denen urſprüngliche, d. h. auf nie— derſter Anpaſſungsſtufe ſtehende Blumen erhalten geblieben ſind, ohne ungewöhn— lich geſteigerte Anlockung erlangt zu haben, entwickeln ſich in der That in denſelben die beiden Geſchlechter ſoweit gleichzeitig und ſind ſo zu einander geſtellt, daß bei ausbleibendem Inſektenbeſuche eigener Pol— len auf die Narbe gelangt. Abgeſehen von Salix (und vielleicht mir unbekannten, in gleichem Falle befindlichen Inſektenblüt— lern) ſind alſo höchſt wahrſcheinlich alle Blumen urſprünglich zwitterblütig und ſo weit homogam geweſen, daß ſie ſich bei | ausbleibendem Inſektenbeſuche ſelbſt be— fruchteten. Erſt mit dem allmählichen Er— werb der den Inſektenbeſuch ſteigernden Eigentümlichkeiten iſt bei vielen Blumen eine derartige räumliche oder zeitliche Trennung der Geſchlechter zur Ausprä— gung gelangt, die bei eintretendem Inſek— tenbeſuche eine Kreuzung getrennter Stöcke durch denſelben überwiegend wahrſchein— lich oder unausbleiblich macht, dagegen die 5 BES 1 1 | 1 1 . ‘ 2 entbehrlich gewordene ſpontane Selbſtbe- fruchtung oft auch der Möglichkeit nach beſeitigt. Zahlreiche Blumen laſſen uns nun noch heute diejenige Variabilität er- kennen, die den notwendigen Ausgangs: punkt dieſer Ausprägung bilden mußte. So ſehen wir Dryas octopetala und ebenſo Saxifraga oppositifolia® noch heute zwiſchen homogamer, proterandriſcher und proterogyner Entwicklung ſchwanken, Saxi- fraga tridactylites in der einen Gegend zur Proterandrie, in der anderen zur Pro— terogynie fortgeſchritten, die übrigen Saxi— fraga-Arten in verſchiedenem Grade der Ausprägung teils proterandriſch, teils proterogyniſch geworden. Ebenſo ſchwankt Epilobium Fleischeri“ noch völlig un- entſchieden zwiſchen homogamer, prote— randriſcher und proterogyniſcher Ent— wicklung, während E. angustifolium aus- geprägt proterandriſch iſt und E. origani— folium * ſich proterogyn entwickelt, aber regelmäßig ſelbſt beſtäubt. Auch in den Gattungen Sedum, Gentiana, Globula- ria haben ſich gewiſſe Arten der Proteran— drie, andere der Proterogynie zugewandt. Für den Übergang von Homogamie zu ausgeprägter Proterogynie laſſen uns die betrachteten Alpenblumen außer den bereits angeführten noch manche andere Schwankungen und Abſtufungen erkennen. Einige“) ſchwanken noch zwiſchen homo— gamer und proterogyner, andere **) zwi— ſchen ſchwächer und ſtärker ausgeprägter ) Ranunculus alpestris, Veronica alpi- na*, Gentiana campestris*, Soldanella al- pina*, Ribes petraeum*. h *) Sedum atratum*, Pulsatilla verna- lis*, Anemone alpina, Geum montanum. ) Tofieldia calyculata*, Sedum re- pens*, Saxifraga androsacea*, Ranunculus Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. | 451 einen gewiſſen Grad von Proterogynie er— reicht, der bei zeitig eintretendem Inſek— tenbeſuche Kreuzung ſichert, dann aber ſpontane Selbſtbefruchtung zuläßt; nur wenige?) ſind zu ſo ausgeprägter Prote— rogynie fortgeſchritten, daß ſpontaneSelbſt— beſtäubung nur noch ſpärlich oder gar nicht mehr vorkommt. Weit größer iſt die Zahl derjenigen Blumen, die zu ausgeprägter Proterandrie gelangt ſind. Außer zahlreichen in ver— ſchiedenen Gattungen verteilten oder be— ſondere Gattungen bildenden Arten (3. B. Lloydia*, Veratrum“, Parnassia“, Aro- nia, Polemonium *) ſind die meiſten Arten der Gattungen Saxifraga und Gentiana, alle mir bekannten der Gattungen Allium, Sempervivum, Aquilegia, Aconitum, Delphinium, die überwiegende Mehrzahl der Alſineen und Labiaten, und wohl ohne Ausnahme alle Sileneen, Umbelli— feren, Dipſaceen, Kampanulaceen und Kompoſiten proterandriſch, und zwar zum großen Teile ſo ausgeprägt, daß ſpontane Selbſtbeſtäubung nicht mehr oder nur noch ausnahmsweiſe erfolgt. Proterandrie iſt alſo jedenfalls in vielen Fällen ſchon von den Stammeltern jetzt artenreicher Gattungen, ganzer Familienzweige und ſelbſt umfangreichſter Familien ausgebildet und auf alle Abkömmlinge vererbt worden. Von dem Variiren der Entwicklungs— pyrenaeus, parnassifoliusk, montanus, Ara- bis bellidifolia, Draba aizoides*, Hutchin- sia alpina, Myricaria germanica*, Cotone- aster vulgaris*, Rubus saxatilis*, Fragaria vesca, Veronica aphylla*, Gentiana tenella*. ) Saxifraga Seguieri*, S. muscoides*, Geum reptans; bei Bartsia alpina“ und Gentiana punctata* iſt ſpontane Selbſtbe— fruchtung mehr durch die Stellung der Narbe als durch Proterogynie verhindert. EEE 8 452 Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. reihenfolge führt uns nun die Proteran— | jondern auch von dieſer zur reinen Diözie drie unmittelbar zum Variiren der Vertei- darſtellt. Außerdem kommen bei ihr an groß— lung der Geſchlechter hinüber. Denn in zahlreichen Fällen find ausgeprägte Pro- terandriften, die von Inſekten überreich mehr innerhalb einer und derſelben Art, ſondern auf verſchiedene Arten derſelben beſucht wurden und bei denen die Blu— mengröße verſchiedener Stöcke variirte, da— durch zur Gynodiözie, zur Diözie und zur polygamen Triözie fortgeſchritten. wir uns dieſe Umbildungen als unaus— bleibliche Folgen der kaum beſtreitbaren Wie Thatſache erklären können, daß augenfälli⸗ gere Blumen durchſchnittlich von Inſekten eher beſucht werden, als unſcheinbarere, habe ich in dem bereits oben zitirten Auf— ſatzs) dargelegt. Von den Alpenblumen, die uns dieſe Formen von Geſchlechterver— teilung darſtellen, will ich deshalb hier blos diejenigen herausgreifen, die uns durch Schwankungen und Übergänge das Entſtehen derſelben vor Augen rücken. Mehrere der auf den Alpen vorkom— menden ausgeprägten Proterandriſten tre— ten an manchen Orten eingeſtaltig auf, mit lauter großblumigen, unter ſich über— einſtimmenden Stöcken, anderswo mit va— riabler Blumengröße und zweigeſtaltig, nämlich mit großblumigen, ausgeprägt pro— terandriſchen, und kleinblumigeren, rein weiblichen Stöcken. Es gilt dies nament— lich von Geranium silvaticum * und Sal- blumigen Stöcken, wahrſcheinlich durch Ata— vismus, bisweilen homogame Blüten vor. Noch deutlicher ausgebildet, aber nicht Gattung verteilt, tritt uns derſelbe Über— gang in der Gattung Valeriana entgegen, in der ſich an die proterandriſche V. offici- nalis die gynodiöziſche V. montana“ und an dieſe die rein diöziſche V. tripteris“ aufs engſte anſchließt. Außer den mancherlei ſonſtigen ver— ſchiedenen Arten von Geſchlechtervertei— lung, die ich in dem oben erwähnten früheren Aufſatze zu erklären verſucht habe, ſcheint mir auch der Blütenpolymorphismus der Alchemilla-Arten, ebenſo der von Rhus Cotinus*) u. a., auf das Variiren der Blumengröße zurückzuführen zu ſein. Mit der allmählichen Verkleinerung der Blu— men hat ſich nämlich nicht nur, wie be— reits oben beſprochen wurde, die Zahl der Kelchblätter und Staubgefäße auf 4 oder reichend. via pratensis“, wahrſcheinlich auch von Si. lene nutans und Dianthus superbus.“ Bei Geranium silvaticum * kommen überdies an manchen Orten, wo es gyno— diöziſch auftritt, an den großblumigen Stöcken die Stempel nie mehr zur vollen Entwicklung (Albula), ſo daß uns dieſe nämliche Blumenart nicht nur den Über— gang von Eingeſtaltigkeit zur Gynodiözie, 9 Kosmos, Bd. II, S. 11, 128. 3, die der Stempel auf 1, die der Blu— menblätter auf 0 reduzirt, ſondern auch für die geringe Zahl der noch übrigen Ge— ſchlechtsteile erſcheint der Nahrungszufluß des winzigen Blütchens nicht mehr aus— Vielmehr erfolgt bei voller Ent— wicklung der Staubgefäße eine Verküm— merung des Stempels und bei voller Ent— wicklung des Stempels eine Verkümme— rung der Staubgefäße, ſo daß alle Über— gänge von in beiden Geſchlechtern ſchwa— chen Zwitterblüten einerſeits zu rein männ— lichen, andererſeits zu rein weiblichen vor— kommen. Hr *) H. Müller, Befruchtung der Blumen, S. 157, Fig. 49. Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. 453 Aber auch in vielen Fällen, wo ein rungszufluß und Verkümmerung des weib— Herabſinken der Blumengröße und der Zahl der Blütenteile nicht oder nur in ge— | | | ringem Grade jtattgefunden hat, ſcheint ein Verkümmern der weiblichen Befruch- tungsorgane durch vermindertenNahrungs⸗ zufluß bedingt zu ſein. Anemone alpina, Geum reptans und montana, Dryas octo- petala bieten alle Abſtufungen der Ver— kümmerung der Stempel bis zu völligem Schwinden derſelben und ſomit den voll— ſtändigen Übergang von Zwitterblütigkeit zu Androdiözie dar. Bei ihnen allen findet ein durchgreifender Unterſchied der Blumengröße zwiſchen männlichen und zweigeſchlechtigen Blüten zwar nicht ſtatt; aber durchſchnittlich ſind doch die männ— lichen merklich kleiner. Veratrum album“ hat 1) rein zwit— terblütige Stöcke, 2) andere, deren ſpätere, ſchwächlichere Seitenzweige etwas kleinere, rein männliche Blüten mit ſtark verküm— merten Stempeln tragen, und außerdem 3) ſchwächliche Stöcke, die überhaupt nur ſolche männliche Blüten hervorbringen, ſo daß hier der Übergang von Zwitterblütig— keit zur Andromonözie und von dieſer zur Androdiözie vorliegt. Astrantia minor“ hat, wie manche andere Umbelliferen, neben den proteran— driſchen Zwitterblüten rein männliche mit mehr oder weniger verkümmerten weib— lichen Befruchtungsorganen. Je ſchwäch— licher die Pflänzchen ſind, um ſo geringer iſt die Zahl der zweigeſchlechtigen Blüten, die ſchwächlichſten Exemplare produziren ausſchließlich rein männliche. Es findet alſo hier ein ganz allmählicher Übergang von Andromonözie zu Androdiözie ſtatt, und auch hier iſt ein Zuſammenhang zwiſchen Schwächlichkeit oder verringertem Nah— lichen Geſchlechts unverkennbar. Mag nun die ſoeben in bezug auf den Urſprung der Andromonözie und Andro— diözie ausgeſprochene Vermutung richtig ſein oder nicht; jedenfalls ſteht ſo viel feſt, daß die Entwicklung der Geſchlechtsorgane bei vielen Pflanzen von Einwirkungen des Klimas und Bodens leicht beeinflußt wird, und daß dadurch eine Veränderung der Geſchlechterverteilung auch unabhängig von der Blumenauswahl der Inſekten und von langſam wirkender Naturausleſe her— vorgebracht werden kann. Ich führe als Belege dafür noch folgende an Alpenblu— men gemachte Beobachtungen an: Bei Sedum repens*, Draba aizoi- des“, Stellaria cerastioides*, Veronica alpina“ fand ich an rauhen, hochalpinen | I Standorten nicht felten die Staubgefäße in krankhaftem, mehr oder weniger ver— kümmertem Zuſtande, bei Lloydia sero— tina“, Saxifraga bryoides*, Cherleria sedoides“ außerdem bisweilen auch die Narben. Von Aquilegia atrata zog ich in mei- nem Garten aus Samen des Berliner botaniſchen Gartens zahlreiche Stöcke, von denen die ſchwächlichſten lauter rein männ— liche Blüten hervorbrachten, während die kräftigeren, ebenſo wie alle auf den Alpen von mir beobachteten Exemplare nur proterandriſche Zwitterblüten trugen. Die urſprünglich eingeſtaltige Pflanze iſt alſo im Kulturzuſtande androdiöziſch ge— worden. Bei Polemonium coeruleum“ traten in meinem Garten an manchen Stöcken neben den gewöhnlichen proterandriſchen nicht ſelten weit kleinere rein weibliche Blüten auf, während ich auf den Alpen 454 Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. auch ſeine Blumen nur zweigeſtaltig ge— ſehen habe. Bei Saponaria ocymoides fand Hil— debrand, vermutlich an Gartenexem— plaren, männliche, weibliche und zweige— ſchlechtige Blüten auf demſelben Stocke, mit überwiegender Anzahl der eingeſchlech— tigen. Mir ſelbſt iſt es, obgleich ich auf den Alpen oft danach geſehen habe, nie gelungen, dort andere Stöcke aufzufinden, als ſolche mit lauter ausgeprägt proteran— driſchen zweigeſchlechtigen Blüten. Draba aizoides* fand Hildebrand!) (im Garten?) fo ausgeprägt proterogyn, daß Selbſtbeſtäubung verhindert war; meine Alpenexemplare waren dagegen proterogyn mit Ermöglichung ſpontaner Selbſtbeſtäu— bung. Bei Pulmonaria azurea“ iſt nach Hildebrand“ ) „keine kurzgriffelige und langgriffelige Form vorhanden, wenn auch gerade nicht die Antheren der Narbe an— liegen.“ Auf den Alpen fand ich dieſelbe Blume immer nur ausgeprägt lang- und kurzgriffelig (dimorph heteroſtyl). Alle dieſe Beiſpiele von Variabilität der Geſchlechterverteilung teils im wilden, teils im kultivirten Zuſtande werden noch übertroffen von dem Schwanken, welches in dieſer Beziehung Polygonum viviparum“ zeigt, das von Axell in Schweden!“ “) gynodiöziſch mit ausgeprägt proterandri— ſchen Zwitterblüten, von mir bei Fran— *) F. Hildebrand, Vergleichende Unter— ſuchungen über die Saftdrüſen der Cruciferen. Berlin, 1879. S, 12, 13. *) F. Hildebrand, Die Geſchlechterver— theilung bei den Pflanzen. Leipzig, 1867. S. 11; Pulm. azurea, S. 37. ##*) Severin Axell, Om anondningarna för de fanerogama växternas befruktning. Stockholm, 1869. pp. 26, 45, 47, 48, 112. zenshöh gynodiöziſch mit homogamen Zwit— terblüten, im Oberengadin eingeſtaltig ho— mogam mit allen Übergängen zur Andro— monözie und Androdiözie gefunden wurde.“) Obgleich wir nun über die Urſachen dieſer Variabilität noch faſt völlig im Dun— keln ſind und höchſtens einen Teil der an— geführten Fälle mit einiger Wahrſchein— lichkeit als direkt von Klima und Nah— rungszufluß abhängig betrachten dürfen, von vererbungsfähigen individuellen Ab— änderungen der Geſchlechterverteilung aber einen direkten Beweis noch nicht beſitzen, ſo können wir doch indirekt mit voller Si— cherheit ſchließen, daß auch derartige erb— liche individuelle Abänderungen ziemlich häufig auftreten. Denn in zahlreichen Fäl— len ſehen wir die Blumen auch in bezug auf die Befruchtungsart verſchiedenen Lebens— bedingungen ſich anpaſſen und, wenn die Reichlichkeit des Inſektenbeſuchs zunimmt, eine erhöhte Sicherung der Kreuzung, wenn dagegen der Inſektenbeſuch ſpärlicher wird, bei offen gehaltener Möglichkeit der Kreu— zung eine Sicherung der ſpontanen Selbſt— befruchtung gewinnen. Gypsophila repens“ blüht z. B. an be⸗ ſonders inſektenreichen ſonnigen Abhängen ſo ausgeprägt proterandriſch, daß keine ſpontane Selbſtbefruchtung ſtattfindet; an weniger günſtigen Standorten befruchtet ſie ſich einfach dadurch, daß das Aufſpringen der Antheren etwas früher eintritt, bei ausbleibendem Inſektenbeſuche regelmäßig ſelbſt. Ebenſo iſt Geranium pyrenaicum „) Die angeführten Beiſpiele zeigen zugleich, wie notwendig es iſt, bei Beſchreibung und Ab— bildung ſpezieller Beſtäubungseinrichtungen ir— gend einer Blume Wohnort und Lebensbedingun— gen derſelben mit anzugeben. proterandriſch, in Weſtfalen mit regelmä— ßig erfolgender, auf den Alpen, wo ihm gender ſpontaner Selbſtbeſtäubung. Die ebenfalls proterandriſche Digita- lis lutea“ verzichtet auf den Vogeſen, wo ich ſie reichlich von Bombus hortorum be— ſucht fand, gänzlich auf den Nothbehelf ſpontaner Selbſtbefruchtung, indem ſie ihre Narben erſt nach dem Abblühen aller Staubgefäße entfaltet; auf den Alpen da— gegen, wenigſtens im Suldenthale, wo ſie in der Regel von Bombus terrestris ohne den Entgelt der Kreuzungsvermittlung räu— beriſch ausgeplündert wird, entwickelt ſie ihre Narbenpapillen ſchon gleichzeitig mit dem zweiten Antherenpaare zur Reife und beſtäubt ſich regelmäßig ſelbſt. Arabis alpina“ begünſtigt Kreuzung und erſchwert Selbſtbeſtäubung, indem fie | jedes längere Staubgefäß nach dem be— nachbarten kürzeren hinkehrt; in anderen Fällen aber kehrt ſie die pollenbedeckte Seite aller Antheren der Narbe zu und macht ſo ſpontane Selbſtbeſtäubung ſchließ— lich unausbleiblich. Lloydia serotina“ beſtäubt ſich auf dem rauhen Albulupaſſe bei ausbleiben— dem Inſektenbeſuche regelmäßig ſelbſt; in dem geſchützten inſektenreicheren Heuthale dagegen verlängert ſie ihren Griffel, ſo daß die Antheren von der Narbe überragt werden und ſpontane Selbſtbeſtäubung nicht erfolgen kann. Wir haben in dem hiermit beendeten Hermann Müller, Die Variabilität der Alpenblumen. reichlicherer Inſektenbeſuch zuteil wird, mit gar nicht oder nur ausnahmsweiſe erfol- 455 Rückblick faſt nur ſolche Beiſpiele von Va— riabilität der Farbe, der Größe, der Zahl der Blütenteile, der Stellung und Geſtalt der Blumen, der Entwicklungsreihenfolge und Verteilung der Geſchlechter, der An— paſſung an wechſelnden Inſektenbeſuch zu— ſammengeſtellt, die mir auf den Alpen innerhalb der Grenzen derſelben Art be— gegnet ſind. Um die Bedeutung dieſer Variabilität in ihrem ganzen Umfange zu würdigen, müßten wir durch die lange Reihe der von mir betrachteten Alpenblu— men hindurch jedesmal von denſelben Ge— ſichtspunkten aus die Arten derſelben Gat— tung, die Gattungen derſelben Familie ver— gleichend ins Auge faſſen, d. h. den weſent— lichſten Inhalt des Hauptteiles meines Alpenblumenwerkes an uns vorüberziehen laſſen, was ich jedem Leſer, der ſich näher für Blumenkunde intereſſirt, hiermit em— pfohlen haben möchte. Wer auch nur in bezug auf eine einzige natürliche Abtei— lung der Blumen dieſen Vergleich durch— führt, wird ſich wohl kaum der Überzeu— gung verſchließen können, daß eine Varia- bilität, wie wir ſie als thatſächlich noch beſtehend kennen gelernt haben, die Blu— men in ausreichendem Grade befähigen mußte, nicht zu plötzlichen Veränderungen der Lebensbedingungen ſich immer von neuem anzupaſſen, ſo ſich immer weiter zu differenziren und im Laufe ungemeſſener Zeiträume aus einigen wenigen einfachen urſprünglichen Blumenformen zu der er— ſtaunlichen Mannigfaltigkeit zu entwickeln, die uns heute vorliegt. — — —— Erfaſſen und Begreifen. Eine ſpracchphiloſophiſche Studie von Teopold Während wir unter dem „Darwinismus“ die na— türliche Entwicklungsge— ſchichte der Welt, die in ihrem Forſchungsmateri— ale ebenſo unerſchöpflich, wie ſie ſelbſt unendlich iſt, verſtehen, zeigt die Bibel, worunter ich zunächſt das „Alte Teſtament“ verſtanden wiſſen will, aller— dings im großen und ganzen die gegen— teilige Anſchauung, da in ihr alles, was in der Welt geſchieht, von jeher geſchehen iſt und noch geſchehen wird, nach menſch— lich künſtlicher, in höherer Übertragung dieſer Denkweiſe: nach göttlicher Anord— nung erfolgt und nicht auf dem natür— lichen Wege, wo alle Weltformen aus dem Stoffe nach kauſaler Entwicklung her— vorgehen. Allein durch die Darwiniſtiſche Entwicklungslehre hat unſere Kenntnis des Altertums, insbeſondere der bibliſchen Archäologie, einen neuen Aufſchwung ge— nommen, und was uns bisher als myſtiſch an ihr erſchien und nur verworrene und verſchwommene Ideen in uns erzeugte, das Einſtein. bekommt nun allmählich ſinnlich greifbare Geſtalt. Wie es eine Zeit gab, wo man noch die verſteinerten Funde der Pflanzen— und Tierwelt für Naturſpiele erklärte, in denen ſich der Weltbaumeiſter gefallen, bis er es nach und nach zu den vervoll— kommneten lebendigen Typen dieſer an— organiſchen Bildungen gebracht, alſo iſt auch bereits die Zeit gekommen, wo man die bibliſchen Sagengebilde weder mehr als wirkliche Ereigniſſe, die einſt wort— wörtlich der heilige Geiſt ſeinen frommen Erleuchteten in die Feder diktirte, noch als die märchenhaften Stilübungen eines Romanſchreibers aus der guten alten Zeit auffaßt. Aber was ſind ſie denn, wenn ſie weder das eine noch das andere, weder Wahrheit noch Dichtung ſein ſollten? Die Wahrheit liegt auch hier in der Mitte und erſt die natürliche Entwicklungsgeſchichte giebt uns hierüber die merkwürdigſten und intereſſanteſten Aufſchlüſſe. Ich will mich hier nicht damit beſchäftigen, von bibliſchen kulturhiſtoriſchen Zeitabſchnitten zu reden, wie der Naturhiſtoriker von — 8 paläontologiſchen Schichten ſpricht, wo die. tieferen Lagen ältere organiſche Gebilde aufweiſen, als die entwickelteren der höhe— ren Lagen, ſo wenig ich die Transforma— tion des urbibliſchen Geiſtes durch Esra und ſeine Kollegen analog der Trans- mutation der Naturobjekte infolge zwin— gender Einwirkungen von außen her bloß— zulegen beabſichtige; denn ſolche Unter— ſuchungen würden Bände füllen. Ich will mich hier nur an die Sprache der Bibel ſelbſt halten, als dasjenige Organ, wel— ches uns die Denkweiſe der Hebräer in der Vorzeit enthüllt und vermittelt. Denn wie ſelbſt Profeſſor A. Wigand aus Marburg in ſeinem Werke gegen den Darwinismus zugeben muß, „iſt ſchon der Umſtand bedeutungsvoll, daß man an den Sprachen hiſtoriſch nachweiſen kann, daß ſie ſich wirklich im Laufe der Zeit verän— dern und dabeizugleich eine Differenziirung, eine Spaltung in weitere Verzweigungen erfahren — mit anderen Worten, daß die Stämme, Aſte und Zweige des Sprach— baumes nachweislich als lebendige Spra— chen wirklich exiſtirt haben“. Ich befinde mich alſo, wenn ich ſprachlichen Boden betrete, ſelbſt nach Herrn Wigands An— ſchauung auf Darwiniſtiſchem Boden, auf dem Boden der natürlichen Entwicklung; denn ich weiß, daß oft das gewöhnlichſte Wort, das unſeren Lippen entfährt, ſeine hundert⸗, ja tauſendjährige Geſchichte hat, um mich Darwiniſtiſch auszudrücken: ſeine Deszendenztheorie, ſeine Selektion und ſeine Transmutation, ja daß ganze Spra- chen im Laufe der Zeit erlöſchen, wie die Völker, mit denen ſie aufgewachſen. Denn die Sprache iſt eben ſo gut ein im Fluſſe des allmählichen Wachstums Begriffenes, welches einmal den Kulminationspunkt Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. 457 ſeiner höchſten Blüte erreicht und dann allmählich wieder abſtirbt, wie alles, was der natürlichen Entwicklung angehört, dar— um das univerſelle Weltgebäude eigentlich kein Gebäude oder Kunſtprodukt iſt, ſon— dern ein Naturprodukt, daher auch die alten Weiſen in mythologiſcher Weiſe die Gottheit als Weltenbaum, welcher als höchſte Frucht den Menſchen trage, perſonifizirt haben. Dieſer iſt auch nach Radenhauſens trefflichem Aus— ſpruche das Gehirn der Erde, und es reift — man geſtatte mir die weitere Aus— malung dieſes Gleichniſſes —in dieſer Ge— hirnkapſel wiederum der Weltſamen, wel— cher alle Beſtandteile des Univerſums en miniature in ſich vereinigt. Auch iſt die— ſes ein endgiltiger Beweis, daß wie der Same die erſte Anlage, zugleich aber auch die letzte Beſtimmung der Frucht, ſomit das Endreſultat des ganzen Baumes iſt, ſo auch der Weltſamen im Gehirn des Menſchen, als der letzten Frucht des Wel— tenbaumes, wieder nichts anderes enthalten und hervorbringen könne, als dieſe Welt. Dieſes Darwinſche Bild iſt uns aber nur dann verſtändlich, wenn wir uns des Ein— heitsgedankens in der unzähligen Vielheit und Mannigfaltigkeit der Weſen bewußt ſind, wonach das letzte und höchſte Glied der Schöpfung nur die ontogenetiſche Wie— derholung und damit die Geſammtſumme der ganzen phylogenetiſchen Schöpfungs— reihe iſt, im letzten Grunde ebenſo einfach, wie die Zahl tauſend nichts anderes be— zeichnet, als die ſummariſche Verdichtung aller ihr vorangegangenen Einſe oder Ein— heiten, ſowie auch das Wort Gott nichts anderes beſagt, als die Summe aller Weſenheiten als höchſte Potenz des All— ſeins. Es iſt ja eben deshalb dieſes Wort Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 58 N 458 für den alltäglichen Gebrauch von ſo welt— erlöſender Bedeutung; denn es umfaßt das höchſte und das tiefſte, das geheimſte Wohl und Wehe des Menſchen, die Erlö— ſung von den Geheimniſſen und Rätſeln dieſer Welt in einem einzigen Worte durch das Wort, daher der Apoſtel Johannes ſeine Offenbarung alſo an— fängt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasſelbige war im Anfang bei Gott. Alle Dinge ſind durch dasſel— bige gemacht, und ohne dasſelbige iſt nichts gemacht, was gemacht iſt“ ꝛc. Ich hätte hier allerdings gute Gelegenheit, dieſen myſteriöſen Satz, in welchem der Apoſtel das Sprachwunder mit dem Schö— pfungswunder konfundirt, einer nicht unintereſſanten Erörterung zu unterziehen; allein auch das würde mich zu weit von dem Gegenſtande ablenken, den ich hier zu bearbeiten gedenke und zu welchem mir der ſchöne Aufſatz des Herrn Profeſſor Schultze im Aprilheft dieſer Zeitſchrift: über „Die Sprache des Kindes“ die Feder in die Hand gedrückt hat. Derſelbe ſagt darin S. 27, „daß ſchon frühe im Kindesleben die Epoche eintritt, wo die Außenwelt mächtig auf das Kind ein— ſtürmt, und es dadurch angeregt wird, auch ſeinerſeits thätig auf die Welt einzu- wirken, indem es nach den Dingen greift, ſie fortgeſetzt in die Hand nehmen will, ſie rüttelt und ſchüttelt, ſie betaſtet, an Mund und Naſe führt und ſo eine Fülle neuer Merkmale entdeckt, die ihm das Sehen allein nicht vermitteln konnte. Darwinſche Geſetz von der allmählichen Entwicklung alles Seienden — des Kör— Der Sehling iſt zum Greifling ge— worden; erſt wo das Kind mit der Hand die Dinge erfaßt, begreift, behan— delt, umgeſtaltet, beginnt ſein eigent— Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. liches Handeln, beginnt ſeine wahrhaft menſchliche Wirkſamkeit. Aber die Eindrücke, die nun ſchon durch alle Sinne einziehen, erregen mächtige Begierden in dem Kinde, die fernen Dinge winken, lok— ken, ziehen unwiderſtehlich an — es beginnt dem Zuge zu folgen, es rutſcht, kriecht, geht, läuft — es wird Läufling; und nun erſt gewinnt es aus ſeinem bisherigen, gewiſſermaßen pflanzlichen Feſtgewurzelt— ſein die Freiheit, deren es bedarf, um in die Welt einzudringen und die Welt in ſich eindringen zu laſſen. Nun aber flutet die Fülle der gewonnenen Vorſtellungen ſo gewaltig in ihm, nun wird die Spannung ſo überſtark, daß der pſychiſche Inhalt ſich bahn bricht, daß er überſprudelt in der Sprache, daß das Kind in die Periode des Sprechlings eintritt, wo nun eine zeit— lang nichts ſo zauberiſchen Reiz für das Kind hat, als das Üben und Lernen der ſchwierigen Kunſt, die mehr als alles an— dere den Menſchen an den Menſchen bin— det. Nicht blos muß alſo erſt der ge— ſammte körperliche Apparat, es muß auch erſt die Seele bis zu einem hohen Grade entwickelt ſein, ehe das Kind zu dem höchſten geiſtgebornen Kunſtwerk, zu der Sprache gelangen kann.“ Soweit die lebenswahren, weil aus der unmittelbaren Anſchaulichkeit des kind— lichen Wachstums hervorgegangenen Worte des feinfühlenden Pſychologen Dr. Fritz Schultze, zu deren Illuſtration ich mir nun erlaube, den Kommentar aus der Ur— ſprache der Bibel zu liefern, weil die— ſelbe ganz beſonders dazu geeignet iſt, das perlichen wie des Geiſtigen, auch in dieſem göttlichen Buche nachzuweiſen, ohne deſſen 8 zu Hinterlaſſenſchaft uns von der hebräi- ſchen Sprache ſicherlich nicht mehr hinter- blieben wäre, als von ihrer Schweſter, der phöniziſchen Sprache, deren ganze auf uns gekommene Literatur nur in wenigen ſpär— lichen Trümmern beſteht. Die hebräiſche Sprache hat, wie ſchon der gelehrte Joſeph Löw eingeſtand, wenn er gleich Theologe von Profeſſion war, äußerſt wenig abſtrakte Wörter. Das ſinnliche Gepräge des hebräiſchen Wort— materials iſt daher ganz beſonders dazu geeignet, den rohſinnlichen, materialiſti— ſchen Begriffsinhalt zu verrathen, aus wel— chem dieſes oder jenes Wort in der Urzeit, da es ſich gebildet und Jahrtauſende lang im Gebrauche geblieben, hervorgegangen merkt, daß darin nur ganz konkrete Gegenſtände und Verhältniſſe vorkommen, Ein ſolches Wörterpaar iſt nun: jad Hand, und jada Serkennen, iſt. wiſſen, begreifen, während jadah — | namentlich die Wörter mit den Endungen werfen bedeutet. Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. Jad wie jada gehören augenjchein- lich zu dem nämlichen Wortſtamme und jedem Denkenden muß ſich ſofort die Frage aufdrängen. Wieſo iſt es zu erklären, daß von dieſen beiden ſich ſo gleichlautenden, vom nämlichen Stamme herkommenden Worten jedes eine ſo ganz andere Bedeu— tung hat, das eine einen Körperteil be— zeichnend, das andere eine geiſtige Thä— tigkeit? Die Antwort hierauf, die Löſung die— ſes Rätſels finden wir einzig und allein im Darwinismus, d. h. in dem Zurückgehen auf den Urzuſtand der Menſchheit, wo ihr geiſtiges Weſen ſich noch nicht entwickelt hatte. Und wir haben nicht allein in der „Sprache der Bibel“, ſondern in ähnlicher Weiſe auch in den anderen Sprachen, na— mentlich im Sanskrit, wie ich ſpäter zeigen will, die Beweiſe, daß die Erhebung des 459 Menſchen zu einem denkenden, geiſtigen, ſelbſtbewußten Weſen, die Heraufarbei— tung zu vernünftigem Handeln eine all— mähliche geweſen iſt, wo immer das eine aus dem andern, das höhere aus dem nie— drigeren mit mathematiſcher Nothwendig— keit hervorgegangen (nicht durch plötz— liche ſinaitiſche Offenbarungskünſte), und daß deswegen Ausdrücke, welche ſpäter zur Bezeichnung der geiſtigen Natur, des geiſtigen Lebens des Menſchen ge— braucht wurden, urſprünglich ſich auf ſeine körperliche bezogen haben. Dieſes phylogenetiſche Ergebnis ſtimmt genau zu dem ontogenetiſchen des Herrn Schultze, wo er von dem Wortſchatz und der Syntax der Kinderſprache handelt und dabei be— alſo alle abſtrakten Begriffe fehlen, „heit und „keit“, unge, „nis e, wo⸗ bei er nicht vergißt, die Philologen und Pädagogen auf die Wichtigkeit der Erfor— ſchung des Entwicklungsprozeſſes von der konkreten zu den abſtrakten Beziehungen aufmerkſam zu machen. Kennt doch nur derjenige den ganzen Lauf eines Fluſſes und fein Gebiet, der ihn von feiner Mün— dung bis zu ſeinem Urſprung zurückver— folgt, und ſo iſt es auch mit jedem einzel— nen Worte. Beginnen wir demgemäß un— ſere Unterſuchung, und der alte Satz: „Es iſt nichts in unſerem Geiſte, was nicht zu vor in unſeren Sinnen geweſen,“ wird auch hier ſeine Beweiskraft erproben. Es iſt in der That nicht ſchwer zu begrei= fen, daß unſere Hände einſt, d. h. im vor— menſchlichen Affenzuſtande, Füße, unſere Finger = Zehen (digitus), unſere Ar— me = Beine waren, da wir uns ſelbſt noch — ) 460 der Zeit erinnern mögen, wo wir auf allen Vieren herumgekrochen ſind. Allein indem ich an dieſe Rückerinnerung gemahne, fällt es mir bei, daß unſer Gedächtniß mit nich— ten ſo weit zurück zu reichen vermag. Nur das kriechende Bild, das wir von unſeren kleinen Nachkommen noch täglich vor Augen haben, belehrt uns, daß wir in gleicher Weiſe unſere erſten Bewegungsfunktionen ausgeführt haben. Wir wiſſen aber auch aus dieſen alltäglichen Exempeln, wie un— gemein ſchwer es dem kleinen Kindchen wird, welche ungeheuere, anfangs nur allzu oft verſagende Kraftanſtrengungen es Wo— chen, ja Monate lang aufwenden muß, um endlich den tieriſchen, vierbeinigen Zuſtand zu überwinden und ſich zum „Zweihän— der“ aufzurichten, welche Haltung ihm be— kanntlich erſt ſeine eigentlich menſchliche Geſtalt verleiht. Was in der Geſchichte des einzelnen Menſchen nach Monaten zählt, das bedarf in der Stammesgeſchichte der menſchheitlichen Entwicklung minde— ſtes ſo vieler Jahrtauſende, und erinnere ich hier nebenbei an den Vergleich der Götterjahre zu den Menſchenjahren nach den Worten des 95. Pſalms: „Tauſend Jahre ſind vor dir wie ein Tag, der geſtern vergangen.“ In dieſe Aufrichtungsperiode des menſchlichen Körpers, die man füglich die wahre Auferſtehung des Menſchen— geiſtes nennen kann, fällt eben der Sprach— und Vernunftbildungsprozeß, und wie die— ſer zunächſt durch die Dienſte der Hand gefördert wird, das zu zeigen iſt ja das Ziel dieſer Abhandlung. Dem Urmenſchen war nun die Hand das erſte Organ, durch welches er ſich über das Tier hinaus em— porſchwang zur höheren Erkenntnis, und inſofern verdankt er zunächſt dieſer Hand, als dem Werkzeuge des Handelns, die Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. erſten Antriebe zu menſchlichem Denken und Handeln und getreulich hat daher ſeine Sprache Hand und Erkenntnis in einer Wurzel aufbewahrt. Wenn Buffon jagt: „Der Stil iſt der Menſch“, wonach ſein Geiſt an ſeiner Ausdrucks— weiſe zu erkennen iſt, ſo iſt nicht nur die Sprache des Mundes — die Zunge — der Dolmetſcher dieſes Geiſtes, ſondern ſchon die Geberden der Hand, die heute noch unſere Rede begleiten und oft mehr und ſicherer wirken, als alle Worte der Lautſprache, daher das Wort Manieren von der Hand — manus, dagegen Geſten von Geiſt, wie dieſer ſelbſt vom Gäh— renden oder Giſchtenden. Ja, die Sprache der Hand iſt die älteſte Sprache des Naturmenſchen geweſen und Reiſende verſichern, daß ſie mit dieſer Sprache, den einfachen Gedankenzeichen der Hand, beſſer mit den Wilden zurechtkommen, als mit der künſtlichen Sprache des Mundes. Dieſes vorausgeſchickt, will ich nun den innigen Zuſammenhang, den ich zwi— ſchen dem hebräiſchen Handwort jad und dem Erkenntniswort jada konſtatirte, auch zwiſchen jad und dem alten Wurzelwort man herſtellen. Stammt ja unſer deut— ſches Wort: Menſch vom Sanskritworte: manuscha und dieſes ſelbſt wieder von man, welches Geiſt, denkenden Geiſt, be— deutet; dasſelbe Wort lautet in der latei— niſchen Sprache mens; der Menſch iſt alſo das denkende, das geiſtige Weſen. Aber dasſelbe alte Sanskritwort man, welches Denken, Geiſt bedeutet, muß urſprüng— lich eine Bezeichnung für noch etwas an— deres, etwas Körperliches, und zwar für die Hand geweſen ſein; das müſſen wir daraus ſchließen, daß die lateiniſche Sprache die Hand manus nennt, was — offenbar von demſelben Sanskritworte her- ſtammt. Damit man mich nicht etwa will— kürlicher, eigenmächtiger Herleitungen be— ſchuldige, nehme ich mein hebräiſch-deut— ſches Wörterbuch von Friedr. Schulz, zur Hand, alſo einer Zeit, wo man an Grundſätzen noch nicht dachte. Dieſer lei— tet ſad von jadah ab, weil die alten Gram— wurzel herſtammen laſſen, und er giebt ſo— mit dieſem Worte figürlich bezeichnet wer— den. Ich will daraus nur hervorheben, daß damit auch ein Denkmal bezeichnet wird (eine ausgeſtreckte Hand), und daß man in der alten Zeit Zeichen in die rechte Hand oder auf den rechten Arm brannte von heiligen Städten oder Gott— heiten (Jeſ. 49, 17; 2. Moſ. 13, 9), wor: auf ich das Legen der Tephillin (Gebets— riemen, Phylaktorien) als ſpäteres Er— ſatzmittel beziehe, indem das Einritzen von Zeichen (Tätowiren!) in der nachexiliſchen Zeit verboten wurde (3. Moſ. 19, 28), da noch Ezechiel vom Stigmatiſiren eines Thaw, d. i. eines Kreuzes (X), in die Stirne des Sklaven ſpricht (Ezech. 9, 46); denn das Kreuz war dem Sonnengott ge— heiligt, daher nach Einführung des bild— loſen Monotheismus verpönt, und die Sklaverei noch in Altisrael heimiſch. Auch führt dieſer Gewährsmann an, daß im Buche Samuel die Vorderfüße oder Ta— tzen des Bären Hände genannt werden, *) 2. Moſ. 13, 16 findet ſich das Wort totaphoth, was wohl die hebraiſirte Form des weiland Profeſſor der Theologie, Super- intendent, Konſiſtorialrat und erſtem Burg- prediger in Gießen aus dem Jahre 1796 Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. ſprachliche Forſchung nach Darwiniſtiſchen matiker jedes Nomen von einer Verbal- 461 ganz, der neueren zoologiſchen Nomenkla— tur gemäß. Nun gelangt er zur Form hoda — Hand aufheben oder bekennen, ſodann ja- dah — werfen oder ausſäen. Wie jodeh bekennen, fo iſt hithwatha — von ſich ſelbſt etwas bekennen oder beichten; ſo— dann thoda nicht nur — Bekenntnis, ſon— dern insbeſondere — Lob Gottes, Dank— ſagung und Dankopfer, ſogar äsch dath — eine lange Feuerſäule (gewöhnlich dath — Gefeß), und ſicherlich iſt noch der Name Juda oder Jehuda ein mit der Hand in | Verbindung ſtehender Wortbegriff; denn dann alle übertragenen Ausdrücke an, die weſen, auch im Segen Jakobs es von ihm da er der Haupt- und Königsſtamm ge— heißt: „Jehuda, dir huldigen (joducha) deine Brüder“, ſo iſt das nicht ein bloßes Wortſpiel, ſondern drückt auch den mit er— hobener Rechten geleiſteten Huldi— gungseid aus. So dachte es ſich wenig— ſtens der Dichter im 1. Moſ. 49, 7, wo er dem ſterbenden Patriarchen Jakob dieſe Worte in den Mund legt. Bedenken wir aber, daß Juda dieſen ſeinen Namen ſchon längſt hatte, bevor er die Königswürde erlangte, dann ſind wir genötigt, Jehuda von hod - Glanz, Schönheit abzulei— ten, vielleicht vom Sonnengotte aus, da viele alte Völker nach dieſem ſich nann— ten. Dann läßt ſich auch der ſpäter dazu gekommene Begriff der Majeſtät und Herr— lichkeit mit dem Herrſcherſtabe in der Hand ꝛc. leicht damit vereinigen. Alsdann geht er auf die zweite Form jada über, nämlich: erkennen, wiſſen, wo— her daath — die Erkenntnis, das Wiſſen, die Erfahrung; es liegt darin auch der Begriff des Legens, Niederlegens, Über— legens, Begreifens, Einſehens, Be— merkens oder Beobachtens und Billigens; Tätowirens iſt; vgl. damit 2. Moſ. 13, 9. * 462 ferner deah — die Meinung; mada — Wiſſenſchaft; moda — ein Bekannter, Ver⸗ wandter, die Verwandtſchaft; jiddoni = Weisſager, der aus der Hand die Zeichen deutet, und ſelbſt madua — warum? weswegen? von mah deah welch' ein Ge- danke! Auch wird jada ſelbſt noch von der Fortpflanzung im höheren, menſch-⸗ hu = was iſt das? lich-bewußten Sinne gebraucht, wie z. B. in dem Satze: „Adam erkannte (jada) oder Begriffen handelnde Menſch, der ſich letztere nach langen Erfahrungen durch beſonnenes Nachdenken geſammelt, weiß allein, um was es ſich eigentlich bei der Fortpflanzung handelt: um die Verewi— gung ſeiner Gattung, ſeines Geſchlechtes. Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. auch Maſſe und die Wiederholungszahl Male; ebenſo iſt manah ein Gewicht wie mina, wozu auch die Wörter Münze und Minute zu rechnen ſind; daher manch: eine Portion, Gabe, von Handſchätzung und Handgabe hergeleitet. So iſt man auch Fragepartikel, daher die Israeliten beim Anblick des Manna fragten: man Denn man heißt überhaut: was? bedeutet den fragenden, ſein Weib.“ Denn erſt der nach Vernunft Auch das Ausſtrecken (jadah) der Hand, um die Frucht, welche die Unſterblichkeit verleiht (den ſamenreichen Granatapfel, bei den Syrern Symbol der Fruchtbar⸗ keit“) zu pflücken, bringt uns wieder die Gemeinſchaft von jad und jada in Erinne— rung, und ſo verbleibt mir noch, den zwei— ten Begriffskreis, nämlich den des Wortes man zu erſchöpfen, welches im Hebräiſchen wie im Arabiſchen als Zeitwort manah ſo viel wie zu einem Zweck beſtimmen, da— her auch zählen, berechnen heißt, na— mentlich von der göttlichen Beſtimmung, wie z. B. es im Hiob: man. So iſt im Jeſ. das große Glück — Gad (nach Einigen: Jupiter, nach Anderen: die Sonne), da— gegen Meni das kleine Fatum, nach Eini— genvon: Venus, nach Anderen vom Monde hergenommen, alſo vom Zählen, weil die älteſten Völker ihr Zeitmaß nach Mond— jahren berechneten. So bedeutet monim ) S. darüber meine „Prähiſtoriſchen Ent— deckungen auf dem Gebiete der hebr. Sprache“ im „Ausland“, Nr. 18 d. J. bei allem Neuen ſtutzenden Geiſt. Eigent— lich bezeichnet auch hier man — Gabe, nämlich die Mondesgabe, da man den Tau, der in der Nacht fällt, dem Monde zuſchrieb, und die Bibel meldet, daß das Manna unter dem Tau lag. Auch mia — die Art, als unterſchiedliche Unterord— nung unter den Gattungsbegriff, gehört hierher. Nehmen wir ſchließlich noch das unſcheinbar kleine deutſche Wörtchen: man, welches thatſächlich nichts iſt, als — ähn— lich einer durch langen Gebrauch abge— ſchliffenen Münze — das uralte Wort für Mann, Menſch, manuscha, Denken und Geiſt bedeutend, urſprünglich aber — wie aus dem betr. manus noch zu er— kennen — die Hand, ſo haben wir auch hier dieſelbe Erſcheinung wie in der hebräi— ſchen Sprache. Iſt es ja noch heute die Hand, mit welcher jetzt noch alle auf tie— ferer Bildungsſtufe ſtehenden Menſchen, alſo auch alle Kinder ohne Ausnahme gleich den erſten Menſchen, die Dinge erſt greifen, angreifen, anfaſſen, um zu wiſſen, was ſie ſind, d. h. um ſie zu erkennen. Deswegen hat ſich den früheſten Menſchen zur Bezeichnung die— ſes Erkennens kein paſſenderes Wort dargeboten, als eben das von der Hand, hebr. jad, abgeleitete, gerade wie noch in unſerer deutſchen Sprache nicht ſowohl dasjenige Thun und Arbeiten, was mit der Hand verrichtet wird, ein Handeln genannt wird, ſondern vielmehr dasjenige, wozu wir meiſt gar keine Hand mehr brau- chen, das Thun unſeres Geiſtes, unſere Wil- lensäußerungen, unſere Entſchlüſſe, unfere | Leopold Einſtein, Erfaſſen und Begreifen. Thaten. So haben wir uns an eine Menge ſolcher Wortbildungen gewöhnt, ohne wei— ter darüber nachzudenken, wie ſie zu dieſer jetzigen Bedeutung kamen, und genauer die hebräiſchen, von denen wir zunächſt geſprochen haben. Wir gebrauchen die Worte wahrnehmen, vernehmen, er— faſſen, begreifen ausſchließlich zur Bezeichnung einer rein geiſtigen Thätigkeit. Wie kommen aber dieſe Wortbildungen zu einer ſolchen Bedeutung, Wortbildungen, in welchen die Worte nehmen, faſſen, greifen enthalten ſind? Was hat denn unſer geiſtiges Thun, unſer denken, ver— ſtehen, erkennen, wiſſen mit dem nehmen, faſſen und greifen zu thun? Antwort: Unſer Erkennen und Wiſſen iſt, wie ſchon bemerkt, in der Ur— zeit unſeres Geſchlechts nur dadurch zu ſtande gekommen und kommt teilweiſe ſelbſt jetzt noch in unſerer Kindheit da— durch zu ſtande, daß wir eben die Dinge, die wir noch nicht kennen, in die Hand — 463 nehmen, um ſie näher zu betrachten, daß wir ſie anfaſſen, daß wir nach ihnen greifen und ſie mit der Hand ergreifen, und daher die Worte wahr— nehmen, erfaſſen, begreifen. Und daß dieſe Erklärung durchaus keine will— kürliche, ſondern im natürlichen, ge— ſchichtlichen Entwicklungsgang thatſächlich begründet iſt, dafür zeugt ſchließlich noch, daß ſogar die Bezeichnung betrachtet beweiſen ſie uns dasſelbe, wie des ganzen Menſchen als dieſes kör— perlich-geiſtigen Weſens in den ver— ſchiedenſten Sprachen heute noch ganz dasſelbe erkennen läßt. Schon ein Blick auf alle die wichtigen Verrichtungen der Hand, von den roheſten Anfängen der Waffen- und Geräteverfertigung bis zu den ſinnreichſten Produktio— nen der höchſten kunſtgewerblichen Kultur, macht uns ja ſo recht die Darwiniſtiſche Lehre von der allmählichen Entwicklung und Vervollkommnung des Menſchen— geiſtes klar und wir können, geſtützt auf dieſe Wahrnehmungen, getroſt den Satz als kulturhiſtoriſche Wahrheit aufſtellen, daß mit der Hand die Arbeit, mit der Arbeit die Kultur begonnen und daß nur durch dieſe Kultur der vorweltliche Affenmenſch zum Menſchen über- haupt geworden iſt. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Die Nolle des Meeres bei dem großen Abkühlungsprogelfe der Erde. n der Sitzung der Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften vom 24. Mai die— ſes Jahres legte der Aſtronom Faye eine geiſtvolle Arbeit über die ſäkularen Variationen der mathematiſchen Geſtalt der Erde vor. Er erinnert darin zunächſt daran, daß die Richtung des Pendels durch die Nachbarſchaft eines Berges oder ſelbſt eines einfachen Hügels abgelenkt wird. Auf dieſe Weiſe hat bekanntlich Maske— lyne aus der Anziehung des Berges She— Hochplateaux handelt, um Gebirgs-Maſ— ſive von beträchtlicher Ausdehnung, dann iſt der Phyſiker überraſcht — und feine | Überraſchung währt ſeit hundert Jahren —, keine dieſen ungeheuren Maſſen entſpre— chenden Ablenkungen zu finden. Daher ſtammt die ſehr verbreitete, wohl etwas naive Meinung, daß dieſe Gebirgs-Maſ— ſive weite Höhlungen bedecken, deren leerer Raum den Überſchuß der Maſſe, die man über das Meeresniveau hervorragen ſieht, kompenſiren. Die Beobachtung der Schwingungs— | dauer des Pendels führt zu einem ana— logen, aber noch mehr verwirrenden Re— ſultate. Bouguer und Poiſſon haben die Korrektion gegeben, welche man von der beobachteten Schwere abziehen muß, um der Anziehung des Kontinents, auf welchem man operirt, Rechnung zu tragen. Aber man hat bemerkt, daß dieſe Korrek— tur nur den Mangel an Übereinſtimmung der Maße vermehrte. Es kann in dieſer Hinſicht nichts Frappanteres geben, als die letzten Beobachtungen der Engländer in Indien. In dieſer langen Folge von Meſſungen, die bis in das Innere des hallien in Schottland die Dichtigkeit der Erdkugel berechnet. Aber wenn es ſich um Gebirgsſtocks des Himalaya vordrangen, ergab ſich nicht das geringſte Anzeichen von dem Vorhandenſein dieſes Maſſives, während man mit demſelben Inſtrument eine Anziehungsdifferenz zwiſchen Fuß und Gipfel einer der egyptiſchen Pyramiden finden würde. Aber damit noch nicht ge— nug: an Stelle des Überſchuſſes von An— ziehung, deſſen man ſich auf den Konti— nenten verſah, fand ſich ein Mangel an Anziehung zu konſtatiren, als wenn eine ungeheure Höhle nicht allein unter den Gebirgs-Maſſiven, ſondern unter einem ganzen Kontinente und zwar unter jedem Kontinente ſich erſtrecke. U Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Noch eine größere Sonderbarkeit trat dabei zu Tage. Man hat mit dem Pen— del überall, auf dem Kontinente, an den Küften, auf dem hohen Meere, auf Inſeln und Korallenbänken experimentirt. Aber wenn man anfing, die Ergebniſſe dieſer Expeditionen zu vereinigen und zu ver— gleichen, wenn man ſie nach der Formel von Clair aut berechnete, ſo hat man ge— Kontinenten zu gering iſt — trotz des Über— ſchuſſes der Materie, die dort über das Ni- veau des Meeres emporſteigt — die Schwer— kraft über den Meeren im Gegenteil ſtets zu groß iſt, und zwar um ſo viel, daß ein augenſcheinliches Defizit hervortritt. Mit Ausnahme von zweien wurden ſämmtliche: zu ſtarke Anziehungen auf offenem Meere beobachtet; mit Ausnahme von einer, alle zu ſchwachen auf den Kontinenten. Es reicht ſomit nicht aus, mit den Geo— däten anzunehmen, daß es unter den Kon— tinenten Höhlungen giebt, man müßte mit noch ſtärkeren Gründen behaupten, daß es im offenen Meere und unter jeder Inſel Ma— | terien von einer beträchtlichen Dichte gäbe. | Das Schweigen der Entmutigung hat ſich nach und nach hinſichtlich dieſes erſtaun— lichen Widerſpruchs fühlbar gemacht, und die Verwirrung der Geiſter hat nicht we— nig dazu beigetragen, den Aufſchwung der wiſſenſchaftlichen Unternehmungen unſerer Marine zurückzuhalten. Aber ſo oft man in andern Ländern dieſe Schwerkraftmeſ— ſungen wieder aufgenommen hat, iſt jedes— mal derſelbe Widerſpruch wieder erſchienen. Er ſtellt ſich augenſcheinlich mit befonderer Kraft bei Gelegenheit der letzten indiſchen Meſſungen der Engländer dar: dem Hi de der Meere trifft man bei 4000 Meter Tiefe eine ſehr niedrige Temperatur von malaya zum Trotze ergaben alle Anziehun— gen in Engliſch-Indien negative Ergebniſſe. ki 465 Schon ſeit lange ift dieſe Unwirkſam— keit des Himalaya, welche uns heute auf doppelte Weiſe ſo frappant erſcheint, be— kannt. Sie wurde zum erſten Male durch den Erzbiſchof Pratt von Kalkutta in ei— ner Abhandlung hervorgehoben, die in Eng— land viel Aufſehen erregte. Der könig— liche Aſtronom Sir G. Airy verſuchte da— | mals ſelbſt eine Erklärung zu geben. Er funden, daß, wenn die Schwerkraft auf den nimmt an, daß dieſes Maſſiv, von ungefähr gleicher Dichtigkeit mit den Oberflächen— ſchichten der Erde, infolge ſeines Gewichtes mit ſeiner Grundfläche in die noch flüſſi— gen Schichten des Erdinnern tauche, de— ren Dichtigkeit größer iſt, ſo daß dadurch der Überſchuß ſeiner Anziehungskraft in der Höhe durch den Mangel der Anzie— hung der unten verdrängten Flüſſigkeit ausgeglichen wird. Aber dieſe geiſtvolle Schlußfolge würde ſich nicht den auf off— nem Meer beobachteten, in umgekehrtem Sinne ſprechenden Pendel-Erſcheinungen anpaſſen. Pratt ſchließt daraus einzig, ohne damit ein phyſiſche Urſache bezeichnen zu wollen, daß die Dinge ſich ſo verhalten, als wenn es unter den Kontinenten einen Mangel und unter den Meeren einen Über— ſchuß von Materie gäbe, ſo daß jede bis zum Mittelpunkt der Erde fortgeſetzte Ver— tikalſäule in jeder Region dieſelbe anzie— hende Kraft auf einem Punkte der Ober— fläche beſäßen. Damit iſt nur die Frage geſtellt, aber keine Löſung gegeben. Dieſe Löſung, meint Faye, könnte wohl im folgenden liegen. Unter den Meeren ſchreitet die Erkaltung der Erdkugel ſchneller und tiefer fort, als unterden Kontinenten. Im Grun— Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 59 466 1° — 1,5 an. Beidiefer ſelben Tiefe würde man unter einem Kontinente 1604 = 149° antreffen. So ftellt die feſte Ober— fläche der Erde ſich unter den beiden nach— folgend erörterten Bedingungen ſehr un— ähnlich dar. Unter einem Kontinente wird die Oberfläche eines 4 Kilometer tief lie- genden Niveaus durch eine darüber lie— gende, für die Wärme beinahe undurch— dringliche Schicht auf 149° erhalten; wenn | überhaupt ein Wärmeſtrom hindurchdringt, ſo iſt er beinahe unmerklich und kann nur zu einer Erkaltung um einen kleinen Bruch— teil eines Grades beitragen. Dort ver— mehrt ſich die Erdkruſte in der Folge der Zeitalter kaum an Dicke. Unter dem Meere dagegen iſt die in derſelben Tiefe belegene Oberfläche in beinahe unmittelbarer Wech— ſelwirkung mit der Kälte des Raumes, die ſich auf 10 anſtatt der 150° beziffert, und anſtatt über ſich eine der Wärme un— durchdringliche Schicht von 4 Kilometern zu haben, hat ſie eine Waſſerſchicht über ſich, die ſicherlich ſehr wenig leitend iſt, in welcher aber der geringſte Wärmezufluß unmittelbar durch die Polarſtrömungen abſorbirt wird. Derſelbe Unterſchied fin— det ſich noch tiefer wieder, denn die Durch— tränkung der Schichten, auf denen das Meer ruht, dringt ſehr viel tiefer, als die unter den Kontinenten; daher eine fernere ra— pidere Abkühlung nicht durch Leitung, ſondern durch vertikales Aufſteigen des er— hitzten Waſſers in poröſen Schichten. Von einer je älteren Epoche die gegenwärtigen Meeresbecken datiren, um ſo dicker wird die Kruſte ſein, auf welcher ſie ruhen, im Verhältnis zu derjenigen der Kontinente. Schließlich werden die poröſen Subſtanzen, welche Waſſerdampf in mehr oder weniger diſſoziirtem Zuſtande enthalten, unter den e 9 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Kontinenten näher an der Oberfläche liegen, als unter den Meeren. (Revue scientifique. Juin 1880. No. 49.) Aber den Einfluß der Bewegung und anderer phyſikaliſchen Verhäll— niſſe des Waffers auf die Formen der Vaſſerpflanzen hat Dr. W. Behrens in Braunſchweig in dem letzten Jahresberichte der Naturwiſ— ſenſchaftlichen Geſellſchaft zu Elberfeld einen vorläufigen Bericht, dem ſpeziellere Unterſuchungen folgen ſollen, veröffent— licht, aus dem wir das Nachſtehende größtenteils wörtlich entnehmen: „Es iſt eine ſehr merkwürdige That— ſache, daß ſolche Pflanzen, die untergetaucht im Waſſer oder auf der Oberfläche desſel— ben leben, je nach der ſtärkeren oder ge— ringeren Bewegung des flüſſigen Elemen— tes eine verſchiedenartige Geſtalt des Sten— gels, der Blätter und anderer Organe an— nehmen. Die Pflanze, welche in einem fließenden Gewäſſer wächſt, ſo zwar, daß ſie auf dem Grunde desſelben feſtge— wurzelt iſt, wird durch die bewegende Kraft des Waſſers einen Druck, reſpektive einen Zug zu erleiden haben, welcher der Kraft der ſich fortbewegenden Flüſſigkeit gerade— zu proportional iſt. Bietet nun eine Pflan— zenart, welche zugleich in ſtehenden, in langſam undin ſchnell fließenden Ge— wäſſern wächſt, gewiſſe Abweichungen, die aber für jede Art von Gewäſſern konſtant ſind, fo liegt es auf der Hand, daß dieſe durch die kinetiſchen Einflüſſe des Waſſers hervorgerufen wurden. Pflanzen, welche nur in einer Art von Gewäſſern angetroffen werden, können — ſelbſtverſtändlich äquivalente Variationen ihr verhält ſich der Querdurchmeſſer des nicht aufzuweiſen haben. So unſer einhei— miſcher Froſchbiß, Hydrocharis Morsus ranae. Das ſchöne Pflänzchen wird nur auf der Oberfläche ſtehender Gewäſſer (Gräben, Teiche) ſchwimmend angetroffen; ſeine Blätter ſind ſtets breit-nierenförmig, nie anders geſtaltet. Ebenſo verhält ſich der ſüdamerikaniſche Vertreter der Hydro— charideen, Trianea bogotensis, welche ihre glänzenden, ei-nierenförmigen Blätter nur auf unbewegten Waſſerflächen ausbreitet. Sehr mannigfach aber iſt im Gegenſatze hierzu die Variabilität der Blätter des Laichkrautes, Potamogeton natans, das ſowohl in ſtehenden wie in fließenden Ge— wäſſern angetroffen wird. Unſere gewöhn— liche Form der Teiche, P. natans vulga- ris“), hat ſchwimmende, ovale Blätter, deren Querdurchmeſſer ſich zum Längen— durchmeſſer verhält wie 1 zu 1,5. Ganz anders iſt die Blattgeſtalt im fließenden Waſſer; ſie wird deſto ſchmäler und län— ger, je ſtärker der Strom iſt“ ); in reißend ſtrömenden Waſſergräben wird ſie ſchmal lanzettlich. So findet ſich beiſpielsweiſe an derartigen Lokalitäten auf der Inſel Borkum eine Form, die dem Schraderſchen ) Mertens und Koch, Deutſchlands Flora. Bd. I. S. 857. — Koch et Ziz, Catalogus plantar. Palat., p. 18 (P. natans L. et auct.). ) Mertens und Koch führen (a. a. O., S. 837 840) eine ganze Reihe ſolcher Varie— täten und Untervarietäten der Pflanzen auf und geſtehen ſchließlich, daß es gar nicht möglich ſei, ſie alle zu beſchreiben: „Man könnte leicht noch mehrere, weniger auffallende Abarten aufſtellen; wir halten aber eine ſolche Vermehrung unbe— deutender Abarten für eine Bürde der Wiſſen— ſchaft, denn es findet niemand mit Sicher— heit wieder, was man gemeint hat“ (a. a. O., S. 840). Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ä 467 Potamogeton serotinus“) entſpricht; bei Blattes zum Längendurchmeſſer wie 1 zu 3. Pflanzen, welche ſich in hohem Grade für die Unterſuchung über den Einfluß des Waſſers auf die Ausbildung der Phyllome eignen, ſind die Waſſerranunkeln (Batrachium).“ ) Denn einesteils kom— men manche Arten derſelben in allen Sor— ten von Gewäſſern vor und andernteils beſitzen ſie zwei Arten von Blättern (we— nigſtens in der Mehrzahl der Fälle), näm— lich ſchildförmige ſchwimmende und borſt— lich-vielſpaltige, zerſchlitzte untergetauchte. Auch ſind ſie nicht exkluſiv an das Süß— waſſer gebunden, ſondern ſie finden ſich ſogar, wenn auch vereinzelter, in den Brackwaſſern der Küſte, wo ihr dichtes Blättergewirr häufig von dem muntern Volke der Granatkrebſe (Crangon und Hippolyte) bewohnt wird. Endlich trotzen ſie ſelbſt dem Austrocknen des Waſſers mit Erfolg; ſie laſſen ſich daher in verſchie— denartigſten Umgebungen und unter den heterogenſten äußeren Einflüſſen ſtudiren. Wenn zunächſt das in hochgelegenen Schweizerſeen ſich findende zierliche Ba— trachium Rionii Lagger sp., welches ich *) Koch, Taſchenbuch der deutſchen Flora, S. 479. *) Schon Erasmus Darwin (The Temple of Nature, p. 30) und Lamarck hat⸗ ten die Waſſerranunkeln in dieſer Richtung ſtu— dirt. Der letztere ſagte darüber in ſeiner Philo— ſophie der Zoologie (deutſche Ausgabe von A. Lang, S. 118): So lange der Ranunculus aquaticus ins Waſſer eingetaucht iſt, ſo ſind ſeine Blätter ganz fein ausgeſchnitten mit haar— förmigen Ausſchnitten; erreichen aber die Sten— gel dieſer Pflanze die Oberfläche des Waſſers, ſo werden die Blätter, die ſich in der Luft ent— wickeln, verbreitert, abgerundet und einfach ge— lappt. Wenn es einigen Schößlingen derſelben 4 468 Kleinere Mitteilungen nur ſehr flüchtig unterſuchen konnte, aus- geſchloſſen wird, ſo dürften ſich die zentral- europäiſchen Arten von Batrachium wohl auf folgende vier Formenreihen reduziren laſſen: 1) Batrachium hederaceum E. Meyer, 2) Batrachium aquatile E. Meyer, 3) Batrachium divaricatum Wimmer, 4) Batrachium fluitans Wimmer. Batrachium hederaceum, weniger eine Waſſerpflanze als vielmehr eine Sumpfpflanze, iſt eine ſehr typiſche Er— ſcheinung; durch die eine Form flächen— artiger, nierenförmiger, etwas eingelapp— ſcharf umgrenzt.“) Batrachium aquatile, eine Pflanze, welche bereits Dioskorides bekannt war und von ihm Bargayıov (de m. m. 2,206) und Journalſchau. Batrachium divaricatum, die nur in Teichen und anderen ſtillſtehenden Ge— wäſſern vorkommt, variirt daher bezüg— lich der Blattgeſtalt kaum. Alle Blätter ſind ſubmers, fein geſchlitzt, die Zipfel ſtarr und rund um den Stengel verteilt, ſo daß ſie in eine faſt kreisförmige Fläche ausgebreitet ſind. Dadurch erhält die Pflanze den ihr eigentümlichen Habitus, der ſie ſofort von dem ſonſt ähnlichen B. aquatile unterſcheidet. Ob ſie auch mit ſchwimmenden, flächenförmigen Blättern vorkommt, weiß ich nicht; ich habe nie | ſolche angetroffen, auch in den Floren ter Blätter, durch die kleinen Blüten, durch den eigentümlichen Wuchs iſt dieſe Art genannt wurde, bietet uns ein wahres Chaos von „Varietäten“. Es iſt eine von den Arten, die Linné als ſchlechte be— zeichnet haben würde, die aber heutzutage, wo man das Dogma von der Artkonſtanz aufgegeben, als gute angeſehen werden müſſen, inſofern als ſie zu denen gehören, die eine Inkonſtanz ad oculus demon- ſtriren. Sie ſoll unten noch genauer be— ſprochen werden. Pflanze gelingt, im feuchten, aber nicht unter Waſſer ſtehenden Boden zu treiben, ſo ſind ihre Stengel kurz und ihre Blätter nicht in haar— förmige Ausſchnitte geteilt, wodurch der Ra— nunculus hederaceus entſteht, welchen die Bo- taniker als eine beſondere Art betrachten. ) Meines Wiſſens hat nur Spenner (Koch, a. a. O., Bd. IV, S. 148) einſt ver⸗ ſucht, die Pflanze mit B. aquatile (im Sinne Kochs) als Ranunculus Hydrocharis zu ver— einigen. Übrigens ſoll, laut De Candolle (Systema naturale, Vol. I, p. 234) B. tri- keine diesbezüglichen Bemerkungen ge— funden. Batrachium fluitans iſt die robuſteſte Form der kosmopolitiſchen“) Gattung. Sie findet ſich in ſchnellfließenden Bächen und Strömen, ſelbſt in größeren (3. B. der Weſer). Schon De Candolle war es bekannt, daß die Länge ihres ſubmerſen Blattzipfels auf den Einfluß des ſtrömen— den Waſſers zurückzuführen ſei, indem er ſagt: „Foliorum laciniae aquarum motu elongantur et parallelae flunt.“ *) In kleineren Flüſſen, z. B. in der Ocker unter— halb des Harzes, nehmen jedoch die Blatt— zipfel bisweilen auch eine ſpreitenförmige Beſchaffenheit an, welches Verhältnis zogen), eine franzöſiſche Form, den Übergang zu B. aquatile vermitteln. De Candolle, I. c.: „Species omnino media inter Ranunculum hederaceum et aquatilem.“ ) Die Gattung Batrachium iſt durch die gemäßigten Zonen beider Halbkugeln verbreitet. Bevölkert doch das zwergige B. biternatum Sn. die Waſſerläufe, welche ſich in die Magelhaeni— ſche Meerenge ergießen. Das Vaterland von B. fluitans und B. aquatile iſt Europa, Zentral aſien und das gemäßigte Nordamerika. partitum DC. sp. (jetzt zu B. aquatile ge- **) De Candolle, 1. c. p. 236. Ba * . wahrſcheinlich Garcke“) im Auge hat, wenn er ſagt, daß B. fluitans bisweilen mit ſchwimmenden Blättern abändere. Auch dieſe Art iſt „durch ſo auffallende und ſtandhafte Kennzeichen von den ver— wandten Arten geſchieden, daß man auch nicht einen Augenblick an ihrer ſpezifiſchen Verſchiedenheit zweifeln darf; im Freien wird ſie auch niemand mit den beiden vorhergehenden verwechſeln“, wie Koch“) bemerkt. Kehren wir jedoch, nachdem wir die Hauptformen von Batrachium kennen lernten, zu dem polymorphen B. aquatile zurück. Die Pflanze kommt zunächſt be— treffs der Beblätterung in zwei Grund— formen, nämlich mit ſchwimmenden, flächen— förmigen und untergetauchten, borſtlichen Blättern, zweitens nur mit untergetauchten borſtlichen Blättern vor. Die erſte Form mit zwei Blattſorten mag die ungleich— blättrige, B. heterophyllum, die letzte die haarförmige, B. trichophyllum, heißen. B. aquatile heterophyllum findet ſich vorzüglich in langſam fließenden Gräben, Bächen, in wenig bewegten Armen kleiner Flüſſe. Iſt das Waſſer nur ſehr langſam bewegt, ſo ſind die ſchwimmenden Blätter faſt kreisrund und ſchildförmig, es finden ſich an dem Rande nur fünf ganz ſchwache Ein— kerbungen; dieſe Form müßte B. aquatile heterophyllum peltatum genannt werden. In ſchneller fließenden Wäſſern geht dieſe Form allmählich in eine Reihe von Variationen über, welche alle durch die abweichende Geſtalt der ſchwimmenden Blätter charakteriſirt ſind: je ſchneller ) Garde, Flora von Nord- und Mittel- deutſchland, 1871, S. 9. ) Koch, Deutſchlands Flora, Bd. IV, S. 153. Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 469 nämlich das Waſſer, in welchem ſie wach— ſen, fließt, eine deſto ſtärkere Teilung, Lappen- und Zipfelbildung tritt an den in Rede ſtehenden Organen auf. Ich habe bis jetzt etwa dreißig ſolcher Abweichungen aufgefunden: hier mögen nur einige der— ſelben aufgezählt werden. Hinzugefügt werden mag noch, daß mir die reichſte Ausbeute diejenigen künſtlichen Waſſer— ſtraßen lieferten, welche unter der Bezeich— nung Siel (holländiſch zijl) die weidereichen Marſchgegenden Oſtfrieslands durchziehen, um ſchließlich in das Meer abzufließen. In etwas ſchneller fließenden Gewäſ— ſern werden die Blätter allmählich fünf— lappig; die Lappen ſind größer oder klei— ner, ganzrandig oder mit wenigen Ein— kerbungen verſehen, ihr Geſammtumriß iſt nierenförmig. Zwiſchen voriger und dieſer Form finden ſich zahlreiche Übergänge. Sie müßte den Namen B. aquatile hetero- phyllum quinquelobatum führen. An ſie ſchließt ſich die Form B. aqua- tile heterophyllum tripartitum. Die bei— den Baſallappen der ſchwimmenden Blät— ter ſind vollſtändig geſchwunden, die drei anderen keilförmig, ihrerſeits ſtark gekerbt, ſo daß die Kerben oft kurze Zipfel bilden. Das ganze Blatt iſt kleiner als bei den vori- gen, zumal die zu unterſt am Stengel be— findlichen; ſie ſind den benachbarten borſt— lichen bezüglich der Form ſchon in gewiſ— ſem Grade ähnlich. Dieſe Form findet ſich in ziemlich ſchnell fließenden Gräben. Ein noch weiterer Schritt zur Um— wandlung der flächenförmigen Blätter in borſtliche findet ſich bei einer Form an ähnlichen Lokalitäten, die ich in Oſtfries— land und bei Braunſchweig angetroffen habe und von der ich nicht weiß, ob ſie | ſchon beſchrieben iſt. Die ſchwimmenden 470 Blätter find in der Jugend dreiteilig und beſitzen einen tief gekerbten Rand. Beim ſpäteren Auswachſen ſtrecken ſich die durch die Kerbung gebildeten Zipfel ſehr in die Länge, werden einander parallel und äh— neln dann den Borſtenzipfeln der unterge— tauchten Blätter ungemein. Sie ſind je— doch an ihrer Baſis durch eine faſt kreis— runde Fläche grünen Blattparenchyms mit einander vereinigt und unterſcheiden ſich auch durch die Form des Blattſtieles von den wirklich borſtlichen Blättern. Dieſe Varietät mag „B. aquatile heterophyl- lum laciniatum“ heißen. Schließlich ſchwinden im ſehr ſtark be— wegten Waſſer auch dieſe Andeutungen flächiger Blätter und es reſultirt dann die bekannte Pflanze mit nur einer Sorte unter— getauchter, borſtlicher Blätter: B. tricho- phyllum. Eine äußerſt merkwürdige Varietät des B. aquatile entſteht jedoch ſowohl aus der gleichblättrigen wie aus der verſchie— denblättrigen, wenn im Frühjahr das Waſſer des Grabens oder der Sumpf— lache, in welcher das junge Batrachium— pflänzchen keimte, allmählich austrocknete; die Waſſerpflanze wird nämlich in dieſem Falle zum Landgewächs. Der Stengel richtet ſich auf, bleibt aber kurz; er bedeckt ſich dicht mit Blättern, welche eine ſchöne laubgrüne Farbe beſitzen und ſämmtlich in ſehr viele fädliche, aber etwas dicke und ſtarre, kurze und ſaftige Zipfel geteilt ſind. Hierdurch entſteht dann die von den Sy— ſtematikern als Batrachium succulen- tum“) (Ranunculus pantothrix #**) be- ſchriebene Form, die wohl immer als zu ) Vergl. Mertens und Koch, a. a. O., Bd. IV, S. 151. ) De Candolle, 1. e., T. I, p. 234. 7 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. B. aquatile gehörend erkannt wurde. Sie würde alſo B. aquatile succulentum ge— nannt werden müſſen. Dieſes ſind einige der vielen Varie— täten, welche durch das umgebende Me— dium an den Pflanzen erzeugt werden. Alle genannten, im Waſſer lebenden Va— rietäten können aber noch unabhängig von der Blattform bezüglich der Beſchaffenheit ihrer Blätter variiren, eine Eigentümlich— keit, die mit der Ausbildung der die unter— getauchten Blätter durchziehenden Fibro— vaſalſtränge in Verbindung gebracht wer— den muß. Hebt man nämlich eine unter— getauchte Pflanze von B. aquatile aus dem Waſſer heraus, ſo fallen in einem Falle die Blätter ſchlaff zuſammen, indem ſie etwa die Geſtalt eines Pinſels anneh— men, während ſie andernfalls ſtarr aus— gebreitet bleiben, ihre Borſtenzipfel (wie im Waſſer) nach allen Richtungen gerade ausſtreckend. Die erſte Form wollen wir als die ſchlaffe (laxa), die zweite als die ſtarre (rigida) unterſcheiden. Endlich va— riiren alle bis jetzt genannten Formen von B. aquatile in der Blütengröße: die Blü— tenblätter ſind entweder groß, während ſich an Staubgefäßen etwa 30 vorfinden (ma— cranthum), oder die Kronblätter find klein und die Anzahl der Staubgefäße beträgt 5—15 (mieranthum).*) Zur bequemeren Überficht mag die folgende Tabelle alle hier beſprochenen Hauptformen von B. aquatile zuſammen⸗ faſſen. a A. Formen des ſchnellfließenden Waſſers: Batrachium aquatile trichophyllum. 1) B. aq. tr. laxum macranthum, ) Dieſe Variation wurde von Tauſch als Ranunculus paueistamineus, von Chair als R. trichophyllus bezeichnet. ER Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 2) B. aq. tr. laxum micranthum, 3) - - - rigidum macranthum, 4)- - - - B. Formen des langſamer fließenden, reſp. ſtehenden Waſſers: Batrachium aquatile heterophyllum. micranthum. 5) B. ag. het. lax. lacin. macr., GN mien, RRrrigid. maer., R micr,, 9)- - «ex. tripart. macr,, RR - micr., rigid. mar, D RR re — mier., 13) - - lax. 5 lobat. maer., 14)- - - - - micr., 15) rigid. macr., GO E - mier., 17) - lex. peltat. macr., I mien, 19)- - rigid. macr., 2 „ - mier. C. Landformen: Batrachium aquatile succulentum. 21) B. aq. suc. macranthum, 22)- - micranthum. Wie bemerkt, ſoll die vorſtehende Ta— belle nichts vollſtändiges bieten. Mit Abſicht wurden ganze Formengruppen fortgelaſ— fen; fo kann man z. B. bei dem verſchieden— blättrigen dreiteiligen und fünflappigen B. aquatile eine geſpitzte und eine trun- kate Form unterſcheiden, je nachdem die beſprochenen Blattzipfel zugeſpitzt oder abgeſtutzt ſind ꝛc. Ferner betrifft unſere ganze Auseinanderſetzung nur die Süß— waſſerformen vom Waſſerhahnenfuß; die Brackwaſſerformen, zu denen ich auch B. Baudotii Godr. sp. und B. confusum Godr. sp. rechne, find zunächſt ausge: ſchloſſen, da meine Unterſuchungsreihe 471 über dieſelben noch bei weitem nicht voll— ſtändig iſt. Soviel zunächſt über die Batrachien. Möge dieſe kurze Zuſammenſtellung an— geſehen werden als ein allgemein gehalte— ner Vorläufer für eine ſpäter zu publi— zirende Abhandlung, in welcher die ana— tomiſchen Ergebniſſe niedergelegt werden ſollen, die ſich an dieſem Orte ohne Ab— bildungen nicht klar machen ließen. Für die hartnäckigen Skeptiker, welche mit wahrem Eigenſinn die Konſtanz der Arten verteidigen, ſind ſolche Auseinander— ſetzungen vor allem lehrreich. Das ein— gehende Studium einer Art mit allen ih— ren Varietäten, Untervarietäten, Formen, ſelbſt individuellen Verſchiedenheiten kann eben ſehr intereſſant und von Belang für biologiſche Fragen werden; freilich nur dann, wenn man beſtrebt iſt, die Urſachen, die Kauſalitätsbedingungen, welche jenen Abweichungen zugrunde liegen, eingehend und vorurteilsfrei zu würdigen. Hingegen das Unterſuchen und Beſchreiben poly— morpher Pflanzenarten, wie Rubus, Scle- ranthus, Hieracium, Salix und anderer, nur um ihrer ſelbſt willen und mit der Tendenz, ſie in möglichſt viele ſelbſtändige, geſonderte Arten zu zerſpalten, das über— laſſen wir getroſt ſolchen — welche nichts beſſeres zu thun haben. Eine Süß waſſermeduſe.“) Wenn man auch mitunter in Fluß⸗ mündungen mit brackiſchem Waſſer ver— ) Dieſer Artikel giebt einen Auszug aus einer Reihe von Artikeln, die in den Juni- und Julinummern der engliſchen Zeitſchriften Nature (Jr. 555 558) und Popular Seience-Review erſchienen ſind. ) 472 irrte Meduſen beobachtet hat, ſo war doch bisher keine im ſüßen Waſſer lebende Me— duſe bekannt. Um ſo mehr mußte es den Sekretär der Londoner Botaniſchen Geſell— ſchaft, Sowerby, in Erſtaunen verſetzen, als er am 10. Juni dieſes Jahres in dem Becken des Victoria regia-Haufes im Regent-Park Maſſen von meduſenartigen Tieren wahrnahm, von denen er alsbald den ausgezeichneten Kennern niederer Or— ganismen, Prof. Geo. J. Allmann und Prof. Ray Lankeſter, Exemplare zu näs | herer Unterſuchung mitteilte. Beide be— ſtätigten zu ihrer größten Überraſchung ſofort, daß es ſich um echte Meduſen han— dele, die mit ausländiſchen Pflanzen ein— geſchleppt ſein müſſen. Woher? iſt ſchwer zu ſagen, denn die Viktorien werden in dem mehrere Monate trocken liegenden Becken regelmäßig aus Samen gezogen, und ſeit zwölf Monaten war keine neue Pflanze dort eingeführt worden. Wahr— ſcheinlich ſtammen ſie aus Weſtindien, von wo die letzten Einführungen hergekommen ſind. Jedenfalls haben ſie ſich in dem 85 bis 90 Fahrenheit warmen Waſſer des Beckens ganz munter befunden, denn ſie haben ſich ſtark vermehrt, und vielleicht iſt Ausſicht vorhanden, unſere Süßwaſſer— aquarien mit dieſer neuen und intereſſan— ten Tierklaſſe zu bereichern, da die kleinen Daphnien, von denen ſie dort leben, ſich überall finden. Die Meduſe gehört zu der Abteilung der nacktäugigen Meduſen (Gymnophthal- mae) von Forbes. Die meiſten ſind nur wie eine halbe Erbſe groß, aber einige haben bis zu einem halben Zoll Durch— meſſer erreicht. Sie ſtellen eine nahezu halbkugelige Glocke dar, von deren Mitte ein langer Magen bis etwas über den Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Rand der Glocke herabhängt. Die Glocke oder Umbrella wird von vier Strahl— kanälen durchzogen, welche von dem An— ſatzpunkte des Magenrohres ausgehen und zum Rande der Glocke laufen. Innerhalb dieſer Kanäle befinden ſich die ovale Säcke darſtellenden Generationswerkzeuge (Go⸗ naden), welche entweder Eier oder Samen— fäden enthalten, da die Tiere eingeſchlecht— lich ſind. Die Offnung der Glocke wird, wie bei allen nacktäugigen Meduſen, durch eine Membran (das Velum oder den Schleier) verengt, der ſich von dem Rande der Scheibe nach innen ausbreitet und welcher eine große Zahl von Fangarmen (Tentakeln) trägt, von denen vier größer und länger als die übrigen ſind und den vier Radialkanälen in ihrer Stellung ent— ſprechen. Bei größeren Exemplaren zählte Profeſſor Lankeſter ſieben ſekundäre Ten— takel in jedem Zwiſchenraum zwiſchen zwei primären Tentakeln, während die Zwiſchen— räume zwiſchen je zwei ſekundären Ten— takeln durch je ſieben tertiäre Tentakeln eingenommen werden. Dies ergiebt 240 als die Totalzahl der Tentakeln bei einem ganz ausgebildeten Tiere. Die längs der Anheftungslinie des Velums befindlichen Randbläschen (Otozyſten), welche man für Gehörsorgane anſieht, erreichten die Zahl 80, und von jedem derſelben erſtreckt ſich ein feiner Kanal in das Velum, eine Eigen— tümlichkeit, welche, wie Lankeſter meint, wahrſcheinlich die neue Meduſe zum Ver— treter einer neuen Familie oder Unterord— nung erheben wird. Was die genauere ſyſtematiſche Stel— lung des ſo unerwartet gefundenen neuen Tieres angeht, ſo weichen die Meinungen der beiden Beobachter einigermaßen von einander ab. Ray Lankeſter, der die ———4—äñ — — , * Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 473 Meduſe zuerſt beſchrieben und Craspeda- hervortretend durch die ſchon erwähnte custa Sowerbii genannt hat, dieſen Na— men aber unnötigerweiſe zu gunſten des Allmannſchen Namens Victoria zurückgezogen hat, glaubt, daß die neue Meduſe zu den Trachomedu— Limnocodium ſen, Familie Petasidae in Haeckels „Syſtem der Meduſen“ (1880), gehöre und der von Fritz Müller beſchriebenen Aglauropsis der braſilianiſchen Küſte zu— nächſt ſtehe, während Allmann meint, ſie ſtehe zwiſchen Trachomeduſen und Lepto— meduſen, den letzteren näher. Da aber Ray Lankeſter bereits die Entwicklungs— geſchichte des neuen Organismus beobach— tet und ſie mit der einer echten Tracho— meduſe übereinſtimmend gefunden hat, ſo folgen wir ſeiner Klaſſifizirung in dem nachſtehenden. Das Tier bietet die gemeinſamen Cha— raktere der von den Narkomeduſen geſchie— denen Trachomeduſen dar, inſofern als ſeine Genitalſäcke oder Gonaden im Laufe der Radialkanäle verteilt ſind. Es ſtimmt Eigentümlichkeit, daß zentrifugale, blind auslaufende Kanäle von den Randbläs— chen in den Schleier ausſtrahlen. Die Tentakeln ſtehen am Rande der flachen Scheibe mit lang herunterhängen— den viereckigen Röhrenmagen in drei über— einandergeſtellten Kreiſen, und zwar ſind 4 primäre, 28 ſekundäre (in Gruppen von 7 Stück) und 192 tertiäre, in Gruppen zu 6 Stück ſtehende Tentakeln vorhanden. Von den Tentakeln aller drei Horizonte gehen Mantelſpangen zum Neſſelring. Randbläschen oder Otozyſten wurden bei größeren Exemplaren an achtzig Stück bemerkt, Randkörper mit lichtbrechenden Medien (Ocelli) fehlen gänzlich. Merkwürdig iſt, daß trotz der großen Zahl der Männchen kein Weibchen beob— achtet wurde, die alſo, wie bei manchen andern Trachylinen, den Männchen gegen— über in Minderzahl vorzukommen ſcheinen. Die Entwicklung iſt eine direkte und der mit ſämmtlichen Tracholinen (Trachome- dusae und Narcomedusae) darin überein, daß es endodermale Randkörperchen (Oto— zyſten) beſitzt und ferner ſolide Tentakeln mit knorpliger Axe, Mantelſpangen und den bei manchen Tracholinen beobachteten Neſſelring aufweiſt. Unter den Trachomeduſen gehört ſie zu den Petasidae, die durch vier Radial— kanäle, in deren Verlauf die vier Gonaden liegen, und durch den langen röhrenförmigen Magen ohne Magenſtiel charakteriſirt ſind. große Zahl ihrer Tentakeln, welche alle ſolid ſind und durch ihre ſehr zahlreichen Randbläschen (Otozyſten) ausgezeichnet. Ferner iſt ſie unter allen Hydromeduſen RER Embryo mit den vier kleinen primären Tentakeln gleicht ſtark demjenigen der Rüſſelqualle (Geryonia), alſo der typi— ſchen Trachomeduſenform. Über die Phyſiologie dieſes inter— eſſanten Tieres hat George J. Ro— manes einige Mitteilungen gemacht, de— nen wir das folgende entnehmen. Die natürlichen Bewegungen desſelben gleichen genau denen ſeiner marinen Ver— wandten, beſonders derer, die nicht fort— während ſchwimmen, ſondern in Pauſen. In dem 85° Unter den Petaſiden iſt ſie durch die CH Fahrenheit warmen Waſſer des Viktoriahauſes ſind die Pauſen häufig und der Rhythmus der Bewegungen un— regelmäßig, was dem Tiere einen Anſchein von Intelligenz giebt, beſonders jüngeren Individuen. Im kältern Waſſer (65 bis Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 60 . 474 75° F.) find die Bewegungen regelmäßiger | | pfindlich gegen ſüßes Waſſer, und da die und beſtändiger, ſo daß Romanes nach ſeinen mit marinen Arten gemachten Er- „ „ I fahrungen ſchließt, daß die Temperatur des natürlichen Wohnorts dieſer Meduſe nicht ſo hoch ſein kann, wie die des Waſ— ſers in dem Viktoriahauſe. Im Waſſer dieſer Temperatur ſteigt das Maß des Rhythmus zuweilen zu enormer Höhe, bis auf drei Pulſationen in der Sekunde. Aber durch allmähliche Abkühlung des Waſſers kann man, gerade wie bei den marinen Arten, dieſes Maß bedeutend beträgt das Maximalverhältnis, welches Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Alle marinen Meduſen ſind ſehr em— Süßwaſſerart wahrſcheinlich von marinen Ahnen abſtammen muß!), fo ſcheint es eine intereſſante Frage zu ſein, in wie weit dieſe Spezies an Seewaſſer möchte gewöhnt werden können. Der Vergleichung wegen will ich zuerſt kurz die Wirkungen des ſüßen Waſſers auf marine Arten beſchreiben. “) Wenn eine in Seewaſſer lebhaft ſchwim— mende nacktäugige Meduſe plötzlich in Süß— waſſer verſetzt wird, wird ſie augenblicklich zuſammenfallen, bewegungslos werden und herabmindern, und in Waſſer von 65% F. auf den Boden des Gefäßes ſinken. Dort Romanes beobachtet hat, SO Pulſatio- nen in der Minute. Während die von ihm unterſuchten marinen Arten höchſtens 75 F. Waſſerwärme ertrugen, wurden Se der neuen Süßwaſſerart erſt 100 F. ge— | fährlich; während andrerſeits die marinen Arten irgendwelche Kältegrade ohne Ab— ſterben aushalten, ſogar nach Gefrieren und vorſichtigem Auftauen ihre Pulſatio- nen wieder beginnen, iſt dies nicht mit der Süßwaſſermeduſe der Fall. Sie wurde durch Gefrieren völlig getötet. Das Tier ſucht das Sonnenlicht. Wenn eine Seite des Behälters beſchattet wird, ſammeln ſich alle auf der andern unbe- ſchattet gebliebenen. Ferner ſchwimmen Oberfläche des Waſſers, aber wenn die Sonne untergeht, ſinken ſie ebenfalls un— ter und können nicht länger geſehen wer— den. In allen dieſen Gewohnheiten glei— chen ſie vielen Meeres-Arten. Sie ſind nicht ſelbſtleuchtend. In einigen Viviſektionsverſuchen ver— hielten ſie ſich teils ähnlich, teils ſehr ver— ſchieden von beſtimmten marinen Arten. und andauernd geſchwächt. wird ſie bewegungslos bleiben, bis ſie ſtirbt, aber wenn ſie vorher wieder in See— waſſer zurückverſetzt wird, wird ſie ſich wie— der erholen, vorausgeſetzt, daß ſie nicht zu lange im Süßwaſſer geweſen iſt. Sie überleben nach Romanes Erfahrungen niemals einen Zeitraum von 15 Minuten, können dagegen einen ſolchen von zehn Mi— nuten und pflegen allgemein einen ſolchen von fünf Minuten zu überleben. Aber obgleich ſie auf unbeſtimmte Zeit zu leben fortfahren, iſt ihre Kraft erſichtlich Inzwiſchen überdauert im Süßwaſſer die Reizbarkeit noch eine kurze Zeit die Lebensfähigkeit und Stiel wie Tentakeln ſind kräftig zu— rückgezogen. fie während der Tagesſtunden oben an den — — 1. *) Anm. der Red. Ausgehend von der enormen Zahl mariner Arten hält der Verfaſſer die Abſtammung der alleinſtehenden Süßwaſſer— meduſe von ihnen mit Recht für wahrſcheinlicher, als den umgekehrten Fall. Allein da wir auch Süßwaſſerſchwämme und -polypen haben, wäre der letztere Fall dennoch nicht undenkbar, und namentlich könnte die Meduſe denkbarerweiſe von unbekannten Süßwaſſerpolypen abſtammen. ) Der genauere Bericht befindet ſich Philos. Transact. Vol. CLXVII, p. 744. 6 waſſer⸗Meduſe zurückkehren, jo iſt, wenn wird, ungefähr in den erſten fünfzehn Se— kunden kein Wechſel in ihren Bewegungen gezogen ſeien mögen. Aber dann, oder ei— nige Sekunden ſpäter, tritt eine Reihe von zwei oder drei toniſchen Krampfanfällen ein, die von einander durch einen Zwiſchen— raum von wenigen Sekunden getrennt ſind. krampfartigen Konvulſionen, welche ver— ſchiedene Teile der Glocke unregelmäßig rechnet, hört alle Bewegung auf, und die von Reizbarkeit vorhanden. Nach fünf Minuten langem Aufenthalt in Süßwaſ— ſer zurückverſetzt, tritt unmittelbar ein ſtar— ker und anhaltender toniſcher Krampf ein, welcher der Totenſtarre gleicht, und das Tier bleibt für ungefähr 20 Minuten re— gungslos. Leichte krampfartige Zuſam— menziehungen, welche indeſſen nicht die ganze Glocke, ſondern nur Teile betreffen, beginnen dann ſich zu erheben. Die to— niſchen Krämpfe fahren fort, allmählich an Stärke zuzunehmen und geben dem Um— riſſe des Randes eine ſehr unregelmäßige Form; die krampfartigen Zuſammenzie— hungen werden ſchwächer und weniger häu— keit bleibt indeſſen noch für einige Zeit be— einer Reihe rhythmiſcher Kontraktionen ge— folgt. fig, bis fie zuletzt erlöſchen. Die Reizbar- ſtehen, ein Kniff mit der Pincette iſt von Der Tod tritt erſt nach einigen Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Wenn wir jetzt zu dem Fall der Süß⸗ | | fie zuerſt in Seewaſſer von 85“ F. getaucht | zu bemerken, obwohl die Tentakeln zurück- Während der nächſten halben Minute wer— | den die gewöhnlichen Zuſammenziehungen fortſchreitend ſchwächer, bis ſie in bloßen Stunden mit ſtarker und unregelmäßiger Zuſammenziehung ein. Wenn die Einwirkung des Seewaſſers nur zwei Minuten gedauert hat, tritt eine ähnliche Reihe von Erſcheinungen ein, aus— genommen, daß die freiwilligen krampfar— tigen Bewegungen in viel kürzerer Zeit als zwanzig Minuten eintreten. Aber eine Einwirkung von ſogar nur einer Minute bewirkt einen tötlichen Ausgang, wenige Stunden nachdem die Meduſe in Süßwaſ— ſer zurückverſetzt worden iſt. Die Berührung mit Seewaſſer bewirkt ein opaliſirendes Ausſehen und eine Zer— ſetzung der Gewebe, welche genau den treffen, erlöſchen. Nach ungefähr einer Minute, von der erſten Eintauchung an ge Einwirkungen des ſüßen Waſſers auf die Meerqualle gleicht. In Seewaſſer geſetzt ſchwimmt unſere Meduſe an der Ober— fläche infolge ihres geringeren ſpezifiſchen Glocke verharrt in teilweiſer Zuſammen- ziehung paſſiv. Es iſt dann keine Spur Gewichtes. In verdünntem Seewaſſer (50%) treten die vorangehenden toniſchen Kräm— pfe nicht ein, aber alle übrigen Phaſen ſind dieſelben, wenngleich auf eine längere Periode verteilt. In noch ſtärker verdünn— tem Seewaſſer (1:4 oder 6) tritt eine ſchrittweiſe Einbuße an Lebhaftigkeit ein, bis alle Bewegung aufhört, worauf kurz darauf auch die Reizbarkeit aufhört, während Ten— takeln und Magenrohr ausgebreitet blei— ben. Nach einer Stunde fortgeſetzter Ein— wirkung entwickelt ſich langſam und fort— ſchreitend eine intenſive Totenſtarre, ſo daß die Glocke zuletzt faſt zu einem Nichts zuſammengeſchrumpft iſt. Eine Einwir— kung weniger Minuten in dieſer Stärke geſtattet dem Tiere nachherige Wiederer— holung, wenn es in ſüßes Waſſer zurück— verſetzt wird. In noch ſchwächeren Mi— ſchungen (1:8 oder 1:10) dauert die Le— bendigkeit lange Zeit, aber das Tier wird 475 I | I 476 nach und nach weniger und weniger ener— giſch, bis es zuletzt nur noch ſchwache Pul— ſationen auf Reizung vollführt. In noch ſchwächeren Löſungen (1:12 oder 1:15) hält die Lebendigkeit ſtundenlang an und in Löſungen von 1:15—1:18 ſchwimmt die Meduſe tagelang. Man kann aus dieſer Darſtellung ſehen, daß die Süßwaſſermeduſe noch em— pfindlicher gegen Seewaſſer iſt, als die nacktäugigen Seewaſſermeduſen gegen Süß— waſſer. Ferner iſt die Süßwaſſermeduſe über alle Vergleiche empfindlicher gegen Seewaſſer, als die Seewaſſerarten gegen zunehmende Salzigkeit. Denn Romanes hat früher gefunden, daß die Seewaſſer— arten eine Eintauchung in geſättigte Salz— löſung mehrere Stunden überleben. Wäh— rend ſie in ſolcher Löſung mit ausgedehn— tem Rohr und Tentakeln bewegungslos verharren, etwa wie die in eine Miſchung von See- und Süßwaſſer (1:5) gebrachte Süßwaſſermeduſe, findet hier jedoch der große Unterſchied ſtatt, daß während der kleine Salzzuſatz dem Leben der letzteren verhängnisvoll iſt, hier die reichliche Ver— mehrung des Salzes keinen nachhaltig ſchädlichen Einfluß auf die marine Art äußert. „Es möchte ſcheinen,“ ſchließt Roma— nes ſeinen intereſſanten Bericht, „daß eine viel weniger tiefe phyſiologiſche Ver— änderung erfordert werden würde, um eine kanntlich iſt der Leuchtapparat bei dem flü— Meeresqualle für das Leben in Salzlake umzuwandeln, als um ſie zu befähigen, im ſüßen Waſſer zu leben. Dennoch iſt licher Subſtanz an der Bauchſeite des fünf— die Umwandlung ſtattgefunden und fo die letztere diejenige Richtung, in welcher vollkommen Platz gegriffen hat, daß nunmehr Seewaſſer auf die modifizirte Art giftiger wirkt, als Süßwaſſer auf die a 2 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. unmodifizirte. Darüber kann kein Zweifel ſein, daß die Umwandlung allmählich vor ſich ging — wahrſcheinlich bei den Ahnen der Süßwaſſermeduſe ſchrittweiſe hervor— gerufen wurde, während ſie durch die bracki— ſchen Waſſer der Flußmündungen höher und höher in das ſüße Waſſer der Flüſſe vor— drangen — und es würde, glaube ich, ſchwie— rig ſein, einen bemerkenswerteren Fall tiefer phyſiologiſcher Anderung bei Anpaſſung an veränderte Lebensbedingungen nachzu— weiſen. Wenn ein gegen Süßwaſſer ſo äußerſt intolerantes Tier, wie die See— meduſe, alle ſeine Gewebe trotzdem ſo ver— ändert haben kann, um ſich dem Gedeihen im ſüßen Waſſer anzupaſſen, und ſogar nach einer minutenlangen Einwirkung ſei— nes urväterlichen Elementes zu ſterben, ſo können wir ſicherlich keinen Grund finden, warum irgend ein Tier auf Erden oder in der See oder ſonſtwo nicht ſollte mit der Zeit befähigt worden ſein, ſein Element zu wechſeln.“ Das Leuchten der Johanniswürmchen iſt trotz der vielfachen Unterſuchungen, die dieſer poetiſchen Erſcheinung unſerer Sommerabende gewidmet wurden, bisher nur hinſichtlich der morphologiſchen und anatomiſchen Seite enträtſelt worden, während die phyſiologiſche und chemiſche Seite vollkommen im Dunkeln lag. Be— gelloſen Weibchen am ſtärkſten entwickelt, und beſteht aus einer Anhäufung von gelb— ten, ſechsten und ſiebenten Hinterleibs— ringes, woſelbſt ſie von einer dünnen, durch— ſichtigen Haut bedeckt iſt. Unter dem Mi— kroſkop zeigt ſich der Leuchtapparat aus a Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 477 reihenweiſe angeordneten Lappen beſtehend, die mit großen Zellen eines körnigen Pro— toplasmas angefüllt ſind. In die Mitte jedes dieſer Lappen dringt ein Tracheen— ſtamm, der zahlreiche Aſte zu den Zel— len ſendet. Außer dem Weibchen geht der Leuchtapparat auch der Larve und dem Männchen nicht völlig ab. Bei der erſte— | ven, die dem Weibchen, namentlich beim großen Johanniswürmchen (Lampyrisnoc- tiluca) ſehr ähnlich ſieht, iſt der Leucht— apparat rudimentärer und liegt im ſieben— ten Ringe, beim Männchen funktionirt er nur bei dem kleinen Johanniswürmchen (L. splendidula) kräftig und iſt bei der anderen deutſchen Art faſt verkümmert. Über die phyſiologiſche Seite dieſer merk— deshalb zur Erleichterung der Unterſuchung nach einem Mittel, es von der Willkür des würdigen Erſcheinung hat nun kürzlich der Naturforſcher Jouſſet de Bellesme auf Grund mehrjähriger Studien eine Ar— beit“) veröffentlicht, der wir das nachfol— gende entnehmen. Das Licht des Weib— chens vom großen Johanniswürmchen tft bis auf 150 — 200 Meter erkennbar und in unmittelbarer Nähe kann man dabei | ſcher als elektriſcher. Die letzteren erwie— leſen. Im Vergleich zu dem gelblichen Phosphoreszenzlichte des Phosphors iſt ſich in der That, denn während das elek— das Licht etwas grünlich, und bei genau erer Betrachtung des Leuchtapparats an den verſchiedenen Teilen desſelben ungleich | hell. Spektroſkopiſch unterſucht, ergaben alle drei Hinterleibsringe ein übereinſtim— mendes linienfreies Spektrum, in welchem das Grün am ſtärkſten, Rot ſchwächer, die brechbareren Anteile am wenigſten entwickelt ſind, ſo daß das Violett bei— nahe gänzlich fehlt. Zerdrückt verbrei⸗ ten ſie einen eigenartigen zwiebelartigen Geruch. nung ſtellt ſich ſo dar, als ob die durch 9 Journal de PAnatomie et de la Phy- siologie, T. XVI, Nr. 2, 1880. Gas ausſcheiden, wie die lebende Zelle | trifft, ſo ſchließt Jouſſet, daß er gas= die noch lebenden Tiere leuchteten dann N Wie ſchon Kölliker bemerkt hat, ſteht das Leuchten unter dem Einfluß des Wil— lens und Jouſſet de Bellesme ſuchte Tieres unabhängig zu jeder Zeit zu erre— gen, welches er in der Elektrizität und an— deren Nervenreizen, die oft erſt nach 68 Sekunden wirkten, fand. Entfernung der Kopfganglien durch einen ſcharfen Schnitt lieferte den ſichern Beweis, daß das Leuch— ten eine willkürliche Thätigkeit iſt, denn nicht mehr von ſelbſt, ſondern nur infolge äußerer Reize, und zwar ſowohl mechani— ſen ſich als die bequemſten für das Ex— periment. Zunächſt ſuchte der Experimentator die Annahme Matteuccis zu prüfen, ob wirk— lich die Berührung mit dem Sauerſtoff der Luft eine weſentliche Bedingung für das Zuſtandekommen des Leuchtens ſei, wie dieſer Forſcher aus der Veräſtelung der Atmungsröhren in den Leuchtorganen geſchloſſen hatte. Die Annahme beſtätigte triſch gereizte Organ jedesmal lebhaft auf— leuchtete, ſo lange es ſich in Sauerſtoff oder atmoſphäriſcher Luft befand, blieb dieſes Leuchten ſofort aus, wenn es in ein indifferentes Gas, wie Stickſtoff, Kohlen— ſäure oder Waſſerſtoffgas gebracht wurde. Was den ausgeſchiedenen Leuchtſtoff be— förmiger Art ſein müſſe, da für feſte oder flüſſige Stoffe durchaus kein Aus— führungsgang vorhanden ſei. Die Erſchei— den Willensnerven gereizten Organe ein 478 Kohlenſäure ausſcheidet, aber ein Gas, wel— ches in dem Augenblick, wo es an die Luft tritt und mit Sauerſtoff in Berührung kommt, leuchtend wird. Wir kennen bis— her nur ein einziges Gas, das Phosphor— waſſerſtoff, welches dieſe Eigenſchaft be— ſitzt, aber die Winzigkeit der ausgeſchiede— nen Gasmenge erlaubte weder die Iden— tität feſtzuſtellen, noch zu widerlegen. Mög— licherweiſe giebt es eine phosphorhaltige organiſche Verbindung, welcher dieſe Ei— ſchaft in erhöhtem Maße eigen iſt. Referent möchte hier an eine Erfahrung erinnern, die der Chemiker G. Maclean in Princetown vor einigen Jahren ge— macht hat. Derſelbe ſah am Abend eines Tages, an welchem er mit Phosphorwaſ— ſerſtoff gearbeitet und ohne Zweifel auch eine gewiſſe Menge deſſelben eingeatmet hatte, ſeinen ganzen Körper wie faules Holz leuchten, als ob aus den Poren ein leuchtender Körper ausgeſchieden würde. Allem Anſchein nach iſt der leuchtende Körper nicht vorrätig gebildet, ſondern wird erſt durch die Nerventhätigkeit er— zeugt, um dann ſogleich zu verbrennen. Daß die Zellen lebendig ſein müſſen, um dieſen Stoff zu bilden, ergaben beſtimmte Verſuche. Während nämlich die Zellen, wenn das Leuchtorgan zerriſſen wurde, in— folge des mechaniſchen Reizes eine Zeit hindurch neuen Leuchtſtoff produzirten und fortleuchteten, erloſch das Leuchten ſofort, wenn die Zellen durch Zerreiben zerjtört wurden. Ebenſo hoben giftige Subſtan— zen und lähmende Dämpfe, wie z. B. Atherdampf, das Leuchtvermögen auf, und Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 7 „Es iſt daher gewiß,“ ſchließt Jouſſet de Bellesme, „daß das Leuchten ein Ergebnis der Lebensthätigkeit in den Zel— len iſt und daß das Johanniswürmchen keine fertiggebildete leuchtende Subſtanz vorrätig hat, ſondern dieſelbe in dem Maße erzeugt, wie es dieſelbe braucht. Sobald irgend ein Reiz ſeine Leuchtzellen trifft, ſei es ein Nervenreiz oder ein ande— rer, ſo funktioniren dieſelben und erzeugen die leuchtende Subſtanz, welche in dem Maße ihrer Abſcheidung bei der Berüh— rung mit der Luft, welche durch die zahl— reichen, die Zellenhäufchen desLeuchtorgans in allen Richtungen durchziehenden Tra— cheen herbeigeſchafft wird, zerſetzt und vom Luftſauerſtoff verbrannt wird, ohne ſich anhäufen zu können.“ Jouſſet de Bel— lesme geht noch weiter und zieht aus ſei— nen Beobachtungen folgende allgemeine Schlüſſe: „Meine Unterſuchungen über die Lampyris und die Experimente, die ich an den Noktiluken gemacht habe, veranlaſſen mich,“ ſagt er, „die Phosphorescenz als eine allgemeine Fähigkeit des Protoplas- mas zu betrachten, die in einer Entbindung von Phosphorwaſſerſtoff beſteht. Dieſe Anſchauungsweiſe läßt uns leicht begrei— fen, auf welche Art ſo viel niedere, des Nervenſyſtems ermangelnden Tiere phos— phoreseirend ſind. Ferner bietet ſie uns den Vorteil, die Phänomene der Phos— phorescenz an lebenden Tieren mit den— die Reize blieben alsdann unwirkſam. Auch zeigte ſich bei lange fortgeſetzter Reizung wie bei allen nervöſen Thätigkei— ten ſchließlich Ermüdung der Leuchtorgane. PPP jenigen zu verknüpfen, die man an mecha— niſchen Materien beobachtet, welche in der Zerſetzung begriffen ſind. Wir haben da ein Beiſpiel mehr von einer Erſcheinung der biologiſchen Ordnung, welches ſich ſehr genau auf eine chemiſche Urſache zurück— | führen läßt.“ Ob der Vorgang bei anderen Leucht— tieren ein ähnlicher iſt, muß dahingeſtellt bleiben, bei den niederſten Leuchttieren der Meere würde man wahrſcheinlich kaum auf willkürliches Leuchten ſchließen können und eher ein einfaches Antworten auf äu— ßere Reize annehmen dürfen. Was den etwaigen Vorteil des Leuchtens für das Inſekt angeht, aus welchem man ſich die natürliche Züchtung dieſes Ver— mögens erklären könnte, ſo hat man ſeit alter Zeit angenommen, es handle ſich hauptſächlich für das geſchlechtstüchtige Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. 479 mittel für fremde Nachttiere. Der Um— ſtand, daß man das Leuchten mehr bei ungeflügelten als bei geflügelten Arten, die einer Gefahr leichter entfliehen können, trifft, und ihr zwiebelartiger Geruch deu— tet nämlich darauf hin, daß das Leuchten für das Nachttier dieſelbe Bedeutung ha— ben könnte, welches die grelle Trutzfarbe für das Tagtier beſitzt. Gleichwohl werden ſie nicht völlig dadurch geſchützt. In einer Note zu ſeinem „Botaniſchen Weibchen darum, dem Männchen jetz nen Aufenthalt aus der Ferne zu ver— rathen, und einige Naturforſcher haben gefunden, daß es genüge, an einem war— men Juniabend ein leuchtendes Weibchen auf der offenen Hand zum Fenſter hinaus— zuhalten, um alsbald ein oder mehrere Männchen anzulocken. Auch Jouſſet de Bellesme teilt dieſe Anſicht und führt dafür an, daß der Leuchtſtoff zur Zeit der Eireife am ſtärkſten abgeſchieden wird, ähnlich wie die Milchdrüſen und ähnliche mit den geſchlechtlichen Funktionen in Wech— tötlich verbrannt.“ ſelwirkung ſtehende Organe zur betreffen- den Zeit ihre Abſonderung beginnen. Referent muß hiergegen einwenden, daß bei einigen Arten nicht nur die Männchen, ſondern auch die geſchlechtsuntüchtigen Larven ſehr ſtark leuchten, und daß die erleichterte Auffindung der Weibchen kaum der Hauptnutzen ſein kann, da die Ge— ſchlechter jo vieler anderer Nachtinſekten einander einzig durch den Geruchsſinn oder das Gehör geleitet zu finden wiſſen. Viel- mehr nützt dieſen Nachttieren ihr Leuchten wahrſcheinlich als Vorteil für das tägliche Leben, ſei es, um ihre Feinde zu erſchrecken, oder um neugierige Thiere, von denen ſie leben, herbeizuziehen, oder als Erkennungs⸗ Garten““) erzählt Erasmus Darwin das Folgende: „Auf Jamaika werden in eini— gen Jahreszeiten die Feuerfliegen des Abends in großer Maſſenhaftigkeit wahr— genommen. Wenn ſie ſich auf den Boden ſetzen, verſchlingt ſie der Ochſenfroſch gie— rig, was zu einer ſonderbaren, aber grau— ſamen Methode, dieſe Thiere auszurotten, Anlaß gegeben zu haben ſcheint. Wenn nämlich rot glühende Stückchen von Holz— kohle des Abends in der Dämmerung, un— ter ſie geworfen werden, ſpringen ſie dar— nach und werden, ſie haſtig verſchlingend, Der Ochſenfroſch ſoll den Anſiedlern in den ſüdlichen Provinzen der Vereinigten Staaten wegen ſeiner überlauten Stimme allerdings ſehr ver— haßt ſein, allein ich kann nicht finden, daß derſelbe bis nach Jamaika verbreitet wäre. Sei dem, wie ihm wolle, die von mir ſchon anderwärts ausgeſprochene Vermutung, daß das Leuchten gewiſſer Nachttiere zu den ſeinen Eigentümern nützlichen War— nungsſignalen gehören dürfte, ſcheint mir die weitaus wahrſcheinlichſte. K. ) The Loves of Plants, Canto IV. Londoner 2. Ausg. von 1790, S. 149. — — — —— — © 480 Analomiſche Abereinſlimmung im SHkefett ſoſſiler Replilien mik dem— jenigen pfacenfalofer Säugetiere. Die Abſtammung der Säugetiere iſt bekanntlich noch ein Rätſel und obwohl Huxley neuerdings mit Nachdruck darauf hingewieſen hat, daß wir die Ableitung nur bei Amphibien ſuchen dürfen?), find doch gewiſſe, bei ausgeſtorbenen Reptilien der älteſten Sekundärepochen gefundene Übereinſtimmungen von hohem Intereſſe, da ſie uns den gemeinſamen Urſprung der beiden Gruppen illuſtriren. In der Sitzung der Londoner Geologiſchen Geſell- ſchaft vom 28. April d. J. las Prof. Owen eine Abhandlung über neue, in Südafrika gefundene Reptilreſte aus der Triaszeit, die auffallende Analogieen in dieſem Sinne darboten. Schon früher hatte Owen wie— derholt auf die verſchiedenartigen Ahn⸗ lichkeiten dieſer Reptile mit Raubtieren hingewieſen. Überreſte, die kürzlich in Graaf Reinet gefunden und von E. J. Dunn eingeſendet wurden, ſind in dieſer Beziehung ſehr merkwürdig. Sie beſtehen in einigen Thoraxwirbeln mit den Rüden der Rippen, einem Bruſtbein, einem Schulter— | blatt und einem rechten Oberarmbein, die | thropologiſchen Inſtituts vom 13. April in einer Felsmaſſe eingebettet gefunden wurden, ſowie in einem Becken, Oberſchenkel— bein und Phalangen in einer anderen Maſſe. denen von Dieynodon und Oudenodon überein. Der mutmaßliche Bruſtbeinkno— chen iſt von einer gerundeten hexagonalen Geſtalt und wird von dem Verfaſſer als der vordere Knochen des eigentlichen Bruſt— beins betrachtet, der bei jetzt lebenden Eidechſen gewöhnlich unverknöchert, da- ) Kosmos, V, S. 463. Die Wirbel ſtimmen nahe mit Nachfolgende nach einem Bericht der Na— Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. Bi gegen wohl verknöchert bei Ornithorhyn- chus iſt. Auch im Schulterblatt findet Owen Ahnlichkeit mit demjenigen von Ornithorhynchus. Das Oberarmbein er— innert in ſeinen allgemeinen Verhältniſſen ebenfalls ſehr an diejenigen der Monotre— men. Die Endphalangen werden als breit und ſtumpf beſchrieben, wahrſchein— lich eingerichtet, um zum graben beſtimmte Klauen zu tragen wie bei Echidna, deſſen Oberſchenkelbein dem gefundenen gleicht. Owen hat dem Tiere, welches eigentüm— liche Vermutungen über die Verwandt— ſchaft der afrikaniſchen Triasreptile mit den heute lebenden niederſten Säugetieren Auſtraliens, Tasmaniens und Neu-Gui⸗ neas erweckt, den Namen Platypodosaurus robustus beigelegt, in Anſpielung auf dieſe Eigentümlichkeiten und die Breite des Ober— armbeins, welche bei einer Länge von 10 ½ Zoll an dem diſtalen Ende ſechs Zoll be— trägt. (Nature, Nr. 551, 1880.) Die Wilwenlökung und andere Ve— gräbniszeremonien auf den Fioſchi— —Inſeln.“ In der Sitzung des engliſchen An— ce. wurde eine Schilderung der Begräbnis— zeremonien auf dieſen Inſeln von Reverend Lorimer Fiſon verleſen, der wir das ture (Nr. 549) entnehmen. Im Allgemeinen iſt unter den Sitten der Fidſchiinſulaner ſo wenig Gleichförmigkeit vorhanden, daß keine Beſchreibung der Sitten des einen Tribus etwa für alle gelten könnte. Die Erdroſſelung der Witwen, um ſie mit ihren verſtorbenen Männern zu begraben, — 8 Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. ſcheint dagegen überall ſtattgefunden zu haben. Der Witwe eigener Bruder voll— bringt die Operation und wird darauf mit einem bemerkenswerten Reſpekt von den Kindern ſeines Schwagers behandelt, welche ihm ein Stück Land übergeben, über wel— chem die Erdroſſelungsſchnur aufgehängt wird. Sollte er hingegen unterlaſſen, ſeine Schweſter zu erwürgen, ſo wird er verach— tet und muß ſich ſchämen, ſein Geſicht zu zeigen. Wenn eine Ehefrau erdroſſelt wer— den ſoll, ſo läßt man ſie niederknieen und der Strick (ein Streifen einheimiſchen Ge— webes) wird rings um ihren Nacken ge— legt. Dann wird ihr geſagt, ſie ſolle ſo tief wie möglich ausatmen, und wenn ſie nicht weiter mehr könne, ihre Hand als Signal ausſtrecken, worauf der Strick zuſammengezogen wird und bald alles vorüber iſt. Man glaubt, daß unmittel— bar Empfindungsloſigkeit auf das Anzie— hen des Strickes folgt, wenn dieſe Anwei— fung befolgt worden iſt, während, ſobald nicht bedeutende Fortſchritte gemacht hat. Inhalation erfolgt war, ein mit Leiden verknüpfter Zwiſchenraum eintritt. Eine Entſchuldigung für die Witwen— erdroſſelung kann in dem Glauben der Fidſchiinſulaner gefunden w&den, daß fie eine notwendige Vorſichtsmaßregel ſei, denn an einer gewiſſen Stelle auf dem Wege zum Hades (Mbulu) liegt als Wache ein ſchrecklicher Gott, Nangga-nangga, wel— cher den Geiſtern der Unverheirateten ge— genüber völlig unverſöhnlich iſt. Beſon— zu denen er alle männlichen Geiſter rech— 481 Haupt und bricht ſie entzwei, indem er ſie gegen einen hervorragenden Felſen ſchleu— dert. Weiber kommen leichter davon. Wenn das Weib vor ihrem Gatten ſtirbt, ſchneidet der Witwer ſeinen Bart ab und legt ihn unter ihre linke Schulterhöhle. Dieſer dient als ihr Trauſchein, und wenn ſie ihndemNangga-manggavorzeigt, erlaubt er ihr, vorbeizuziehen. Auf der Inſel Va— nua Levu wird ein anerkannter Held von der übrigen Herde dadurch nach ſeinem Tode ausgezeichnet, daß man den rechten Arm aus dem Grabhügel hervorſehen läßt, und die Vorübergehenden rufen mit Bewunderung: „O die Hand, welche die Menſchen erſchlug!“ Für einige Tage nach dem Hingang eines regierenden Häupt— lings gewinnt, wenn der Tod dem Volke bekannt wird, die wildeſte Anarchie die Oberhand. Die Idee ſcheint zu walten, daß der tote Mann nicht eher vollkommen dahin ſei und ſeine Autorität dem Nach— folger übergeben habe, bevor die Verweſung Daher wird der Tod eines regierenden Häuptlings 4—10 Tage lang ſorgſam verheimlicht. Bei mehreren Stämmen wird der Begräbnisplatz ihres Häuptlings in tiefem Geheimnis gehalten, damit nicht diejenigen, welche er während ſeiner Le— benszeit beleidigt hat, Rache nehmen kön— nen, indem ſie ſeinen Körper hervorziehen, ſchänden oder gar auffreſſen können. Da— her wird der Raſen der Oberfläche mit ders wild verfährt er gegen Junggeſellen, net, die nicht in Begleitung ihrer Weiber zu ihm kommen. Taub gegen ihre Pro- teſte ergreift er ſie, hebt ſie über ſein | 9 Vergl. den Artikel: „Die Ablöſung der | Menſchenopfer“ Bd. III, ©. 68. äußerſter Sorgfalt emporgehoben und mit jo wenig Kenntlichkeit als möglich wieder . darauf gelegt. Höhlenbegräbniſſe ſind auf den Fidſchi— inſeln häufig, obgleich keineswegs all— gemein; in einigen Fällen werden künſt— liche Höhlen gemacht, entweder auf der Kosmos, IV. Jahrg. Heft 6. 61 482 Seite eines Hügels oder durch Abtäu— fung eines ſenkrechten Schachtes. In eine Seitenkammer legt man den verſtorbenen Häuptling und ſein erdroſſeltes Weib un- ter ihn. Ein Stein ſchließt den Eingang zu der Kammer und hält die Erde ab, mit welcher der Schacht gefüllt wird. Bei dem | Tode des Königs vom Nakeloſtamme kom— men drei alte Männer mit Fächern in ihren Händen und geleiten den Geiſt des Königs zu den Ufern des Fluſſes. Hier rufen ſie nach Themba, dem Charon der Nakelos, fein Canoe herüber zu bringen, und war- ten, bis ſie eine Welle gegen die Küſte rollen ſehen, welche, wie ſie ſagen, durch die Annäherung des unſichtbaren Bootes an Bord, Herr!“ und laufen vorwärts um ihr Leben, denn kein menſchliches Auge darf die Einſchiffung erblicken. Das Grab Kleinere Mitteilungen und Journalſchau. N wird halbmannstief gegraben, der Körper hineingelegt und eine alte Cocosnuß mit einem Stein, aufgeſchlagen und fo gehal— ten, daß die Milch auf das Haupt des Leichnams läuft. Das Fleiſch der Nuß wird dann von den drei Alteſten gegeſſen und das Grab zugefüllt. Baptanodon. Hinſichtlich des für die Deszendenz— theorie höchſt wichtigen Sauriers, den er Sauranodon getauft hatte“), macht Pro— feſſor O. C. Marſh im Juniheft des American Journal of Science darauf aufmerkſam, daß dieſer Name zurückgezo— verurſacht wird; alsdann wenden ſie ihre Geſichter ab, deuten mit ihren Fächern ſüdlich nach dem Fluß, rufen laut: „Geh' gen werden müſſe, da er bereits von Jourdan einem juraſſiſchen Reptil bei— gelegt worden iſt. Er ſchlägt deshalb vor, das Tier Baptanodon und die Klaſſe Baptanodontidae zu nennen. *) Vergl. Kosmos, Bd. VII, S. 74. Litteratur und Kritik. ie Neſter und Eier der Vögel in ihren natürlichen Beziehungen be— trachtet. Ein Beitrag zur Ornitho— pſychologie, Ornithophyſiologie und zur Kritik der Darwinſchen Theorien, be— arbeitet von Wilh. von Reichenau, | Konſervator des Mainzer zoologifchen | Leipzig, Ernſt Günthers Muſeums. Verlag, 1880. 110 S. in 8. Ein anmutendes Buch, ſowohl ſeinem Gegenſtande, als der flotten Darſtellung und dem Ideenreichtum nach, welches unter den zahlreichen Spezialfreunden der gefie— derten Welt auf eine gute Aufnahme rech— dasjenige, was man in den ornithologiſchen Werken von Brehm, Baldamus und Ruß vergebens ſucht, nämlich eine Philo— ſophie der Vogelnatur, Erklärungsverſuche ihrer Kunſtfertigkeiten, Triebe, der Brut— methode, ihres äußeren Gewandes u. ſ. w., wobei der Verfaſſer von den durch Wal— lace und Seidlitz aufgeſtellten Geſichts- punkten weiter baut. Nachdem Reichenau im erſten Kapitel „den Urheber von Neſt und Ei“ geſchildert hat, geht er im zwei- (Sylva Sylvarum Exper. 851 852) über „ſelbſtbrütende Neſter“ und „Bebrütungs- den Urſprung der Zierden des Männchens neſter“ teilt und nach ihren reſpektiven | ausſprach: Praecipua horum omnium cau- ten zu den Neſtern ſelbſt über, die er in Vollendungsſtufen ordnet. Das dritte Ka— pitel behandelt, in der Hauptſache den Ideen von Wallace folgend, die Bezie— hungen zwiſchen der Farbe des Vogels, ins— beſondere des Weibchens und der Niſtart, ſofern den offenbrütenden Weibchen in der Regel Schutzfarben eigen ſind, die ſie ihren Verfolgern verbergen. Im Eingange des folgenden Kapitels wird die früheſte Er— kenntnis der ſympathiſchen Färbungen der Vogeleier Gloger (1829) zugeſchrieben, während ſie bereits 35 Jahre früher in dem— ſelben Sinne von Erasmus Darwin be— trachtet wurden. Im fünften Kapitel werden nen dürfte. Es enthält ſo ziemlich alles nähere Beziehungen zwiſchen der Farbe des Vogels und dem Brutgeſchäft verfolgt. Bekanntlich hatte Manteg azza verſucht, die geſchlechtlichen Farben der männlichen Vögel aus einem Überfluß an Lebensener— gie, d. h. als einen Luxus, den nur ſie ſich erlauben können, aufzufaſſen, während alle überflüſſigen Säfte des Weibchens meiſt dem Eierlegen und Brüten gewidmet werden müßten, ſo daß es nicht an äußeren Putz denken könnte. Es iſt dies faſt dieſelbe Mei— nung, welche bereits Baco von Verulam MD | 25 484 sa (procul dubio), quia mares quam foe- minae intensius calent, quod vel ex eo colligas, quod mares tenella aetate si- miles sint foeminis. Sie Eunuchi et ani- mantia castrata culuscumque generis pro priusad foeminas accedunt. Reichenau hat dieſe Beziehungen indeſſen weiter ver— folgt, als Mantegazza und Wallace, und daraus folgende fünf Schlußfolger— ungen abgeleitet: Litteratur und Kritik. ſchäft, legt entweder mehrere Eier, welche es dem Männchen überläßt, oder aber nur ſehr wenige, wenn es ſelbſt brütet. (Waſſer— treter [Phalaropus] und Laufhühnchen[Tur— nix — Adler [Aquilal.) In den letzten Kapiteln wird Dar- wins geſchlechtliche Zuchtwahltheorie im weſentlichen mit den Wallaceſchen Grün— den bekämpft. Wir ſtimmen dem Verfaſſer 1) Iſt das Weibchen eines auffallend ausgeſtatteten Männchens gleichfalls mit auffallenden Charakteren ausgeſtattet, ſo findet bei ihm während der Fortpflanzungs— periode wenig Verluſt an Lebensenergie ſtatt. Solche Vögel legen meiſt in Höhlen wenig weiße Eier, faſt immer nur einmal im Jahre. (Papageien, Hechte ꝛc.) 2) Iſt das Weibchen eines auffallen— den Männchens nicht auffallend, wohl gar ſympathiſch gefärbt, oder fehlen ihm ſonſt die männlichen Charaktere (Geſang), fo fin— det bei ihm viel Verluſt an Lebensenergie ſtatt. Derartige Weibchen legen entweder viele Eier, oft zweimal im Jahre, oder große Eier von durchſchnittlich ſympathiſcher Färbung in offene Neſter. (Henne, Droſ— ſeln ꝛc.) 3) Iſt das Weibchen eines auffallenden Männchens nur einfach ausgeſtattet und legt es nur ein Ei oder deren zwei, ſo über— nimmt es das ganze übrige Brutgeſchäft ohne männliche Hülfe. (Paradiesvogel.) 4) Iſt das Weibchen eines auffallenden Männchens einfacher ausgeſtattet und brü— tet nicht, ſo legt es doch viele große Eier. (Strauß.) 5) Iſt das Weibchen eines Vogels auf— fallender in Farbe oder Größe und Lebens— mut, als ſein Männchen, ſo hat es wenig Verluſt an Lebensenergie beim Brutge— durchaus bei, wenn er ſagt, daß weder „die Naturausleſe noch die Weiberausleſe auch nur einen bunten Spritzer auf das Gewand eines Männchens zu zaubern ver— mögen“ (S. 93). Allein darin wird ihm auch Darwin vollkommen Recht ge— ben. Natur- und Weiberleſe können nichts erſchaffen, aber ſie können zur Erhaltung und Steigerung eines entſtandenen beitragen. Wenn aber Reichenau, die Anſichten Mantegazzas, Beccaris und Wal— laces miteinander paarend, ferner ſagt: „Das Männchen erhält nicht die bunten oder ſonſt auffallenden Charaktere durch einen Zufall, welcher durch Liebhaberei der Weibchen eine beſtimmte Richtung erhält, ſondern durch das Geſetz, welches die über— ſchüſſige Lebensenergie in die mit den Ge— ſchlechtsteilen in Korrelation befindlichen und mit ihnen vornehmlich gereizten Teile des peripheriſchen Organismus hineintre— ten und ſich ihnen anpaſſen läßt“ (S. 106), ſo muß Referent entſchieden bei der An— ſicht verharren, daß dieſe Erklärung höch— ſtens andeutet, woher das Rohmaterial herſtammt, deſſen ſich die geſchlechtliche Zuchtwahl bedient, um ihren Schmuck dar— aus zu züchten. Allein auch hinſichtlich dieſes Rohmaterials habe ich eine viel fruchtbarere Vermutung bei Baco gefun— den. Ariſtoteles hatte die Frage aufge— worfen, warum unter den Säugetieren . . | — } | j NG Litteratur und Kritik. nicht ebenſo ſchön rot, blau und grün ge— färbte Tiere vorkämen, wie bei den Vö— geln, und darauf geantwortet, der vor— wiegende Aufenthalt der Vögel in der Sonne, der Säuger im Schatten ſei die Urſache. Dies beſtreitet Ba co (Sylva Syl- varum Exper. 5) durchaus und er ſagt mit einer merkwürdigen Sicherheit: Verissi- ma causa est, quod humor excremen- titius animantium, qui aeque constituit plumas in avibus ac pilos in bestiis, in avibus tenuiori et delicatiori colatura Dieſe mit ſo großer Zuverſicht ausgeſprochene Anſicht Bacos, daß die Farben der Vö— gel aus den Abfallſtoffen entſtehen, iſt vor vielen Jahren durch den elſäſſiſchen Chemi— ker Sace inſofern experimentell erwieſen worden, daß er bei Papageien und andern Vögeln mit glänzenden Federn nachwies, daß die ſonſt ſo bedeutende Harnſäure— transmittatur, quam in bestiis. Ausſcheidung bei der Mauſerung auf ein Minimum herabſank, wahrſcheinlich weil ſie zur Bildung und Färbung der neuen Federn verbraucht wurde. Nun iſt einer— ſeits bekannt, daß man aus der Harnſäure prachtvoll metallglänzende Farben gewin— nen kann, und andererſeits, daß der Kot der farbenprächtigſten Tierklaſſen (Repti⸗ lien und Vögel) am reichſten an Harnſäure iſt; es wäre daher eine dankenswerte Aufgabe für einen Chemiker, zu unterſu— chen, ob bei der Mauſerung das pracht- voll gefärbte Männchen einer Vogelart, deſſen Weibchen unſcheinbar gefärbt iſt, nicht viel weniger Harnſäure ausſcheidet, als dieſes. Dann würde ſich vielleicht die vermutete höhere Lebensenergie der Männ— chen auf eine beſſere Ausnützung der Ab— fallſtoffe reduziren. Aber möge auch eine höhere Lebens— 485 energie des Männchens das Rohmaterial zu ſeiner geſchlechtlichen Zierde — die aber anderswo dem Weibchen eigen iſt! — lie— fern, zu geſchmackvollen Zeichnungen, Kon— traſten und Übergängen kann es doch wohl nur durch eine geiſtig auswählende Thä— tigkeit gelangen. Wahrſcheinlich liegt die Wahrheit in der Mitte und zwar in fol— gender Weiſe: Erasmus Darwin hat bereits hervorgehoben, daß nicht das ſchö— nere, ſondern das kräftigere Männchen das Weibchen in Beſitz nähme, und daß dem— nach durch die geſchlechtliche Zuchtwahl nur die Stärke, aber nicht die Schönheit ge— ſteigert werden könnte. Wenn nun aber die überſchüſſige Lebenskraft die Urſache ſchönerer Färbungen wäre, ſo müßten ja alle jene geſchlechtlichen Zierraten bei dem ſtärkſten Männchen auch am lebhafte— ſten zu Tage treten, die Schönheit würde alſo vermöge der ihr von Natur verbün— deten Kraft ſiegen, ſo daß doch immer die geſchlechtliche Zuchtwahl, wenn auch in dieſem Falle die Wahl des Männchens, das beſtimmende bliebe, da die weniger kräftigen und daher weniger ſchönen Männ— chen nicht zur Fortpflanzung gelangten. Aber wie oft mag es nicht überdem vor— kommen, daß der weibliche Vogel, wenn auch heimlich, den beſiegten, aber ſchönern Liebhaber dem ſtärkern vorzieht, ebenſo wie Helena dem Menelaus ihren Paris vorzog. Vor allem muß konſtatirt werden, daß die Theorien von Manteg azza, Wallace und Reichenau kein eigent— liches Prinzip an die Stelle der geſchlecht— lichen Zuchtwahl zu ſetzen wiſſen, welches die geſchmackvolle Steigerung der Zier— raten erklärt. Man muß auch berückſich— tigen, daß an die Stelle des ſchönen Ge— fieders oft ein ſchöner Geſang der Männ— 486 chen tritt, ein Vorzug, den man wahrjchein- lich nicht mit überſchüſſigen Säften er— klären können wird, und den man ſogar im Menſchenleben durch kein beſſeres Mit— kel zu ſteigern weiß, als durch Wettge— ſänge und Preiszuteilung von der Hand ſchöner Frauen. Aber trotz aller dieſer Meinungsver— ſchiedenheiten ſtehe ich nicht an, das Reiche— nauſche Buch für einen ſehr wertvollen Beitrag zur Erklärung der uns umringen— den Rätſel zu erklären und ſeine leben— dige Lektüre jedermann angelegentlich an— zuraten. 2 Der Realismus der modernen Na— turwiſſenſchaft im Lichte der von Berkeley und Kant angebahnten Er- kenntniskritik. Kritiſche Streifzüge von Dr. Anton von Leclair. Prag, 1879. Verlag von Tempsky. IX u. 283 S. Einem ſtreitbareren und zielbewußte— ren Kämpen für die phänomenale Auffaſ— ſung des Naturganzen ſind wir noch nicht begegnet. Überzeugt davon, daß viele Er— kenntnistheoretiker, insbeſondere ſolche, die auch zugleich als Naturforſcher thätig ſind, bei aller Maskirung dieſes ihres eigent— lichen Standpunktes nur wenig über den „naiven Realismus des vulgären Körper— glaubens“ ſich erheben, unternimmt es der Verfaſſer, durch eingehende Analyſe irgend einer als Exempel herausgegriffenen na— turwiſſenſchaftlichen Frage gewiſſe Wider— ſprüche und Zirkelſchlüſſe der modernen Erkenntnislehre nachzuweiſen. Er wählt hierzu John Stuart Mills teleologifche Ausſprüche über das Auge und die nach beſtimmt geſetzmäßigem Plane erfolgte Zu— ſammenſetzung der das Sehorgan bilden— den Beſtandteile. Unbewußt oder halbbe— Litteratur und Kritik. wußt denkt ſich Mill und Jeder, der in ähnlicher Weiſe Naturphiloſophie betreibt, doch immer wieder ein neues Auge hinter jenem, deſſen Einrichtung ſtudirt wird, und es entſteht ſo eine für die Gewinnung wirklicher Erkenntnis abſolut nutzloſe Re- gressio in infinitum, ſofern man ſich nicht von vornherein mit Entſchiedenheit auf den von allem Beiwerk gereinigten Boden des Kantſchen Kritizismus ſtellt und z. B. im vorliegenden, konkreten Falle eingeſteht (S. 14), „daß die Durchſichtigkeit der licht— brechenden Medien im Auge des A unmit- telbar nur für das Bewußtſein eines Beob— achters B beſteht, daß ferner auch die in— direkte Erkenntnis auf Seiten des Beſitzers A ſelbſt überhaupt nur unter Voraus- ſetzung des Senſationsphänomens, das ges netiſch „erklärt“ werden ſoll, gewonnen werden kann, daß alſo der Zuſammenhang jener Durchſichtigkeit mit dem normalen Sehakt in jedem Falle — als bare That— ſache — lediglich durch das Zeugnis der ſinnlichen Erfahrung ſelbſt konſtatirt und geſtützt werden kann.“ Dieſer Satz bildet das Fundament für die weitere, unſeres Erachtens faſt durchaus ſehr glückliche Po— lemik des Verfaſſers. Gegen den ſeiner Zeit ſo fröhlich ins Kraut geſchoſſenen rohen Materialismus führt er wahre Keu— lenſchläge, die ſicher ihren Mann treffen. Auch ſonſt iſt die Schrift reich an ſcharf— ſinnigen Bemerkungen, ſo z. B. S. 45, wo denen, die die Frage nach den „Antezeden— tien“ des Bewußtſeins überhaupt nur ſtel— len, nachgewieſen wird, daß ſie mit dieſer Frageſtellung ſchon eines der unzweifelhaft f ſchwierigſten Probleme der Erkenntnisthe— orie, dasjenige der „Zeit“ ganz en pas- sant im realiſtiſchen Sinne mit erledigen. Vom „Ding an ſich“ will unſer Verfaſſer Litteratur und Kritik. nichts wiſſen und thut dar, daß jeder Ver— ſuch, aus dem Komplex der Bewußtſeins⸗ thatſachen, als dem für uns Menſchen ein— zig und allein Sicheren und Gewußten, auf irgend ein wie immer beſchaffenes Transzendentes ſchließen zu wollen, in ſich verfehlt iſt. Man kann ja nicht leug— nen, daß dieſe ſchroffe Reinigung des Im— manenzbereiches von allen Einflüſſen einer angeblich vorhandenen Außenwelt für un— ſere anerzogenen Anſchauungen und Ge— fühle etwas äußerſt Fremdartiges hat und ganz allmählich verdaut ſein will; es er— ſcheint höchſt paradox, wenn der Verfaſ— ſer Clauſius' Schlüſſe über die ihrem Maximum zuſtrebende Entropie des Welt— alls aus dem Grunde zurückweiſt, weil der— artige Ereigniſſe mangels eines dieſelben in ſich aufnehmenden und kontrollirenden Menſchengeiſtes jeder Realität entbehren, oder wenn er den paläontologiſchen Dis— ziplinen zur Pflicht macht, nicht ohne wei— teres Rückſchlüſſe auf Zeitperioden zu wa— gen, in welchen es noch keine Menſchen gab. Allein wir wüßten nicht, was unter dem Geſichtspunkt des reinen Denkens — und ein anderer darf für den Philoſophen nicht maßgebend ſein, ja gar nicht exiſti— ren — gegen dieſe kritiziſtiſchen Rekrimina— tionen ſollte geltend gemacht werden können. Erhöhtes Intereſſe gewinnt die Dar— ſtellung des Autors noch dadurch, daß er in umfänglichen Anmerkungen Auszüge aus den Schriften hervorragender Forſcher mitteilt und deren Verhältnis zu ſeinen eigenen Überzeugungen prüft. Die Art und Weiſe ſeines Auftretens gegen gewiſſe Pächter der Unfehlbarkeit, ſo z. B. gegen David Strauß, iſt nicht ſelten etwas derb, allein dem eigenen Stil der Be— \ kämpften völlig angemeſſen. Leicht lesbar TRITT 487 kann das Buch nicht genannt werden, viel- mehr erfordert es wirkliches Studium; die Bilder ſind wohl immer geiſtreich, aber ab und zu etwas geſucht und muten dem Leſer etwas viel zu. Wenn z. B. (S. 59) von der „gegen Himmel ragenden Rieſen— geſtalt des Antelao“ geſprochen wird, fo vergißt der Verfaſſer, daß nicht Alle, die ſich für ſeine philoſophiſche Denkart inter— eſſiren, ſo genau mit der Topographie der Ampezzaner Dolomiten vertraut ſein wer— den, als er ſelber. Das hindert uns indes nicht, den Leſern dieſer Zeitſchrift, denen eine korrekt phänomenaliſtiſche Betrachtung des Naturgeſchehens ja ſchon öfter in de— ren Spalten geboten ward, die Leclair— ſche Schrift warm zur Kenntnisnahme zu empfehlen. Ansbach. Prof. S. Günther. Die Alpenpflanzen. Nach der Natur gemalt von Joh. Seboth. Mit Text von Ferdinand Graf und einer An— leitung zur Kultur der Alpenpflanzen von Joh. Petraſch, kek. Hofgärtner im Grazer botaniſchen Garten. Bd. J. Prag, 1879. Verlag von F. Tempsky. Auch in Lieferungen à 1 Mark. Diejenigen unſrer Leſer, die durch die zahlreichen Aufſätze unſerer Zeitſchrift über die Alpenflora ein tieferes Intereſſe für die ſchönen und eigenartigen, durch die beſondern Verhältniſſe des mitteleuropät- ſchen Hochgebirges gezüchteten Blumen ge— wonnen haben und ſie näher kennen zu lernen wünſchen, werden es uns Dank wiſſen, wenn wir ſie auf die im Erſchei— nen begriffenen, muſtergiltigen Abbildun— gen derſelben aufmerkſam machen, die von dem Maler Seboth nach der Natur a 488 Litteratur und Kritik. entworfen wurden und im Farbendruckaus— geführt ſind. Man kann ſich nichts An— mutigeres denken, als dieſe Bilder, welche die glückliche Mitte zwiſchen botaniſchen Fakſimiles und künſtleriſchen Porträts inne— halten. Der Maler hat nicht darauf ge— halten, in ſeinen Porträts, wie der alte Denner, jedes Wärzchen und Härchen mikroſkopiſch getreu wiederzugeben, ſon— dern vielmehr die allgemeine Erſcheinung zu packen und das Pflanzenbild erkennbar für jeden, der die Pflanze jemals in der Natur geſehen, in ſeiner ganzen leuchten— den Farbenpracht vorzuführen. Der Far— bendruck eignete ſich dazu ganz vorzüglich, und es war eine gute, nur bei dieſer Tech— nik durchführbare Idee, die zahlreichen ſchneeweiß blühenden Alpenkinder auf ei— nem zarten gelbbräunlichen Grunde zu drucken, von dem ſich die weißen Blüten höchſt wirkſam abheben. Die Pflanzen mit farbigen Blumen ſind dagegen auf wei— ßem Grund gedruckt. Der Text enthält eine genaue Beſchreibung der dargeſtell— ten Pflanzen und iſt von dem berühmten Alpenpflanzen-Kenner Prof. A. Kerner einer ſorgſamen Reviſion unterzogen wor— den, was um ſo dankenswerter iſt, als ſich infolge einer tötlichen Krankheit des erſten Herausgebers verſchiedene Irrtümer ein— geſchlichen hatten. Der neue Herausgeber, Hofgärtner Petraſch, hat eine wertvolle Anleitung zur Zucht der Alpenpflanzen in an der Ebene dem erſten Bande hinzugefügt. Was die Auswahl betrifft, ſo ſoll jeder Band hundert Pflanzenporträts bringen, ſo daß die intereſſanteſten Alpenpflanzen in wenigen Bänden dargeſtellt ſein werden. Man wird dann ein Werk haben, welches ſich ebenſo wohl als eine ſchöne Erinne— rung an unvergeßliche Wanderungen in dieſen herrlichen Regionen empfiehlt, wie auch zum müheloſen Beſtimmen ſelbſt ge— ſammelter Pflanzen, und als Illuſtration fremder touriſtiſcher und wiſſenſchaftlicher Schilderungen eignet. Die Anordnung iſt nach dem natürlichen Syſtem und die Aus— wahl ganz zweckmäßig ſo getroffen, daß, um die Einförmigkeit zu vermeiden, in je— dem Bande Vertreter der Hauptfamilien zu finden ſind. So bringt z. B. der erſte Band 12 Ranunkulazeen, 5 Karyophyleen, 6 Roſazeen, 5 Saxifrageen, 16 Kompoſi— ten, 7 Enziane und 10 Primeln. Ein voll- ſtändiges Regiſter im Schlußbande wird. die ſchnelle Auffindung jeder einzelnen Art 9 ermöglichen. Dem ganzen Werk ſieht man es an, daß ſein Verleger als begeiſterter Verehrer dieſer ſo vielen Menſchen ver— borgenen Schönheiten ſein Buch mit Liebe geplant und ohne irgend welche Hinder— niſſe zu ſcheuen durchgeführt hat. Beſon— ders iſt bei dieſer gediegenen Ausſtattung der ſehr billige Preis hervorzuheben, wel— cher bei dem lieferungsweiſen Erſcheinen die Anſchaffung ſehr erleichtert. K. * Druck von W. Schuwardt & Co. in Leipzig. Ne) 0 MS N 5 ui * N * 105 N) 11 e (ls Ron Jun N EA, Wee Y 1 N i ee RE: 0 3 N eie 1 nah! N 11 ar 7 I! N Nu Mn 9 1 20 * et [HR hin: fi Wr \ 1 hir wid N 10 e 1 Ur 2 ' nah y N r N » N N h } v @ je] D je] O oO oO O N O 2 je] © SS | S3IHYHEIT NOILNLILSNI NVINOSHLINS |