ER 2 ar = A are i Ei RL a5 N N arlınaty Ruh N Ik yanıız vd R } % Page B a url Het HRIRR eur Puh prpa aha ® Dehätr al r EN + a * Ei ale i% U. S. NATIONAL MUSEUM LIBRARY OF Henry. Guernsey Hubbard Eugene Amandus Schwarz % ı% DONATED IN 1902 ASCESSION NO..:-... ns rer KIA BL, ir: fh ie, j I KOSMON. Zeitschrift für Entwickelungslehre und einheitliche Weltanschauung ’ unter Mitwirkung von B. Carneri (Wien), Prof. Dr. 0. Caspari (Heidelberg), Charles Darwin (Down), Francis Darwin (Down), Prof. Dr. J. Delboeuf (Lüttich), Prof. Dr. A. Dodel-Port (Zürich), Dr. W. 0. Focke (Bremen), Dr. Forsyth Major (Florenz), Prof. Dr. $S. Günther (Ansbach), Prof. Dr. E. Haeckel (Jena), Prof. Dr. Th. v. Heldreich (Athen), Fr. v. Hellwald (Stuttgart), Dr. F. Hilgendorf (Berlin), Prof. Dr. R. Hörnes (Graz), Prof. Dr. Th. H. Huxley (London), Prof. Dr. @. Jäger (Stuttgart), Sir John Lubbock (London), Prof. 0. €. Marsh (New- Haven), Dr. Fritz Müller (Itajahy), Dr. Herm. Müller (Lippstadt), Dr. C. du Prel (München), Prof. Dr. W. Preyer (Jena), W. v. Reichenau (Mainz), Prof. Dr. 0. Schmidt (Strassburg), Prof. Dr. Fritz Schultze (Dresden), Dr. @. Seidlitz (Königsberg), Herbert Spencer (London), Dr. H. Vaihinger (Strassburg), Prof. Dr. Mor. Wagner (München), Dr. Wernich (Berlin), Dr.F. Weinland (Esslingen), Prof. Dr.A.Weismann (Freiburg), Prof. Dr.L.Wittmack (Berlin), L. Würtenberger (Karlsruhe), Prof. Dr. R. Zimmermann (Wien) und andern namhaften Forschern auf dem Gebiete des Darwinismus herausgegeben von Dr. Ernst Krause. V. Jahrgang. IX. Band (April — September 1881). Mit III Tafeln und 74 Holzschnitten. u ——— II . STUTTGART. E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Koch). 18831. asien 1 VAg Saul u Au. Are a el 1a ki nt L { en Anl - Bee Are 2 sun mE Publ j En a DE Kot si: A, rIge 2 de BUHEM DL BEN mt, Br dunlie- er Br Bir! Vf DEE | RO MB RIN ERAN TEE, |: vn f N N “ Pr 5 2 ‚ iR 4 iq Bi fh um: dr j - r er ei) Peru # hu ar all - “ Abhandlungen. Seite Anders, Dr. B. H. Spencer’s Ansichten über Egoismus und Altruismus . . 409 Balfour, Prof. F. M. Larvenformen, ihre Natur, Entstehung und Verwandist balik- Becikhungenl (Mit 20 Holzschnitten) . . . . .. ? ra RD Behrens, Dr. Wilh. Caltha dionaeaefolia, eine neue Mecktiyore Pflanze, (Mit X Holz- dobhitten)?. LER Ne EEE Fr 0 a aerrhtninte un Carneri, B. Ideologismus ee Ts en Mbradstitihrsteuf9i Darwin, Franeis. Kletterpflanzen. Eine populäre rlesungt. (Mit 6 Holzschnitten) 101 Fligier, Dr. Europa, die Heimath der Arier oder Indoeuropäer . . . 216 Haeckel, Ernst. Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. (Mit 9 Holzschnltben 29 Hentschel, Dr. Willibald. Zur Geschichte des Be und der genetischen Naturbetrachtung . . . 2 > RER TEE er EEE Holetschek, Dr. J. Die Stellung der Kersten zu unserem Sntktensystem a Mernah re Huth, Dr. E. Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. (Hierzu rate bl) (19 ah 273 Huxley, Prof. Th. H. Ueber die Bendımg dei En wickehngssinehze an die An: ordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere . . nes) Krause, Dr. E. Die „augenähnlichen“ Organe der Fische, nach den Water suchungen von Dr. Ussöw, Prof Leydig ul A! (Mit Tafel). 1.10. ee Müller, Dr. Fritz. Atyoida Potimirim, eine schlammfressende Si etsoreeee (Mit 20 Holzschnitten) . . . BEN LFSUN- ld Müller, Dr. Herm. Die Entwickelung der Blumertiskeit der ER 204. 258. 351. 415 Potonie, Henry. Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie ER CB: Schultze, Prof. Dr. Fritz. Ueber das Verhältniss des skeptischen Naturalismus zur modernen Naturwissenschaft, insbesondere zur Entwickelungstheorie . 1. 85. 165 Spencer, Herbert. Staatliche Einrichtungen . . . . 2... 45. 124. 288. 370. 438 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Entwickelungsstufen der Fixsterne 60. — Die künstliche Darstellung des Indigo ‘und der Alkaloidgruppe der Solaneen 61. — Der Einfluss der Bodenwärme auf die Zellen- bildung der Pflanzen 63. — Eine Eigenthümlichkeit der Stechpalme 64. — Experimentale Untersuchungen über die Entstehung der Geschlechtsunterschiede 65. — Die Zähne der . Vogelembryonen 66. — Krankheitsanlage und Immunität vom Darwinistischen Standpunkte 67. — Die Photographie der Nebelflecke 135. — Die Constitution der Pflanzen-Alkaloide 136. Die Geschichte des Gingko-Geschlechts 138. — Verirrte Blätter von Fritz Müller. (Mit IV Inhalt. I Holzschnitt.) 141. — Aptychen und Anaptychen. (Mit 1 Holzschnitt.) 142. — Das Ver- halten der Siphonal-Dute und die Descendenz der Cephalopoden. (Mit 1 Holzschnitt.) 145. — Eine Anpassung an das unregelmässige Auftreten der Wanderheuschrecken 149. — Unfruchtbare Zwillinge bei Rindern 150. — Der germanische Typus 150. — Krautartige Weinreben aus dem Sudan 152. — Der Einfluss der Gezeiten-Reibung auf die Entwickelung des Sonnensystems 220. — Die Verbreitung des Alkohols in der Natur 223. — Das Ver- mögen der Pflanzen ihre Blätter senkrecht zum einfallenden Lichte zu stellen 224. — Die Theorie des Wachsthums von Pflanzenabschnitten 226. — Die Embryologie der Lungen- schnecken 229, — Das Geruchsorgan der Insekten 229. — Ein Uebergangsglied von den Amphibien zu den Reptilien 230. — Die Menschen-Reste der Schipka-Höhle 231. — Die Kelten in Hallstadt 233. — Die Erblichkeit gewisser Verstümmelungen 236. — Die Gren- zen unserer Wahrnehmungen im Himmelsraume 311. — Die ältesten Blüthenpflanzen 313. Westindische Tiefsee-Krebse 314. — Der Einfluss einer Stimmgabel auf eine Garten- spinne 316. — Fortpflanzung und Gewohnheiten der Callichthys-Arten 317. — Gehören die Seedrachen einer Nebenlinie der lungenathmenden Wirbelthiere an? 318. — Rückenmarks- höhle, Becken und Füsse der Stegosaurier. (Mit 4 Holzschnitt.) 319. — Die geographische Vertheilung der lebenden und fossilen Nager vom Standpunkte der Entwickelungslehre 321. — Eine Theorie der Schutzpocken-Impfung auf Darwinistischer Basis 322. — Die Farbe Roth 324. — Die Beobachtungen an dem neuen Kometen 382. — Die Nektar ab- sondernden Drüsen der Melampyrum-Arten 384. — Der Farbensinn der Ameisen 354. — Ammonites pseudo-anceps, Ebray. (Mit 1 Holzschnitt.) 386. — Die Hypophysis der See- scheiden 387. — Die Geschmacksorgane der Fische. (Mit einem Holzschnitt.) 389. -— Stereo- rachis dominans 390. — Platypodosaurus und Aleurosaurus 391. — Ueber die Wechsel- beziehung der Wollen- und Milchproduktion bei Schafen 392. — Die rudimentären Haut- muskeln des Menschen im besondern die des Ohres. (Mit 1 Holzschnitt.) 392. — Keltische Sprach-Spuren im deutschen Jägerlatein 397. — Ch. Darwin, Vererbung 458. — Ein che- imischer Unterschied zwischen lebendigem und todtem Protoplasma 459. — Silurische Pflanzen- Ueberreste 461. — Wasserthiere in Baumwipfeln 462. — Entwickelung und Organisation der Wurzelquallen (Rhizostomae) 462. -— Eine neue Ordnung ausgestorbener Jura-Reptile. (Coeluria Marsh.) [Mit 1 Holzschnitt.] 464. — Die Klassification der amerikanischen Jura- Dinosaurier 465. — Ornstein, Dr. B., Ein Zwerg auf der Insel Euböa. (Ein Beitrag zur Teratologie.) [Mit 1 Holzsehnitt.] 466. — Die Gehirnbildung der Eskimos 469. Offene Briefe und Antworten. Seite Brief.von Herrn W. Hülken, Capetown ss... Litteratur und Kritik | 2. 153. 236. 398. 470 —— Ueber das Verhältniss des skeptischen Naturalismus zur modernen Naturwissenschaft, insbesondere zur Entwickelungstheorie. Von Professor Dr. Fritz Schultze. Inhalt: Der Dogmatismus des realistischen und idealistischen Naturalismus. — Kriti- cismus und Skepticismus. — Locke, Berkeley, Hume. — Der Humeismus und die Entwicke- lungstheorie. — 1. Locke’s Sensualismus: Der Begriff der Erfahrung und des Erfahr- baren. — Erfahrung — sinnliche Wahrnehmung. — Der Geist als tabula rasa. — Sensation und Reflexion. — Primäre und secundäre Qualitäten. — Objective und subjecetive Welt- auffassung. — Einfache und zusammengesetzte Vorstellungen. — Descendenztheorie der Vorstellungen. — Verneinung der Lehre von den angeborenen Ideen. — Vier Klassen an- geborener Ideen. — Die Lehre bei Platon, Descartes, Spinoza, Leibniz. — Die praktische Bedeutung der Lehre von den angeborenen Ideen. — Locke’s Widerlegung der Lehre. — Der angeborene Begriff des Unendlichen. — Der Satz der Identität und des Widerspruchs. — Verwerfung der Platonisch-Aristotelischen Ideenlehre. — Locke’s Darwinistische Fol- gerungen. — Kritik des Locke’schen Sensualismus. — Der Geist keine tabula rasa. — Die richtige Fassung des „Angeborenen“. heutigen Theorie des Angeborenen. Der realistische Naturalismus Baco’s wie der idealistische Descartes’ stimmen darin überein, dass sie im Gegensatze zu den Bestrebungen des Mittelalters nicht das Uebernatürliche durch über- natürliche Mittel (Offenbarung, Inspi- ration, Ekstase u. s. w.), sondern die Natur auf natürlichem Wege erforschen wollen, der eine durch reine Erfah- rung, der andere durch klares und deutliches Denken. Auch darin wei- chen sie nicht von einander ab, dass . sie eine vollendete Erkenntniss des Welt- ganzen für möglich halten. Aber eben dieses, ob das Weltganze der mensch- lichen Erkenntniss zugänglich sei, ist bei ihnen eine blosse Voraussetzung. Sowie sich der Zweifel darauf richtet, entsteht offenbar das Problem, ob wirk- lich die Erkenntnissmittel der reinen Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). — Gegensatz zwischen den früheren und der | Erfahrung und des klaren und deut- lichen Denkens so weit führen, oder ob;nicht etwa ihre Kraft nur eine be- schränkte sei, so dass also auch das natürliche Erkenntnissgebiet des Men- schen ein viel engeres sei, als jene an- genommen. Offenbar müssen die Erkennt- nissmittel einer genauen Kritik unter- zogen werden, und da von der grösseren oder geringeren Tragweite der natür- lichen Erkenntnissfähigkeit auch die Weite oder Enge des natürlichen Er- kenntnissgebietes abhängt, so kann erst nach dieser kritischen Untersuchung ein von allen dogmatischen Einbildungen befreiter kritischer Naturbegriff aufgestellt, d. h. der kritische Na- turalismus begründet werden. Den Uebergang von dem dogmatischen Na- turalismus in Baco und Descartes zu 1 2 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. dem kritischen Naturalismus in Kant ' fahrung? Schon Baco und ebenso bildet derskeptische Naturalismus, | Descartes sind sich klar, dass diese der in Locke beginnt, in Berkeley | zur Erkenntniss führende Erfahrung sich steigert, in Hume seinen Höhepunkt erreicht. Die naturalistische Skepsis Hume’s ist es, welche, indem sie den Grundbegriff alles Erkennens, den Be- eriff von Ursache und Wirkung, zersetzt, jede Möglichkeit der Erkenntniss eines ursächlichen Zusammenhanges in Frage stellt, damit aber nicht blos die Philo- sophie, sondern auch alle Naturwissen- schaft und zumal die- Entwickelungs- theorie, deren ganze Absicht ja auf die Erkenntniss des ursächlichen Zusammen- hanges gerichtet ist, an Abgründe führt, deren Ausfüllung oder Ueberbrückung, soweit ich sehe, bisher noch nicht ge- lungen ist. Wir sind der Meinung, dass gerade der Humeismus der modernen Entwickelungstheorie Probleme stellt, mit denen sie sich auseinandersetzen muss, und es soll hier unsere Aufgabe sein, diese Schwierigkeiten, wenn nicht zu lösen, so doch zu formuliren. Zu dem Zwecke müssen wir aber den philo- sophischen Entwickelungsgang von Locke an durch Berkeley hindurch bis zu Hume hin verfolgen, da die Grundgedanken dieser Philosophie eine völlig in sich zusammenhängende Kette bilden. I. Der Sensualismus Locke’s. Das Mittelalter hatte für die einzig wahren und wirklichen Erkenntnisse gerade die erklärt, welche sich niemals durch Erfahrung und sinnliche Wahr- nehmung beweisen lassen: die auf das Transscendente gerichteten Annahmen der Religion. Sein erkenntnisstheoreti- scher Grundsatz lautete: Die höchste und wahrsteErkenntniss liegt indem Nichterfahrbaren. Ge- rade umgekehrt hatten Baco und seine Sinnesgenossen behauptet: Nur das Erfahrbare bietet Wahrheit; nur durch Erfahrung gelangen zur Erkenntniss. Aber was ist Er- wir | nicht etwas so einfaches ist, welches jeder Mensch ohne weiteres besässe; im Gegentheil: die naive Erfahrung musste von Idolen gereinigt und durch eine ausführliche Methode unterstützt werden. Wenn wir aber auch alle Re- geln Baconischer und Cartesianischer Methode auf das genaueste befolgen, so ist damit nicht ausgeschlossen, dass uns doch vielfach der Zweifel beschleichen könne, ob wir denn noch im Gebiete des Erkennbaren seien oder dasselbe bereitsüberschrittenhaben. Man spricht auch da noch ohne weiteres von dem Stoff der Dinge, von den Atomen, aus denen er besteht, oder von der Seele und ihren Kräften, als ob wir es in alledem mit unzweifelhaften Erfahrungs- objecten und Erfahrungsbegriffen zu thun hätten; man wird sich auch da nicht klar über die unendlich feine, oft kaum bemerkbare Grenze, die zwischen der Erfahrung und der Einbildung liegt. Der Begriff der Erfahrung und des Er- fahrbaren muss also genau untersucht und damit eine Grenzregulirung zwi- schen den beiden Reichen wirklicher Erfahrungserkenntniss und dogmatischer Einbildung vorgenommen werden. Den ersten Schritt zur Fixirung dieser Grenze über Baco und Descartes hinaus thut der englische Philosoph John Locke (1637— 1704) in seinem »Versuch über den menschlichen Verstand« (1689). Locke ist mit Baco darin einver- standen, dass alle Erkenntniss nur durch die von Idolen geläuterte und metho- disch fortschreitende Erfahrung gewon- nen wird. Diese Erfahrung reicht aber - nach Locke nur so weit, als die Werk- zeuge reichen, mit denen wir Erfahrung machen. Diese Werkzeuge sind die Sinnesorgane. Das Gebiet der Erkennt- niss ist also genau das Gebiet der Sinnes- wahrnehmungen. Erfahrung ist völlig gleich sinnlicher Wahrnehmung, natür- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 3 lich gleich der methodisch geläuterten, durch Instrumente und Experimente ge- stützten Sinneswahrnehmung. Alles, was wir an Vorstellungen in uns tragen, alle Erkenntniss stammt mithin aus der sinnlichen Wahrnehmung, und es kann nichts im Geiste sein, was nicht ur- sprünglich einmal aus dieser Quelle her- vorgegangen ist: nihil est in intellectu quod non antea fuerit in sensu, so lautet der erste Grundsatz des Locke’schen Sensualismus. Der Geist selbst ist dem- nach, bevor die Sinnesorgane ihn durch ihre Canäle mit Material gefüllt haben, ein durchaus Leeres; er ist wie ein Blatt Papier, das erst von der Sinnen- welt vollgeschrieben wird, wie eine glatte Tafel, in die erst der Griffel der sinn- lichen Empfindungen die Charactere ein- gräbt. Der Geist ist tabula rasa, so lautet das zweite Schlagwort dieser sensualistischen Lehre. Alle Vorstellungen stammen aus der sinnlichen Wahrnehmung, diese selbst aber fliesst aus zwei wohl zu unter- scheidenden Quellen. Wir nehmen die äusseren Dinge vermittelst unserer äus- seren Sinne wahr: Diese auf die Aussen- welt gerichtete Wahrnehmung bezeich- net Locke als Sensation. Aber wir nehmen auch wahr, was in unserem Organismus vorgeht, z. B. die Schmerz- empfindung, die aus irgend einer krank- haften Veränderung desselben entspringt. Hier haben wir nicht die Wahrnehmung eines äusseren, von uns verschiedenen Dinges, sondern die Empfindung eines inneren Vorgangs, die aber auch nichts anderes ist als eine Sinneswahrnehmung, die im Nervensystem verläuft. Diese innere Wahrnehmung, zu der auch alle Gefühle, Phantasiebilder und Gedanken gehören, nennt Locke die Reflexion. Sensation und Reflexion sind also die beiden Unterarten der sinnlichen Wahrnehmung. Nicht etwa ist die Reflexion etwas rein Geistiges, während die Sensation ein materieller Vorgang wäre. Hinsichtlich ihres Wesens sind beide gleich sinnlich; nur bezüglich ihrer Riehtung auf die Erscheinungen der Aussen-. oder Innenwelt sind sie zu unterscheiden. So wie hinsichtlich des Wahrneh- mens, so ist nun auch hinsichtlich des Wahrgenommenen eine Unterschei- dung zu treffen. Vermittelst des Ge- sichts, Gehörs, des Tastens u. s. f. nehmen wir eine Fülle von Erscheinungen ausser uns wahr. Ist diese Wahrnehmung aber auch wirklich wahr? Zeigt sie uns wirklich das objective Sein der ausser uns befindlichen Dinge? Schon Hobbes hatte darauf hingewiesen, dass die sinn- liche Wahrnehmung uns nicht das wirk- liche »Wesen an sich« der äusseren Dinge zeige. Dort draussen, hatte er gemeint, gibt es nur Bewegungsvorgänge’der Ato- me; diese Bewegungen wirken auf unsere Sinnesorgane, und alle unsere Empfin- dung ist nur die Reaction unserer Em- pfindungswerkzeuge auf jene Bewegungs- eindrücke; unsere Empfindungen, wie die der Farbe oder des Lichtes, sind also rein subjective Vorgänge in uns, die wir fälschlich mit der Natur der äusseren Dinge verwechseln und auf diese übertragen. Aehnlich hatten auch schon Baco, Descartes und Spinoza sich geäussert. So unterscheidet denn auch Locke in der Wahrnehmung eines Dinges erstens diejenigen seiner Eigenschaften, die in Wahrheit nur subjective Empfin- dungen in uns sind und fälschlich von uns als an dem Dinge befindliche Eigen- schaften genommen werden, und zwei- tens diejenigen, die diesem Gegenstande an sich wirklich zukommen und wirk- lich in seinem eigenen Wesen liegen. Die Eigenschaften des Dinges, die in Wahrheit nur subjective Empfindungen in uns sind, nennt Locke die secun- dären Qualitäten: dahin gehören die Eigenschaften des Geruchs, der Farben, der Töne. Die wirklich objectiven Eigen- schaften der Dinge dagegen nennt Locke die primären Qualitäten: dahin ge- hören Ausdehnung, Undurchdringlich keit, 1% 4 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. Grösse, Gestalt, Lage, Zahl, Bewegung, Ruhe. Die Welt der objectiven Dinge ist also durchaus nicht gleich unserer subjectiven Vorstellung von ihr. Dass wir aber naiv und unkritisch die Natur, wie sie an sich ist, verwechseln mit den durch unsere Sinnesorgane vielfach veränderten subjectiven Vorstellungen von ihr, ist eines der am tiefsten im Menschen haftenden Idole, das ein für alle Mal zerstört werden muss. Die sinnliche Empfindung, Sensation und Reflexion ist der Urquell, aus wel- chem alle im Geiste befindlichen Vor- stellungen ausnahmslos hervorgeflossen sind. Die Vorstellungen selbst aber unterscheiden sich in einfache (simple ideas), wie z. B. die Vorstellung einer Farbe oder eines Tones, und zusam- mengesetzte (complex ideas), das sind solche, welche durch Verschmel- zung von mehreren Elementarvorstel- lungen gebildet sind, wie z. B. die Vor- stellung eines Baumes, in der ja eine Fülle von Einzelvorstellungen sich ver- einigt finden. Aber selbst die aller- complieirtesten Vorstellungen, bei denen, wie z. B. bei abstracten Begriffen, ihre Abstammung von ganz und nur sinn- lichen Elementen auf den ersten Blick nicht mehr zu erkennen ist, entspringen doch in letzter Instanz aus der sinn- lichen Quelle. Man forsche nur nach, und man wird stets ihren Ursprung aus einfachen Ideen entdecken; man wird von da aus den allmähligen Uebergang zu immer abstracterer, von dem sinn- lichen Urelement scheinbar ganz ab- liegenden Form verfolgen können. Selbst Begriffe, bei denen eine solche Ent- stehung aus der Sinnenwelt scheinbar ganz unmöglich ist, wie etwa die Be- griffe Gott, Geist, Seele, sind ursprüng- lich aus einer einfachen Sinneswahr- uehmung hervorgegangen. So gibt Locke hier gewissermassen die Anregung zur Aufstellung einer Descendenz- und Entwickelungstheorie der Vorstel- lungen, und in diesem Locke’schen Sinne ist ja Sprachwissenschaft und Psychologie bemüht, die Herkunft un- serer Abstracta aus einfachen sinnlichen Elementen und ihren allmähligen Ent- wickelungsgang klarzulegen. Wenn nun der Geist an sich leer ist, und alle seine Vorstellungen aus- nahmslos der sinnlichen Wahrnehmung entstammen, so gibt es offenbar nichts im Geiste eines Menschen, was schon vor dem Beginn der sinnlichen Wahr- nehmung in seinem Besitz gewesen, was unabhängig von aller Sinneserfahrung a priori in ihm schon vorhanden ge- wesen, kurz, was ihm angeboren wäre. Die nothwendige Consequenz des Sen- sualismus ist mithin die Verneinung derExistenz der angeborenen Ideen. Schon wiederholt hat uns die Lehre von den angeborenen Ideen beschäftigt. Der unkritische Ursprung der Theorie aus Platon’s Ideenlehre heraus wurde bereits früher (Kosmos, Bd. II. S. 412 f.) von uns aufgedeckt und damit einer historischen Kritik unterworfen. Locke’s Kritik dagegen stützt sich auf Instanzen der Erfahrung und psychologischen Be- obachtung, die wir entwickeln und dann selbst einer Kritik unterwerfen müssen. Bekanntlich finden sich in uns eine Reihe von Vorstellungen oder Ideen, deren sinnlichen Ursprung wir nicht ohne weiteres aufzeigen können. Sie lassen sich in die vier Klassen der theoretischen, moralischen, ästhe- tischen und religiösen Ideen zerlegen. Zu der ersten Klasse gehören die Denk- gesetze, wie sie die Logik entwickelt; zu der zweiten die Ideen des Guten und des Gewissens; zu der dritten die Idee des Schönen und zu der vierten der Begriff Gottes. Es ist eine ausserordentlich schwierige Auf- gabe, die natürliche, psychologische EntstehungundEntwickelung dieser Ideen nachzuweisen. Auf den ersten Blick scheinen sie sogar in absolutem Gegen- satz zur natürlichen Erscheinungswelt Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 5 zu stehen und aus dieser in keiner Weise zu resultiren. Gerade deshalb hatte Platon ihnen einen übernatür- lichen Ursprung zugeschrieben und sie für angeborene Beschaffenheiten der menschlichen Seele, welche vor und un- abhängig von jeder sinnlichen Wahr- nehmung in ihr wären, erklärt, d. h. in Wahrheit sie für unerklärbar erklärt. Bei Platon bildeten jene vier Klassen sogar nur einen Bruchtheil der ange- borenen Ideen überhaupt, waren doch nach ihm alle Vorstellungen ausnahms- los schon in der Seele, ehe diese noch mit dem Leibe und seiner Sinnlichkeit in Berührung kam. Auch Descartes hatte den Gottesbegriff als angeborene Idee bezeichnet, von dieser aber einer- seits die von aussen gegebenen Vor- stellungen (z. B. eines Baumes), anderer- seits die vom Geiste selbst aus Sinnes- elementen gebildeten Vorstellungen (z.B. eines Centauren) unterschieden. Ja, bei Spinoza und Leibniz hatte die Lehre von den angeborenen Ideen, wenn dieselben auch nicht intransscendenter Weise nach Art Platon’s, vielmehr in natürlich immanenter Weise gefasst wurden, wieder neuen Boden und neue Aus- dehnung erhalten. Beide setzten die absolute Erkennbarkeit der Dinge durch reines Denken voraus, und zwar des- halb, weil wegen der substantiellen Ein- heit von Geist und Materie bei Spinoza die richtige Ideenfolge im Geist genau gleich war der Causalfolge der materiel- len Dinge (ordo idearum idem ‘est ac ordo rerum), weil die Geisteswelt so- zusagen die immaterielle Parallele zur Körperwelt bildete, und also der Geist in seinen Ideen die Erkenntniss der Körperwelt schon eingeboren besass. In ähnlicher Weise trug bei Leibniz die Monade als mikrokosmisches Abbild des Makrokosmos alle Ideen a priori in sich, hatte sie doch keine Fenster, durch welche von aussen das Geringste hätte hineinscheinen können. Es ist also der gesammte idealistische Naturalismus, gegen den hier Locke Front macht. Er regt damit Gedanken- gänge an, die nicht blos akademischen Werth haben, sondern auch für eine Reihe praktischer Fragen von grösster Bedeutung sind. Die Zurechnungsfähig- keit eines Menschen vor Gericht z. B. wird ganz anders beurtheilt werden müssen, je nachdem man angeborene Ideen im Menschen annimmt oder nicht. Gilt die Voraussetzung, dass jedem menschlichen Individuum, was und wo es auch sei, und auf welcher Stufe cul- tureller Entwickelung es auch stehe, die moralische Idee des Sittengesetzes an- geboren sei, dass damit die Stimme des Gewissens in derselben Weise in jedem rede, so muss natürlich dann ein unter den ungünstigsten äusseren Verhältnis- sen ohne Erziehung und Belehrung auf- gewachsener Wilder, ja sogar ein Kind, die eines Vergehens sich schuldig machen, ebenso streng beurtheilt und bestraft werden, wie ein Mensch, der nachweis- lich die umfangreichsten Beeinflussungen aller moralischen Cultur und Belehrung genossen und doch kalten Blutes ein Verbrechen beging. Denn angeboren ist ja jenem Wilden und jenem Kinde die Idee von Recht und Unrecht; sie waren sich also bewusst, dass sie eine schwere Sünde begingen. Wenn dagegen die Lehre von den angeborenen Ideen sich als falsch erweist, so folgt, dass erst durch allmählige Entwickelung in der Menschheit wie im Individuum, phylo- genetisch wie ontogenetisch, die mora- lischen Ideen sich nach und nach bil- den, dass also nicht jeder Mensch die- selben Moralideen, noch dieselben in demselben Grade der Feinheit und Klar- heit besitzen kann, dass vielmehr je nach der Entwickelungsweise und Ent- wickelungsstufe bei verschiedenen ein verschiedenes Gewissen existirt. Es folgt also weiter, dass in jedem Specialfall die moralische Entwickelung des Indivi- duums psychologisch genau zu prüfen ist, und je nach derselben die Zurech- 6 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. nung in stärkerem oder geringerem Masse oder auch gar nicht stattfinde, d.h. dass Strafmass und Strafform nicht nach einer und derselben Schablone allen, vielmehr jedem Individuum ver- schieden zuzudictiren sei, ein Gedanke, der in unserer modernen Criminalistik glücklicherweise immer mehr Boden ge- winnt. Welche Bedeutung auch für die Praxis des Pädagogen die Bejahung oder Verneinung der Lehre von den an- geborenen Ideen hat, liegt auf der Hand. Wo die Ideen schon angeboren sind, bedarf es im Grunde gar keiner metho- dischen Erziehung mehr, während erst recht die Kunst der Erziehung da in voller Kraft sich geltend machen kann, wo es sich darum handelt, die an sich noch unbestimmte, doch bestimmbare Seele des Zöglings zu hohen Idealen hin zu entwickeln. Es sind hauptsächlich fünf und im Grunde sehr einfache Instanzen, welche Locke gegen die Lehre von den ange- borenen Ideen einwendet. Wenn es an- geborene Ideen in den Menschen gäbe, so müsste die Zahl dieser Ideen nach so langer Forschung sich doch endlich ‘einmal feststellen lassen; in diesem Punkte herrscht aber bei den Verthei- digern der Theorie nicht die geringste Uebereinstimmung; man hat gewiss ein Recht, gegen eine Lehre, die nicht ein- mal den Umfang ihres Objectes be- stimmen kann, Misstrauen zu schöpfen. Und von'’dem Inhalte zweitens gilt dasselbe. Nicht blos über das Wieviel, sondern auch über das Was des An- geborenseins, ob nur theoretische, oder nur moralische, oder nur religiöse, oder alle zusammen angeboren seien, gehen die Ansichten auseinander. Auch darüber herrscht drittens keine Einigkeit, in wel- cher Form dieser Inhalt angeboren sei; einige meinen, das Angeborene sei nur als Keim angelegt, der erst zu entwickeln sei, aber auch unentwickelt bleiben könne; wiederum andere hegen gar den Glauben, dass die Ideen in Form höchst abstracter Sätze dem menschlichen Be- wusstsein innewohnten, wie z. B. der Satz der Identität (Was ist, das ist), oder des Widerspruchs (Es ist unmög- lich, dass dasselbe Ding sei und nicht sei). Diese Unmöglichkeit, zur Ueber- einstimmung zu gelangen, muss den Be- obachter mindestens stutzig machen. Wenden wir jetzt aber viertens die Forderungen der inductiven Methode auf die Frage an, so müssten bei ge- nauer Durchforschung der Menschen die angeborenen Ideen uns doch bei allen wirklich entgegentreten. Aber weder bei Wilden, noch bei Kindern, noch bei rohen Individuen in einem sonst gebildeten Volke lassen sie sich ent- decken, und der Grund ist klar. Denn alle angeborenen Ideen fünftens sind offenbar die letzten Ergebnisse hoch entwickelter Gedankenprocesse; sie sind also sehr abstracter Natur; sie sind nicht der Anfang, sondern das Ende einer langen psychologischen Entwicke- lungsreihe. Wie überall in der Natur, so auch im Seelenleben zeigt sich das Einfache stets als das erste, das Zu- sammengesetzte als das spätere; stets geht das Concrete dem Abstracten, die sinnliche Wahrnehmung der inneren Idee voraus. Die Lehre, dass Vorstel- lungen von sehr abstractem Inhalt und begrifflicher Tiefe einem im übrigen noch ganz unentwickelten Individuum von vornherein augeboren seien, widerspricht also völligdem natürlichenEntwickelungs- gang des menschlichen Geisteslebens. Die Fähigkeit, Erkenntnisse zu machen, ist angeboren; die Erkenntnisse selbst aber werden erst erworben. Die sog. angeborenen Ideen sind solche erwor- bene Erkenntnisse. Betrachten wir nun beispiels- und erläuterungsweise einige sog. angeborene Begriffe unter den Gesichtspunkten der Locke’schen Kritik. Descartes liess den Begriff des Unendlichen angeboren sein. Können wir aber uns diesen Be- griff irgendwie klar und deutlich vor- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 7 stellen? Klar und deutlich können wir nur das vorstellen, was wir erfahrungs- mässig wahrgenommen haben. Diese er- fahrungsmässigen Wahrnehmungen sind aber alle endlicher Natur; sie sind räumlich, zeitlich und qualitativ be- stimmt; ihre Eigenschaften sind ver- änderlich, ihre Form und ihr Stoff ver- gänglich. Von alledem ist aber das Unendliche das absolute Gegentheil, d.h. es ist das Gegentheil von allem, was wir überhaupt vorstellen können; es ist also ein schlechthin Unvorstellbares. Wir können wohl das Wort »Unend- lich«e im Gedächtniss haben, aber den Inhalt dieses Begriffs kann der tief- sinnigste Metaphysiker sich nicht vor- stellen, geschweige der oberflächliche Sinnenmensch. Setzen wir aber statt des Begriffes »Unendlich« den Begriff »Gott«, so wird von allen Menschen Gott irgendwie in anthropomorphisti- scher Weise, also als ein irgendwie qualitativ bestimmtes, mithin nicht un- endliches Wesen vorgestellt. Befragen wirschliesslich die Entstehungsgeschichte des Begriffs »Unendlich«, so wird uns klar, warum demselben jeder Vorstel- lungsinhalt fehlt: Der denkende Mensch sucht sich den ursächlichen Zusammen- hang der Dinge klar zu machen; die Erscheinung A hat zur Ursache B, dieses wieder zur Ursache © u. s. f. im end- losen Regress. Aber der Verstand be- ruhigt sich nicht bei dieser ins Endlose fortschreitenden und keinen Abschluss gewährenden Causalkette; es muss doch sagt er sich, eine erste Ursache ge- ben, aus der alles folgt. So setzt er, heisse sein Name nun Platon, Aristo- teles oder Leibniz, denn diese erste Ursache. Aber diese erste Ursache ist eben als erste grundverschieden von allen übrigen. Diese secundären Ursachen sind räumlich, zeitlich, quali- tativ, endlich; die primäre Ursache ist in allem das Gegentheil, also un- räumlich, unzeitlich, qualitätlos, unend- lich. Positiv vorstellen können wir nur jene ersteren positiven Prädicate; .der Begriff des Unendlichen besteht aber aus lauter negativen Prädicaten, d. h. es fehlt ihm jeder positive Vorstellungs- inhalt. Wir haben ein Wort, welches eine Summe von Negationen, mithin das Gegentheil einer jeden möglichen Vorstellung bezeichnet. Wie kann nun aber eine Vorstellung angeboren sein, die überhaupt keine Vorstellung ist? Und wie mit diesem Begriff, so ver- hält es sich mit den übrigen sog. an- geborenen Ideen. So soll der Satz der Identität und des Widerspruchs ange- boren sein. Sicherlich sind diese Sätze so abstracter Natur, dass kein Kind sie begreift. In Wahrheit sind aber diese abstracten Sätze auch erst aus einer Fülle concreter Erfahrungen ge- bildet. Ein Kind lernt erfahrungsmässig das Bittere und das Süsse, die Ruthe und die Kirsche von einander unter- scheiden. Es lernt, dass die Ruthe die Ruthe und nicht die Kirsche, und die Kirsche die Kirsche und nicht die Ruthe ist. Nicht aber liegen, ehe es Kirschen und Ruthen kennen lernte, jene ab- stracten Sätze schon in ihm; die meisten Menschen kommen überhaupt niemals zur Bildung derselben; unmöglich kön- nen sie angeboren sein. Verwirft Locke schon die Lehre von den angeborenen Ideen, so erst recht die platonisch-aristotelische Ideenlehre überhaupt. Die abstracten Begriffe wer- den aufpsychologischemW ege immensch- lichen Denken gebildet; ausserhalb des- selben sind sie nichts; wie könnten sie also gar an sich existirende Wesen sein! Als Nominalist und erst recht als Sensualist erklärt Locke die All- gemeinbegriffe für blosse Wörter, mit denen eine Summe gleichartiger Indi- viduen bezeichnet werden. Die Gat- tungen existiren nicht in der Natur, in der es vielmehr nur Individuen gibt. So lässt Locke auch die Annahme nicht gelten, dass die Arten absolut constante und unveränderliche Typen seien, und 8 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. in dieser Beziehung kann er mithin ein Vorläufer Darwin’s genannt werden. Von den fünf Gründen, welche Locke gegen die Constanz von in der Natur selbständig existirenden Gattungstypen vorbringt, können wir zwei als erkennt- nisstheoretische und die übrigen drei als rein empirische bezeichnen. Erstens: die sog. Gattungen sind als abstracte Begriffe blos subjective Gebilde des menschlichen Geistes; sie sind mithin gar nicht extra animam in der Natur. Dies folgt aus dem Sensualismus. Zwei- tens: wenn es in der Natur solche Gattungstypen gäbe, so würde die Na- tur, wie ein Künstler, nach diesen Ty- pen wie nach Musterbildern oder Mo- dellen die einzelnen Individuen gestal- ten. Das Schaffen des Künstlers nach einem Vorbilde ist ein zweckmässiges Gestalten. Auch das Handeln der Na- tur müsste also ein zweckmässiges Han- deln sein. Aber auch der Zweckbegriff ist ein blos menschlicher Begriff. Es hiesse blos Menschliches auf die Natur übertragen, die Natur zu einem geisti- gen Wesen nach der Analogie des Men- schen machen, mit einem Worte die Natur anthropomorphistisch betrachten, wenn man sie nach Zwecken, d. h. nach von ihr gedachten geistigen Vorstellun- gen handeln lassen wollte. Die Natur handelt nicht nach Zwecken, schafft mithin auch nicht nach Gattungstypen, die als reine Zweckvorstellungen nicht in ihr liegen können. Wenn es drit- tens in der Natur feste Gattungen, Typen, Modelle gäbe, wie könnte die durch diese Zwecke mit eiserner Natur- gesetzlichkeit beherrschte Natur dann je ihre Zwecke verfehlen? Sie verfehlt sie aber häufig genug. Alle Missgeburten sind, wie Baco es ausdrückte, solche praetergenerationes, d. h. Bildungen, in denen sie an ihrem Ziel vorbeischoss. Wenn der unwandelbare Typus in der Natur wirklich bestände, so könnten Missgeburten gar nicht vorkommen. Wenn viertens die Natur nach solchen festen und ihrer Zahl nach begrenzten Zweckvorbildern schüfe, dürfte sie offen- bar immer nur Gebilde hervorbringen, die diesen Modellen genau entsprächen. Wie könnten dann aber so zahllos viele individuelle Varietäten oder Spielarten vorkommen, die doch ebenso viele Ab- weichungen von dem Gattungstypus dar- stellen, und deren es so unendlich viele gibt, dass, je mehr unsere Kenntniss von den Naturformen wächst, um so weniger Hoffnung vorhanden ist, die festen Grenzen einer Art zu bestimmen, da die sog. Arten continuirlich in ein- ander übergehen. Wenn fünftens diese Gattungstypen in der Natur schlechthin gegeneinander abgeschlossene und un- veränderliche Formen wären, von denen also die eine niemals auf die andere abändernd einwirken könnte, so dürften offenbar zwischen verschiedenen Arten niemals fruchtbare Zeugungen, mit an- deren Worten keine Bastarde vorkom- men, während im Gegentheil die Natur- wissenschaft heute immer mehr solcher Bastardzeugungen im Thier- und Pflan- zenreich aufzuweisen vermag. Glaubt man nicht, zumal in den drei letzten empirischen Argumenten Darwin selbst reden zu hören? Eine Kritik des Locke’schen Sensua- lismus, zu der wir jetzt übergehen, wird sich vorzugsweise auf eine Untersuchung des Begriffs des »Angeborenen« einzu- lassen haben. Zwei Extreme stehen sich hier gegenüber. Einerseits wird behauptet: es gibt nichts Angeborenes im Geist, andererseits: Alles im Geist ist angeboren. In Wahrheit sind beide Extreme im Irrthum. Darin hat Locke unzweifelhaft Recht, dass von ange- borenen Ideen im Sinne angeborener abstracter Begriffe oder ganzer Begriffs- verbindungen keine Rede sein kann. Aber gibt es desshalb gar nichts An- geborenes im Individuum? Nach Locke’s Lehre von der tabula rasa ist der Geist, möge er nun materialistisch oder spiri- tualistisch gefasst werden, offenbar ein Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. Q ganz passives, ohne jede Activität und Spontaneität. Er wird vollgeschrieben; er hat wohl die Fähigkeit zu leiden, aber nicht zu handeln. Ist denn aber der Geist wirklich ein so passives We- sen, das fast einem leblosen Dinge gleicht? Es ist doch eine Thatsache, dass alle Individuen dieselben Dinge der Welt in ganz specifischer, von der Art eines jeden anderen Individuums charakteristisch abweichender Weise auf- fassen; dass alle Individuen dieselben Eindrücke in ganz besonderer Weise zu neuen Phantasiebildern und Begriffsver- bindungen verarbeiten. Wie könnte diess der Fall sein, wenn der Geist nur eine passive leere Tafel wäre? Sollte man nicht meinen, dass diese indifferente Tafel unter denselben Umständen bei allen Individuen in genau derselben Weise beschrieben würde und die grösste Einförmigkeit herrschen müsste? Gerade jene unendlich mannigfaltigen indivi- duellen Bethätigungen beweisen, dass im Geiste, der doch, was er auch: an sich sonst sein möge, auf alle Fälle ein Lebendiges ist, eine thätige, selb- ständige und spontane Kraft liegt, und dass insofern ein »Angeborenes« in ihm ist. Aber eben dieser Begriff »Ange- boren« ist nun genau zu definiren. Als Ausgangspunkt dazu diene fol- gender Fall aus der Anthropologie. Ein brasilianischer Indianer wird als kleiner Knabe von einer portugiesischen Familie in Bahia auferzogen; er empfängt die- selben Eindrücke und geniesst denselben Unterricht wie die Kinder seiner Pflege- eltern; er absolvirt Gymnasium und Universität, um dann mehrere Jahre hindurch als gesuchter Arzt in Bahia zu praktieiren. Da bemächtigt sich sei- ner eine allmählig sich steigernde Schwer- muth, und plötzlich ist er verschwunden. Nach mehreren Jahren trifft man ihn zufällig in den Urwäldern wieder, in- mitten seiner wilden Horde, der Cultur ebenso bar wie der Kleider. Ein un- widerstehlicher Zug habe ihn zu seinen Stammesgenossen zurückgetrieben, er- klärt er, und alle Versuche, ihn zur Rückkehr zu bewegen, bleiben erfolglos. Die Acten der empirischen Psychologie kennen genug solcher Fälle, und ihre Erklärung sagt uns, dass das Angeborene, d. h. das durch viele Generationen hin- durch Angeerbte, also hier z. B. die Rasseneigenthümlichkeit eine gewaltigere Macht im Menschen habe als das in- dividuell Anerworbene. Hier treten also die angeborenen Anlagen mit gröss- ter Gewalt und Deutlichkeit hervor, wie auch in dem häufig vorkommenden Fall, wo zwei Kinder unter genau gleichen Umständen erzogen und gebildet wer- den und doch jedes einen ganz ver- schiedenen Weg in Charakter und Geist einschlägt, eben den, welchen nachweis- lich schon seine Eltern und Voreltern gewandelt sind. Wenn demnach die heutige Psychologie im Gegensatz zu Locke den Begriff des Angeborenen stehen lassen muss, so ist sie trotzdem weit entfernt, ihn etwa im Platonischen oder Leibnizischen Sinne zu fassen. Die Platonische Theorie erklärt das Angeborene für etwas absolut Ueber- natürliches und in keiner Weise durch Naturgesetze Erklärbares. Die heutige Psychologie sagt dagegen: Das Ange- borene ist ein durchaus Natürliches und aus natürlichen Gesetzen völlig Erklärbares. Die Platonische Theorie erklärt alles im Geist für angeboren; in Wahrheit werde gar nichts von der Seele erworben; dieselbe erinnere sich vielmehr nur dessen, was sie während ihrer Prae&xistenz im Jenseits schon ge- schaut habe; alles scheinbare Lernen sei in Wahrheit nur ein Sichwieder- bewusstwerden dessen, was bereits im Geiste liege. Die moderne Theorie da- gegen sagt: einiges nur ist angeboren, anderes dagegen von der Seele durch Wahrnehmung und Erfahrung erworben. Die Platonische Theorie lässt das An- geborene als Ideen in abstracten Be- griffen und deren Verbindungen beste- 10 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. hen. Heute sagt man: Das Angeborene besteht in blossen Anlagen, d. h. in blos formalen Dispositionen zu etwas, ohne dass der bestimmte Vor- stellungsinhalt dieses Etwas schon darin läge und auch mit angeboren wäre. Das Kind eines Musikers z. B. wird schon geboren mit einer eigen- thümlichen Tendenz seiner geistigen Kräfte zu musikalischer Bethätigung und dem entsprechender Structur seines Nervensystems; dadurch wird es prae- disponirt, vorzugsweise in musikalischer Beziehung vorzustellen; nicht aber, als ob es deshalb schon ganze Melodien mit auf die Welt brächte; vielmehr, würde dieses Kind niemals einen musi- kalischen Ton hören, so würden auch diese Anlagen sich nie entwickeln, die latenten Kräfte nie zu lebendigen wer- den. Damit die formellen Dispositionen also wirklich einen Vorstellungsinhalt bekommen, damit aus dem blossen an- geborenen Sinn für etwas ein actives Talent werde, dazu bedarf es stets erst der Befruchtung und Anregung durch die sinnlichen Eindrücke der Aussenwelt. Der antiken Theorie zufolge muss bei allen Menschen das Angeborene dasselbe sein. Die Ideen des Wah- ren, Schönen, Guten und Heiligen sind allen Menschen in gleicher Weise an- geboren, handele essichnun um Eskimos, Chinesen, Franzosen oder Pescherähs. Nach der modernen Theorie ist da- gegen das Angeborene bei verschie- denen Menschen sehr verschieden, je nach Abstammung, Zeit, Art, 'Gesell- schaft, kurz je nach der besondern Lage des Individuums. Die Frage ferner, warum bei allen Menschen ein Ange- borenes sich findet, wird von der alten Theorie dahin beantwortet, dass der Seele von Ewigkeit her durch Gott das Angeborene inübernatürlicher Weise angeschaffen sei, dass es also keines- wegs im Laufe natürlicher, psychologi- scher Processe entstanden sei. Dagegen erklärt die moderne Lehre das Ange- borene gerade für ein auf natürliche, physiologisch-psychologische Weise ent- standenes. Die Einflüsse der gesamm- ten äusseren Umgebung wirken auf ein Individuum während seines ganzen Le- bens fortgesetzt in einer ceteris paribus gleichmässigen Weise ein; diesen Ein- wirkungen passt sich das Individuum an, danach bildet sich sein körperliches wie geistiges Wesen. Die so auf sen- sualistischem Wege im Individuum ent- standenen Beschaffenheiten werden durch die Zeugung von den Eltern auf die Kinder übertragen; sie werden als for- male Dispositionen auf diese vererbt, und bleiben die Kinder unter denselben Einflüssen und üben sie die ererbten Anlagen in derselben Richtung wie die Eltern, so ist die Folge davon, dass diese Anlagen sich mehr und mehr ver- stärken, und dass sie schliesslich im Laufe der Geschlechter zu einer Macht im» Individuum werden, denen dasselbe als seinen so entstandenen, angeerbten und angeborenen Instincten willenlos und unbewusst in seinem Wesen und Handeln unterworfen ist. So wird gegen Locke auch heute das Angeborene gerettet, doch zugleich auch der Gegensatz sowohl gegen Platon als gegen Leibniz aufrecht erhalten. Locke hatte Recht, insofern er sich gegen die Platonische Theorie kehrte, aber Leibniz hatte gegen Locke Recht, wenn er die Existenz des Angeborenen vertheidigte. Unrecht hatte Leibniz, wenn er im Sinne der Monadologie der Monade alles angeboren sein liess und das Angeborene für etwas Ewiges, Un- entstandenes und Unveränderliches er- klärte. Gegen alle diese Theorien spre- chen die deutlichen Thatsachen, mit denen allein die Auffassung unserer modernen physiologischen Psychologie im Einklang steht. (Fortsetzung folgt.) Caltha dionaeaefolia, eine neue insectivore Pflanze. Von Dr. Wilhelm Behrens. (Mit 7 Holzschnitten.) Augenblicklich mit dem Studium der antarctischen Flora beschäftigt, habe ich Gelegenheit gehabt, die Bekannt- schaft eines kleinen, unscheinbaren Pfänzchens zu machen, dessen Blatt- structur mir interessant genug zu sein scheint, um hier besonders beschrieben zu werden. Es ist dieses Caltha dionaeae- folia Hook. fil., ein Gattungsgenosse unserer gemeinen Sumpfdotterblume, Caltha palustris. Die Gattung Caltha wurde 1818 von dem älteren De Candolle* in zwei Sub- genera Psychrophila und Populago ge- spalten: bei dem ersten bleiben die Kelchblätter (Blüthenblätter besitzt die Gattung Caltha überhaupt nicht) auch während der Fruchtreife vorhanden, bei dem letzten fallen sie nach der Bestäu- bung ab, wie bei unserer einheimischen Art, die mit noch etwa einem Dutzend ausländischen die Untergattung Populago bildet. Die Untergattung Psychrophila ent- hält nur drei Arten, welche insgesammt der antarctischen Flora angehören, (. sa- gittata Cavan., O. appendiculata PERS. und unsere (. dionaeaefolia Hook. fil. * De Candolle Systema naturale, Parisiis 1818, vol. II, pag. 307, Letztere ist in dem kostbaren Pracht- werke: The botany of the antarctic voyage of H. M. Discovery-ships Erebus and Terror by J. D. Hooker* be- schrieben und abgebildet und nach den dort gegebenen Daten, sowie an der Hand einiger reproducirten Hooker’- schen Zeichnungen will ich hier die- jenigen Theile der Pflanze, welche uns vornehmlich interessiren, beschreiben. Das ganze Pflänzchen ist 4 bis 6 Centimeter hoch, die Stengel stehen sehr dicht zusammengedrängt, sind sehr ästig und bilden einen dichten Rasen; an ihrem unteren Theile sind sie mit den trocken gewordenen braunen Neben- blättchen der abgefallenen Blätter be- deckt, sie senden hier und dort dicke, nicht verzweigte Wurzeln in den Boden. (Figur I. II.) An ihrer Spitze tragen die Aestchen kleine Blüthen, die innen strohgelb, äusserlich gesättigt gelb sind. (Fig. III.) Kelchblätter sind fünf vorhanden, sie stehen in der geöffneten Blüthe stern- förmig auseinander; die Gestalt der ein- zelnen ist elliptisch-eiförmig, dicht vor * Vol. I, Flora antarctica; Part. II, Bo- tany of Fuegia, the Falklands, Kerguelen’s- Land ete. pag. 229. t. LXXXIV. Behrens, Caltha dionaeaefolia, Caltha (Psychrophila) dionaeaefolia Hook. fil. I, 11. Blühende Pflänzchen in natürlicher Grösse. — III. Blüthe vergrössert. — IV. Blatt von der Seite, geöffnet. — V. Dasselbe von der Seite, geschlossen. — VI. Blattlamina von vorn, geöffnet. Bei den durchweg vergrösserten Figuren IV, V, VI bedeutet a Blattscheide (Vagina), b Blattstiel, c ce rechte und linke Hälfte der Blattlamina, d Anhänge derselben. der Spitze etwas zusammengeschnürt; sie sind fleischig-dick und von zahl- reichen Nerven durchzogen. Innerhalb derselben stehen 7 Staubgefässe mit grossen, gelben Antheren und dicken, purpurgefleckten Filamenten, ferner 2 bis 3 kleine, schief-eiförmige, oben stumpfe Fruchtknoten. Das Interessanteste an der Pflanze sind die Blätter, die in den Figuren IV—VI vergrössert dargestellt sind. Sie haben mitsammt dem Blattstiele Behrens, Caltha dionaeaefolia. nur die geringe Länge von 10 bis 14 Millimeter. Der Blattstiel erweitert sich dort, wo er dem Stengel angewachsen ist, fügelartig zu einer grossen, kahn- förmigen Scheide von häutiger Beschaffen- heit und hellbräunlicher Farbe («@), die in ihrem oberen Theile beiderseitig so- gar verwächst, so dass die freie, obere Hälfte des Blattstieles (db) wie auf dem Rücken der Scheide entspringend er- scheint. Eine derartige Scheiden- oder Vaginabildung findet sich noch bei den meisten übrigen Hahnenfussgewächsen oderRanunculaceen (zu welcher Pflanzen- familie Caltha gehört), freilich nicht in diesercolossalen Entwickelung. Derdicke, saftig-grüne Blattstiel b trägt an seiner Spitze die sonderbar gestaltete Blatt- fläche oder Blattlamina (e). Dieselbe ist kleiner als die Vagina, etwa 4 bis 7 Millimeter lang, fleischig-diek und von schön grüner Farbe. Ihr äusserer Um- riss ist rund-eiförmig und oben ist sie bis auf ein Drittel ihrer Länge gespal- ten, so dass sie in einen rechten und und einen linken Seitenlappen zerfällt. Jeder Lappen ist conduplicat (einge- faltet), d. h. er besitzt an seiner Basis innerlich einen Anhang. (d Figur VI.) Die beiden Anhänge — jeder hat eine elliptische Gestalt — sind zu einem Organe verwachsen, wie es Figur VI. d deutlich zeigt. Die Ränder der Blatt- fläche wie der Anhänge tragen zahl- reiche, starke Dornen, welche eine senk- rechte Stellung in Bezug auf die Fläche dieser Organe einnehmen. Ausserdem ist die Innenseite der Blattlamina ganz dicht mit klebrigen Papillenhaaren be- setzt. (Figur VL) Endlich vermag die Lamina sich gegen die Anhänge hin zu bewegen: Figur VI stellt das Blatt vor dieser Bewegung (offen), Figur V nach derselben (geschlossen) dar. Jeder nun, der die elegante Fliegen- fallen-Einrichtung beideramerikanischen Fliegenfalle, Dionaea muscipula, kennt, wird sofort einsehen, dass diese ganze Vorrichtung keiner anderen Funktion “leben, pag. 60 Fig. 1, 2. 13 dienen kann, als dem Insectenfang. Auch Hooker kann bei der Beschreibung der Pflanze die Bemerkung nicht unter- drücken: »The similarity between the leaf of this and of the Dionaea musei- pula (American Fly-trapp) is very strik- ing.« Nachdem uns aber durch Ch. Dar- win die Eigenthümlichkeit der > Insecten- fresserei« bei vielen Pflanzenarten be- kannt geworden ist, können wir nicht nur von vorn herein die Bedeutung des ganzen Gebildes einsehen, sondern es muss auch sogar unsere höchste Be- wunderung erregen, dass bei zwei Pflan- zen aus so verschiedenen Familien wie Dionaea (Droseracee) und Caltha (Ra- nunculacee) zwei so übereinstimmende Einrichtungen angetroffen werden. Ja, vergleichen wir den Fangmechanismus von Dionaea*, wie wir ihn in beistehen- der Abbildung sehen, mit dem von un- Dionaea museipula. Blatt im ausgebreiteten Zustande von der Seite. Aus Ch. Darwin, Insectenfressende Pflanzen. serer Caltha, so können wir nicht umhin, zu gestehen, dass er hier noch schöner ist — noch sinnreicher, hätten wir bei- nahe gesagt, wenn nicht der Ausdruck von der modernen Auffassung verpönt wäre. Caltha dionaeaefolia hat nur einen Verwandten, es ist die oben erwähnte C. appendieulata — sowohl dem äusse- ren Habitus nach, als auch bezüglich der Blattbildung. Zwar fehlt der Fang- ® Vgl. Dodel-Port, Ilustrirtes Pflanzen- D) 14 apparat bei dieser ganz, aber die klei- nen, keilförmigen, dreispaltigen Blätter tragen an der Basis zwei öhrchenartige, lineare Anhänge, welche auf der oberen Blattlamina entspringen und ihr dicht anliegen. Die dritte Art der Unter- gattung Psychrophila, C. sagittata, steht unserer (C. palustris viel näher als den beiden genannten. ©. appendiceulata und dionaeaefolia sind eminent antarctische Pflanzen. Sie gehen nicht weiter nach Norden hinauf als bis Feuerland und die letztere wurde überhaupt erst von drei Reisenden ge- sammelt, von Forster und Darwin in Feuerland und von Hooker auf einer kleinen in der Nähe liegenden Insel. In den südlichen Theilen Feuer- lands ist sie eine sehr gemeine Pflanze, sie bedeckt hier weite, ausgedehnte Stellen moosartig mit tiefem, leuchten- den Grün, inmitten welches die gelben, sternförmigen Blüthchen ein äusserst hübsches Aussehen haben. Der wohl zweifellose Insectenfang seitens des Pflänzchens ist leider noch nie beobachtet worden. Er könnte über allen Zweifel erhoben werden, wenn Je- mand ‚Gelegenheit finden würde, ein wenn auch getrocknetes Herbariums- Behrens, Caltha dionaeaefolia. exemplar des Pflänzchens zu zergliedern. Dann würden sich zwischen der Blatt- lamina und ihren Anhängen gewiss kleine Insectenleichen finden, die der Pflanze zum Opfer gefallen waren. Allein bei der Spärlichkeit antarctischer Pflanzen auch in unseren grösseren Herbarien wird dieses wohl nicht so leicht mög- lich sein. | Jedenfalls ist die Frage nicht un- nütz, ob in dem so ärmlichen Vater- lande unserer Caltha auch Insecten, welche sie fangen kann, vorkommen. Zwar sagt Darwin*, er habe im Feuer- lande nur sehr wenige Insecten bemerkt, und, was noch auffälliger war, in er- staunlich geringer Individuenzahl. Allein Insecten, welche für die kleinen Blätt- chen der Caltha dionaeaefolia eine Jagd- beute werden könnten, nämlich sehr kleine Dipteren und auch wohl Hyme- nopteren, kommen zahlreich genug in jedem Lande vor; sie begleiten den R®isenden bis in die höchsten Breiten- grade, bis auf die höchsten Gipfel der Berge, weit hinaus über die Grenzen des ewigen Schnees. * Reise eines Naturforschers um die Welt, deutsch von J. Vietor Carus, pag. 273. Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere, Eine in der Londoner Zoologischen Gesellschaft gehaltene Vorlesung. Von Professor Th Mancherlei Thatsachen, deren Werth nicht in Frage gestellt worden ist und die meiner Ansicht nach die Bedeutung | von Beweisen haben, sprechen dafür, dass zwischem dem Anfang der Tertiär- zeit und der Gegenwart die Gruppe der pferdeartigen Thiere (Equidae) durch eine Reihe von Formen repräsentirt worden ist, von denen die ältesten so beschaffen waren, dass sie am wenig- sten vom allgemeinen Typus des Baues der höheren Säugethiere abwichen, wäh- rend die jüngsten sich am weitesten von diesem Typus entfernen. Thatsächlich besitzt das älteste uns bekannte pferde- artige Thier vier vollkommen ausgebil- dete, nahezu gleich lange Finger am Vorderfusse und drei am Hinterfusse; die Ulna ist vollständig und vom Radius getrennt, ebenso die Fibula von der Tibia; es sind vierundvierzig Zähne vorhanden, unter denen die Eck- zähne in voller Anzahl auftreten, und die Backzähne haben niedrige Kronen mit einfacher Oberflächenbildung und früh gebildete Wurzeln. Der späteste * Anm. der Red. Wir sind Herrn Professor Huxley für seine Güte, die vor- .;H. Huxley.” ; Vertreter anderseits besitzt blos einen vollständig ausgebildeten Finger an je- dem Fusse, während die übrigen durch ' blosse Rudimente vertreten sind; die ' Ulna ist verkümmert und theilweise mit dem Radius verschmolzen; die Fibula erscheint noch mehr verkümmert und theilweise mit der Tibia verschmolzen: die Eckzähne sind bei dem Weibchen ; theilweise oder vollständig unterdrückt; ‚ die ersten Backzähne bleiben in der ; Regel unentwickelt, und wenn sie auf- | treten, so sind sie sehr klein; die übri- gen Backzähne endlich haben hohe Kro- nen mit ausserordentlich complieirter. Oberflächenbildung und spät gebildete Wurzeln. Die Equidae der dazwischen- liegenden Zeitalter bieten dann ver- mittelnde Charaktere dar. Was nun die Erklärung dieser Thatsachen betrifft, so lassen sich augenscheinlich zwei, und nur diese zwei Hypothesen darüber auf- stellen. Die eine nimmt an, dass diese aufeinanderfolgenden Formen der pferde- artigen Thiere unabhängig von einander ins Leben getreten seien. Die andere liegende deutsche Uebersetzung selbst durch- zusehen, zu besonderem Danke verpflichtet. 16 Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze nimmt an, dass sie das Resultat einer allmähligen Umwandlung darstellten, welche die nach einander folgenden Glie- der einer continuirlichen Reihe von Vor- fahren erlitten. Da ich nicht wüsste, dass irgend ein Zoologe noch an der ersteren Hypothese festhielte, so halte ich es auch nicht für nothwendig, dieselbe näher zu besprechen. Die Annahme der zweiten aber ist gleichbedeutend mit der Anerkennung der Entwickelungs- lehre, soweit die Pferde in Frage kom- men, und da ich keine Zeugnisse für das Gegentheil kenne, so darf ich wohl annehmen, dass dieselbe hier anerkannt ist. Seit dem Beginne der Eocänperiode haben die Thiere, welche die Familie der Equidae bilden, einen dreifachen Um- wandlungsprocess durchgemacht: 1) hat eine übermässige Ausbildung gewisser Körpertheile der älteren Formen gegen- über anderen stattgefunden; 2) haben gewisse Theile eine vollständige oder theilweise Verkümmerung erlitten, und 3) sind Theile, die ursprünglich getrennt waren, mit einander verschmolzen. Fas- sen wir den Ausdruck »Gesetz« einfach in dem Sinne einer allgemeinen Formu- lirung von durch Beobachtung fest- gestellten Thatsachen, so kann ich diese 3 Processe, vermöge deren die Eohippus- Form in die Eqwus-Form übergegangen ist, als Ausdruck eines dreifachen Ent- wickelungsgesetzes hinstellen. Es ist nun vom höchsten Interesse, zu be- achten, dass dieses Gesetz oder diese verallgemeinerte Darstellung von der Natur der Vorfahrenentwickelung des Pferdes genau übereinstimmt mit der, welche den Process der individuellen Entwickelung bei den Thieren im all- gemeinen ausdrückt, von der Zeit an, wo die wichtigsten Charaktere der Gruppe, welcher ein Thier angehört, unterscheid- bar werden, bis zu seinem ausgewachse- nen Zustande. Nachdem z. B. der Em- bryo eines Säugethieres seinen allgemei- nen Säugethiercharakter erlangt hat, besteht sein weiterer Fortschritt bis zur fertigen Form wesentlich in dem über- mässigen Wachsthum eines Theils im Verhältniss zu anderen, in dem Still- stand oder der Unterdrückung von be- reits angelegten Theilen und in der Verschmelzung von Theilen, die ur- sprünglich getrennt waren. Dieses Zu- sammentreffen der Gesetze der vorälter- lichen und der individuellen Entwicke- lung erweckt ein festes Vertrauen auf die allgemeine Giltigkeit des ersteren und die Ueberzeugung, dass wir das- selbe getrost in Anwendung bringen dürfen, wenn es sich um deductive Schlussfolgerungen von Bekanntem auf Unbekanntes handelt. Der Astronom, welcher den Ort eines neuen Planeten bestimmt hat, berechnet daraus seinen Ort zu jeder beliebigen früheren oder späteren Zeit, wie fern dieselbe auch sein möge; und wenn wir uns auf das Entwickelungsgesetz verlassen dür- fen, so kann der Zoologe, welcher eine bestimmte Strecke des Verlaufs dieser Entwickelung in irgend einem gegebenen Falle kennt, mit eben solchem Rechte rückwärts auf die früheren, aber noch unbekannten Stadien zurückschliessen. Indem wir nun diese Methode .auf das Pferd anwenden, ‚sehe ich nicht ein, dass irgend ein Grund vorläge, zu be- zweifeln, dass die eocänen Equidae ihre Vorläufer in mesozoischen Formen ge- habt haben, welche in ähnlicher Weise von Eohippus abwichen, wie Eohippus von Eguus sich unterscheidet. Und auf diese Weise werden wir schliesslich zu der Vorstellung von einer ersten Form in der Pferdereihe geführt, welche, wenn das Gesetz allgemeine Giltigkeit besitzt, mit fünf nahezu gleichen Fingern an jedem plantigraden Fusse, mit voll- ständig ausgebildeten, nahezu gleichen Unterarm- und Unterschenkelknochen, mit Schlüsselbein und zum mindesten mit vierundvierzig Zähnen versehen gewesen sein muss, unter denen die Backenzähne kurze Kronen und einfach auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere. 17 gefältelte oder höckerige Oberflächen- bildung hatten. Nachdem überdies die Untersuchungen von Lartet und Marsh uns gezeigt haben, dass die älteren For- men jeder beliebigen Säugethiergruppe weniger entwickelte Gehirnhemisphären hatten als die späteren, so liegt von vorn- herein die Wahrscheinlichkeit nahe, dass dieses ursprüngliche pferdeartige Wesen auch eine niedrigere Form des Gehirns aufwies. Da ferner das lebende Pferd eine diffuse Allantois-Placenta besitzt, so kann die primäre Form jedenfalls nicht eine höhere, sondern wird vielmehr wahrscheinlich eine einfachere Form der verschiedenen Einrichtungen besessen haben, vermöge deren der Fötus Nah- rung aus dem mütterlichen Körper be- zieht. Ein solches Thier jedoch, wie das beschriebene, würde in keinem un- serer Classificationssysteme der Säuge- thiere einen Platz finden. Es würde den Halbaffen und den Insectivoren am näch- sten kommen, aber der nichtprehensile Fuss würde es doch von den ersteren und die Art seiner Placentabildung von den letzteren trennen. Eine natürliche Classification zeich- net sich nun dadurch aus, dass sie alle jene Formen zusammenstellt, welche zu- nächst mit einander verwandt sind, und sie von den übrigen trennt. Allein man mag das Wort »Verwandtschaft< in gewöhnlichem Sinn oder in rein morpho- logischem Sinn in Anwendung bringen, immer bleibt es unmöglich, sich zwei Gruppen von Thieren zu denken, welche näher mit einander verwandt wären als unsere ursprünglichen Hippoiden mit ihren Nachkommen. Und doch müssen auf Grund der herrschenden Anordnung die Vorfahren in die eine Ordnung der Säugethiere gestellt werden und ihre Nachkommenin eine andere. Man könnte zwar einwenden, dass es wohl besser wäre, abzuwarten, bis dieses primordiale Hippoid entdeckt ist, bevor man die Schwierigkeiten in Betracht zieht, welche durch sein Auftreten geschaffen werden Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). könnten. Allein die Sache liegt so, dass diese Frage bereits in einer andern Form zur brennenden geworden ist. Zahlreiche »Lemuren« mit ausgeprägten Hufthiercharakteren sind in den älteren Tertiärschichten der Vereinigten Staa- ten und anderswo entdeckt worden und Niemand kann die älteren Säugethiere, mit denen wir bereits längere Zeit be- kannt sind, studiren, ohne beständig von den insectivoren Eigenthümlichkeiten überrascht zu werden, welche sie dar- bieten. Es gibt geradezu keinen Punkt in der Definition der Primaten, Carni- voren oder Ungulaten, der irgend ein Mittel an die Hand gäbe, um zu ent- scheiden, ob ein gegebenes fossiles Ske- let mit beinahe vollständig erhaltenem Schädel, Zähnen und Gliedmaassen zu den Lemuren, den Insectivoren, den Car- nivoren oder den Ungulaten gestellt werden müsste. In welcher Ordnung von Säuge- thieren immer bisher eine genügend lange Reihe von Formen zum Vorschein gekommen ist, stets bildete sie einen Beleg des dreifachen Entwickelungs- gesetzes, der ebenso klar, wenn auch vielleicht nicht so überraschend war wie derjenige der Pferdereihe. Carnivoren, Artiodactylen und Perissodactylen; alle streben, je weiter wir sie durch die Tertiärperiode zurückverfolgen, zu im- mer weniger abgeänderten Formen hin, welche in keine der anerkannten Ord- nungen passen, sich aber derjenigen der Inseetivoren mehr als irgend einer an- deren annähern. Es wäre jedoch höchst unbequem und irreführend, wenn man diese primordialen Formen Insectivoren nennen wollte, indem die so bezeich- neten Säugethiere selbst mehr oder we- niger specialisirte Umformungen des- selben gemeinsamen Typus und nur in theilweisem und sehr beschränktem Sinne geradezu Vertreter dieses Typus genannt werden können. Die Wurzel der Frage scheint mir darin zu liegen, dass die paläontologischen Thatsachen , welche 2 18 im Laufe der letzten zehn oder fünf- zehn Jahre ans Licht gezogen wurden, vollständig die gegenwärtigen taxono- mischen Vorstellungen umgestürzt haben und dass dadurch die Versuche, neue Classificationen nach dem alten Muster aufzustellen, nothwendigerweise frucht- los geworden sind. Die Cuvier’sche Methode, welchersich alle neueren Classi- ficationen angeschlossen haben, war von unermesslichem Werthe, indem sie zu der genauen Untersuchung und der scharfen Bestimmung der anatomischen Charaktere der Thiere führte. Allein ihr Princip, namentlich die Zusammenstel- lung in scharfe, logische, durch solche Charaktere bestimmte Kategorien, wurde schon erschüttert, als von Baer zeigte, dass bei der Beurtheilung der Aehnlich- keiten und Unähnlichkeiten von Thieren die Entwickelung in ihrem ganzen Um- fang in Rechnung gezogen werden muss; und sobald man die Bedeutung der in- dividuellen Entwickelungeingesteht, folgt daraus nothwendigerweise auch diejenige der Vorfahrenentwickelung. Wenn der Zweck aller zoologischen Classification ein klarer und bestimmter Ausdruck der morphologischen Aehnlichkeiten und Ver- schiedenheiten der Thiere ist, so müs- sen alle solchen Aehnlichkeiten auch ihren taxonomischen Werth haben. Dieselben zerfallen aber in drei Gruppen: 1) die- jenigen der ausgewachsenen Individuen, 2) diejenigen der aufeinanderfolgenden Stadien in der embryonalen Ausbildung oder der individuellen Entwickelung, und 3) diejenigen der aufeinanderfol- genden Stadien in der Entwickelung der Species oder in der Vorfahrenent- wickelung. Eine Anordnung ist nun »natürlich«, d.h.logisch berechtigtgenau in demselben Maasse, als sie die Be- ziehungen der Aehnlichkeiten und Ver- schiedenheiten, wie sie in diesen drei Gruppen aufgestellt wurden, zum Aus- druck bringt. Versucht man also, die Säugethiere zu classificiren, so muss man nicht allein ihre fertigen und ihre Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze embryologischen Charaktere in Betracht ziehen, sondern auch ihre morphologi- schen Beziehungen, insofern als die ver- schiedenen Formen verschiedene Ent- wickelungsstufen repräsentiren. Und so zeigt sich denn, dass ebenso wie der fortdauernde Widerstand Cuvier’s und seiner Schule gegen das Wesen der Lehren Lamarck’s (so unvollkommen und widerspruchsvoll auch dieselben oft in ihren Einzelheiten waren) sich als ein reactionäres Missverständniss her- ausgestellt hat, so auch Cuvier’s nicht minder bestimmte Zurückweisung des Prinecips von Bonnet’s »£chelle des etres« nicht minder unglücklich war. Die Existenz einer >» Scala animantium« ist eine nothwendige Folgerung aus der Entwickelungslehre und ihre Aufstellung bildet, wie ich glaube, die Grundlage der wissenschaftlichen Taxonomie. Wenn alle Säugethiere das Ergeb- niss eines ähnlichen Entwickelungspro- cesses sind, wie er für die Equidae nach- gewiesen worden ist, und wenn sie nur verschiedene Grade dieses Processes uns vor Augen führen, so muss eine natürliche Classification dieselben in erster Linie entsprechend der Stelle an- ordnen, welche sie in der Stufenleiter der Entwickelung des Säugethiertypus einnehmen, oder entsprechend der be- sonderen Sprosse auf der »Scala mam- malium«, auf welcher sie stehen. Die Bestimmung dieser Stellung, welche irgend eine Gruppe einnimmt, lässt sich nun meiner Ansicht nach durchführen vermöge der deductiven Anwendung der Entwickelungsgesetze. Mit anderen Wor- ten, diejenigen Gruppen, welche sich am meisten den nicht-säugethierartigen Wirbelthieren annähern und die ge- ringste Ungleichheit in der Entwickelung, die geringste Unterdrückung und die geringste Verschmelzung der wesent- lichsten Theile des Typus darbieten, müssen den früheren Entwickelungs- stufen angehören, während diejenigen, bei welchen die entgegengesetzten BEigen- auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere. 19 thümlichkeiten hervortreten, aus den späteren Stadien stammen müssen. Von diesem Standpunkt aus betrach- tet, erscheinen die Monotremen unzweifel- haft als Verkörperung jenes Typus des Baues, welcher die erste Stufe der Säuge- thier-Organisation darstellt: 1) Die Milchdrüsen entbehren der Zitzen und somit könnte der wesent- liche Charakterzug des Säugethieres kaum in einer einfacheren Form auf- auftreten. 2) Es ist eine vollständige und tiefe‘ Cloake vorhanden wie bei den in der Scala niedriger stehenden Wirbelthieren. 3) Die Oeffnungen der Ureteren sind »hypocystisch«, d. h. sie öffnen sich nicht in die Harnblase dieser Thiere, sondern hinter derselben in die dorsale Wandung des Urogenitalcanals. Da diese Stelle dem Halse der Allantois ent- spricht, so behalten also die Harnleiter der Monotremen ihre primitive embryo- nale Lage bei. 4) Es findet sich keine von dem Urogenitalcanal getrennte Vagina und die Eileiter sind nicht in einen beson- - deren uterinen und Fallopi’schen Ab-« schnitt differenzirt. 5) Der Penis und die Clitoris sind an der ventralen Wandung der Cloake befestigt. 6) Die Epiphysen der Wirbel sind nur wenig oder gar nicht entwickelt“. 7) Der Hammer ist verhältnissmässig sehr gross und der »processus gracilis«, der ausserordentlich lang und stark er- scheint, geht zwischen dem Tympanicum und den periotischen Knochen hindurch nach dem Pterygoid, mit welchem er fest verbunden ist. Auf diese Weise steht also der Palato-pterygoidapparat * Dr. Albrecht(„Die Epiphysen und die Amphiomphalie der Säugethierwirbelkörper“; Zoologischer Anzeiger 1879, Nr. 18) gibt zu, dass Echidna keine Epiphysen habe, beschreibt aber Epiphysen von unvollständiger Beschaf- _ fenheit zwischen den hinteren zwölf Schwanz- wirbeln von Ornithorhynchus. Soviel ich durch ein »Suspensorium« mit dem Periotieum in Verbindung wie bei den Amphibien und Sauropsiden. Ferner ist wie bei diesen das den Ambos ver- tretende Stück ausserordentlich klein und dasjenige desSteigbügels stabförmig. 8) Das Coracoid ist vollkommen aus- gebildet, selbständig und artieulirt mit dem Brustbein. 9) Der Beckengürtel ist mit grossen Epipubica versehen und die Darmbein- axe ist unter einem bedeutenden Win- kel gegen die Axe des Kreuzbeins geneigt. 10) Das Corp. callosum ist sehr klein. 11) Es scheint keine Allantois-Pla- centa vorhanden zu sein, obgleich nach den deutlichen Ueberresten des ductus arteriosus und der arteria hypogastrica zu urtheilen, kaum bezweifelt werden kann, dass der Fötus eine grosse respiratorische Allantois besitzt. Es ist sehr wohl mög- lich, dass vermittelst eines grossen Dotter- sackes eine unvollständige »umbilicale« Placentabildung zu stande kommt. Während aber Ornithorhynchus und Echidna hienach die Repräsentanten der niedrigsten Entwickelungsstufe der Säuge- thiere sind, halte ich es für ebenso unzweifelhaft, dass sie, wie bereits Haeckel vermuthete, zugleich ausser- ordentlich modificirte Formen dieses Stadiums sind, und zwar weist Kchidna im ganzen eine bedeutendere, Ornitho- rhynchus eine geringere Abweichung vom allgemeinen Typus auf. Der Mangel von eigentlichen Zähnen bei beiden Gat- tungen ist ein ganz augenscheinliches Zeugniss der ausserordentlichen Abände- rung. Die lange Zunge, die ungewöhn- lichen äusseren Gehörgänge und das verhältnissmässig grosse, mit Windun- gen versehene Gehirn von Echidna und habe sehen können, ist die Arbeit, von welcher Dr. Albrecht eine vorläufige Mittheilung gegeben hat, noch nicht veröffentlicht, ich beschränke mich daher auf die Bemerkung, dass meine eigenen neueren Beobachtungen durchaus mit Dr. Albrecht's Darstellung übereinstimmen. 9% ge 20 die Backentaschen und die hornigen Kieferplatten von Ornithorhynchus sind andere Anzeichen derselben Art. Demnach können die primären Säuge- thiere, welche weniger modificirt waren und deren Existenz nothwendig durch die Vorstellung von der Entwickelung der Gruppe gefordert wird, nicht ohne Gefahr einer Verwirrung als Monotre- mata oder Ormithodelphia bezeichnet werden, da sie aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso bedeutend von Ornitho- rhynchus und. Echidna abwichen, als die Insectivoren von den Edentaten oder die Ungulaten von Rhytina sich unter- scheiden. Es dürfte daher angemessen sein, einen besonderen Namen — Pro- totheria — für die Gruppe zu bilden, welche diese gegenwärtig noch hypothe- tischen Vertreter des erwähnten niedrig- sten Stadiums des Säugethiertypus um- fasst und von welcher die lebenden Monotremen die einzigen bekannten Re- präsentanten sind. Eine ähnliche Betrachtung lässt sich auch für dieMarsupialia anstellen. Ihren wesentlichsten und bedeutsamsten Cha- rakteren nach nehmen sie eine vermit- telnde Stellung zwischen den Prototheria und den höheren Säugethieren ein: 1) Die Milchdrüsen sind mit Zitzen versehen. 2) Die Cloake ist so sehr reducirt, dass sehr oft angegeben wird, sie sei ganz verschwunden. 3) Die Oeffnungen der Harnleiter sind entocystisch, d. h. diese öffnen sich in den sogenannten »Grund« der Harnblase vor (resp. über) dem ver- engerten Halse, durch welchen sie in die röhrenförmige Urethra übergeht. Das will meiner Ansicht nach so viel besagen, dass morphologisch genommen die Harnblase der Marsupialien gleich- werthig ist der Blase der Monotremen + dem vorderen Abschnitt des Urogeni- talcanals, wonach denn das sogenannte »Trigonum« und vielleicht noch mehr von der Blase der Marsupialien das Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze Homologon jenes vorderen Abschnittes des Urogenitalcanals der Monotremen wäre. 4) Es findet sich bei dem Weibchen eine besondere und lange Vagina, welche vollständig von der Urethra getrennt ist, und die Eileiter sind in einen ute- rinen und einen Fallopi’schen Abschnitt differenzirt. 5) Der Penis ist gross und die Cor- pora cavernosa sind durch Fasergewebe und Muskeln mit dem Becken verbunden. "Der Schwellkörper hat einen grossen zweigabligen Bulbus und die Cowper’- schen Drüsen sind sehr stark entwickelt. 6) Die Wirbel besitzen besondere Epiphysen. 7) Der Hammer ist klein und seine Verbindungen sind denen ähnlich, welche er bei den höheren Säugethieren besitzt. Der Ambos ist verhältnissmässig grösser und der Stapes mehr oder weniger steig- bügelförmig. 8) Das Coracoid ist kurz, artikulirt nicht mit dem Brustbein und verschmilzt mit der 'Scapula. "9) Der Beckengürtel ist mit epipu- bica versehen, die gewöhnlich von be-- deutender Grösse und wohl verknöchert sind, und die Darmbeinaxe ist nur unter einem kleinen Winkel gegen die Axe des Kreuzbeins geneigt. 10) Das Corpus callosum ist klein. 11) Bei den wenigen Formen, von denen man den Fötus kennt, hat sich keine Allantois-Placenta gefunden, wäh- rend der Dottersack so gross ist, dass die Möglichkeit der Existenz einer vor- übergehenden umbilicalen Placentabil- dung im Auge behalten werden muss. Man wird leicht bemerken, dass die Beutelthiere in den Charakteren 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 und dem letzten Theile von 9 mit den höheren Säugethieren übereinstimmen, während sie im ersten Theile des 9., im 10. und 11. Charakter Prototherien-Eigenthümlichkeiten dar- bieten. Insofern also stellen sie einen vermittelnden Typus zwischen demjeni- auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere. 21 gen der Prototheria und dem der Säuge- thiere dar, weshalb man sie wohl als Metatheria bezeichnen könnte. Und wenn irgend ein Thier bekannt wäre, welches alle diese Charaktere nebst einer vollständigen doppelten Bezahnung, nicht modificirten pentadactylen Händen und Füssen und normaler Uterus-Schwanger- schaft besässe, so würde es uns gerade die Uebergangsstufe zwischen den Pro- totheria und den höheren Thieren vor- führen, welche existirt haben muss, wenn das Entwickelungsgesetz annehmbar ist. Allein kein bekanntes Beutelthier besitzt diese ferneren Charaktere. Bei keinem findet sich mehr als ein einziger zum zweitenmal wiederkehrender Zahn auf jeder Seite der Kinnladen, und wie Professor Flower (welchem wir den hochinteressanten Nachweis dieser That- sache verdanken) gezeigt hat, erhebt sich die Frage, ob wir hier ein pri- märes Gebiss mit nur einem einzigen secundären Zahn oder ein secundäres Gebiss vor uns haben, in welchem nur ein Zahn des ursprünglichen Gebisses übrig geblieben ist. Ich zweifle nicht, dass die Antwort, welche Professor Flower auf diese Frage gibt, die rich- tige ist und dass es das Milchgebiss ist, von dem sich nur eine Spur bei den Beutelthieren erhalten hat. Bei den lebenden Nagethieren kommen in der That alle möglichen Zustände des Milchgebisses vor, von einer Zahl, welche derjenigen der bleibenden Schneide- zähne und Praemolaren gleich ist (wie bei dem Kaninchen)* bis zum voll- ständigen Fehlen der Milchzähne. Dasselbe beobachtet man bei den Inseetivoren, unter welchen der Igel * Die primären Backzähne und die hinteren primären oberen Schneidezähne des Kanin- chens sind schon längst bekannt. Ich habe aber kürzlich gefunden, dass das Kaninchen vor der Geburt ausserdem zwei vordere obere und zwei untere primäre Schneidezähne be- sitzt. Beides sind einfache kegelförmige Zähne, deren Säcke blos in das Zahnfleisch einge- und wahrscheinlich auch Centetes die ganze Reihe der Milchzähne besitzen, während bisher bei den Spitzmäusen noch gar keine gefunden worden sind. In diesen Fällen ist klar, dass das Milchgebiss allmählig bei den stärker abgeänderten Formen unterdrückt wor- den ist, und ich glaube, es lässt sich kein vernünftiger Zweifel dagegen erhe- ben, dass die gegenwärtigen Beutel- thiere auch eine ähnliche Unterdrückung der Milchzähne im Laufe ihrer Abstam- mung von Vorfahren erlitten haben, wel- che die ganze Reihe derselben besassen. Ferner findet sich bei keinem leben- den Beutelthiere ein nicht modificirter pentadactyler Fuss. Wenn der Daumen vorhanden ist, so zeigt er stets eine sehr ausgiebige Adductions- und Ab- ductions-Bewegung; der Fuss ist ge- radezu ein Greiffuss. Dies ist der Fall bei den Phascolomyidae, Phalangistidae, Phascolarctidae und Didelphidae. Die Dasyuridae zeigen denselben Typus des Fusses, aber mit Verkümmerung oder Unterdrückung des Daumens. Berück- sichtigen wir nun die Beziehungen der Macropodidae und der Peramelidae zu den Phalangisten, so ist es wohl wahr- scheinlich, dass der Hinterfuss bei diesen Gruppen gleichfalls einen verkümmerten Greiffuss darstellt, in welchem Falle diese besondere Modification des Fusses die sämmtlichen lebenden Beutelthiere charakterisiren würde. In dritter Linie bieten die auf- fallendsten Eigenthümlichkeiten der Fort- pflanzungsorgane und -Vorgänge bei den Beutelthieren in keiner Weise Ueber- gangscharaktere, sondern scheinen ab- sonderlich specialisirt zu sein. Die Be- bettet erscheinen. Der obere ist nicht mehr als !/ıoo Zoll lang, der untere ist erheblich grösser. Es wäre von Interesse, den Fötus des Meerschweinchens im Hinblick auf diesen Punkt zu untersuchen; bisher weiss man nur, dass es blos die hintersten Backzähne wechselt, in welchem Punkte es also mit den Beutel- thieren übereinstimmt. 22 festigung des Scrotums vor der Wurzel des Penis weicht von der Anordnung dieser Theile bei allen höheren Säuge- thieren ab und die Entwickelung des Bulbus und der Cowper’schen Drüsen geht über alles hinaus, was bei den letzteren zu beobachten ist. Bei dem Weibchen ist die Urethra cystica ebenso vollständig von der Vagina getrennt wie bei den höheren Säugethieren, wäh- rend anderseits die Verdoppelung der Vagina meiner Ansicht nach ebenfalls als eine besondere Eigenthümlichkeit zu betrachten ist, welche eher von den höheren Säugethieren weg- als zu ihnen hinführt. Bei den Monotremen zeigt allerdings das vordere Ende des Uro- genitalcanals jederseits eine sehr kurze Erweiterung oder ein Horn. In der Mittellinie, eine kurze Strecke hinter diesen, öffnen sich die Harnleiter auf einer vorragenden kammförmigen Papille. Die Oeffnung der Harnblase liegt vor und unterhalb der Genitalhörner. Wenn wir nun diese Bildung mit derjenigen vergleichen, welche bei den niedrigen Formen der höheren Säugethiere auf- tritt, so finden wir, dass sich die Pa- pillen der Harnleiter seitlich von ein- ander getrennt und nach vorn verschoben haben, derart, dass sie nun den Grund ‘ der Harnblase einnehmen und die Geni- talhörner hinter sie und etwas dorsal von ihnen zu liegen kommen. Zu glei- cher Zeit hat in der Längsrichtung eine Trennung Platz gegriffen zwischen den Abschnitten des Urogenitalcanals, welche man als »ureterischen« und »Genital«- Abschnitt bezeichnen kann. Der erstere wird in die Harnblase aufgenommen und tritt durch eine längere oder kürzere Urethra cystica mit dem letzteren in Verbindung, welcher sich in die bald längere bald kürzere Vagina umwandelt. Bei dem Beutelthiere ist dieselbe all- gemeine Modification eingetreten, allein die »Genitalhörner« haben sich unge- mein verlängert und stellen nun die sogenannte »doppelte« Vagina dar. Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze Endlich ist das Marsupium, wo es vorkommt, ein nicht weniger auszeich- nender Zug der Beutelthiere und scheint gleich den Besonderheiten der weiblichen Geschlechtsorgane mit der abnorm frühen Geburt des Fötus in Zusammenhang zu stehen. Es ist wohl bekannt, dass auch unter den höheren Säugethieren der Fötus bei den einen in verhältnissmässig viel unvollkommenerem Zustande ge- boren wird als bei den anderen, selbst bei nahe verwandten Arten. So kommt das Kaninchen z. B. ohne Haare und blind auf die Welt, während der Hase mit Haaren bedeckt und mit geöffneten Augen geboren wird. Ich halte es nun nach dem Charakter des Fusses für wahrscheinlich, dass die ursprünglichen Formen, von denen sich die lebenden Marsupialien abgeleitet haben, auf Bäu- men lebende Thiere waren, und da ist es denn, wie ich glaube, nicht schwierig einzusehen, dass es einem Thiere mit einer solchen Lebensweise von hohem Vortheile war, wenn es die Jungen im Innern seines Körpers in so früher Ent- wickelungsperiode als immer möglich los wurde und dieselben während der späteren Entwickelungsperioden vermit- telst der Milchdrüsen statt, vermittelst einer unvollkommenen Placentaform mit Nahrung versehen konnte. Wie dem jedoch sei, die Eigenthüm- lichkeiten der existirenden Beutelthiere gestatten meiner Auffassung nach keinen Zweifel, dass sie bedeutend abgeänderte Glieder des metatherischen Typus sind, und ich vermuthe, dass die meisten, wenn nicht alle australischen Formen verhältnissmässig spät entstanden sein werden. Ich glaube annehmen zu müs- sen, dass die grosse Mehrzahl der Metatheria, von denen wir sicherlich binnen kurzem in den mesozoischen Formationen eine grosse Menge ent- decken werden, weit von unsern leben- den Marsupialien abweichen, dass sie nicht allein des Beutels entbehrten, wie dies schon bei manchen lebenden auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere. 23 »Beutelthieren« der Fall ist, sondern dass sie auch eine ungetheilte Vagina besassen und wahrscheinlich ihre Jungen nicht früher zur Welt brachten als die - lebenden Carnivoren und Nagethiere, indem für die Ernährung des Fötus während der länger dauernden Schwan- gerschaft aller Wahrscheinlichkeit nach durch einen umbilicalen Placenta-Apparat und für seine Athmung durch eine nicht- placentale Allantois gesorgt wurde. In der noch übrig bleibenden Gruppe der Säugethiere, die wir bisher als die »höheren Säugethiere« bezeichnet haben, finden wir folgende Merkmale: 1) Die Milchdrüsen sind mit Zitzen versehen *. 2) Die Cloake ist in der Regel ver- schwunden, manchmal jedoch (Biber, Faulthier) findet sich eine seichte Cloake, ganz besonders bei dem Weibchen. 3) Die Oeffnungen der Harnleiter sind stets entocystisch, allein ihre Lage variirt ausserordentlich, von nahe am Halse der Blase (Sorex) bis zum vor- deren Ende derselben (Hyrax). 4) Es ist eine besondere Vagina vorhanden, die fast immer ungetheilt erscheint. Die Eileiter sind in einen uterinen und einen Fallopi’schen Ab- schnitt differenzirt. 5) Der Penis ist gewöhnlich gross, der Bulbus einfach odertheilweise getheiltund die Corpora cavernosa sind fast immer un- mittelbar an die Schambeine befestigt. 6) Die Wirbel besitzen Epiphysen. 7) Der Hammer ist gewöhnlich klein, der Ambos relativ gross, der Stapes steigbügelförmig. 8) Das Coracoid ist fast überall sehr verkümmert und mit der Scapula verschmolzen. 9) Die Darmbeinaxe bildet nur einen kleinen Winkel mit der Axe des Kreuz*® beins und es findet sich kein Epipubi- cum oder nur faserige Reste desselben. * Die. einzige mir bekannte Ausnahme bildet der Maulwurf vom Cap, COhryso- 10) Das Corpus callosum und die vordere Commissur variiren in weiten Grenzen. Bei manchen Formen, wie bei Erinaceus und Dasypus, sind sie nahezu .monotremenartig. 11) Der Fötus tritt durch eine Allan- tois-Placenta mit dem Uterus der Mutter in Verbindung. Der Dottersack zeigt eine wechselnde Grösse und ist bei man- chen niedrigen Formen (wie z. B. Lepus) anfänglich sehr gefässreich und spielt vielleicht während der ersten Entwicke- lungsstadien eine quasi placentale Rolle. Es ist klar, dass wir in allen diesen Hinsichten den Säugethiertypus auf einer höheren Entwickelungsstufe vorfinden, als sie die Prototheria und die Meta- theria darboten. Daher können wir die Formen, welche dieses Stadium erreicht haben, als Eutheria bezeichnen. Es ist eine Thatsache, welche merk- würdig mit dem übereinstimmt, was wir auf Grund des Entwickelungsprincips er- warten durften, dass, während die exi- stirenden Glieder der Prototheria und der Metatheria alle ausserordentlich mo- difiecirt erscheinen, es unter den leben- den Eutheria gewisse Formen gibt, die sich nur wenig von dem allgemeinen Typus entfernen. Wenn z. B. Gymnura eine diffuse Placentabildung besässe, so wäre sie ein ausgezeichneter Vertreter eines undifferenzirten Eutheriden. Schon vor vielen Jahren habe ich in meinen Vorlesungen am Royal College of Surgeons ganz besonders die centrale Stellung der Insectivoren unter den höhe- ren Säugethieren hervorgehoben und das weitere Studium dieser Ordnung und derjenigen der Nagethiere hat nur meine Ueberzeugung befestigt, dass Jeder, der mit dem Umfange der Variationen. im Bau dieser Gruppen bekannt ist, den Schlüssel zu jeder Eigenthümlichkeit in der Hand hat, die man bei den Primaten, den Carnivoren und den Ungulaten an- chloris, welcher derselben (nach Peters) entbehrt. Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze 24 Entwiokelungs- stadien. Säugethiere. Zitzen. deciduat. 1: 2. Allantois-Placenta. 3. Die Harnleiteröffnungen .entocystisch. 4. Kleiner Hammer. 5. Verkümmertes Coracoid. Eutheria. ® 6. Epipubica rudimentär oder fehlend. | Placenta: 7. Zwei Hinterhauptscondylen und ein knöchernes Basioceipitale. 8. Ein Amnion vorhanden. 9. Ein Corpus callosum. indeciduat. 10. Keine Kiemen. Metatheria. $1 3 4 5, 7, 8, 9, 10 wie oben, II und\. Ü VI wie unten. J I. Keine Zitzen. II. Keine Allantois-Placenta. III. Die Harnleiteröffnungen hypocystisch. IV. Grosser Hammer. V. Vollständig ausgebildetes Coracoid. VI. Grosse Epipubica. Proto- .(7, 8, 9, 10 wie oben. | theria. | 730.:9,°T, II. .TII, IV, V, VI-.vip Oben, a. Keine Milchdrüsen. b. Der Unterkiefer mit dem Quadratum artikulirend. c. Kein Corpus callosum. . . . Hypo- theria. u. — on : me 28 8 Es, E 28 ES: EB 5888 E 7 2 2 ES & u: > 8 d a Ada” E MA Be Ö 02:0 Dat) 0’ 207 =Q } | | 7 ss 83 5 = BEBE i 4’. Be ö s erh 0 0 0) 0 5 = | BENERTIIEKT Ki EN DE I X 1-8 8 a 5 [=] 8 FA BER IKK EN DER DB RE EB | | | | u a Eee Er auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere. 95 treffen mag. Ist der gemeinsame Bau- plan der Insectivoren und der Rodentien gegeben und wird eingestanden, dass die Modificationen des Baues der Glied- maassen, desGehirnsund des Ernährungs- und Fortpflanzungssystems, welche bei ihnen vorkommen, auch anderwärts sich finden oder auch sich steigern mögen, so erscheint die Ableitung aller Eutheria von Thieren, welche abgesehen von dem einfacheren Typus ihrer Placentabildung Insectivoren sein würden, als eine ein- fache Deduction aus dem Entwickelungs- gesetz. Es ist kein Monotrem bekannt, das sich nicht ausserordentlich viel weiter vom Typus der Prototheria, und kein Beutelthier, das sich nicht viel weiter vom Typus der Metatheria entfernte, als @ymnura oder sogar Erinaceus vom Typus der Eutheria abweicht. Der allgemeinste physiologische Un- terschied zwischen den Prototheria, den Metatheria und den Eutheria liegt in den Abweichungen, welche die Einrich- tungen zur Verlängerung der Dauer der intrauterinen und der extrauterinen Er- nährung durch die Mutter in jeder Gruppe darbieten. Die Möglichkeit einer höhe- ren Differenzirung der Species hängt offenbar innig mit der Länge dieser Periode zusammen. Ebenso liegt auch der allgemeinste morphologische Unter- schied, der sich innerhalb der Eutheria aufstellen lässt, in ihrer Placentabildung. Alle Formen der deciduaten Placenta gehen aus indeciduaten Formen hervor und der innige Zusammenhang des Fötus mit dem mütterlichen Körper erscheint als Weiterbildung einer früher nur locke- ren Verbindung derselben. Daher stehen die Eutheria mit deciduater Placenta auf einer höheren Entwickelungsstufe als diejenigen mit indeciduater Placenta. Wenn man nun die Beziehungen der verschiedenen lebenden Gruppen der höheren Säugethiere zu einander be- sprechen will, so wäre es ein missglück- ter Versuch, irgend einen directen gene- P79] tischen Zusammenhang zwischen den- selben nachweisen zu wollen. Jede hat, wie schon das Beispiel der Equidae ver- muthen lässt, wahrscheinlich ihre be- sondere Vorfahrenreihe gehabt und in diesen Reihen stellen die Eutherienformen mit deeiduater Placentabildung die letzte Stufe dar, die Eutherienformen mit in- deciduater Placentabildung die nächst Jüngste; darauf folgen die Metatherien- formen und endlich stehen die Proto- therienformen auf der frühesten Stufe unter denjenigen Thieren, welche nach den geltenden Definitionen noch als Säugethiere zu betrachten wären. Die beifolgende Tabelle lässt mit einem Blick die Anordnung der Säuge- thiere entsprechend den Ansichten über- schauen, welche ich hier auszudrücken versucht habe. Das Zeichen O deutet die Stellen in der Tabelle an, welche von bekannten Säugethieren eingenom- men werden, während X die Gruppen bezeichnet, von denen nichts bekannt ist, deren frühere Existenz sich aber aus dem Entwickelungsgesetz ableiten lässt. Ich wage die bestimmte Erwartung auszusprechen, dass die Untersuchung der Säugethierfauna der mesozoischen Periode früher oder später diese Lücken ausfüllen wird. Wenn aber die Deduc- tion aus dem Entwickelungsgesetz so- weit gerechtfertigt war, so dürfen wir uns demselben auch noch viel weiter anvertrauen. Wenn man mit Bestimmt- heit erwarten darf, dass Eohippus einen pentadactylen, mit Schlüsselbeinen ver- sehenen Vorfahren hatte, so dürfen wir mit nicht geringerem Vertrauen voraus- setzen, dass die Prototheria aus Vor- fahren hervorgegangen sind, die keine Säugethiere waren, insofern sie wenig- stens keine Milchdrüsen besassen und ihre Unterkiefer mit einem Quadrat- knochenoder-Knorpelartikulirten, dessen verkümmerter Rest der Hammer der eigentlichen Säugethiere darstellt. Wahr- scheinlich war auch das Corpus callosum 26 Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze noch nicht als besondere Bildung auf- | dass selbst die lebenden Amphibien uns getreten. Unsere gebräuchlichen Classificatio- nen haben keinen Platz für dieses »sub- mammale« Entwickelungsstadium (wel- ches bereits von Haeckel unter dem Namen Promammale angedeutet wurde). Dasselbe würde sich von den Sauro- psiden unterscheiden durch seine beiden Condylen und durch das ausschliessliche Fortbestehen des linken Aortenbogens, während es wahrscheinlich nicht minder von den Amphibien abweichen würde durch den Besitz eines Amnions und den Mangel von Kiemen zu jeder Zeit seines Lebens. Ich schlage vor, die Vertreter dieses Stadiums Hypo- theria zu nennen, und ich zweifle nicht, dass, wenn wir einmal eine genauere Kenntniss der auf dem Lande lebenden Wirbelthiere der späteren paläozoischen Epochen haben, manche diesem Stadium angehörende Formen zu Tage kommen werden. Wenn wir nun den Hypothe- rien noch das Amnion und das Corpus callosum wegnehmen und functionirende Kiemen hinzufügen — deren Vorhanden- sein bei den Vorfahren der Säugethiere ebenso bestimmt durch ihre Visceral- bogen und -Spalten angedeutet ist, wie die Existenz von vollständigen Schlüssel- beinen bei den Vorfahren der Canidae durch die Spuren derselben bei dem Hunde angedeutet wird — so finden die auf solche Weise reducirten Hypo- theria sofort ihren Platz unter den Amphibien. Denn der Besitz von Kie- men setzt denjenigen eines unvollständig getheilten Herzventrikels und zahlreicher Aortenbogen voraus, wie sie sich beim Säugethier-Embryo finden, um jedoch im Laufe seiner Entwickelung mehr oder weniger vollständig rückgebildet zu werden. Somit betrachte ich den Typus der Amphibien als den Repräsentanten des nächst niedrigeren Stadiums der Wirbel- thierentwickelung, und es ist ausser- ordentlich interessant zu beobachten, beinah jeden möglichen Grad der Mo- dification dieses Typus darbieten, von solchen Formen an wie die eierlegenden, mit äusseren Kiemen und kleinen Lungen versehenen Siredon und Menobranchus, welche in gleichem Verhältnisse zu ihrem Typus stehen wie Gymnura zu den Eutheria, bis hinauf zu den ausschliess- lich luftathmenden Salamander und Frosch, bei welchen die Periode der Entwickelung im Ei, sei es innerhalb des Uterus selbst oder in besonderen Brutstätten, ebenso sehr verlängert sein kann wie bei den Säugethieren. Eine auf reichliches Material ge- gründete sorgfältige Untersuchung der Entwickelung mancher Formen, wie z. B. von Hwylodes, wird wahrscheinlich ein bedeutsames Licht auf die Natur der Veränderungen werfen, welche mit der Rückbildung der Kiemen und der Aus- bildung des Amnions und des extra- abdominalen Abschnitts der Allantois beim Fötus der höheren Säugethiere endigt. Die neuesten Untersuchungen von Boas* über den Bau des Herzens und den Ursprung der Lungenarterien von Ceratodus fielen in meine Hände, als ich mich gerade von neuem mit diesem Gegenstande beschäftigte und bereits, soweit es das Herz betrifft, zu Resul- taten gelangt war, welche die seinigen vollständig bestätigen. Dieses merk- würdige Geschöpf scheint wie geschaffen zur Erläuterung der Entwickelungslehre. Es liessen sich eben so gute Beweis- gründe für die Behauptung anführen, dass es ein Amphibium, wie dass es ein Fisch oder Beides oder keins von Beiden sei. — Der Grund hiefür liegt einfach darin, dass, wie mir scheint, Ceratodus ein ausserordentlich wenig modifieirter Vertreter jenes eigenthüm- * „Ueber Herz und Arterienbogen bei Ceratodus und Protopterus.“ (Morph. Jahr- buch 1880.) auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere. 97 lichen Stadiums in der Wirbelthier- entwickelung ist, von welchem sowohl die typischen Fische als die typischen Amphibien besondere Abänderungen dar- stellen. Ich glaube, es dürfte ange- messen sein, einen eigenen Namen für die Vertreter dieses Stadiums zu haben, und ich schlage hiefür das Wort Her- petichthyes vor. Wenn wir dem Ceratodus die Haut- knochen des Schädels und die Pneu- matocoele (Schwimmblase) wegnehmen und den Bau seines Herzens ein wenig vereinfachen könnten, so würde sich ein Thier ergeben, das man unzweifel- haft unter die Ohimaeroidei stellen müsste, und wären bei einem solchen Chimae- roiden die lamellenförmigen Scheide- wände zwischen den Kiemen nicht ver- kümmert, wie dies bei den jetzigen Chimaeroiden der Fall ist, während die ÖOpercularfalte unentwickelt bliebe, so ergäbe dies einen wenig modificirten Repräsentanten der Selachiergruppe, welchem sich unter den thatsächlich bekannten Formen Heptanchus und (e- stracion noch am allermeisten annähern. Die Wirbelthiere auf diesem Entwicke- lungsstadium könnte man als Chon- drichthyes bezeichnen. Man denke sich nun die Gliedmaassen und die Geschlechtsausführgänge des Chondrichthys - Stadiums unentwickelt und lasse die beiden Nasensäcke durch einen theilweise getheilten Sack mit einer einzigen äusseren Oeffnung ver- treten sein, so wird sich ein noch nie- drigerer Grad des Wirbelthierlebens er- geben, den man Myzichthyes nennen kann und der nur durch die bedeutend modifieirten Lampreten und Pricken in der gegenwärtigen Fauna repräsentirt ist. Endlich denke man sich, dass der Kopf seine ursprünglichste Gliederung und das Herz seinen primitiven Charak- ter eines contractilen Rohres behalte, und wir erreichen mit den Hypichthyes ein Stadium der Vereinfachung des Wir- belthiertypus, dem man kaum noch irgend einen wesentlichen Zug nehmen könnte, ohne damit einen Punkt zu erreichen, wo es fraglich würde, ob man das betreffende Thier noch ein >» Wirbel- thier« nennen könnte. Dieses Stadium wird gegenwärtig nur noch vertreten durch eine eigenthümlich modificirte Form, den lebenden Amphioxus. Somit lassen sich alle Wirbelthiere nach der Reihenfolge ihrer Entwickelung, soweit wir sie bisher betrachtet, in neun Stadien eintheilen: 1) Das der Hypichthyes, 2) >» » Myzichthyes, SR » Chondrichthyes, 4) >» »' Herpetichthyes, 5) » Amphibia, 6) > » Hypotheria, Thy s »»Prototheria, 8) > » Metatheria und I). » Eutheria. Alle diese Stadien mit Ausnahme desjenigen der Hypotheria sind durch lebende Gruppen der Wirbelthiere ver- treten, die sich freilich in den meisten Fällen aus bedeutend abgeänderten For- men des Typus zusammensetzen, welchem sie angehören, während nur die Amphi- bien und die Eutherien in einigen ihrer lebenden Glieder eine innigere Annähe- rung an den unmodificirten Typus dar- bieten. Es wird dem Leser bereits aufgefallen sein, dass ich die Ganoiden, die Knochen- fische und die Sauropsiden nicht erwähnt habe. Es geschah dies, weil mir die- selben von der Hauptentwickelungslinie abseits zu liegen scheinen — weil sie gleichsam Seitensprünge repräsentiren, welche vongewissen Punkten jener Haupt- linie ausgehen. Die Ganoiden und die Teleostier nehmen meiner Ansicht nach dieselbe Stellung zum Stadium der Her- petichthyes ein wie die Sauropsiden zum Stadium der Amphibien. Es gibt, soweit ich sehen kann, in der Organisation der Ganoiden und der Knochenfische keine Thatsache, die nicht leicht durch die Anwendung des Ent- 28 wickelungsgesetzes auf die Herpetich- thyes erklärlich wäre. Man kann die- selben in der That als das Ergebniss einer excessiven Entwickelung, einer Ver- kümmerung oder Verschmelzung der Theile eines Herpetichthyiden auffassen*. Ebenso haben wir mit der Unter- (lrückung der Kiemen, der Entwickelung eines Amnions und einer respiratorischen, extra-abdominalen Allantois und mit jener Verbreiterung des Basioceipitale im Verhältniss zu den Exoceipitalia, woraus sich die Entstehung eines einzigen Schä- Entwickelungsstadien. 9. Eutheria. . Monodelphia 0) 8. Metatheria Marsupialia 10) 7. Prototheria . Monotremata 10) 6. Hypotheria x 5. Amphibia . Amphibia 0) 4. Herpetichthyes. . Dipnoi. 0) 3. Chondrichthyes. . Chimaeroidei 0) Selachii 0 IX Myzichthyes Ö 1. Hypichthyes 0 Es scheint mir, dass alles, was wir bisher über die Wirbelthiere der ver- gangenen Perioden wissen, mit der An- nahme im Einklang steht, dass das Ge- setz, welches den Process der Vorfahren- entwickelung bei den höheren Säuge- thieren ausdrückt, eine allgemeine An- wendung auf sämmtliche Vertebraten zulässt. Wird dies eingeräumt, so meine ich, es folgt daraus nothwendigerweise, dass die Wirbelthiere successive alle * Dass das Herz von Butirinus ein voll- ständiges Bindeglied zwischen dem typischen (anoidenherzen und dem typischen Teleostier- herzen darbietet, ist erst kürzlich von Boas . Sauropsida f Marsipobranchii Pharyngobranchii X Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze ete. delcondylus ergibt, alle die Verände- rungen aufgezählt, welche nothwendig sind, um ein urodeles Amphibium in eine Eidechse umzuwandeln. Endlich wäre es ganz überflüssig, die Beweise für den Uebergang von dem Reptilien- zum Vogeltypus nochmals aufzuzählen, welche das Studium der Ueberreste aus- gestorbener Thiere ansLichtgebrachthat. Das Schema der Anordnung der Wirbelthiere, welches sich naturgemäss aus den hier dargelegten Betrachtungen ergibt, nimmt somit folgende Gestalt an: Repräsentirende Gruppen. AÄves \Reptilia 0 x TIER ‚(Ganoidei Ba Osteichthyes | Teieostei x x R x BR). x x die hier angedeuteten Stadien durch- laufen haben müssen und dass der Fort- schritt unserer Entdeckungen, während er die scharfen Grenzlinien zwischen diesen Stadien verwischen und sie in eine.continuirliche Reihe kleiner Diffe- renzirungen umwandeln muss, doch keine Wirbelthierform aufdecken wird, für welche in unserem allgemeinen Schema kein Platz wäre. gezeigt worden. (Morphol. Jahrbuch 1880.) | Somit verschwindet auch die letzte der ver- meintlichen Lücken zwischen den Ganoiden und den Teleostiern. Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung, Von Ernst Haeckel. (Mit 9 Holzschnitten,) 1. Die allgemeinen Keimungsverhältnisse der Scheibenquallen. Es gehört zu den grössten und an- erkanntesten Verdiensten unserer heu- tigen, durch Darwin fest begründeten Entwickelungslehre, dass sie uns in der Stammesgeschichte der Organismen die wahren Ursachen ihrer Keimesgeschichte aufgedeckt hat. Während wir noch vor 25 Jahren die wunderbaren Thatsachen der Keimesgeschichte oder der >indivi- duellen Entwickelungsgeschichte« nur als unbegreifliche Räthsel anstaunten, sind wir jetzt durch die Abstammungslehre in den Stand gesetzt worden, in der Stam- mesgeschichte oder der » Urgeschichte der Vorfahren« die Lösung jener Räthsel zu finden. Denn dieselbe Formenreihe, welche durch die ganze lange Kette der ausgestorbenen Vorfahren jedes jetzt lebendenOrganismusdargestellt wird, die- selbe Formenreihe finden wir (— wenig- stenstheilweiseundannähernd— ) wieder, wenn wir die individuelle Entwickelung des betreffenden Organismus vom Ei an Schritt für Schritt verfolgen. Ihren kür- zesten Ausdruck findet diese Theorie vom innigen Zusammenhang beider Ent- wickelungsreihen in dem biogeneti- schen Grundgesetze: »Die Keimes- geschichte ist ein Auszug der Stammes- geschichte« — oder mit anderen Worten: »Die ÖOntogenie ist eine Recapitulation der Phylogenie.« Ich habe dieses wahre »Grundgesetz der organischen Entwicke- lung« und den ihm zu Grunde liegenden ursächlichen Zusammenhang beider Ent- wickelungsreihen im ersten Vortrage mei- ner »Anthropogenie« ausführlich erläu- tert (III. Auflage, 1877, p. 6 u. s. w.). Indessen bedarf das biogenetische Grundgesetz, dessen hohe Bedeutung gegenwärtig fast allgemein anerkannt ist, eines wesentlichen Zusatzes, um richtig verstanden und angewendet zu werden. Denn in den allermeisten Fällen ist nur ein grösserer oder kleinerer Theil der Keimesgeschichte unmittelbar als Wiederholung oder Auszug der Stam- mesgeschichte zu deuten, während ein anderer Theil der ersteren Nichts mit der letzteren zu thun hat, vielmehr als eine Störung oder Fälschung jenes Aus- zugs erscheint. Demnach zerfällt die Kei- mesgeschichte eigentlich in zwei Theile, in eine Auszugsgeschichte oder Pa- lingenie, welche uns einen wahren Bericht von den längst entschwundenen Vorgängen der Stammesgeschichte gibt; und in eine Störungsgeschichte oder Cenogenie, welche gerade umgekehrt jenen alten Bericht stört und entstellt, und uns Erscheinungen vorführt, die in keiner Beziehung zur ursprünglichen Stammesgeschichte stehen. Auch diese 30 Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. wichtige Unterscheidung der Auszugs- geschichte und der Störungsgeschichte habe ich bereits im ersten Vortrage der Anthropogenie ausführlich erörtert und mit Beispielen belegt, so dass ich hier einfach darauf verweisen kann. Ganz anderer Natur, als diese Unter- scheidung der palingenetischen und der cenogenetischen Processe ist eine Unter- scheidung, welche in der- Keimesge- schichte der Organismen schon seit einem halben Jahrhundert gemacht wird, und wonach man als zwei Hauptformen der individuellen Entwickelung diejenige mit Generations-Wechselund diejenigen ohne denselben betrachtet. Sehr viele niedere Thiere (insbesondere Pflanzenthiere, Würmer und Sternthiere) — ebenso die meisten niederen Pflanzen (Moose, Farne etc.)besitzen einesogenannte »indirecte Entwickelung« mit Generationswech- sel oder Metagenesis; d. h. aus ihrem befruchteten Ei entwickelt sich zunächst ein ganz anderes Wesen, als dasjenige, welches die Eier gelegt hat, und dieses neue Wesen erzeugt erst wieder auf ungeschlechtlichem Wege, durch Thei- lung, Knospung oder Sporung, anders gestaltete Wesen, welche Eier bilden, und welche jener ersten Form gleichen; demnach wechseln hier regelmässig zwei verschiedene Generationen mit einander ab, von denen die erste der dritten, die zweite der vierten gleicht u. s. w. Dieser Generationswechsel oder diese Metagenesis fehlt dagegen den meisten höheren Thieren (Wirbelthieren, Glieder- thieren, Weichthieren ete.); und ebenso fehlt er den meisten höheren Pflanzen, den Phanerogamen. Bei diesen ent- wickelt sich, wie bekannt, aus dem be- fruchteten Eie direct dieselbe Form, von der das Thier stammt, oder sie geht höchstens durch eine Reihe von Ver- wandlungen oder Metamorphosen un- mittelbar in letztere über; jede Gene- ration gleicht hier der anderen. Wir bezeichnen diese »directe Entwicke- lung«, (ohne Generationswechsel) kurz als Hypogenesis, im Gegensatze zur »Metagenesis< (vergl. hierüber meine »Generelle Morphologie«, Bd. II, p. 88 und 99). Nun lässt aber in vielen Fällen ge- rade der Generationswechsel der Thiere uns die tiefsten Blicke in ihre Stammesgeschichte thun, indem die beiden mit einander wechselnden Ge- nerationen der Einzelwesen in bedeu- tungsvollster Weise zwei verschiedenen Ahnenstufen ihrer Art entsprechen; mit- hin ist hier die Metagenesis palingene- tisch. Nicht selten jedoch kommt es vor, dass von zwei nahe verwandten Thier-Gattungen einer und derselben Familie die eine jenen palingenetischen Generationswechsel besitzt, die andere nicht. Die scheinbar einfachere, »directe Entwickelung« dieser letzteren Form ist dann nach dem Gesetze der »abgekürz- ten Entwickelungs durch Verlust oder Ausfall jenes Generationswechsels ent- standen; ihre »Hnypogenesis« ist dem- nach cenogenetisch; ihre scheinbar »einfache.directe Entwickelung« erzählt uns von der Stammesgeschichte ihrer Art Vieles nicht mehr, von dem uns jener Generationswechsel getreue Kunde gab. Ein ausgezeichnetes Beispiel dieser Art liefern uns zwei der gewöhnlichsten und schönsten Scheibenquallen (oder Discomedusen), welche an unseren euro- päischen Küsten leben, die Feuergqualle (Pelagia) und die Goldqualle (Ohrysaora). Beide gehören zur Familie der Pelagiden und sind so nahe verwandt, dass sich Chrysaora nur durch doppelt so grosse Zahl der Randlappen ihres Schirmes und durch die dreifache Zahl der Ten- takeln von Pelagia unterscheidet. Chrysa- ora, die Goldqualle, hat die ursprüng- liche (palingenetische) Entwickelungs- weise der Scheibenquallen beibehalten, indem sie sich durch Generations- wechsel aus einer festsitzenden Polypen- Form entwickelt. Hingegen hat Pelagia, die Feuerqualle, diese complieirte Kei- mungs-Form aufgegeben und entwickelt Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. 31 sich direct (in eenogenetischer „Weise) unmittelbar aus dem befruchteten Ei. aus der grossen Gruppe der Scheiben- quallen oder Discomedusen besitzen Wahrscheinlich die meisten Medusen | denselben Generationswechsel wie Ohry- Fig-1. Aurelia aurita (Ohrenqualle) aus der Ostsee im senkrechten Durchschnitt. vier Mundarmen, mit Brutbeuteln besetzt. g Eierstöcke. % Magen. a Gallertschirm. o‘ Deren Basis durchschnitten (Mundpfeiler). md „ag Infeac n 0 1 k‘‘ Verästelte Gefässe, welche vom Magen zum Schirmrande o Mund. 0‘ Zwei von den gehen; letzterer ist mit vielen feinen Fangfäden besetzt. saora, und insbesondere gilt das auch von der gemeinsten und bekanntesten Schei- benqualle unserer europäischen Meere, von der gewöhnlichen »Öhrenqualle«<, der Aurelia aurita. Das ist jene zarte, blass violett gefärbte, flache Gallert-Glocke von 10—15 Centimeter Durchmesser, welche oft zu Tausenden im Spätsommer und Herbste an den Küsten unserer Ostsee und Nordsee ausgeworfen wird. Fängt man sie vorsichtig mit einem geräumigen Glase, ohne sie zu berühren, so wird man sich lange an den rhythmischen klappenden Schwimmbewegungen ihres flachgewölbten Schirmes ergötzen kön- nen, und an der zierlichen Bildung des feingefransten violetten Schirmrands, so- wie der 4 blattförmigen, ebenfalls gefrans- ten Mundarme, welche von der Mitte der hohlen Unterseite herabhängen und mit den 4 halbmondförmigen, im Kreuze stehenden Eierstöcken abwechseln (Fig. 1 und 2). Die reifen Eier gelangen aus den letzteren in die centrale Magenhöhle und von da durch den Mund in die fal- tigen Seitenränder der 4 Mundarme. Hier werden sie in kleine »Brutkapseln« eingeschlossen, in welchen sie die ersten Stufen ihrer individuellen Entwicke- NÄNNV Ü Dieselbe Ohrenqualle (Aurelia aurita) von unten gesehen; die eine Hälfte davon ist weg- gelassen. a Sinnesbläschen (Augen und Ohren) am Schirmrand. t Fangfäden. b Mundarme. v Magenhöhle. ov» Eierstöcke in deren unterer Wand. gv Verästelte Strahleanäle, die vom Magen zum Schirmrande gehen und dort in _ einen Ringkanal zusammenfliessen. 32 Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. lung durchlaufen. Diese letzteren wur- | einer Strobila-Kette kam. Mithin fällt den zuerst vor 42 Jahren an der Ost- see bei Danzig von dem berühmten Zoologen Professor C. Th. E. v. Sie- bold beobachtet, nachdem schon meh- rere Jahre zuvor einige spätere Ent- wickelungs-Stufen von Sars undDalyell beschrieben worden waren. Es ergab sich daraus, dass die jungen, aus dem Ei entstandenen Keime der Aurelia sich nicht unmittelbar wieder zu dieser schö- nen und stattlichen, frei schwimmenden Medusen-Form entwickeln, sondern vielmehr zu einem winzigen, becherförmi- gen, auf einem Stiele festsitzenden Poly- pen, den sogenannten »Becher-Poly- pen<« oder Scyphostoma. Dieser entwickelt sich dann später zu einem langen, geglie- derten Zapfen, Strobila, einer Kette von kleinen, achtstrahligen Scheiben, von denen sich eine nach der andern ablöst und in eine junge Aurelia verwandelt. Nachdem ich schon in früheren Jah- ren diesen merkwürdigen Generations- wechsel der Aurelia mehrfach untersucht und gelegentlich auffallende cenogene- tische Abweichungen von dem gewöhn- lichen palingenetischen Verlaufe des- selben beobachtet hatte, wurde ich im Laufe dieses Winters bei einer erneuten Untersuchung durch die Entdeckung überrascht, dass bisweilen die Meta- genesis der Aurelia unterbleibt und an deren Stelle die Hypoge- nesis tritt, die sogenannte »directe Entwickelung, ohne Generationswech- sele. Unter einer grossen Schaar von Aurelien-Keimen, welche ich durch die Güte meines früheren Assistenten, Dr. Wilhelm Haacke, im vorigen Octo- ber aus Kiel zugeschickt erhielt, fanden sich zahlreiche Individuen, welche in auffallender und zum Theil sehr merk- würdiger Weise von dem gewöhnlichen Entwickelungsgange abwichen; und in einigen Fällen entwickelte sich sogar direct aus dem Gastrula-Keim die junge Aurelia, ohne dass es überhaupt zur Bildung eines Scyphostoma-Polypen und unter gewissen Bedingungen der Gene- rationswechsel dieser Scheibenqualle aus und die Aurelia entsteht direct aus der Gastrula, gleich der Pelagiden- Gattung Pelagia; während sie gewöhn- lich durch Metagenesis aus einem Scy- phostoma-Polypen entsteht, gleich der Pelagiden-Gattung Chrysaora. Ich will nun zuerst diese »indirecte« Metagenesis kurz schildern, darauf jene »directes Hypogenesis, und endlich einige allgemeine Bemerkungen über die Beziehungen beider Keimungs - Formen zu einander anschliessen. II. Die indireete Keimung von Aurelia und Chrvsaora. (Ursprüngliche Entwickelung, mitGenerations- wechsel.) Der gewöhnliche Generationswech- sel der Aurelia, welchen dieselbe mit Chrysaora und wahrscheinlich mit der grossen Mehrzahl der Scheibenquallen theilt, setzt sich aus 4 verschiedenen Abschnitten oder Keimungsperioden zu- sammen. Von diesen umfasst der erste die Bildung der Gastrula, der zweite die des Scyphostoma, der dritte die der Stro- bila, und der vierte endlich diejenige der jungen Aurelien-Larve (Ephyrula). Die erste Periode, die Bil- dung der Gastrula, geschieht in jener einfachenundursprünglichen Weise, welche bei den meisten niederen und phylogenetisch älteren Thierformen vor- herrschend ist, und aus deren typischer Uebereinstimmung wir auf eine entspre- chende phylogenetische Entstehung sämmtlicher vielzelligen Thiere aus einer und derselben ursprünglichen Stamm- form, @Gastraea, schliessen. Ich habe diese »Gastrula-Bildung« und ihre phylo- genetische Bedeutung bereits in meiner »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« ge- schildert (VII. Auflage, 1879, p. 443 bis 449, Fig. 20 AK). Noch ausführ- licher habe ich dieselbe im achten Vor- TER FR; ul Fig. 3. Die fünfersten Keim-Stadien einer Koralle (Monoxenia Darwinü), von denen diejenigen der Aurelia nicht wesentlich verschieden sind. A Monerula (Kernlose Keimkugel oder „Eizelle nach Verlust des Keimbläschens“). B Oytula oder Stammzelle (befruchtete Eizelle mit neugebildetem Kern, oder „erste Furchungszelle“). € Dieselbe in Theilung (oder „Furchung“) begriffen. D Dieselbe in 4 Furchungszellen (oder „Segmentellen“) zerfallen. E Morula oder „Maulbeerkeim“. F' Blastula oder „Keimhautblase“. @ Dieselbe im Durch- schnitt. H Dieselbe in Einstülpung oder Invagination begriffen. IK Ausgebildete Gastrula. I im Längsschnitt (mit Urdarm und Urmund), Ä von aussen. Stark vergrössert. Kosmos, V, Jahrgang (Bd, IX). 3 34 trage meiner Anthropogenie besprochen (III. Aufl. 1877, p. 151—192, Fig. 22 bis 51 und Tar IE=uL ». 193). Da die Gastrula-Bildung der Aurelia und Chrysaora in keiner wesentlichen Be- ziehung von der dort geschilderten typi- schen Keimung der Koralle Monoxenia abweicht, so genügt es, die dort ge- gebene Abbildung der letzteren hier zu wiederholen und die 5 Hauptstufen des Gastrulations-Processeskurz anzuführen. Nachdem die Eizelle schon vor der Be- fruchtung ihren ursprünglichen Kern, das Keimbläschen verloren hatte (Mone- rula, Fig. 3 A), entsteht in Folge der Befruchtung in der einfachen Keimkugel ein neuer Kern; sie stellt jetzt die Stammzelle oderCytula dar (Fig.3B), jene wichtige »Urzelle«, von welcher alle späteren Zellen des vielzelligen Thierkörpers abstammen, aus welcher sie durch wiederholte Theilung hervor- gehen. Diese Theilung erfolgt als regel- mässig wiederholte Halbirung in geome- trischer Progression (Fig. 3 CE D), so dass aus der »Stammzelle« (oder der »ersten Furchungszelle«) zuerst 2, dar- auf 4, dann 8, 16, 32, 64 Zellen u. s. w. entstehen. Zuletzt bilden diese gleich- artigen einfachen »Furchungszellen« eine solide einfache Kugel, die aus lauter einfachen kugeligen Zellen von gleicher Grösse und Gestalt zusammen- gesetzt ist, der Maulbeerkeim, Morula (Fig. 3 E). Indem sich nun im Innern dieser soliden, maulbeerförmigen oder brombeerförmigen Kugel Flüssigkeit an- sammelt und dadurch sämmtliche Zellen derselben an ihre äussere Oberfläche gedrängt werden, entsteht eine einfache Hohlkugel, deren glatte Wand aus einer einzigen Schicht einfacher Zellen besteht; diese Zellenschicht ist die Keimhaut, Blastoderma; die Hohlkugel selbst ist die Keimhautblase (Blastula oder Blastosphaera, Fig. 3 F von aussen, @ im Durchschnitt). Jetzt erfolgt jene wichtige Einstülpung oder >Invagination« der Blastula, welche zur Entstehung der Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. Gastrula führt. An einer Stelle der Oberfläche der Hohlkugel bildet sich eine grubenförmige Vertiefung, welche bald tiefer und tiefer wird (Fig. 3 7). Zuletzt berührt die Innenwand dieser Grube (oder der eingestülpten Theil der Keimhaut) die umgebende Aussenwand (oder den nicht eingestülpten Theil der Hohlkugel). Damit verschwindet die ursprüngliche Höhle der Blastula und fertig ist die Gastrula, jene bedeu- tungsvolle Keimform, deren eiförmiger Körper aus zwei einfachen Zellenschich- ten oder Keimblättern besteht (Fig. 3 J im Längsdurchschnitt, X von der äussern Fläche gesehen). Die innere Zellenschicht oder das innere Keimblatt ist das Darmblatt (FEntoderma), die äussere hingegen das Hautblatt (Exoderma). Die neu gebildete (aus der Einstülpungs- Grube entstandene) Höhle ist der Ur- magen oder Urdarm (Archigaster), seine Oeffnung der Urmund (Archistoma) oder (Blastoporus). Auch beim Menschen, wie bei allen anderen Thieren, sind sämmtliche Organe und Theile des spä- teren Körpers Abkömmlinge von den Zellen, welche jene beiden ursprüng- lichen Keimblätter der Gastrula zusam- mensetzen. Die zweite Periode im Genera- tions-Wechsel der Scheibenquallen ist charakterisirt durch die Bildung des Becher-Polypen (Scyphostoma). Nach- dem die Gastrula eine Zeit lang mittelst der Flimmerhaare, welche aus ihrer Oberfläche hervorsprossen, im Wasser umhergeschwommen ist (Fig. 4, 1), setzt sie sich auf dem Boden fest und verwandelt sich so zunächst in einen einfachen Schlauchkeim (Ascula). Das Ende ihres eiförmigen Körpers, welches der ursprünglichen Mundöffnung gegen- über liegt, dient zur Anheftung und zieht sich in einen kurzen Stiel aus, während der übrige Körper sich becher- förmig erweitert (Fig. 4, 2). Am Rande des Bechers (rings um die Mundöffnung) wachsen 4 kleine Zäpfchen hervor und Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. 35 verlängern sich bald zu fadenförmigen | (adradiale) Tentakeln (Fig. 4, 6). Jetzt Fühlern oder Tentakeln; dadurch ‚geht | gleicht der Aurelienkeim einem gewöhn- der Schlauchkeim (Ascula) in die vier- | lichen Süsswasserpolypen(Hydra), dessen strahlige Form des Polypenkeims über | Mund von 16 Tentakeln kranzförmig (Actinula Fig. 4, 3, 4). Zwischen den | umgeben ist. Allein inzwischen ist be- 4 ursprünglichen (oder perradialen Ten- | reits im Innern des Bechers eine wich- takeln) wachsen bald 4 weitere (inter- tige Veränderung erfolgt. Zwischen den radiale) Tentakeln hervor (Fig. 4, 5); | 4 primären Tentakeln (also in der cen- und in der Mitte zwischen jenen pri- | tralen Verlängerung der 4 secundären) mären und diesen secundären Tenta- | wachsen innen aus der Becherwand 4 keln entstehen später noch 8 tertiäre | Längswälle oder interradiale Leisfen Fig. 4. Der gewöhnliche Generationswechsel der Ohrenqualle (Aurelia aurita). 1. Becherkeim (Gastrula). 2. Schlauchkeim (Ascula). 3, 4. Vierarmiger Hydropolyp (Aecti- nula). 5. Achtarmiger Scyphopolyp (Sceyphostoma). 6. Becherpolyp oder Seyphostoma mit 16 Armen. 7. Zapfenförmige Scheibenkette (Strobila). 8. Dieselbe Strobila, weiter entwickelt, mit den Randlappen der einzelnen Ephyrascheiben. 9. Dieselbe Strobila in Auf- lösung begriffen; es sind nur noch 4 Ephyrascheiben vorhanden. 10. Eine ausgebildete Ephyrascheibe (Ephyrula). 11. Die an ta junge Aurelia, mit 8 adradialen entakeln. hervor, die Magenleisten (Taeniola | lichen einfachen Polypen oder Hydro- gastralia). Dadurch zerfällt der peri- | polypen zu unterscheiden. Diese letz- pherische Theil des einfachen Magen- | teren haben (gleich unseren Teichpoly- raums oder Urdarms in 4 flache und | pen, Hydra) eine einfache Magenhöhle, breite Taschen oder Nischen. Diese | ohne Taeniolen. Hingegen alle Polypen, eigenthümlichen Bildungen besitzen eine | aus denen sich Scheibenquallen ent- grosse morphologische Bedeutung und | wickeln, bilden jene 4 Taeniolen und berechtigen uns, die damit ausgestat- | werden daher als Becherpolypen oder teten Polypenformen als Becherpolypen | Seyphostoma-Polypen bezeichnet engen: oder Scyphopolypen von den gewöhn- | mein »System der ar, 1879, 36 p- 364 ete.). Auf dem Stadium eines solchen Scyphostoma-Polypen, mit 4 Taeniolen und 16 Tentakeln (Fig. 4, 6), bleibt jetzt unser Aurelia-Keim längere Zeit bestehen, ehe er sich weiter zur Strobila entwickelt. Die dritte Periode in der Meta- genesis der Discomedusen wird durch die Bildung der Strobila "oder des Kettenkeims gekennzeichnet (Fig. 4, 7,8). Das 16armige Scyphostoma (Fig. 4, 6) wächst beträchtlich in die Länge und gestaltet sich zu einer lang ausgedehn- ten Walze oder einem schlanken Kegel. An dessen Aussenfläche bilden sich meh- rere (bisweilen 10—20 und mehr) ring- förmige Einschnürungen; und indem diese tiefer und tiefer werden, zerfällt der eylindrische Körper in eine Anzahl hinter einander gelegener Scheiben, gleich einer Geldrolle (Fig. 4, 7, 8). Genauer ge- sagt, entspricht die Form dieses » Ketten- keims« mehr einem Satze von Tellern oder Untertassen; denn die einzelnen Scheiben, welche durch jene ringförmigen Einschnürungen getrennt werden, sind nicht flache Scheiben, gleich Münzen, sondern gewölbt, gleich einem tiefen Teller oder einer Untertasse; ihre eine Fläche (und zwar die der freien Mund- öffnung zugekehrte) ist ausgehöhlt, eon- cav; die entgegengesetzte (der angehef- teten Basis zugekehrte) ist schwach gewölbt, convex (Fig. 4, 9). In der Mitte sind alle über einander liegenden Scheiben durchbohrt und hängen hier durch ein gemeinschaftliches centrales Magenrohr zusammen; auch die 4 Ma- genleisten oder Taeniolen setzen sich an dessen Innenfläche ununterbrochen durch die ganze lange Kette fort, von der ursprünglichen Basis des Scypho- polypen bis zu der Mundöffnung am Ende der letzten, grössten und ältesten Scheibe. Die vierte Periode im Genera- tionswechsel der Scheibenquallen wird durch die Ablösung und Ausbildung der Jungen Ephyra-Larven(Kphyrula) aus- Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. gefüllt. Mit diesem Namen bezeichnet man die einzelnen Scheiben oder Teller der Strobilakette, von denen eine nach der anderen frei wird und sich zu einer jungen Discomeduse entwickelt (Fig. 4, 9, 10). Die Ablösung der einzelnen Ephyrascheiben von der Kette geschieht in der Weise, dass an der convexen (dem Basalpol der gemeinsamen Längs- axe zugewendeten) Fläche einer jeden Scheibe das gemeinschaftliche, die Axe durchziehende Magenrohr abreisst. Da- durch bildet sich in der Mitte der con- vexen Rückenfläche ein Loch, welches sich später bald schliesst. Das abge- rissene Stück des Magenrohrs aber wird zu dem Mundrohr der vorhergehenden, nächst jüngeren Meduse. Die abgetrenn- ten Stücke der 4 Magenleisten oder Taeniolen bleiben als 4 Magenfäden oder »Gastralfilamente« im Innern der Magenhöhle, an deren gewölbter Bauch- wand sitzen. Die Oeffnung am anderen Ende des abgerissenen Rohrstückes (— da wo die Trennung der beiden über einander sitzenden Scheiben erfolgt ist —) bleibt als Mundöffnung bestehen. Aber schon &he diese Trennung erfolgt, treten an dem freien Rande einer jeden Scheibe (— oder am Tellerrande —) “8 Einschnitte auf, zwischen denen in gleichen Abständen 8 eiförmige Lappen vorspringen. Jeder dieser 8 eiförmigen »Hauptlappen« spaltet sich wieder gabel- förmig durch einen weniger tiefen Ein- schnitt in 2 kleinere Läppchen, die »>Augenlappen oder Ocularlappen«, und in der Mitte zwischen den letzteren (im Grunde des Gabelspaltes) entsteht ein Auge — oder genauer gesagt, ein Sinneskolben, welcher aus einem Auge, einem Ohr und einer Nase besteht, und mithin die drei höheren Sinnesthätig- keiten des Sehens, Hörens und Riechens gleichzeitig vertritt. So ist denn die junge Ephyralarve der Scheibenquallen schon vor ihrer Ablösung von der Stro- bilakette mit 16 tentakelartigen Rand- lappen und mit 3 Sinneskolben ausge- Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. 37 stattet, welche am Schirmrande regel- - mässig vertheilt zwischen je 2 Augen- lappen sitzen, und den regulär-strah- ligen Bau der Meduse auf den ersten Blick erkennen lassen (Fig.’4, 9, 10, 11). Es ist eine Thatsache von grosser phylogenetischer Bedeutung, dass bei allen Scheibenquallen, deren Keimes- geschichte man bis jetzt kennt, die jugendliche Ephyralarve völlig dieselbe Bildung besitzt. Trotzdem diese Disco- medusen den verschiedensten Familien der Ordnung angehören, und später sehr verschiedene Formen im Laufe mannigfacher Verwandlungen annehmen, zeigt dennoch ihre Ephyrula oder Ephyra-Larve beständig denselben Bau, und insbesondere stets denselben charakteristischen Schirmrand, mit 8 Sinneskolben und 16 Randlappen (Fig. 4, 10, 11). Da nun diese typische Larven- form ausschliesslich für diese eine von den acht Medusenordnungen charakte- ristisch ist und bei den sieben anderen Ordnungen der Schirmquallen niemals vorkömmt (— auch ihrer ganzen Orga- nisation nach nicht vorkommen kann), so schliessen wir daraus nach dem bio- genetischen Grundgesetze, dass sämmt- liche Scheibenquallen ursprünglich von einer einzigen gemeinsamen Stammform abstammen, welche der Ephyrula im wesentlichen gleich gebildet war und welche wir Ephyraea nennen wollen. Die hypothetische Annahme einer solchen Ephyraea erscheint aber um so mehr gerechtfertigt, als auch gegenwärtig noch einzelne uralte, wenig veränderte Nach- kommen derselben leben: Ephyra, Pale- phyra, Nausithoe, Nauphanta etc. Diese einfachsten und ältesten unter allen Discomedusen bilden die besondere Fa- milie der Ephyriden, welche ich kürz- lich in meinem »System der Medusen« eingehend beschrieben habe (p. 451, 476, Taf. 27, 28). IM. Die direete Keimung von Aurelia und Pelagia. (Abgekürzte Entwickelung, ohne Generations- wechsel.) Der gewöhnliche Generationswechsel der Scheibenquallen, dessen vier Haupt- perioden vorstehend kurz geschildert sind, unterliegt zahlreichen, mehr oder weniger bedeutenden individuellen Ab- änderungen. Alle Zoologen, welche bis- her die Keimung von Aurelia, COhrysa- ora, Cotylorhiza u. s. w. eingehend unter- suchten, und welche eine grössere Zahl von Individuen sich entwickeln sahen, geben übereinstimmend an, dass bei einzelnen Individuen mancherlei Varia- tionen und Modificationen jenes ur- sprünglichen Generationswechsels zur Beobachtung kommen. Auch hat bereits Louis Agassiz 1862 eine ziemliche ' Anzahl solcher individuellen Abweichun- gen beschrieben und abgebildet (Con- tributions to the Natural History of the Un: Stab; Val, VW, Rare Ka) X XIa etc.). Bald betreffen diese Ab- weichungen die Bildung der Gastrula und des Scyphostoma, bald diejenige der Strobila und Ephyrula. Eine viel grössere Zahl solcher Abänderungen beobachtete ich selbst gelegentlich meiner onto- genetischen Untersuchungen über Me- dusen in den letzten Jahren, und ganz besonders im Laufe des letzten Winters. Die Aurelien-Brut, welche mir Herr Dr. Haacke aus Kiel geschickt hatte, entwickelte sich in meinem hiesigen Aquarium zu Tausenden, und produzirte zugleich unter den abweichenden Exi- stenzbedingungen, unter welchen die Keimung im Aquarium stattfand, eine Fülle von Spielarten und Monstrositäten, welche zum Theil höchst lehrreich und interessant waren. Ich habe dieselben kürzlich ausführlich beschrieben und durch 40 Figuren erläutert in einer be- sonderen Schrift: »Metagenesis und Hypogenesis von Aurelia aurita«. (Mit 2 Tafeln, Jena 1881, Verlag von G. Fi- 38 Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. scher.) Den Leser,» welcher sich näher für diese Keimungsvariationen interessirt, verweise ich auf diese Schrift, und be- gnüge mich hier damit, nur die wich- tigsten derselben kurz zu schildern. Die angezogenen Figurennummern (mit dem Citat: »Aur.«) beziehen sich auf jene Schrift. Unter der mannigfaltigen Variatio- nen der Gastrulabildung sind fol- gende von besonderem Interesse. Bis- weilen wird die oben beschriebene »Ein- stülpung der kugeligen Keimhautblase« nicht vollständig zu Ende geführt, so dass die beiden Keimblätter der dadurch entstehenden Gastrula sich nicht an- einander legen, sondern zwischen beiden ein Hohlraum bestehen bleibt, der mit einer hellen klaren Gallerte gefüllt ist. Dieser Hohlraum(— derRestderBlastula- ‘ Höhle — Fig. 3, H) kann sich unmittel- bar zum Gallertschirm einer jungen Meduse entwickeln (siehe weiter unten Fig. 8). Sowohl bei solchen unvoll- ständig eingestülpten Blastulakeimen, als auch bei manchen gewöhnlichen, frei schwimmenden Gastrulakeimen wach- sen bisweilen, noch ehe sie sich fest- setzen, am Mundrand 4 konische Zäpf- chen hervor, welche sich zu Tentakeln entwickeln. Einigemale entstehen sogar an den schwimmenden Flimmerlarven noch 4 weitere (interradiale) zwischen jenen 4 ursprünglichen (perradialen) Ten- takeln, und somit verwandelt sich die Gastrula, statt sich festzusetzen, direct in einen freischwimmenden vierarmigen oder achtarmigen Polypen, welcher erst später zur »Anheftung gelangt. Unter den Variationen-der Scy- phostomabildung sind ebenfalls zwei von besonderem Interesse. Erstens nämlich bildet diese festsitzende Polypen- form statt des gewöhnlichen einfachen Tentakelkranzes bisweilen einen doppel- ten, seltener sogar einen dreifachen. 2 oder 3 vollständige Reihen von Ten- takeln sitzen «dann in grösseren oder geringeren Abständen über einander. Das Scyphostoma bildet sich so ge- wissermassen zu einer unvollkommenen Strobila um, aber zu einer Strobila- kette, welche nicht aus mehreren jungen Medusen-Scheiben, sondern vielmehr aus mehreren Polypen-Köpfchen zu- sammengesetzt ist; denn jeder Tentakel- kranz entspricht eigentlich einem solchen Polypen (Aur. p. 21, B2, Fig. 17). Nicht minder wichtig erscheint eine andere Spielform des Scyphostoma, welche sich durch Verästelung oder mehrfache Spaltung der Tentakeln auszeichnet. Die Tentakeln erscheinen dann alle oder zum Theil in 2—3 Aeste gespalten. Besonders merkwürdig aber sind jene Fälle, in welchen von den 16 Tentakeln des vollständig entwickel- ten Becherpolypen ganz regelmässig die 8 prineipalen (— die 4 primären und die 4 secundären —) in je 3 Fäden gespalten sind, während die 8 adradia- len (oder tertiären) einfach und unge- spalten sind. Daraus ergibt sich, dass jeder der 8 Gabellappen der Ephyrula- Meduse aus einem dreispaltigen Ten- takel des Scyphostoma-Polypen ent- standen ist; ‚die beiden seitlichen Fä- den des letzteren werden zu den Augen- lappen der Meduse, während der mitt- lere Faden sich in einen Sinneskolben (mit Auge) verwandelt (Aur. p. 21, B3, Fig. 16). Die Variationen der Strobila- bildung sind noch weit mannigfaltiger als diejenigen der Gastrulabildung und der Scyphostomabildung. Während ge- wöhnlich zahlreiche Ephyrulascheiben aus einem Scyphostoma-Polypen hervor- gehen und so eine vielgliedrige Kette (oft von 10—20 oder mehr Scheiben) bilden, so beschränkt sich nicht selten die Production -jedes Scyphopolypen auf eine einzige Medusenscheibe, und somit bleibt die Kette nur zweigliedrig. Von den Strobilaketten, welche ich im Laufe dieses Winters hier züchtete, blieb so die grosse Mehrzahl zweigliedrig und der Polyp bildete an seiner Mundfläche Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. 39 nur eine einzige Meduse. Demnach trug das aborale (angeheftete) Glied der Kette einen Tentakelkranz, das orale (freie, mit Mund versehene) Glied einen Lappen- kranz mit 8 Sinneskolben. Ebenso sah Schneider, welcher im Aquarium in Giessen Aurelienbrut aus Kiel züchtete, sämmtliche Scyphostomen nur solche zweigliedrige Ketten bilden (Aur. p. 25, C7, Fig. 20). Bisweilen erschien bei meinen zweigliedrigen Ketten das fest- sitzende, polypenförmige Grundglied mit Tentakelkranz dergestalt verkümmert und rückgebildet, dass es nur einen unbedeutenden Stiel des sechzehnlap- pigen medusenförmigen Endgliedes mit Lappenkranz darstellte. Fällt endlich auch noch dieses kleine Stielchen weg, so erscheint die festsitzende Ephyrula- Meduse unmittelbar als ein umgebildeter Scyphostomapolyp, dessen Tentakel- kranz sich in einen Lappenkranz ver- wandelt hat (Aur. p. 25, C8). Auch diejenigen vielgliedrigen Variationen der Strobila sind sehr merkwürdig, bei denen mehrere Tentakelkränze mit mehreren Lappenkränzen abwechseln, sowie die- jenigen, bei denen einzelne Scheiben theilweise Polypententakeln, theilweise Medusenlappen tragen (Strobilaketten mit gemischten Kränzen, Aur., p. 24, C5, Fig. 19). Die Variationen der Ephyrula endlich vervollständigen die Reihe von vermittelnden Zwischenstufen, welche die festsitzende, niedere Polypenform unmittelbar mit der freischwimmenden höheren Medusenform verbinden. Unter ihnen sind ganz besonders wichtig fol- gende Spielformen: I. Ephyrula connectens. Nur die 4 Hauptlappen erster Ordnung (die perradialen) sind in Gabellappen mit Sinneskolben umgebildet, während die 4 Hauptlappen zweiter Ordnung (die interradialen) statt deren dreispal- tige Tentakeln tragen; diese Form be- weist aufs Neue, dass jeder der 8 Haupt- lappen der Meduse (mit einem Sinnes- kolben zwischen 2 Augenlappen) aus einem dreispaltigen Polypententakel ent- standen ist (vergl. umstehend Fig. 5). II. Ephyrula sphinx. Während die vor- dere (mundtragende) Hälfte des Ephy- rulakörpers den gewöhnlichen normalen Lappenkranz (mit 8 Sinneskolben und 16 Augenlappen) trägt, bildet die hin- tere Hälfte einen polypenförmigen Becher mit 4 Magenleisten oder Taeniolen. Diese wahre »Sphinx«, — vorn Meduse, hinten Polyp — kann als ein Seypho- stoma angesehen werden, welches, statt eine Strobila zu bilden, unmittelbar in eine Ephyrula sich verwandelt (vergl. umstehend Fig. 6). Noch vollständi- ger ist diese Verwandlung bei der Ephy- rula pedunculata, einer festsitzenden ge- stielten Medusenscheibe, bei welcher statt der 4 basalen Taeniolen in der Rückenwand (wie sie der Polyp trägt), 4 den Mund umgebende »Gastralfila- mente« erscheinen, wie sie die Meduse in der Bauchwand trägt (Aur. p. 27, D4, Fig. 27, 28). An diese Spielform schliesst sich endlich unmittelbar die Ephyrula tesseroides an, im Wesentlichen eine echte Ephyrameduse, deren Schirm aber nicht, wie gewöhnlich, flach schei- benförmig ist, sondern hochgewölbt becherförmig, wie ein Polypenleib (vergl. Eie:+Q)k Schon diese wenigen, hier kurz an- geführten, cenogenetischenAbweichungen von der normalen, palingenetischen Kei- mungsform der Scheibenquallen zeigen zur Genüge, wie wesentlichen Schwan- kungen dieser wichtige Process unter- worfen ist. Ich habe denselben in der oben angeführten Schrift noch eine grosse Anzahl anderer angeschlossen und durch Abbildungen erläutert. Es geht daraus hervor, dass unter gewissen Bedingungen eine zunehmende Ab- kürzung oder Vereinfachung jenes palingenetischen Generations- wechsels stattfindet, und diese erreicht ihren Höhepunkt in der völlig direeten Entwickelung, welche nach meinen, im Laufe dieses Winters ange- 40 stellten Beobachtungen bisweilen bei Aurelia an dessen Stelle tritt. Diese Hypogenesis von Aurelia — oder die directe Entwickelung ohne Generationswechsel — verläuft ganz in derselben Form, welche bisher unter allen Scheibenquallen nur von der ein- zigen Gattung Pelagia (— der Feuer- Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. qualle —) bekannt war. Sie wurde zu- erst bei dergewöhnlichen Pelagia noctiluca des Mittelmeeres 1855 von August Krohn entdeckt und später von meh- reren anderen Beobachtern bei anderen Arten dieser Gattung bestätigt. Im Beginne dieser Hwypogenesis bleibt die Einstülpung der Blastula unvollständig, Fig. 5. Ephyrula connectens, mit 4 perradialen Gabellappen mit Sinneskolben und 4 interradialen dreispaltigen Tentakeln. Das centrale Mun so dass die beiden Keimblätter der Gast- rula durch einen weiten, mit klarer Gallerte gefüllten Zwischenraum getrennt bleiben (vergl. umstehend Fig. 8). So- dann nimmt der eiförmige Körper der Gastrula eine kegelförmige Gestalt an, indem die vordere, breitere Mundfläche sich stärker abflacht, die entgegen- gesetzte hintere Rückenfläche sich kup- | rande. euz ist von 4 Filamenten umgeben. pelförmig wölbt. Hierauf entsteht rings um den centralen Mund in der Mund- fläche eine ringförmige Vertiefung, und diese wird zur Schirmhöhle; indem sie immer tiefer sich einsenkt, tritt aussen der Rand der ursprünglichen Mund- scheibe immer stärker hervor, verdickt sich wulstförmig und wird zum Schirm- An diesem letzteren sprossen Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. 41 Fig. 6. Fig. 7. Fig. 6. Ephyrula sphin&; die aborale Hälfte mit dem Stiel (p) ein festsitzender Scypho- polyp; mit 4 Taeniolen oder gastralen Längsleisten (v); die orale Hälfte ein medusoider Lappenkranz mit acht Sinneskolben und sechszehn Randlappen. Das kurze Mundrohr ragt in der Mitte frei hervor. Fig. 7. Ephyrula tesseroides, mit konischem Schirm, wahrscheinlich direct aus der Gastrula entstanden, mit 8 Gastralfilamenten. s Stiel oder Scheitelkanal. « Umbrella, Gallertschirm. c Centrale Magenhöhle. 2 Gastralfilamente. r Radialtaschen der Magenhöhle. « Mund- öffnung (Urmund, Archistoma). o Sinneskolben (Rhopalien). Z Lappen des Schirmrandes. sodann in gleichen Abständen 8 Wärz- chen hervor, welche sich zu: flachen Läppchen entwickeln; indem sie sich am Aussenrande gabelig spalten, bilden sie die 16 Augenlappen, und im Grunde zwischen den beiden Augenlappen eines jeden Gabellappens entsteht ein Sinnes- kolben. Während sodann in der Mitte der concaven Bauchfläche das Mundrohr weiter aus der centralen Mundöffnung hervorwächst, flacht sich gleichzeitig die convexe Rückenfläche bedeutend ab, und indem der Schirmrand mehr und mehr in die Breite sich ausdehnt, geht die kegelförmige Larve in die gewöhn- liche flache Scheibenform der Ephyrula über. Bezüglich der Einzelheiten dieses Keimungsprocesses ist die ausführliche Darstellung zu vergleichen, welche ich in der angeführten Schrift über »Meta- genesis und Hypogenesis von Aurelia aurita« kürzlich gegeben habe (p. 28—32, Fig. 21—26 u. Fig. 8, 9 dies. Aufsatzes). So entwickelt sich also bisweilen die Ephyrula — die bedeutungsvolle Jugendform der Aurelia, wie aller übri- gen Scheibenquallen — unmittelbar aus der Gastrula. Weder entsteht aus der letzteren ein festsitzendes Scy- phostoma, noch aus diesem eine geglie- derte Strobila. Diese beiden wichtigen Hauptstufen der normalen Entwickelung fallen vollständig aus, und die vierte Stufe entsteht direct aus der ersten 42 Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. Stufe. Damit fällt aber zugleich der charakteristische Generations-Wechsel, die Metagenesis vollständig fort, und an die Stelle dieser indirecten Kei- mungsform tritt die »direete« Entwicke- lung ohne Generationswechsel, die Hy- pogenesis, Freischwimmende Zwischenstufe zwischen der Gastrula und der Ephyrula; am Schirm- rande beginnt die Bildung der 8 Lappen. e Exoblast (Hautblatt, äusseres Keimblatt). h Furchungshöhle (Blastocoeloma). © Endo- blast (Darmblatt, inneres Keimblatt). ce Cen- trale Magenhöhle. « Mundöffnung (Urmund). Fig. 9. Direet aus der Gastrula entwickelte Ephy- rula. In Ausrandungen der 8 Lappen sind die 8 Sinneskolben angelegt, das Mundrohr ragt weit aus der Schirmhöhle vor. Bedenu- tung der Buchstaben wie in Fig. 7 und 8. IV. Das Verhältniss der diresten zur in- direeten Keimungsform der Scheibenquallen. So überraschend die angeführten Ab- weichungen von dem normalen Ent- wickelungsgange der Aurelia und ganz besonders die zuletztbeschriebene directe Entwickelung derselben zunächst er- scheint, so kennen wir doch zahlreiche Thatsachen aus der Entwickelungsge- schichte der Thiere, welche mit Hülfe der Abstammungslehre uns zu einem Verständnisse derselben hinführen. Zu- nächst ist daran zu erinnern, dass beide bei Aurelia beobachtete Kei- mungsformen auch bei anderen Disco- medusen vorkommen. Die Cyaneide Oyanea, die Versuride Cotylorhiza, die Pelagide Chrysaora und Andere besitzen ganz denselben Generationswechsel, wel- cher bei der Ulmaride Aurelia die nor- male Regel ist. Hingegen entwickelt sich die Pelagidengattung Pelagia be- ständig in derselben »directen Forme, ohne (Generationswechsel, welche bei Aurelia nur unter gewissen Umständen, als seltene Ausnahme, auftritt. Nun gehören aber Pelagia (mit Hypogenesis) und Chrysaora (mit Metagenesis) der- selben Familie an, und sind so nahe blutsverwandt, dass die Abstammung der letzteren von der ersteren keinem Zweifel unterliegt. Die junge Goldqualle (Ohry- saora) ist von der ausgebildeten Feuer- qualle (Pelagia) überhaupt kaum zu unterscheiden; erst im Laufe ihrer Ver- wandlung bildet die Goldqualle die grössere Zahl von Tentakeln und von Randlappen, durch welche allein sie sich von der Feuerqualle generisch unterscheidet. Mithin dürfen wir mit voller Bestimmtheit annehmen, dass Chrysaoraihren Generationswech- sel ursprünglich von ihrer Stamm- form Pelagia geerbt hat, und dass ' diese letztere erst später (— nach Ab- zweigung der Chrysaora von der Stamm- “form —) den Generationswechsel in derselben Weise verloren hat, wie noch Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. 43 gegenwärtig einzelne Individuen von Aurelia denselben verlieren. Die Hypo- genesis also, die bei Aurelia jetzt noch als seltene Ausnahme er- scheint, ist bei Pelagia schon längst zur festen Regel geworden. Dass der Generationswechsel der Scheibenquallen die ursprüngliche Form ihrer Keimung darstellt und wirk- lich palingenetisch zu deuten ist, unterliegt keinem Zweifel. Denn die festsitzenden, einfach organisirten Po- lypen bilden die älteste Form der Nessel- thiere, aus welchen sich alle übrigen Formen dieses Stammes erst viel später entwickelt haben. Insbesondere die Medusen sind erst durch Anpas- sung an freischwimmende Lebens- weise aus den festsitzenden Poly- pen entstanden; sie haben dadurch den charakteristischen Schirm mit Lap- penkranz und höheren Sinnesorganen erworben, welche an die Stelle des ein- fachen Tentakelkranzes der Polypen ge- treten sind. Polypen, welche zufällig von ihrer Anheftungsstelle durch die Meereswellen abgerissen worden sind, machen mit ausgebreitetem Tentakel- kranze Schwimmversuche, und lediglich solchen fortgesetzten Schwimmübungen und der damit verbundenen höheren Ausbildung des Schirmrandes und Ten- takelkranzes ist die Entstehung der Medusenform zu verdanken. Wenn sich nun aus den Eiern der so entstandenen Meduse zunächst wieder ein festsitzender Polyp entwickelt, so ist dieser Gene- rationswechsel (— der sich dann be- ständig wiederholt —) zunächst einfach als Rückschlag in die ursprüng- liche Stammform aufzufassen, oder als > Atavismus«, nach dem »Gesetze der unterbrochenen oder latenten Vererbung « (Natürliche Schöpfungsgeschichte, VII. Aufl. 1879, p. 184—186). Bei denjenigen Medusen, welche sich direct aus ihren Eiern entwickeln (— wie Pelagia beständig, und Aurelia in ein- zelnen Fällen —) ist somit der ursprüng- lich vorhandene Generationswechsel ver- loren gegangen, und die scheinbar »einfache, directe Entwickelung« (Hypo- genesis) beruht somit nur auf einer cenogenetischen Abkürzung jener ursprünglich vorhandenen Metagenesis (in Folge von Anpassung an beson- dere Keimungsbedingungen). Jene Meta- genesis bleibt aber desshalb palin- genetisch, weil sie uns die ursprüng- liche historische Entstehung der frei schwimmenden Meduse aus dem fest- sitzenden Polypen in Folge steter Ver- erbung naturgetreu erzählt. Würden alle Scheibenquallen, gleich der Pelagia, sich direct entwickeln, durch Hypoge- nesis, so würden wir keine unmittel- baren Beweise für die ursprüngliche Abstammung derselben von Scypho- polypen mehr in Händen haben. Ein ähnliches Verhältniss der direc- ten zur indirecten Entwickelung, wie hier die Scheibenquallen, zeigen uns auch die Seesterne. Während die meisten Seesterne sich durch Genera- tionswechsel (oder irrthümlich soge- nannte Metamorphose) entwickeln, haben einige Seesterne Bruthöhlen gebildet, unter deren Schutze die junge Brut unmittelbar (— ohne Metagenesis oder nur mit Spuren derselben —) zu See- sternen sich entwickelt. Die meisten marinen Krebse entwickeln sich indirect, durch eine verwickelte Metamorphose, während unser Flusskrebs dieselbe ver- loren hat und sich direct entwickelt. Fast alle Amphibien durchlaufen in ihrer Jugend die fischähnliche Larvenform der Kaulquappen, mit Kiemen und Kiemen- spalten; nur einige, neuerdings entdeckte Frösche, insbesondere der westindische Laubfrosch (Hylodes martinicensis) haben dieselbe verloren und entwickeln sich »direct« aus dem Ei, gleich den Rep- tilien, Vögeln und Säugethieren (»Kos- mos«, Band El: P- 161). In allen diesen Fällen handelt es sich um eine ceno- genetische Abkürzung des ur- sprünglichen, palingenetischen 44 Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. Entwickelungsganges. Durch An- passung an besondere Bedingungen der Entwickelung ist die ursprünglich durch Vererbung übertragene Keimungs- form zusammengezogen und vereinfacht worden, nach den »Gesetzen der ab- gekürzten oder vereinfachten Vererbung« (Natürl. Schöpfungsgeschichte. VII. Aufl. 1879, p. 190). Die Erforschung der besonderen Kei- mungsbedingungen, welche derge- stalt im Stande sind, die ursprüngliche, palingenetische Form der Keimung in eine abgekürzte, cenogenetische Form überzuführen, bildet das interessante und lehrreiche Object einer besonderen Wissenschaft, der Experimental- OÖntogenie. Aber dieser wichtige, experimentirende Zweig der Keimungs- geschichte existirte bisher kaum dem Namen nach. Zwar wissen wir schon längst, dass die normale Entwickelung dies Hühnchens im bebrüteten Ei unter gewissen Bedingungen bestimmte Stö- rungen erleidet, und durch die Experi- mente von Dareste und Anderen wissen wir sogar, dass wir durch be- stimmte Veränderungen mechanischer und thermischer Natur, durch veränderte Stellung, Umgebung und Temperatur des bebrüteten Hühnereies im Stande sind, bestimmte Missbildungen des Hühn- chens zu erzeugen. Aber im Ganzen ist doch bis jetzt noch sehr wenig ge- schehen, um dieses dankbare Gebiet der experimentellen Keimesge- schichte weiter zu bebauen und aus- zudehnen. Und wie zahllos und gross- artig sind die mannigfaltigen Aufgaben, welche hier des experimentirenden Phy- siologen harren! Im vorliegenden Falle liegt es auf der Hand, dass die Aure- lienbrut im stillen, engen Aquarium des Binnenlandes, unter künstlicher Luftzufuhr, im geheizten Zimmer, ganz anderen Keimungsbedingungen ausge- setzt ist, als draussen im freien Meere, unter der eisigen Winterkälte des Nor- dens und unter dem Einflusse der ewi- gen Bewegung des weiten Meeres! Es wäre wunderbar, wenn diese höchst be- deutende Veränderung der Keimungs- bedingungen nicht einen entsprechenden Einfluss auf die Ausbildung der Medusen- brut ausübte! Sache der Experimen- tal-Ontogenie wird es nun sein, diese Einflüsse nach Qualität und Quantität genau zu untersuchen. Bestimmte Ver- änderungen der Temperatur, des Lichtes, der Luftzufuhr, der Wasserbewegung werden sicher von mehr oder weniger bestimmendem Einflusse auf die Ent- wickelung solcher zarten und bildsamen Organismen sein. Die zahlreichen, vorher erwähnten, und anderen, neuerdings beobachtete Fälle von verschiedenartiger Entwicke- lung nächst verwandter Thiere haben mit Recht das ganz besondere Interesse der Zoologen erweckt; denn sie sind nur mit Hülfe der Abstammungs- tehre erklärbar, mit Hülfe der Lehre von der Vererbung und Anpas- sung; ohne diese bleiben sie unver- ständlich. Sie liefern daher zugleich ebenso viele Beweise für die Wahrheit dieser fundamentalen Lehren. Aber in allen jenen Fällen handelte es sich um verschiedene Gattungen einer und der- selben Familie oder Classe. Hier da- gegen, bei der Aurelia, liegt der erste Fall vor, dass bei verschiedenen Individuen einer und derselben Art die grössten Unterschiede in derKeimungsform beobachtetwur- den; und darum glauben wir ihm eine allgemeine Bedeutung zuschreiben zu dürfen; er liefert in der That eine neue und wichtige Stütze für den Trans- formismus! BZ Staatliche Einrichtungen, Von Herbert Spencer. VL. Herrscher im Staate — Häuptlinge, Könige u. s. w. Von den drei Bestandtheilen des dreieinigen Staatsgebildes, wie sie im ersten Anfange nachgewiesen sind, haben wir jetzt zunächst die Entwickelung des ersten derselben zu verfolgen. Schon in den letzten beiden Capiteln habe ich mehrfach von jener höchst wichtigen Differenzirung gesprochen und noch öfter dieselbe angedeutet, welche zur Ein- setzung eines bestimmten Oberhauptes führt. Was dort in allgemeinsten Zügen erwähnt wurde, ist nun hier in den Ein- zelheiten näher auszuführen. »Als Rink die Nikobaren-Insulaner frug, wer von ihnen der Häuptling sei, antworteten sie ihm lachend, wie er denn glauben könnte, dass Einer über so Viele Gewalt haben sollte?« Ich führe dies an, um darauf aufmerksam zu machen, dass anfänglich ein lebhafter Widerstand gegen die Anerkennung der Obergewalt eines Mitgliedes der Gruppe über die Anderen vorhanden ist — ein Widerstand, der bei manchen Men- schengruppen nur klein, bei den meisten bedeutend, bei einigen wenigen sogar sehr gross ist. Den schon erwähnten Beispielen von in Wirklichkeit eines Häuptlings entbehrenden Stämmen seien noch aus Amerika die Haidahs beige- fügt, bei welchen »die Leute sämmtlich einander gleich zu sein scheinen«; dann die californischen Stämme, wo »jeder Einzelne so thut, wie es ihm beliebt«, und die Navajos, bei welchen »jeder nach eigenem Rechte als Krieger sein eigener Herr ist«, endlich aus Asien die Angamies, welche »kein anerkanntes Oberhaupt oder Häuptling haben, ob- gleich sie einen Sprecher auswählen, der aber in jeder Hinsicht und bei jeder Gelegenheit machtlos ist und keine Verantwortung trägt«. Die geringen Anfänge von Unter- ordnung, wie sie manche rohe Menschen- gruppen zeigen, kommen blos da vor, wo die Nothwendigkeit gebieterisch ein gemeinschaftliches Handeln fordert und es eines äusseren Zwanges bedarf, um dasselbe wirksam zu machen. Ohne die schon früher erwähnten Beispiele zeitweiliger Häuptlingschaft wieder auf- zuzählen, will ich hier nur einige andere hinzufügen. Von den Unter-Californiern lesen wir: »Auf der Jagd und im Kriege haben sie einen oder mehrere Häupt- linge, um sie anzuführen, die jedoch nur für die betreffende Gelegenheit erwählt worden sind.« Von den Häupt- lingen der Flachkopfindianer wird er- zählt, >dass ihre Macht mit dem Kriege aufhört<. Bei den Soundindianern »hat 46 der Häuptling keinerlei Autorität und lenkt die Bewegungen seiner Bande blos bei kriegerischen Ueberfällen«. Wie schon bei einer anderen Gele- genheit bemerkt wurde, behält diese ursprüngliche Insubordination grösseren oder. geringeren Spielraum, je nachdem die Verhältnisse der Aussenwelt und die Lebensgewohnheiten den Zwang hindern oder begünstigen. Die Unter-Californier, deren Mangel an Häuptlingen ich schon erwähnt habe, gleichen, wie Baegert sagt, »Heerden von wilden Schweinen, die nach ihrem eigenen Belieben herum- laufen, heute beisammen sind und sich morgen wieder zerstreuen, bis.sie zu- fällig in einer späteren Zeit sich wieder zusammenfinden«. »Die Häuptlinge der Chippewähs haben gegenwärtig absolut keine Macht<, sagt Franklin, und dieses Volk besteht aus lauter kleinen wandernden Horden. Von den Abiponen, welche »zu ungeduldig sind für den Ackerbau und eine feste Heimstätte und die sich fortwährend von einer Stelle zur andern fortbewegen«, schreibt Dobrizhoffer: »sie verehren weder ihren Caziken als Herrn, noch geben sie ihm Abgaben, noch leisten sie ihm Dienste, wie dies bei anderen Nationen gebräuchlich ist«. Das Gleiche gilt unter ähnlichen Bedingungen für andere Völker von ganz abweichendem Typus. So bemerkt Burckhardt von den Beduinen: »Ihr Scheikh hat keine fest- stehende Autorität<; und nach einem anderen Schriftsteller wird »ein Häupt- ling, welcher die Schranken der Unter- thanenpflicht zu eng gezogen hat, ein- fach abgesetzt oder verlassen und er wird zu einem blossen Mitgliede eines Stammes oder bleibt ohne einen sol- chen«. Und nun, nachdem wir den ursprüng- lichen Mangel des staatlichen Zwanges, den Widerstand, welchem derselbe be- gegnet, und die Umstände, welche eine Aufhebung desselben begünstigen, dar- gelegt haben, dürfen wir uns die Frage Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. stellen, was für Ursachen seine weitere Entwickelung unterstützen. Es gibt deren mehrere, und die Häuptlingswürde wird um so dauerhafter, je mehr die- selben zusammenwirken. Unter den Gliedern der primitiven Gruppe, die doch immer in verschie- dener Weise und in mannigfaltigem Grade etwas von einander abweichen, wird sich sicherlich Einer finden, der eine anerkannte Ueberlegenheit besitzt. Diese Ueberlegenheit kann von verschie- dener Art sein, was wir kurz in's Auge fassen wollen. Wenn es auch in gewissem Sinne abnorme Fälle sind, so müssen wir doch auch diejenigen berücksichtigen, in denen diese Ueberlegenheit einem frem- den Einwanderer zukommt. Die Häupt- linge der Khonds »sind in der Regel Nachkommen irgend eines kühnen Aben- teurers< von hindostanischer Abkunft. Forsyth bemerkt Gleiches von den »meisten Häuptlingen« in den Hoch- ländern von Üentralasien, und die Ueberlieferungen von Bochica unter den Chibchas, von Amalivaca bei den Ta- manacs und von Quetzalcoatl bei den Mexicanern weisen auf eine ähnliche Ent- stehung ihrer Häuptlingswürde hin. Hier jedoch kommen für uns wesentlich nur die Fälle von Ueberlegenheit in Betracht, welche innerhalb des Stammes auftreten. In erster Linie haben wir diejenige zu nennen, welche sich mit höherem Alter verbindet. Obgleich das Alter, wenn es Leistungsunfähigkeit mit sich bringt, bei rohen Völkerschaften häufig mit solcher Missachtung behandelt wird, dass man die Alten sogar zu tödten oder wenigstens dem Tode zu über- lassen pflegt, so sichert doch, so lange noch die Kraft ausdauert, die grössere Erfahrung dem Alter im allgemeinen einen wesentlichen Einfluss. Die Eski- mos, welche keine Häuptlinge kennen, beweisen doch »ihren älteren und stär- keren Männern Hochachtungs. Bur- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 47 chell erzählt, dass unter den Busch- männern alte Männer in gewissem Maasse die Autorität von Häuptlingen auszu- üben schienen, und Gleiches gilt von den Eingeborenen von Australien. Bei den Feuerländern »wird das Wort eines alten Mannes von den jungen Leuten wie ein Gesetz geachtet«. Jede Horde der Felsen-Veddahs »hat einen Haupt- mann, den thatkräftigsten Aeltesten des Stammes«, welcher den Honig u. s. w. vertheilt. Selbst bei manchen weiter vorgeschrittenen Völkern kehrt dasselbe wieder. Die Dajaks im nördlichen Borneo >haben keine eigentlichen Häuptlinge, allein sie folgen den Rathschlägen der alten Männer, mit denen sie verwandt sind«, und Edwards erzählt von den ohne Regierung lebenden Cariben, dass sie >in der That ihren alten Männern eine gewisse Art von Autorität zuge- stehen«. Naturgemäss verleiht in rohen Ge- sellschaften eine kräftige Hand ent- sprechende Gewalt. Abgesehen von dem Einflusse des Alters »beruht eine Aus- zeichnung unter den Buschmännern allein auf körperlicher Kraft«. Die Anführer der Tasmanier waren schlanke und kräftige Männer; »sie hatten keine gewählten oder erblichen Häuptlinge, sondern die Stelle des Befehlshabers wurde dem Grössten des Stammes über- lassen«. Eine Bemerkung von Sturt lässt eine ebensolche Entstehung der Herrschaft bei den Australiern vermu- then. Aehnliches findet sich in Süd- amerika. Bates erzählt von Stämmen am Tapajos, dass »die Fussstapfen des Häuptlings sich von denen aller Uebri- gen durch ihre Grösse und die Länge des Schrittes unterscheiden liessen«. Und in den Beduinenstämmen >» erlangt der Kühnste, der Stärkste und der Schlaueste eine vollständige Herrschaft über seine Genossen«. Auf höheren Entwickelungsstufen bleibt immerhin die ‚physische Kraft noch lange eine höchst wichtige Eigenschaft, so im homerischen Griechenland, wo selbst das Alter nicht eine Abnahme der Körperkraft aufwie- gen konnte: -»ein alter Häuptling wie Peleus oder Laörtes kann seine Stellung nicht behaupten.< Und im ganzen mittelalterlichen Europa hing die Auf- rechterhaltung der Häuptlingswürde wesentlich von körperlicher Tapfer- keit ab. Aber auch geistige Ueberlegenheit, sei es allein oder mit den übrigen Eigenschaften vereinigt, ist eine allge- meine Ursache der Herrschaft. Für die Schlangenindianer ist der Häuptling nichts weiter als »die vertrauenswür- digste Person unter den Kriegern«. Schoolcraft sagt von einem Häupt- ling, den die Creeks anerkannten, dass »er sich vor dem Volke nur durch seine überlegenen Talente und seine staatsmännischen Fähigkeiten auszeich- nete«s, und dass auch bei den Coman- ches »die Stellung eines Häuptlings nicht erblich, sondern das Resultat seiner eigenen grösseren Schlauheit, seiner Kenntniss oder seiner Erfolge im Kriege war«.. Der Häuptling der Coroados ist ein Mann, welcher »durch Kraft, Schlauheit und Muth einen ge- wissen Einfluss über sie erlangt hats, und die ÖOstjaken »erweisen ihrem Häuptlinge Ehrfurcht im vollsten Sinne des Wortes, wenn er weise und tapfer ist; allein diese Ehrenbezeugung ist freiwillig und nicht ein Prärogativ seiner Stellung«. Eine fernere Quelle von Regierungs- gewalt in primitiven Stämmen ist grosser Besitz: Reichthum bildet ja sowohl ein indirectes Zeugniss der Ueberlegenheit wie eine directe Ursache von Einfluss. Bei den Taeullies »kann jede beliebige Person zu einem Miuty oder Häuptling werden, wenn sie nur gelegentlich ein Dorffest gibt«. >»Bei den Tolewas im Lande Del Norte macht Geld den Häupt- ling.« Und von den führerlosen Navajos lesen wir, dass »jeder reiche Mann viele Anhänger hat und dass diese seinem 48 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Willen gehorchen im Frieden wie im Kriege«. Natürlich aber kommt es bei noch nicht staatlich entwickelten Gesell- schaften häufig genug vor, dass die anerkannte Ueberlegenheit durch die- jenige eines neuen Emporkömmlings be- kämpft oder verdrängt wird. „Wenn ein Araber, nur von seinen eige- nen Verwandten begleitet, auf vielen Beute- zügen gegen den Feind erfolgreich gewesen ist, so schliessen sich ihm noch andere Freunde an, und wenn seine Erfolge immer noch fort- dauern, so erlangt er den Ruf ‚glücklich‘ zu sein, und so verschafft er sich eine Art von secundärer oder niedriger Führung im Stamme.“ f So auch in Sumatra: „Ein gebieterisches Aussehen, eine ge- winnende Art des Auftretens, ein leichter Fluss der Rede und eine gewisse Fähigkeit, die kleinen Verwickelungen ihrer Streitig- keiten zu durchschauen und mit Schlauheit zu entwirren, sind Fähigkeiten, welche mei- stens im stande sind, ihrem Besitzer Ach- tung und Einfluss zu verschaffen, der viel- leicht oft denjenigen eines anerkannten Häupt- lings übersteigt.“ Und Verdrängungen verwandter Art kommen auch bei den Tonga-Insulanern und den Dajaks vor. Anfänglich also ist das, was wir zuvor als das wirksamste Princip erkannt, das überhaupt einzige Prineip der Or- ganisation. Die geringe politische Führerschaft, die überhaupt besteht, wird von demjenigen gewonnen, dessen Befähigung dazu in höherem Alter, grösserer Kraft, stärkerem Willen, reicheren Kenntnissen, lebhafterer Ein- sicht oder grösserem Reichthum zum Ausdruck kommt. Allein offenbar ist eine Ueberlegenheit, welche in dieser Weise ausschliesslich von persönlichen Eigenschaften abhängt, nur vorüber- gehender Natur. Sie muss stets ge- wärtig sein, durch die Ueberlegenheit eines von Zeit zu Zeit auftretenden noch befähigteren Mannes beseitigt zu werden, und will sie sich nicht ver- drängen lassen, so endigt sie noth- wendigerweise mit dem Tode. Wir haben somit nun zu untersuchen, auf welche Weise sich die dauernde Häupt- lingschaft festsetzt. Bevor wir dies jedoch thun, müssen wir ausführlicher jene beiden Arten der Ueberlegenheit, welche ganz vorzugsweise zur Häupt- lingschaft führen, und ihre Wirkungs- weise untersuchen. Wenn blosse Körperkraft schon bei täglich wiederkehrenden Gelegenheiten im Stamme eine Ursache der Ueber- legenheit ist, so wird sie dies noch viel mehr sein bei kriegerischen Gele- genheiten, sofern sie sich mit Muth verbindet. Der Krieg strebt daher be- ständig jede Autorität dieser Art, wo sie irgend auftaucht, schärfer auszu- prägen. Der Widerstand anderer Mit- glieder des Stammes gegen die Aner- kennung der Führerschaft eines ein- zelnen Mitgliedes wird höchst wahr- scheinlich durch ihr Bedürfniss nach Sicherheit in den Hintergrund gedrängt werden, sofern letztere die Anerkennung seiner Führerschaft fordert. Eine solche Erhebung des kräftig- sten und muthigsten Kriegers zur Macht findet zunächst ganz von selber statt und erscheint erst später als Folge eines mehr oder weniger bestimmten Uebereinkommens, manchmal verbunden mit einer Art von Kraftprobe. Wo, wie z. B. in Australien, jeder >von den Uebrigen nur nach seiner Geschicklich- keit im Werfen eines Speeres und dem Ausweichen vor demselben geschätzt wird«e, da wird jedenfalls auch eine höhere Begabung für den Krieg, wo sie sich immer zeigt, von selbst schon eine solche zeitweilige Häuptlingschaft nach sich ziehen, wie wir sie dort vor- finden. Wenn, wie bei den Comanches, jeder, der sich durch den Raub zahl- reicher »Pferde oder Scalps auszeichnet, die Ehren der Häuptlingschaft erstreben darf und ganz allmählich auf Grund der stillschweigenden Zustimmung des‘ Volkes zu derselben gelangt«, so liegt Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 49 die natürliche Entstehungsweise der- selben klar vor uns. Sehr verbreitet jedoch ist die freie Wahl, so bei den Flachkopfindianern, bei welchen »Nie- mand eine wirkliche Autorität ausübt, ausser die Kriegshäuptlinge«. Bei man- chen Dajaks werden sowohl Kraft als Muth auf die Probe gestellt. »Die Geschicklichkeit im Erklettern einer grossen Stange, die gut eingeschmiert worden ist, erscheint als nothwendige Qualification eines streitbaren Häupt- lings für die See-Dajaks«, und St. John _ sagt, es sei in manchen Fällen »Sitte, wenn man auszumachen hatte, wer zum Häuptling ernannt werden sollte, dass die Rivalen auszogen, einen Kopf zu suchen: wer zuerst einen fand, war Sieger«. Ueberdies strebt nun das Bedürfniss nach einem leistungsfähigen Führer stets die Häuptlingschaft wieder herzustellen, wo sie etwa nur nominell oder schwach sein sollte. Von den Cariben erzählt uns Edwards, dass »die Erfahrungen im Kriege sie gelehrt hatten, dass Unterordnung ebenso nothwendig sei als Muth; daher erwählten sie ihre Hauptleute in ihren allgemeinen Ver- sammlungen mit grosser Feierlichkeit« und »stellten ihre Ansprüche an sie mit ausserordentlich barbarischen Umstän- den auf die Probe«. Ebenso bei den Abiponen: »obgleich sie weder ihren Caziken als ihren Richter fürchten, noch ihn als ihren Herrn ehren, so folgen ihm doch seine kriegerischen Genossen als ihrem Leiter und Herrscher im Kriege, wo immer der Feind ange- griffen oderzurückgetrieben werdensoll.« Diese und ähnliche Thatsachen, deren leicht eine grosse Menge noch beigebracht werden könnte, ergeben drei verwandte Folgerungen. Die eine besagt, dass Fortdauer des Krieges zu einer Fortdauer der Häuptlingschaft führt. Die zweite lautet, dass der Häuptling mit der Steigerung seines Einflusses als erfolgreiches Kriegsober- Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). haupt auch Einfluss als staatliches Oberhaupt gewinnt. Und drittens folst daraus, dass auf diese Weise zwischen kriegerischer und staatlicher Oberherr- schaft sich eine Verbindung herstellt, welche auch in den späteren Phasen der socialen Entwickelung fortbesteht. Nicht nur bei den uncivilisirten Hot- tentotten, Malagassen und andern Völ- kern ist der König zugleich das Haupt des Heeres — und nicht nur bei jenen halb civilisirten Völkern wie den Peruanern und Mexicanern finden wir, dass Monarch und Oberbefehlshaber eins und dasselbe sind, sondern auch die Geschichte der ausgestorbenen und lebenden Nationen der ganzen Welt dient als Beleg für diesen Zusammen- hang. In Aegypten »waren in den früheren Zeiten die Obliegenheiten des Königs und des Generals von einander untrennbar«. Die assyrischen Urkunden stellen immer das Staatsoberhaupt zu- gleich als erobernden Krieger dar, ebenso auch die der Hebräer. Bürger- liche und kriegerische Oberherrschaft fielen bei den homerischen Griechen gleichfalls zusammen und im alten Rom »war gewöhnlich der König selbst Heerführere. Dass Gleiches für die ganze europäische Geschichte gilt und theilweise in den mehr kriegerischen Gesellschaften sogar heute noch statt- findet, braucht nicht nachgewiesen zu werden. Inwiefern nun aus der kriegerischen Obergewalt eine Herrschaft von weiterem Umfange sich ableitet, lässt sich bei solchen Gesellschaften, die keine ge- schriebenen Urkunden besitzen, nicht leicht darthun; wir können vielmehr nur schliessen, dass mit der Steigerung der Herrschergewalt, welche der erfolg- reiche Kriegsführer erlangte, naturge- mäss auch die Ausübung einer strengeren Herrschaft in bürgerlichen Angelegen- heiten einherging. Dass dies aber auch bei den Völkern stattfand, welche eine Geschichte haben, dafür gibt es Beweise 4 50 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. genug. Von den alten Germanen be- merkt Sohm, dass die römischen Ueber- fälle wenigstens ein Resultat hatten: „Die Königswürde wurde mit der Führer- schaft des Heeres (welche eine bleibende war) vereinigt und in Folge davon erhob sie sich selbst zu einer Macht (Institution) im Staate. Die kriegerische Unterordnung unter den königlichen Heerführer förderte natürlich auch die staatliche Unterordnung unter den König ET Nach den römischen Kriegen ist das Königthum bereits mit den höchsten Rechten bekleidet — es ist ein Königthum in unserem Sinne geworden.“ Auf ganz ähnliche Weise bemerkt Ranke, dass während des Krieges mit England im 15. Jahrhundert — „die französische Monarchie, während sie geradezu um ihre Existenz kämpfte, zu glei- cher Zeit und als unmittelbares Ergebniss des Kampfes eine festere Organisation er- langte. Die Vorkehrungen, welche ergriffen wurden, um den Kampf fortzusetzen, gestal- teten sich, wie in so vielen anderen wichti- gen Fällen, zu bleibenden nationalen Ein- richtungen.“ Und Beispiele des Verhältnisses zwischen erfolgreicher Kriegführung und der Kräftigung des staatlichen Zwanges aus der Neuzeit finden wir in der Lauf- bahn Napoleons I. und in der neuesten Geschichte des Deutschen Reiches. Die staatliche Oberherrschaft also, die gewöhnlich in dem von dem kräf- tigsten, muthigsten und schlauesten Krieger erlangten Einfluss wurzelt, kommt da zur dauernden Ausbildung, wo die Thätigkeit im Kriege seiner Ueberlegenheit Anlass gibt, sich zu zei- gen und Unterordnung zu erzwingen, und das weitere Wachsthum der staatlichen Gewalt behält dann auch in der Folge- zeit seine ursprüngliche Beziehung zur Ausübung der kriegerischen Functionen. Die so gewonnene Vorstellung wäre jedoch sehr irrthümlich, wenn keine andere Möglichkeit des Ursprungs der staatlichen Herrschaft angeführt würde. Es gibt eine Art des Einflusses von höchster Bedeutung, welche in manchen Fällen allein und in anderen Fällen wieder mit der oben dargelegten zu- sammenwirkt. Ich meine den Einfluss, welchen der Medieinmann ausübt. Dass dieser ebenso früh zur Geltung gelangt wie der andere, lässt sich kaum behaupten, da er überhaupt nicht ent- stehen kann, bevor die Geistertheorie in's Leben getreten ist. Sobald aber der Glaube an die Geister der Todten allgemein wird, pflegt man auch den Medicinmann, der das Vermögen zu besitzen behauptet, dieselben nach sei- nem Belieben zu regieren, und der den Glauben an seine Behauptungen einzuflössen weiss, mit einer Furcht zu betrachten, welche Gehorsam erzwingt. Wenn wir von den Thlinkeets lesen, dass »der bündigste Beweis von der Gewalt eines Beschwörers darin besteht, einen der ihm unterthänigen Geister in den Körper desjenigen fahren zu lassen, der dem Glauben an seine Macht widersteht, infolge dessen dann der Besessene von OÖhnmachten und Krampf- anfällen heimgesucht wird«, so können wir uns wohl die Furcht vorstellen, welche er hervorruft, und die Bedeu- tung, die er dadurch zu erlangen ver- mag. Von den niedrigsten bis zu den höchsten Racen finden wir eine Menge Beispiele. Fitzroy berichtet von dem »Doctor-Hexenmeister der Feuerländer«, dass er der schlaueste und verschla- genste Mensch seines Stammes sei und grossen Einfluss über seine Genossen ausübe. »Obgleich die Tasmanier frei von der Despotie von Herrschern waren, so standen sie doch unter den Ein- flüssen der Rathschläge gewisser weiser Männer oder Doctoren, liessen sich durch ihre Künste regieren oder durch ihre Schreckmittel® in Furcht setzen. Dieselben vermochten nicht allein die Leiden zu mildern, sondern auch nach Belieben Jemand solche zuzufügen.« Der Häuptling der Haidahs »scheint auch der oberste Zauberer zu sein und in der That nur geringe Autorität zu besitzen, soweit sie nicht mit seinen Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 5 in Zusam- Die Medicinmänner übermenschlichen Kräften menhang steht«. der Dacotahs „sind die grössten Schufte im Stamme und besitzen unglaublichen Einfluss über den Geist der Jüngeren, welche in dem festen Glauben an ihre übernatürlichen Kräfte auf- erzogen werden ..... Der Kriegshäupt- ling, welcher den Stamm in den Kampf führt, ist stets einer dieser Medieinmänner und sie glauben, er habe die Macht, sie zum Siege zu führen oder vor der Niederlage zu retten.“ Bei weiter vorgeschrittenen Völkern in Afrika verleiht der Glaube an die Macht, übernatürliche Wirkungen her- vorzubringen, gleichermaassen grossen Einfluss, welcher dann die auf andere Weise erlangte Autorität zu unterstützen vermag. So bei den Amazulus: ein Häuptling »übt magische Künste gegen einen andern Häuptling, bevor er mit ihm kämpft«, und sein Gefolge setzt um so mehr Vertrauen auf ihn, je grösser sein Ruf als Zauberer ist. Daraus erklärt sich die Gewalt, welche Langalibalele besass, der, wie Bischof Colenzo sagt, »sehr gut die Zusam- mensetzung jenes intelezi (des Mittels, was zum Wettermachen gebraucht wird) und ebensogut die Kriegsmedicin, d.h. alle ihre Bestandtheile kennt, da er selbst ein Doctor ist«. Noch deutlicher erkennt man den auf solche Weise erlangten herrschenden Einfluss in dem Falle des Königs von Obbo, welcher zu Zeiten der Dürre seine Unterthanen zusammenruft und ihnen erklärt — „wie sehr er bedaure, dass sie ihn durch ihr Betragen genöthigt hätten, sie mit un- günstigem Wetter heimzusuchen, dass dies aber ihr eigener Fehler sei..... Er müsse Ziegen und Korn haben. ‚Keine Ziegen, kein Regen: das ist unser Contract, meine Freunde‘, sagt Katchiba. ..... . Sollte sich sein Volk über zu viel Regen beklagen, so droht er Stürme und Blitze auf immer über sie ausgiessen zu lassen, bis sie ihm so und so viel hundert Körbe voll Korn u. s. w. daherbringen. .. ... Seine Unterthanen setzen das unerschütterlichste Vertrauen in seine Gewalt.“ Und nicht minder fest ist der Glaube 51 an die Gewalt des Königs über das Wetter bei dem Volke von Loango. Ein ähnlicher Zusammenhang lässt sich in den Urkunden der verschieden- sten ausgestorbenen Völker auf beiden Hemisphären nachweisen. Von Huitzilopochtli, dem Begründer der mexicanischen Macht, lesen wir, dass er »ein grosser Hexenmeister ge- wesen ist und ein Zauberer«, und jeder mexicanische König musste bei der Thronbesteigung das Versprechen be- schwören, »die Sonne in ihrem Laufe gehen, die Wolken ihren Regen ergiessen, die Flüsse fliessen und alle Früchte reifen zu machen«. Ein Chibeha-Herrscher, welcher seinen Unterthanen wegen man- gelhaften Gehorsams Vorwürfe machte, erzählte ihnen: »sie wüssten wohl, dass es in seiner Macht stände, sie mit Pestilenz, Pocken, Rheumatismus, Fie- ber u. s. w. heimzusuchen oder auch so viel Gras, Kräuter und Pflanzen wachsen zu lassen, als sie nur wünsch- ten«. Die alten ägyptischen Urkunden geben mancherlei Hindeutungen auf einen ähnlichen alten Glauben. Thutmes II. wurde nach seiner Vergötterung »als der glückbringende Gott des Landes und als sein Beschützer gegen den schlechten Einfluss “verfluchter Geister und Zauberer betrachtet«. Und nicht anders stand es bei den Juden: — „Die rabbinischen Schriften werden nie müde, die Zaubergewalt und Kenntnisse von Salomo weitläufig hervorzuheben. Er wurde nicht allein als König der ganzen Erde, son- dern auch als Herrscher über Teufel und böse Geister hingestellt, der die Macht habe, sie aus dem Körper der Menschen und Thiere auszutreiben oder auch das Volk ihnen preis- zugeben.“ Die Ueberlieferungen der europäi- schen Völker sprechen in gleichem Sinne. Wie schon früher gezeigt wurde, lässt sich aus den Geschichten der Heims- kringlasaga schliessen, dass der scan- dinavische Oberherrscher Odin ein Medi- cinmann war, ebenso auch Niort und Frey, seine Nachfolger. Und wenn wir 52 uns der übernatürlichen Waffen und der übermenschlichen Thaten der alten Hel- denkönige erinnern, so ist kaum zu be- zweifeln, dass mit ihnen in manchen Fällen die vermeintlichen zauberhaften Gewalten verbunden waren, von denen sich dann der Glaube an die Macht eines Königs, durch blosse Berührung oder auf andere Weise Krankheiten zu heilen, abgeleitet hat. Wir werden dies um so weniger bezweifeln können, als wir finden, dass auch untergeordneten Herrschern von altem Ursprunge ähn- liche Kräfte zugeschrieben wurden. Es gab gewisse alte britannische Adelige, deren Speichel und Berührung heilende Eigenschaften hatte. Ein sehr wesentlicher Factor also für die Entstehung der staatlichen Ober- herrschaft entspringt aus der Geister- theorie und dem damit zusammenhän- genden Glauben, dass gewisse Menschen, welche über die Geister Macht bekom- . men hätten, auch ihre Hilfe sich ver- schaffen könnten. Im allgemeinen zwar sind der Häuptling und der Medicin- mann verschiedene Personen und dann gibt es zwischen ihnen manchen Con- fliet; ihre Autoritäten streiten oft gegen einander. Wo aber der Herrscher mit der auf natürlichem Wege erlangten Gewalt diese ihm zugeschriebene über- natürliche Macht vereinigt, da wird natürlich seine Autorität nothwendig bedeutend vergrössert. Widerspenstige Glieder seines Stammes, welche am Ende es wagen würden, sich wider ihn auf- zulehnen, wenn körperliche Tapferkeit allein den Kampf entscheiden könnte, wagen dies doch nicht zu thun, wenn sie glauben, er könne ihnen Einen aus seinem willfährigen Geisterheer auf den Hals schicken, um sie zu quälen. Dass aber die Herrscher in der That diese beiden Gewalten mit einander zu ver- einigen streben, dafür haben wir in einem Falle bestimmte Beweise. Canon Callaway erzählt uns, dass bei den Amazulus die Häuptlinge häufig bestrebt Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. sind, die Geheimnisse eines Mediein- mannes zu entdecken, um ihn nachher zu tödten. Aber wieder erhebt sich die Frage: wie entsteht die dauernde staatliche Herrschaft? Selbst wo sie aus körper- licher Kraft oder Muth und Schlauheit entspringt und sogar wo sie durch ver- meintliche übernatürliche Hilfe unter- stützt wird, endigt sie doch mit dem Leben des Mannes, der sie zu erringen vermochte. Das Princip der physischen oder geistigen Leistungsfähigkeit strebt zwar wohl eine zeitweilige Differenzi- rung in Herrschende und Beherrschte . zu erzeugen, genügt aber nicht, um dieser Differenzirung Dauer. zu geben. Es muss also ein anderes Princip mit- wirken, zu dessen Betrachtung wir nun übergehen wollen. Wir haben bereits gesehen, dass selbst in den rohesten Gruppen von Menschen das Alter eine gewisse Ueber- legenheit verleiht. Bei den Feuerlän- dern wie bei den Australiern üben nicht allein die alten Männer, sondern auch die alten Frauen eine gewisse Autorität aus. Und dass diese Achtung vor dem Alter abgesehen von anderen Auszeich- nungen ein wichtiger Factor in der Be- festigung der staatlichen Unterordnung ist, geht namentlich auch aus der merk- würdigen Thatsache hervor, dass in manchen vorgeschrittenen Gesellschaften, welche sich durch eine aussergewöhn- lich strenge Regierungsform auszeich- nen, der dem Alter schuldige Respect vor allen übrigen Forderungen den Vor- rang hat. So bemerkt Sharpe von dem alten Aegypten, dass »hier sowohl, wie in Persien und Judäa die Mutter des Königs oft höheren Rang besass als sein Weib«. In China findet sich ungeachtet der niedrigen socialen und häuslichen Stellung der Frauen doch dieselbe Ueberlegenheit der Mutter, welche blos derjenigen des Vaters nach- steht; und dieselbe Erscheinung kehrt un Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. in Japan wieder. Zur Stütze der An- nahme, dass die Unterordnung unter die Eltern der Unterordnung unter den Herrscher den Weg bereitet, will ich noch eine entgegengesetzte Thatsache anführen. Von den Coroados, deren Gruppen so wenig Zusammenhang be- sitzen, lesen wir Folgendes: — „Der Paje jedoch hat ebensowenig Ein- fluss über den Willen der Menge als irgend ein Anderer, denn sie leben ohne jegliches Band socialer Vereinigung, weder unter einer republikanischen noch unter einer patriarcha- lischen Regierungsform. Selbst die Familien- bande sind bei ihnen sehr lose; es gibt auch keinen geregelten Vorrang zwischen den Alten und Jungen, denn das Alter scheint keinerlei Achtung bei ihnen zu geniessen.“ Und zur ferneren Bekräftigung dieser entgegengesetzten Thatsache will ich hinzufügen, dass, wie ich bereits ander- wärts zeigte, die Mantras, die Cariben, die Mapuches, die brasilianischen In- dianer, die Gallinomeros, die Schoscho- nen, die Navajos, die Californier, die Comanches, welche sich alle nur wenig oder gar nicht der Herrschaft eines Häuptlings unterwerfen, gleichfalls eine kindliche Unterordnung zeigen, die zu- meist nur sehr gering ist und früh auf- hört. Unter welchen Umständen erlangt nun aber die Achtung vor dem Alter jene ausgeprägte Form, die wir in den durch bedeutende staatliche Unterord- nung ausgezeichneten Gesellschaften vorfinden? Es wurde früher darauf hin- gewiesen, dass, wenn die Menschen aus dem Jagdstadium in das Hirtenstadium übergehen und nun zu wandern begin- nen, um Futter für ihre Hausthiere zu suchen, sie dadurch in Verhältnisse ge- riethen, welche die Bildung jener patriar- chalischen Gruppe begünstigen, die zu gleicher Zeit Familie und Gesellschaft im kleinsten Maassstabe ist und die Zu- sammensetzungs-Einheit für alle die Ge- sellschaften bildet, welche die höchste Entwickelungsstufe erreicht haben. Wir sahen, dass in den primitiven Hirten- stämmen der Mann, aller jener früheren BlLame es —- 53 Einflüsse des Stammes entledigt, welche die väterliche Gewalt beeinträchtigen und geordnete Beziehungen zwischen den Geschlechtern verhindern, so ge- stellt war, dass er die Führerschaft einer zusammenhängenden Gruppe in die Hand bekam: der Vater wurde »nach dem Rechte des Stärkeren der Führer, Besitzer und Herr seiner Weiber, Kinder und alles dessen, was er mit sich führte«. Es wurden die Einflüsse aufgezählt, welche dahin streben, den ältesten Mann zum Patriarchen zu machen, und es wurde gezeigt, dass nicht allein bei den Se- miten, Ariern und Turaniern diese Be- ziehung zwischen dem Hirtenzustand und der patriarchalischen Civilisation zu er- kennen ist, sondern dass dieselbe auch bei südafrikanischen Völkern wieder- kehrt. Mögen jedoch die Ursachen sein, welche sie wollen, wir finden jedenfalls reichlichen Beweis dafür, dass diese Familienherrschaft des ältesten Mannes, die bei Hirtenvölkern und allen denen, welche durch das Hirtenstadium in das Ackerbaustadium übergegangen sind, allgemein verbreitet ist, sich ganz natur- gemäss zur staatlichen Oberherrschaft entwickelt. Hunter erzählt uns von den Santals: — „Die Dorfregierung ist rein patriarcha- lisch. Jeder Weiler hat einen ursprünglichen Begründer (den Manjhi-Hanan), welcher als Vater des Gemeinwesens betrachtet wird. Er empfängt göttliche Ehren in dem heiligen Haine und überträgt seine Autorität auf seine Nachkommen.“ Von der zusammengesetzten Familie der Khonds lesen wir bei Macpher- son: „dort herrscht sie [die väterliche Auto- rität] beinahe unumschränkt. Es ist ein Grundsatz der Khonds, dass der Vater eines Menschen sein Gott ist, welchem nicht zu gehorchen das grösste Verbrechen wäre, und alle Mitglieder einer Familie leben vereinigt in strenger Unterordnung unter das Ober- haupt bis zu dessen Tode.“ Wie aber auf solche Weise entstan- dene Gruppen sich zu einfach und mehr- fach zusammengesetzten Gruppen ent- 54 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. wickeln, welche stets die Autorität des- jenigen anerkennen, welcher Familien- herrschaft mit staatlicher Herrschaft vereinigt, ist durch Sir Henry Maine und Andere für die alten Griechen, Römer und Germanen und als eine die sociale Organisation immer noch beein- flussende Erscheinung für die Hindus und Slaven nachgewiesen worden. Hier sehen wir denn also einen Factor in Wirksamkeit treten, welcher zur Fortdauer der staatlichen Herrschaft führt. Wie in einem früheren Capitel gezeigt wurde, verleiht Nachfolge auf Grund der Leistungsfähigkeit der socialen Organisation eine gewisse Plasticität, Nachfolge auf Grund der Vererbung aber Stabilität. Es kann in einer primitiven (Gemeinschaft keine feststehende Ordnung sich ausbilden, so lange die Function jedes einzelnen Bestandtheils ausschliess- lich durch seine Befähigung bestimmt wird, da mit seinem Tode die Einrich- tung, soweit er selbst ein Theil der- selben war, von vorn wieder beginnen muss. Erst wenn seine Stelle sofort durch einen Anderen eingenommen wird, dessen Ansprüche darauf anerkannt sind, fängt jene Differenzirung an, welche dann auch in den folgenden Generationen fort- zudauern vermag. Und offenbar erscheint es gerade in den früheren Stadien der socialen Entwickelung, wo der Zusam- menhang noch gering, das Bedürfniss nach einer bestimmten Structur aber gross ist, durchaus erforderlich, dass das Princip der Vererbung besonders in Hinsicht auf staatliche Führerschaft den Vorrang über das Princip der Leistungs- fähigkeit gewinne. Eine nähere Betrach- tung der Thatsachen wird dies klar- legen. Wir müssen hier zwei primäre For- men der Erbfolge ins Auge fassen. Das System der Verwandtschaftsbestimmung nach der weiblichen Linie, wie es bei den wilden Völkern allgemein verbreitet ist, führt zur Uebertragung von Eigen- | thum und Macht auf die Brüder oder auf die Kinder der Schwester, während das System der Verwandtschaftsbestim- mung nach der männlichen Linie, das bei vorgeschrittenen Völkern zu finden ist, die Uebertragung von Eigenthum und Macht auf die eigenen Söhne oder Töchter bedingt. Zunächst haben wir nun zu beachten, dass die Erbfolge in weiblicher Linie eine weniger be- ständige Staatsherrschaft zur Folge hat als die Erbfolge in männlicher Linie. Aus einer bei Besprechung der häus- lichen Verhältnisse erwähnten Thatsache, dass nämlich das weibliche Verwandt- schaftssystem dort auftritt, wo die Ver- einigung der Geschlechter nur erst zeit- weilig oder noch ungeordnet ist, lässt sich schon schliessen, dass dieses System eben solche Gesellschaften charakteri- sirt, die auch in allen übrigen Hin- sichten mit Einschluss der staatlichen Verhältnisse noch nicht weiter vorge- schritten sind. Wir sahen, dass unregel- mässige Verbindungen auch eine geringe Zahl und eine gewisse Schwäche der bekannten Verwandtschaftsgrade und einen Typus der Familie bedingen, in welchem die aufeinanderfolgenden Gene- rationen nicht durch so viele Seiten- zweige unter einander verbunden sind. Eine allgemeine Folgeerscheinung ist die, dass sich mit der Erbfolge in weib- licher Linie entweder keine Häuptling- schaft verbindet oder dass letztere auf dem Verdienste beruht oder, wenn sie erblich ist, doch gewöhnlich sehr un- beständig erscheint. Als typisches Bei- spiel mögen die Australier und Tas- manier genannt werden. Bei den Hai- dahs und anderen wilden Völkern von Columbia ist »>der Rang nur dem Na- men nach erblich, zumeist in weiblicher Linie<, die eigentliche Häuptlingswürde aber »>hängt zum grössten Theile nur von Reichthum und Geschicklichkeit im Kriege ab«e. Von anderen nordameri- kanischen Stämmen zeigen uns die Chippewähs, Comanches und Schlangen- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 55 indianer das System der Verwandtschaft in weiblicher Linie gleichfalls verbunden entweder mit gänzlichem Mangel von erblicher Häuptlingswürde oder wenig- stens mit sehr geringer Entwickelung dieser Einrichtung. Wenden wir uns nach Südamerika, so treten uns die Arawaks und die Waraus als Beispiele solcher Völker entgegen, welche weib- liche Erbfolge und zugleich 'beinah nur nominelle, obgleich erbliche Häuptlinge haben; und ziemlich dasselbe lässt sich von den Cariben behaupten. Es dürfte am Platze sein, hier nun auf eine Gruppe von Thatsachen hin- zuweisen, welche grosseBedeutunghaben. In manchen Gesellschaften, wo Ueber- tragung von Eigenthum und Rang in der weiblichen Linie die Regel ist, wird hinsichtlich des Standesoberhauptes eine Ausnahme gemacht, und alle die Ge- sellschaften, bei welchen solche Aus- nahmen vorkommen, zeichnen sich zu- gleich dadurch aus, dass ihre staatliche Herrschaft verhältnissmässig beständig gewordenist. Obgleichin Fidschi das weib- liche Verwandtschaftssystem herrscht, so ist doch nach Seemann der Herrscher, welcher aus den Mitgliedern der könig- lichen Familie gewählt wird, »im allge- meinen der Sohn des letzten Herrschers«. In Tahiti, wo die beiden höchsten Rang- stufen noch das primitive System der Erbfolge beobachten, ist doch die männ- liche Erbfolge der Herrscherwürde so scharf ausgeprägt, dass mit der Geburt des ältesten Sohnes sein Vater zum blossen Regent an seiner Statt wird. Und bei den Malagassen finden wir zu- gleich mit dem Vorwalten der Verwandt- schaft in weiblicher Linie, dass der Herrscher entweder seinen Nachfolger selbst ernennt oder, wenn er dies unter- liess, die Adligen ihn bezeichnen, und »>sofern nicht positive Unfähigkeit vor- liest, wird gewöhnlich der älteste Sohn gewählte. Afrika bietet uns Beispiele verschiedenster Art dar. Obgleich die Congo-Völker, die Küstenneger und die Binnenlandneger Gesellschaften von be- deutender Grösse und verwickelter Zu- sammensetzung gebildet haben, trotzdem bei ihnen die Verwandtschaft in weib- licher Linie auch bei der Erbfolge des Thrones in Geltung ist, so lesen wir doch von den ersteren, dass ihre Unter- thanenverhältnisse »sehr schwankend und unbestimmt« sind, von den zweiten, dass die Herrschaft, ausser wo sie eine freie Form zeigt, »eine unsichere und kurz- lebige monarchische Despotie ist«, und von den dritten, dass ihre Herrschaft, wo sie nicht gemischten Typus ist, »zwar eine strenge aber unsichere Despotie zu sein scheint«. In den beiden am wei- testen vorgeschrittenen und mächtigsten Staaten indessen geht Beständigkeit der staatlichen Herrschaft Hand in Hand mit einer theilweisen oder vollständigen Abweichung von der Erbfolge in weib- licher Linie. In Aschanti ist die Erb- folge: »Bruder, Schwestersohn, Sohn«, und in Dahome herrscht die männliche Primogenitur. Fernere Beispiele dieses Ueberganges finden wir bei den ausge- storbenen amerikanischen Civilisationen. Obgleich die aztekischen Eroberer von Mexico das System der Verwandtschaft in weiblicher Linie und ein entsprechen- des Erbfolgegesetz mit sich brachten, wurde das letztere doch bald theil- weise oder vollständig mit der Erbfolge in männlicher Linie vertauscht. In Tez- cuco und Tlacopan (Bezirken von Mexico) erbte der älteste Sohn die Königswürde und in Mexico selbst war die Wahl eines Königs auf die Söhne und Brüder des verstorbenen Königs beschränkt. Vom alten Peru sodann berichtet Go- mara: »Die Neffen sind hier die Erben und nicht die Söhne, ausser im Falle der Yncase, — und diese Ausnahme für die Yncas hat noch die sonderbare Eigenthümlichkeit, dass »der Erstgebo- rene dieser Brüder und Schwestern [d. h. des Ynea’s und seines obersten Weibes] der einzige legitime Erbe des König- thums war«, — eine Einrichtung, welche 56 die Erbfolge ungewöhnlich einschränkte und scharf bestimmte. Und hier wer- den wir dann wieder nach Afrika zurück- verwiesen durch die Aehnlichkeit zwi- schen Peru und Aegypten. »>In Aegyp- ten war es die Abstammung von der Mutter, welche das Recht auf Eigenthum und auch auf den Thron verlieh. Das- selbe Gesetz herrschte in Aethiopien. Wenn der Monarch aus der königlichen Familie hinaus heirathete, so erlangten die Kinder nicht das legitime Anrecht auf die Krone.< Wenn wir die Bemer- kung hinzufügen, dass der Monarch »nach dem Glauben des Volkes von den Göttern abstammt, sowohl in männlicher als weiblicher Linie«, und wenn wir da- mit die fernere Thatsache in Verbindung setzen, dass königliche Heirathen zwi- schen Bruder und Schwester vorherrsch- ten, so sehen wir, dass in Aegypten sowohl wie in Peru ähnliche Ursachen ähnlicheWirkungenhervorbrachten. Denn auch in Peru war der Ynca vermeintlich von göttlicher Abkunft; er erbte seine Göttlichkeit von beiden Seiten her und heirathete seine Schwester, um das gött- liche Blut in ungemischter Reinheit zu erhalten. Und in Peru wie in Aegypten entwickelte sich darausschliesslich könig- liche Erbfolge in männlicher Linie, wäh- rend im übrigen die Erbfolge in weib- licher Linie vorherrschte. Mit diesem Process des Uebergangs von dem einen Erbfolgegesetz zum andern, wie er aus den letzterwähnten That- sachen ersichtlich wird, können wir noch einige andere Erscheinungen zu- sammenstellen, die sich aus früher erwähnten Thatsachen ergeben. In Neu-Caledonien »ernennt der Häuptling zu seinem Nachfolger wenn möglich einen Sohn oder einen Bruder«e. Die eine Wahl setzt Nachfolge in männlicher Linie voraus und die andere ist wenig- stens ebensogut mit Erbfolge in männ- licher wie in weiblicher Linie vereinbar. In Madagascar, wo das System der weiblichen Verwandtschaft vorwaltet, Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. »ernannte der Herrscher seinen Nach- folger — und natürlich wählte er hiezu seinen Sohn«. Ferner ist hervorzuheben, dass, wenn keine Ernennung stattge- funden hatte, die Edlen aus den Gliedern der königlichen Familie einen König zu wählen hatten, also in ihrer Wahl durch eine bestimmte Wählbarkeit be- schränkt waren, wodurch leicht eine Abweichung von der Erbfolge in der weiblichen Linie veranlasst werden kann und ganz naturgemäss veranlasst wird; und ist jenes Gesetz einmal durch- brochen, so ist es aus verschiedenen Gründen in Gefahr, bald abgeschafft zu werden. Wir sehen auch noch einen andern Uebergangsprocess vor uns. Denn einige jener Fälle sind Beispiele für die zahlreichen Vorkommnisse, in welchen die Erbfolge für die Herrschaft bestimmt ist, soweit es die Familie betrifft, nicht aber in Hinsicht auf ein einzelnes Glied dieser Familie — ein Stadium, welches eine theilweise, jedoch noch unvollständige Stabilität der staat- lichen Herrschaft bedingt. Mehrere Beispiele dieser Art finden sich in Afrika. »Die Krone von Abyssinien ist in einer einzigen Familie erblich, aber die ein- zelne Person ist wählbar«, sagt Bruce. »Bei den Timmanees und Bulloms bleibt die Krone stets in derselben Familie, allein die Häuptlinge oder die Obersten des Landes, von denen die Wahl eines Königs abhängt, haben die Freiheit, ihren Candidaten auch aus einem sehr entfernten Seitenzweige der Familie zu nehmen«. Und bei den Kaffern »gebietet ein Gesetz, dass der Nachfolger des Königs aus einigen der jüngsten Fürsten gewählt werden solle. Auch auf Java und Samoa ist zwar die Erbfolge in der Herrschaft auf die Familie begrenzt, ‚allein hinsichtlich des Individuums nur theilweise fest bestimmt. Dass die Beständigkeit der staat- lichen Herrschaft durch Feststellung der Abkunft in männlicher Linie ge- sichert sei r soll damit natürlich nicht Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 57 behauptet werden. Unsere Folgerung besagt einfach, dass eine Erbfolge dieser Art besser als jede andere zur Bestän- digkeit führen wird. Von den wahr- scheinlichen Gründen hievon ist zunächst der anzuführen, dass in der patriarcha- lischen Gruppe, wie sie sich in jenen Hirtenvölkern entwickelt hat, von denen die wichtigsten civilisirten Völker ab- stammen, das Gefühl der Unterordnung unter das älteste männliche Glied, ge- fördert durch die Verhältnisse in der Familie und im Stamme, schliesslich zum Werkzeug einer weiteren Unter- ordnung innerhalb der grösseren, später gebildeten Gruppen wird. Ein zweiter wahrscheinlicher Grund ist der, dass mit der Erbfolge in männlicher Linie sich sehr häufig eine Vereinigung von Leistungsfähigkeit und hoher Stellung verbindet. Der Sohn eines grossen Kriegers oder eines sonstwie besonders zum Herrscher befähigten Mannes wird höchst wahrscheinlich eher ihm ähnliche Züge besitzen als der Sohn seiner Schwester, und wenn dem so ist, so wird in jenen frühesten Stadien, wo die persönliche Ueberlegenheit ebenso unumgängliches Erforderniss .war wie die Legitimität der Ansprüche, die Erbfolge in männlicher Linie dadurch zum Fortbestand der Macht beitragen, dass sie eine Usurpation bedeutend erschwert. Es gibt jedoch einen noch viel wirk- sameren Einfluss, der dazu beiträgt, der staatlichen Herrschaft Dauer zu verleihen, und der zugleich mehr in Verbindung mit der Erbfolge in männ- licher als weiblicher Linie thätig ist, — ein Einfluss, der wahrscheinlich grössere Bedeutung hat als irgend ein anderer. Als ich zeigte, wie die Achtung vor dem Alter die patriarchalische Autorität in’s Leben ruft, wo die Erb- folge in männlicher Linie besteht, führte ich verschiedene Fälle an, die zugleich ein ferneres Resultat erkennen liessen, dass nämlich der verstorbene Patriarch, indem er von seinen Nachkommen Ver- ehrung empfängt, zur Familien-Gottheit wird. In mehreren vorangegangenen Capiteln wurden ausführlich aus der Vergangenheit und Gegenwart die von den verschiedensten Ländern und Völ- kern gewonnenen Beweise einer solchen Entwickelung der Götter aus verehrten Geistern zugestellt. Wir brauchen also hier nur noch darauf hinzuweisen, wie fast unvermeidlich die staatliche Herr- schaft durch diesen Vorgang verstärkt wird. Die Abkunft von einem Herrscher, der sich während seines Lebens durch Ueberlegenheit auszeichnete und dessen Geist, da er ganz besonders gefürchtet wird, man auch in so aussergewöhn- lichem Grad zu versöhnen sucht, dass er weit über die übrigen Geister der Vorfahren hinausragt, vermag den leben- den Herrscher auf zweierlei Weise zu erhöhen und zu unterstützen. In erster Linie wird ihm zugeschrieben, dass er von seinem grossen Erzeuger auch in höherem oder geringerem Grade den Charakter ererbt habe, den man so gern für übernatürlich hält und der ihm seine Gewalt verlieh, und in zweiter Linie glaubt man, wenn er diesem grossen Erzeuger Opfer darbringe, könne er eine solche Beziehung mit ihm fort- setzen, dass ihm dadurch göttliche Hilfe gesichert werde. Verschiedene Stellen in Canon Callaway’s Bericht über die Amazulus verrathen den Einfluss dieses Glaubens. So wird erwähnt, dass »der Itongo [der Geist des Vorfahren] bei dem grossen Manne wohne und mit ihm spreche«, und dann heisst es ferner von einem Medicinmann: »die Häupt- linge des Hauses von Uzulu pflegten nicht zu gestatten, dass man von einem blossen Untergebenen auch nur erzähle, er besitze Macht über den Himmel, denn es gilt dort der Glaube, dass der Himmel blos den Häuptlingen des Landes gehöre«. Diese Thatsachen geben uns 58 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. dann auch eine sichere Erklärung für manche andere, welche zeigen, dass die Autorität des irdischen Herrschers durch seine vermeintlichen Beziehungen zum himmlischen Herrscher erhöht wird, mag nun der letztere der Geist des ältesten bekannten Vorfahren , welcher die Gesellschaft begründete, oder der Geist eines siegreichen Eroberers oder eines siegreichen Fremden sein. Von den Häuptlingen der Kukis, die Abkömmlinge von hindostanischen Abenteurern sind, lesen wir: „Alle diese Rajahs gelten als Abkömm- linge desselben Ahnen, der, wie sie glauben, ursprünglich mit den Göttern selbst in Ver- kehr stand. Ihre Person wird daher mit der grössten Achtung und mit beinah abergläubi- scher Verehrung betrachtet und ihre Befehle sind in jedem Falle Gesetz.“ Von den Tahitiern erzählt Ellis: „Der Gott und der König sollen nach allgemeinem Glauben die Herrschaft über die grosse Masse des Menschengeschlechts unter sich theilen. Der letztere ist gar oft die Personification des ersteren. ..... Die Kö- nige hielt man auf mehreren Inseln für Nach- kommen der Götter. Ihre Personen galten stets für heilig.“ Nach Mariner sind »Toritonga und Veachi (erbliche göttliche Häuptlinge auf Tonga) beides anerkannte Nach- kommen der obersten Götter, welche früher die Tonga-Inseln besuchten«. Und im alten Peru »gab der Ynca ihnen (seinen Vasallen) zu versteher, dass Alles, was er in Hinsicht auf sie thue, nur auf Geheiss und nach der Offen- barung seines Vaters, der Sonne, ge- schehe«. Diese Verstärkung der natürlichen Macht durch die übernatürliche Macht erreicht ihren Höhepunkt da, wo der Herrscher gleichzeitig als Nachkomme der Götter und selbst als Gott verehrt wird: eine Vereinigung von Attributen, die bei all’ den Völkern gewöhnlich ist, welche nicht ebenso wie wir zwi- schen dem Göttlichen und dem Mensch- lichen zu unterscheiden vermögen. So verhielt es sich in dem eben erwähnten den alten Aegyptern. Der Monarch »war der Repräsentant der Gottheit auf Erden und war von gleicher Sub- stanze. Und nicht allein wurde er in vielen Fällen nach seinem Tode zum Gott, sondern er wurde auch während des Lebens als Gott verehrt, wie es z. B. das folgende an Ramses II. ge- richtete Gebet bezeugt: „Als sie vor den König gekommen wa- Ten a fielen sie auf die Erde nieder und beteten mit erhobenen Händen zum Kö- nige. Sie lobpriesen diesen göttlichen Wohl- thäter ..... indem sie also sprachen: Wir sind vor dich gekommen, du Herr des Him- mels, Herr der Erde, Sonne, Leben der ganzen Welt, Herr der Zeit... . Herr des Glückes, Schöpfer der Ernte, Bildner und Former der Sterblichen, du Spender des Athems für alle Menschen, Beleber der ganzen Gesellschaft der Götter... . du Bildner des Grossen, Schöpfer des Kleinen .... du unser Herr, unsere Sonne, durch dessen Wort aus seinem Munde Tum lebt ....... gewähre uns das Lex ben aus deinen Händen .... und Athem für unsere Nase.“ Dieses Gebet veranlasst uns zu einer bemerkenswerthen Vergleichung. Ramses, dessen Macht, wie er sie durch seine Eroberungen bewies, für so über- menschlich gehalten wurde, erscheint in dieser Darstellung als Herrscher nicht allein der unteren, sondern auch der oberen Welt, und eine ähnliche königliche Gewalt wird dann auch in den beiden lebenden Gesellschaften, wo der Absolutismus in gleicher Weise uneingeschränkt herrscht, in China und Japan, dem Könige zugeschrieben. Wie schon im Abschnitt über die Herrschaft der ceremoniellen Einrichtungen gezeigt wurde, besitzen sowohl der Kaiser von China als der Mikado von Japan eine solche Gewalt im Himmel, dass sie die Bewohner desselben nach Gutdünken von einem Range in den andern zu versetzen vermögen. Dass diese Kräftigung der staat- lichen Herrschaft durch vermeintliche Göttlichkeit oder wenigstens durch ver- meintliche Abstammung von einem Gotte Falle, bei den Peruanern, so auch bei | (entweder dem vergötterten Vorfahren Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 59 des Stammes oder einer der älteren Gottheiten) auch bei den alten Griechen vorkam, braucht nicht nachgewiesen zu werden. Nicht minder war sie allge- mein verbreitet bei den nördlichen Ariern. »Nach dem alten heidnischen Glauben wurde der Stammbaum der sächsischen, angelsächsischen, dänischen, norwegi- schen und schwedischen, wahrscheinlich auch derjenige der deutschen und scan- dinavischen Könige im allgemeinen auf Odin oder auf einen seiner nächsten Genossen oder heroischen Söhne zurück- geführt. « Ferner ist hervorzuheben, dass ein von Gott abstammender Herrscher, der zugleich Oberpriester der Götter ist (was er in der Regel zu sein pflegt), eine wirksamere übernatürliche Hilfe zu erlangen vermag als derjenige Herr- scher, welchem nur Zauberkräfte zuge- sprochen werden. Denn in erster Linie pflegen die von dem Magier angerufenen unsichtbaren Agentien nicht als solche vom höchsten Range zu gelten, während man annimmt, der gottentsprossene Herrscher könne die Hilfe eines obersten unsichtbaren Wesens gewinnen. Und in zweiter Linie zeigt die eine Form des Einflusses über diese gefürchteten übermenschlichen Wesen viel weniger die Tendenz, zu einem bleibenden Attri- bute des Herrschers zu werden, als die andere. Obgleich wir z. B. bei den Chibchas einen Fall finden, wo die Zauberkraft auf den Nachfolger über- tragen wurde, obgleich »der Cazike von Sogamoso bekannt machte, dass er [Bochica] ihn zum Erben aller seiner Heiligkeit eingesetzt habe und dass er dieselbe Macht besitze, regnen zu lassen, sobald es ihm beliebe«, und Gesundheit oder Krankheit zu verleihen (eine Be- hauptung, welcher das Volk Glauben schenkte), so ist dies doch immerhin eine Ausnahme. Allgemein gesprochen lässt sich sagen, dass der Häuptling, dessen Beziehungen mit der übernatür- lichen Welt nur diejenigen eines Zau- berers sind, diese seine Beziehungen nicht auf den Nachfolger überträgt und daher auch nicht eine übernatürliche Dynastie zu begründen vermag, wie dies dem Häuptling von göttlicher Ab- kunft gelingt. (Fortsetzung folgt.) Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Entwickelungsstufen der Fixsterne. Bekanntlich hatten Secchi und an- dere Astronomen bald nach der ersten Anwendung der Spektralanalyse auf die Sternkunde unter den Fixsternen, je nach ihrem Spektrum verschiedene Ty- pen unterschieden, von denen 1. die weissen und bläulichen, 2. die gelb- lichen und 3. die röthlichen als die drei Hauptklassen angesehen wurden. Man hielt die weissen und bläulichen Sterne wegen der grösseren Intensität ihres Lichtes für die heissesten, die gelblichen, zu denen unsere Sonne gehört, für etwas mehr abgekühlt und die rothen, in deren Spektrum breite dunkle Bän- der erscheinen, für die am meisten in dem Abkühlungsprozesse vorgeschrit- tenen. Diese Annahmen erregten um so mehr Interesse, als sie sich mit der Dissociationstheorie desenglischen Astro- nomen Lockyer verbanden, nach wel- cher sich auf den Sternen der ersteren Gruppe alle Elemente im Zustande der Dissociation und auf denen der letztern die ersten chemischen Verbindungen befinden sollten. Der Astrophysiker H. C. Vogel an der Sonnenwarte zu Potsdam hat diese Untersuchungen von | Neuem aufgenommen und auf Hellig- keitsbestimmungen der einzelnen Farben- und Wellenlängen ausgedehnt, indem er sich eines Polarisations - Photometers, ähnlich den Apparaten vonBohn, Wild | und Glan bediente, wobei dasLicht einer Petroleumlampe von constanter Hellig- keit als Vergleichsobjekt benützt wird. Aus den Mittheilungen über die erhal- tenen allgemeineren Resultate, wie sie in den Monatsberichten der Berliner Akademie der Wissenschaften (1880, S. 801) gegeben wurden, heben wir die folgenden Daten heraus: Die gewonne- nen Zahlenwerthe lassen leicht eine Ver- wandtschaft der Sterne mit nahezu glei- chem Spektrum, z. B. Sirius und Wega einerseits, Capella und Sonne anderer- seits erkennen, auch zeigen die rothen Sterne unter sich nahezu gleiche Inten- sitätsverhältnisse. Bei den weissen Ster- nen Sirius und Wega ist deutlich aus- gesprochen, dass die brechbareren Theile des Spektrums eine viel grössere In- tensität besitzen, als bei den gelblichen Sternen Capella und Sonne, und bei den rothen Sternen Aldebaran, Arktur und Beteigeuze. Es ist ferner nicht ohne Interesse, dass die Intensitätsverhält- nisse des elektrischen Lichtes im Ver- gleich zu Petroleum, von denen der rothen Sterne wenig abweichen. Wenn- gleich eine direkte Vergleichung nicht statthaft sein dürfte, da das von den Sternen zu uns gelangende Licht in unserer Atmosphäre, eine Absorption er- litten hat, die sich vorzugsweise auf die blauen Strahlen erstreckt, und daher sämmtliche Curven für die Sonne und die Sterne ein stärkeres Anwachsen mit Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 61 abnehmender Wellenlänge zeigen würden, wenn wir den Einfluss der Atmosphäre eliminiren könnten, so lässt sich doch soviel erkennen, dass die rothen Sterne in einem Glühzustande befindlich sind, der sich einigermassen mit der Tempe- ratur des elektrischen Flammenbogens vergleichen lässt. Wenn bei der Beob- achtung des Spektrum’s schon der blosse Augenschein die verhältnissmässig grosse Intensität der brechbareren Theile des Spektrum’s weisser Sterne ergeben hat, so fehlte doch bisher jeder Anhalt über die Grösse der Unterschiede, auch war nicht ohne Weiteres zu entscheiden, in welchem Verhältniss der Glühzustand der Sterne zu dem unserer Sonne stand. Aus den mitgetheilten Beobachtungen Vogel’s geht nun mit Sicherheit her- vor, dass die weissen Sterne in einem bedeutend höheren Glühzustande sich befinden müssen, als die Sonne, dass die gelben Sterne mit nahezu gleichem Spektrum als die Sonne, sich auch in ganz ähnlichem Glühzustande befinden, endlich, dass die Temperatur der rothen Sterne weit unter der Temperatur der Sonne gelegen ist. Mittelst der Kirch- hoff’schen Funktion dürfte es dereinst gelingen, aus den Beobachtungen der Intensitätsverhältnisse in den Sternspek- tren die wirklichen Temperaturunter- schiede der Himmelskörper abzuleiten. Im Uebrigen dienen diese neuen Beob- achtungen zur Bestätigung der Ansicht, dass sich in den Spektren das Entwicke- lungs- (Abkühlungs-) Stadium der Sterne abspiegelt, welche Ansicht ihn schon früher veranlasst hatte, eine etwas an- dere Klassifikation der Sterne nach ihren Spektren vorzunehmen, als sie von Secchi vorgeschlagen worden war; auch gewinnt die Annahme, dass ein Theil der Streifen und Bänder, welche wir in den Spektren rother Sterne beobachten, chemischen Verbindungen in den sie umgebenden Atmosphären zuzuschreiben sind, sehr an Wahrscheinlichkeit, da bei Temperaturen, welche die des elek- trischen Flammenbogens nicht sehr we- sentlich überschreiten, sehr wohl che- mische Verbindungen denkbar sind. Die künstliche Darstellung des Indigo und der Alkaloidgruppe der Solaneen. Die Tiegeldarstellung solcher orga- nischen Verbindungen, die sonst nur im Organismus der Pflanzen und Thiere er- zeugt werden, hat heute nicht mehr die schwerwiegende philosophische Bedeu- tung im Kampfe gegen die Annahme einer besonderen Lebenskraft, wie sie ehemals der künstlichen Darstellung des Harnstoffs durch Wöhler beigemessen wurde. Gleichwohl ist es zu Zeiten auch für die Vertreter der biologischen Wissen- schaften wichtig, einen Blick auf die einschlägigen Errungenschaften der mo- dernen Chemie zu werfen, zumal wenn sie, wie bei den Giften der Solaneen Betrachtungen über den Zusammenhang von Stoff und Form anregen. Seit den Berliner Chemikern Gräbe und Liebermann im Jahre 1868 die Darstellung der Krappfarbstoffe, aus Anthrazen, einer Art Steinkohlenkampfer, der sich in den Abfällen der Gasberei- tung vorfindet, gelungen war, und nach- dem fast alles Alizarin künstlich aus dem Anthrazen dargestellt wird, so dass der Krappbau grösstentheils aufgehört hat, ist die künstliche Darstellung des Indigo noch emsiger als zuvor umworben worden. Insbesondere hat sich Professor Adolph Baeyer in München seitdem mit diesem Problem beschäftigt, und war be- reits vor drei Jahren zu einer Methode gelangt, durch welche er winzige Spuren desgeschätzten Farbstoffesdurch mannig- fache Behandlung und Umwandlung eines ebenfalls aus dem Steinkohlentheer dar- stellbaren Stoffes, der Phenylessigsäure, erhielt. Im vorigen Jahre sind nun Baeyer’s fünfzehnjährige Versuche durch eine neue Synthese belohnt worden, die eine etwas grössere Ausbeute gibt, und 62 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. eine praktische Ausnützung von Weitem ahnen lässt. Dieselbe geht von der Zimmtsäure aus, einer im Zimmtöl, Perubalsam, Benzo&, Storax und anderen Droguen vorkommenden organischen Säure, die aber ebenfalls, was für die Praxis wichtig sein würde, aus Toluol, einem Bestandtheile des Steinkohlen- theers, darstellbar ist. Die Zimmtsäure wird durch Behandlung mit Salpetersäure in ihre Nitroverbindung, letztere durch Behandlung mit Brom in das Dibromid derselben verwandelt, einer Verbindung, die in Berührung mit Alkalien Indigo- blau liefert. In der Praxis ist es frei- lich vortheilhafter, jenes Dibromid zu- nächst in Orthonitrophenylpropiolsäure zu verwandeln, welche Verbindung wahr- scheinlich berufen ist, in der Färberei eine Rolle zu spielen, da sie sich un- mittelbar dem Gewebe aufdrucken lässt, um das Indigo in der Faser selbst zu erzeugen. Behandelt man diese Sub- stanz mit Alkalien, so gibt sie unmittel- bar das längst bekannte Oxydations- produkt des Indigo’s, das Isatin, und wenn man einen reducirenden Körper, wie Traubenzucker, hinzusetzt, so ent- steht unmittelbar Indigoblau. Leider gibt die neue Methode noch immer nicht den ersehnten klaren Einblick in die nähere Constitution des Indigo’s. Glücklicher war Baeyer in der Er- kenntniss der Zusammensetzung eines durch trockne Destillation desCinchonins, eines Alkaloids der Chinarinde, ent- stehenden einfacheren Alkaloids, des Chinolins (CoH7 N), welches er als ein Naphtalin (Cıo Hs) erkannte, in welchem eine Atomgruppe (CH) durch N ersetzt ist. Diese Erkenntniss wurde durch künstliche Darstellung des Chinolins ge- wonnen. Ebenso hat Professor Albert Ladenburg eine Reihe von Erfahrungen über die Alkaloide der Solaneen gemacht, die ein ausserordentliches wissenschaft- liches Interesse darbieten, da sie eines- theils einen Blick in die noch immer sehr dunkle Constitution der Alkaloide überhaupt gestatten, und andrerseits zeigen, dass verwandte Pflanzen chemisch verwandte und physiologisch ähnlich wir- kende Alkaloide erzeugen. Behandelt man das Alkaloid der Tollkirsche, das Atropin, bei 100° mit Baryt, so zer- fällt es, wie Kraut und Lossen fanden, in eine Säure und eine Basis, Tropa- säure und Tropin, indem ein Atom Wasser aufgenommen wird. Cız Hass NOs + H30 = —,— ee nz Atropin. Wasser, — (9 Hıo O3 + Cs Hı5s NO u —— Tropasäure. Tropin, Ladenburg zeigte nun (1879), dass wenn man das tropasaure Tropin mit verdünnter Salzsäure erhitzt, daraus wie- derum Atropin durch Entziehung des Was- sers gebildet wird, und zwar erwies sich dieses künstliche Atropin sowohl in seinen giftigen, als in seiner für die Augen- heilkunde werthvollen Eigenschaft, stark die Pupille zu erweitern, vollkommen identisch mit dem natürlichen, während das tropasaure Tropin keine dieser Eigen- schaften besitzt. In neuester Zeit (Ende 1880) ist es Ladenburg nun aber auch gelungen, die Tropasäure überhaupt künstlich darzustellen, so dass nur noch die Darstellung des Tropin fehlt, um das geschätzte Alkaloid gänzlich auf künstlichem Wege darstellen zu können. Interessant ist der Umstand, dass dieses Alkaloid ausser in der Tollkirsche im Bilsenkraut und Stechapfel gleichfalls vorkommt, und zwar gemengt mit wech- selnden Mengen eines andern, wohl defi- nirten Alkaloids, des Hyoscyamins, von dem es nur schwierig zu trennen ist, und zwar indem man die Goldchlorür- Verbindungen der beiden Alkaloide, einer sogenannten fraktionirten Krystallisation überlässt. Die wechselnden Mengen des schwereren und des leichteren Alkaloids (Atropin und Hyoscyamin) erklären die Verschiedenartigkeit der toxikologischen Wirkungen der einzelnen Atropa, Datura, und Hyoseyamus-Arten. Noch merkwür- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. diger aber ist, dass man dasselbe Alka- loid in einer Pflanzengruppe gefunden hat, die von einigen Botanikeın gar nicht mehr zu den Solaneen gerechnet wird, sondern zu den verwandten Scrophu- larineen, den Duboisien, welche die Ein- gebornen Australiens seit uralten Zeiten als betäubendes, Muth erregendes Ge- nussmittel verwenden*, und welches neuerdings auch in der Augenheilkunde Anwendung gefunden hat. Ladenburg fand ferner, dass das Tropin auch mit anderen organischen Säuren Salze bildet, die durch Erhitzung mit verdünnter Salzsäure unter 100°, Wasser abgeben und in Alkaloide über- gehen, so dass sich hier eine Möglich- keit der Darstellung unzähliger Alkaloide eröffnet, die sich zum Theil durch sehr merkwürdige physiologische und toxi- kologische Eigenschaften auszeichnen, so dass vielleicht manche von ihnen wichtige Arzneistoffe abgeben können. So erwies sich das aus salicylsaurem Tropin dargestellte Salicyltropin als ein Gift, von welchem 25 Milligramm einen Frosch tödteten, während es sich gleich dem natürlichen Atropin Pflanzenfressern weniger schädlich erwies, aber nicht wie dieses die Pupille erweiterte. Ebenso gaben Phtalsäure, Benzo@säure, Zimmt- säure, Oxybenzo&säure und Oxytoluol- säure besondere Alkaloide, von denen für die Medizin besonders das aus der letzteren Säure gewonnene Homatropin sehr werthvoll ist, da es die pupillen- erweiternde Eigenschaft in einem noch höheren Grade besitzt, als das Atropin. Sollte man das Atropin vor der Hand nicht künstlich darzustellen lernen, so würde man es zur Darstellung der neuen Basen in hinreichender Menge aus dem nicht weiter medizinisch verwendbaren Hyoscyamin, Daturin und Duboisin ge- winnen können. Die hier gegebene Uebersicht über die neuern synthetischen Resultate auf einem gewissen Gebiete * Vergl. Kosmos Bd. VI. S. 361. PT 63 der organischen Chemie konnte natür- lich nur eine flüchtige sein; die Origi- nalabhandlungen findet der sich näher dafür interessirende Leser sämmtlich in den Berichten der Deutschen chemischen Gesellschaft von den Jahren 1879 — 1881. Der Einfluss der Bodenwärme auf die Zellen- bildung der Pflanzen. In einer der Pariser Akademie der Wissenschaften kürzlich vorgelegten Ar- beit hat der französische Botaniker Ed. Prillieux auf merkwürdige Verän- derungen die Aufmerksamkeit gelenkt, welche die Zellen junger Pflanzen zeigen, wenn sie in einem Boden treiben, der wärmer als die umgebende Luft ist. Man kann dadurch nach seinem Belieben künstlich eine Hypertrophie der innern Theile junger Stengeltriebe erzeugen, welche viel dicker und kürzer als im normalen Zustande ausfallen. In den so hypertrophisch gemachten Stengeln bemerkt man, wie in den Anschwel- lungen, welche die Stiche der Wollen- oder Blutlaus (Aphis lanigera) auf den Zweigen des Apfelbaumes hervorbringen, die Vervielfältigung der Zellkerne im Innern der Zellen. Die angeschwollenen Stengel der Bohnen und Kürbisse, welche in einem Boden gekeimt hatten, dessen Temperatur um ungefähr 10° die der umgebenden Luft überstieg, haben häufig pro Zelle zwei oder drei, sei es isolirte, oder in einer Masse vereinigte und gegen- einander gedrückte Kerne dargeboten; manchmal haben sie denselben Wuchs, aber oft sind sie von ungleicher Dicke und variabler Form, bald kuglich, bald nierenförmig oder unregelmässig gelappt. Die Vermehrung der Zellkerne in den hypertrophischen Geweben geschieht durch Theilung und die sehr erweiterten Zellkerne enthalten in den meisten Fällen vervielfältigte Nucleoli, von sehr ver- 64 Kleinere Mittheilangen und Journalschau. schiedenartigen Grössen und Gestalten, oft findet man vier oder fünf in einem Zellkern, häufig sind sie verlängert oder gelappt, oder in ihrem mittleren Theile zusammengedrückt, und man sieht deut- lich, dass sie sich durch Einschnürung in dem hypertrophischen Zellkerne thei- len. Wenn der Kern sich theilt, bildet sich anfangs eine Scheidewand in sei- nem Innern, am häufigsten gegenüber einem dicken Nucleolus, oder zwischen zwei noch sehr genäherten Zwillings- Nucleolen, dann blähen sich die beiden Hälften des Kernes, von denen jede eine besondere Höhlung hat, auf und streben sich zu trennen. Der Kern ist dann zweilappig, am häufigsten nieren- förmig, indem sich die Erweiterungen am meisten auf der dem Nucleolus gegen- überliegenden Seite vollziehen. Die Iso- lirung vervollständigt sich durch die Verlängerung der Spalte, welche zwischen den Lappen quer durch die Dicke der Trennungswand sich fortsetzt. (Revue scientifigque 1881. Nr. 5.) Eine Eigenthümlichkeit der Stechpalme. Wie ich früher in dieser Zeitschrift (Bd. IV. S. 405) und in meinem Buche über Erasmus Darwin (Deutsche Aus- gabe S. 145) erwähnt habe, hatte die- ser aufmerksame Naturbeobachter die Wahrnehmung gemacht, dass die Stech- palme meist nur in der Jugend und in ihren unteren Theilen stachlige Blätter trägt, dagegen wenn sie älter wird, an ihren höheren Zweigen dornenlose Blät- ter treibt. Er erklärte sich diese Eigen- thümlichkeit durch die von ihm ange- nommene Fähigkeit der Pflanzen, sich gegen Angriffe selbst zu schützen, und meinte, die Stechpalme treibe diese stachligen Blätter, um sich gegen den nackten Mund der Hufthiere zu schützen, und darum verlören auch die Blätter der höheren Zweige ihre Dornen, weil der Mund der Thiere dort überhaupt nicht hinreichen könne. Wie ich erst kürzlich gefunden habe, ist diese Eigenthümlichkeit auch Frei- ligrath aufgefallen, der sie in einem gedankenreichen Gedichte besungen hat, welches deshalb hier mitgetheilt werden mag; da es ohnehin zu Betrachtungen über die Verschiedenheit der poetischen und philosophischen Naturauffassung anregt. OÖ Leser hast du je betrachtet die Stechpalme? — sieh Ihr glattes Laub, wie eine weise Hand Es zum Gewand Dem Baume gab, so sinnig, dass daran Des Atheisten Klugheit scheitern kann. Denn unten, wie ein Zaun von Dornen, starrt Es scharf und hart; Kein weidend Vieh durch diesen spitzen Saum Verletzt den Baum. Doch oben, wo die Rinde nichts befährt, Wird stachellos das Laub und unbewehrt. Dies ist ein Ding, wie ich's betrachten mag, Gern denk’ ich nach Des Baumes Weisheit, seiner Blätter Zier Reicht willig mir Ein Sinnbild für ein Lied, das lange Zeit Nach mir vielleicht noch nützt und auch erfreut. So, schein’ ich draussen auch bisweilen rauh Und herbe, schau’ Ich finster auch, wenn mich am stillen Heerd Ein Lust’ger stört, Doch streb’ ich, dassich Freunden gut und treu, Sanft wie das Laub hoch auf der Stechpalm’ sei. Und heg’ ich jung, wie wohl die Jugend thut, Auch Uebermuth Und Trotz, doch schaff’ ich, dass ich jeden Tag Sie mindern mag: Bis ich im hohen Alter mild von Sinn, Gleich dieses Baumes hohen Blättern, bin. Und wie, wenn alle Sommerbäume grün Dasteh’'n und blüh’n, Die Blätter dieses einz’gen Baumes nie So glüh’n, wie sie, Doch spät im öden Winter uns allein Mit ihrem dunklen Immergrün erfreu’'n: So auch in meinen Jugendtagen will Ich ernst und still Im Kreis der Jugend sein, die unbedacht Des Ernstes lacht, Auf dass mein Alter frisch und fleckenfrei Gleich dieses Baumes grünem Winter sei. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 65 Es wäre eine nicht uninteressante Frage, ob Freiligrath, der zugleich ein aufmerksamer Naturbeobachter und ein genauer Kenner der englischen Litteratur war, diese Eigenthümlichkeit der bei uns nur selten zum Baume erwachsen- den Stechpalme selbst beobachtet hat, oder durch Darwin’s Bemerkungen zu seinem Gedichte angeregt worden ist. Das erstere ist wahrscheinlicher, und Freiligrath spricht vom Schutz der Rinde, während Darwin an den Selbstschutz der Blätter dachte. Wir können uns leicht vorstellen, wie Freiligrath durch den Anblick der jungen Alleebäume, deren Stamm man häufig durch Dornen- reiser vor der Annäherung der Thiere schützt, auf diesen Ideengang geführt worden sein mag. Eine andere Frage wäre es, ob Freilig- rath und Darwin wirklich die -Dornen- losigkeit des oberen Laubes richtig ge- deutet haben, abgesehen von ihrer sich unmerklich zur modernen Anschauung abstufenden Interpretation der Natur. Denn wir sehen auch die Blätter an- derer Pflanzen, wenn sie hoch empor- steigen, die Schärfe ihres Umrisses ein- büssen, so z. B. den Epheu, dessen scharf fünfeckiges Blatt an den oberen Zweigen eirund wird, ohne dass man dabei an eine schützende Eigenthüm- lichkeit der scharfeckigen Form denken könnte. Diese Erscheinungen verdienen offenbar noch eine genauere Prüfung. K. Experimentale Untersuchungen über die Entstehung der Geschlechtsunterschiede hat neuerdings der Prosektor am Bres- lauer anatomischen Institute Dr. G.Born angestellt und darüber in der Breslauer ärztlichen Zeitschrift (1881, Nr. 3 ff.) berichtet. Bekanntlich ist die Haupt- frage die, ob die geschlechtlichen Unter- schiede schon im befruchteten Ei aus- geprägt sind, und durch ungleiches Vermögen der Eltern bedingt werden, Kosmos, V. Jahrgang. (Bd, IX). oder ob auf die Erzeugung der Ge- schlechter nachträgliche Entwickelungs- bedingungen Einfluss haben. Der Ex- perimentator wählte zu seinem Versuche reife Eier des gemeinen braunen Gras- frosches, die nach der Methode Spal- lanzani’s künstlich befruchtet wur- den, und in einunzwanzig geräumigen Aquarien bis zur eingetretenen Erkenn- barkeit der Geschlechtsverschiedenheit gezüchtet wurden. Das Resultat war ein sehr merkwürdiges. In fünf Becken betrug die Anzahl der Weibchen 100°/o, es war also gar kein Männchen vor- handen, in weiteren sechs Becken stieg die Prozentzahl der Weibchen auf 91,5—96°/o; nur in zwei Becken wurde eine erheblichere Anzahl Männchen er- zielt, nämlich in dem einen 13,2 °/o und in einem andern 28°/o. Da nun in der Natur die Anzahl der entstehenden Männchen derjenigen der Weibchen ziemlich gleich zu kommen pflegt, so frägt es sich, wodurch die Entwickelung einer grösseren Zahl Männchen hinter- trieben wurde. Das Becken, in welchem die grösste Anzahl von Männchen (28°/o). erzielt wurde, war das einzige, durch Versehen verschlammte, und Dr. Born neigt deshalb und aus mehreren andern Gründen der Meinung zu, dass die Lar- ven zu ihrer naturgemässen kräftigen Entwickelung, weniger der Fleisch- und Pflanzennahrung bedürfen, die ihnen in den einzelnen Becken zur Genüge ge- reicht wurde, als vielmehr der Infuso- rien, Räderthierchen, Diatomeen und Algen, die sie im Schlamm der Tüm- pel finden. In Tümpeln, die gar keinen Pflanzenwuchs zeigen, fanden sich im Freien wohl entwickelte Frosch- und Unkenlarven in Menge, kurz das ge- sammte Resultat veranlasste Dr. Born mit allen Einschränkungen als möglich anzunehmen, dass in seinen Versuchen die ungeeignete Ernährungs- und Le- bensweise eine vorwiegende Ausbildung der Keime zu Individuen des stärkern Geschlechts zurückgehalten, und, das ) 66 schwächere Geschlecht begünstigt habe. Man sieht, es wird hierbei als wahr- scheinlich vorausgesetzt, dass die Eier ursprünglich geschlechtslos sind. Wir wollen hier bemerken, dass Prof. Hoffmann in Giessen bei seinen 1878 veröffentlichten Versuchen über die Geschlechtervertheilung bei Spinat- pflanzen zu einem ähnlichen, wenn auch in mancher Beziehung entgegengesetzten Resultate gelangte. Bei Freilandpflanzen, die einen genügenden Raum zu ihrer Entwickelung fanden, wurden auf 63 weibliche Exemplare 65 männliche ge- zählt, bei einer Dichtsaat im Topfe auf 40 weibliche 91 männliche. Da ein zweiter Versuch ganz entsprechende Resultate lieferte, und da die Samen in allen diesen Aussaaten von denselben Eltern stammten und äusserlich ganz gleich waren, so schloss Prof. Hoff- mann daraus, dass das Geschlecht im reifen Samen noch nicht bestimmt sei, und dass in diesem Falle eine un- vollkommene Ernährung eine überwie- gende Ausbildung des männlichen Ge- schlecht bedingt habe. Das wäre also ein entgegengesetzter Erfolg beschrän- kender Entwickelungsbedingungen. Die Zähne der Vogelemhrvonen. In Hinblick auf die gezähnten Vögel (Odontornithes) der Sekundärzeit, über welche Professor O0. C. Marsh vor Kurzem eine grössere Monographie veröffentlicht hat, auf die wir eingehend zurückzukommen gedenken, hat das Auf- treten kleiner Zähnchen bei den Em- bryonen gewisser heute lebender Vögel ein bedeutendes Interesse, weshalb Dr. P. Fraisse in Würzburg dasselbe vor einiger Zeit in der dortigen physikalisch- medizinischen Gesellschaft einen Vor- trag gehalten hat, dem wir nach einem Referate im »Neuen Jahrbuche für Mi- neralogie, Geologie und Paläontologie (1880, Bd. II, S. 220)« das Folgende ent- nehmen. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Im Jahre 1821 beobachtete Etienne Geoffroy Saint-Hilaire an Em- bryonen eines Papageien (Palaeornis torquatus) in beiden Kiefern eine sehr regelmässige Reihe von Papillen ver- schiedener Form, von sehr einfacher Struktur, die aber nicht in den Kiefer eingekeilt waren. Diese Papillen be- deckten markige Knoten oder Kerne, nach seiner Meinung denen analog, aus welchen sich Zähne bilden, und inner- halb derselben verliefen Gefässe und Nerven. Neben den dreizehn Zahn- keimen im Unterkiefer fanden sich noch dreizehn Gefässe und nervenreiche kug- liche Gebilde, etwa so beschaffen, wie die Zahnkeime des Menschen im drit-- ten Monat des embryonalen Lebens. Es hatten also nach diesen Beobach- tungen die Vögel, ehe sie einen Horn- schnabel- besitzen, Zahnanlagen und zwar, wenigstens in dem einen Kiefer, eine doppelte Anlage, wie die Säuge- thiere. Cuvier bestätigte, dass diese Zahnkeime denen der ächten Zähne analog seien, und dass ihre weitere Um- wandlung in der Weise erfolge, dass die Hornschichte des Schnabels sich über die vaskulären Papillen ausbreite, wie der Schmelz über den Zähnen der Säugethiere. Einige fernere, die Auf- fassung seines Vaters bekräftigende Be-. merkungen, fügte später Isidor Geoffroy Saint-Hilaire hinzu. Diese wichtigen Beobachtungen verfielen beinahe der Vergessenheit, bis endlich 1860 Blan- chard auf dieselben zurückkam. Nach ihm bedürfte es, um von Zähnen reden zu können, des sichern Nachweises von Dentin. Er untersuchte mikroskopisch die Kiefer junger Papageien und gab an, nach der Struktur sowohl den Kno- chen als auch die Substanz der Zähne deutlich unterscheiden zu können. Es kommt nach Blanchard bei gewissen Vögeln, besonders bei Papageien, ein wirkliches Zahnsystem vor, welches so- wohl durch seine Struktur, wie durch das Eingekeiltsein in die Kiefern die Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 67 gewöhnlichen Charaktere der Zähne er- kennen lässt. Später bedeckt der Kie- ferknochen die Zähne durch fortgesetz- tes Wachsthum, wodurch sie der äusser- lichen Beobachtung entzogen werden. Dr. P. Fraisse nahm nun die Un- tersuchung von Neuem auf, und ge- langte zu dem Resultate, dass zwar Zähne und kleine Alveolen vorhanden sind, dass aber Dentin fehlt. Was Blanchard für solches ansah, sind um- gewandelte Hornzellen, so dass also Cuvier ganz richtig bemerkte, dass die Papillen bei Papageien in spätern Sta- dien von Horn bedeckt würden. Die Beobachtungen wurden an einem etwa zehn Tage ausgeschlüpften Sperlings- papagei, am Wellensittich und andern Papageien angestellt. Es wird dann weiter die auffallende Thatsache her- vorgehoben, dass Hornzähne bei zwei weit von einander entfernten Ordnungen lebender Vögel, Sumpf- und Kletter- vögeln vorkommen, und dass es sich ähnlich bei den fossilen Ichthyornis, Hes- perornis einerseits und Archaeopteryx an- drerseits verhalte. Mit letzterem ist nun in dieser Richtung vor der Hand nicht viel anzufangen, da das zweite gefundene, nunmehr in Berlin befind- liche Exemplar nur zwei sehr kleine Zähne besitzt, bei dem länger bekann- ten, zuerst gefundenen und in London befindlichen, der Kopf ganz fehlt. An- ders ist es mit den Odontornithen, die ja überhaupt in ihrem gesammten Ske- letbau vogelähnlicher sind, als Archae- opteryx. Hier soll Schmelz auf den Zäh- nen vorhanden sein. Dr. Fraisse hest nun Zweifel, ob es sich bei den fos- silen amerikanischen Vögeln wirklich um Schmelz handle, ob nicht etwa die Cu- tis-Papillen nur an ihrem äussersten Theil verkalkten und so eine Aehnlich- keit mit Dentin erzeugt werde. Durch ein intensives Wachsthum der Kiefer- rinde könnten denn auch scheinbar Al- veolen entstehen. Da Marsh ausdrück- lich Dentin angiebt, genauere Unter- suchungen aber nicht vorzuliegen schei- nen, wären Zweifel gerechtfertigt. Er hofft auf erneute Prüfung und betont vor der Hand, dass »bei den lebenden Vögelarten echte Zähne oder auch nur Zahnanlagen nicht vorkommen, es darum immer leichter möglich wäre, dass fossile Vögel verkalkte Hornzähne besessen hät- ten, als dass wirkliche in Follikeln ge- bildete Zähne in einer Thierklasse vor- kommen sollten, die dieselbe sonst (d.h. heute) nicht besitzt«. Wir haben diese Argumentation wie- dergeben wollen, um die Bemerkung daran zu knüpfen, dass Marsh in seiner Monographie über die Odontor- nithen sehr genaue mikroskopische Längs- und Querdurchschnitte der Zähne von Hesperornis gegeben hat, und dass aus seinen Untersuchungen hervorgeht, dass diese Zähne sowohl Schmelz- als Dentin- Lagen aufweisen, mit einer Markhöhle versehen waren, und in Form und Er- neuerungsweise auf das genaueste mit den zum Vergleiche abgebildeten Zähnen eines echten Reptils (Mosasaurus) über- einstimmten. Jedenfalls boten sie nicht die geringste Analogie mit den »Horn- zähnen« heute lebender Vögel, und wenn Fraisse’s Beobachtungen über die Em- bryonalzähne der Papageien richtig sind, so wird man wahrscheinlich besser thun, daraus zu schliessen, dass die bei Vögel- embryonen auftretenden Zahnpapillen, eben stark zurückgebildete Anlagen dar- stellen, zu denen sich wohl Parallelen finden liessen. Krankheitsanlage und Immunität vom Darwinistischen Standpunkte. Der französische Arzt und Natur- forscher A. Bordier hat kürzlich in der Pariser Ecole d’Anthropologie einen Cyklus von Vorträgen über pathologische Anthropologie und Geographie der Me- dizin begonnen, welcher sich mehrfach mit Darwinistischen Fragen beschäftigen H* 68 Kleinere Mittheilungen und Journalschan. wird, weshalb wir nach dem Berichte der Revue scientifique (1881, Nr. 6) einen Auszug aus seiner Einleitung hier mit dem Vorbehalt wiedergeben, auf einzelne Kapitel seiner Ausführungen noch besonders zurückzukommen. Der berühmte französische Physio- loge Claude Bernard hat mit grossem Geschick die Uebereinstimmung der all- gemeinen Lebenserscheinungen bei Pflan- zen und Thieren z. B. diejenige der Verdauungserscheinungen bei den insek- tenfressenden Pflanzen mit denen der Thiere nachgewiesen. Auch die Einwir- kungen vieler Arzneimittel und Gifte sind bei vielen Thieren, ja sogar bei einigen Pflanzen den beim Menschen beobachteten durchaus analog. DasEisen heilt die Chlorose bei den Gewächsen ganz ähnlich wie bei den Thieren ; Chloro- form und Aether betäuben auch die Sinnpflanzen und die Insekten zeigen nach den UntersuchungenBaudrimont’s ganz ähnliche Berauschungserscheinun- gen wie der Mensch. Nichtsdestoweniger sind die Unterschiede in der Reaktion gegen äussere Einflüsse selbst unter den Rassen derselben Art, z. B. des Men- schen, sehr gross, jede hat, wie man weiss, ihren besonderen Geruch und auch, wie die Anthropophagen versichern, ihren besonderen Geschmack, der Neger soll das schmackhafteste, der Weisse das un-. schmackhafteste Fleisch haben. Broca hatte bemerkt, dass auf dem anatomi- schen Theater das Fleisch des Negers weniger schnell in Fäulniss übergeht, als das des Weissen. In jeder Rasse gibt es physische und chemische Ver- schiedenheiten, der Dichte, Temperatur, Durchwässerung der Gewebe u. Ss. w., welche das darstellen, was Cl. Bernard als »inneres Mittel« dem äusseren Mittel gegenüber stellte, und was Bordier »Essenz« der Rasse nennt. Es ist sehr klar, dass anatomischen Bedingungen dieser Art die Verschieden- heit der Einwirkung einer und derselben giftigen Substanz auf die einzelnen Rassen oder besonderen Arten zuzuschreiben ist. Man kann hiervon zahlreiche Bei- spiele beibringen: Rana esceulenta und Rana temporaria reagiren gegen ein und dieselbe Dosis Coffein verschieden, und Rana viridis ist weniger als die beiden genannten gegen Veratrin empfänglich. Belladonna ist ohne Wirkung auf ge- wisse Nager; — die Ziegen fressen Ta- bak; — das Morphium ist für das Pferd ein heftiges Erregungsmittel; — die Schnecke bleibt gegen die Wirkung des Digitalin’s unempfindlich. Darwin ver- sichert, dass im Tarentino die Einwoh- ner nur schwarze Schafe halten, weil das Hypericum erispum, welches dort massenhaft vorkommt, die weissen tödtet. Alle diese Thatsachen verknüpfen sich offenbar nochunbekannten anatomischen Thatsachen. Auf diese Ideenreihe zielte Claude Bernard, indem er schrieb: »Ich habe bei mehreren Hunde- und Pferderassen gänzlich besondere physio- logische Charaktere feststellen können, welche sich auf verschiedene Grade in den Eigenthümlichkeiten gewisser histo- logischer Elemente, besonders des Ner- vensystems beziehen.« Ein Beispiel von dem, was die organische Prädisposition gegenüber der Wirkung von Substanzen thun kann, wird uns durch die Sola- neen geliefert. Die giftigen Solamum- Arten, so genannt, weil sie Vergessen und Trost (Solamen) bringen, wirken nur auf die histologischen Elemente des Gehirns, und haben darum nach der Bemerkung von Professor Bouchardat um so weniger Einfluss auf ein Thier, je weniger Intelligenz dasselbe besitzt. Es sind ebenso uns unbekannte anatomische Eigenthümlichkeiten, die uns die Auswahl verbergen, mit welcher die Krankheiten diese oder jene Rasse zu befallen scheinen. Das bei dem Pferde, dem Esel und dem Menschen so wirksame Rotzgift bringt bei den Hunden oft nur lokale Zufälle hervor. Die an- steckende Lungensucht des Hornviehs, welche manchmal die Viehstände deeci- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 69 mirt, bringt bei Rindern der holländi- schen Rasse viel geringere Verheerungen hervor als bei den anderen. Während das Rind von der Rinderpest bei der geringsten Berührung und fast immer in gefährlicher Weise ergriffen wird, er- fordert das Schaf, um angesteckt zu “ werden, enges Zusammenwohnen, und oft bleibt die Krankheit bei ihm gut- artig. Die Rinderpest liefert mir über- haupt, eine Gelegenheit, die ich mir nicht entschlüpfen lassen darf, schon heute zu zeigen, wie weit die Feinheit der Rassen-Analyse durch die Pathologie geht. Die Rinderpest ergreift nur Wie- derkäuer: Rinder, Schafe, Ziegen, Ze- bras, Gazellen, Antilopen. Als nun diese Krankheit vor Zehn Jahren im Pariser Acclimatisationsgarten wüthete, machte ein einziges, nicht zum Wieder- käuer-Geschlecht gehöriges Thier eine Ausnahme, nämlich ein kleiner, unserem Schwein verwandter Dickhäuter, das Pecari. Kürzlich konstatirte aber Dr. Coudereau durch eine Reihe von anato- mischen Untersuchungen im Magen des Schweins eine rudimentäre Organbildung, welche an die der Wiederkäuer erinnert. Da haben wir also eine Reihe von Dick- häutern, welche sich in den Augen des Anatomen den Wiederkäuern nähern, und welche inden Augen der Pestfür Wieder- käuer passiren, man muss annehmen, dass die Gewebe des Pecari für das vermuthete Microbium der Pest, ein ebenso günstiges Medium als die Gewebe der Wiederkäuer darbieten. Diese Krank- heitsauswahl wird also durch die Ana- tomie gerechtfertigt. Die parasitischen Krankheiten bieten häufig Fälle einer ähnlichen Auswahl dar; die Kartoffel- krankheit ergreift die runde gelbe und die rothe Varietät mehr als die violette und jedermann kennt die Widerstands- kraft deramerikanischenWeinrebengegen die Verheerungen der Reblaus. Aber nicht allein die Krankheiten sind verschieden wie die Rassen, auch die Symptome einer und derselben Krank- heit differiren; die durch einen und den- selben Parasiten angegriffenen Gewebe reagiren verschieden. So hat Professor Laboulbene gezeigt, dass durch die- selbe Cynips-Art auf verschiedenen nahe- stehenden Pflanzen verschiedene Gallen erzeugt werden. @wuercus robur, pedun- culata, sessiflora, pubescens bringen in Folge des Stichs derselben Gallwespe, um dieselbe Larve herum, vier absolut unähnliche Gallen hervor. Die Tuber- kulose des Rindes hat eine langsame Form, die des Schweins erinnert an die galoppirende des Menschen. Die ner- vösen Complicationen der Krankheiten sind weniger häufig beiden Wiederkäuern als bei den Pferden und Hunden. Die vergleichende Pathologie zeigt uns end- lich, welche verschiedenartige Formen die Pocken nach den Rassen, welche sie befallen, annehmen. Es reicht hin, die Kuh-, Pferd-, Schaf- und Hunde- Pocken mit den Schweine-, Vögel- und Menschenblattern zu vergleichen. In Summa, es verhält sich, wie Professor de Quatrefages es ausgedrückt hat: »Ob es sich um Thiere oder Pflanzen handle, die Rassen haben ihre patho- logischen Charaktere ebensowohl, wie ihre äusseren und besondern anatomi- schen Charaktere und der Mensch ent- schlüpft diesem Gesetze nicht.« In der That finden wir bei dem Menschen Beispiele, die den soeben von den Thieren berichteten ähnlich sind. Alle Aerzte, welche in einem Lande, wo mehrere Rassen neben einander leben, praktizirt haben, wissen, dass jede Rasse ihre eigene Pathologie hat, und ihrer eigenen Therapie bedarf; die Neger er- tragen enorme Dosen von Brechwein- stein, man kann ihnen davon in vier- undzwanzig Stunden ein Gramm geben, ohne dass das bei ihnen mehr wirkte als bei einem Weissen fünf Centigramm. Eine und dieselbe Dosis Alkohol, die man einem Weissen, einem Gelben und einem Schwarzen reicht, werden bei diesen drei Personen weder in demselben 70 Zeitpunkte, noch überhaupt denselben Rausch verursachen, da jede der drei Personen einer und derselben Dosis der- selben Substanz ein anatomisch ver- schiedenes Nervensystem entgegenstellt. Die gelbe Rasse erträgt nach der An- gabe von Pallas zum Verwundern dra- stische Abführmittel. Das gelbe Fieber ist ein sehr bekanntes Beispiel einer den Neger allgemein verschonenden Krank- heit. Er besitzt Immunität dafür. Im Gegensatze dazu, neigt er zur Lungen- schwindsucht; dafür hat er Anlage. Die Cholera befällt ihn lieber als den Weissen. Verschiedene Menschen-Rassen, bieten, selbst wenn sie gleichmässig das Wechselfieber zur selben Zeit und im selben Sumpfe acquiriren, jeder einen verschiedenen Fiebertypus dar: der Eine wird z. B. das dreitägige Fieber haben, während bei dem Andern das viertägige auftritt. Ebenso nimmt die Syphilis bei den verschiedenen Rassen verschiedene Formen an. Der Doktor Crevaux hat in Südamerika bemerkt, dass die Läuse des Eingebornen von denen des schwarz- braunen Negers differiren, und dass alle beide von denen des Europäers ver- schieden sind. Darwin hat auf seiner Reise mit dem Beagle dieselbe Bemer- kung gemacht. Wenn man eine grosse Zahl dieser Fälle studirt haben wird, so wird man an die Synthesis gehen können, um sich Rechenschaft zu geben, was die vielgebrauchten Worte Immunität und Anlage bedeuten. Allgemein bekannt geworden ist in neuerer Zeit einer der hierbei thätigen Mechanismen. Die Vögel werden nicht vom Milzbrand befallen. Alle Versuche Pasteur’s, den Milz- brand auf Hühner zu übertragen, miss- glückten. Nun weiss Jedermann, dass die normale Temperatur der Vögel höher ist als die normale Temperatur der Säugethiere, die eine variirt von 40— 44°, die andere von 36— 39°. Pasteur frug sich desshalb, ob es, um dem Huhn ‚die Anlage für den Milzbrand mitzu- | | | Kleinere Mittheilungen und Journalschau. theilen, vielleicht hinreichen würde, dasselbe abzukühlen; er that dies mit- telst eines verlängerten kalten Bades und das abgekühlte Huhn wurde vom Milzbrand angesteckt. Der Besitz einer gewissen, für das Gedeihen der Milz- brandbakterien erforderlichen Körper- temperatur, das ist also der bestim- mende Grund für die Anlage des Säuge- thiers zum Milzbrand. Umgekehrt ist das Fehlen dieser bestimmten erforder- lichen Temperatur die entscheidende Ursache der natürlichen Immunität der Vögel für den Milzbrand. Endlich weiss man, dassesscheint, als wenndie Mikro- bien, welche die Agentien einer Infek- tionskrankheit sind, wenn sie einmal in dem Blute eines Individuums sich fortgepflanzt haben, sie in diesem Blute etwas für ihre Sippe, welche später in diesem Blute zu keimen versuchen könnte, Schädliches zurückgelassen hät- ten, oder dass sie scheinen, etwas dem Leben jedes ähnlichen Mierobium nöthiges und unentbehrliches fortge- nommen zu haben. Welche von beiden Wahrscheinlichkeiten die wahre ist, wissen wir nicht. Ebenso wie ein Glas Zuckerwasser, in welahem bereits Hefe Gährung verursacht und Alkohol er- zeugt hat, unfähig ist, eine zweite Hefe- zufuhr zu ernähren, ebenso ist das ein- mal verunreinigte Blut eines Individu- ums für ähnliche Mikrobien unbewohn- bar geworden. Das Individuum hat die Immunität für die Krankheit, welche diese Mikrobien repräsentiren und per- sonificiren erworben. Dies ist die Theorie der erworbenen Immunität, welcher wir bei der Impfung vertrauen und auf welche die Untersuchungen von Pasteur, Toussaint und Chauveaa neuerdings Licht geworfen haben. Die Immunität für gewisse Krankheiten kann einem Individuum ferner vorübergehend durch das Vorhandensein einer damit unverträglichen andern Krankheit mitgetheilt sein. Man hat dies den pathologischen Antagonis- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 71 oe- mus genannt und viel darüber g schrieben. Die Krankheiten verändern also das Individuum indem sie ihm gewisse Anlagen oder gewisse Immunitäten ver- leihen ; wenn die Immunität vorherrscht, sagt man, dass Jemand sich akklima- tisirt hat, wenn im Gegentheil die krank- hafte Anlage vorherrscht, spricht man von einem Degeneriren. Sich akklima- tisiren heisst seine Organe und Gewebe, seinen Organismus, sein »inneres Mittel« in Bezug auf den physikalisch-chemi- schen Gesichtspunkt langsam in ein gewisses günstiges Verhältniss, in Har- monie mit dem äussern Mittel bringen. Degeneriren heisst seine Organe allmälig in einen Zustand übergehen sehen, welcher in keinem günstigen Verhältniss mit dem äussern Mittel steht. Aber die Wichtigkeit des Individu- ums steht in der Zoologie erst in zweiter Reihe, die Krankheiten modificiren auch die ganze Rasse, und das, was uns ei- gentlich interessirt, sind die Bestän- digkeit, Abnahme und Charakter-Ab- änderungen der Anlage sowohl wie der Immunität, durch die Erblichkeit, den Atavismus, und die Kreuzungen. Wir werden also die Erblichkeit der Krank- heiten zu studiren haben. So giebt ein gegen den Milzbrand geimpftes Schaf, welches diese Krankheit nicht mehr aufnehmen kann, und welches trächtig ist, einem Lamm das Leben, welches bereits gegen den Milzbrand geimpft zur Welt kommt. Die erwor- bene Immunität der Mutter, wird also bei dem Kinde zur natürlichen Im- munität. Ich erwähnte soeben, dass der Neger nur selten, der Weisse im Gegentheil leicht das gelbe Fieber be- | kommt, der Mestize und Mulatte nimmt eine Mittelstellung ein; — die natür- liche Immunität ist mithin erblich. Wir werden den Einfluss der Bluts- heirathen zu studiren haben, der Hei- rathen zwischen Geschwisterkindern beim Menschen, und der Inzucht bei den Thieren. Bekanntlich sind die Natur- forscher in zwei Lager getheilt, die einen behaupten, dass die Blutheirath durch sich selbst alle Uebel erzeuge, die andern behaupten, dass sie durch sich selbst das beste Mittel zur Vered- lung einer Rasse sei. Ich hoffe zeigen zu können, dass die Blutheirathen nichts Specielles durch sich selbst hervor- bringen; alles was sie bewirken, ge- schieht durch Erblichkeit, und zwar durch Erblichkeit in ihrer höchsten Machtvollkommenheit, wie man mit Recht sie genannt hat. An den Schluss dieser Lektionen gelangt, wird es uns schwer sein, die Veränderlichkeit der Arten durch pathologische Einflüsse zu läug- nen. Wir werden durch die Vererbung dem Kinde zu Recht die Anlagen und Immunitäten übergeben sehen, welche die Mutter erworben hat. Wir werden die Erblichkeit den Kindern als phy- siologischen Charakter dasjenige über- tragen sehen, was bei dem Vater eine pathologische Wirkung war. (Hunde- rassen mit fünf Zehen, sechsfingrige Menschenfamilien, hornlose Wieder- käuer.) Man wird darnach unsre Art über das Dogma von der Art zu den- ken und die durch die medizinische Geographie gelieferten Thatsachen als einen Beitrag zur Umwandlungstheorie bezeichnen müssen. Litteratur und Kritik. Grundlegung der Ethik vonB. Car- neri. 8°. 457 8. Wien, Brau- müller 1881. Wenn man den tiefern Ursachen jenes in einzelnen Individuen bis zur Angst gesteigerten Misstrauens nach- spürt, mit welchem die Gebildeten zum Theil heute noch der einheitlichen, auf dem festen Fundamente der Entwicke- lungslehre sich aufbauenden Weltan- schauung gegenüberstehen, so wird man finden, dass sie sich meist in der Be- fürchtung einer vollständigen Unter- grabung der »sittlichen Weltordnung« zusammenfassen lässt. Diese Befürch- tung wurzelt ihrerseits in dem Wahne, dass die Sittlichkeit, mit der von den verschiedenen Religionssekten gepredig- ten Moral identisch sei, dass sie nicht das Produkt einer ebenso natürlichen Entwickelung, wie das Leben selbst sein könne, sondern dem Menschen aus einer übersinnlichen Welt als Richtschnur mit auf den Weg gegeben sei. Die Philo- sophie hat diesen Irrthum längst wider- legt, sie hat den Ursprung der Sittlich- keit in einem verfeinerten Egoismus nachgewiesen, der anfangs ein blosses | Gegenseitigkeits-Verträgniss, durch die Steigerung der Vernunft aber den Re- | gionen des dumpfen Gefühls entrissen, im Denken und Thun gebildeter und veredelter Menschen wird. Schon in dem Gesagten erkennen wir das Ent- wickelungsverhältniss, welches auch hin- sichtlich der Ethik existirt, sie ist ein Gewordenes, wie alles in der Welt, und wenn wir von einer neuen »Grundle- gung der Ethik« hören, so handelt es sich damit zugleich um eine Fortbildung und Veredlung der ethischen Gesichts- punkte und dies — es ist kaum glaub- lich! — aufGrundderEntwickelungslehre. Der Verfasser ist den Lesern unseres Journals kein Unbekannter. Wie kein Zweiter hat er sich um rung des im Eingange erwähnten Vor- urtheils gegen den Darwinismus ver- dient gemacht, seine Schriften »Sitt- lichkeit und Darwinismus« (1871), »Ge- fühl, Bewusstsein, Wille« (1876), »der Mensch als Selbstzweck« (1877) be- schäftigten sich alle mehr oder minder unmittelbar mit dem Problem, auch den sittlichen Menschen als ein im Kampfe ums Dasein geläutertes Natur- produkt, die sittliche Welt als eine Fortsetzung und Verfeinerung der Welt des Kampfes roher Naturgewalten und nur dem unmittelbaren Triebe gehor- chender Lebewesen darzustellen. Das vorliegende Buch geht sowohl gründ- nun zu einem beseligenden Momente | licher als systematischer al“ die bis- die Zerstö- ' Litteratur und Kritik. herigen Versuche, demselben Ziele nach. In den drei Kapiteln des ersten Buches: »das Leben, die Seele, der Mensch« betitelt, empfangen wir ein Bild des Weltganzen, wie es sich nach ein- heitlichen Prinzipien in der Zeit ent- wickelt hat, reich an feinen Bemerkun- gen und kritischen Gängen. Das dritte . Kapitel hätte systematischer das » Selbst- bewusstsein« überschrieben werden müs- sen, denn dies ist,.die neue Fähigkeit des Menschen, mit welcher das Gebiet der Ethik anhebt. Sehr schön sagt der Verfasser hierüber: »das Böse hat so wenig als das Gute in der Natur seinen Grund. Es ist daher ebenso ungereimt, vom Menschen zu sagen, er könne Tugend lernen von der Natur, als wenn behauptet wird, der mensch- liche Geist trage den Begriff des Guten von Haus aus in sich. Die Natur kennt kein Gutes, weil sie den Widerspruch, aus dem das Böse sich ergiebt, nicht kennt. Die Natur kennt überhaupt keinen Widerspruch. Der Mensch ist es, der in sie die Widersprüche hinein- legt, die der erste Widerspruch auf .Er- den, das Selbstbewusstsein in seiner Brust wachgerufen hat. Es liegt ein schönes Stück altegyptischer Weisheit in der Genesis, die in der beginnen- den Erkenntniss den Anbruch des Bösen erblickt. Bis dahin war der Mensch ein argloses Thier, und was den Sünden- fall darstellt, ist die eigentliche Mensch- werdung. Das erwachende Selbstbewusst- sein war, dualistisch aufgefasst, ein Bruch mit der Natur und der Mensch fühlt sich von ihr abgetrennt. Der Riss war nur für ihn da, aber für ihn war er vollständig. So plötzlich, wie es die Genesis lehrt, war:er nicht entstanden, wie auch .die Schöpfungstage nicht wörtlich zu neh- men sind; aber mit der Vollendung des Selbstbewusstseins war der Riss eine Thatsache, und mit dem Gefühl grenzen- loser Vereinsamung, das damit den Men- schen überkam, hat seine ethische Entwickelung begonnen. « 73 Das zweite wiederum in drei Kapi- tel (Denkgesetze — Leidenschaften — Wille und Verstand) getheilte Buch, wel- ches der Widerstreit überschrieben ist, schildert den gedachten Widerspruch im selbstbewussten Menschen näher, der Verstand zeigt sich ohnmächtig gegen die Leidenschaften, die Freiheit des Wil- lens verflüchtigt sich vor der durch Bil- dung und Charakter gebundenen Noth- wendigkeit des Handelns, ja der Wille selbst, auf welchen Schopenhauer eine Welt bauen wollte, entpuppt sich als ein den Widerspruch lösendes Miss- verständniss. >Wie in der Natur alles mit Nothwendigkeit geschieht, so thut auch der Mensch alles mit Nothwendig- keit. Was er will, muss er wollen, denn er kann nur wollen, in Gemäss- heit seiner Vorstellungen und Begriffe. Wenn er meint, seinem Willen entgegen- zuhandeln, so ist es doch nur ein mäch- tigerer Trieb, der einen schwächeren Trieb überwindet, und den Willen be- stimmt. Immer wird es sein Glück sein, das er will und sucht, sei es, dass er den Genuss findet in einer Schwäche oder in einer Kraft, in einer Wonne, oder in einem Schmerz. Der Selbst- quäler findet ein Vergnügen an der Grau- samkeit, mit der er sich misshandelt, gelinder gesagt: seine quälenden Ge- danken sind ihm lieber als die An- strengung, sich ihnen zu entreissen.« In einem allgemeinen Streben nach Glückseligkeit sucht also Carneri die Triebfeder aller Handlungen des Menschen und es ist dies wohl ziemlich dasselbe, was Spinoza Egoismus nannte; allein man muss hier den unbedingt zu seinem Ziele führenden, von dem irre- geleiteten Glückseligkeitstriebe unter- scheiden. Mit schöner dichterischer Be- redtsamkeit schildert uns der Verfasser den irregeleiteten Glückseligkeitstrieb des Märtyrers, des unglücklich Lieben- den, des Geizigen und Ehrsüchtigen. Worauf es daher allein ankommt, ist, dass der Glückseligkeitstrieb ein wohl- 74 verstandener sei. > Glücklicherweise sprechen alle Abwege zu Gunsten des rechten Weges: auf jedem Abwege be- gegnen wir früher oder später der ver- derblichen Unlust, während auf dem rechten Wege die Lust immer mit uns ist, und zwar wie Spinoza sagt, als »Uebergang des Menschen von geringerer zu grösserer Vollkom- menheit«. DerEin Mal vom Gefühl ge- kostet hat, das mit der Selbstver- vollkommnung verbunden ist, der folgt dieser Richtung bis zum letzten Athemzuge. « Damit sind wir schon zum dritten Buche, die » Versöhnung«, gelangt, des- sen drei Kapitel die Ueberschriften »die Vernunft, das Ideal, das Mögliche« tragen, und in welchem der Verfasser in ähnlicher Weise wie Höffding (vgl. Kosmos, Bd. VII, S. 159) in der Ver- nunft das regulirende Prinzip in dem allgemeinen »Kampf um das Glück« findet. Wenn hier die Ansichten der englischen vom Gesellschaftswohl aus- gehenden Ethiker verworfen werden, so muss, dünkt uns, dabei unterschieden werden, die Entstehung und die Be- gründung ethischer Grundsätze. Denn die gegenseitige vom Wohlwollen und Altruismus getragene Beschränkung des Egoismus, war unzweifelhaft das mäch- tigste Moment zur Verfeinerung dessel- ben, und diese Verfeinerung führt erst zu einer tieferen Begründung, wie wir sie in dem Werke Carneri’s finden. Darin löst sich zugleich der Widerspruch der Meinungen über die Grundlagen der Ethik, und der Darwinismus, der sie untergraben sollte, führt sie vielmehr zu höheren Idealen, als sie bisher kannte. Man muss das Buch selber lesen, um zu erfahren, wie tief und klar, warm und schwungvoll, hinreissend und zün- dend es geschrieben ist. Der Denker kann den Poeten nicht verläugnen, aber er lässt sich niemals von ihm aus den Grenzen der strengsten Logik hinaus- führen. Ueberaus wohlthuend ist die Litteratur und Kritik. Milde der reichlich, aber fast nur dem aufmerksamen Leser bemerkbar geübten Polemik, die oft scharf genug, aber nie verletzend auftritt. Wie prächtig wird Du Bois-Reymond abgeführt, wenn es heisst: »Wir halten das (Bekenntniss, dass man niemals alles wissen wird) für bescheiden, und eine weitergehende Be- scheidenheit nicht für angemessen, weil. die Bescheidenheit, welche über die Wahrheit hinausgeht, nur zu leicht der Heuchelei verfällt. Jetzt schon bestim- men zu wollen, was wir nie wissen werden, wäre das andere Extrem und, nach der bekannten Unart der sich be- rührenden Extreme, eine Unbescheiden- heit.< Ebenso treffend heisst es von dem Verhältniss des Materialismus zum Spiritualismus: »der Materialismus unserer Zeit hat darum so viel Bedeu- tung, weil unsere Spiritualisten, zu- mal die religiösen, die ärgsten Materia- listen sind; sie wollen einen Geist, den sie mit Händen greifen können, und ernten, wo der Materialismus sät.« Viel- leicht dasjenige, was den darwinistischen Leser am meisten anziehen wird an dem Buche, dürfte sein, dass er eine Menge Gedanken, die ihm selbst längst dunkel vorschwebten, in demselben entwickelt, ausgearbeitet, und in gewinnende Form gebracht findet; der Verleger hat dazu das seinige gethan, und dem Buche auch ein schönes Aussehen verschafft. K. Il materialismo nella scienza. Dis- corso pronunciato nella grande aula della Regia Universitä di Genova per la solenne inaugurazione dell’ anno acca- demico 1850—81 da Federico Del- .pino professore ordinario di botanica. Genova Pietro Martini. Die dualistischen Grundanschau- ungen Delpino’s treten zwar in seinen zahlreichen botanischen Schriften überall zu Tage, aber meist verdunkelt durch zahlreiche Stellen, denen man es nicht ansehen kann, ob sie wörtlich oder bild- Litteratur und Kritik. 75 lich gemeint sind. Wir erinnern uns hierbei z. B. an den von ihm mit be- sonderem Nachdruck betonten Satz: »In der Natur ist der Gedanke ein einziger, die Ausführung eine vielfältige « und an seine ungemein häufig sich wie- derholende Ausdrucksweise, dass gewisse Insekten für gewisse Blumen, gewisse Blumen für gewisse Insekten vorher be- stimmt (predestinati) seien, und fragen den unbefangenen Leser, ob er derartige Aussprüche im Munde eines Forschers, der ein menschlich denkendes Wesen als Schöpfer der organischen Natur an- nimmt, anders als wörtlich nehmen würde. Delpino selbst aber hat gegen eine wört- liche Auffassung seiner derartigen Aus- drücke nachdrücklich protestirt und da- mit über seine eigentliche Naturauffas- sung eine Dunkelheit verbreitet, diegegen die in seinen Schriften niedergelegten klaren und scharfsinnigen biologischen Beobachtungen und Schlussfolgerungen einen peinlichen Gegensatz bildet und eine Aufklärung über des Verfassers eigentliche Meinungdringend wünschens- werth macht. In der. vorliegenden Rede verkündet nun Delpino, indem er die monistische (für ihn gleichbedeutend mit materia- listischer oder atomistischer) Weltan- schauung als in wissenschaftlicher, mo- ralischer und ästhetischer Beziehung höchst verwerflich hinstellt, ein eigenes »vitalistisches« Glaubensbekenntniss, das sich kurz in folgenden Sätzen zusam- menfassen lässt: In der unorganischen Welt gilt das Princip der Erhaltung der Kraft, gilt das Walten unabänderlichen ursächlichen Zusammenhanges, existirt kein Gott. Die lebende Welt dagegen ist von der unorganischen durch eine unausfüllbare Kluft getrennt; in ihr waltet Empfindung, Verstand und Wille; in ihr waltet Gott, das universelle Sensorium, der höchste Verstand, der allmächtige Wille, der erste Anreger derBewegungen des Stoffes, . der Urheber des Lebens. Alles Lebende ist wesensgleich; denn vom Menschen führen uns Abstufungen bis zu den Amöben, und die Pflanzen, auch die höchsten, sind nichts anderes als Staaten eingekapselter Amöben. Wie der Mensch müssen also alle Lebewesen Empfindung, Verstand und Willen besitzen, wofern man unter Verstand nicht den eines besonderen, hoch organisirten Thieres, sondern nur Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse versteht. Die Darwinische Theorie hat vollständig recht, indem sie Variabilität der Organismen und Ent- wickelung derselben durch Naturauslese behauptet. Aber neben den zufälligen Abänderungen, die sie allein annimmt, haben in grosser Zahl nicht zufällige sondern vernünftige, d. h. aus der Ein- sicht und dem Willen der Organismen selbst hervorgegangene Abänderungen stattgefunden, von denen Naturauslese die lebenstüchtigsten erhalten hat. Diese allein machen die Ausprägung so compli- eirter Apparate wie das Auge, das Ohr, viele Blumeneinrichtungen u. s. w. erklär- lich. Und der Wille der Lebewesen ist keinem Causalnexus unterworfen, son- dern absolut frei. Dies Delpino’s Weltanschauung, in der, wie man sieht, so entgegengesetzte Prineipien wie Darwinismus und Teleo- logie, unabänderliche Naturnothwendig- keit und absolute Willkür, Atheismus und Kirchenglaube auf das friedlichste neben einander wohnen können, die uns aber über einige Fragen, die uns neben- beidochauchein wenig interessiren, leider keinerlei Auskunft ertheilt. Wie ist es denkbar, dass der Lebensschöpfer und dass die Lebewesen als reines Empfinden, Denken und Wollen auf den vom Em- pfinden, Denken und Wollen durch eine unausfüllbare Kluft getrennten Stoff überhaupt einwirken können? Wie ist es möglich, dass derselbe Stoff gleich- zeitigunabänderlicher Naturnothwendig- keit und absoluter Willkür folgt? Wie können Lebewesen gleichzeitig 1) aus natürlichen Ursachen, 2) aus eigener 76 Einsicht und eigenem freien Willen, 3) aus Veranlassung des höchsten Ver- standes und des allmächtigen Willens variiren? Wenn das Auge aus Einsicht und Willkür variirt, sind es dann die einzelnen Amöben, oder ist es der Amö- bencomplex des Auges oder das ganze Lebewesen, oder ist es der Lebens- schöpfer selbst, der Einsicht und Will- kür bethätigt? Oder sind es alle vier in Compagnie und vielleicht ausserdem noch >»zufällige«, d. h. natürliche Ur- sachen? Wenn die Organismen aus natür- lichen Ursachen variiren und durch Naturauslese der passendsten Lebens- formen sich den veränderten Lebens- bedingungen entsprechend weiter ent- wickeln können, was bedarf es dann noch der durch nichts begründeten An- nahme, dass sie ausserdem auch noch nach eigenerEinsichtwillkürlich variiren ? Oder folgt etwa; aus der Einsicht und dem Willen des Menschen, dass er nach seiner besten Einsicht willkürlich zu variiren vermag? Wenn aber Gott den Lebewesen, trotzdem dass sie schon aus natürlichen Ursachen ihren Lebensbe- dingungen angepasst werden, zum Ueber- fluss auch noch die Fähigkeit verliehen hat, aus eigener Vernunft und Kraft ihren Bedürfnissen entsprechend will- kürlich zu variiren, was bleibt ihm dann selbst nach gethaner Schöpfung in der organischen Natur noch zu thun übrig? Warum setzt er sich nach Erschaffung des Lebens nicht auch in Bezug auf die organische Welt in Ruhe, da er sich doch, nach Delpino, in der unorga- nischen Welt mit der Anregung der Bewegungen des Stoffes begnügt hat? Wenn ferner Gott in Bezug auf die unorganische Welt nicht der Schöpfer sondern nur der Aufzieher des grossen Uhrwerks (liniziatore dei movimenti nella materia) gewesen ist, hat Jann nicht das Uhrwerk, ehe es von ihm auf- gezogen wurde, schon bestanden, ohne zu gehen? Litteratur und Kritik. Alle diese fundamentalen Wider- sprüche, die sich ins Unendliche steigern, sobald man Delpino’s Gedanken weiter in ihren Consequenzen verfolgt, lässt der- selbe vollständig unberührt. Die oben gerügte Unklarheit seiner Ausdrucks- weise, die so oft seinen trefflichsten Erörterungen sich störend beimischt, wird durch sein hier verkündetes Glau- bensbekenntniss in keiner Weise auf- gehellt. Als Grund aber, weshalb der sonst so klar denkende Forscher an den ersten Principienfragen mit geschlossenen Augen vorbei geht, können wir nur seine absolute Befangenheitin der am Schlusse seiner Rede mit Emphase verkündeten obwohl durch nichts begründeten An- sicht vermuthen, dass die monistische Weltanschauung mit Nothwendigkeitzum Atheismus, Egoismus, Socialismus und Nihilismus, zum Leugnen der Pflichten und Rechte führe. Lippstadt. Hermann Müller. OÖpfersteine Deutschlands. Eine geologisch - ethnographische Unter- suchung von Dr. H. Gruner, Lehrer der Mineralogie und Geologie in Proskau. Mit eingedruckten Holz- schnitten und vier Steintafeln. 8°, 63.8. Leipzig, 1881. Duncker und Humblot. Wohl jedermann sind die mulden- und schalenförmigen Vertiefungen an der Oberfläche von erratischen Blöcken sowohl wie anstehenden Gesteinsmassen bekannt, die in der Regel als Öpfer- schüsseln gedeutet werden, die von vorzeitlichen Völkern zum Auffangen des Blutes thierischer oder menschlicher Opfer ausgehöhlt sein sollen, aber auch zahlreichen Sagen von Fuss-, Schulter- und Gesässeindrücken übermenschlicher Wesen ihren Ursprung gegeben haben. Man nennt sie bei uns Näpfchensteine, Opfersteine, Druidensteine, Teufels- altäre, Teufelssitze und Rasirschüsseln, Hexenkessel und Waschschüsseln, im Litteratur und Kritik. Norden Elfen- oder Baldersteine, in Frankreich Pierres aA &cuelles, in England eupstones, in Indien Maha- deos. Fast überall knüpfen sich die Sagen uralter Kulte an sie, und fast nirgends zweifelt man daran, dass diese Aushöhlungen künstlich hervorge- bracht seien. Sie haben meist einen Durchmesser von 5—30 cm, aber auch von einem Meter und darüber, und sind am auffallendsten an schwer- verwitterbaren Gesteinen, wie Graniten und Porphyren, wahrscheinlich weil leichter verwitterbare Gesteine besondere Oberflächenbildungen überhaupt nicht lange bewahren. In manchen Gegenden sind sie besonders häufig, so z. B. im Fichtelgebirge, wo sich ein erheblicher Sagenkreis um sie gebildet hat, so dass einzelne Ethnologen und Kulturge- schichtsforscher, wie z. B. L. Zapf, Scherber und in neuerer Zeit W. Scherer (1874), dieses Gebirge ge- radezu als einen Mittelpunkt des Wuotan- und Hrödo-Dienstes angesehen haben. Selbst ein so ausgezeichneter Gesteins- forscher und Beobachter wie Goldfuss äusserte den zahlreichen Schalen und Becken des Fichtelgebirges gegenüber: »Ihrer Regelmässigkeit wegen können sie nicht leicht für ein blosses Natur- spiel angesehen werden und ebenso wenig möchte -Jemand zum blossen Zeitvertreib den harten Granit auf diese Weise bearbeitet haben. Wahrschein- lich haben daher diese Felsen in der Vorzeit zu einem gottesdienstlichen Ge- brauch gedient. « Der Verfasser des vorliegenden Buches hat nun ausser mannichfachen ähnlichen Aushöhlungen an erratischen Blöcken eine Anzahl dieser Vorkommnisse im Fichtelgebirge eingehend untersucht und ist zu einer Deutung derselben gekom- men, die sich näher derjenigen von Malm und der schwedischen Natur- forscher überhaupt anschliesst, welche diese Oberflächen-Aushöhlungen für na- türliche Bildungen ansehen. Zur bessern 77 Örientirung wollen wir zunächst seine Beschreibung einiger der merkwürdigsten sogenannten Opferstätten wiedergeben: »Betrachten wir zuerst den Nusshardt- rücken, auch Nusser oder Mittelstein genannt, an der Südseite des Schnee- bergs gelegen. Gewaltige Granittafel- stücke liegen hier in wilder Unordnung übereinander gestürzt umher; man er- blick# sie in den seltsamsten, gleichsam kühnsten Stellungen, so dass man jeden Augenblick ihren Fall erwarten sollte. Auf der etwas über 10 Meter hohen, nur durch eine Leiter erreichbaren höchsten Platte sind neun muldenförmig ausge- grabene Vertiefungen von verschiedener Gestalt. Dies ist, wie Zapf (Die alt- germanischen Opferaltäre und Richter- sitze im Fichtelgebirge) sagt, das »wich- tige von der Nachwelt unberührte Denk- mal heidnischen Götterdienstes.... .« Auch nach Scherer (Ueber die religiöse und ethnographische Bedeutsamkeit des Gentralstockes desFichtelgebirges. Sulz- bach 1874) soll dies »die Hauptstätte der Qualen, der Tödtung und Opferung der Gefangenen gewesen sein«. Dem nur durch besondere Hilfs- mittel zugänglichen Nusshardt zeigt sich in seiner Art ebenbürtig der sogenannte Druidenfelsen auf dem 863 Meter hohen Rudolphstein oder Rollenstein, so be- nannt nach der 857 vom Pfalzgrafen Rudolph hier erbauten und 1412 von der Stadt Eger zerstörten Burg. Hier ragt eine Anzahl höchst merkwürdiger Felsmassen bis über 30 Meter hoch und aus 5O einzelnen, 0,5 bis 1 Meter dicken Granitbänken bestehend, empor. Der »Druidensteins liegt am weitesten ost- wärts. Der Aufstieg wird in etwas durch in das Gestein gehauene Stufen erleichtert; er mag aber nur von ganz schwindelfreien Personen unternommen werden, weil der Rückweg sehr gefahr- bringend ist. Nicht fünf, wie Kadner angibt, sondern zwanzig vortrefflich erhaltene »Wannen und Richtersitze« befinden sich theils auf der obersten 78 Litteratur und Kritik. Platte, theils an vorspringenden, niedriger gelegenen Punkten. Scherer müsste demnach beigestimmt werden, wenn er im »Vichtelberge« eine Hauptkultus- stätte zur Blüthezeit des deutschen Heidenthums erblickt, wenn er hier sogar das ehemalige Centralheiligthum der Sueven vermuthet, welches Tacitus in Capitel 37 seiner Germania so erhaben beschreibt. Zu grossen Massenopfern, wie sie die Sueven dem Tiu, Eru, Eor oder blutigem Zio, auch Hrödo genannt, dargebracht haben, und bei denen, wenn sie vom Kampfe heimkehrten, Hunderte von Menschen verbluteten, müssen begreiflich auch besondere Altäre vorhanden gewesen sein, und es könnte der Rudolphstein, den Scherer Rudo- (Hrödo-) Stein nennt, wohl als Mittel- punkt derartiger Ceremonien geeignet erscheinen. Aber dennoch findet es der Verf. mit Recht unwahrscheinlich, dass die Priester auf der Nordseite des Felsens in schwindelnder Höhe, dicht am Rande des Abgrunds, staffelförmig hinter ein- ander in den sogenannten »Richtersitzen « gesessen haben sollten, um die zu ihren Füssen in den sogenannten Wannen liegenden Opfer zu schlachten. Ferner darf nicht übersehen werden, dass nicht nur an dieser, trotz neuerdings ange- brachter Stufen, schwer zugänglichen Gipfelplatte, sondern auch rings umher an den verschiedensten Punkten der beinahe senkrechten Felswände ähnliche vollkommen unzugängliche Aus- höhlungen sich finden, wo nie eines Menschen Fuss hingekommen ist oder seine Hand gearbeitet haben kann. Aehnliche »Richtersitze und Opferschüs- seln« zeigt der herrlich gelegene, mit den Resten einer Burg derer von Sparneck gekrönte Waldstein, und hier bezeichnet man an den jähen Felswänden sich findende Aushöhlungen als »Treppen- stufen«< zur Ersteigung der obersten Platte, welche indessen keine Schüsseln besitzt. Aehnliche nur mittelst Leitern und durch enge Felsklüfte zugängliche Schüsseln besitzen die Riesenpyramiden des Haberstein und Burgstein, sowie der sogenannte Brand, alle in der Nähe der durch ihre pittoreske Umgebung bekannten Luisenburg unweit Wunsiedel. Die Wahl so schwer zugänglicher Orte, die man heute kaum in eigener Person und mit allerlei künstlichen Hilfsmitteln, geschweige mit widerstrebenden Opfer- gefangenen erreichen kann, hat man mit der Bedrängniss des heidnischen Dienstes durch das aufstrebende Chri- stenthum oder besser durch eine be- sondere Vorliebe für so erhabene Opfer- plätze erklärt, und bei einzelnen dieser Opferbecken glaubt man sogar die Rinnen nachweisen zu können, durch welche das Opferblut hinabfloss. Solche Rinnen nahm aber der Verfasser nur bei fünf der zahlreichen von ihm unter- suchten und abgebildeten Opferbecken des Fichtelgebirges wahr. Er verweist nun zunächst auf die Unregelmässigkeiten sowohl im Umriss als in der Modellirung der einzelnen Vertiefungen hin. Wir entlehnen seinem Buche die hier folgenden Querschnitte einer Anzahl solcher Vertiefungen, die alle in gleichem Verhältnisse gezeichnet sind, und von denen 1, 2, 6 dem »Brand« bei der Luisenburg, 3, 10, 11 dem be- nachbarten Girgelstein, Haberstein und Burgstein, 4 und 7 dem Rudolphstein, 5 und 8 dem Nusshardt und 9 dem Waldstein angehören. Ebenso ist in kei- nem dieser Fälle eine verständliche Grup- pirung dieser Aushöhlungen, z. B. bei den neun nebeneinander befindlichen Ver- tiefungen der Nusshardtplatte, erkenn- bar. Kurz der Verfasser verwirft die Hypothese, dass es sich hier bei den zahlreichen Schüsseln und Becken des Fichtelgebirges, um künstliche Aushöh- lungen für Cultuszwecke handele, ganz und gar, und erklärt sie für Erzeug- nisse der Nätur, die theils durch Ver- witterung, theils durch fliessendes Was- ser hervorgebracht worden seien. Litteratur und Kritik. »>Durch die bei der Verwitterung thätigen Kräfte«, sagt der Verfasser, wurden die phantastisch übereinander- gestürzten, gewaltigen Felstrümmer, die wild aufgethürmten, ruinenartigen Fels- burgen, die Felsenmeere, Felsenlabyrinthe oder Teufelsmühlen, die wir so schön _ an der Luisenburg, der Platte, der Kös- sein zu bewundern Gelegenheit haben, und die alles ähnliche weit übertreffen, herbeigeführt. Nur die säculare Ver- witterung rief jene quader- oder pfeiler- förmigen, parallelepipedischen oder regel- los polyedrischen, plattenförmigen, kug- 79 ligen, schaligen, flachgewölbt kuppel-, säulen-, matratzen-, oder wollsackähn- lichen, grossen Linsen vergleichbaren Formen hervor. Sie sind nicht die Fol- gen von Zerberstungen, welche bei der Erstarrung der Granitkuppen eintraten, noch von vulkanischen Explosionen und Erdbeben, auch nicht von Glacialwir- kungen, denn man begegnet hier, wie auch im Riesengebirge, im Harz und Thüringer Walde weder erratischen Blöcken, noch Moränen, Glacialschutt- massen oder Gletscherschliffen. Nicht eine Thatsache spricht zu Gunsten ge- waltsamer Katastrophen. Die Frage, ob solche Verwitterungsprocesse Becken hervorbringen können, muss dahin be- antwortet werden, dass dies allerdings unter gewissen Umständen möglich ist. Wie oben erwähnt, besitzt der Granit im Fichtelgebirge vielfach eine schalige Struktur, welche dann erst schön her- vortritt, wenn er der Verwitterung an- heimfällt. Den kuglig schaligen und gewölbartigen Absonderungen begegnen wir unter andern an der Kössein und am Girgelstein. Würde man die ein- zelnen krummschaligen Gesteinsbänke von der Kössein z. B. abheben, so hätte man eine grosse Anzahl vortrefflicher Opferwannen, und zwar in allen mög- N, lichen Grössenverhältnissen. Solcher Na- tur ist z. B. das grosse Becken im Bischofsgrüner Revier (Fig. 2), welches nur durch Verwitterung und eigenthüm- liche Struktur entstand; es ist kein sogenannter Findling, sondern anstehen- der Granit, und bei Nachforschungen würden ähnliche Bänke gefunden werden. Scharfe Kanten und Ecken scheinen durch nachfolgende Bearbeitung erzeugt zu sein, die sogenannte Ablaufsrinne ist nicht, wie man glaubt, eingemeisselt, sondern ein einfacher Sprung. Die meisten Becken des Fichtelge- birges sind aber ausschliesslich von der mechanischen und chemischen Einwir- kung lange auf einen Fleck treffender 80 Litteratur und Kritik. Tropfen oder Wasserstrahlen, die von Platte zu Platte fielen, abzuleiten, und zwar sowohl die kleinen rundlichen »Tritte«, als die tieferen mulden-, kessel- oder bassinförmigen Aushöhlungen und die »Richtersitze«. Fallende Tropfen höhlen eben bei jahrelanger Einwirkung auch den Granit, wie wir ja bei den Häusertraufen sehen können, und dies wird um so schneller geschehen, je be- deutender die Fallhöhe des Tropfens a pn a a a RES NE _ se, 4 ner N ER Zyr Sr LAN NOS oder die Traufsteine selbst herabgleiten, wird die Erscheinung auffallend, weil man sie nicht mehr in Verbindung mit dem erzeugenden Processe sieht. Am unmittelbar verständlichsten ist die Erscheinung bei den sogenannten »Tritten«, die wie oben erwähnt, nach der gemeinen Sage, zur Ersteigung der Felsgipfel gedient haben sollen. Man begegnet ihnen entweder an der Basis oder in etwas höherem Niveau mehrerer steiler Felswände, und ihre Formen und Dimensionen zeigen grosse Mannigfaltig- keit. Geschaffen wurden sie durch das oder Strahles ist, je geschützter und windstiller der Ort ist, wo die Einwir- kung vor sich geht. Darum werden in Gesteinsspalten herabfallende Wasser- strahlen die schärfsten und tiefsten Becken ausmeisseln. Erst dadurch, dass diese Traufsteine später durch ander- weitige Vorgänge aus dem Bereiche der Traufe kommen, indem diese entweder durch Herabwitterung des gesammten höhergelegenen Theiles ganz aufhört, Spiel des von Felsabsatz zu Absatz auf- schlagenden, zum schwachen Strahle ver- "stärkten Wassers; es hiesse die Augen freiwillig besserer Erkenntniss verschlies- sen, wollte man ihnen eine andere Er- klärung unterlegen. Damit hängt die besonders häufige lemniskatenförmige, der Zahl 8 gleichende Figur dieser Traufeindrücke zusammen, indem der herabkommende Wasserstrahl je nach der Menge des zufliessenden Wassers senkrecht oder im Bogen fällt, und die Platte darnach an zwei benachbarten Stellen abwechselnd trifft. Als Beispiel Litteratur und Kritik. 81 ‚mag ein solcher im Querschnitt und in der Ansicht dargestellter Eindruck am »Thurm« des Waldsteins (Fig. 3, 4) dienen, wobei die Buchstaben sich in beiden Figuren entsprechen. Diese lem- niskatenförmigen Eindrücke gaben dann Anlass zu den weitverbreiteten Sagen NINA GERN IN \N Kl } | Fig. 5. stein auf Stubbenkammer, wo man den verrätherischen Kinderfusseindruck ne- ben der Fussspur seiner priesterlichen Mutter erblickt. Andere Entstehungsfälle solcher Becken sind die im zerklüfteten Ge- steine mit härterer Unterlage, oder die Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). über Fusseindrücke von Riesen und übermenschlichen Wesen. Mitunter ver- ändert sich die Traufstelle ein wenig, dann entstehen mehrere solcher Ein- drücke nebeneinander und geben dann zu derartigen Sagen Anlass, wie die von Kosegarten besungene vom Wunna- unter verlängerten Moostraufen, durch welche einfache, flache, muldenförmige Becken erzeugt werden, wie der Ver- fasser an einem besonders augenfälligen Beispiele von der Westseite des kleinen Habersteins (Fig. 5), bei welchem die Bildung fortdauert, nachweist. In ähn- 6 82 licher Weise (vergl. auch Fig.6)lassensich die meisten Vorkommnisse ungezwungen genug erklären, und das mit zahlreichen Textabbildungen und vier Steindruck- tafeln erläuterte Werk dürfte bei jedem ruhig prüfenden Beobachter die Ueber- zeugung zurücklassen, dass die soge- nannten ÖOpfersteine in der Mehrzahl der Fälle nicht Zeugen eines blutigen Cultus, sondern der stillen Arbeit des Wassers in der grossen Naturwerkstatt zuzuschreiben sind. Wir empfehlen die sehr klar geschriebene und auf sorg- fältigstem Studium beruhende Arbeit gleichmässig der Aufmerksamkeit der Gesteinsforscher, wie der Ethnologen. Untersuchungen über Diatomeen. Insbesondere über ihre Bewegungen und ihre vegetative Fortpflanzung. Von Ernst Hallier. Mit 2 Tafeln in Farbendruck. 12°. 328. Gera-Unterm- haus, 1880. Fr. Eugen Köhler. Aus ihren Untersuchungen über Bau und Entwickelung der Diatomeen glaub- ten bekanntlich Pfitzer und andere Botaniker schliessen zu können, dass diese sich wie gewöhnliche Zellen durch Halbirung vermehrenden einzelligen We- sen, in Folge der Starrheit ihres Kiesel- panzers einer beständigen Verkleinerung im Laufe der Generationen unterlägen, indem die ursprüngliche Panzerhälfte über die nachwachsende jüngere stets wie der Deckel einer Schachtel über- greife, so dass diese fortlaufend kleiner ausfallen müsse. Dadurch müsste natür- lich die Durchschnittsgrösse der Art nach Verlauf einer Reihe von Generatio- nen zu einem Minimum der Artgrösse hinabsinken, und es werde eine Auf- frischung derselben nöthig, die entweder dadurch erfolge, dass die Kieselzellen- hälften den Inhalt vollends heraustreten lassen, der sich dann nicht theilt, son- dern mit einer vorläufig weichen Haut umgibt, um nachwachsen zu können, oder indem zwei Kieselzellen ihren In- Litteratur und Kritik. halt vereinigen, um ein grosses Indivi- duum, eine Auxospore zu bilden. Hallier sucht nun nachzuweisen, dass die Schachtelhypothese weder bei Melosira, nock bei den schiffehenförmi- gen Diatomeen (Navicula, Frustulia, Su- rirella u. A.) zutreffend ist, dass diese Organismen sich vielmehr, wie so viele einzellige Algen durch Zweitheilung ver- mehren, ohne dass eine Schalenhälfte die andere umfasse, und so ein Herab- sinken der Grösse bedinge*. Ebenso widersprechen Hallier's Beobachtungen den Ansichten über die Bewegungen der jungen Diatomeen, die man im Ein- klange mit den Vorstellungen über die Schachtelhypothese und Starrheit des Kieselpanzers von dem Heraustreten des rotirenden Plasmas aus einem Spalt der Hauptseite abgeleitet hatte. Hallier sucht nun nachzuweisen, dass diese Starrheit des Panzers, selbst bei völlig ausgebildeten jüngeren Individuen nicht vorhanden sei, dass vielmehr schon der leise Druck, welchen das Aneinander- stossen zweier sich im Wasser begegnen- den Diatomeen, Einbiegungen der Haut- panzer veranlasst, dass diese letzteren vielmehr, erst durch Einlagerung fernerer Kieseltheile starr werden, wenn die In- dividuen sich nicht mehr bewegen. Er leitet desshalb die so mannigfachen Be- wegungen der jungen Diatomeen von einer Contractilität des Gesammtumrisses der Zellen ab, wodurch die Bewegung sich derjenigen gewisser Infusorien un- mittelbar anschliessen würde. »Dieses Resultat,« sagt der Verfasser, >»ist von Bedeutung für die Descendenzlehre, denn es zeigt, dass die Diatomeen in der That weder Thiere noch Pflanzen, oder beides zugleich sind, denn wenn ihre Ernährung, ihre Auxosporenbildung und ihre Zelltheilung sie den Conjugaten bei- * Es muss indess hier bemerkt werden, dass die Schachtelhypothese neuerdings von dem gründlichen Diatomeenkenner Grunow gegen die Angriffe Hallier’s vertheidigt wor- en ist. Litteratur und Kritik. 83 gesellen, so ist dagegen die Bewegung diejenige niederer Thiere und mit Aus- nahme der Oscillarineen, wo die Be- wegung dieselbe Ursache zu haben scheint, kommt eine derartige Eigen- bewegung der ganzen vegetativen Zell- wand im Pflanzenreiche kaum vor. .... Bezüglich ihrer Fettbildung und ihrer Bewegungserscheinungen stehen sie den Thieren näher, bezüglich der Chlorophyll- bildung und namentlich bezüglich ihrer Fortpflanzung verhalten sie sich wie Pflanzen; man darf sie daher wohl als Protisten betrachten in dem Sinne, dass bei ihnen die Aufgaben der Pflanzen- und Thierwelt sich noch nicht differenzirt haben, dass die Arbeitstheilung in dieser Richtung noch nicht vollzogen ist.« Grundzüge der Naturgeschichte der Hausthiere von Dr. Martin Wilckens, Professor an der k. k. Hochschule für Bodenkultur in Wien. 8°. 3778. Dresden, 1880.G.Schön- feld. Da sich bekanntlich unser positives Wissen über das Variationsvermögen der Thiere und Pflanzen auf das Stu- dium des Viehhofes und Gartens stützt, so hat umgekehrt das erfahrungsmässige Geschick der Züchter erst durch Dar- win’s Untersuchungen seine wissenschaft- liche Grundlage empfangen. Dies zeigt sich so recht an dem vorliegenden Buche, welches aus dem Bedürfnisse hervorge- gangen ist, für den Unterricht über Hausthierkunde einen Leitfaden zumal für Privatstudien zu haben. Im Gegen- satze zu mehreren berühmten Züchtern, wie z. B. Herrn von Nathusius, der nicht einmal die Hausthiere von wilden Formen ableiten wollte, sondern sie für: direkt erschaffen hielt, hat sich der Verfasser voll und aufrichtig auf den Boden der Entwickelungslehre gestellt, und man wird wenig Mühe haben, zu finden, wie ausserordentlich das ganze Wissensgebiet der Hausthierkunde da- "nächst durch an Klarheit sowohl wie an An- ziehungskraft gewonnen hat. Nach einer kurzen Erörterung der Begriffe Haus- thier, Rasse, Schlag, Typus u. s. w. geht er auf Abstammung und geogra- phische Verbreitung derselben’ein, und schickt sodann der speziellen Erörterung der Hausthiere par excellence, der Huf- thiere, einen ausführlichen, 36 Seiten langen Bericht über die paläontologische Entwickelung derselben voraus. Durch eine Kombination der Studien Kowa- lewskys mit den im »Kosmos« ausführ- lich mitgetheilten Studien von Marsh zeigt er, wie erst aus der paläontologi- schenGeschichte dergesammte Körperbau unddie Vorzüge dieser Thiere verständlich werden, wie Skelet, Zahnbau und Magen erst im Laufe der Zeit und durch na- türliche Zuchtwahl diejenigen Vorzüge erlangt haben, welche diese Thiere be- fähigen, uns als leicht zu züchtende Nahrungslieferanten und Zugthiere zu dienen. Ebenso wird bei den übrigen Vierfüsslern die paläontologische Ent- wicklung berücksichtigt, und bei sämmt- lichen hier behandelten Thieren, das Studienmaterial über die unmittelbare Abstammung von wildlebenden Thieren möglichst eingehend erörtert. Wir em- pfehlen das gediegene und geschmack- voll ausgestattete Werk namentlich unseren landwirthschaftlichen Lesern auf das Wärmste. Naturgeschichte des Menschen von Friedrich v. Hellwald. Illustrirt von F. Keller-Leuzinger. 8°. In 70 Lieferungen. Lief. 1—4. Stutt- gart, W. Spemann. Fast auf keinem Gebiete des Wis- sens war es dem Laien bisher schwerer, sich einen allgemeinen Ueberblick zu verschaffen, als auf dem ihn zu aller- angehenden der allgemeinen Menschen- und Völkerkunde. Zu tau- senden besitzen wir populäre astrono- mische, geologische, botanische und z00- 54 Litteratur und Kritik. logische Schriften, aber kaum ein paar Dutzend anthropologischer und ethno- logischer Werke, und unter diesen bei- nahe keines, welches eine leichtverständ- liche, anschauliche Uebersicht über das ganze weite und doch wahrlich Jeder- mann interessirende Wissensgebiet gäbe. Durch eine ganze Bibliothek von Reise- werken, geographischen, ethnologischen und anthropologischen Quellenschriften musste sich bisher Jeder durcharbeiten, der zu derjenigen Kenntniss gelangen wollte, welche ihm das vorliegende Werk bequem zu vermitteln verspricht. Hell- wald, der in beiden Hemisphären hei- mische, vielbelesene und vielgereiste, mit einer beispiellosen Arbeitskraft und Versatilität des Geistes begabte Schrift- steller ist wie vielleicht Niemand sonst in Deutschland, befähigt, uns ein solches Werk zu schenken. Er hat es nach dem Vorgange Prichard’s sehr gut »Natur- geschichte des Menschen« betitelt, und diese Naturgeschichte soll uns nicht blos den Menschen als Naturobjekt, sondern den »ganzen Menschen« mit Sprache, Lebensweise, Gesinnung, Ernährungs- weise, Sitten und Gebräuchen schildern. Er beginnt dabei mit dem auf mindester Gesittungsstufe stehenden Australier, gelangt dann im dritten und vierten Hefte zu den Bewohnern Tasmaniens und den Inseln des grossen Oceans sowie Neuguineas und gedenkt von da über Amerika und die Polarländer zur alten Welt zurückzukehren, deren Menschen natürlich im Zusammenhange behandelt werden müssen. Eine ganz besondere Anerkennung verdient, die in den er- probten Händen vonKeller-Leuzinger ruhende Illustration des Werkes. Selbst- verständlich muss bei einem solchen Werke das Anschauungsmaterial in rei- cher Fülle geboten werden, und dazu gehört, selbst wo es sich nur um die Wiedergeburt vorhandener photographi- scher Aufnahmen u. dergl. handelt, ein völkerkundiger, für die Rassenunter- schiede geschärfter Blick, wie ihn der Verfasser und Illustrator des Pracht- werkes »Vom Amazonas nach Madeira« vielfältig bewährt hat. Das ganze Unter- nehmen ist, um es mit einem Worte zu kennzeichnen,ein ethnographischesHand- buch für Jedermann, und dürfte ebenso die Reise um die Welt machen und in alle Kultursprachen übersetzt werden, wie sein Pendant: »die Erde und ihre Völ- ker«, desselben Verfassers. K. IllustrirtesPflanzenleben. Gemein- verständliche Originalabhandlungen über die interessantesten und wich- tigsten Fragen der Pflanzenkunde. Von Prof. Dr. Arnold Dodel-Port. Lief. 3. Mit einer Tafel und fünfzehn Abbildungen in Holzschnitt. Zürich. Cäsar Schmidt 1880. 48 S. Text. Da.wir schon früher auf diese Samm- lung vom entwickelungsgeschichtlichen Standpunkt verfasster botanischer Ab- handlungen empfehlend aufmerksam ge- macht haben, begnügen wir uns heut mit einem kurzen Hinweise auf diese Fort- setzung, welche den Schluss der Abhand- lung über die fleischfressenden Pflanzen enthält und uns dann die niedrigsten Stufen der geschlechtlichen Fortpflan- zung an der Kraushaaralge (Ulothrix zonata) vorführt, um dann zu einem »Blick in die untergetauchte Flora der Adria« überzugehen, der sehr lebendig geschrie- ben ist. Die zahlreichen Abbildungen sind theils in Holzschnitt, theils in Licht- druck ausgeführt und geben die präch- - tigen Zeichnungen des Verfassers zum Theil recht ansprechend wieder. Ueber das Verhältniss des skeptischen Naturalismus zur modernen Naturwissenschaft, insbesondere zur Entwickelungstheorie. Von Professor Dr. Fritz Schultze. Inhalt: IH. Deismus, Materialismus, Phaenomenalismus. — a) Theismus und Deismus. — Theistischer und deistischer Naturbegrif. — Kritik der Religion. — Wunder, Offenbarung, Weissagung. — Die „natürliche Religion“. — Baco, Hobbes, Herbert von Cherbury, Locke. — Die Deisten. — Christenthum = natürliche Religion —= Moral- philosophie. — Letzte Consequenz des Deismus. — b) Der Materialismus: Ansatzpunkte zum Materialismus in Locke (der „vereinfachte Sensualismus“ Condillac’s), in Descartes (de la Mettrie, ’'homme machine), in Spinoza, in Leibniz. — Diderot, d’Alembert, Holbach. — Systeme de la nature. Der Inhalt der materialistischen Theorie: Natur, Mensch, Religion, oral — Kritik des Materialismus: der theoretische und ethische Materialismus; der Materialismus als methodologisches Forschungsprinzip für die Naturwissen- schaften. — c) Berkeley’s Phaenomenalismus: Inhalt, kritische Bedeutung und dog- matische Wendung. — Recapitulation und Uebergang zum Skepticismus Hume's. Il. Deismus, Materialismus und Phaeno- menalismus. Aus Locke’s Sensualismus gehen im 18. Jahrhundert drei Richtungen her- vor: der Deismus, der Materialis- mus und die diesem letzteren diametral entgegengesetzte Theorie des absoluten Immaterialismus oder Phaenome- nalismus. Auf ihnen und über sie erhebt sich endlich der Skepticismus Hume’s, der alles in Frage stellt, wäh- rend die drei vorhergenannten Systeme, ebenso wie die Lehre Locke’s nur zum Theil skeptisch, zum Theil aber dog- matisch sind, insofern sie einiges be- zweifeln, einiges dagegen positiv be- haupten. Hume’s Skepticismus bildet den Uebergang zu Kant’s Kriticismus. a) Der Deismus. Der Deismus ist die nächste phi- losophische Fortentwickelung des Theis- mus und von diesem genau zu unter- scheiden. Der Theismus ist die von Augustin in classischer Weise dogma- tisch befestigte Lehre, nach welcher Gott die aus Nichts geschaffene und Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). deshalb an sich nichtige Welt in jedem Moment ihres Werdens, Wirkens und Erscheinens durch sein unaufhörliches, unmittelbares und persönliches Eingrei- fen bewahrt und erhält, wodurch allein verhindert wird, dass sie nicht augen- blicklich wieder in Nichts zurückfällt (creatio continua). Der theistische Naturbegriff, nach welcher die Natur an sich ohne jede Selbständigkeit, Kraft und Bestand ist und einzig durch Gottes Niemandem verantwortliche: und srundlose Willkür besteht, die kein Natur- gesetz anzuerkennen braucht und in je- dem Augenblick anders verfahren kann — dieser Naturbegriff, welcher in der Naturphilosophie etwa die Stellung des Absolutismus in der Politik einnimmt, kann offenbar nicht der Naturbegriff des empiristischen Naturalismus sein, welcher vielmehr eine gesetzlich ge- sicherte Constitution auch für das Reich der Natur verlangt. Der Empirismus geht deshalb hinsichtlich des Naturbe- griffs vom Theismus über zum Deismus. Auf dem Standpunkt des Deismus ist die Welt zwar von Gott geschaffen, 7 86 aber Gott ist viel zu gross und erhaben, als dass er einso unvollkommenes Kunst- werk hervorgebracht hätte, dass er es in jedem Augenblicke in seinem Gange unterstützen müsste. Im Gegentheil, er hat es so vollkommen und gesetz- mässig gestaltet und mit solchen Kräf- | ten ausgestattet, dass nun alle seine | Processe ohne des Künstlers fortgesetzte ängstliche Bemühungen nach festen Na- turgesetzen sich unwandelbar genau und pünktlich vollziehen und abwickeln. Alles geschah und geschieht von Ewig- keit her nach unabänderlichen Normen, die zwar von Gott gesetzt und bestimmt sind, in die er aber niemals abändernd oder gar aufhebend einzugreifen brauchte oder eingegriffen hätte, da der absolut vollkommene Gott ja nur das absolut Vollkommene schaffen konnte, jede Ab- änderung aber ein Beweis der Unvoll- kommenheit sein würde. Der Grundsatz des Deismus hin- sichtlich der Natur ist also der em- piristische: in der Welt herrscht ausnahmslos die Causalität der Natur- gesetze; es gibt in der Welt nichts Un-, Ausser- oder Uebernatürliches, und alles, | was unter diese Begriffe fällt, besteht nur in der Phantasie des Menschen. Von diesem Grundsatz aus gestaltet der Deismus seine Kritik der Religion. Alle Wunder sind Abweichungen vom natürgesetzlichen Geschehen, der Deist kann sie also nicht zu Recht anerken- nen. Eine übernatürliche Offenbarung, sowie ein prophetisches Schauen des Vergangenen oder Künftigen wären Wun- der, die gegen den Naturlauf verstiessen. Die »Freidenker« des Deismus merzen also nicht blos alle Wunder aus der christlichen Religion aus, sondern wol- len überhaupt von einer Begründung derselben auf Offenbarung und Pro- phetie nichts wissen. Von hier aus wendet sich ihre Kritik gegen die Bibel. Als der einzig wahre Kern aller Reli- sion bleibt nur die sog. natürliche Religion bestehen, deren Inhalt allein Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. | der natürliche Gottesglaube und die Anerkennung der in jedes Menschen Brust geschriebenen, von Vaterland und Bekenntniss unabhängigen Sittengesetze bilden. Wenn Baco die Erfahrung als die einzige Quelle und den alleinigen Mass- stab aller Erkenntniss hingestellt hatte, so musste endlich auch die Religion auf ihren Wahrheitsgehalt, d. h. Er- kenntnissgehalt, an diesem Massstabe geprüft werden. Baco’s Schüler, Hobbes, schritt in dieser Prüfung schon so weit vor, dass er jeden objectiven Wahrheits- gehalt der Religion überhaupt leugnete, die Religion als blosse Furcht vor er- dichteten, übersinnlichen Mächten de- finirte, und den Unterschied zwischen Glauben und Aberglauben allein darin fand, dass der Glaube der vom Staate anerkannte Aberglaube, der Aberglaube aber der vom Staat nicht gebilligte Glaube war. Bis zu diesem Extrem folgten ihm die Deisten nicht. Herbert von Cherbury, sein älterer Zeitgenosse, wollte vielmehr als wahren Kern der Religion den Glauben an Gott und an eine zukünftige Vergeltung stehen las- sen, woraus einerseits die Verehrung Gottes, aber nur durch Tugend und | Frömmigkeit, und andererseits die Noth- wendigkeit, sich von Sünden zu reini- Alle Specialitäten der besonderen, histo- risch gegebenen Religionen wurden je- nem wahren Inhalt der natürlichen Re- ligion gegenüber für überflüssig und falsch erklärt. Wurde nun in der Nach- folge Baco’s durch Locke die vernunft- gemässe Erkenntniss lediglich auf das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung eingeschränkt, so konnte endlich auch alles Ausser- und Uebersinnliche in der Religion nicht mehr als objectiv wahr anerkannt werden; es musste vielmehr unter dem sensualistischen Gesichts- punkt eine neue Sonderung des Rich- tigen vom Falschen vorgenommen wer- den, um den eigentlichen Grundkern gen, als religiöse Gebote hervorgingen. | Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 87 des Religiösen herauszuschälen. In die- sem Sinne hatte Locke seine Schrift »Die Vernünftigkeit des Christen- thums« (the reasonableness of christia- nity 1695) geschrieben und damit einen neuen Anstoss zur Fortbildung des Deis- mus gegeben, der nun in Männern wie Tolland, Collins und Woolston seine Kritik gegen die Wunder und Weis- sagungen sowohl der Propheten und Apostel, als auch Christi selbst richtete. In seinem Werke »Das Christen- thum ohne Wunder« (Christianity not mysterious) suchte Tolland das Chri- stenthum von all jener Mystik zu be- freien, welche gerade dem gläubigen Gemüthe stets so erquicklich war. Als eigentlicher Kern desChristenthums bleibt die Religion an sich, die menschlich- natürliche Religiosität, wie sie von Ewig- keit her auch ohne Offenbarung dem Menschen von Natur eingepflanzt war, so dass in diesem, aber auch nur in diesem Sinne Tindal in seinem Buche »Christianity as old as the creation« das Christenthum für.ebenso alt wie die Schöpfung selbst erklären konnte. Auch Christus hat nichts anderes gelehrt als den Inhalt der natürlichen Religion, und so verkündet denn, um dies darzuthun, Chubb noch einmal »das wahre Evangelium Jesu Christi« (the true gospel of Jesus Christ). Dieses wahre Evangelium besteht schliesslich nur noch in einer Anzahl von Moral- sätzen, und so ist es denn endlich »der Moralphilosoph« (the moral philosopher, wie der Titel des Morgan’- schen Buches lautet), als welcher der deistische Religiöse sich zuletzt ent- puppt, nachdem er sich aller religiösen Mystik entkleidet hat. Und so lautet denn die endgültige Gleichung des Deismus: Christenthum — natürliche Religion — Moralphilo- sophie. Die Richtung auf das Natürliche war der Grundcharakter der neueren Zeit im Vergleich zu dem des Mittel- alters. Auch auf religiösem Gebiet macht sich dieser Drang geltend; auch hier verläuft Schritt für Schritt die Ent- wickelung vom Uebernatürlichen zum Natürlichen. An Stelle der übernatür- lichen Offenbarungstheologie hatte schon Raymund von Sabunde eine natürliche Theologie gesetzt, und nachdem man — ein weiterer bedeu- tungsvoller Schritt — auch zwischen Theologie und Religion zu unterscheiden gelernt hat, ist es die nächste noth- wendige Entwickelungsstufe, dass man an Stelle der geoffenbarten Religion die natürliche Religion setzt, die aber eine angeborene Wahrheit ist. Der fernere Fortschritt kann offenbar nur darin bestehen, dass man wie alles Angeborene auch die angeborene natür- liche Religion für natürlich ent- standen und erworben erklärt, und auch ‚die Entstehung und Entwicke- lung der Religion nach Naturgesetzen historisch und psychologisch zu er- klären sich bestrebt. Das ist die Auf- gabe, an der unser Zeitalter zu ar- beiten hat. Von England, seinem Entstehungs- herde, wird der Deismus nach Frank- reich durch die beiden berühmtesten französischen Schriftsteller des 18. Jahr- hunderts, Voltaire und Rousseau, hin- übergetragen; in Deutschland vertreten und verbreiten ihn die Aufklärungs- philosophen. In Frankreich besonders, weniger in Deutschland, entsteht in seinem Gefolge der Materialismus, womit ein neues Glied in die Entwicke- lungskette des skeptischen Naturalis- mus eingefügt wird. b) Der Materialismus. Der Deismus ist offenbar eine Mittel- stufe zwischen dem Extrem des Theis- mus, wo Gott alles und die Welt so gut wie nichts ist, und dem Materialis- mus, wo die Welt alles und Gott gleich nichts ist. So vollzieht sich denn auch der Uebergang vom Deismus zum Ma- 88 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. terialismus mit Leichtigkeit. Wenn im Theismus die Natur zu verschwinden droht, so im Deismus Gott. In dem- selben Masse, als Gott nicht mehr in die Gesetzmässigkeit der Natur eingreift, erscheint diese als ein völlig Selbstän- diges und Gott als ein Ueberflüssiges. Bleibt im Pantheismus Gott immer noch ein ebenso mächtiger Factor als die Welt, so wird er dagegen im reinen Materia- lismus völlig eliminirt. Man bedarf dann dieser Hypothese nicht mehr, wie Laplace sich hinsichtlich des Gottes- begriffes Napoleon gegenüber geäussert haben soll; es bleibt nur die Natur in der Form der Materie. So entwickelte sich denn im 18. Jahr- hundert der Materialismus in Frankreich mit Nothwendigkeit aus den vorhan- denen Systemen heraus. Der Punkt, wo er in Locke ansetzen kann, liegt auf der Hand: wenn der Geist als tabula rasa von den Eindrücken der Aussen- welt vollgeschrieben wird, diese äusseren Eindrücke aber materielle Bewegungs- vorgänge sind, so muss auch der Geist materiell sein, denn auf das Immaterielle kann das Materielle nicht einwirken. Mit der Lehre von der tabula rasa wird also in Wahrheit der Geist bereits ver- stofflicht und der Anstoss zur materia- listischen Theorie gegeben, wenn auch Locke selbst die Materialität der Seele nur ganz hypothetisch hinstellte. Den Uebergang von Locke’s Sensualismus zum reinen Materialismus macht die Theorie des sogenannten vereinfach- ten Sensualismus, welche auf Grund der Locke’schen Lehren Condillac ent- wickelte. Locke hatte zwischen pri- mären und secundären Qualitäten unterschieden. Diesen Dualismus der zwei Arten Qualitäten hebt Condillac auf, indem er die secundären Qualitäten auf die primären zurückführt. Die secun- dären Qualitäten, d. h. unsere Sinnes- empfindungen, wie Wärme, Farbe u. s. w., werden in uns bewirkt durch die Ein- drücke von Seiten der materiellen Be- wegungsvorgänge ausser uns. Diese sub- jectiven Sinnesempfindungen könnten aber nicht so verschieden und mannig- faltig in uns auftreten, wenn nicht auch die sie bewirkenden äusseren Bewegungs- vorgänge selbst entsprechend verschie- den und mannigfaltig wären, d. h. wenn nicht die Dinge in sich selbst in demselben Maasse verschiedene Qua- litäten hätten, als durch dieselben in uns verschiedene Empfindungen her- vorgerufen werden. Auch die secun- dären Qualitäten sind in letzter In- stanz durch die objecetive Verschieden- heit der äusseren materiellen Dinge be- wirkt, so dass also die secundären Qualitäten zurückweisen auf ebenso viele ihnen entsprechende primäre Qualitäten der Dinge selbst. In Wahrheit gibt es also nach Condillae nur primäre Qualitäten. Diese sind materielle Be- wegungsvorgänge; dieselben wirken auf den Geist, mithin muss auch dieser materiell sein, eine Schlussfolgerung, durch welche demnach mit Nothwen- digkeit Locke’s Sensualismus vermittelst des vereinfachten Sensualismus zum Ma- terialismus hinübergeführt wird. Der Materialismus des 18. Jahr- hunderts strömt aber auch noch aus einer anderen Quelle hervor. Descartes war zwar Dualist; Seele und Körper waren bei ihm zwar entgegengesetzte Substanzen, aber beide wirkten doch auf einander ein. Ja, Descartes hatte der Seele sogar einen bestimmten Sitz im Körper angewiesen; in der sogenannten Zirbeldrüse sollte sie ihre Wohnung aufgeschlagen haben, hier die Einwirkungen der in den (als hohle Röhren gedachten) Nerven hin- und her- strömenden materiellen Lebensgeister empfangen und ihrerseits auf diese ein- wirken. Hat aber die Seele einen Sitz, so ist sie im Raume, also selbst räum- lich, und wenn sie auf die materielle Zirbeldrüse und die Lebensgeister Ein- flüsse ausübt und solche von ihnen er- fährt, so muss sie selbst materiell sein, Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 89 wie könnte sonst eine Berührung statt- finden? Ist sie aber auch nur in einem Punkte materiell, so muss sie es offen- bar in ihrem ganzen Wesen sein, sonst würde ja wieder die Einheit der Seele dualistisch zerklüftet werden. Wie auf der tabula rasa bei Locke, so nimmt auf dem Sitz der Seele bei Descartes unverdrängbar der Materialis- mus Platz, so sehr er auch als unge- betener Gast sich einstellen mag. Und wenn ferner, wie Descartes will, die Thiere ohne Seele als blosse stoff- liche Maschinen empfinden und vor- stellen, warum sollte denn der Mensch sein zwar höheres, aber im Grunde doch identisches Empfinden und Vor- stellen nicht auch ohne Seele als hlosse stoffliche Maschine verrichtenkön- nen? Auch die gerade im Interesse der immateriellen Seele erfundene Cartesia- nische Thierpsychologie wendet sich hier gegen ihren Urheber; auch sie führt dazu, dass der französische Arzt de la Mettrie, der sogenannte Hofatheist Friedrich’s des Grossen, in seinem Werke »L’homme machines den Materialismus in frivolster Weise verkündet. Sogar in den Lehren Spinoza’s und Leibniz’ liegen Anregungen zur Be- gründung des Materialismus; es scheint, als ob jetzt alles auf die Stofflehre hindrängte. Spinoza’s Formel war: Gott oder Natur. Wurde in dieser Gleichung der Gottesbegriff stärker be- tont, so stand man dem Materialismus ferner; wurde dagegen der Naturbegriff schroffer hervorgehoben, so stand man dem Materialismus schon bedenklich nahe. Und hatte nicht gerade der Spinozismus die Tendenz, den Natur- begriff dem Gottesbegriff gegenüber zu seinem Rechte zu verhelfen? War nicht in der starken Betonung der Natur der Uebergang dazu leicht ge- geben, an Stelle der Natur den blossen Stoff zu setzen? Nach Leibniz soll- ten die Monaden zwar beseelte Atome sein, aber sie waren doch Atome und als solche stofflich. Leicht konnte man die Beseelung für ein blosses Product des Stofflichen, für ein blosses Anhängsel zur Hauptsache, dem Materiellen, er- klären. Sobald man vorzugsweise ihren Charakter als Atom betonte, sprang auch aus der Monade der Materialismus hervor. Ueberall demnach zeigen sich die Keimpunkte für den Materialismus im 18. Jahrhundert, welcher, abgesehen von dem antiken Atomismus, der eigent- liche classische Materialismus genannt zu werden verdient, sind doch alle heutigen Auffrischungen des Materialis- mus nichts anderes, als höchst ober- flächliche, nur mit mehr naturwissen- schaftlichen Kenntnissen und bei eini- gen mit etwas dialektischer Methode aufgeputzte Verwässerungen jener fran- zösischen Lehren, welche in Wahrheit von der Kantischen Philosophie längst kritisch überwunden waren. Ausser den genannten Condillac und de la Mettrie stehen als Classiker des Materialismus Diderot und d’Alembert da; sei- nen vollendeten systematischen Ausdruck fand aber die Lehre in dem von einem in Paris lebenden Deutschen, dem Baron v. Holbach verfassten »Systeme de la nature«. Es gibt nur Stoff und die mit dem Stoffe naturgemäss verbundenen Be- wegungen, entwickelt das » Natursystem«. Diese Bewegungen sind rein mechani- scher Art; etwas Planvolles, nach Zwe- cken Geordnetes ist durchaus nicht in ihnen; allein der Zufall der wirkenden Ursachen beherrscht sie. Nach dem Zweck der Dinge zu fragen, ist thöricht; das richtig gestellte Problem geht nicht auf das Wozu, sondern lediglich auf das Warum und Wie. Alle Beweg- ungen in der Materie führen sich auf drei Kräfte zurück; von den Physikern werden sie als die Kraft der Träg- heit, der Anziehung und der Ab- stossung bezeichnet. Sie bewirken jegliche Veränderung und alles Werden, 90 und zwar nicht blos in der materiellen Welt, sie herrschen auch in der soge- nannten moralischen und geistigen Welt. Der Trägheitskraft in der materiellen Welt entspricht in der moralischen die Selbstliebe, die Anziehungskraft dort heisst Liebe, hier die Abstossungs- kraft Hass. Selbstliebe, Liebe und Hass, weit entfernt, geistige Qualitäten zu sein, beruhen ganz und gar auf den materiellen Bewegungsvorgängen unserer Gehirnmoleküle. Wie kommt aber der Mensch dazu, statt von der rein mechanischen Be- wegung der Gehirnmolekeln, von einem besonderen Seelischen und Geistigen zu reden, dieses für immateriell zu erklä- ren und in seine Sphäre alle Vorgänge des Wollens und Denkens hineinzuheben ? Der Grund davon ist einfach: Die Be- wegungen ausserhalb unseres Gehirnes in der Welt der Dinge nehmen wir wahr und sehen, dass sie an den Stoff ge- bunden sind; die Bewegungen unserer Gehirnmoleküle in unserem Inneren aber können wir mit unseren Sinnen nicht unmittelbar wahrnehmen, sie sind un- sichtbar. Der naive Mensch glaubt nun, dieses Unsichtbare sei überhaupt etwas ganz anderes als das Sichtbare, es sei dem ‘Sichtbaren qualitativ entgegen- gesetzt; es sei unstofflich, da jenes stoff- lich ist. Auf Grund dieses Irrthums hält sich der Mensch für ein Doppel- wesen, und doch ist alles Fühlen, Den- ken und Wollen nur verschiedenartige Bewegung unserer Gehirnmoleküle. Nur durch diese wird alles menschliche Han- | deln verursacht und geleitet; ihre Be- wegungen selbst aber finden nach festen und rein mechanischen Gesetzen statt, so dass, könnte man die Gehirnmoleküle in ihren Bewegungen genau beobachten, man nach mathematisch-mechanischen | | als barer Atheismus gänzlich. Statt Gesetzen, wie den Lauf eines Himmels- körpers, auch die Handlungen oder Un- terlassungen eines Menschen unter ge- gebenen Bedingungen genau vorauszu- berechnen vermöchte. Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. Was ist aber die Empfindung? Sie ist eine natürliche Eigenschaft des Stoffes, ohne dass es sich jedoch mit Sicherheit entscheiden liesse, ob sie aller Materie überhaupt zukommt, oder ob sie erst in der bestimmten Mischung verschiedener Stoffe entsteht. Hier wie immer ist dem Materialismus das Pro- blem der Empfindung, die Frage, wie aus der materiellen Bewegung Empfin- dung werde, gefährlich und unbequem, um so rascher geht er deshalb darüber hinweg, und behauptet nur um so nach- drücklicher, dass alles, was wir, wie Temperament, Leidenschaft, Gefühl, Ta- lent, Genie u. s. w., als geistige Kräfte bezeichnen, nur in der Verschieden- artigkeit der stofflichen Mischung seinen Grund habe. Jemanden geistig gesund machen, heisst die richtige Stoffmisch- ung wieder in ihm herstellen. Wie der Mensch sich selbst zu Seele und Körper, so verdoppelt er in Con- sequenz davon auch das All in Gott und Welt. Auch für den Körper der Welt wird nun eine lenkende Seele, die Gottheit, angenommen. Die Gottesidee ist ebenso sehr ein blosses Phantasie- gebilde wie die Seelenidee, aber eine Phantasie, die dem Menschen unendlich geschadet und gar nicht genützt hat. Gerade durch die auf dem Gottesbegriff basirende Religion ist die blutigste Zwie- tracht erzeugt, und indem der Mensch alle seine Interessen und Hoffnungen einem erdichteten Jenseits zuwendete, wurde er von der richtigen Bearbeitung und planvollen Verbesserung seiner dies- seitigen Zustände abgezogen und da- durch die Entwickelung seiner selbst und seiner Lebensverhältnisse immer und immer wieder gehemmt und geschädigt. Jeden günstigen Einfluss von Seiten der Religion leugnet also der Materialismus irgend welche religiöse Phantasieen im Menschen zu pflegen, sollte man viel- mehr seinen Egoismus in richtiger Weise wecken und zur alleinigen Richtschnur En Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 9 für sein Handeln machen; denn wer sich selbst liebt, ist um seines Vor- theils willen gezwungen, bis zu einem gewissen Grade auch auf die übrigen Menschen Rücksicht zu nehmen; er sieht bald ein, dass er allein im ver- träglichen Zusammenleben mit anderen seiner Selbstliebe die vollste Befriedig- ung gewähren kann, und wird somit durch den Egoismus von selbst dazu geführt, gut zu handeln. Eine vollständige Kritik des Ma- terialismus, die erst auf Grund der Kantischen Philosophie möglich wäre, können wir an dieser Stelle noch nicht geben; einige Hauptpunkte lassen sich indess andeutungsweise hervorheben *. Vor allen Dingen muss die Kritik genau unterscheiden 1) den theore- tischen Materialismus oder den Ma- terialismus als philosophisches System; 2)denethischen Materia- lismus als Prineip der praktischen Lebensführung und 5) den Ma- terialismus als methodologisches Forschungsprincip für die Natur- wissenschaft. — Der Materialismus als philosophisches System ist vol- ler Dogmatismus. Denn abgesehen davon, dass er die Erkennbarkeit des Weltganzen ohne weiteres als selbst- verständlich voraussetzt, so übersteigt auch der Begriff der Materie, den der Materialismus als das alleinige Grund- princip alles Seins hinstellt, jede mög- liche Erfahrung. Die Existenz der ma- terialistischen Materie kann empirisch nicht bewiesen werden. Denn unter der Materie als Grundprincip versteht der Materialismus nicht dieses Holz oder jenen Stein, nicht diesen Sauerstoff oder jenen Wasserstoff u. s. w. Alle diese wahrnehmbaren, empirischen Stoffe sind ja nur die secundären Erscheinungen des ihnen zu Grunde liegenden und sie * Eine ausführliche Kritik des Materialis- mus findet sich in meinem soeben erschie- nenen Vortrage (Leipzig, Günther’s Verlag): hervorbringenden, also primären mate- riellen Prineipes. Der Grund aller ein- zelnen Materien, die Materie an sich, ist weder Holz noch Stein u. s. w., kurz keiner der empirisch erkenn- baren Stoffe. Die Materie des Ma- terialismus ist mithin etwas empirisch absolut nicht Wahrnehmbares, vielmehr dernurhypothetisch angenom- mene Untergrund für alle Erschein- ungen der Welt. Dieses hypothetische Prineip wird gewöhnlich als eine Viel- heit von Atomen bezeichnet; die früher (Kosmos Bd. II, S. 308 ff.) gegebene Kritik des Atoms hat uns aber schon längst über seinen rein hypothetischen Charakter aufgeklärt. Wird also das Princip des Materialismus an dem allein gültigen Massstab des kritischen Em- Pirismus gemessen, so ergiebt sich, dass diese „Materie“ ein blosses Gedanken- ding, kein in der Natur irgendwo em- pirisch aufweisbares Wesen ist. Der Materialismus ist also ein Glaube an einen vorausgesetzten Urgrund der Dinge, mithin ist er Dogmatismus und seine Lehren Glaubensartikel, aber keine Wis- senssätze. Der ethische Materialismus zwei- tens tritt mit dem Anspruch auf, Prin- cip unserer Lebensführung zu sein; er will die Gesetzgebung für unser prak- tisches Handeln übernehmen: das Grund- motiv unseres Handelns, der katego- rische Imperativ für den Menschen, sagt er, soll nur die absolute Selbstsucht sein. Die Unterdrückung der Selbst- sucht, welche sonst in allen hochent- wickelten Moralsystemen als Grundprin- cip alles sittlichen Handelns hingestellt ist, wird hier als geradezu schädlich verdammt. Nun führt aber dieser ab- solute Egoismus, wie die Geschichte ganzer Völker und einzelner Individuen oft genug gezeigt hat, allemal dahin, „Die Grundgedanken des Materialismus und die Kritik derselben,“ worauf ich ver- | weise. 92 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. dass jeder schliesslich von jedem nur unter dem Gesichtspunkte des zu ver- brauchenden Genussmittels betrachtet und als solches ausgebeutet wird. Dabei entsteht naturgemäss aus dem Angriff der Beute die Wehr derselben; erbit- terter Kampf auf Tod und Leben ent- brennt, alle geordneten Verhältnisse werden untergraben, und das Ende ist entweder gegenseitige Aufreibung oder despotische Unterdrückung der Schwä- cheren von Seiten des letzten übrig bleibenden Listigsten und Stärksten. In beiden Fällen aber führt der ethische Materialismus zum Untergang jedes Ge- fühls wahrer selbstsuchtloser Nächsten- liebe, zum Schwinden jeder socialen Tugend, zur Aufhebung all der sittlichen Ideale, welche »der Menschheit Würde« bilden. Der ethische Materialismus ist also für die Praxis des Lebens der Ge- sammtheit wie des Individuums als ein rein negatives und zerstörendes Moral- prineip durchaus zu verwerfen. Ganz anders verhält es sich aber drittens mit dem Materialismus, in- sofern er methodologisches For- schungsprincip für die Natur- wissenschaft ist. Hier liegt seine ernste Bedeutung; ihn hier aufgeben, hiesse dem Simson der Naturwissenschaft die Locken beschneiden. Man verstehe jedoch recht: hier wird dem Materia- lismus weder als philosophischem Sy- stem, als ob er die theoretische Wahr- heit wäre, noch als sittlichem Prineipe, als ob seine Grundsätze unser Wollen bestimmen dürften, sondern lediglich als methodologischem Forschungs- princip der Naturwissenschaften das Wort geredet. Die Naturwissenschaften haben mit Recht die materialistische Anschauung zu ihrem Forschungsprineip erhoben, das heisst nichts anderes, als dass sie mit Recht es sich zum Gesetz gemacht haben, all ihre Forschungen nur auf die Materie und die in der- selben liegenden empirisch constatir- baren und quantitativ messbaren Be- wegungen zu beschränken. Allein aus dieser Selbstbeschränkung sind die gross- artigen Erkenntnisse der Naturwissen- schaften erwachsen. Solange sie em- pirisch umfassbare, geheimnissvolle » ver- borgene Qualitäten« als Erklärungs- principien setzten, blieben sie in allen Stücken dunkel und unsicher. Ihr Auf- schwung stammt erst von dem Augen- blick, wo sie ihr Augenmerk einzig und allein auf die mechanisch materiellen Vorgänge richteten. Den Materialismus als methodologisches Forschungsprincip verlassen, würde das Ende sicherer Na- turerkenntniss und die Wiedergeburt mittelalterlicher Mystik und Magie sein, - wie dies die spiritistischen Rückbildun- gen gewisser Forscher zur Genüge be- weisen. Der Materialismus ist noth- wendiges Instrument des Naturforschers, aber auch weiter nichts. Leugnet der Naturforscher die Existenz jeder anderen als der ihm zugänglichen materiellen Erscheinungen, so wird er damit ma- terialistischer Dogmatiker und als solcher unkritisch.. Der kritische Forscher for- mulirt seinen Grundsatz so: »Beobach- ten kann ich nur und will ich nur die materiellen Erscheinungen, welche allein erfassbar sind; über alles ausser diesen lasse ich mein Urtheil ganz dahin gestellt sein, da ich weder über Sein noch Nichtsein anderer als materieller Erscheinungen das Geringste entschei- den kann.« Einer solchen, sich kritisch begrenzenden Verwendung des materia- listischen Princips entspringt nirgendwo Gefahr, sondern überall nur der reiche Segen, den die Naturwissenschaften der Menschheit gespendet haben. Hier liegt also der wirkliche Werth des Materia- lismus; als System dagegen erscheint er oberflächlich, als Sittenprineip geradezu verwerflich. Eine unparteiische Kritik hat aber vor allem die angegebenen Unterscheidungen zu treffen. c) Der Phaenomenalismus.. Dass Locke’s Philosophie den Aus- gangspunkt für die verschiedenartigsten Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 93 Lehren bildet, deutet auf innere Wider- sprüche derselben zur Genüge hin. Sonst könnte schwerlich sowohl der Materia- lismus als auch der diesem diametral entgegengesetzte Standpunkt des Im- materialismus oder Phaenomena- lismus von hier aus seine Begründung finden. Der englische Bischof George Berkeley hat diese auch für den kri- tischen Empirismus hochwichtige Theorie ausgeführt, welche hehauptet, dass alles, was wir Materie und materielle Er- scheinungennennen, wie alle unsere Vor- stellungen überhaupt, lediglich Vor- stellungen im menschlichen Geiste seien, ohne dass ihnen irgendwelche von diesem unabhängige äussere Dinge entsprächen. Er begründet dies in so scharfsinniger Weise, dass selbst das »Systeme de la nature« ein- gesteht, es gebe nur zwei in sich con- sequente Systeme, das materialistische Holbach’s und das immaterialistische Berkeley’s. Welche wichtige Rolle der Phaenomenalismus in der Kantischen Philosophie spielt, werde hier nur an- gedeutet. Berkeley kommt zu seiner Lehre, indem er die Consequenzen des Sen- sualismus zieht. Locke hatte den Dua- lismus zwischen primären und secun- dären Qualitäten zurückgelassen. Die primären Qualitäten sollten den Dingen an sich selbst zukommen, die secun- dären nur unsere, von uns auf die Dinge fälschlich übertragenen Empfin- dungen sein. Aber offenbar können wir jene primären Qualitäten doch auch nur vorstellen und erfassen durch unser Wahrnehmungsvermögen. Die Undurch- dringlichkeit bekundet sich uns doch lediglich durch unseren Tastsinn; und wie wollen wir die geringste Vorstel- lung von der Ausdehnung und Beweg- ung gewinnen, wenn nicht durch un- seren Tast- und Gesichtssinn ? Mithin auch die primären Qualitäten kennen wir nur durch unsere Wahrnehmung, welche doch ganz und gar subjectiver Natur ist. So zeigt sich klar, dass von den primären Qualitäten dasselbe gilt wie von den secundären, d. h. dass sie nur als unsere subjectiven Vorstel- lungen existiren. Ob ihnen etwas an sich ausser uns zu Grunde liegt, können wir nicht behaupten, denn das etwa zu Grunde liegende nehmen wir niemals wahr; was wir aber wahrnehmen, ist alles ausnahmslos unsere subjective Vorstellung. So schliesst denn Berkeley kühn und entschieden: Das Sein der Dinge besteht überhaupt nur in ihrem Wahrgenommenwerden (esse — percipi), und da dies Wahrgenommen- werden lediglich in einem wahrnehmen- den Geiste stattfindet, so bestehen alle Dinge nur als Perceptionen im Geiste und haben ausserhalb desselben keine eigene Existenz. In dem »Nur« liegt hier der Fehlschluss, den wir aber an dieser Stelle noch ununtersucht lassen. Mit diesem Fehlschluss segelt nun aber Berkeley direct in das dogmatische Fahrwasser hinein. In unserem im- materiellen Geiste haben wir eigenthüm- liche Vorstellungen, welche fälschlich von uns für äussere Dinge gehalten werden, in Wahrheit aber rein inner- liche Perceptionen sind und als solche von Berkeley »Ideen« (ideas) genannt werden. Was wir Welt nennen, besteht also lediglich aus immateriellen Geistern und den in diesen befindlichen Ideen, welche wir in Selbsttäuschung für ma- terielle Dinge halten. Woher stammen aber diese »Ideen« ? Sie existiren nicht durch sich selbst; sie gehen aber auch nicht lediglich aus unserem Geiste her- vor, denn sonst tauchten sie nicht viel- fach auf und verschwänden wieder auch gegen den Willen desselben. So bleibt nur eine Annahme übrig: Eine höhere Macht lässt sie in unserem Geiste er- scheinen und verschwinden, es ist Gott, der die gesammte Bewegung unserer »Ideen« schafft und leitet. Mithin be- steht die gesammte Welt nur aus dem immateriellen Gott und den immateriel- 94 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. len -Geistern nebst den in diesen be- findlichen Ideen. Materielles giebt es überhaupt nicht; was wir so nennen, ist blosse Erscheinung, Phaenomen im Geiste; die ganze materielle Welt ledig- lich Phaenomen desselben, daher Ber- keley seinen reinen Immaterialismus auch Phaenomenalismus nennt, mit dem er sich rühmt, ein rein mo- nistisches System begründet und alle aus der Annahme eines materiellen Prineips hervorgehenden Widersprüche beseitigt, die Grundlagen des Glaubens aber neu befestigt zu haben. Erst vom Standpunkte des Kan- tischen Kriticismus aus ist es möglich, sowohl das grosse Verdienst des Ber- keleyanismus zu würdigen, als auch die Achillesferse desselben aufzuweisen. Wir sehen desshalb an dieser Stelle von einer genaueren Kritik ab, um nur durch eine recapitulirende Uebersicht über die bisher geschilderten philosophischen Be- strebungen des 18. Jahrhunderts den Uebergang zum Skepticismus David Hu- me’s zu finden. Mehrheitslehre 7/weiheitslehre Vielheitslehre Theismus Deismus Monadologie So bunt und mannigfaltig erscheint hier das Bild der Philosophie! Welcher von diesen verschiedenen Standpunkten ist denn nun der richtige? Offenbar wollen alle diese Systeme die Urcau- salität der Welt erklären und von ihrem Princip aus den causalen Zu- sammenhang des Weltganzen be- greiflich machen. In diesem Streben stimmen sie alle überein; aber sie gehen gänzlich auseinander in dem, was sie als die eigentliche causale Triebfeder des Weltwerdens ansetzen. Wo so viele einander widerstreitende Ansichten über dasselbe Problem auftauchen, kann un- möglich das Richtige schon mit Sicher- heit erkannt sein. Und doch ist bereits In zwei Formen trat uns der Dua- lismus entgegen: in der christlich- dogmatischen des Theismus und in der freidenkerischen des Deismus. Sowohl Theismus als Deismus setzen zwei Grundprincipien: Gott und Welt. An Stelle der Zweiheit von Prin- cipien erscheint in der Leibnizischen Monadenlehre eine Vielheit von Prin- cipien: wir bezeichneten daher die Mo- nadologie als individualistischen Pluralismus. Dualismus (Theismus und Deismus) und Pluralismus fassen wir jetzt unter dem Allgemeinbegriff der Mehrheitslehre (weil mehrere Prineipien gelehrt werden) zusammen. Ihr steht gegenüber die Einheits- lehre in den beiden Formen der Ein- heitlichkeitslehre (der Pantheis- mus Spinoza’s, in welchem Gott und Welt als einheitlich verbunden ge- dacht werden) und der Einzigkeits- lehre, mit den beiden Unterformen des Materialismus und des Im- materialismus (Phaenomenalismus). Im Schema: Einheitslehre Einheitlichkeitslehre Einzigkeitslehre Pantheismus Materia- Phaenome- (Spinoza) lismus nalismus eine Riesenmühe an die Aufgabe ver- wendet worden! Da liegt endlich der Zweifel nahe, ob es denn überhaupt möglich sei, das Problem zu lösen, ob die Gausalität der Dinge über- haupt erkennbar sei: Die Cau- salität selbst wird somit zum Erkenntnissproblem. Der scharf- sinnige Denker, der auf die Causalität hinsichtlich ihrer Erkennbarkeit jetzt die Untersuchung richtet, und damit den Anstoss zu Kant’s kritischen For- schungen gibt, ist David Hume, dessen Ruhm nicht höher hätte ver- kündet werden können als dadurch, dass ein Kant bekennt, von ihm aus dem dogmatischen Schlummer geweckt zusein. (Fortsetzung folgt.) Be a EEE re eng ee a Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie. Von Henry Potonie. Wenn eine gewisse Summe von That- sachen errungen worden ist, und der Forscher sich zuvörderst auf diese be- - schränkt, so besteht die nächste Thätig- keit desselben darin, dieselben zu ordnen: das Aehnliche zusammenzustellen, das Unähnliche zu sondern und die Einzel- heiten durch Gedanken, Theorieen zu verbinden. Diese Zusammenfassung des Zusammengehörigen ergiebt die Einthei- lung in Wissenschaften. — Es ist nun sofort einleuchtend, dass durch die Er- werbung neuer, bei der Eintheilung also unberücksichtigtgebliebener Thatsachen, die vorher erzielte, auf eine beschränkte Anzahl derselben begründete Einthei: lung sich vielfach als hinfällig heraus- stellen muss, dass sie also mit der Zeit einer Aenderung unterliegen wird. Es ist also zu beachten, dass solche Ein- theilungen nicht a priori gemacht wer- den können. Innerhalb der Wissen- schaften wird in gleicher Weise ver- fahren und so eine Scheidung in Disci- plinen erreicht. So gewonnene Disciplinen sind nun in der Wissenschaft von den organischen Wesen die Morphologie und die Physiologie, derenVerhältniss zu einander zu betrachten der Zweck folgender Zeilen ist. Die Anregung hierzu ist gegeben durch die Ansicht, welche in neuerer Zeit sich geltend zu machen strebt, dass es eigent- lich der morphologischen Wissenschaft nicht bedarf, was doch nur nach dem Gesagten heissen kann, dass die in der- selben verwertheten Thatsachen besser anderweitig untergebracht werden. Es soll nun auf Grund der bisher erwor- benen Kenntnisse hiermit der Versuch gemacht werden, die Lösung des Pro- hlems anzudeuten, ob die Fakta eine Scheidung in Morphologie und Physio- logie gebieten, oder ob es wirklich sich herausstellt, dass die Morphologie als besondere Wissenschaft aufzugeben ist. Die Betrachtung alles dessen, was die Wissenschaft von der organischen Natur enthält, führt bald zu der Er- kenntniss, dass auf der einen Seite eine Reihe von Thatsachen sich einzig auf das materielle Substrat, durch welches die Organismen in die Erschei- nung treten, beziehen, Thatsachen, die nur die Anordnung, die Form, die gegenseitige Lage der Theile der Lebe- wesen ausdrücken, und dass anderer- seits gewisse Erscheinungen sich einzig auf den Zweck, welchen die verschie- denen Theile der Organismen für das Individuum oder sonst wie haben, be- ziehen. In der That scheint es zuvör- derstzweckmässig, die organische Wissen- schaft in eine Lehre vom mate- riellen Substrat der Organis- 96 Henry Potonie, Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie. men: Morphologie im weitesten Sinne, zu scheiden, und in eine Lehre vom Zweck der Theile des Körpers der Lebewesen: die Physiologie. Nun muss allerdings um ein Organ physiologisch besprechen zu können, vorher eine Darlegung der physikalischen Eigenschaften desselben stattgefunden haben, und man pflegt dies die mor- phologische Betrachtung desselben zu nennen. Dass nun selbstredend solche physiologischen Erörterungen nothwen- dig vorausgehende morphologische Be- trachtungen nicht eine Wissenschaft zu bilden vermögen, liegt auf der Hand. Schon die blosse Absicht, das Organ seinem Baue nach nur desshalb kennen zu lernen, um dann seine Wirkungs- weise für das Leben zu verstehen, be- weist dies zur Genüge. Von einer sol- chen Morphologie kann also natürlich hier von vornherein nicht die Rede sein. Es ist hier Morphologie und Physiologie überhaupt gar nicht zu trennen und somit die Morphologie in diesem Sinne keine für sich bestehende Wissenschaft. Es ist daher klar, dass gewisse Funktionen nur in Verbindung mit be- stimmten Formen gedacht werden kön- nen, so dass hier die Form und die Funktion am besten zusammen betrachtet werden, und da obendrein nachgewiesen worden ist, dass in vielen Fällen, wo sonst nur die morphologische Betrach- tung Geltung besass, die betreffenden Verhältnisse einzig von der Funktion bedingt sind, so glaubte man folgern zu dürfen, dass schliesslich sich überall der Zusammenhang zwischen Form und Funktion herausstellen würde, und dass somit Morphologie und Physiologie im Grunde zusammenfallen. Es fragt sich nun: Ist diese Folge- rung richtig, oder giebt es Thatsachen, die keine physiologische Deutung zu- lassen, somit einer anderen Disciplin zuzuweisen sind? — Die befriedigende Lösung dieses Problems ist abhängig von der Wahr- scheinlichkeit, mit welcher dargethan werden kann, dass entweder alles dar- auf hinweist, dass die Form allein von der Funktion bedingt wird, oder, dass es nach dem Standpunkte unserer jetzi- gen Kenntnisse gerechtfertigt ist, ge- wissen Gestaltungen der Organismen mit überzeugender Kraft eine durchaus andere als physiologische Bedeutung beizulegen. Im letzten Falle würde eine Wissenschaft der Morphologie gesichert erscheinen, während, wenn das Problem die zuerst genannte Lösung erführe, gesagt sein würde, dass die Morpho- logie, wenigstens als besondere Wissen- schaft, keine Berechtigung habe. Uebrigens werden wahrscheinlich jederzeit gewisse Formenverhältnisse übrig bleiben, die sich einer physiolo- gischen Deutung nur wegen unserer doch immerhin lückenhaft bleibenden Kenntniss entziehen, trotzdem dieselben irgend einen uns unbekannten Zweck haben könnten. Insofern wird aller- dings immer ein Gebiet zurückbleiben, in welchem Untersuchungen, die sich allein auf die Formen richten, statt- finden; aber dieses Gebiet bildet keine Wissenschaft, da man immer an das Fehlende erinnert werden muss: es kein abgeschlossenes Ganze darstellt, welches auf bestimmten Principien ruhend, ein von Gedanken und Theorieen getragenes Gebäude sein muss, um eine Wissen- schaft genannt werden zu dürfen. Es kommt mithin darauf an, darzuthun: entweder, dass wirklich gewisse Formen- verhältnisse im weitesten Sinne keine physiologische Behandlungzulassen, d.h., dass man nach der Betrachtung der- selben vollkommene Befriedigung fühlt, da man die Gründe ihres Daseins kennt, wenigstens soweit dies, bis auf die ersten Principien der Forschung zurückgehend, möglich ist; oder es ist nachzuweisen, dass alle Formenerscheinungen noth- wendig auf eine physiologische Deutung zu harren haben. — Auf Grund unserer jetzigen Anschauungen und Erfahrungen Henry Potonie, Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie. 97 auf naturwissenschaftlichem Gebiete glaube ich, dass dieses Problem in dem ersterwähnten Sinne gelöst werden kann. Wenn wir die am wenigsten diffe- renzirten Organismen, die wir kennen, und alles was wir über dieselben wissen, ins Auge fassen, die aus einer einzigen, so einfach als möglich gestalteten Zelle bestehen, so haben wir bis jetzt noch keine Anhaltspunkte, welche uns ge- statteten, das für das Leben dieser Zellen nothwendige und nicht nothwendige, resp. nützliche und nicht nützliche zu sondern. Die Anordnung der Moleküle der Zellen ist von vornherein nur durch theoretische Betrachtungen zu muth- massen; ja die Annahme von Molekülen selbst ist eine theoretische. Hier kön- nen wir nicht an thatsächlich Gegebenes anknüpfen, wesshalb unsere Schlüsse Gefahr laufen, fehl zu treffen. Zwar begreifen wir, dass diese einfachsten Organismen z. B. sich ernähren und athmen müssen, aber ob diese Funk- tionen von bestimmten Theilen des doch wahrscheinlich sehr complicirt organi- sirten Plasmas ausgehen, oder ob jeder Theil der Zelle in gleicher Weise allen Funktionen genügt, welche letzte An- schauung den meisten Anklang gefunden hat, ist uns doch unbekannt. Es fehlt uns hier bisher noch jeder Anhaltspunkt, der uns berechtigte, bestimmte Form- erscheinungen als einzig vom Material abhängig zu erklären, welches zum Auf- bau des Körpers dient, und andere als für die Funktion nothwendig darzulegen. Nun ist es allerdings richtig, dass bei der Entstehung der ersten Lebe- wesen dieselben zur Bildung ihres Lei- bes die vorhandene Materie verwenden mussten, und dass sie, da es zum Leben gewisser Funktionen bedarf, diesen ge- gebenen Stoff so gestalteten, dass die Funktionen möglich waren. Man sieht, dass dabei die Beschaffenheit der Ma- terie selbst einen Einfluss auf die Ge- staltung des Leibes wird ausüben müssen, die also, soweit dies geschieht, von der Funktion gänzlich unabhängig ist. Die- ses durch das Wesen der Materie allein Bedingte zu erforschen, wäre nun nach dem Gesagten bereits Aufgabe der Mor- phologie. Aber, wie erwähnt, kommen wir hier doch über blosse Speculationen, die sich allein auf Annahmen und nicht auf Thatsachen stützen, nicht hinaus. Nun sehen wir schon bei den un- differenzirtesten Organismen verschie- dene Formen auftreten: die einfachen Zellen nehmen verschiedene Gestalten an; aber wodurch diese Mannigfaltig- keit bedingt wird, ist bislang noch un- entschieden. Wir wissen nicht, in wie weit diese Formabweichungen durch molekulare Verhältnisse bestimmt wer- den, oder durch geänderte Funktionen bei der Anpassung an andere Lebens- bedingungen gefordert sind. Erst bei weiter differenzirten grösseren Lebe- wesen, bei welchen sicher erkannt wer- den kann, dass bestimmten Theilen, in diesem Falle Organe genannt, auch be- stimmte Funktionen zugewiesen sind, erst hier finden wir den Ausgangspunkt für unsere Betrachtung, die doch eben das Verhältniss der Formen im wei- testen Sinne zu den Funktionen be- handeln will und daher auch erst da beginnen kann, wo überhaupt ein Zu- sammenhang zwischen Form und Funk- tion erkannt worden ist. Stellen wir uns nun vor, dass ein organisches Wesen, bei welchem eine Arbeitstheilung sicher vorliegt, sich, wie es die Descendenz-Theorie verlangt, um- gestaltet, d. h. zu neuen Arten fort- schreitet, so kann dies nur dadurch geschehen, dass die physiologischen Organe ihre Gestaltung, soweit es ohne Gefahr für die ihnen obliegende Funk- tion geschehen kann, modificiren. Nun ist es wahrscheinlich, und so nimmt es die Wissenschaft, wie schon gesagt, vorläufig auch an, dass bei den ein- fachsten Organismen alle Funktionen von allen Theilen der Zelle gleichmässig verrichtet werden, die erst später ge- 98 Henry Potoni&, Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie. sonderten Organen übertragen werden; desshalb ist es erklärlich, dass bei schon differenzirten Organismen die Zellen, welche einer bestimmten Funktion dienen, die Fähigkeit besitzen werden, mit der Zeit andere Funktionen für die ihnen augenblicklich zugewiesenen einzutau- schen, um so mehr, als sie im Urzustande genöthigt waren, alle zum Leben er- forderlichen Funktionen überhaupt zu leisten. Es könnte dies somit in ge- wissem Sinne als Rückschlag, Atavis- mus aufgefasst werden, wenigstens in den Fällen, wo nicht eine ganz neue Funktion übernommen wird. Beginnt nun ein solcher Tausch sich einzuleiten, so müssen wir annehmen, dass er für eine gewisse Gruppe von Wesen an- fängt nützlich zu werden; dabei kann nun das ursprüngliche Organ, das an seinem ursprünglichen Orte natürlich verharrt, entweder eine neue Funktion übernehmen, oder es wird ganz funk- tionslos und wird, wenn es dennoch nicht oder doch nur bis zu einem er- kennbaren Rest schwindet, einfach fort- geerbt, ohne dass es mehr als eine, höchstens ganz untergeordnete Bedeu- tung für das Leben des Organismus hätte. Dass es in der That solche nicht physiologischen Organe giebt, scheint nicht zweifelhaft: alle sogenannten ru- dimentären Organe sind hierher zu rechnen. Wahrscheinlich haben z. B. bei den höheren Pflanzen ursprünglich bestimmte Organe, die Blätter, die allei- nige Funktion gehabt, für die Gewächse zu assimiliren. Bei gewissen Pflanzen übernahmen diese Blätter oder ein Theil derselben an jeder Pflanze andere Funk- tionen, wie die Blüthenblätter; in an- deren Fällen jedoch wurde die Funk- tion der Blätter anderen Organen über- tragen, z. B. Sprossen, und zwar be- hielten entweder daneben die Blätter die ursprüngliche Funktion noch bei, oder aber sie gaben dieselbe auf und verkümmerten, wie dies z. B. Phyllo- cladus, Asparagus und andere Pflanzen zeigen. Es kann also kaum bestritten werden, dass es Wesen giebt, welche Organe besitzen, die keine physiolo- gische Bedeutung haben, also durch ihr Vorhandensein einzig Angriffspunkte für die Abstammung der Lebewesen abgeben. Diese Organe nun, die auf bestimmte Orte angewiesen bleiben, können somit nur von der Physiologie gesondert betrachtet werden, in einer Wissenschaft, die sehr zweckmässig Morphologie genannt worden ist. Diese rein morphologischen Organe werden einzig durch Vererbung erhalten, wenn sie nicht doch noch in untergeordneter Weise nützlich sind, wie z. B. die ru- dimentären Blätter, von denen ange- nommen werden könnte, dass sie für die Pflanze insofern wichtig sind, als sie in manchen Fällen wenigstens die in ihren Achseln entstehenden Spross- anlagen schützen; die physiologischen Organe hingegen sichern ihre Existenz durch Vererbung und Gebrauch. Aus dem Thierreich mag als Beispiel rudimentärer Organe das Vorkommen niemals durchbrechender Schneidezähne im Öberkiefer ungeborener Kälber die- nen. Die rein morphologischen Organe können schliesslich wegen ihrer Bedeu- tungslosigkeit — ohne Schaden also für den Organismus — gänzlich zu Grunde gehen, so dass überhaupt nur der Ort, welchen sie einnahmen, zu- nächst noch zurückbleiben wird, bis auch dieser aus gleichen Gründen in besonderen Fällen verschwinden kann. Hierauf gründet sich die Annahme fehl- geschlagener, abortirter Organe, die übrigens auch dadurch entstanden gedacht werden können, dass zwar nütz- liche, jedoch überflüssige Organe ihren Platz räumen. So ist es recht wohl möglich, dass bei einer Pflanze, die in ihren Blüthen erst viele Staubblätter besass, einige derselben aufgegeben wurden, da die Befruchtung in gleicher Weise vor- wie nachher gesichert blei- ben kann. Henry Potonie, Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie. 99 Wie schon angedeutet, ist noch eine andere Reihe von Erscheinungen mor- . phologischen Betrachtungen in dem hier geäusserten Sinne zugänglich, nämlich der Funktionswechsel der Or- gane. Sehen wir an Orten, wo wir gewohnt sind, bestimmte physiologische Organe anzutreffen, solche von unge- wöhnlicher Funktion, so liegt der Ge- danke nahe, dass hier bei der Um- formung der Arten die betreffenden Or- gane ihre Funktion geändert haben. Beispiele hierfür liefern die Ranken, die bei den Passifloren u. s. w. an Stelle von Zweigen auftreten, also morpho- logisch metamorphosirte Sprosse ge- nannt werden dürfen und die Ranken von Lathyrus Aphaca, welche die Stelle der Laubblätter einnehmen und daher als metamorphosirte Blätter gedeutet werden. Da man annehmen muss, dass die physiologischen Organe sich nach und nach gesondert haben, so ist es wohl berechtigt, hier die Entstehung der Ranken später zu setzen, als das Auftreten der assimilirenden Laubblätter, die offenbar die wichtigeren Organe sind, und daher früher vorhanden sein mussten. Wer dies nicht zugiebt, kann allerdings behaupten, dass bei den ge- nannten Gewächsen vielmehr die Blätter metamorphosirte Ranken sind; aber es müsste dann wahrscheinlich gemacht werden, dass die betreffenden Pflanzen in einem früheren Zustande an Stelle der assimilirenden Laubblätter Ranken besessen haben. Dieser letzten Annahme möchten sich jedoch viele Bedenken entgegenstellen lassen. Jedenfalls kommt esalso beisolchen Fällen immer daraufan, welche von zwei Funktionen man durch die Umstände genöthigt wird, als die frühere anzunehmen. Eine dritte Reihe von Thatsachen, nämlich die Homologieen, welche im Bau gewisser Organe verschiedener Arten sich zeigen, sind ebenfalls rein mor- phologischer Natur, da auch hier die Einsicht leicht zu gewinnen ist, dass zur Erreichung des Zweckes, welchen das betreffende Organ für den Organis- mus zu erfüllen hat, die Construction desselben auch eine andere sein könnte. Wie verschieden funktioniren nicht die Mundtheile der Insekten? — und trotz- dem welche Uebereinstimmung im Bau derselben! Ein hierher gehöriges Bei- spiel aus dem Pflanzenreich wäre die Verschiedenheit der Natur der haarigen Anhänge der Samen und Früchte zur Verbreitung derselben durch den Wind bei verschiedenen Familien. So haben die Baumwollenarten solche Anhänge an den Samen, während dieselben bei gewissen Ranunculaceen Fruchtblatt- natur besitzen und bei Gräsern die Ver- breitung durch haarige Anhänge der die Blüthe umhüllenden Blätter begün- stigt wird. — Auch die hierher gehö- rigen Erscheinungen lassen sich nur vom descendenz-theoretischen Standpunkte aus begreifen. Denn für die Thatsache, dass gerade die systematisch verwandten Organismen auf gleiche Weise verfah- ren, um gewisse Zwecke zu erreichen, oder verschieden funktionirende Organe aus gleichen Stücken, nach demselben Typus constıuiren, ist vorläufig noch kein besserer Grund angegeben worden. Auch Erscheinungen aus der Ent- wickelungsgeschichte kann eine Bedeutung für das Leben des Organis- mus nicht zugeschrieben werden, da uns bekannt ist, dass erst dasjenige, was durch die Entwickelung erreicht wer- den soll, für das Leben des Wesens von Wichtigkeit ist. Wenn wir daher sehen, dass bei verschiedenen Pflanzenarten zur Erreichung desselben genau bekannten Zieles verschiedene Wege benutzt wer- den, so müssen wir zugeben, dass un- möglich die Art und Weise der Ent- wickelung, um diesen Zweck zu er- reichen, von Bedeutung für das Leben des Organismus sein kann. Man wird doch kaum bestreiten, dass wenn z. B. bei verschiedenen Arten, um denselben Blüthenstand mit derselben Aufblüh- 100 folge zu erlangen, zwei Wege eingeschla- gen werden, der Grund dieser verschie- denen Entwickelungsweise nicht ein physiologischer sein kann. — Ein Blü- thenstand mit einer Hauptachse und vielen Nebenachsen, bei welchem die Blüthen von unten nach oben nach einander aufbrechen, kann sowohl eine Traube als auch ein Wickel sein, zwei Begriffe, die sich auf den Aufbau, die Entstehungsweise dieser Blüthenstände beziehen. — Auch hier ist wieder die verschiedene Descendenz der gedachten Arten, welche, in den Fällen wenigstens, wo nicht eine ganz neue Anpassung vorliegt, allein diese Unterschiede in der Entwickelung zu erklären vermag. Ebenso ist es mit der Verschiedenheit im Theilungsmodus der Zellen zur Dif- ferenzirung bestimmter physiologisch erkannter Organe. Die Wurzelhaube dient z. B. offenbar überall einzig dazu, die Vegetationsspitze des Wurzelkörpers zu schützen; und trotz dieser überein- stimmenden Funktion bei allen Pflanzen ist die Entstehung bei den verschiedenen Pflanzen sehr abweichend. Mit anderen Worten: Die Genesis von Organen, welche eine gleiche Funktion haben, ist häufig nicht dieselbe. Es hat also in solchen Fällen die Morphologie wie- derum eine Fülle von Thatsachen zu deuten, und zwar durch Verwerthung derselben für ein natürliches System in descendenz-theoretischem Sinne. Aus dem Gesagten geht hervor, dass wir, wie die Sache jetzt steht, berech- tiet sind, von einer praktischen und theoretischen’ Morphologie zu sprechen. Die erste behandelt solche Fälle mit, bei welchen noch nicht erkannt worden ist, ob sie in irgend einer Weise nütz- Henry Potonie, Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie. lich sind oder nicht, wie z. B. die Blattformen ; während die theoretische, d. h. wissenschaftliche Morphologie nach dieser Darstellung einzig solche Erschei- nungen einer Betrachtung unterziehen darf, für welche Gründe dafür vorliegen, dass sie in keiner Weise nützlich sind. Es ist nun keineswegs gemeint, dass alle Formerscheinungen überhaupt sich den beiden Wissenschaften der Mor- phologie und der Physiologie unter- ordnen lassen; vielmehr sind Fälle recht wohl denkbar, in denen weder eine physiologische noch eine morphologische Deutung in unserem Sinne zulässig ist, nur sind uns bis jetzt keine Beispiele bekannt, von denen dies mit Bestimmt- heit behauptet werden dürfte. Die wichtigsten Erscheinungscom- plexe, welche die theoretische Morpho- logie zu behandeln hat, sind also: Erstens die rudimentären und abortirten Organe, zweitens der Funktionswechsel der Organe, drittens die Homologieen und viertens die Entwickelungs- geschichte. Die hierher zu rechnenden That- sachen sind, wie gesagt, vorläufig nur erklärbar unter der Voraussetzung, dass die organischen Wesen blutsver- wandt sind, und fassen wir die Aufgabe der Morphologie in dem hier dargestell- ten Sinne, so müssen wir mit dem Zoolo- gen C. Gegenbaur sagen: »Die Resultate der Morpho- »logie fliessen ineine Verwandt- »schaftslehre (Genealogie) der Or- »ganismen zusammen, und diese »sfindet ihren Ausdruck durch »die Systematik (Systemkunde).« Kletterpflanzen. Eine populäre Vorlesung*® von Francis Darwin. (Mit 6 Holzschnitten.) Wohl beinahe Jeder hat, denke ich, eine allgemeine Vorstellung davon, was eine Kletterpflanze ist. Gedeihen doch sogar in der rauchigen Atmosphäre Londons zwei Vertreter der Klasse. Ein gewisses Haus des Portman Square zeigt, wie gut der wilde Wein bei uns fortkommt, und den Epheu kann man die Fenster manches Londoner Speise- zimmers umrahmen sehen. Viele andere Kletterpflanzen drängen sich ausserdem der Erinnerung auf, der Weinstock, das Gaisblatt, der Hopfen, die Zaunrübe, da sie mehr oder weniger auffallende Elemente unserer Vegetation bilden. Wenn wir untersuchen, welche Eigen- schaften diesen sonst verschiedenartigen Pflanzen gemeinsam sind, so finden wir, dass sie sämmtlich schwache und üppig wachsende Stengel besitzen, und dass sie, statt gleich andern schwachgebau- ten Pflanzen gezwungen zu sein, sich am Boden hinzuschleppen, alle befähigt sind, sich hoch über denselben zu er- heben, indem sie sich auf irgend eine *® Anm. der Red. Die obige Vorlesung wurde in einer vorjährigen Versammlung der Londoner Sunday -Lecture-Society gehalten, und dürfte unsern Lesern als Uebersicht Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). Art an benachbarten Gegenständen fest- halten. Dies kann in verschiedener Weise geschehen, durch Festkleben an einer flachen Oberfläche gleich dem Epheu, oder durch Winden um einen Stab, gleich dem Hopfen, oder vermit- telst Ranken, gleich dem Weinstock. Diese verschiedenartigen Einrich- tungen sind von mehr als einem deut- schen Naturforscher studirt worden und ebenso von meinem Vater, in dessen Buch über die »Bewegungen und Lebens- weise der kletternden Pflanzen«* sehr reichliche Details über diesen Gegen- stand zu finden sind. Die Kletterpflanzen werden zunächst grob eingetheilt in solche, welche win- den und solche, welche nicht winden; die ersteren, welche man Schling- pflanzen nennt, werden durch Hopfen und Gaisblatt und alle jene Pflanzen repräsentirt, welche an einem Stab emporklettern, indem sie sich spiralig um denselben winden. Diejenigen, welche keine Schlingpflanzen sind, gewinnen eine Stütze, indem sie irgend einen und Einführung in das betreffende, höchst anziehende Forschungsgebiet willkommen sein. # Deutsche Ausgabe von J. Vietor Carus. Stuttgart 1876. to) 102 Franeis Darwin, Kletterpflanzen. nahen Gegenstand mit verschiedenartigen | wollen uns einbilden, dass wir eine Klammer-Organen ergreifen, mögen dies nun einfache Haken, oder festhaltende Wurzeln, oder ausgebildete und empfind- liche Ranken sein, welche sich mit einer Geschwindigkeit, die mehr der Thätig- keit eines Thieres, als der einer Pflanze gleicht, eines Stabes als Stütze bemäch- tigen. Wir werden weiter unten auf diese zweite Klasse von Kletterpflanzen zurückkommen und werden dann ihre verschiedenen Arten von Klammerorga- nen betrachten. Ich wünsche jetzt nur die Wichtigkeit der Unterscheidung zwi- schen diesen beiden Arten des Kletterns hervorzuheben: bei der einen steigt die Pflanze an der Stütze empor, indem sie spiralig um sie herumwandert, bei der andeın befestigt sie sich an der Stütze, indem sie dieselbe an einer Stelle erfasst und fortfährt sie höher und höher zu umfassen, wie ihr Stamm in der Länge wächst. Ich habe den Vorsteher eines aus- wärtigen botanischen Gartens sich bitter über seine Gärtner beklagen hören, dass sie niemals den Unterschied zwischen diesen beiden Klassen von Kletterpflan- zen lernen wollten, und dass sie einigen Ranken tragenden Pflanzen blos einige kahle Stäbe geben wollten, in der Er- wartung, dass sie sich wie Hopfen um dieselben winden würden, während diese Pflanzen in Wirklichkeit eines mit Seiten- zweigen versehenen Astes bedürfen, an welchem sie in die Höhe klettern können, indem sie mit jeder ihrer zarten Ranken einen Zweig ergreifen, während sie höher und höher steigen. Diese beiden Arten von Kletterpflanzen — Schlinger und Nichtschlinger — können wir in jedem Küchengarten, wo die Feuerbohnen spi- ralig um dünne Stangen winden, und die Erbsen an ästigen, in Reihen ge- steckten Zweigen in die Höhe klettern, beobachten. Eine Hopfenpflanze wird ein gutes Beispiel von der Wachsthumsart der wahren Schlingpflanzen abgeben. Wir | junge in einem Topfe wachsende Hopfen- pflanze haben, und wollen annehmen, dass sie keinen Stab habe, um daran in die Höhe zu winden, und dass ihr Topf an irgend einem offenen Orte stehe, wo keine andere Pflanze sich befindet, mit der sie in Berührung kommen könnte. Ein langer dünner Schössling wird her- auswachsen, und, da er nicht stark ge- nug ist, sich selbst in aufrechter Stel- lung zu tragen, nach der einen Seite überhängen. Bis hierher haben wir nichts irgendwie Bemerkenswerthes an unserer Hopfenpflanze wahrgenommen, sie hat einen wuchernden Schössling ausgesandt, welcher sich verhalten hat, wie man erwarten konnte, indem er nach der einen Seite überfiel. Aber wenn wir jetzt die Pflanze genau be- wachen, werden wir eine sehr merk- würdige Erscheinung eintreten sehen. Angenommen, dass wir davon Notiz genommen haben, dass der Schössling, als er überzuneigen begann, nach dem Fenster, nehmen wir an, nach einem nördlichen Fenster gerichtet war, und dass er, wenn wir zum nächsten Male nach einigen Stunden nach ihm sehen, in den Raum hinein, d. h. nach Süden zeigte, so werden wir wiederum nach einem ferneren Zwischenraum, die merk- würdige Thatsache entdeckt haben, dass die Hopfenpflanze ein gewisses Beweg- ungsvermögen besitzt, durch welches ihr Schössling zeitweise nach der einen, und zeitweise nach einer anderen Rich- tung weist. Aber dies wäre nur eine halbe Beobachtung, und wenn wir eine genaue Untersuchung anstellen, werden wir finden, dass die Bewegung kon- stant und regelmässig ist, indem der Stengel zuerst nach Norden, dann nach Osten, Süden, Westen in regel- mässiger Folge deutet, so dass seine Spitze beständig rund herum wandert, gleich dem Zeiger einer Uhr, und bei warmem Augustwetter eine Umdrehung in zwei Stunden vollendet. Hier finden Franeis Darwin, Kletterpflanzen. wir also im Besitze der Schösslinge oO windender Pflanzen ein höchst merk- würdiges Vermögen, welches werth ist, weiter untersucht zu werden, sowohl hinsichtlich der Art, in welcher die Be- wegung hervorgebracht wird, als rück- sichtlich des Nutzens, welche sie für die Pflanze haben kann. In gärtneri- schen Zeitschriften sieht man oft Fragen darüber aufgeworfen, wie Hopfen und andere Schlingpflanzen es anfangen, stets genau in der Richtung zu wach- sen, in welcher sie eine Stütze finden werden. Diese Thatsache hat viele Beobachter in Erstaunen versetzt, welche angenommen haben, dass Kletterpflanzen irgend ein geheimes Sinnesvermögen be- sitzen, durch welches sie das Vorhan- densein einer Stütze entdecken, an wel- cher sie in der Folge emporklimmen. Aber in Wirklichkeit giebt es keinerlei Art von Geheimniss bei der Sache: der wachsende Schössling schwingt einfach rund herum, bis er einer Stütze be- gegnet und klettert dann an ihr hinauf. Nun kann ein umlaufender Schössling mehr als zwei Fuss lang sein, so dass er in seinen Kreisschwingungen durch einen in einer Entfernung von nahezu zwei Fuss in der Erde befestigten Stab aufgehalten werden kann. Dann wird ein gerades Stengelstück vorhanden sein, welches von der Wurzel der Pflanze in gerader Linie zu dem Stabe führt, um welchen sie windet, so dass ein Beobachter, welcher nichts von der Kreisbewegung wusste, entschuldigt wer- den kann, wenn er annahm, dass die Pflanze auf irgend eine Weise den Stab wahrgenommen habe, und geradenwegs zu ihm hingewachsen sei. Dieses selbe Vermögen einer langsamen Kreisschwing- ung kommt bei dem eigentlichen Akt des Windens um eine Stütze in’s Spiel. Angenommen, ich nehme ein dünnes Seil und schwinge es rings um mein Haupt: so kann das als Versinnlichung der Kreisbewegung eines jungen Hopfen- schösslings genommen werden. Wenn 103 ich ihm dann gestatte, gegen eine Stange zu schlagen, so windet sich das Ende des Seils, welches über die Stange hin- ausragte, freiwillig in einer Spirale rund um dieselbe. Und dies kann als eine rohe Darstellung der Thätigkeit einer Schlingpflanze nach ihrer Begegnung mit einem auf ihrem Wege stehenden Stabe betrachtet werden. Das heisst, der Theil des Sprösslings, welcher über den Stab hinausragt, fährt fort, sich gegen ihn zu winden, und da das Wachs- thum fortschreitet, wird das überragende Stengelstück immerfort länger und län- ger, und indem es immerfort strebt, die kreisende Bewegung weiterzuführen, gelangt es dahin, sich um den Stab zu ringeln. Aber darin liegt ein Unter- schied zwischen dem Seil und der Pflanze, dass das Seil sich in derselben Ebene, in der es geschwungen wurde, um den Stab ringelt, und nicht an dem Stab, gegen welchen es schlägt, in die Höhe windet. Obgleich die Schlingpflanze dagegen in einer ziemlich gleichförmigen Ebene rund herum schwingt, wenn sie nach einer Stütze sucht, bewahrt sie doch nicht, wenn sie um dieselbe sich ringelt, eine gleichförmige Entfernung vom Boden, sondern steigt rings herum windend wie ein Korkzieher bei jeder Windung höher und höher. Man kann eine fernere Erläuterung der Thätigkeit des Windens in dem Seil-Modell auffinden. Es ist eine Ei- genthümlichkeit der Schlingpflanzen, dass sie einzig und allein an mässig dicken Stützen emporsteigen können. Eine Feuerbohne kann an einem Stück Bindfaden oder an einem dünnen, ein bis zwei Zoll im Durchmesser haltenden Stabe emporklimmen, aber wenn sie zu irgend einem dickeren Gegenstande kommt, hört sie auf, dies zu thun. Gerade so wird das schwingende Seil, wenn es gegen einen dicken Baumstamm schlägt, ausser Stande sein, eine Wind- ung um denselben auszuführen, und wird auf die Erde fallen, ohne ihn mit 8*# 104 Franeis Darwin, Kletterpflanzen. einer einzigen Windung zu umfassen, | zwungen sein, rückwärts und vorwärts wie es bei einem dünnen Stabe thut. Die Schwierigkeit, welche eine Schling- pflanze beim Aufsteigen an einem dicken Stamm findet, wird besser verständlich werden, wenn wir zu der ursprünglichen Kreisbewegung zurückkehren, welche die Pflanze bei der Aufsuchung eines Stabes vollführt und betrachten, wie die Bewegung hervorgebracht wird. Da Pflanzen keine Muskeln besitzen, werden alle ihre Bewegungen durch ungleiches Wachsthum hervorgebracht ; das heisst, indem eine Hälfte eines Organes schneller in die Länge wächst, als die entgegengesetzte Hälfte. Nun liegt der Unterschied zwischen dem Wachsthum einer Schlingpflanze, welche nach einer Seite hinüberneigt, und einer gewöhnlichen Pflanze, welche gerade aufwärts in die Höhe wächst, darin, dass das Wachsthum in dem aufrechten Schoss auf allen Seiten in derselben Zeit nahezu gleich ist, während die Schlingpflanze stets auf der einen Seite viel schneller wächst, als auf der an- deren. Es kann vermittelst eines einfachen Modells gezeigt werden, wie ungleiches Wachsthum in umlaufende Bewegung verwandelt werden kann. Der Stengel einer jungen Hopfenpflanze werde durch eine biegsame Ruthe dargestellt, deren unteres Ende befestigt ist, während das obere sich frei bewegen lässt. Zuerst wird angenommen, die Ruthe wachse senkrecht aufwärts, aber wenn sie zu winden beginnt, fängt eine Seite an, schneller zu wachsen als alle anderen; angenommen die rechte Seite thäte das, so wird die Ruthe nach der linken Seite überneigen. Lassen wir nun die Region des schnellsten Wachsthums wechseln und die linke Seite anfangen, schneller als alle anderen zu wachsen, so wird die Ruthe gezwungen sein, rückwärts nach der rechten Seite über- zuneigen. So wird die Ruthe durch einen Wechsel des Wachsthums ge- von rechts nach links sich zu beugen. Aber stellen wir uns nun vor, dass das Wachsthum der Ruthe auf der uns zu- und der uns abgekehrten Seite in die Kombination einträte, dass, nachdem die rechte Seite für einige Zeit ‘im schnellsten Wachsthum gewesen, die uns abgekehrte Seite es aufnähme, dann würde die Ruthe sich nicht geraden- wegs rückwärts nach rechts hinüber- beugen, wie sie vorher that, sondern nach der uns zugekehrten Seite. Nun wird die alte Bewegung durch die am schnellsten wachsende linke Seite wieder- kehren, um durch das schnellste Wachs- thum der uns zugekehrten Seite gefolgt zu werden. So wird durch eine regel- mässige Folge das Wachsthum auf allen Seiten in allmähliger Folge die Kreis- schwingung, und durch eine Fortsetzung dieser Thätigkeit, wie ich auseinander- gesetzt habe, die windende Bewegung hervorgebracht. Ich habe mich ausgedrückt, als wenn die Frage, wie Pflanzen winden, ein völlig gelöstes Problem wäre, und in einem gewissen Sinne ist dies der Fall. Ich denke, dass die Erklärung, welche ich gegeben habe, die Begrün- dung der Thatsache bleiben wird. Aber es giebt da noch vieles zu erforschen. Wir wissen nicht im geringsten, warum jede einzelne Hopfenpflanze auf einem Felde wie eine links gedrehte Schraube windet, warum jede einzelne Pflanze eines Bohnenbeetes in der entgegen- gesetzten Richtung windet, noch warum in einigen seltenen Fällen eine Species gleich dem menschlichen Geschlecht in rechts- und linkshändige Individuen ge- theilt ist, indem einige wie eine links- gewundene, andere wie eine rechts- gewundene Schraube winden. Oder ferner, warum einige wenige Pflanzen den halben Weg einer Stange in der einen Richtung emporwinden, und dann die Spirale umkehren und in der ent- gegengesetzten Richtung den Weg fort- Franeis Darwin, Kletterpflanzen. 105 setzen. Noch haben wir eine Idee da- von, was diesen Wechsel des Wachs- thums verursacht, obwohl wir wissen, dass bei allen diesen Pflanzen, die Windung durch den Wechsel in der Region des schnellsten Wachsthums bewirkt wird. Es giebt da noch viel zu erforschen, und es steht zu hoffen, dass noch eine Fülle von Forschern thätig sein werden, um diese Probleme zu lösen. Oftmals wird der Schlüssel zu einem Problem gefunden, indem man auf die Ausnahmen den Blick richtet. Die Ausnahmen von den allgemeinen Regeln leiten uns oft erst dazu, die Bedeutung und den Ursprung der Regeln selbst zu verstehen, und jeder, den es verlangt, Forschungen über Kletter- pflanzen anzustellen, sollte sich zu sol- chen Ausnahmen wenden. Nun ist es eine allgemeine Regel, dass eine Schling- pflanze in derselben Richtung windet, in welcher sie umläuft. Es scheint ganz deutlich, dass wenn wir das Seil in unserm Versuch um unser Haupt in der Richtung des Uhrzeigers schwingen, dasselbe in derselben Richtung, in wel- cher es gegen den Stab schlägt, um denselben sich ringeln muss. Aber bei den Pflanzen ist das nicht allemal so. In der grossen Mehrzahl der Fälle trifft es allerdings zu, und wenn dem nicht so wäre, hätten wir das Seil zur Er- läuterung nicht brauchen können; aber es ist nicht allgemein die Regel, jedes Individuum von Hibbertia dentata win- det um seinen Stab stets in derselben Richtung, aber wenn sie die schwin- gende Bewegung im Suchen nach einer Stütze vollbringt, wandern einige Pflan- zen mit der Sonne, und andere in ent- gegengesetzter Richtung. Diese That- sache bildet eine Ausnahme von einer überraschenden Art, und solche Aus- nahmen sind eines genauen Studiums werth. Es giebt andere Thatsachen von einer verschiedenen Natur, welche zu zeigen scheinen, wie schwierig das Pro- blem ist, und wie äusserst fein im Gleichgewicht jener Theil der Pflanzen- Organisation ist, welcher mit dem Be- wegungsvermögen in Verbindung steht. Wenn wir z. B. einen Zweig von den meisten Strauchgewächsen abschneiden und in Wasser setzen, so schreitet er anscheinend im Wachsthum so gesund wie immer fort. In der That zeigt uns die Praxis der Pflanzenzucht aus Setzlin- gen — wobei ein abgeschnittener Zweig oder Schoss Wurzeln bildet und sich in eine neue Pflanze umwandelt, dass dabei keine ernstere Schädigung statt- findet. Aber die Organisation der Schlingpflanzen ist für solche Behand- lung empfindlich. Ein abgeschnittener und in Wasser gestellter Hopfenzweig vollendete, wie beobachtet wurde, seine Kreisbewegung in ungefähr zwanzig Stunden, während er in seiner natür- lichen Lage (d. h. an der Mutterpflanze sitzend) einen vollständigen Umlauf in zwei oder drei Stunden vollführt. Wenn ferner eine in einem Topfe wachsende Pflanze von einem Gewächshaus nach einem andern gebracht wird, ist die so hervorgebrachte leichte Erschütterung hinreichend, die umlaufende Bewegung für einige Zeit aufzuhalten, — ein an- derer Beweis für die Feinheit der in- neren Maschinerie der Pflanzen. Einige Probleme, wie z. B. weshalb Schlingpflanzen in der Regel keine dickern Stämme erklimmen können, müssen von dem Gesichtspunkte der Na- turgeschichte betrachtet werden. Die meisten unserer Schlingpflanzen sterben im Winter ab, so dass sie, wenn sie fähig wären, um dicke Baumstämme zu winden, die ganze kostbare Som- merwitterung vergeuden würden, um wenige Fuss emporzuklimmen, während derselbe Aufwand von Längenwachs- thum, auf das Emporwinden um eine dünne Stütze verwendet, hingereicht haben würde, sie zu dem Lichte em- porzuheben , nach welchem sie stre- ben. Und da eine Pflanze keine Wahl 106 ausübt, bis sie gegen einen Gegenstand stösst, an welchem sie dann empor zu win- den versuchen wird, so scheint es, als ob die Unfähigkeit, um dicke Stämme zu winden, einer Pflanze von einem positiven Vortheil sein müsse, indem sie dadurch gezwungen wird, an solchen Gegenständen emporzuklimmen, wo es sich der Mühe verlohnt. In der von meinem Vater in sei- nem Buche vorgeschlagenen Eintheilung der Kletterpflanzen, macht er eine Un- terabtheilung der »Hakenkletterer«. Dieselben können als die einfachsten Vertreter jener Abtheilung der Kletter- pflanzen, welche keine Schlingpflanzen sind, betrachtet werden. Der gemeine Brombeerstrauch klettert oder klimmt durch dichtes Unterholz aufwärts, in- dem er durch die rückwärts gekrümm- ten Dornen unterstützt wird, welche dem rapid wachsenden Schössling ge- statten, aufwärts zu kriechen, wie er sich verlängert, aber ihn vor dem Wie- derabwärtsgleiten bewahren. Das ge- meine Gänsegras (Galium Aparine) klet- tert ebenfalls auf diesem Wege, indem es gleich einer Klette an der Seite eines Heckenzaunes festklebt, auf welchem es klettert. Die meisten auf dem Lande Aufgewachsenen werden sich erinnern, von dieser klettenartigen Beschaffenheit des Galium Vortheil gezogen zu haben, indem sie nachgemachte Vogelnester daraus verfertigten, da die dornigen Stengel leicht in der gewünschten Form aneinanderhaften. Solche Pflanzen wie die Brombeere oder Galium weisen nichts* von der umschwingenden Be- wegung auf, welche ich bei den Schling- pflanzen beschrieben habe: sie wachsen einfach gerade in die Höhe, indem sie auf ihre Haken vertrauen, um die ge- wonnene Stellung zu behaupten. * D. h. die allgemeine Cireumnutations- Bewegung ist nicht hinreichend entwickelt, um von einer praktischen Wichtigkeit zu sein; dieselbe Bemerkung ist auf die andern sondern blos rund herumläuft, Franeis Darwin, Kletterpflanzen. Bei einigen Arten von Ülematis treffen wir einen Mechanismus, welcher an den eines einfachen Hakenkletterers erinnert, aber in Wirklichkeit eine viel bessere Einrichtung darstellt. Die jungen aus- wärts und ein wenig abwärts aus dem Stengel hervortretenden Blätter können uns an die gekrümmten Dornen einer Brombeere erinnern, und gleich ihnen bleiben sie leicht an benachbarten Ge- genständen hängen und unterstützen den langgedehnten Stamm. Das in Figur 1 abgebildete Blatt einer Clematis kann als Beispiel eines gleich einem Haken gebogenen Blattes dienen. Der Hauptstiel des (zusammengesetzten) Blattes biegt sich, wie man sieht, .an den aufeinanderfolgenden Punkten, wo Blättchenpaare befestigt sind, winklig nach rückwärts, und das Blättchen am Ende des Blattes ist rechtwinklig nach unten gebogen und bildet so einen Anker-Apparat. Die Waldrebe vertraut nicht, gleich der Brombeere, auf ihr Wachsthum allein, um sich im Busch- dickichtfortzuhelfen, sondern besitzt das- selbe Umlaufsvermögen zur Aufsuchung einer Stütze, welches einfachen, oder ech- ten Schlingpflanzen eigen ist. In der That sind gewisse Clematis-Arten wirkliche Schlingpflanzen und können an einem in ihren Weg gestellten Stab spiralig empor- winden. Und dieselbe umlaufende Beweg- ung, welche sie so befähigt, spiralig zu winden, hilft ihnen auch irgend einen An- haltsort für ihre Haken- oder Anker- gleichen Blätter zu suchen und bei vielen Arten wird die Suche befördert durch die Rundschwingung der Blätter, welche ganz unabhängig von der umlaufenden Bewegung der Stengel, auf dem sie ge- wachsen sind, stattfindet. Wenn einem Blatte einer Olematis auf irgend eine Weise geglückt ist, sich an einem benachbarten Gegenstande Fälle anzuwenden, in denen ich von der Ab- wesenheit von revolvirender Bewegung in den wachsenden Pflanzentheilen gesprochen habe. Franeis Darwin, Kletterpflanzen. festzuhaken, so kommt die für die Blattkletterer im Besonderen cha- rakteristische Eigenschaft in’s Spiel. Der Blattstiel rollt sich gegen den ihn berührenden Gegenstand zusammen und umfasst ihn fest. Es ist klar, wie gross Fig. 1. Fig. 1. Fig. 2. umfassenden Stellen verdickt. obgleich es für sich, wenn auch an dem Orte festgehalten, keineswegs das Ge- wicht der Pflanze zu tragen vermöchte, und der Losreissung durch einen star- ken Wind oder durch eine andere Stör- ung ausgesetzt sein würde. Aber wenn der Blattstiel sich rund und eng um den Zweig gerollt hat, kann ihn nichts aus seiner Stellung bringen, und er kann seine Aufgabe bei der Stützung der Pflanze erfüllen. Die äusserste Empfindlichkeit des Blattstiels gegen leichte und zarte Be- rührungen, giebt eine merkwürdige Idee von der Lebendigkeit, mit welcher die Pflanze ihre Stützen aufsucht. Ein Blatt kann durch eine Fadenschleife, die nur ein !/ıs Gran wiegt, veranlasst werden, sich zu krümmen. Es ist eine interessante Thatsache, dass bei solch einem hakenförmigen Blatt wie das von Clematis viticella (Fig. 1) das haken- förmige Endglied des Blattes, welches Junges Blatt von Clematis viticella. Clematis glandulosa. Mit zwei jungen, zwei Zweige umfassenden Blättern; die (Aus demselben Werke.) 107 der so über einen blossen Haken ge- wonnene Vortheil ist. Auf solche Weise kann ein Blatt, wie in Figur 2 ab- ee geeignet sein, einen benach- arten Zweig mi seines i weig mittelst seines gebogenen Stiels in solcher Weise festzuhaken, Fig. 2. (Aus Ch. Darwin’s Kletterpflanzen.) die meiste Aussicht hat, mit Hinder- nissen in Berührung zu kommen, der am meisten empfindliche Theil ist. Dies ist dadurch festgestellt worden, dass kleine Gewichte über verschiedene Theile des Blattes gehängt wurden, und es ergab sich, dass das Endblättchen sich in wenigen Stunden krümmt, nachdem eine Fadenschleife, die weniger als ein Gran wiegt, darüber gehängt ist, wäh- rend dieselbe auf die Stiele der andern Blättchen in vierundzwanzig Stunden keine Wirkung hervorbrachte. Man kann leicht Proben von der Empfind- lichkeit der Blattstiele der wilden eng- lischen Clematis-Art auffinden, welche mitunter verwelkte Blätter oder feine Stengel des Zittergrases einfangen. Dieselbe Thatsache wird durch ein Blatt, welches mit ein wenig Wasserfarbe be- tupft wird, dargelegt, indem die zarte Kruste der eingetrockneten Farbe miss- verständlich für irgend einen die Pflanze Francis Darwin, 108 berührenden Gegenstand genommen wird. | In solchen Fällen, oder wenn das Blatt | blos mit einem vor dem Ergreifen weg- genommenen Zweige gerieben worden ist, entdeckt die Pflanze, dass sie ge- täuscht worden ist, und das einige Zeit gekrümmte Blatt krümmt sich zurück, und wird wieder gerade. Die Krümmung, welche ein Blatt befähigt, einen Zweig zu ergreifen, ist aber nicht der einzige Wechsel, welchen der Reiz einer Berührung hervorruft. Der Blattstiel schwillt an, wird dicker und holziger und verwandelt sich in eine starke, ausdauernde Stütze der Pflanze. Die Verdickung der Blattstiele ist in Figur 2 erläutert, welche einen Clematis-Spross darstellt, der zwei Blät- ter trägt, von denen jedes einen Zweig ergriffen hat; in einem der Blattstiele hat die Verdickung begonnen und ist sehr auffallend. Die verdickten und holzigen Blattstiele überdauern den Winter, nachdem der Blatttheil abge- fallen ist, und in diesem Zustande sind sie wirklichen Ranken auffallend ähnlich. Die Gattung Tropaeolum, deren kul- tivirte Arten (in England) häufig Na- sturtiums genannt werden, enthält eben- falls viele Blattkletterer, welche gleich Clematis emporklimmen, indem sie in der Nähe befindliche Gegenstände mit ihren Blattstielen ergreifen. Bei einigen Tropaeolum-Arten finden wir Kletterorgane entwickelt, welche logisch nicht von Ranken unterschieden werden können; sie bestehen aus klei- nen Fäden, die nicht grün wie ein Blatt, sondern gefärbt, wie der Stengel sind. Ihre Spitzen sind ein wenig ver- breitert und gefurcht, aber entwickeln sich niemals zu Blättern, und diese Filamente sind gegen Berührung em- pfindlich, und krümmen sich gegen einen sie berührenden Gegenstand, den sie fest umspannen. Fadenförmige Organe dieser Art werden von der jungen Pflanze erzeugt, aber sie bringt in der Folge Filamente mit leicht verbreiterten En- Kletterpflanzen. den, dann mit rudimentären oder zwerg- haften Blättern, und endlich mit völlig ausgewachsenen Blättern hervor; wenn diese entwickelt sind, umklammern sie mit ihren Blattstielen, und dann welken die erst entstandenen Filamente und ' sterben ab; so entwickelt sich die Pflanze, welche in ihrer Jugend ein Ranken- ' kletterer war, allmählig zu einem wah- ren Blattkletterer. Während des Ueber- ganges kann jede Abstufung zwischen einem Blatt und einer Ranke an ein und derselben Pflanze beobachtet werden. Es ist nicht immer der Stiel eines Blattes, welcher in das umklammernde Organ verwandelt worden ist; das in Figur 3 abgebildete Bignonienblatt trägt Ranken an seiner freien Extremität. Und bei anderen Pflanzen werden die Ranken von Blumenstielen gebildet, deren Blumen unentwickelt geblieben sind, oder eskann auch der ganze Pflan- zenstengel, oder ein einzelner Zweig in eine Ranke verwandelt worden sein. In einem seltsamen Falle von mon- ströser Bildung, wuchs bei einer Kürbis- Art, ein Theil, der eigentlich ein Dorn hätte werden müssen, zu einer langen gerollten Ranke aus. Die Familie der Bignoniaceen ist eine der interessantesten aus der Ab- theilung der Rankenkletterer in Anbe- tracht der Anpassungs-Verschiedenhei- ten, welche bei ihren Arten angetroffen werde. In der obenerwähnten Figur 3 Blatt einer unbekannten Bignonien - Species von Kew. (Ch. Darwin’s Kletterpflanzen.) Franeis Darwin, Kletterpflanzen. ist das Ranken tragende Blatt einer Bignonien-Art dargestellt. Das Blatt trägt ein Blätterpaar und endigt in eine Ranke mit drei Zweigen. Die Hauptranke kann einem Vogelfuss mit drei Zehen verglichen werden, von denen jede eine kleine Kralle trägt. Und dieser Vergleich erscheint passend genug, denn wenn die Ranke gegen einen Zweig trifft, krallen die drei Zehen, wie die eines sich darauf stellenden Vogels um ihn zusammen. Ausser den Zehen oder Ranken ist auch der Blattstiel empfind- lich, und wirkt wie der eines regulären Blattkletterers, indem er sich um einen benachbarten Gegenstand rund zusam- menrollt. In einigen Fällen haben die jungen Blätter keine Ranken an ihren Spitzen, und dies ist genau die Umkehrung des oben erwähnten Falls bei Tropaeolum — ein Rankenklimmer, dessen junge Blätter keine Ranken aufweisen, anstatt eines Blattklimmers, dessen Kletter- organe keine Blätter sind. Dadurch wird die nahe Verwandtschaft, welche zwischen Blatt- und Rankenklimmern existirt, wiederum veranschaulicht. Dieselbe Pflanze vereinigt damit auch die Eigenschaften einer andern Klasse von Kletterpflanzen, nämlich der Schlingpflanzen, denn sie kann so gut wie Hopfen oder eine andere echte Schlingpflanze spiralig um eine Stütze emporwinden. Eine andere Art, D. Twee- dyana, nimmt ausserdem Wurzeln, die sie aus den Stengeln hervortreibt, und welche an dem Stamm festhaften, an welchem die Pflanze klettert, für ihre Unterstützung zu Hilfe, so dass hier vier verschiedene Methoden des Klet- terns, mittelst Windung, Blatt-, Ranken- und Wurzelbefestigung, welche gewöhn- lich für verschiedene Klassen klettern- der Pflanzen charakteristisch sind, in einer einzigen Species vereinigt er- scheinen. Unter den Bignonien werden Ranken mit verschiedenen seltsamen Arten von 109 Empfindlichkeit angetroffen. Die Ranken einer Art zeigen das Vermögen des Wachsthums vom Lichte weg nach der Dunkelheit, also gerade das Gegentheil von der Gewohnheit der meisten Pflan- zen in der höchsten Vollendung. Eine in einem Topfe wachsende Pflanze wurde so gestellt, dass das Licht von einer Seite darauf fiel. Eine Ranke, die von dem Lichte weg gerichtet war, bewegte sich nicht, aber die entgegengesetzte Ranke, welche gegen das Licht zeigte, bog rechts herum, und stellte sich zu der ersteren Ranke parallel. Der Topf wurde nun rund herum gedreht, so dass beide nach dem Lichte zeigten, und sie bewegten sich beide nach der an- deren Seite herüber, und zeigten vom Lichte weg. In einem andern Falle, in welchem eine Pflanze mit sechs Ranken in eine auf einer Seite offene Büchse gestellt worden war, zeigten alle sechs Ranken, wie ebenso viele Wetterhähne im Winde — sämmtlich genau nach der dunkelsten Ecke der Büchse. Diese Ranken zeigten auch ein merkwürdiges Wahlvermögen. Als es sich ergeben hatte, dass sie die Dunkelheit dem Lichte vorzogen, wurde versucht, ob sie eine geschwärzte Glas- röhre oder eine geschwärzte Zinkplatte ergreifen würden. Die Ranken rollten sich um beide Gegenstände zusammen, entfernten sich aber bald wieder und wanden sich auf, mit einem Verhalten, welches man, wie mein Vater sagt, nur als Ekel bezeichnen kann. Ein Pfosten mit sehr rauher Borke wurde dann in ihre Nähe gebracht, zweimal berührten sie dieselbe für ein bis zwei Stunden, und zweimal zogen sie sich wieder zu- rück; aber zuletzt gewann eine der hakenförmig gekrümmten Ranken Halt auf einem kleinen hervorragenden Punkt der Borke; und nun hatte er gefunden, was er brauchte. Die andern Zweige der Ranke folgten ihm schnell, indem sie sich ausbreiteten, sich allen Uneben- heiten der Oberfläche anpassten, und 110 in alle die kleinen Risse und Höhlun- gen der Borke hineinkrochen. Endlich fand ein bemerkenswerther Wechsel in den Ranken statt: die Spitzen, welche in die Spalten hineingekrochen waren, schwollen zu kleinen Knöpfchen an und sonderten schliesslich einen klebrigen Kitt aus, durch welchen sie in ihren Verstecken festgeklebt wurden. Dieses Mittel, anhängende Scheiben an seinen Ranken zu bilden, werden wir bei dem wilden Wein als dessen einzige Methode sich zu stützen, finden, und es bildet das fünfte Hilfsmittel zum Klettern, welches man unter den Bi- gnonien antrifft. Wir erkennen nun- mehr den Zweck des den Ranken eigen- thümlichen Vermögens, sich nach der Dunkelheit hinzubewegen, denn auf diesem Wege sind sie im Stande, die Stämme der Bäume, an welchen sie sich dann befestigen, aufzufinden und zu erreichen. Es scheint indessen, als ob die Ranken speziell für mit Moos oder Flechten bedeckte Bäume angepasst seien, denn die Ranken werden am mei- sten durch Wolle, Flachs oder Moos gereizt, deren Fasern sie in kleinen Bündeln erfassen können. Der. An- schwellungs-Process ist so fein, dass wenn zwei oder drei feine Fasern am Ende einer Ranke bleiben, die Anschwel- lung in Leisten, dünner wie ein Haar, zwischen denselben hervortritt und end- lich die Fasern einhüllt. Dies geht so fort, dass der Ballen am Ende einer Ranke fünfzig bis sechszig Fasern in sich eingebettet haben kann, die ein- ander in verschiedenen Richtungen kreuzen. Die Ranken des wilden Weins dürf- ten hier einer Erwähnung werth sein. Diese Pflanze kann an einer ebenen Wand emporklimmen und ist nicht dazu angepasst, Stäbe oder Zweige zu er- greifen; ihre Ranken rollen gelegentlich um einen Stab, aber häufig lassen sie ihn wieder los. Sie sind gleich den Bignonia-Ranken empfindlich für das Franeis Darwin, Kletterpflanzen. Licht und wachsen von ihm weg, auf diese Weise leicht herausfindend, wo die Wand liegt, auf welcher sie heran- zuklimmen haben. Eine Ranke, welche die Wand erreicht hat, sieht man oft sich erheben und abermals herabkom- men, als wenn sie von ihrer ersten Stellung nicht befriedigt wäre. Wenige Tage, nachdem eine Ranke eine Wand berührt hat, schwillt die Spitze an, wird roth, und bildet einen der kleinen Füsse oder Klebepolster, mittelst wel- cher die Ranken festhängen und welche in Figur 5 dargestellt sind. Die An- klebung wird vermittelst eines von den Polstern ausgesonderten harzigen Kittes bewirkt, welcher ein starkes Vereinig- ungsband zwischen der Wand und der Ranke bildet. Nachdem die Ranke be- festigt ist, wird sie holzig, und ist in diesem Zustande merkwürdig dauerhaft, so dass sie fest und völlig kräftig für mehr als fünfzehn Jahre befestigt blei- ben kann. Ausser diesem Tastsinn, durch wel- chen eine Bignonia-Ranke zwischen den Gegenständen, welche sie berührt, un- terscheidet, giebt es noch weitere Bei- spiele von viel vollkommenerer und un- begreiflicherer Empfindlichkeit. So neh- men einige Ranken, welche so empfind- lich sind, dass sie sich aufwärts krümmen, wenn ein Gewicht von !/so oder gar !/;o Gran auf sie gelegt wird, nicht die mindeste Notiz von einem Regen- schauer, dessen fallende Tropfen den Ranken einen viel grösseren Stoss ver- setzen müssen. Ferner scheinen einige Ranken das Vermögen zu besitzen, zwi- schen den Gegenständen zu unterschei- den, welche sie zu ergreifen wünschen, und ihren Schwester-Ranken, welche sie nicht zu fangen beabsichtigen. Eine Ranke kann wiederholt über eine an- dere gezogen werden, ohne die letztere zu veranlassen, sich zusammenzuziehen. Die Ranken eines andern ausgezeich- neten Kletterstrauchs: Cobaea scandens besitzen einige merkwürdige Eigenthüm- | Franeis Darwin, Kletterpflanzen. lichkeiten. Die Ranken sind vielfach getheilt und endigen in feine Zweig- lein, so dünn wie Borsten und sehr biegsam, von denen jede einen winzigen doppelten Haken an seinem Ende trägt. Diese sind von einer harten, holzigen Substanz gebildet, und so scharf wie Nadeln; eine einzige Ranke kann zwi- schen neunzig und hundert dieser wun- derschönen kleinen Enterhaken tragen. Die Biegsamkeit der Ranken ist von Nutzen, indem er ihnen gestattet, durch einen leisen Windhauch bewegt zu werden, und sie können so veranlasst werden, Gegenstände festzuhalten, wel- che ausser dem Bereich ihrer gewöhn- lichen revolvirenden Bewegungen be- findlich sind. Viele Ranken können einen Stab einzig dadurch ergreifen, dass sie sich um ihn herumrollen, und dazu sind selbst bei den am meisten empfindlichen Ranken ein bis zwei Mi- nuten erforderlich, aber bei Oobaea hal- ten die scharfen Haken an kleinen Un- regelmässigkeiten der Rinde in dem Moment fest, in welchem die Ranke mit ihr in Berührung kommt, und nach- her kann die Ranke rund herumrollen und die Befestigung dauernd machen. Die Wichtigkeit dieses Vermögens tem- porärer Befestigung zeigt sich, wenn man einen Glasstab in die Nähe einer Cobaea-Pflanze stellt. Unter diesen Um- ständen verfehlen die Ranken stets Halt an dem Glase zu gewinnen, welches ihre ankerähnlichen Haken nicht er- greifen können. ‚. Die Bewegung der kleinen Haken tragenden Zweige ist bei dieser Species sehr merkwürdig. Wenn eine Ranke einen Gegenstand mit ein oder zwei Haken erfasst, ist sie nicht befriedigt, sondern versucht, den Rest derselben auf demselben Wege zu befestigen. Nun werden viele von den Zweigen zu einer solchen Stellung gelangt sein, dass ihre Haken naturgemäss nicht eingreifen können, entweder weil sie seitlich zu stehen kommen oder mit 111 ihren stumpfen Rücken gegen das Holz, aber nach einer kurzen Zeit wird jeder kleine Haken durch einen ‚Vorgang der Drehung und Einstellung so gewendet, dass seine scharfe Spitze an dem Holze Halt gewinnen kann. Der scharfe Haken an den Ranken der Cobaea ist nur eine sehr vollkom- mene Form der rückwärts gewendeten Spitze, welche viele Ranken besitzen, und welche demselben Zweck der zeit- weisen Festhaltung des Gegenstandes dient, bis die Ranke sich herumrollen und ihn sicher fassen kann. Es giebt einen merkwürdigen Beweis von der Nützlichkeit sogar dieses Rückenhakens in der Thatsache, dass die Ranke blos auf der Innenseite des Hakens für Berührung empfindlich ist. Wenn die Ranke gegen einen Zweig stösst, gleitet sie stets daran hin bis der Haken denselben fasst, so dass es für sie von keinem Nutzen sein würde, auf der convexen Seite empfindlich zu sein. Einige Ranken haben andererseits keinen Haken am Ende und dann sind. die Ranken auf jeder Seite für Berührung empfindlich. Diese Ranken verführten meinen Vater anfangs zu einem bemer- kenswerthen Missverständnisse, welches er in seinem Buche erwähnt. Er presste eine Ranke sanft zwischen seinen Fin- gern und da er fand, dass sie sich nicht bewegte, schloss er, dass sie keine Empfindlichkeit besässe. Aber das that- sächliche war, dass die auf zwei Seiten berührte Ranke nicht wusste, welchem Reiz sie gehorchen sollte und desshalb unbeweglich blieb. Sie war in Wirk- lichkeit auf allen Seiten für eine Be- rührung äusserst empfindlich. Es giebt eine bemerkenswerthe Be- wegung, welche bei Ranken eintritt, nachdem sie einen Gegenstand gefangen haben, und welche eine Ranke zu einem besseren Klimmorgan macht, als irgend ein empfindliches Blatt. Diese als »spi- ralige Zusammenziehung« bezeichnete Bewegung ist in Figur 4 abgebildet, 112 welche die spiralig zusammengezogene Ranke der wilden Zaunrübe Bryonia darstellt; sie ist auch in Fig. 5, welche die Ranken des wilden Weins zeigt, zu sehen. Wenn eine Ranke zuerst einen Gegenstand ergreift, ist sie ganz gerade, mit Ausnahme der äussersten Spitze, welche fest um den ergriffenen Gegen- stand herumgerollt ist. Aber nach einem oder zwei Tagen beginnt die Ranke sich zusammenzuziehen, und nimmt schliesslich die in den Figuren dar- gestellte korkzieherartige Form an. Es Franeis Darwin, Kletterpflanzen. ist klar, dass die Ranke, indem sie sich spiralig zusammenzieht, beträchtlich kürzer wird, und da das Ende der Ranke an einem Zweige befestigt ist, so ist es offenbar, dass der Stengel der Bryonia näher zu dem Objekte, welchen seine Ranke ergriffen hat, her- angezogen werden muss. Sie wird, wenn ein Schoss der Bryonia eine über ihm befindliche Stütze ergreift, den Schoss in gerader Richtung emporziehen, so dass in dieser Beziehung das Vermögen der spiraligen Zusammenziehung einem Fig. 4. Eine angeheftete, in entgegengesetzten Richtungen spiralig zusammengezogene Ranke von Bryonia dioica. (Aus Ch. Darwin’s Kletterpflanzen.) Rankenklimmer einen Vortheil über Blatt- klimmer verleiht, welche kein Zusammen- ziehungsvermögen und deshalb keine Mittel, sich zu stützenden Gegenständen heranzuziehen, besitzen. Aber die spiralige Zusammenziehung der Ranken hat noch einen anderen Nutzen und dieser gehört wahrschein- lich zu den allerwichtigsten. Dieser Nutzen hängt von der Thatsache ab, dass eine zusammengezogene Ranke wie eine Spiralfeder wirkt, und selbige in einennachgebenden Körper anstatt eines unnachgiebigen verwandelt. Die spiralig gewundene Ranke giebt gleich einem elastischen Bande einem Zuge nach, welcher die Ranke in ihrem ursprüng- lichen Zustande abreissen würde. Die Bedeutung dieser Anordnung ist, die Pflanze zu befähigen, einem Sturme zu widerstehen, welcher sie durch Zer- reissen der Ranken von ihrer Stütze reissen würde, wenn sie nicht in Spiral- federn verwandelt wären. Mein Vater beschreibt, wie er bei stürmischem Wetter eine Dryonia an einer exponirten Hecke beobachtete, und wie zum Trotze des heftigen Win- des, welcher die Zweige der Pflanze umherschleuderte, die Bryonia sicher im Sturme ruhete, >wie ein Schiff mit zwei Ankern im Grunde, und einem langen Tau-Ende am Vordertheil, um als Feder zu dienen, wenn das Schiff im Sturme schaukelt.< Es mag auch dazu dienen, das Gewicht zu verthei- len, welches von einer Anzahl von Ran- ken gleichmässig gestützt werden soll, und dies ist der Sinn der bei den Ran- ken des wilden Weins zu beobachtenden spiraligen Zusammenziehung. In Fig. 4 sieht man, dass nicht alle Windungen der Spirale in derselben Richtung gedreht sind. Erstlich sind Franeis Darwin, Kletterpflanzen. da zwei in einer Richtung, dann sechs in der andern, und dann wieder drei in der ersten Richtung, also sechs Windungen in der einen und fünf in der andern Richtung. Und dies findet allgemein statt; die Windungen nach der einen Richtung sind stets in ihrer 113 Zahl annähernd den Windungen nach der entgegengesetzten Richtung gleich. Es kann als eine mechanische Noth- wendigkeit erwiesen werden, dass sich eine Ranke, dessen beide Enden be- festigt sind, in dieser Weise verhalten muss. Fig. 5. Ampelopsis hederacea. A. Voll entwickelte Ranke mit einem jungen Blatt auf der Stengels. f De e B. Aeltere Ranke, einige Wochen nach ihrer Befestigung an einer Wand, 2 kai = € ; und spiralig zusammengezogenen Zweigen und den zu Scheiben entwickelten En ungen. Die unbefestigten Zweige dieser Ranke sind verwelkt und abgefallen. (Aus Ch. Darwin’s Kletterpflanzen.) Ein einfaches Modell, um diese mechanische Nothwendigkeit zu bewei- sen, ist von Sachs in seinem Hand- buch der Botanik beschrieben worden. Es ist durch Ausstreckung eines Strei- | Nail nr entgegengesetzten Seite des fen Kautschuk und Festkittung auf einen unausgestreckten Streifen hergestellt. Die in einem Zustande von Längs- spannung vereinigten Streifen bilden beim Nachlassen des Zuges eine Spi- 114 rale. Wenn das Modell blos an einem Ende festgehalten wird, werden die Windungen der Spirale alle in einer Richtung sein. Und dies stellt das Verhalten einer Ranke vor, welche nicht dazu gelangt ist, eine Stütze zu ergrei- fen: denn irgend eine unbekannte Ur- sache zieht auch solche Ranken zu Spi- ralen zusammen, und die Windungen solcher Spiralen sind alle nach einer Richtung. Aber wenn der Kautschuk- streifen an beiden Enden gehalten wird, erfolet die Hälfte der Windungen in einer Richtung und die andere Hälfte in der andern, genau wie sich dieselbe Sache bei einer Ranke ereignet. Wir wollen nunmehr die allgemeinen Beziehungen, welche zwischen Schling- pflanzen, Blatt- und Rankenkletterern existiren, betrachten. Einem Evolutio- nisten ist vielleicht die Frage, wie diese verschiedenen Klassen von Kletter- pflanzen entwickelt worden sind, von dem grössten Interesse. Welche Ver- wandtschaft ist zwischen ihnen ? Haben sich alle Klassen aus gewöhnlichen, nicht kletternden Pflanzen getrennt ent- wickelt, oder hat sich eine Klasse aus einer der anderen entwickelt, und wenn so, welches istdie älteste Form der Kletter- pflanzen? Ueber diesen letztern Punkt kann nuf geringerZweifel sein. Ichdenke, wir können als gewiss behaupten, dass die am frühesten existirende Form eine Schlingpflanze war. Wir sehen, dass windende Pflanzen nicht den wesent- lichen Charakterzug der Blatt- oder Rankenklimmer darbieten, nämlich die Empfindlichkeit gegen Berührung, wel- che ein Blatt oder eine Ranke befähi- gen, einen Stab zu ergreifen. Dagegen besitzen andererseits viele Blatt- und Rankenklimmer die wesentliche Eigen- schaft einer Schlingpflanze — das Ver- mögen des Umlaufs oder der Kreis- schwingung, welches in den Schöss- lingen, Blättern oder Ranken so vieler von ihnen vorhanden ist. Dieses Um- laufsvermögen dient bei einigen Blatt- Franeis Darwin, Kletterpflanzen. und Rankenklimmern sie bei der Auf- suchung zu Stützen zu führen; aber andere Blatt- und Rankenklimmer win- den, wie wir gesehen haben, wirklich spiralig um einen Stab, genau wie eine echte Schlingpflanze. Wie die Schling- pflanzen ursprünglich ihr Rundschwing- ungs-Vermögen erhielten, brauchen wir jetzt nicht zu untersuchen; es scheint blos eine Erweiterung einer ähnlichen Bewegung zu sein, welche in einer be- deutungslosen Weise auch bei andern Pflanzen vorkommend gefunden wurde. So sind verschiedene Blüthenstiele be- obachtet worden, welche überneigen, und in kleinen Kreisen gleich klettern- den Pflanzen rings herum schwingen. Hier ist die Bewegung blos ein un- verständlicher Begleiter des Wachsthums, denn so weit wir sehen, ist die Be- wegung von keinem Vortheil für den Blumenstiel. Aber die Existenz dieser Bewegung ist von grossem Interesse für uns, denn sie zeigt, wie das Winden einer Pflanze sich aus einer ähnlichen sich vortheilhaft zeigenden Bewegung entwickelt und durch natürliche Zucht- wahl bis zu der erforderlichen Aus- dehnung vermehrt haben kann. Eine andere Frage, welche uns auf- steigen kann, ist diese: inwiefern ist das Klettern mittelst der Blätter oder Ranken eine vollkommnere Methode als durch Winden? Warum bleibt eine Pflanze, wenn, sie eine windende ge- worden ist, nicht befriedigt? Die That- sache, dass sich Blatt- und Ranken- klimmer aus Schlingpflanzen entwickelt haben, und nicht umgekehrt, ist ein Beweis dafür, dass Klettern mittelst der Blätter oder Ranken eine vortheilhaftere Gewohnheit ist, als Winden, aber wir sehen nicht ein, warum das so sein muss. Wenn wir untersuchen, warum eine Pflanze überhaupt eine Kletter- pflanze geworden ist, werden wir den Grund einsehen. Licht ist allen grünen Pflanzen erforderlich, und eine Pflanze, welche klettern kann, ist im Stande, Franeis Darwin, Kletterpflanzen. dem Schatten der andern Pflanzen mit einer viel geringeren Material-Verschwen- dung zu entschlüpfen, als ein Wald- baum, welcher seine Aeste einzig durch reines Wachsthum zum Lichte beför- dert. So erreicht der weiche, wuchernde Stengel einer Kletterpflanze alle durch den festen, säulenartigen Baumstamm gewonnenen Vortheile..e. Wenn wir diese Prüfung — welches ist die sparsamste Kletterweise, Winden oder Blattklim- men — anwenden, sehen wir mit einem Male, dass eine Pflanze, welche durch Ergreifen klettert, bei weitem weniger Material verbraucht, als eine Schling- pflanze. So wurde eine Schminkbohne, welche an einem Stabe zur Höhe von zwei Fuss emporgeklettert war, wenn sie von ihrer Stütze losgewunden wurde, drei Fuss lang gefunden, während eine Erbse, die durch ihre Ranken zwei Fuss hoch geklettert war, kaum länger als die erreichte Höhe war. So hatte die Bohne bei ihrer Art zu klettern durch Winden um einen Stab, statt gleich der Erbse, durch ihre Ranken unterstützt, gerade aufwärts zu gehen, beträchtlich mehr Material verbraucht. Es giebt noch verschiedene andere Rücksichten, nach welchen Rankenklimmen eine viel bessere Methode. als Winden ist. Es ist eine sicherere Methode, wie sich jeder selbst überzeugen kann, wenn er die Sicherheit eines Rankenträgers bei heftigem Winde mit der Leichtigkeit vergleicht, mit welcher eine Schling- pflanze theilweise von ihrer Stütze weg- geblasen wird. Wenn man ferner auf jene Blattklimmer blickt, welche ausser- dem noch Schlingpflanzen sind, so sieht man, wie unvergleichlich besser sie eine Stütze ergreifen, als eine einfache Schlingpflanze. Und schliesslich hat eine auf das Beste zum Erklettern nackter Stämme befähigte Schlingpflanze oftmals im Schatten aufzusteigen, während ein Blatt- oder Ranken- klimmer für die gesammte Ausdehnung seines Wachsthums auf der sonnigen 115 Seite kann. Wir können so vollkommen einsehen, wie vortheilhaft es für Schlingpflanzen gewesen ist, sich zu Blattklimmern zu entwickeln. Wir werden auch Gründe finden, aus welchen ein Blattklimmer es vortheilhaft finden musste, ein Ran- kenklimmer zu werden. Wir haben gesehen, wie Ranken ein empfindlicheres, wirksameres Greif- organ bilden, als einfache Blätter. Ranken besitzen auch die werthvolle Eigenschaft, sich durch spiralige Zu- sammenziehung zu verkürzen und so den Stengel, an welchem sie wachsen, nach sich emporzuziehen, und nachmals als Federn zu dienen, und die Kraft des Windes zu brechen. Wir haben einige Fälle gehabt, wo wir die nahe Verwandtschaft zwischen Blatt- und Rankenklimmern sehen, und wo wir Zwischenstufen eines Ueberganges von der einen Klettermethode zur andern gewahren. Bei gewissen Fumaria-Arten können wir den ganzen Vorgang verfolgen. So haben wir eine Art, welche ein reiner Blattklimmer ist, und mit Blattstielen erfasst, welche in ihrer Grösse gar nicht reducirte Blätter tragen. Bei einer zweiten Art sind die Endblättchen sehr viel kleiner als die übrigen. Eine dritte Art hat zu mikroskopischen Dimensio- nen reducirte Blätter, und eine vierte Art endlich hat wahre und vollendete Ranken. Wenn wir die Vorfahren dieser letzteren Art sehen könnten, würden wir zweifellos eine sie mit einem aus- gestorbenen Blattklimmer verbindende Formenreihe erhalten, die der Reihe gliche, welche sie jetzt mit ihren mit- lebenden verwandten Blattklimmern ver- bindet. Wir wollen noch einmal die Schritte wiederholen, welche muthmasslich bei der Evolution der Kletterpflanzen vor- gekommen sind. Es ist wahrscheinlich, dass Pflanzen zu Schlingpflanzen ge- eines Busches umherschweifen 116 worden sind, durch Erweiterung einer rundschwingenden oder revolvirenden Bewegung, welche in einer schwachen und nutzlosen Form bei ihren Ahnen vorhanden war. Diese Bewegung ist zum Emporwinden verwerthet worden ; der Reiz, welcher den Umwandlungs- process in diese Richtung gelenkt hat, ist das Lichtbedürfniss gewesen. Die zweite Stufe ist die Entwicke- lung empfindlicher Blätter bei einer Schlingpflanze gewesen. Zweifellos hing anfänglich kein Blattklimmer gänzlich von seinen Blättern ab, es war nur eine Schlingpflanze, welche sich durch ihre Blätter forthalf. Allmälig wurden die Blätter vollkommener und dann konnte die Pflanze von der verschwenderischen Weise, spiralig um einen Stamm empor- zuwachsen, ablassen, und die mehr sparsame und wirksame, eines reinen Blattklimmers annehmen. Endlich wurden aus empfindlichen Blättern, die wunderbar vollkommenen Ranken entwickelt, welche !/so eines Grans empfinden, und in 25 Sekunden nach der Berührung eine entschiedene Krümmung zeigen, Ranken mit zarten, klebrigen Enden, oder mit dem Ver- mögen begabt, sich nach dem Dunkeln hinzubewegen, oder in kleine Spalten Franeis Darwin, Kletterpflanzen. zu kriechen, oder mit jenem geheim- nissvollen Tastsinn, durch welche eine Ranke ihre Schwesterranke von einem gewöhnlichen Zweige, und das Gewicht eines daran hängenden Regentropfens von einem Endchen Faden unterscheiden kann — kurz alle die feinen Einrich- tungen, welche die Rankenträger so offenbar an die Spitze der Kletterpflan- zen stellen. Noch auf eine die Entwickelung der Kletterpflanzen betreffende Thatsache muss hingewiesen werden, nämlich auf die merkwürdige Art, in welcher die Vertreter dieser Abtheilung durch das Pflanzenreich verstreut sind. Lindley theilt die Blüthenpflanzen in 59 Klassen (Alliancen) und in nicht weniger als 45 derselben werden Kletterpflanzen ange- troffen. Diese Thatsache zeigt zwei Dinge: erstens wie stark die bewegende Kraft — das Suchen nach Licht — gewesen ist, welches so viele verschie- dene Pflanzenarten getrieben hat, Klet- terer zu werden. Zweitens, dass die Eigenschaft der umlaufenden Bewegung, welche den ersten Schritt auf der Ent- wickelungs-Leiter des Klimm-Vermögens darstellt, im unentwickelten Zustande in fast jeder Pflanze der vegetabilischen Schaaren gegenwärtig. ist. | Atyoıda Potimirim, eine schlammfressende Süsswassergarneele*, Von Dr. Fritz Müller. (Mit 20 Holzschnitten.) Die Reinigung der Kiemenhöhle wird bei verschiedenen Garneelen, z. B. Pa- ‚laemon, durch das erste, bei Einsiedler- krebsen, Porcellankrebsen u. s. w. durch das letzte °Fusspaar des Mittelleibes ' besorgt, bei den Krabben durch die Geisselanhänge der drei Kieferfuss- paare**. In wieder anderer, wieder völlig abweichender, ganz eigenartiger Weise geschieht dieselbe bei einer klei- nen Garneele des Itajahy, Atyoida Potimürim. Fig. 1. Erwachsenes Weibchen. 3:1. F"'. Hinterer Fühler. Fi. innerer Ast (Geisel). Af. Hinterer Kieferfuss.. M! bis MY Füsse H! bis HV- Füsse des Hinterleibes. S. Schwanzfüsse (seitliche Schwanz- blätter). Sa. äusserer, zweigliedriger Ast. Si. innerer Ast. 7. Letzter Leibesring (Mittlere Schwanzplatte, Telson). Atyoida Potimirim. F'. Vorderer Fühler F’a. äusserer, F*i. innerer Ast. Ast (Schuppe). des Mittelleibes. Diese kleine Garneele, über deren Far- benwechsel ich bereits berichtet habe***, bietet auch sonst so zahlreiche und so merkwürdige Eigenthümlichkeiten, dass * Auszug aus einer für die „Archivos do Museu nacional do Rio di Janeiro“ be- stimmten portugiesischen Abhandlung. — (poti — Garneele, mirim — klein.) Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). F"'a. äusserer | ich glaube, eine Besprechung derselben auch ‘den nicht krebskundigen Lesern des »Kosmos« vorlegen zu dürfen. Was zunächst auffällt, ist die Bil- ** Vergl. „die Putzfüsse der Kruster”. (Kosmos, Bd. VIL, 8. 148) #** Kosmos Bd. VII, S. 472. , 115 dung der Hände oder Scheeren, mit denen, wie bei der grossen Mehrzahl der Garneelen, die beiden ersten Fuss- paare des Mittelleibes ausgerüstet sind. Die Scheeren oder Hände der Krabben und Krebse entstehen aus gewöhnlichen Lauffüssen, — und es lassen sich in der Reihe der lebenden Arten alle mög- lichen Zwischenstufen nachweisen, — indem unter der Einlenkung des letzten Gliedes ein Fortsatz des vorletzten her- vorwächst, gegen welchen dann das letzte einschlägt. Man unterscheidet also den beweglichen Finger (Fig. 2, F), den unbeweglichen Daumen (D) und die eigentliche Hand (H); letztere bildet, wie Jedem, der Krebse oder Krabben verspeist hat, bekannt ist, die Haupt- masse der Scheere und umschliesst die den Finger bewegenden kräftigenMuskeln. Ne = b Fig. 2. Fig. 4. Fig. 3. Fig. 2. Vorderarm und Scheere des 2. Fuss- paares, von Palaemon Potiuna. f nat. Gr. Fig. 5. Desgl. vom ersten Fusspaare und Fig. 4 vom zweiten Fusspaare von Atyoida Potimirim. 8:1. V. Vorderarm. 4. Hand. J. Finger. D. Daumen. Bei unserer Atyoida (Fig. 3, 4) kann nun von einer eigentlichen Hand im Gegensatz zum Daumen kaum die Rede sein; die Scheere ist in ganzer Länge gespalten, Hand- und Finger- gelenk liegen in gleicher Höhe. . Dazu kommt noch, um das aussergewöhnliche Aussehen der Scheere zu erhöhen, ein- mal die sehr bewegliche Einlenkung der Hand an der unteren Ecke des tief ausgebuchteten Vorderarms (Fig. 3. 4, V) und zweitens ein dichter Besatz unge- Fritz Müller, Atyoida Potimirim. mein langer Borsten am letzten Drittel beider Finger. Ist die Hand geschlossen, so neigen alle Borsten in einen langen spitzen Pinsel zusammen. So sieht man sie stets bei todten Thieren; die Hände scheinen dann ganz ungeeignet, irgend etwas zu fassen und lassen nicht ahnen, welch fesselndes Schauspiel sie beim lebenden Thiere bieten, wie prächtig sie der Nahrung der Thiere angepasst sind. Diese besteht in Schlamm, be- sonders in dem feinen Schlamme, der sich an. Wasserpflanzen absetzt und reich ist an allerlei winzigen Lebewesen, wie an verwesenden thierischen und pflanzlichen Stoffen. Oeffnet sich die Hand, so breiten sich die Borsten des "Pinsels in einer Ebene aus, stellen sich fast senkrecht zum Rande der Finger und bilden so zwei sehr breite Fächer, die eine Menge feiner, von den Blättern abgefegter Schlammtheilchen zwischen sich nehmen können; mit dem Schliessen der Hand schliessen sich auch die Bor- sten von allen Seiten wieder zusammen und ballen so die gewonnene Nahrung in einen Bissen, der dem Munde zu- geführt, oder richtiger in den Mund geschleudert wird, so rasch, kaum dem Auge verfolgbar, sind alle Bewegungen. Kaum ist ein Bissen verschluckt, so kommt schon eine zweite, eine dritte Hand mit neuer Ladung. Namentlich, wenn die Thiere von dem weichen Schlamme des Bodens fressen, wo sie nur frisch zuzugreifen brauchen, wirbeln die vier Hände in ruheloser Hast durch- einander. Die innersten Borsten der Finger sind bedeutend kürzer und steifer, als die äusseren; letztere sind einfach, erstere kammartig gezähnt; sie befähigen die Finger, von zarten Wurzeln oder Stengeln, die sie zwischen sich nehmen, den anhaftenden Schlamm abzustreifen. Recht hübsch sieht es auch aus, wenn das Thier, ich möchte sagen auf der Lauer liegt, um die feinen im Wasser ı schwebenden Nahrungstheilchen zu er- haschen, welche ihm durch die äusseren Fritz Müller, Atyoida Potimirim. Aeste der mittleren und hinteren Kiefer- füsse zugestrudelt werden. Die Scheeren, etwa in rechtem Winkel geöffnet, hangen vom Vorderarm nach unten und alle vier bilden eine einzige Querreihe, da das zweite weiter nach hinten einge- lenkte Fusspaar länger ist, als das erste; bei der grossen Breite, die jede einzelne Scheere durch die langen seitlich aus- gespreizten Borsten erhält, überwachen sie einen recht ansehnlichen Raum. Bald sieht man die eine, bald die andere Scheere sich schliessen und zum Munde fahren. * Wie die Bildung der Hände, so steht mit der Art der Nahrung auch 119 der Bau der Mundtheile im Zusammen- hang, der von dem der Palaemoniden und, anderer Garneelen, wie überhaupt anderer Decapoden vielfach abweicht. Die hinteren Kiefer (Fig. 6), die vorderen Kieferfüsse (Fig. 8) und in minderem Grade die mittleren Kieferfüsse haben einen ungewöhnlich langen geraden Innenrand, der mit steifen Borsten von zum Theil ganz eigenartiger Gestalt überaus dicht besetzt ist. Man begreift, wie nützlich diese grossen Flügelthüren mit ihrem dichten Borstenbesatz bei der Aufnahme der aus feinen Theilchen geballten Bissen. sind. Sehr merkwürdig sind auch die losen Fig. 5. Fig. 7. Fig. 8. Fig. 5. Hinterer Kiefer von Palaemon Potiuna. Fig. 6. Derselbe von Atyoida Potimirim. Fig. 7. Vorderer Kieferfuss von Palaemon Potiuna. Fig. 8. Derselbe von Atyoida Potimirim. te} = x ce. Grundglied, oder Stamm (coxa). . «*. i“. innerer Ast. e. äusserer Ast. g. Greisselanhang (lagellum). Kinnbacken. Noch kürzlich ** hat man als unterscheidendes Merkmal zwischen langschwänzigen Krebsen und Mysiden hervorgehoben, dass »die rechte und linke Mandibel bei den Macruren gleich, bei den Mysiden ungleich und häufig ® Atyoida Potimirim hält sich sehr gut in der Gefangenschaft, ohne dass man mit Wasserwechsel und Fütterung sich viel zu bemühen braucht. Da dies auch für andere Familiengenossen gelten dürfte, mache ich darauf aufmerksam, dass Europa zwei nahe Verwandte besitzt: die in Flüssen des süd- lichen Frankreich häufige, auch in Corsica, br. Kieme (bei Atyoida fehlend). sehr verschieden« seien. Auch abge- sehen von Atyoida ist dieser angebliche Unterschied nicht stichhaltig; bei den Palaemoniden z. B. sind die Höcker der Kaufortsätze rechts und links ganz verschieden; allein nirgends sonst unter Sieilien und Dalmatien vorkommende Cari- dina Desmarestii und die in den Grotten- gewässern des Karst lebende Caridina Schmidtii, für die man ihrer Blindheit halber eine eigene Gattung Troglocaris errichtet hat. (Vergl. Kosmos Bd. IV, 8. 149.) Ach ## Zoolog. Anzeiger. Nr. 54. 3. Mai 1880 Seite 214. g% 120 Fritz Müller, Atyoida Potimirim. den Langschwänzen habe ich eine so | Ich möchte darin eher ein altes erhebliche, dem ersten Blicke sich auf- | Erbstück, als eine neuere Anpassung drängende Verschiedenheit der beiden | sehen, um so mehr, als auch sonst die Kinnbacken gesehen, wie bei unserer | Kinnbacken eine alterthümliche Form Atyoida. zeigen. Wie bei denjenigen Garneelen, Pi. aD BR Pa t Fig. 9. Fig. 10. Fig. 11. Fig. 12. Fig. 9. Linker und Fig. 10 Rechter Kinnbacken von Atyoida Potimirim, von der Rücken- seite. 15:1. pi. Schneidefortsatz. pm. Kaufortsatz. t. Sehne. Fig. 11. Schneidefortsatz des linken Kinnbackens, Rückenseite. Fig. 12. Derselbe vom rechten Kinnbacken, Bauchseite, stärker vergrössert. die sich bis heute die vollständigste | selten, häufig aber bei anderen höheren und ursprünglichste Entwickelungsge- | Krebsthieren, z. B. Amphipoden und schichte bewahrt haben, die Kinnbacken | Cumaceen. bei ihrem ersten Auftreten im Innern Die beiden den Scheerenfüssen fol- des dritten Gliedmaassenpaares des Nau- | genden Fusspaare (das dritte und vierte plius eine mit Schneidezähnen bewehrte | des Mittelleibes) sind schlanke Lauf- Spitze, einen dahinter liegenden mit | füsse, deren Endglied mit sechs bis neun Querleisten versehenen Kaufortsatz und | krummen klauenartigen Dornen bewehrt zwischen beiden eine Reihe von Borsten | ist (Fig. 13), wie man es ähnlich auch zeigen, so finden wir dieselben drei , bei anderen Garneelen (z. B. Hippolyte) Theile bei Atyoida. Unter den Decapo- | trifft, die, wie unsere Art, an Pflanzen den sind ähnliche Kinnbacken heute | sich anzuklammern lieben. h i u i \ uG Br 2 —aagss II “ N NIS & Sul A ORTEN I 0 Fig. 13. Fig. 14. Fig. 15. Fig. 13. Finger des dritten und Fig. 14 des fünften Fusspaares von Atyoida Potimirim. 50:1. Fig. 15. Geisselanhang des ersten Fusspaares. 90:1. Auch das letzte, fünfte Fusspaar | das Reinigen hauptsächlich des Hinter- wird beim Laufen und Festhalten be- | leibes obliegt. Eine regelrechte Rei- nützt und hat am Ende des Fingers | nigung des Hinterleibes, die das Thier (Fig. 14) einige krumme Dornen; gleich- | mit grosser Gemächlichkeit und Sorg- zeitig aber trägt der untere Rand des | falt ausführt und die mehrere Minuten Fingers einen zierlichen Kamm, dem | in Anspruch nimmt, beginnt mit dem Fritz Müller, Atyoida Potimirim. ersten Schwimmfusspaare; die vier fol- genden sind einstweilen nach hinten geschlagen; ist das erste Paar und der Raum zwischen erstem und zweitem sauber, so erhebt sich das zweite, dann das dritte u. s. f£ Zuletzt kommt der Schwanz an die Reihe, der sich stark nach vorn biegen muss, um dem Kamme zugänglich zu werden. Weder die beiden vorderen Fuss- paare, deren langbeborstete Hände man gelegentlich am vorderen Theile des Leibes hinfegen sieht, noch auch das letzte sind geeignet, in die Kiemenhöhle einzudringen und sie zu reinigen. Dies geschieht durch die hinteren Kiefer (Fig. 6). Diese Kiefer tragen bekannt- lich bei allen Decapoden nach aussen eine grosse breite Platte (Fig. 5, 6, e. g.), die als Klappe am Ausgange der Kiemen- höhle liegt und durch ihre Bewegungen den Athemstrom unterhält; man unter- scheidet an ihr bald mehr, bald weniger deutlich einen vorderen Theil (Fig. 5,6, e), der als äusserer Ast, und einen hinteren Abschnitt (Fig. 5, 6, y), der als Geissel- anhang zu deuten sein dürfte. Wo die Platte nur als Klappe zur Regelung des Athemstromes dient (Fig. 5), ist dieser hintere Abschnitt kurz, am Ende abgestutzt oder abgerundet und reicht kaum in die eigentliche Kiemenhöhle hinein; bei Palaemon z. B. reicht er nur bis zu der Kieme "des äusseren Kieferfusses. Dagegen ist derselbe hin- tere Abschnitt bei Atyoida lang, schmal, nach dem Ende zu verjüngt und hier mit etwa einem Dutzend sehr langer biegsamer Borsten besetzt; er reicht bis zur drittletzten, über dem dritten Fusspaare sitzenden Kieme und seine Endborsten bis zum hinteren Ende der Kiemenhöhle. So kann durch ihn, wie man sich leicht an genügend durch- sichtigen lebenden Thieren überzeugt, die ganze äussere Fläche der Kiemen abgekehrt werden. Zur Reinhaltung der Kiemenhöhle dürfte noch eine andere Einrichtung 121 beitragen, die auch bei vielen anderen Garneelen, z. B. in der artenreichen Gattung Hippolyte wiederkehrt. Die hin- teren Kieferfüsse und eine wechselnde Anzahl der Füsse des Mittelleibes, bei Atyoida Potimirim die drei ersten Paare, tragen einen winzigen Geisselanhang, den man seiner geringen Grösse halber für verkümmert halten könnte, wenn dem nicht sein eigenthümlicher Bau widerspräche. Bei unserer Atyoida (Fig. 15) lässt er sich beschreiben als ein kleiner wurstförmiger Anhang, der nahe dem Vorderrande des Hüftgliedes entspringt und nach hinten gerichtet mit seiner inneren Seite der äusseren , Fläche des Hüftgliedes anliegt. Seine äussere Fläche ist mit etwa einem Dutzend ziemlich langer, gerader, in zwei Reihen gestellter Haare besetzt, und sein freies Ende mit einem Haken versehen, der wohl dient, ihn in seiner Lage zu halten. Diese Geisselanhänge liegen nun im Eingange zur Kiemen- höhle, in der Spalte zwischen den Hüft- gliedern der Füsse und dem unteren Rande des Panzers; sie verengen diesen Eingang und wehren dadurch, wie durch ihren Haarbesatz dem Eindringen frem- der Körper. — Aber, wird man ein- wenden, sie fehlen gerade da, wo sie am nöthigsten wären, wo das Wasser am lebhaftesten in die Kiemenhöhle ein- strömt, über dem vierten und fünften Fusspaare. — Gewiss, aber dafür findet sich hier eine andere höchst eigen- thümliche Vorrichtung, die, soviel ich weiss, noch bei keiner anderen Garneele beobachtet worden ist. Die Hinter- leibsfüsse der Garneelen sind bekannt- lich (mit wenigen Ausnahmen) zweiästig; die Aeste haben meist die Gestalt zun- genförmiger Blätter, deren Rand mit langen gefiederten Schwimmborsten be- setzt ist. In der Ruhe werden diese Schwimmfüsse nach vorn geschlagen und legen sich zwischen die Füsse des Mittel- leibes. Abweichend von allen anderen Garneelen, die ich gesehen, legt sich -)) in 1 nun bei Atyoida der äussere Ast des ersten Schwimmfusspaares nicht zwi- | schen die letzten Füsse des Mittelleibes, sondern aussen über sie und den Ein- gang der Kiemenhöhle hin (Fig. 1 M'), so dass alles hier eintretende Wasser durch seine Fiederhaare durchgeseiht wird. * Die Männchen unserer Atyoida sind weit kleiner als die Weibchen; erstere fand ich nie über 15 mm, letztere bis 25 mm lang. Je besser die Männchen mit Waffen zu Schutz und Trutz aus- gerüstet sind, je erbitterter sie um den Besitz ihrer Weibchen kämpfen, um so .mehr pflegen sie dieselben an Grösse zu übertreffen. So unter den Garneelen des Itajahy das Männchen von Palae- mon jamaicensis, dessen bis über fuss- lange Scheerenfüsse fast immer unver- kennbare Spuren der Kämpfe an sich tragen, die es schon mit seinen Neben- buhlern bestanden hat. Wo Waffen fehlen, erreicht häufig das Weibchen eine bedeutendere Grösse, was wohl be- dingt ist durch den vielfach grösseren Aufwand an Stoff, den die Eier bean- spruchen. Um aus der Reihe der hö- heren Krebsthiere ein zweites Beispiel zu geben, will ich an die Tatuira (Hippa emerita) erinnern, deren Männchen eben- falls neben den Weibchen ganz zwerg- haft aussehen. Wie bei Atyoida die Männchen waffenlos geworden oder ge- blieben sind durch die Anpassung der Scheeren ans Schlammfressen, so bei der im Sande wühlenden Hippa dadurch, dass sich die Endglieder der Beine zu breiten, nur zum Graben tauglichen | Schaufeln umgebildet haben. Nicht nur zum Kampf mit Neben- buhlern, auch zum Ergreifen und Fest- halten der Weibchen scheinen die Hände der Atyoida-Männchen ungeeignet und es kann daher nicht auffallen, dass sich bei ihnen anderweitige Einrichtungen * Nach Milne Edwards’ Abbildung von Caridina typus (Hist. nat. Crust. Pl. 25»is Fig. 4) vermuthe ich, dass sich hierin die | Fritz Müller, Atyoida Potimirim. entwickelt haben, die man bei anderen Garneelen vermisst, deren Hände gehörig zuzupacken vermögen. m. / Fig. 16. Fig. 17. Fig. 18. Fig. 16. Ende des hinteren Kieferfusses von Atyoida Potimirim, Weibchen. 30:1. 17. Dasselbe von einem Männchen der- selben Art. 30:1. Fig. 18. Ende des Schenkels (f) und Anfang der Schiene (t) des dritten Fusspaares, von 4Atyoida Potimirim, Männchen. Innenseite. 30:1. Fig. So ist der bei den Weibchen (Fig. 16) gerade Enddorn der hinteren Kiefer- füsse beim Männchen (Fig. 17) zu einer krummen Klaue umgebildet, und an der Innenseite der Schienen (Fig. 18,t) des dritten und vierten Fusspaares findet sich ein starker gezähnelter Dosn** und ihm gegenüber zahlreiche warzenförmige Höcker, die, wie der Dorn, dem Weib- chen vollständig fehlen. BT IT y er Fig., 19. Fig. 20. Fig. 19. Vorderer Theil des Panzers, von einem Männchen. 5:1. Fig. 20. Derselbe von einem Weibchen. 3:1. Noch einer bemerkenswerthen Ver- schiedenheit der Geschlechter muss ich gedenken. Bei den Männchen (Fig. 19) ist am Vorderrande ‘des Panzers die untere Ecke abgerundet, bei den Weib- chen (Fig. 20) in einen spitzen Zahn (Simpson’s »spina pterygostomiana«) ausgezogen. Ausnahmen von dieser Regel sind sehr selten. — Die Beweh- nahe verwandte Gattung Caridina eben so verhält, wie Atyoida. — ** Die Zähnelung hat der Xylograph übersehen. u ee Fritz Müller, rung des vorderen Panzerrandes gilt sonst nicht nur als sicheres Merkmal der Art, man hat sie selbst zur Unter- scheidung von Gattungen benutzt; so hat man die Gattung Leander einzig deshalb von Palaemon getrennt, weil jene eine »spina branchiostegiana«, aber keine »spina hepatica«, diese eine »spina hepatica«, aberkeine »branchiostegiana« besitzt. Bei Atyoida Potimirim bildet nun die An- oder Abwesenheit der »spina pterygostomiana« einen einfachen Geschlechts- oder Altersunterschied: denn mit den Männchen stimmen in dem Mangel eines Zahnes an der un- teren Panzerecke auch alle jüngeren Weibchen von weniger als 12 mm Länge überein. — Da die Männchen weit kleiner bleiben, als die Weibchen, er- scheint es begreiflich, dass manche Eigenthümlichkeiten der Weibchen, die erst dann auftreten, wenn sie über das Maass der Männchen hinausgewachsen sind, bei letzteren nicht zur Entwicke- lung kommen. So erklärt sich z. B. die bei erwachsenen Männchen und Weibchen verschiedene Zahl der Borsten am Ende des letzten Leibesringes oder der mittleren Schwanzplatte (» Telson«); diese Zahl nimmt im Allgemeinen mit Grösse und Alter zu, ohne dass gerade immer grössere Thiere zahlreichere Bor- sten haben. Ich fand bei elfjüngeren, 8 bis 12 mm langen Thieren, die noch keine Geschlechtsverschiedenheiten äusseren zeigten, 6 bis 9, im Durchschnitt Borsten; 10 Männchen von 12 bis 13 mm hatten 8 bis 10, im Durchschnitt Borsten; bei 11 Männchen von 14 bis 15 mm wechselte die Borstenzahl eben- falls zwischen 8 und 10, aber der Durchschnitt betrug 9,9; bei neun Weib- chen von 12 bis 19 mm fanden sich 8 bis 14, im Durchschnitt 10,6 Bor- sten; endlich bei 14 Weibchen von 20 bis 24 mm Länge waren 12 bis 17, * Diese bei Atyoida Potimirim so wech- selnde Borstenzahl hat Heller bei der nahe verwandten Caridina unter die Gattungs- Atyoida Potimirim. 123 —r durchschnittlich 14,4 Borster den. * Ebenso einfach würde sich mit der geringeren Grösse der Männchen der Mangel des Zahnes an der unteren Ecke des Panzers in Zusammenhang bringen lassen, wenn nicht schon bei Weibchen von 13 bis 15 mm Länge, die also die Grösse der erwachsen: n Männchen noch nicht überschritten haben, der Zahn sich fast immer we- nigstens angedeutet, ja gewöhnlich schon zu voller Länge entwickelt fände. Bei diesem Sachverhalt scheint mir die wahrscheinlichste Annahme die, dass die »spina pterygostomiana« zuerst bei erwachsenen oderfast erwachsenen Weih- chen und im Laufe der Zeit bei dem- selben Geschlechte in immer jugend- licherem Alter aufgetreten sei. Wie dem auch sei, jedenfalls liegt hier eine beachtenswerthe Ausnahme von der fast allgemeinen Regel vor, dass die Männ- chen sich weiter von der gemeinsamen Jugendform entfernen, als die Weibchen. Wie unsere Atyoida in einer ganzen Reihe von Eigenthümlichkeiten von dem gewöhnlichen Baue der Garneelen, von Palaemon, Hippolyte, Alpheus u. s. w. abweicht, so pflegen ja überhaupt Arten, Gattungen, Familien nicht durch ein einziges, sondern durch zahlreiche Merk- male von ihren Verwandten und Vor- fahren sich zu unterscheiden. Wie man gewöhnlich zwischen diesen verschie- denen Merkmalen keinen ursächlichen Zusammenhang erkennen kann, so würde man einen solchen auch bei Atyoida kaum vermuthen z. B. zwischen dem Baue der Scheeren, dem der hinteren Kiefer und der je nach dem Geschlechte verschiedenen Bewehrung des Panzers, wenn man nur ihre Leichen zergliederte. Wie aber, sobald man diese kleine Garneele lebend in ihrem Thun und Treiben beobachtet, die Art ihrer Nah- vorhan- merkmale aufgenommen; er schreibt ihr neun „Borstenhaare“ zu (Heller, Crustaceen des südlichen Europa, Seite 238). 124 rung, den Bau ihrer Scheeren und Mundtheile und ihren Aufenthalt an Pflanzen, und dieser die vielklauigen Finger ihrer Lauffüsse erklärlich macht; wie wieder mit der Bildung der zur Reinigung der Kiemenhöhle untauglichen Scheeren die diesem Dienste angepasste Gestalt der hinteren Kiefer und die so ganz abweichende Lagerung des ersten Schwimmfusspaares in Beziehung treten; wie die Waffenlosigkeit der Männchen ihre geringere Grösse und diese wieder die jugendlichere Bildung ihres Panzers I I Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. begreifen lässt u. s. w. u. s. w.; kuız, wie dann mit einem Schlage all’ ihre mannigfachen Eigenthümlichkeiten in engste Beziehung zu einander treten, so darf man wohl hoffen, dass auch in vielen anderen Fällen bei aufmerksamer Beobachtung der lebenden Thiere gar manche anscheinend zusammenhangs- lose Bildungen, für die man jetzt eine geheimnissvolle Wechselbeziehung der Theile verantwortlich macht, als sich gegenseitig bedingende Ergebnisse der Naturauslese zu erkennen sein werden. Staatliche Einrichtungen. Von Herbert Spencer. VI. Herrscher im Staate — Häuptlinge, Könige u. s. W. (Fortsetzung.) Nachdem wir so die verschiedenen Factoren in’s Auge gefasst haben, welche zur Herstellung der staatlichen Herr- schaft zusammenwirken, wollen wir nun den Process dieses Zusammenwirkens in seinen aufsteigenden Stadien näher betrachten. In erster Linie ist die That- sache hervorzuheben, dass die succes- siven Erscheinungen, welche bei den einfachsten Gruppen vorkommen, ge- wöhnlich in der gleichen Reihenfolge auch bei den einfach und mehrfach zu- sammengesetzten Gruppen wiederkehren. Wie in der einfachen Gruppe zu- nächst ein Zustand herrscht, wo noch keine Führerschaft besteht, so finden wir auch, wenn einfache Gruppen, welche bereits eine jede ihr mit einer geringen Autorität bekleidetes staatliches Haupt besassen, sich unter einander verbinden, dass anfänglich noch keine Oberherr- schaft über das ganze Aggregat vor- handen ist. Die Chinooks geben uns ein Beispiel hiefür. In ihrer Schilderung derselben sagen Lewis und Clarke: — »Indem diese Familien sich allmählich zu Horden oder Stämmen und Völkern ausbreiten, wird die väterliche Autorität durch den Häuptling jeder grösseren Gesellschaft repräsentirt. Diese Häupt- lingswürde ist jedoch nicht erblich.« Und dazu kommt die fernere Thatsache, welche uns hier vor allem von Interesse ist, dass nämlich >die Häuptlinge der einzelnen Dörfer unabhängig von ein- ander sind:« es gibt keine allgemeine Häuptlingschaft. Wie die Herrschaft in der einfachen Gruppe anfänglich nur zeitweilig ist und aufhört, sobald der Krieg, welcher sie ‚hervorrief, zu Ende ist, so wird auch in dem Aggregate von Gruppen, die ihre besonderen anerkannten Häupter besitzen, eine gemeinsame Oberleitung anfänglich nur durch den Krieg veran- lasst und sie dauert auch nicht länger Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. als dieser Krieg. Falkner sagt: »In einem allgemeinen Kriege, wenn meh- rere Völker sich gegen einen gemein- samen Feind verbinden,< pflegen die Patagonier »einen Apo oder einen Ober- befehlshaber aus den ältesten oder be- rühmtesten der Caziken zu wählen.« Die Indianer am oberen Orinoco leben »in Horden von vierzig oder fünfzig unter einem Familienregiment und sie anerkennen einen gemeinsamen Häupt- ling blos in Kriegszeiten.< So auch in Borneo. »Während des Krieges treten die Häuptlinge der Sarebas-Dajaks in ein unbestimmtes Lehensverhältniss zu einem obersten Häuptling oder Ober- befehlshaber.« Nicht anders war es auch in Europa. So bemerkt Seeley, dass die Sabiner >nur in Kriegszeiten eine centrale Regierung gehabt zu haben scheinen.< Ferner »bestand Germanien in der Urzeit aus ebenso vielen Repu- hbliken, als Stämme vorhanden waren. "Mit Ausnahme der Kriegszeiten gab es keinen für sie alle gemeinsamen Häupt- ling oder nicht einmal einen Anführer für eine Bundesgenossenschaft. < Dies erinnert uns an die früher angedeutete Thatsache, als von der staatlichen Integration die Rede war, dass der Zusammenhang innerhalb zu- sammengesetzter Gruppen geringer ist als innerhalb einfacher Gruppen und ebenso der Zusammenhang innerhalb der doppelt zusammengesetzten geringer als in der einfach zusammengesetzten Gruppe. Was dort vom Zusammenhang galt, lässt sich ebenso gut von der Unter- ordnung sagen, denn wir finden, dass, wenn durch beständigen Krieg eine dauernde Herrschaft in einer zusammen- gesetzten Gruppe hergestellt wird, die- selbe doch weniger beständig ist als die Führerschaften der einfachen Grup- pen. Oft dauert sie nur während des Lebens des Mannes, welcher dieselbe errungen hat, so bei den Karenen und den Maganga und ebenso bei den Da- jaks, von denen Boyle sagt: — 125 „Es ist ein Ausnahmfall, wenn ein Da- Jak-Häuptling sich zu einer anerkannten Oberherrschaft über die anderen Häuptlinge emporzuschwingen vermag. Wenn ihm dies gelungen ist, so kann er jedoch aus keinem anderen Grunde auf seine Macht Anspruch erheben als infolge seines persönlichen Ver- dienstes und der Zustimmung derjenigen, welche bisher seines Gleichen waren, und auf seinen Tod folgt ohne Weiteres der Zerfall seiner ganzen Herrschaft.“ Selbst wenn es zu einer Führerschaft über die zusammengesetzten Gruppen gekommen ist, welche das Leben ihres Begründers überdauert, so ist diese doch noch lange Zeit hindurch bei weitem nicht so beständig wie die Führerschaf- ten in jeder der einzelnen Gruppen. Pallas, welcher von den mongolischen und kalmukischen Häuptlingen erzählt, sie hätten eine unbeschränkte Gewalt über ihre Unterthanen, bemerkt ander- seits, dass die Khans im allgemeinen nur eine unbestimmte und schwache Autorität über die ihnen untergeordneten Häuptlinge besässen. Von den Kaffern lesen wir: »Sie sind alle Vasallen des Königs, die Häuptlinge sowohl wie die ihnen Untergeordneten. Allein die Unter- thanen sind ihren Häuptlingen im all- gemeinen so blind ergeben, dass sie ihnen selbst gegen den König Folge leisten werden.< Europa liefert uns manche ähnliche Beispiele. Von den ho- merischen Griechen schreibt Herr Glad- stone: »Es ist wahrscheinlich, dass die Unterordnung des Unterhäuptlings unter seinen localen Herrscher einen innigeren Zusammenhang bedingte als diejenige des localen Herrschers unter das Ober- haupt von ganz Griechenland.« Und während der frühesten feudalen Periode in Europa war gleichfalls die Lehns- pflicht viel bindender dem localen Herr- scher als dem allgemeinen Oberhaupt gegenüber. In der zusammengesetzten Gruppe sowohl wie in der einfachen wird der Fortschritt zu einer beständigen Herr- schaft gefördert durch den Uebergang von der Nachfolge durch die Wahl zur Nachfolge durch Vererbung. In den ersten Stadien des einfachen Stammes wird die Häuptlingswürde, wenn nicht ein einzelnes Individuum durch seine stillschweigend anerkannte Ueberlegen- heit sie an sich reisst, dem Betreffenden durch Wahl übertragen. In Amerika ist dies bei den Aleuten, den Comanches und manchen anderen Völkern der Fall, so in Polynesien bei den Land-Dajaks, und vor der muhammedanischen Erobe- rung galt es auch in Java. Unter den Bergvölkern von Indien finden wir das- selbe bei den Nagas und anderen. In manchen Ländern erkennen wir noch den Uebergang zur erblichen Nachfolge bei verschiedenen Stämmen derselben Race. So lesen wir von den Karenen, dass >in vielen Bezirken die Häuptlings- würde für erblich gehalten wird, bei den meisten aber ist sie der Wahl unter- worfen.«< Einige Chinook-Dörfer haben Häuptlinge, welche ihre Macht erben, während sie ‚sonst meistentheils erwählt werden. Ebenso wird auch die zusammen- gesetzte Gruppe anfänglich stets durch ein erwähltes Haupt regiert. Mancherlei Belege hiefür finden wir in Afrika. Bastian berichtet, dass >»in vielen Theilen der Congo-Länder der König vondenkleineren Fürsten erwählt werde. « Die Krone von Yariba ist nicht erblich: »vielmehr wählen die Häuptlinge ihren Herrscher stets aus den weisesten und schlauesten ihrer eigenen Classe.« Und der König von Ihbu, berichtet Allen, scheint »durch einen Rath von sechzig Aeltesten oder Häuptlingen der grössten Dörfer erwählt zu werden.« In Asien findet sich das Gleiche bei den Kukis: — „Einer unter allen Rajahs jeder Classe wird auserwählt, um der Prudham oder oberste Rajah des Clans zu werden. Diese Würde ist aber nicht erblich, wie dies für die klei- neren Rajahs gilt, sondern ein jeder Rajah des Clans bekleidet dieselbe der Reihe nach.“ Aehnliches kehrt in Europa wieder. Obgleich im alten Griechenland das Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Recht der Erbfolge in bedeutendem Maasse anerkannt war, so lässt doch die. Geschichte von Telemach darauf schliessen, »dass sich derselbe einem Gebrauch zu unterziehen hatte, welcher sich entweder der Wahl annäherte oder wenigstens in irgend einer Weise eine freiwillige Thätigkeit von Seite der Unter- thanen oder eines Theiles derselben be- dingte.< Dasselbe gilt für das alte Rom. Dass die Monarchie ein Wahl- königthum war, »>wird schon dadurch bewiesen, dass in späteren Zeiten das Amt eines Interrex bestand, was anneh- men lässt, dass die königliche Gewalt sich nicht naturgemäss auf einen erblichen Nachfolger übertrug.« Später finden wir Aehnliches bei den westlichen Völkern. Bis zum Anfange des 10. Jahrhunderts »erhielt sich die Formalität der Wahl Kat in jedem europäischen Königreiche und das ungenügende Anrecht der Geburt bedurfte einer Bestätigung durch öffent- liche Zustimmung. « Und früher herrschte die gleiche Anschauung auch in Eng- land. Im alten England war die Bret- waldschaft oder die oberste Führerschaft über die kleineren Königreiche zuerst der Wahl unterworfen, und sogar die Form dieser Wahl lässt sich noch lange in der Geschichte nachweisen. Wird die Beständigkeit der Herr- schaft über die zusammengesetzte Gruppe durch erfolgreiche Führerschaft im Kriege und durch Herstellung dererblichen Nach- folge schon bedeutend verstärkt, so er- hält dieselbe noch eine fernere Stütze, wenn ein weiterer Factor mitwirkt — der übernatürliche Ursprung oder die übernatürliche Sanction. Ueberall, von dem neuseeländischen Könige an, welcher streng tabu oder heilig ist, bis zu den höchsten Völkern hinauf, können wir diesen Einfluss verfolgen und gelegent- lich findet sich, wo zwar nicht eine königliche Abkunft oder Zauberkräfte in Anspruch genommen werden, doch die Behauptung eines Ursprunges, der höher als menschlich ist, Asien zeigt uns Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 127 ein Beispiel hiefür in der Fodli-Dyna- stie, die in Süd-Arabien 150 Jahre lang regierte — eine Dynastie sechsfingeriger Menschen, welche vom Volke eben um ihrer beständig sich vererbenden Miss- bildung willen mit Ehrfurcht betrachtet wurden. Europa zeigt ein ähnliches Beispiel aus der merovingischen Periode. In den heidnischen Zeiten schrieb man der königlichen Familie allgemein einen gött- lichen Ursprung zu, in den christlichen Zeiten aber, erzählt uns Waitz, wo sie nicht mehr auf die Götter zurückgehen konnten, klammerte sich der Mythus im- mer noch an das Uebernatürliche an: »Ein Seeungeheuer schändete das Weib von Chlogio, als es am Meeresufer sass, und aus dieser Umarmung entsprang Merovech.« Spätere Zeiten lassen uns dann die allmähliche Annahme eines geheilisten oder halb übernatürlichen Charakters erkennen, wo derselbe nicht von Anfang an schon anerkannt war. Den karolingischen Königen schreibt man eine göttliche Billigung ihrer Ober- herrschaft zu. Im späteren feudalen Zeitalter waren die Könige mit wenigen Ausnahmen »nicht weit davon entfernt, sich selber für nahe Verwandte der Herren des Himmels zu halten. Könige und Götter waren nächste Collegen.« Im 17. Jahrhundert wurde dieser Glaube sogar durch die Priester sanctionirt. »Könige,« sagt Bossuet, »sind Götter und haben in gewisser Weise Antheil an der göttlichen Unabhängigkeit. « Die Herrschaft über eine zusammen- gesetzte Gruppe also, welche zunächst nur zeitweilig während des Krieges be- stand, dann aber durch häufiges Zu- sammenwirken der Gruppen infolge einer Wahl zunächst für die Lebenszeit des Betreffenden festgestellt wird, geht bald in die erbliche Form über und wird dann um so beständiger, je bestimm- tere und je weniger angefochtene Formen das Gesetz der Nachfolge erreicht; die grösste Stabilität jedoch wird erst dann erlangt, wenn der König zu einem gött- lichen Bevollmächtigten wird oder wenn. sofern die ihm zugeschriebene gottähn- liche Natur nicht wie in primitiven Ge- sellschaften von einer vermeintlichen göttlichen Abkunft hergeleitet wird, dies wenigstens ersetzt wird durch einen göttlichen Auftrag, den die Autorität der Kirche ihrerseits unterstützt. Hat das Staatsoberhaupt diese ab- solute Macht erlangt, welche aus ver- meintlich göttlicher Natur oder gött- licher Abstammung oder göttlichem Auf- trag entspringt, so hat seine Befugniss natürlich so gut wie gar keine Grenzen. In der Theorie und häufig auch in grossem Maasse in der Praxis ist er ge- radezu der Besitzer seiner Unterthanen und des ganzen Landes, das sie be- wohnen. Wo kriegerische Verhältnisse scharf ausgeprägt und die Ansprüche eines Eroberers unbeschränkt sind, da treffen wir diesen Zustand in der That bis zum höchsten Grade verwirklicht, selbst bei jenen uncivilisirten Völkern, welche ihren Herrschern keinerlei übernatür- liche Charaktere zuschreiben. Bei den Zulukaffern »übt der Häuptling die höchste Gewalt über das Leben seines Volkes aus.< »Die Bheel-Häuptlinge haben Machtbefugniss über das Leben und Eigenthum ihrer eigenen Untertha- nen,« und in Fidschi ist der Unterthan nichts weiter als Eigenthum. Noch mehr aber ist dies dort der Fall, wo der Herrscher als etwas Uebermenschliches betrachtet wird. Astley erzählt uns, dass in Loango der König »samba und pongo, das ist Gott, genannt werde, « und nach Proyart behaupten die Leute von Loango, >auch ihr Leben und ihre Güter gehörten dem Könige.« In Wasoro (Ostafrika) »hat der König eine unbe- schränkte Gewalt über Leben und Tod; H) in mehreren Stämmen wird er beinah göttlich verehrt.< In Msambara erklären die Leute: »wir sind alle Sclaven des Zumbe (des Königs), welcher unser Mulungu [Gott] ist.« 128 »Nach dem Staatsgesetze von Dahome und ebenso in Benin sind alle Männer Sclaven des Königs und die meisten Frauen sind seine Weiber,« und in Dahome wird der König »der Geist« genannt. Die Malagassen sprechen von dem Könige als von »unserem Gott« und er ist »der Herr des Bodens, der Besitzer alles Eigenthums und der Herr- scher über seine Unterthanen. Ihre Zeit und ihre Dienste stehen ihm zur Ver- fügung.« Auf den Sandwichinseln gibt der König, welcher als Personification des Gottes betrachtet wird, orakelhafte Antworten und seine Macht »erstreckt sich über das Eigenthum, die Freiheit und das Leben seines Volkes.« Ver- schiedene asiatische Herrscher, deren Titel ihnen göttliche Abkunft und Natur zuschreiben, stehen in gleichem Verhält- nisse zu ihren Unterthanen. In Siam »ist der König nicht allein Herr der Personen, sondern in Wirklichkeit auch des Eigenthums seiner Untergebenen, er verfügt ganz nach Willkühr über ihre Arbeit und schreibt ihnen ihre Thätig- keit vor.< Von den Burmesen lesen wir, dass »ebenso ihre Güter und so- gar ihre eigene Person für sein [des Königs] Eigenthum gelten, und auf Grund dessen ist er befugt, zu seiner Concu- bine jedes weibliche Wesen auszuwählen, das zufälligerweise seinen Augen gefällt. « In China >gibt es nur einen, der wirk- lich Autorität besitzt, den Kaiser... .... Ein Wang oder König hat keine erb- lichen Besitzungen und er lebt nur von den Jahrgeldern, die ihm der Kaiser bewilligt. ..... Dieser ist der einzige Besitzer des gesammten Grundeigen- thums. « In der That, wo das Staatsober- haupt eine unbeschränkte Macht besitzt — wo seine Unterthanen ihm, dem sieg- reichen Eroberer, auf Gnade und Un- gnade ergeben sind oder wo man ihn für göttlicher Abkunft hält und seinem Willen daher nicht zu widerstehen wagt, ohne sich der Gottlosigkeit schuldig zu Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. machen, oder wo er endlich die Charak- tere des Siegers und des Gottes mit einander vereinigt, da absorbirt er na- türlicherweise jede Art von Autorität in sich: er ist zu gleicher Zeit Kriegs- oberhaupt, oberster Gesetzgeber, höch- ster Richter und Oberhaupt der Kirche. Der König anf der Höhe seiner Ent- wickelung ist das oberste Centrum jedes socialen Gebildes und der Lenker jeder socialen Function. In einem kleinen Stamme vermag der Häuptling persönlich sämmtliche Öbliegenheiten seiner Stellung zu er- füllen. Abgesehen davon, dass er die übrigen Krieger in der Schlacht anführt, hat er noch Zeit genug, um Streitig- keiten zu schlichten; er kann dem Vor- fahrengeist opfern, er kann das Dorf in Ordnung halten, er kann Strafen auf- erlegen und die Handelsverbindungen regeln, denn der von ihm Regierten sind nur wenige und sie leben auf engem Raume beisammen. Wird er aber zum Haupt zahlreicher vereinigter Stämme, so bereiten sowohl der grössere Umfang seiner Geschäfte als auch das grössere Gebiet, das seine: Unterthanen bewoh- nen, der ausschliesslich persönlichen Verwaltung seiner Würde mancherlei Schwierigkeiten. Es wird zur Nothwen- digkeit für ihn, noch Andere zu ver- wenden, sei es um Berichte über Das und Jenes zu bekommen, sei es um Befehle zu ertheilen oder deren Aus- führung zu überwachen, und im Laufe der Zeit werden die auf solche Weise verwendeten Gehilfen zu bleibenden Vor- stehern ihrer Abtheilungen mit einer auf ihrer Vollmacht beruhenden Autorität. Während nun diese Ausbildung des inneren Baues der Regierung in der einen Hinsicht die Macht des Herrschers vermehrt, indem sie ihn in den Stand setzt, zahlreiche Geschäfte zu erledigen, vermindert sie jedoch auch in anderer Hinsicht seine Macht, denn seine Thätig- keit wird mehr und mehr durch die Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Werkzeuge, von welchen sie ausgeführt werden, modifieirt. Diejenigen, welche die Wirksamkeit einer Verwaltung, gleich- gültig welcher Art, beobachten, werden leicht von der Thatsache sich überzeu- gen, dass ein oberstes regierendes Agens zu gleicher Zeit gefördert und gehemmt wird durch seine untergeordneten Werk- zeuge. Mag es sich um eine philan- thropische Vereinigung, um eine wissen- schaftliche Gesellschaft oder um einen Club handeln, jedenfalls machen die Regierenden bald die Erfahrung, dass die organisirte Beamtenschaft, welche sie geschaffen haben, ihre Zwecke häufig hemmt und sie nicht selten völlig lahm lest. In noch höherem Maasse gilt dies von der ungemein umfassenderen Ver- waltung des Staates. Durch Bevoll- mächtigte empfängt der Herrscher seine Berichte, durch sie werden seine Be- fehle ausgeführt, und in demselben Maasse, als seine Verbindung mit den Geschäften immer indirecter wird, nimmt auch seine Controle über die Geschäfte ab, bis er schliesslich in extremen Fällen entweder zu einer Puppe in den Händen seines obersten Bevollmächtig- ten herabsinkt oder geradezu durch diesen von seiner Stelle verdrängt wird. So sonderbar es auch scheinen mag, so zeigt sich doch stets, dass die bei- den Ursachen, welche zusammenwirken, um der staatlichen Herrschaft Dauer zu verleihen, in einem späteren Stadium ebenfalls wieder zusammenwirken, um das Staatsoberhaupt zu einem Auto- maten herabzudrücken, welcher nur den Willen der von ihm geschaffenen Werk- zeuge ausführt. In erster Linie hat die erbliche Nachfolge, wenn sie schliesslich innerhalb einer Familie auf eine bestimmt vorgeschriebene Linie beschränkt wor- den ist, zugleich zur Folge, dass der Besitz der höchsten Gewalt unabhängig wird von der Fähigkeit zur Ausübung derselben. Der Erbe eines erledigten Thrones mag, wie das häufig auch der Fall ist, zu jung sein um seine Ob- 129 | liegenheiten zu erfüllen, oder er mag von zu schwachem Verstande oder von zu geringer Energie sein, oder zu sehr den Vergnügungen sich hingeben, welche ihm seine Stellung in unbegrenztem Maasse darbietet, was dann bewirkt, dass in dem einen Falle der Regent und in dem anderen der oberste Mini- ster zum eigentlichen Herrscher wird. In zweiter Linie macht ihn gerade jener geheiligte Charakter, den er ver- möge seiner vermeintlich göttlichen Ab- kunft erlangt hat, unnahbar für alle Unterthanen. Jeder Verkehr mit ihm muss durch seine Werkzeuge gehen, mit denen er sich umgeben hat. In Folge dessen wird es ihm schwierig oder nahezu unmöglich, mehr zu erfahren, als was ihnen beliebt, ihm zukommen zu lassen, und die Folge davon ist eine Unfähig- keit von seiner Seite, seine Befehle den Erfordernissen anzupassen, und zugleich die Unmöglichkeit, zu beobachten, ob seine Befehle wirklich ausgeführt worden sind. Seine Autorität dient demnach nur dazu, den Absichten seiner Werk- zeuge Nachdruck zu verleihen. Selbst in einer verhältnissmässig so einfachen Gesellschaft wie diejenige auf den Tonga-Inseln finden wir ein Bei- spiel hiefür. Dort gibt es einen erb- lichen geheiligten Häuptling, welcher »ursprünglich der einzige Häuptling war und die ganze zeitliche sowohl wie geist- liche Macht besass und welcher für ein Wesen von göttlichem Ursprung gehal- ten wurde;« jetzt aber ist derselbe po- litisch machtlos. Abyssinien zeigt uns etwas ganz ähnliches. Dort ist der Monarch, da er keinen directen Verkehr mit seinen Unterthanen hat und von einer solchen Heiligkeit umgeben ist, dass er sogar in seinem obersten Rathe unsichtbar dasitzt, zum blossen Stroh- mann geworden. In Gondar, einem Theile von Abyssinien, muss der König dem königlichen Hause von Salomo angehören, allein irgend ein Beliebiger unter den aufrührerischen Häuptlingen, 130 welcher durch Waffengewalt sich Einfluss verschafft hat, macht sich zum Ras, d. h. zum obersten Minister oder zum eigentlichen Monarchen; er bedarf aber »eines Titular-Kaisers, damit dieser die unerlässliche Ceremonie der Ernennung eines Ras vollziehe,« weil man wenig- stens den Namen des Kaisers »für we- sentlich hält, um dem Titel des Ras Giltigkeit zu verschaffen.« Thibet mag als Beispiel dafür angeführt werden, dass die Heiligkeit des ursprünglichen Staats- oberhauptes sich schliesslich von dem auf die erbliche Nachfolge gegründeten Anspruch trennt; denn der Grosse Llama, der als »Gott-Vater« betrachtet wird, welcher sich von neuem in jedem spä- teren Besitzer des Thrones verkörpert habe, erlangt doch trotzdem seine gött- liche Natur nicht durch natürliche Ab- stammung, sondern auf übernatürlichem Wege, indem er unter dem ganzen Volke an gewissen Anzeichen seiner Gott- heit herauserkannt wird, und mit seiner Gottheit, welche geradezu eine Fernhal- tung von allen weltlichen Geschäften be- dingt, verbindet sich dann auch ein Mangel an jeglicher staatlichen Gewalt. Ein gleiches Verhältniss findet sich in Bhotan: — ° „Der Dhurma-Raja wird von den Bhota- nesen in gleichem Lichte betrachtet wie der grosse Lama von Thibet von seinen Unter- thanen, nämlich als dauernde Fleischwerdung der Gottheit oder als Buddha selbst in körper- licher Gestalt. Während des Zeitraums zwi- schen seinem Tode und seinem Wiedererschei- nen, oder besser gesagt, bis er ein Alter er- reicht hat, in dem er reif genug ist, um seinen geistlichen Thron zu besteigen, "wird die Stellung des Dhurma-Raja stellvertr etungs- weise durch die Priesterschaft ausgefüllt. 5 Und neben diesem geheiligten Herr- scher existirt dann noch ein weltlicher. Bhotan »besitzt zwei nominelle Ober- häupter, welche uns und den benach- harten Bergvölkern unter dem hindo- stanischen Namen des Dhurma- und des Deb-Raja’s bekannt sind... Der erstere ist das geistliche, der letz- tere das weltliche Oberhaupt.« Obgleich Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. in diesem Falle erwähnt wird, dass das weltliche Oberhaupt keinen grossen Ein- fluss habe (wahrscheinlich weil der die Regentschaft führende Priester, dessen Cölibat ihn verhindert, selbst eine Dy- nastie zu gründen, der Anmaassung un- beschränkter Gewalt durch das weltliche Oberhaupt im Wege steht), so ergibt sich doch schon aus dem blossen Vor- handensein eines weltlichen Oberhauptes, dass ein Theil der staatlichen Functio- nen den Händen des ursprünglichen Staatsoberhauptes entglitten ist. Das bemerkenswertheste und zu gleicher Zeit bekannteste Beispiel jedoch bietet uns Japan dar. Hier finden wir die Ver- drängang der ererbten Autorität durch Bevollmächtigte nicht allein in der cen- tralen Herrschaft, sondern auch in den localen Regierungen durchgeführt. „Zunächst nach dem Fürsten und seiner Familie kommen die Karos oder die ‚Aelte- sten‘. Ihr Amt wurde erblich und gleich den Fürsten wurden sie in vielen Fällen un- fruchtbar. Die Obliegenheiten der Stellung, die wir als diejenige des Clan’s bezeichnen können, gelangten in Folge dessen in die Hände irgend eines gewandten Mannes oder mehrerer Verbündeter aus niederen Ständen, welche, da sie Geschicklichkeit mit Wag- halsigkeit und Gewissenlosigkeit vereinigten, die Fürsten und die Karos den Blicken ent- zogen, sich selbst aber mit der leeren Würde bekleideten, die Meinungen der grossen Masse der Samarai oder der Kriegerclasse beherrsch- ten und so die eigentliche Gewalt ausübten. Sie sahen aber stets darauf, jeden Act im Namen jener Nichtsthuer, ihrer Herren aus- zuführen, und so hören wir von... .. den Daimios, ganz ebenso wie von den Kaisern, dass sie Thaten vollbracht und eine Politik befolgt hätten, von welcher sie vielleicht gar nichts gewusst haben.“ Dieser Uebergang der Staatsgewalt in die Hände von Ministern hatte sich, was die Centralregierung betrifft, sogar zweimal vollzogen. Die japanesischen Kaiser, da sie Nachfolger eines von Gott abstammenden Eroberers waren, der wirk- lich die Herrschaft geführt hatte, warden allmählich zu blossen nominellen Herr- schern, theils wegen ihrer Heiligkeit, welche sie von der Nation trennte, und Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. theils wegen des jugendlichen Alters, in welchem sie häufig kraft des Erb- folgegesetzes auf den Thron kamen. In Folge dessen erlangten ihre Bevollmäch- tigten das Uebergewicht. Die Regent- schaft wurde im 9. Jahrhundert »erb- lich in der Familie der Fujiwara [welche dem kaiserlichen Hause entsprungen war], und diese Regenten wurden schliess- "lich allmächtig. Sie bekamen das Privi- legium, alle Bittschriften, welche an den Herrscher gerichtet wurden, zu öffnen und ihm dieselben nach Belieben vor- zulegen oder sie zurückzuweisen.« Im Laufe der Zeiten aber wurde die usur- pirte Autorität dieser Werkzeuge auf gleiche Weise von Anderen wieder usur- pirt. Abermals war es dahin gekommen, dass die Erbfolge nach einer bestimm- ten Regel streng beobachtet wurde, und abermals zog die Abgeschlossenheit des HerrschersVerlust dereigentlichenMacht- ausübung nach sich. »Hohe Abstam- mung war die einzige Bedingung für ein Amt und Untauglichkeit zu gewissen Functionen wurde bei der Wahl der Be- amten nicht beachtet.« Ausser den vier vertrauten Beamten des Shögun »durfte sich ihm Niemand nähern. Was für Verbrechen auch in Kama Koura be- gangen wurden, es war in Folge der Intriguen dieser Günstlinge unmöglich, dieselben dem Seogoun zu klagen.« Das Resultat war, dass »später diese Familie ...... den militärischen Ober- befehlshabern weichen musste,« welche jedoch oft selbst wieder zu blossen Werkzeugen in den Händen anderer Häuptlinge wurden. Wenn auch in minder bestimmter Form, kehrt doch dieser Process auch in den früheren Zeiten von Europa wieder. Die Merovingischen Könige, an welchen die Ueberlieferung von ihrem übernatürlichen Ursprung haftete und deren Erbfolge so festgesetzt war, dass auch Minderjährige regieren konnten, ge- langten unter den übermächtigen Einfluss derjenigen, welche sie zu ihren obersten 131 Ministern gemachthatten. Schon lange vor Childerich hatte die Familie der Mero- vinger thatsächlich aufgehört zu regieren. „Die Schätze und die Macht des Könie- thums waren in die Hände der Vorgesetzten des Palastes übergegangen, welche man ‚Majo- res domus‘ nannte und denen thatsächlich die oberste Gewalt gehörte. Der Fürst war ge- nöthigt, sich mit der Führung des königlichen Namens zu begnügen. Er trug seine wallen- den Locken und einen langen Bart, sass auf dem Throne und repräsentirte das Bild des Monarchen.“ Auf diese Weise sind wir in den Stand gesetzt worden, vom Standpunkt der Entwickelungslehre aus die verhält- nissmässigen Vortheile von Einrichtungen zu erkennen, welche absolut betrachtet nicht wohlthätig erscheinen, und wir lernen das als vorübergehende Erschei- nung zu billigen, was wir als bleibende Erscheinung verabscheuen. Die That- sachen nöthigen uns zu dem Geständ- niss, dass die Unterwerfung unter des- potische Herrscher dem Fortschritt der Civilisation in hohem Grade förderlich war. Induction und Deduction beweisen dies in gleichem Maasse. Wenn wir auf der einen Seite jene wandernden führerlosen Horden zusam- menstellen, die in den verschiedensten Varietäten des Menschengeschlechts vor- kommen und die man hier und dort auf der Erde antrifft, so zeigen sie uns allgemein, dass in Verbindung mit dem Mangel einer staatlichen Organisation nur geringer Fortschritt bei ihnen Platz gegriffen hat. Und fassen wir jene fest- sitzenden einfachen Gruppen ins Auge, die nur erst nominelle Oberhäupter haben, so sehen wir, dass zwar eine gewisse Entwiekelung der gewerblichen Künste und ein gewisses Zusammenwirken er- reicht ist, aber doch der Grad des Fort- schrittes nur gering erscheint. Gehen wir anderseits zu jenen alten Gesell- schaften über, welche zuerst eine be- trächtliche Höhe der Civilisation er- reichten, so finden wir dieselben stets unter autokratischer Herrschaft. In 132 Amerika waren die mexicanischen, die | centralamerikanischen und die Chibcha- Staaten durch eine rein persönliche Re- gierung charakterisirt, welche nur durch bestehende Sitten einigermaassen einge- schränkt wurde, und in Peru hatte der Absolutismus des göttlichen Königs ge- radezu keine Schranken. In Afrika zeigt uns das alte Aegypten in auffälligstem Grade diesen Zusammenhang zwischen despotischem Zwang und socialer Ent- wickelung. In der fernsten Vergangen- heit schon lässt sich dieselbe Erschei- nung wiederholt in Asien beobachten, von der akkadischen Civilisation an bis herab zu den jüngsten Zeiten, und die noch lebenden Civilisationen in Siam, Burmah, China und Japan dienen gleich- falls als Beweise dafür. Auch die frühe- ren europäischen Gesellschaften standen, wenn sie nicht den vollständig centra- lisirten Despotismus zeigten, jedenfalls unter einer gemilderten Form der pa- triarchalischen Despotie. Erst bei den Völkern der Neuzeit, deren Vorfahren die durch die erwähnte sociale Form gegebene Schulung durchgemacht und ihre guten Wirkungen ererbt haben, tritt allmählich eins bleibende Trennung der Civilisation von der Unterwerfung unter den Willen des Einzelnen insLeben. Die Nothwendigkeit des Absolutismus wird am leichtesten erkennbar werden, wenn wir beachten, dass im Kampfe um’s Dasein zwischen den einzelnen Gesellschaften diejenigen Sieger blieben, welche unter sonst gleichen Umständen am vollständigsten sich ihren Häupt- lingen und Königen unterordneten. Und da in den frühesten Stadien die krie- gerische und die sociale Unterordnung Hand in Hand gehen, so folgt daraus, dass lange Zeit hindurch die siegenden Gesellschaften auch fortfahren mussten, unter despotischen Regierungen zu leben. Alle die Ausnahmen, welche die Ge- schichte uns zu bieten scheint, be- weisen in Wirklichkeit unser Gesetz. In dem Kampfe zwischen Persien und Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Griechenland wären die Griechen, wenn sie nicht ein blosser Zufall gerettet hätte, unfehlbar gerade in Folge jener Zersplitterung der Kräfte zu Grunde gerichtet worden, welche aus dem Mangel einer Unterwerfung unter ein einzelnes Oberhaupt entspringt; und die Sitte der Römer, angesichts einer grossen, von einem Feinde drohenden Gefahr einen Dictator zu ernennen, zeigt deutlich, dass auch sie erkannt hatten, wie sehr die Leistungsfähigkeit im Kriege einen absoluten Herrscher- zwang erfordert. Somit dürfen wir, indem die Frage offen bleiben soll, ob auch ohne den Krieg primitive Gruppen jemals sich zu civilisirten Völkern hätten entwickeln können, jedenfalls die Behauptung auf- stellen, dass unter den einmal gegebenen Bedingungen die Kämpfe um’s Dasein zwischen den Gesellschaften, welche fortwährend wirksam waren, kleinere zu grösseren Gruppen zu verschmelzen, bis schliesslich mächtige Nationen daraus entstanden, nothwendigerweise die Ent- wickelung eines socialen Typus bedingt haben, der sich durch persönliche Herr- schaft der strengsten Art charakterisirt. Um die allmähliche Ausbildung dieser wichtigsten staatlichen Einrichtung deut- lich zu übersehen, wollen wir nun noch einmal in Kürze die verschiedenen Ein- flüsse zusammenstellen, welche zu ihrer Entstehung beigetragen haben, und die verschiedenen durchlaufenen Stadien überblicken. In den rohesten Gruppen verhindert der Widerstand gegen die Ausübung einer Obergewalt durch irgend ein ein- zelnes Mitglied gewöhnlich die Fest- setzung einer bestimmten Führerschaft, obgleich immerhin die Ueberlegenheit, welche auf Körperstärke oder Muth oder Schlauheit, auf Besitzthümern oder auf der das Alter begleitenden Erfahrung beruht, gewöhnlich einen gewissen Ein- Huss gewinnt. Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. In solchen Gruppen und in etwas weiter vorgeschrittenen Stämmen tragen dann meistens zwei Arten von Ueber- legenheit mehr als alle übrigen zur Erlangung der Herrschaft bei — die- jenige desKriegers und die des Medicin- mannes. Oft von einander getrennt, manchmal aber auch in einer und der- selben Person vereinigt und dann sich gegenseitig ausserordentlich fördernd, haben diese beiden Arten der Ueber- legenheit die Tendenz, eine staatliche Herrschaft zu begründen, und sie bleiben auch später wichtige Factoren in der Entwickelung derselben. Anfänglich jedoch ist die durch grosse natürliche oder vermeintliche übernatürliche Macht oder durch beides erlangte Herrschaft nur zeitweiliger Natur — sie hört mit dem Leben des- jenigen, der sie errungen hat, auf. So lange däs Princip der Leistungs- fähigkeit allein wirksam ist, kommt die staatliche Herrschaft nicht zu einer wirklichen Dauer. Sie zeigt sich dann erst fest gegründet, wenn noch das Prineip der Vererbung gleichfalls mit- wirkt. Die Sitte, die Abstammung nach der weiblichen Linie zu bestimmen, welche viele rohe Gesellschaften charak- terisirtt und noch in andern sich fort- erhält, die schon erhebliche Fortschritte gemacht haben, ist der Festsetzung einer dauernden staatlichen Herrschaft weniger günstig als die Sitte der Erb- folge in männlicher Linie, und in der That hat sich in verschiedenen halb civilisirten Gesellschaften, welche durch bleibende staatliche‘ Herrschaft ausge- zeichnet sind, die Erbfolge in männ- licher Linie für das Herrscherhaus wenigstens festgesetzt, während in der ganzen übrigen Gesellschaft die Ver- erbung nach der weiblichen Linie noch in Kraft besteht. Abgesehen von dem Umstande nun, dass die Erbfolge in männlicher Linie einen innigeren Zusammenhang in der Kosmos, V. Jahrgang (Bd, IX). 133 Familie, eine grössere Pflege der Unter- ordnung und eine wahrscheinlichere Vereinigung von ererbter Stellung mit ererbter Befähigung bedingt, kommt noch der viel wichtigere Umstand in Betracht, dass sie auch die Vorfahren- verehrung begünstigt und in Folge dessen die natürliche Autorität durch die übernatürliche Autorität kräftig unterstützt. Die Entwickelung der Gei- stertheorie, welche, wie wir sahen, eine besondere Furcht vor dem Geiste der mächtigsten Menschen bedingt, bis endlich, wo zahlreiche Stämme durch einen siegreichen Eroberer zusammen- geschweisst worden sind, sein Geist in der Ueberlieferung die Uebermacht eines Gottes erlangt, ruft zweierlei Wirkungen hervor. In erster Linie macht sich der Glaube geltend, dass sein Nachkomme, welcher nach ihm regiert, auch an seiner göttlichen Natur Antheil habe, und in zweiter Linie wird geglaubt, dass er durch Versöhnungsopfer, die er jenem darbringe, auch seine Hilfe erlangen könne. Jede Auflehnung gegen den Herrscher gilt in Folge dessen für ebenso hoffnungslos wie gottlos. Die Vorgänge, vermöge deren sich die staatliche Herrschaft befestigt, wie- derholen sich dann in jedem höheren Stadium. In einfachen Gruppen ist die Häuptlingswürde anfänglich nur eine zeitweilige; sie hört mit dem Kriege auf, der sie geschaffen hat. Wenn einfache Gruppen, welche bleibende Staatsoberhäupter besitzen, sich zu kriegerischen Zwecken vereinigen, so ist wieder die allgemeine Führerschaft nur eine zeitweilige. Wie in den ein- fachen Gruppen die Häuptlingswürde im Anfang gewöhnlich der Wahl unter- worfen erscheint und erst ın einem späteren Stadium erblich wird, so ist auch der Führer der zusammengesetzten Gruppe anfänglich meistens wählbar und seine Stellung pflegt erst später erblich zu werden. Ganz ebenso in manchen Fällen, wo eine doppelt zu- 10 134 sammengesetzte Gesellschaft entstanden ist. Ferner ist diese später entstandene Macht des obersten Herrschers, die ihm anfänglich durch Wahl verliehen wird, | bald jedoch in Erblichkeit übergeht, doch meist geringer als diejenige des localen Herrschers in seinem eigenen Gebiete, und wo sie grössere Bedeutung erlangt, da geschieht dies gewöhnlich unter wesentlicher Mitwirkung des Glau- bens an eine göttliche Abkunft oder einen göttlichen Auftrag. Wo kraft des vermeintlich über- natürlichen Ursprungs oder der über- natürlichen Autorität der König zum absoluten Herrscher geworden ist und, da er als Eigenthümer sowohl seiner Unterthanen wie des ganzen Landes gilt, auch alle Gewalt in Händen hat, da sieht er sich durch die Mannich- faltigkeit seiner genöthigt, seine Macht den Händen von Bevollmächtigten anzuvertrauen. Daraus ergibt sich dann eine auf ihn Obliegenheiten bald’ Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. zurückwirkende Einschränkung, welche eben durch die von ihm geschaffene Staatsmaschinerie nöthig gemacht wird, und diese Maschine selbst hat stets die Neigung, ihm über den Kopf zu wachsen. Ganz besonders da, wo ein strenges Festhalten an dem Erblich- keitsgesetze Unfähige auf den Thron bringt oder wo die dem König zuge- schriebene göttliche Natur ihn für alle Unterthanen mit Ausnahme seiner Werk- zeuge unnahbar macht oder wo gar beide Ursachen zusammenwirken, da geht die Macht allmählich ganz in die Hände der Bevollmächtigten über. Der legitime Herrscher wird zu einem Auto- maten, sein oberster Beamter aber zum wirklichen Herrscher, um jedoeh in manchen Fällen gleichfalls eben solche Stadien zu durchlaufen, indem er selber zum blossen Scheinkönig herabsinkt und seine nächsten Untergebenen sich zu Herrschern aufschwingen. ij « Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Photographie der Nehelflecke. Die Verschiedenheit des Anblickes, welchen die Nebelflecke zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Beobachtern dar- geboten haben, und die von denselben in zum Theil noch erhaltenen Zeich- nungen fixirt worden ist, haben schon die älteren Astronomen Marius, Le- sgentil, Messier, W. Herschel u. a. zu der Vermuthung gedrängt, dass in diesen kosmischen Gebilden Gestalt- veränderungen vor sich gehen, die schon im Verlaufe weniger Generationen zu einer erheblichen und auffallenden Um- wandlung des gesammten Aussehens derselben führten. Namentlich an die Gestalt des Orion-Nebels sind derartige Vermuthungen häufiger geknüpft worden, und wenn man die Zeichnung von W. Herschel (1779) mit derjenigen von De Vico (1839) und von W. Tem- pel (1877) vergleicht, so möchte man in der That eine solche allmälige Form- wandlung für nachgewiesen halten. Die neuere Weltanschauung, welche auf Grund des spektralanalytischen Nach- weises der gasartigen Natur der echten Nebel, geneigt ist, dieselben als Welt- embryonen aufzufassen, würde Ursache haben, diese allmäligen Veränderungen in Umriss und Struktur einzelner Nebel- flecke zu ihren Gunsten zu verwerthen, aber die Rapidität einzelner dieser an- geblichen Veränderungen fordert zur Vorsicht heraus, und lässt die Frage berechtigt erscheinen, ob diesen nebel- haften, verschieden schattirten, im Um- risse wenig bestimmten Gebilden gegen- über, nicht vielmehr Verschiedenheiten der Beobachtungsgabe und der durch- dringenden Kraft der einzelnen Instru- mente, sowie der Klarheit der Luft für die Abweichungen verantwortlich seien, die sich in den Zeichnungen der ein- zelnen Beobachter vorfinden. Es wäre daher wichtig, ein objek- tives Darstellungsmittel zu besitzen, durch welches man die Gestalten der Nebel zu verschiedenen Zeitepochen sicher zu fixiren vermöchte. Die Photo- graphie hatte hierbei bisher nur wenig ermuthigende Resultate ergeben, aber am 1. Oktober 1880 meldete H. Draper in New-York der Pariser Akademie, dass es ihm durch fünfzig Minuten lange Exposition gelungen sei, ein sehr deut- liches Bild des helleren Theiles vom Orion-Nebel zu erhalten, welches dazu dienen könnte, künftig jede Verände- rung dieser Partieen zu beweisen. In der Sitzung der Pariser Akademie vom 7. Februar dieses Jahres hat indessen J. Janssen gezeigt, dass auch diese Bilder rur mit gewissen Vorsichtsmass- regeln als Zeugnisse benützt werden können und sagt darüber: Wenn es verhältnissmässig leicht ist, ein photographisches Bild der glän- zenderen Partieen der Nebelflecke zu erhalten, so ist es im Gegensatze dazu recht schwer, vollständige Bilder dieser 10* 136 Gestirne herzustellen, welche geeignet wären, als sichere Ausgangspunkte für zukünftige Vergleichungen zu dienen. Ein Nebelfleck ist thatsächlich kein Objekt von bestimmten Umrissen, wie die Sonne, der Mond, die Planeten und die anderen Himmelskörper. Sie bieten das Ansehen mehr oder ‚weniger um- rissener Wolken dar, deren verschiedene Theile eine äusserst veränderliche Leucht- kraft haben. Es folgt daraus, dass je nach der Kraft des Instrumentes, der Expositionszeit, der Plattenempfindlich- keit, der Durchsichtigkeit der Atmo- sphäre u. s. w. äusserst verschiedene Bilder von einem und demselben Nebel- fleck erhalten werden, oft sogar Bilder, von denen man nicht annehmen würde, dass sie von demselben Objekt erzeugt wurden. Mit einem Teleskop von einem halben Meter Oeffnung und sechszehn Decimeter Brennweite wurden bei Expo- sitionen von resp. 5, 10 und 15 Minuten Dauer drei ganz verschieden aussehende Bilder erhalten. Das erste Bild zeigt nur die leuchtendsten Theile, das zweite ausserdem die von mittlerer Helligkeit und erst das dritte giebt ein vollstän- digeres Bild. Es ist daher durchaus nöthig, dass die Photographien von Nebelflecken mit einer Art Zeugniss (t&moin) versehen werden, welches die Resultante der Be- dingungen wiedergiebt, unter welchen das Bild erhalten wurde. Dieses Zeug- niss kann man nun aber nach Janssen von den Sternen erhalten. Ein Stern giebt auf der in den Brennpunkt des Instruments gestellten photographischen Platte einen mehr oder weniger regel- mässigen schwarzen oder dunklen Punkt. Dieser kleine Punkt kann wegen seiner geringen Dimensionen zu keiner photo- metrischen Vergleichung dienen, aber. ganz anders verhält es sich damit, wenn man die Platte, anstatt sie in den Brennpunkt zu stellen, ein wenig inner- halb desselben aufstellt. Man erhält alsdann anstatt eines für die Verglei- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. chung unbrauchbaren Punktes eine kleine Scheibe von ziemlich gleichmässiger Färbung, deren Helligkeitsgrad mit dem anderer, ähnlich erzeugter Scheibehen verglichen werden kann. Da dieser Hel- ligkeitsgrad des Sternscheibchens nicht allein von der Dauer der Lichteinwir- kung, sondern auch von der Durchsich- tigkeit der Atmosphäre, der Platten- empfindlichkeit u. s. w. abhängt, so kann sie als eine Resultante der hier in Betracht kommenden Factoren be- trachtet werden und das erforderliche Zeugniss ablegen. Wenn nun eine Nebel- fleck-Photographie von 5—6 solchen, unter gleichen Bedingungen erhaltenen Sternscheibchen begleitet wird, so würde der spätere Photograph sich darnach (die Unveränderlichkeit der Photographie vorausgesetzt!) in genau entsprechende photographische Bedingungen versetzen können, und das in denselben erzielte Nebelfleckbild würde mit dem älteren vergleichbar sein. Er würde zunächst die Zeit bestimmen müssen, die er braucht, um ein Sternscheibehen von derselben Helligkeit bei gleichem Durch- messer zu erhalten. Diese Zeit kann wegen der anderen in Mitwirkung tre- tenden Bedingungen eine ganz andere sein, als die zur Erzeugnng des »Zeugen« erforderlich gewesene, aber wenn der Photograph den Nebel ebensolange auf die Platte wirken lässt, so wird er eine Photographie erhalten, die ohne Be- denken mit der älteren verglichen wer- den kann. Auch sonst glaubt Janssen diesen Sternscheibchen eine wichtige Rolle in der Gestirnsphotographie vor- aussagen zu können. (Comptes rendus T. XCII. p. 261.) Die Constitution der Pflanzen-Alkaloide. Die Gruppe der Alkaloide, denen die wichtigsten Arzneistoffe und stärk- sten Gifte angehören, bildete bisher eines der dunkelsten Gebiete der or- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 137 ganischen Chemie. Man wusste bisher nicht viel mehr, als dass es sämmtlich stickstoffhaltige Verbindungen von mehr oder weniger complicirter Zusammen- setzung seien. In neuerer Zeit aber beginnt sich, wie wir schon in einem vorangegangenen Artikel des Kosmos (Bd. IX, S. 71) kurz angedeutet haben, dieses Dunkel zu lichten, und wir wollen . deshalb hier eine Uebersicht der haupt- sächlichsten bisherigen Ergebnisse auf diesem wichtigen Felde der organischen Chemie zusammenstellen. Den Ausgangspunktbildeten die Spal- tungsprodukte der Alkaloide, welche eine einfachere Zusammensetzung als diese selbst haben, und deren rationelle Formel daher leichter zu enträthseln war. Im Jahre 1879 war es Ad. Baeyer in München gelungen, das Chinolin, einen Körper, der durch Erhitzen des Cinchonins, eines Alkaloids der China- rinde, mit Alkalien entsteht, künstlich darzustellen und darnach dessen empi- rische Formel (CoH- N) in eine ratio- nelle zu verwandeln. Es ergab sich nämlich daraus, dass das Chinolin ein Naphtalin ist, in welchem eine Kohlen- wasserstoffgruppe (CH) durch Stickstoff. (N) ersetzt ist. In Verfolg dieser Unter- suchungen wurde dann auch erkannt, dass das dem Chinolin in vieler Hin- sicht ähnliche Pyridin (C; H5 N), das ein- fachste Alkaloid des aus thierischen Produkten gewonnenen Theeres oder Thieröls, ein Benzol (Cs Hs) ist, in welchem eine Gruppe CH durch N er- setzt ist. Damitwaren, wieWeidelbald darauf zeigte, die Anfangsglieder zweier Reihen von Verbindungen, von denen die einen sich in den Destillationsprodukten stick- stofffreier Körper (Steinkohlentheer u. s. w.) und die andern in den Destil- lationsprodukten stickstoffhaltiger Kör- per (Thieröl, Knochentheer u. s. w.) finden, in eine einfache Beziehung zu einander gesetzt, die einfachste Basis des Thieröls zeigte sich ganz analog dem einfachsten aromatischen Kohlen- wasserstoff des Steinkohlentheers zu- sammengesetzt; die Natur arbeitete also in beiden Fällen gleich, nur dass in dem einen Falle Stickstoff in die Ver- bindung eintrat, der im andern fehlte. Dies war aber noch nicht die wich- tigste Erkenntniss, denn wie vor sechs- zehn Jahren die Arbeiten Kekule’s ge- zeigt hatten, dass die nach ihrer ratio- nellen Formel damals ebenso dunklen sogenannten aromatischen Körper, d.h. die schmeckenden und riechenden Be- standtheile der bittern Mandeln, des Zimmts, der Nelken, des Perubalsams, und vieler anderer Gewürze, insgesammt Ableitungsprodukte jener stickstofffreien Kohlenwasserstoffe (nämlich des Benzols, Naphtalins u. s. w.) sind, so ergab sich jetzt immer klarer, dass die stickstoff- haltigen Alkaloide ähnliche Derivate der Pyridingruppe seien, wie es jene von der Benzolgruppe sind. Schon in dem- selben Jahre (1879) hatten Cahours und Etard die Meinung ausgesprochen, dass das Alkaloid des Tabaks (Nikotin) als Dipyridin betrachtet werden könne, welches vier Atome Wasserstoff aufge- nommen hat, eine Vermuthung, die durch Versuche bestätigt wurde. Im Jahre darauf (Anfang 1880) fand W. König, dass das Piperidin, ein Spaltungsprodukt des im weissen Pfeffer enthaltenen Alka- loids von der Formel (5 Hıı N, ein Pyridin ist, welches 6 Atome Wasserstoff auf- genommen hat, wie es auch durch Oxydation Pyridin giebt. Einige Monate später entdeckte E. v. Gerichten, dass sich auch die Alkaloide des Opiums gerade wie die vorgenannten von Pyri- din und Chinolin herleiten lassen, und dies wurde von ihm namentlich in Bezug auf das Cotarnin und Narkotin gezeigt. In neuester Zeit hat nun Ladenburg nachgewiesen, dass auch das Tropin, die Grundsubstanz der Solaneengifte (vergl. Kosmos IX, 8; 72), der Pyridingruppe angehört, und ein Alkohol oder Hydrat des Collidin’s, eines 138 höhern Gliedes der Pyridinreihe zu sein scheint. Diese an sich vom theoretischen Standpunkte höchst wichtigen Unter- suchungen erhalten eine praktische Be- deutung insofern, als sie wahrscheinlich zur künstlichen Darstellung einer oder der andern, dieser zum Theil in der Arzneikunde sehr geschätzten und kost- baren Substanzen führen werden. Be- reits ist es Wisneyradsky gelungen, das Chinolin durch Behandlung mit Zinnfeile und Chlorwasserstoffsäure zur Aufnahme des sich entwickelnden Wasser- stoffs zu veranlassen, und so wasser- stoffreichere Alkaloide darzustellen. Eine andere hierhergehörige Frage hat sich J. Ponath vorgelegt, ob näm- lich nicht im thierischen Körper eine ähnliche Oxydation und Zersetzung vor sich geht, wie sie bei der Erhitzung der Alkaloide stattfindet und Chinolin, Pyridin u. s. w. liefert. Er hat zu diesem Zwecke das Grundalkaloid des Chinin’s und Cinchonins, d.h. das eben- erwähnte Chinolin auf seine fieber- widrigen und antiseptischen Wirkungen untersucht, und dieselben in der That denjenigen dieser berühmten Arzneimittel ähnlich gefunden. Andererseitshat Claus nach einer aus diesen Einblicken in die chemische Constitution der Chinaalka- loide gefolgerten Methode mit Aether- arten zusammengesetzte China-Alkaloide dargestellt, auf deren arzneiliche Wir- kung man gespannt sein darf. Auch hier müssen wir den Leser, der sich genauer auf diesem neuerschlossenen Gebiete der organischen Chemie orien- tiren will, auf die letzten Bände der an Alkaloid-Untersuchungen seit Jahr und Tag überaus reichhaltigen » Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft« verweisen. Die Geschichte des Ginkgo-Geschlechts. Der englische Botaniker und Pa- läontologe J. Starkie Gardner setzt Kleinere Mittheilungen und Journalschau. in der englischen Zeitschrift »Nature« seine Mittheilungen aus der Geschichte der Nadelhölzer fort, und giebt in Nr. 585 (January 1881) einen Abriss vonder Geschichte desGinkgo-Geschlech- tes, dem wir das Folgende entnehmen. Die Beblätterung dieser heute nur noch in der einzigen Art Ginkgo biloba Linnd (Salisburia adiantifolia Sm.) in Nordchina und Japan lebenden Baum- art, gleicht bekanntlich derjenigen eines gigantischen Venushaarfarns (Adiantum), aber der Blattstiel ist dick, oft drei Zoll lang und an der Basis deutlich abgegliedert. Ein wichtiger Charakter zur Erkennung des fossilen Blattes liegt ausserdem darin, dass dasselbe beinahe ohne Ausnahme zweilappig erscheint, wie unregelmässig der Rand auch sonst gelappt oder eingeschnitten sein möge. Obschon der Gingko-Baum heute eine auf eine einzige Art beschränkte Gattung darstellt, ist seine Vorfahren- schaft vielleicht ehrwürdiger als die irgend eines andern Waldbaumes. Die Steinkohlenzeit-Früchte Trigonocarpus und Noeggerathia werden sowohl von Hooker als von Saporta als einer ‚seiner Ahnenformen zugehörig betrach- tet, und sogar die Beblätterung der letzteren, vom Psygmophyllum Schimper’s nähert sich derjenigen von Ginkgo auf das Engste. Die Gattung Baiera, ohne Zweifel eine nähere Verwandte, erscheint in der permischen Epoche, und Ginkgo selbst tritt in aller Wahrscheinlichkeit in der zweilappigen Jeanpaulia der rhä- tischen Formation von Baireuth hervor, aber erst im jurassischen System erreicht die ganze Gruppe ihren Höhepunkt. Einige wenige Species sind in andern Werken beschrieben worden, aber Heer’s Juraflora des östlichen Sibirien (Flora foss. arctica vol. IV) liefert weitaus den wichtigsten Beitrag zu ihrer früheren Geschichte. Fünf verschiedene Gattun- gen sind in die Gruppen Phoenicopsis, Ginkgo, Baiera, Trichopitys und Czeka- nowskia vertheilt, doch ist kein specieller Kleinere Mittheilungen und Journalschan. Charakter vorhanden, der die letztere mit Ginkgo vereinigte, obwohl sie ohne Zweifel zu den Coniferen gehört. Ihre Ueberreste stellen Büschel von spitzigen und gelegentlich gegabelten Nadeln dar, die an ihrer Basis in dachziegelförmig sich deckenden Schuppen stecken. Ihre Blätter bilden bei den meisten Arten hierundda knopfähnliche Erweiterungen, die durch irgend einen ausgestorbenen Parasiten erzeugt worden sein mögen. Heer glaubt, dass ein getrennt gefun- dener Zweig, der kurz gestielte dop- pelte Samen oder Nüsse trägt, ihren Fruchtstand darstelle. Phoenicopsis zeigt ein Büschel getrennter Blätter, die eben- falls an ihrer Basis mit Schuppen be- deckt sind, aber ein schönes palmen- ähnliches Laubwerk bilden, und Heer glaubt, dass diese Gattung Cordaites mit Baiera verbinde, jedoch ohne direkte Verwandtschaft mit Ginkgo sei. Die abweichendste der zweifellos zu der Gruppe gehörenden Gattungen ist Trichopitys Saporta. Bei ihr sind die Blätter schmaler, mit spärlicheren Adern versehen, und das Parenchym zu einem schmalen, jede Ader einfassenden Strei- fen verschmälert. Obgleich eine höchst extreme Modifikation desnormalen Typus, besitzt Trichopitys setacea die charak- teristische Zweilappigkeit und den Blatt- stiel. Seine Zugehörigkeit lässt sich aufs Beste durch Ginkgo coneinna ver- folgen, welche ähnlich gestaltet ist, aber so verbreiterte Blattsegmente be- | sitzt, dass jeder zwei oder drei Adern aufnehmen kann. G. sibirica und lepida werden auf geringfügige und nicht durch die Ab- bildungen gestützte Gründe hin von einander getrennt, und liefern zusam- men die hauptsächlichste und massen- hafteste Laubmasse der Absatzschichten. Die Blätter sind nahezu so breit wie bei der lebenden Art, aber mehr finger- förmig zertheilt, und mit ungefähr fünf Adern in jedem Abschnitt versehen. Sie haben die Aderung, Zweilappigkeit 139 und Stielbildung von Ginkgo, nähern sich jedoch durch ihre breiteren Blätter baiera. Andere ähnliche Arten (?) von verminderter Grösse sind @. Schmidtiana, mit ungefähr sechs Segmenten, @. fla- bellata, mit vierzehn bis fünfzehn Seg- menten, und @. pusilla mit einer gerin- geren Zahl und bloss einen Zoll an der Basis breit. Diese drei können wahr- scheinlich zu einer einzigen Species vereinigt werden. Die noch übrige Form aus Sibirien, @. Huttoni ist weniger ge- theilt, indem sie nur vier abgerundete Segmente besitzt, und in dieser Be- ziehung sich am meisten der lebenden Art nähert. Die ihr nächste indessen ist @. di- gitata aus den Juraschichten Spitzber- gens, welche, wenn auch von kleinerer Gestalt und mit dickerem Blattstiel versehen, mit der lebenden Art vereinigt werden könnte. Angeblich derselben Art angehörende Blätter von Scarbo- rough sind grösser. @G. integriuscula ist offenbar das kleinere und weniger gelappte Blatt derselben Species und der Verfasser hat sich die unnöthige Mühe gemacht, fünf gehörig benannte und klassificirte Species aufzustellen, indem er damit deutlich zeigte, dass er sich keine hinreichende Anschauung von der Ausdehnung verschafft hat, in welcher die Blätter des lebenden Bau- mes sogar an einem und demselben Zweige abändern können. Seine Species sollten daher vermindert werden, da die ungemeine Artenzersplitterung einen Nachtheil darstellt und den Gebrauch des Werkes erschwert. Die dritte Gattung, Baiera, besitzt ein breiteres und mehr palmenähnliches Blatt, welches nahezu fünf Zoll Radius besitzt, und zunächst zwei Hauptlappen bildet, von denen sich jeder nochmals entweder einmal oder zweimal gabelt, so dass die letzten Abschnitte von gleich- mässiger Breite sind und je vier paral- lele Adern besitzen. Das Blatt ver- schmälert sich in den Blattstiel, der 140 bei den abgebildeten Exemplaren nicht erhalten war. Die Zweitheilung und Aderung verbinden sie hinreichend mit Ginkgo, und die Beständigkeit dieser Charaktere durch die gesammte Gruppe ist um so merkwürdiger, als man gar nicht vermuthet haben würde, dass sie einen morphologischen Werth besitzen. In der Kreidezeit wird eine Abnahme dieser Gruppe bemerklich. Baiera von den Komeschichten ist auf Spuren von verkümmerter Form, die man unter die Farne gestellt hat, beschränkt, wäh- rend Ginkgo in einer ebenfalls verküm- merten Species mit kleinen Blättern und kurzem dickemBlattstiel erscheint, die als Adiantum formosum beschrieben wurden, und durch Fragmente von den oberen Atane-Kreideschichten, dieunpassendmit dem Namen @. primordialis belegt wurden. In den arktischen Eocänschichten (Miocän Heer’s) ist blos Ginkgo, und das sehr spärlich, in Grönland ange- troffen worden. Diese Varietät gleicht so stark @. adiantoides der italienischen Miocänschichten, dass Heer beinahe sofort seinen Artnamen primordialis auf- gab, und sogar in Zweifel gerieth, ob nicht alle beide besser mit der lebenden Art vereinigt werden müssten. Die kleinen, in der baltischen Miocän- flora abgebildeten Fragmente sind un- sicher, und wir treffen sie einzig so weit südlich, wie in Italien, Süd-Frankreich und am Mississippi. Die angebliche Mississippi-Art ist inzwischen durch den Grafen von Saporta als ein Farn- kraut (eine Zygodium-Art) bestimmt worden, ‘und andererseits werden die von Heer und von Ettingshausen hierher gerechneten Samen und Blätter aus englischen Eocänschichten ebenso wie die französischen, schweizerischen und österreichischen Spuren aus der- selben Zeit in Zweifel gezogen. Die sehr stark ausgeprägten und ungewöhnlichen Charaktere von Ginkgo, die sich auch auf die verwandten aus- gestorbenen Genera erstrecken, die Zu- Kleinere Mittheilungen und Journalschan. rückerstreckung ihres Ursprungs bis in die Steinkohlenschichten, ihre ausser- ordentliche Entwickelung in der Miocän- zeit, ihre Fortdauer durch so viele Zeitalter scheint es wünschenswerth zu machen, dass man sie als besondere Untergruppe von den Taxineen trennt. In den Kreidezeiten beinahe ausgestor- ben und durch die tertiären Epochen nur in einer einzigen Species fortlebend, gleicht ihre heutige Existenz nur einem Ueberbleibsel. Ihre Heimath ist von Zeit zu Zeit in der arktischen Zone gewesen, doch ist es kaum bewiesen, wie Saporta sagt, dass sie wirklich von dort her- stammt. Das von Schimper abge- bildete Blatt aus dem Oolith von Scar- borough ist weit grösser als irgend eins der von Spitzbergen abgebildeten, und weder das Laub noch die Frucht des nordischen fossilen Ginkgo scheint sich zu ‚irgend einer Zeit demjenigen des in seiner jetzigen Heimath lebenden Baumes genähert zu haben. Er ist jetzt in den nördlichen Provinzen China’s heimisch und muss desshalb fähig sein, einem strengen Klima zu widerstehen ; doch scheinen die klimatischen Beding- ungen Westeuropa’s das Reifen der Früchte nicht in höhern Breiten als Südfrankreich zu begünstigen. Seine Vertheilung während der Ter- tiärschichten ist lehrreich und Sapor- ta’s Erklärung, dass er während der warmen eocänen und vor-eozänischen Zeiten im Norden existirte und von da quer durch Europa hinabstieg, als die Temperatur in den miocänen Zeiten abnahm, ist die einzige, welche den Thatsachen gerecht wird. Mit Heer anzunehmen, dassdieselbe Speciesgleich- zeitig und in derselben Höhe in Italien und Disko lebte, ist absurd und würde eine Gleichmässigkeit des Klima’s vor- aussetzen, wie sie keine natürlichen Ursachen in einer so späten geologischen Epoche hervorgebracht haben können. Kleinere Mittheilungen und Journalschan. Verirrte Blätter. Hier ist der Asteines Phyllanthus, der als Unkraut in meinem Garten wächst. Die Aeste dieser Phyllanthus- Art stehen wagerecht vom Stamme ab und wagerecht breiten sich — bei Tage und im Schatten — die Blätter aus, | abwechselnd rechts und links vom Aste, 141 so dass dieser das täuschende Ansehen eines gefiederten Blattes erhält. Bei dem vorliegenden Aste ist nun die eine Seite fast kahl; nur am Anfange und am Ende stehen je zwei Blätter; die sieben mittleren Blätter haben sich nach der andern Seite herumgebogen und gleichzeitig so gedreht, dass ihre obere Fläche, die bei einer einfachen Wande- Ast eines P’hyllanthus mit sieben verirrten Blättern, von oben gesehen; nach dem ge- trockneten Aste in natürlicher Grösse. rung durch 180° zur unteren werden würde, wieder nach oben sieht. Diese obere Fläche legt sich dicht an die untere Fläche der entsprechenden Blätter der anderen Seite an. — Wie kamen wohl die sieben Blätter in diese sonder- bare Lage? Beim Nahen der Nacht biegen sich die Blätter dieser Phyllanthus-Art nach unten (bei einer zweiten hiesigen Art nach oben), bis sie senkrecht nach abwärts sehen und gleichzeitig drehen sie sich so, dass die oberen Blattflächen der beiden Blattreihen einander zuge- wendet, dass also die unteren Blatt- flächen nach aussen gekehrt sind. Es ist dieselbe nächtliche Ruhelage, welche Pfeffer bei Phyllanthus Niruri beschrie- ben und Darwin von Cassia corymbosa abgebildet hat*. Von dieser senkrech- ten Nachtlage zur wagerechten Tages- stellung haben nun die Blätter gleich- * Darwin, Das Bewegungsvermögen der Pflanzen. Deutsch von J. Vietor Carus. S. 315, Fig. 154. weit, 9° nach rechts und nach links, nach ihrer eigenen und nach der ent- gegengesetzten Seite; ja letzterer Weg scheint in gewisser Beziehung der be- quemere zu sein: die Blätter brauchen sich nicht zu drehen, sondern nur ein- fach empor zu steigen. So kommt es denn bisweilen vor, dass ein oder meh- rere Blätter einer Blattreihe, ja bisweilen fast alle, sich verirren und am Morgen nach der verkehrten Seite wandern. Und sind sie einmal den bequemen falschen Weg gegangen, so scheinen sie ihn nicht leicht wieder zu verlassen. An derselben Pflanze, von welcher der obige Ast stammt, sehe ich schon wäh- rend einer Reihe von Tagen dieselben vier Blätter eines Astes immer wieder auf der verkehrten Seite, trotzdem sie jeden Abend beim Schlafengehen den halben Weg zur richtigen Seite machen *, Wenn nun schon an demselben Aste, * Heute (11. 1. 81) sind zwei der vier Blätter auf die richtige Seite zurückge- kehrt. 142 sei es auch nur als seltene Ausnahme, benachbarte Blätter in entgegengesetz- ter Richtung wandern, so kann es nicht Wunder nehmen, dass so oft bei ähn- lichen Arten die schlafenden Blätter eine verschiedene und nicht selten gerade entgegengesetzte Lage einnehmen. Man ist dadurch, — das scheinen mir die | verirrten Blätter des Phyllanthus zu be- weisen, — keineswegs zu der Annahme gezwungen, dass solche Pflanzen unab- hängig von einander die Gewohnheit des Schlafens angenommen haben. Itajahy, 10. Januar 1881. Fritz Müller. Aptvchen und Anaptvchen. Nachdem wir schon neulich in dieser Zeitschrift (Bd. VII, S. 389) auf die Ansichten von Prof. Hermann v. Ihe- ring in Leipzig über den Stammbaum der Cephalopoden näher eingegangen waren, wollen wir, das dort Mitgetheilte voraussetzend, einen kurzen Auszug aus seiner neuen Arbeit über »die Aptychen ‚als Beweismittel für die Dibranchiaten- Natur der Ammoniten« (Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und Paläon- tologie 1881, I. Bd. Heft I. S. 44 ff.) folgen lassen. Die Aptychen sind kalkige oder hornige Gebilde, von meist symmetrischer Form, deren beide Hälften dann den Schalen einer mehr oder weniger auf- geklappten Muschel gleichen, und dem Umstande, dass sie niemals zusammen- geklappt gefunden wurden, ihren Namen Aptychen (d. h. nichtzusammenklappbar von « privativum und nrvoosw zu- sammenklappen) verdanken. Man kennt sie schon aus primären Schichten, aber in manchen sekundären Schichten sind sie so häufig, dass dieselben als Apty- chenkalke u. s. w. bezeichnet werden. Gewisse gar nicht zusammenklappbare, überhaupt nicht zweitheilige, aber sonst ähnliche Kalkgebilde unterschied man Kleinere Mittheilungen und Journalschau. | mit dem sprachlich interessanten Namen ı der Anaptychen. Ihre Deutung hat sehr merkwürdige Wandlungen durchgemacht. Seit den Zeiten des alten Scheuchzer, dem Walch und Germar beistimmten, hielt man sie für die Schalen fossiler Enten- muscheln und noch in Carl Vogt’s ı Petrefaktenkunde kann man Restaura- tionen solcher angeblichen Lepaditen sehen, die der kürzlich im Kosmos ' (Bd. VIII, S. 430) gegebenen Abbildung derselben ungefähr entsprechen. Oken hielt sie für Schalen von Sternwürmern (Sternaspis); mehrere andere Paläonto- logen für Muscheln, ja Barrande scheint auf ihre Gestalt, die Annahme silurischer Chiton-Arten begründet zu haben. Alle diese Annahmen gingen davon aus, dass man die Aptychen oft für sich in den Erdschichten findet, aber mit grosser Beständigkeit kommen sie sonst im Kör- per von Ammoniten vor, und zwar fast immer in der hier schematisch ange- deuteten Lage, unmittelbar unter der Schale liegend und deshalb besonders deutlich bei den meist von der Schale befreieten, gut erhaltenen Steinkernen. Schematische Darstellung der Lage des Aptychus in der Ammonitenschale. Hermann von Meyer der dieser Ver- steinerung den ihr verbliebenen Namen gegeben hat, erkannte bereits diese, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 143 namentlich durch Leopold v. Buch her- vorgehobene regelmässige Beziehung zu den Ammoniten an, glaubte aber, dass es sich um Schalthiere handele, die von den Ammoniten verschlungen worden wären. Rüppelund Owen sahen später die Aptychen für Deckel des Cephalo- podengehäuses an, eine Meinung, die sich lange, namentlich in Bezug auf die Anaptychen gehalten hat, aber nicht stichhaltig erweist, da ihre Form selten auch nur annähernd zu einem solchen Zwecke passt. Man begann sie daher als Verkalkungen innerer Organe, dem bekannten Rückenschulp der Dinten- fische (Os Sepiaes) vergleichbar anzu- sehen, und in neuerer Zeit hat sich die Meinung von Keferstein und Waagen am meisten Anhänger ver- schafft, nach welcher sie Deckel zweier grosser blättriger Drüsen (Nidamental- drüsen) sein sollten, die sich am Ge- schlechtsapparat der Weibchen von Nautilus und den Dekapoden finden, und den klebrigen Stoff absondern, durch welchen die Eier dieser Thiere umhüllt und zu den bekannten See- trauben vereinigt werden. Bei den ge- nannten lebenden Thieren haben jene Drüsen keine aptychenartige .Bedeckung und es ist auch gar nicht abzusehen, warum sie, als vollkommen geschützt im Innern des Thieres liegende Organe, einer solchen benöthigen sollten, so dass, wie es scheint, nur die Rathlosig- keit, ein Analogon dieses Theiles im Körper lebender Cephalopoden zu finden, jene Annahme ermöglicht hat. An der Erfolglosigkeit der bisherigen Erklärungsversuche trug wohl vorzugs- weise der Umstand die Schuld, dass man immer von der Voraussetzung aus- ging, es müsse das Ammonitenthier ebenso gebaut gewesen sein, wie Nau- tilus, und ein Tetrabranchiat gewesen sein, wie dieser. Allein wie schon an obiger Stelle mitgetheilt wurde, deuten dieneueren Untersuchungen von Branco, Munier-Chalmas u. A. dahin, dass sowohl Goniatiten als Ammoniten Di- branchiaten waren, wie die grosse Mehr- zahl der heute lebenden Cephalopoden, und Prof. v. Ihering ging deshalb unter dieser Voraussetzung von Neuem an die Aptychenfrage, indem er nach einem Analogon des Aptychus nicht mehr beim Nautilus, sondern bei den heute leben- den Dibranchiaten suchte. Er glaubt ein solches wie mitgetheilt, in dem be- sonders bei den Dekapoden wohl ent- wickelten Nackenknorpel gefunden zu haben, der gewissen Muskeln des Kopfes und Trichters zum Ansatze dient und in seinen Formen lebhaft an die Aptychen erinnert. Verfasser führt zunächst aus, dass wie schon früher Waagen und Neu- mayr gezeigt haben, ein Unterschied zwischen zweitheiligen Aptychen und einfachen Anaptychen nichtnachzuweisen ist, denn beide kommen an derselben Nackenstelle der Ammoniten vor, und ersetzen einander bei ganz nahe ver- wandten Gattungen. So besitzt die fossile Gattung Aegoceras einen soge- nannten hornigen, eintheiligen Anapty- chus und die nach Neumayr davon nicht scharf abzugrenzende Gattung Harpoceras einen Aptychus, der als zwei- theilig, dünn, kalkig, mit dicker Con- chyolinschicht versehen, beschrieben wird. Der Nackenknorpel der lebenden Dekapoden bietet nun in seinem ovalen, oft aber, wie bei vielen fossilen Arten, herzförmigen Gesammtumriss schon äusserlich eine grosse Aehnlichkeit dar. Eine über den Nacken laufende Mittel- linie theilt ihn in zwei durch eine mehr oder weniger tiefe Furche getrennte Hälften, und auch hier könnte man ver- sucht sein, von einfachen und zweithei- ligen Nackenknorpeln zu reden, was aber freilich erst durch die Verkalkung der beiden Hälften bei den fossilen Formen zur Annahme zweier Schalenhälften füh- ren konnte. Vor Allem stimmt aber der mikroskopische Bau unter der Vor- aussetzung überein, dass bei den Apty- 144 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. chen eine nachträgliche Verkalkung aus- | hat man bisher nach Waagen niemals gefallener Gewebetheile zwischen dem eigentlichen Gerüst bei der Versteine- rung stattgefunden habe. Da wir das Wesentliche über diese mikroskopischen Verhältnisse schon an obenerwähnter Stelle mitgetheilt haben, so gehen wir hier nicht weiter darauf ein, und er- wähnen nur noch den wichtigen, aus der konstanten Lage des Aptychus zu ziehenden Schluss, dass wenn dieser, wie nunmehr sehr wahrscheinlich er- scheint, dem Nackenknorpel homolog ist, damit festgestellt wäre, dass die äussere oder convexe Seite der Ammo- nitenschale, wie man früher allgemein annahm, die dorsale ist, und nicht wie Suess in neuerer Zeit, von der ver- meintlichen Nautilus-Verwandtschaft aus- gehend, geschlossen hatte, die ventrale. Man kann sich daraus auch den Umstand erklären, dass oftmals, wenn die Schale der Ammoniten zerstört ist, der Aptychus erhalten bleibt, und dass andererseits so viele Aptychen ohne die dazu gehörigen Ammoniten ganze Lager ausmachen. An die durch die Challenger- und deutschen Expeditionen festgestell- ten Lösungsverhältnisse der kohlensäure- reicheren Tiefsee (vergl. Kosmos Bd. VII, S. 140) anknüpfend, meint Fuchs, dass bei der Bildung jener Aptychenschichten die arragonithaltigen Schalen durch kohlensaures Wasser aufgelöst worden seien, während die aus fester Knorpel- substanz, mit eingelagertem Kalkspath bestehenden Aptychen erhalten worden seien. Was das Vorkommen der Aptychen in Verbindung mit den Gehäusen be- trifft, so hat man sie namentlich in Ammoniten gefunden, und zwar in kon- stanten Formen, z. B. üungetheilt als sogenannte Anaptychen bei den Unter- gattungen Arietites, Aegoceras und Amal- theus, in der gewöhnlichen zweitheiligen Form bei den meisten übrigen. Nur bei wenigen Untergattungen, wie z. B. Phylioceras, Lytoceras und Trachyceras, Aptychen gefunden, und v. Ihering glaubt diese Thatsache mit dem Um- stande in Verbindung bringen zu sollen, dass dies Gattungen mit kurzer Haupt- kammer waren, bei denen der Nacken- knorpel wahrscheinlich mit dem Kopf nicht in’s Gehäuse zurückgezogen wer- den konnte, und sich daher mit diesem nach dem Tode leicht ablöste. Die Länge der Wohnkammer variirt nach Suess zwischen '/s und 1!/s Spiral- umgängen, und es ist wohl nicht ohne Zusammenhang, dass sie bei den ohne Aptychen gefundenen Gattungen beson- ders kurz war. Ausser bei den Ammoniten sind aber, wie Barrande dargethan hat, Anapty- chen auch wiederholt bei Goniatiten gefunden worden. »Es ist das umso- mehr bemerkenswerth, als ja die Gonia- titen dem einfachen Verhalten ihrer Naht zufolge, wie auch zeitlich als Vor- gänger der Ammoniten erscheinen. Neu- mayr hat zuerst den Satz formulirt, dass jeder Ammonit im Verlauf seiner Entwickelung ein Goniatiten- und darauf ein Ceratitenstadium durchlaufe. Ist auch der Satz in dieser Fassung nach Branco nicht allgemein gültig, so hat doch auch den Untersuchungen von Branco zu Folge, die von Barrande vergebens in Frage gezogene nahe Be- ziehung zwischen Goniatiten, Ceratiten und Ammoniten ihre feste innere Be- gründung.« Es handelt sich hier meist um sogenannte hornige Anaptychen, aus denen sich durch die bestimmt in den Goniatiten wurzelnden Gattungen Arcestes und Amaltheus die zweitheiligen, ver- kalkten Aptychen der Ammoniten ent- wickelt haben könnten. Möglicherweise sind aber wie Professor v. Ihering meint, sogar die sogenannten silurischen Chiton-Schalen Barrande’s, Aptychen silurischer Dibranchiaten! Kleinere Mittheilungen und Joumalschan. Das Verhalten der Siphonal-Dute und die Descendenz der Gephalopoden. In seiner oben eitirten Arbeit über | die Aptychen hat Prof. von Ihering auch eine Reihe für die Stammesge- schichte der Cephalopoden wichtige Be- trachtungen über die Verhältnisse des sogenannten Sipho rekapitulirt, die er früher schon mitgetheilt, hier aber er- weitert hat. Der Sipho ist bei Nautilus, wo man seine Verhältnisse genauer studiren kann, ein vom Rücken des in der vordersten Kammer wohnenden Thieres ausgehender gefässreicher, seh- niger Strang, welcher in der Mittelebene der Spirale verlaufend, sämmtliche Kam- merwände durchbohrt, und somit eine lebendige Verbindung zwischen allen Kammern herstellt, die wahrscheinlich dazu dient, die unbewohnten vor dem Verfall zu bewahren und vielleicht ihnen ausserdem Luft zuzuführen. Er ist bei den einzelnen älteren Cephalo- podenarten ganz oder theilweise von einer kalkigen Röhre (Siphonalscheide oder -Dute) umschlossen, die bei Nau- tilus von jeder Scheidewand aus nur ein Stückchen in die nächste Kammer hineinragt. Verfolgt man das Verhalten dieser Siphonalduten bei den ausgestorbenen Verwandten des Nautilus, so zeigen sich bemerkenswerthe Unterschiede, in- dem sie bei vielen Gattungen, nament- lich bei den. Vaginaten, nicht einfach vor der nächstältern Scheidewand en- den, . sondern noch eine Strecke weit in deren Siphonaldute hineinragen. Das führt dann unmittelbar zu dem Ver- halten bei Endoceras, wo jede Sipho- naldute nach hinten zugespitzt und geschlossen endet, so dass alle diese kegelförmigen Siphonalduten wie ein Satz Tassen in einanderstecken. Der Sipho hat also bei Endoceras nicht von der Wohnkammer aus, die sämmt- lichen dahinterbelegenen Luftkammern durchlaufen, sondern ist im Verlaufe 145 des Wachsthums immer weiter nach vorne gerückt, und hat bei jeder Wachs- thupsperiode je eine Siphonaldute aus- gebildet, zu der je eine Scheidewand gehörte. Die Ursache für das Vorrücken des Sipho liegt in dem Wachsthum der Schale, wobei beständig der Anheftungs- ring mit den Schalenmuskeln weiter nach vorne vorrückt. Bei Endoceras ist also der Sipho nicht wie sonst dauernd in der hintersten Siphonaldute befestigt gewesen, sondern er hat sich beim wei- teren Wachsthum jedesmal dort her- ausgelöst, indem er von dem Thiere nachgeschleift wurde, so dass immer eine neue hinten abgeschlossene Dute abgeschieden wurde. Zwischen diesem Verhalten bei Endoceras und dem der übrigen Orthoceratiten, wo der Sipho sämmtliche Kammern durchläuft, und die Siphonalduten von einer Scheide- wand zur andern sich erstrecken, liegt nun anscheinend eine grosse Kluft. Die- selbe lässt sich aber überbrücken, wenn man sich vorstellt, dass der Sipho beim weitern Wachsthum des Thieres nicht nachgezogen wurde, sondern selbst wei- terwuchs, und nach wie vor in einer der ältesten Siphonalduten befestigt blieb. Zur Erläuterung dieses Vorganges können die nachstehenden schematischen Zeichnungen dienen. Es ist dann ohne Weiteres klar, dass nur diejenige Si- phonaldute hinten zugespitzt und ge- schlossen enden kann, in welcher das hintere Ende des Sipho festsitzt, wäh- rend alle folgenden Siphonalduten hinten offen sein müssen, indem jede von ihnen nur soweit sich nach hinten erstrecken resp. bilden kann, als sich zwischen Schale und Sipho ein freier Raum befindet. Dass aber der Sipho von Endoceras wirklich das primitive Verhalten darstellt, wird nun durch gewisse Gründe sehr wahr- scheinlich gemacht. Sandberger und Hyatt haben fest- gestellt, dass die ersten Scheidewände von Nautilus und Goniatiten nicht vom Sipho durehbohrt werden, und dass bei Nautilus 146 auch noch die zweite Scheidewand eine nach hinten blind endigende Dute bildet, die in der ersten sitzt, also ein Verhalten zeigt, wie es bei Eindoceras sämmtliche Duten darbieten. Es scheint also, dass hier der Sipho des jungen Thieres an- fänglich.noch nachgezogen wurde, dann aber sich an der Hinterwand dauernd befestigte. Bei Orthoceras duplex soll auch noch die dritte Scheidewand, eine solche geschlossene Siphonaldute bilden. Das Verhältniss scheint also so zu sein, dass das von den andern nur kurz durch- Schematische Darstellung der Siphonalduten terende des Thieres nicht nur gleich an- | fangs und beim weitern Wachsthum im hintern Ende der Schale festhaften, son- dern auch an der einen Seitenwand an- liegen blieb, so konnte beim weitern Vorrücken des Thieres, die Bildung von Scheidewänden, nur an der andern Seite, resp. der einen Hälfte des Schalenum- fangs statthaben. Da trat dann jener ebenfalls schematisch abgebildeteFallein, der anscheinend bei Ascoceras vorliegt, dessen Luftkammern, nur je der einen Hälfte einer Luftkammer der andern Nau- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. laufene Stadium, bei Eindoceras zeitlebens bestehen blieb. Damit ist aber natür- lich nicht gefordert, dass die ältesten Cephalopoden alle Endoceras-ähnliche Si- phonalduten besessen haben müssten, da ja bei manchen Formen der Uebergang zum Festhalten des Sipho schon sehr früh eingetreten sein kann. In den vorausgehenden Betrachtun- gen ist auf die centrale oder excentrische Lage des Sipho keine Rücksicht genom- men. Stellt man sich aber auch dieses Verhältniss beachtend vor, dass das Hin- | / / / / bei Orthoceratiten, Endoceras und Ascoceras. tiliden entsprechen würde. Aus alledem scheint hervorzugehen, dass eben in den ältern silurischen Faunen, die ganze, später so typische Bildungsweise des Si- pho noch nicht völlig fixirt ist, und da- her finden sich dann Formen mit von Anbeginn an fixirtem Hinterende, nebst solchen, die es erst später in irgend einer Siphonaldute angelöthet besassen, und endlich solchen, die das Hinterende beim Verlassen der alten Wohnung stets nach sich schleiften. So kann es denn auch nicht weiter befremden, wenn wir Kleinere Mittheilungen und Journalschan. 147 bereits in der zweiten silurischen Fauna den Sipho bei den meisten Gattungen typisch ausgebildet finden, neben For- men, welche wie Zindoceras und Ascoceras die tiefere Stufe repräsentiren. Denn wie gross auch morphologisch der Unter- schied erscheinen muss, physiologisch ist er ein minimaler, abhängig nur von der früher oder später erfolgten Fixirung des Hinterendes. Allerdings würde diese Annahme es immerhin wahrscheinlich machen, dass Eindoceras-ähnliche Arten die Vorläufer der mit‘ typischem Sipho versehenen Gattungen gewesen seien. Selbst Barrande erkennt an, dass die Vaginaten sich am meisten den Gastro- poden annähern, weil sie einen Theil des Eingeweidesackes im weiten Sipho enthielten, und Scheidewandbildungen auch bei Gastropoden, z. B. Euomphalus vorkommen. »Wir würden daher, weil die Cepha- lopoden bereits bei ihrem ersten Er- scheinen in der zweiten silurischen Fauna mit zahlreichen Gattungen auf- treten, in der ersten silurischen Fauna solche einfach gekammerte Schalen an- zutreffen erwarten müssen. Diese sind nun in der That auch da, wenn auch bisher meist nicht als Cephalopoden, sondern als Pteropoden gedeutet. Be- kanntlich finden sich in allen silurischen Schichten, auch schon in der ersten silu- rischen Fauna, gekammerte Schalen, welche bald für Cephalopoden und bald für Pteropoden gehalten wurden. Gegen- wärtig ist besonders durch Barrande die letztere Ansicht die herrschende ge- worden. Sieht man sich aber nach den Gründen um, welche dazu führten, die ursprüngliche Auffassung dieser Formen als Cephalopoden zu verlassen, so sind dieselben keineswegs stichhaltig. So vor allem das Moment, welches zuerst für die Pteropodennatur mit Erfolg geltend gemacht wurde, nämlich die auffallende Dünne der Schalen, dem man hier ge- wiss ebensowenig entscheidenden Werth beimessen kann, wie bei Muscheln und Schnecken. Ausserdem trifft die Angabe nicht einmal immer zu, da wie Bar- rande geltend macht, Hemiceras und Salterella eine dickere durch innere con- centrische Lagen verstärkte Schale be- sitzen. Für Barrande ist daher nicht dieser Umstand, sondern der Besitz des Sipho für die Cephalopoden entscheidend, während die Scheidewände der silurischen Pteropodenschalen nicht von einem Loch für den Sipho durchbohrt sind. Im Gegen- satze dazu seien die Septen der Cepha- lopoden immer von dem Loche für den Sipho durchbohrt und da das bei Conu- laria u. s. w. nicht der Fall sei, handle es sich nicht um Cephalopoden. Nun ist aber doch Endoceras in der gleichen Lage, undurchbohrte Scheidewände zu haben (und ebenso wie Endoceras zu Orthoceras verhält sich nach Barrande die Gattung Piloceras zu Cyrtoceras), so dass auch dieses Argument hinfällig wird. Dazu kommt, dass nach der pa- läozoischen Zeit keine Pteropoden bis zum Tertiär mehr vorkommen, und dass die Grössenverhältnisse der paläozoi- schen Gattungen zum Theil ganz ausser- ordentliche (über 20 Ctm.) sind, wo- durch sie sich ganz von den wirklichen Pteropoden entfernen. Wenn daher Agassiz, Geinitz, Sowerby, Hall, Salter, Dana u. A. die betreffenden Schalen für Cephalopodenschalen hielten, so wird man dies auf Grund des Be- merkten nur für richtig erklären können, während für die Zurechnung zu den Pteropoden nichts Stichhaltiges ange- führt werden kann. Wenn nun die in Rede stehenden Organismen die Vor- läufer und Zeitgenossen von Cephalo- poden waren, dann müssen sie auch als besondere Familie neben die Orthocera- titen u. s. w. eingereiht werden und Ihering schlägt deshalb vor, sie ihrer dünnen Schalen wegen als Leptocera- titen zusammenzufassen. Diese würden demnach die ältesten Cephalopoden sein, von denen sich einerseits als ein kleiner Seitenzweig die Tetrabranchiaten abge- 148 zweigt hätten, während die übrigen direkt zu den Dibranchiaten hinüberleiten, wo- mit dann Dana’s Ansicht acceptirt wäre, der die Leptoceratiten für Dibran- chiaten hält. Die Kammerung der Leptoceratiten bildet daher nicht nur keinen Grund gegen die Einreihung unter die Cepha- lopoden, sondern spricht vielmehr für dieselbe. Die Zahl der Scheidewände ist eine für die verschiedenen Arten wechselnde, sehr oft ist auch von den- selben überhaupt nichts erhalten. Wäh- rend in manchen Fällen nur eine oder einige solcher Scheidewände in der Spitze vorhanden sind, steigt deren Zahl in anderen Fällen auf 15—20, wie bei Hypolithes elegans oder, wie bei Phrag- motheca bohemica, auf über fünfzig. Die Scheidewände sind nach hinten zu con- cav, was also wieder zu Gunsten des Vergleichs mit Endoceras spricht. Nach- dem von Ihering sich noch in Betreff der plötzlichen Aufsteigungen des heran- wachsenden Thieres mit Barrande'’s Ansichten hierüber auseinandergesetzt hat, schliesst er seine lichtvolle Dar- stellung mit folgender Betrachtung über den Ursprung der Cephalopoden, die wir wegen ihres grossen Interesses für die Descendenztheorie wörtlich wieder- geben: »Der Umstand, dass gerade in den älteren silurischen Schichten diese ein- facheren, den Anschluss an andere Mol- lusken vermittelnden Formen auftreten, spricht jedenfalls nicht gegen die Des- cendenztheorie. Bekanntlich hat Bar- rande in der Art des Auftretens der verschiedenen Typen von paläozoischen und zumal silurischen Cephalopoden einen starken Beweis gegen die Ab- stammungslehre geltend machen zu kön- nen geglaubt. Er stützt sich dabei vorzugsweise auf das gleichzeitige Auf- treten von Nautilus und (Goniatites, welche doch beide, namentlich hinsicht- lich des Embryonalendes ein so ver- schiedenes Verhalten darbieten. Bar- Kleinere Mittheilungen und Journalschan. rande geht dabei von der Voraus- setzung aus, dass der Nautilus uns das Bild der ältesten Cephalopoden schlecht- hin vor Augen führe, und dass Gonia- tits und die Ammoniten ebensowohl wie die Dibranchiaten vom Standpunkte der Descendenz aus, vom Nautilus müss- ten abgeleitet werden. Diese Voraus- setzungen aber haben sich, wie in dem Verlaufe unserer Betrachtungen sich ergeben hat, als irrige herausgestellt, womit denn auch die gegen die Des- cendenz geltend gemachten Einwände ihre Bedeutung verlieren. Sowie die Verhältnisse jetzt hinsichtlich der Auf- fassung der Ammoniten und Goniatiten als Dibranchiaten liegen, existiren zwi- schen denselben und zwischen den von Barrande urgirten Thatsachen keiner- lei Widersprüche mehr. Weit davon entfernt, in den Verwandtschaftsbezieh- ungen der fossilen und lebenden Ce- phalopoden eine Schwierigkeit für die Durchführung der Descendenztheorie er- blicken zu können, zweifle ich vielmehr nicht daran, dass gerade sie im wei- tern Verlaufe der Forschungen als ein besonders instruktives Beispiel und Be- weismittel sich herausstellen werden. Man wird hierzu schon jetzt gedrängt, wenn man in grossen Zügen sich das Bild der Entwickelung der ganzen Klasse vor die Augen hält. Man erkennt dann, wie die eigenthümliche Kammerung und Sipho-Bildung derfossilen Cephalopoden- schalen in den ältesten Schichten noch nicht überall ihre typische Ausbildung aufweist, wie also erst nach verschie- denen Versuchen und Anläufen das bekannte typische Verhalten zur Norm wurde, wie dann späterhin die Tendenz zur Rückbildung der ganzen Schale ‚hervortritt, wie durch einen in der On- togenie der lebenden Dekapoden sich noch jederzeit wiederholendem Eiustül- pungs- und Verwachsungsprozess aus der äusseren, gekammerten Schale, eine innere rudimentäre wird, und wie end- lich die Schalenanlage auch da noch Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 149 andeutungsweise wiederholt wird, wo es, wie bei den Oktopoden zum voll- kommenen Schwunde der Schalen ge- kommen ist. Hält man dies zusammen mit der Thatsache, dass die einzige paläozoische Cephalopoden - Gattung, welche in der Lebewelt noch Repräsen- tanten besitzt, in anatomischer Hinsicht in vielen, wenn auch nicht in allen Beziehungen, auf einer sehr niedern, mor- phologischen Entwickelungsstufe steht, und in vielen Beziehungen ein Stadium uns dauernd vor die Augen führt, wel- ches in der Embryologie der Dibran- chiaten noch wieder erscheint, so wird man im Allgemeinen gewiss keinen Grund haben, die Gephalopoden als eine für die Prüfung der Descendenzlehre ungünstige Klasse anzusehen. Denn wenn auch die Cephalopoden und zu- mal die Dibranchiaten zu den höchst entwickelten Geschöpfen unter den wir- bellosen Thieren zählen, so wäre es doch verfehlt, schon den paläozoischen CGephalopoden die Organisation der lebenden Dibranchiaten zuschreiben zu wollen. Das frühzeitige Auftreten der Cephalopoden würde nur dann als Be- weis gegen die Richtigkeit der Descen- denz geltend gemacht werden können, wenn man ein Recht hätte, schon den ältesten Cephalopoden die Organisation derjenigen lebenden Vertreter der Klasse zuzuschreiben, welche man mit Recht als die höchst entwickelten Geschöpfe unter den Wirbellosen zu betrachten pflegt. Da diese Voraussetzungen nicht zu- treffen, da vielmehrunsere lebendenhoch- organisirten Dibranchiaten nur als die Endglieder eines weitgehenden und lang- wierigen Umwandlungsprozesses erschei- nen, so kann die Phylogenie der Cepha- lopoden nur als ein zur Bestätigung und Befestigung der Descendenzlehre geeignetes Gebiet anerkannt werden. « Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). Eine Anpassung an das unregelmissige Auftreten der Wanderheuschrecken. In seinem neuesten Berichte über die natürlichen Feinde der Heuschrecken theilt der berühmte Entomolog der Ver- einigten Staaten Charles V. Riley fol- gende, dem American Entomologist ent- nommene Beobachtung mit, die auch für die Anhänger der Entwickelungslehre von allgemeinem Interesse sein dürfte. Die Larven des gestreiften Pflaster- käfers (Epicauta vittata) nähren sich von den Eiern einer Wanderheuschrecke (Caloptenus differentialis). Von einer Anzahl dieser Larven nun, die mit diesen Eiern gefüttert und gross gezogen wurden, ent- wickelten sich mehrere im ersten, drei im zweiten und eine erst im dritten darauf folgenden Sommer zum fertigen Käfer, obgleich sie alle gleichzeitig aus- geschlüpft und genau denselben Beding- ungen ausgesetzt gewesen waren. Riley knüpft daran folgende treffende Bemer- kung: »Diese Unregelmässigkeit in der Ent- wickelung von Individuen macht sich bei manchen Insekten bemerkbar, die para- sitisch leben und deren Lebensunterhalt unsicher ist. Bei unseren Pflasterkäfern, die auf Heuschreckeneier angewiesen sind, und besonders bei denen, die sich speciell von Eiern von Wanderheuschrecken näh- ren, ist es nicht schwer zu verstehen, wie diese Eigenthümlichkeit derjenigen Art, welche sie besitzt, sich vortheilhaft erweisen kann. Wanderheuschrecken treten in unregelmässigen Zwischenräu- men in einem besonderen Theile des Landes in unermesslichen Scharen auf, und bisweilen ist dieselbe Gegend eine Reihe von Jahren hindurch von ihnen vollständig frei. Die jungen Pflaster- käfer, die das nächstfolgende Jahr aus- schlüpfen, nachdem die Heuschrecken in zahlloser Menge erschienen sind, mögen häufig wenigodergarkeine Heuschrecken- eier zu erbeuten finden und die grosse Masse derselben würde folglich zu Grunde 11 150 gehen; während die Jungen solcher ab- weichenden Individuen, die erst 2, 3, oder noch mehr Jahre nach einem Heu- schreckeneinfall ihre Entwickelung vol- lenden, weit bessere Aussicht haben, geeignete Nahrung zu finden und so ihre Art fortzupflanzen. In diesen und den meisten anderen Fällen verzögerter Entwickelung, mit denen wir näher be- kannt sind, kann die ausnahmsweise Ver- zögerung der Art nützlich werden und wird ihr nützlich, indem sie ihr über ungünstige Perioden hinweehilft. Und wir können begreifen, wie durch die Er- haltung solcher begünstigten Individuen die Gewohnheit unregelmässiger Ent- wickelung bei der Art befestigt werden kann, sobald die Lebensbedingungen und Umstände es vortheilhaft machen.« (The rocky mountains locust. Further facts about the natural enemies of locusts. By Charles V. Riley, M. A., Ph.D. — Extracted from the Second Report of the United States Entomological Com- mission 1880. Chapter XII.) Unfruchtbare Zwillinge bei Rindern. Im Repertorium für Thierheilkunde (XLI. 1881, p. 1) theilt Hering seine Beobachtungen über eine merkwürdige Missbildung bei Rindern mit, die viel- leicht, eben weil sie höchst seltsam er- scheint, Licht auf die Frage nach der Entstehung der Geschlechtsunterschiede (vergl. Kosmos Bd. IX, S. 75) werfen kann. Es ist längst bekannt, dass wenn Kühe Zwillinge zur Welt bringen, welche verschiedenen Geschlechts sind, das eine der Neugeborenen, und zwar das an- scheinend weibliche Junge, meist eine mangelhafte Entwickelung der Fortpflan- zungsorgane zeigt. Die Züchter der ver- gangenen Jahrhunderte kannten bereits diese Eigenthümlichkeit der Gattung Rind, denn das Volk hatte in mehreren ändern besondere Namen für dergleichen missbildete Kälber; man nannte sie in England freemartin, in Frankreich taur, Kleinere Mittheilungen und Journalschan. in Italien maumghi, in Holland kweene, in Deutschland dagegen Zwitter, ein Name der nicht passend ist, da es sich nicht um die bei höheren Wirbelthieren überhaupt höchst seltene Vereinigung beider Geschlechter in einem Individuum, sondern um unvollkommene, in der Ent- wickelung stehen gebliebene weibliche Thiere handelt. Dies hat schon der ver- storbene Director der niederländischen Thierarzneischule A. Numan in seiner in den Jahren 1872—73 in Folge einer Preisaufgabe verfassten mit 23 lithogr. Tafeln illustrirten »Verhandelig over de onvruchtbare Runderen, bekennt under dem Naam van Kweenen« nachgewiesen, und Hering liefert dazu achtzehn wei- tere Beobachtungen, die mit Ausnahme von dreien die erwähnte Regel bestätigen, dass der weibliche Zwilling der miss- bildete und darum unfruchtbare sei. In dem einen Falle wo beide Zwillinge weib- lich waren, fanden sich die Geschlechts- organe beider normal entwickelt. Es ge- hört zu den Eigenthümlichkeiten dieser ohnedies schwer zu erklärenden Miss- bildungen, dass man keine einfachen Geburten kennt, die in dieser Weise missbildet sind. Weder Numan noch Hering haben solche beobachtet. Die Ursache ist im höchsten Grade dunkel, und man kann nur sagen, dass Rinder, vermuthlich in Folge ihrer unnatürlichen Lebensweise (Stallfütterung u. s. w.) über- haupt sehr zu Missbildungen neigen, wobei, wie es scheint, der männliche Zwilling (weil kräftiger?) stets die nor- male Entwickelung der Genitalien bei seiner Schwester hindert; leider werden solche Thiere, weil schwächer, stets bald der Schlachtbank überliefert und man weiss daher nicht, wie die weitere Ent- wickelung der Geschlechtsunterschiede ausfallen würde. Der germanische Typus. In der Februar-Sitzung der Berliner Anthropologischen Gesellschaft gab Vir- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. chow eine Erörterung der Frage, ob ein bestimmter einheitlicher Typus der germanischen Rasse bestehe und wo der- selbe zu suchen sei. In der letzten Zeit ist dies Thema vielfach angeregt, und es haben sich starke Zweifel an der Existenz eines solchen Typus eingestellt. Die bei- den hauptsächlichsten Bearbeiter, deren Resultate einander übrigens ziemlich dia- metral zuwiderlaufen, sind Lindenschmit und Prof. Kollmann, der General-Secretär der Deutschen Anthropologischen Gesell- schaft. Der Erstere sucht in der Einleitung seines grossen Werkes die entscheidenden Merkmale des germanischen Urtypus in der alemannischen Periode und will diese zum Modulus der Beurtheilung aller übri- gen machen, Kollmann dagegen (Archiv für loc) erklärt, dass auch in jener Periode bereits kein cr Typus mehr nachweisbar sei; der reine meso- bis dolichocephale, von Lindenschmit und Ecker aufgestellte Typus betrage circa 43 pCt. aller Funde, der Rest sei mesocephal bis brachycephal. Solche gemischte Funde treffe man immer an, wenn man auch noch so weit als mög- lich zurückgeht. Der Vortragende be- stätigt dies mit Bezug auf belgische Höhlenfunde, deren eclatantestes Beispiel drei Schädel mit durchaus verschiedenem Typus aufweist. Lindenschmit wie Koll- mann stehen auf gleichemBoden in Bezug auf die Unveränderlichkeit der Typen, der letztere erklärt alle Veränderung aus Ver- mischung, und demnach gälte es, aus den Mischungen die ursprünglichen Ele- mente zu isoliren. Wir finden heute in Deutschland kaum einen Platz mit ein- heitlichem Typus, am wenigsten im Süden und Südwesten; die neuerdings so viel- fach angestellten Untersuchungen der Haar- und Hautfarbe, Schädelform u. s. w. bei Schulkindern zeigen dort weit mehr Mischung wie im Norden, wo, besonders in Schleswig-Holstein, Hinterpommern etc., der blonde Typus immer mehr überwiegt. Kollmann erklärt dieses Ueberwiegen durch die Coincidenz zweier blonden 151 Rassen, der germanischen und slavischen, was en auffällt, als wir die Se eher für brünett aneaschin uns gewöhnt haben, während Kollmann eben ihren blonden Typus betont und als Unterschied nur die grauen Augen gegen die blauen der Germanen aufführt. Interessant hierzu ist der Bericht des Ibrahim J acuth, welcher die Böhmen als brünett und schwarzhaarig bezeichnet und wenig Blonde gefunden hat; aber freilich folgt weder hieraus, aus unseren Beob- achtungen a die Böhmen, Serben etec., dass nun alle Slaven brünett sein müssten ; es scheinen eben im Norden alle Stämme zwei Schattirungen zu besitzen, so bei- spielsweise auch die Finnen, und es kann deshalb in Frage gestellt werden, ob der blonde Typus überhaupt als charakteristisch für nordische Völker anzusehen ist. Die grosse Anzahl blon- der Juden liefert einen weiteren Beitrag zu diesen Zweifeln, obschon auch hier die Vermischungsfrage als eine offene betrachtet werden könnte. Die osteo- logischen Untersuchungen haben uns nicht sehr gefördert; es stellt sich mit der dunklen Farbe immer Kurzköpfig- keit ein — aber nicht nur nach Süden, sondern ebenso nach Norden, während der hellen Farbe mehr Mesocephalie bis Dolichocephalie entspricht. Ganz der- selbe Gegensatz zeigt sich bei den Fran- zosen: es zerfallen nach neueren For- schungen die Kelten nach Nord und Süd in zwei ganz verschiedene Stämme, wo- mit die zur Zeit des Polybios noch be- stehende Unterscheidung der Gallier von den Galatern neues Leben erhält. Aber woher sind die Galater (Südfrankreich) gekommen? Unter den ihnen benach- barten Anwohnern desMittelmeeresfinden wir keine Brachycephalen. Der Vor- tragende erwähnte noch seiner Unter- suchungen über die Friesen, welche schon’ bei den ältesten Ueberresten sehr greif- bare Unterschiede ergaben, um dann die Frage: Welche Merkmale kennzeichnen den Urgermanen‘ 2 dahin zu beantworten, 11° dass wir durchaus nicht in der Lage sind, dieselbe präcis zu erledigen; die Forschung liegt noch in den Anfängen, und wenn Carl Vogt’sDietum, die Preussen möchten sich nicht so sehr als Germanen aufspielen, da sie doch nur Slaven mit wenig germanischem Elemente versetzt wären, auch unbedingt falsch sei, da nachweislich eine sehr starke germa- nische Einwanderung in die altpreussi- schen Länder, welche sogar Regionen. mit rein germanischer Bewohnerschaft enthalten, stattgefunden hat, so seien doch andererseits die süddeutschen Ver- hältnisse ebenfalls schwierig. Von den Kelten, welche die südliche Bevölkerung durchsetzen sollen, will Lindenschmit nichts wissen, aber es liegen doch recht bündige Zeugnisse für deren Existenz vor. Die Bayern sind wesentlich Brachy- cephalen, die Südfranzosen auch. Zum Schlusse wies Redner noch auf das lin- guistische Interesse der Frage mit der Bemerkung hin, dass die Familiennamen nichts für die Rassenzugehörigkeit ent- scheiden, da sie erst in einer sehr späten Periode entstanden sind. Krautartige Weinreben aus dem Nudan. In den durch die Reblaus verwüsteten Weindistrikten des südlichen Frankreich beabsichtigt man einen interessanten Versuch mit der Einführung krautartiger Weinreben aus dem Sudan zu machen. Nach von dem französischen Reisenden Lecard bestätigten Beobachtungen rei- chen 90 Tage mit einer Wärme von 17° oder 100 Tage mit einem Mittel von 15° aus, um diese Reben ihre ge- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. sammte Vegetation vollenden zu lassen, und diese Bedingungen dürften vom Mai zum September im südlichen Frank- reich stets leicht erfüllt werden. Die Akklimatisationsfrage würde sich also leicht lösen, dagegen drängt sich ein Bedenken in der Frage auf, werden die Wurzeln derkrautartigen Rebe den Winter aushalten? L&cardmeint, dass esjeden- falls leicht sein würde, sie zu schützen, wie man ja durch Strohbedeckung an- dere krautartige Gewächse, wie z. B. die Artischocken schützt, und er versichert, dass diese Reben, welche im Sudan acht Monate Trockenheit und intensive Hitze überdauern, von einer grossen Wider- standsfähigkeit seien, so dass man, nach der Erfahrung, dass grosse Trockenheit ähnliche Wirkungen auf die Pflanzen übt, wie Kälte, sich über diesen Punkt nicht zu beunruhigen braucht. Die Ver- suche werden mit fünfzigtausend Samen- kernen, welche L&card von seiner Reise mitgebracht hat, angestellt werden, und nach zwei Jahren wird man wissen, wie es mit dieser neuen Einführung steht, Le&ecard hat fünf Varietäten beobachtet, die er nach sich selbst und seinen Freunden benannt hat: Vitis Lecardü mit lanzettlichen Blättern, wie der wilde Wein, Vitis Durandii (nach seinem Reise- begleiter) mit runden Blättern, Vitis Chantinii mit wolligen Blättern, Vitis Faidherbii, nach dem Eröffner des Sudan, und Vitis Hardi, nach seinem Lehrer. Unter ihnen trägt keine Varietät weisse Beeren, aber Lecard hofft, dass sich solche Varietäten durch die Kultur leicht erzeugen werden. (Revue scienti- fique 1881. Nr. 4.) Ba 4 Literatur und Kritik. Drei Werke über Entwickelungsgeschichte der (eographie. 1. Geschichte der geographischen | Entdeckungsreisen im Alter- thum und Mittelalter bis zu MagellansersterErdumsege- lung. VonJ. Löwenberg. Mit über hundert Textabbildungen und fünf Karten. Leipzig und Berlin. Otto Spamer, 1881. 458 8. in 8. 2.Im Ewigen Eis. Geschichte der Nordpolfahrten von den ältestenZeiten bis auf die Ge- genwart. Von Friedrich von Hell- wald. Mit zahlreichen Illustrationen und Karten. 953 S. in gr. 8. Stutt- | gart 1881. Verlag der J.G. Cotta’schen | Buchhandlung. . Die geographische Erforschung des afrikanischen Kontinents von der ältesten Zeit bis auf unsre Tage. Ein Beitrag zur Geschichte der Erdkunde, von Dr. Philipp Pau- litschke. 2. vermehrte und ver- besserte Aufl. Wien, Brockhausen & Bräuer, 1880. 331 S. in gr. 8. Löwenberg’s Buch bietet eine ge- schickt gruppirte und anziehend geschrie- bene Darstellung der ersten durch Ent- deckungsreisen vermittelten Ausbildung der geographischen Kenntnisse von den ältesten Zeiten bis zu Magellan’s erster Erdumsegelung. Es hat einen eigenen Reiz in solcher Schilderung der Ent- wickelung einer Wissenschaft aus ihrer o ı dunkelsten, an Phantasiegebilden reichen Kindheitsepoche, durch das erste Auf- dämmern der richtigeren Erkenntniss, bis zur allmähligen Einsicht und völligen Beherrschung des Gebietes zu folgen; erst auf diese Wege lernt man die be- treffende Diseiplin wirklich lieben, und die von ihr errungenen Stufen würdigen und schätzen. Darum bildet dieses Buch, dessen reich durch Abbildungen illustrir- ter Text noch die grosse Epoche der Entdeckungen einschliesst, die beste Ein- leitung zu der von Fr. v. Hellwald und Richard Oberländer herausge- gebenen »Illustrirten Bibliothek der Län- der- und Völkerkunde«, die ein zweiter in ähnlicher Weise zusammenfassender Band über die Entdeckungsreisen von Magellan bis Cook zum Abschluss brin- gen wird. Da die Kenntniss dessen, was dieses Buch enthält, nicht nur einen un- erlässlichen Bestandtheil der allgemeinen Bildung ausmacht, sondern auch einen solchen, dessen Erwerbung in angeneh- mer Weise anregt, so darf das hübsch ausgestattete Buch ohne Zweifel aufzahl- | reiche Leser rechnen. In ähnlicher Weise beginnt Hell- wald seine Geschichte der Nordpol- fahrten mit der Schilderung der Ah- nungen und Irrfahrten der ältesten For- scher und Reisenden; er lässt die nor- dische Welt gleichsam vor unsern Augen noch einmal entdeckt werden, und führt uns so von Jahrhundert zu Jahrhundert fortschreitend, unmerklich dem Pole im- 154 mer näher, immer tiefer in die Kunde der betreffenden Regionen, ihrer gefahr- vollen Seiten und ihrer den Geographen und den Naturforscher mächtig anzie- henden Natur ein. Natürlich konnte er in Folge seiner Beschränkung auf ein engeres Gebiet eingehender schildern, als der Verfasser des vorher erwähnten Buches, wir fühlen uns von Seite zu Seite heimischer in jenen unwirthlichen Regionen, wo so viele Fragen der Wissen- schaft ihrer Lösung entgegensehen dür- fen. Grade jetzt wo sich die Regierun- gen wiederum für eine grossartige Or- ganisation zur wissenschaftlichen Er- forschung des Nordpols vorbereiten, kommt diese mit wahrer Liebe und Hin- gebung bearbeitete Darstellung zur rech- ten Zeit, und wir dürfen ihr mit um so mehr Theilnahme eine weite Verbreitung wünschen, als auch gar manche Fragen der Weltentwickelung und des Auftretens der Organismen von der genauen geo- gnostischen und paläontologischenDurch- forschung der Polarländer ihre Lösung erwarten. Alle diese Probleme, die phy- sikalischen, meteorologischen und biolo- gischen sind auch von Hellwald neben den rein geographischen Fragen in die- sem alles Nordpolwissen zusammenfas- senden Werke angedeutet; es ist ein rechtes Entdeckerbuch auch für‘ den Leser, der aus den Ueberraschungen nicht herauskommt, und mit dem Be- kenntnisse endigt, dass gegen solche, von berufener Hand geschriebene that- sächlichen Berichte, diephantasievollsten »Naturwissenschaftlichen Romane« von Verne und Consorten langweilige Stüm- perarbeit bleiben. Wozu für solche Phan- tastereien schwärmen, wenn die Wirk- lichkeit packender und interessanter ist, als derartige, oft mehr als windige Luft- fahrten ? Hellwald’s Buch ist, was seine Anziehungskraft wo möglich noch ver- mehrt, mit zahlreichen, sehr gelungenen Öriginalholzschnitten nach den mitge- brachten Aufnahmen derälterenundneue- ren Nordpolreisenden reich geschmückt, Litteratur und Kritik. und ein über dreissig Seiten langes Re- gister macht dasselbe auch als Nach- schlagewerk sehr brauchbar. Mit gleicher Anerkennung können wir von dem Buche Paulitschke’s über die Erforschungsgeschichte Afrika’s be- richten, welches die zweite, sehr erwei- terte Auflage eines kleineren, mit ent- schiedenstem Beifalle von den Sachver- ständigen aufgenommenen Buches ist. Die Darstellung ist kürzer, und resumirt meist nur die geographischen Ergebnisse, ohne die persönlichen Schicksale der Reisenden und ihre naturwissenschaft- lichen Entdeckungen ausführlicher zu berücksichtigen. In letzterer Beziehung finden sich sogar einige Irrthümer. Soz.B. wenn 8. 208 die Welwitschia mirabilis ein »Nadelbaum« genannt wird, aber das Werk will ja eben nur die Entwicke- lung unseres geographischen Wissens von dem schwarzen Welttheil schildern, und nach dieser Richtung macht es den Eindruck der grössten Zuverlässigkeit und Gründlichkeit. Auch hier erleichtert ein ausgiebiges Register den leichten Gebrauch der unbedingt werthvollen Arbeit. Neuere botanische Literatur. 1. Lehrbuch der allgemeinen Bo- tanik mit Einschluss der Pflanzen- physiologie. Für den Gebrauch der Studirenden an Universitäten und Akademieen, sowie zum Selbstunter- richte bearbeitet. Von Professor Dr. J. Reinke in Göttingen. Mit 295 Original-Holzschnitten und einer Tafel in Farbendruck. 584 S. in 8. Berlin, Wiegandt, Hempel & Parey (Paul, Parey), 1880. . Pflanzenphysiognomie. Bespre- chung der landschaftlich wichtigen Gewächse von Dr. Hermann Berge, Docent der Botanik am schweize- rischen Polytechnikum. Mit 328 in den Text gedruckten Holzschnitten. 228 S. in 8. Ebenda 1880, td Litteratur und Kritik. 155 3. Wanderungen durch die Pflan- zenwelt der Tropen. Von Dr. med. Robert Av&-Lallemant. Ferdinand Hirt. Königliche Universitäts- und Verlagsbuchhandlg. in Breslau, 188 8. in 8. 1880. 4. Deutsche Dendrologie. Syste- matische Uebersicht, Beschreibung, Kulturanweisung und Verwendung der in Deutschland ohne oder mit Decke aushaltenden Gehölze vonW.Lauche, Königlicher Garteninspektor u. s. w. 727 Seiten mit 283 Holzschnitten nach Zeichnungen des Verfassers. Berlin, Wiegand, Hempel & Parey, 1880. Bei der Abfassung seines Lehr- buchs der allgemeinen Botanik hat sich Prof. Reinke die Aufgabe ge- stellt, in einem handlichen Formate eine Uebersicht des gegenwärtigen Stand- punktes dieser Wissenschaft als Leit- faden für Lehrer und Lernende zu geben. Diese nicht leichte Aufgabe ist ihm, wie uns dünkt, besonders in Hinblick auf die nothwendige Beschränkung und Auswahl des Wichtigsten ganz meister- lich gelungen. »Stellen wir uns vor,« sagt er, »es würde ein Jahrtausend mit gleicher Energie auf dem Gebiete der Botanik fortgearbeitet wie gegenwärtig, so würde doch nach tausend Jahren ein Lehrbuch aus praktischen Rück- sichten keinen wesentlich grösseren Um- fang haben dürfen, als die jetzigen Lehrbücher ihn besitzen.« Das ist der von manchen berühmten Botanikern bei der Akfassung ihrer sonst ausgezeich- neten Lehrbücher übersehene prak- tische Gesichtspunkt, durch dessen Befolgung dem Studirenden die Gewinn- ung einer allgemeinen. Uebersicht er- möglicht wird, indem er davor bewahrt bleibt, unter den unübersehbaren Ein- zelheiten den Ueberblick zu verlieren. Die Specialien werden ihm schon von selbst entgegen kommen, sobald er sich auf ein besonderes Forschungsgebiet begiebt. Wir glauben das Buch, in welchem der Verfasser in allen Abthei- = lungen eigene Untersuchungen verwer- thet hat, unsern Lesern auch zum Selbst- studium warm empfehlen zu sollen; die Abbildungen sind, wie die gesammte Ausstattung, sehr schön; die Farben- tafel stellt einige merkwürdige Fälle von Symbiose, d. h. dem für die Anpassungs- frage so höchst lehrreichen engsten Zu- sammenleben, oder Ineinanderleben ver- schiedener Organismen dar. Nr. 2 wendet sich mehr an die be- schauliche, ästhetisirende Betrachtung der Natur, und kann wie eine Ausfüh- rung der Skizze Alexander von Hum- boldt’s über die Physiognomie der Gewächse betrachtet werden. Dadurchjedoch, dass die Planzenformen überall mit Klima und Lebensbeding- ungen in Verbindung gebracht und da- von hergeleitet werden, wird auch dem Sinne des Forschers, der in das Wesen der Formen einzudringen sucht, Rech- nung getragen, so dass der mit zahl- reichen Abbildungen erläuterte Text, nicht nur den Anforderungen der Pflan- zenliebhaber, Gärtner und Künstler, sondern auch tiefergehenden Ansprüchen genügen wird. Einen gewissermassen ähnlichen Cha- rakter besitzt Av&-Lallemant’s Buch, eine sehr flott, jedoch mitunter etwas salopp geschriebene Pflanzenphysio- gnomie des tropischen Amerika. Es ist eine leichte und oft anziehende Schil- derung persönlicher Eindrücke, die an Lesbarkeit für den Deutschen sehr ge- wonnen haben würde, wenn der Ver- fasser nicht die veraltete, nur in Eng- land noch gebräuchliche Pflanzeneinthei- lung des älteren Decandolle angewendet hätte. Man merkt an solchen Ueber- schriften, wie »die Alliance der Cincho- nalen« und an den ohne ersichtlichen Grund inenglischer Sprache eingestreuten Pflanzenschilderungen nur zu sehr, dass Lindley’s »Vegetable Kingdom« den gesammten Canevas für die ornamen- talen Stickereien des Verfassers hergeben musste. Nur einmal (Seite 41) lehnt 156 er sich gegen Lindley’s Autorität auf, der eine seiner Schilderungen über das Herauswerfen von Pollinien bei Orchi- deen ungünstig kritisirt hatte. Dr. Ave- Lallemant glaubt offenbar, Lindley habe seine Beobachtung selbst bezweifelt, die aber für Lindley gewiss nicht neu war, derselbe wollte sicher nur die Bezeich- nung des Pollinium als Stamen tadeln. W.Lauche’s deutsche Dendro- logie, welche eine Beschreibung der in Deutschland mit oder ohne Decke aushal- tenden Holzgewächse in Wald und Park giebt, ist bei der Schwierigkeit über diese aus allen Welttheilen zusammen- geborgte Flora sichere Aufklärung zu finden, ein höchst verdienstliches Unter- nehmen, und darf allen, die sich in dieser Richtung belehren wollen, als ein ebenso zuverlässiges als reichhal- tiges Nachschlagewerk angelegentlichst empfohlen werden. Die zahlreichen, der Anschauung sehr willkommenen Abbil- dungen sind zwar nur den Umrissen nach hingeworfen, aber sehr charak- teristisch aufgefasst und auf den ersten Blick kenntlich. Die in dem Buche gezogene Grenze der bei uns im Freien aushaltenden Holzgewächse ist freilich eine willkürliche, aber für den Praktiker, dda eine solche jedenfalls gezogen werden musste, die beste und wünschens- wertheste. Handbuch der vergleichenden Em- bryologie von Francis M. Bal- four. M. A. F. R. S. Mit Bewilli- gung des Verfassers aus dem Eng- lischen übersetzt von Professor Dr. B. Vetter. Erster Band 580 S. mit 275 in den Text gedruckten Holz- schnitten. 8. Jena, Gustav Fischer (vormals Friedr. Mauke), 1880. Nach den Anregungen, welche Hux- ley, Fritz Müller und Ernst Haeckel vor 15—20 Jahren dem Studium der Entwickelungsgeschichte gegeben haben, indem sie die Beziehungen zwischen der individuellen und der generellen Litteratur und Kritik. Entwickelung hervorhoben, ist dasselbe zu einem der wichtigsten Forschungs- gebiete nicht nur an sich und für die Morphologie, als auch besonders für die Genealogie, dem Hauptziel der Evo- lutionstheorie geworden. Aber dieses Gebiet umfasst ein wahres Labyrinth von Thatsachen und Meinungen, denn jede Entwickelung hat ihre Sonderwege eingeschlagen, ist auf Ab- und Schlän- gelwege gedrängt worden, oder hat auch wohl einen Richtweg, die kürzeste Ver- bindung des Ausgangs- und Endpunktes der Entwickelung zu finden gewusst, kurz die Mannigfaltigkeit der beob- achteten Entwickelungsformen ist bereits jetzt eine ungeheure, und wenn es schon schwer genug ist, die definitiven For- men zu überblicken, so ist das Gebiet der werdenden Formen ein zehnfach vergrössertes. Einen sichern und un- trüglichen Ariadnefaden in diesem Wirr- sal der Formen zu erhalten, ist vor der Handnochnichtzu hoffen, dadas Gebäude eben noch im vollen Bau begriffen ist; um so nöthiger wurde es für die Arbeiter, eine allgemeine Uebersicht des bisher Geleisteten, eine Zusammenstellung des in unzähligen Zeitschriften und Mono- graphieen zerstreuten Materials mit ge- nauen Quellenangaben, kritischen Be- merkungen, Charakterisirung der all- gemeineren Gesichtspunkte und Hin- weisungen auf die noch zu lösenden Räthsel und Widersprüche, sowie Nach- weise der noch völlig dunklen Gebiete zu erhalten. Alles dies strebt das vor- liegende Werk an, und Herr Balfour vom Trinity College in Cambridge, der sich durch so viele eigene Untersuch- ungen auf diesem Gebiete ausgezeichnet hat, war gewiss der rechte Mann, die ungemein schwierige Aufgabe mit eben- soviel Umsicht als Unparteilichkeit durchzuführen. Der vorliegende erste Band des Werkes bringt nach einigen allgemeinen einleitenden Kapiteln über Ei- und Samenzelle, Reifung und Be- fruchtung des Eies, sowie über die Litteratur und Kritik. ! Furchungserscheinungen, die gesammte Embryologie der wirbellosen Thiere zum Abschluss. Auf Einzelheiten lässt sich bei einem so umfassenden Werke na- türlich nicht eingehen; wir können nur sagen, dass wir den Eindruck einer sichern, von vorgefassten Ideen freien Führung empfangen, und dass es für den Forscher auf diesem Gebiete sicher nichts Nützlicheres und Dankenswerthe- res geben kann, als dieses Handbuch, welches getreu den jetzigen Zustand des positiven Wissens auf diesem Ge- biete darstellt. Bemerkungen über pro- blematische und streitige Punkte sind in Petitsatz dem Texte eingefügt, um | je nach dem Zwecke des Studirenden nach Belieben vorläufig überschlagen oder beachtet zu werden. Die Abbil- dungen sind musterhaft klar und deut- lich entworfen; Uebersetzung und Aus- stattung lassen nichts zu wünschen übrig. Der zweite in Vorbereitung be- findliche Band, wird die vergleichende Embryologie der Wirbelthiere, die Ent- wickelung der einzelnen Organsysteme und einige Schlussfolgerungen enthalten. Wir hoffen unseren Lesern aus diesem Schlussbande schon im Voraus eine Probe bieten zu können. Odontornithes. A monograph of the extincted toothed birds of North America. With thirty- four Plates and forty woodcuts. By Othniel Charles Marsh, Professor of Palaeontologie in Yale College. Submitted to the chief of engineers and published by order of the secre- | tary ofwar underauthority of congress. Washington: Government Printing | Office 1880. Der vorliegende, prachtvoll ausge- stattete Folioband bildet die erste einer Reihe von Monographieen, welche der um die Erforschung der fossilen Fauna Nordamerika’s, und um die Förderung der Darwin’schen Theorie hochverdiente Verfasser Amerika’s fossilen Wirbel- 157 thieren zu widmen gedenkt. Nachdem er mehr als ein Jahrzehnt hindurch unter mancherlei Entbehrungen und Gefahren mit der Einsammlung eines ungeheuren Studienmaterials beschäftigt gewesen ist, und dabei nur über die wichtigsten Funde fortlaufende kürzere Notizen veröffent- licht hat, soll nun die eigentliche Ernte beginnen, d. h. die genaue systemati- ı sche Bearbeitung dieses unvergleich- lichen Materials. Um den Umfang dieser Arbeiten zu kennzeichnen, mag hier erwähnt werden, dass es sich um nicht weniger als in runder Zahl tausend neue Arten fossiler Wirbelthiere handelt, die seit 1868 auf dem Gebiete vom Missourifluss bis zum stillen Ozean in den Umgebungen des vierzigsten Parallelkreises gefunden wor- den sind, und wir vernehmen mit Staunen aus der Vorrede, in welcher ungeheuren Individuenzahl manche dieser Arten vorhanden sind. Von den in Europa fehlenden, durch Professor Marsh ent- deckten zahnlosen Flugeidechsen (Pter- anodontia),derenFlügelspannungzuweilen die Breite von 25 Fuss erreichte, be- wahrt das Yale-College-Museum Ueber- bleibsel von mehr als 600 Individuen, die Zahl der in Europa so spärlich ver- tretenen Mosasaurier desselben Museums erreicht gar die Ziffer von 1400 und ebenso finden sich dort Ueberreste von mehreren hundert Individuen der, wie letztere, meist kolossalen Atlantosaurier. Auch die Individuenzahl der ausgestor- benen Säugethiere, Dinoceraten, Pferde, Nager, Beutler und Affen geht zum Theil in die Hunderte. Wir haben über diese wichtigen Funde, welche grösstentheils unter dem Schutz der Landesarmee in jenen von Indianern beunruhigten Distrikten ge- macht worden sind, nicht nur im zweiten | Bande dieser Zeitschrift in mehreren grösseren Artikeln ausführliche Mitthei- lungen gebracht, sondern auch seither fortlaufende Berichte gegeben, so dass wir uns hier auf Wiedergabe einiger 158° besondern Punkte, die in unseren frü- heren Berichten über die fossilen Zahn- vögel deramerikanischen Kreideschichten (vergl. Kosmos II, S. 336— 40. V, 8. 389) nicht berührt worden sind, sowie die allgemeineren Schlüsse aus dieser her- vorragenden Publikation beschränken können. Die Zahl der Vogelarten, «die auf in den amerikanischen Kreideschichten ge- fundenen Ueberresten basirt werden kön- nen, beträgt bereits gegen zwanzig, aber nur von Hesperornis- und Ichthyornis- Arten wurden vollständigere Skelette ge- funden, die eine genauere Bearbeitung ermöglichten. Das Skelet von Hesperornis regalis, ist, wie man aus der weiter hinten folgenden Restauration (Seite 161) er- sieht, bis auf die vordersten Phalangen der Füsse vollständig und seine Beschrei- bung nimmt in der vorliegenden Mono- graphie 117 Quartseiten ein, während die Ichthyornis-Arten auf 56 Quartseiten geschildert werden. Wir beginnen mit einem Auszug der allgemeinen Schluss- folgerungen: > Bei der Vergleichung von Hesperornis und Ichthyornis als der typischen For- men der Ordnungen der Odontolcae und Odontotormaes sagt Marsh, ist der Kontrast in ihren Hauptcharakteren ebenso auffallend als unerwartet. Hes- perornis besass Zähne, die in eine fort- laufende Rinne eingepflanzt waren, — ein niedriger verallgemeinerter Charak- ter —, dazu indessen die stark differen- eirten sattelförmigen Wirbel. Ichthyornis besass andrerseits die primitiven bicon- caven Wirbel und doch den hoch spe- cialisirten Zug von Zähnen in getrenn- ten Gruben. Bessere B8ispiele als diese können kaum gefunden werden, um eine durch die moderne Wissenschaft ans Licht gebrachte Thatsache zu erläutern, nämlich, dass ein Thier auf einer Seite seiner Charaktere eine grosse Entwicke- lung erreichen kann, um zur selben Zeit andere niedere Charaktere des Ahnen- typus zu bewahren. Dies ist ein Fun- Litteratur und Kritik. damental-Prinzip der Evolutionstheorie, Die mehr oberflächlichen Charaktere des Flügelmangels und der starken Schwimm- Beine und -Füsse von Hesperornis sind ebenfalls in auffallendem Gegensatz zu den mächtigen Flügeln und schwachen Beinen und Füssen von Ichthyornis ..... »Es ist eine interessante Thatsache, dass die bisher bekannten Kreidevögel, einige zwanzig Species oder mehr, an- scheinend sämmtlich Wasservögel waren, welche vielleicht leichter in ma- rinen Ablagerungen erhalten werden, während der jurassische Archaeopteryx der einzige dieser Formation, ein wahrer Landvogel war. »Die in jüngeren Schichten gefundenen Vögel gehören anscheinend alle modernen Typen an, und bieten daher wenig Punkte für eine nutzenbringende Vergleichung mit den Odontornithen. Die lebenden Vögel mit reptilischen Charakteren sind fast gänzlich auf den Typus der Ratitae oder Straussvögel begränzt. Diese sind offenbar die Ueberbleibsel einer sehr zahlreichen, einst weit über verschiedene Theile der Erde ausgebreiteten Gruppe; und auf die fossilen Formen dieser Vögel müssen wir daher unser Augenmerk rich- ten, um eventuellZwischentypen zwischen ihnen und den weniger specialisirten mesozoischen Vögeln zu finden. » Für jetzt wenigstens scheint es rath- sam, die Odontornithes als eine Unter- klasse zu betrachten, und sie nach den hier unten aufgezählten Charakteren in drei Ordnungen zu trennen. Diese Ord- nungen sind alle wohl charakterisirt, aber offenbar nicht alle von gleichem Range. Archaeopteryx ist klärlich viel weiter von Ichthyornis und Hesperornis als diese von einander entfernt. Die freien Mittelhandknochen und der lange Schwanz von Archaeopteryx sind jeden- falls bedeutsame Charaktere. Gegen- baur und Morse haben indessen gezeigt, dass junge Vögel von lebenden Arten getrennte Mittelhandknochen be- sitzen und dies trifft für alle diese Vögel Litteratur und Kritik. bis zu einem gewissen Alter zu. Daher ist dieser Charakter von geringerer Wich- tigkeit als das Vorhandensein wahrer Zähne, da diese bei keinerlei lebenden Vögeln weder in der Jugend noch spä- Unterklasse Ordnung: Gattung: Hesperornis MARsH Zähne: in Rinnen Untere Kinnladen: getrennt Wirbel: sattelförmig Flügel: rudimentär Mittelhandknochen: fehlend Brustbein: ohne Kiel Schwanz: kurz »Dass die drei ältesten Vögel so weit von einander differiren konnten, deutet ohne Frage auf ein hohes Alter für die Klasse hin. Archaeopteryx, Hesperornis und Ichthyornis sind alle drei wahre Vögel, aber die ihnen eignen Reptilien- Charaktere convergiren in der Richtung auf einen mehr verallgemeinerten Ty- pus. Es sind keine triasischen Vögel bekannt, und deshalb haben wir kein Licht über diese Stufe der Klassenent- wickelung. Sie werden indessen zweifellos gefunden werden, und wenn wir von jurassischen Säugethieren und Reptilen aus schliessen dürfen, werden die vogel- artigen Formen jener Periode schon Vögel sein, obgleich mit noch stärker repti- lischen Charakteren. Für die Urformen des Vogeltypus müssen wir entschieden auf paläozoische Schichten unser Augen- merk richten, und in der reichen Land- fauna unserer permischen Schichten in Amerika dürfen wir immerhin hoffen, die Ueberreste sowohl von Vögeln als von Säugethieren zu finden. * * In einer Mittheilung vom 18. März 1881 meldet Prof. Marsh (im Aprilheft des American Journal ofScience) den Fund der ersten jurassi- schen Vogelspuren in Amerika. Es handelt sich leider nur um Schädelreste, die in vielen Zügen denen der Straussvögel ähnlich sind. 159 ter, gefunden worden sind. Die Schwanz- länge ist vielleicht ein Charakter von mehr Werth, aber dieselbe wechselt so- gar bei neueren Vögeln. Odontornithes (Zahnvögel) Marst. Odontolcae MArsı Odontotormae MArRsH Saururae HAEBCcKEL. Ichthyornis Mars Archaeopteryx v. Meyer. in Gruben ? getrennt ? biconcav ? gross klein verwachsen getrennt mit Kiel ? kurz länger als der Körper. “Von den Gattungen Archaeopterya, Hesperornis und Ichthyornis besitzt jede gewisse verallgemeinerte Charaktere, die von den andern nicht getheilt werden. Diese Charaktere waren unzweifelhaft in einer früheren Form vereinigt, und diese Thatsache giebt uns einen Wink, von welcher Art die primitiveren Formen gewesen sein müssen, und lässt uns auf die hervorstechenden Züge dieses Ahnentypus schliessen. Wir müssen er- warten, in ihm die folgenden Charaktere vereinigt zu finden: Die Zähne in Rinnen. Die Wirbel biconcav. Die Mittelhand- und Handwurzel- knochen frei. 4. Das Brustbein ohne Kiel. 5. Das Kreuzbein aus zwei Wirbeln zusammengesetzt. 6. Die Beckenknochen getrennt. 7. Den Schwanz länger als den Kör- per. 8. Die Mittelfuss- und Fusswurzel- knochen frei. [SUR Io Diese Reste des Laopteryx getauften Vogels wurden in den sogenannten Atlantosaurus- Schichten des oberen Jura von Wyoming gefunden, und in der Matrix fand sich i Sr ausserdem ein vermuthlich zu dem Schädel gehöriger Zahn, 9. Vier oder mehr nach vorn ge- richtete Zehen. 10. Die Federn rudimentär oder un- vollkommen. Diese verschiedenen Charaktere mö- gen in der That in einem Thier ver- einigt gewesen sein, welches mehr Reptil als Vogel war, aber so eine Form würde mehr auf dem Wege zu den Vögeln als in der Richtung sowohl der Dino- saurier als der Flugeidechsen gewesen sein, da Federn nicht zu den Charak- teren dieser Gruppen gehörten. Mit dieser Ausnahme gehören alle die ge- nannten Charaktere den verallgemei- nerten Sauropsiden an, von welchen sowohl Vögel als die bekannten Dino- saurier wohl Abkömmlinge gewesen sein können. Ein wesentlicher Charakter bei diesem Ahnentypus würde ein freies Quadratbein sein, da dieses einen all- gemeinen Charakter der Vögel ausmacht, und nur theilweise bei den heute be- kannten Dinosauriern beibehalten ist. Die Vögel scheinen sich als ein einfacher Stamm abgezweigt zu haben, welcher schrittweise seine reptilischen Charaktere verlor, während er den Vogel- typus annahm, und in den lebenden Straussvögeln haben wir die Ueber- bleibsel dieser direkten Linie. Die geraden Abkömmlinge dieses Urstammes erhielten zweifellos früh Federn und warmes Blut, erlangten aber (wie noch zu zeigen ist) niemals die Fähigkeit zu fliegen. Die fliegenden Vögel trennten sich unzweifelhaft früh von dem Haupt- stamm der Vögel, vermuthlich in der Triaszeit, da wir in der darüber be- findlichen Formation den Archaeopteryx mit noch unvollkommener Flugfähigkeit haben. Diese Flugfähigkeit entsprang ver- muthlich unter den kleinen auf Bäumen lebenden Formen reptilischer Vögel. Dafür, wie das begonnen haben mag, haben wir einen Fingerzeig in dem Flug des Galeopithecus, der fliegenden Eich- hörnchen (Pteromys), der fliegenden Ei- Litteratur und Kritik. dechse (Draco) und dem fliegenden Baum- frosch (Rhacophorus). Bei den ursprüng- lichen Baumvögeln, welche von Zweig zu Zweig hüpften, konnten selbst ru- dimentäre Federn an den Vorderglied- maassen einen Vortheil ausmachen, da sie dahin zielen mussten, das Ab- wärtsfallen zu verlangsamen, oder die Kraft des Falles zu brechen. Als die Federn wuchsen, musste der Körper wärmer und das Blut thätiger werden. Mit noch mehr Federn musste ver- mehrte Flugkraft eintreten, wie wir bei jungen Vögeln von heutzutage sehen. Eine grössere Lebhaftigkeit musste aus einer vervollkommneten Cirkulation her- vorgehen. Ein wahrer Vogel musste ohne Zweifel warmes Blut erfordern, brauchte aber nicht nothwendig heiss- blütig zu sein, wie die heutlebenden Vögel. Die kurzen Flügel und der buschige Schwanz waren für kurze Flüge von Baum zu Baum völlig ausreichend, und wenn der Körper, wie jetzt angenommen wird, im Wesentlichen nackt war, so haben wir in dieser jurassischen Form eine interessante Stufe in der Ent- wickelung der Vögel, bevor das volle Gefieder erlangt war. Ob Archaeopteryx der eigentlichen Carinaten-Linie ange- hört, kann für jetzt nicht entschieden werden, aber für Ichthyornis trifft dies zu, nur verrathen die biconcaven Wirbel des letztern augenscheinlich, dass diese Form einem frühen Auftrieb angehörte. Es ist wahrscheinlich, dass Hesperornis aus dem straussartigen Hauptstamm hervorging und keine Nachkommen hinterlassen hat.« In Bezug auf Hesperornis, den Pro- fessor Marsh zu den straussartigen Vögeln zählt, kommt er zu folgenden Schlüssen von allgemeinerem Interesse. »Es giebt für jetzt,« sagt er, >»kei- nen Beweis, dass irgend einer von den straussartigen Vögeln oder ihren Ahnen jemals die Fähigkeit des Fluges be- sessen habe, obwohl dies allgemein an- Litteratur und Kritik. genommen wird. Der Fall ist noch entschiedener bei Hesperornis, da diese Gattung sowohl im Bau als in der Zeit dem Ahnentypus viel näher stand. Der Mangel jeder Spur eines Kieles am Brustbein ist allein schon ein starker Beweis gegen die Flugfähigkeit; die eigenthümliche an Dinosaurier erinnernde Verbindung von Schulter- und Raben- bein, unähnlich derjenigen irgend eines fliegenden Vogels oder Reptils, bestä- 161 tigen dies, und auch an anderem Zeug- niss nach derselben Richtung fehlt es nicht. Alle Carinaten zeigen indessen, so weit bekannt, durch ihre embryologische Entwickelung, dass sie durch das strauss- artige oder niedrigere Stadium hindurch- gegangen sind, und einige von ihnen, Tinamus zum Beispiel, behalten noclı einen oder mehrere der betreffenden Es gab allerdings ver- Charaktere bei. . . 2 ER ne En Hesperornis regalis MARSH (restaurirt). Ungefähr "/ıo der natürl. Grösse. schiedene neuerdings ausgestorbene flug- lose Vögel, welche nicht zum Straussen- typus gehören, aber in allen ihren wesentlichen Charakteren wahre Cari- naten waren. Der Dodo (Didus), Solitair (Pezophaps), Onemiornis und Notornis sind wohlbekannte Beispiele, aber alle diese zeigen in ihrem Schultergürtel nicht misszuverstehende Spuren der verlore- nen Flugfähigkeit. Die einmal erlangten zur Flugbewegung erforderlichen Cha raktere würden niemals vollständig ver- loren gehen und dies allein scheint ein beweisendes Zeugniss zu liefern. Wenn solche verrätherische Anzeichen im Skelette fehlen, dürfen wir kühn irgend welche Annahme eines früheren Fluges verwerfen. 162 Obgleich Hesperornis somit gleich sei- nen reptilischen Ahnen stets des Fluges unfähig gewesen ist, mögen seine vor- dern Gliedmaassen lange Zeit hindurch der Lokomotion eine beschränkte Hülfe geleistet haben. Ob aktiv in der Luft verwendet, wie die Schwingen des Strausses oder der jungen Schwimm- vögel, oder passiv wie die segelartigen Schwingen des Schwans, oder später als unvollkommene Ruder: sicher waren die Schwingen des Hesperornis nicht wohl geeignet, für das Untertauchen, und daher wurden sie allmählig gebrauch- los und verschwanden virtuell. Wir können unter den Gründen für den allmähligen Verlust der Flügel die That- sache setzen, dass sie zusschwach waren, um von erheblichem Nutzen unter dem Wasser zu sein, während sie durch ihre Stellung sehr den Widerstand, nament- lich bei einem rapiden Tauchen ver- mehrten. Um diesen Widerstand zu vermindern, müssen sie natürlich eng an die Seiten gelegt worden sein, und mussten von solcher Entwöhnung zur allmähligen Atrophie übergehen. Bei diesen grossen, so modificirten Schwimmvögeln sehen wir uns einem interessanten Problem der thierischen Mechanik gegenüber. Die Schwingen können als gänzlich fehlend betrachtet werden, da der Ueberrest des Humerus eng der Seite angelegt war, wie bei Apterye, wenn nicht gar ganz unter der Oberhaut verborgen, wie ein Schul- terknochen. Die Lokomotion wurde desshalb gänzlich vermittelst der hin- teren Gliedmaassen vollbracht, eine Spe- cialisation, die hier bei lebenden, wie fossilen Wasservögeln zum ersten Mal beobachtet wurde. Diejenigen, welche einen Pinguin oder eine Lumme unter dem Wasser schwimmend gesehen haben, wissen, welch’ einen kräftigen Gebrauch solche Vögel dann von ihren Flügeln * Der Tte Schwanzwirbel erreicht mit seinen Querfortsätzen eine Breite von 59 Milli- meter; der Ste und 9te von resp. 57 und Litteratur und Kritik. machen, wie nutzlos diese Gliedmaassen auch auf dem Lande erscheinen mögen. Nicht allein leisten die Schwingen in diesen Fällen bei der Vorwärtsbewegung durch das Wasser Beistand, sondern sie sind von vielem Nutzen beim Steuern. Ein Pinguin vermag im schnellen unter- getauchten Fluge mit Hilfe seiner Schwin- gen kurz herumwenden. Hesperornis besass eine solche Hilfskraft nicht, aber die Beine und Füsse waren denjenigen des Pinguins für das Schwimmen und Tauchen weit überlegen, nicht blos in der Kraft, sondern auch in der voll- kommeneren mechanischen Anpassung. Dies war zweifellos der Hauptgrund, weshalb die hintern Gliedmaassen von Hesperornis solches Uebergewicht er- langten. Der (aus zwölf Wirbeln) bestehende Schwanz von Hesperornis war offenbar in seinem Wasserleben von grosser Brauch- barkeit. In der Wirbelzahl und Länge übertrifft er beinahe diejenigen aller be- kannten Vögel und steht einzig da in seinen weitausgebreiteten Querfortsätzen und in seinem niedergedrückten hori- zontalen Pflugscharbein*. Dieser breite horizontale Schwanz erinnert an den- jenigen des Bibers und war ohne Zweifel beim Steuern und Tauchen von grosser Hülfe. Ob er gleich dem Biberschwanze nackt und der Federn beraubt, oder gleich dem Schwanze von Plotus mit langen steifen rectrices besetzt war, um wie ein Ruder zu wirken, kann für jetzt nicht mit Gewissheit entschieden werden, obgleich die letztere Ansicht wahrschein- licher erscheint. Dass Hesperornis mit Federn irgend welcher Art versehen war, können wir kaum bezweifeln. Die ihn umgebenden Verhältnisse waren dem Hesperornis offenbar für eine lange Periode sehr günstig. Anscheinend war während dieser Zeit oben in der Luft ein Mangel von Feinden und im 561 Millimeter, worauf sich der 10te und 12te soweit verjüngen, um die Kellen-Form zu vollenden. Litteratur und Kritik. Wasser ein Ueberfluss an Nahrung vor- handen. Hesperornis war mehr als ein Ebenbürtiger für die gigantischen zahn- losen Flugeidechsen, welche über dem Wasser in so grossen Schwärmen einher- schwebten und die anderen Bewohner der Luft scheinen sämmtlich klein ge- wesen zu sein. Der Ocean, in welchem Hesperornis schwamm, wimmelte von Fischen mancherlei Art und so war eine grosse Abwechselung in der Nahrung vorhanden und mit geringer Anstrengung zu erhalten. In diesem Wasserparadiese gedieh Hesperornis, einzig gestört durch den schlangenartigen Mosasaurus, wel- cher sogar ohne Nachklang, wie wir an- nehmen dürfen, seine Verjagung, wenn nicht Austilgung veranlasste.« Nach dieser allgemeinen Beschrei- bung wollen wir nur noch auf einen einzelnen Punkt des anatomischen Baues mit einigen Worten näher eingehen, nämlich auf den Bau der Zähne, welche jadenHauptcharakter dieser Vögelgruppe ausmachen, zumal weil dieselben vor kurzem in Deutschland verdächtigt wor- den sind, keine wahren Zähne gewesen zu sein (vergl. Kosmos IX, S. 66). »Die Zähne von Hesperornis«, sagt Marsh, »sind wahre Zähne und in ihren entscheidenden Charakteren so wohl aus- geprägt, wie die irgend eines Reptils.. .. Sie waren oben und unten in eine fort- laufende Rinne eingepflanzt, ungefähr wie die von Ichthyosaurus ..... Sie haben conisch zugespitzte Kronen mit glattem Schmelz und werden von derben Wur- zeln getragen. In der Gestalt von Krone und Basis gleichen sie aufs nächste den Zähnen der Mosasaurier. Die äusseren und inneren Oberflächen der Kronen werden durch scharfe Kämme ohne Säge- einschnitte geschieden. Die äussere Fläche ist beinahe eben, die innere stark convex. Die Kronen der Zähne sind hauptsächlich aus festem Dentin gebildet, welches mit einer Schmelzschicht bedeckt ist. Die Markhöhle zeigte sich weit, und bei einem abgebildeten Exemplar 165 mit Caleit gefüllt. Die Kronenwände dieser Höhlung sind glatt und wohl ab- gesetzt. Die Wurzel besteht ausKnochen- Dentin. Die Schmelzlage nimmt von der Basis zur Spitze der Krone allmählig an Dicke zu.... Die Trennungslinie zwi- schen Schmelz und Dentin ist überall scharf abgesetzt. Die Emaille ist dicht und hart, doch lassen sich in den unter- suchten Stücken wegen vorgeschrittener Verkalkung die zusammensetzenden Fa- sern nicht mehr erkennen. Die äussere Oberfläche des Schmelzes ist fast glatt, nur mit leichten, nach der Spitze con- vergirenden Streifen versehen. Von Ge- ment waren an den Kronenflächen keine Spuren vorhanden. Das Zahnbein oder Dentin, welches die Hauptmasse der Krone ausmacht, zeigt eine deutliche Struktur sowohl bei den senkrechten wie bei den Querdurch- schnitten. Es ist fest und dicht und die kalkführenden Röhrchen wohl er- kennbar. Nahe der Kronenbasis strahlen sie horizontal gegen den Rand, und auf dem Längsdurchschnitt erscheinen sie fast Im Dentin sind deutliche concentrische Wachsthumslinien erkenn- Die Zähne von Hesperornis wurden allmählig durch neue Zähne ersetzt, und dies fand auf eine Weise statt, die der- jenigen bei einigen Reptilien sehr ähn- lich war. Der Keim des jungen Zahnes bildete sich auf der innern Seite der Wurzel des in Gebrauch befindlichen Zahnes, und wie er an Grösse zunahm, bildete sich in derselben eine Höhlung durch Absorption. Der alte Zahn wurde so unterminirt, und von dem neuen aus- getrieben, der seine Stelle einnahm, so dass die Zahl der Zähne dieselbe blieb. « Am Schluss seiner Betrachtung über die Zähne von Hesperornis sagt Marsh, dass sie den Zähnen von Mosasaurus soähnlich waren, dass sie deutlich einen genetischen Zusammenhang mit den Rep- tilien andeuten, ihnen ähnlicher, sogar als denen von Ichthyornis waren, bei 164 denen der Zahnwechsel etwas anders vor sich ging. Der Bau des Gehirns zeigte sowohl bei Hesperornis als bei Ichthyornis mit dem unserer Vögel verglichen, eine sehr niedere reptilienähnliche Stufe an, so dass auch bei den Vögeln die von Marsh hinsichtlich der Säugethiere aufgestellten Regeln über die Entwicke- lung des Gehirns in der Zeit vollkom- men in Geltung erscheinen. Diese Re- geln sagen uns bekanntlich, dass im Laufe der Zeit ein schrittweises Wachs- thum des Gehirns stattgefunden hat, welches sich hauptsächlich auf die bei- den Hemisphären des Grosshirns be- schränkte, während in den anderen Theilen, namentlich in den Riechlappen und im Kleinhirn ein Stillstand oder gar ein Rückschritt stattgefunden hat. Zum Schlusse dürfen wir nicht unter- lassen, dem unermüdlichen Forscher auf dem Gebiete der Vorwesenkunde unsere Bewunderung über diese Arbeit, in der jeder einzelne Knochen der ausgegrabenen Skelette seine ausführliche Erörterung ge- funden hat, auszudrücken, und die nord- amerikanische Regierung zu beglückwün- schen, dass sie ihre militärischen Kräfte in den Friedenzeiten zur Unterstützung so wichtiger Arbeiten verwendet, und ebenso später die Mittel zu einer so würdigen Publikation der durch ihre Mithülfe gewonnenen Resultate bewilligt. Die Ausstattung ist eine geradezu pracht- volle, die zahlreichen Tafeln zum Theil in Doppelfolio-Format in wundervoller Litteratur und Kritik. Ausführung. Die nächste grössere Publi- kation von Prof. Marsh wird eine Mono- graphie über die Genealogie des Pferdes sein, auf welche wir wohl mit Recht, wie auf ein kanonisches Werk der Evo- lutions-Theorie unsere Blicke richten dürfen. K. Metagenesis und Hypogenesis von Aurelia aurita. Ein Beitrag zur Entwickelungs-Geschichte und zur Teratologie der Medusen, von Ernst Haeckel. 36 S. in Fol. Mit zwei Tafeln in Farbendruck. Jena, Ver- lag von Gustav Fischer (vorm. Fried- rich Mauke), 1881. Ueber den für das Verständniss der abgekürzten Entwickelung und ihres Verhältnisses zum Generationswechsel hochwichtigen Inhalt dieser Schrift, hat der Verfasser in unserer Zeitschrift (Bd. IX, S. 29—44) ausführlich berich- tet, und wir begnügen uns deshalb hier auf das Erscheinen der Professor Ernst von Siebold zu seinem sieben- zigsten Geburtstage gewidmeten Ab- handlung kurz hinzuweisen. Dass so überraschende und lehrreiche Ergeb- nisse durch die Beobachtung der Ent- wickelungunserergewöhnlichstenKüsten- qualle gewonnen werden konnten, zeigt, wie wenig unsere Beobachtungs-Gelegen- heiten in dieser Richtung benutzt wer- den, und wie vielnoch an unsern Kü- sten in diesen Richtungen zu entdecken sein dürfte. Ueber das Verhältniss des skeptischen Naturalismus zur modernen Naturwissenschaft, insbesondere zur Entwickelungstheorie. Von Professor Dr. Fritz Schultze. II. Der Skepticismus Hume’s. Inhalt: 1) Einleitung: Rechtfertigung der Bezeichnung „skeptischer Naturalismus“. Hume’s Grundgedanke. Entwickelung desselben aus Locke und Berkeley. Die Skepsis richtet sich gegen den Rationalismus wie gegen den Empirismus. Die Erkenntniss des Causalnexus ist unmöglich. 2) Die Beweise Hume’s: Das Wesen der abstracten Begriffe nach Berkeley. Die repräsentativen Einzelvorstellungen. Die Einzelvorstellungen: Eindrücke und Gedanken. Zurückführung aller Vorstellungen auf Eindrücke. Wir erkennen nur Vor- stellungen, keine Dinge an sich. Die Vorstellungsverbindungen und ihre Gesetze: Aehn- lichkeit; Zusammenhang in Raum und Zeit; ursächliche Verknüpfung. Erkenntniss — causale Verknüpfung der Vorstellungen. Das Problem der Causalität. Causalität und logisches Denken. Causalität und Sinneswahrnehmung. Der Schluss vom post hoc auf das propter hoc. Der Begriff „Kraft“. Sein Ursprung. Die äusseren Eindrücke. Die inneren Ein- drücke. Das Wesen der „Kraft“. Der Wille im Verhältniss zu Körper und Seele. Das Wesen der Kraft — Causalität unbekannt. Der Causalitätssatz ein Gewohnheitsglaube. 3) Hume und die Eleaten: Die eleatischen Beweise gegen das Werden führen sich auf die Beweise Hume’s gegen die Causalität zurück. Logische und sensualistische Fassung der Causalität. Idealisten und Realisten. Die Unmöglichkeit jeder Erkenntniss. Schema. 4) Anwendung der Hume’schen Skepsis auf die Entwickelungstheorie: Metaphysische Causalität (Gott und Welt). Psychologische Causalität (Seele und Körper). Mathematische, physikalische, chemische, mechanische Causalität. Die Entwickelungstheorie. Der Begriff der Entwickelung. Die Entstehung eines Individuums innerhalb einer und der- selben Art. Die Entstehung einer neuen Art. Die geologischen Schichten. Räumliches Getrenntsein und zeitliche Folge. Post hoc und propter hoc. Aehnlichkeit und Berührung in Raum und Zeit kein Beweis für innere Verwandtschaft und Abstammung. Die Embryo- logie. Aeussere Formen und inneres Wesen. Ontogenie und Phylogenie. Allgemeine Schwierigkeiten. Besondere Schwierigkeiten. Der Dogmatismus der Entwickelungstheorie verworfen, nicht die Theorie selbst. Hume’s Kritik trifft ausnahmslos alle menschlichen Theorien. Der Werth der Entwickelungstheorie anderen Theorien gegenüber. Ihre Trag- weite. Ihre Grenzen. Dualismus und Entwickelungslehre. Theismus und Darwinismus. 5) Hume und Kant: Der ‚Widerspruch in Hume’s Skepsis. Das neue Problem. Ueber- gang des Skeptieismus zum Kritieismus in Kant. allem Angeborenen macht, der Deismus Gott aus der Natur verbannt, der Ma- terialismus das Dasein Gottes überhaupt 1. Einleitung. Wir sind sicherlich wohl berechtigt, Locke’s Sensualismus, den Deismus, den Materialismus und den Phaenome- nalismus mit dem Gesammtnamen des skeptischen Naturalismus zu belegen. All’ diese Standpunkte tragen einen mehr negativen als positiven Charakter an sich. Wenn Locke tabula rasa mit Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). leugnet und der Phaenomenalismus die Existenz einer realen Welt an sich verneint, so haben wir es offenbar mit Naturauffassungen von stärkster skep- tischer, um nicht zu sagen, nihilistischer Färbung zu thun. Alle diese Stand- punkte, die doch die M öglichkeit 12 166 n einer sicheren Causalerkennt- niss noch vorausgesetzt hatten, wer- den aber noch übertroffen durch David Hume’s skeptischen Naturalismus oder naturalistische Skepsis, welche die Möglichkeit einer jeden Causal- erkenntniss überhaupt leugnet. Dieser Skepticismus bildet den haupt- sächlichsten Wendepunkt der ganzen neueren Philosophie. Wir müssen den- selben daher auch von allen Seiten beleuchten und wollen uns lieber dem Vorwurfe aussetzen, zu weitläufig ge- worden als unverständlich geblieben zu sein. Welches ist der Grundgedanke der Hume’schen Kritik? Alle Systeme der Philosophie wollten die Urcausalität der Dinge erforschen; von jeher war der Begriff der Causalität der Angelpunkt aller philosophischen Untersuchungen. Aber auf den Begriff der Causalität selbst haben diese ihr Augenmerk fast nie gerichtet; er war ihr logisches Werkzeug, welches sie auf Gott und die Welt anwendeten; aber ob dieses Werkzeug dazu wirklich tauglich war, hatten sie nicht gefragt. Hume’s Forsch- ung richtet sich jetzt auf den Begriff der Causalität selbst. Hume fragt nicht: was ist die Urcausalität der Dinge? Er fragt vielmehr: welche Be- wandtniss hat es mit dem Begriff der Causalität, der uns fortwährend antreibt, nach dem Urgrunde zu suchen? Woher stammt er? Welche Tragweite hat er? Das erschreckende Endergebniss seiner Untersuchungen ist aber die Einsicht in die absolute Unmöglichkeit einer jeden causalen Erkenntniss, in die un- verbesserliche Unbrauchbarkeit des Cau- salbegriffes zum Zweck sicheren Er- kennens. Weder vermittelst der sinn- lichen Wahrnehmung noch durch lo- gische Denkoperationen können wir irgendwelchen Causalzusammenhang er- kennen, und sei es der scheinbar völlig klare und gewisse zwischen dem Feuer, auf welchem das Wasser siedet, und Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. diesem Wasser, welches durch das Feuer in Dampf verwandelt wird. Jeder Causalzusammenhang entzieht sich der menschlichen Erkenntniss völlig. So giebt es höchstens eine zweifelhafte Wahrscheinlichkeit, und der Skepticis- mus ist die einzige reife Frucht, welche vom Baume der Erkenntniss fällt. Dieser allen menschlichen Erkennt- nissdrang in das Innerste seines Herzens treffende Skepticismus entwickelt sich mit Nothwendigkeit aus dem Sensualis- mus Locke’s und Berkeley’s. Nach Locke war die Quelle aller Erkenntniss die Sinneswahrnehmung. Diese wird aber in uns durch die Eindrücke der äusseren Dinge auf unsere Sinnesorgane veranlasst. Die Wahrnehmungen sind Empfindungen in uns und als solche rein subjektiv. Genau besehen, nehmen wir also nur subjektive Empfindungen wahr. Diese verknüpfen sich in un- serem Geiste zu den verschiedensten Vorstellungen und deren Combinationen; es entsteht daraus die Vorstellungswelt, welche wir in uns tragen. Entspricht aber diese rein subjektive Vorstellungs- welt der objektiven Welt der Dinge? der subjektive Vorstellungs- zusammenhang in mir dem ob- jektiven Dingzusammenhang ausser mir? In sehr vielen Fällen sehen wir deutlich, dass unser sub- jektiver Vorstellungszusammenhang dem objektiven Zusammenhang der Wirk- lichkeit nicht entspricht. Wir phanta- sieren in Poesie oder Prosa; unsere Gebilde, Theorien und Systeme, scheitern aber oft genug an der später gründ- licher erkannten Wirklichkeit. Nun glauben wir zwar ein sicheres Kri- terium zu haben, an dem wir genau erkennen können, ob unsere subjek- tive Vorstellungsverbindung der objek- tiven Dingverbindung gleichkommt. Wenn nämlich dieselbe subjektive Vor- stellungsverbindung immer und immer in gleicher Weise wiederkehrt, wenn wir immer wieder dieselben Erfahrungen nn Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwiekelungstheorie. machen, dann nehmen wir schliesslich an, dass diese Vorstellungsverbindung sich mit dem objektiven Zusammenhang der Dinge decke. Ist aber dieses Kri- terium ein durchaus sicheres? Wir nehmen niemals die Dinge selbst, son- dern immer nur die Eindrücke wahr, welche sie in uns hervorrufen; ja, da das Objekt unserer Wahrnehmung einzig und allein die subjektive Empfindung ist, über welche wir nie hinausgelangen können, so können wir nicht einmal mit absoluter Sicherheit behaupten, dass diesen subjektiven Empfindungen in uns überhaupt Dinge ausser uns entspre- chen, ein Satz, den Berkeley über jeden Zweifel erhoben hatte. Wir wissen also nicht einmal sicher, dass Dinge an sich hinter dem Vorhang unserer Wahr- nehmung stecken, so sehr wir es auch gewohnheitsmässig glauben. Wenn wir aber die äusseren Dinge an und für sich niemals und unter keiner Bedingung wahrnehmen können, wenn unsere wahr- nehmbare Objekte immer nur unsere subjektiven Empfindungen sind, wie wollen wir wissen, ob unsere sub- jektiven Wahrnehmungs- und Vor- stellungsverbindungen dem ob- jectiven Causalzusammenhang der äusseren Dinge entsprechen? Und kehrt auch diese Empfindungs- verbindung noch so häufig und stets in derselben Folge wieder, es bleiben doch immer nur subjektive Wie- derholungen subjektiver Vor- gänge. Wie will ich also mit zweifel- loser Sicherheit schliessen, dass sie die objektive Causalfolge der Dinge selbst anzeigten? Da alles Wahrnehmen ein rein subjektives ist, so haben wir mit- hin keine Sicherheit, dass unsere Wahr- nehmungen und Erfahrungen und die darauf gebauten Schlüsse den objektiven Causalzusammenhang in den Dingen selbst angeben. Wir glauben, dass es so sei. Ist aber Glauben ein sicheres Wissen und Erkennen ? Mit Nothwendigkeit ergiebt sich 167 also gerade aus dem reinen Empiris- mus heraus der Zweifel an der Mög- lichkeit einer Erkenntniss des wahren Causalzusammenhanges sogar der sinn- lichen Dinge unserer alltäglichen Er- fahrung. Wie wird sich aber die Un- sicherheit erst steigern müssen, wenn es sich um das Erkennen von Dingen handelt, welche gänzlich jenseits unserer Erfahrung liegen, um die Erkenntniss der letzten Ursachen aller Dinge. Ist der Skepticismus bereits dem sinn- lich Wahrnehmbaren und Erfahrbaren gegenüber gerechtfertigt, wie erst gegen- über der Dogmatik des Uebersinnlichen! Nicht bloss der Empirismus, auch der Dogmatismus wird hier hinsichtlich seiner Erkenntnissfähigkeit an einen Abgrund geführt, in welchem er versinken muss. Hume’s Skeptieismus ist also in glei- chem Maasse gegen beide vermeint- liche Erkenntnissquellen des Menschen gerichtet, sowohl gegen die aus den Sinnen als auch gegen die ausdem reinen Denken fliessende. Weder die eine noch die andere ver- mag uns über den Causalzusammen- hang der Dinge aufzuklären: Die Cau- salität ist also gänzlich uner- kennbar. Baco hatte die Erkenntniss gleich- gesetzt der Erfahrung, Locke der Wahr- nehmung. Erkenntniss ist begrün- detes Wissen. Begründetes Wissen also soll aus der Wahrnehmung kom- men. Begründetes Wissen ist dasjenige, in welchem die Ursächlichkeit klar er- kannt ist. Die Erkenntniss der Ur- sächlichkeit soll also aus der sinnlichen Wahrnehmung kommen. Und in der That hatte es vor Hume niemand be- zweifelt, und es ist bis heute die po- puläre Annahme, dass man den ursäch- lichen Zusammenhang der Dinge wahr- nehme, dass man sehe, höre, taste, dass dieses die Ursache, jenes die Wirkung sei. Wir sehen den Fluss und darüber den Nebel; wir sehen also, dass der Fluss die Ursache des 12 * 168 Nebels ist. Hume zeigt aber, dass die Annahme, man schöpfe die Erkenntniss der Causalität aus der sinnlichen Wahr- nehmung ein Irrthum ist, und insofern richtet sich sein Beweis gegen die Erkenntnissfähigkeit des Empiris- mus und Sensualismus. — Hume leistet aber noch mehr. Die Dogmatiker wie Descartes, Spinoza und Leibniz hatten in ihrem Rationalismus den causalen Zusammenhang der Dinge aus reinem Denken ganz unabhängig vom sinnlichen Wahrnehmen erkennen wollen. So hatte Spinoza die richtige Folge der Ideen im Geiste für das adaequate Correlat der richtigen Folge der Dinge in der Welt erklärt (ordo idearum idem est ac ordo rerum). Aehnlich hatte Leibniz dem Mikrokosmos der Monade die richtigen Vorstellungen vom Ma- krokosmos angeboren sein lassen. Aber Hume zeigt, dass auch durch reines, logisches Denken nie zu begreifen ist, wie etwas Ursache sei von einem an- deren. — Weder also durch sinnliche Wahrnehmung noch durch reines lo- gisches Denken kann das Wesen der Ursächlichkeit erkannt werden: eine dritte Quelle scheint überhaupt nicht zu bestehen; der causale Zusammen- hang der Dinge ist also in keiner Weise zu erkennen. Der Satz, auf welchem alle Wissenschaft ruht, dass alles seine Ursache habe, ist eine völlig ungewisse Behauptung; alle ver- meintliche Erkenntniss Glaube, und weder Realismus noch Idealismus können uns mehr als die zweifelhafteste Wahrscheinlich- keit, doch niemals Wahrheit geben. Dies zu zeigen, sind Hume’s Beweise bestrebt. 9, Die Beweise Hume’s. Man pflest die Vorstellungen gewöhnlich einzutheilen in abstracte Allgemeinbegriffe und concrete Einzelvorstellungen. Das Mittel- ist blosser, Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. alter schrieb nach dem Vorgange Platons und Aristoteles den Allgemeinbegriffen eine reale Existenz extra animam zu, aber schon der Nominalismus zeigte, dass sie nur in anima existirten. In diesem Sinne nominalistisch wurden die Abstracta von Descartes, Spinoza, Leib niz, Baco und Locke gefasst. Erst Berkeley that hinsichtlich der Aufklä- rung der Natur der Allgemeinbegriffe einen weiteren entscheidenden Schritt. Er zeigte, dass eine dem Allgemein- begriff entsprechende Vorstellung auch nicht einmal in unserer Seele exi- stirt. Wer kann z. B. den Begriff Dreieck vorstellen, welches kein ein- ziges besonderes Dreieck und doch alle möglichen Dreiecke zugleich ist? »Falls irgend Jemand die Fähig- keit besitzt,< sagt Berkeley in seinen »>Abhandlungen über die Principien der menschlichen Erkenntniss«, >in seinem Geiste eine solche Dreiecksidee zu bil- den, wie sie hier beschrieben ist, so ist es vergeblich, sie ihm abdisputiren zu wollen; :ich unternehme das nicht. Mein Wunsch geht nur dahin, der Leser möge sich vollständig und mit Gewiss- heit überzeugen, ob er eine solche Idee habe oder nicht. Und dies, denke ich, kann für niemanden eine schwer zu lösende Aufgabe sein. Was kann einem jeden leichter sein, als ein wenig in seinen eigenen Gedankenkreis hinein- zuschauen und zu erproben, ob er eine Idee, die der Beschreibung, welche hier von der allgemeinen Idee eines Dreiecks gegeben worden ist, entspreche, habe oder erlangen könne, die Idee eines Drei- ecks, welches weder schiefwinklig noch rechtwinklig, weder gleich- seitig, noch gleichschenklig, noch ungleichseitig, sondern dieses alles und zugleich auch nichts von diesem sei?« Was wir als abstracte Begriffe scheinbar vor- stellen, sind in Wahrheit stets nur Einzelvorstellungen, welche als Beispiel für die ganze Gruppe der unter Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. eine allgemeine Definition fallenden Vor- stellungen gebraucht werden, welche als Repräsentanten dieser Vorstel- lungen gelten: repräsentative Ein- zelvorstellungen. So machen wir uns an einem besonderen Dreieck von diesen genau bestimmten Winkeln und Seiten die Eigenschaften aller Dreiecke klar; dies bestimmte Dreieck repräsen- tirt alle Dreiecke. In Wahrheit giebt es in uns also nur Einzelvorstellungen. In die- sem Satze stimmt Hume ganz mit Berkeley überein. Diese Einzelvorstel- lungen zerfallen nun in sinnliche Anschauungen, welche sich durch ihre grosse Deutlichkeit und Stärke auszeichnen und von Hume Ein- drücke (impressions) genannt werden, und in innere Phantasie- und Ge- dächtnissvorstellungen, hlosse Ge- danken, die blasser und farbloser sind als jene. Alle scheinbar noch so weit von den sinnlichen Wahrnehmungen oder Eindrücken abliegenden Vor- stellungen führen sich in letzter Instanz doch stets auf diese als ihre Quelle zurück, sei es nun auf Wahrnehmungen unserer inneren Zustände (z. B. Schmerz), sei es auf Wahrnehmungen dessen, was wir die Aussenwelt nennen. Lässt sich eine Vorstellung nicht auf irgend einen sinnlichen Eindruck zurückführen, so ist dies der sicherste Beweis dafür, dass diese Vorstellung ein blosses Hirn- gespinnst ohne jede reale Grundlage ist. So sind mithin die Eindrücke oder die sinnlichen Wahrnehmungen (innere wie äussere) die eigentlichen Quellen alles Vorstellens. Woher aber diese Eindrücke? Sind sie durch äussere Dinge an sich veranlasst? Wenn Hume auch nicht der mystisch-supranaturalistischen An- sicht Berkeley’s ist, dass alle Ideen in uns unmittelbar durch Gott veranlasst werden, so stimmt er doch darin mit jenem überein, dass die sinnlichen Ein- 169 drücke rein subjectiv sind und über die Existenz äusserer Dinge an sich gar nichts aussagen. Nicht blos die secundären, sondern auch die primären Qualitäten der Dinge wie Zahl, Figur und Bewegung erkennen wir nur in rein subjectiver Weise. Wir wissen also nicht im geringsten, ob das An- sich der Dinge diesen unseren subjec- tiven Vorstellungen entspricht. Eine Erkenntniss der Dinge an sich, sei es der materiellen oder der immateriellen, giebt es nicht — in der Verkündung dieses Satzes greift Hume bereits Kant vor. Alle Erkenntniss erstreckt sich dem- nach nur auf rein subjective Vorstel- lungen und deren Verbindungen, auf welche letzteren jetzt das Augenmerk zu richten ist. Die Vorstellungen ver- knüpfen sich niemals regellos, sondern stets gesetzmässig, Hume stellt drei Gesetze der Vorstellungsverbind- ung (Associationsgesetze) auf. Die Vor- stellungen vereinigen sich nach ihrer Aehnlichkeit (das Gemälde erweckt die Vorstellung des Originals) oder nach ihrem Zusammenhang (contiguity) im Raum, (die Vorstellung England erweckt die des Meeres) oder der Zeit, (der Gedanke an Kant führt auf die Vorstellung des Zeitalters Friedrich’s des Grossen) oder endlich in dem Ver- hältniss von Ursache und Wirkung, (die Vorstellung der Wunde ruft die Vorstellung des Schmerzes wach). Nun ist es klar, dass alle Erkennt- niss in der Verbindung von Vor- stellungen besteht. Aber nicht jede beliebige Verbindung von Vor- stellungen ist gleich Erkenntniss. Es fragt sich, welche Vorstellungsver- bindung Erkenntniss giebt. Die Ver- bindung durch blosse Aehnlichkeit kann täuschen; ich glaube von ferne den Freund zu sehen, und es ist doch ein anderer. Die Aehnlichkeit ist also eine nur zufällige, nicht nothwen- dige Verbindung. Auch die Berührung 170 in Raum und Zeit giebt keine noth- wendige Ideenverbindung. Das Pferd des Darius wieherte an dem Ort, wo es gewohnt war, Hafer zu erhalten. Wäre die Verbindung zwischen diesem Ort und dem Wiehern eine schlechthin nothwendige, so müsste jedes Pferd hier wiehern, aber die Pferde seiner Begleiter schwiegen. So ist es mit der Zeit: zur selben Stunde vollbringen verschiedene sehr beliebig verschiedenes. Die wirklich allgemeingültige Erkennt- niss besteht also in einer Verknüpfung von Vorstellungen, die unter allen Um- ständen sich in gleicher Weise voll- zieht. Eine solche Verknüpfung exi- stirtt aber nur da, wo zwei Vorstel- lungen zu einander in dem Verhältniss von Ursache und Wirkung stehen, wo, wenn die eine ist, stets auch die andere eintritt. Die noth- wendige Verbindung der Vorstellungen, worin allein Erkenntniss besteht, ist also nur die causale. Unsere wahre Erkenntniss hängt also durchaus von unserer richtigen und vollen Einsicht in den Zu- sammenhang von Ursache und Wirkung hinsichtlich der Vor- stellungen ab. Mithin die Frage: Giebt esErkenntniss? ist gleich- bedeutend mit der anderen Frage: Giebt es eine volle Einsicht in das Verhältniss von Ursache und Wirkung? Die Untersuchung Hume’s spitzt sich also auf das Pro- blem der Causalität zu, und Hume zeigt nun, dass weder durch reines Denken a priori, noch durch Er- fahrung eine wirkliche Einsicht in das Wesen der Ursächlich- keit erlangt wird, vielmehr die Ueberzeugung von der Richtigkeit des Causalitätssatzes in allen Fällen ein blosser, aus Gewohnheit ent- standener Glaube ist. Wie ein A die Ursache sei von einem B, ist deshalb a priori durch reines Denken nicht einzusehen, weil Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwiekelungstheorie. Ursache und Wirkung ganz verschieden sind. Man mag das A noch so viel zergliedern, niemals entdeckt man darin das grundverschiedene B. Der Satz »das Feuer verbrennt den Menschen« setzt das Feuer als Ursache, den ver- brannten Menschen als Wirkung. Aber man zergliedere den Begriff »Feuer« noch so sehr, der Begriff >» verbrannter Mensch« ist niemals darin zu entdecken. Und wenn ein Mensch das Feuer zum ersten Mal nur gesehen hätte, ohne mit ihm in unmittelbare Berührung ge- kommen zu sein, so würde seine auch noch so sorgfältige Zergliederung des gesehenen Feuers ihn doch niemals die Vorstellung, dass es den Menschen ver- brenne, entdecken lassen. Allein die wirkliche Berührung des Feuers etwa mit seiner Hand, also lediglich die Er- fahrung lehrte ihn den ursächlichen Zusammenhang zwischen Feuer und Menschenverbrennung kennen. Weil Ursache und Wirkung verschieden sind, so ist daher auch jede apriorische Aus- sage, dass ein Ding die und die bestimmte Wirkung haben werde, ohne dass man darüber oder über verwandte Dinge Erfahrung gesammelt hätte, ganz und gar willkürlich, und kein Vernünftiger wird derartige Aussagen wagen. Nur die Erfahrung also lehrt, ob dieses Ding A mit diesem Dinge B in ursächlicher Verbindung stehe. Die Erfahrung besteht nun aber in der sinnlichen Wahrnehmung. Wir nehmen die Ursächlichkeit also wohl wahr? Wenn eine Billardkugel gegen eine andere stösst und diese in Be- wegung setzt, so nehmen wir also wohl wahr, wie die Kraft der ersteren auf die letztere übergeht? Einen Kraft- übergang haben wir offenbar niemals wahrgenommen, sondern lediglich die Thatsache, dass nach der Berührung die andere Kugel sich bewegte. Was diese inneren bewegenden Kräfte seien, wie sie übertragen werden — wir wissen es nicht. In Wirklich- 0 - F h . £ 1 were Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 171 keit «nehmen wir demnach stets nur die zeitliche Aufeinanderfolge (das post hoc) zweier Thatsachen wahr; die innere Kraft, die innere causale Nothwendigkeit (das propter hoc) entzieht sich der sinn- lichen Wahrnehmung. Doch schliessen wir auf die Existenz die- ser inneren Kraft aus dem Erfolg, aus den Thatsachen. Und so in allen Fällen, wo wir zwei Dinge unter dem Verhältniss von Ursache und Wirkung betrachten: stets nehmen wir nur eine zeitliche Folge wahr und schliessen auf einen inneren noth- wendigen Zusammenhang, d. h. auf eine Causalfolge. Es fragt sich nun aber, ob dieser Schluss von un- zweifelhafter Sicherheit und Ge- wissheit ist? Das Setzen der nothwendigen Ver- bindung zwischen der Ursache A und der Wirkung B führt sich also darauf zurück, dass wir nach der wieder- holten Wahrnehmung einer zeit- lichen Aufeinanderfolge von A und B annehmen, es seiin A eine Kraft, durch welche in B die Wirkung hervor- gerufen werde. Um also eine völlig klare Einsicht in die nothwendige Verknüpfung von Ursache und Wirkung zu haben, müssten wir eine völlig klare Einsicht in das Wesen dessen besitzen, was wir Kraft nennen. Woraus schöpfen wir die Einsicht in das Wesen der Vorstellung »Kraft«? Aus der Wahrnehmung äusse- rer Gegenstände haben wir die Vor- stellung Kraft nicht geschöpft und können wir sie nicht schöpfen. Wenn eine Billardkugel auf eine andere trifft, und diese fortbewegt, so nehmen wir äusserlich die Thatsache der zwei Bewegungen und der Berührung wahr. Aber nehmen wir die innere Kraft der ersten Kugel war? Wir sehen nur, dass sie rollt, nicht aber das geheim- nissvolle Etwas, das sie rollen macht. Wir haben darüber nur Vermuthungen: der Wilde meint, es sitze ein Geist in ihr; anders erklärt es der Mecha- niker oder lässt es ganz unerklärt und begnügt sich mit der Thatsache. Und nehmen wir wahr, wie dies ge- heimnissvolle Etwas auf die zweite Kugel übergeht? Kein Mensch hat diese Uebertragung jemals wahrgenommen, keiner gesehen, wie Atom auf Atom wirkt. Aus der Wahrnehmung äusserer Eindrücke ist die Vorstellung Kraft also nicht entstanden. Somit müssen wir unsere inneren Eindrücke unter- suchen. Die Vorstellung Kraft ist wohl aus der Beobachtung der Thätigkeiten in unserem Innern hervorgegangen ? Wir wollen unseren Arm erheben, und siehe, es geschieht! Wir wollen eine Reihe von Vorstellungen im Geiste durchlaufen, und dieselben erscheinen in ihm. In Folge dieses Einflusses un- seres Willens auf Körper und Seele werden wir uns der Thatsache bewusst, dass in uns eine Kraft oder Macht ist, welche als Ursache jene Wir- kungen hervorbringt. Wir haben also die Vorstellung Kraft aus unseren eige- nen inneren Eindrücken gewonnen und übertragen sie von hier auf alle anderen Wesen. »Dieser Einfluss des Willens, « sagt Hume, (nach Ueberweg’s Ueber- setzung) »ist uns durch das Selbst- bewusstsein bekannt. Davon bekommen wir den Begriff der Kraft oder der Wirk- samkeit, und wir sind sicher, dass wir selbst und alle vernünftigen Wesen Kraft besitzen. Diese Vorstellung ist deshalb eine durch Selbstbetrachtung gewonnene Vorstellung; sie entspringt aus der Betrachtung der Seelenthätigkeit und des Einflusses, welchen der Wille über die Glieder des Körpers und die Ver- mögen der Seele ausübt.« Aber wenn wir auch die Quelle, aus der die Vorstellung Kraft stammt, entdeckt haben, gewinnen wir damit schon eine wirkliche Einsicht erstens in das Wesen der Kraft, zweitens 172 in die Eigenthümlichkeit des Ueberganges der Kraft von einem A auf ein B, welches erstere wir Ur- sache, welches letztere wir Wirkung nennen, haben wir endlich drittens eine vollendete Einsicht in die Nothwen- digkeit dieser Verknüpfung? Keineswegs ! Betrachten wir zuerst den Einfluss unseres Willens auf unseren Körper. Er ist eine Thatsache. Aber erstens, was wäre überhaupt geheimnissvoller, als wie die Seele auf den Körper wirkt? Wie ist es möglich, dass ein blosser Gedanke unseren stofflichen Arm in Bewegung setzt? »Könnten wir,< sagt Hume, >»durch einen leisen Wunsch Berge versetzen, oder die Gestirne in ihren Laufbahnen aufhalten, so wäre diese grosse Macht doch nicht ausser- ordentlicher und unbegreiflicher.< Was diese bewegende Kraft sei, wir wissen es nicht. Wäre sie uns bekannt, so hätten wir endlich das dunkle Band zwischen Geist und Körper entdeckt. Es ist zweitens Thatsache, dass nicht alle unsere Körpertheile dem Willen in gleichem Maasse unterworfen sind. »Weshalb,« sagt Hume, »hat der Wille Macht über die Zunge und die Finger, und nicht über das Herz und die Leber ?« Wir wissen, weder warum im ersteren Falle die Macht vorhanden ist, noch warum sie im letzteren fehlt. Wir wissen auch in beiden Fällen nicht, was sie ist. Und wenn uns nun auch drittens die Anatomen die Verbind- ung der verschiedenen Organe mit den Centralorganen durch Nervenstränge aufweisen, ist uns das Wesen der Kraft, sei es. in den Nerven, sei es in den Centralorganen, im geringsten bekannt? So sehr wir ihre Erfolge in den Be- wegungen unserer Glieder erfahren, dennoch sind wir uns des Wesens dieser Macht so wenig bewusst, dass im Gegentheil der ganze Verlauf zwi- schen der Entstehung eines Willenactes in uns und der endlichen Ausführung Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. desselben in einer Gliederbewegung sich ' unserem Bewusstsein und unserer Ein- sicht ganz und gar entzieht. >»Die Seele,«e sagt Hume, >»will einen be- stimmten Erfolg; unmittelbar aber ent- steht ein anderer Erfolg, der uns un- bekannt und gänzlich von dem gewoll- ten verschieden ist ; dieser Erfolg bewirkt einen andern, ebenso unbekannten, bis endlich nach einer langen Reihe der verlangte Erfolg hervortritt.« Also dass auf unseren Willen Be- wegungen unserer Glieder erfolgen, die zeitliche Folge, das post hoc ist eine Erfahrung; aber was die bewirkende Macht, die Ursache sei, und wie sie wirke, ist uns ganz unbekannt, mithin auch die Einsicht in die nothwendige Ver- knüpfung zwischen Ursache und Wir- kung ist uns völlig verschlossen. Genau so verhält es sich aber in all’ den Fällen, wo unser Wille eine Wirkung auf unseren Geist und seine Vorstellungen ausübt. Wir wollen eine Vorstellung, und sie ist da. Woher sie entsteht, und wie, ist uns ebenso dunkel wie ihr eigenstes inneres Wesen an sich. Und warum ist die Macht unseres Willens über unsere Vorstellungen so beschränkt? Warum kommen sie manchmal gegen unseren Willen, und manchmal nicht trotz unseres Willens? und warum manchmal leichter, manchmal schwe- rer? Also: wenn wir auch thatsächlich erfahren, dass eines auf das andere folgt, und schliessen, dass eines aus dem anderen folgt, so ist doch dieser Schluss, welcher eine innere nothwen- dige Verknüpfung, d. h. das Verhältniss von Ursache und Wirkung zwischen A und B setzt, in keiner Weise ein auf wirklich vollendeter, klarer, deutlicher, innerer Einsicht be- ruhender, denn die wirkende Kraft nehmen wir in den äusseren Erschein- ungen niemals wahr, und wenn wir auch die Vorstellung Kraft aus unseren # 4 bares. ‚ ı inneren Vorgängen schöpfen, so haben’ wir hinsichtlich dieser doch immer nur eine Erfahrung zeitlich auf ein- ander folgender Vorgänge, doch niemals die Einsicht in das innere Wesen dessen, was wirkt, oder der wirkenden Kraft. Das Verhält- niss von Ursache und Wirkung, worauf alle unsere Erkenntniss sich stützt, ist mithin ein abso- lut unerkanntes und unerkenn- Nie sehen wir wirklich ein, wie eines die Ursache des anderen sein könne. In Wahrheit können wir dem- nach allemal nur behaupten, dass in so und so viel bekannten Fällen die und die Erscheinungen stets einander gefolgt seien, doch niemals, dass sie für alle Zeiten nothwendig ver- knüpft seien, denn in das Wesen dieser inneren nothwendigen Verknüpfung man- gelt uns jegliche Einsicht. Mithin: wenn wir nicht einmal mit Sicher- heit die nothwendige Verknüpfung zweier Erscheinungen behaupten kön- nen, wie viel weniger sicher können wir den Satz, der durch Verall- gemeinerung aus vielen Einzelfällen abgeleitet ist, hinstellen, dass jedes Ding mit einem anderen in noth- wendiger Verknüpfung stehen müsse, oder anders ausgedrückt: dass alles seine Ursache haben müsse. Auf dieser Annahme aber, dass alles seine Ursache habe, und dass gleiche Ur- sachen stets die gleichen Wirkungen haben, stützt sich alle Wissenschaft und Erkenntnis. Wo bleibt da die geringste Sicherheit derselben ? — » Wenn jemand sagt:«, schreibt Hume, »Ich habe in allen früheren Fällen solche sinnliche Eigenschaften mit solchen verborgenen Kräften verbunden gefunden, und wenn je- mand sagt: Gleiche sinnliche Ei- genschaften werden immer mit gleichen verborgenen Kräften ver- bunden sein, so sagt er nicht das- selbe, und beide Sätze sind nicht iden- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 173 tisch. Man erwidert: der eine ist von dem andern abgeleitet, aber man muss entgegnen, dass diese Ableitung nicht wahrgenommen und nicht . bewiesen werden kann. Welcher Art ist sie also* Nennt man sie Erfahrung, so ist dies keine Lösung. Denn alle Erfahrungs- beweise ruhen auf der Grundlage, dass das Kommende dem Vergangenen glei- chen werde, und dass gleiche Kräfte mit gleichen sinnlichen Eigenschaften verbunden sein werden. Entsteht ein Verdacht, dass der Lauf der Natur sich ändern, und dass das Vergangene keine Regel für das Kommende sein werde, so wird alle Erfahrung nutzlos und dient zu keiner Folgerung oder Ab- leitung. Keine Erfahrung kann deshalb diese Gleichheit zwischen Kommendem und Vergangenem beweisen, denn alle Gründe stützen sich auf die Annahme dieser Gleichheit. Wenn auch der Lauf der Dinge bisher noch so regelmässig gewesen ist, so beweist dies für sich allein, und ohne einen besonderen Grund nicht, dass dies auch in Zukunft so sein werde. Man irrt, wenn man meint, die Natur der Dinge aus vergangenen Fällen erkannt zu haben. Ihre ver- borgene Natur und folglich alle ihre Wirkungen können sich ändern, ohne dass ihre sinnlichen Eigenschaften wech- seln. In einzelnen Fällen und bei ein- zelnen Dingen geschieht dies; weshalb kann es nicht immer und für alles geschehen? Welche Logik, welcher Be- weis spricht gegen diese Annahme? Man sagt: die Praxis widerlegt die Zweifel. Aber dies trifft nicht den Sinn der Frage. Als Handelnder bin ich in diesem Punkte ganz zufrieden- gestellt; aber als Philosoph mit etwas Wissbegierde, wo nicht Zweifelsucht, verlange ich nach dem Grunde dieser Ableitung. Kein Buch, kein Nach- denken hat bis jetzt die Schwierigkeit heben oder mich in einem so wichtigen Punkt zufrieden stellen können. Was kann ich besseres thun, als die Frage 174 dem Publikum vorlegen, obgleich ich wenig Hoffnung habe, sie gelöst zu bekommen. Wir werden auf diese Weise wenigstens unserer Unwissenheit inne, wenn wir auch unser Wissen nicht vermehren. « Wenn also in Wahrheit nicht der geringste Beweis für den Satz der Cau- salität vorliegt, wie kommt es denn, dass die Menschen ihn doch in allen Fällen ohne weiteres als sicher hin- stellen und annehmen? Dies hat nach Hume keinen logischen, sondern nur einen psychologischen Grund. Wir erfahren z. B. wiederholt die zeitliche Folge der Bewegung einer Billardkugel, des Zusammenstosses mit einer andern und der nun beginnenden Bewegung der zweiten Kugel. Wenn diese Folge auch hunderttausendmal von uns er- fahren ist, wir haben keinen Grund, mit absoluter Sicherheit anzunehmen, dass es zum hunderttausend und ersten Male auch geschehen werde. Indessen weil jene drei Vorstellungen, soweit unsere Erfahrung reicht, stets mit ein- ander verbunden auftreten, so gewöh- nen wir uns daran, beim Eintreten der ersten Vorstellung auch die folgenden zu erwarten. Diese Gewöhnung wird in uns so stark, dass wir meinen, es könne gar nicht anders sein (was, wie bewiesen, eine blosse Ein- bildung ist), und aus dieser Gewöh- nung entspringt in uns der Glaube an die innere Nothwendigkeit dieser Verbindung. Und doch ist dieser Glaube haltlos, wie wir gezeigt haben. Dass aber der Grund dieses Glaubens die Gewöhnung ist, geht schon daraus her- vor, dass die Annahme der ursäch- lichen Verknüpfung zweier Erschein- ungen nie aus einem Falle, sondern stets erst aus vielen Fällen entsteht. Da nun alle Erkenntniss sich auf diesen Satz der Ursächlichkeit stützt, der sich als Glaubenssatz erweist, so ist aller vermeintlichen Erkenntniss von erfah- rungsmässigen Thatsachen nur der Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. x Charakter der Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben; der sog. Erkenntniss aber, welche sich auf jenseits all’ unserer thatsächlichen Erfahrung liegende Gegenstände bezieht, kommt nicht einmal der Charakter der Wahrscheinlichkeit, geschwei- ge der Gewissheit zu. »Wenn man,« so lautet das berühmte Schlusswort der Hume’schen Abhandlung, »von solchen Grundsätzen erfüllt, die Bibliotheken durchsieht, welche Verwüstung müsste man darin anrichten? Nimmt man z. B. ein theologisches oder streng meta- physisches Werk in die Hand, so darf man nur fragen: Enthält es eine dem reinen Denken entstammende Untersuchung über Grösse und Zahl? Nein. Enthält es eine auf Erfahrung sich stützende Unter- suchung über Thatsachen und Dasein? Nein. Nun, so werfe man es in’s Feuer; denn es kann nur Spitz- findigkeiten und Blendwerk enthalten. 9. Hume und die Bleaten: Causalität und Werden. Die Hume’schen Beweise bilden den Punkt, an welchem die Fortentwicke- lung des philosophischen Denkens in Kant anknüpft. Wir müssen sie des- halb in eine möglichst allseitige Be- leuchtung zu setzen suchen. Zu diesem Zwecke wollen wir hier auf eine der wichtigsten Gruppen unter den griechi- schen Naturphilosophen, die Eleaten, zurückweisen, da gerade diese Denker viele Vergleichungspunkte mit Hume darbieten. Die Eleaten hatten ihren Skepticismus gegen einen der bedeut- samsten Grundbegriffe des Denkens, gegen das Werden gerichtet, und da- mit alle in diesem Hauptbegriffe lie- genden Unterbegriffe wie das Entstehen und Vergehen, die, Bewegung u. s. w. in Frage gestellt. Alle diese Begriffe, erklärten sie, seien sowohl logisch Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. undenkbar, als auch sinnlich un- erfassbar; sie seien durch und durch widerspruchsvoll und existirten deshalb in Wirklichkeit auch gar nicht; ohne Widerspruch sei nur das wandellose, starre Sein zu denken, und dieses daher das einzig wahre Grundprincip der Welt und des Denkens. Der erste Widerspruch, den sie entwickelten, stellte die logische Unmöglichkeit im Begriff des Werdens klar. Wir haben diese eleatischen Beweise bereits früher (Kosmos, Bd. II, S. 193 f.) ent- wickelt und beziehen uns jetzt darauf zurück. Offenbar ist dieser von den Eleaten aufgedeckte logische Wider- spruch kein anderer, als welchen Hume hinsichtlich der Causalität enthüllt, wie wir auch a. a. O. schon andeu- teten. Zwischen Ursache A und Wir- kung B, indem die Wirkung aus der Ursache hervorgeht, gebt es eben die- sen Uebergangspunkt x, der gleichzeitig weder als Ursache noch als Wirkung, und doch sowohl als Ursache als auch als Wirkung gedacht werden muss, d. h. logisch ohne Widerspruch überhaupt nicht zu denken ist; es ist also aus reinem Denken schlecht- hin nicht einzusehen, wie eines die Ursache eines anderen werden kann. Ebenso wenig hilft uns die sinnliche Wahrnehmung. Das Werden selbst, die Entwickelung selbst nehmen wir nie wahr, sondern in jedem Falle immer nur das Gewordene, das Ergebniss der Entwickelung, die Differenz zwischen dem Zustand in einem späteren Zeitpunkte gegenüber dem Zustand in einem früheren. Und betrachtete ein Forscher auch mit dem feinsten Mikroskop die Säftebewegungen im Innern der Zelle, stets nimmt er nur das Resultat der verborgenen Werde- kräfte, die Bewegung im passiven Sinne des Bewegten, nicht die Be- wegung im activen Sinne des Be- wegenden wahr. Was die Eleaten hier vom Werden beweisen, ist dasselbe, 175 was Hume von Ursache und Wirkung zeigt. Das causale Werden in der Ursache nimmt keine Sinnesmacht wahr: wir schliessen erst, dass etwas Ur- sache ist, wenn die Wirkung als das Resultat bereits geworden ist. Die dritte Folgerung aus dem Eleatismus richtete sich gegen den sog. endlosen Regress. Zur Erklärung des Werdens oder der Entwickelung leitet man ein A aus einem B ab, das B aus C u. s. w. in infinitum rück- wärts. Aber im Verfolg dieses endlosen Rücklaufes von den Wirkungen zu den Ursachen erreicht man niemals eine erste Ursache. Schon dadurch wird alle Erklärung mangelhaft und unvoll- ständig, denn der unerklärte An- fang bleibt offenbar als dunkler Posten, als unbekanntes x in der Rechnung stehen. Dazu kommt ja aber noch, dass (nach dem ersten und zweiten Beweis) auch hinsichtlich aller übri- gen Glieder der Kette das causale Verhältniss zwischen je zwei Nach- bargliedern weder logisch ohne Wider- spruch denkbar, noch durch sinnliche Wahrnehmung erfassbar ist. Der end- lose Regress bleibt folglich die Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Causalität schuldig. Wagten wir aber viertens den oft gethanen kühnen Schritt, und schlössen wir den end- losen Regress ab, indem wir eine erste Ursache an seinen Anfang setzten, so hätten wir wohl den Mangel an einer solchen ersten Ursache ausgeglichen, nur aber, um in ganz neue Schwierig- keiten. hineinzugerathen: die erste Ur- sache ist in ihrem ganzen Sein un- entstanden; also kann nichts Ent- standenes in ihr sein, also auch nichts Entstandenes aus ihr hervorgehen, d.h. nichts aus ihr entstehen. Ohne diesen logischen Widerspruch ist die erste Ursache nicht zu denken: die sinn- liche Wahrnehmung aber zeigt uns niemals eine erste Ursache, da alle Gegenstände der sinnlichen Wahrneh- 176 mung und Erfahrung aus ihnen vor- hergehenden Ursachen hervorgehen. Alle jene (a. a. OÖ. von uns be- sprochenen) eleatischen Wider- sprüche in den Begriffen des Werdens, der Entwickelung, der Bewegung u.s. f. führen sich mit- hin in letzter Instanz auf die Hume’schen Widersprüche im Be- griff derCausalität zurück. Denn Werden heisst doch so viel wie Ent- stehen und Vergehen. Alles Entstehen und Vergehen geht aus einer Ursache hervor. Die Ursächlichkeit ist also der Fundamentalbegriff des Werdens. Die treibende Kraft im Werden ist eben das, was wir Ursächlichkeit oder Cau- salität nennen. So ist es selbstver- ständlich, dass die Widersprüche im Werden nichts anderes sind, als die Widersprüche in der Causalität. Nun finden wir einerseits die logische Auffassung der Causalität, d. h. die Annahme, das Wesen des Causal- zusammenhanges werde durch logisches Denken erkannt, bei den Idealisten, wie Platon, Aristoteles, Descartes, Spinoza, Leibniz, Berkeley, Fichte, Schelling, Hegel u. a., anderer- seits die sensualistisch-empiri- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwieckelungstheorie. sche Auffassung, d. h. die Annahme, das Wesen des Causalzusammen- hanges werde durch Sinneserfah- rung erkannt, bei den Realisten, wie Baco, Locke, und den meisten Naturforschern. Aber Hume beweist: Das Wesen des Causalzusam- menhanges ist weder durch lo- gisches Denken, noch durch Sinneserfahrungerkennbar. Es giebt also weder auf idealisti- schem noch auf realistischem Wege irgend welche Möglich- keit, irgend welchen CGausal- zusammenhang in der Welt, auf welchem Gebiet, in welcher Wissenschaft esimmer sei, über- haupt zu erkennen. Alle Wis- senschaft ausnahmslos ist ein blosser Wahrscheinlichkeits- glaube,keine Wahrheitserkennt- niss. Ob z. B. Schöpfungstheorie oder Entwickelungstheorie angenommen wird, das eine bleibt so unbegreiflich wie das andere. Ehe wir aber die Trag- weite dieses zerschmetternden Ergeb- nisses an einigen Beispielen entwickeln, möge das folgende Schema dazu dienen, den inneren Gedankenzusammenhang an- schaulich und übersichtlich darzustellen: Das Werden der Eleaten. 1. Erster Widerspruch: Die logische Un- denkbarkeit des Werdens. Vierter Widerspruch: Die logische Undenkbarkeit der ersten Ursache. en Werden — Entstehen und Vergehen — Entstehen und Vergehen durch und aus etwas — I. Zweiter Widerspruch: Die sinnliche Unwahrnehmbarkeit des Werdens. Dritter Widerspruch: Die Unzulänglichkeit der Erklärung durch den endlosen Regress. Ursache und Wirkung — Causalität. Die Causalität Hume’s. Die logische Auffassung der Causalität bei den Idealisten. ——L———— A — Hume gegen die Idealisten: Der Causalzusammenhang ist logisch un- erfasslich. Die sensualistische Auffassung der Causalität bei den Realisten. Hume gegen die Realisten: Der Causalzusammenhang ist empirisch unerfasslich. KT To {70 070 1 Der Causalzusammenhang ist schlechthin unerkennbar. nn Alle Wissenschaft — Wahrscheinlichkeitsglaube. Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 4. Anwendung der Hume’schen Skepsis auf die Entwickelungstheorie. Alle vermeintliche Erkenntniss er- weist sich nach Hume als blosse Be- hauptung ohne Gewissheit. Handle es sich um irgend welche Aussage über das Verhältniss von Gott und Welt, von Seele und Körper — keine kann ihre Richtigkeit beweisen. Weder durch lo- gisches Denken noch durch sinnliche Erfahrung kann das Verhältniss zwischen Gott und Welt begriffen werden. Sinnlich erfahrbar ist Gott nicht; setze ich ihn aber aus Gründen des Denkens als das Immaterielle, die Welt als das Materielle, so ist logisch nicht mehr zu fassen, wie diese beiden absolut entgegengesetzten in irgend einer Verbindung stehen kön- nen. Von Seele und Körper gilt dasselbe. Und fasse ich das Verhältniss der bei- - den auch in monistischer Weise, be- greife ich trotzdem logisch oder sinnlich den Causalzusammenhang, durch welchen mein Wille meinen Arm, ein Gedanke meine Zunge in Bewegung setzt? Be- greife ich, wie eine Bewegung von aussen eine Vorstellung in meinem Innern her- vorruft, wie Bewegung sich umsetzt in Empfindung, trotz aller Kenntniss der Nervenzellen, trotz aller zwischen den Centralorganen und der Peripherie ent- deckten Leitungsbahnen? Begreife ich, wie im Nerven Molecül auf Molecül wirkt? wie der Nerv Leiter der in ihrem Wesen uns ganz unerklärten Empfindung ist? Selbst auf rein monistischem Standpunkt bleibt der innerste Causal- zusammenhang unerkannt und uner- kennbar. Sehen wir auf die als die klarste aller Wissenschaften gepriesene Mathe- matik. In ihr ist das »Unendlichkleine« die alles erklärende Causalität, denn jede Grösse be- und entsteht aus dem Unendlichkleinen. Das Unendlichkleine darf aber selbst nicht als Grösse ge- dacht werden, denn jede noch so kleine Grösse ist theilbar, das Unendlichkleine 177 aber nicht theilbar, also Nichtgrösse. Wie kann aber aus Nichtgrösse jemals Grösse be- und entstehen? Logisch ist das undenkbar; sinnlich wahrnehmbar ist aber das Unendlichkleine nicht. Das mathematische Unendlichkleine findet seinphysikalischesund chemisches Correlat an dem Atom. Das Atom als Unendlichkleines ist Nichtgrösse, die Materie ist Grösse; wie kann die Grösse aus Nichtgrössen, die Materie also aus Atomen be- und entstehen ? Betreten wir das Gebiet der Me- chanik. Eine Kugel stösst auf eine andere und macht sie rollen. Wir sehen diese Vorgänge, dass sie sind, aber kennen wir das Wesen ihrer inneren treibenden Kraft? Wirnehmen wahr die Erscheinung, den inneren Causalzusammenhang denken wir hinzu, doch ohne dass uns dar- um der Begriff Kraft im geringsten begreiflich wäre, trotz allem, was wir im Ueberfluss von der Kraft der Gravi- tation, der Elektrieität, des Magnetis- mus u. s. w. reden. All’ diese letzteren Specialbegriffe des Allgemeinbegriffs Kraft sind nur Ausdrücke für That- sachen, die wir in einheitliche Beziehung setzen, doch ohne dass wir irgendwie ihr wahrhaft inneres Wesen an sich kennten. Wir wissen wohl, was alles die sogenannte Electricität (d. h. »die unbekannte Kraft, wie sie zum Beispiel im Elektron sich fin- det«) bewirkt; welcher Physiker könnte uns sagen, was sie an sich ist? Theologische, psychologische, mathe- matische, physikalische, chemische, me- chanische Causalität — an sich ist keine derselben erkennbar. So kann es uns nicht Wunder neh- men, wenn sich von hier aus auch eine merkwürdige Kritik jeder Art Ent- wickelungstheorie ergiebt. Schon der Begriff der Entwickelung (— Wer- den) ist voll von den uns bekannten unlösbaren Widersprüchen. Ja, der wahre innere Causalzusammenhang des alltäg- 178 lichen Ereignisses, wie z. B. ein Mensch aus einem anderen Menschen entsteht, ist weder dem logischen Denken noch der sinnlichen Wahrnehmung klar und deut- lich. Kennen wir denn auch nur von weitem die geheimnissvollen »Kräfte«, die im Ei und Samen walten, ihr Wir- ken und Bewegen, wodurch diese kleine indifferenzirte Masse zu einem wunderbar differenzirten Organismus ausgestaltet wird? Wir erfahren, dass es so ge- schieht, doch nicht, wodurch es ge- schieht. Wir schliessen aus den Ent- wickelungserscheinungen, dass entspre- chende hervorbringende Kräfte im Ei und Samen vorhanden sein müssen, aber wer könnte sich diese Kräfte auch nur annähernd anschaulich vor- stellen? Und wird es hier nicht klar, dass, wenn wir sagen, in dem Ei und Samen müsse die »Kraft« dazu vor- handen sein, wir garnichts anderes sagen als lediglich: es müsse eine »Ursache« dazu da sein, dass wir also nur ein Wort anstatt eines Reale setzen, dass Kraft und Ursache identisch sind, dass wir eben deshalb auch alle Schwierig- keiten dieser Begriffe in den Kauf neh- men müssen, dass wir die Sache selbst aber nicht haben? Wir erkennen also nicht einmal den Causalzusammenhang ' da, wo innerhalb derselben Art das eine Individuum sich aus dem an- dern entwickelt. Wie aber muss sich erst die Schwierigkeit da steigern, wo es sich um die Entwickelung einer ganz neuen Art aus einer anderen Art handelt! Logisch ist nicht einzu- sehen, wie das Verschiedene aus dem Verschiedenen hervorgeht. Hat aber den Entwickelungsvorgang einer Art aus einer anderen jemals einer thatsächlich mit Sinnen wahrgenommen? Und wenn wir nun auch die Behauptung aufstellen, die Entwickelung gehe ganz allmählich durch unendlich kleine Unterschiede vor sich; wenn wir also auch die Abänderung dem Un- endlichkleinen, den Atomen, in die N Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. Schuhe schieben, ist es logisch be- greiflich, wie ein Atom oder eine Atom- gruppe eine abändernde Kraft auf ein anderes Atom oder eine andere Atom- gruppe überträgt? Oder hat diesen Vorgang der atomistischen Kraftüber- tragung jemals einer mit Sinnen er- schaut? Das Bewegte sehen wir, nicht das Bewegende. Der Chemiker zeigt uns, dass aus neuen Mischungen neue Produkte her- vorgehen: er zeigt uns das Gewordene; er zeigt uns, dass unter gewissen so und so beschaffenen Umständen dieses Werdeproduct in die Erscheinung tritt, und für die Praxis genügt dies ja auch völlig, aber jetzt handelt es sich um das absolut klare theoretische Durchdringen, und da zeigt sich, dass er uns das Werden selbst nicht ent- räthseln kann. Die Entwickeiungs- theorie zeigt uns in Wahrheit auch nur eine Fülle von einander ähn- lichen Erscheinungen. Die innere Verwandtschaft, die Abstammung, den Werdeprocess der allmählichen Ent- wickelung denkt siehinzu, schliesst sie hinzu. Sie zeigt uns in den ver- schiedenen Schichten der Erdrinde auf- einanderfolgende Thier- und Pflanzen- arten, die Auseinanderfolge schliesst sie hinzu. Die Thatsachen des Erd- archives gewähren nur ein post hoc, ja, genau betrachtet, der unmittel- baren, sinnlichen Anschauung und nacktthatsächlichen Er- fahrung nicht einmal ein zeit- liches post hoc, denn so verschieden- altrig auch die einzelnen Schichten von der Geologie bestimmt sein mögen, jetzt liegen sie und also ihr organischer Inhalt für unsere sinnliche Anschauung und unmittelbare empirische Wahr- nehmung doch gleichzeitig mit und bei einander; die Erdschichten zeigen unmittelbar und unabhängig von unseren hinzugefügten Schlussfolgerungen also in Wirklichkeit nur ein räumliches Getrenntsein: dies allein ist der Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. nüchterne, nackte Thatbestand, auf den erst durch eine Reihe von Schluss- ketten das zeitliche post hoc von uns übertragen ist. Diesem also auch keinesweg in der unmittelbaren sinn- lichen Wahrnehmung, sondern erst schlussmässig angehängten zeit- lichen post hoc, fügt nun erst in zwei- ter Linie der Entwickelungstheoretiker das propter hoc hinzu. Denn die Schichten und ihre versteinerten orga- nischen Einschlüsse selbst zeigen uns doch nicht mehr den lebendigen Vorgang der continuirlichen Auseinanderfolge. Die blosse Aehnlichkeit oder Berührung (con- tiguity) in Raum und Zeit aber be- weist keineswegs unmittelbar die innere Verwandtschaft und Abstammung, also den causalen Zusammenhang. Ange- nommen aber der continuirliche, ent- wickelungsmässige Zusammenhang der verschiedenen Arten wäre unwiderleg- lich festgestellt, die Glieder der Kette des unendlichen Regresses wären fest in einander eingelenkt — hätten wir damit die Kenntniss und Erkenntniss der ersten Ursache? Das erste Glied würde uns ewig fehlen. Wenn aber die erste Entstehung, der Anfang der Entstehung dunkel ist, so bleibt jenes eine unaufgeklärte x in unserer Rechnung, von dem wir oben sprachen, stehen; in jedem besondern Glied der Entwickelungsreihe würde es wie ein unverscheuchbares und unenthüll- bares Gespenst erscheinen; ein dunkler Punkt würde in jeder, sonst noch so hellen Specialerkenntniss zurückbleiben, d. h. wir ständen wieder überall vor einem innersten Geheimnisse des Entwickelungsprocesses. Der Entwickelungstheoretiker weist auf die individuelle oder embryologische Entwickelung hin. Thatsache ist, dass hier nach einander intrauterine Erschein- ungen auftreten, welche mit verschie- denen thierischen Daseinsformen Aehn- lichkeit haben, und zwar im selben 179 Raum des Mutterleibes und am selben Objecte, also gewiss doch im innersten Causalzusammenhange. Und dennoch! Der Embryologe vermag auch hier uns stets nur eine zeitliche Folge von Erscheinungen zu zeigen, nie die innere Causalfolge. Weder sieht der lo- gische Verstand aus reinem Denken es klar und deutlich, frei von jedem Dunkel, ein, wodurch und wie aus der Zelle der Erzeugungsstunde mit Nothwendigkeit die Gestalt des dritten Monats hervorgeht, noch schaut ir- gend ein Sinn das umändernde Spiel der inneren verborgenen Kräfte. Die Produkte derselben, die verschie- denen fertigen Formen in den ver- schiedenen Stadien der Entwickelung bekommen wir zu sehen, aber auch nur im abgestorbenen Zustande, d. h. ledig ihrer inneren lebendigen Kräfte. Dass‘ eine entwickelnde Kraft (— Ur- sache) da sein müsse, schliessen wir aus den Formveränderungen, aber wenn wir sagen: (und mehr können wir nicht sagen) es ist eine derartige Kraft, dass sie eben diese Formen her- vorbringt — was thun wir anders, als dass wir uns im nichtssagenden Cirkel herumdrehen? Die innere Entwicke- lung des Embryo gleicht also trotz aller Kenntnisse über die äussere Form des Embryo doch immer dem verschleierten Bilde von Sais. Wie unendlich dunkel wird aber zuguterletzt erst der causale Zusammen- hang, wenn wir diese ontogenetische Entwickelung nun mit jener phyloge- netischen in ursächliche Verbindung setzen! Hier werden uns zwei und doch in Wahrheit auch nur sehr entfernt ähnliche Erscheinungs- reihen vorgeführt; das empirisch Thatsächliche reicht eben nur so weit. Dass sie in causalem Zusam- menhange stehen, wird schliessend hinzugefügt, und diese die beiden Reihen verbindenden Schlüsse beziehen sich auf Thatsachen, welche vor Jahr- 180 millionen geschehen sein sollen und von keinem menschlichen Auge erschaut sind. Eine absolut zwin- gende logische Nothwendigkeit, von der Ontogenie auf die Phylogenie oder umgekehrt zu kommen, liegt nicht vor, denn wir könnten uns noch eine ganze Reihe anderer Hypothesen, als das sog. biogenetische Gesetz ist, zur Erklärung der Aehnlichkeit der beiden Reihen bilden; ja, wer hindert uns, einfach den Zufall dafür verantwortlich zu machen oder den Willen Gottes? beides wäre gleich dunkel und uner- klärlich. Die Thatsache der Aehnlich- keit der beiden Erscheinungsreihen giebt uns also höchstens einen Wahrschein- lichkeitsschluss auf ihren inneren causalen Zusammenhang an die Hand, um so mehr, als hier die Feuer- probe des Experimentes niemals angestellt werden kann. Aber ein Wahr- scheinlichkeitsschluss hat doch nur den Werth einer Annahme, einer Hypothese, nicht den Werth eines sicheren Ge- setzes oder einer unumstösslichen Er- kenntniss. Und mit Sinnen endlich hat doch auch Niemand jemals den Causalzusammenhang zwischen Phylo- genie und ÖOntogenie geschaut. Das sind aber nur die allgemeinen Schwierigkeiten. Diese vermil- lionenfachen sich aber noch dadurch, dass bei jeder einzelnen Art und erst recht bei jedem einzelnen In- dividuum allemal eine Fülle von be- sonderen Umständen hinzutreten, unter denen sich die besondere Art oder das besondere Individuum ent- wickelt hat, und welche alle in Rech- nung gezogen werden müssen; welche aber, indem sie unendlich viele neue Causalzusammenhänge aufzulösen geben, damit auch die interne erkenntniss- theoretische Schwierigkeit ins Unend- liche potenziren. Klingt eine solche Kritik nicht wie ein völliges Ablehnen der Entwicke- lungstheorie ? wie ein Aufgeben der- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. selben? Sie mag so klingen, sie ist es nicht. Gerade der philosophische, kri- tische Anhänger der Entwickelungs- theorie darf sich am wenigsten über die erkenntnisstheoretischen Abgründe täuschen, welche ihm auch aus dieser Theorie entgegengähnen; er darf am wenigsten ein dogmatischer Anhänger der Lehre sein, wie denn dem echten Kritieisten überhaupt jeder Dogmatis- mus fern bleiben muss. Aber fällt nicht durch solche Kritik der Werth der Lehre dahin? Gewiss nicht! Die Kritik hat die Absicht, und vielleicht auch den Erfolg, dass man sich der Grenzen der Erkenntniss bewusst werde und bleibe; dass man sich wie- der klar mache, dass das Ding an sich, also die innerste Causalität und Werdekraft der Welt dem Menschen verborgen ist. Denn der Mensch ist ja selbst durch und durch und in jedem Augenblick ein Product des Werdens, niemals das Werden selbst; immer also steht das Werden hinter und über ihm, nie er hinter und über dem Werden; er ist stets gewordenes Object des Werdens, niemals das das Werden producirende Subject, d. h. das Werden selbst. Man erkennt klar nur, was man selbst völlig schafft; der Mensch schafft nicht das Werden, son- dern das Werden den Menschen. Somit muss das Werden in seinem inner- sten Wesen ihm auf ewig unbekannt bleiben, wenn er auch die Erzeugnisse des Werdens überall antrifft und daraus aufdie Existenz des Werdens schliesst. Es mahnt aber zu vorsichtiger und wahrhaft kritischer Arbeit, wenn man sich bewusst bleibt, wie eng die Gren- zen unseres Erkennens gesteckt sind. Eine solche Kritik der Entwickelungs- theorie geben, heisst nicht sie aufheben, sondern sie nur von dogmatischen Be- hauptungen, welche zum Schaden der- selben sich doch bald als falsch er- weisen und dann auch gegen ihren eigentlichen Kern gerichtet werden, Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. { befreien. Denn wenn ihr auch die auf- gezeigten Schwächen anhaften, so wird sie dadurch um nichts schlechter als irgend eine andere Theorie, weil ja die in dem Causalitätsbegriff liegenden Schwierigkeiten allen mensch- lichen Theorieen ausnahmslos und gleichmässig innewohnen, und in diesem Punkte alle Theorieen gleich stark und gleich schwach sind. Denn diese Schwächen und Fehler sind nicht Schwächen und Fehler irgend einer Theorie, sie sind Schwächen und Fehler des menschlichen Erkennensüber- haupt. Sowie wir nicht fliegen können wie die Vögel, so können wir auch die Dinge an sich nicht erkennen und zwar in keinem Fall, von keiner Theorie aus. Das ist ein Mangel aller mensch- lichen Natur, eben weil sie, um mit Spinoza zu reden, nur Modus ist; darin sind alle Theorieen hinfällig. Darnach muss man also wohl die Tragweite des menschlichen Er- kennens überhaupt im Vergleich mit einer hypothetisch angenommenen absoluten Erkenntniss " abwägen, aberebendeshalb darf man danach nicht den Werth einer mensch- liehen Theorie im'Vergleich mit einer andern menschlichen Theo- rie beurtheilen. Handelt es sich in diesem letzteren Sinne um die Würdigung der Entwicke- lungstheorie gegenüber der ganzen Masse der übrigen Theorieen von der Entstehung der Welterscheinungen, so lautet unser Urtheil dahin, dass unter allenuns bekannten derartigen Theorieen, welche ja alle nur auf Wahrscheinlich- keit Anspruch machen können, keine einzige so sehr dem Bedürfniss nach wahrhaft empirisch-kritisch zu setzenden Causalzusammenhängen entspricht, als die Entwiekelungstheorie. Darum hän- gen wir ihr als der wahrscheinlichsten Theorie an — im vollen Bewusstsein ihrer Grenzen; sie kann uns nur em- pirische Erscheinungen in ursächlichen Kosmos, V, Jahrgang (Pd. IX). | „wickeln. sl Zusammenhang setzen, soweit dies über- haupt möglich ist; über die Dinge an sich und den letzten Urgrund der Dinge, ob sie blosse Materie oder immateriell oder beides, ob sie Gott oder Welt, oder Gott und Welt seien u. s. w. — darüber kann uns die Entwickelungs- theorie so wenig eine bestimmte Aus- sage geben, wie irgend eine andere Theorie. Mithin ist es aber auch von Seiten der Entwickelungstheoretiker ein Missbrauch, und sie werden echte Dog- matiker, wenn sie sich zu unfehlbaren Richtern über die Dinge an sich auf- werfen wollen, wenn sie irgend eine metaphysische Theorie, z. B. den Ma- terialismus als die allein selig machende proclamiren. Die rein kritisch-empirisch gefasste, lediglich auf die Erscheinungs- welt bezogene Entwickelungstheorie ist und bleibt die beste Hypothese über den Entstehungsgang der organischen Welt; über die letzten Gründe der Dinge sagt sie gar nichts aus. Gerade deshalb kann sie aber auch (und das ist ein entschiedener Vorzug) mit jedem nichteleatischen metaphysischen Systeme verbunden werden. Sie ist weder materialistisch noch spirituali- stisch; eben darum kann sie mit ma- terialistischen so gut wie mit spiritua- listischen Systemen in Verein treten. Vorausgesetzt, ich nähme den meta- physischen Dualismus zwischen Gott und Welt, ob nun im Theistischen oder Deistischen Sinne an welch’ ein Widerspruch läge denn darin, wenn ich nun glaubte, dass Gott die Welt so geschaffen habe, dass sich die Arten allmählich aus angelegten Keimen ent- Man kann Theist und Dar- winist zugleich sein. Schlimm genug und zum Schaden der Ausbreitung der Entwickelungslehre, wenn viele ihrer Anhänger als Materialisten den Ma- terialismus für solidarisch verbunden mit der Entwickelungstheorie ausgegeben Die innigste religiöse (ottes- die den Schöpfer anbetet, 13 haben. verehrung,, 182 kann gleichwohl im vollsten Einklang mit Darwin’s Theorie stehen, denn wel- ches der erste Ursprung der Welt war, wissen wir alle nicht, und daher hat im Grunde jeder das Recht, diesen sich vorzustellen wie er will, wenn er nur anderen durch seine Vor- stellung und deren etwaige gemein- schädliche praktische Folgen nicht lästig fällt. 5. Hume und Kant. Hume’s Beweisführungen besitzen eine wahrhaft dämonische Gewalt, die jede eitle Einbildung, »wie wir’s so herrlich weit gebracht«, schmählich zer- schmettert. Und doch — auch dieser Achilles hat seine Ferse, und hat er mit seinen tödtlichen Pfeilen so viele andere getroffen, so kann die philo- sophische Nemesis auch ihm den kri- tischen Pfeil nicht ersparen. Hume willbeweisen, dass kein Causalzusammenhang sichbeweisen lasse. Er will begründen, dass jede Begründung unbegründet sei. Er will den Causalbegriff als hin- fällig beweisen, und beweist doch in jedem Augenblick unter Voraus- setzung dieses Causalbegriffes. Die Causalität soll weder logisch denkbar noch sinnlich erfassbar sein: es ist doch also wohl nutzlos, nach dem Wesen der Causalität zu forschen, denn wir verstehen sie ja nicht; sie ist ein blosser Gewohnheitsglaube. Aber wun- derbar! so sehr beherrscht die CGau- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. salität selbst ihren Skeptiker Hume, dass, obwohl er die Erkennbarkeit jedes Causalzusammenhanges leugnet, er doch nach dem causalen Zusammenhange forscht, in und aus welchem dem Men- schen jener Glaube an die Causalität kam. So ist es doch etwas Selt- sames mit diesem Glauben, dass alles seine Ursache habe: während wir jeden andern Glauben abwerfen, nachdem wir seine Nichtigkeit erkannt haben — dieser Glaube beherrscht uns so, dass, selbst wenn wir die Richtigkeit der Hume’schen Beweise anerkennen, wir trotzdem immer wieder eigensinnig be- haupten: e pur si muove! und doch hat jedes seine Ursache. Auch Hume geht es nicht anders. Er will beweisen, die Causalität sei ein .blosser Glaube ohne objektiven Grund, und doch sucht er den psychologischen Grund, woher dieser Glaube entstanden sei. So sehr er sich von der Causalität und ihren Ein- wirkungen losreissen will, immer wieder hält sie ihn in ihrem Bann gefangen. Das giebt, denn doch zu denken — und das gab auch Kant zu den- ken. Wenn dieser scharfsinnigste Skep- tiker sich fortgesetzt wehrt gegen die Causalität und doch nicht loskommen kann von der Causalität, so muss sie wohl einen viel tieferen Grund in uns haben und auf einer viel tieferen Wurzel im menschlichen Wesen ruhen, als die der blossen psychischen Gewohnheit ist. Die Entdeckung dieser tieferen Wurzel blieb Immanuel Kant vorbehalten, und in ihm wurde damit aus dem Skep- ticismus der Kriticismus. ER Larvenformen, ihre Natur, Entstehung und Verwandtschafts-Beziehungen. Von F. M. Balfour, Professor am Trinity-College in Cambridge. (Mit 20 Holzschnitten.) Einleitende Bemerkungen. Die Thiere machen entweder 1. ihre ganze früheste Entwicklung im Ei oder innerhalb des mütterlichen Körpers durch und schlüpfen in einem Zustande aus, welcher dem ausgewachsenen nahe- zu gleich ist, oder aber 2. sie werden in einem Zustande geboren, der sich in höherem oder geringerem Grade vom vollendeten Thiere unterscheidet. Im ersteren Fall werden sie als Larven bezeichnet, bis sie annähernd die Cha- raktere des ausgewachsenen Thieres der betreffenden Species erreicht haben. Es gibt kaum eine Frage von grösserer Bedeutung für den Embryologen als die, welche die Natur der secundären Veränderungen betrifft, die im fötalen oder im Larvenzustande ablaufen; denn von der Beantwortung solcher Fragen hängt unsere Kenntniss von dem Um- fange ab, in welchem wir in der Ent- wicklung eine Urkunde über die Ge- schichte der Vorfahren zu finden er- warten dürfen. Die Prineipien, welche die Forterhaltung von Variationen re- gieren, die entweder im Larven- oder im fötalen Zustande vorkommen, sind dieselben wie für den ausgewachsenen Zustand. Die dem Ueberleben der Species günstigen Variationen haben eben so grosse Chancen sich fortzu- erhalten, mögen sie in welcher Periode des Lebens immer auftreten, bevor der Verlust des Fortpflanzungsvermögens eingetreten ist. Die mögliche Natur und Ausdehnung der secundären Ver- änderungen, welche in der Entwick- lungsgeschichte der Formen sich geltend gemacht haben, die sei es eine lange Larvenexistenz führen oder in nahezu vollkommenem Zustande geboren wer- den, wird in allererster Linie durch die Natur der günstigen Variationen be- stimmt, welche im einen oder anderen Falle vorkommen können. Wo die Entwicklung eine fötale ist, da können am leichtesten folgende gün- stige Variationen eintreten: 1. Abkürz- ungen und 2. eine Vermehrung in der Menge des für den Gebrauch des sich ent- wickelnden Embryos aufgehäuften Nah- rungsdotters. Abkürzungen kommen zu stande, weil eine directe Entwicklung stets einfacher und daher vortheilhafter 13 * 184 ist; und da der Fötus nicht gezwungen ist, vor seiner Geburt ein selbständiges Dasein zu führen, sondern in der Zwi- schenzeit durch Nahrungsdotter oder direet vom mütterlichen Körper ernährt wird, so sind auch keine physiologischen Ursachen vorhanden, welche zu ver- hindern vermöchten, dass die Charaktere jedes beliebigen Entwicklungsstadiums, die nur für eine freie Larve von functioneller Bedeutung wären, aus der Entwicklungsgeschichte verschwinden könnten. Alle äusseren: Organe der Locomotion und der Ernährung werden aus diesem Grunde natürlich eine Ten- denz zum Verschwinden oder zur Re- duction in der fötalen Entwicklung zeigen, und eine kurze Ueberlegung macht es einleuchtend, dass auch die Vorfahren- stadien in der Entwicklung des Nerven- und Muskelsystems, der Sinnesorgane und des Verdauungssystems sehr leicht wegfallen oder modificirt werden können, wenn dadurch eine Vereinfachung des ganzen Processes erreichbar ist. Das Circulations- und das Excretionssystem dagegen werden nicht in gleichem Maasse beeinflusst werden, weil beide in der tegel schon während des fötalen Lebens in Thätigkeit sind. Die mechanischen Einflüsse des Nahrungsdotters sind sehr bedeutend und in meinem »Handbuch der Ver- gleichenden Embryologie<* finden sich zahlreiche Beispiele seines Einflusses. Sie machen sich vorzugsweise in den ersten Entwicklungsstadien, d. h. in Hinsicht auf die Form der Gastrula etc. geltend. Die günstigen Variationen, welche bei einer freien Larve vorkommen kön- nen, sind viel weniger eng begrenzt als diejenigen bei dem Fötus. Esfinden sich daher äusserst zahlreiche secun- däre Charaktere bei den Larven und es kann sogar Larven mit ausschliess- * Deutsche Ausgabe, übersetzt von Prof. Dr. B. Vetter. Jena, Fischer. 1881. Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. lich secundären Charakteren geben, wie z. B. diejenigen der Insecten. Trotzdem die Larven so sehr ge- neigt sind, secundäre Charaktere an- zunehmen, so liegt doch ein mächtiger entgegengesetzter Einfluss, welcher die Forterhaltung der Vorfahren-Charaktere erstrebt, darin, dass die Larven in jedem Stadium ihres Wachsthums durch die Nothwendigkeit gezwungen sind, min- destens diejenigen Organsysteme in funetionirendem Zustande zu erhalten, welche für ein freies und unabhängiges Dasein wesentlich sind. So kommt es denn, dass trotz der zahlreichen Ur- sachen, welche secundäre Veränderungen an einer Larve hervorzubringen streben, doch die Wahrscheinlichkeit stets grösser erscheint, dass dieselbe ihre Vorfahren- geschichte in unverkürzter Form wieder- hole, als dies bei dem Embryo der Fall ist, welcher seine Entwicklung innerhalb des Eies durchläuft. Es sei ferner auf den Umstand hin- gewiesen, welcher die relative Erhaltung von Vorfahren-Charakteren durch die Larven begünstigt, dass sich ein secun- däres Larvenstadium in der Entwicklung nicht so leicht wiederholen wird wie ein Vorfahrenstadium, weil ja immer eine lebhafte Tendenz bestehen muss, das erstere, welches nur ein secundär eingeschobenes Glied in der Kette der Entwicklung darstellt, durch Rückkehr zum ursprünglichen Entwicklungstypus wieder ausfallen zu lassen. Die relativen Chancen der Vorfahren- geschichte, im Fötus oder in der Larve forterhalten zu werden, lassen sich kurz in folgenden Worten zusammenfassen: Es besteht eine grössere Wahr- scheinlichkeit, dass die Vorfahren- geschichte verloren gehe, bei Formen, die sich im Ei entwickeln, dagegen dass sie gewissermaassen maskirt werde, bei solchen, die als Larven ausschlüpfen. Die Zeugnisse der lebenden Formen bestätigen unzweifelhaft die eben aus- gesprochenen, a priori gefolgerten Be- a Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbe trachtungen*. Dies ergibt sich ohne weiteres aus dem Studium der Ent- wicklung der Echinodermen, Ne- mertinen, Mollusken, Crusta- ceen und Tunicaten. Die freien Larven der ersten vier Gruppen sind einander viel ähnlicher als die Embryo- nen, welche sich direct entwickeln, und da man nicht annehmen kann, diese Aehnlichkeit beruhe auf dem Umstande, dass die Larven durch ein Leben unter genau gleichen Bedingungen modificirt worden seien, so muss sie ihren Grund in der Forterhaltung gemeinsamer Vor- fahren-Charaktere haben. Was die Tunicaten betrifft, so behalten auch hier die freien Larven viel vollständiger als die Embryonen gewisse Charaktere, die, wie wir bestimmt wissen, ihren Vorfahren zukamen. Larventvpen. Obgleich kein Grund zu der An- nahme vorhanden ist, dass sämmtliche Larvenformen vorälterlich sind, so er- scheint doch die Voraussetzung gerecht- fertigt, dass wenigstens eine gewisse Anzahl der bekannten Larventypen den Vorfahren der wichtigsten Stämme des Thierreichs gleichen müsse. Bevor wir die Ansprüche verschie- dener Larven auf eine solche Bedeu- tung im einzelnen untersuchen, müssen wir erst die Art der Variationen, welche bei Larvenformen am ehesten vorkom- men können, etwas ausführlicher be- sprechen. Es ist von vornherein wahrschein- lich, dass es zwei Arten von Larven- formen gibt, die wir als primäre und secundäre unterscheiden können. Pri- * Es ist schon längst bekannt, dass sich Land- und Süsswasserformen viel häufiger ohne Metamorphose entwickeln, als marine Formen. Dies lässt sich wahrscheinlich durch den Umstand erklären, dass für eine Land- oder Süsswasserspecies nicht dieselbe Mög- lichkeit besteht, sich durch Vermittlung von freien Larven über ein weiteres Gebiet aus- zubreiten, und daher auch ein geringerer ziehungen. 185 märe Larvenformen sind mehr oder weniger abgeänderte Vorfahrengestalten, die sich in ununterbrochener Fortsetz- ung als freie Larven entwickelt haben, von der Zeit an, als sie noch die aus- gewachsene Form der Species repräsen- tirten; secundäre Larvenformen sind solche, die in die ÖOntogenie von Arten eingeführt worden sind, deren Junge ursprünglich mit allen Charakteren des erwachsenen Thieres ausschlüpften, die aber, sei es, weil sie den Nahrungs- dotter im Ei verloren oder sei es aus irgend einer anderen Ursache, in einer früheren Periode zum Ausschlüpfen ka- men. Solche secundäre Larvenformen können den primären Larvenformen in manchen Fällen gleichen, wo nämlich der Embryo die Vorfahren-Charaktere während seiner Entwicklung innerhalb des Eies noch beibehalten hat; in an- deren Fällen aber sind die ihnen eigen- thümlichen Charaktere wahrscheinlich ausschliesslich durch Anpassung ent- standen. Ueber die Ursachen, welche secundäre Veränderungen bei Larven hervorzurufen streben. — Die Art und Weise, in welcher die natürliche Zuchtwahl auf: Larven ein- wirken kann, lässt sich, allerdings mehr oder weniger künstlich, in zwei Classen eintheilen. 1. Die- Veränderungen in der Ent- wicklung, welche nothwendigerweise durch die Existenz eines Larvenstadiums erzeugt werden. 2. Die Anpassungsveränderungen einer Larve, die im gewöhnlichen Ver- lauf des Kampfes ums Dasein erworben werden. Vortheil in der Existenz solcher Larven liegt, während anderseits die Thatsache, dass die Larven leichter irgend welchen Feinden zur Beute fallen als Eier, die entweder verborgen abgelegt oder vom mütterlichen Thier herum- getragen werden, es für eine Species sogar absolut unvortheilhaft machen kann, solche Larven zu besitzen. 186 Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Die zur ersteren Gruppe gehörigen Veränderungen bestehen der Hauptsache nach in einer Verschiebung der Reihen- folge der Entwicklung bestimmter Or- gane. Man beobachtet in der Entwick- lung stetseine Tendenz, die Differenzirung der embryonalen Zellen zu bestimmten Geweben auf ein so spätes Stadium hinauszuschieben als immer möglich. Dies geschieht, um zu ermöglichen, dass die Formveränderungen, welche ein jedes Organ durchmacht, indem es selbst in abgekürzter Weise seine phylogenetische Geschichte wiederholt, sich mit dem geringsten Aufwand an lebendiger Kraft vollziehen können. Vermöge dieser Ten- denz kommt es dahin, dass, wenn ein Organismus als Larve auskriecht, viele seiner Organe sich noch in undifferen- zirtem Zustande befinden, obgleich bei der Vorfahrenform, welche durch diese Larve repräsentirt wird, natürlich alle Organe in voller Differenzirung vor- handen waren. Um jedoch die Larve in den Stand zu setzen, als selbstän- diger Organismus zu leben, müssen wenigstens gewisse Organgruppen, wie z. B. die Muskeln, die Nerven und das Verdauungssystem, histologisch differen- zirt sein. Wird die Zeit des Aus- schlüpfens weiter zurückverlegt, so ist eine frühere Differenzirung gewisser Or- gane die nothwendige Folge davon und fast in allen Fällen verursacht dann die Existenz eines Larvenstadiums eine Verschiebung in der Reihenfolge der Entwicklung der Organe, indem die vollständige Differenzirung zahlreicher Gebilde im Verhältniss zu derjenigen des Muskel-, Nerven- und Verdauungs- systems verzögert erscheint. Die möglichen Veränderungen der zweiten Gruppe scheinen geradezu un- begrenzt zu sein. Es gibt, so viel ich #= Die Phosphorescenz zahlreicher Larven ist eine sehr merkwürdige Erscheinung. Man sollte meinen, dass die Phosphorescenz sie viel eher der Gefahr aussetzte, von den For- men, welche sich von ihnen ernähren, ver- sehen kann, absolut keinen Grund, warum sich nicht eine unbestimmte Anzahl von Organen bei Larven ent- wickeln könnte, um sie vor ihren Fein- den zu schützen, sie zum Wett- bewerb mit Larven anderer Species zu befähigen u. s. w. Die einzige Grenze einer solchen Entwicklung scheint in der kurzen Dauer des Larvenlebens zu liegen, welche nicht leicht verlängert werden kann, weil es unter sonst glei- chen Umständen um so besser für die Species ist, je rascher sie den Reife- zustand erreicht. Ein ganz oberflächlicher Ueberblick über die marinen Larven zeigt, dass den meisten von ihnen gewisse Eigen- thümlichkeiten gemeinsam sind, und es ist wichtig, zu bestimmen, inwiefern solche Eigenthümlichkeiten als auf An- passung beruhend angenommen werden dürfen. Beinah alle marinen Larven sind mit wohlentwickelten Locomo- tionsorganen und mit durchsichtigem Körper versehen. Diese beiden Cha- raktere sind aber gerade diejenigen, deren Besitz für solche Larven am be- deutungsvollsten ist. Die Fortbeweg- ungsorgane sind von Wichtigkeit, damit die Larven sich soweit als möglich zer- streuen und so das Verbreitungsgebiet der Species vergrössern können, und die Durchsichtigkeit ist höchst wichtig, um die Larven unsichtbar zu machen und sie dadurch viel weniger der Ge- fahr auszusetzen, von ihren zahlreichen Feinden erbeutet zu werden *. Diese Betrachtungen, im Verein mit der Thatsache, dass beinah alle frei- schwimmenden Thiere, welche nicht irgend welche anderen besonderen Schutz- mittel besitzen, durchsichtig sind, schei- nen darzuthun, dass in jedem Falle die Durchsichtigkeit der Larven ein An- zehrt zu werden, und es ist in der That schwer einzusehen, was für einen Vortheil sie davon haben können. (Zus. d. Red. Eine Erklärung für das Leuchten vieler Larven zu geben, wurde Kosmos Bd. VII, S.479 versucht.) A ER Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. passungscharakter ist, und ebenso ist wahrscheinlich, dass die Fortbewegungs- organe in vielen Fällen speciell ent- wickelt und nicht von den Vorfahren ererbt sind. Mancherlei dornenartige Fortsätze auf den Larven der Crustaceen und Teleostier sind gleichfalls Beispiele von secundär erworbenen Schutzorganen. Diese allgemeinen Betrachtungen ge- nügen, um eine Grundlage für die Dis- cussion der Charaktere der bekannten Larventypen zu liefern. Die folgende Tabelle enthält eine Zusammenstellung der wichtigsten Lar- venformen: Dicyemidae.e. — Die infusorienför- mige Larve. Porifera. — a. Die Amphiblastula- Larve (Fig. 1), deren eine Körperhälfte bewimpert, die andere unbewimpert ist; b. die ovale, gleichförmig bewimperte Larve, die entweder solid ist oder die Form einer Blase besitzt. Coelenterata. — Die Planula (Fig. 2). Turbellaria. — a. Die achtarmige Larve von Mürter (Fig. 8 und 9); b. die Larven von GörrE und MErscHNT- KOFF mit gewissen Pilidium-Charakteren. Nemertea. — Das Pilidium (Fig. 7). Trematoda. — Die Cercaria. Rotifera. — Dietrochosphärenartigen Larven von Brachionus (Fig. 5) und Lacinularia. Mollusca. — Die Trochosphärenlarve (Fig. 4) und die darauffolgende Veliger- larve (Fig. 5). Brachiopoda.— Die dreigliedrigebarve mit postoralem Wimperkranz (Fig. 6). Bryozoa. — Eine Larvenform mit einem einzigen Wimperkranz um den Mund und mit aboralem Wimperkranz oder Wimperscheibe (Fig. 15). Chaetopoda. — Verschiedene Larven- formen mit ähnlichen Charakteren wie die Trochosphäre der Mollusken, häufig auch mit besonderen queren Wimper- händern. Sie werden als Atrochae, Mesotrochae, Telotrochae (Fig. 12A und 187 Fig. 13), Polytrochae und Monotrochae (Fig. 12 B) unterschieden. Gephyreanuda.— Larvenformen gleich denen dervorhergehenden Gruppen. Eine Sanz besonders charakteristische Larve ist die von Echiurus (Fig. 14). Gephyrea tubicola. — Actinotrocha (Fig. 17) mit einem postoralen bewim- perten Kranze von Armen. Myriapoda. — Eine functionell sechs- füssige Larvenform ist allen Chilognathen gemeinsam. Insecta. — Verschiedene secundäre Larvenformen. Yon 39 . a . Crustacea. — Der Nauplius und die Zoöa. Echinodermata. — Die Aurieularia (Fig. 10A), die Bipinnaria (Fig. 10 B) und der Pluteus (Fig. 11) und die mit queren Wimperschnüren versehene Larve der Crinoiden. Die Auricularia, die Bi- pinnaria und der Pluteus lassen sich auf einen gemeinsamen Typus (Fig. 18) zurückführen. Enteropneusta. — Tornaria (Fig. 16). Urochorda (Tunicata). — Die Kaul- quappen-ähnliche Larve. Ganoidea. — Eine Larve mit Saug- scheibe und Papillen vor dem Munde. Amphibia Amura. — Die Kaulquappe. Von den in dieser Liste aufgezählten Larvenformen besitzt eine gewisse An- zahl jedenfalls keinerlei Verwandtschafts- beziehungen zu Formen ausserhalb der Gruppe, zu welcher sie gehören. Dies eilt für die Larven der Myriapoden, der Crustaceen und der Chordaten. Ich will jedoch in dem vorliegenden Artikel nicht auf eine Discussion der Bedeutung dieser Formen eingehen. Es gibt ferner manche Larvenformen, von denen sich möglicherweise später herausstellen wird, dass sie eine grosse Bedeutung haben, auf die wir aber bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kennt- niss noch keine Folgerungen bauen kön- nen. Dahin gehören die infusorienförmige Larve der Dieyemidae und die Cercaria der Trematoden. 188 Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung n. Verwandtschaftsbeziehungen. Schliessen wir diese und gewisse ' Nemertinen, der Mollusken, der Bryo- andere Formen aus, so bleiben zur Be- | zoen, der Brachiopoden, der Chaeto- trachtung die Larven der Coelenteraten, ' poden, der Gephyreen, der Echinodermen der Turbellarien, der Rotiferen, der | und der Enteropneusten übrig. Fig. 1. . . oO N Zwei freie Entwicklungsstadien von Sycandra raphanus. (Nach SCHULZE.) A. Amphiblastulastadium. B. Stadium nach Beginn der Einstülpung der bewimperten Zellen. c.s. Furchungshöhle; ec. körnige Epiblastzellen; en. bewimperte Hypoblastzellen. sich in zwei Gruppen eintheilen. Die | die andere die Larven sämmtlicher Die Larven dieser Formen lassen | der Coelenteraten oder die Planula, | eine Gruppe umschliesst blos die Larven | übrigen Formen. ZA NN ER Fig. 2. Drei Larvenstadien von Eucope Polystyla. (Nach KOWALEVSKY.) A. Blastosphärenstadium mit Hape welche in die centrale Höhlung hineinsprossen. B. Planulastadium mit solidem Hypoblast. Ü. Planulastadium mit Gastralhöhle. ep. Epiblast; hy. Hypoblast; al. Gastralhöhle. Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verw Die Planula (Fig. 2) charakterisirt sich durch ihre grosse Einfachheit. Sie ist ein zweiblättriger Organismus mit einer vom Cylinder bis zum Ei variiren- den Form und gewöhnlich mit radiärer Symmetrie. So lange sie in freiem Zu- stande verbleibt, ist sie nicht einmal mit einem Munde versehen, und es ist noch ungewiss, ob man den Mangel eines Mundes als einen Vorfahrencharak- ter betrachten darf oder nicht. Höchst wahrscheinlich jedoch ist die Planula die Vorfahrenform der Coelenteraten. Die Larven beinah aller übrigen Gruppen stimmen, obgleich sie sich in eine Reihe sehr verschiedener Typen eintheilen lassen, doch im Besitz ge- wisser Charaktere mit einander über- ein*. Wir finden eine mehr oder weniger kuppelförmige Rückenfläche und eine abgeplattete oder concave Ventral- fläche, welche die Mundöffnung enthält und sich gewöhnlich nach hinten bis zur Afteröffnung erstreckt, wenn eine solche vorhanden ist. Die dorsale Kuppel setzt sich über den Mund hinaus fort, um einen grossen präoralen Lappen zu bilden. In der Regel findet sich anfänglich eine gleichförmige Wimperbekleidung, in den späteren Larvenstadien aber entstehen fast immer bestimmte Bänder oder Kränze von langen Wimpern, durch welche die Fortbewegung ausgeführt wird. Diese Wimperkränze werden häufig in armförmige Fortsätze ausge- zogen. Der Darmcanal hat in den typischen Fällen die Form einer gekrümmten Röhre mit ventralwärts gewendeter Concavität, welche sich (wenn ein After vorhanden ist) aus drei Abschnitten zusammen- setzt, einem Oesophagus, einem Magen und einem Enddarm. Der Oesophagus und der Enddarm sind epiblastischen * Die Larve der Brachiopoden freilich besitzt die meisten der unten erwähnten Charaktere nicht. Gleichwohl ist sie wahr- andtschaftsbeziehungen. 189 | Ursprungs, während der Maeen vom ı Hypoblast abstammt. | | | Fio. 3. Embryo von Brachionus kurz vor dem Ausschlüpfen. (Nach SALENSsKY.) m. Mund; ns. Kau-Apparat; an. After; Id. Sei- | tendrüse; ov. Eierstock; t. Schwanz, d. h. Fuss; tr. Wimperscheibe; sy. oberes Schlund- eanelion. Schematische Darstellung eines Em- bryos von Pleurobranchidium. £ (Nach LANKESTER. f. Fuss; ot. Otoeyste; m. Mund; v. Velum; ng. Ganglion; ry. Üeberreste derDotterkugeln; shs. Schalendrüse; 2. Darmcanal. scheinlich nur eine ausserordentlich differen zirte Larvenform, welche doch zu dieseı | Gruppe gehört. x 190 Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Den genannten Charakteren kann noch hinzugefügt werden eine glasartige Durchsichtigkeit und das Vorhandensein eines ziemlich weiten, oft von contractilen Zellen durchzogenen Raumes zwischen dem Darmcanal und der Leibeswand. Ziehen wir die sehr tiefgehenden Unterschiede in Betracht, welche zwi- schen vielen dieser Larven bestehen, so möchte es wohl scheinen, als ob die eben aufgezählten Charaktere kaum ge- nügten, um eine Zusammenstellung der- selben zu rechtfertigen. Man darf je- doch nicht vergessen, dass meine Gründe hiefür ebenso sehr von dem Umstande abhängen, dass sie eine ganze Reihe ohne irgend erhebliche Unterbrechung darstellen, wie von der Existenz von Charakteren, welche ihnen allen ge- meinsam sind. Es ist ferner wohl zu beachten, dass die meisten der Eigen- 4A thümlichkeiten, welche als allen diesen Larven gemeinsam aufgezählt wurden, nicht solche secundäre Charaktere sind, wie sie (entsprechend den oben an- gestellten Betrachtungen) als Ergebniss des Umstandes erwartet werden dürften, dass die Larven nahezu gleichen Lebens- bedingungen unterworfen sind. Ihre Durchsichtigkeit ist ohne Zweifel ein solcher secundärer Charakter und es ist nicht unmöglich, dass auch das Vorhandensein von Wimperkränzen da- hin gehört, allein dennoch ist es wahr- scheinlicher, dass, wie ich annehme, diese Larven die Merkmale einer ge- wissen Vorfahrenform wiederholen und dass diese zu einer Zeit existirt haben mag, wo noch alle marinen Thiere frei- schwimmend waren, und dass sie dem entsprechend wenigstens mit einem Wimperkranze versehen war. Fie. 5. [3 j oO . . N ” r « Larven von Cephalophoren-Molluskenim Veliser-Stadium. (Nach GEGENBAUR.) l g A. und B. Früheres und späteres Stadium eines Gasteropoden. Ü. Ein Pteropode (Uymbulia). v. Velum; ec. Schale; p. Fuss; op. Opereulum; t. Tentakel. Die eingehende Betrachtung der Charaktere dieser Larven, wie sie unten folgt, unterstützt diese Ansicht. Diese grosse Ülasse von Larven kann, wie bereits erwähnt wurde, in eine Reihe von kleinen Untergruppen vertheilt werden. Diese Abtheilungen sind folgende: 1. Die Pilidium-Gruppe. Diese charakterisirt sich durch die Lage des Mundes nahe dem Centrum der ven- tralen Fläche und durch den Mangel eines Proktodaeums. Sie umfasst blos das Pilidium der Nemertinen (Fig. 7) und die verschiedenen Larven von ma- rinen Dendrocoelen (Fig. 8 und 9). An der Spitze des präoralen Lappens kann eine Epiblastverdickung vorhanden sein, von welcher (Fig. 19) manchmal ein contractiler Strang zum Oesophagus herabsteigt. 2. Die Echinodermen-Gruppe. n ıhr T = & = - Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbe Diese Gruppe (Fig. 10, 11 und 18 C) ist ausgezeichnet durch den Besitz eines längs verlaufenden postoralen Wimper- Fig. 6. Larve von Argiope. (Aus GEGENBAUR, nach KOWALEVSKY.) m. Mantel; b. Borsten; d. Archenteron. ziehungen. 191 kranzes, durch den Mangel von beson- deren Sinnesorganen in der präoralen Region und durch die Entwicklung der Leibeshöhle als Ausstülpung aus dem Darmcanal. Es sind die drei typischen Abtheilungen des Darmrohres vorhanden und ebenso ein mehr oder weniger ent- wickelter präoraler Gruppe umschliesst der Echinodermen. 3. Die Trochosphären-Gruppe. — Diese Gruppe (Fig. 12, 13) ist cha- rakterisirt durch den Besitz eines prä- oralen Kranzes von langen Cilien, wäh- rend der davor gelegene Abschnitt einen grossen Theil des präoralen Lappens bildet. Der Mund öffnet sich unmittel- bar hinter dem präoralen Wimperkranz und sehr häufig findet sich parallel dem letzteren ein zweiter Kranz von kurzen Wimpern hinter.dem Munde. Die Func- tion des Kranzes von kurzen Wimpern ist ernährender Natur, indem die Wim- » Lappen. Diese blos die Larven Fig. 7. Zwei Entwicklungsstadien von Pilidium. (Nach METSCHNIKOFF.) Amnion; pr.d. Prostomialscheibe; po.d. Metastomialscheibe; «.s. Kopfsack. ae. Archenteron; oe. Oesophagus; st. pern dazu dienen, dem Munde Nahrung zuzuführen, während die Aufgabe des Hauptkranzes in der Fortbewegung liegt. Häufig findet sich auch ein perianaler Wimperbüschel oder Wimperkranz (Fi- Magen; am. our 12 A) und bei vielen Formen sind zwischen dem präoralen und perianalen Kranze noch zwischenliegende Kränze entwickelt. Der präorale Lappen ist gewöhnlich 192 der Sitz einer besonderen Epiblast- verdickung, aus welcher das obere Schlundganglion des Erwachsenen her- vorgeht. Sehr häufig entwickeln sich auf diesem Lappen Sehorgane in Ver- bindung mit dem oberen Schlundganglion und nicht selten erstreckt sich ein con- tractiler Strang hier nach dem Oesophagus herab. Der Darmeanal besteht aus den drei typischen Abtheilungen. Die Leibeshöhle entsteht nicht direct als Auswuchs aus dem Darmcanal, obgleich der Process, durch welchen sie sich entwickelt, höchst wahrscheinlich nur eine secundäre Modification der Bildung eines Paares von Darmausstülp- von ungen ist. Paarige Excretionsorgane, welche sich sowohl nach aussen als in die Leibeshöhle öffnen, sind vorhanden. Dieser Larventypus findet sich bei den Rotiferen (Fig. 3) (wo er auch im ausgewachsenen Zustande fortdauert), den Chaetopoden und Mollusken (Fig. 4), den Gephyrea nuda (Fig. 14) und den Bryozoen (Fig. 15)*. 4. Toraasım, > Larve (Fig. 16) steht hinsichtlich der meisten ihrer Charaktere in der Mitte zwischen den Larven der Echinodermen (ganz besonders der Bipinnaria) und der Trochosphäre. Mit den ersteren stimmt sie überein im Besitz eines longitu- dinalen Wimperkranzes (der in einen präoralen und einen postoralen Kranz zerfällt) und in der Abstammung der Leibeshöhle und der Wassergefässblase von Divertikeln des Darmcanals; der Trochosphäre dagegen gleicht sie durch das Vorhandensein von Sinnesorganen am präoralen Lappen, durch den Be- sitz eines perianalen Wimperkranzes und eines vom präoralen Lappen zum Oesophagus hinabziehenden contractilen Stranges. Diese * Eine ausführliche Besprechung des Baues der Bryozoenlarve siehe im „Hand- Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. 5, Actinotrocha. — Die merk- würdige Larve von Phoronis (Fig. 17), unter dem Namen Actinotrocha bekannt ist, aus durch welche sich zeichnet Fig. 8. Larve von Eurylepta aurieulata, unmittelbar nach dem Ausschlüpfen, von der Seite gesehen. (Nach HALLEZ.) m. Mund. Fie. 9. Turbellarienlarve Müller's (wahr- scheinlich von Thysanozoon), von der ventralen Fläche gesehen. (Nach MÜLLER.) Der Wimperkranz ist durch die schwarze Linie angedeutet. m. Mund; .l. Oberlippe. das Vorhandensein 1. eines postoralen und fast längs verlaufenden Wimper- kranzes, der sich auf die Tentakel fort- setzt, und 2. eines perianalen Kranzes. buch der Vergleichenden Embryologie,“ I. Bd., deutsche Ausgabe, Seite 292. Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Sie ist: mit einem präoralen Lappen und einem terminalen oder etwas dor- sal gelegenen After versehen. B Fig. 10. A.Larveeines Holothuroide n. B.Larve eines Seesterns. m. Mund; st. Magen; a. After; longitudinale Wimperschnur; Wimperse Inan) l.c. primitive pr.e. präorale Fie. Larve von Strongylocentr US AGASSIZ.) m. Mund; a. After; 0. Oesophagus; d.Magen; Jule (Nach und v. W imperwülste e. Darmrohr; v'. r. Kalkstäbchen. w. Wassergefässrohr; ? 6. Die Larve der Brachiopo da articulata (Fig. 6). Die Verwandtschaftsbeziehungen der eben charakterisirten sechs Larventypen sind Gegenstand zahlreicher Streit- fragen g zeworden und die folgenden Ver- muthungen über diese Dinge dürfen auch nur als Speculation hingenommen werden. Der Pilidium-Larventypus er- scheint in einigen wichtigen Hinsichten weniger hoch differenzirt als die Larven der fünf anderen Gruppen. Er ent- | | | 193 behrt in erster Linie eines Afters und es liegt kein Grund für die Annahme vor, After hier durch rück- schreitende Veränderungen verloren ge- sangen sei. dass der Nimmt man für den Augen- blick dass die Pilidiumlarve That Vorfahrentypus der Larve vollkommener repräsentire als diejenigen an, den in der der übrigen Gruppen, so haben wir uns zu fragen, was für Merkmale wir hie- durch der Vorfahrenform zuzuschreiben veranlasst werden, welche die wiederholt. In erster Linie fahrenform, von der Figur 1SA ideale Darstellung gibt, einen kuppel- förmigen Körper mit abgeflachter oraler und gewölbter aboraler Fläche besessen zu haben. Ihre Symmetrie war radiär und im Centrum der abgeplatteten Oral- fläche lag der Mund, während sein äusserer Rand von einem Wimperkranze besetzt war. Der Uebergang Pi- lidium-ähnlichen Larve und daher auch, wie man annehmen darf, der von dieser Larve wiederholten Vorfahrenform in die wurmförmige bilaterale Platyel- minthenform erfolgt dadurch, dass die Larve sich in die Länge streckt und der Abschnitt zwischen dem Munde und dem einen Körperende zum präoralen Abschnitt wird, derjenige aber zwischen dem Mund und dem entgegengesetzten Ende sich zum Rumpf entwickelt, wäh- vend bei den höheren Formen am Ende des Rumpfes noch ein After zur Aus- bildung kommt. Wenn das richtig her gefordert haben, diese primitive Form Aehnlichkeit mit einem frei schwimmenden Coelenteraten (einer Meduse) hat und dass die Umwandlung solehen:radiären in die bilater: ale Larve scheint diese Vor- eine einer ist, was wir bis- so ist klar, eine sehr grosse dass vereinfachten einer Form nicht durch Verlängerung der ab- oralen Fläche und die Bildung eines dort liegenden Afters, sondern durch oralen indem die ungleiche Verlängerung der oO Fläche zu stande gekommen ist, 194 ein vorderer Abschnitt den präoralen ‚appen und ein hinterer Abschnitt den Rumpf bildete, während die aborale Fläche zur Rückenfläche wurde. Fig. 12. Zwei Chaetopodenlarven. (GEGENBAUR.) o. Mund; ©. Darmcanal; «a. After; v. präorale Wimperschnur; 0. perianale Wimperschnur. (Nach Fig. 13. Polygordius-Larve. (Nach HATSCHEK.) m. Mund; sg. oberes Schlundganglion; nph. me.p. Mesoblaststreifen; an. After; ol. Magen. Nephridium; Diese Anschauung stimmt sehr gut überein mit den anatomischen Aehn- lichkeiten zwischen den Coelenteraten und den Turbellarien* und zeigt, wenn sie richtig ist, dass die ventrale und mediane Lage des Mundes bei vielen Turbellarien in der That die primi- tive ist. * Siehe „Handbuch der Vergleichenden Embryologie,“ Band I, Seite 172 und 184. In Zusammenhang damit möchte ich auf die Coleoplana Metschnikowei aufmerksam ma- chen, eine von Kowalevsky beschriebene Form („Zoologischer Anzeiger“ Nr. 52, p. 140), welche in der That zwischen den Ütenophoren Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Die oben erwähnte Vermuthung in Betreff des Ueberganges aus der ra- diären in die bilaterale Form unter- scheidet sich durchaus von der meistens Fig. 14. Larve von Echiurus. (Nach SALENSKY.) m. Mund; an. After; sg. oberes Schlund- ganglion (?). üblichen. LAnkEster** z. B. gibt die folgende Darstellung von diesem Ueber- gang: »Es ist von verschiedenen Autoren, namentlich aber von Gegenbaur und Haeckel anerkannt worden, dass dem Zustande der bilateralen Symmetrie ein Zustand von radiärer Symmetrie in der Entwicklung des Thierreichs voraus- gegangen sein muss. Man kann sich wohl denken, dass die Diblastula ur- sprünglich absolut kugelförmig mit sphärischer Symmetrie gewesen sei. Die Entstehung eines Mundes führte noth- wendigerweise zur Feststellung einer Structuraxe, welche durch den Mund ging und rings um welche Axe der Körper radiär symmetrisch angeordnet war. Dieser Zustand wird mehr oder weniger vollkommen noch von vielen und den Turbellarien in der Mitte steht. Es scheint mir jedoch nicht genügender Grund vorhanden zu sein, um diese Form nicht ein- fach als ein kriechendes Utenophor zu be- trachten. " Quart. Joum. of Vol. XVII. S. 422-423. Mier. Science, Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Coelenteraten wiederholt und wird durch Rückbildung von höheren Formen (Echi- nodermen, manche Cirrhipeden, manche Tunicaten) wieder angenommen. Der nächste Schritt ist die Differenzirung einer oberen und einer unteren Fläche in Beziehung zu der horizontalen Lage mit vorn gelegenem Munde, welche der Organismus bei seiner Fortbewegung annahm. Mit der Differenzirung einer oberen und einer unteren Fläche haben sich nothwendigerweise auch eine rechte und eine linke Seite herausgebildet, welche einander gegenseitig ergänzen. Dadurch wird also der Organismus bi- lateral symmetrisch. Auch bei den Coelenteraten fehlt es nicht an An- deutungen dieser bilateralen Symmetrie, allein für alle höheren Thiergruppen bildet sie einen wesentlichen Charakter. Wahrscheinlich vollzog sich die Ent- wicklung eines Abschnittes vor und über dem Munde, welcher das Prosto- mium bildete, gleichen Schrittes mit der Entwicklung der bilateralen Sym- metrie. In den radiär symmetrischen Coelenteraten finden wir sehr häufig eine Reihe von Fortsätzen der Leibes- wandung oder von Tentakeln, die gleich- mässig ausgebildet sind, d. h. radiär symmetrisch — rings um den Mund angeordnet, so dass der Mund am Ende der Hauptaxe des Körpers liegt — mit anderen Worten, ‘der Organismus ist »telostomiat«. — Die spätere Grund- form, welche allen andern über den Coelenteraten stehenden Thieren ge- meinsam ist, wird erreicht durch Ver- schiebung dessen, was die Hauptaxe des Körpers bildete, so dass man die- selbe nun als die »enterisches Axe be- zeichnen könnte, während die neue Hauptaxe parallel mit der Ebene der Fortbewegung durch die Rückengegend des Körpers geht und schief zu der enterischen Axe verläuft. Nur einLappen oder ein Auswuchs von den bei den telostomiaten Organismen radiär ange- ordneten Gebilden persistirt nun weiter. | | 195 Dieser Lappen liegt dorsal über dem Munde und durch ihn läuft die neue Hauptaxe. Dieser Lappen ist das Pro- stomium und alle die Organismen, welche in solcher Weise eine neue, schiefzu der alten Hauptaxe verlaufende Axe entwickeln, kann man prostomiate Thiere nennen.« Fig. 15. Schema einer Bryozoen-Larve. m. Mund; an. After; st. Magen; s. Wimper- scheibe. Zwei Entwicklungsstadien von Tornaria. (Nach METSCHNIKOFF.) Die schwarzen Linien stellen die Wimper- schnüre dar. m. Mund; an. After; br. Kiemen- spalte; ht. Herz; ce. Leibeshöhle zwischen der splanchnischen und der somatischen Mesoblast- schicht; w. sogenannte Wassergefüssblase; v. kreisförmiges Blutgefäss. 196 Es ergibt sich aus diesem Citat, dass angenommen wird, der aborale Theil des Körpers habe sich verlängert, um den Rumpf zu bilden, während der präorale Abschnitt auf einen der Ten- takel zurückzuführen sei. Bevor wir zu weiteren Betrachtun- gen über die Entstehung der Bilateralia, wie sie der Pilidium-Typus nahelegt, übergehen, müssen wir in eine nauere Vergleichung zwischen unseren Larvenformen eintreten. oe- ge > SS 1% Fig. 17. (Nach METSCHNIKOFF.) Aectinotrocha. m. Mund; am. After. Schon die oberflächlichste Betrach- tung der Charaktere dieser Formen macht uns zwei wichtige Züge bemerk- lich, in denen sie von einander ab- weichen, nämlich: l. In dem Vorhandensein oder dem Mangel von Sinnesorganen auf dem präoralen Lappen. 2. Im Vorhandensein oder dem Man- gel von Auswüchsen aus dem Darm- canal, um die Leibeshöhle zu bilden. Die Larven der Echinodermen und (?) Actinotrocha entbehren der Sinnes- organe im präoralen Lappen, während die übrigen Larventypen mit solchen versehen sind. Darmdivertikel sind charakteristisch für die Larven der Echinodermen und für Tornaria. Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Wenn die bereits gezogene Folge- rung, dass nämlich der Urtypus der sechs Larvengruppen von einem radiär gebauten Vorfahren abstamme, richtig ist, so scheint daraus zu folgen, dass auch das Nervensystem, insoweit es überhaupt schon differenzirt war, ur- sprünglich eine radiäre Form besass, und ebenso ist es wahrscheinlich zu- treffend, dass Darmdivertikel in Form vonRadiärcanälen bestanden, von denen nur zwei den paarigen Divertikeln den Ursprung gegeben haben mögen, welche bei höheren Typen, wie den Echino- dermen, zur Leibeshöhle werden. Räumt man diese beiden Punkte ein, so er- geben sich ohne weiteres als fernere Schlüsse: 1. dass das Ganglion und die Sinnesorgane des präoralen Lappens secundäre Gebilde sind, die (vielleicht als Differenzirungen des ursprünglichen kreisförmigen Nervenrings) nach der Annahme einer bilateralen Form ent- standen; und 2. dass der Mangel dieser Organe bei den Larven der Echino- dermen und. bei Actinotrocha (?) darauf hinweist, dass diese Larven insofern wenigstens noch ursprünglichere Cha- raktere behalten haben als Pilidium. Dasselbe gilt von den Darmdivertikeln. Wir haben somit genügende Andeutun- gen dafür, dass die Echinodermenlarven in zwei wichtigen Punkten von ursprüng- licherer Beschaffenheit sind als Pilidium. Aus den eben erwähnten Folgerun- gen in Bezug auf Pilidium und die Echinodermen ergeben sich allerdings einige nicht unerhebliche Schwierig- keiten und sie bieten Anlass zur Dis- cussion einiger anderer Punkte. In erster Linie ist bemerkenswerth, dass die obigen Speculationen es wahr- scheinlich machen, dass der Typus des Nervensystems, von welchem derjenige bei den ausgewachsenen Thieren der Echinodermen, Platyelminthen, Chaeto- poden, Mollusken etc. abgeleitet werden kann, ein circumoraler Ring war gleich demjenigen der Medusen, mit welchem Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verw radiär angeordnete Sinnesorgane in Zu- sammenhang standen, und dass bei den Echinodermen diese Form des Nervensystems sich forterhalten hat, während sie bei den anderen Typen sich modifieirte, indem im vor- andtschaftsbeziehungen. 197 deren Körperabschnitt obere Schlund- ganglien und Sehorgane auftraten, wel- che in Folge der Annahme einer bila- teralen Symmetrie und der daraus ent- springenden Nothwendigkeit, dass die Sinnesorgane am Vorderende des Körpers B sz Fig Drei schematische Darstellungen 18. der idealen Entwicklung verschie- dener Larvenformen. A. Ideale Vorfahren-Larvenform. B. Trochosphärenlarve. C. Echinodermenlarve. m. Mund; an. After; st. Magen; s.g. oberes Schlundganglion. Die schwarzen Linien stellen die Wimperschnüre dar. ihre Lage hatten, gebildet wurden. Wenn diese Anschauung richtig ist, so entsteht die Frage, inwieweit der hintere Abschnitt des Nervensystems der Bilateralia als von dem ursprünglichen radiären Ring ableitbar betrachtet werden darf. Aus einem circumoralen Nervenring kann, wenn er sich in die Länge streckt, ein Paar von Nervensträngen entstehen, die vorn und hinten in einander über- gehen — genau ein solches Nerven- system, wie es thatsächlich bei vielen Nemertinen* (den Enopla und Pelagone- mertes), bei Peripatus** und bei primi- tiven Molluskentypen (Chiton, Fissu- rella ete.) vorkommt. Von den seit- lichen Theilen dieses Ringes lässt sich der ventrale Nervenstrang der Chaeto- ® Siehe Hubrecht, „Zur Anat. und Phys. d. Nervensystems der Nemertinen“. Kon. Akad. d. Wet. Amsterdam; und „Re- searches on the Nervous-System of Nemer- Kosmos, V, Jahrgang (Bd. IX). poden und Arthropoden leicht ableiten. Es verdient ganz besonders in Zusam- menhang mit dem Nervensystem der Nemertinen und des Peripatus beachtet zu werden, dass die die beiden Nerven- stränge hinten verbindende Commissur auf der Dorsalseite des Darmes ge- legen ist. Wie sich aber sofort bei einem Blicke auf unsere schematische Figur (Fig. 18) ergibt, ist dies die Lage, welche die Commissur zweifellos haben muss, wenn sie von einem Theile des Nervenrings abstammt, der ursprüng- lich mehr. oder weniger dicht dem be- wimperten Rande des Körpers des an- genommenen radiären Vorfahren folgte. Die Thatsache, dass man diese An- ordnung des Nervensystems bei einem | the Anat. of Peripatus capensis“. (uart. | Journ. of Mier. Seience, Vol. XIX, 18%. 14 198 so ursprünglichen Typus wie den Ne- mertinen vorfindet, scheint mir die hier vorgetragenen Ansichten wesentlich zu unterstützen; der Mangel oder die un- vollkommene Entwicklung der Längsstämme bei den Turbellarien an- derseits mag wahrscheinlich darauf be- ruhen, dass in dieser Gruppe der hin- tere Theil des Nervenringes rückgebil- det ZWwel wurde. salfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Es ist allerdings keineswegs sicher, dass diese Anordnung des Nervensystems, wie auch manchen Mollusken und bei Peripatus vorkommt, primitiver Natur ist, obgleich es wahrscheinlich sein sie bei so mag. Bei den Larven der Turbellarien ist die Entwicklung von Sinnesorganen im präoralen Abschnitt sehr deutlich (Fig. 9), viel aber weniger ersichtlich ist dies Fig. 19. A. Pilidium mit ziemlich ausgebildetem Nemertinen. B. Nemertes in der Lage, welche er im Pilidium einnimmt. (Beide nach Reifer Embryo von ZÜTSCHLI.) oe. Vesophagus; st. Magen; i. Darm; pr. Rüssel; !.p. Seitengrube; an. Amnion; n. Nervensystem. bei dem eigentlichen Pilidium. Hier (Fig. 19 A) findet sich eine Epiblast- verdickung in der Spitze der dorsalen Kuppel, die nach Analogie von Mitra- ra etc. (Fig. 20) der Verdickung im präoralen Lappen zu entsprechen scheint, | | welche dem oberen Schlundganglion den Ursprung gibt; allein in Wirklichkeit geht ja dieser Theil der Larve offenbar nicht in die Bildung des jungen Nemer- tinen ein (Fig. 19). Die eigenthüm- liche Metamorphose, welche in der Ent- Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung n. wicklung des Nemertinen aus dem Pili- dium”* Platz greift, könnte uns vielleicht schliesslich eine Erklärung dieser That- sachen liefern, allein für den Augen- blick bleibt sie noch als eine unerklär- liche Schwierigkeit bestehen. et Verwandtschaftsbeziehun gen. 199 Die Lage der Geissel bei Pilidium und des oberen Schlundganglions bei Mitraria (Fig. 20) legt uns eine andere Ansicht über die Entstehung des oberen 5 - Schlundganglions nahe, als wie sie oben angenommen wurde. Die Lage des Fig. 20. Zwei Entwieklungsstadien von Mitraria. (Nach METSCHNIKOFF.) n. Mund; an, After; sg. oberes Schlundganglion; br. provisorische Borsten; pr.b. präorale Wimperschnur. Ganglions bei Mitraria entspricht näm- lich genau derjenigen des Gehörorgans bei den Ctenophoren, und es ist nicht unmöglich, dass die beiden Gebilde einen gemeinsamen Ursprung gehabt haben. Ist diese Ansicht richtig, so müssen wir annehmen, dass die Spitze des aboralen Lappens zum Centrum des präoralen Feldes bei Pilidium und den Trochosphärenlarvenformen geworden sei”*. Allerdings sind alle diese Fragen in Betreff des Nervensystems noch in gros- ses Dunkel gehüllt, und bevor nicht fernere Thatsachen an’s Licht gebracht sind, dürfen wir auch zu keinen bestimm- ten Folgerungen zu gelangen erwarten. #* Siehe mein „Handbuch der Vergleichen- den Embryologie“, I. Band, S. 196. *# Die gesonderte Entstehung des oberen Schlundganglions und der Bauchganglienkette Der Mangel von Sinnesorganen im präoralen Lappen der Echinodermen- larven, verbunden mit dem Bau Nervensystems bei dem fertigen Thiere, weist auf die Annahme hin, dass das ausgewachsene Echinoderm seine ra- diäre Symmetrie wirklich ererbt und nicht, wie man gewöhnlich annimmt, secundär erworben hat; und wird dies eingeräumt, so folgt daraus, dass auch die deutliche bilaterale Symmetrie der Echinodermenlarven ein secundärer Cha- rakter ist. Die bilaterale Symmetrie vieler Coe- lenteratenlarven (der Larve von Aegi- nopsis, von vielen Acraspeden, von des bei den Chaetopoden (siehe Kleinenberg „Entwicklung von Lumbrieus trapezoides“) stimmt in sehr befriedigender Weise mit dieser Anschauung überein. 14* 200 PBalfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Actinia ete.), zusammengehalten mit der Thatsache, dass eine solche bilaterale Symmetrie offenbar für eine freischwim- mende Form von Vortheil ist, genügt vollständig, um zu zeigen, dass diese Annahme keineswegs ungereimt ist, während anderseits das Vorhandensein von nur zwei Darmdivertikeln bei den Echinodermenlarven durchaus mit dem Besitz eines einzigen Paares von peri- gastrischen Kammern in der jüngsten Actinia-Larve übereinstimmt, — obgleich zugegeben werden muss, dass die Ab- stammung des Wassergefässsystems vom linken Darmdivertikel nach dieser Auf- fassung nicht leicht zu begreifen ist. Eine Schwierigkeit für die obige Speculation erwächst uns aus dem Um- stande, dass der After der Echinodermen den bleibenden Blastoporus repräsentirt und früher als der Mund entsteht. Wenn diese Erscheinung irgend welche Be- deutung hat, so erscheint es schwierig, die Larve der Echinodermen und die- jenigen der übrigen Typen als irgend- wie mit einander verwandt anzusehen; allein wenn man sich den bereits in einem früheren Artikel über die Keim- blätter ausgesprochenen Ansichten in Bezug auf die geringe Bedeutung des Blastoporus anschliesst, so kann uns die Thatsache, dass der After mit dem Blastoporus zusammenfällt, keine wei- tere Schwierigkeit bereiten. Wie aus einem Blick auf die Figur 18C ersicht- lich ist, liegt der After auf der Dorsal- seite des Wimperkranzes. Diese Lage des Afters passt sehr gut zu der Auf- fassung, dass die Echinodermenlarve ursprünglich eine radiäre Symmetrie besass und dass ihr After auf der ab- oralen Spitze lag, während die gegen- wärtige terminale Lage des Afters mit der Verlängerung der Larve bei An- nahme einer bilateralen Symmetrie zu stande kam. iR Es sei noch bemerkt, dass die Un- klarheit, welche durch den Mangel einer Leibeshöhle bei den meisten ausgewach- senen Platyelminthen hervorgerufen wird und die ich bereits in einem Artikel über die Keimblätter besprochen habe, sich hier abermals geltend macht, und dass wir nothwendigerweise annehmen müssen, die Darmdivertikel seien ent- weder ursprünglich gleichwie bei den Echinodermen, so auch bei den Platyel- minthen vorhanden gewesen, seien je- doch nun aus der Öntogenie dieser Gruppe verschwunden, oder aber, die- selben hätten sich hier gar nicht vom Darmcanal abgeschnürt. Bis jetzt sind wir also zu dem Schluss gelangt, dass der Urtypus der sechs Larventypen eine radiäre Form war und dass demselben unter den lebenden Larven in der allgemeinen Form und in der Bildung des Darm- canals die Pilidium-Gruppe und in ge- wissen anderen Eigenthümlichkeiten die Echinodermenlarve am nächsten kommt. Der Rand der oralen Scheibe des Urtypus der Larven war wahrscheinlich mit einem Wimperkranze ausgestattet, von dem sich der Wimperkranz des Pilidium-Typus und der Echinodermen vermuthlicherweise ableitet. Der Wim- perkranz des Pilidium zeigt sehr wech- selnde Charaktere und hat keineswegs immer die Form eines geschlossenen Ringes. Bei dem eigentlichen Pili- dium (Fig. 19 A) ist es ein einfacher Kranz, welcher den Rand der oberen Scheibe umgibt. Bei Mürter's Larve von Thysanozoon (Fig. 9) neigt er sich gegen die Axe der oralen Scheibe und könnte präoral genannt werden, wenn ein solcher Ausdruck überhaupt bei Abwesen- heit eines Afters gebraucht werden dürfte. Der Wimperkranz der Echinodermen liest gleichfalls schief zur Körperaxe und muss, weil er ventral vor dem After vorüberläuft, als postoraler Kranz bezeichnet werden. In nächster Linie haben wir sodann die Verwandtschaftsbeziehungen der übrigen Larventypen zu diesen beiden Formen in's Auge zu fassen. Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verw Der wichtigste unter sämmtlichen Larventypen ist die Trochosphäre und dieser Typus ist zweifellos dem Pilidium näher verwandt als der Echinodermen- larve. Mitraria unter den Chaetopoden (Fig. 20) hat in der That die Form des Pilidium ziemlich getreu bewahrt und unterscheidet sich von diesem we- sentlich nur durch den Besitz eines Afters und von provisorischen Borsten; dasselbe gilt auch von Cyphonautes unter den Bryozoen. Die Existenz dieser beiden Formen scheint zu beweisen, dass der präorale Wimperkranz der Trochosphäre sehr wahrscheinlicherweise unmittelbar von dem circumoralen Wimperkranze des Pilidium abzuleiten ist, während die übrigen Wimperkränze oder Wimper- büschel der Trochosphäre einen secun- dären Ursprung haben. Die Larve der Brachiopoden (Fig. 6) ist ungeachtet ihres eigenthümlichen Charakters aller Wahrscheinlichkeit nach der Trochosphäre der Chaetopoden näher verwandt als irgend einem anderen Larventypus. Die wichtigste Ueberein- stimmung zwischen beiden scheint je- doch in dem gemeinsamen Besitz von provisorischen Borsten zu liegen. Die Echinodermenlarven unterschei- den sich von der Trochosphäre nicht allein in den bereits erwähnten Punkten, son- dern auch im Charakter ihrer Wimper- schnur. Diese ist longitudinal und postoral. Wie soeben erwähnt, ist Grund zu der Annahme vorhanden, dass die präorale Schnur der Trochosphäre und die postorale Schnur der Echinodermen- larve beide von einem Wimperkranze abstammen, welcher die Mundscheibe des Urtypus dieser Larven umgab (siehe Fig. 7). Bei den Echinodermen muss sich der After an der dorsalen Seite dieses Kranzes, bei der Trochosphäre dagegen an der Ventralseite gebildet haben und so kam es zu der ab- weichenden Lage der beiden Kränze. Gegenbaur und Lankester haben andtschaftsbeziehungen. 201 allerdings eine andere Ansicht über diese -Kränze ausgesprochen, welche dahin geht, dass der präorale Kranz von dem Zerfall der einfachen Wimper- schnur der meisten Echinodermenlarven in die beiden Kränze herrühre, welche man bei Bipinnaria (siehe Fig. 10) findet. Es spricht allerdings manches für diese Entstehung des präoralen Kranzes und das Verhalten von Tor- naria trägt zur Stütze dieser Ansicht bei; allein die oben erwähnte Auffassung kommt mir doch wahrscheinlicher vor. Actinotrocha (Fig. 17) stimmt zweifel- los viel mehr mit den Echinodermen- larven als mit der Trochosphäre über- ein. Ihr Wimperkranz hat dieselbe Beschaffenheit und die Entstehung einer Reihe von Armen längs des Verlaufes des Wimperkranzes ist der Erscheinung sehr ähnlich, welche bei vielen Echino- dermen stattfindet. Ihre Verwandtschaft mit den Echinodermenlarven spricht sich ferner auch in dem Mangel von Sinnes- organen am präoralen Lappen aus. Tornaria (Fig. 16) lässt sich nicht bestimmt weder mit der Trochosphäre noch mit dem Echinodermenlarventypus vereinigen. Sie hat wichtige Merkmale mit diesen beiden Gruppen gemein und die Vermischung dieser Charaktere macht sie gerade zu einer sehr auffallenden und wohl differenzirten Larvenform. Phylogenetische Folgerungen. Endlich haben wir noch die phylo- genetischen Folgerungen, welche sich aus den oben vorgetragenen Ansichten ergeben, zu erörtern. Die Thatsache, dass alle Larven der über den Öoelen- teraten stehenden Gruppen sich auf einen gemeinsamen Typus zurückführen lassen, weist darauf hin, dass alle hö- heren Gruppen von einer einzigen Stamm- form ausgegangen sind. Ziehen wir in Betracht, dass die Larven von verhältnissmässig nur we- nigen Gruppen sich forterhalten haben, so darf man aus dem Mangel von Larven 202 keinen Rückschluss auf die Verwandt- schaftsverhältnisse machen, während anderseits das Vorhandensein einer gemeinsamen Larvenform bei zwei Grup- pen als Beweis für eine gemeinsame Abstammung betrachtet werden darf, obgleich daraus noch nicht nothwendig irgend welche nähere Verwandtschaft hervorgeht. Wir dürfen mit vollem Rechte an- nehmen, dass die Typen mit einer Trochosphärenlarve, nämlich die Roti- feren, die Mollusken, die Chaetopoden, die Gephyreen und die Bryozoen, von einer gemeinsamen Vorfahrenform ab- stammen, und ebenso ist es ziemlich sicher, dass diese Formen und die Pla- tyelminthen einen noch entfermteren gemeinsamen Vorfahren besassen. Auch eine allgemeine Verwandtschaft der Brachiopoden mit diesen Typen ist sehr wahrscheinlich. Alle diese Gruppen nun nebst jedem anderen Typus, für den sich eine nähere Beziehung zu diesen nachweisen lässt, stammen von einem bilateralen Vorfahren ab. Die Echino- dermen anderseits leiten sich wahr- scheinlich direct von einem radiären Vorfahren her und haben mehr oder weniger vollständig ihre radiäre Sym- metrie beibehalten. Inwiefern Actino- trocha* mit den Echinodermenlarven verwandt ist, lässt sich noch nicht be- stimmen. Ihre Charaktere sind mög- licherweise secundärer Natur, gleich denen der mesotrochen Chaetopoden- larven, sie können aber auch dar- auf beruhen, dass sie sich sehr früh von dem Stamme abgezweigt hat, wel- cher sämmtlichen über den Coelen- teraten stehenden Formen gemeinsam ist. Die Stellung von Tornaria ist noch weniger klar. Es ist schwer, angesichts ihrer eigenthümlichen Wassergefässblase mit Rückenporus dem Schlusse auszu- weichen, dass sie eine gewisse Ver- * Es ist sehr wahrscheinlich, dass Pho- ronis keinerlei nähere Beziehungen zu den übrigen Gephyreen besitzt. Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. wandtschaft mit den Echinodermenlarven besitzt. Eine solche Verwandtschaft nun würde entsprechend den in diesem Ar- tikel befolgten Anschauungen beweisen, dass ihre Beziehungen zu der Trocho- sphäre, so auffallend sie auch sein mögen, doch nur secundär und durch Anpassung entstanden sind. Aus dieser Annahme, falls sie berechtigt ist, würde dann folgen, dass die Echinodermen und Enteropneusten einen gemeinsamen entfernten Vorfahren besassen, ohne dass jedoch die beiden Gruppen in anderer Weise näher mit einander ver- wandt wären. Allgemeine Schlüsse und Zu- sammenfassung. — Indem wir von dem Nachweis der Thatsache ausgingen, dass die Larvenformen einer grossen Anzahl von ausserordentlich verschie- denen Typen, die über den Coelenteraten stehen, gewisse Merkmale mit einander gemein haben, wurde der Versuch unter- nommen, 1. die Charaktere des gemein- samen Urtypus aller dieser Larven und 2. die gegenseitigen Beziehungen der fraglichen Larvenformen zu einander zu bestimmen. Dieser Versuch stützte sich auf gewisse mehr oder weniger annehm- bare Voraussetzungen, deren Richtigkeit sich nur daran prüfen lässt, ob die daraus folgenden Resultate unter sich zusammenhängen und ob sie im stande sind, alle Thatsachen zu erklären. Die dabei erreichten Resultate lassen sich folgendermaassen zusammenfassen: 1. Die über den Coelenteraten ste- henden Larvenformen können in die Seite 190—193 aufgezählten sechs Grup- pen eingetheilt werden. 2. Der Urtypus aller dieser Gruppen war ein in gewissem Grade einer Me- duse ähnlicher Organismus mit radiärer Symmetrie. Der Mund desselben lag in der Mitte einer abgeplatteten Ven- tralläche. Die aborale Fläche war kuppelförmig. Rings um den Rand der oralen Fläche verlief ein Wimperkranz und wahrscheinlich auch ein Nervenring, a) . n Ay 3 1 a Ti » . Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehunsen der mit Sinnesorganen ausgestattet war. Der Darmcanal verlängerte sich in zwei oder mehrere Divertikel; ein After war nicht vorhanden. 3. Die bilateral-symmetrischen Typen gingen nun aus dieser Larvenform her- vor, indem die Larve eiförmig wurde und der vor dem Munde liegende Ab- schnitt einen präoralen Lappen, der hinter dem Munde liegende aber den Rumpf bildete. Die aborale Kuppel wurde zur Rückenfläche. Mit der Entstehung der bilateralen Symmetrie entwickelte sich der vorderste Abschnitt des Nervenringes zu den oberen Schlundganglien und den damit zusam- menhängenden Sehorganen. Die Leibes- höhle bildete sich aus zweien der ur- sprünglichen Darmdivertikel. Die gewöhnliche Ansicht, dass ra- diäre Formen durch Verlängerung der aboralen Kuppel zum Rumpfe bilateral geworden seien, ist wahrscheinlich un- richtig. 4. Pilidium ist diejenige Larvenform, welche die Charaktere des Urtypus der Larve im Laufe ihrer Umbildung in eine bilaterale Form am getreuesten repro- dueirt. 5. Die Trochosphäre ist eine schon vollständig differenzirte bilaterale Form, bei welcher ein After zur Ausbildung gelangt ist. Der präorale Wimperkranz der Trochosphäre leitet sich wahrschein- lich vom Wimperkranz des Pilidium ab, welcher selbst nichts weiter als der ursprüngliche Wimperkranz des Urtypus aller dieser Larvenformen ist. 6. Die Echinodermenlarven zeigen durch den Mangel eines Ganglions oder specieller Sinnesorgane im präoralen Lappen und durch den Besitz von Darm- divertikeln, aus denen die Leibeshöhle hervorgeht, dass sie gewisse Merkmale des ursprünglichen Larventypus bewahrt haben, welche bei Pilidium verloren gegangen sind. Der Wimperkranz der Echinodermenlarven stammt wahrschein- lich direet von demjenigen des Urtypus | | 203 ab, indem an der dorsalen Seite des Kranzes ein After entstanden ist. Der- selbe lag ursprünglich jedenfalls auf der aboralen Spitze. Die ausgewachsenen Echinodermen haben wohl die radiäre Symmetrie der Formen, von denen sie abstammen, unverändert bewahrt, und ebenso leitet sich ihr Nervenring wahrscheinlich direct von demjenigen ihrer Vorfahren ah. Sie haben also nicht, wie man gewöhn- lich annimmt, ihre radiäre Symmetrie erst erworben. Die bilaterale Symme- trie ihrer Larven anderseits ist nach dieser Ansicht secundärer Natur, gleich derjenigen so vieler Coelenteraten- larven. 7. Die Punkte, in welchen Tornaria mit 1. der Trochosphäre und 2. den Echinodermenlarven übereinstimmt, be- ruhen wahrscheinlich in dem einen oder andern Falle auf Anpassung, und wäh- rend es nicht schwierig zu verstehen ist, dass die ersteren in der That auf Anpassung zurückzuführen sind, scheint der Besitz einer Wassergefässblase mit Rückenporus eine wirkliche Verwandt- schaft mit denEchinodermenlarven wahr- scheinlich zu machen. 8. Es ist bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntniss nicht mög- lich, zu entscheiden, inwiefern die Aehn- lichkeiten zwischen Actinotrocha und den Echinodermenlarven auf Anpassung beruhen oder primärer Natur sind. Die Mehrzahl dieser Folgerungen ist zweifellos sehr speculativer Art, allein wenn sie auch nicht als ein Theil der Grundlagen der 'embryologischen Wissenschaft betrachtet werden können, so dienen sie doch nichtsdestoweniger dazu, den weiteren embryologischen Forschungen in wichtigen Fragen eine bestimmte Richtung zu geben. Eine ge- naue histologische Untersuchung der in diesem Artikel besprochenen Larven- formen würde höchst wahrscheinlich zu sehr werthvollen Resultaten führen. Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten, Von Dr. Hermann Müller. Hunderte von Blumen der verschie- densten Formen und Anpassungsstufen, von den offenen, regelmässigen Pollen- blumen des Leberblümchens und Hain- windröschens bis zu den langröhrigen, honigreichen Hummel- und Schwärmer- blumen der Goldnessel und des Gais- blattes, entfalten Sommer für Sommer auch in den sterileren Gegenden Deutsch- lands ihre Reize, machen sich durch mannigfache Farben und Düfte bemerk- bar, bieten Blüthenstaub oder zugleich auch Honig feil und locken dadurch einen weiteren oder engeren Kreis ge- flügelter Besucher herbei, die ihnen als Entgelt für die Nahrungsspende .den im Kampf ums Dasein entscheidenden Vor- theil einer Kreuzung mit getrennten Stöcken gewähren. Hunderte geflügelter Sechsfüssler, ebenso verschieden an körperlicher und geistiger Ausrüstung wie an Abstammung und Lebensgewohn- heit, suchen die feilgebotene Blumen- nahrung auszubeuten, wo und wie sie können, und machen sie sich in den verschiedensten Graden von Geschick- lichkeit und Erfolg zu nutze. Kerfe und Blumen treten dabei in mannig- fachste Wechselwirkung und bieten nach beiden Seiten hin — selbst dem Be- wohner des norddeutschen Tieflandes — einen fast unerschöpflichen Reich- thum von Lebenserscheinungen dar, die der vollsten Aufmerksamkeit sowohl der Botaniker als der Entomologen wohl werth sind. * H.Müller, Die Befruchtung der Blumen durch Insekten, Leipzig 1873. S. 23—58. Die Blumenwelt hat auch wirklich, seitDarwins bahnbrechender Entdeckung des Vortheils der Kreuzung, die ver- diente Beachtung gefunden und nicht nur immer zahlreichere Beobachter zu Einzeluntersuchungen von den neuen Gesichtspunkten aus angereizt, sondern auch umfassendere Bearbeitungen im Sinne der Entwickelungslehre erfahren. Von den Anpassungen der Insekten an die Entwickelung der Blumennahrung dagegen wurden bis jetzt nur die kör- perlichen Ausrüstungen einer ersten, auf die wesentlichsten Züge sich be- schränkenden Bearbeitung” unterworfen. Der stufenweise Fortschritt der Insek- ten zu immer höherer Blumenthätigkeit, der biologische Theil der Aufgabe, wurde als besonderer Forschungsgegenstand noch nicht einmal versuchsweise in An- griff genommen. Wohl finden sich in meinen beiden grösseren Blumenwerken** Tausende von Einzelbeobachtungen über die Thätigkeit der Insekten an den Blumen aufgespeichert. Aber bei An- stellung dieser Beobachtungen hatte ich in erster Linie immer nur als Ziel im Auge, die Anpassungen der Blumen an ihre Kreuzungsvermittler festzustellen, und nur zu diesem Zwecke wurden in jenen beiden Werken die gesammelten Insektenbeobachtungen verwerthet. Wenn nun eine ähnliche Fülle von Einzelbeobachtungen auch in Bezug auf alle einzelnen Züge im Benehmen der Blumengäste gesammelt, gesichtet und ** Dasselbe und „Alpenblumen“, Leip- zig 1881. a Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. von den verschiedensten Gesichtspunk- ten aus überblickt würde, sollte es dann nicht möglich sein, auch ein Verständ- niss jener flüchtigen Erscheinungen der Blumenthätigkeit der Insekten zu ge- winnen, die uns in ihrer endlosen Man- nigfaltigkeit zunächst als ein unfassbares Chaos von Räthseln entgegentreten? Ohne Zweifel können ja diese Lebens- erscheinungen seitens der Insekten nur einerseits durch ererbte Fähigkeiten, Gewohnheiten und Triebe, andererseits durch selbsterworbene Erfahrungen und Uebungen bedingt sein, und aus ein- gehenden biologischen Beobachtungen der Blumengäste wird sich gewiss in vielen Fällen mit Bestimmtheit erkennen lassen, wie viel von ihren Thätigkeiten sie der Ererbung (dem Instinkt), wie viel dagegen der eigenen Gewöhnung und der Verwerthung eigener Erfah- rungen verdanken. Gelänge es dann, mittelst zahlreicher derartiger Feststel- lungen, von den niedersten bis zu den höchsten Blumenleistungen der Insekten eineReihe von Abstufungen nachzuweisen, derenjede ausder vorhergehenden begreif- bar wäre, so würden wir auch auf diesem Gebiete die complieirtesten Erscheinun- gen aus den einfachsten verstehen lernen. Mit solchen allgemeinen Andeutungen ist aber natürlich nicht viel gewonnen; sie können nicht einmal den anzustel- lenden Einzelbeobachtungen die Rich- tung anweisen. Um eine fruchtbare Bearbei- tung des neuen Forschungsge- bietes anzubahnen, ist es viel- mehr nöthig, die einzelnen ins Auge zu fassenden Zielpunkte so weitalsmöglichklarzulegen und die bereits vorliegenden Beobachtungen zur Beleuchtung derselben zu verwerthen. Diese Aufgabe habe ich in einer demnächst zu veröffentlichenden Arbeit zu lösen versucht, von der ich einzelne Abschnitte, die mir ein allgemeineres Interesse zu verdienen scheinen, hier mittheile. 205 Wie sollen wir es anfangen, um der Lösung des Räthsels, welches die Leist- ungen der hochintelligenten Bienen und Hummeln, der erstaunlich schnellen Schwärmer bei ihren Blumenbesuchen uns darbieten, näher zu treten? Um irgend welchen hoch complicirten Organismus verstehen zu lernen, suchen wir ihn in seinem Werden zu erfassen, indem wir die individuelle Entwicke- lungsgeschichte, die Paläontologie und den Vergleich der jetzt noch auf ver- schiedener Entwickelungshöhe neben einander existirenden Organismen des- selben Verwandtschaftskreises zu Rathe ziehen. In Bezug auf die Entstehungs- geschichte derjenigen Fähigkeiten aber, die in den wunderbaren Leistungen hoch- begabtester Blumengäste zu Tage treten, nachdem sie kaum erst ihre Puppen- hülle verlassen haben, bleiben uns indivi- duelle Entwickelungsgeschichte und Pa- läontologie der Natur der Sache nach für ewig stumm. Als einziger Weg, dem Ziele, soweit es überhaupt mög- lich ist, näher zu kommen, bleibt uns also nur übrig, solche Blumenbesucher desselben Verwandtschaftskreises, die in Bezug auf ihre Tüchtigkeit in der Be- handlung der Blumen auf verschiedener Entwickelungshöhe stehen, vergleichend ins Auge zu fassen. Mit welchem Verwandtschaftskreise, mit welcher Insektenabtheilung sollen wir da den Anfang machen? Jedenfalls mit derjenigen, die uns die ausgiebigste Gelegenheit bietet, den ersten Ueber- gang zur Blumennahrung und die ersten Schritte der Vervollkommnung in Bezug auf Gewinnung derselben zu beobachten. Es kann keinen Augenblick zweifelhaft bleiben, dass dies die Käfer sind. Geradflügler, Netzflügler und Wan- zen bieten uns nur die ersten Anfänge des Ueberganges zu regelmässigem Blu- menbesuche dar, ohne uns auch nur einen Schritt weiter zu führen; das ge- sammte Beobachtungsmaterial, das sie bis jetzt geliefert haben, ist überdies 206 Hermann Müller, Die Entwickelung viel zu spärlich, als dass wir darauf irgend wie fussen könnten. Fliegen, Bienen und Falter zeigen, wie in ihrer körperlichen Organisation, so auch in ihrer geistigen Tüchtigkeit, wohl viel höhere Anpassungen an die Gewinnung der Blumennahrung als die Käfer, lassen aber, wenigstens nach den bis jetzt vor- liegenden Beobachtungen, gerade die ersten Anfänge gewonnener Blumen- tüchtigkeit weniger deutlich erkennen. In der Ordnung der Käfer dagegen sehen wir in sehr verschiedenen Familien mit verschiedenster vegetabilischer oder ani- malischer Kost gewisse Arten die Blu- mennahrung vollständig verschmähen, andere sie zufällig oder gelegentlich aufsuchen, noch andere sie ausschliess- lich benutzen und finden zwischen diesen verschiedenen Verhaltungsweisen die all- mählichsten Uebergänge; hier am ersten (dürfen wir daher auch die ersten Wir- kungen andauernder Uebung im Blumen- ausbeuten und der Naturauslese der geschicktesten Blumenausbeuter zu er- kennen hoffen. Wir betrachten deshalb, soweit die von einem ganz anderen Ge- sichtspunkte aus angestellten Beobach- tungen es überhaupt gestatten, zuerst: 1. Die Blumenthätigkeit der Käfer, Erster Uebergang zur Blumen- nahrung. Mannigfache Käferarten, die gewohnt sind, kleine lebende Beute zu erjagen oder frische Pflanzentheile zu verzehren oder mit verwesenden thierischen oder pflanzlichen Stoffen sich zu beköstigen, treffen wir ausnahmsweise auch einmal auf Blumen. Die einen mögen auf ihren gewöhn- lichen Wanderungen zur Aufsuchung von Nahrung zufällig eben auch einmal dahin gelangt sein, andere vielleicht beim Versagen ihrer gewöhnlichen Nahrungs- quellen, durch Hunger zum Aufsuchen neuer angetrieben, ihren Weg zu den Blumen gefunden haben. Wie dem auch der Blumenthätigkeit der Insekten. sein mag, wenn wir, verwundert, nach jahrelangen eifrigen Beobachtungen zum erstenmale auch sie unter den Blumen- gästen anzutreffen, nun ihr Benehmen etwas näher ins Auge fassen, so finden wir durch dasselbe unsere sofortige Vermuthumg, dass wir es hier mit Neu- lingen in der Blumenarbeit zu thun haben, in der Regel in unzweideutiger Weise bestätigt. Von Fleischfressern habe ich z. B. Tachyporus-Arten, die sonst im Moose sich aufzuhalten pflegen, um da ver- muthlich, gleich anderen Staphylinen, kleiner lebender Beute nachzugehen, in vereinzelten Fällen auch auf Blüthen von Schirmpflanzen, Ramuneulus, Caltha und Potentilla angetroffen, nur in den ersten mit dem Kopf auf das völlig offen liegende Nektarium hinabgebückt, in den übrigen ohne Ausbeute. Mi- craspis 12punctata, die vermuthlich gleich anderen Coecinelliden von Blatt- laus- oder Schildlauslarven lebt, fand ich ausnahmsweise auch in den Blüthen von Ranuneulus und Adonis vernalis; in den ersteren suchte sie nur vergeblich umher, an der letzteren Pflanze befanden sich 4 Stück in einer und derselben Blüthe, davon leckte eines an einer der Narben, die übrigen wanderten erfolg- los umher. Von Pflanzenfressern traf ich Dona- cia-Arten vereinzelt auf Blumen von Caltha und Nuphar, Helodes marginella in Paarung auf Blumen von Caltha, Galeruca nymphaeae in Ranuneulus-Blü- then, Baridius abrotani in den Blüthen von Reseda lutea, sämmtlich ohne Aus- beute. Anisotoma cinnamomea, die sonst, wie ihre Familiengenossen, in Pilzen lebt, traf ich auf den Alpen auf den Blüthenkörbehen zweier Compositen (Achillea atrata und Chrysanthemum al- pimum), ebenfalls ohne sie Nahrung ge- niessen zu sehen. Von Vertilgern ver- wesender Stoffe sah ich das Dünger liebende Cercyon haemarrhoum ein ein- zigesmal auf einer Umbelliferenblüthe, “sind. Hermann Müller, Die Entwiekelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Oereyon anale auf einer Cruciferenblüthe, beide ebenfalls ohne Ausbeute. Es wäre leicht, die Zahl dieser Bei- spiele zu vervielfältigen, doch breche ich hier ab. Denn einerseits ist bei solchen Neulingen, deren Blumenthätig- keit sich auf einzelne zufällige Besuche beschränkt, von einem Erwerb irgend welcher Erfahrung oder Uebung in dieser Thätigkeit noch nichts zu erkennen; andererseits habe ich bereits an einer anderen Stelle, auf die ich hier nur zu verweisen brauche*, hinlänglich ein- gehend nachgewiesen, dass von zufäl- ligen ersten Blumenbesuchen mannig- facher Käfer der verschiedensten Lebens- weise die unmerklichsten Abstufungen, die uns bis zu blumensteten und bis zu einem gewissen Grade blumentüch- tigen Arten, Gattungen und selbst Fa- milien hinführen, noch jetzt vorhanden Hier kommt es mehr darauf an, eine passende Auswahl solcher Beob- achtungen zusammenzustellen, die auf die Zähmung der wilden Sitten der Neulinge im Blumengeschäft und auf ihre Gewöhnung zu regelmässigerer, ihnen selbst und gewöhnlich auch den Blumen erspriesslicherer Thätigkeit einiges Licht werfen. Gewöhnung an ausschliesslichen Genuss von Honig und Blüthen- staub. Von den mannigfachen Käfern, wel- che noch heute neu zum Besuche der Blumen übergehen, treffen wir zwar die meisten, welche überhaupt Ausbeute erlangen, völlig offen liegenden Honig leckend, einige Pollen oder die ganzen Antheren verzehrend und nur einzelne Blattfresser, wie z. B. Phyllopertha hor- ticola, beliebige Blüthentheile abweidend. Wenn aber die ersten Blumen, wie in früheren Aufsätzen wahrscheinlich zu machen versucht wurde, aus honiglosen * H. Müller, Befruchtung der Blumen durch Insekten 8. 30—33. f | I I 207 Windblüthen hervorgegangen sind, so können die ursprünglichsten Blüthen- besucher zuerst nur durch den Genuss des Pollens oder der Antheren oder zarter Blüthentheile überhaupt zur Wie- derholung ihrer Besuche veranlasst wor- den sein und sich erst später, nachdem Absonderung freien Honigs als Blumen- eigenthümlichkeit sich ausgeprägt hatte, an Honiggenuss gewöhnt haben. Es lohnt deshalb wohl der Mühe, bei den heutigen Neulingen unter den Blumen- gästen nach solchen Thatsachen aus- zuschauen, die für eine allmählige Ab- änderung in der Benutzung der Blumen sprechen. Von den ursprünglich fleischfressen- den Käfern scheinen die Marienkäfer- chen (Coeccinellidae), welche zu gelegent- licher Blummennahrung übergegangen sind, — blumenstet ist, soweit ich es zu beurtheilen vermag, noch keine ein- zige einheimische Art geworden — auf den Blumen ausschliesslich Honig zu lecken, so dass sie denselben also von vornherein nur als Freunde, in keiner Weise als Feinde gegenüber treten; denn an Blumen, deren Honig so offen liegt, dass sie ihn zu erlangen ver- mögen, können sie sich auch als Kreu- zungsvermittler nützlich machen. Von den Weichflüglern (Malacodermata) sehen wir die Telephorus-Arten, die ihrer ur- sprünglichen fleischfressenden Lebens- weise zum Theile noch treu geblieben sind, nicht nur den völlig offenen Honig der Schirmpflanzen und des Hornstrauchs (Cornus sanguinea) lecken und auf Blü- thenkörbchen der Compositen in ver- geblichem Abmühen nach Honig den Kopf tief in die Blumenglöckchen oder zwischen die Blüthen senken (z. B. Te- lephorus melanurus an Cirsium arvense, T. tristis an Tarawacum offieinale), son- dern auch Blüthenstaub und die An- theren selbst verzehren und sogar an- dere zarte Blüthentheile abweiden (z.B. T. testaceus an Crataegus, T. rustieus an Rubus). Ganz ähnlich verhält sich die 208 ganze Gattung Malachius, die sogar mit Vorliebe, selbst von Windblüthen, An- theren abweidet und auch sonstige zarte Blüthentheile nicht verschmäht. Und diese letztere Gattung enthält durchaus nur blumenstete Arten und hat daher höchst wahrscheinlich die Beschränkung auf Blumennahrung schon von ihren gemeinsamen Stammeltern ererbt. Es ergiebt sich daraus, dass ausschliess- liche Beschränkung auf Blumennahrung, wenn sie auch bereits seit zahllosen Generationen erblich geworden ist, kei- neswegs mit Nothwendigkeit zur Ab- gewöhnung den Blumen schädlicher Ge- wohnheiten, wie z. B. des Abweidens von Antheren, Blumenblättern u. s. w. führt, was sich vom Standpunkte der Selektionstheorie aus eigentlich ganz von selbst versteht und nur als unver- träglich mit teleologischen Anschauungen hier besonders hervorgehoben zu werden verdient. Andererseits ist es sehr wohl denk- bar, dass in vielen Fällen die über- wiegende Nährkraft des Pollens und der ausgezeichnete Wohlgeschmack des Nektars mit der Blumennahrung ver- trautere Kerfe zur Beschränkung auf diese beiden Nahrungsmittel ‚geführt haben, und es scheint sogar in der- selben Abtheilung der Malacodermata die Gattung Dasytes ziemlich bestimmt dafür zu sprechen. Während nämlich andere Arten dieser Gattung, ebenso wie Malachius- und Telephorıs-Arten, nicht bloss Honig und Blüthenstaub geniessen, sondern sehr häufig die gan- zen Antheren mit abfressen und bis- weilen auch Blumenblätter benagen (z. B. Dasytes flavipes an Geranium ro- bertianum), habe ich auf den Alpen die blumeneifrigste und häufigste Art, den Dasytes alpigradus Ksw., der mir auf nicht weniger als 48 verschiedenen Blumenarten in zahllosen Exemplaren begegnet ist, nur ein- oder höchstens zweimal (mit Bestimmtheit an Alsine verna, in zweifelhafter Weise an Silene Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. acaulis) an den Staubbeuteln selbst fressen sehen; in allen übrigen Fällen begnügte er sich mit Pollen, Honig oder abwechselndem Genusse beider; nicht ein einzigesmal wurde er am Benagen anderer Blüthentheile angetroffen. Noch unzweideutiger scheinen mir von den Pflanzenfressern die blumen- besuchenden Blatthörner (Lamellicornia) für eine allmähliche Gewöhnung an sanftere Sitten zu sprechen. Sie sind zwar, so weit ich sie aus eigener An- schauung kenne, sämmtlich für die Blu- men von mehr oder weniger zweifel- haftem Werth, aber doch mit Unter- schied und stufenweisem Fortschritt zum Besseren: Die bekannten Blattfresser, der Maikäfer (Melolontha) und Junikäfer (Phyllopertha horticola) fressen, wenn sie einmal auf Rosen oder andere gross- hüllige Blumen gerathen, grosse Löcher in die Blumenblätter und weiden zudem rücksichtslos Staubgefässe und Stempel ab. Die blumensteten Hoplia- und Tri- chius-Arten dagegen sieht man zwar auch, und zwar nicht eben selten, in ähnlicher Weise verwüstend auf Blumen beschäftigt, aber doch sehr viel häu- figer friedlich Honig leckend, was bei Melolontha und Phyllopertha wohl nie- mals vorkommt. Der gewöhnliche Rosen- käfer (Cetonia aurata), der in Bezug auf Blumenstetigkeit zwischen den erste- ren und letzteren etwa in der Mitte stehen dürfte, frisst an Rosen, Eber- eschen, Hollunder und manchen anderen offenen Blumen mit derselben Rück- sichtslosigkeit wie Mai- und Junikäfer an allen zarten Blüthentheilen darauf los. Auch auf die würzig duftenden, ihren Honig in tiefer Röhre bergenden Falterblumen von Daphne striata und (@ymnadenia conopsea sah ich ihn aus dem Fluge direct sich niederlassen und ohne irgend welches Zögern mit dem Abweiden der Blüthenhülle beginnen. Trotzdem ist er für den angenehmeren Geschmack des Honigs durchaus nicht unempfindlich, sondern zieht ihn, wenn Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit er die Wahl hat, den weniger süssen Blüthentheilen ganz entschieden vor. Auf den Blumen von Aronia rotundi- Jolia traf ich ihn z. B. wiederholt mit dem Munde am Nektarium, die Mund- theile in Bewegung, das Nektarium und die umgebenden Blüthentheile, die ich unmittelbar hinterher mit der Lupe untersuchte, unbenagt; hatte sich also offenbar mit dem Lecken des Honigs begnügt. In einem anderen Falle sah ich ihn freilich auf einer Blume der- selben Art auch Blüthentheile abweiden : doch vermuthe ich jetzt, was ich leider damals zu untersuchen versäumt habe, dass diese Blume ihres Honigs bereits beraubt war. An Berberis sah ich den Rosenkäfer, und zwar sehr wiederholt, immer nur mit dem Munde in der Blüthe; die Theile derselben ergaben sich jedes- mal als völlig unverletzt, auch hier musste er sich also, ohne Blüthentheile abzuweiden, mit dem Lecken des Honigs begnügt haben. Am unzweideutigsten zeigte er mir aber seine Bevorzugung des Honigs an den Blumen von Con- vallaria Polygonatum. An diesen frisst er sich, vom Rande anfangend, geraden Wegs der Länge nach durch die lange Blumenglocke hindurch bis zu ihrem Grunde, wo der Honig absondernde Fruchtknoten sitzt, so dass er eine ganze Seite der Blumenkrone der Länge nach offen lest. Hat er dann endlich das Ovarium erreicht, so frisst er nur noch dessen honigreiches Gewebe und rührt die Blüthenhülle derselben Blume nicht mehr an. Dieselbe Art der Aus- beutung habe ich nicht einmal, zufällig, sondern in oftmaliger Wiederholung beobachtet, einmal sogar 3 in dieser Weise zerstörte Blüthen, an deren einer der Thäter noch sass, an demselben Blüthenstande angetroffen. Aus den mitgetheilten Thatsachen scheint mir unzweideutig hervorzugehen, dass die blumenbesuchenden Blatthör- ner mit der Stetigkeit ihres Blumen- besuches auch: in der Unterscheidung ; der Insekten. 209 der Blumenausbeute sich ver vollkommnet haben, dass sie ursprünglich die zarten Blüthentheile ohne Unterschied abwei- deten, wie es Mai- und Junikäfer noch jetzt thun, dass sie später aber die grössere Süssigkeit des Nektars schätzen und auf ihn als Ziel losgehen lernten, wie uns der Rosenkäfer an Oonvallaria Polygonatum zeigt, und dass sie dann nur noch solche Blue abweiden, die ihnen zu spärlichen oder zu schwer zu- gänglichen Honig darbieten, hei freier Wahl dagegen den Honig antächteäih bevorzugen, wofür Trichius und Hoplia zahlreiche Baspi bieten. Ebenso scheint in der Abtheilung der Malacodermata, nach Dasytes alpi- gradus zu urtheilen, mit zunehmender Blumeneifrigkeit und -stetigkeit das Benagen der Antheren und anderer Blüthentheile hinter dem Verzehren des Pollens mehr und mehr zurückgetreten zu sein. Auch dies zum Vortheil der Blumen, da Pollenfresser immer auch Mund und Kopf mit Pollen behaften und denselben gelegentlich auf Narben anderer Stöcke übertragen, und da ferner auch die Blumen, trotz ihrer Pollenersparniss gegenüber den Wind- blüthlern, doch in der Regel noch einen hinreichenden Ueberfluss an Pollenkör- nern erzeugen, um ohne Schaden den grössten Theil derselben den Kreuzungs- vermittlern als Entgelt für ihren Liebes- dienst überlassen zu können. Uebrigens müssen wir uns hüten, das, was an einer Käferfamilie fest- gestellt ist, ohne Weiteres auch für andere als gültig zu betrachten. Denn bei der äusserst verschiedenen ursprüng- lichen Lebens- und Ernährungsweise der zur Blumennahrung übergegangenen Käfer ist es wohl kaum anders möglich, als dass sie selbst in ihren ersten und rohesten Blumenthätigekeiten in Ge- schicklichkeit und Neigung sich wesent- lich verschieden verhalten. Hermann Müller, Die Entwickelung 210 Bedingtheit der ersten Blumen- thätigkeit durch die ursprüng- liche Lebensweise. Zur Veranschaulichung dieses Unter- schiedes wollen wir uns vorläufig, bis weitere ausdrücklich auf diesen Punkt gerichtete Beobachtungen angestellt sind, auf ein einziges Beispiel beschränken. Die Knipskäfer (Elateridae) nähren sich als Larven grösstentheils von ab- gestorbenem, in Verwesung begriffenem Holze, Graswurzeln oder sonstigen vege- tabilischen Substanzen, nur ganz aus- nahmsweise von Fleischkost. Als fertige Insekten gehen zwar die meisten von ihnen neben Beibehaltung ihrer ur- sprünglichen mehr oder weniger häufig auch auf Blumen, um den Honig derselben zu lecken, Pollen zu fressen oder Antheren und andere zarte Gewebe abzunagen; viele sind so- gar blumenstet geworden, kein einziger aber lässt eine deutliche Anpassung an die Gewinnung der Blumennahrung er- kennen, und eine gewisse Langsamkeit, (lie sie von ihrer ursprünglichen Lebens- weise her mitgebracht haben, haftet allen, auch den blumensteten, noch an; mögen sie nun ihnen zugängliche Blu- mennahrung aufsuchen und ausbeuten oder auf ihnen verschlossenen Blumen vergebliche Anstrengungen machen. Lebensweise Den völlig offenen Honig der Schirm- pflanzen, des Hornstrauchs (Cornus san- yuinea), des Zwerg-Wegdorns (Rhammus pumila), der Sarifraga aizoides, des Galium verum, auch allenfalls den im Grunde einer flachen oder ein wenig tieferen Schale geborgenen, aber doch unter günstigen Umständen noch un- mittelbar sichtbaren Honig der Ranum- eulus-Arten, der Rosifloren und selbst den einzelner besonders offenblüthiger Gruciferen wissen sie nämlich zwar auf- zufinden und auszubeuten; sie verweilen aber, wenn sie diese Blumen aufge- funden haben, meist ziemlich andauernd auf denselben, bald rastend, bald mit der Blumenthätigkeit der Insekten. dem Lecken des Honigs, dem Verzehren des Pollens oder dem Benagen der Antheren oder Blumenblätter beschäf- tigt. Obgleich sie daher hauptsächlich auf den genannten Blumen gefunden werden, sieht man sie doch auch nicht eben selten andere Blumen, die ihnen gar nichts bieten, nicht etwa nur flüchtig absuchen und wieder verlassen, sondern viele Minuten lang in ver- geblicher Abmühung probiren. So traf ich z. B. den blutrothen , Corymbites haematodes und den erzglänzenden Dia- eanthus aeneus wiederholt auf den Blü- thenkörbehen des Löwenzahn (Taraxa- cum), mit dem Kopfe tief zwischen die Blüthen gebohrt und in dieser Lage andauernd verweilend, ausser Stande, ihn in die honighaltigen Röhren der- selben einzudrängen, aber ebenso ausser Stande, sich der Vergeblichkeit ihres Versuches bewusst zu werden und zu einem neuen Ausfluge zu entschliessen. Den schönen Corymbites aulicus sah ich minutenlang ausbeutelos an den Blü- then von Berberis sitzen, ebenso andere Knipskäfer an den Blüthen von Nigri- tella, Gymnadenia, Sempervivum, Tri- folium, Genista und Plantayo. In bemerkenswerthem Gegensatze zu den Knipskäfern stehen nun in Bezug auf ihre ursprüngliche Lebensweise und eben- so in Bezug auf ihre Blumenthätigkeit die Marienkäfer (Coccinellidae). Denn ob- gleich die meisten derselben nicht bloss als Larven, sondern auch als fertige Insekten von thierischer Kost leben, indem sie sich als Blattlausvertilger nützlich machen, und obgleich selbst die wenigen, die man auf Blumen nach Honig gehen sieht, sich noch keines- wegs an den ausschliesslichen Genuss dieser Nahrung gewöhnt haben, so be- nehmen sie sich doch auf den Blumen durchweg behender, verlieren niemals soviel Zeit mit nutzlosem Festsitzen an einer ihnen unzugänglichen Honigquelle und kommen daher im ganzen weit rascher zum Ziele der Blumenausbeutung TE u nd u De Hermann Müller, Die Entwiekelung als die Knipskäfer. Zwar lassen auch sie sich von den augenfälligen Blüthen- körbehen der Gompositen zu vergeb- lichen Besuchen anlocken; man sieht sie aber nie mit dem Kopfe zwischen die Blüthen gebohrt nutzlos die Zeit vergeuden, sondern sehr bald unruhig weiter laufen. Selbst wenn sie, wie so oft auf den Blüthen von Erodium eieuta- rium, mit dem Blumenblatte, auf welches sie sich zur Honiggewinnung gestellt haben, zu Boden fallen, lassen sie sich dadurch nicht verblüffen, sondern laufen unverzüglich auf einen neuen Stock, auf eine neue Blüthe, wenn auch das- selbe Missgeschick sich bereits mehrere- male unmittelbar nach einander wieder- holt hat. Dass nicht auf den Blumen erworbene Uebung ihre grössere Be- hendiekeit und Gewandtheit beim Aus- beuten der Blumen bedingen kann, liegt klar zu Tage, da sie grössere Neulinge und weniger blumenstet sind als ein grosser Theil der Elateriden. Nur in ihrer ursprünglichen Lebens- weise und in den bei dieser erworbenen Fähigkeiten und Gewohnheiten kann also der Unterschied ihres Benehmens seinen Grund haben. Als Blattlaus- jäger laufen sie eben zum Aufsuchen ihrer Beute unruhig von einem Pflanzen- stengel zum andern, während die Pflan- zenstoffe .nagenden Elateriden viele Mi- nuten lang an derselben Stelle festzu- hocken gewohnt sind. Behendigkeit auf den Blumen durch andauernde Uebung der- selben Blumenarbeit. Erblich- werden dieser Behendigkeit. Zeigt uns der Vergleich der Cocci- nelliden mit den Elateriden, wie beim Uebergange zur Blumennahrung aus- schliesslich die von der ursprünglichen Lebensweise her mitgebrachten Fähig- keiten, Neigungen und Gewohnheiten über das Benehmen beim Aufsuchen und Ausbeuten der Blumennahrung ent- scheiden, so lässt uns dagegen ein Ver- der Blumenthätigkeit der Insekten. 211 gleich der Cerambyciden (Bockkäfer) mit den Elateriden oder auch unter sich die ersten Anpassungen sowohl der Thätigkeit als der Organisation an die Gewinnung der Blumennahrung deut- lich erkennen. Denn wie bei den Elateriden, so nähren sich auch bei den Cerambyeiden die Larven fast aus- schliesslich von verwesenden Pflanzen- stoffen, meist von abgestorbenem oder im Absterben begriffenen Holze. Das- selbe ist offenbar die ursprüngliche Lebensweise der fertigen Käfer; sehr viele sind derselben ganz oder theil- weise treu geblieben, und haben auch in der Behendigkeit der Bewegungen selbst vor den nicht blumensteten Ela- teriden nichts voraus. Wenn solche Arten zufällig auf Blumen kommen, deren Honig zu lecken ihnen nicht ge- lingt, so benehmen sie sich ebenso langsam und wunentschlossen wie in gleichem Falle Elateriden. PRhagium mordax sitzt z. B. an Berberis-Blüthen ebenso rathlos wie (orymbites aulieus. Anders diejenigen Bockkäfer, die wir mit dem Namen »Blumenböcke« aus- zeichnen, deren artenreiche Geschlechter durchaus blumenstet und durch nach vorn gerichteten und verlängerten Kopf, verschmälertes Halsschild und langbe- haarte Unterkiefer bereits zur Erlangung ‚ein wenig tiefer geborgenen Honigs be- fähigt sind (Pachyta, Leptura, Stran- galia u. a.). Ueber den Kreis der auch von den Elateriden ausgebeuteten Blu- men gehen zwar nur die fortgeschrit- tensten dieser Blumenböcke etwas hin- aus, indem sie auch völlig versteckten und einige Millimeter tief geborgenen Honig ausbeuten; sie alle aber bewegen sich auf den Blumen unvergleichlich rascher und gewandter als die Blateri- den und als ihre eigenen nicht blumen- steten Familiengenossen — und zwar nicht nur beim Ausbeuten der ihnen zugänglichen, sondern auch beim ver- geblichen Probiren der ihnen unzu- gänglichen Honig- oder Pollenquellen, 212 so dass es selbst für jeden der ein- zelnen Arten und ihrer Lebensweise Un- kundigen ein Leichtes sein würde, an der blossen Behendigkeit der Bewegung auf den Blumen die eigentlichen Blumen- böcke, die seit zahllosen Generationen immer nur der Blumennahrung nach- gegangen sind, von den Neulingen und Unsteten im Blumenbesuche zu unter- scheiden. Millionenfach wiederholte Uebung hat ihnen in der Bemeisterung derjenigen Blumen, denen ihre An- passung entspricht, eine Raschheit und Sicherheit verliehen, die sich nun von Generation zu Generation forterbt und auch die Raschheit ihrer vergeblichen Bewegungen an Blunien höherer An- passungsstufen beeinflusst. Auf Blumen mit offenem oder wenig tief geborgenem Honig, der durch einfaches Vorstrecken oder Hinabsenken des Kopfes erreichbar ist, ebenso auf Blumen mit ihnen leicht erreichbaren Staubgefässen benehmen sie sich daher behend und geschickt, werden rasch mit der Ausbeute fertig und sind flugs auf dem Wege zu einer anderen Blume. Auch ihre persönliche Sicherheit wissen blumenstete Käfer auf den ihnen geläufigen Blumen sehr gut zu wahren, wogegen Neulinge bei der ihnen ungewohnten Blumenarbeit sich in der Regel leicht ergreifenlassen. Rhagium mordax konnte ich von Berberis, Cetonia aurata von Comvallaria Polygonatum in deren Blumenröhre sie sich hineinfrass, leicht mit den Fingern nehmen. Wie ge- wandt entwischen dagegen die Glieder der blumensteten Mordelliden-Familie, indem sie sich fallen lassen und rasch hin- und herschnicken; wie rasch heben die Blumenböcke ihre Flügeldecken und fliegen auf und davon, wenn man sie auf dem Blüthenschirm einer Umbel- lifere mit den Fingern fassen will! Aber auch sie hat die Uebung aus- schliesslich zur leichten Ausführung der von ihnen geübten Thätigkeiten befä- higt. Neben der dadurch gewonnenen Behendigkeit und Geschicklichkeit auf Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. der einen Seite zeigen sie gleichzeitig eine vollständige Unbeholfenheit in allen nicht durch vieltausendfacheUebung ge- läufig gewordenen Thätigkeiten. Haben sie sich von einer Blume an- locken lassen, deren Staubgefässe ihnen in die Augen leuchten, ohne ihnen er- reichbar zu sein, oder in deren honig- führende Röhre sie zwar etwas ein- dringen können, ohne jedoch den Honig zu erreichen, so machen sie zahlreiche vergebliche Anstrengungen, ohne sich von der Erfolglosigkeit derselben zu über- zeugen und bieten uns so, namentlich in dem ersteren dieser beiden Fälle, das ko- mische Schauspiel einer ebenso unbehülf- lichen als lebhaften Geschäftigkeit dar. Wir kommen z.B. an einem sonni- gen Sommermorgen an einen mit ‚Dro- mus mollis und Erodium ceieutarium be- wachsenen Abhang, an welchem 4 oder 5 Exemplare der für einen Blumenbock keineswegs besonders dummen ZLeptura livida nach Blumennahrung ausspähend umherfliegen. Erodium bietet ihnen Honig und Blüthenstaub in reichlicher Menge dar — auch den Honig leicht erreichbar; denn selbst das gewöhnliche Marienkäferchen (Coccinella 7punctata), welches laufend die Stöcke absucht und so auch die nur durch eine Haarreihe überdeckten glänzenden Honigtröpfchen des Erodium auffindet, macht sich die- selben zu nutze. Unsere Bockkäfer aber, die in der Luft schwebend aus einiger Entfernung nach Blumen aus- spähen, scheinen für das Roth noch kein Auge zu haben; jedenfalls fühlen sie sich weit stärker durch das Gelb der an dünnen Fäden aus der Gras- blüthe hängenden Staubgefässe des Bromus angezogen als durch das Roth der Blumenblätter und des Pollens von Erodium. Denn die ergiebige Nahrungs- quelle völlig unberücksichtigt lassend, fliegen sie nach längerem Schweben an eine der blühenden Grasähren an, laufen Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. eilig an dem Blüthenstande auf und ab, bisweilen die Mundtheile bewegend, als ob die ihnen vor Augen hängenden aber unerreichbaren Antheren ihre Ess- lust lebendig gemacht hätten, laufen fast alle Aehrchen desselben Blüthen- standes ab, ohne etwas zu erreichen, und wiederholen dann, auf einen an- deren Stock überfliegend, an diesem dieselbe erfolglose Arbeit. Es ist eine bei verschiedenen Blu- mengästen, selbst bei so hochbegabten wie Bienen und Hummeln, nicht selten zu beobachtende Erscheinung, dass sie nach mehrfachen vergeblichen Anstreng- ungen zur Erlangung der Blumenaus- beute inne halten und ihre Mundtheile ausrecken und putzen, gerade als wenn ihr Handwerkszeug an der Erfolelosig- keit ihrer Arbeit schuld wäre. So sah ich auch einen unserer Blumenkäfer vor dem Ueberfliegen auf einen anderen Stock sich Fühler und Mundtheile mit den beiden Vorderbeinen putzen, welche letzteren er abwechselnd gebrauchte. Kein einziger der Blumenböcke verfiel aber darauf, statt des unergiebigen Grases die ausbeutereiche Blume in Angriff zu nehmen. Verschiedene Wirkung der Em- pfindungs- und Wahrnehmungs- triebe. Dieselbe Zeptura livida, die wir so- eben in erfolgloser Geschäftigkeit rast- los umherlaufen sahen, als sie dem Wahrnehmungstriebe folgte, den der Anblick der ihr unerreichbaren gelb gefärbten Antheren immer von Neuem in ihr erweckte, benimmt sich ganz anders, wenn sich zum Anblick des Erstrebten eine Berührung mit demsel- ben, zum Wahrnehmungstrieb ein mäch- tiger wirkender Empfindungstrieb* ge- selt. Am gemeinen Hornkraut (Ce- rastium arvense) steckt sie den Kopf in ® Verol. @. H. Schneider, der thierische Wille. Abschnitt V. Kosmos, V. Jahrgang (Pd. IX). 213 die Blüthe, ohne jedoch den Honig zu erreichen. Nach mehrfachen vergeb- lichen Bemühungen zieht sie sich wieder etwas zurück, bekommt dabei zufällig eine schon entleerte Anthere an den Mund und knabbert nun einige Zeit an dieser, die ihr jedoch keinen Pollen darbietet. Dann steckt sie wieder den Kopf so tief als möglich in die Blüthe, kommt aber wieder nicht bis zum Honig; trotzdem bleibt sie viele Secunden lang in dieser Stellung. Der Empfindungs- trieb, der durch die Berührung der Anthere mit dem Munde augenblicklich geweckt wird, überwiegt also sofort den durch das Sehen der Blüthenhöhle ge- weckten Wahrnehmungstrieb. Die Blü- thenhöhle wird vergessen, bis die be- rührte Anthere benagt ist; dann erst kommt der Wahrnehmungstrieb wieder zur Geltung. Das andauernde Verweilen im Grunde der Cerastium-Blüthe, im Gegensatze zu dem fortwährenden Um- herlaufen an Bromus mollis, findet, wie mir scheint, ebenfalls seine natürliche Erklärung in der Berührung des nach unten drängenden Kopfes mit der Blu- menwand. Denn eine solche Berührung ist unzählige Male mit dem Genusse geborgenen Honigs, also mit einer leb- haften Lustempfindung combinirt gewesen und hat desshalb gewiss einen kräf- tigeren Trieb erzeugt, als das in dem vorhin beschriebenen Falle wirksame Wahrnehmen der Antheren aus der Ent- fernung. Um so schmerzlicher ist aber gewiss nun auch die Enttäuschung. Wer indess meinen sollte, dass die Blumenbockkäfer, durch eine einmalige solche Enttäuschung gewitzigt, nun das weitere Besuchen derselben, sie nur vexirenden Blumenart vermieden, würde sich in einer grossen Täuschung be- finden. Obwohl durch millionenfache Uebung ihrer Ahnen zur leichten Aus- führung der geübten Blumenthätigkeiten befähigt, zeigen sie, wie wir soeben gesehen haben, eine staunenswerthe Un- beholfenheit in der Ausführung aller 15 214 nicht geübten Thätigkeiten und nicht | ı minder, wie wir jetzt noch deutlicher sehen werden, eine ausserordentliche Langsamkeit im Gewinnen irgend einer eigenen Blumen-Erfahrung. Dafür folgender Beleg: Die Blumen unserer gewöhnlichen Orchis-Arten (morio, mascula, latifolia, maculata) enthalten bekanntlich in dem hohlen Sporne ihrer Unterlippe keine Spur frei abgesonderten Honigs. Das Einzige, was von den ihnen als Kreuzungsvermittler dienenden Hummeln, Bienen und langrüsseligen Fliegen aufgesucht wird, ist vielmehr der in dem lockeren Zellgewebe der Spornwandung eingeschlossene Saft, der erbohrt werden muss und von den Rüs- seln der genannten Insekten thatsäch- lich erbohrt wird, allen unseren Käfern aber, wenn sie nicht den Sporn ab- weiden, durchaus unzugänglich ist. Für einen Bockkäfer ist daher das Hinein- stecken des Kopfes in den Sporneingang einer Orchis-Blume völlig ausbeutelos; denn die Staubkölbchen, die er beim Zurückziehen des Kopfes, demselben aufgekittet, mit aus der Blüthe nimmt, vermag er sich nicht als Nahrung zu nutze zu machen, wenn sie ihm auch un- mittelbar über dem Munde sitzen. Trotz- dem wiederholen selbst ausgeprägte Blumenböcke die völlig nutzlose An- strengung, aus dem ÖOrchis-Sporn Nah- rung zu gewinnen, wenn sie einmal damit den Anfang gemacht haben, mit grosser Hartnäckigkeit immer wieder von Neuem. Ein Herr Girard fing z. B., wie uns Ch. Darwin (Orchideen 2. Aufl. p. 14, Anm.) mittheilt, eine Strangalia atra mit einem ganzen Büschel von Staubkölbehen der Orchis maculata am Munde, und Dr. G. Leimbach fand, wie er mir brieflich mittheilte, einen nicht näher bestimmten schwarzen Bockkäfer, der über 30 Pollinien derselben Orchis- Art am Kopfe trug! Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. ehnliches Verhalten auf gleicher Anpassungsstufe stehender Blu- menkäfer. An den Blumenböcken haben wir die erste Vervollkommnungsstufe kennen gelernt, die von Blumengästen durch eine zahllose Generationen hindurch fortgesetzte und erblich gewordene Ueb- ung derselben Thätigkeiten, unterstützt von einem gewissen Grade körperlicher Anpassungen, erreicht wird. Wir haben gesehen, dass sie sich auf denjenigen Blumen, die ihrer Anpassungsstufe ent- sprechen und durch einfaches Vorstrecken oder Abwärtsbewegen des Kopfes er- reichbaren Honig oder leicht erreich- bare Antheren darbieten, durchaus ge- schickt und behend benehmen, dass sie die gewonnene Raschheit ihrer Beweg- ungen auch auf solchen Blumen be- thätigen, die über ihre Anpassungsstufe hinausgehen, so lange nur gesehene Nahrungsquellen einen Wahrnehmungs- trieb in ihnen erwecken, dass sie da- gegen mächtiger gepackt und an die- selbe Stelle gefesselt werden, sobald eine ebensolche Berührung des Mundes oder Kopfes, wie sie mit dem Nahrungs- genusse combinirt zu sein pflegt, einen auf Nahrungsgewinnung gerichteten Em- pfindungstrieb in ihnen rege macht. Ich will nun an einem einzigen Bei- spiele zu zeigen versuchen, dass andere Käferfamilien, die mit den Blumenböcken auf gleicher Uebungs- und Anpassungs- höhe stehen, sich ganz ebenso verhal- ten. Die Familie der Oedemeriden hat mir dazu geeignete Thatsachen zu be- obachten gestattet. Blumenstet gleich den besprochenen Cerambyceiden sind die Oedemeriden auch ebenso wie diese durch hinter den Augen halsförmig ein- geschnürten, nach vorn gerichteten und verlängerten Kopf zum Erlangen einige Millimeter tief geborgenen Honigs be- fähigt, auch gleich den Blumenböcken dem Pollengenusse nicht weniger als dem Honiglecken ergeben. Sie gewinnen Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der daher, ebenso wie diese, nicht bloss den völlig offen liegenden Honig der Schirmpflanzen, sondern auch den theil- weise oder ganz geborgenen von Rosi- floren, Sedum- und Ranunculus-Arten und selbst von einzelnen Cruciferen und verzehren in anderen Blumen, z. B. der Winden, der Compositen u. a., den offen dargebotenen Pollen; sie stehen also, was die Anpassungen sowohl ihrer Thätigkeiten als ihres Körperbaues an die Gewinnung der Blumennahrung be- trifft, auf derselben Entwickelungshöhe mit den Blumenböcken. Ebenso bieten sie aber auch beim Ausbeuten der eben genannten, ihrer Anpassungsstufe ent- sprechenden Blumen ganz dieselbe Be- hendigkeit und Geschicklichkeit der Bewegungen dar und verfahren nicht minder rasch beim vergeblichen Er- streben bloss gesehener, nicht auch berührter Antheren. In Blumen dagegen, die den Honig im Grunde einer län- geren Röhre beherbergen, sieht man sie den Kopf in den Blütheneingang stecken, in dieser Lage — völlig ausbeutelos — längere Zeit verweilen und dasselbe an einer Anzahl von Blüthen wieder- holen, wie ich z. B. in Bezug auf Oede- mera podagrariae an Dianthus Carthu- sianorum beobachtete. In augenfälligster Weise stellte sich mir aber die verschieden kräftige Wir- kung des Empfindungs- und Wahrneh- mungstriebes an Oedemera virescens dar, als sie die Nachtfalterblumen der Aspe- rula taurina in Angriff nahm, die ihren Honig im Grunde einer etwa 10 mm langen, engen Röhre bergen ünd ihre Antheren auf langen schwankendenStaub- fäden aus der Blüthe weit hervorragen lassen. (Vgl. H. Müller, Alpenblumen S. 392.) Viele Minuten lang ist dieser Käfer auf den Blüthenständen dieser Pflanze bemüht, Ausbeute zu gewinnen, ohne irgend welchen Erfolg, aber mit folgendem merkwürdigen Gegensatze in der Behendigkeit seiner Bewegungen: Bald sucht er die aus einiger Ent- Insekten. 915 fernung gesehenen Antheren zu erlangen, um deren Pollen zu verzehren, fasst zu diesem Ende die weit aus der Blüthe hervorragenden Staubfäden mit den Vorderfüssen und biegt sie zu sich hin. Sie sind ihm aber zu lang, und die Staubbeutel gehen an seinem Munde vorüber. Er wiederholt sofort an einem anderen Staubfaden denselben Versuch — mit demselben Misserfolg. Diese ganze Arbeit, ebenso wie ihr Aufgeben und ihre Wiederholung, wird von ihm mit emsigster Geschäftigkeit vollzogen. Bald sucht er auf demselben Blüthen- stande nach Honig, und es gelingt ihm wohl einmal, mit dem Munde an den Eingang einer der engen Blumen- röhren zu kommen; da steckt er dann den Kopf so tief als möglich hinein und verweilt so, in derselben Weise, wie sonst beim Honigsaugen be- müht, obgleich ebenso ausbeutelos, wie beim Erstreben der Antheren, in derselben Lage viele Sekunden. Dicht daneben blüht Ranunculus repens. Auf seinen Blumen ist ein glücklicheres Exemplar derselben Käferart beschäftigt. Es bietet uns weder das komisch un- behülfliche Abarbeiten an den Antheren, noch das vergebliche Festhocken in den Nektarzugängen, sondern nur ein Bild vollendeter Geschicklichkeit dar. Denn behende eilt es von Honigschuppe zu Honigschuppe ; mit nie fehlender Sicher- heit steckt es hinter jede den verschmä- lerten Kopf, um das flach geborgene Nektartröpfchen zu lecken, und beutet so rasch und ohne eine einzige linkische Be- wegung die ganze Ranunculus-Blüthe aus. So zeigt uns dieselbe Käferart in grösster Deutlichkeit einerseits den Un- terschied der Behandlung von ihrer Anpassungsstufe entsprechenden und sie weit überschreitenden Blumen, anderer- seitsbeim Behandeln der letzteren die ver- schiedene Wirkung des Wahrnehmungs- triebes, den das Erblicken der Antheren und des Empfindungstriebes, den das Be- rühren der honigführenden Röhre erweckt. 15 * Europa, die Heimath der Arier oder Indoeuropäer. Von Dr. Fligier. Die Frage nach den ursprünglichen Sitzen der Arier ist bis jetzt keines- wegs in so ernster Weise behandelt worden, wie sie es verdient. Üonser- vative Gelehrte haben nach Asien die Ursitze der Arier verlegt, wohl nur aus dem Grunde, weil auch die bibli- sche Tradition nach Asien die Ursitze der Menschheit verlegt; denn alle wissen- schaftlichen Gründe sprechen gegen eine solche Annahme. Aus geographischen Gründen hat bereits Latham in seinem Werke: the native races ofthe Russian empire, 1854, sich gegen eine solche Annahme erklärt. Der verstorbene Sprachforscher Pictet in Genf hat hierauf die Ursitze der Arier nach dem südlichen Russ- land versetzt. Er hat darauf hingewiesen, dass die Arier gemeinsame Worte für Schnee und Winter besassen, die ande- ren Jahreszeiten verschieden benannten und dass daher in ihrem Ursitze kalte Monate mit heissen wechselten. Die Arier kannten in ihrer Urheimath Bären, ‚Wölfe, Ottern; dagegen waren ihnen südliche Thiere wie Löwen und Tiger unbekannt. Man kann daraus mit Bestimmtheit schliessen, dass die Ursitze der Arier in nördlicheren Ge- genden gelegen haben. Es lag auf der Hand, dass nur die Benennungen von Thieren und Pflanzen bei einzelnen arischen Stämmen für die Feststellung der Heimath der Arier entscheidend sein können. Es war daher von grosser Wichtig- keit, dass Sprachforscher von der Be- deutung eines Th. Benfey (in der Einleitung zu Fiek’s Wörterbuch) und Fr. Müller (Allgem. Ethnographie, Wien 1879. 2. Aufl.) sich für das süd- liche Russland als Heimath der Arier ausgesprochen haben. Professor Tomaschek in Graz sagt in der Recension der »Arier« von Poesche: Was die Frage der ältesten Heimath der Arier betrifft, so hat un- zweifelhaft Benfey das Richtigere ge- troffen, der das südlich von dem wald- reichen Wolgagürtel sich ausdehnende Acker- und Steppengebiet den noma- dischen und doch auch ackerbautrei- benden Ariern zuweist. Ich ge- traue mich aus der Sprache der Mor- dwa’s an der mittleren Wolga den Nachweis zu liefern, dass unmittelbar an den südlichen Grenzmarken dieser finnischen Völkerschaft die reinsten Arier, zumal die Litauer und der Sanskrit sprechende Stamm ihre Heimath gehabt haben müssen; doch mag sich das arische Terrain auch weiter nach West und Ost erstreckt haben: nach Westen bis zu dem Kar- pathenwall, den alsbald die Kelten, so wie die nachmaligen Illyrier, Ita- ler und Graeken zu überschreiten ': L Fligier, Europa, die Heimath der Arier ode versuchten — nach Osten hin, entlang den zahlreichen Binnensümpfen, bis zum Ural, an dessen Stromadern sich die nomadische Welt der Ostarier nach Innerasien ergoss. Der Kaukasus mit seiner allophylen, dicht geschlossenen Be- völkerungsmasse waren zu einem Durch- gangsgebiet weniger geeignet. Im Nor- den aber sassen die blonden Finnen, namentlich die Budinen oder »Was- serleute« *, die uns Herodot so treffend schildert, dass Niemand in ihnen die heutigen Wotjäken und Syrjänen verkennen kann. Ich bemerke dazu, dass überhaupt die Sprachen des ural-altaischen Stam- mes für den Ursitz der Arier in Eu- ropa den evidenten Beweis liefern. Boller (Fin. Spr. 20) vermuthet in syrjänisch »syr«, magyarisch »ser«, ce- remissisch »sra«, das Bier als eine Entlehnung von sanskrit »sura« be- rauschendes Getränk. An sanskrit pita »Fichtenart« erinnert vielleicht finnisch »petäjä« Tanne. Uralt sind die Be- ziehungen der Germanen zu den fin- nischen Völkern. Zu einer Zeit, in welcher sich das nordische und goti- sche vom germanischen Zweige noch nicht losgelöst haben, waren die Ger- manen die nächsten Nachbaın der Binnen**. Noch heute finden sich nach Prof. Bogdanow dolichokephale Schädel vom bekannten germanischen Reihen- gräbertypus in den Kurhanen bei Mos- kau. Nicht minder zahlreich finden sich in den finnischen Sprachen Entlehnungen aus dem Lettischen; ein Beweis, dass die Letten uralte Nachbarn der Fin- nen gewesen sind. Sehr auffallend sind im Finnischen Entlehnungen aus den classischen Spra- chen (man vergl. perm »pors«, veps, »porzas« das Schwein, gr. nögxog, lat. * Zeitschrift für österr. Gymn. 1579, p- 862. #* Bei Diefenbach, Völkerkunde Ost- r Indoeurop der. 217 porcus, finn. kapris »Bock>, lat. caper, finn. paimen »Hirte, gr. noumjv, finn. kampura »gekrümmte, gr. xaunvkog, finn. tuoni, lappisch tuona »Tode, finn. tuonela »Unterwelt«, gr. $avarog u. a.). Mit den weiteren Entlehnungen aus den classischen Sprachen in den finnischen Dialekten beschäftigt sich ein bewährter Forscher, dem ich nicht vorgreifen will. Von Osteuropa, der Heimath aller Arier, kamen die Hellenen. Zum Theil als Hirten, zum Theil als No- maden haben Hellenen und Italiker nach erfolgter Trennung von den übrigen Ariern lange neben einander gewohnt. Dies geht unzweifelhaft aus ihren Spra- chen hervor (vergl. &g& — aro, &oargov — aratrum, Tadoog — taurus, oig — ovis, 0dg — sus u. a.). In der panno- nischen Ebene mag die Trennung dieser beiden Stämme erfolgt sein. Die Hel- lenen haben von Norden kommend, in einzelnen Stämmen als Jonier, Aeoler, Dorer die pelasgischen und lelegischen Urbewohner unterworfen (man vergl. darüber meinen Aufsatz »die Urbevölkerung Griechenlands in der »Gaea« 1880«). Die Italiker gingen über die Alpen und liessen sich in der Ebene des Po nieder. Helbig’s Scharf- sinn ist es gelungen, auf Grund zahl- reicher archaeologischer Zeugnisse das allmälige Vordringen der Italiker in der Apenninenhalbinsel nachzuweisen. Ihre ersten Niederlassungen waren die Pfahlbauten der oberitalienischen Seen, ihre zweite Heimath die bekannten Terramare Emilia’s. Während die Illy- rier, Hellenen, Italiker und Kelten gegen Westen zogen, blieben die Erä- nier noch einige Zeit Nachbarn der ural-altaischen Völker. Magyarisch Isten »Gott« erinnert an persisch Yezdän und magyarisch Armany, der böse Geist an den bäsen iranischen europas, 1880 II, p. 219—240. Thomsen, Einfluss der germanischen Sprachen auf die finnischen. 1870. Halle. 218 Ahriman* Weitere iranische Ent- lehnungen fanden sich bei Diefenbach l. c. II. p. 238. Gleich wie die Inder durch Vermischung mit den dunklen Drawida ihren arischen Typus meistens allmälig einbüssten, sind die asiatischen FEränier keineswegs mehr reine Arier. Die Osseten im Kaukasus, Nachkom- men der in Europa zurückgebliebenen Eränier, sind im Gegensatz zu den Persern vorwiegend blond. Blond waren auch nach Ammianus Marcel- linus die Sarmaten, ihre Vorfahren. Ujfälvy** hat unlängst in Central- asien die Entdeckung gemacht, "dass die iranischen Galca’s die Nachkommen der alten Saken, im Gegensatze zu den Persern meist blond oder rothhaarig, helläugig und entschieden brachykephal sind. Bekanntlich sind die Perser durchweg schwarzhaariger, wie ich es einer privaten Mittheilung des Herrn Dr. Polack, ehemaligen persischen Leib- arztes, entnehme, und durchweg dolicho- kephal. Iranier wie Galcas und Össeten sind somit gleich den Slawen brachykephal und von hellerComplexion, während die asiatischen Iranier durch Vermischung mit Asiaten ihren ur- sprünglichen Typus vielfach eingebüsst haben. Die Meder sind nach den neuesten Forschungen Oppert’s*** nur iranisirt worden und waren ursprüng- lich mit den Akkad oder Sumir, der Urbevölkerung Mesopotamiens, verwandt. Dass die kuschitische Bevölkerung Su- sianas weiter nach Osten gereicht hat, ist nur zu wahrscheinlich. Ganze Stämme mögen in Asien die iranische Sprache angenommen haben. Dass die Galcas und die Inder aus Europa nach Asien gewandert sind, kann man auch daraus schliessen, dass die europäische Weiss- birke zu den gemeinsamen Baumnamen gehört(vergl. wakhi > furz«,sighni»bruge«, * Helbig, die Italiker in der Poebene. Leipzig, 1879. ** Ujfalvy. Le Kohistan, le Ferghanah et Kouldja. Paris, 1878. | gewohnt haben. Fligier, Europa, die Heimath der Arier oder Indoeuropäer. sanskrit »bhurga«, ossetisch »barse« Birke).f Professor Tomaschek sagt in seiner so eben citirten gehalt- vollen Schrift: Für uns steht es fest, dass, bevor Hunno-Bulgaren und andere türkische Stämme aus Turkistan nach dem Westen gezogen waren und sich zwischen die Ugro-Finnen und die Eränier als mächtiger, nicht mehr ver- rückbarer Keil eingeschoben hatten, eränische oder den Eräniern nahe stehende Stämme nicht nur im Du-ab, sondern auch an der Nordseite des Pontus und Kaukasus, in den Wolga- steppen und im südlichen Ural weithin verbreitet waren, und dass zwischen diesen Eräniern und den Ugro- Finnen mannigfache Wechselbeziehun- gen bestanden haben. Als Resultat sprachlicher, anthropo- logischer und archaeologischer Forsch- ungen ist anzusehen, dass Inder und Iranier längere Zeit in Osteuropa oder nordwestlichem Asien neben einander Den Indern folgten nach Asien die Iranier. Dass dies verhältnissmässig erst später geschehen ist, beweist der Umstand, dass sie den älteren Keilinschriften Babyloniens gänzlich unbekannt sind und erst im 9. Jahrhundert von den assyrischen Keilinschriften genannt werden. Eine zweite arische Einwanderung nach Asien erfolgte über den Hellespont. Die Ar- menier, Phryger, Lyder, sprachlich am nächsten den Iraniern stehend, folgten einander und drängten die Kaukasischen Autochthonen in die Berg- schluchten des Kaukasus zurück. Kör- perlich mögen die arischen Klein- asiaten von den Kaukasiern und Semiten vielfach beeinflusst worden sein. Die Armenier zeigen jetzt mei- stens semitische Typen. Mit den Phry- gern nahe verwandt war das zahlreiche #** ÖOppert. Le peuple et la langue des Medes. Paris, 1879. + Tomaschek. Centralasiatische Studien. (Wiener Akad. d. Wiss.) 1880. Fligier, Europa, die Heimath der Arier oder Indoeuropäer. 219 Le Volk der Thraker, aus denen sich im Laufe der Zeiten die heutigen Rumä- nen entwickelt haben. Ihnen fiel die Osthälfte der Balkanhalbinsel zu. Die nächsten Nachbarn der Iranier im südlichen Europa waren die Slawen. Dafür spricht nicht nur Brachykephalie und helle Complexion bei Slawen und reinen Iraniern wie Galca und Osseten, sondern auch eine ganze Reihe sprachlicher Erscheinungen, die bei Johannes Schmidt »Verwandt- schaftsverhältnisse der Indogermanen 1872« zusammengestellt sind. Weiter nördlich wohnten die Letten, welche, wie Diefenbach sehr treffend zeigt, von den Slawen durch weitere Räume längere Zeit getrennt gewesen sein mussten. Am weitesten gegen Norden wohn- ten die Germanen als Nachbarn der Finnen, wofür ‚die Sprache der Fin- nen den unwiderleglichen Beweis liefert. Als die am meisten gegen Norden vor- geschobenen Arier sind sie zugleich das blondeste Volk unter allen Ariern. ‘Nicht minder blond sind die einst noch weiter nördlich wohnenden Letten. Blond sind vorwiegend die Russen, auch bei den Polen Galiziens über- wiegt nach den statistischen Aufzeich- nungen der Krakauer Akademie der Wissenschaften die Zahl der Blonden. Der Typus der Südslawen ist durch die Illyrier (Albanesen) und Thraker (Rumänen) vielfach beeinflusst worden; bei ihnen herrscht der dunkle Typus vor. Unter den Westariern haben sich am frühesten die Illyrier abgezweigt und besetzten die Westhälfte der Bal- kanhalbinsel und beinahe die ganze Appenninenhalbinsel. Ihr alter Name ist in den Namen Japygier (in Unter- italien), Japoden (in Liburnien), La- pithen (am Olympos) und in dem mo- dernen Namen Ljape in Albanien er- halten. Unter dem Namen Japhet werden sie von der phönizischen Ueber- lieferung, die uns in der mosaischen Völkertafel erhalten ist, als die ältesten Arier erwähnt. Ihr zweiter National- name war Tyrrhener oder Tyrsener, der noch in der albanischen Landschaft Tirana sich erhalten hat. Auf den ägyptischen Denkmälern heissen sie Tuirsa (dh. Tyrsener). Sie waren ursprünglich arme, culturlose Hirten, oder, wie die Tuirsa, gefürchtete See- räuber. Von den Oenotrern und Peuketiern Unteritaliens, an deren illyrischer Abstammung nach den Unter- suchungen Helbig’s (in: Hermes, 1876) Niemand zweifelt, sagt Pausanias VII, 3, dass sie älter sind, als die Einführung des Ackerbaues. Auf der Balkanhalbinsel wurden sie von den Hellenen gegen Nordwesten zurück- gedrängt. Auf der Apenninenhalbinsel wurden sie allmälig von den Italikern unterworfen, denen bereits, wie dies aus Helbig’s Arbeit hervorgeht, Bronze bekannt war. Bronzeschwerter siegten über Steinmesser. Als der vierte arische Stamm erschienen im Westen die Kel- ten. Sie besetzten unter dem Namen der Bojer Böhmen und Mähren, als Noriker oder Taurisker sassen sie in den heutigen süddanubischen Pro- vinzen Oesterreichs.. Ihnen fiel auch das südwestliche Deutschland zu. Im eigentlichen Gallien erschienen sie erst spät, wie dies aus den Forschungen Müllenhoff’s über Avienus hervor- geht. Das Vordringen der Germanen können wir schon an der Hand histo- rischer Nachrichten und der zahlreichen Steinkisten und Kurhanengräber Mos- kau’s, Litauens, Volhyniens, Podoliens und Ostgaliziensverfolgen, die inneuester Zeit Dank der unermüdeten Thätigkeit der anthropologischen Commission der Krakauer Akademie der Wissenschaften näher bekannt geworden sind. Die Wanderungen der Slawen gehören einer noch späteren Epoche an. Die archaeo- logischen Forschungen über das Vor- “dringen der Slawen sind aber bis jetzt 220 bei weitem nicht zum Abschlusse ge- langt. Osteuropa ist somit eine wahre va- gina gentium — die Heimath sämmt- licher arischer Stämme. Wir haben schon gesehen, dass sprachliche Einheit der Arier keines- wegs eine anthropologische Einheit ist. Abgesehen davon, dass die asiatischen Arier ihren arischen Typus zum Theil eingebüsst haben, finden wir unter den europäischen Ariern zwei ganz ge- sonderte Typen. Vorwiegend dolicho- kephal waren die Hellenen (obwohl stark mit brachykephalen Stämmen ge- mischt), die Japygier (nach Nicolucci), wie denn noch heute die unteritalische Bevölkerung nach Calori dolichoke- phal ist, die Kymren (Nordfrankreich, Wales, Irland) im Sinne Broca’s, die Letten und besonders die Germa- nen (noch jetzt die Scandinavier). Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Mesokephal sind nach Virchow unter den Germanen die Friesen und Thüringer und vielfach die Letten. Brachykephal sind die Iranier (Galca), der zahlreiche slawische Stamm, die Kelten im Sinne Broca’s, die Nordalbanesen oder Geghen (nach Virchow), die Italiker (Mante- gazza) und die Thrako-Rumänen (nach Kopernicks und Weissbach). Die Frage, welcher von diesen beiden Typen der ursprüngliche ist, wird wohl die Anthropologie niemals lösen. Thatsache ist es, dass der sprach- lichen Einheit der Arier die anthro- pologische Verschiedenheit entgegen ge- setzt werden muss. * Zbier triadomosei do antropologis Kra- jowej. Krakau 1877—1880. 4 Bände. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Der Einfluss der Gezeiten - Reibung auf die Entwickelung des Sonnensystems. Wie unsern Lesern aus früheren Mittheilungen* bekannt ist, hat G. H. Darwin in London die von Kant inaugurirten Studien über den Einfluss der Ebbe und Fluth auf die Erdbewe- gung in bedeutend erweitertem Umfange wieder aufgenommen, und namentlich auch den Einfluss desselben Agens auf die übrigen Himmelskörper seit ihren frühesten Zuständen in Betracht gezogen. Dem zweiten Theile einer Arbeit, welche G. H. Darwin am 20. Januar 1881 der Royal-Society vorlegte, entnehmen wir nach einem von dem Autor selbst * Vergl. Kosmos VII, S. 379. gegebenen Referat in der Nature (Nr.591) folgende Einzelheiten. »Die vorausgegangenen Arbeiten handelten von den Wirkungen, welche die Gezeiten-Reibung auf die Bewegungen der Erde und des Mondes geübt haben muss, unter der Voraussetzung, dass Zeit genug verstrichen sei, um dieser Ursache ihre volle Wirkung zu geben. Es schien dabei, dass wir auf diese Weise im Stande seien, die verschie- denen Bewegungselemente der beiden Körper in einer Weise zu kombiniren, die zu merkwürdig ist, um das Produkt eines Zufalls zu sein. Der zweite Theil der vorliegenden Arbeit enthält eine Diskussion des An- theils, welchen dasselbe Agens in der Entwickelung des Sonnen-Systems im Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Ganzen, wie seiner einzelnen Theile | gespielt haben mag. Es wird zunächst erwiesen, dass die Erweiterung der Planetenbahnen, welche von der Rückwirkung der durch die Planeten auf der Sonne erzeugten Ge- zeitenreibung herrührt, sehr langsam sein muss, verglichen mit derjenigen, welche durch die von der Sonne auf den Planeten erzeugten Gezeiten-Reibung veranlasst wurde. Daher würde es viel eher annähernd correkt sein, die Sonne als einen starren Körper und die Pla- neten allein als der Gezeiten-Reibung unterworfen zu betrachten, als umge- kehrt. Es erschien aber nicht dien- lich, eine numerische Lösung des auf das Sonnensystem als Ganzes angewen- deten Problems zu versuchen. Der Effekt der Gezeiten - Reibung geht dahin, das Rotations-Moment des durch die Gezeiten gestörten Körpers in ein Umlaufs-Moment des sie veran- lassenden Körpers zu verwandeln. Des- halb wird eine numerische Schätzung des Winkel-Moments der verschiedenen Theile des Sonnensystems die Mittel liefern, eine Idee von dem Umfange der in den Bahnen der einzelnen Planeten und Satelliten, durch Gezeiten-Reibung hervorgebrachten Aenderung zu geben. Eine solche Schätzung ist demzufolge in dieser Abhandlung, mit soviel Ge- nauigkeit, als die Daten gestatten, ge- macht worden. Aus den so gefundenen numerischen Werthen. ist geschlossen worden, dass die Bahnen der Planeten um die Sonne kaum eine merkbare Erweiterung durch die Wirkungen der Gezeiten-Reibung seit der Zeit, wo diese Körper zuerst eine gesonderte Existenz erreicht hatten, erfahren haben können. Wenn man sich zu den einzelnen Untersystemen wendet, so ist es mög- lich, dass die Bahnen der Satelliten des Mars, Jupiter und Saturn um ihre Planeten sich beträchtlich erweitert haben mögen, aber es ist sicherlich 221 nicht möglich, die Satelliten in derselben Weise wie dies in den früheren Ab- handlungen für den Erdmond geschehen ist, bis zu einem Uranfang fast an die gegenwärtige Oberfläche ihrer Planeten rückwärts zu verfolgen. Die in der Abhandlung mitgetheil- ten numerischen Werthe zeigen einen so ausgesprochenen Gegensatz zwischen dem Fall der Erde mit ihrem Monde und demjenigen der andern Planeten mit ihren Satelliten, dass a priori als wahrscheinlich geschlossen werden kann, die modi der Entwickelung seien be- trächtlich verschieden gewesen .....- Es muss angenommen werden, dass noch irgend eine andere bedeutende Ursache zu Aenderungen ausser der Gezeiten-Reibung bei der Entwickelung des Sonnensystems und der planetari- schen Untersysteme betheiligt gewesen ist. Der Nebularhypothese von Laplace zufolge, ist die Verdichtung der Him- melskörper jene Ursache gewesen. Unter Annahme dieser Hypothese, geht der Verfasser dann dazu über, die Art zu betrachten, in welcher Zusammenziehung und Gezeiten - Reibung wahrscheinlich zusammengewirkt haben mögen. Eine numerische Vergleichung zeigt, dass trotz des höheren Alters, welches die Nebular-Theorie den äussern Pla- neten zutheilt, die Wirkungen der solaren Gezeiten-Reibung auf die Verminderung der planetarischen Rotation dennoch aller Wahrscheinlichkeit nach für die entfernteren Planeten beträchtlich ge- ringer gewesen sein muss, als für die näheren. Es ist indessen bemerkens- werth, dass die den Verzögerungsmodus der Mars-Rotation durch die solare Gezeiten - Reibung ausdrückende Zahl, nahezu dieselbe ist, wie die entspre- chende Zahl für die Erde, trotz des grössern Abstandes des Mars von der Sonne. Dieses Ergebniss ist bemerkens- werth in Verbindung mit der Thatsache, dass der innere Marsmond in einer viel kürzeren Zeitperiode umläuft, als seine 222 eigene Rotation beträgt; denn es wird (wie in einer früheren Abhandlung ge- schlossen wurde) die solarische Gezeiten- Reibung hinreichend gewesen sein, die planetarische Rotation zu reduciren, ohne die Umlaufsbewegung des Satel- liten direkt zu beeinflussen. Es wird darauf gezeigt, dass die solarische Gezeiten-Reibung wahrschein- lich eine gewichtigere Veränderungs- Ursache war, zu einer Zeit, wo die Planeten weniger verdichtet waren, als sie jetzt sind. Somit können wir die jetzige Wirkungsweise der solarischen Gezeiten-Reibung nicht als Massstab derjenigen nehmen, welche in aller Ver- gangenheit wirksam gewesen ist. Auch wird gezeigt, dass wenn eine planetarische Masse einen grossen Satel- liten erzeugt, die planetarische Rotation nach dem Wechsel rapider vermindert wird, als vorher; nichts destoweniger wirkt die Erzeugung eines solchen Satel- liten erhaltend auf das Kraftmoment, welches dem planetarischen Untersystem innewohnt. Dieser Schluss wird durch die vergleichsweise langsame Rotation der Erde, und durch den grossen Be- trag an Winkelmoment, welcher in dem System von Mond und Erde vorhanden ist, illustrirt. Eine Untersuchung der Art, in wel- cher die Differenz der Abstände der verschiedenen Planeten von der Sonne die Wirkung der Gezeiten-Reibung be- einflusst haben mag, leitet zu einer Ursache für die beobachtete Verthei- lung der Satelliten im Sonnensystem. Der Nebular-Hypothese zufolge zieht sich eine planetarische Masse zusammen, und rotirt in dem Grade, wie sie sich zusammenzieht, schneller. Die Schnellig- keit der Umdrehung veranlasst ihre Form unbeständig zu werden, oder vielleicht, was wahrscheinlicher erscheint, löst sich allmälig ein Aequatorialgürtel davon ab; es ist unwesentlich, was von beiden Möglichkeiten thatsächlich stattfindet. In jedem Falle gestattet die Ablösung Kleinere Mittheilungen und Journalschau. jenes Theils der Masse, welcher vor der _ Aenderung das grösste Winkelmoment besass, dem Centraltheile wieder eine planetarische Gestalt anzunehmen. Die ZusammenziehungundRotationszunahme schreiten unaufhörlich vorwärts, bis ein anderer Theil losgelöst wird und so fort. So kehrt dort in Zwischenräumen eine Reihe von Epochen der Nichtstabi- lität und des abnormen Wechsels wieder. Nun muss die Gezeiten-Reibung den Schritt der von der Zusammenziehung herrührenden Rotationszunahme mässi- gen, und wenn daher Gezeiten-Reibung und Zusammenziehung gemeinsam in Wirkung sind, müssen die Epochen der Nichtstabilität seltener wiederkehren, als wenn die Zusammenziehung allein wirkte. Wenn die Verlangsamung durch die Gezeiten gross genug ist, wird der von der Zusammenziehung herrührenden Ro- tationszunahme so weit entgegengewirkt, um niemals eine Epoche von Nicht- stabilität eintreten zu lassen. Die Grösse der Gezeiten-Reibung nimmt nun schnell ab, wenn wir uns von der Sonne entfernen und desshalb stehen diese Betrachtungen im Einklange mit dem, was wir im Sonnensystem beobachten. Denn Merkur und Venus haben keine Satelliten, und es ist ein progressives Wachsthum in der Zahl der Satelliten vorhanden, wie wir uns von der Sonne entfernen. Mag dies nun die wahre Ursache der beobachteten Vertheilung der Satel- liten unter den Planeten sein, oder nicht, so ist es doch merkwürdig, dass dieselbe Ursache auch eine Erklärung liefert für diejenige Differenz zwischen der Erde mit dem Monde und den an- deren Planeten mit ihren Satelliten, welche der Gezeiten-Reibung gestattet hat, das Hauptagens der Veränderung bei den ersteren, aber nicht bei den letzteren zu sein. In dem Falle der sich zusammen- ziehenden Erdmasse müssen wir anneh- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. men, dass hier eine lange Zeit ein an- näherndes Gleichgewicht zwischen der durch die solarische Gezeiten-Reibung bewirkten Verzögerung und der durch die Zusammenziehung bewirkten Be- schleunigung vorhanden war, und dass eine Epoche von Nichtstabilität erst eintreten konnte, als die planetarische Masse sich nahezu auf ihre jetzigen Dimensionen zusammengezogen hatte. Wenn die Zusammenziehung der planetarischen Masse vor der Genesis des Satelliten nahezu vollendet ist, so wird eine von der vereinten Wirkung der Sonne und des Satelliten bewirkte Gezeiten-Reibung künftig die grosse Ur- sache der Veränderung in dem System sein, und so wird die Hypothese, dass sie die alleinige Ursache der Aenderung ist, eine annähernd genaue Erklärung für die Bewegung des Planeten und Satelliten zu jeder folgenden Zeit geben. In den früheren Arbeiten dieser Reihe ist gezeigt worden, dass diese Bedingung bei der Erde und dem Monde erfüllt wird. Die Abhandlung schliesst mit einer kurzen Recapitulation derjenigen That- sachen im Sonnen-System, welche einer Erklärung durch die Gezeiten-Wirkung zugänglich sind. Diese Untersuchungs- Reihe liefert keine Gründe für eine Ver- werfung der Nebular-Hypothese, aber während sie Beweise zu Gunsten der Hauptzüge dieser Theorie beibringt, führt sie Modificationen von beträcht- licher Tragweite ein. Die Gezeiten-Reibung ist eine Ver- änderungsursache, auf welche Laplace’s Theorie keine Rücksicht nahm*, und obgleich die Wirksamkeit jener Ursache als hauptsächlich einer späteren Periode, als die in der Nebularhypothese erör- terten Ereignisse angehörend betrachtet werden muss, so ist ihr Einfluss doch * Anm. der Red. Laplace hat die verlangsamende Wirkung der Gezeiten-Rei- bung übersehen, trotzdem sie Kant lange vor ihm ausführlich erörtert hatte. In neuerer 223 von grosser und in einem Falle sogar von überwiegender Tragweite für die Bestimmung desgegenwärtigenZustandes der Planeten und ihrer Satelliten ge- wesen. « Die Verbreitung des Alkohols in der Natur. Der Chemiker A. Müntz hat in einer früheren Arbeit gezeigt, dass man vermittelst der sehr bekannten Reaktion, welche in einer Umwandlung des Alko- hols inJodoform besteht, äusserst geringe Spuren von Alkohol nachweisen kann. Diese Reaktion kann somit den empfind- lichsten der Mineralchemie verglichen werden. Ihre ausserordentliche Empfind- lichkeit hat den Genannten veranlasst, diese Untersuchungsmethode auf das Studium der Verbreitung des Alkohols in der Natur anzuwenden. Im frischen Schnee- und Regenwasser lassen sich, wenn es schnell aufgefangen und ab- destillirt wird, ebensowohl Alkoholspuren nachweisen, als wenn es einige Stunden gestanden hat. Da der Alkohol im Regenwasser vorhanden ist, muss man seine Gegenwart im Dampfzustande in der Luft zugestehen, und es scheint, dass dieser Körper, wenigstens zum Theil, den Kohlenwasserstoff- Antheil darstellt, welchen die Untersuchungen von De Saussure und Boussin- gaultin der Luft anzeigten. Berthe- lot hat unter dem Einflusse verschie- denartiger Fermente sehr verschiedene Substanzen Alkohol bilden sehen. Man kann also in Folge der Verwesung der organischen Materie, eine fortwährende Alkoholproduktion in der Natur anneh- men. Wenn diese Deutung richtig ist, muss man diesen Körper auch in er- kennbaren Verhältnissen im Boden er- warten und der Versuch bestätigte diese Zeit hatte sie auch Robert Mayer von Heilbronn zum Gegenstand eingehender Unter- suchungen gemacht. Vergl. Kosmos VII, S. 379, 224 Voraussetzung durchaus (Revue Scien- tifique 19. März 1881, p. 379). Das Vermögen der Pflanzen ihre Blätter senkrecht zum einfallenden Lichte zu stellen bildete den Gegenstand eines Vortrages, welchen Francis Darwin kürzlich in einer Sitzung der Linne@’schen Gesell- schaft zu London hielt, und von welchem wir hier einen in W. S. Dallas’ Po- pular Science Review (January 1881) erschienenen Auszug wiedergebenwollen: Das Verhalten der Blätter in Be- zug zum Lichte kann durch die Cotyle- donen eines Rettig-Sämlings erläutert werden. Wenn derselbe von obenher beleuchtet wird, werden die Cotyle- donen horizontal ausgebreitet, und be- finden sich dann rechtwinklig zur Rich- tung des auffallenden Lichtes. Wenn der Sämling dann an ein Fenster ge- stellt wird, so dass er schräg von oben beleuchtet wird, und wenn das Stämm- chen (Hypokotyl) verhindert wird, sich zu beugen, werden die Cotyledonen sich selbst den veränderten Bedingungen durch Bewegungen in einer vertikalen Ebene anpassen. Das dem Lichte zu- gekehrte Samenblättchen wird sich sen- ken, während das andere sich heben wird, und so werden beide wiederum einen rechten Winkel mit dem einfal- lenden Lichte bilden. Zwei Theorieen sind aufgestellt wor- den, um diese Eigenschaften der Blätter zu erklären. Die erste ist diejenige von Frank*, welche den Blättern und an- deren Organen eine specifische Empfind- lichkeit gegen das Licht zuschreibt, welche als »Transversal - Heliotropis- mus« oder Diatropismus** bezeichnet wurde. Genau wie ein gewöhnlicher . * Die natürliche wagerechte Richtung von Pflanzentheilen. 1870. ** Darwin, Das Bewegungsvermögen der Pflanzen, Deutsch von J. Vietor Carus, 1881, pag. 374, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. heliotropischer Zweig eine innere Ten- denz besitzt, sich zum einfallenden Licht parallel zu stellen, so hat ein diahelio- tropisches Organ eine innewohnende Tendenz, sich im rechten Winkel gegen die Richtung des Lichtes zu stellen. Die beiden Organklassen unterscheiden sich von einander genau so, wie krie- chende Rhizome von gewöhnlichen Sten- geln, die Rhizome streben sich hori- zontal unter der Erde auszubreiten, während die Stengel über der Erde senkrecht aufwärts wachsen ***. Eine andere Theorie ist durch De Vriesf aufgestellt worden, dessen An- sichten von Sachsff mit Zusätzen oder Modifikationen angenommen wordensind. Nach diesen Ansichten ist die Annahme einer besonderen Art von Heliotropis- mus unnöthig, da die Erscheinungen aus dem gewöhnlichen Zusammenwirken von Heliotropismus und Geotropismus herzuleiten seien. So ist es in dem Falle des von oben beleuchteten Rettig- Sämling’s, wenn die Cotyledonen aphe- liotropisch (d. h. negativ heliotropisch) und apogeotropisch (d. i. negativ geo- tropisch) sind, möglich, dass sie durch diese einander entgegengesetzten Streb- ungen im Gleichgewicht erhalten werden können. Die Tendenz, sich von einem senkrechten Lichte wegzubewegen, wird die Cotyledonen abwärts zur Erde krüm- men, und der Apogeotropismus, d. h. die Tendenz, sich vom Erd-Mittelpunkte fortzubewegen, könnten einander genau das Gleichgewicht halten, so dass die Cotyledonen horizontal bleiben. Ausser den verschiedenen geotropischen und heliotropischen Tendenzen gibt es an- dere Wachsthums-Arten, welche in die Kräfte-Combination eintreten mögen. In einigen Fällen ist ein natürliches Uebergewicht von Längsspannung der **#= Elfving, in Sachs’ Arbeiten des Würz- burger botanischen Institutes 1879. + Sachs’ Arbeiten I, 1872. +r Sachs’ Arbeiten II, 1879. Kleinere Mittheilungen und Jonrnalschan. obern Seite des Blattstiels entlang vor- handen, so dass in Folge von in der Pflanze auftretenden Impulsen, eine Tendenz zur Abwärtskrümmung für das Blatt vorhanden ist, welche Epinastie genannt wird, die entgegengesetzte Ten- denz wird als Hyponastie bezeichnet. Nach den Theorieen von De Vries und Sachs kann die Epinastie durch Heliotropismus und Geotropismus, die Hyponastie durch Apheliotropismus und Apogeotropismus aufgewogen werden, und alle diese entgegengesetzten Kräfte können sich zur Herbeiführung eines Gleichgewichts kombiniren. Die Aufgabe der vorliegenden Ab- handlung ist nun, den relativen Werth der beiden beschriebenen Theorieen von Frank und De Vries-Sachs zu unter- suchen. Die angewandte Methode bestand darin, die zu beobachtenden Pflanzen an eine horizontale Spindel, die durch ein Uhrwerk in langsamer Rotation erhalten wurde, zu befestigen. Dieses Klinostat genannte Instrument ist von Sachs zur Beobachtung des gewöhnlichen He- liotropismus angewendet worden. Das Licht wurde parallel zur Rotations- Achse zugelassen und die Pflanzen wur- den so einer beständigen seitlichen Beleuchtung unterworfen, während sie von dem störenden Einflusse der Gra- vitation befreit sind, denn in Folge ihrer beständigen langsamen Rotation ist kein Grund vorhanden, warum sie durch die Gravitation mehr nach der einen Richtung als nach einer andern gebeugt werden sollten*. Nach dem- selben Prineip ist das Verhalten der sich zu dem einfallenden Lichte hori- zontal stellenden Blätter studirt worden. Wenn eine Pflanze mit horizontal aus- gebreiteten Blättern, die von obenher beleuchtet worden war, auf einer lang- sam sich drehenden Welle so befestigt wird, dass die Achse der Pflanze der * Sachs’ Arbeiten Il, 1879. 225 Drehungsachse und der Richtung des einfallenden Lichtes parallel ist, werden wir ein Mittel haben, die oben erwähn- ten, einander gegenüberstehenden Theo- rieen zu prüfen. Die Pflanzenblätter werden noch von Licht erleuchtet, wel- ches sie unter rechtem Winkel trifft. sie müssen daher, wenn Frank’s Theorie die Richtige ist, in dieser Stellung ver- bleiben. Aber wenn die Ansichten von De Vries und Sachs richtig sind, müssen die Blätter, nachdem die Wir- kung der Schwerkraft, also einer der Kräfte, die sie im horizontalen Gleich- gewicht hielten, ausser Wirkung gesetzt ist, nicht mehr im Stande sein, unter rechtem Winkel zum einfallenden Lichte zu verharren. Es wurde eine beträcht- liche Anzahl von Versuchen mit der Feigwurz (Ranunculus Ficaria) ange- stellt, deren Resultate entschieden zu Gunsten der Frank’schen Ansichten ausfielen. Die Blätter der Feigwurz sind zu- weilen äusserst epinastisch, so dass sie gegen den Boden drücken, und wenn eine Pflanze herausgegraben wird, ge- schieht es oft, dass die von dem Wider- stande des Bodens befreieten Blätter sich beinahe senkrecht abwärts krüm- men. Wenn solch’ eine Pflanze in der oben beschriebenen Stellung auf dem Klinostaten befestigt wird, werden sich die Blätter vom Lichte weg wenden, so dass wenn die Blätter apheliotro- pisch wären, wie nach De Vries’ Theo- rie erwartet werden müsste, dieselben von dem Fenster abgewendet bleiben müssten. Aber dies ist nicht der Fall, sie bewegen sich vorwärts, bis sie im nahezu rechten Winkel zum Lichte stehen und kommen dann zur Ruhe. Wenn dagegen eine Feigwurz in’s Dunkle gestellt wird, erheben sich ihre Blätter, bis sie stark über den Horizont ge- neigt sind; wenn die Pflanze dann auf den Klinostaten gebracht wird, dann passen sich die Blätter, welche jetzt natürlich gegen das Licht geneigt sind, 226 von selbst der neuen Lage an, und krümmen sich rückwärts, bis sie im rechten Winkel gegen das Licht stehen. Mithin können die Blätter weder helio- tropisch noch apheliotropisch genannt werden; wir sind zu glauben gezwungen, dass sie unter dem Einflusse des Lichtes fähig sind, sich in jeder Richtung zu bewegen, welche erforderlich ist, sie in rechtwinklige Stellung zum Lichte zu bringen. Die übrigen Experimente mit R. Ficaria, deren Einzelnheiten wir übergehen, leiteten zu demselben all- gemeinen Ergebnisse. Ausser einigen Beobachtungen an Vicia, Cueurbita und Plantago, wurde eine Reihe von Ver- suchen mit Kirschsämlingen angestellt und diese führten zu etwas verschie- denen Ergebnissen. Eine in freier Luft wachsende Kirschpflanze, hält ihre Blät- ter nahezu horizontal, und wenn sie wie oben beschrieben, auf den Klino- staten gebracht wird, sind die Blätter ausser Stande, sich im rechten Winkel zum Lichte zu halten, krümmen sich vielmehr abwärts, bis sie mit dem Stämmcehen parallel werden. Die Blatt- stielchen sind erweislich nicht aphelio- tropisch, sondern stark epinastisch, so dass sie in der beschriebenen Weise sich bewegen, wenn der entgegenwir- kende Apogeotropismus ausser Wirkung gesetzt ist. ‘ Es ist daher klar, dass die horizon- tale Stellung der Blätter normal wach- sender Kirschsämlinge hauptsächlich von dem Gleichgewicht zwischen Epinastie und Apogeotropismus in Einklang mit den Ansichten von De Vries und Sachs abhängen muss. Aber da diese Kräfte offenbar nicht das Vermögen erzeugen können, sich selbst der Rich- tung des einfallenden Lichtes anzu- passen, wie es die Kirsche besitzt, so müssen wir annehmen, dass eine Art von Heliotropismus dabei in Mitwirkung tritt. Die Ansicht, zu der die erwähn- ten Untersuchungen mit höchster Wahr- scheinlichkeit führen, ist, dass Diahelio- Kleinere Mittheilangen und Journalschau. tropismus (Transversal-Heliotropismus) den bei der Sache hauptsächlich wir- kenden Einfluss darstellt. Bei der Feig- wurz haben wir gesehen, dass die Licht- empfindlichkeit stark genug ist, die Stel- lung der Blätter zu bestimmen, ‘obgleich das natürliche Gleichgewicht durch Auf- hebung der Wirkung der Schwerkraft gestört ist. Es erscheint wahrschein- lich, dass ein wesentlich ähnlicher Stand der Dinge für den Fall der Kirsche eilt. Wenn die Pflanze im normalen Wachsthum ist, bleibt es der Epinastie und dem Apogeotropismus überlassen, ein annäherndes Gleichgewicht zu er- zeugen, während das Endresultat durch den Reiz des Lichtes bestimmt wird; aber wenn das Gleichgewicht durch die Stellung der Pflanze auf den Klino- staten gestört wird, ist der Lichtreiz nicht mehr stark genug, um einen Gleichgewichtszustand hervorzubringen. Diese Ansicht ist dieselbe, wie sie im »Bewegungsvermögen der Pflanzen« ge- geben wurde, und steht im Einklange mit dem dort dargelegten Grundsatz, dass die hauptsächlichsten Bewegungen der Pflanzen von Modifikationen der eircumnutirenden Bewegungen herrüh- ren. In derselben Sitzung der Linne@’schen Gesellschaft las Francis Darwin eine Arbeit über Die Theorie des Wachsthums von Pflanzen- abschnitten, über welche wir derselben Quelle fol- genden Auszug entnehmen. Wenn ein Abschnitt, z. B. ein Stück von einem Weidenzweige, in für das Wachsthum günstige Umstände gebracht worden ist, erzeugt er an seinem untern Ende Wurzeln, während die Knospen an sei- nem obern Ende zu Zweigen auswach- sen. Die Experimente Vöchtings* über das Wachsthum von Zweigschnitten wur- *Organbildung im Pflanzenreich. Bonn 1878. a e Kleinere Mittheilungen und Journalschan. >97 den so angestellt, dass Stücke von Aesten, Zweigen u. s. w. in weiten dunklen Krügen aufgehängt wurden, deren Luft beständig durch nasses Filtrirpapier feucht erhalten wurde. Vöchting fand als allgemeines Ergebniss, dass eine starke Tendenz der Wurzeln vor- handen ist, an dem basalen Ende, d.h. dem der Mutterpflanze nächsten Schnitte aufzutreten, gleichviel ob der Abschnitt mit seiner Spitze nach oben, oder nach unten in das Glasgefäss gehängt wurde. Vöchting glaubt, dass das Wachsthum der Wurzeln an der Basis, und der Zweige an der Spitze eines Abschnitts hauptsächlich durch eine innewohnende ererbte Wachsthumtendenz bedingt wird. Wenn das Messer einen Zweig in zwei Abschnitte theilt, trennt er eine Masse von identisch gebauten Zellen in zwei Theile, von denen der eine einen Theil der Spitze des untern und der andere einen Theil der Basis des obern Setz- lings abgiebt. Und unter annähernd gleichen Umständen würde sich ein Theil dieser Zellen zu Wurzeln, der andere zu Adventivknospen entwickeln. Es ist Vöchting’s Ansicht, dass die mor- phologische Stellung dieser Zellgruppen, die Thatsache, dass die eine die Basis, die andere die Spitze eines Setzlings bildet, hauptsächlich den Gang ihrer nachfolgenden Entwickelung bestimmt. Die Idee kann, populär ausgedrückt, so wiedergegeben werden, dass man sagt, jeder der Abschnitte, in welche ein Zweig getheilt wurde, sei im Stande, seine Basis von seiner Spitze zu unter- scheiden, und könne sagen, wo er das Wachsthum von Wurzeln und Knospen vorzunehmen habe, vermittelst eines von den äussern Kräften (Gravitation und Licht) unabhängigen innern An- triebes. Die Theorie, welche Sachs in sei- ner Abhandlung über Stoff und Form der Pflanzenorgane (Arbeiten u. S. W. .1880, p. 452) aufgestellt hat, ist der- jenigen Vöchting’s völlig entgegen- gesetzt. Sachs meint, dass Vöchting’s »morphologische Kraft« nicht eine erb- liche Tendenz, sondern eine durch die Wirkung äusserer Kräfte während des Wachsthums der bildenden Zellen er- zeugte Tendenz sei. Somit glaubt Sachs, dass die Schwerkraft, indem sie auf die sich entwickelnden Zellen eines Organs einwirkt, darin eine Prä- disposition oder einen fortdauernden Trieb erzeugt, der sich in den Folgen ausprägt, welche Vöchting einem erb- lichen Vermögen zuschreibt. Die Art und Weise, in welcher Sachs dieSchwer- kraft wirkend ansieht, ist nicht nur an sich, sondern auch als Modifikation einer Theorie Du Hamel’s interessant. Es wird angenommen, dass eine stoff- liche Verschiedenheit nothwendig die Formverschiedenheit begleitet und dass dementsprechend die Stoffe, aus denen die Wurzeln gebildet werden, chemisch verschieden seien, von denen, welche die Zweige versorgen. Sachs’ Theorie nimmt an, dass das Wachsthum von Wurzeln und Knospen an bestimmter Stelle, durch die Vertheilung der Wur- zeln- und Zweig-bildenden Stoffe be- stimmt wird, und dass die Vertheilung dieser Stoffe durch die Schwerkraft regulirt wird. Das Wurzelmaterial ist in gewissem Sinne geotropisch und fliesst niederwärts, während das Zweigmaterial die entgegengesetzte Tendenz besitzt. Aber es wird nicht angenommen, dass diese Bildungsstoffe einfach geotropisch und apogeotropisch seien; die Tendenz des Wurzelstoffs, zur Basis eines Zwei- ges zu fliessen, wird ebenso ausgeführt, wenn der Zweig in einen abwärts hän- genden Steckling verwandelt ist, so dass der Wurzelstoff aufwärts zur Basis des Setzlings strömen muss, weil jenes Ende ursprünglich niederwärts stünde und umgekehrt bei dem Zweigbildungsstoff. Die Beobachtungen an der Brom- beere (Rubus fruticosus), welche den Gegenstand der vorliegenden Abhand- lung ausmachen, wurden mit der Ab- 228 sicht ausgeführt, für einen besonderen Fall zu entscheiden, ob das Wachsthum durch eine morphologische Kraft, oder durch die Nachwirkung der Gravitation bestimmt werde. Die langen, unfruchtbaren Schöss- linge der Brombeere sind dafür bekannt, an ihren Enden leicht Wurzeln zu treiben. Die Endknospe wird so während des Winters beschützt und der in dem keu- lenartig verdickten Ende des Zweiges enthaltene Nahrungsvorrath der Zweige bildet eine Triebstelle für neues Wachs- thum im Frühjahr. Gewöhnlich wachsen die langen hängenden Zweige senkrecht abwärts, um den Boden zu erreichen und Wurzeln zu bilden. Es könnte desshalb angenommen werden, dass die Schwerkraft ihr Wachsthum an dem untern Ende des Zweiges bedingt, gerade wie an einem Steckling von einem aufrechten Weidenzweige, woselbst die Wurzeln da wachsen, wo früher das untere Ende war. Aber unter ge- wissen Umständen an Brombeeren an- gestellte Beobachtungen zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Wenn Brom- beeren an einem steilen Abhang wachsen, wächst die Mehrzahl wie sonst abwärts, oder sie wuchern mehr oder weniger horizontal längs des Hangs und end- lich wenden sie sich niederwärts. Aber eine gewisse Anzahl von Zweigen wächst bergan, und einige von diesen bilden Wurzeln an ihrer Spitze. Wenn wir daher an demselben Pflanzen-Individuum einige Zweige an dem physikalisch niedrigeren, und andere an dem obern Ende Wurzeln bilden sehen, so wer- den wir sicher sein, dass die Ver- theilung des Wurzelwachsthums bei der Brombeere nicht durch Schwerkraft oder ihre Nachwirkung bestimmt wird. Wir müssen annehmen, dass da ein mor- phologischer Impuls leitend ist, welcher auf die Erzeugung von Wurzeln an der Zweigspitze hinwirkt, ob nun ihr Wachs- thum auf- oder abwärts gewesen ist. Um alle Zweifel zu beseitigen, wurde Kleinere Mittheilungen und Jonrnalse han. ein Brombeerzweig mit der Spitze auf- wärts an einem senkrechten Stab fest- gebunden, und letztere mit feuchtem Moose und wasserdichtem Zeuge um- geben; unter diesen Umständen ent- wickelte sich ein üppiges Wurzelwachs- thum am Zweigende. Dieses Ergebniss zeigt mit den Beobachtungen von an steilen Abhängen wachsenden Brom- beeren verbunden, endgiltig, dass ein innerer Antrieb oder eine morpholo- gische Kraft den Wurzelausschlag bei der Brombeere regelt. Wenn ein Steckling von einer Brom- beere gemacht wird, so besteht das einzige Wachsthum, welches stattfindet, in der Entwickelung der Achselknospen an der Spitze des Stecklings. Unter gewissen Umständen nehmen diese Seiten- schosse eine wurzelbildende Thätigkeit auf. Sie erscheinen im Wachsthum gehindert; wenn sie 10—12 Mm. in der Länge und 3—4 Mm. oder mehr in der Breite erreicht haben, nehmen sie eine eigenthümliche keulenartige Form an, indem sie an der Spitze dicker als an der Basis, und mit rudimentären schuppenartigen Blättern versehen sind, zwischen welchen eine Anzahl von ver- hältnissmässig grossen Wurzeln ent- springt. Um zu entscheiden, ob die Produktion dieser wurzelerzeugenden Schösslinge durch Gravitation oder durch eine morphologische Kraft bestimmt wird, wurden Stecklinge von Zweigen gemacht, deren Wachsthumsrichtung über den Horizont ging. Solche Steck- lmge wurden mit der Spitze nach oben aufgehängt, und es ergab sich, dass die meisten Spitzenknospen unter diesen Umständen im Stande waren, sich zu dem wurzelerzeugenden Zweigtypus zu entwickeln. Aehnliche wurzelnde Seiten- schosse werden durch Stecklinge erzeugt, welche unter dem Horizonte gewachsen sind, und es ist demnach klar, dass Gravitation bei dieser Art von Wurzel- erzeugung nicht die bestimmende Ur- sache ist. Wenn das Ende eines. Zwei- Kleinere Mittheilungen und Joumnalschan. ges beschädigt wird, wie oft geschieht, wenn ein Brombeerstrauch in der Nähe eines Fusspfades wächst, bringt die oberste Achselknospe, oder mehrere der- selben, Zweige hervor, welche anstatt des Hauptzweiges Wurzeln schlagen. Entweder wird dabei ein gewöhnlicher Zweig erzeugt, welcher nach einem ge- wissen Zeitverlauf an seiner Spitze Wurzeln erzeugt, oder es werden unter gewissen Umständen die verkümmerten, keulenförmigen, wurzelerzeugenden Sei- tenschosse entwickelt, deren ganze Bild- ung zur Wurzelerzeugung bestimmt er- scheint. Es ist daher klar, dass die Pro- duktion solcher Schosse bei Stecklingen derselbe Prozess ist, welcher im Natur- zustande bei verletzten Zweigen ein- tritt, ein Vorgang, welcher den Zweig befähigt, die Funktion auszuüben, dessen normale Vollbringung abgeschnitten war. Und diese Thatsache befähigt uns zu erkennen, in wiefern ein morphologischer Wachsthums-Impuls besser für die all- fälligen Erfordernisse geeignet ist, als irgend eine mögliche Abhängigkeit von der Gravitation als leitenden Kraft. Wenn das Zweigende beschädigt ist, so ist es klar, dass wenn ein Zweig zur Weiterführung seiner Funktion ent- wickelt werden soll, dieser die beste Aussicht auf Erfolg haben wird, wenn er von der bereits vor ihrer Beschädig- ung gewonnenen Position der Spitze hervortritt. Deshalb wird die Knospe, welche der beschädigten Spitze am nächsten steht, am geeignetsten sein, zu einem neuen Zweige entwickelt zu werden. Und dies ist dasselbe, als wenn man sagt, die Stelle, wo die neue Ent- wickelung stattfinden soll, sei morpho- logisch und nicht durch Gravitation bestimmt. So ist das Verhalten der Steck- linge beiderBrombeereeineWiederholung des normalen Restaurationsprozesses einergestörtenPflanzen-Funktion; in wie- fern dies bei andern Pflanzen ebenso ist, muss für jetzt unentschieden bleiben. Kosmos, V, Jahrgang (Bd. IX). 229 Die Embryologie der Lungenschnecken hatte, obwohl sie bereits durch eine grosse Anzahl von Autoren (Lacaze- Duthiers, Ray-Lankester, v. Ihe- ring, Bobretzky u. a.) studirt worden war, immer noch Lücken über einige Punkte gelassen, welche Hermann Fol durch eine sehr sorgfältige Arbeit aus- zufüllen gesucht hat. Wir wollen hier nur die Schlüsse wiedergeben, die er aus seinen Beobachtungen hinsichtlich der Analogieen der Mollusken mit den Würmern gezogen hat. Nach Fol’s Ansicht lassen sich die Larven der Mollusken einzig dem Kopfstücke der Anneliden-Larven oder einem vollstän- digen Räderthier vergleichen. Die Mol- lusken sind nicht segmentirte Thiere, deren Segmente nachträglich wieder mit einander verschmolzen wären, son- dern Thiere, welche einfach bleiben, und nicht einmal ein Rudiment des Metameren-Sprosses der Anneliden dar- bieten; während Rabl eine Analogie zwischen den sehr jungen Schnecken- larven und einem Wurm mit drei Me- tameren-Larven zu finden glaubte. Am Schlusse seiner Arbeitmacht Fol darauf aufmerksam, wie sehr alle neuern Unter- suchungen zu Gunsten einer Wieder- herstellung der Würmer-Klasse Linn &'s sprechen. Er glaubt, dass das All- gemein-Resultat der neueren embryo- genetischen Studien dahin geht, unter den Thieren drei grosse Abtheilungen aufzustellen: 1) die Würmer, Bryozoen, Brachiopoden, Mollusken, Echinodermen. 2) Die Arthropoden. 3) Die Chordo- nier (Tunikaten und Vertebraten). (Ar- chives de Zoologie exp@rimentale 1880, I und II.) Das Geruchsorgan der Insekten ist der Gegenstand mehrerer neuerer histologischen und physiologischen Stu- dien von Gustav Hauser in Erlangen gewesen, welche gezeigt haben, dass 16 230 Sitz desselben in den Antennen liegt. Wir wollen hier zunächst einige Experimente davon wiedergeben. Es wurden mit Terpentinöl oder Essigsäure befeuchtete Glasstäbchen nach einander der einer grossen Anzahl von Insekten genähert. Dieselben offenbarten sehr deutlich, dass sie diese scharfriechenden Stoffe wahrnahmen, denn sie bewegten ihre Antennen und kehrten plötzlich um. Nachdem ihnen jedoch die An- tennen weggeschnitten worden waren, gaben dieselben Insekten kein Zeichen irgend einer Sinnesempfindung, wenn man sie auch in die unmittelbare Nähe des Terpentins oder der Essigsäure brachte. Ebenso wurden Fliegen, denen man das dritte Glied ihrer Antennen weggeschnitten hatte, nicht mehr von dem faulen Fleisch angezogen, welches vorher eine grosse Anziehungskraft auf sie ausgeübt hatte; sie flogen wie vor- her umher, aber sie witterten das Fleisch nicht mehr aus einiger Entfernung. Ebenso wirkte eine Umhüllung der An- tennen mit einem dünnen Ueberzug von Paraffin. Die histologische Untersuchung führte zu folgenden Schlüssen: »Das Geruchsorgan besteht bei den Insekten, d. h. den sämmtlichen Orthoptern, Pseu- doneuroptern, Diptern und Hymenoptern, ferner bei einem grossen Theile der Lepidoptern, Neuroptern undColeoptern l. aus einem starken, vom Gehirn- ganglion entspringenden Nerv, welcher in den Antennen dieser Thiere verläuft. 2. Aus einem percipirenden Endapparat, welcher ausHypodermis hervorgegangene Stäbchenzellen darstellt, mit welchen die Fasern jener Nerven in Verbindung treten. 3. Aus einem Stütz- oder Hilfs- apparat, welcher durch mit seröser Flüssigkeit gefüllte Gruben oder Kegel, die als einfache Ausstülpungen der Epidermis zu betrachten sind, gebildet wird.« Dabei konnte konstatirt werden, dass das Organ am höchsten bei den- jenigen Insekten entwickelt ist, welche es zur Aufsuchung ihrer Nahrung ge- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. brauchen. Die höchsten Zahlen der Geruch-Gruben und Kegel finden sich bei Wespen und Bienen; so hat die Honigbiene 14000— 15000 Gruben und ca. 200 Kegel an jeder Fühlergeissel, die Blattwespen dagegen viel weniger. Ebenso haben die Fleisch- und Koth- fliegen 60— 150 Geruchsgruben an jedem Fühler, während bei den auf Pflanzen lebenden Fliegen (Trypetinen u. s. w.) nur 2—5 Gruben auf jeden Fühler kommen. In der Regel haben auch die Männchen stärker entwickelte Geruchs- organe als die Weibchen. (Zeitschrift f. wissenschaftl. Zoologie Bd. XXXIV. S. 367. 1880.) Fin Vebergangsglied von den Amphibien zu den Reptilien glaubt Prof. Cope in seiner Gattung Öricotus gefunden zu haben, die er auf Ueberresten begründet hat, welche aus einem zur triasischen oder permischen Epoche gehörigen Schieferthon von Illi- nois stammen. Die Gattung weicht von dem Reste der Stegocephalen oder La- byrinthodonten durch die vollständige Entwickelung der Wirbel-Centra und Zwischen-Centra ab, welche beide Wir- belkörper bilden, und paarweise einzelne Rückenmarks-Bögen tragen. Kein der- artiger Charakter ist in den anerkannten Abtheilungen der Stegocephali gefunden worden, und Cope erhebt die Gattung zum Typus einer besondern Abtheilung, die er, wie folgt, definirt: »Centra und Intercentra gleichmässig als Wirbel- körper entwickelt. Ein einzelner Rücken- marks-Bogen wird von jedem von ihnen getragen, so dass ein doppelter Körper entsteht. Die Hinterhaupts - Wirbel- Einlenkung pfannenartig (cuplike), in- dem das Hinterhaupt mit dem ersten Wirbel durch ein ungetheiltes scheiben- förmiges Zwischencentrum verbunden ist.< So setzt sich die Eigenthümlich- | keit der Wirbelsäule in die Einlenkung Kleinere Mittheilungen und Jourmnalschan. des Schädels fort, und an Stelle des complieirten Atlas-Wirbel der Ganoce- phalen, ist da ein einfacher Körper vorhanden, welcher den Hinterhaupt- Höcker mit dem Wirbel verbindet. In aller Wahrscheinlichkeit stellt dieser einzelne Körper, den einzelnen Hin- terhaupts-Höcker des Reptil- Schädels vor, ein Skelettheil, der bei der Eidechse noch knorplig bleibt, nach- dem das Basioccipital bereits verknö- chert ist, und der ein besonderes Ele- ment darstellt. Der Bau von Cricotus zeigt, dass es ein ursprüngliches Inter- centrum ist. »Wir haben nun,< sagt Prof. Cope, »die letzte Schwierigkeit von dem Wege der Annahme, dass die Reptilien Abkömmlinge der Amphibien seien, hinweg geräumt, nämlich den Unterschied in der Anlenkung des Schä- dels an die Wirbelsäule. Aber die ersteren sind nicht Abkömmlinge der Labyrinthodonten, wie gefolgert worden ist, noch der Ganocephalen, sondern der Embolomeren, wie ich die neue Ordnung oder Unterordnung nenne. Die Ordnung, welche ihr am nächsten steht, sind vielleicht die Theromorphen, welche so manche Amphibien-Charaktere, dar- unter die Zwischencentra darbieten.« Das von Fritsch aus der permischen Gaskohle von Böhmen beschriebene Genus Diplovertobron wird von Gope als vermuthlich zu derselben Gruppe wie Cricotus gehörig betrachtet. (The American Naturalist. August 1880.) Die Menschen-Reste der Schipka-Höhle. Auf der letzten Versammlung der Deutschen anthropologischen Gesellschaft zu Berlin (August 1880) wies Professor Schaaffhausen aus Bonn auf den seltsamen »Zufall« hin, dass gerade ihm immer wieder Reste fossiler Menschen mit ausgesprochen thierischen Charak- teren zu Gesichte kommen, während andere Gelehrte dergleichen immer nur 231 für krankhafte Deformationen u. s. w. erklären wollen. In einer Sitzung der niederrheinischen Gesellschaft für Natur- kunde zu Bonn (6. Dezember 1880) war Professor Schaaffhausen schon wieder in der Lage, einen solchen Fall konstatiren zu können, und es scheint daraus immer deutlicher hervorzugehen, dass gewisse andere Anthropologen, die ebenso häufig fossile Menschenreste zu untersuchen in der Lage sind, diese thierische Kennzeichen entweder nicht sehen wollen, oder nicht zu erkennen im Stande sind. Es handelt sich diesmal um Menschenreste, die von Professor Maschke in der Schipka- höhle unweit Stramberg in Mähren ent- deckt worden sind. Mit ihnen wurden Ueberreste von Bos, Ursus, Elephas, Rhinoceros, Leo und Hyaena gefunden, ausserdem roh behauene Werkzeuge von Quarzit, Basalt und Feuerstein, sowie einige Schneidezähne von Ursus, welche auf beiden Seiten am Beginne der Krone Einschnitte zeigten, vielleicht weil man noch nicht verstand, ein Loch durch die Wurzel zu bohren. Verkohlte Thier- knochen wurden in zahlreichen kleinen Bruchstücken daneben gefunden. Ein vereinzeltermenschlicherUeberrest wurde an einer beschützten Stelle an der Wand eines Seitenganges der Höhle in der Nähe einer Feuerstelle gefunden. Es war das Fragment eines Unterkiefers von Asche und kalkiger Kittmasse um- hüllt. Dieselbe Lage enthielt Mammuth- überreste und Steinwerkzeuge. Von dem Kiefer ist blos der Vordertheil mit Schneidezähnen, einem Eckzahn und den beiden Prämolaren auf der rechten Seite erhalten. Die letzteren drei Zähne waren in der Kinnlade noch unentwickelt, aber sichtbar, weil die Vorderwand der Kinn- lade fehlt. Die Grösse und Dicke der Kinnlade ist in erster Linie bemerkens- werth. Die Zahnentwickelung entspricht dem ersten Lebensjahre, aber der Kiefer und die Zühne sind so gross, wie die eines Erwachsenen. Wie es beim Men- 16 * 232 schen die Regel ist, scheint der erste falsche Backenzahn dem Durchbruch am nächsten, ihm folgt zunächst der Eck- zahn dann der zweite Prämolar. Die Höhe des Kiefers misst in der Fugen- linie bis zum Alveolarrande 30 mm, bis zum Ende der Schneidezähne 39 mm. (In dem Kiefer eines sieben Jahre alten Kindes betragen die entsprechenden Maasse 23 mm und 30 mm; bei einem neun Jahre alten Mädchen 24 mm und 33 mm; bei einem zwölfjährigen Kna- ben 22 mm und 31 mm. Die Kiefer von acht Erwachsenen maassen bis zum Alveolarrande im Mittel 31 mm.) Das Kiefer-Fragment ist an seinem untern Rande in der Fugenlinie 14 mm dick, unter dem Eckzahn beträgt die Dicke 15 mm. (Bei einem gewöhnlichen aus- gewachsenen Kiefer beträgt die Dicke in der Fugenlinie ungefähr 11 mm.) Wenn nunmehr die schneidende Ober- fläche der Vorderzähne horizontal ge- stellt wird, so weicht der untere Theil des prognathen Kiefers so weit zurück, dass man das Kinn als eine Hervor- ragung vermisst. Eine Senkrechte von dem vordern Alveolarrande fällt 4—5 mm vor dem untern Rande des Kiefers. Die hintere Oberfläche der Fuge ist schief ge- stellt, wie esin einem hohen Grade bei den Anthropoiden, und in einem geringeren Grade bei wilden Rassen vorkömmt, aber auch schon früher bei fossilen menschlichen Ueberresten beobachtet worden ist, wie bei dem Kiefer von La Naulette, mit welchem dieser Kiefer von der Schipka-Höhle viele Aehnlich- keit besitzt. Die Form der Schneide- zähne ist dem dicken prognathen Kiefer angepasst, der breiteste Theil der Wur- zel misst von vorn nach hinten 8!/a mm, während das gewöhnliche Maass hier- von 6 mm beträgt. Ferner sind die Zähne auf der Vorderseite convex ge- krümmt. Die Krümmung entspricht einem Radius von 27 mm. Der innere Kinnstachel (spina mentalis interna)fehlt, und an seiner Stelle befindet sich, wie Kleinere Mittheilungen und Journalschau. bei den Anthropoiden eine Höhlung, an deren untern Rande eine Uneben- heit leicht gefühlt werden kann. Die Hervorragungen zur Anheftung der Mus- culi digastriei sind wohl markirt und lassen auf eine entsprechend starke Ent- wickelung ihrer Antagonisten, der Kau- muskeln schliessen. Alle diese Kenn- zeichen wurden auch, nur noch mehr entwickelt an dem Kiefer von La Nau- lette beobachtet. Es ist wahrscheinlich, dass der Kiefer der Schipka-Höhle auch die pithekoide Eigenthümlichkeit besass, dass seine Zahnlinie nicht horizontal war, sondern von den Prämolaren zu den Schneidezähnen aufstieg, und die letzteren waren höher nach vorn als an den Seiten, weil die Schneidefläche der äussern Schneidezähne sich nach aussen schief senkt. Die Grösse der Eckzähne ist bemerkenswerth, sofern ihre emaillirte Krone 13,5 mm lang ist. (Bei dem fossilen Unterkiefer von Uelde überragten die Eckzähne die Prämo- laren um ca. 3,5 mm. Zufolge der Messung an zehn Schädeln erwachsener Europäer mit kaum abgenutzten Zähnen, war die Krone des Eckzahns 11,5 mm lang. Nur ein einziges Mal unter mehr als 50 Schädeln, wurde sie 14 mm lang gefunden.) Es kann nicht wohl angenommen werden, dass dieser in der Zahnung gefundene Kiefer einem Indi- viduum von Riesengrösse angehörte, da bei solchen Individuen das excessive Wachsthum nach Langer erst gegen das neunte oder zehnte Lebensjahr be- ginnt. Die Annahme, dass irgend eine pathologische Ursache die Entwickelung der drei Zähne, welche noch in der Kinnlade verharrten, gehindert habe, erscheint völlig grundlos. Ebenso wenig können wir annehmen, dass in den prä- historischen Zeiten die Zahnentwickelung verzögert war, und dass der Zahn- wechsel in einem spätern Alter statt- fand, da vielmehr eine schnellere Ent- wickelung einer niedrigeren Organisation entspricht. (Alle Säugethiere kommen Kleinere Mittheilungen und Journalschan. mit Zähnen zur Welt, und der Orang wechselt seine Zähne früher als der Mensch.) Die Gestalt des Kiefervorder- theils darf indessen schon an sich selbst als affenartig angesehen werden, und es ist um so mehr Grund dazu, als noch andere pithekoide Charaktere vor- handen sind. Den Anblick des grau- gelben Knochen mit kleinen dunklen verzweigten Flecken darauf, trifft man häufig bei Höhlenknochen. Die Emaille der Zähne ist völlig gleich derjenigen der quaternären Höhlenthiere, sie zeigt Längsrisse mit dunkler Infiltration, wäh- rend in deren Nähe bläuliche und an einigen Stellen gelbliche Flecken auf- treten. Die Kelten in Hallstadt. In Nr. 2 und 3 des 11. Bandes von Issler’s Neuen deutschen Alpen- zeitung findet sich ein Aufsatz von Dr. Arth. Simony, über das Hallstädter Heidengebirge und seine Entstehung, dem der folgende Auszug entnommen ist: Die Spuren der Thätigkeit, welche die Kelten zurückgelassen, die aus dem Salzberge über Hallstadt im Salzkammer- gut in der Umgebung des Rudolfthurmes neben den Gräbern ihrer Vorfahren und Genossen das kostbare Salz der Erde entnahmen und tief in die Eingeweide des Berges ihre Stollen und Schachte trieben, um den gewonnenen Salzkern zu Tage fördern zu können, sind un- gemein interessant, und ihre Zahl ist in der letzten Zeit beträchtlich ver- mehrt worden. Man kannte seit ge- raumer Frist schon das sogenannte »Heidengebirge«, einen salzarmen Thon oder ausgelaugtes Haselgebirge, welches als Einschlüsse Fetzen Tuch, Holzspäne, Stückchen Kohle, Lederstreifen und manchmal tüchtige Balken in sich birgt, ausserdem aber oft auch Taggesteine in Form der charakteristisch geritzten und polirten, meist aber nur schwach 233 gerundeten Gletschergeschiebe enthält, wie man sie noch jetzt leicht im Boden der am Fuss des Plassensteins liegenden Dammwiese findet. Interessanter ist noch das allerdings sehr spärliche Vor- kommen von keltischen Ueberresten im Ritschner Sinkwerk, dem Fundorte grün gefärbten Steinsalzes. Hier sind zwei Bronzeäxte, sogenannte »Kelten«, mit- ten im Steinsalz eingebettet gefunden worden, durch deren Patina in der ganzen angrenzenden Region das kör- nige weisse Salz grün gefärbt erscheint. Durch dieses Vorkommen wird die Zeit des Bergbetriebes, als dessen Rest das Heidengebirge erscheint, bestimmbar und identifieirt sich mit der Broncezeit, als die Kelten in Hallstadt sich nieder- liessen und die grosse Grabstätte auf der Thurmebene anlegten. Holzsplitter sowohl als Glacial-Geschiebe fanden sich dann auch in der Rosa- und Lang- steiner-Kehre übereinander, das Jahr 1879 aber brachte eine neue Fundstelle von Heidengebirge zum Vorschein, wie in solcher Ausdehnung und Mächtigkeit noch nie geschehen. Bei der Ent- leerung und Ausarbeitung der Apolda- Wehre stiessen nämlich die Arbeiter in der Hinterwand des riesigen Hohlraums auf eine ungewöhnlich grosse Menge der bekannten Späne und Fackelreste und bei sorgfältigem weiteren Vorgehen fand man zwei mittels eines höchst geschmackvollen und festen Bastnetzes zusammengefasste Spanfackeln(Bucheln), deren eine noch fast unbenutzt war, ferner Fackeln, die, wie jetzt noch üb- lich, durch Holzreifchen zusammengehal- ten waren. Dann traf man auf starke Balken von ziemlicher Länge, die als Werkhölzer zugehauen waren, auf eine Art hölzerner Spitzhaue, die einen ziem- lich langen Griff zeigte, auf Mengen von Taggestein und schliesslich auf zwei lederne Tragkörbe, die aus röthlich grauem, glatthaarigem, ungegerbtem Felle gefertigt sind und mittels durch- gezogener, dünner, aber fast 1 Ctm. 234 breiter Riemcehen fest über ein Gestell aus leichten, schwach gebogenen Holz- stäbchen gespannt waren. Ihre Höhe beträgt fast 1 M., der obere grösste Durchmesser 35, der des hölzernen Bo- dens 15 Ctm. Die Tragriemen sind aus einem andern Felle, vielleicht aus Hirschleder, während der Ueberzug des Korbgestelles eher wie ein Elenvliess aussieht, und sie sind weich und noch sehr gut erhalten. Trefflich ist die Ar- beit und der Glanz der Haare hat durch tausendjährige Einsalzung nicht ver- loren. Die Lage der massenhaft zu einem riesig hohen Haufen angethürm- ten alten Balken von 2!/a—3'/»2 M. Länge, die rund und hie und an den Enden zugespitzt sind, ist eigenthüm- lich, und unten und aussen um sie liegen Taggesteine, darunter Blöcke bis zu einem Kubikmeter Inhalt, die sämmt- lich Kennzeichen des Glacialschuttes tragen, eine ausgezeichnete Politur haben und deren Magnesia-Gehalt mit Sicherheit auf die dolomitischen Kalke des Plassensteins hinweist. Offenbar sind sie ziemlich senkrecht oder auf sehr steilem Wege hier herein gelangt, was für den Keltenschacht, der wohl eine Art schraubenfömiger Einfahrt, aus jenen Balken gebildet, gehabt haben mag, eine Tiefe von etwa 250 M. er- giebt. Durch einen Einbruch von Wasser und Geröll dürfte die Wendeltreppe zertrümmert worden sein und die Hölzer häuften sich unten in der durch zu- führende Stollen bewirkten Ausweitung radiär, wie bei einem Kohlenweiler lie- gend, an. Dass die Kelten die Ur- heber dieses Trümmerwerks waren, folgert Dr. Simony, abgesehen von den beiden Tragkörben, aus der hölzernen Berghaue; denn sowohl römische, als altdeutsche oder mittelalterliche Berg- arbeiter hätten eisernes Gezähe zurück- gelassen, während die Kelten dieses Metall nur sehr spärlich im Besitz hat- ten und allenfalls zu Schwertern, Mes- sern oder Scheerenzangen, aber nicht | Kleinere Mittheilungen und Journalschau. zu solch rohem Gebrauch verwendeten. Auch die massenhaften Fackelspäne sprechen für solch hohes Alter des Baues, da man sonst wohl die eine oder andere Grubenlampe gefunden haben möchte, wenn Römer oder Deutsche hier ihr Wesen trieben. Das ganze Holz ist übrigens durch Imprägnirung mit un- organischen Substanzen versteint. Kaum 50 Schritte von der Rück- front des Stollenhauses Maria Theresia sind keltische Bauten von grossem In- teresse aufgedeckt worden, die nur leider durch den fortwährend nach- rollenden Glacialschutt wieder theilweise begraben wurden. Eine grosse Menge derselben scheint noch der Eröffnung zu harren. Die bedeutendste derselben ist eine aus gleich langen Balken, die _ an den Enden zugehauen und im Viereck gelegt, durch starke Holznägel zusam- mengehalten sind, aufgeführte Baulich- keit von im Innern quadratischer Form und etwa 20 Quadratmetern Inhalt; sie ist mit Glacialschutt ausgefüllt und besitzt einen gedielten Balkenboden, der direkt auf dem dort zu Tage tre- tenden Gipsfelsen aufliegt. Als man die- sen Raum seines Inhaltes entledigte, fand man darin massenhaft Knochenstücke, einen Schädel, wahrscheinlich den einer Hirschkuh, einigeunbedeutende Schmuck- gegenstände, eine Nadel, einen »Kelt«, einen Quirl, zahlreiche, meist zerbro- chene Wildschweinhauer und andere Zähne, endlich unglasirte Topfscherben. In der Mitte des übrigens von Glacial- schutt erfüllten Raumes erhob sich eine aus verschrägten Klötzen zusammen- gestellte Vorrichtung, von unklarer Be- stimmung. Der Zugang konnte nur von oben stattfinden. Die Broncesachen sind statt der Patina mit Kupfer-Indigo überzogen, sicherlich in Folge eingetre- tener Reduktionen. Der Quirl (Sprud- ler) soll aus Horn gefertigt sein. Die Topfscherben zeigen keine oder nur einfache Ornamente, der Thon dazu war sandig und schlecht geschlämmt; Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 235 in einem derselben waren halbverkohlte Reste von Gerstenkörnern, die durch ir- gend ein Bindemittel zusammengebacken sind. Nur zwei Bruchstücke der Gefässe waren glasirt, darunter ein Henkel von beträchtlicher Grösse. Die zahlreichen Knochen sind meist nur Röhrenknochen grösserer Säugethiere ; Alle erscheinen zertrümmert und die Markhöhle oft wie ausgeschabt. Nirgend ist an ihnen die aus. vielfach verwebten Knochenbälk- chen gebildete Schicht vorhanden, wel- che die Markhöhle auskleidet; dafür sieht man deutlich die Spuren von spitzigen Instrumenten, mit denen der Inhalt des Knochens ausgekratzt wurde. Sonst giebt es noch Fuss- und Hand- wurzelknochen, Rippen, einzelne Bruch- stücke von Schädelknochen oder Wir- beln. Menschenknochen konnte Dr. Si- mony keinen einzigen unzweifelhaften auffinden, dafür um so mehr Wild- schwein- und Hirschreste, namentlich Zähne, aber alle ungefasst und brüchig, als wenn selbe im Feuer gelegen wären — eine Eigenthümlichkeit aller Gebeine an jenem Orte. Dieser Bau lag unter Wiesenboden mit starker Humusbeigabe, darunter folgte sandiges Geröll, !/2 Meter mäch- tig, dann einzelne Glacialgeschiebe grösserer Gattung in einer Schicht Gla- cialschutt von gleicher Stärke, weiter eine eben so dicke, ganz schwarzgraue Schicht aus fein zerbrochener Holzkohle, Knochensplittern, Topfscherben, ver- glühten Kalksteinen, einzelnen Zähnen und etwas Lehm zusammengesetzt, die jedoch nicht über die ganze Breite der Hütte reichte; darunter lagen endlich die Massen Glacialschutt, welche die ganze Hütte ausfüllten, dann der Boden der Hütte und auf diesem die oben erwähnten Broncen mit dem Quirl, end- lich der Gips, der in grauen, schiefrigen Blöcken zu Tage tritt. Der Verfasser hält seine Ansicht, dass hier ein kel- tischer Bau vorliege, mit guten Gründen aufrecht und macht es sehr wahrschein- lich, dass dies eine gemeinsame Koch- stätte für die Bergarbeiter gewesen sei, wofür besonders die Masse aufgebro- chener und ausgeschabter Markknochen spricht und die Menge der Schweins- hauer. Der Unterbau, aus festen Stäm- men im Viereck ausgeführt, enthielt dann Vorräthe von Gegenständen, die in der Kühle aufbewahrt werden muss- ten, und das aus vier Holzblöcken sehr massiv aufgeführte Gerüst war vielleicht zu einer Fleischbank oder einem soliden Tisch bestimmt. Der Zugang wurde von oben, vielleicht mit einer kurzen Leiter bewerkstelligt. Die Zerstörung dürfte dann durch Losbrechen einer Muhre aus Glacialschutt vom Plassen- stein her erfolgt sein, wobei die Mauer des Kochraums nur ganz kurze Zeit aushielt, bis durch die im Boden des Obergemachs gelegene Eingangsöffnung in die unten liegende Vorrathskammer diese mit Schutt und Schlamm erfüllt war; dann stürzte sie zusammen, die Kohlen des Heerdes bedeckend und sie so vor dem Weggeschwemmtwerden schützend. Diese Katastrophe muss gewaltige Dimensionen gehabt haben, wenn sie solche Riesenblöcke von Tag- gestein, wie sie inmitten des Heiden- gebirgs liegen, in Bewegung setzen konnte; aber das Vorrücken dieser Mas- sen wird so langsam erfolgt sein, dass die Bergarbeiter die drohende Gefahr zeitig genug merkten oder erfuhren, und sonach aus dem Berge eilen konnten, freilich nicht, ohne das eine und andere von ihren Geräthen zurückzulassen. Als dann der nächste Tag wieder Licht und Ruhe brachte, lag an der Stelle eines lieblich grünenden Alpenthalbodens eine graugelbe Schuttmasse, aus der hie und da zerbrochene und entwurzelte Bäume oder Stücke losgerissenen Rasens her- vorstanden; die Hütten der Bergarbeiter waren verschüttet, die Eingänge der Schachte und Stollen in Schlamm und Trümmer begraben und jede Hoffnung verloren, wieder in das Salzbergwerk 236 zu dringen. Muthlos zogen die Kelten ab, um sich andere Stätten ihres Ge- werbfleisses aufzusuchen. Erst nach einem Jahrtausend wagten die späteren Bewohner Hallstadts hier wieder ein Salzbergwerk anzulegen ; dem Forscher- trieb der Gegenwart aber blieb es vor- behalten, uns wieder einen gesicherten Einblick in jene frühe Vorzeit an der Hand unumstösslich erscheinender That- sachen zu erschliessen. Die Erblichkeit gewisser Verstümmelungen ist im vergangenen Jahre durch Mas- sin studirt worden, indem er verschie- denen männlichen und weiblichen Ka- ninchen die Milz wegnahm, und sie nach der Heilung unter einander paarte. Litteratur F. Delpino. Beiträge zur Ent- wickelungsgeschichte des Pflanzenreichs. I. Smilaceen.* Die Wissenschaft von den Pflanzen, so beginnt der Verfasser, ist heute in. einer vollständigen Umwandlung begrif- fen. Im Lichte der Entwickelungslehre verwandeln sich die Paläontologie und Pflanzengeographie in eine Entwicke- lungsgeschichte des Pflanzenreichs, die Systematik in eine Srforschung des ge- nealogischen Stammbaums der Pflanzen; Sache der Biologie aber ist es, die An- passungen der Organe an die äusseren Einwirkungen nachzuweisen und damit für die Verzweigungen des Stammbau- mes die bedingenden Ursachen aufzu- decken. Die genealogische Forschung kann zwar, wie jede historische Forsch- * Federico Delpino, Contribuzione alla storia dello sviluppo del regno vegetale. | I Smilacee. Genova 1880. | versita di Genovo. Litteratur und Kritik. Wenn man das Gewicht der Milz mit dem Totalgewicht des Körpers bei den Kaninchen vergleicht, so beträgt das Gewicht der ersteren im Mittel 0,1028, wenn man das letztere — 100 setzt. Bei den Lapins der ersteren Generation war nun die Milz zwar nicht verschwun- den, aber stark verkleinert, sie hatte unter demselben Verhältniss nur noch ein Gewicht von 0,0549, während es bei normalen Kaninchen niemals unter 0,0645 sinkt. Die Hoffnung, dass die Milzabnahme in der zweiten Generation noch weiter gehen würde, hat sich in- dessen nicht bestätigt, das Gewichts- verhältniss sank nicht tiefer als bei den Individuen der ersten Generation. (Bullet. de l’Academ. royale de Belgique t. XIV. p. 772. 1880.) und Kritik. ung, niemalsaufExperimentesich stützen, niemals die ganze Wahrheit, niemals | eine lückenlose Vollständigkeit erlangen; das unendliche Gebäude einer Pflanzen- Entwickelungsgeschichte wird daher nie in seiner ganzen Grossartigkeit vollendet werden können; aber sein Grundriss und Plan sind bereits bekannt und aufge- zeichnet, und nicht wenige seiner Theile sind bereits jetzt einem wenigstens frag- mentarischen Aufbaue zugänglich. = «4 Diesen ebenso vorsichtigen als muthi- gen Worten gegenüber muss es uns einigermaassen befremden, Delpino nun mit einemmale die Forderung aufstellen zu sehen, die genealogische Forschung auf Arten, Gattungen, Familien und Gruppen von Familien zu beschränken und jede Spekulation über höhere syste- (Atti della R. Uni- Vel..IV. Pate Zi | WE BE Litteratur und Kritik. matische Abtheilungen als gänzlich aus- sichtslos zu unterlassen, weil mit dem Abstande der organischen Wesen die Schwierigkeit dergenealogischen Forsch- ung stufenweise sich steigern und die Sicherheit der genealogischen Forschung daher gleicherweise abnehme. Wir müssen die Richtigkeit sowohl der vorausgesetzten Thatsache als der daraus gezogenen Folgerung in Zweifel ziehen. Denn angenommen, die von Delpino behauptete stufenweise Steige- rung der Schwierigkeit genealogischer Forschung fände wirklich allgemein statt: was würde daraus folgen? Doch nur, dass wir mit genealogischen Schlüssen um so vorsichtiger sein müssten, je weiter die zu vergleichenden organischen Wesen von einander abstehen, aber nun und nimmer, dass wir der genea- logischen Forschung an einer bestimm- ten Linie ein Halt zuzurufen hätten. Die Grenzlinie könnte ja in jedem Falle nur eine ganz willkürliche sein, da die umfassendsten systematischen Abthei- lungen mit den engsten durch Zwischen- glieder so untrennbar verknüpft sind, dass die Abgrenzung der Begriffe Art, Gattung, Familie etc. selbst ganz Sache der Willkür ist. Die vorausgesetzte Thatsache ist aber gar nicht einmal begründet. In vielen Fällen lässt sich vielmehr weit leichter und sicherer der verwandtschaftliche Zusammenhang der Hauptzweige ermitteln als derjenige der feineren Verzweigungen. Ueber die Ab- stammung der Vögel von Reptilien sind wir z. B. durch einige wenige paläon- tologische Funde genauer und sicherer orientirt worden, als über die Verwandt- schaft der Vogel-Gattungen und Fami- lien unter sich durch zahllose mühsame Vergleiche. Die Willkürlichkeit der Delpino’schen Grenzforderung wird auch dadurch nicht gemildert, sondern nur in ein grelleres Licht gestellt, dass er einerseits z. B. die Versuche, die Ur- sprungs-Einheit der Moose und Farne, der Gymnospermen und Angiospermen 237 nachzuweisen als »unfruchtbare Hypo- thesen« und >»gefährliche Uebertreib- ungen« bezeichnet, dagegen anderer- seits die Blutsverwandtschaft (consan- guineitä) aller Gymnospermen unter sich, aller Angiospermen unter sich als absolut feststehende Wahrheiten hin- stellt, mit den Worten: »Diese Bluts- verwandtschaft leugnen, heisst das Licht der Sonne leugnen. « Nach unserer Auffassung kann es sich bei Stammbaum - Untersuchungen im Thier- oder Pflanzenreich immer nur um eine grössere oder geringere Wahr- scheinlichkeit, nie um absolute Gewiss- heit handeln. In jedem Falle haben wir uns daher der Bedingtheit unserer Erkenntniss bewusst zu bleiben, und zur Aufstellung eines Gegensatzes zwi- schen unfruchtbaren Hypothesen bei der Beschäftigung mit Stammbäumen grösse- rer systematischer Abtheilungen und un- zweifelhaften Wahrheiten bei der Be- arbeitung kleinerer liegt nicht die aller- mindeste Berechtigung vor. Auch nicht einmal eine subjektive für Delpino. Denn obgleich das eigentliche Thema sei- ner vorliegenden Arbeit ganz innerhalb der von ihm willkürlich festgesetzten Grenzen liegt, schreitet er in einer An- merkung (S. 51) ohne Weiteres über dieselben hinweg und stellt die Mono- kotylen als Abzweigung derDikotylen und andrerseits Farne, Gymnospermen, Diko- tylenund Monokotylen als die natürliche Aufeinanderfolge der höheren Pflanzen hin, und zwar diess nicht etwa, wie er consequenter Weise thun müsste, als unfruchtbare Hypothese und gefährliche Uebertreibung, sondern als unzweifel- hafte Gewissheit. Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt nicht sowohl in der Bei- bringung von Thatsachen, die vielmehr grösstentheils Alph. de Candolle’s Mono- oraphie der Smilaceen* entlehnt sind, * Alph. de Candolle. Monographiae phanerogamarum. Vol. 1. Smilaceae. 1878. 238 als in der Aufstellung allgemeiner bio- logischer Gesichtspunkte, die bei genea- logischen Forschungen zur Orientirung dienen können. Gerade diese aber ver- leihen Delpino’s monographischer Arbeit eine weit über ihr enges Gebiet hinaus- reichende Bedeutung und veranlassen uns, sowohl die wichtigsten uns annehm- bar erscheinenden Aufstellungen des Verfassers in gedrängter Darstellung hier vorzuführen, als einige seiner anfecht- baren Behauptungen etwas näher zu erörtern. DerersteAbschnitt (S. 13—47) behandelt die Biologie der Smila- ceen und bespricht 1. als auf vegeta- tive Funktionen (Erhaltung des Indi- viduums, Ref.) bezügliche Anpassungen a) die Kletterstützen (Fulgri), b) die Stacheln, e) die extrafloralen Nektarien der Smilaceen, 2. als auf die Fortpflan- zung bezügliche, a) die Vertheilung der Geschlechter, b) die Blütheneinrichtung, 3. als auf die Aussäung (Erhaltung der Nachkommenschaft, Ref.) bezüg- liche, die Beeren. Ueber die Gewohnheit des Kletterns bei den Pflanzen gibt Delpino einen so einfachen und klaren Ueberblick, dass derselbe wohl hier mitgetheilt zu werden verdient: Kletterpflanzen finden sich unter den Phanerogamen sehr zahlreich. Der Vortheil, den sie von ihrer eigenthüm- lichen Gewohnheit haben, besteht darin, dass sie sich zu beträchtlichen- Höhen erheben und grössere Licht- und Luft- ımengen gewinnen, ohne selbst kräftige Holzstämme entwickeln zu müssen, dass sie also ein Maximum der Wirkung mit einem Minimum von Stoff und physiologischer Arbeit erreichen. Sie erlangen diesen Vortheil, indem sie sich Stützen, die sich ihnen in ihrer Um- gebung darbieten, zu nutze machen. Sind diese Stützen dünn und umwind- bar, so umwinden sie dieselben, ent- weder mit dem ganzen Stengel (Winden) Litteratur und Kritik. | oder mit Ranken (Weinstock). Sind | dagegen die Stützen diek und nicht umwindbar (Felswände, Mauern, dicke Baumstämme), so heften sie sich an dieselben an mittelst Haftscheiben, die sie entweder am Ende von Ranken (Ampelopsis) oder von Adventivwurzeln (Epheu) entwickeln. Bestehen endlich die Stützen aus dichtem Pflanzenwuchs (Hecken oder Gebüsch), so halten sie sich an denselben mittelst zurückge- krümmter Haare oder Stacheln (Galium Aparine). Die an gewissen Oertlichkeiten sehr nützliche Gewohnheit des Kletterns kann aber natürlich an anderen, z. B. auf offenem Felde, in der Wüste oder am Meeresstrande, völlig nutzlos werden, und für Kletterpflanzen kann es an solchen Stellen von Vortheil sein, an- dere Gewohnheiten anzunehmen und die mit dem Klettern zusammenhängenden Eigenthümlichkeiten wieder zu verlieren. So hat im Geschlechte der Winden Gonvolvulus cantabrica die ererbte Eigen- thümlichkeit, sich mit einfachem, schlan- kem Stengel um dünne Stützen zu win- den, wieder eingebüsst und entwickelt statt dessen einen sehr ästigen, wider- standsfähigen Stamm mit geradlinigen Aesten. In allen Familien oder Gat- tungen nun, wo, wie bei (om volvulus, die weitüberwiegende Mehrzahl der Arten klettert, werden wir vereinzelte nicht kletternde Arten als Abkömm- linge kletternder betrachten müssen, die eine bereits erlangte An- passung wieder verloren haben (negativer Neomorphismus D.); in denjenigen Familien oder Gattungen da- gegen, wo die weit überwie- gende Mehrzahlder Arten nicht klettern, (z. B. Polygonum) werden vereinzelte kletternde Arten (z. B. Polygonum Convolvulus) als Ab- kömmlinge nicht kletternder | zu betrachten sein, welche den Litteratur und Kritik. Vortheil des Kletterns durch selbstän- dige Anpassung (positiven Neomorphis- mus D.) erworben haben. Aber noch ein anderer Gesichtspunkt bietet sich uns dar, von dem aus wir uns über den neueren oder älteren Ur- sprung von Kletterpflanzen orientiren können. Auch im Gebiete der Kletter- pflanzen kommen Erscheinungen vor, die uns nöthigen, bei den Pflanzen so gut wie bei den Thieren einen wahren Instinkt anzunehmen. In der Familie der Asclepiadeen z. B., deren überwie- gende Mehrzahl aus Kletterpflanzen be- steht, ist Vincetoxicum offieinale nicht kletternd; aber an manchen Exemplaren werden einzelne Zweige angetroffen, die sich um einander wickeln, offenbar nur in Folge der Fortwirkung einer inzwi- schen nutzlos gewordenen ererbten Ge- wohnheit. In keiner Familie ist der Kletter- instinkt ausgeprägter und tritt mannig- faltiger zu Tage als bei den Bignonia- ceen; bei verschiedenen Gliedern dieser Familie werden die verschiedenen oben aufgeführten Arten des Kletterns, mit Ausnahme der letzten, durch Wider- haken, sämmtlich angetroffen. Eine der- selben aber, eine Pithecoctenium - Art, zeigt, nach Delpino’s Beobachtung, eine wunderbare Vergesellschaftung fast aller jener Kletterweisen. Wo sie sich an eine Felswand oder Mauer stützt, ent- wickelt sie aus den Stengelknoten eine aus Büscheln von Adventivwurzeln ge- bildete Haftfläche. An der Spitze der Schösslinge verwandeln sich die äusser- sten Blättchen der Fiederblätter in Ran- ken, die eine dünne Stütze umwinden, wenn sich ihnen eine darbietet, die da- gegen an ihren Enden Haftscheiben ent- wickeln, wenn sie an die Oberfläche einer Wand stossen. Hier haben wir das unzweideutigste Beispiel eines wah- ren Instinktes, der sich auf mehrere Arten äussert. Welche Nutzanwendung lässt sich nun aus dieser allgemeinen Betrachtung 239 auf die Smilaceen machen? Abgesehen von vereinzeltenSmilaxarten mit ranken- losen Blättern sind sämmtliche Smilaceen kletternd; ihr Kletterinstinkt äussert sich auf zweierlei Art, bei der als ur- sprünglichste Smilaceenform zu betrach- tenden Gattung Rhipogonum durch Ad- ventivwurzeln, beiallen übrigen Smilaceen durch Ranken. Nur die untersten und obersten Blätter der rankenden Smilaceen sind rankenlos, alle übrigen entwickeln gegen die Basis des Blattstiels hin, dichtüberderligulaartigenVerbreiterung, mit welcher das Blatt den Stengel um- fasst, eine einfache, nicht lange, zurück- gekrümmte, an der Spitze verhärtete Ranke. Ueber den morphologischen Werth dieser Ranken haben die bis- herigen Autoren geschwankt, ob sie als umgewandelte Nebenblättchen (die jedoch ausserdem vorhanden sind!) oder als seitliche Blattsegmente oder Blätt- chen aufzufassen seien. Bevor aber diese Frage zur Erörte- rung kommen kann, müsste entschieden sein, ob sie überhaupt umgewandelte (metamorphe) oder nicht vielleicht viel- mehr neugebildete (automorphe) Organe sind. »Automorphe Organe ent- stehen und verschwinden ohne Uebergänge. Sie entstehen ex abrupto an der Stelle, wo ihre Funktion erforderlich ist, sie verschwinden ex abrupto, wo ihre Funktion nicht mehr statt findet und nicht mehr motivirt ist.« (Beleg: die vollständige Ranken- losigkeit der obersten und untersten Blätter der Smilaceen!) Metamorphe Organe verschwinden, da sie älteren Ursprungs sind, nur langsam und stufen- weise, sie abortiren. Für die Neubil- dung der Smilaceenranken spricht, dass weder in der Abtheilung der Coronariae, zu der die Smilaceen gehören, noch in der muthmasslichen Stammform der Smilaceen, der Gattung Khipogonum, gelappte oder getheilte Blätter vorkom- men, dass also auch von einer Umwand- 240 lung _ seitlicher Blattabschnitte oder Blättehen hier nicht wohl die Rede sein kann, dass ferner von einem allmähligen Verkümmern bei den Ranken der Smila- ceen nie etwas bemerkt worden ist, dass endlich auch von einem Rückfall derselben in blattartige Verbreiterung | keine einzige Beobachtung vorliegt. Trotz ihrer bestimmten Zahl und Stel- lung und der Betheiligung von Gefäss- bündeln an ihrer Bildung, die eher für ihre metamorphe Natur sprechen wür- den, dürften daher die Ranken der Smilaceen als neugebildete Organe zu betrachten sein. Ohne gegen die Ergebnisse, zu denen Delpino schliesslich gelangt, etwas ein- wenden zu wollen, haben wir doch gegen zwei Punkte dieser seiner Beweisführung grundsätzliche Einwendungen zu erhe- ben. Es erscheint uns durchaus un- statthaft, vereinzelte Arten, die sich durch das Vorhandensein oder Fehlen gewisser Eigenthümlichkeiten vor allen übrigen Arten derselben Gattung oder Familie auszeichnen, deshalb als einer Stammart von der jetzt vorherrschenden Form näherstehend zu betrachten. Denn es gibt ebensowohl Fälle, wo von einer ‘ mehr oder weniger umfassenden Abthei- lung des Thier- oder Pflanzenreichs nur ganz vereinzelte Arten gewisse Eigen- thümlichkeiten der Stammeltern bewahrt haben, über die alle übrigen in ihrer Weiterentwickelung längst hinausge- schritten sind (wie dies z. B. im Thier- reiche unter den Säugethieren zitzen- lose nur noch in der kleinen Gruppe der Schnabelthiere vorkommen, oder wie im Pflanzenreiche unter allen un- seren Gentiana-Arten nur noch Gentiana lutea offene Blüthen mit allgemein zu- gänglichem Honig behalten hat), als entgegengesetzte, wo nur einzelne Arten sich durch selbständig erworbene An- passungen sich vor allen übrigen aus- *® Vgl. G. Jaeger, Die ÖOrgananfänge. Kosmos Bd. II, S. 26 ff. und in Bezug auf Nektarien H. Müller, Einige thatsächliche Litteratur und Kritik. zeichnen (wie z. B. unter den Beutel- thieren die Flugbeutler durch ihre Flug- haut, unter den Gentiana-Arten Gen- tiana bavarica und verna durch ihren tief geborgenen, nur Jlangrüsseligen Schwärmern zugänglichen Honig). Ob der eine oder andere Fall vorliegt, lässt sich oft durch den Vergleich der ver- schiedenen Entwickelungshöhe, durch das Vorkommen rudimentärer Organe, durch den Verlauf der individuellen Ent- wickelung oder durch den paläontolo- gischen Befund, niemals aber durch die blosse Majorität der jetzt lebenden Arten entscheiden. Delpino selbst ist übrigens weit entfernt, an die von ihm aufgestellte Regel in der Praxis sich gebunden zu erachten. Er erklärt z. B. die sehr artenarme zwitterblüthige Smilaceen- Gattung Rhipogonum für die Stammform dieser Familie, während sie doch, wenn die Majorität der jetzt lebenden Arten das über die Ursprünglichkeit Entschei- dende wäre, neueren Ursprungs sein müsste, als alle übrigen Smilaceen, da diese sämmtlich diöcisch sind. Ein zweiter Punkt, in dem wir der Delpino’schen Auffassung grundsätzlich entgegentreten müssen, ist das angeb- liche ursplötzliche Entstehen und Ver- schwinden »automorpher« Organe. Auch hier macht die Natur keinen Sprung, sondern immer und überall wird ein neuer Lebensdienst zunächst von bereits vorhandenen Theilen des Organismus übernommen, die sich dann erst, sei es in Folge der Wirkung des Gebrauchs, sei es durch Naturauslese der passend- sten Abänderungen, stufenweise und all- mählich der nöthigen Leistung besser entsprechend ausbilden und unter Um- ° ständen zu selbständigen Organen ent- wickeln können *. Zwischen Theilen eines bereits vor- handenen Organes, die ohne besondere und theoretische Bemerkungen. Jahrb. f. wissenschaftl. Bot. Bd. XL. Litteratur und Kritik. Umbildung einen neuen Lebensdienst übernommen haben (epimorphen Orga- nen Delpino’s), Organtheilen, die in Anpassung an eine besondere Funktion sich zu selbständiger Form heraus- gebildet haben (automorphen Organen D.’s) und ganzen Organen, die zu einem neuen Lebensdienste übergegangen und in Anpassung an denselben umgebildet sind (metamorphen Organen D.’s), ist daher nirgends eine scharfe Grenze zu ziehen. Nur das dürfte als von vorn- herein höchst wahrscheinlich anzuerken- nen sein, dass jede organische Bildung sich im Ganzen um so treuer vererbt, eine je grössere Zahl von Generationen hindurch sie bereits unverändert ver- erbt worden ist. Von den übrigen biologischen Be- merkungen Delpino’s heben wir als be- sonders interessant noch die folgenden hervor: Bei den meisten Smilaceen findet sich an den jüngsten, in Entwickelung begriffenen Blättern, deren Blattfläche noch ganz klein ist, ein Nektarium (bei den von D. beobachteten Arten als zugespitzt eiförmiger Knopf von dunkelgrüner Farbe), dessen Oberfläche zahlreiche Zuckertröpfehen absondert. Durch dieselben werden verschiedene Ameisen angelockt, die dem jungen Zweige so lange als Leibgarde dienen, bis seine Stacheln hinreichend erhärtet sind, um die Nektarien in ihrem Lebens- dienste — als Schutzmittel gegen Ab- geweidetwerden — abzulösen. Eine ähnliche Ablösung zweier Schutzmittel derselben Art, einer Ameisen-Schildwache und eines Stechorgans, hat D. denn auch bei gewissen Asparagus-Arten ent- deckt, deren schuppenförmige Primor- dialblätter ein zurückgekrümmtes Horn entwickeln, das erst als Nektarium fun- girt und sich dann in einen kräftigen Dorn verwandelt. Bei der Besprechung der Zweihäusig- keit und geringen Augenfälligkeit der Blüthenstände vieler Smilaceen erklärt s 241 es D. für eine allgemeine Thatsache, dass zweigeschlechtige Blumen, wenn sie zur Eingeschlechtigkeit und Zwei- häusigkeit übergehen, niemals ihre Au- genfälligkeit steigern, wohl aber oft be- deutend vermindern, und findet die Erklärung dafür in dem Umstande, dass dieser Uebergang nur bei überreichlichem Insektenbesuche stattfinden könne. Als Haupt-Anlockungsmittel müsse in diesem Falle etwas anderes als Augenfälligkeit, vielleicht ein der menschlichen Nase nicht wahrnehmbarer Geruch dienen. Wir können weder die Allgemeinheit der behaupteten Thatsache, noch die Stichhaltigkeit der Erklärung zugeben. Wasdie Erklärung betrifft, so wäre, falls die behauptete Thatsache allge- mein richtig wäre, doch gerade der trotz verminderter Augenfälligkeit ge- steigerte Insektenbesuch das Räthsel- hafte, der Erklärung Bedürftige. Durch die Annahme eines für uns niemals erkennbaren oder nachweisbaren An- lockungsmittels würde aber statt des ersten Räthsels nur ein zweites gesetzt. Die behauptete Thatsache selbst findet aber gar nicht allgemein, sondern nur in einzelnen Fällen statt, die auch ein- zeln beurtheilt sein wollen. Die von D. angeführten Beispiele sind zum grossen Theile nicht zutreffend. Die diöcischen Lychnis-Arten diurna und vespertina sind nicht unscheinbarer, sondern eher augen- fälliger als die zwitterblüthigen ‚flos eueuli und flos Jovis, Petasites albus ist augenfälliger als Tussilago farfara. Valeriana dioica ist zwar in der That weniger augenfällig als V. fripteris; aber letztere ist nicht, wie D. voraus- setzt und wie man nach den Floren von Koch u. a. schliessen müsste, zwitterblüthig, sondern diöcisch (vel. H. Müller, Alpenblumen $. 472). Von allen von D. angeführten Beispielen, die dem Ref. näher bekannt sind, ist nur ‚Ribes alpinım zutreffend; bei die- sem aber erklärt sich der überreich- liche Insektenzutritt wohl genugsam 242 Litteratur aus der reichlichen Menge völlig offen dargebotenen Honigs. Treffend erscheint uns dagegen die Erklärung der Thatsache, dass die weib- lichen Blüthenstände von Smilar kräf- tiger und compakter sind als die männ- lichen, dass ebenso bei den krautigen Diöeisten Cannabis, Mercurialis, Lychnis diurna und vespertina die männlichen Individuen schlankere Statur, verlän- gertere Internodien und schmalere Blät- ter haben als die weiblichen. Die weib- lichen Blüthenstände haben eben, wie D. mit Recht hervorhebt, nach dem Verblühen noch Früchte hervorzubringen und bedürfen daher grösserer Haltbar- keit und reichlicheren Nahrungszufluss als die männlichen. Bei diöcischen Bäumen findet ein solcher Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Individuen nicht statt, da sie den über- wiegenden Theil des Nahrungsstoffes auf ungeschlechtlich erzeugte Knospen ver- wenden. Der zweite Abschnitt (S.47—79) behandelt die Genealogie der Smi- laceen. Genealogische Forschungen, sagt D., müssen sich auf die That- sachen der Morphologie, der Paläonto- logie und der Geographie stützen. Der oberste Entscheidungsgrund muss aber immer der morphologische bleiben. »Die andern beiden dürfen in keinem Falle gegen ihn erhoben werden. Sie haben nur Werth, wenn sie mit ihm übereinstimmen.« Nach irgend welcher Begründung dieser so absprechend hingestellten Behauptung sehen wir uns aber vergeblich um. Wir halten sie in der That für gründlich verkehrt. Denn die Ergebnisse der Pa- läontologie, die unter günstigen Um- ständen absolut zuverlässig und für sich allein ausreichend sind, um die ge- schichtliche Aufeinanderfolge einer Or- ganismenreihe zu enthüllen, würden absolut werthlos sein, wenn D. recht hätte. Oder wer wollte auf das Ja eines Zeugen, der überhaupt nur Ja und Kritik. ı sagen darf, wohl irgend etwas geben! ' In der That erscheinen uns die genea- logischen Forschungsbegriffe D.’s als durch seine zu geringe Beachtung des genealogischen Befundes bedeutend zu ihrem Nachtheile beeinflusst. Hätte er z. B. die grosse Verbreitung der Amen- taceen in den Kreideschichten berück- sichtigt, so würde er schwerlich zu der (S. 71 ausgesprochenen) Ansicht ge- langt sein, dass die windblüthigen Amen- taceen von insektenblüthigen. Urformen abstammen. Es ist jedoch hier nicht der Raum, auf die mannigfachen, zum Theil sehr schwach begründeten genea- logischen Aufstellungen dieses Abschnit- tes einzugehen. Wir beschränken uns vielmehr darauf, die direkt auf die Smilaceen bezüglichen Ansichten Delpi- no’s in gedrängtester Kürze hier wieder zu geben. Während die Dikotylenfamilien, sagt D., weder jetzt, noch wahrscheinlich je auf eine einzige oder auch auf mehrere natürliche Gruppen zurückführbar sind, stellen dagegen die Monokotylen einen von den Dikotylen abgezweigten, ein- zigen Complex von Familien dar, die sich alle trefflich auf eine und die- selbe Blüthen-Grundform zurückführen lassen, nämlich auf die einfachste Blü- thenform, die beiden Monokotylen über- haupt vorkommt, und die uns mehrere Liliaceen darbieten, d. h. auf die regel- mässige, aus 5 dreigliedrigen Blatt- kreisen bestehende, mit freien Kelch- blättern, Blumenblättern, äussern und innern Staubgefässen und verwachsenen Fruchtblättern. Auf diese Blüthenform lassen sich alle, auch die abweichend- sten Monokotylen durch noch jetzt exi- stirende Zwischenstufen zurückführen : Lemma durch die Vermittlung von Pistia, Ambrosinia und Acorus, die Orchideen vermittelst der Marantaceen, Zingibera- ceen und Musaceen, die Centrolepideen durch die Restiaceen und Commelyna- | ceen u. s. w. Mit dieser Urform stimmt | auch die muthmassliche Stammform der Litteratur Smilaceen, Rhipogonum, fast vollständig überein, bis auf den kleinen Unterschied, dass die Trennung der Fruchtblätter sich unter die Gegend der Narbe hinab — auch auf einen Theil des Griffels fortgesetzt hat; Coibanthus und Eu- smilax weichen durch die Trennung der Geschlechter und Spaltung des Griffels davon ab, Pleiosmilax ausserdem durch unbestimmte Vervielfältigung der Staub- gefässe; am meisten aber entfernt sich und Kritik. 243 von der Grundform Heterosmilax, indem zur Trennung der Geschlechter und völligen Spaltung des Pistills noch Weg- fall eines Blattkreises der Blüthenhüll- blätter und eines Kreises der’ Staub- gefässe, sowie Verwachsung der Kelch- blätter und Verwachsung der Staub- gefässe (Monadelphie) hinzutritt. Del- pino gelangt hiernach zu folgender, der de Cirdeile schen fast entgegengesetzter Anordnung der Smilaceen : I. Zwitterblüthen, in traubenförmige, verlängerte Trugdolden geordnet. Narben auf dem Griffe] zusammenfliessend. Blätter rankenlos. Erste Gattung: Rhipogonum. II. Zweihäusige Blüthen, in doldenförmige zusammengezogene Trugdolden ge- ordnet. Narben von der Spitze bis zur Basis vetzernt, Blätter ranken- tragend. 4... . a Zweite Gattung: Smilaz. A. Blumenblätter und Kelchblätter nach innen gekrümmt. Coilanthus. B. » » » » aussen > 1. Staubgefässe zahlreich bis zu 18. . . . Pleiosmilax. DR nnbeofässe 6, frei. Kelch und Elmenkren: nl Eusmilaz. \3, monadelphisch. Blumenkrone verkümmert Heterosmilax. Mit Recht bringt D. gegen Alph. mit Unterstützung von Francis Dar- de Candolle zur Geltung, dass die ge- win. Aus dem Englischen von J.\V. ringe Zahl der Blüthentheile bei He- | Carus. 506 8. in 8. Mit 196 Holz- terosmilax nicht ein Zeichen ursprüng- schnitten. Stuttgart, E. Schweizer- licher Einfachheit, sondern nachträg- licher Vereinfachung ist, dass daher diese Gattung nicht als die ursprüng- lichste, sondern als die äusserste Ab- zweigung der Smilaceenfamilie betrach- tet werden muss. Der dritte und letzte Abschnitt der Arbeit behandelt die geographische Ver- theilung der sehr zahlreichen und über alle wärmeren Länder der Erde ver- breiteten jetzt lebenden Smilaceenarten und sucht dieselbe in ihrem geschicht- lichen Zusammenhange zu erklären. Zu einem kurzen Auszuge ist indessen die- ser Abschnitt nicht angethan und zu einer ausführlichen Mittheilung wegen der Unsicherheit seiner Ergebnisse wenig geeignet Hermann Müller. Das-Bewegungsvermögen der Pflanzen von Charles Darwın bart’sche Verlagshandlung (E. Koch). 1881. Da über den Inhalt dieses auf sei- nem Gebiete wiederum grundlegenden Werkes in unserer Zeitschrift bereits beim Erscheinen der englischen Ausgabe von berufener Hand eine eingehende Analyse veröffentlicht worden ist, so handelt es sich für heute nur darum, unsern Lesern die Vollendung der deut- schen Ausgabe anzuzeigen. Für die Abon- nenten der Gesammt-Ausgabe ist das- selbe auch als Lieferung 86—92 (Bd. XIII) zu beziehen. Wie wir ren, ist bereits ein neues Werk unermüdlichen Forschers in Vorbereitung, welches über die Lebensgewohnheiten hö- des der Regenwürmer und deren Wichtig- keit für die Bereitung des Pflanzen- humus handelt. 244 Nene Schriften zur kosmischen Physik. 1. Von den Umwälzungen im Weltall. Von Rudolph Falb. 288 Seiten mit 95 Abbildungen. Wien, Pest, Leipzig. A. Hartleben’s Verlag, 1881. Die Nachbarwelten als gegen- seitige Gestalter. EinHandbuch für Lehrer und Gebildete von Prof. Dr. G. Heinrich Schmick. 77S. in gr.8., Leipzig1880. Alwin Georgi. 3. Die Veränderlichkeit des Klima’s und ihre Ursachen, von Dr. Franz v. Czerny, Professor der Erdkunde an der Universität Krakau. 1008. in 8. Wien, Pest, Leipzig, Hartleben, 1881. 4. Praktische Anleitung zur Beobachtung der Polarlichter und der magnetischen Erschei- nungen in hohen Breiten, von Carl Weyprecht, Schiffslieutenant. 488. in8. Wien, Moritz Perles, 1881. Wir beginnen unsere Besprechung mit dem Falb’schen Werke, weil das- selbe bis zu den ersten Anfängen des Werdens im Weltall zurückgreift. In seinem ersten Buche, betitelt >»In den Regionen der Sterne« giebt der Heraus- geber des »Sirius« einen Abriss der Ent- wickelungsprozesse im Weltall, wobei er namentlich bei den Gestalten der Nebelflecke und der Anordnung der Ge- stirnsysteme längere Zeitverweilt. Neu ist darin die Zeichnung unsres Weltsystems WI in einer, dem Saturn mit seinem Ringe‘ ähnlichen Anordnung. Das eigentliche, nahezu kugliche Sternsystem in dessen Mitte sich der grosse Orion- Nebel befinden soll, — würde durch die beiden Milchstrassen-Ringe in ähn- licher Weise, nur in grösserer Entfer- nung umgürtet, wie der Saturn von seinem bekanntlich ebenfalls in mehrere Zonen zerfallenden Ringe. Dieser aus den öffentlichen Vorträgen des Ver- fassers hervorgegangene Theil ist in- dessen nur wie eine Art Einleitung zu Litteratur und Kritik. dem eigentlichen Thema, der Einwir- kung von Sonne und Mond auf die Erde, zu betrachten. In dem kürzeren zweiten Abschnitt: »Im Reiche der Wolken«, werden vor- nämlich diese Einwirkungen auf die Atmosphäre betrachtet. Die Anziehungs- kraft von Sonne und Mond soll Druck- verminderungen in der Atmosphäre her- vorrufen, die bei günstigen Constella- tionen so stark werden, dass sie nicht nur stärkeres Aufsteigen der wärmeren Luftschichten in den Aequatorial-Gegen- den, sondern auch Unwetter aller Art erzeugen und den Ausbruch von Erd- beben begünstigen, in denen das flüssige Erdinnere dadurch in den Spalten der Erde emporsteigt und dort Dampfexplo- sionen zu Wege bringt. Etwa vier- tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung wären diese Einwirkungen der Sonne- in den Perihelzeiten so stark ge- worden, dass damals ungeheure Dunst- mengen vom Aequator nach den höhern Breiten befördert worden seien, und dort die Sintfluth erzeugt hätten, welche nach circa 4000 Jahren wiederkehren würde. Im dritten und letzten Buche: >In den Tiefen der Erde«, geht der Ver- fasser näher auf seine Erdbebentheorie ein, nach welcher bekanntlich die Erd- beben als combinirte Folgen der An- ziehung von Sonne und Mond auf die Atmosphäre und das flüssige Erdinnere dargestellt werden, weshalb sowohl ge- wisse Zeiten des Jahres als auch ge- wisse Stellungsverhältnisse von Sonne und Mond als besonders günstig für die Erzeugung von Erdbeben bezeichnet werden. Demgemäss falle das Maximum auf den Jahreswechsel (grösste Sonnen- nähe), das Minimum in die Mitte des Jahres. Andere kräftige Einwirkungen von Sonne und Mond fänden statt an Neu- und Vollmondtagen und besonders, wenn zugleich eine Finsterniss statt- findet, weil dann die beiden Weltkörper nahezu in derselben Richtung wirken. Ebenso seien die Aequatorstände von Litteratur und Kritik. Sonne und Mond verhängnissvoll, be- sonders wenn mehrere dieser Combi- nationen zusammenwirkten. Aus den an- geführten Gründen sollen derartige Com- binationen besonders verhängnissvoll im Januar, gegen den 1. April und 1. Okto- ber sowie im Dezember sein, und es wird eine ausführliche Erdbebenstatistik angeführt, welche diese Sätze, und die darauf begründete Erdbebenprognose, durch welche sich der Verfasser in wei- tern Kreisen bekannt gemacht hat, be- stätigen sollen. In einem Anhange wird dann noch das Sismobathometer — ein neues Instrument zur Bestimmung der Tiefe, des Oberflächen - Mittelpunktes, der Fortpflanzungs-Geschwindigkeit, der Stärke, der Eintrittszeit und der Zahl der Erdstösse — erörtert. Referent, welcher glaubt, dass in den Falb’schen Ansichten ein gesunder Kern liegt, kann das Erscheinen dieses Buches nur beklagen, weil es seiner Ueberzeugung nach, der Sache nur scha- den kann. Es wimmelt von dogmatischen Behauptungen und Flüchtigkeitsfehlern, die den Gegnern zu willkommnen An- griffspunkten dienen können, um die Mängel der Methode des Verfassers zu erweisen. Was soll man von einer Un- fehlbarkeit sagen, welche (S. 230) die von so vielen sorgfältigen Beobachtern angenommene Schrumpfungs- oder Fal- tungstheorie der Erdrinde ohne weitern Beweis als >auf einem groben, physi- kalisch-geologischenSchnitzerberuhend« abfertigt, und dabei solche — Flüchtig- keiten unterlaufen lässt, wie die Ver- bindung von Kohlenstoff und Wasser zu Kohlenwasserstoff (S. 67) oder die Zeile: »Wenn .... Wasserstoff und Sauerstoff verbunden wird, entwickelt sich das sogenannte Knallgas mit plötz- licher und bedeutender Wärmeentwicke- lung ....« (8. 77) oder die Sätze: »Daher kommt nur ein kleiner Theil des Wassers, welches als Regen in den Boden dringt, als Quelle wieder an die Oberfläche. Der grösste Theil ist blei- Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 245 bend im Innern gebunden.« Wenn das wahr wäre, würden wir in spätestens zehn Jahren aufgetrocknet sein, wie der Mond. Die Zöllner’schen Petroleum-Kometen gelten hier bereits als Thatsachen! Da wir, wie gesagt, in den Falb’schen Ansichten einen sehr der genaueren Prüfung würdigen Anlauf zu einer Lösung eines bisher nichts weniger als »vollkom- men gelösten« Problems zu gewahren glauben, so müssen wir es doppelt be- dauern, dass der Verfasser seinen mehr- Jährigen Aufenthalt am Fusse der Anden, statt zu sorgfältiger Untersuchung der an seinenNamensich knüpfenden Theorie, zu Studien über die »Ursprache« und zur Abfassung derartiger Bücher ver- loren hat. (S. 79.) In Nr. 2 tritt uns eine erfreulichere litterarische Leistung entgegen. Professor Schmick hat darin eine kurze und ge- drängte Uebersicht seiner in sieben grösseren Werken entwickelten Ansich- ten über die »säkulare Umsetzung der Meere« gegeben, die ungemein geeignet ist, uns mit der jedenfalls beachtens- werthen Theorie Schmick’s bekannt zu machen. Je mehr sich die Ansicht be- festigt, dass die Continente im Wesent- lichen immer ihre jetzige Lage einge- nommen haben, und doch so zahlreichen Ueberfluthungen und klimatischen Gegen- sätzen unterlegen sind, wie sie uns die geologischen Untersuchungen und na- mentlich die Studien über die soge- nannte Eiszeit beweisen, um so nöthiger wird es für uns, die kosmischen Ursa- chen dieser Veränderungen in's Auge zu fassen. Nach einer eingehenden Ein- leitung und Kritik der einschlägigen Theorien vonAdh&mar und Croll, als derjenigen, welche’ am meisten Beach- tung gefunden haben, erläutert der Ver- fasser seine eigene Theorie, die bekannt- lich darin gipfelt, dass abwechselnd 10500 Jahre hindurch die Sonnenan- ziehung den Nord- oder Südpol der Erde 17 Litteratur 246 begünstigt, und deshalb die flüssigen Stoffe innerhalb und oberhalb der festen Erdmasse dorthin häuft, wobei eine Verschiebung des Erdschwerpunktes in’s Spiel kommt, welche gegenwärtig die innern und äussern Flüssigkeiten nach dem Südpole zieht. Gegenwärtig und noch für längere Zeit steigen die Nord- polargebiete aus dem Meere, die Süd- polargebiete werden überfluthet. Alle zehntausend Jahre kehrt sich durch den Wechsel der Excentrieität der Erdbahn zu Gunsten des andern Poles das Ver- | hältniss um, und dadurch wird die Ver- theilung der Meere eine entgegengesetzte, | Festland wird zur See, See zu Festland, die Klimate ändern sich, Thiere und Pflanzen werden zu Wanderungen ge- zwungen, welche ihrer Umgestaltung und Formvermehrung überaus förderlich sind, so dass dadurch die Lücken der Formen- zahl, welche das durch die gleichen Verhältnisse herbeigeführte Aussterben einzelner Arten bewirkt, mehr als ge- füllt werden. Wir können die Schmick’- sche Theorie vorläufig noch nicht, wie es einige begeisterte Anhänger derselben bereits vor Jahren gethan haben, mit» den Kepler’schen und Newton’schen Ent- deckungen auf eine Stufe stellen, wir theilen namentlich seine Ansichten über die Gebirge nicht, und sind dessen eingedenk, dass die Tiefseeforschungen der Challenger-Expedition am Südpol nicht die dort vermutheten grösseren Meerestiefen gefunden haben, gleich- wohl müssen wir die Theorie als eine wohl durchdachte bezeichnen, und :em- pfehlen das vorliegende Buch nicht nur als ein bequemes ÖOrientirungs- mittel über dieselbe, sondern auch als den neuesten Standpunkt derselben darlegend. Während sich die beiden vorgenann- ten Werke vorwiegend mit Aufstellung und Unterstützung besonderer Theorien über die Ursachen der klimatischen und mechanischen Veränderungen aufunsrem und Kritik. Erdball beschäftigen, liefert Nr. 3 eine zusammenfassende, kritische Darstellung der über die Veränderungen des Erd- klima’s aufgestellten Theorien. Dieselbe zeichnet sich durch Reichhaltigkeit und Objektivität sehr vortheilhaft aus, und gewährt eine ebenso anregende als be- lehrende Lektüre. Der Verfasser hat die Darlegung so angeordnet, dass er zunächst die Veränderlichkeit des Klima’s in den historischen Zeiten betrachtet, und erst in einem zweiten kürzeren Ab- schnitt auf die Veränderungen in den geologischen Zeiten eingeht. Diese An- ordnung bietet den Vortheil, dass die Diskussion von den bekannteren zu den unbekannteren Thatsachen fortschreitet. In dem ersteren Theile ist besonders die sehr eingehende Darstellung der An- sichten über den Fänfluss der Sonnen- flecken-Periode auf Klima und Wetter von grossem Interesse. Bekanntlich haben sich in neuerer Zeit besonders englische Astronomen und Physiker auf dieses Thema geworfen und einen Zu- sammenhang der solaren Erscheinung mit allen möglichen irdischen Vorgängen zu finden geglaubt. Die Sonnenflecken- Minima sollen nicht nur niedrigere Tem- peratur, Regenverminderung, Boden- unfruchtbarkeit, Hungersnoth, Heu- schreckenzüge, Welthandelskrisen, Ko- meten- und Weinarmuth, sondern auch Erdbeben und verwandte irdische Reak- tionen verschulden. Ebenso eingehend wird der klimatische Einfluss der perio- dischen Veränderungen der Erdentfer- nung von der Sonne, der Erhebungen und Senkungen des Bodens, der Ver- theilung von Festland und Gewässer, und der Einfluss der vom Menschen bewirkten Veränderungen (Verminderung der Wälder u. s. w.) betrachtet. Hin- sichtlich der vorzeitlichen Veränderungen ist der Verfasser den kosmischen Theo- rien von Adhömar, Croll, Schmick und anderen nicht eben günstig ge- stimmt, und hält hinsichtlich der so- genannten Eiszeiten, die Campbell’sche Litteratur Hypothese *, nach welcher dieselben keine universellen, sondern nur lokale Er- scheinungen gewesen wären, für ange- messener. Wie dem auch sein mag, jedenfalls verdient die fleissige, unge- mein umsichtige und reichhaltige Arbeit die Aufmerksamkeit aller Derjenigen, welche diesem wichtigen Thema ihr Interesse zuwenden. Nr. 4 ist ein Vermächtniss des für die Wissenschaft im Allgemeinen und für die Polarforschung im Besondern zu früh ver- storbenen Carl Weyprecht, des Führers der zweiten österr.-ungarischen Nord- polexpedition. Unter Verwerthung der dabei gewonnenen Erfahrungen, will es dem Nachfolger auf diesem Forschungs- gebiete der Wege ebenen, und ihn von vornherein mit den die Beobachtung er- leichternden Kunstgriffen bekannt ma- chen, die sich der Neuling sonst erst durch längere Ausdauer zu eigen machen würde. Die Magnetnadel zeigt in jenen hohen Breiten nämlich eine solche Un- ruhe, dass einer schnellen und sichern Beobachtung eigenthümliche Schwierig- keiten entgegenstehen. Die Anleitung ist in besonderem Hinblick auf das be- vorstehende internationale Vorgehen zur Erforschung der physikalischen Geo- graphie des Nordpols verfasst, und wir müssen es als einen glücklichen Um- stand für die Wissenschaft betrachten, dass der Verfasser seine Erfahrungen noch kurz vor seinem Hingange ver- öffentlichen konnte. Dr. L. Rabenhorst’s Kryptoga- men-Flora von Deutschland, Oesterreich und der Schweiz. Erster Band. Pilze von Dr. G. Winter, Dozent der Botanik inZürich. Leipzig, Ed. Kummer 1881. Lief. 1 und 2. Rabenhorst’s Kryptogamen-Flora gilt als ein klassisches Werk, welchem auf dem betreffenden Gebiete nichts Eben- * Vergl. Kosmos Bd. V, S. 294. und Kritik. 247 bürtiges gegenübergestellt werden kann. Die Verlagshandlung erwirbt sich daher ein wirkliches Verdienst, indem sie nach dem jüngst erfolgten Tode des Verfas- sers, eine durchaus neu bearbeitete Auflage veranstaltet, wobei die Bear- beitung der einzelnen Abtheilungen in berufene Hände gelegt ist. Es werden beispielsweise die Meeresalgen von Ferd. Hauck in Triest, die Süsswasseralgen von Paul Richter-Leipzig, die Diato- maceen von A. Grunow in Berndorf bei Wien, die Laub- und Lebermoose von G. Limpricht in Breslau bear- beitet werden. Zunächst sollen die Pilze in zehn Lieferungen erscheinen, und die beiden vorliegenden Lieferungen, welche ausser einigen einleitenden Kapi- teln über die Grundzüge der Morpho- logie und Physiologie, und das Einsam- meln der Pilze, einen kurzen Ueberblick des Systems und die Klassen der Schizo- myceten, Saccharomyceten, nebst einem grossen Theil der Basidiomyceten ent- halten, zeigen hinlänglich, dass der Verfasser den neuesten Standpunkt der Mycologie einnimmt und mit grosser Sorgfalt das unendliche Material zu sichten versteht. Zahlreiche gute und charakteristischeAbbildungen vonHaupt- vertretern der einzelnen Gattungen kom- men der Anschauung zu Hülfe, so dass auch dem Bedürfnisse des Anfängers Rechnung getragen wird. Das gedie- gene Unternehmen verdient die regste Betheiligung von Seiten des botanischen Publikums, die ihm, da es ohne Con- kurrenz dasteht, auch sicher nicht feh- len wird. Zwangsmässige Lichtempfind- ungen durch Schall und ver- wandte Erscheinungen auf dem Gebiete der andern Sin- nesempfindungen von Eugen Bleuler und Karl Lehmann, Candidaten der Medizin in Zürich. 96 S. in 9. Leipzig, Fues’ Verlag (R. Reisland), 1881. 248 Litteratur und Kritik. Die vorliegende Abhandlung beschäf- | Uebereinstimmung der Einzelnangaben tigt sich mit jenen Nebenempfindungen, die bei vielen Personen im Bereiche des einen Sinnes durch Erregungen eines anderen erzeugt werden, wie wenn z.B. Klänge farbig, Farben kühl oder warm u. s. w. empfunden werden. Sehr viele Menschen (und z. B. auch Referent) sind gewohnt, den Vokalen, andere den Tonhöhen, oder den Klangfarben der ver- schiedenen Instrumente, wirkliche Far- ben und auch wohl Formen beizulegen. Referent empfindet seit seiner Kindheit (und wie.er hier sieht, sehr abweichend von den meisten anderen Personen) mit der grössten Constanz a weiss, e schwarz, i gelb, o rothbraun und u blaugrün. Demselben anscheinend sehr verwickel- ten Gebiete haben in neuerer Zeit Nussbaumer und Fechner ihre Aufmerksamkeit zugewendet, aber ob es sich dabei lediglich um eingewurzelte willkürliche Ideen- Assoziationen oder um eine Folgenormaler psychophysischer | Gesetze, oder aber, wie Prof. Beneke glaubt, um Psychosen handelt, muss vorerst dahingestellt bleiben. fasser leiten aus ihren vergleichenden Studien folgende allgemeine Sätze ab: 1. Helle Photismen (Lichtempfindun- gen) werden erweckt durch: hohe Schall- qualitäten, starke Schmerzen, scharf begrenzte Tastempfindungen, kleine und spitze Formen. Dunkle Photismen durch das Umgekehrte. 2. Hohe Phonismen (Schallempfindungen) werden erweckt: durch helles Licht, scharfe Begrenzung, kleine und spitze Formen. Tiefe Pho- nismen durch das Umgekehrte. 3. Kleine und spitze Photismen, wie überhaupt solche mit scharfbegrenzten Formen werden durch hohe Schallempfindungen erzeugt. 4. Roth, Gelb und Braun sind häufige Photismenfarben; Violett und Grün sind selten, Blau steht der Häufig- keit nach in der Mitte. 5. Durchgehende Die Ver- verschiedener Personen kommt nicht vor. 6. Unangenehme primäre Empfind- ungen können angenehme Secundär- Empfindungen erwecken und umgekehrt. 7, Die Sekundär-Empfindungen werden durch psychische Vorgänge kaum mehr beeinflusst, als die primären Empfind- ungen, im übrigen sind sie unveränder- lich. 8. Die Anlage zu Sekundär-Em- pfindungen ist erblich. 9. Spuren der Sekundär-Empfindungen sind sehr ver- breitet. Ausgebildetere Secundär-Em- ‚ pfindungen konnten wir bei '/s aller aus- gefragten Personen konstatiren. 10. Bei psychopathisch belasteten Personen fin- den sich Secundär-Empfindungen nicht häufiger als bei normalen. Botanische Mikrochemie. Eine Anleitung zu phytohistologischen Un- tersuchungen zum Gebrauch für Stu- dirende von V. A. Poulsen. Aus dem Dänischen unter Mitwirkung des Verfassers übersetzt von Carl Müller. Cassel, Theodor Fischer, 1881. Das vorliegende kleine Buch macht uns in übersichtlicher Zusammenstellung mit den wichtigsten Reagentien bekannt, die bei der mikroskopischen Unter- suchung von Pflanzentheilen ihre che- mische Zusammensetzung und physische Struktur leichter erkennbar machen. Der erste Abschnitt behandeit die Che- mikalien selbst, der zweite die betreffen- den Pflanzenstoffe und Reaktionen auf dieselben. Wie der Uebersetzer mit Recht hervorhebt, sollte dem Buche »ein Plätzchen in den Schubladen der Arbeitstische botanischer Laboratorien eingeräumt werden, damit es dem Ar- beitenden zu jeder Zeit zur Hand ist, ohne dass der Gang einer Untersuchung durch ein Nachschlagen in der weit verstreuten Literatur der botanischen Mikrochemieunterbrochen werden muss. « Ideologismus und Idealismus. Von B. Carneri. Es beruht offenbar auf einem Natur- gesetz, dass der menschliche Fortschritt immer zwischen Extremen sich bewegt. Wenigstens hat es ganz den Anschein, als könnte er allein dadurch zu Stande kommen, dass seine Bewegung bald zu sehr nach rechts, bald zu sehr nach links abweicht. Es liesse dies damit sich erklären, dass das jeweilige Zu- sehr eine Kraft auslöst, die nach der entgegengesetzten Richtung zurück- schnellt, was nicht so undenkbar ist, als es auf den ersten Blick sich aus- nimmt, insofern die Extreme sich be- rühren, mithin die Wirkung in der Ur- .sache enthalten wäre. Jedes Zusehr würde alsdann einfach der Punkt sein, auf welchem die Kraft der Einen Rich- tung sich erschöpft, und die Kraft der Richtung nach dem andern Zusehr sich entfesselt — eine Bewegungsform in die andere übergeht. Wir hätten es sonach mit einer naturgesetzlichen Ent- faltung der Macht zu thun, die im Satz des Widerspruchs liegt; und da dieser auf dem Identitätsprineip beruht, so ergäbe sich damit unter Einem die Er- klärung der schliesslichen Beharrlichkeit des Fortschritts. Gegen diese Erklä- rung könnte mit Recht nur seitens Jener Einsprache erhoben werden, die um eine Macht wissen, welche den Fortschritt un- unterbrochen auf der geraden Linie zu Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). erhalten vermag. Wir sind nicht so glücklich, eine derartige Macht zu ken- nen, halten uns daher für ebenso be- rechtigt, bei unserer Anschauung zu beharren, und dies umsomehr, als der Fortschritt thatsächlich der von uns gekennzeichneten Bewegungsweise folgt. Allerdings kann man uns einwenden, es liege eine Verwirrung in unserem Be- griff des Fortschritts, und dass wir auch Manches, das unsern eigenen Zielen widerstreitet, alsFortschrittgelten lassen. Das Erstere ist möglich, das Letztere geben wir unbedingt zu. Wir haben im Laufe der Jahre uns überzeugt, dass nicht nur in vielen Fällen die Möglich- keit des Fortschritts an Rückschritte gebunden ist, die es aber nur scheinbar sind, weil der Fortschritt ein falscher gewesen war; sondern dass auch manchem Fortschritt eine hohe Be- deutung zukam, der uns im Anbe- ginn als ein sehr unbedeutender, wo nicht gar als etwas Verfehltes erschei- nen wollte, Die Schwierigkeit, den Werth des Neuen, zumal anlangend seine Folgen, richtig zu. beurtheilen, ist es, was die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre zur Grundbedingung eines intel- ligenten Staatswesens macht. Diese Freiheit führt, wie wir bereits hervor- gehoben haben, auch zum Extrem, aber 15 250 trotzdem oder vielmehr gerade dadurch schliesslich immer vorwärts. Betrachten wir die Philosophie als das, was sie zu sein hat, als die Grund- lage aller Wissenschaft; so ergiebt sich der Realidealismus als die richtige Mitte und damit als die Richtung durch die sie allein allen berechtigten Anfor- derungen der Forschung genügt. Die beiden extremen Richtungen, als deren Resultirende der Realidealismus sich darstellt, sind der Materialismus oder naive Realismus, und der Ideo- logismus oder naive Idealismus. Vor nicht gar langer Zeit war die mate- rialistische Richtung die vorherr- schende, und der naive Realismus, dessen untrügliches Kennzeichen es ist, alles wissen zu wollen, that in einer Weise sich breit, die naturgemäss eine idea- listische Reaction hervorrufen musste. Allein im Wesen der Reaction liegt es — wir haben dies weiter oben uns zu erklären versucht — dem andern Ex- trem zuzutreiben: Die Naivetät ist der Berührungspunkt, der Materialismus schlägt in den Spiritualismus um, der bis zum Spiritismus sich versteigt, wel- cher ebenfalls Dinge wissen will, die es für den menschlichen Verstand nicht giebt; während andrerseits eine geäng- stigte Bescheidenheit sich beeilt, selbst im Bereich der Erfahrung dem Forscher- geist Gränzen abzustecken. Man braucht nur die Scene zu ändern, und bei po- litischen Reactionen erfreut man sich desselben Schauspiels. Selbstverständlich legt in solchen Zeiten der Idealismus strenger Obser- vanz die Hände nicht in den Schooss. Wir verstehen unter diesem den Ideo- logismus, das richtige andere Extrem des Materialismus. Der Spiritua- lismus ist eigentlich nur eine Abart davon und verhältnissmässig modern. Er verhält sich zu ihm, wie zur Tyrannis der Absolutismus. Wie von alters Demo- kratie und Tyrannis als die Extreme sich gegenüberstehen: so treten, seit es B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. Philosophie giebt, Materialismus und Ideologismus sich entgegen. Beide er- klären den Krieg allem, was nicht ihre Farbe trägt: da aber jeder im andern das Extreme durchschaut, und ihm nur eine flüchtigere Lebensfähigkeit zu- schreibt; so erkennen beide den Real- idealismus als ihren gefährlichern Feind. Und so sehen wir jetzt wieder gegen diesen den Vollblutidealismus, der aber strenggenommen der blutlose Idea- lismus ist, mit allen Waffengattungen des höhern Kritieismus zu Felde ziehen. Die Taktik ist eine glücklich gewählte; denn der Realidealismus ist der Hort alles dessen was richtig ist am Mate- rialismus, oder was dasselbe ist, der richtige Materialismus ist Realidealismus. Werden hier die Princeipien überwunden, so sind beide Feinde besiegt. Es ist nicht unsere Absicht, gegen die Schrift, die uns da in erster Linie vorschwebt (der Realismus der modernen Naturwissenschaft im Lichte der von BERKELEY und Kant angebahnten Er- kenntnisskritik, von Dr. Anton v. LEcLAIR, Prag, Tempsky 1879) zu polemisiren. Rein philosophische Details gehören nicht in die Spalten dieser Zeitschrift. Wir werden nur anknüpfen an diese Schrift, weil in ihr alles, was gegen den Realis- mus sich sagen lässt und noch etwas darüber, zusammengetragen ist, und sie uns dadurch eine ganz ausgezeichnete Gelegenheit giebt, gegen derartige Aus- führungen durch einfache Darlegung unserer Grundsätze Stellung zu nehmen. Wünscht der geehrte Verfasser etwas Näheres, so möge er angeben, inwie- fern seine Anschauungen über den »vul- gären Körperglauben« auch hier An- wendung finden, und wir werden mit Vergnügen auf seine Erörterungen näher eingehen. Hier ist er uns nur der Repräsentant einer ganzen Reihe von Idealisten. Wie seine Belesenheit — die Citate machen zwei Drittel des Buches aus — ist auch sein Geist ein ungewöhnlicher. Ebenso sind seine Ab- B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. 251 ‚sichten gewiss die besten; denn er kämpft im Dienste »der Befreiung der Culturwelt von der sterilen und ethisch nicht unbedenklichen Einseitigkeit des Materialismus einerseits, von der ver- blendenden und vielfach lähmenden Zaubermacht des religiösen Fanatismus und superstitiöser Vorstellungen an- dererseits< (a. a. O. S. 72). Allein wir vermögen nicht einzusehen, wieso diese Gefahren und gar die letzteren aus der blossen Annahme eines den Erscheinungen zum Grunde liegenden Stoffs erwachsen mögen? Dies zu er- klären unterlässt der Verfasser, wie er auch zwar wiederholt versichert, aber ohne es uns begreiflich zu machen, dass die Naturwissenschaften ohne die Annahme einer Materialität nach wie vor in ihren Arbeiten fortfahren können. Nur seine Besorgnisse sind uns ver- ständlich. Ihre Hauptquelle entspringt einer Verwechselung der Kanr'schen Ausdrücke: transscendent und trans- scendental. In der Annahme einer Ma- terie erblickt er die Annahme einer transscendenten Welt. Gewiss ist alles, was wir einen Gegenstand unserer Wahrnehmung nennen, ein Com- plex von Empfindungen; allein damit dieser Complex zu Stande komme, ist ausser uns noch etwas nothwendig, über dessen eigentliche Natur uns zwar nichts bekannt ist, aus dessen Wechselwirkung mit uns aber jener Empfindungscomplex erst hervorgeht. Befindet sich irgendwo ein Sessel, so entsteht jedem Sehen- den, der sich ihm nähert, der Complex von Empfindungen, den wir Sessel nennen. Wird der Sessel entfernt, so kann uns allerdings auf demselben Punkte im Wege der Ideenassociation eine je- nem Complex von Empfindungen ent- sprechende Vorstellung entstehen; aber wir und mit uns alle Sehenden könnten da unzählige Male vorübergehen, ohne dass dies der Fall sei. Wollte Einer, die Vorstellung mit der Erscheinung verwechselnd, auf den blos vorgestellten Sessel sich niederlassen, so würde er die Bekanntschaft eines Empfindungs- complexes machen, der von der blossen Vorstellung auffallend sich unterscheidet, und zwar gerade durch das Fühlen dessen, was die eigentliche Erscheinung bedingt. Was wir an der Wahrnehm- ung eines Sessels Materie nennen, ist das, was auf einem bestimmten Punkte des Raumes das nothwendige Zustande- kommen dieses bestimmten Empfindungs- complexes ermöglicht. Ueber das, was diese Möglichkeit ausmacht, können wir nichts wissen; jedoch dass diese Möglichkeit gegeben sein müsse, und zwar räumlich, wie wir selbst, daher nicht als transscendent, gehört zu un- serer Erfahrung. Dieses ist auch die Anschauung Kanr’s und er sagt es oft und klar, dass gerade dadurch sein Idealismus vom. Idealismus BERKELEY’s sich un- terscheidet, indem dieser das Materielle an den Gegenständen vollständig leug- net, und sie zwar nebeneinander aber ausschliesslich in unserem Be- wusstsein bestehen lässt. Kant und Berkeney haben durchaus nicht den- selben Idealismus vertreten, und folg- lich auch durchaus nicht dieselbe Er- kenntnisskritik angebahnt, wie man da plötzlich glauben machen möchte. Es ist nicht möglich, entschiedener, als es Kant thut, gegen den Idealismus zu protestiren, derihm schon im Jahre 1782 von einem Kritiker zugeschrieben wurde. Wir thun am besten, wenn wir ihn selbst reden lassen. Er sagt: »Der Satz aller echten Idealisten, von der eleatischen Schule an bis zum Bi- schof BERKELEY, ist in dieser Formel enthalten : Alle Erkenntniss durch Sinne und Erfahrung ist nichts als lauter Schein, und nur in den Ideen des reinen Verstandesundder Vernunft ist Wahrheit. —_ Der Grundsatz, der meinen Idealis- mus durchgängig regiert und bestimmt, ist dagegen: Alle Erkenntniss von Din- gen aus blossem reinem Verstande oder 19? 252 reiner Vernunft, ist nichts als lauter Schein, und nur in der Erfahrung ist Wahrheit.« — (Prolegomena, Frankfurt und Leipzig 1794, S. 205. En. HARrTEN- stein S. 121.) Nur die Weise der Er- scheinung richtet sich nach unseren | Begriffen, respective nach der Con- struction unserer Sinne; dass die Er- scheinung Realität habe, ist von BEr- KELEY, aber nicht von Kant bestrit- ten worden. Allein BERKELEY hat eine geistige Substanz angenommen; und dies mit gutem Grunde: nicht bloss, weil dies der Kernpunkt seiner ganzen Weltanschauung war, auf dem seine Vernichtung der Körperwelt hin- zielte; sondern weil überhaupt seine Weltanschauung nur dadurch einen Halt, um nicht zu sagen, einen Sinn gewann. Er gehört zu den liebenswürdigsten Denkern, und die Ueberzeugung, die aus jedem seiner Worte spricht, im Verein mit der geistvollen Behandlung des Gegenstandes lässt die abstracteste der Weltanschauungen als einen Sieg über die Abstraction erscheinen. Nichts ist uns begreiflicher, als der tiefe und bleibende Eindruck, den er hervor- gerufen hat; denn mit wahrer Meister- schaft hat er seinen Standpunkt ver- treten, und sein Standpunkt ist ein berechtigter. Allein berechtigt ist er nur in sei- ner Ganzheit, und wir können es nur als eine seltsame Unklarheit bezeichnen, die um so seltsamer sich ausnimmt gegenüber der Verächtlichkeit, mit der LecLAıR alles, was nicht zu seinem Idealismus gehört, behandelt, dass dieser Kritiker meint, BERKELEY’s Idealismus habe noch einen Sinn, wenn man daran den positiven Theil streicht, und nur den negativen gelten lässt. Er sagt: »Aus der Thatsache, dass beispielsweise R. Mayer in verdienter Anerkennung seiner epochemachenden Leistungen und ohne Rücksicht auf den eigenthümlichen Hintergrund seines wissenschaftlichen Denkens allenthalben den Grossgeistern B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. der neuesten Entwickelungsphase der »exakten Naturforschungbeigezählt wird, leiten wir für uns das Recht ab, in analoger Weise Berkerer's kritische Analyse des gemeinen und naturwissen- schaftlichen Körperglaubens in streng- sterSonderung von seinen theo- logisch-dogmatischen Aufstel- lungen zu würdigen, und als histo- risches Vorspiel, als Vorstufe zum voll- endeten, in sich consequenten Kantianismus zu betrachten« (a. a. 0. S. 246). Dass BERKELEY, was er für die Materie geltend gemacht, nicht ausgedehnt hat über jegliche Er- kenntniss, wird da als eine »Halbheit« bezeichnet ähnlich der, welche R. MAvEr zum Vorwurf gemacht werden kann. Der Ausdruck Halbheit sagt uns klar, wie gänzlich dem geehrten Verfasser das Unpassende einer Zusammenstellung dieser beiden Männer entgeht. Der Erstere hat uns eine Weltanschau- ung, der letztere ein Gesetz hinter- lassen. Zwischen Mayzr’s Wärme- äquivalent und den Anschauungen, die er betreffs der Schöpfung oder des Christenthums haben mochte, besteht kein Zusammenhang: er hätte zu kei- nen, aber auch zu zehn Göttern sich bekennen können, sein Gesetz steht fest, und wird stehen, so lang die Welt steht. Was wäre dagegen aus BERKELEY’s Weltanschauung geworden, wenn er, wie die Materie, auch den Geist wegkritisirt hätte? Nichts wäre ihm übrig geblieben, und aus dem Nichts macht man nicht nur keine Welt, sondern auch keine Weltanschauung. Gewiss gelten alle Argumente, die BER- KELEY gegen die Annahme einer kör- perlichen Substanz vorgebracht hat, ebenso gegen die Annahme einer gei- stigen Substanz. Aber das ist es eben, was BERKELEY's Buch so reizend macht, dass man es sieht, wie er in seiner eigenen Schlinge sich fängt, und seiner Abstractionsflucht zum Trotz, gezwungen ist, eine Substanz anzuneh- B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. men. Transscendenz kann ihm keine zum Vorwurfe gemacht werden: sein System ist ein geistig monistisches. Er ‘konnte gar nicht aus einer Körperwelt in eine Geisterwelt hinübersteigen, so- bald es die Körperwelt nicht mehr gab. Er bedurfte auch dessen nicht, denn er befand sich mitten in der Geister- welt. Darum ist Konsequenz in seiner Weltanschauung, und haben wir sie eine berechtigte genannt. Durch die Annahme seiner geistigen Substanz war die Annahme einer körperlichen Sub- stanz gerade so ausgeschlossen, wie durch unsere Annahme eines Stoffes, der den Körpern und Kräften zum Grunde liegt, die Annahme einer geistigen Sub- stanz ausgeschlossen ist. Ihm war es aber nur um seine Geisterwelt zu thun, und ernhat sie sich erkauft um den Preis der materiellen Welt. Eine »kleine Zahl Auserwählter« wie LecLAIR die modernen Idealisten nennt (a. a. O. S. 72), kommt uns nun mit dem Ansinnen, die materielle Welt auf- zugeben. Da ist es doch nichts als billig, wenn wir fragen, was uns dafür geboten wird? Aber man braucht nur diese Frage zu stellen, um die Gefahr zu sehen, die uns da droht. Man kann dafür nur entweder gar nichts uns bieten, was denn doch gar zu wenig sein würde, oder eine Geisterwelt & la BERKELEY, der man allerdings für die Noth den theologischen Charakter ab- streifen könnte, die aber darum doch nicht minder eine Geisterwelt & la BEr- KELEY wäre. Da gestehen wir unum- wunden, dass wir bei der theologischen Geisterwelt BERKELEY’s wenigstens wüss- ten, woran wir wären; während wir mit einer Geisterwelt solcher Dogmatiker — der Dogmatismus käme da erst recht zur vollen Blüthe — nichts anzufangen wüssten. Dass sie mit BerkELey in ein unbekanntes Reich hinübertreiben, mag auch unsern » Auserwählten«, wenn- gleich nicht mit Klarheit, vorgeschwebt haben. Darum muss Kant aus der 253 Klemme helfen, und zu diesem Zweck im Handumdrehen zu einem Schüler BERKELEY's umgewandelt werden, woran gewiss nie gedacht worden wäre bei einer klaren Beurtheilung der Sache. Kant hat sein Verhältniss zu Ber- KELEY in den zwei von uns angeführten Sätzen mit einer Bestimmtheit präci- sirt, die nichts zu wünschen lässt; und das Recht, dies zu thun, steht gewiss niemand so sehr zu, als ihm selbst. Wir kennen daher einen Idealismus und Kriticismus BERKEREY’s und einen Idea- lismus und Kriticismus Kanr’s; aber wir kennen keine von BERKELEY und Kant angebahnte Erkenntniss- kritik. Idealisten waren beide, und Kritiker waren beide; allein ihr Idea- lismus war ein grundverschiedener, und ihr Kritieismus hat zu entgegengesetz- ten Resultaten geführt. Was uns dem- nach als von beiden angebahnt vor- gelegt wird, hat erst angebahnt zu werden auf Grund eines Compromisses, das hinter beider Rücken Andere in ihrem Namen schliessen. Wir lieben die gewöhnlichen Compromisse nicht; wie sollten wir erst einem solchen Ge- schmack abgewinnen? Wir folgen darin einer alten Erfahrung, und bleiben bei der Erfahrung, als dem Sichersten auf Erden, denn »nur in der Erfahrung ist Wahrheit«. Dabei liegt uns nichts ferner, denn auf eine förmliche Gewissheit zu pochen. Wir wissen ganz gut, wie viel daran Täuschung ist. Aber nicht alles daran ist Täuschung — wenigstens für uns Menschen — und wir haben nie nach einer andern Erfahrung ge- strebt, als nach der dem Menschen zu- gänglichen. Wir brauchen gar nicht mit einer Untersuchung der Natur der Dinge zu beginnen. Unser Bewusstsein sagt uns, dass uns selbst etwas Reelles zu Grunde liegen müsse, das reell bliebe, selbst wenn das, was uns zum Bewusstsein kommt, nur ein Traum wäre; denn, damit ein Traum geträumt 254 werde, hat jemand da zu sein, der ihn träumt. Was es mit dem irdischen Dasein in letzter Analyse für eine Be- wandtniss habe, mag uns wenig küm- mern, weil wir damit nichts zu thun haben, insofern bei unserem Verkehr mit der übrigen Welt das Ansich der Dinge sowenig je in den Vordergrund tritt, als das Ansich unserer Persönlich- keit. Wir haben daher gar keinen Grund, unserer Persönlichkeit eine andere Rea- lität, als dem ersten besten andern Dinge zuzuschreiben, oder was dasselbe ist, die übrigen Dinge als aus anderem Stoff, denn uns selbst, gebildet zu be- trachten. Was wir unter Stoff ver- stehen? Alles und nichts: nichts, inso- fern wir über das Ansich nichts wissen ; alles, insofern wir damit dasjenige be- zeichnen, durch das für uns — weiter lassen wir uns eben nicht ein — die Dinge, unser Ich mit inbegriffen, Wirk- lichkeit haben. Gerade weil wir wissen, dass unsere Wahrnehmungen als Vor- stellungen zu Stande kommen, wissen wir genau den Unterschied zwischen Vorhandenem und blos Eingebildetem, und inwieweit auf unsere Eindrücke ein Verlass ist, selbstverständlich für unsere irdischen Zwecke. Wir können uns z. B. mit täuschendster Lebhaftigkeit ein bezauberndes Weib als gegenwärtig vorstellen, und in der Selbsttäuschung so weit gehen, dass wir über dem Zauber den Verstand verlieren. Selbst in diesem .Fall ist Stoff da, nämlich der Stoff zum Wahnsinn. Diesen Fall aber lehrt uns die Erfahrung genau unter- scheiden von jenem, in welchen wir ein Weib aus leibhaftigem Stoff vor uns haben, mit dem wir unser Leben theilen, und wahrhaft glücklich sind, so glück- lich, dass wir nicht im Stande wären, eine einzige Stunde dieses Glückes zu opfern, um über das eigentliche Sein in’s Klare zu kommen. Diesen Stoff hat selbst BErkErey nicht verschmäht. BERKELEY hat vollkommen Recht, wenn er sagt, dass es keine Wahr- B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. nehmung giebt, denn die in uns als Vorstellung zu Stande kommt. Allein ebenso Unrecht hat er, nicht zugleich hervorzuheben, dass keine Wahrnehm- ung zu Stande kommt, bei der unserer Vorstellung nicht eine äussere Erschein- ung entspricht. Beides ist unzertrenn- lich, aber beidem, der Erscheinung nicht weniger, als unserer Vorstellung, liegt einDrittes, ein Gemeinsameszum Grunde, von dem uns unsere Erfahrung sagt, dass es Allem zum Grunde liegt, und, insoweit es ein Dasein giebt, vor un- sern Wahrnehmungen und den sie her- vorrufenden Erscheinungen da war. Wir können uns einen ganz klaren Begriff machen von Entwickelungsstadien unse- res Erdballs, in welchen es noch keinen Menschen, kein Thier, keine bewusste Empfindung gab. Ohne es zu bemer- ken, persiflirt sich unser Idealist ganz köstlich selbst, wenn er (a. a. 0.8.60) als eine Erschleichung es bezeich- net, dass bei einem geologischen oder paläontologischen Atlas alle Objecte mit demselben Ausstattungsmaterial von Licht und Farbe u. s. w. dargestellt sind, in welchem der jetzige Mensch die Dinge wahrnimmt. Wir wären be- gierig, einen Atlas zu sehen, der nach seinen Grundsätzen ausgeführt und uns sichtbar wäre. Es ist uns dies so un- denkbar, wie ein experimentirender Na- turforscher, der von der Stofflosigkeit der Welt überzeugt ist. Die Materie hat ihr Recht, es ist so heilig, als das Recht des Geistes, und man kann es nicht verkennen, ohne gegen den Geist sich zu versündigen, dessen böseste Strafe die Lächerlichkeit ist. Der ge- stirnte Himmel ist der gestirnte Himmel auch während ich schlafe, und ihn nicht sehe. Aber nicht blos, weil Andere wachen, die ihn sehen, denn er würde es auch sein, wenn die umnachtete Hälfte der Erde immer so dicht um- wölkt wäre, dass auch die Wachenden ihn nicht sehen könnten. Und so war er der gestirnte Himmel, auch da es B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. 5 noch gar keine Menschen gab. Was ich unter dem gestirnten Himmel zu verstehen habe, weiss ich ganz gut, ohne meine Zuflucht zu nehmen zu der nach LEcLAIR unerlässlichen Fiction einesmenschlichen Gattungsbewusstseins für das, als »an keinen physischen Leib gebunden« es weder Leben noch Tod giebt. Ich muss sogar von dieser Fiction abstrahiren können, soll nicht mir, wie dem Bischof BErkeuery, der gestirnte Himmel zu einem blossen Schein werden. Die Erscheinungen sind nicht blosser Schein; sie sind ein inhaltvoller Schein, und nur Schein, insoweit sie mir erscheinen. Wie sehr unser Idea- list sich dagegen sträuben mag, er kann selber nicht total abstrahiren von der Stofflichkeit. Die Worte: »an keinen physischen Leib gebunden,«e — sind von ihm (a. a. OÖ. S. 58) und wenn anders er damit etwas sagen will, so sagt er damit von der Wahrnehmung etwas aus, das der leiblosen Wahr- nehmung nicht zukommt. Von der Welt, die dem Auftreten des Menschen vor- hergegangen ist, machen wir uns einen falschen Begriff; wenn wir sie als in Widerspruch stehend mit der jetzigen auffassen. Man kann streiten über die Fassung des Begriffs, Stoff oder Sub- stanz; aber darüber ist längst nicht mehr Streit, dass die Elemente der Materie, und was wir ihre Atome nennen, für uns Menschen unzer- störbar sind, wie die von ihnen un- zertrennliche Kraft. Dieser Realismus steht fest; er ist eine mit unserm Be- wusstsein identische Gewissheit, und als diese uns viel zu werthvoll, als dass wir ihn könnten hingeben für einen Idealismus, der in einem unglückseligen Schwanken zwischen Gott und Nichts einem Logiker gleicht, der, um seine formalen Abstractionen rein sich zu bewahren, die gesammte Sprache in die Rumpelkammer des »vulgären Körper- glaubens« werfen wollte. Was BERKELEY nicht gelungen ist, könnte seinen Epi- 255 gonen gelingen: alle Abstraction zu etwas Widersinnigem zu stempeln. Wir begreifen vollkommen den Stand- punkt LecLaArr’s, so lang es ausschliess- lich um allgemeine Grundsätze sich handelt, und um Berichtigung des nai- ven Realismus, dem die wahre Ge- wissheit die rein sinnliche ist. Dieser Standpunkt ist gerade so verfehlt, als die Aufstellung einer, der äussern Erfahrung ganz entgegengesetzten in- nern Erfahrung, die in ihrem Gebiete zu absolutem Wissen gelangen will. Bei beiden haben wir es mit einem Complex von Empfindungen zu thun, der jedoch in dem erstern Falle direct, in dem letztern indirect uns zum Bewusstsein kommt. Hier hat der Kri- ticismus seines Amtes zu walten. Aber so wenig wir die Materie als etwas trans- scendentes betrachten können, ebenso wenig vermögen wir eine positive Wis- senschaft zu denken, welcher bei ihren Forschungen die Materie als ein blosser Schein gelten sollte. Dass das im Uni- versum wirkende Quantum an Stoff _ weder vermehrt, noch vermindert werden kann, ist ein Grundsatz, zu dem alle echte Wissenschaft führt, und der un- möglich ablenkt von der Annahme einer Stofflichkeit der Welt. In einer Zeit, welche den Weltäther als eine aus Atomen bestehende Materie demonstrirt; in einer Zeit, welche die Gleichung zwischen Wärme und Bewegung auf- löst, weil ihr die Kraft zu einem mess- baren Object geworden ist; in einer Zeit, welche die Spectralanalyse in die Lage versetzt, die Elemente anderer Gestirne zu untersuchen: ist es mehr als gewagt, die Materie behandeln zu wollen, wie es Berkeuey gethan, zu dessen Zeit die Fixsterne — Section CVI. seiner Prineipien der menschlichen Er- kenntniss — als ausserhalb der Gravi- tation liegend betrachtet werden konn- ten. Wir können nicht nur keine po- sitire Wissenschaft mehr denken, welcher die Materie nicht gilt als das 256 schlechtweg Reelle: wir können auch keinen philosophischen Kriticismus mehr denken, der nicht eben dieses Reelle zu seinem Fundament hätte. Der Zweck des Kriticismus ist es, die sinn- liche Auffassung zu läutern, und die Erkenntniss zu der Stufe zu erheben, von welcher aus der Mensch sich klar wird, dass es für ihn weder ein Dies- seits noch ein Jenseits und nur das Eine Weltganze giebt. Der Kriti- cismus lehrt uns, dass es die Kräfte des Menschen übersteigt, das Ansich- sein der Dinge zu erforschen; aber damit sagte er uns nicht, dass die Dinge Hirngespinnste seien, sondern dass wir Hirngespinnsten nachjagen, wenn wir über den Kreis dessen, was unsere Erfahrung bildet und logisch aus ihr abzuleiten ist, hinausstreben. Er gestattet uns Hypothesen zu bilden, um die Gegenstände unserer Erfahrung in Zusammenhang zu bringen, aber in- dem er uns darthut, dass dieser Zu- sammenhang für uns keiner, folglich zwecklos ist, wenn ‚unsere Hypothesen Fähigkeiten statuiren, die mit unserer Erfahrung in Widerspruch stehen. Da- mit allein ist die Bahn in jedes trans- scendente, d. h. die Erfahrung über- steigende Gebiet auf immer verrammelt. Was wir das Ansich der Dinge nen- nen, ist nicht das sogenannte Ding an sich, das erst aus den Dingen an sich abgezogen wäre. Es ist die Sub- stanz oder der Stoff in einer solchen Einfachheit, dass an eine weitere Zer- legung, an ein Zurückführen auf ein noch Einfacheres, folglich an ein näheres Bestimmen nicht zu denken ‘ist. Es ist daher nichts die Materie Uebersteigendes, sondern erst recht die Materie in ihrer Kraft. Wir sehen unsern verehrten Gegner lächeln, und lesen in seinem Lächeln die Frage: Wo ist bei einem solchen Materialismus noch Raum für den Idealismus? — Raum genug, um vom eigentlichen Materialismus ihn zu B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. unterscheiden. Der Materialismus über- sieht bei den Erscheinungen gerade so das ideelle Moment, wie BERKELEY und die ihm folgen, das materielle Moment übersehen. Unser Idealismus hält das ideelle Moment fest, ohne die Wichtigkeit des reellen Moments zu unterschätzen. Beide erachtet er als gleich nothwen- dig zum Begreifen der Erscheinungs- welt. Das reelle Moment der Welt ist der feste Boden, auf welchem er im Reich der Ideen sich bewegt, ohne in haltlose Höhen sich zu verlieren, oder Gefahr zu laufen, in grundlose Tiefen zu versinken. Das Geistige, wie unser Idealismus es fasst, bedarf nicht nur keiner andern Welt, es kann vielmehr nur in dieser Welt zur Erschein- ung kommen. Es ist die Blüthe der Körperwelt, und wie diese, den Gesetzen der Entwickelung folgend, beschliesst in sich seine Frucht einen fortbildungs- fähigen Samen. Und dieser Same bil- det sich fort allein in der Körperwelt, und allein aus ihrem Schoosse treiben die Erscheinungen des Guten, Schö- nen und Wahren lebenskräftig empor. Thatsächlich ist es den Geistern BERr- KELEY's auch nicht anders ergangen. Man mag wie immer das Leben sich erklären, von der Körperlichkeit ist es unzertrennlich; und sollen die Ideen nicht leere Schatten sein, so haben sie zu leben das Leben dieser Welt. Ist auch Realidealismus die richtige Be- zeichnung unseres Idealismus, so ist er darum nicht minder echt: er ist eben der leibhaftige Idealismns. Seine Ideen zünden, weil ihre Wärme iden- tisch ist mit der allgemeinen Bewegung; seine Ideen sind fruchtbar, weil ihr Werden identisch ist mit der allgemei- nen Entstehung; seine Ideen erklären, weil ihr Zusammenhang identisch ist mit dem Process aller Naturentwicke- lung. Alle Denker, welchen die Welt eine bahnbrechende Idee verdankt, wa- ren Realidealisten, und mochten sie noch so sehr überzeugt sein, unter die B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. ‘ starrsten Materialisten, oder unter die starrsten Idealisten zu gehören. Der Materialismus ist rein analytischer Natur, und der Ideologismus — gleich BERKELEY sind alle, die ihm folgen, keine Idealisten, sondern Ideologen — der Ideologismus möchte synthetisch sein, aber auf dem Weg dahin wirft er das dazu erforderliche Material von sich: wahrhaft synthetisch ist allein der richtige Idealismus. Alle Na- turgesetze sind uns zuerst klar gewor- den auf dem synthetischen Wege der Ideen. Die Idee war es, die den Heroen der Wissenschaft das Selbstvertrauen gab, das es ihnen ermöglichte, durch Jahre und Jahre unverdrossen zu for- schen, bis ihr ungebrochener Muth das Ziel erreichte — die erfahrungsmässige Bestätigung ihrer Idee; denn der rich- tige Idealismus anerkennt nicht nur die Realität der Körperwelt, er sucht und findet die endgiltige Bekräftigung oder Ablehnung seiner Theorieen allein in der Körperwelt. Hier muss unser geehrter Gegner uns zugeben, dass wir ihm mit keiner Halbheit entgegentreten, und dass wir ihm nur entgegentreten, damit er uns die Hand reichen könne. Er nennt die Zahl der »Auserwählten«, die zu ihm halten, eine »verschwindend kleine«. Es freut uns, dies glauben zu können. Er bezeichnet aber auch diese Aus- erwählten als »leidenschaftslos«. Nach dem Feuereifer zu urtheilen, von dem die Probe spricht, die uns da geboten wurde, können wir dies weniger glauben; dennoch freut uns auch das. Diese Leidenschaftlichkeit hat ihren Grund im unvermeidlichen Stoff, und was uns daran freut, entspringt keinem rechthaberischen Motiv; wir freuen uns doppelt: über die Wärme der Darstellung, die Zeugniss giebt von der Wahrhaftigkeit der Gesinnung, und über das concrete Element, das mit dem Boden, auf welchem wir stehen, die Verbindung herstellt. Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Von Dr. Hermann Müller. An den im vorigen Aufsatze betrach- teten Käfern haben wir den ersten Ueber- gang zur Blumennahrung und die ersten Schritte der Anpassung an die Gewin- nung derselben uns zu veranschaulichen gesucht. Eine erblich gewordene Be- hendigkeit der Bewegungen, die sie zu rascher Ausbeutung offenen oder flach geborgenen Honigs und leicht zugäng- lichen Pollens befähigte, waren dieäusser- sten Leistungen, zu welchen wir ein- heimische Käfer sich erheben sahen. Um weitere Schritte der Vervollkomm- nung kennen zu lernen, die bis zur Meisterschaft der Honigbienen und Hum- meln geführt haben, müssen wir den- jenigen Zweig des Insektenstammes, dem diese angehören, die Hautflügler oder Hymenopteren, ins Auge fassen. Auf den niederen Entwickelungs- stufen der Hautflügler, die wir, im Ge- gensatze zu den Bienen, unter dem Na- men Wespen zusammenfassen, hat sich in der Brutversorgung, auch ehe zu derselben Pollen und Honig Verwendung fanden, von Familie zu Familie eine Umwandlung vollzogen, die mittelbar auch auf die Blumentüchtigkeit der be- treffenden Wespen von bedeutendem Einfluss gewesen ist. Diese niederen Entwickelungsstufen, von welchen aus IE die Bienen ihre höhere Stufe erst er- reicht haben, müssen deshalb den näch- sten Gegenstand unsrer Aufmerksamkeit bilden. 2, Die Blumenthätigkeit der Wespen. a. Vervollkommnung der Blumen- thätigkeit durch die bei der Brut- versorgung gewonnene Uebung im Umhersuchen. (Vergleich der Blattwespen und Schlupf- wespen.) Auf der tiefsten Stufe der Brutver- sorgung stehen von den heutigen Wes- pen die pflanzenanbohrenden Familien der Blattwespen, Holzwespen und Gall- wespen, die sich auch durch ihre Or- ganisation als die ursprünglichsten zu erkennen geben. Alle drei pflegen be- hufs ihrer Brutversorgung nur eine Pflanze derselben Art, von der sie selbst während ihrer Ausbildung sich ernährt haben, mit ihrem Legebohrer anzuboh- ren und in den Bohrgang ein Ei hin- einzuschieben. Damit ist ihr ganzes Brutversorgungsgeschäft vollendet. Denn die aus dem Ei schlüpfende Larve be- findet sich dann sogleich unmittelbar in oder auf der Nahrung, die ihr bis zur Verpuppung genügt. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit Von diesen drei Familien scheint den Holzwespen die Blumennahrung völlig fremd geblieben zu sein. Die Blattwespen gehen, ähnlich den Käfern, zum Theil gar nicht, zum Theil nur zufällig oder gelegentlich, zum Theil aber auch regelmässig und eifrig auf Blumen. Manche der blumenauf- suchenden Blattwespen scheinen hier nur der Fliegenjagd nachzugehen; viele aber lecken begierig Blumenhonig; ei- nige, z. B. Cephus, fressen auch Pollen. An Blumentüchtigkeit aber stehen alle, auch die blumeneifrigsten Blattwespen hinter den fortgeschrittensten Blumen- käfern, die wir im vorigen Aufsatze kennen gelernt haben, noch erheblich zurück. Die meisten wissen nur völlig offen liegenden oder doch unmittelbar sichtbaren Honig zuerlangen. Diehöchste Blumenleistung, zu der sich einige ver- steigen, ist das Gewinnen zwar völlig versteckten, aber doch durch einfaches Abwärtsbewegen des Mundes erreich- baren Honigs. Die meisten sitzen ruhig -oder bewegen sich träge auf den Blu- men, deren Nektarien sie ablecken; nur einige der blumenstetesten und eifrig- sten haben auch eine gesteigerte Rasch- heit der Bewegung auf den Blumen er- langt. So fand ich z. B. Tenthredo notha Kr. höchst zahlreich auf den. Blüthen- ständen von Nasturtium amphibium, ge- schäftig von Blüthe zu Blüthe schreitend und fliegend und immer sogleich den Mund in den Grund der Blüthe senkend. Aber dieselbe oder eine nahe verwandte Art sah ich auf den Blüthenkörbchen von Taraxacum officinale mit dem Kopfe sich tief zwischen die Blüthen wühlen und so, gleich einem dummen Elate- riden, andauernd verharren. An so fort- geschrittene Blumenkäfer, wie z. B. Strangalia attenuata, die behend und er- * Die nachfolgenden genealogischen Be- trachtungen wurden bereits vor mehreren Jahren in der Eichstädter Bienenzeitung von mir veröffentlicht. Ich bin von competenter Seite mehrfach getadelt worden, dass ich die- der Insekten. folgreich auch aus den 4—-6 mm langen Blumenröhren von Scabiosa arvensis den Honig gewinnt, reicht keine einzige der Blattwespen auch nur annähernd heran. Von den Gallwespen gehen die der ursprünglichen Lebensweise treu ge- bliebenen, Pflanzen anbohrenden und Gallen erzeugenden gar nicht auf Blu- men; nur eine besondere Abzweigung dieser Familie sucht völlig offen liegen- den Blumenhonig auf. Dieser Familien- zweig ist zugleich durch die Annahme einer neuen Brutversorgungsgewohnheit für das Verständniss der Weiterent- wickelung des Hymenopterenstammes von höchster Wichtigkeit. Wir haben uns deshalb hier zunächst seine Be- ziehung zu den übrigen Wespenfamilien zu vergegenwärtigen *. >Während die meisten Gallwespen, ebenso wie auch einige Blattwespen, in dem von ihnen angebohrten und mit einem Ei belegten Pflanzentheile, welcher noch jung und in vollster Entwickelung g begriffen ist, eine monströse Wucherung des Zellgewebes, die Bildung einer so- genannten Galle, verursachen, in deren Inneren ihre Larven sich grossfressen, haben dagegen einige Gallwespen diese Lebensgewohnheit in sehr merkwürdiger Weise dahin abgeändert, dass sie ihre Eier auf andere Insekten ablegen, in deren Innern alsdann ihre Larven schma- rotzen. Dieser Uebergang vom Pflanzen- anbohren zum Insektenanbohren, also, was das Auffüttern der Larven betrifft, von vegetabilischer zu animalischer Kost, musste für die Entwickelung neuer Wes- penformen von bahnbrechender Bedeut- ung werden. Denn mit der Eröffnung dieses neuen Ernährungsgebietes war natürlich der Vervielfältigung der an- bohrenden Wespen ein unabsehbar wei- ter Spielraum gegeben, da es ja viele Tausende von Insektenarten gab, deren selben in einem so wenig allgemein zugäng- lichen Blatte niedergelegt habe, und finde mich dadurch veranlasst, sie ihrem wesent- lichsten Inhalte nach hier zu wiederholen. 260 jede besondere Anpassungen der an- bohrenden Wespe erforderte. Die er- staunliche Artenzahl und die Mannig- faltigkeit der Grösse, Körperform, Boh- rerlänge u. s, w. der Schlupfwespen, welche sich durch die bezeichnete Ab- änderung der Lebensweise aus der Fa- milie der Gallwespen hervor entwickelt haben, und in einigen ihrer Familien- zweige, namentlich dem der Chalcididen, die nahe Blutsverwandtschaft mit den Gallwespen noch deutlich erkennen las- sen, liefert für die bahnbrechende Be- deutung des Ueberganges der Gallwes- pen zum Insektenanbohren den thatsäch- lichen Beleg. In der That scheint keine einzige Insektenfamilie von den Angriffen der Schlupfwespen ganz verschont ge- blieben zu sein, weder die hartschaligen Käfer, noch die mit gefährlichem Gift- stachel versehenen Wespen, weder die tief im Holze versteckt sitzenden Cer- ambyeidenlarven, noch die im Wasser lebenden Larven der Phryganiden. Es hat aber der Uebergang der pflanzenanbohrenden WespenzurFleisch- nahrung, d. h. zum Anbohren lebender Insekten, nicht nur zur Ausbildung vie- ler Tausende neuer Wespenformen ge- führt, sondern auch eine grössere Com- plieirtheit der für die Versorgung der Brut auszuführenden Thätigkeiten und dadurch eine Steigerung der geistigen Befähigung veranlasst,< die nicht ver- fehlen konnte, auch auf die Blumen- tüchtigkeit des Wespenstammes für alle Zukunft einen vervollkommnenden Einfluss zu üben. >Denn das Aufsuchen und Beschlei- chen bestimmter anzubohrender lebender Insektenarten erfordert augenscheinlich viel grössere Umsicht und Ausdauer, als das Aufsuchen der bestimmten Pflan- zenart, auf welcher das suchende In- dividuum von Anfang an gelebt hat. Der Unterschied zwischen der geistigen Arbeit, welche beiderlei Lebensthätig- keiten erfordern, ist sogar so gross, dass wir mit Sicherheit annehmen kön- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. nen, der Uebergang von der Gallwespen- zur Schlupfwespenlebensweise kann nicht sprungweise, mit einem Male erfolgt sein; vielmehr muss sich die Unter- scheidungsfähigkeit und die Ausdauer im Umhersuchen von den echten Gall- wespen bis zu den ausgeprägten Schlupf- wespen allmählich gesteigert haben. In der That ist uns noch ein kleiner Fa- milienzweig der Gallwespen erhalten ge- blieben, welcher zwischen den gallen- erzeugenden und den insektenanbohren- den Gallwespen mitten inne steht, der Familienzweig der Inquilinen (Gattung Synergus), welche ihre Eier in die Gal- len der eigentlichen Gallwespen ablegen. Offenbar erfordert aber das Auffinden mit bestimmten Gallen behafteter In- dividuen einer bestimmten Pflanzenart mehr Umsicht und Ausdauer im Um- hersuchen, als das Auffinden beliebiger Individuen derselben Pflanzenart, wenn- gleich es noch immer erheblich leichter ist als das Auffinden und Beschleichen einer bestimmten anzubohrenden Insek- tenart. Der kleine Familienzweig der Inquilinen liefert somit einen thatsäch- lichen Beleg, dass die Umsicht und Ausdauer im Umhersuchen, durch welche sich die Schlupfwespen vor den pflanzen- anbohrenden Wespen so auffallend aus- zeichnen,. allmählich erworbene Vorzüge sind. Um sich eine lebendige Vorstellung zu verschaffen von der erheblichen Stei- gerung der geistigen Befähigung, welche sich bei den wespenartigen Insekten durch die Eröffnung eines neuen, zwar unerschöpflich reichen, aber auch die mannigfachsten Schwierigkeiten darbie- tenden Ernährungsgebietes allmählich vollzogen hat, braucht man nur in freier Natur die träge, fliegenähnliche Be- wegungsweise einer Blattwespe mit dem vor- und umsichtigen Umherfliegen und dem ausdauernden Umhersuchen einer Schlupfwespe zu vergleichen.« Und fast noch auffallender ist der Unterschied in der Blumenthätigkeit beider. Die Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Blattwespen fliegen plump auf, im Ver- gleich zu dem leichten und behenden Anschweben der Ichneumoniden. Von den Blattwespen sind auch die blumen- tüchtigsten, wenn sie den Kopf zwischen Blumen gesteckt haben, von dem da- durch geweckten Empfindungstriebe so befangen, dass sie sich ohne Weiteres ergreifen lassen; selbst auf den völlig offenen Blüthen der Schirmpflanzen kann man die meisten ziemlich leicht mit den Fingern fassen. Die Ichneumoniden da- gegen benehmen sich nicht nur bei ihren Jagdausflügen sehr vorsichtig, in- dem sie z. B. den Geweben der Spinnen sorgfältig ausweichen*, sondern lassen auch beim Aufsuchen des Blumenhonigs ihre persönliche Sicherheit nie aus den Augen. Sie zwängen sich nicht mit dem Kopfe zwischen Blüthen hinein, so dass sie jede Umschau verlieren, wie 2.B. Tenthredo notha (?) zwischen den Blü- then von Taraxacum offiecinale thut. Wenn sie einmal in etwas tiefere offene Blumenbecher sich hineinwagen, so ge- schieht es mit beständiger Aufmerksam- keit auf etwa nahende Gefahr. So sah ich z. B. (30./6. 76) einen etwa 5 mm langen Ichneumoniden auf einem Blumen- becher von Cerastium arvense landen, behend bis in den Grund der Blüthe vordringen und da von einem der fünf Nektartröpfehen lecken. Ich näherte vorsichtig Daumen und Zeigefinger der rechten Hand dieser Blüthe, als wenn ich sie pflücken oder die Schlupfwespe fangen wollte; augenblicklich zog sich dieselbe einige Schritte aus dem Grunde des Bechers nach dem Eingange des- selben zu zurück, bereit wegzufliegen, sobald eine grössere Annäherung der Gefahr erfolgen würde. Ich entfernte die Finger, und sie ging wieder ein paar Schritte vor, so dass sie wieder mit dem Munde ein Nektartröpfehen erreichte. Ich näherte den Finger noch weiter, und sie flog augenblicklich weg. * Kosmos Bd. VI, S. 123. 261 Ferner werden die Blattwespen immer nur von augenfälligsen Blumenflächen angelockt, besonders von den weissen und grell gelben der Umbelliferen und Compositen, der Rosifloren, der Ranun- culus, Trollius u. dgl., sehr viel seltener von den rothen und blauen der Epilo- bien, Geranien und Phyteumaarten, wohl niemals von den grünlich-gelben und gelblich-grünen von Adora, Ruta, Ithannus, Sibbaldia, Alchemilla, die von den Schlupfwespen nicht minder häufig als grell-gelbe und weisse besucht wer- den. Die Schlupfwespen wissen über- haupt leicht und mit grösster Sicherheit auch die am wenigsten in die Augen fallenden Blumen aufzufinden, wennihnen von denselben nur unmittelbar sicht- bares Nass entgegenglänzt. Die im Wal- desschatten wachsende, grün blühende Listera ovata liefert dafür den besten Beleg. Obgleich eine unserer unschein- barsten Blumen wird sie bei günstigem Wetter von zahlreichen Schlupfwespen so regelmässig und emsig ausgebeutet, dass nur wenige ihrer Blüthen unge: kreuzt bleiben, während man niemals auch nur eine einzige Blattwespe an diesen Blumen findet. Auch die von den Raubhummeln (Bombus mastrucatus und Zerrestris) in den honigführendeu Grund langer Blumenröhren gebissenen oder gebohrten Löcher entgehen dem Spürauge der Schlupfwespen nicht; an Convallaria Polygonatum sah ich z. B. einen kleinen Ichneumoniden vorsichtig in ein solches hineinschlüpfen, um die Ueberreste des von B. mastrucatus ge- waltsam erbrochenen Nektars zu naschen. Auch an den 4—5 mm langen Blu- menröhren der Mentha aquatica krochen vor meinen Augen verschiedene Ichneu- monidenarten mit grosser Behendigkeit ein und aus; noch häufiger fand ich Ichneumoniden in den blassgelben, schwärzlich blau punktirten Blumen- glocken der Gentiana punetata, nicht selten 2 oder 3 in derselben Blüthe, und zwar mit dem Munde an den Saft- 262 löchern. Eine Blattwespe habe ich nie- mals eine dieser etwas höheren Blumen- leistungen ausführen sehen. Woher rührt dieser auffallende Unter- schied im Verhalten der beiden genann- ten Wespenfamilien zu den Blumen ? Haben die Schlupfwespen vielleicht Blu- menstetigkeit von ihren pflanzenanboh- renden Stammeltern ererbt und deren schwache Anfänge von Blumentüchtig- keit weiter ausgebildet? Ganz gewiss nicht! Denn ihr Körperbau und ihre Lebensweise weisen nicht auf Blatt- wespen als ihre Stammeltern hin, von denen ja manche blumenstet und, in beschränktem Sinne, blumentüchtig sind, sondern auf Gallwespen. Von diesen aber werden nur die bereits insekten- anbohrenden bisweilen auf Blumen ge- funden, und zwar nur auf Blumen mit völlig offen liegendem Honig. Auch spricht bei den Schlupfwespen der Man- gel irgend welcher Anpassung an die Gewinnung selbst wenig tief geborgenen Honigs, obwohl sie blumenstet zu sein scheinen, entschieden gegen die An- nahme, dass sie besonderer Uebung im Ausführen von Blumenarbeit ihre ge- steigerte Blumentüchtigkeit verdanken. Vielmehr sind es offenbar nur eine viel höhere Unterscheidungsfähigkeit, Vor- sicht und Umsicht im Hineinkriechen und mit derselben zusammenhängende Gewandtheit und Sicherheit der Beweg- ungen, durch die sie sich bei ihren Blumenbesuchen vor den Blattwespen auszeichnen, also gerade diejenigen Fä- higkeiten, die sie bei dem Erlernen und Einüben ihrer neuen Brutversorgungs- art erlangen mussten und thatsächlich erlangt haben. Diese zwar nicht durch Blumenar- beit gewonnene, aber ihr zu gute kom- mende Steigerung der körperlichen und geistigen Befähigung verdient hier um * Das ist von J. H. Fabre nachgewie- sen und in seinem Werkchen „Souvenirs ento- mologiques Paris 157%‘ recht anziehend be- schrieben worden. In diesem auch in deutscher Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. so mehr unsere vollste Beachtung, als sie sich durch Vererbung auf die höher entwickelten Zweige des Hymenopteren- stammes übertragen hat, und als aus ihr heraus, theils durch weitere Abän- derungen der Brutversorgung, theils und hauptsächlich aber durch gesteigerte Uebung in der Blumenarbeit und ver- schärfte Naturauslese der blumentüch- tigsten Rassen, schliesslich die höchsten Blumenleistungen der Hummeln und Ho- niebienen sich entwickelt haben. b. Weitere Steigerung derBlumen- tüchtigkeit durch die beiderBrut- versorgung gewonnene VUebung im Höhlengraben. (Vergleich der Schlupfwespen und Grab- wespen.) In Körperbau wie in Lebensweise schliessen sich an die eigentlichen Schlupf- wespen (Ichneumonidae) die Grabwespen (Sphegidae = Fossores LArr.) am näch- sten an und geben sich in beiderlei Be- ziehung als eine höhere Entwickelungs- stufe desselben Verwandtschaftskreises zu erkennen. Ihr Legebohrer ist zu ei- nem giftführenden Stachel umgewandelt, dessen sie sich mit Erfolg zur Lahm- legung des zur Ernährung ihrer Brut ausersehenen Beutethiers und zur Zu- rückweisung feindlicher Angriffe zu be- dienen wissen. Im Erjagen lebender Beute stimmen sie mit den Schlupfwes- pen überein, im übrigen aber gehen sie in ihrer Brutversorgung weit über die- selben hinaus; denn sie begnügen sich nicht damit, das Beutethier mit einem Ei zu belegen, sondern sie lähmen es durch geschickt in die Ganglien bei- gebrachte Dolchstiche, * schleppen es, oft aus weiten Entfernungen, in eine vorher zu diesem Zwecke angefertigte Höhle, behaften es da mit einem Ei, Uebersetzung erschienenen Werkchen wird der Leser überhaupt manche lebensfrische und fesselnde Schilderung biologischer Vor- gänge, besonders aus dem Leben der Grab- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätiekeit der Insekten. verschliessen die Höhle wieder und ver- wischen sorgfältig jede äussere Spur der- selben. Während also bei den Schlupf- wespen mit dem Aufsuchen, Anbohren und Belegen des Beutethiers mit einem Ei das ganze Brutversorgungsgeschäft beendet ist, folgt auf dieselben Thätigkei- ten bei den Grabwespen noch eine lange Reihe auf dasselbe Ziel der Brutver- sorgung gerichteter zweckmässigerHand- lungen, die durch verschiedene auf dem Rückwege nach ihrer Höhle sich dar- bietende Hindernisse in mannigfachster Weise die Umsicht des Thieres heraus- fordern und oft ununterbrochen noch weit über eine Stunde dauern. Mag man nun diese viel weitergehende Arbeit zum Besten der Nachkommen lediglich als Produkt blinder Naturaus- lese, oder, wozu ich nach dem Eindrucke meiner eigenen Beobachtungen * viel ge- neigter bin, als ursprünglich mit dem Bewusstsein des Zweckes der Brutsiche- rung ausgeführt und allmählich grossen- theils erblich und instinktiv geworden auffassen, in jedem Falle spricht sich in denselben eine gesteigerte Lebens- energie und geistige Befähigung aus, durch welche die Grabwespen die ganze Familie der Schlupfwespen, aus der sie anscheinend hervorgegangen sind, er- heblich überragen. Soweit nun dieselben Fähigkeiten, die bei der Vervollkomm- nung der Brutversorgung erworben wor- den sind, auch bei der Gewinnung der Blumennahrung Verwendung finden kön- nen, müssen wir auch eine Steigerung der Blumenthätigkeit der Grabwespen über die Schlupfwespen hinaus erwarten. Worin aber können hier die nach beiden Seiten hin verwendbaren neu er- worbenen Fähigkeiten bestehen ? In der Unterscheidungsfähigkeit und Geschick- wespen, finden, obgleich der Verfasser zur Entwickelungslehre eine mehr als naive Stel- lung einnimmt. Eine einzige irrige aufge- fasste und irrig gedeutete entomologische Be- ERR ber te} obachtune Erasmus Darwin’s wird von in ei Zapitel mit der ihm in einem besonderen Kapitel mit de Ueberschrift „Les hautes theories“ ın selbst- 265 lichkeit im Umhersuchen sind schon die Ichneumoniden Meister, und diese Mei- sterschaft haben ohne Zweifel die Grab- wespen von ihren Stammeltern her er- erbt. Ihre abgeänderte Lebensweise er- fordert in dieser 3eziehung, was das Auffinden des Beutethieres betrifft, keine höhere Leistung. Um aber mit Beute beladen die vorher gegrabene Bruthöhle wieder aufzufinden, von der sie sich bei ihrer Jagd auf allerlei Kreuz- und Quer- wegen oft weite Strecken entfernt hat, ist die Grabwespe genöthigt, auch beim Schleppen der Beute fortwährend um- herzuspähen, nach Zurücklegung einer Strecke die Beute abzulegen (das thut sie zu leichterem Wiederfinden oft auf den Gipfel eines Grasbüschels, den sie dann, um sein Bild sich einzuprägen, rings umläuft) und nach verschiedenen Richtungen eine Strecke weit laufend umherzuspüren, dann die Beute wieder aufzunehmen, in gleicher oder verän- derter Richtung weiter zu schleppen und dies abwechselnde Schleppen und Um- hersuchen zu wiederholen, bis sie end- lich ihr Ziel erreicht hat. Die Wespen müssten weiterer Entwickelung völlig unfähig gewesen sein, wenn nicht diese stete neue, zur Schlupfwespenthätigkeit noch hinzukommende Uebung im Um- herspähen und raschen Auffassen ihre Fähigkeit in dieser Hinsicht ausser- ordentlich gesteigert, wenn nicht Natur- auslese durch Begünstigung der fähig- sten im Kampfe um’s Dasein eine den Schlupfwespen weit überlegene Rasse ge- züchtet haben sollte — eine Wirkung, die um so unausbleiblicher war, als die neu hinzukommenden Arbeiten des Gra- bens einer Höhle, des Einbringens der Beute in dieselbe, des Wiederverschlies- sens und Wegputzens jeder äusseren gefälliger Breite zurückgewiesen, um darauf hin „die heutzutage herrschenden hohen Theo- rien“ kurzweg für lächerlich zu erklären, * H. Müller. Wie hat die Honigbiene ihre geistige Befähigung erlangt ? Eichstädter Bienenzeitung 1875. Nr. 14. 264 Spur für sich allein vielmal mehr Zeit in Anspruch nehmen, als die ganze Brut- versorgungsarbeit der Schlupfwespen, und deshalb, bei unveränderter Lebens- dauer, unablässig zu rastloser Eile drän- gen. Wenn daher wirklich die Stamm- eltern der Grabwespen in der Schärfe der Unterscheidung und der Sicherheit des Auffindens ihrer Beutethiere schon voll- endete Meister gewesen sind, so dass in dieser Beziehung eine wesentliche Steigerung durch den Uebergang zum Graben von Bruthöhlen nicht mehr hat bewirkt werden können, so muss der- selbe doch die Raschheit aller Beweg- ungen ungemein gesteigert haben. Die direkte Beobachtung lässt über die Thatsächlichkeit dieser Wirkung nicht den mindesten Zweifel. Gewandt und behend benimmt sich auch die vorsich- tig schwebend umhersuchende Schlupf- wespe; aber rastlos weiter stürmend, bald rechts, bald links gewendet, halb fliegend, halb laufend, zieht die Grab- wespe (z. B. Pompilus viaticus) auf die Jagd; in unermüdlicher Hast läuft sie, die erbeutete Spinne schleppend, rück- wärts, Abhänge hinauf und hinab, rennt, nach Ablegen der Spinne, um sich ihre Lage genau zu merken, fünf-, sechsmal nach verschiedenen Richtungen von ihr weg und wieder zurück, fliegt und läuft dann, nach der verlorenen Höhle um- hersuchend, weit weg; selbst wenn sie vorübergehend rastet, sieht man ihre Flügel und Fühler wie von fieberhafter Aufregung erzittern. Dieses Bild der Unruhe neben der Ruhe der Schlupf- wespe verräth auf den ersten Blick die kolossale Steigerung der Lebensenergie und der Raschheit aller Bewegungen, die sich im Wespenstamme durch den Uebergang zur Grabwespen-Lebensweise vollzogen hat. . Dieselbe den Schlupfwespen weit überlegene Raschheit der Bewegungen lassen die Grabwespen auch bei ihrer Blumenthätigkeit erkennen, und wer mit Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. der Uhr in der Hand verfolgte, wie viel Blumen einer Art in bestimmter Zeit von einer Schlupfwespe und wie viele derselben Art in derselben Zeit von einer Grabwespe besucht und ausge- beutet werden, würde gewiss einen er- heblichen Unterschied finden. Noch weit wichtiger für die Steige- rung der Blumentüchtigkeit des Wes- penstammes ist es aber unstreitig ge- wesen, dass die Grabwespen das Höhlen- graben gelernt und von Generation zu Generation weiter geübt haben, bis es instinktmässig ausgeführt und stetig vererbt wurde. Denn indem es ihnen zur anderen Natur geworden ist, bei ihren Streifzügen in allemöglichen Höhlen, an denen sie vorbeikommen, hinein zu gucken oder hinein zu kriechen und beim Anfertigen der eigenen Bruthöhlen mit Kopf und Vorderbeinen zwischen eng an einander liegenden Bodentheil- chen sich hineinzuzwängen, haben sei die den übrigen Blumengästen meist abgehende Fähigkeit und Neigung er- langt, zur Gewinnung von Blumennah- rung auch in Blumenhöhlen hinein zu kriechen und auch eng zusammenschlies- sende Blüthentheile auseinander zu zwängen. Welchen Einfluss sie dadurch auf die Züchtung besonderer Blumen- formen erlangt haben, wurde bereits in einem früheren Aufsatze (Kosmos Bd. II. S. 482 ff.) näher erörtert. Dagegen bleibt der thatsächliche Nachweis, dass wirklich durch das Erlernen des Höhlen- grabens die Blumentüchtigkeit der Grab- wespen gesteigert worden ist, hier noch beizubringen. Die als gemeinstes Unkraut über unsere Hecken emporkletternde Zaun- rübe, Bryonia dioica, birgt in den ge- trennten Blüthen beiderlei Geschlechts den Honig im Grunde einer halbkuge- ligen Schale, über welcher die aus- gebreiteten Befruchtungsorgane nebst Haaren der Corolle und der Staubfäden- wurzeln einen so dichten Verschluss bilden, dass ein Wespenkopf nur, in- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. 265 dem er sich gewaltsam dazwischen hin- durchdrängt, den Zutritt zum Honig erlangen kann. Grabwespen (Gorytes mystaceus, Ammophila sabulosa) leisten diese Arbeit rasch und erfolgreich, Schlupfwespen niemals. Bei Reseda wird der Honig von der hinteren Fläche einer hinter den Staub- gefässen senkrecht aufsteigenden vier- eckigen Platte (Erweiterung des Blüthen- bodens) abgesondert und von den ver- breiterten Nägeln der oberen und mitt- leren Blumenblätter, die sich der Hin- terseite dieser Platte dicht anlegen, schützend umschlossen. Es ist also auch hier ein gewaltsames Auseinanderzwän- gen dicht zusammenschliessender Blü- thentheile erforderlich, um den voll- ständig versteckten Honig zu gewinnen. Auch dies leisten gewisse Grabwespen (ganz besonders Cercerisarten), und zwar ungemein häufig, sehr rasch und mit vollendeter Sicherheit aller Bewegungen. Ichneumoniden dagegen, die sich ab und zu auch auf Resedablüthen ein- finden, versuchen immer nur vergeblich, zum Honig zu gelangen. Ebenso wird der in ganz ähnlicher Weise geborgen liegende Honig von Allium rotundum niemals von Ichneumoniden, dagegen häufig von Grabwespen (Cerceris) aus- gebeutet, die ohne Zögern den Kopf in das enge Honigversteck hineindrän- gen. Dasselbe gilt von den einfachsten Papilionaceenblumen (Melilotus, Trifo- lium fragiferum u. a.), die zur Erlang- ung des Honigs, ebenso wie die höher entwickelten Glieder dieser Familie, ein - Auseinanderzwängen der Fahne und der mit dem Schiffehen vereinigten Flügel erfordern. Auf welche Ursache sind diese höheren Blumenleistungen der Grabwespen zu- rückzuführen ? An Blumenstetigkeit ste- hen die Schlupfwespen den Grabwespen mindestens gleich. Denn sie ernähren sich im fertigen Zustande, so weit mir bekannt ist, ausschliesslich von offen liegendem Blumenhonig, wogegen die Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). Grabwespen auch für sich selbst die Fleischnahrung, mit der sie ihre Brut beköstigen, nicht verschmähen. (Noch heute, am 13. Mai 1881, sah ich einen Pompilus viaticus nach langem vergeb- lichem Umherstreifen eine Spinne erbeu- ten, die zu klein war, eine Larve da- mit zu versorgen. Statt sie durch einen Stich zu lähmen und in die Höhle zu schleppen, zermalmte die Grabwespe das Kopfbruststück derselben mit ihren Fress- zangen und genoss den herausgequetsch- ten Fleischbrei selbst!) Also auch hier ist es gewiss nicht grössere Uebung in der Blumenarbeit, welche die Grab- wespen zu den eben angeführten gestei- gerten Blumenleistungen befähigt, son- dern lediglich ihre beider Brutversorgung gewonnene Fertigkeit im Höhlengraben, die mittelbar vervollkommnend auf die Blumentüchtigkeit zurückwirkt. Von dem Genuss des Honigs der- jenigen Blumen, die kein Auseinander- zwängen fest zusammen schliessender Theile, sondern nur ein Hineinkriechen in Höhlen erfordern, sind zwar auch die Schlupfwespen keineswegs ganz aus- geschlossen. Wir sahen ja, gelegent- lich und mit grosser Vorsicht, auch Ichneumoniden in die Blumenhöhle von Cerastium arvense und in die gewaltsam offen gebrochene Blumenröhre von Con- vallaria Polygonatum hinein schlüpfen. Auch in die 4+—5 mm langen, am Ein- gange 2 mm weiten Blumenröhren von Mentha aquatica habe ich Schlupfwespen behend hineinkriechen sehen. Was aber in dieser Beziehung Schlupfwespen nur ausnahmsweise, als äusserstes Wagniss, unternehmen, ist den Grabwespen, in Folge ihrer veränderten Brutversorgung, eine ganz geläufige Beschäftigung ge- worden. Die röhrigen Blumen von Vero- nica spicata und manchen kurzröhrigen Lippenblumen, wie T’hymus Serpyllum und vulgaris, Mentha silvestris, Salvia sil- vestris, werden von Grabwespen sehr ge- wöhnlich und für beide Theile erfolg- reich besucht. 19 266 Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Da die Grabwespen ihre Bruthöhlen | in den Sand gegrabene Loch einer vielfach in das Mark dürrer Zweige oder Stengel graben, besonders häufig z. B. in das dürrer Brombeerstengel, in die sie sich von dem nach unten gebogenen Ende her hineinwühlen und später regel- mässig einschlüpfen, so haben sie ausser dem Sichhineinzwängen zwischen dieht zusammenschliessende Theile und dem Hineinkriechen in wagrechte oder ab- wärts gehende Höhlen bei ihrer Brut- versorgung auch gelernt, sich von unten an einen schmalen herabhängenden Kör- per anzuklammern und von unten her in eine Höhle desselben den Kopf hin- einzustecken oder ganzhineinzukriechen. Auch diese bei der Brutversorgung er- worbene Fähigkeit der Grabwespen ist bei der Aufsuchung der Blumennahrung verwerthbar und wird von ihnen ver- werthet, wo es sich um Ausbeutung senkrecht herabhängender Blumenglöck- chen handelt (z. B. von Ammophila sa- bulosa an Symphoricarpus racemosa). Die in einem früheren Aufsatze (Kosmos Bd. IH, S. 476—499) nach- gewiesene Befähigung der Grabwespen als selbständige Blumenzüchter aufzu- treten und Blumenformen, wie die ein- facheren der Papilionaceen, Labiaten, Ericaceen zur Ausbildung zu bringen, ist also nicht auf eine ganz besondere Uebung derselben im Bearbeiten aus- zubeutender Blumen zurückzuführen ; sie ist ihnen vielmehr als Frucht des bei der Brutversorgung erlernten Höh- lengrabens nebenbei zugefallen. Das Erlernen des Höhlengrabens ist mithin ein unabsehbar folgenschwerer Schritt gewesen. Als Stammeltern aller übrigen höhlengrabenden Hymenopteren haben die Grabwespen nicht nur deren Brut- versorgungsweise — wie später gezeigt werden wird, bis zu den Hummeln und Honigbienen hinauf — in erster Linie bestimmt; sondern auch die Entwicke- lung des Formenreichthums der Blumen- welt und der Blumentüchtigkeit des Wespenstammes lässt sich bis auf das Wespe, die ihre Nachkommenschaft zu sichern suchte, zurückführen. Diese letzteren Folgen des Höhlengrabens ha- ben allerdings, sowohl für die Blumen- welt als für den Wespenstamm, erst nach dem Uebergange des letzteren zur Bienenlebensweise zur vollen Entfaltung gelangen können; aber ihre Anfänge nach beiden Seiten hin zeigen sich schon auf der Entwickelungshöhe der Grab- wespen. Auf Seiten der Blumen näm- lich sind die Vorstufen vieler späteren Bienenblumen, wie z. B. der Labiaten und Papilionaceen, höchst wahrschein- lich schon von den Grabwespen gezüch- tet worden; auf Seiten dieser aber finden wir bei den fortgeschrittensten und blu- mentüchtigsten schon eine erhebliche Streckung der Zunge und damit eine Befähigung, auch etwas tiefer gebor- genen Honig zu erreichen. c. Steigerung der Blumentüchtig- keit mit der Körpergrösse. Am fortgeschrittensten in Bezug auf Eifer und Tüchtigkeit in der Ausbeu- tung der Blumen und ebenso in Bezug auf Zungenlänge sind merkwürdiger Weise gerade die auch an Körpergrösse hervorragendsten unserer Grabwespen, die Arten der drei nächstverwandten Gattungen Ammophila, Psammophila, Mis- cus, und die an Körpergrösse und Ge- schwindigkeit der Bewegungen alle übri- gen einheimischen Grabwespen über- treffende Dembex rostrata. Bei den drei ersten überragt die ausgestreckte Zunge den Kopf bereits um 4 mm, und sie vermögen, wie ich an Ammophila sabu- losa gesehen habe, Bryonia, Melilotus und Thymus mit Leichtigkeit auszubeu- ten. Bei der noch massigeren Bembex rostrata hat sich die Vorstreckbarkeit der Zunge auf 7 mm, die Blumen- tüchtigkeit bis zur Ausbeutung der Blu- men von Medicago sativa und Scabiosa arvensis, für welche letztere ihre Zungen- länge gerade ausreicht, gesteigert. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Ist dieses Zusammentreffen einer Steigerung der Körpergrösse und zu- gleich der (nicht bloss absoluten, son- dern auch relativen) Zungenlänge ein zufälliges oder nothwendiges ? Bei Insekten, die sich, wie die Grab- wespen, im fertigen Zustande sehr über- wiegend mit Blumenhonig beköstigen, und denen, wie den Grabwespen, von Haus aus nur flache, wenig ergiebige Nektarien zugänglich sind, muss sich, bei relativ gleichem Kraftverbrauch für die Brutversorgung, nothwendigerweise in gleichem Verhältniss mit der Körper- masse entweder die Zahl der Blumen- besuche oder der Honigreichthum der ausgebeuteten Blumen steigern. Da nun eine Steigerung der Zahl der Blumen- besuche, bei der durch die langwierige Brutversorgung ohnehin schon sehr be- drängten Zeit der Grabwespen nur inner- halb ziemlich enger Grenzen möglich ist, so konnte, bei unveränderter Er- nährungsweise, eine weitere Steigerung der Körpermasse durchaus nur mit gleich- zeitiger Steigerung der Befähigung zur Ausbeutung reicher fliessender, d. h. tieferer Honigquellen, also mit gleich- zeitiger Steigerung der Zungenlänge stattfinden. Je kürzer und gedrungener dabei die Körperform, um so stärker muss natürlich die Zunge relativ ge- streckt erscheinen; bei Bembex daher weit stärker als bei Ammophila und Genossen. Das Zusammentreffen einer Steige- rung der Körpermasse und der rela- tiven Zungenlänge ist also kein zufäl- liges, sondern ein in ursächlichem Zu- sammenhange stehendes, nothwendiges. 'Selbstverständlich besteht aber eine Wechselwirkung nur zwischen den Grab- wespen und Blumen desselben Gebietes. Nur innerhalb desselben Gebietes kann also auch von einem nothwendigen Zu- sammenhange zwischen der Körpergrösse ünd der durch gesteigerte Zungenlänge erlangten Befähigung, tiefere, honig- reichere Nektarien auszubeuten, die 267 Rede sein. In einem Gebiete, welches offene Nektarien von bedeutendem Honig- reichthum (wie z. B. Poinsettia- und Asclepias-Arten) in Menge darbietet, müssen natürlich Graswespen mit ge- ringerer Zungenlänge eine beträcht- lichere Körpergrösse erreichen können als bei uns. Es ist daher sehr wohl begreiflich, und steht mit unserer Schluss- folgerung nur in vollem Einklange, dass z. B. eine soeben von mir zergliederte südbrasilianische Sphexart von 32 mm Körperlänge und unsere Bembex rostrata erheblich übertreffender Körpermasse eine noch etwas weniger gestreckte Zunge besitzt als diese. Selbst innerhalb desselben Gebietes kann die aufgestellte Regel eine aus- nahmslose Geltung nicht beanspruchen. Denn einerseits können sehr wohl Grab- wespen durch reichlichere Benutzung von Fleischnahrung für ihre eigene Be- köstigung, die sonst für ihre Körper- masse erforderliche Zungenlänge ent- behrlich gemacht haben. Andererseits können aus anderen Bezirken eingebür- gerte Grabwespen eine grössere Zungen- länge, als sie in ihrem gegenwärtigen Bezirke für ihre Körpergrösse durchaus erforderlich ist, von Generation zu Ge- neration weiter vererben. d. Rückschritte in der Blumen- tüchtigkeit durch Verlust der Flügel und durch Zersplitterung der Nahrungserwerbs-Thätigkeit auf verschiedenartige Bezugs- quellen. (Ameisen.) Die Familie der Grabwespen scheint der gemeinsame Ausgangspunkt der übrigen höhlengrabenden Hymenopteren- familien gewesen zu sein, der Ameisen, der Faltenwespen oder eigentlichen Wespen und der Blumenwespen oder Bienen. Auf dem Gipfel ihrer Ent- wickelung sind alle drei zur Staaten- bildung gelangt und schon dadurch weit über die Grabwespen hinaus fortge- schritten. 19 * 268 Von den Ameisen kennen wir, ab- gesehen von vereinzelten Arten, die sich als Gäste in den Nestern anderer vor- finden, nur staatenbildende mit zur Paarungszeit geflügelten Männchen und Weibchen und stets flügellosen Arbei- tern (verkümmerten Weibchen). Mautilla und verwandte Grabwespengattungen mit geflügelten Männchen und flügel- losen Weibchen schliessen sich aber, wie schon LATREILLE mit Recht betont hat, so nahe an die Ameisen an, dass an dem engen verwandtschaftlichen Zu- sammenhang beider nicht gezweifelt werden kann. Zwischen die staaten- bildenden Faltenwespen und die stamm- elterlichen Grabwespen schalten sich, die Kluft völlig ausfüllend, zahlreiche Geschlechter einzeln lebender Falten- wespen ein. Und noch viel mannig- faltigere Abstufungen einzeln lebender Bienen führen von den Grabwespen auf- wärts bis zu den staatenbildenden Hum- meln und Honigbienen. Von der Brutversorgungsweise ihrer Ahnen sind alle drei aus dem gemein- samen Stamme der Grabwespen her- vorgegangenen Familien in eigenthüm- licher Weise abgewichen und je nach ihrer Richtung hat diese Abweichung hemmend oder fördernd auch auf die Blumentüchtigkeit der betreffenden Wes- pen zurückgewirkt. Die Ameisen haben schon auf den niederen Entwickelungsstufen der Staa- tenbildung, die unsere einheimischen Arten zeigen*, die Gewohnheit, jeden einzelnen Nachkommen mit dem für die Entwickelungszeit ausreichenden Mund- vorrath in eine Zelle einzuschliessen, gänzlich aufgegeben. Sie betreiben die Jugenderziehung als Staatsangelegenheit im Grossen und Ganzen. Die dienende Gesellschaftsklasse hegt und pflegt die Maden, trägt sie nach Bedarf näher * Von den höheren Anpassungsstufen der tropischen und subtropischen Zone, wie sie z. B. die Blattschneiderameisen und Raub- ameisen Brasiliens und die Getreide bauenden Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. an die Sonne oder in tiefer gelegene Kammern und füttert sie mit dem aus näherer oder fernerer Umgegend herbei- geschleppten Proviant, bis sie ausge- wachsen sind und sich in seidenartige Puppenhüllen einspinnen. Bestände dieser Proviant ausschliess- lich oder wenigstens zum grössten Theile aus Blumennahrung, so hätte diese massenhafte Brutaufziehung wohl kaum verfehlen können, die Tüchtigkeit der Ameisen im Ausbeuten der Blumen, (wenn auch deshalb noch nicht ihre Brauchbarkeit als Kreuzungsvermittler) erheblich zu steigern. Die Ameisen grei- fen aber, um ihren hohen Nahrungsbe- darf zu decken, zu den verschiedensten anderen Nahrungsquellen, mögen diese ihnen nun Fleisch oder pflanzliche Ei- weissstoffe*, vegetabilische oder ani- malische Kohlenhydrate (wie z. B. den Zuckersaft der Blattläuse) liefern. Und diese Zersplitterung der auf den Nah- rungserwerb gerichteten Arbeit, dieihnen auf die Blumen meist nur einen unbe- deutenden Theil ihrer Zeit und Auf- merksamkeit zu verwenden gestat- tet, hat natürlich auf ihre Blumen- tüchtigkeit nur hemmend zurückwirken können. Einen ziemlich hohen Grad von Fin- digkeit besitzen sie zwar, und die von den Grabwespen ererbte und in ihrem eigenen Haushalte bethätigte Fähigkeit, sich in Höhlen und zwischen eng zu- sammenliegende Theile einzudrängen, bringen sie natürlich auch, wenn sie dem Blüthennektar nachgehen, in An- wendung. Ich fand z. B. auf den Alpen Ameisen zahlreich in den Blumenröhren von Rhododendron bis zum Nektarium vordringend ; in den Blumenglocken der Campanula-Arten (barbata, thyrsoidea), in jüngeren Blüthen vergeblich suchend, in älteren, bei denen die Saftdecken Ameisen von Texas darbieten, sehen wir hier füglich ganz ab. * Fritz Müller, die Imbauba und ihre Beschützer. Kosmos Bd. VII, S. 109 ff. # Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. bereits auseinandergetreten waren, Ho- nig leckend; in zahlreichen Blumen- glocken der Gentiana pumnctata die mei- sten Saftlöcher besetzt haltend. Bei uns in der Ebene drängen sich Ameisen durch die geschlossenen Blumenthüren von Linaria vulgaris ein und kriechen bis in den Honig führenden Sporn. Auch eine gewisse Beständigkeit im Ausbeuten einmal aufgefundener Honig- quellen ist ihnen eigen, sogar in höhe- rem Grade als vielen Grabwespen, und macht sie unter günstigen Umständen zu andauernden, ja selbst zu hartnäckig andauernden Blumenbesuchern. Gewisse honigreiche und gegen ihren Zutritt nicht geschützte Blüthenstände von Saxifragen (Saxifraga aizoides) und Umbelliferen (Peucedanum Ostruthium) fand ich z. B. an einzelnen Orten fortwährend von Hunderten von Ameisen besetzt. Aber im Vergleich zur gesammten Nahrungs- versorgung des Ameisenstaates bleiht selbst eine solche hartnäckige Blumen- arbeit zahlreicher Ameisen doch immer nur unbedeutend, und eine grössere Ausdehnung kann sie schon deshalb nicht annehmen, weil die meisten honig- reichen Blumen gegen den ihnen nach- theiligen Besuch der Ameisen mit beson- deren Schutzvorrichtungen ausgerüstet sind. Auch eine Arbeitstheilung zwischen Blumenhonig sammelnden und anderen Proviant eintragenden Personen findet wenigstens bei unseren Ameisen nicht statt. Ihre gelegentliche Blumenarbeit wird daher kaum irgend wie steigernd auf ihre Blumentüchtigkeit haben ein- wirken können. Ausser der Zersplitterung ihres Er- nährungstriebes wirkt überdies die Flü- gellosigkeit der allein auf Nahrungs- erwerb ausgehenden Arbeiter in hohem Grade hemmend auf die Blumenleist- ungen der Ameisen ein und hindert sie an irgend welchen bedeutenden Fort- schritten auf diesem Gebiete. Man braucht nur die Blumenthätigkeit einer Hummel mit der einer Ameise zu ver- 269 gleichen, um sich die Grösse dieses Hindernisses klar zu machen. Die frei umherfliegende Hummel hat nach dem Verlassen einer Blume, die sie ihres Honigs entleert hat, in der Regel nach einigen Secunden eine an- dere derselben Art aufgefunden. Daher ist es ihr häufig vortheilhafter, den grössten Theil des Honigvorraths in vollen Zügen zu saugen und rasch weiter zu fliegen, als mit der Aussaugung des spärlichen Restes die Zeit zu verlieren. In der That sieht man ja an den von Bombus terrestris (und auf den Alpen von B. mastrucatus) gewaltsam erbroche- nen und ihres Honigs beraubten lang- röhrigen Blumen oft wenige Minuten darauf Wespen oder kurzrüsselige Bie- nen beschäftigt, durch die eingebroche- nen Löcher Nachlese zu halten — ein Beweis, dass die eiligst von Blume zu Blume weiter stürmende Hummel einen Theil des Honigs im Stiche gelassen hat. — Die zuFuss laufende Ameise dagegen hat nach dem Verlassen des einen Nek- tariums durchschnittlich einen unver- hältnissmässig grossen Zeitaufwand nö- thig, um das folgende zu erlangen; denn es fehlt ihr nicht bloss die rasche Orts- bewegung der Hummel gerade durch die Luft hindurch, sondern auch die Uebersicht über verschiedene Blumen desselben Stockes, über verschiedene Stöcke desselben Standortes, welche die Hummel, frei in der Luft schwebend, augenblicklich gewinnt. Zweigauf, zweig- ab, stengelauf, stengelab muss die Ameise umherlaufen, bis sie ihr gutes Glück zu einer neuen Blüthe oder zu einem neuen Blüthenstande leitet. Es ist daher nur die natürliche Folge ihrer Flügellosigkeit, dass die Ameisen sich gewöhnt haben, sich an einer einmal aufgefundenen Honigquelle hartnäckig festzusetzen und sie gründlichst auszu- beuten. Dieses Festhocken an demselben Nektarium musste aber, auch abgesehen von der Zersplitterung ihrer Brutver- sorgungsarbeit, der Erlangung irgend 270 welcher Behendigkeit und Gewandtheit | \ in der Gewinnung von Blumennahrung direkt entgegenwirken. Beide Umstände zusammengenommen machen uns hinreichend verständlich, dass trotz ihrer Staatenbildung und des durch dieselbe hochgesteigerten Nah- rungsbedürfnisses und trotz ihrer ver- hältnissmässig hohen geistigen Befähi- gung die Ameisen weder eine körper- liche Anpassung an die Gewinnung der Blumennahrung noch eine Steigerung ihrer Blumentüchtigkeit erlangt haben, und dass auch die Blumenwelt keine Spur von Anpassung an Kreuzungsver- mittelung durch Ameisen, sondern nur zahlreiche Schutzvorrichtungen gegen dieselben * erkennen lässt. Allerdings sind die kleinen grünlichen Blüthen eines zur Familie der Kaffee- gewächse gehörigen südafrikanischen Strauches als der Kreuzungsvermittelung der Ameisen angepasst beschrieben wor- den **; aber diese Beschreibung selbst stützt nur die hier begründete Behaup- tung. Die Staubgefässe dieses Strauches springen nämlich schon in der Knospe auf und bedecken die Narbe mit Pollen. Sobald dann die Blüthen sich öffnen, beginnen die Ameisen, welche dieselben in grösster Menge besuchen, die Haare auszureissen, welche die Blumenkronen- röhre auskleiden, und oft auch die Staubgsfässe abzubeissen, um sich den Weg zu dem im Grunde der Röhre ent- haltenen Honig zu bahnen. Dabei stützen sie sich oft mit den Hinterbeinen auf den pollenbedeckten Griffel, den sie bis- weilen ebenfalls abbeissen. Deutlicher kann die Unbrauchbarkeit der Ameisen zur Kreuzungsvermittelung und überdies die Gründlichkeit, mit welcher sie bei ihrer Blumenausbeutung zu Werke zu gehen pflegen, doch wohl kaum jemals zu Tage treten. * Kerner, Schutzmittel der Blüthen gegen unberufene Gäste. Wien, 1876. ** Evans, Nature Vol. XIII p. 427. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Vortheilhafter Einfluss der Staatenbildung auf die Blumen- tüchtigkeit. (Faltenwespen.) Innerhalb der Grabwespenfamilie hat, wie wir sahen, die Zunahme der Kör- permasse den Nahrungsbedarf und da- durch die Blumenthätigkeit und Blumen- tüchtigkeit gesteigert. Von den aus dem Grabwespenstamme hervorgegange- nen Familien sind dann die Ameisen, wie so eben gezeigt wurde, durch Zer- splitterung des Nahrungstriebes auf ver- schiedene Bezugsquellen und durch Flügellosigkeit der Arbeiter auf eine niedere Stufe der Blumentüchtigkeit hinabgesunken. Bei den Faltenwespen und Bienen dagegen hat eine weitere Steigerung des Blumennahrungsbedarfs und damit der Blumentüchtigkeit statt- sefunden, was für die Faltenwespen jetzt nachgewiesen werden soll. Die einzeln lebenden Faltenwespen gleichen grösstentheils ihren muthmass- lichen Stammeltern, den Grabwespen, im Graben einer Bruthöhle, im Erbeuten lebender Insekten oder Spinnen, im Lähmen derselben durch Dolchstiche in die Nervenknoten, in der Einbringung der gelähmten Beute in die Höhle, in ihrer Belegung mit einem Ei, endlich in dem Verschliessen der Höhle und dem Verwischen jeder äusseren Spur — also in allen Einzelheiten der Brutver- sorgung. Ebenso beschränken sich viele von ihnen zu ihrer eigenen Beköstigung, gleich den Grabwespen, fast ganz auf Blumennahrung und stehen daher auch in Bezug auf Blumentüchtigkeit mit diesen auf gleicher Stufe. In der That sind es zum grossen Theile dieselben Blumen und im übrigen wenigstens meist Blumen derselben Anpassungs- stufen, auf denen wir einerseits die Grabwespen, andererseits die einzeln lebenden Faltenwespen mit Honigaus- beute beschäftigt finden. Beide lecken vorwiegend völlig offen liegenden Honig, wissen aber auch die durch Haare ge- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. deckten Nektartröpfehen von Malva und Geranium auszubeuten, die eng zusam- menschliessenden Blüthentheile von Re- seda, Bryonia u. dgl. auseinander zu zwängen, in die Blumenröhren von Va- leriana, Gypsophila, Echium, Scabiosa u.a. einzudrängen und deren Honig zu er- langen. An der unbewussten Blumenzüch- tung der ersten und einfachsten La- biaten-, Papilionaceen- und anderer Blumenformen, die später die Bienen für sich in Anspruch genommen und weiter gezüchtet haben*, mögen daher neben Grabwespen recht wohl auch einzeln lebende Faltenwespen betheiligt gewesensein. Eigenthümliche Züchtungs- produkte der letzteren hat unsere Blu- menwelt nicht aufzuweisen. Mit oder wahrscheinlich vor dem Uebergang zur Staatenbildung** ist aber von den Faltenwespen (ebenso wie von den Ameisen) die ererbte Brut- versorgungsweise verlassen und statt der lebenden Fleischnahrung für die Larven gemischte Kost, statt des Ein- schliessens des Eies nebst dem ganzen für die Larve nöthigen Mundvorrath in eine Zelle das Auffüttern der Larve ein- geführt worden. Auch sich selbst be- köstigen die staatenbildenden Falten- wespen in noch etwas höherem Grade, als die Grabwespen thun, mit gemischter Nahrung, indem sie statt des Blumen- honigs auch den süssen Saft der Früchte, neben der vegetabilischen Kost auch erbeutete Insekten geniessen. Zwei Um- stände aber wirken steigernd auf ihren Nahrungsbedarf und damit, trotz der gemischten Kost, auch auf ihre Blumen- thätigkeit ein: einerseits ihre Körper- masse — unsere staatenbildenden sind zugleich unsere grössten Faltenwespen, — andererseits die Staatenbildung, die von einer Massenauffütterung der Nach- * Die Insekten als unbewusste Blumen- züchter II. (Kosmos Bd. IU, S. 476—499.) ** Anwendung der Darwin’schen Lehre 271 kommen und Zunahme ihrer Zahl in geometrischem Verhältnisse begleitet ist. Unsere Vespa-Arten sind daher (mit Ausnahme der Hornisse) ebenso eifrige Blumengäste als Fliegenjäger und Ver- tilger süsser Früchte und zeichnen sich vor den einzeln lebenden Faltenwespen (Odynerus, Eumenes) bei ihren Blumen- besuchen ebenso sehr durch stürmi- scheren Flug und raschere Bewegung bei der Blumenarbeit, als durch ent- schiedene Bevorzugung reicher Honig- quellen aus. Nur die Männchen, die ja keine Brut zu versorgen, sondern nur sich selbst zu beköstigen haben, sieht man auf den Blüthenschirmen der Umbelli- feren in aller Gemächlichkeit sich an der flachen Honigschicht ergötzen; die fruchtbaren und unfruchtbaren Weib- chen sind auf denselben Blüthenschirmen und ebenso auf den dicht gedrängten Blüthen von Sarifraga aizoides in rast- losem Umherschreiten und Honigauf- lecken begriffen. Noch weit lieber aber beuten sie, wenn sie es haben können, in raschen vollen Zügen eine ganze nektargefüllte Schale auf einmal aus. Werden ihnen solche von den Blumen dargeboten, so sind sie deren eifrigste Gäste, die unermüdlich von Blume zu Blume fliegen und, wenn nur Narbe und Pollen die dazu geeignete Lage haben, fortwährend Kreuzung vermit- teln. Kein Wunder also, dass sie trotz der Zersplitterungihres Nahrungserwerbs einigen blumenzüchtenden Einfluss haben gewinnen könnem Die Steinmispel(Cotoneaster vulgaris*) bewohnt in den Alpen vielfach dieselben Felsen, an denen eine Steinwespe, Po- listes biglumis, ihre gestielte, hüllenlose Brutwabe anheftet, und ihre Blüthen, deren Kelchschale sich mit Nektar füllt, während die Blumenblätter sich über auf Bienen. (Verhdl. des naturh. Vereins für preuss. Rheinl. u. Westf. 1872. S. 34.) * H. Müller, Alpenblumen S. 214. 272 derselben schützend und zahlreiche Gäste ausschliessend zusammenwölben, fand ich ausschliesslich von der genannten Steinwespe besucht, deren Kopf in die kugelige Blumenhöhle hineinpasst, als wenn für ihn das Maass derselben ge- nommen wäre. Aehnlich verhält sich Rubus saratilis*. Epipactis latifolia, die Serophularia- Arten, Lonicera alpigena bieten in ihren Blumen, die sich überdies durch eine sonst ungewöhnliche, grünliche, braun- roth überlaufene Farbe und (wenigstens bei Scerophularia) eigenthümlichen Ge- ruch auszeichnen, weit geöffnete, nek- targefüllte Schalen dar, die weit genug sind, die Köpfe unserer (ausser V. Crabro) aufzunehmen, und von denselben emsig und mit Ausdauer besucht werden. Nicht minder eifrig entleeren dieselben Wespen die nach unten gerichteten Glöckchen der Schnee- seren (Symphoricarpus racemosa), die ebenso honigreich, ebenso bequem ihren grossen, kurzzungigen Köpfen angepasst sind. Was liegt also näher, als die genannten Blumeneigenthümlichkeiten der unbewussten Züchtung der genann- ten Kreuzungsvermittler zuzuschreiben ? Und zwar nur dieser, d. h. der staaten- bildenden Wespen mit Ausschluss der Hornisse. Denn die einzeln lebenden Wespen sind zu wenig blumeneifrig, als dass sie blumenzüchtend hätten wirken können; überdies beweist der gewalt- same Einbruch, den Odynerus-Arten an den Blumenglöckchen der Schneebeere verüben, dass sie wenigstens an der Züchtung dieser Wespenblumen keinen Antheil haben können. Die Hornisse dagegen sind zu gross und nahrungs- bedürftig, als dass sie überhaupt auf unseren Blumen ihre Rechnung finden könnten; die flache Honigschicht offener Nektarien ist ihnen zu unergiebig, die * Daselbst S. 215. Vespa-Arten. "zur Hermann Müller, Die Entwiekelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Nektarschalen unserer Wespenblumen sind ihnen zu klein. Sie verzichten da- her fast gänzlich auf Blumenbesuch und Blumennahrung; nur ein einziges Mal spät im Herbst, als ihre Lebenszeit sich schon zu Ende neigte (13. Okt. 1875), habe ich einzelne Hornissen auf Blü- thenschirmen des Epheu angetroffen. Obgleich hiernach als Blumenzüchter die staatenbildenden Faltenwespen nicht ganz erfolglos gewesen zu sein schei- nen, so haben sie selbst doch in ihren einheimischen Arten keinerlei Anpassung an die Gewinnung der Blumennahrung erlangt. Die tropische und subtropische Zone aber, in der ja überhaupt die gegenseitigen Anpassungen der Orga- nismen viel weiter gediehen sind, als auf unserem in seiner Bewohnerschaft durch Glacialperioden so mächtig ge- stört gewesenen Erdtheile, hat, nach der Entdeckung meines Bruders, Frırz Mür- LER, auch unter den staatenbildenden Faltenwespen eine Anpassung an die Gewinnung der Blumennahrung auf- zuweisen, wenn auch nur, in dem frü- her** von mir erörterten Sinne, eine ne- gative. Die Mondscheinwespe Südbrasiliens (Apoica pallida Lee.) nämlich, die, wie unsere Polistes-Arten, eine einzige hüllen- lose Brutwabe baut, aber nur des Nachts dem Blumenhonige nachgeht, während sie bei Tage still im Neste sitzt, ist mit Ausnahme des Kopfes und der Vor- derbrust oberseits weisslichgelb gefärbt und erscheint bei Mondschein ebenso weiss, wie die meisten Nachtblumen, die sie besucht. Wenn sie daher bis Mittelbrust in einer Nachtblume steckt, so ist sie schon aus geringer Entfernung unsichtbar und dadurch vor der Gefahr, während ihrer Blumenarbeit von Feinden bemerkt und erbeutet zu werden, geschützt. ** Kosmos Bd. VI, S. 30. Kosmos Bd.IX.(1881) Ze 5 Tafll Kosmos Bd.IX. (1881) Sg EIER 4 >> ELTERN Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. Von Dr. E. Huth. (Hierzu Tafel I. II.) Die Anpassungen der Pflanzen an das Thierreich lassen sich in vier Grup- pen theilen: 1. diejenigen, welche die Fremdbefruchtung (Kreuzung) der Blü- then, besonders vermittelst der Insec- ten bewirken, 2. diejenigen, welche die Aussaeung (Verbreitung des Samens) durch Thiere begünstigen, 3. die Schutz- mittel der Pflanzen, welche im Kampfe mit der Thierwelt entstanden sind, 4, diejenigen Anpassungen, durch wel- che gewisse Pflanzen auf Kosten der Thiere zu leben im Stande sind. Alle diese Anpassungen sind schon behandelt worden, allerdings in einer sehr ungleichen Weise. Während näm- lich die erste Gruppe derselben schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts von SPRENGEL, allerdings von seinem teleo- logischen Standpunkte aus behandelt wurde und besonders seit den neueren Arbeiten von Darwın, HiLpEBRAND, Devpıno und der Brüder Hermann und Ferrz MüLter schon eine bedeutende Literatur besitzt, deren genauer Kata- log sich in Hermann Mürver's Be- fruchtung der Blumen findet, ist die zweite Gruppe meines Wissens nach im Zusammenhange erst einmal, und zwar von HınLpzerann”* behandelt * Die Verbreitungsmittel der Pflanzen, Leipzig 1873. worden. Wieder etwas genauer ist die dritte Gruppe beleuchtet worden, und zwar, soweitesden SchutzderBlätter und blüthen gegen unberufene Gäste, durch Gifte, ätherische Oele, unangenehme Gerüche, klebrige Drüsen, Stacheln und Dornen, Leimringe und Wasserbecken be- trifft, schon im vorigen Jahrhundert durch ErAsmuSs DARwIN, sowie in neuerer Zeit durch Kerner und Kuntze. Von den Anpassungen der vierten Gruppe, welche sich in diejenigen der fleischverdauen- den Pflanzen und in diejenigen der auf oder in Thieren parasitisch lebenden Pflanzen theilen lässt, sind die ersteren vornehmlich von Darwın eingehender dargestellt, während die historische Ent- wickelung der Idee und die Litteratur- angaben von Drupe in der Truwenor- schen »Eneycelopädie der Naturwissen- schaften« zusammengestellt worden sind. Die Anpassungen der in Thieren para- sitisch lebenden niedern Pflanzen hat uns am eingehendsten NÄsenı in meh- reren besonderen Werken geschildert. In der vorliegenden Arbeit ist es nun meine Absicht, die bisher am dürf- tigsten bedachte Gruppe, also die der Aussaeungsvorrichtungen näher zu he- trachten, indem ich auf dem von Hınpe- BRAND betretenen Wege fortschreite und besonders das hervorhebe, was wir in den » Verbreitungsmitteln der Pflanzen« 274 des genannten Forschers noch nicht finden. Derselbe hat nämlich zwar die hierher gehörigen Pflanzen in morpho- logischer Beziehung genauer behandelt, jedoch auf die in Frage tretenden Thiere, sowie auf die bisher gemachten directen Beobachtungen über Samenverschlepp- ung keine oder doch nur sehr geringe Rücksicht genommen. Nach zwei Richtungen haben sich die Pflanzen der Aussaeung durch Thiere angepasst, nämlich durch Ausbildung a) von Klettorganen und Kleb- vorrichtungen; b) von Kern- oder Steinfrüchten. Was zunächst a. die Klett- und Haftorgane betrifft, so weissauch jeder Laie, dass sich, wenn er im Herbste durchs Gebüsch seinen Weg nimmt, seinen Kleidern die- ser oder jener Pflanzensame anhaftet, der oft nur mit grosser Mühe zu ent- fernen ist. Der Volksmund und der Bo- taniker haben deshalb auch nicht er- mangelt, diese Eigenschaften der Pflan- zen in der Nomenclatur zu verwerthen. Der Name »Klette« selbst, sowie die- jenigen der Spitzklette oder Bettler- laus(Xanthium strumarium)*, der » Wald- klette«s (Circaea), der »Wollkletten« (Früchte besonders von Medicago his- pida und M. arabica), »Klebkraut« (Ga- lium Aparine), bei den Alten nach Pui- sus Menschenfreund (Philanthropos) ge- nannt, ferner »Priesterlaus«<, welcher nach AscHuersonx in der Priegnitz für die Samen von Bidens üblich ist, und der sich in einer nicht gut wiederzugebenden Form schon 1717 im Vademecum bota- nicum des JoHrENIUs findet, sowie die botanischen Gattungsnamen Harpagophy- ton und Scorpiurus, und die Species- namen von Kchinospermum, Lappula, ‘Bartramia Lappago, Valerianella hamata und vielen Anderen legen hiervon Zeug- niss ab. sische Name dieser Pflanze die Benennung Petit Gletteron (heute Glouteron) vor, wobei Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. - Trotzdem aber, wie wir hier sehen, das Volk und die Männer der Wissen- schaft von diesen Klettvorrichtungen der Pflanzen seit langer Zeit Notiz ge- nommen haben, so stehen wir dennoch, wo es sich um directe Beobachtungen handelt, die auf Verschleppung der Samen nach dieser Richtung hin ge- macht sind, auf einem Gebiete, auf welchem wir das Material aus lauter einzelnen, meist nur gelegentlichen Be- merkungen der Beobachter zusammen- suchen müssen. Es ist daher natür- lich, dass die Zusammenstellung der mir bis jetzt bekannt gewordenen darauf bezüglichen Beobachtungen noch eine dürftige sein muss, doch bin ich über- zeugt, dass dieselben sich bald be- deutend vermehren würden, sobald sich das Interesse der Botaniker mehrfach darauf gerichtet hat. Am bekanntesten ist natürlich die Verschleppung einiger heimischen Pflan- zen, die besonders der Mensch mit seinen Wollkleidern, mit ihm aber auch sein Freund, der durch Feld und Gebüsch streifende Hund, vornehmlich der kraus- haarige Pudel bewirkt. Die wichtigsten der bei uns auf diese Weise verbrei- teten Pflanzen sind zunächst die Zappa- Arten, welche ihrer haftenden Eigen- schaften wegen xar &£oyrv «Kletten« genannt worden sind und deren Zähig- keit beim Festsitzen aus der Jugend Jedem erinnerlich sein wird, dem ein Spielkamerad dieselben gelegentlich in die Haare geworfen. DEAKIN sagt in seiner Florula of the Colosseum of Rome (London 1855) von ihnen: »Es scheint, als ob die in die fest einschliessenden harten Blättchen des Hüllkelches ein- gehüllten Samen niemals herauskommen könnten ; aber die Natur hat vermittelst der starken Haken am Ende der Hüll- blättchen dafür gesorgt, dass sie an Thieren u. s. w. so fest kleben und offenbar Zusammenhang mit dem deutschen Worte Klette vorhanden ist. haften, dass es, um sie wieder zu ent- fernen, nöthig ist, den Hüllkelch in Stücke zu zerreissen, wodurch dann den Samen Gelegenheit gegeben wird, herauszufallen und sich auszusäen.« Wie sehr DEAKIN hierin Recht hat, davon kann man sich leicht durch das Ex- periment überzeugen, dass man einem Pudel Kletten oben auf dem Rücken ansetzt. Er wird nicht eher ruhen, als bis er durch Wälzen auf der Erde und andere Manöver sich der lästigen Bei- gabe entledigt hat, die hierbei natür- lich zerstückelt wird. Dass aber in der That die hakenförmigen Vorrichtungen des Hüllkelches so zu sagen den Zweck der Verschleppung und Aussäung haben, sieht man recht deutlich bei den Xan- thium-Arten. Bei diesen einhäusigen Pflanzen haben nämlich nur die weib- lichen, also die samentragenden Köpf- chen einen mit Haftorganen versehenen Hüllkelch, während die männlichen Köpf- chen, bei denen dieselben überflüssig wären, solche nicht besitzen. Wie bei Zappa und Xanthium die rückwärts gekrümmten Haken des Hüll- kelches sich an fremde Körper heften, so thun dies, wie wir im Herbste uns täglich überzeugen können, bei bidens dierückwärtsrauhenGrannenderFrüchte, und ähnliche Vorrichtungen sind es, die bei Torilis und Caucalis (vergl. Fig. 17), bei Oynoglossum, Circaea, Sanieula(Fig.15), Lappula Myosotis Moxxen (Fig. 5), @a- lium Aparine, Geum wrbanım und man- chen andern bewirken; dass sich ihre Samen an Menschen oder Thiere an- hängen und so sich aussäen, während bei Asperugo procumbens es besonders die Stacheln des Stengels sind, welche der Pflanze diesen Dienst leisten. Zu diesen bei uns heimischen Pflan- zen kommt eine Anzahl solcher, die notorisch entweder bei uns oder in an- dern Gegenden durch Thiere oder deren Wolle eingeschleppt wurden. Es sind diesbesonders Emex CentropodiumMkıss., welches wie Medicago Aschersonia URBAN Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. 275 im Sommer 1873 in der Mark mit Woll- abfällen ausgesäet wurde. Aehnlich wur- den gelegentlich die rückwärts-stach- ligen Hülsen von Medicago hispida( Fig. 3, vergl. auch Fig. 4) M. laciniata Au. und M. arabica, deren Früchte schon seit längerer Zeit von den Wollfabrikanten als »Wollkletten« bezeichnet werden, hier eingeführt. Diesestammen ursprüng- lich aus den Ländern des Mittelmeeres, wurden von dort aber erst nach Süd- amerika eingeschleppt, ehe sie von da wiederum mit der Wolle nach Nord- europa kamen. Von einem Cottbuser Tuchfabrikanten erhielt ich ebenfalls Medicago-Hülsen, die er zahlreich in Neuseeland-Wolle vorgefunden und die bei den Fabrikanten unter dem Namen »Ringelkletten« verrufen sind. Ebenso hat sich Xanthium spinosum mit Hülfe der gekrümmten Stacheln des Hüllkelches seit dem Anfang dieses Jahrhunderts von Ostenherkommendüber einen grossen Theil Europas verbreitet. »In die Walachei brachten Spitzklette 1528 die russischen Trup- pen, indem Schweife und Mähnenhaare der Kosackenpferde ganz voll hingen von dien stachlichen Früchten; 1850 erschien das Unkraut zugleich mit der Cholera in der Buckowina, weshalb das Land- volk dasselbe Choleradistel nannte. In Ungarn ist sie seit 1839 überall hin verbreitet. Durch ungarische Schweine und Schafwolle ist sie, dem Laufe der Donau folgend, schon bei Regensburg ete. erschienen und seitdem grosse Trans- porte des genannten Viehs durch die Eisenbahn nach Hamburg ziehen, ist dies Unkraut schon längs der Bahnlinie hierundda beobachtet« (Leunis). Inder Mark Brandenburg wurde dieses Xan- thium nach Ascmwerson mit ungarischer und spanischer Wolle eingeführt und findet sich daher besonders in der Nähe der Manufacturstädte. Die Fabrikanten bezeichnen die Xanthium-Köpfe als» Stein- klette« und sowohl die ungarische, wie auch die Neu-Seeland-Wolle, wenn ich diese 276 nicht irre, auch diejenige aus Buenos- Ayres, ist oft dicht erfüllt mit ihnen. Auch in Südafrika ist Xanthium mit dem Vorrücken der Schafzucht einge- drungen und breitet sich zum grossen Schaden der Wollproducenten dort immer mehr aus. So klagt Jonmx Suaw dar- über, dass die Wolle daselbst 50 /o ihres Werthes durch die Xanthium- Früchte einbüsst, sodass, wie auch in Ungarn schon geschehen, die Vertilgung der genannten Pflanze gesetzlich ange- ordnet werden musste *. Aber nicht nur solche verhältniss- mässig kleine Früchte werden mit der Wolle verschleppt, sondern auch andere * Ueber die Verbreitung von Xanthium strumarium und spinosum hat Dr. Egon Ihne im XIX. Bericht der Oberhessischen Gesellschaft für Natur- und Heilkunde unter Berücksichtigung von 360 Floren und Reise- werken zwei eingehende Studien veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass erstere Pflanze schon von den ältesten Floristen als über ganz Europa, (auch Skandinavien, wo sie heut nicht mehr vorkömmt), verbreitet gefunden wurde, so dass die Meinung Bentham'’s, die Gattung sei amerikanischen Ursprungs, nicht bewiesen werden kann. Sie hat sich wahrscheinlich von hier über die meisten mit Europa in Handel und Verkehr stehen- den Länder verbreitet. Ebenso hielten einige Botaniker, wie Ascherson, Xanthium spi- nosum für aus Südamerika stammend, und Beechay sah sie 1830 in Chili. Sie ist aber wahrscheinlich dort eingeführt, und ihre europäische Heimath scheint das südliche Russland zu sein, wo sie Guildenstedt 1757 beobachtete. In Nordamerika gedenken die Floristen ihrer erst seit dem Jahre 1818, und da die Pflanze durch ihre bläulichen Stengel und lange goldglänzende Dornen sehr in's Auge fällt, könnte sie, wenn früher vor- handen, dort nicht leicht übersehen worden sein. In Chili ist sie jetzt sehr verbreitet und Ritter von Frauenfeld sah daselbst (um 1560) „sich herumtreibende Pferde, deren Schweife und Mähnen von tausenden solcher Früchte zu einem unförmlichen Klumpen von Mannesdicke verfilzt waren, unter deren Last die armen Thiere fast erlagen.“ Uebrigens besitzen Brasilien und Chili ähnliche, ein- heimische Xanthium-Arten, von denen sich das chilensische X. catharticum nur durch kürzere Dornen von X. spinosum zu unter- scheiden scheint. Nach Schomburgk gehört Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. von 6—12 cm Grösse. Bekannt ist hier- für die sogenannte »Wollspinne«, die Frucht von Harpagophyton procumbens DC., deren Abbildung wir in Fig. 11 geben und welche nicht selten mit au- stralischer Wolle zu uns kommt ** ; häu- figer geschieht dies noch mit der Frucht von Martynia proboscidea FLor., die ich von Peitzer und Cottbuser Tuchfabri- kanten erhielt und deren Abbildung ich in Fig. 18 liefere ***. Hierher gehört endlich eine grosse Anzahl der Pflanzen, welche Dr. A. Gopron in seiner Florula Juvenalisf aufgezeichnet hat. Ein Brachfeld an dem Ufer des Lez bei Montpellier, der Port Juvenal, wel- die letztere Pflanze auch schon in Südaustra- lien zu den Pflanzen, welche die Viehzucht dort fast zur Unmöglichkeit machen. Unsere ausgedehnten Verkehrsmittel geben diesen Pflanzen einen bemerkenswerthen Vortheil und von solchen Pflanzen, deren Früchte sich an den Kleidern der Menschen festsetzten, kann man sagen, dass sie mit der Eisenbahn reisen; sie finden sich überall längs der Bahnlinien. "## Harpagophyton ist eine im Kaplande einheimische Pedaliacee, welche wahrschein- lich erst von dort nach Australien verschleppt worden ist. Sie wurde zuerst von Burchell unter dem Namen Uncaria (von uncus Haken) beschrieben, aber da dieser Name bereits früher der Gambir-Pflanze (Uncaria Gambir), einer Cinchonacee, beigelegt worden war, so änderteDeCandolle den Namen in Harpa- gophytonnach dem griechischen harpax Haken- geschoss. Livingstone erzählt, dass, wenn die Frucht dieses niedrigen Krautes sich an der Schnauze eines Ochsen festhakt, das Thier hilflos stehen bleibt und vor Schmerzen brüllt. ##® Diese Pflanze gehört ebenfalls zu der kleinen Familie der Pedaliaceen, und wird von den Italienern Testa di Quaglia, bei uns Gemshorn genannt. M. fragrans mit 3—4 ‘Zoll langen Hörnern wird in Mexiko von den Reisenden gefürchtet, denen es die Kleider zerreisst; die mit kürzeren Haken versehene Frucht von M. triloba heisst in Mexiko Unguis Diaboli. ji Godron. Florula Juvenalis seu enu- meratio et descriptio plantarum e seminibus exotieis inter lanas flat enatarım in cam- pestribus Portus Juvenalis prope Monspelium. In den Memoir, de l’Acad, des Sciences et Lettres des Montpellier. 1853. Im folgenden Jahre auch in französischer Uebersetzung in Nancy erschienen. Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbr cher lange Jahre dazu diente, auslän- dische Schafwolle zu trocknen, hat sich lediglich in Folge dessen in einen wah- ren botanischen Garten verwandelt, so dass Gopron mehrere hundert Arten spanischer, italienischer, südrussischer, nordafrikanischer und anderer auslän- discher Pflanzen-Arten auf demselben sammeln resp. beschreiben konnte. Aller- dings finden sich auch nicht wenige Arten unter denselben, welche eine be- sondere Verschleppungsvorrichtung der Samen u. s. w. nicht zeigen, doch be- weist dies nur, wie ungemein geeignet die Wolle zur Verschleppung ist. Auf meine dahin bezüglich geäusserten Be- denken war Herr GoDRoN so freundlich, mir folgendes zu antworten, womit er zweifellos das Richtige getroffen hat: »D’une autre part la laine est une des matieres, qui se feutre le plus facile- ment; elle enveloppe et retient sans difficulte les graines, m&me lorsqu'elles sont parfaitement lisses. On y trouve aussi du sable, de la terre, des debris vegetaux et bien d’autres impuretes, ce qui oblige ä les laver a grande eau avant de la livrer a l’industrie. Il suffit de l’examiner lorsqu’elle arrive des pays lointains pour constater tous ces faits. « Diejenigen Gattungen aber, welche durch ihre Arten besonders zahlreich auf dem genannten Felde gefunden werden, bleiben immerhin natürlich solche, deren Haftorgane günstig ent- wickelt sind, und zwar sind dies be- sonders die Gattungen Medicago, Dau- eus, Centaurea und Erodium. Bei Medi- cago sind es die gewundenen, meist mit Stacheln versehenen Hülsen, die wir schon oben als für die Verschleppung besonders geeignet bezeichnet haben; bei Centaurea wird die Verschleppung durch die stachligen Blätter des Hüll- kelches bewirkt, bei Krodium endlich, wie bei Geranium, durch die in der Reife schrauben- oder bogenförmig ein- gerollten Grannen der Fruchtklappen. Von den zahlreichen andern nach dem eitung durch Thiere. 277 Port Juvenal verschleppten Pflanzen wollen wir beispielsweise nur noch Mi- eropus Supinus erwähnen, dessen Frucht wir in Fig. 7 abbilden. Wenn wir nun nach den bis jetzt aufgezeichneten Erfahrungenfinden, dass bei den durch wollhaarige Thiere ver- breiteten Pflanzen die Samen selbst, die Fruchthüllen oder doch andere Theile mit am Ende rückwärts gekrümmten oder der Basis rückwärts anliegenden oder mit Widerhaken versehenen Sta- cheln bedeckt sind, so sind wir jeden- falls berechtigt, auch da, wo die directe Beobachtung der Verschleppung einer Pflanze durch derartige Organe fehlt, wofern nur die Formen derselben den obengenannten entsprechen, zu schlies- sen, dass sie als Anpassung an die Verschleppung entstanden sind, woran wir gewiss nicht Anstoss nehmen, wenn wir z. B. die zur Verschleppung so vor- züglich ausgerüsteten Früchte von Scor- piwrus (Fig. 1) betrachten, oder gar von Triumfetta (Fig. 2), bei welchen die rückwärts gekrümmten Stacheln ihrer- seits noch mit Widerhaken versehen sind. So finde ich z. B. von der Weber- karde, Dipsacus fullonwm, keine directen Beobachtungen der Verschleppung, ob- gleich dieselbe vermöge ihrer steifen, an der Spitze hakig-zurückgekrümmten Spreublätter ganz besonders dafür ge- eignet zu sein scheint. Nicht erwähnt finde ich ferner bei HıLpEBRAND eine Reihe von Cyperaceen, z. B. die zur Heleocharis-Gruppe gehörigen Seirpus- Arten, z. B. Se. lacustris (Fig. 16), bei welchen das Perigon aus meist 6 rück- wärts-rauhen Borsten, welche jedenfalls die Frucht zu verschleppen angethan sind. Unter den zur Verschleppung besonders geeigneten Grassamen führt EBELING in einer Arbeit »über die Ver- breitung der Pflanzen durch die Vogel- welt<* noch Leersia oryzoides an, und & Achter Jahresbericht des Naturwissen- schaftlichen Vereines zu Magdeburg 1878. Ss. 121 fl. 278 meint, sie würde vermittelst des zarten, dichten Besatzes von Wimperhaken an ihren Spelzen durch ziehende Wasser- vögel (Steissfüsse, Enten oder Teich- hühner) aus Südeuropa bis zur nord- deutschen Küste verbreitet. Auch von Bartramia Lappa GAERTNER (Fig. 10), Krameria triandra (Fig. 14), Trapa na- tans (Fig. 13), Aneistrum decumbens (Fig. 8) und A. latebrosum (Fig. 9) lie- gen mir Beobachtungen über Verschlep- pung nicht vor, doch können wir mit Recht nach dem oben Gesagten auch von den Haftorganen dieser Pflanzen annehmen, dass sie den Pflanzen in ihrem Kampfe ums Dasein und speciell bei der Aussaeung und Verbreitung von hervorragendem Nutzen sein müssen. Dagegen müssen wir im Grossen und Ganzen alle gerade verlaufenden und der Basis nicht rückwärts ge- wendet aufsitzenden Stacheln, wie die- jenigen von Castanea, die vieler Distel- gewächse, der Cacteen u. s. w. nicht als Haftorgane, sondern als Schutz- mittel, also als Anpassungen, welche unserer dritten Hauptgruppe angehören, betrachten. Nehmen wir zu dem Gesagten noch hinzu, dass wir die Klettorgane nur bei Pflanzen finden, denen sie in der That von Nutzen sein können; also, entsprechend der Verschleppung durch die auf der Erde gehenden Vierfüssler, meist nur an niedern Kräutern oder Sträuchern, dagegen niemals, wie Nä- GELI bemerkt hat, »an grossen oder schweren Früchten oder Samen, ferner nicht an den Früchten, welche auf- springen und die Samen heraustreten lassen und ebenso nicht an den Samen, welche in den Früchten eingeschlossen bleiben«, so wird es Jedem der dar- winistischen Anschauungsweise huldigen- den Naturforscher wohl kaum zweifel- haft sein, dass in der That die er- wähnten Haftorgane der Pflanzen sich als Anpassungen an die Thierwelt gebildet haben. Denn genau das finden Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. wir hier, was HERMANN MÜLLER in seiner „Befruchtung der Blumen“ als Krite- rium für eine „Anpassung“ aufstellt. Seinen Gedanken können wir in etwas erweiterter Form so darstellen: „Wenn wir irgend einen Organismus mit in bestimmter Richtung ausgesprochenen Eigenthümlichkeiten ausgestattet sehen, und beobachten, dass diese Eigenthüm- lichkeiten im Leben desselben Organis- mus nach der angedeuteten Richtung hin auch ihre Anwendung finden, so können wir umgekehrt schliessen, dass ——- die- selben sich unter steter Wirkung der na- türlichen Auslese als Anpassungen an die bestimmteAnwendungentwickelthaben.« Während wir nun die in diesem Satze ausgesprochenen Bedingungen, unter welchen wir einen Organismus als „Anpassung“ zu betrachten berech- tigt sind, erfüllt sehen, scheint dies bei der zweiten Art der Anpassung von Pflanzen an die Thierwelt wenigstens anfangs wohl etwas zweifelhafter. We- nigstens können wir uns recht gut denken, dass es Manchem schwer werden wird, sich die Ausbildung der Samen- haut oder der Fruchtwandung bei vielen Pflanzen zu einer festen, holzigen Um- hüllung ebenfalls als die Anpassung an die Aussaeung durch Thiere vorzustellen, umsomehr da zweifellos viele derartige steinharte Umhüllungen, wie etwa bei der Kokosnuss, in der That nicht als derartige Anpassungen angesehen werden können, und da der Schutz, den diese Umhüllungen gegen Witterungen und Klima gewähren, auf ihre Entwickelung sicher nicht ohne Einfluss gewesen sind. Wir werden bei dieser etwas schwie- rigeren Frage in der Art verfahren, dass wir zunächst objectiv die Thatsachen der Verschleppung von Pflanzen mit Steinfrüchten durch Thiere darlegen und dann erst zu einem subjectiven Urtheil gelangen darüber, ob wir in diesen Fällen die genannten Organismen als Anpassungen an die Aussaeung zu be- trachten berechtigt sind. 5 Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. 279 Baepıe Verbreitung von Pflan- zen mit Steinkernen durch Thiere vornehmlich durch Vögel geschieht hauptsächlich auf zweierlei Weisen: 1) vermittelst der Exkremente, 2) durch das Ausspeien der Steinkerne.* Die Verbreitung einiger Pflanzen durch die Exkremente der Vögel ist seit längerer Zeit, wie wir sofort sehen werden, bekannt; die Aussaeung der- selben durch das Ausspeien der Kerne scheint bisher wenig Beachtung gefunden zu haben. Je mehr ich mich jedoch mit den Gewohnheiten der beerenfres- senden Thiere bekannt machte, desto mehr gelangte ich zu der Ueberzeugung, dass die Verschleppung der Kerne in der genannten Weise vielleicht ebenso häufig ist, als diejenige durch die Ex- kremente. Gerade wie nämlich die Raub- vögel die unverdaulichen Theile ihrer Beute, z. B. Federn, Haare, Knochen als Gewölle wieder von sich geben, so werfen auch viele pflanzenfressenden Vö- gel unverdauliche Theile, also vornehm- lich die Steinkerne, entweder sofort aus dem Schnabel wieder aus oder sie wür- gen dieselben in rundlichen Butzen aus dem Magen hervor. Der weibliche Homrai, Duceros ca- vatus, des zoologischen Gartens in Ber- lin z. B. warf nach den Mittheilungen LicHTERFELD’s häufig ein Gekröpfe, be- stehend aus Schalen und Kernen von Weinbeeren, mit denen er gefüttert wor- den, aus und frass davon, was ihm be- hagte, wieder auf und ebenso erzählt BarıLert von Buceros currogatus dass er kurze Zeit nach seiner Ankunft ein Gekröpfe in Form einer Feige auswarf = Auf einen dritten und vierten Weg, die wohl beide weniger ins Gewicht fallen, hat Ebeling in seiner obeneitirten Ar- beit hingewiesen. Klebrige Samen, die den Vögeln am Mundwinkel und an den Borsten- federn hängen geblieben sind, werden von denselben oft erst an entlegeneu Ruheplätzen entfernt. So die Samen der Mistel durch die Misteldrossel, und die Samen der Seerose und in der Folge mehrere dieser, extraor- dinären Fruchtballen von sich gab. Die Gewürztaube Columba oceanica verbreitet nach SEUBERT auf den mollukischen In- seln die Muskatnuss, indem sie die fleischigen Früchte verzehrt, die harten Kerne aber aus dem Kropfe wieder von sich giebt, weshalb es auch den Hol- ländern im vorigen Jahrhundert nicht gelang, dieselbe, wie sie wünschten, auf allen Inseln mit Ausnahme von Banda und Amboina auszurotten. In unseren Gegenden giebt z. B. das Rothkehlchen, welches die Früchte von Euonymus europaeus, das sogenannte Rothkehlchenbrod mit Vorliebe frisst, das Unverdauliche in Ballen durch den* Schnabel wieder von sich. Aehnlich machen es die Bachstelzen und Drosseln z. B. mit den Beeren von Daphne Me- zereum; der Mönch, Curruca atricapilla, speit nach A. E. Breum die Kerne, nachdem sich im Magen das Fleisch abgesondert hat, wieder aus, u. =. f. Beide Arten dieser Verschleppung der steinkernigen Früchte lassen sich übri- gens nicht streng trennen, erstens, weil beide Arten, das Auswerfen aus dem Schnabel und mit den Exkrementen bei demselben Vogel, oft auch mit denselben Früchten bemerkt werden. So werfen z. B. die Misteldrosseln die Kerne der Mistelbeeren "grösstentheils in Butzen wieder aus dem Schnabel aus, wenige dagegen gehen auch durch den After ab, und der Seidenschwanz wirft Scha- len und Kerne der grosskernigen Beeren durch den Schnabel aus, während die der kleinkernigen den Darmkanal pas- siren. Da nun neben dieser Schwierigkeit, durch Wasserhühner, wie Noll beobachtet hat. — Der Eichelhäher (Garrulus glanda- rius) versteckt im Herbst eine Masse von Gehölzsamen, namentlich Eicheln, Haselnüsse, Samen der Weiss- und Rothbuche u. s. w. unter dürrem Laube, Moos- und Flechten- polstern, um sie für knappere Zeiten aufzu- sparen, findet sie aber meist nicht wieder und befördert so ihre Aussaeung. 280 die genannten zwei Arten der Verbreit- ung genau zu trennen, eine zweite auch darin besteht, dass wir in den Aufzeich- nungen der Ornithologen zwar die An- gabe des Futters unserer Vögel ver- zeichnet finden, in den seltensten Fällen aber die Angabe, in welcher Weise die unverdaulichen Theile wieder abgegeben werden, so wollen wir im Folgenden die obigen Beobachtungen noch durch andere vervollständigen, ohne genauere Rücksicht darauf zu nehmen, in welcher Weise die Kerne den Leib des Vogels wieder verlassen. Hören wir zunächst was GODRON in seiner vorerwähnten Abhandlung über "die Aussaeung von Pflanzen durch Vogel- exkremente sagt: „In dieser Weise ge- schieht es, dass die Drosseln die Mistel, nach deren Früchten sie sehr lüstern sind, verbreiten. Wir sind auch der Ansicht, dass die Vögel im ganzen Baskenlande das Solamım pseudocapsicum L., wie auch die Phytolacca decandra L., welche jetzt sehr gemein in den Thä- lern der West-Pyrenäen geworden ist, ausgebreitet haben. Und ebenso kön- nen wir den Asparagus offieinalis L. anführen, welcher durch die Vögel ir den Wäldern Lothringens, wo diese Pflanze sich ziemlich häufig findet, aus- gesät wurde.«< Zur Vervollständigung dieser Thatsachen wollen wir in Bezug auf Viseum album L. noch einiges hin- zusetzen. Schon den Alten war die Ver- schleppung derselben nicht unbekannt. Angeblich fabrizirt man aus der schlei- migen Samenumhüllung derselben den besten Vogelleim* und da die Drosseln, vornehmlich aber diejenige, welche ihren Speciesnamen, Durdus viscivorus, der Mistel verdankt, sehr lüstern nach der Frucht derselben sind, so sagten die Lateiner sprüchwörtlich: Turdus_ sibi ipse cacat mortem. Findet man daher diese Schmarotzerpflanze häufig auf Bäu- #= Anmerk. d. Red. Wird bestritten. Man soll nur aus den Beeren von Loranthus euro- paeus Vogelleim kochen können. | | | Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. men, so kann man auf die Gegenwart des genannten Vogels mit Sicherheit schliessen. Die Kerne von diesen Beeren, selbst wenn sie durch den After gehen, bleiben dennoch immer von einem Theile des sie umgebenden zähen Saftes ein- gehüllt, weswegen sie auch an den Zweigen und Aesten ankleben und so die Verbreitung der Pflanze befördern, indem viele Kerne später festwachsen. Im Herbste sieht man daher auch diese Kerne in Menge an den Zweigen hängen, wobei dieselben an dem zähen, lange Fäden bildenden Safte wie eine Spinne am Faden, vom Winde hin und her- geschaukelt werden. Uebrigens sind auch andere Vögel, z. B. Turdus merula und der Seiden- schwanz, Liebhaber der Mistel. Ein ähnliche Verbreitung behauptet ZaBEL von Linnaea borealis beobachtet zu haben. Da nämlich diese Pflanze in den Kiefernwäldern am südlichen Ufer der Ostsee sehr verbreitet ist, ohne Früchteanzusetzen, und sich auch durch Ausläufer nicht vermehrt, so bleibe nur die Annahme übrig, dass sie immer von neuem durch Vögel ausge- sät wird. Der Weinstock, welcher zwischen dem caspischen und schwarzen Meere in solcher Menge verwildert vorkommt, dass man die treftlichen Trauben im Herbste nicht einmal alle erntet, ist nach Leunıs in Frankreichs und Deutschlands Wäl- dern durch von: Vögeln verschleppte Samen verwildert, wie z. B. im Rhein- thale bei Speyer und Strassburg und besonders üppig im Donauthale bei Wien. Auch sonst im südlichen Europa sät er sich reichlich aus und mehrere Hauptsorten pflanzen auch ohne Kultur des Menschen ihre Charactere durch Samen fort. In einem halbwilden Zu- stande kommt er nach Darwın in ei- nem Walde Spaniens vor und auch in den Rheingegenden haben wir eine wilde oder verwilderte Varietät, die Vitis sil- vestris der Schriftsteller, mit sauren un- 2 A Huth, Die Anpass s ze ie Verbrei , passungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. geniessbaren Früchten. Jedenfalls wird es schwer zu entscheiden sein, wie weit der Mensch, dem seit den ältesten Zei- ten der Genuss des Weines bekannt ist, den Weinstock (wahrscheinlich von den Gegenden des Ararat und Kaukasus aus, wo noch jetzt sich »im Dickicht der Waldungdie Rebe mit armdickem Stamme bis in die Wipfel der himmelhohen Bäume windet und ihre Ranken von Krone zu Krone schlingt«), absichtlich und züchtend weiter verbreitet hat oder wie weit er unbewusst durch das Aus- speien der Kerne oder mit seinen Ex- krementen für die Verschleppung des- selben gesorgt hat. Jedenfalls wurde er hierin von zahlreichen Thieren unter- stützt. Selbst viele Raubthiere, als Füchse, Marder, Dachse, ferner Hoch- wild, dann Ratten und Mäuse und eine Unzahl von Vögeln stellen den Beeren nach, und das Rebhuhn soll seiner Vor- liebe für die Reben sogar den Namen verdanken. Die Beeren des Wachholder, Jumi- perus communis, dessen regelmässiger Standort in Wäldern unter grossen Bäumen schon auf eine Verschleppung durch Vögel schliessen lässt, werden in der That von einer grossen Anzahl von Vögeln gefressen und dienen so zweifel- los zu seiner Verbreitung. Seine Haupt- verbreiter sind bei uns die Drosseln, die zwar im Sommer sich von Wür- mern, Schnecken und Insecten nähren, im Herbste dagegen fast ausschliesslich Beeren aller Art geniessen. Der Kram- metsvogel liebt die Wachholderbeeren so sehr, dass sein Fleisch den Geschmack davon annimmt (wie auch das Fleisch der Muskattaube nach ihrer Nahrung, der Muskatnüss, schmecken soll). Neben andern Drosseln, wie Turdus musicus, T. merula und T. torguatus verbreiten den Wachholderferner derSeidenschwanz, sowie verschiedene Hühnerarten, z. B. Tetrao tetrix und T. bonasia, welche die Beeren sowohl grün als auch reif ver- zehren. In Nordamerika ist es beson- Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 281 ders die Wandertaube, deren ungeheure Schaaren im Herbste vor dem Beginne ihrer Züge, wenn ihre anderweitige Nah- rung knapp geworden ist, fast gänzlich von den Wachholderbeeren lebt und so nothgedrungen diese Pflanze nach dem Süden hin verschleppen muss. Ferner gehören hieher besonders die Sträucher und Bäume mit Beerenfrüchten, welche nicht selten auf unzugänglichen Berg- abhängen, Burgruinen, auf Thürmen u. s. w. gefunden werden, weil bei ihnen der Gedanke an eine Verschleppung der Samen durch den Wind ausgeschlossen ist. So birgt das Colosseum in Rom an und auf seinen tausendjährigen Mauern eine reiche Flora, deren Katalog uns DEAKIN verzeichnet hat. Ebenso fand Caspary auf der reich mit Vegetation bedeckten Abplattung des damals noch nicht vollendeten südwestlichen Thurmes des Kölner Domes in einer Höhe von 177 Fuss üppig wuchernde Büsche von Rosen und Liguster, von denen er zwar vermuthet, dass sie durch Menschen- hand dorthin verpflanzt sind, die aber auch ebensogut durch Vögel dorthin gebracht sein können. Jedenfalls finden “ir anderwärts an so lebensgefährlichen Stellen von Ruinen und so unzugäng- lichen Partien von Felsen, Büsche, z. B. von KRibes grossularia und R. rubrum und von Pirus aucuparia, dass wir ein Aussäen von Menschenhand an solchen Stellen platterdings nicht annehmen können. Jedermann kennt zudem die Vorliebe der Vögel für die Früchte des letztgenannten Baumes, die ihnen nur zu oft auf den Dohnenstrichen zum Ver- derben werden und die ihren Namen »Vogelbeeren» mit Recht verdienen, denn ausser von den gewöhnlichen Beerenfressern werden sie selbst von solchen Vögeln aufgesucht, deren Nah- rung im allgemeinen eine ganz andre ist, z. B. vom Grauspecht, Tannenhäher, von den Krähenartigen und vom Auer- hahn. Auch die Hollunderarten Sambueus 20 82 nigra und $. racemosa haben zahlreiche Verbreiter unter der Vogelwelt, so alle Lusciola-Arten, wie die Nachtigall, das Rothkehlchen, das Blaukehlchen, der Sposser; ferner die ihnen verwandten Ruticilla Tithys, Motacilla Orphea und M. atricapilla, Ficedula hypolais und F. tro- chilus, alle lieben, ebenso wie mehrere Drosseln, der Pirol und der Wende- hals die saftigen Hollunderbeeren. Auch die Früchte der beiden ganz verschiedenen Pflanzen, welche wir als »Faulbaum« bezeichnen, nämlich Prunus Padus, dessen herbe Früchte uns nicht munden, von Vögeln aber gern gegessen werden, und Frangula Alnus MiıLLER (Rhamnus Frangula L.), dessen erst grüne, dann rothe, endlich schwarze Früchte schon Ende September, also früher als die meisten anderen Beeren reifen und darum von vielen Vögeln, besonders Drosseln und Sylvien geschätzt sind, werden, wie noch viele andere un- serer beerentragenden Staudenund Kräu- ter, wie die des Kreuzdorn vom Seiden- schwanz, die Heidelbeeren und Früchte von Ilex Aquifolium von Tauben, Dros- seln und Rebhühnern, die Erdbeeren vom Pirol, Viburnum Opulus, die Rubus- Arten, und zwar sowohl die Himbeeren, z. B. von Motacilla atricapilla und vom Pirol, wie auch die Brombeeren, z. B. von den Rebhühnern und den Krähen- artigen, Cornus sanguinea von der Sing- drossel, der Epheu und Taxus baccata von verschiedenen Arten von Motacilla alljährlich in grosser Menge gefressen und entweder durch das Ausspeien der Kerne oder mit den Exkrementen in unsern Wäldern verbreitet. Und wie diese und noch viele an- dere Stauden, Sträucher und Bäume bei uns durch Vögel ausgesät werden, so geschieht dies in wärmeren Klimaten vielfach mit andern, doch liegen über dieselben bisher noch wenig Beobach- tungen vor. Als eines der wichtigsten Beispiele wollen wir hier die Freus-Arten anführen. Ficus carica wächst im ver- Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. wilderten Zustande in Südeuropa ma- lerisch aus den Spalten alter Mauern, in den Ruinen und an Felswänden und deutet hierdurch schon seine Verbreitung durch Vögel an. Und in der That dient er zahlreichen Vögeln zur Nahrung; so mästet sich der Fliegenschnäpper, Mus- cipeta luctuosa, im südlichen Frankreich förmlich durch den Genuss der Feigen und Weinbeeren. Von der in ganz Mittel-Afrika lebenden Papagei-Taube, Treron Waalia, berichtet BREHM in sei- nem Thierleben: >In dem Magen der erlegten fand ich Beeren der verschie- densten Art, und Eingeborene im Lande sagten mir, dass man den Tauben nur da begegne, wo es beerentragende Bäume und Sträucher giebt. Wie HErusLın richtig angiebt, sind es hauptsächlich die herrlich belaubten, fruchtreifen wil- den Feigenbäume, auf denen sie ihre Nahrung sucht. Auf solchen Bäumen siedelt sie sich so zu sagen dauernd an und verräth ihre Anwesenheit durch die am Boden liegenden oder bestän- dig herabfallenden Fruchthülsen auch dann, wenn das dichte Laub sie dem Auge verbirgt. »Zur Zeit der Feigenreife ist oft das ganze Gesicht mit dem gelben Safte dieser Früchte bekleistert, und ebenso nimmt das Fett eine gelbe Färbung an. Mit dieser Nahrung steht im Einklange, dass unsere Taube nicht auf die Erde herabkommt ; ich meinestheils habe sie wenigstens nur in den Baumwipfeln ge- sehen.« Auch die Gewürztaube, Columba aromatica, lebt auf Java am Rande der Wälder von den Früchten verschiedener Feigenarten, besonders von denen von Fieus religiosa. Und ebenso bieten die schönen Feigenwaldungen der Philippinen und Mollukken die Hauptnahrung für verschiedene Nashornvögel, besonders für Buceros cavatus und B. hydrocorax. Trotzdem nun in den hier aufge- zählten Fällen die Aussaeung der betref- fenden Pflanzen durch Thiere theils im höchsten Grade wahrscheinlich ist, % Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. theils auch direct beobachtet wurde, hat man dieselbe doch aus gewissen Gründen anzuzweifeln gesucht, die aber, wie wir sofort zeigen werden, nicht stichhaltig sind. Es ist nämlich bezweifelt worden, ob die Kerne den Darmkanal der Thiere noch in einem Zustande ver- lassen können, der ein Keimen ermög- licht. Dass dies wirklich der Fall ist, zeigen uns verschiedene Beobachtungen, deren Richtigkeit durch Experimente täglich festgestellt werden könnte. Die Reaction, welche der Magen und der Darm der Vierfüssler auf derartige Steine ausübt, ist im allgemeinen eine beträchtlich stärkere, als diejenige bei Vögeln und dennoch gehen verschiedene Hartgebilde der Früchte auch bei den Säugethieren fast unverändert mit den Exkrementen ab. Nach ALEXANDER Braun waren die Samen von Frayaria vesca, welche in der Magengegend eines in England ausgegrabenen, jedenfalls sehr alten Skelettes gefunden wurden, noch keimungsfähig. Die Früchte von Cereus giganteus werden nach Leunıs von den Indianern gegessen, dann aber die Samenkerne, aus den Exkrementen wieder aufgesammelt und, da sie in ihrer Kraft noch ungeschwächt sind, zerrieben und zu Brod verarbeitet. Aehnlich werden nach demselben Gewährsmann die Bohnen des Kaffeestrauches auf Java von den Eingeborenen aus den Exkrementen des Palmrollers, Paradoxus typus, welcher die reifen Früchte der Plantagen gerne frisst und die Bohnen unverdaut wieder von sich giebt, ein- gesammelt. Diehühnerartigen Vögel kön- nen zwar auch die Steinkerne theilweise verdauen; wenn sie dieselben jedoch in grösserer Menge fressen, geschieht dies nur sehr unvollkommen. Daher giebt man in England nach Aupnons DE CANDOLLE um in kurzer Zeit He- cken von Crataegus oxyacantha zu bekommen, Truthühnern eine grosse Menge von Beeren dieses Strauches 283 zu fressen und sät dann die Kerne aus, die zwar ein wenig von der Verdauung angegriffen, aber gerade dadurch desto geeigneter zum Keimen sind. Derselbe Gewährsmann versichert ausdrücklich, dass die omnivoren Vögel Beeren, welche kleine harte Kerne enthalten, wie Trauben, Feigen, Erdbeeren, Himbeeren, Spargel, Misteln, Liguster u. s. w. verzehren, die Kerne aber nicht verdauen. Während nun diese Beobachtungen durchaus danach angethan sind, jedes Bedenken darüber zu heben, dass die Steinkerne unbeschadet ihre Keimfähig- keit den Darmkanal der Thiere passiren können, sprechen andere Beobachtungen durchaus für die Richtigkeit der über die Aussaeung der Pflanzen oben gemachten Mittheilungen; diese Gründe liegen be- sonders in der Art und Weise des Vor- kommens der Beerenfrüchter. Wie näm- lich erstens die mit Haftorganen ver- sehenen Früchte, welche sich vornehm- lich der Verschleppung durch Vierfüss- ler angepasst haben, nur an niederen Pflanzen, besonders an Kräutern finden, so kommen die Beerenfrüchte, ent- sprechend der Verschleppung durch Vögel fast nur an Bäumen und Sträu- chern vor. Zweitens finden wir die Beerenfrüchter häufig, wie wir schon an einzelnen Beispielen sehen, entweder als Schmarotzer auf hohen Bäumen, wie Viscum album, oder auf Mauern, Thürmen, an Felswänden, kurz an Punkten, wohin sie kaum anders als durch Vögel gekommen sein können, oder aber zwischen und unter grösseren Bäumen, was nach Fock# der Ge- wohnheit der beerenfressenden Vögel entspricht, ihre Exkremente auf Bäumen sitzend fallen zu lassen. Drittens finden sich nach demselben Gewährsmann auf den Azoren und auf Madeira — und dies dürfte überhaupt bei kleineren In- seln der Fall sein — fast ausschliess- lich beerentragende Bäume, denn diese können der Wanderfähigkeit der Vögel und ihrem gelegentlichen Verschlagen- 20* 284 werden durch Stürme entsprechend, leichter nach Inseln hin verschleppt werden, als andere Pflanzen. Es scheint nach dem Mitgetheilten die Thatsache, dass zahlreiche Pflanzen vermittelst ihrer Steinkerne durch Thiere verschleppt und ausgesät werden, nicht bezweifelt werden zu können. Es bleibt uns daher nur noch übrig zu unter- suchen, ob die Art, in welcher das Ver- schleppen geschieht, eine solche ist, dass wir sie als Ursache der Entsteh- ung der Steinkerne bei denjenigen Pflanzen betrachten können, bei wel- chen wir sie häufiger beobachteten. Ehe wir auf die Erwägung der Gründe für und wider diese Ansicht eingehen, wollen wir hören, wie ein competenter Beurtheiler,, NÄGELI*, sich die Entstehung der Beeren und Stein- früchte denkt. Er sagt: »Es scheint mir offenbar zu sein, dass die Stein- früchte und Beeren sich allmählig aus Trockenfrüchten entwickelten, wofür namentlich auch der Umstand spricht, dass sie in so vielen Ordnungen nur bei einzelnen Gattungen vorkommen und dass es immer noch verwandte Pflanzen mit trockenen Früchten giebt. Unter den verschiedenen Abänderungen befanden sich solche, bei denen die Frucht- und Samenwandung, die im jungen Zustande immer aus einem wei- chen Gewebe besteht, ganz oder theil- weise weich blieb. Von diesen Varie- täten hatten diejenigen, welche in der weichen Umhüllung die Samen preis- geben, keinen Bestand. Diejenigen aber, bei denen entweder die Samen- schale oder die innere Fruchtwandung (Stein) hart blieb und dem Samen hin- reichenden Schutz gewährte, erwiesen sich als nützlich und bei weiterer Aus- bildung dieser Anlage um so nützlicher, je mehr das zunehmende Fruchtfleisch die Thiere anlockte und je besser die * Entstehung und Begriff der naturhisto- rischen Art. München 1865. Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. Samen von dem sie umgebenden Panzer und gegen den Zahn und den Magen- saft verwahrt waren.» Drei Gründe sind es, welche mir besonders dafür zu sprechen scheinen, dass wir uns die Entstehung der Beeren und Steinfrüchte aus Trockenfrüchten in der hier von NäÄgzuı geschilderten Weise, also als Anpassung an die Ver- schleppung durch Thiere vorzustellen berechtigt sind: erstens, weil den be- treffenden Pflanzen die Verbreitung durch Thiere zu ihrem Gedeihen im höchsten Grade erwünscht sein muss, zweitens, weil die Verschleppung nicht etwa eine gelegentliche, sondern eine ganz regelmässige, sich in millionen Fällen immer von neuem wiederholende ist und weil drittens die Erscheinung der Stein- und Beerenfrüchte als An- passung aufgefasst, die grösste Analogie mit der Entstehung der Blüthen, als Anpassung an die Befruchtung durch Insecten gedacht, darbietet. Was den ersten Punkt anbetrifft, so ziehen die Steinkerne aus der Ver- schleppung durch Thiere den nämlichen Vortheil, der anderen Früchten mittelst ihrer besondern Gestaltung durch den Wind zu Theil wird. Wie z. B. die Compositen durch die Haarkrone ihrer Früchte so leicht verbreitet werden — wo der Pappus fehlt, wie bei Bidens, besorgen die wollhaarigen Thiere dies Geschäft —, während ohne diese Vor- richtung die enggedrängte Menge der Samen beim Niederfallen eine Saat er- zeugen müsste, deren Individuen sich grösstentheils gegenseitig ersticken wür- den, so würden auch die Stein- und Beerenfrüchter sich ohne die Verbreit- ung durch die Vögel in einer für ihre Existenz höchst ungünstigen Lage be- finden. Denken wir uns beispielsweise einen Ebereschenbaum, dessen Früchte sämmtlich zur Erde niederfallen und, da sie durch den Wind wenig oder gar nicht verbreitet werden, an Ort und Stellen zu keimen beginnen. Schon Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. die Aussaat eines Jahres würde genügen, um so viele junge Pflanzen entstehen zu lassen, dass eine die andere ersticken müsste. Statt dessen wird dieselbe Aus- saat durch Vögel nicht nur über eine ungeheure Fläche verbreitet, denn wenn auch die Verdauung derselben eine ra- pide ist, so beträgt andererseits die Schnelligkeit der besten Flieger über 20 Meter in der Sekunde, sondern auch, was bei der allgemeinen Concurrenz der Pflanzen um Boden, Licht und Luft besonders wichtig ist, an Orte, wo wenig andere Samen hingerathen, um mit ihnen den Kampf ums Dasein aufzu- nehmen. Soll nun ein solcher Vortheil wie der eben genannte die Herausbildung einer Anpassung zur Folge haben, so muss natürlich die Gelegenheit zu seiner Anwendung regelmässig und massenhaft auftreten. Da nun für unsern Fall die Gelegenheit zu Verbreitung der Stein- kerne in einer kaum glaublichen Massen- haftigkeit auftritt, so führten wir dies als zweiten Grund dafür auf, hier die Entstehung einer Anpassung für wahr- scheinlich zu halten. Für ganze Klassen und Familien von Vögeln bilden die genannten Früchte, wenigstens vom Herbste an, die aus- schliessliche Nahrung und auch die meisten insectenfressenden Vögel sind in der genannten Jahreszeit wenigstens zum Theil auf sie angewiesen. Dazu bedenke man, welche zahllosen Schaaren von Sängern Wald und Feld beleben, und in wie dichten Zügen sie gerade in einer Zeit in ferne Länder sich be- geben, wo Beeren ihre Hauptnahrung ausmachen. Die bekannte Wandertaube, welche sich bis zum Dezember hin, wo sie ihre nach Süden gerichteten Züge antritt, an der Hudsonsbai hauptsäch- lich von Wachholderbeeren nährt, muss davon ‚unendliche Massen verschlep- pen, denn nach Aupuzon’s Berechnung brauchte ein einziger der grossen Schwär- me dieser Thiere täglich fünfhundertfünf- 285 undsiebzig und eine halbe Million Pfund Futter. Diese ungeheuren Mengen des ver- brauchten Futters resultiren einerseits aus der grossen Anzahl der Individuen, andererseits auch aus der fast bis zur Unersättlichkeit gesteigerten Fressgier vieler Vögel. Viele von ihnen fressen den ganzen Tag, der Seidenschwanz an einem einzigen Tag so viel, als sein Körpergewicht beträgt, viele Sänger giebt es sogar nach Brenm, deren Nah- rung an Gewicht ihre eigene Körper- schwere zwei- bis dreimal übersteigen kann. Erst wenn man dies zusammenbe- trachtet, kann man sich eine annäh- ernde Vorstellung von der ungeheuren Menge der von Vögeln verschleppten Stein- und Beerenfrüchte machen. Der Grund jedoch, welcher uns wohl am meisten berechtigt, die Stein- und Beerenfrüchte Anpassungen an das Thier- reich zu nennen, liegt in der Analogie, die in der Anlockung der Insecten durch die Blumen einerseits und der Vögel durch die Früchte andererseits besteht. Wie nämlich die bunten Farben und häufig der Duft der Blüthe als Mittel zur Anlockung zu erklären sind, welche den Insecten die Orte verrathen sollen, wo sie auf Nahrung rechnen können, so laden auch die oft weithin leuch- tenden Farben, oft auch ein bestimmter Geruch der Stein- und Beerenfrüchte die Thiere zum Genusse ein. Bei beiden wird also der Zweck der Anpassung, dort die Befruchtung und Kreuzung der Blüthen, hier die Aussaeung der Kerne durch gleiche oder entsprechende Vor- richtungen erreicht. Es gilt deshalb im Pflanzenreiche ganz allgemein die Regel: Trockene Früchte sindnicht bunt gefärbt; Früchte, deren Samen dem Darmkanale der Vögel nicht widerstehen, haben weder Frucht- fleisch, noch bunte Farben. Fleischige und saftige Früchte mit Steinkernen dagegen zeichnen sich in der Reife meist durch solche Farben aus, die sie, ent- 286 sprechend des Jahreszeit, von dem sie umgebenden Laubwerk bemerkenswerth abheben und oft weithin kenntlich ma- chen, während die unreifen Früchte nur unscheinbare Farben tragen. Dieselben Früchte sind für die Ausbreitung durch Vögel desto geeigneter, je hervortreten- der und greller ihre Farben sind. Diesen Beobachtungen entsprechen vollkommen die Experimente, welche LusBock über den Farbensinn zunächst der Insecten angestellt hat und welche darauf hin- deuten, dass derselbe bei Thieren ein wohl ausgebildeter ist. Dasselbe be- weisen einige Bemerkungen DAarwın’s,* die durch weitere Beobachtungen gewiss leicht vervollständigt werden könnten. »Die weisse tatarische Kirsche,« sagt er, >wird nicht so leicht von Vögeln angegriffen, als andere Sorten, entwe- der weil ihre Färbung der der Blätter so sehr ähnlich ist, oder weil die Frucht aus der Entfernung stets wie unreif aussieht. Die gelbe Himbeere, welche meist durch Samen echt fortkommt, wird von Vögeln sehr wenig belästigt, die sie offenbar nicht lieben (oder sie nicht so leicht bemerken), so dass man die Schutznetze selbst an Orten ent- behren kann, wo nichts anderes die rothfrüchtige Sorte schützt. Diese Im- munität ist zwar eine Wohlthat für den Gärtner, würde aber im Naturzustande sowohl für die Kirschen, als auch für die Himbeeren von Nachtheil sein, da ihre Aussaat von Vögeln abhängt. Wäh- rend mehrerer Winter bemerkte ich, dass einige Bäume der gelbbeerigen Stechpalme mit Früchten bedeckt blie- ben, während auf den in der Nähe ste- henden Bäumen der gewöhnlichen Art nicht eine scharlachne Beere mehr zu sehen war.« AUER- Variiren der Thiere und Pflanzen etc. Deutsch von J. V. Carus. 2. Aufl. I. Bd. Ss. 263. ** Man vergl. die Bemerkungen von Gustav Jäger über Anlockungs- und Ekelfarben bei Früchten (Kosmos Bd. I S. 486 fi). In neuerer Zeit ist die gegen- Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. Mit diesen Beobachtungen stimmt es vorzüglich überein, dass die rothe Farbe bei Früchten mit Steinkernen und saftigem Fleische die vorherrschende ist **, dass dagegen die grüne, als die für die Verschleppung ungünstigste, in der Reife der Früchte sich so ungemein selten zeigt und da, wo sie wirklich vorkommt, entweder, wie bei Nüssen und Kastanien die zur Verbreitung durch Thiere ungeeignete Frucht verstossen hilft, oder wie bei Wein- und Stachel- beeren, als ein Product überlegter Aus- wahl durch den Menschen betrachtet werden kann; denn das Wegfressen der Beeren, welches den wildwachsenden Pflanzen zur Erhaltung und Verbreitung ihrer Art von grösstem Vortheil ist, wird gerade für den cultivirenden Men- schen die Hauptunannehmlichkeit. — Wenn nun das bisher Gesagte durch- aus für unsere Ansicht spricht, dass auch die Beeren- und Steinfrüchte grossentheils als eine Anpassung an die Thierwelt zu betrachten sind, so wollen wir doch nicht: versäumen, an dieser Stelle einiges anzuführen, was scheinbar gegen unsere Hypothese spricht, weil wir, wie ich glaube, wohl im Stande sind, solche etwa auftauchende Beden- ken zu beschwichtigen. So liesse sich z. B. einwenden, dass Ja viele mit den genannten Anlockungs- vorrichtungen versehene Beeren giftig sind, also eine der Anpassung direct widerstrebende Eigenschaft besitzen. Hiergegen muss man nun erwägen, dass viele für Menschen und gewisse Thiere schädliche Früchte von anderen, beson- ders von Vögeln ohne den geringsten Nachtheil verzehrt werden. Wie z. B. Wolfsmilch und Schöll- kraut nach BrEHnm von den Ziegen ohne seitige Steigerung der Fruchtfarben und des Farbensinns bei den Thieren sehr eingehend von Grant Allen (Der Farbensinn, Leipzig 1880) und Alfred Russel Wallace (Die Tropenwelt, Braunschweig 1879) behandelt worden, worauf hier verwiesen werden muss. Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an. die Verbreitung durch Thiere. Schaden gefressen werden, während sie beim Menschen schädlich wirken, so können die Früchte von Evonymus eu- ropaeus, welche eine Lieblingsspeise der Rothkehlchen sind, auf Ziegen höchst nachtheilig, ja tödtlich wirken. Ebenso steht fest, dass die Beeren von Daphne Mezereum, welche eine der giftigsten Pflanzen unserer Flora ist, von einer Reihe von Vögeln, wie Muscipeta albi- collis, Motacilla atricapilla, M. orphea, Sylvia rubecola u. A. ohne den gering- sten Nachtheil gefressen werden, und dass die selbst für Hühner und Enten giftigen Beeren von Solanum nigrum dennoch, z. B. von Accentor modularis anstandslos gefressen werden. Ein an- derer Einwand könnte in dem, was ich »Umgehung der Anpassung« nennen möchte, gefunden werden. In der That kommt es nämlich häufig vor, dass das Fruchtfleisch der Steinfrüchter so zu sagen seine Aufgabe, das Verschlucken der Kerne beim Verzehren mit herbei- zuführen, gänzlich verfehlt. Dergleichen Umgehungen der An- passung kommen aber auch bei jeder andern Art von Anpassungen zahlreich vor und können als Ausnahme von der Regel die Regel selbst noch nicht um- stossen. Wenn z.B. der Pirol und Syl- via hortensis mit grosser Geschicklich- keit die Kirschen ihres ganzen Fleisches entkleiden und die Steinkerne am Stiele sitzen lassen, oder wenn Üoccothraustes die harten Schalen der Kirschkerne auf- beisst und nur den weichen Kern ver- zehrt, so ist dies kein anderer Vorgang als der, wenn der Honig mancher Blü- then so zu sagen auf dem illegalen Wege des Anbohrens der Blüthe von Insecten gewonnen, und so die Anpass- ung, welche die Verbreitung des Pollens begünstigen soll, vereitelt wird, oder 287 wenn solche Schutzmittel der Pflanzen, wie die schärfsten Dornen dadurch in ihren Wirkungen nutzlos werden, dass ihrer die eisenfesten Gaumen des Ka- meels, der Giraffe und des Rhinozeros spotten. Fassen wir nun das bisher Gesagte kurz zusammen, so ist es für die Pflan- zen, deren Samen nicht durch den Wind oder das Wasser verbreitet werden, ein grosser Vortheil, wenn eine Verschlepp- ung durch Thiere bewerkstelligt wird. Diese kann aber in der Regel nur statt- finden, wenn die Samen oder deren Hüllen entweder mit Kletterorganen aus- gerüstet sind, und dann erfolgt die Aus- breitung bei den meist niederen Pflanzen besonders durch wollhaarige Vierfüssler, oder wenn sie eine so derbe Umhüllung besitzen, dass sie von den sie verzeh- renden Thieren entweder wieder aus- gespieen oder doch unverdaut mit den Exkrementen wieder abgegeben werden. Diesen Vortheil gewährt den Pflanzen besonders die Vogelwelt. Für klettende Samen, die sich den Thieren auch gegen deren Willen anheften, sind Anlockungs- vorrichtungen unnütz und werden daher auch bei ihnen nie vorgefunden, bei den Früchten mit Steinkernen sind eine fleischige oder saftige Umhüllung des Samens, sowie grelle Farben als An- lockungsmittel im höchsten Grade gün- stig und werden bei ihnen daher auch fast durchgängig beobachtet. Wir sind berechtigt anzunehmen, dass beide Vorrichtungen, die Klett- organe wie die steinharten Kerne der durch Vögel verbreiteten Früchte im Kampfe um die Existenzbedingungen sich herausgebildet haben und nennen sie desshalb mit Recht >»Anpassungen der Pflanzen an die Ausbreitung durch die Thierwelt«., 288 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Erklärung der Tafel I. Il. Tafel I. Fig. 1 Frucht von Scorpiurus suleatus. „ 2 Triumfetta Plumieri. (Etwas vergrös- serter Querschnitt.) 3 Theil der Hülse von Medicago his- pida. 4 Hülse von Medicago radiata. 5 Querschnitt der Frucht von Lappula Miyosotıs. „ 6 Hülse von Glyeyrrhiza echinata. „ 1 Frucht von Micropus supinus. „ 8 Ancistrum decumbens. „ 9 Ancistrum latebrosum. etwas vergrössert.) (Querschnitt, Fig. 10 Bartramia al ‘go (Querschnitt). „ 11 Harpagophyton procumbens. Tafel LI. . 12 Scheiben- und Randfrucht von Ca- lendula arvensis. „ 13 Trapa natans (Längsschnitt). „ 14 Krameria triandra (Längsschnitt). »„ 15 Sanicula marylandica (Querschnitt). „ 16 Seirpus lacustris, die Blüthe mit den “ zu Klettorganen umgewandelten Pe- rigonblättern. „ 17 Nebenrippe von Caucalis daucoides. »„ 18 Frucht von Martynia proboscidea. Staatliche Einrichtungen. Von Herbert Spencer. VI. Zusammengesetzte hegierungen. Im vorhergehenden Capitel über Häuptlinge und Könige verfolgten wir die Entwicklung des ersten Elementes in jenem dreieinigen Staatsgebilde, das sich im Anfange überall zeigt. Wir wollen nun zur Entwicklung des zwei- ten Elementes übergehen — der Gruppe von leitenden Männern, unter denen der Häuptling ursprünglich blos der hervor- ragendste ist. Unter was für Beding- ungen diese Gruppe sich so empor- schwingt, dass sie sich die beiden an- deren Factoren unterordnet, was für Ursachen sie einschränken und was für Ursachen sie erweitern, bis sie im drit- ten Element aufgeht, haben wir hier zu untersuchen. Wenn das angeborene Gefühl und die Neigungen einer Race bedeutenden Antheil an der Bestimmung der Grösse und des Zusammenhanges der von ihr gebildeten socialen Gruppen haben, so muss ihre Bedeutung noch viel grösser sein, wo es sich um die Beziehungen handelt, welche zwischen den einzelnen Gliedern solcher Gruppen entstehen. Während die gebräuchliche Lebensweise dahin strebt, diesen oder jenen staat- lichen Bau hervorzurufen, werden ihre Wirkungen doch stets von den Wirkun- gen des‘ ererbten Charakters durch- kreuzt. Ob der ursprüngliche Zustand, in welchem die Regierungsgewalt gleich- mässig auf alle Krieger oder alle Aelte- sten vertheilt ist, in den Zustand über- geht, wo die Regierungsgewalt von einem Einzigen in Anspruch genommen wird, hängt zwar theilweise von der Lebens- weise der Gruppe ab, je nachdem sie beutegierig oder friedliebend ist, theil- weise aber auch von der Natur ihrer Mitglieder, welche sie vielleicht antreibt, einer strengen Herrschaft mehr oder weniger hartnäckigen Widerstand ent- gegenzusetzen. Wenige Beispiele werden dies erläutern. Die Arafuras (Papua-Insulaner), wel- che »in Frieden und brüderlicher Liebe Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. leben«, kennen keine andere »Autori- tät über sich als die Entscheidung ihrer Aeltesten«. Unter den harmlosen Todas »werden alle Streitigkeiten und Zwiste über Gut und Böse entweder durch Uebereinkunft oder durch ein Punchayet — d. h. durch einen Rath von Fünfen beigelegt«. Von den Bodo und Dhimäls, deren Abneigung gegen den Kriegs- dienst so oft geschildert wird und die »vollständig frei sind von Arroganz, Rachsucht, Grausamkeit und Stolz«, lesen wir auch, dass, obgleich jede ihrer kleinen Gemeinschaften ein nominelles Oberhaupt hat, welches in Vertretung derselben den Tribut bezahlt, dieses doch keinerlei Macht besitzt und »Strei- tigkeiten zwischen ihnen durch Schieds- gerichte von Aeltesten beigelegt werden«. In diesen Fällen ist, abgesehen vom Mangel aller der Ursachen, welche haupt- sächlich zu einer Oberherrschaft führen, namentlich auch das Vorhandensein von Ursachen zu beachten, welche dies direct hindern. Die Papuas im allgemeinen, als deren Typus die oben erwähnten Arafuras gelten können, werden von MoperA, Ross und Kourr als »gut- müthig,« als »von sanfter Anlage«, freundlich und friedfertig gegen Fremde geschildert, und EArL sagt, sie seien ungeeignet für kriegerische Aufgaben: »ihr Widerwille gegen jeden Zwang schliesst von vornherein jede Organi- sation aus, welche erst die Papuas in den Stand setzen würde, ihre Ländereien gegen Uebergriffe zu behaupten.« Die Bodo und Dhimäls >halten sich fern von aller Gewaltthätigkeit gegen ihr eigenes Volk oder gegen ihre Nachbarn«, wider- setzen sich aber auch »mit hartnäcki- gem Widerstreben jedem ungerecht auf- erlegten Befehle«. Und von einem ähn- lichen »sehr anziehenden Volke«, den Lepchas, liebenswürdigen, friedfertigen und sanften Leuten, wie alle Reisenden sie beschreiben, die niemals als Söld- linge Dienste nehmen, erfahren wir zu- gleich, dass sie »lieber grosse Entbehr- ntereh.are 289 ungen erdulden, als sich der Unter- drückung und Ungerechtigkeit zu unter- werfen«. Wo die angeborene Neigung zum Widerstande gegen den Zwang sehr lebhaft ist, da finden wir diese un- centralisirte staatliche Organisation fest- gehalten, selbst ungeachtet der kriege- rischen Thätigkeit, welche stets geneigt ist, eine dauernde Häuptlingschaft in’s Leben zu rufen. Die Nagas »anerkennen keinen König unter sich und verlachen den Gedanken an eine solche Würde bei anderen;« ihre »Dörfer liegen be- ständig in Streit mit einander«, denn »jeder Einzelne ist sein eigener Herr und seine Leidenschaften und Neigun- gen werden nur durch sein Vermögen roher Kraft geregelt». Und hier finden wir denn zugleich, dass — „Kleinere Zwiste und Misshelligkeiten über Eigenthumsfragen durch einen Rath von Aeltesten beigelegt werden, dessen Entscheid- ung sich die streitenden Parteien freiwillig unterwerfen. Allein genau genommen findet sich nicht einmal der Schatten einer fest- stehenden Autorität in der Naga-Gemeinde, und so wunderbar dies auch scheinen mag — dieser Mangel an Herrschaft führt keines- wegs in irgendwie auffallendem Grade zu Anarchie oder Verwirrung.“ Aehnliches findet sich bei manchen Völkern von ganz anderem Typus, wie z. B. vielen kriegerischen Stämmen von Nordamerika. ScHooLcrkAFT bemerkt von den Indianern im allgemeinen, dass »sie alle zu herrschen und nicht be- herrscht zu sein wünschen. Jeder In- dianer glaubt, er habe ein Recht, zu thun, was ihm gefällt, und keiner sei besser als er selbst; er wird daher lieber kämpfen, als das aufgeben, was er für Recht hält«. Von den Comanches bemerkt er beispielsweise, dass ihnen »das demokratische Princip fest ein- gepflanzt ist« und dass für Regierungs- zwecke >»in regelmässigen Zwischen- räumen während des Jahres öffentliche Versammlungen abgehalten werden«, Ferner lesen wir, dass in gewissen Ge- bieten des alten Centralamerika etwas 290 weiter vorgeschrittene Gesellschaften existirten, welche, obgleich kriegerischer Natur, doch durch eine ähnliche Eifer- sucht angetrieben waren, sich gegen das Aufkommen der Einzelherrschaft zu verwahren. Die Regierung lag in den Händen eines wählbaren Rathes alter Männer, welche von sich aus einen Kriegshäuptling ernannten, und dieser letztere wurde, »sobald er in den Verdacht kam, irgend etwas gegen die Sicherheit des Gemeinwesens im Schilde zu führen oder die oberste Gewalt in seinen eigenen Händen festhalten zu wollen, unerbittlich durch den Rath zum Tode verurtheilt«. Obgleich die Eigenthümlichkeiten des Charakters, welche auf solche Weise gewisse Menschenracen in frühesten Stadien veranlassen, eine zusammen- gesetzte Staatsleitung einzusetzen und selbst unter dem Drucke des Krieges dem Auftreten einer Einzelherrschaft im Staate Widerstand zu leisten, den Men- schen durchaus angeboren erscheinen, so fehlt es uns doch nicht an Erklär- ungen für die Verhältnisse, welche schuld sind, dass sie dergestalt angeboren sind; und im Hinblick auf weitere Fragen, die sich kurz nachher erheben werden, dürfte es passend sein, hier einen Blick auf jene zu werfen. Die Comanches und verwandte Stämme, welche in klei- neren Horden herumstreifen und thätige und geschickte Reiter sind, haben wäh- rend längerer Perioden der Vergangen- heit unter Umständen gelebt, welche die Unterwerfung eines Menschen unter einen anderen sehr schwierig machten. Ganz ebenso war es auch, obgleich in anderer Weise, beiden Nagas der Fall. »Sie bewohnen einen rauhen und ver- wickelten Bergzug« und ihre Dörfer sind »auf den Kämmen der Bergrücken« angeklebt. Ein anderes sehr bedeut- sames Zeugniss liefert uns eine gelegent- liche Bemerkung von Capitän Burton, des Inhalts, dass in Afrika sowohl wie in Asien drei verschiedene Regierungs- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. formen bestünden: kriegerischer De- spotismus, feudale Monarchie und rohe Republik, und zwar würde die letztere »durch die Beduinenstämme, die Berg- völker und die Dschungelvölker reprä- sentirt«. Offenbar zeigen uns schon die Namen dieser letzteren Völker, dass sie sämmtlich Gegenden bewohnen, welche durch ihren physikalischen Charakter eine centralisirte Regierungsform ver- hindern und somit eine losere Regie- rungsform und die weniger ausgeprägte . staatliche Unterordnung, welche damit verbunden ist, lebhaft begünstigen. Diese Thatsachen stehen in unver- kennbarem Zusammenhang mit gewissen anderen Erscheinungen, die wir daran’ schliessen können. Wir sahen in frü- heren Abschnitten, dass es relativ leicht ist, eine grosse Gesellschaft zu bilden, wenn alle Theile des betreffenden Lan- des leicht zugänglich sind, während es zugleich Grenzen besitzt, die nur schwie- rig zu überschreiten wären; und dass umgekehrt die Bildung einer grossen Gesellschaft verhindert oder wenigstens bedeutend verzögert wird durch Schwie- rigkeiten der Communication innerhalb des besetzten Gebietes und durch die Leichtigkeit, aus demselben zu entkom- men. Allein wie wir hier sehen, wird nicht blos die staatliche Integration in ihrer einfachsten Form, nämlich die Zunahme der Masse, sondern auch die Entwicklung einer höher integrirten Regierungsform, durch die letzterwähn- ten physikalischen Bedingungen gehin- dert. Was sich der socialen Festigung in den Weg stellt, ist zugleich ein Hemm- niss für die Concentrirung der Staats- gewalt. Was uns hier jedoch vorzugsweise interessirt, ist die Thatsache, dass die andauernde Einwirkung der einen oder der andern Gruppe von Bedingungen einen Charakter erzeugt, welchem ent- weder die centralisirte oder die lockere Form der staatlichen Organisation an- gemessen erscheint. Wenn Generationen Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. nach Generationen in einer Gegend ge- lebt haben, wo despotischer Zwang sich ausgebildet hat, so wird dadurch auch ein den Verhältnissen angepasster Typus der menschlichen Natur erzeugt, theils durch die tägliche Gewöhnung und theils durch Ueberleben derjenigen, welche zum Leben unter solchem Zwange am geeignetsten sind. Umgekehrt erfolgt in einem Lande, welches die Aufrecht- erhaltung der Unabhängigkeit kleiner Gruppen begünstigt, dadurch jederzeit eine Stärkung der Gefühle, welche sich der Einschränkung widersetzen; denn nicht allein werden diese Gefühle bei sämmtlichen Gliedern geübt, so oft sie von Zeit zu Zeit den Anstrengungen, sie zu unterwerfen, Widerstand leisten, sondern im Durchschnitt werden auch gerade diejenigen, welche am hart- näckigsten dagegen kämpfen, ununter- jocht bleiben und so ihren Charakter auf die Nachwelt übertragen und den Charakter des ganzen Stammes be- stimmen. Haben wir damit in kurzem Ueber- blick die Wirkungen der äusseren und inneren Factoren kennen gelernt, welche sich in einfachen Stämmen geltend ma- chen, so werden wir nun auch ver- stehen können, wie dieselben zusammen- wirken, wenn solche Stämme, sei es durch Wanderung oder auf andere Weise in Verhältnisse gelangen, welche die Entstehung grösserer Gesellschaften be- günstigen. Das Schicksal eines uncivilisirten Volkes von der beschriebenen Art, das uns in den neuesten Zeiten gezeigt hat, was eintritt, wenn eine Verschmelzung kleiner zu grösseren Gruppen erzwun- gen wird, dürfte die beste Einleitung für unsere Erklärung bilden. Die Irokesenvölker, deren jedes sich aus zahlreichen, früher feindlich gegen einander gesinnten Stämmen zusammen- setzt, hatten sich gegen die europäi- schen Eindringlinge zu vertheidigen. 291 Die Vereinigung dieser fünf (und schliess- lich sechs) Nationen zu dem erwähnten Zweck hatte naturgemäss eine Aner- kennung der gleichen Macht einer jeden nöthig gemacht, da eine Uebereinkunft zur Vereinigung nicht erlangt worden wäre, wenn die eine Gruppe gefordert hätte, dass sich die anderen ihr unter- würfen. Es hatten somit die verschie- denen Abtheilungen unter der Voraus- setzung zusammenzuwirken, dass ihre »Rechte, Privilegien und Verpflichtun- gen« dieselben sein sollten. Obgleich die Zahl der ständigen und erblichen Abgeordneten, welche die verschiedenen Völker ernannten, um den Grossen Rath zu bilden, verschieden war, so war doch die Zahl der Stimmen der verschiedenen Völker gleich. Mit Absehung von Ein- zelheiten der Organisation haben wir zunächst zu erwähnen, dass diese Ver- fassung viele Generationen hindurch, ungeachtet der Kriege, welche dieser Bund durchführte, vollständig unver- ändert blieb — es erhob sich kein ein- zelnes Individuum zu einer höheren Stellung; und zweitens war diese Gleich- heit der Macht zwischen den einzelnen Gruppen verbunden mit einer grossen Ungleichheit innerhalb jeder Gruppe, denn das gemeine Volk hatte keinen Antheil an seiner Regierung. Dadurch erhalten wir einen Schlüs- sel zum Verständniss der Entstehung jener zusammengesetzten Führerschaften, mit denen uns die alte Geschichte ver- traut macht. Wir vermögen einzusehen, wie es kam, dass in solchen Gesell- schaften gewisse Einrichtungen despo- tischer Art existiren konnten, verbunden mit anderen Einrichtungen, welche viel- mehr auf das Prineip der Gleichheit basirt zu sein scheinen und oft mit freien Institutionen verwechselt werden. Rufen wir uns zunächst die Vergangen- heit jener frühesten europäischen Völ- ker in’s Gedächtniss zurück, welche Regierungen von dieser Form bildeten. Während des wandernden Hirten- 292 lebens wurde die Unterordnung unter ein einzelnes Oberhaupt, das natur- gemäss aus der Vaterschaft hervorwuchs, begünstigt. Ein widerspenstiges Glied der einzelnen Gruppe musste sich ent- weder der Autorität unterwerfen, unter der es von Anfang an gestanden hatte, oder es musste, wenn es das Joch nicht länger tragen wollte, die Gruppe ver- lassen und all -den Gefahren sich aus- setzen, mit denen das ungeschützte Leben in der Einsamkeit bedroht ist. Die Festsetzung dieser Unterordnung wurde ferner begünstigt dnrch das häu- fige Ueberleben derjenigen Gruppen, in welchen sie am vollkommensten durch- geführt war, weil ja bei den Kämpfen zwischen den verschiedenen Stämmen diejenigen, deren Glieder geringere Un- terordnung duldeten, gewöhnlich sowohl kleiner waren, als auch weniger befähigt erschienen, thatkräftig zusammenzuwir- ken, und daher am ehesten dem Untergang heimgefallen sein werden. Neben der an- gedeuteten Thatsache aber, dass in sol- chen Familien und Stämmen die Verhält- nisse den Gehorsam gegen den Vater und Patriarch begünstigten, ist auch die oben erwähnte Thatsache nicht zu ver- gessen, dass die Verhältnisse zu gleicher Zeit das Freiheitsgefühl in den Bezie- hungen der einzelnen Stämme zu ein- ander lebhaft förderten. Die Ausübung von Gewalt durch einen Stamm über den anderen war bedeutend erschwert durch die weite Zerstreuung und die grosse Beweglichkeit derselben, und mit der erfolgreichen Auflehnung gegen äusseren Zwang oder der Flucht vor demselben, welche zahllose Generationen hindurch möglich war, musste natürlich auch die Neigung, überhaupt jeder fremden Autorität zu widerstreben und sie abzuweisen, immer stärker werden. Ob nun, wenn derartig disciplinirte Gruppen sich vereinigen, dieselben diese oder jene Form der staatlichen Organi- sation annehmen, hängt theilweise, wie bereits angedeutet wurde, von den Ver- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 7 hältnissen ab, in welche sie gelangen. Selbst wenn wir jene Verschiedenheiten zwischen Mongolen, Semiten und Ariern, wie sie in vorhistorischen Zeiten durch uns unbekannte Ursachen hervorgerufen wurden, übergehen könnten — selbst wenn durch lange Dauer des Hirten- lebens eine vollständige Gleichheit ihrer Natur erzeugt worden wäre, so könnten doch grössere Gesellschaften, welche durch Combination dieser kleineren ent- standen, einen ähnlichen Typus nur unter ähnlichen Verhältnissen bekommen. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum Mongolen und Semiten, wo sie sesshaft geworden sind und sich stark vermehrt haben, nicht länger die Autonomie ihrer einzelnen Horden nach der Vereinigung derselben aufrecht zu erhalten und da- her auch nicht die entsprechenden Ein- richtungen zu entwickeln vermochten. Selbst die Arier, bei welchen haupt- sächlich die weniger stark concentrirten Formen der staatlichen Herrschaft auf- getreten sind, bieten uns ein Beispiel dar. Indem sie ursprünglich alle die- selben geistigen Eigenthümlichkeiten ver- erbt haben, welche während ihres Lebens am Hindu-Kusch und in dessen Um- gebung erzeugt wurden, haben die ver- schiedenen Abtheilungen der Race doch ganz verschiedene Einrichtungen und entsprechend abweichende Charaktere ausgebildet. Diejenigen von ihnen, wel- che sich nach den Ebenen von Indien ausbreiteten, wo die grosse Fruchtbar- keit eine bedeutende Bevölkerung auf- kommen liess, deren Bezwingung sich nur geringe physikalische Hindernisse entgegenstellten, verloren die Unab- hängigkeit ihrer Natur und entwickelten niemals jene Staatssysteme, wie sie bei ihren westlichen Verwandten empor- kamen, unter Umständen freilich, die jedenfalls der Aufrechterhaltung des ur- sprünglichen Charakters günstig waren. Es ergibt sich also hieraus, dass, wo Gruppen des patriarchalischen Typus in Gebiete kommen, welche eine er- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. hebliche Bevölkerungszunahme gestat- ten, aber physikalisch doch so beschaffen sind, dass die CGentralisation der Gewalt verhindert wird, dass da eine zusammen- gesetzte Staatsleitung entstehen und sich eine Zeit lang wenigstens erhalten muss, vermöge des Zusammenwirkens der beiden Faetoren: Unabhängigkeit derlocalen Gruppen und Bedürfniss nach Vereinigung im Kriege. Sehen wir uns einige Beispiele im Hinblick darauf näher an. : Die Insel Kreta besitzt zahlreiche hohe Bergthäler mit reichem Weideland und bietet viele feste Sitze dar — Stand- punkte, deren Ruinen beweisen, dass die Bewohner schon im Alterthum sie -auszunützen verstanden. Gleiches gilt auch vom festländischen Griechenland. Ein verwickeltes Gebirgssystem trennt seine Theile von einander ab und macht den Zugang zu jedem einzelnen ziem- lich schwierig. Ganz besonders ist dies im Peloponnes der Fall und vor allem in jener Gegend, welche die Spartaner inne hatten. Man hat die Bemerkung gemacht, dass der Staat, welcher beide Seiten des Taygetus im Besitz habe, im stande sei, sich zum Herrn der ganzen Halbinsel zu machen: — »er ist die Akropolis des Peloponnes, eben- so wie der letztere die Akropolis des ganzen übrigen Griechenlands ist.« Als nun über die frühesten Ein- wohner nach einander die Wellen der hellenischen Eroberer sich ergossen, da brachten diese den Typus der Natur und Organisation mit, welcher allen Ariern gemeinsam ist und den oben beschriebenen Complex von Eigenthüm- lichkeiten darbietet. Wenn ein solches Volk in den Besitz eines derartigen Landes kam, musste es nothwendiger Weise im Laufe der Zeiten >»in eben so viele unabhängige Stämme zer- fallen, als das Land selbst durch seine Bergketten in Thäler und Bezirke ge- theilt war«. 293 Aus der örtlichen Absonderung ent- sprang Entfremdung, so dass die ent- fernter von einander Wohnenden ein- ander fremd und schliesslich feind wur- den. In den altgriechischen Zeiten waren die verschiedenen Stämme, welche sich in Bergdörfern niedergelassen hat- ten, so sehr den gegenseitigen Einfällen ausgesetzt, dass z. B. das Anpflanzen von Fruchtbäumen verlorene Mühe war. Es herrschte ein Zustand gleich dem- jenigen, den wir gegenwärtig bei man- chen indischen Bergvölkern, wie z. B. den Nagas verwirklicht sehen. Wenn auch ein solches Volk noch die Tradition einer gemeinsamen Ab- stammung behält und dem ältesten männlichen Vertreter des Patriarchen noch Gehorsam leistet, so muss es doch in Folge seiner Ausbreitung über eine Gegend, welche dergestalt selbst die nächstbenachbarten kleinen Gruppen und noch mehr jene entfernteren Stäm- me, welche im Laufe der Generationen sich ausbildeten, von einander trennt, nothwendiger Weise auch in seiner Regierung zerfallen: die Unterordnung unter ein gemeinsames Oberhaupt ist immer schwieriger aufrecht zu erhalten und nur die Unterwerfung unter locale Oberhäupter bleibt noch durchführbar. Ueberdies muss unter derartigen Be- dingungen eine Zunahme der Veran- lassungen zu Insubordination stattfinden, während zugleich der Aufrechterhaltung der Subordination immer grössere Schwie- rigkeiten sich entgegenstellten. Wenn die verschiedenen Zweige einer gemein- samen Familie, sich in ein Gebiet ver- breiten, dessen Theile so von einander getrennt sind, dass der Verkehr da- durch gehindert ist, so wird eben ihre Geschichte und die Kunde ihrer Ab- stammung von gemeinsamen Stammes- häuptern allmählich vergessen oder theil- weise verwischt und die Ansprüche auf die Oberherrschaft, welche bald dieses, bald jenes Localoberhaupt etwa erheben mag, werden sicherlich keine Anerkenn- 294 ung finden. Wenn wir uns nur er- innern, wie oft selbst in sesshaften Ge- sellschaften mit geschriebenen Urkunden fast fortwährend Kämpfe über das Recht der Nachfolge stattgefunden haben und wie häufig bis auf unsere Tage herab Rechtshändel über Erbansprüche an Titel und Eigenthum zu schlichten sind, so kann man kaum anders annehmen, als dass in einem Zustande gleich dem- jenigen der alten Griechen die Schwie- rigkeit, der Legitimität einer allgemeinen Führerschaft Anerkennung zu verschaf- fen, sich gewissermaassen mit dem Wun- sche nach Erlangung der Unabhängig- keit und dem Vermögen zur Behauptung desselben verschwor, um schliesslich den Zerfall in zahlreiche locale Herrschaften nach sich zu ziehen. Natürlich ging unter den an jedem Orte wechselnden Bedingungen diese Zersplitterung der grösseren Herrschaften in kleinere ver- schieden weit und dem entsprechend mochte auch in manchen Fällen eine Wiederherstellung grösserer Staaten oder eine Ausdehnung der kleineren über benachbarte stattfinden. Im allgemeinen aber muss unter solchen Verhältnissen die Tendenz obgewaltet haben, kleine unabhängige Gruppen mit dem patriar- chalischen Organisationstypus zu bilden. * Während ich dies schreibe, liefert mir der eben herausgekommene dritte Band von Herrn SkEne’s Celtic Scotland ein lehr- reiches Beispiel des oben angedeuteten Vor- ganges. Es ergibt sich aus seiner Schilde- rung, dass die alten celtischen Stämme, welche die Grafschaften von Moray, Buchan, Athol, Angus und Menteith bildeten, in Clans zer- fielen, und wie grossen Einfluss der physi- kalische Charakter des Landes auf dieses Resultat ausübte, ersehen wir aus der That- sache, dass eine solche Veränderung gerade in den Theilen stattfand, welche zum Hoch- land gehörten. Herr SKENE beschreibt dann die daraus hervorgegangenen kleineren Grup- Ss mit folgenden Worten: „Der Clan, als inzelgemeinschaft betrachtet, bestand somit aus einem Häuptling nebst seinen Verwandten bis zu einem gewissen beschränkten Grade der Verwandtschaft, aus dem gemeinen Volk oder den freien. Männern, welche alle von Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. So erklärt sich denn der Zerfall solcher Königreiche, wie sie in der Ilias noch geschildert werden. Ganz richtig schreibt GroTE: »Wenn wir uns dem historischen Griechenland annähern, so finden wir, dass (mit Ausnahme von Sparta) der ursprüngliche, erbliche und unverant- wortliche Monarch, der in sich sämmt- liche Functionen der Regierung ver- einigte, bereits zu regieren aufgehört hat.« * Was wird nun aber eintreten, wenn mehrere solche Clans von gemeinsamer Abstammung, welche allmählich unab- hängig und gegen einander feindselig geworden sind, gleichzeitig von Feinden bedroht werden, mit denen sie keinerlei oder nur eine sehr entfernte Verwandt- schaft besitzen? Gewöhnlich werden ihre Misshelligkeiten vergessen werden und sie vereinigen sich zu gemeinsamer Ab- wehr. Aber unter was für Bedingungen werden sie so zusammenwirken? Selbst bei einander freundlich gesinnten Grup- pen wird gemeinsame Thätigkeit ver- hindert werden, sobald eine derselben die Oberherrschaft für sich in Anspruch nimmt, und vollends unter solchen Grup- pen, die noch schwebende Streitigkeiten mit einander haben, kann vereinte Thätigkeit nur auf dem Fusse der Gleich- gleichem Blute waren und alle denselben Namen trugen, und aus seinen Untergebenen, die sich aus den Geschlechtern der Einge- bornen zusammensetzten, welche nicht den Anspruch erhoben, gleichen Bluts zu sein wie die Häuptlinge, sondern wahrscheinlich entweder von den ältesten Besitzern des Bo- dens abstammten oder von anderen Clans abgelöste Männer waren, die bei diesem Schutz gesucht hatten ...... Jene Ver- wandten des Häuptlings nun, welche sich zu Eigenthümern ihrer Ländereien zu machen vermochten, gründeten dann eigene Familien ER EEE die Einflussreichste von diesen war diejenige des ältesten unter den jüngeren Söhnen der Familie, die sich am längsten schon vom Hauptstamme abgelöst hatte und gewöhnlich als ein rivalisirendes Haus er- schien, das nur wenig schwächer war als dasjenige des Häuptlings selbst.“ Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. berechtigung möglich sein. Die gemein- same Vertheidigung wird daher von ei- ner Körperschaft geleitet werden, die sich aus den Häuptern der zusammen- wirkenden kleineren Gesellschaften bil- det, und wenn dieses Zusammenwirken zur Vertheidigung längere Zeit andauert oder gar der Erfolg im Kriege zum An- griff übergehen lässt, so zeigt dieser zeitweilig herrschende Körper die Ten- denz, in eine dauernde Körperschaft überzugehen, welche die kleineren Ge- sellschaften zusammenhält. Die beson- deren Eigenthümlichkeiten dieser zusam- mengesetzten Regierungen müssen natür- lich mit den Verhältnissen wechseln. Wo die Ueberlieferungen der vereinigten Stämme soweit mit einander überein- stimmen, dass sie irgend einen Häupt- ling als den directen Abkömmling und Repräsentanten des ursprünglichen Pa- triarchen oder Helden anerkennen, von welchem sich alle ableiten, da wird man jedenfalls diesem Einen eine gewisse aussergewöhnliche Autorität und Vor- rang zuerkennen. Wo dagegen die auf die Abstammung gegründeten Ansprüche streitig sind, da muss persönliche Ueber- legenheit oder Wahl es entscheiden, welches Glied der zusammengesetzten Körperschaft die Führung übernehmen soll. Wenn innerhalb jeder einzelnen Gruppe die Macht des Häuptlings un- eingeschränkt ist, so muss aus der Ver- einigung solcher Häuptlinge eine fest- geschlossene Oligarchie hervorgehen, während dagegen der Zusammenhalt der letzteren um so geringer sein wird, je mehr die Autorität des einzelnen Häupt- lings, welche auf der näheren oder ent- fernteren Blutsverwandtschaft mit dem göttlichen oder halbgöttlichen Vorfahren beruht, vermindert erscheint. Und in solchen Fällen endlich, wo zahlreiche Fremde in den Stamm aufgenommen wurden, welche zu keinem der Ober- häupter der einzelnen Gruppen in nähe- ren Beziehungen stehen, werden über- dies noch Einflüsse in’s Spiel kommen, 295 welche die Oligarchie noch mehr zu erweitern streben. Von dieser Art war, wie wir anneh- men dürfen, die Entstehung jener zu- sammengesetzten Regierungen der grie- chischen Staaten, welche beim Beginn der historischen Periode dort existirten. In Kreta, wo die Ueberlieferung von einem ursprünglich gemeinsamen König- thum fortlebte, wo aber die Zerstreuung und der immer weiter gehende Zerfall der Stämme einen solchen Zustand her- beigeführt hatte, dass »die einzelnen Städte in offener Fehde mit einander lagen«, gab es doch »Patricierhäuser, welche ihr Recht von den frühesten Zeitaltern der königlichen Herrschaft herleiteten« und sich immer noch »im Besitze der Verwaltung befanden«. In Korinth geht die Linie der Herakliden- Könige allmählich durch eine Reihe leerer Namen in die Öligarchie der Bacchiadae über. »Die so benannten Familien waren alles aner- kannte Abkömmlinge von Herakles und bildeten die regierende Kaste in der Stadt.«e So verhielt es sich auch in Megara. Nach der Tradition entstand diese Stadt durch Vereinigung ver- schiedener Dörfer, welche von ver- wandten Stämmen bewohnt waren, die, ursprünglich im Streit mit Korinth, wahrscheinlich in Verlaufe diesesKampfes sich zu einem unabhängigen Staate ver- schmolzen hatten. Und mit dem Be- ginn der historischen Periode war glei- ches auch in Sikyon und mehreren an- deren Orten eingetreten. Obgleich sich in Sparta das Königthum unter einer abnormen Form forterhalten hatte, so waren doch die vereinigten Vertreter des ursprünglichen Königs, welche zwar auf Grund der Tradition von ihrer gött- lichen Abstammung immer noch eine ge- wisse Verehrung genossen, zu einer Stel- lung herabgesunken, welche kaum mehr bedeutete, alsdiejenige einerherrschenden Oligarchie, die noch gewisse Prärogative behält. Und obgleich es richtig ist, 296 dass die spartanische Oligarchie in ih- rem frühesten historisch bekannten Sta- dium nicht mehr die Form darbot, welche von selbst aus der Vereinigung der Oberhäupter von verschiedenen Stäm- men zur gemeinschaftlichen Thätigkeit im Kriege entstehen musste — obgleich dieselbe innerhalb einer begrenzten Classe von Personen wählbar geworden war, so stimmt doch der Umstand, dass ein Alter von nicht weniger als sechzig Jahren dazu erforderlich war, mit der Ansicht überein, dass sie ursprünglich aus den Oberhäuptern der einzelnen Gruppen bestand, welche stets die älte- sten Söhne der Aeltesten waren, und dass diese Gruppen mit ihren Ober- häuptern, welche in den vorlykurgischen Zeiten als »die gesetzlosesten unter allen Griechen« geschildert wurden, sich vermöge jenes beständigen kriegerischen Lebens mit einander vereinigten, durch welches sie sich auszeichneten. * * Da dieser Gegenstand für historische Erklärungen im allgemeinen und ganz beson- ders für die in diesem Werke aufzustellenden Ansichten von Wichtigkeit ist, möchte ich ausser den von GROTE und Anderen ange- gebenen noch einige fernere Gründe anfüh- ren, welche die herkömmliche Annahme zu- rückweisen, dass die spartanische Verfassung das Werk von Lykurg gewesen sei. Die allgemein herrschende Neigung, eine Wirkung der auffallendsten und nächstliegenden Ur- sache zuzuschreiben, tritt ganz besonders da hervor, wo die Wirkung von der Art ist, dass ihre Ursache sehr verwickelt erscheint. Unser eigenes Zeitalter liefert uns ein Bei- spiel solcher Art, indem es die Aufhebung der Korngesetze erst Sir Robert Peel und nachher Cobden und Bright zuschrieb, Colonel Thompson aber ganz unerwähnt lässt. In der nächsten Generation pflegt ge- rade derjenige, welcher lange Zeit auf eigene Faust den Kampf fortführte und viele der Waffen schmiedete, mit denen sich die späte- ren Sieger ausrüsteten, gar nicht mehr im Zusammenhang damit erwähnt zu werden. Es ist jedoch nicht genug, zu vermuthen, dass Lykurg blos der Vollender der Arbeit seiner Vorgänger gewesen sei: — wir dürfen mit vollem Rechte voraussetzen, dass es sich gar nicht um das Werk eines Menschen, son- dern einfach um dasjenige der Bedürfnisse Herbert Spencer, Staatliche Eimrichtungen. Die Römer bieten uns ein Beispiel der Entstehung einer zusammengesetzten Regierung unter Verhältnissen, welche, obgleich theilweise von jenen abweichend, denen die Griechen unterworfen waren, doch im wesentlichen damit überein- stimmen. Im frühesten überhaupt be- kannten Zustande war Latium von Dorf- (Gemeinschaften bevölkert, welche zu Uantonen vereinigt waren, während diese wieder ein unter dem Vorsitz von Alba stehendes Bündniss bildeten, welcher Canton als der älteste und hervorra- gendste galt. Diese Vereinigung war für gemeinsame Abwehr getroffen, wie aus der Thatsache hervorgeht, dass jede einen Canton zusammensetzende Gruppe vonClandörfern gemeinsam einen hochlie- genden festen Platz besass und dass fer- ner die Liga der Cantone als Gentrum und Zufluchtsort Alba, die am festesten lie- gende wie auch die älteste Stadt be- trachtete. Die einzelnen Cantone der und der Umstände handelte. Dies lässt sich z. B. in der Einrichtung der öffentlichen Tischgesellschaften erkennen. Wenn wir uns fragen, was in einem kleinen Volke geschehen wird, welches, nachdem es sich mehrere Generationen hindurch als Eroberer ausge- dehnt hat, eine gewisse Verachtung gegen alle Industrie zeigt und, solange es nicht mit Krieg beschäftigt ist, seine Zeitmit Uebungen verbringt, welche dasselbe zum Kriege ge- schickt machen, so ist klar, dass anfänglich die täglichen Zusammenkünfte, um diese Uebungen zu treiben, auch den Anlass dazu geben werden, dass Jeder alltäglich seine Vorräthe mitbringt. Und wie das auch bei jedem Piknik die Regel ist, wo alle Theil- nehmer zur gemeinsamen Mahlzeit beitragen, so wird auch hier naturgemäss eine gewisse Verpflichtung hinsichtlich der Qualität und Quantität sich festgesetzt haben — eine Ver- pflichtung, die durch tägliche Wiederholung aus einer Sitte zum Gesetz wird und damit endigt, dass die Art und die Menge der zu liefernden Nahrung genau festgestellt ist. Ferner ist nichts anderes zu erwarten, als dass, weil ein solches Gesetz in einer Zeit entstand, wo die Nahrung noch roh und wenig mannichfaltig war, die Einfachheit der Lebens- weise, anfänglich ein unvermeidlicher Um- stand, später für eine beabsichtigte Einrich- tung gehalten werden wird, für eine asce- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Liga waren soweit von einander unab- hängig, dass zwischen ihnen häufig Kriege stattfanden, woraus wir schliessen dürfen, dass, wenn sie für gemeinsame Abwehr zusammenwirkten, dies unter wesentlich gleichen Bedingungen geschah. Bevor Rom existirte, war somit das Volk, welches diese Stadt später bildete, an eine derartige Lebensweise gewöhnt, dass mit grosser Unterordnung in jeder einzelnen Familie, in jedem Clan und mit theilweiser Unterordnung innerhalb jedes Cantons (welcher von einem Für- sten, einem Rathe der Aeltesten und der Kriegerversammlung regiert wurde) sich eine Vereinigung der Cantonsoberhäupter verband, welche in keiner Weise ein- ander untergeordnet waren. Als nun die Bewohner von dreien dieser Cantone, die Ramnier, Titier und Lucerer, das Gebiet zu besetzen begannen, auf wel- chem Rom steht, führten sie natürlich auch dort ihre staatliche Organisation ein. Die ältesten römischen Patricier trugen die Namen von Landadeligen, welche zu diesen Cantonen gehörten. Es ist nun nicht klar, ob sie, als sie sich auf dem Palatin und dem Quiri- nal niederliessen, auch ihre cantonale Trennungbeibehielten, obgleich esa priori wahrscheinlich ist. Wie dem jedoch sei, jedenfalls ist festgestellt, dass sie sich auch gegen einander ebenso gut befes- tigten wie gegen äussere Feinde. Die »Bergmänner« des Palatin und die »Hügelmänner« des Quirinal lagen fast beständig im Streit mit einander und selbst zwischen den kleineren Abthei- lungen derjenigen, welche den Palatin besetzt hatten, gab es Zwistigkeiten. Wie Mommsen richtig sagt, war das ur- sprüngliche Rom » vielmehr ein Aggregat tische Vorschrift, welche willkürlich aufer- legt worden sei. Als ich dies niederschrieb, hatte ich nicht bemerkt, dass, wie Professor PoLEY in Fraser’s Magazine, Februar 1881, darlegte, auch unter den Griechen der späteren Zeiten die Sitte herrschte, gemeinschaftliche Mahlzeiten einzunehmen, zu welchen jeder Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 297 von städtischen Ansiedelungen als eine einzige Stadt«. Und dass die Clans, welche diese Ansiedelungen bildeten, auch ihre Feindseligkeiten in dieselben mitbrachten, ist aus der Thatsache zu schliessen, dass sie nicht blos die Hügel, auf welchensiesichniedergelassen hatten, befestigten, sondern dass auch >»die Häuser der alten und mächtigen Fami- lien ziemlich nach Art von Festungen gebaut waren«. Abermals also sehen wir in Rom eine Gruppe kleinerer unabhängiger Ge- meinschaften, die blutsverwandt, aber theilweise einander feindlich gesinnt sind und gegen Feinde zusammenwirken müs- sen, dies unter solchenBedingungen aus- führen, welchen Alle zustimmen können. Im alten Griechenland waren die Mittel zur Abwehr, wie GrotE bemerkt, grösser als die Mittel zum Angriff, und das- selbe gilt auch für das alte Rom. Wäh- rend also eine strenge Herrschaft inner- halb jeder Familie und kleinen Gruppe leicht erschien, stellten sich der Aus- dehnung dieser Herrschaft über mehrere Gruppen grössere Schwierigkeiten ent- gegen, da sie durch ihre Befestigungen auch gegen einander geschützt waren. Ueberdies wurde die Strenge der Herr- schaft innerhalb der die ursprüngliche Stadt zusammensetzenden Ansiedelungen gemildert durch die Leichtigkeit, aus der einen zu entfliehen und in eine andere einzutreten. Wie wir schon bei den einfachsten Stämmen gesehen haben, finden Desertionen statt, sobald die Regierung ungebührlich drückend wird, und wir dürfen wohl annehmen, dass in jeder dieser zusammengedräng- ten Ansiedlungen der Ausübung von Gewalt durch Häupter der mächtigeren Gast seinen Antheil an Speise mitbrachte, und dass diejenigen, welche nur wenig bei- trugen und viel verzehrten, zum Gegenstand des Gespöttes wurden. Diese Thatsache er- höht bedeutend die Wahrscheinlichkeit, dass die spartanische Tischgenossenschaft in der angedeuteten Weise entstanden ist. 21 298 Familien über diejenigen der weniger mächtigen eine bestimmte Schranke .ge- zogen war, welche in der Furcht be- ‘gründet lag, es möchte die betreffende ‚Ansiedlung durch Auswanderung ge- ‘schwächt und eine benachbarte dadurch ‚gestärkt werden. ‘So waren die Um- stände derart, dass, wenn behufs der Vertheidigung der alten Stadt ein ver- eintes Wirken nöthig wurde, die An- führer der Clans, welche zu den ver- schiedenen Ansiedlungen gehörten, dem Wesen nach gleiche Machtbefugniss be- kamen. In der That war der Senat ursprünglich nichts anderes als der gesammte Körper der ÖClan-Aeltesten und diese »Versammlung der Aeltesten war der höchste Träger der Herrscher- gewalt«, — es war geradezu »eine Ver- sammlung von Königen«. Zu gleicher Zeit standen die Häupter der Familien innerhalb jedes Clans, welche die ge- sammte Bürgerschaft bildeten, aus den- selben Gründen auf durchaus gleichem Fusse,. Endlich gab es ein ursprüng- lich blos zum Befehlshaber im Kriege bestimmtes erwähltes Oberhaupt, das zugleich oberste Behörde war. Obgleich demselben nicht die durch vermeintlich göttliche Abstammung verliehene Au- torität zukam, so wurde seine Macht doch durch die Annahme der göttlichen Beistimmung gestützt, und indem er selbst die Insignien eines Gottes trug, behauptete er bis zu seinem Tode den einem solchen zukommenden absoluten Charakter. Jedoch abgesehen davon, dass die ursprünglich stets vom Senate vorgenommene Wahl im Falle einer plötzlichen Erledigung der Stelle doch wieder thatsächlich von diesem ausge- übt werden musste, und abgesehen da- von, dass jeder König, der von seinem Vorgänger ernannt worden war, doch erst der Bestätigung durch die ver- sammelte Bürgerschaft bedurfte, so ist namentlich bemerkenswerth, dass seine Gewalt ausschliesslich executiv war. Die Versammlung der Bürger »stand Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. in Gesetzessachen vielmehr über dem Könige, als dass sie ihm-coordinirt gewe- sen wäre«. Ferner wurde die allerhöchste Gewalt in ‚letzter Instanz vom Senat ausgeübt, welcher der Wächter des Ge- setzes war und sogar gegen die ver- einte Entscheidung des Königs und der Bürgerschaft sein Veto einlegen konnte. Somit war die Verfassung im wesent- lichen eine Oligarchie von Clan-Ober- häuptern, eingeschlossen in eine Oli- garchie der Häupter der einzelnen Häu- ser — eine zusammengesetzte Oligar- chie, die ganz uneingeschränkte Macht erlangte, als man das Königthum ab- schaffte. Und hier sei nun besonders die Thatsache hervorgehoben, welche doch wahrlich klar genug zu Tage liegt und trotzdem beständig übersehen wird, dass die römische Republik, welche nach Beseitigung der Königsgewalt übrig blieb, ganz anderer Natur war als jene volks- thümlichen Regierungen, mit denen man sie gewöhnlich zusammenstellt. Die Clans-Oberhäupter, aus denen sich der engere regierende Körper zusammen- setzte, wie die Familienhäupter, welche den weiteren regierenden Körper bil- deten, waren natürlich eifersüchtig auf ihre gegenseitigen Machtbefugnisse und standen insofern auf gleicher Stufe mit den Bürgern eines freien Staates, wo ein jeder das gleiche Recht bean- sprucht. Allein diese Häupter übten ihrerseits eine unbeschränkte Gewalt über die Angehörigen ihres Haushaltes und die ganze Gruppe der von ihnen Abhängigen aus. Ein Gemeinwesen aber, dessen einzelne Gruppen ihre in- nere Autonomie bis zu dem Grade be- haupten, dass die Herrschaft innerhalb einer jeden geradezu eine absolute wird, ist nichts weiter als ein Aggregat von kleineren Despoten. Eine Verfassung, unter welcher das Haupt jeder Gruppe nicht nur Sclaven besass, sondern auch eine derartige Obergewalt ausübte, dass sein Weib und seine Kinder mit Ein- schluss sogar der verheiratheten Söhne Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. nicht mehr gesetzliche Rechte hatten als sein Vieh und mit Leib und Leben seiner Gnade anheimgestellt waren oder sogar in die Sclaverei verkauft werden konnten — eine solche Verfassung kann nur von denen als eine freie Verfassung bezeichnet werden, welche die Aehn- lichkeit der äusseren Umrisse mit der Gleichheit des inneren Baues verwech- seln*. Die Bildung der zusammengesetzten Staatsregierungen in späteren Zeiten wiederholt diesen Process dem Wesen, wenn auch nicht den Einzelheiten nach. Auf die eine oder andere Weise kommt immer dieses Resultat zu stande, wenn das Bedürfniss nach gemeinsamer Ver- theidigung zum Zusammenwirken an- treibt, während kein anderer Ausweg bleibt, um dieses Zusammenwirken zu ermöglichen, als freiwillige Ueberein- kunft. Beginnen wir mit dem Beispiel von Venedig, so ist zunächst hervorzuheben, dass das von den alten Venetianern be- setzte Gebiet den ausgedehnten sumpfi- gen Landstrich umschloss, welcher von den durch verschiedene Flüsse in das Adriatische Meer heruntergebrachten Ablagerungen gebildet wird, — ein Landstrich, welcher zu Strabo’s Zeiten »in jeder Richtung von Flüssen, Strö- men und Morästen durchsetzt war«, so dass »Aquileja und Ravenna damals Städte in den Marschen darstellten«. Indem der Venetianer ein solches Land voll von Oertlichkeiten, welche nur den mit den verwickelten Wegen vertrauten Bewohnern zugänglich waren, als ihren Zufluchtsort benutzten, vermochten sie ihre Unabhängigkeit trotz der Anstreng- ungen der Römer, sie zu unterwerfen, * Ich würde es für überflüssig erachtet haben, eine so offenkundige Thatsache nach- drücklich hervorzuheben, wenn nicht die Identifieirung von so ausserordentlich ver- schiedenen Dingen beständig noch in Uebung wäre. Selbst in den letzten Jahren ist von einem Historiker in einer Zeitschrift ein Ar- 299 bis zu Caesar’s Zeiten zw behaupten, Später traten ganz ähnliche Verhält- nisse noch schärfer im jenem‘ Theile dieses Gebiets hervor, der sich ganz besonders durch Unzugänglichkeit aus- zeichnete. Von den ältesten Zeiten‘ an waren die Inselchen oder besser ge- sagt die Schlammbänke, auf welchen Venedig steht, von einem seefahrenden Volke bewohnt. Jede Insel, gesichert inmitten ihrer gewundenen Lagunen, hatte eine volksthümliche Regierung von alljährlich gewählten Tribunen. Und diese ursprüngliche Regierung, welche auch zu der Zeit bestand, als viele Tausende von Flüchtigen dorthin kamen, welche durch den Einbruch der Hunnen vom Festlande vertrieben worden waren, behauptete sich damals in der Form einer rohen Bundesgenossenschaft. Wie wir dies auch. in anderen Fällen hatten eintreten sehen, wurde diese Einheit, zu welcher diese unabhängigen kleinen Gesellschaften behufs gemein- samer Abwehr zusammenzutreten ge- nöthigt waren, doch vielfach durch Streitigkeiten gestört und nur unter dem Drucke des Widerstandes gegen die Angriffe der Lombarden auf der einen und der slavischen Seeräuber auf der andern Seite kam es dahin, dass eine allgemeine Versammlung von Adeligen, Geistlichen und Bürgern einen Herzog oder Dogen ernannte, um die combi- nirten Streitkräfte zu führen und die inneren Zwistigkeiten beizulegen; der- selbe stand über den Tribunen der ver- einigten Inseln und war nur dieser Körperschaft, die ihn ernannt hatte, verantwortlich. Was für Aenderungen später stattfanden, wie z. B. der Doge abgesehen von den ihm durch die all- tikel veröffentlicht worden, welcher die Cor- ruption der römischen Republik in ihren späteren Zeiten schildert und aus dieser Ge- schichte die Moral zieht, dass dies eben mei- stens die Resultate einer demokratischen Re- gierung gewesen seien und noch seien. 21* 300 gemeine Versammlung gesetzten Schran- ken sehr bald unter die Controle zweier besonders erwählter Räthe gesetzt wurde und bei wichtigen Angelegenheiten die angesehensten Bürger zusammenberufen musste; — wie später ein repräsenta- tiver Rath einberufen wurde, der von Zeit zu Zeit Veränderungen durchmachte, — alles das geht uns hier nicht näher an. Wir haben blos zu beachten, dass wie in früheren Fällen die einzelnen Gruppen zwar unter günstigen Verhält- nissen standen, welche ihnen erlaubten, ihre Unabhängigkeit gegen einander zu behaupten, dass aber die gebieterische Nothwendigkeit zur Vereinigung gegen äussere Feinde den Anfang einer rohen zusammengesetzten Regierung bildete, welche ungeachtet der centralisirenden Einflüsse des Krieges sich doch in der einen oder anderen Form fortzuerhalten strebte. Wenn wir nun ähnliche Erschein- ungen bei Menschen eines verschiedenen Stammes finden, die aber ein ähnliches Gebiet bewohnen, so müssen wohl unsere Zweifel hinsichtlich des diese Erschein- ung verursachenden Processes vollends schwinden. Auf dem Gebiete, — halb Land, halb Meer — welches durch die vom Rhein und den benachbarten Flüssen heruntergeschwemmten Abla- gerungen gebildet wird, lebten in den frühesten Zeiten zerstreute Familien. Da sie auf isolirten Sandhügeln oder in auf Pfählen errichteten Hütten wohn- ten, so waren sie inmitten ihrer Ca- näle, Sandbänke und Marschen so sicher, dass sie selbst von den Römern nicht unterworfen wurden. Anfänglich von Fischerei lebend, stellenweise mit kleinen Anfängen des Ackerbaues, soweit dies überhaupt möglich war, widmete sich dieses Volk später der Seefahrt und dem Handel und machte sein Land mit der Zeit durch Abdämmung der See besser bewohnbar, und so erfreute es sich lange Zeit einer theilweisen, ja sogar einer beinah vollständigen . Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Unabhängigkeit. Im dritten Jahrhun- dert »umschlossen die Niederlande das einzige freie Volk der germanischen Race«. Ganz besonders die Friesen, welche weiter von den Eroberern ent- fernt waren als die übrigen, »verbanden sich mit den an den Grenzen des deut- schen Meeres angesiedelten Stämmen und schlossen mit ihnen ein Bündniss, das unter dem Namen des Sachsen- bundes bekannt ist«.. Wenn auch in späteren Zeiten die Bewohner der Nieder- lande unter die Botmässigkeit von Frankreich geriethen, so gab ihnen doch die Natur ihres Wohngebietes auf die Dauer so grosse Vortheile im Wider- stand gegen fremde Gewalt, dass sie sich stets trotz aller Verbote nach ihrem eigenen Gutdünken organisirten. »Von den Zeiten Karls des Grossen an bildete das Volk des alten Mena- pia, das nun zu einem blühenden Ge- meinwesen geworden war, staatliche Vereinigungen, um eine Schranke gegen die despotische Gewaltthätigkeit der Franken zu errichten.< Inzwischen be- haupteten die Friesen, welche nach Jahrhunderten erfolgreichen Widerstan- des gegen Frankreich demselben schliess- lich unterlagen und einen kleinen Tri- but liefern mussten, immerhin ihre in- nere Autonomie. Sie bildeten »eine Bundesgenossenschaft von rohen, aber selbstregierten Seeprovinzen«: jede von diesen sieben Provinzen war in Bezirke eingetheilt, die sich jeweils durch selbst- gewählte Häupter mit ihren Räthen re- gierten, und das Ganze stand unter einem wählbaren Oberhaupt und einem Allgemeinen Rath. Unter den Beispielen, welche die neueren Zeiten uns darbieten, mögen diejenigen hervorgehoben werden, welche uns abermals die Wirkungen eines ge- birgigen Landes erkennen lassen. Am bemerkenswerthesten darunter ist natür- lich die Schweiz. Rings von Wäldern umgeben, »zwischen Sümpfen, Felsen und Gletschern, hatten Stämme zerstreu- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. ter Hirten von den frühesten Zeiten der römischen Eroberung an hier ein Land der Zuflucht vor den aufeinanderfolgen- den Eindringlingen in das übrige Hel- vetien gefunden«. In den Labyrinthen der Alpen, welche nur denen zugänglich waren, welche Weg und Steg in den- selben kannten, gediehen ihre Viehher- den unbemerkt, und gegen eindringende Banden vonRäubern, welche ihre Schlupf- winkel etwa hätten entdecken können, hatten sie alle möglichen Mittel zur Vertheidigung. Diese Gebiete — welche sich schliesslich zu den Cantonen Schwyz, Uri und Unterwalden ausgestalteten, die ursprünglich nur ein gemeinsames Versammlungscentrum hatten, später aber, als die Bevölkerung zunahm, in drei Cantone zerfielen und besondere staatliche Organisationen bildeten — behaupteten lange eine vollständige Un- abhängigkeit. Mit der Ausbreitung der feudalen Unterordnung in ganz Europa wurden auch sie dem Namen nach dem Kaiser unterthan, allein indem sie den über sie gesetzten Oberen Gehorsam ver- weigerten, traten sie in einen feierlichen, von Zeit zu Zeit erneuerten Bund zu- sammen, um sich gegen äussere Feinde zu vertheidigen. Die Einzelheiten ihrer weiteren Geschichte brauchen uns nicht aufzuhalten. Das Wesentlichste für uns ist, dass in diesen drei Cantonen, welche durch ihre physikalische Beschaffenheit die Behauptung der Unabhängigkeit des einzelnen Individuums wie der verschie- denen Gruppen in so hohem Grade be- günstigten, die Bevölkerung unter sich verschiedene freie Regierungen bildete, zugleich aber sich unter gleichen Be- dingungen zu gemeinsamer Abwehr ver- einigte. Und diesetypischen » Schweizer « waren es, welche, wie sie zuerst diesen Namen trugen, so auch den Kern für die grössere Vereinigung bildeten, die unter wechselndem Geschick schliesslich daraus hervorging. Da die einzelnen, diesen grösseren Bund zusammensetzen- 301 den Cantone unabhängig von einander waren, so gab es auch zuerst mannich- fache Kämpfe zwischen ihnen, welche nur während der Zeiten, wo eine ge- meinsame Abwehr unumgänglich erfor- derlich erschien, unterbrochen wurden. Erst ganz allmählich gingen die Bünd- nisse aus zeitweiligen und unbestimmten Formen in eine dauernde und festere Form über. Noch sei auf zwei wichtige Thatsachen hingewiesen. Einmal hat sich in späterer Zeit ein ähnlicher Pro- cess des Widerstandes, der Confödera- tion und Freimachung von der feudalen Tyrannei zwischen verschiedenen, kleine Bergthäler bewohnenden Gemeinschaften in Graubünden und im Wallis abge- spielt — Gegenden, welche, obgleich gebirgiger Natur, doch leichter zugäng- lich waren als diejenigen des Oberlan- des und seiner Umgebung. Und zwei- tens erlangten die Cantone des Hügel- landes weder so früh noch auch so vollständig ihre Unabhängigkeit und überdies war ihre Verfassung der Form nach viel weniger frei. So be- stand ein auffallender Gegensatz zwi- schen den aristokratischen Republiken von Bern, Luzern, Freiburg und Solo- thurn und den reinen Demokratien der vier Waldstädte und Graubündens. Im letzteren Canton »war sogar jedes kleine Dörfchen, das in einem Alpenthale lag oder auf einem Bergkamm klebte, ein unabhängiges Gemeinwesen, dessen Mit- glieder alle absolut gleich waren, zur Stimmabgabe in jeder Versammlung be- rechtigt und zu jeder öffentlichen Func- tion qualificirt<. »Jedes Dörfchen hatte seine eigenen Gesetze, seine eigene Rechtsprechung und seine Privilegien ;« diese Dörfer aber waren zu grösseren Gemeinden, die Gemeinden zu Bezirken und die Bezirke zu einem Bunde ver- einigt. Endlich können wir neben das Bei- spiel der Schweiz .noch dasjenige von San Marino setzen — einer kleinen Repu- blik, welche, in den Apenninen gelegen, 302 mit einem auf tausend Fuss hoher Klippe thronenden Centrum, ihre Unabhängig- keit fünfzehn Jahrhunderte hindurch auf- recht erhalten hat. Hier werden 8000 Menschen von einem Senat von 60 und von halbjährlich gewählten Hauptleuten regiert, während bei wichtigen Ange- legenheiten eine Versammlung des ganzen Volkes zusammenberufen wird. Die stehende Armee beträgt 18 Mann; »die Steuern sind fast auf Null reducirt« und die Beamten sind durch die Ehre ihres Dienstes genügend belohnt. Ein bemerkenswerther Unterschied zwischen den unter physikalischen Bedingungen der erwähnten Art ent- standenen zusammengesetzten Regie- rungen darf jedoch nicht übersehen werden — der Unterschied zwischen der oligarchischen und der mehr oder we- niger volksthümlichen Form. Wie im Anfang dieses Abschnittes gezeigt wurde: — wenn jede der durch kriegerisches Zusammenwirken vereinigten Gruppen despotisch regiert wird — wenn die einzelnen Gruppen nach dem patriar- chalischen Typus gebildet sind oder jeweils durch Männer von vermeintlich göttlichem Ursprung regiert werden — dann entsteht eine zusammengesetzte Regierung, an welcher das Volk im grossen keinerlei Antheil hat. Wenn aber wie in diesen neueren Beispielen die patriarchalische Autorität zerfallen ist oder wenn die Annahme des gött- lichen Ursprungs durch einen damit im Widerspruch stehenden Glauben unter- graben worden ist oder wenn eine fried- liche Lebensweise jene zwingende Auto- rität geschwächt hat, welche durch den Krieg stets gestärkt wird, — so kann die zusammengesetzte Regierung nicht länger eine Versammlung kleiner De- spoten sein. Mit dem Fortschritte dieser Veränderungen wird sie mehr und mehr zu einer Behörde, welche aus solchen zusammengesetzt ist, die ihre Gewalt nicht kraft ihrer Stellung, sondern kraft ihrer Ernennung ausüben. Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Es gibt aber noch andere Beding- ungen, welche die Entstehung zusam- mengesetzter, sei es zeitweiliger, sei es dauernder Regierungen begünstigen, nämlich diejenigen, welche bei der Auf- lösung bisher bestandener Organisatio- nen eintreten. Bei einem Volke, das zahllose Generationen hindurch an per- sönliche Herrschaft gewöhnt war, dessen Gefühle durchaus diesem Zustand an- gepasst sind und das sich kaum eine Vorstellung von etwas anderem zu ma- chen vermag, pflegt auf den Sturz des einen Despoten sofort das Emporkom- men eines anderen zu folgen; oder wenn ein grösseres persönlich regiertes Reich zusammenfällt, so entstehen in seinen einzelnen Theilen unabhängige Regie- rungen gleicher Art. Bei weniger unter- drückten Völkern aber folgt auf den Zusammenbruch eines Staatssystems mit einem einzelnen Oberhaupte leichter die Entstehung eines anderen mit zusam- mengesetzter Regierung, ganz besonders da, wo eine gleichzeitige Trennung in grössere Theile stattfindet, welche keine localen Regierungen von dauernder Art besitzen. Unter solchen Verhältnissen beobachtet man eine Rückkehr zum pri- mitiven Zustande. Wenn das bis da- hin bestehende Regierungssystem zerfällt, so stehen die Glieder der Gemeinschaft nun unter keiner anderen zwingenden Gewalt als unter dem Willen des ganzen Aggregats; es muss also die staatliche Organisation wieder von vorne beginnen und die zunächst erlangte Form ist dann derjenigen nächstverwandt, welche wir in der Versammlung einer Horde von Wilden oder in einer öffentlichen Versammlung der neueren Zeit beob- achten. Daraus geht dann aber bald die Herrschaft weniger Auserwählten hervor, welche der Zustimmung der Mehr- zahl unterworfen sind. Als erstes Beispiel hiefür können wir die Entstehung der italienischen Republiken nehmen. Als im neunten und zehnten Jahrhundert die deutschen Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Kaiser, welche lange Zeit hindurch ihre Kraft vergeudeten, um locale Streitig- keiten in Italien niederzuhalten und die Missethaten wandernder Räuberbanden zu verhüten, mehr als je ausser stande waren, die ihnen untergebenen Gemein- wesen zu schützen und, was gleichzeitig daraus hervorging, nur noch eine ge- ringe Macht über sie auszuüben ver- mochten, da erschien es für die italie- nischen Städte sowohl nothwendig als ausführbar, eine staatliche Organisation auf eigene Faust zu entwickeln. Ob- gleich in diesen Städten noch Ueber- reste der alten römischen Organisation fortlebten, so waren dieselben doch offen- bar so gut wie abgestorben, denn in Zeiten der Gefahr fand eine Versamm- lung der »Bürger auf den Klang einer grossen Glocke statt, um mit einander die Mittel zur gemeinsamen Abwehr zu berathen<. Ohne Zweifel kamen bei sol- chen Gelegenheiten schon die ersten Spuren jener republikanischen Einrich- tungen zum Vorschein, welche sich spä- ter entwickelten. Wenn auch behauptet wird, die deutschen Kaiser hätten den Städten erlaubt, diese Einrichtungen zu bilden, so dürfen wir doch wohl mit Recht annehmen, dass sie vielmehr sich um nichts weiter bekümmerten, als ih- ren Tribut zu bekommen, und daher keine Anstrengungen machten, die Städte von diesem Beginnen abzuhalten. Und obgleich Sısmonpı von der Bevölkerung der Städte sagt: »Ils chercherent & se constituer sur lemodele de la republique romaine«, so dürfen wir uns doch fragen, ob in diesen dunklen Zeiten das Volk noch so viel von den römischen Ver- hältnissen gekannt habe, um dadurch irgend wie beeinflusst worden zu sein. Es ist mit viel grösserer Wahrschein- lichkeit zu vermuthen, dass »diese Ver- sammlung aller Männer des Staates, welche Waffen zu tragen fähig waren ... auf dem grossen Marktplatze«, dieursprünglichzusammenberufen wurde, um Maassregelnzur Abwehr der Angreifer 303 zu berathen — eine Versammlung, welche schon in ihren ersten Anfängen durch eine Gruppe hervorragender Bürger ge- leitet worden sein und ihre Führer ge- wählt haben muss — dass eine solche Versammlung selbst schon die repu- blikanische Regierung in ihren ersten Anfängen darstellte. Solche Versamm- lungen, anfänglich nur bei besonders gegebenen Gelegenheiten zusammen- tretend, kamen allmählich immer mehr in Gebrauch, um über alle wichtigen öffentlichen Fragen zu entscheiden. Die Wiederholung brachte grössere Regel- mässigkeit in die Art und Weise ihres Verfahrens und grössere Bestimmtheit in die sich ausbildenden Abtheilungen, wodurch es schliesslich zur Entstehung von zusammengesetzten Staatsbehörden kam, denen gewählte Häuptlinge vor- standen. Und dass dies wirklich in jenen frühesten Stadien der Fall war, von denen wir nur dunkle Kunde haben, geht daraus hervor, dass ein ähnlicher, obgleich etwas schärfer ausgeprägter Process später in Florenz ablief, als die Herrschaft des Adels gestürzt wurde. Bestimmte Berichte erzählen uns, dass im Jahre 1250 »die Bürger sich zu gleicher Zeit auf dem Platz von Santa Croce versammelten; sie theilten sich in fünfzig Gruppen, von denen eine jede ihren Hauptmann wählte, und so bildeten sie Kriegsgenossenschaften; der Rath dieser Offiziere war die erstgeborene Autorität dieser neu auflebenden Repu- blik<. Offenbar musste jene Obergewalt des Volkes, welche eine Zeit lang diese kleinen Gemeinwesen charakterisirte, mit Nothwendigkeit hervortreten, wenn die Staatsform aus der ursprünglichen öffentlichen Versammlung emporwuchs, während ihre Entstehung nicht wahr- scheinlich wäre, wenn die Staatsform künstlich von einer begrenzten Classe ausgedacht worden sein würde, Dass diese Auffassung mit den That- sachen, welche die neueren Zeiten uns darbieten, vollständig übereinstimmt, 304 braucht kaum besonders nachgewiesen zu werden. In ungemein viel grösserem Maassstabe und in mannichfach ab- wechselnder Weise, hier in Folge des allmählichen Zusammensinkens eines alten Regime und dort in Folge der Vereinigung zu Kriegszwecken, haben uns doch die Entstehung der ersten französischen Republik und der ameri- kanischen Republik gleichfalls diese Tendenz zur Wiederaufnahme der pri- mitiven Form staatlicher Organisation gezeigt, wo immer eine im Zerfall be- griffene oder sonstwie unfähige Re- gierungsform abgeschafft wird. Wie sehr auch diese Umformungen durch com- plicirende Umstände und besondere Zu- fälligkeiten verdunkelt werden, wir kön- nen doch deutlich das Spiel derselben allgemeinen Ursachen in ihnen wieder- erkennen. Wir haben im letzten Capitel ge- sehen, dass je nach den Verhältnissen das erste Element des dreieinigen Staats- gebildes sich in verschiedenem Grade vom zweiten differenziren kann — dass es mit dem Kriegshäuptling beginnt, der nur wenig über den andern Krie- gern steht, und mit dem göttlichen und absolutenKönig endigt, der schon durch einen weiten Abstand von den ihn zu- nächst umgebenden wenigen Auserwähl- ten getrennt ist. Durch die vorher- gehenden Beispiele werden wir belehrt, dass auch das zweite Element je nach den Verhältnissen in verschiedenem Grade vom dritten sich differenzirt: am einen Extrem unterscheidet es sich von demselben qualitativ in hohem Maasse und ist es durch eine unüberschreitbare Schranke von ihm getrennt; am andern Extrem geht es nahezu vollständig in demselben auf. Damit werden wir nun auf die gleich zu besprechende Thatsache übergeleitet, dass nämlich die äusseren Verhältnisse nicht allein die verschiedenen Formen, welche die zusammengesetzten Regier- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. | ungen annehmen, sondern auch die mannichfachen Veränderungen bedingen, denen sie unterworfen sind. Es gibt zwei wesentliche Arten solcher Ver- änderungen — diejenigen, durch welche die zusammengesetzte Regierung in eine weniger volksthümliche, und diejenige, durch welche sie in eine volksthüm- lichere Form übergeht. Wir wollen die- selben in dieser Reihenfolge betrachten. Die fortschreitende Einschränkung der zusammengesetzten Regierung war eine der Begleiterscheinungen der fort- dauernden kriegerischen Thätigkeit. Hal- ten wir uns zunächst an das Beispiel von Sparta, dessen Verfassung in ihrer frühesten Form nur wenig von derjenigen abwich, welche nach den Zeugnissen der Ilias bei den Griechen des home- rischen Zeitalters existirte, so sehen wir in erster Linie die Tendenz zur Concentrirung der Gewalt in der ein Jahrhundert nach Lykurg aufgestellten Bestimmung hervortreten, dass, »falls das Volk eine verkehrte Entscheidung treffen sollte, der Senat mit den Kö- nigen zusammen diese Entscheidung um- zustürzen habes. Und dann sehen wir, dass später in Folge des Zusammen- strömens von Reichthümern in den Hän- den Weniger »die Zahl der stimm- berechtigten Bürger fortwährend sich verminderte<«, wovon dann die Folge war, dass nicht allein die Oligarchie eine verhältnissmässig immer grössere Macht erhielt, sondern wahrscheinlich auch die reicheren Mitglieder innerhalb der Oli- garchie selbst eine immer grössere Ueber- legenheit gewannen. Wenden wir uns dann nach Rom, das mit beständigen Kriegen beschäftigt war, so finden wir, dass im Laufe der Zeiten die Ungleich- heit bis zu dem Grade sich steigerte, dass der Senat »zu einer Versammlung von Herren wurde, die ihre Stellung durch erbliche Nachfolge einnahmen und eine gemeinsame Missregierung führten; « dann aber »erhob sich aus dem Uebel der Oligarchie das noch schlimmere Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Uebel der Usurpation der Gewalt durch | einzelne Familien«. In den italienischen Republiken, die gleichfalls beständig mit einander im Kriege lagen, ergab sich eine ähnliche Verkleinerung des regierenden Körpers. Der Adel verliess seine Schlösser und begann »die Re- gierungsgewalt in den Städten an sich zu reissen, welche in Folge dessen wäh- rend dieser Periode der Republiken vor- zugsweise in die Hand der höchsten Familien geriethen«. In einem späteren Stadium sodann, als der Fortschritt der Gewerbe reiche Handelsclassen geschaf- fen hatte, wiederholten diese, nachdem sie im Wettstreite mit den Adeligen um die Gewalt diese schliesslich daraus verdrängt hatten, innerhalb ihres eige- nen Aggregats den gleichen Vorgang. Die reicheren Gilden beraubten die är- meren ihres Antheils an der Wahl der Regierungsbehörden; die privilegirte Classe wurde durch das Stimmrecht be- schränkende Gesetze immer mehr ver- kleinert; alle neu aufkommenden Fa- milien wurden von den lange herrschen- den ausgeschlossen. In der That waren, wie SısmoxpıI darlegt, diejenigen unter den zahlreichen italienischen Republiken, welche am Schlusse des fünfzehnten Jahrhunderts überhaupt noch dem Na- men nach solche geblieben waren, gleich »Siena und Lucca jeweils von einer - einzigen Kaste von Bürgern regiert..... und sie besassen keine volksthümliche Regierung mehr«. Ein ähnliches Resul- tat war bei den Holländern zu beob- achten. Während der Kriege der flämi- schen Städte mit den Adeligen und mit einander wurde die relativ volksthüm- liche Regierung der Städte eingeschränkt. Die grösseren Gilden schlossen die klei- neren vom regierenden Körper aus und ihre Mitglieder, »in den Amtspurpur gekleidet,...... herrschten mit der Macht einer Aristokratie....... Die lo- cale Regierung war oft eine Oligarchie, während der Geist der Bürger ausser- ordentlich demokratisch war«. Und hier 305 schliesst sich auch noch das Beispiel an, welches uns jene Schweizer-Cantone zeigen, deren physikalischer Charakter der individuellen Unabhängigkeit weni- ger günstig war und die zu gleicher Zeit mit Vorliebe sowohl Angriffs- als Vertheidigungskriege führten. Bern, Lu- zern, Freiburg und Solothurn erlangten allmählich eine in hohem Grade oli- garchisch gefärbte Verfassung; in »Bern aber, wo die adligen Geschlechter stets einen überwiegenden Einfluss behauptet hatten, war schliesslich die gesammte Verwaltung in die Hände einiger weni- ger Familien gerathen, innerhalb deren sie erblich geworden ware. Sodann haben wir als eine andere Ursache der fortschreitenden Umwand- lung von zusammengesetzten Regier- ungen zu erwähnen, dass sie gleich dem einfachen Oberhaupt der Unterjochung durch ihre Verwaltungswerkzeuge aus- gesetzt sind. In erster Linie ist ein Beispiel zu nennen, in welchem dieser Erfolg gleichzeitig mit dem letzterwähn- ten zusammen eintrat, nämlich Sparta. Die Ephoren, welche ursprünglich vom König ernannt wurden, um bestimmte Obliegenheiten zu erfüllen, machten sich zunächst die Könige unterthan und brachten später auch den Senat unter ihre Botmässigkeit, so dass sie im we- sentlichen die Herrscher wurden. Von da können wir z. B. zu Venedig über- gehen, wo die Gewalt, einstmals vom Volke ausgeübt, allmählich in die Hände eines Executivkörpers überging, dessen Mitglieder in der Regel wiedergewählt und nach ihrem Tode von ihren Kin- dern ersetzt wurden, so dass daraus eine Aristokratie entstand, aus der sich schliesslich der Rath der Zehn ent- wickelte, welche gleich den spartani- schen Ephoren »die Obliegenheit hatten, über der Sicherheit des Staates zu wachen, und mit einer über dem Ge- setze stehenden Macht bekleidet waren«, und welche somit, »von keinem Gesetze eingeschränkt«, die thatsächliche Herr- 306 schaftinHänden hatten. Während seiner zahlreichen Revolutionen und Verfass- ungsänderungen zeigt auch Florenz stets ein gleiches Bestreben. Die ernannten Verwaltungsbehörden, bald die Signoria, bald die Prioren, setzten sich während ihrer Amtsdauer in den Stand, ihre eigenen Ziele selbst soweit zu verfolgen, dass sie die Verfassung aufheben konn- ten: sie erlangten die erzwungene Zu- stimmung des versammelten Volkes, das mit Bewaffneten umgeben wurde. Und schliesslich wurde der oberste Executiv- beamte, der dem Namen nach von Zeit zu Zeit wiedererwählt wurde, that- sächlich aber lebenslänglich eingesetzt war, in der Person von Cosmo di Me- diei zum Begründer einer erblichen Herrschaft. Immerhin aber ist die zusammenge- setzteStaatsregierung viel weniger der Ge- fahr ausgesetzt, unter die Botmässigkeit ihrer bürgerlichen, als unter die ihrer militärischen Werkzeuge zu gerathen. Seit den ältesten Zeiten ist letztere Erscheinung beobachtet und vielfach be- sprochen worden, und so bekannt sie auch ist, so muss ich dieselbe hier doch noch. beleuchten und besonders hervor- heben, weil sie für eine der Haupt- wahrheiten der Staatstheorie eine un- mittelbare Bedeutung hat. Beginnen wir mit den Griechen, so bemerken wir zunächst, dass die Tyrannen, welche so oft Oligarchien gestürzt haben, stets eine bewaffnete Macht zu ihrer Ver- fügung hatten. Entweder war der Ty- rann »die Executivbehörde, welcher von Seiten der Oligarchen selbst wichtige Verwaltungsbefugnisse übertragen wor- den waren«, oder er war ein Demagoge, welcher die Interessen des Gemeinwesens zu vertreten behauptete, »um sich mit bewaffneten Vertheidigern zu umgeben«; — in jedem Falle aber waren Krieger die Werkzeuge seiner Usurpation. Das- selbe pflegt zweitens sehr oft der sieg- reiche Feldherr zu unternehmen. Wie MACcCcHIAVELLI von den Römern bemerkt: Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. „Denn in je weitere Ferne sie (die Ge- neräle) ihre Waffen trugen, desto nothwen- diger erschienen solche Verlängerungen (ihrer Vollmachten) und um so gebräuchlicher wur- den sie, und so kam es einmal, dass nur wenige ihrer Mitbürger zur Befehligung von Armeen verwandt werden konnten und da- her auch nur wenige im stande waren, einen irgend erheblichen Grad von Erfahrung und Kriegsruhm zu erwerben; und zweitens be- kam ein Oberbefehlshaber, indem er lange Zeit diesen Posten bekleidete, dadurch die beste Gelegenheit, seine Soldaten derart zu verführen, dass sie dem Senat vollständig den Gehorsam verweigerten und keine andere Autorität als die ihres Feldherrn anerkannten. Darauf beruhte es, dass Sylla und Marius die Mittel fanden, ihre Heere abtrünnig zu machen und sie gegen ihr eigenes Land in den Kampf zu führen, und dass Julius Caesar sich zum Alleinherrscher in Rom aufzu- schwingen vermochte.“ Die italienischen Republiken bieten uns abermals zahlreiche Beispiele dar. Im Beginn des vierzehnten Jahrhunderts »unterwarfen sich diejenigen in der Lom- bardei sämmtlich der Militärmacht eini- ger Adliger, denen sie den Öberbefehl über ihre Streitkräfte anvertraut hatten, und gingen alle auf diese Weise ihrer Freiheiten verlustige. Auch spätere Zeiten und näher gelegene Länder lie- fern ähnliche Fälle. Bei uns zeigte Crom- well, wie der siegreiche Feldherr ein Autokrat zu werden geneigt ist. In den Niederlanden wiederholt sich dieselbe Erscheinung bei den Van Arteveldes, Vater und Sohn, und später nochmals bei Moritz von Nassau, und wäre es nicht der Form wegen, so brauchten wir wahrlich Napoleon gar nicht erst zu nennen. Es ist ferner zu beachten, dass der Kriegsheld nicht blos durch den Befehl über das Heer in den Stand gesetzt wird, die höchste Gewalt an sich zu reissen, sondern dass auch die errungene Popularität, ganz besonders in einer kriegerischen Nation, ihm die Verfolgung seiner eigenen Pläne ver- hältnissmässig leicht macht. Weder ihre eigenen Erfahrungen noch diejenigen anderer Nationen in früheren Zeiten haben die Franzosen daran zu verhin- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. dern vermocht, dass sie kürzlich den Marschall Mac Mahon zum Oberhaupt der Executivgewalt erhoben, und selbst die Amerikaner haben, indem sie den General Grant mehr als einmal zum Präsidenten erwählten, dadurch bewie- sen, dass, so vorwiegend industriell auch ihre Gesellschaft ist, die krieger- ische Thätigkeit doch auch hier rasch den Anfang eines Uebergangs zum krie- gerischen Typus hervorgerufen hat, dessen wesentlichster Zug eben in der Vereinigung von bürgerlicher und mili- tärischer Herrschaft liegt. Vonden Einflüssen, welchezusammen- gesetzte Regierungen zu vermindern oder in die Einzelherrschaft überzuführen streben, wollen wir uns nun zu denen wenden, welche sie zu erweitern geeig- net sind. Hier drängt sich uns natür- lich vor allem die Erinnerung an Athen auf. Um diesen Fall richtig zu ver- stehen, müssen wir bedenken, dass bis zu Solon’s Zeiten eine demokratische Regierung nirgends in Griechenland be- stand. Die einzigen bekannten Formen waren ÖOligarchie ‚und Despotie, und soviel ist gewiss, dass in jenen alten Zeiten, lange bevor man über die Staats- einrichtungen überhaupt zu speculiren begonnen hatte, nicht etwa eine Ge- sellschaftsform theoretisch aufgestellt worden ist, die in der Praxis noch ganz unbekannt war. Wir haben uns daher vor allem von der Meinung fern zu halten, -dass die volksthümliche Regier- ung in Athen unter der Leitung irgend einer vorgefassten Idee aufgekommen sei. In demselben Sinne ist ferner bei- zufügen, dass — da Athen bis dahin von einer Öligarchie regiert wurde — die Solonische Gesetzgebung zunächst nur bezweckte, die Oligarchie zu mil- dern und zu erweitern und schreiende Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Fragen wir nun nach den Ursachen, welche durch Solon wirksam waren und zu- gleich die von ihm angebahnte Reor- 307 wir, dass dieselben in den direeten und indirecten Einflüssen des Handels liegen. GroTE betont ausdrücklich »das Be- streben sowohl von Solon als von Drako, unter ihren Mitbürgern Gewerbfleiss und eine auf den eigenen Unterhalt gerich- tete Thätigkeit anzuregen — ein Be- weis, dass schon vor Solon’s Zeiten in Attika nur wenig oder gar keine Ab- neigung gegen »sesshafte Industrie herrschte, welche in den meisten üb- rigen Theilen von Griechenland für ver- hältnissmässig unehrenhaft galt«. Ueber- dies war Solon selbst in jüngeren Jahren Kaufmannund seine Gesetzgebung »schuf den Kaufleuten und Handwerkern in Athen eine neue Heimat, was die erste Ermuthigung zur Ansiedlung jener zahl- reichen Stadtbevölkerung sowohl in Athen selbst als im Piräeus gab, die wir im nächstfolgenden Jahrhundert thatsächlich dort vorfinden«. Die Ein- wanderer, welche um der grösseren « Sicherheit willen nach Attika zusammen- strömten, suchte Solon eher zur Gewerbs- thätigkeit als zur Bearbeitung eines von Natur armen Bodens zu veranlassen, und eine Folge davon war »das Auf- geben der ursprünglichen Neigungen des Atticismus, welche mehr auf das Leben auf eigenem Grund und Boden und auf ländliche Beschäftigungen ge- richtet waren«; anderseits wurde da- durch die Zahl derjenigen vermehrt, welche ausserhalb jener Abtheilungen der Familien und Phratrien standen, die im Zusammenhang mit dem patriarchal- ischen Typus und der persönlichen Herr- schaft bestanden hatten. Auch die von Solon eingeführten Verfassungsänderun- gen zielten in den wesentlichsten Punk- ten auf eine industrielle Organisation ab. Die Einführung der Einschätzung in die Classen nach dem Besitz statt nach der Geburt verringerte die Starr- heit der Staatsform, indem nun der Erwerb von Reichthum durch Industrie oder sonstige Mittel es ermöglichte, ganisation ausführbar machten, so finden | unter die Oligarchen oder andere Pri- 308 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. vilegirte aufgenommen zu werden. Da- | anzuerkennen, zugleich aber seine eige- durch, dass er die Selbstverpfändung des Schuldners verbot und diejenigen freiliess, welche auf diese Weise in Sclaverei gerathen waren, trugen seine Gesetze wesentlich zur Vergrösserung der Freigelassenenclasse im Gegensatz zur Sclavenclasse bei. Anderseits ver- hinderte diese Aenderung, während sie billige Verpflichtungen unangetastet liess, alle jene unbilligen Verpflichtungen, wo- nach ein Mensch sich selbst zum Pfand setzen konnte und dadurch mehr als ein Aequivalent der geborgten Summe dahingab. Und während so die Fälle sich verminderten, wo ein Verhältniss von Herr zum Sclaven bestand, wur- den zugleich die Fälle vermehrt, wo Vortheile nach gegenseitiger Ueberein- kunft ausgetauscht wurden. Indem das Odium, welches dem Ausleihen von Geld auf Zinsen anklebte, das mit der Scla- verei des Schuldners endigte, allmählich verschwand, wurde das gesetzmässige Geldausleihen allgemein ohne Widerrede üblich; die Höhe des Zinsfusses war freigegeben und das angehäufte Capi- tal wurde verwerthbar. Als mitwirkende Ursache und zugleich stets zuneh- mende Folgeerscheinung kam dazu das Wachsthum einer Bevölkerung, welche unter das gemeinsame Handeln begün- stigenden Bedingungen lebte. Stadtbe- wohner kommen täglich mit einander in Berührung, können ihre Ideen und Gefühle gegenseitig austauschen, lassen sich durch rasch verbreitete Kunde schnell zusammenberufen und vermögen daher auch viel leichter zusammenzu- wirken als eine in ländlichen Bezirken zerstreute Bevölkerung. Neben all diesen directen und indirecten Folgen der in- dustriellen Entwicklung darf auch die schliessliche Einwirkung auf den Cha- rakter nicht vergessen werden, welche durch tägliche Erfüllung und Ueber- nahme von bestimmten Verpflichtungen hervorgerufen wird — eine Schulung, die Jeden lehrt, die Rechte Anderer nen gehörig zu behaupten. Solon selbst gab ein schönes Beispiel dieses Ver- haltens, das Aufrechterhaltung der per- sönlichen Rechte mit Achtung vor den Rechten Anderer verbindet; denn als sein Einfluss am grössten war, weigerte er sich doch, obwohl er dazu gedrängt wurde, ein Despot zu werden; in seinem späteren Alter aber widersetzte er sich unter Lebensgefahr der Einsetzung einer Despotie. Auf verschiedene Weise also strebte die zunehmende industrielle Thätigkeit die ursprüngliche oligar- chische Form zu erweitern und eine mehr volksthümliche Form in’s Leben zu rufen. Und obgleich diese Wirk- ungen des Industrialismus verbunden mit nachträglich sich anhäufenden an- deren Folgen dann lange Zeit durch die Usurpation der Pisistratiden unter- drückt wurden, so traten sie doch sofort wieder zu Tage, als einige Zeit nach der Vertreibung dieser Tyrannen . die Revolution des Kleisthenes erfolgte, und trugen zweifellos wesentlich dazu bei, dass nuneine volksthümliche Regierungs- form eingeführt wurde. Dieselben Ursachen waren, wenn auch in etwas geringerem Grade, bei der freiheitlicheren Gestaltung und Er- weiterung der römischen Oligarchie thä- tig. Rom »verdankt den Anfang seiner Bedeutung dem internationalen Handel«, und wie Mommszen bemerkt, »muss der Unterschied zwischen Rom und der Masse der übrigen latinischen Städte jedenfalls auf seine commercielle Lage und auf den durch letztere erzeugten Typus des Charakters zurückgeführt werden .... Rom war das Emporium der Latinischen Gauen«. Ueberdies brachte der Han- del wie in Athen, obgleich sicherlich in geringerem Umfang, eine stets zu- nehmende Ansiedlung von Fremden mit sich, denen Rechte verliehen wurden und die zusammen mit freigelassenen Sclaven und mit Clienten, die nicht so fest an ihre Patrone gefesselt waren, Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. eine industrielle Bevölkerung bildeten, deren schliessliche Aufnahme in die Bürgerschaft den Anlass zu jener Er- weiterung der ganzen Verfassung gab, welche von Servius Tullius durchgeführt wurde. Die italienischen Republiken der späteren Jahrhunderte zeigen uns gleich- falls in zahlreichen Fällen diesen Zu- sammenhang zwischen Handelsthätig- keit und einer freieren Regierungsform. Die italienischen Städte waren sämmt- lich Mittelpunkte der Industrie. „Die Kaufleute von Genua, Pisa, Florenz und Venedig versorgten ganz Europa mit den Erzeugnissen der Mittelmeerländer und des Orients; die Bankiers der: Lombardei weihten die Welt in die Geheimnisse der Finanzwissenschaft und des fremden Wechsel- verkehrs ein; italienische Künstler unter- wiesen die Handwerker anderer Länder in der höchsten Kunst der Bearbeitung von Stahl, Eisen, Bronze, Seide, Glas, Porzellan und Edelsteinen. Die italienischen Läden erregten mit ihrer blendenden Schaustellung von Luxusgegenständen die Bewunderung und den Neid der Fremden aus minder be- günstigten Ländern.“ Und blicken wir nun in ihre Ge- schichte, so finden wir, dass Handwerker- gilden die Grundlage ihrer staatlichen Organisation bildeten, dass die höheren Kaufmannselassen die Herrschaft führten, manchmal unter strenger Ausschliessung des Adels, und dass zwar äussere Kriege und innere Zwistigkeiten beständig wie- der eine engere oder mehr persönliche Regierungsform ins Leben zu rufen strebten, aber die von Zeit zu Zeit stattfindenden Revolutionen der gewerb- treibenden Bürger die volksthümliche Herrschaft wiederherstellten. Bringen wir nun damit denselben allgemeinen Zusammenhang, der sich auch in den Niederlanden und den Hansestädten ausprägte, in Verbindung — erinnern wir uns der freiheitlichen Gestaltung unserer eigenen Staatsver- fassung, welche stets mit dem Auf- schwung des Industrialismus Hand in Hand ging — beachten wir, dass die Städte mehrals das Land und die grossen 309 industriellen Mittelpunkte mehr als die kleinen den Anstoss zu solchen Ver- änderungen gegeben haben — so kann es uns nicht länger zweifelhaft bleiben, dass eine zusammengesetzte Regierung, während ihr Umfang durch eine Steige- rung der kriegerischen Thätigkeiten ab- nimmt, in demselben Maasse sich er- weitert, als die industriellen Thätigkeiten vorherrschend werden. Ebenso wie die in früheren Capiteln erreichten Resultate zeigen auch die Ergebnisse des vorliegenden Capitels, dass der Typus der staatlichen Organi- sation nicht eine Sache der freien Wahl ist. Man pflegt sich gewöhnlich so auszudrücken, als ob eine Gesellschaft sich zu einer bestimmten Zeit für die Regierungsform entschieden hätte, welche nachher dort bestand. Selbst GrorTE setzt in seiner Vergleichung zwischen den Einrichtungen des alten Griechen- lands und denen des mittelalterlichen Europa (Vol. IH, S. 10—12) still- schweigend voraus, dass eine Vorstell- ung von den Vortheilen oder Nach- theilen dieser oder jener Einrichtung das Motiv zur Einführung oder Aufrecht- erhaltung derselben gebildethabe. Allein die Thatsachen, wie sie in den vorher- gehenden Paragraphen zusammengestellt sind, zeigen uns, dass bei der Ent- stehung von zusammengesetzten nicht minder wie von einfachen Regierungen die Verhältnisse und nicht die Absichten den Ausschlag geben. Allerdings war einzuräumen, dass Unabhängigkeit des Charakters ein we- sentlicher Factor ist, aber wir schrieben diese Unabhängigkeit des Charakters dein andauernden Aufenthalteines Volkes in einem Wohngebiete zu, das die Flucht vor jedem Zwang erleichtert, und sahen nun, dass, wo eine solche Natur unter solchen Bedingungen entstanden ist, das Zusammenwirken im Kriege eine auf Gleichberechtigung begründete Vereini- gung zahlreicher Gruppen veranlasst, 310 deren Oberhäupter zur Bildung einer lei- tenden Versammlung zusammentreten. Und jenachdem die einzelnen Gruppen selbst mehr oder weniger autokratisch re- giert werden, zeigt auch die leitende Ver- sammlung einen mehr oder weniger oligar- chischen Charakter. Wir haben gefun- den, dass in Ländern, die soweit von einander abweichen wie Berggegenden, Marschen oder Schlamminseln und Dschungeln, Völker von ganz verschie- dener Race Regierungen von derselben zusammengesetzten Art zur Entwick- lung gebracht haben. Und beachten wir, dass diese sonst so verschiedenartigen Gebiete darin übereinstimmen, dass sie jeweils aus schwer zugänglichen Theilen bestehen, so können wir nicht mehr be- zweifeln, dass auf diesem Umstand vor- zugsweise die Regierungsform beruht, un- ter welcher ihre Bewohner vereinigt sind. Ausser den zusammengesetzten Re- gierungen, welche in der erläuterten Weise an den sie begünstigenden Oert- lichkeiten einheimisch sind, gibt es noch andere ähnlicher Art, die nach dem Zer- fall früherer staatlicher Organisationen auftreten. Dieselben kommen insbeson- dere da vor, wo die Bevölkerung nicht über einen weiten Bezirk zerstreut, son- dern in einer Stadt concentrirt ist und sich leicht an einem Ort zusammenfin- den kann. Ist in solchen Fällen jeder Zwang beseitigt, so kann es vorkommen, dass der Wille des Aggregats freies Spiel erhält und sich eine Zeit lang Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. jene verhältnissmässig volksthümliche Form ausbildet, mit der überhaupt jede Regierung anfängt; allein mehr oder weniger regelmässig differenziren sich dann aus der grossen Menge wenige Höhere und unter diesen herrschenden Männern erlangt dann gewöhnlich Einer auf direetem oder indirectem Wege das Uebergewicht. Zusammengesetzte Regierungen neh- men im Laufe der Zeit meistens ent- weder an Umfang ab oder zu. Sie ver- mindern sich durch kriegerische Ver- hältnisse, welche beständig die leitende Macht in den Händen Weniger zu con- centriren streben und sie bei längerer Dauer fast unfehlbar in eine Einzel- herrschaft überführen. Umgekehrt wer- den sie durch Industrialismus erweitert. Dieser wirkt anziehend auf Angehörige fremder Gemeinwesen, welche sich den durch patriarchalische, feudale und an- dere ähnliche Organisationen ihnen auf- erlegten Beschränkungen entzogen ha- ben; er vermehrt die Zahl der Re- gierten im Vergleich zu der Zahl der Regierenden; er bringtdiese grössere An- zahl in Verhältnisse, welche vereinte Thätigkeit begünstigen; er setzt an Stelle des täglich von neuem zu er- zwingenden Gehorsams die tägliche Er- füllung freiwillig übernommener Ver- pfliehtungen und die tägliche Aufrecht- erhaltung persönlicher Rechte und strebt also immer mehr die Gleichberechtigung in der Bürgerschaft herzustellen. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Grenzen unserer Wahrnehmungen im Himmelsraume. Einem Vortrage, welchen der Direc- tor der Berliner Sternwarte, Professor Dr. Förster, über diesen Gegenstand am 26. Februar 1881 im dortigen »wis- senschaftlichen Verein« gehalten hat, entnehmen wir folgende Einzelnheiten. Unter dem Ausdrucke »Himmelsraum« würden wir dabei denjenigen Raum zu verstehen haben, der sich jenseits der Grenze unserer Atmosphäre befindet, und unter dieser »Atmosphäre« die- jenige Umgebung der Erde, welche noch an den Bewegungen derselben Theil nimmt. Daraus ergiebt sich schon, dass durch die Beweglichkeit der Grenze Er- scheinungen im Himmelsraum, die uns ferner lagen, in grössere Nähe gerückt werden können, was auch thatsächlich durch die Schwärme der kleinen Meteore erwiesen ist, deren Bahn die Erde perio- disch zu durchkreuzen hat. Obschon diese Erscheinungen erhebliche Beiträge für unsere Kenntniss des Himmelsraums liefern, bietet die Wahrnehmung, welche durch die Fernwirkung ermöglicht wird, eine reichere Ausbeute. Den einen Theil des Problems löst das physikalische Ge- setz der Anziehungskraft, das in der Ebbe und Fluth des Meeres so zu sagen greifbar in die Erscheinung tritt und mit der elektrischen und magnetischen Kraft in Beziehung steht, den anderen Theil löst die Fernwirkung des Lichts, mit der wir stufenweis in die Unermess- lichkeit des Raums vordringen. Durch diese Fernwirkungen sind die Grenzen unserer Wahrnehmungen bedingt, und dieselben hängen demnach auch von der Vervollkommnung der Hilfsmittel ab, deren wir uns bedienen können. Nun würde ein normales Auge im Stande sein, bei vollkommener Durchsichtigkeit der Atmosphäre den Abstand zweier Sterne noch zu unterscheiden, wenn deren scheinbare Entfernung von ein- ander auch nur den dreissigsten Theil des scheinbaren Durchmessers der Mond- scheibe betrüge. In der Atmosphäre, wie sie wirklich ist, darf indessen der Abstand nur ein Zehntel dieses Durch- messers betragen, sonst fliessen die ge- trennten Erscheinungen in einander. An dieser Thatsache, bei der auch eine Eigenthümlichkeit des Auges in der un- bewussten Bewegung des Bildes der Netzhaut mitwirkt, muss man festhalten, wenn man das unermessliche Feld wür- digen will, was uns die Fernröhre er- schlossen haben. Wenn das unbewaff- nete Auge Abstände vom zehnten Theil der Mondscheibe im Himmelsraum un- terscheiden kann, so wird man mit einem Fernrohr von tausendfacher Ver- grösserung an der Mondscheibe, die einen wirklichen Durchmesser von 450 geographischen Meilen hat, trotz ihrer grossen Entfernung von der Erde, noch Punkte unterscheiden können, die nur 90 Meter von einander abstehen. Von 312 einzelnen Orten der Erde, die für die Beobachtung besonders günstige Ver- hältnisse bieten, dürfte es sogar mög- lich sein, die Unterscheidung auf noch geringere Abstände sicherzustellen. In- dessen liefern schon die Abstände von 100 Metern ein so reiches Material, dass Jahrzehnte erforderlich sein wer- den, um alle Beobachtungen zu regi- striren. Gegenwärtig ist erst der An- fang einer topographischen Aufnahme der Mondoberfläche gemacht, für die, beiläufig bemerkt, die eigenartige Licht- und Schattenwirkung, die auf dem Monde beobachtet wird, ein wesentliches Hilfs- mittel bietet. Begeben wir uns in eine grössere Ferne des Himmelsraumes, so begegnen wir unseren Nachbarplaneten Venus und Mars, von denen die erstere 120 Mal, der letztere 150 Mal so weit von uns entfernt ist, als die mittlere Entfernung des Mondes beträgt. Unter denselben Voraussetzungen würden auf der Venus Abstände von 12,000, auf dem Mars Abstände von 15,000 Metern zu unterscheiden sein. Bei dem Abstand der Sonne von unserer Erde würden erst Entfernungen von 40,000 Metern die Möglichkeit der Unterscheidung bie- ten. Was die Venus anbetrifft, so sind bisher wenig Einzelnheiten entdeckt, „nur Thalsenkungen sind nachweisbar, dagegen ist es gelungen, von der Mars- oberfläche detaillirte Karten herzustellen. Mit der Sonne beginnt schon der Ma- krokosmos und es ist unnöthig, auf wei- tere Entfernungen zu exemplificiren. Wenn nun gefragt wird, wie gross ein leuchtendes Objekt sein müsse, um im Himmelsraum erkennbar zu sein, so giebt es nach dieser Richtung keine Grenze; es kommt alles auf die Stärke des Lichts an, das uns noch in völlig gestaltloser Wahrnehmung zugeführt * Wir möchten hier zur Ergänzung unserer neulichen Mittheilung über die Pho- tographie der Nebelflecke (Kosmos IX, 8.135 die Mittheilung anschliessen, dass es nach einer der Pariser Akademie am 18. April ce. | Kleinere Mittheilungen und Journalschau. werden kann. Die Monde des Mars werden aufeinen Durchmesser von 9000 Meter geschätzt und diese Schätzung resultirt lediglich aus einer Messung der Lichtmengen, die sich aus der Ver- gleichung der Intensität der Reflexe ergiebt, welche das Sonnenlicht unter gleicher Voraussetzung auf dem Planeten Mars wie auf seinen Monden erzeugt. In ähnlicher Art schätzt man die Grösse der Asteroiden, an denen die Messung des Reflexlichtes zeigt, dass der Durch- messer der meisten nur wenige Meilen betragenkann. Auf weitere Entfernungen hin beschränken sich die Wahrneh- mungen auf die Lichtintensivität und auf die Schlüsse, die aus der Verän- derung und Zusammensetzung des Licht- stoffes auf die Entwickelung und Ge- staltung und auf die Struktur der Sternsysteme sich ziehen lassen. Das führt uns zu den Nebelflecken, welche die fernsten Himmelsräume erfüllen, theils wie chaotische Wolkenmassen, theils in Strukturen, die das Vorhan- densein von Spiraldrehungen in unge- heurer Stärke und von einer Geschwin- digkeit anzeigen, welche Alles, was uns bekannt ist, unermesslich übersteigen. Es gehören Monate dazu, um auch nur die kleinste Veränderung erkennbar zu machen. Man hat bei diesen Nebel- flecken den Eindruck, als ob eine in schnellster Bewegung befindliche Masse plötzlich erstarrt sei. Eine sofortige und unmittelbare Veränderung der Be- wegung ist völlig ausgeschlossen. Um die Erforschung dieses fernsten Himmels- raums hat sich die Spektralanalyse ver- dient gemacht, merkwürdiger Weise sind auch trotz des schwachen Lichts mit der photographischen Aufnahme nicht ungünstige Versuche angestellt worden*. Schliesslich werden noch einige Bemerk- eingegangenen Mittheilung von H. Draper demselben durch eine Exposition von hundert- undvierzig Minuten gelungen ist, Sterne im Nebel des Orions zu photographiren, deren Grösse 14,1, 14,2 und 14,7 nach der Poyson’- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. ungen über den Zustand unserer Atmo- sphäre von Interesse sein. Wir haben in derselben warme und kalte Strö- mungen, die über einander liegen und Schwankungen erzeugen, welche von den Astronomen als »Unruhe der Luft« be- zeichnet werden und nicht mit den Windströmungen verwechselt werden dürfen, denn diesemechanische Bewegung kann unter Umständen der Beobachtung sogar förderlich sein. In unserem Klima giebt es in der Ebene und auf nie- drigen Bergpartien nur wenige Nächte, in denen die Wirkung des Fernrohrs keiner Störung ausgesetzt ist. Am günstigsten für die astronomische Be- obachtung sind die an der Grenze der heissen Zone liegenden Länder situirt, vornämlich die Küsten des Mittelländi- schen Meeres. Diese Ungunst darf uns indessen nicht bestimmen, auf die Con- currenz zu verzichten. Im Uebrigen aber liegt bereits, selbst wenn die Beobach- tung des Himmelsraumes nicht mehr ansehnlich erweitert werden könnte, eine solche Fülle des Materials vor, dass auch der fernsten Zukunft ein schätz- bares Erbe hinterlassen werden kann. Trotzdem hat das Hinausstreben über die erreichte Grenze einen hohen Werth an sich; es befruchtet das Alte und schlägt von dem, was bekannt, Brücken nach‘ weiteren Vorposten des Unermess- lichen. Und diese Thätigkeit an der orga- nisirten Schätzung des Weltalls wird Vielen, wenn nicht zum Beruf, so doch zur Lebensfreude gereichen können. Die ältesten Blüthenpflanzen. In den Sitzungen der Pariser Aka- demie vom 23. und 30. Mai 1881 leg- ten G. DE SAarortTA und A. F. Marıon schen Stufenleiter beträgt. Die Photographie hat also hier Sterne wiedergegeben, welche auf.der Grenze der Sichtbarkeit für das dabei angewendete Teleskop von neun Zoll stehen, ui man darf beinahe hoffen, dass sie selbst Kosmos, V, Jahrgang (Bd. IX). 315 eine Arbeit vor über die fossilen Gat- tungen Williamsonia und Goniolina, wel- che für jetzt die ältesten Angiospermen darstellen, deren Fruktifikationsorgane aufgefunden worden sind.” Der Stengel trägt bei Williamsonia an seiner Spitze die Reproduktions-Organe, unter denen man zwei verschiedene, ein diöcisches Gewächs andeutende Formen, unter- scheiden kann. Man bemerkt in beiden Fällen eine vielblättrige Hülle, welche” durch die Krümmung der Brakteen, aus denen sie gebildet ist, kuglig er- scheint. Die Theile der männlichen Blüthen- hülle scheinen alle in derselben Höhe zu stehen, sie sind verlängert, an der Spitze verschmälert und neigen dort zusammen. In der Hülle erhebt sich eine kegelförmige Achse, deren Basis von einer kreisrunden Zone mit radia- len Streifungen umgeben ist. Der äus- sere Rand dieser Zone zeigt sich, wenn man ihn blos legt, mit einem Gefüge sehr kleiner Felder von unregelmässig hexagonem Umriss bedeckt, welche eben- sovielen Pollenzellen zu entsprechen scheinen. Diese Basilarzone würde einem sterilen und ausdauernden Theile des Androphorum entsprechen, bei welchem ehemals der gesammte kegelförmige Träger, mit einer filzigen Schicht, aus den Staubfäden und ihren Anhängseln bedeckt war, durch Stellung und Ver- theilung an die männlichen Blüthen der Rohrkolben (Typha) erinnernd. Der weibliche Blüthenstand Williamsonia ist mit derselben kugel- förmigen Hülle, wie der männliche ver- sehen, nur sind Brakteen ein wenig kürzer. Das in dieser Hülle ent- haltene, bei der Reife sicher hinfällige Organ bestand in einem knäuelförmigen Receptaculum von mehr oder weniger von seine ‚Sterne, deren Licht zu schwach ist, um in einem bestimmten Instrumente Eindruck auf unser Auge zu machen, bei hinreichend langer Exposition wiedergeben wird. 99 314 kugliger Form. Die centralen am Platze gebliebenen Blätter der Hülle bezeugen durch ihre Dicke und lederförmige Con- sistenz die primitive Natur dieser Bild- ung. In ihrer Mitte steht der kugel- förmige Blüthenboden der auf seinem obern Theile mit Carpell-Feldern be- deckt ist, und man erkennt an dem untern Theile des Receptaculums das fasrig holzige Gewebe, aus welchem die Achse gebildet war. Die Ueberreste der zweiten Gattung (Goniolina d’Orbigny) stellen eiförmige Körper in Form am obern Ende ab- gerundeter Zapfen dar, die von einem cylindrischen Stiel getragen werden. Die Oberfläche der Goniolinas ist mit in Spirallinien gestellten sechseckigen Fel- dern von völliger Regelmässigkeit be- deckt. Die Grösse dieser Felder ver- mindert sich an den der Insertion des Stieles näheren Stellen. Diese Fossile wurden früher zu den Echinodermen gerechnet und unter dem Namen Goniolina geometrica als Cri- noiden beschrieben. Wenn aber die Goniolinas wirkliche Crinoiden wären, so müsste sich ihr Stiel aus einer An- zahl von Gliedstücken zusammensetzen, und der Kelch würde durch weniger zahlreiche Platten gebildet werden, die ausserdem nicht in Spirallinien, sondern in alternirenden Querreihen angeordnet sein müssten. (Comptes Rendus 23. et 30. Mai 1881.) Westindische Tiefsee-Krebse. Professor ALPHONSE MILNE-EDWARDS hat über die auf einer Expedition des nordamerikanischen Forschungsschiffes »Blake« gefangenen Dekapoden der Westindischen Tiefsee eine Reihe von Studien angestellt, über deren Re- sultate er in der Sitzung der Pariser Akademie vom 21. Februar 1881 einen summarischen Bericht vorlegte. (Comp- tes Rendus 1881, p. 384.) Wir ent- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. nehmen daraus folgende Einzelnheiten: Unter den neu gesammelten Tiefsee- formen des Antillenmeeres und mexi- kanischen Meerbusens befinden sich nicht weniger als 41 Species aus der Fami- lie der Galatheiden, von der man bis- her glaubte, sie sei in den amerikani- schen Gewässern gar nicht vertreten. Die meisten. davon müssen unter neue Gattungen gebracht werden, nur je 2 und 11 Arten gehören zu den weit verbreiteten Gattungen Galathea und Munida. Die Galatheiden gehen bis zu grossen Tiefen herab, und aus mehr als 2000 Faden wurden Arten einer neuen Gattung (Galathodes) heraufge- zogen, deren Augen stark reducirt und nur noch unvollständig facettirt waren. Wahre Krabben kommen in sehr gros- sen Tiefen nicht vor; zahlreiche klei- nere Arten wurden bis ungefähr 250 Faden tief gefunden und bei ungefähr 400 Faden wurde eine neue Form, die mit der bekannten europäischen Gat- tung Gonoplax verwandt ist, gefunden. Dieses von Minn#-EpwArps unter dem Namen Bathyplax beschriebene Thier ist blind, indem seine Augen atrophisch und der Facetten beraubt sind, selbst die Augenhöhlen sind rudimentär. Da- gegen wimmelt es in den grössern Tie- fen von Halbschwänzern und Lang- schwänzern. In ungefähr 1800 Faden war die merkwürdige Gattung Wälle- moesia vertreten; ihre Arten sind an- scheinend sehr nahe den bekannten Eryon-Arten der jurassischen Schichten verwandt, aber die von MiLnE-EDWARDS untersuchten Tiefsee-Formen waren blind. Die interessantesten der neu gefundenen Krebs-Typen sind diejenigen, welche zu der Familie der Paguriden gehören, welche durch die bekannten Einsiedler- Krebse repräsentirt werden, die obwohl an Arten zahlreich, alle einander sehr ähnlich sind und keine Anzeichen einer Verwandtschaft mit den Langschwän- zern, d. h. mit Garneelen, Flusskrebsen oder Hummern darbieten. Bei den west- Kleinere Mittheilungen und Journalschan. indischen Dreggungen schienen indessen solche Zwischenformen im Ueberflusse vorhanden zu sein. So wird z. B. Py- locheles Agassizii als ein Verbindungs- glied zwischen den Einsiedlerkrebsen und den Thalassiniden beschrieben; das Abdomen ist, statt weich und unsymmetrisch wie bei den ersteren zu sein, aus festen, regelmässigen Ringen zusammengesetzt, und durch eine symmetrische Flosse begrenzt. Dieses Thier lebt in Löchern, deren Eingang es mit seinen Scheeren ver- schliesst. Bei Mixtopagurus ist das Ab- domen mehr auf der rechten, als auf der linken Seite entwickelt, und in sie- ben Ringe getheilt, von denen die ersten fünf unvollkommen verkalkt, die letzten beiden aber gross und hart sind. Bei Ostraconotus ist das Kopfbrustschild lederartig und das Abdomen so klein, dass das Weibchen die Beine des vier- ten Paares braucht, um die Eier fest- zuhalten; der letzte Abschnitt ist hier- bei allein zu einer Palette erweitert, die den Eiern Raum gewährt. Spiro- pagurus und Catapagurus haben ein sehr kleines, gewundenes Abdomen, welches ‚die Thiere in kleinen Schneckenschalen unterbringen, wobei es sonderbar mit dem viel grösseren Kopfbruststück und den Beinen contrastirt, welche aussen bleiben. Eupagurus discoidalis bewohnt die röhrenförmigen Gehäuse von Den- talium, deren Mündung er mit seinen Scheeren schliesst. Xylopagurus bewohnt Löcher in Holzstücken, Rohr- und Bin- sen-Fragmenten. Die Höhlen sind an beiden Enden offen und der Kruster betritt nicht, nach der Sitte der Ein- siedlerkrebse, seine Wohnung mit dem Schwanz voran, sondern kriecht hinein und verschliesst die eine Oeffnung mit seinen Scheeren, und die andere mit dem Ende des Abdomen, welches zu einem Deckelschilde umgewandelt ist. Unter den Dromiiden finden sich zahl- reiche Formen, die zu Homola und seinen Verwandten hinüberneigen, und die Gat- - schiedenem 315 tung Homola selbst wird durch zwei Arten vertreten, von denen eine mit der Mittelmeer-Form H. spinifrons iden- tisch zu sein scheint, und ein schla- gendes Beispiel von der weiten Ver- breitung von Tiefsee-Thieren liefert. Die Gattung Cymopolia, von welcher eine Art das Mittelmeer bewohnt, be- sitzt acht im Caribischen Meer. Ebenso findet sich die Gattung Ethusa, von der man annahm, dass sie dem Mittel- meere ausschliesslich angehöre, auch in den amerikanischen Meeren; MiuLne- EpwaArps hat eine Art von den Flo- rida-Riffen unter dem Namen E. ame- ricana beschrieben, bemerkt aber, dass dieselbe von E. Mascarone aus dem Mittelmeer nur durch Charaktere von geringer Wichtigkeit unterschieden sei. Eine genauere Beschreibung der er- wähnten Kruster hat MiwLne-EnwArnps in dem Bulletin of the Museum of Comparative Zoology in Harvard Col- lege (Vol. VII. Nr. 1) gegeben. Es ist unmöglich, den Werth sol- cher Resultate, wie der obigen zu über- schätzen, und MiLne-EpwArps hat ganz Recht, auf die Tragweite und den Ein- fluss hinzuweisen, welche solche Unter- suchungen auf unsere Ansichten über das System der Natur haben müssen. Als ein Beispiel hiervon deutet er dar- auf hin, dass die vorjährige Expedition des »Travailleurs in der Bai von Bis- caya die Existenz zweier verschiedener Faunen in der Nachbarschaft der Küste und in der Tiefsee erwiesen hat, welche weder derselben Epoche (geologisch ge- sprochen) noch demselben Klima an- gehören, und er richtet speciell die Aufmerksamkeit der Geologen auf diese Thatsache, welche beweist, dass sich an demselben Tage und in denselben Mee- ren völlig gleichzeitige Schichten bilden, die dennoch Thierreste von höchst ver- Charakter enthalten. Die Küsten-Ablagerungen werden die Typen höherer Organisationen enthalten; die in grossen Tiefen gebildeten Ablagerungen 99* 316 dagegen werden Thiere von einem äl- teren Oharakter enthalten, von denen einzelne unleugbare Verwandtschaften mit Fossilien der Secundärzeit darbie- ten, während andere den Larvenformen der heute lebenden Arten gleichen. Der Einfluss einer Stimmgabel auf eine «artenspinne wurde im letzten Herbst von C. V. Boys im Physikalischen Laboratorium von South Kensington studirt. Indem er eine tönende A-Gabel leicht mit einem Blatte oder andern Stützpunkte des schönen geometrischen Gewebes oder einem Theile des Gewebes selbst in Be- rührung brachte, fand er, dass die Spinne, wenn sie im Centrum des Netzes sass, sich schnell nach der Richtung der Stimmgabel herumwendete, und mit ihren Vorderfüssen umhertastete, um den radialen Faden, der die Schwing- ung herleitete, zu finden. Nachdem sie sich über diesen Punkt vergewissert hatte, schoss sie eiligst an jenem Faden dahin, bis sie entweder die Gabel selbst, oder einen Knotenpunkt von zwei oder mehr Fäden erreichte, von welchem sie sofort, wie das erste Mal feststellte, welcher der rechte sei. Wenn die Gabel nach dem Herankommen der Spinne nicht entfernt wird, scheint sie den- selben Zauber wie irgend eine Brumm- fliege auf sie zu üben, denn die Spinne ergreift sie, umfasst sie und läuft um die Schenkel der Gabel, so oft ein Ton erzeugt wird, indem sie niemals durch die Erfahrung zu lernen scheint, dass auch noch andere Dinge ausser ihrer natürlichen Nahrung summen können. Wenn die Spinne sich in dem Augen- blick, wo die Gabel dem Gewebe appli- eirt wird, nicht im Centrum desselben befindet, weiss sie nicht, welchen Weg sie einzuschlagen hat, bis sie im Gen- trum gewesen ist, um sich zu verge- wissern, welcher radiale Faden vibrirt, Kleinere- Mittheilungen und Journalschau. wenn sie sich nicht zufällig mit dem betreffenden von der Gabel berührten Faden, oder einem seiner Stützfäden in Berührung befindet. Wenn nun die Gabel, nachdem man eine Spinne bis zum Rande ihres Ge- webes gelockt hat, weggezogen und dann allmählig genähert wird, so erkennt die Spinne ihre Gegenwart und Rich- tung und bewegt sich so viel als mög- lich nach der Gabel hin. Wenn aber eine tönende Gabel einer Spinne all- mählig genähert wird, ohne dass sie vorher durch Erschütterung des Netzes sestört wurde, als sie noch in der Mitte des Netzes auf der Wacht sass, so ‚lässt sich die Spinne anstatt im Netze zu suchen, sofort an einem Faden herab. Wird nun unter diesen Um- ständen ‘irgend ein Theil des Netzes mit der Gabel berührt, so bemerkt es die Spinne, klimmt den Faden wieder empor und erreicht die Gabel mit wun- derbarer Schnelligkeit. Die Spinne ver- lässt niemals das Centrum des Netzes ohne einen Faden, an welchem sie zu- rücklaufen kann. Wenn man diesen Faden, nach dem Herauslocken einer Spinne mit einer Scheere durchsehneiz, det, so scheint die Spinne nicht im Stande, zurückzugelangen, ohne dem Netze beträchtlichen Schaden zuzufügen, indem sie dabei gewöhnlich die kle- brigen Parallelfäden des Netzes in Grup- pen von drei und vier zusammenleimt. Vermittelst einer Stimmgabel kaun eine Spinne veranlasst werden, etwas zu fressen, was sie sonst verschmähen würde. Boys nahm eine Fliege, welche er in Paraffin getaucht hatte, und setzte sie auf das Netz, worauf er die Spinne durch Berührung der Fliege mit der tönenden Stimmgabel anlockte. Sobald die Spinne zu dem Schlusse gekommen war, dass die Fliege keine passende Nahrung für sie sei, und sie verlassen hatte, berührte er die Fliege wieder, dies hatte denselben Erfolg wie vorher, und indem der Experimentator die Fliege Kleinere Mittheilungen und Journalschan. immer wieder mit der Stimmgabel hbe- rührte, so oft die Spinne sich anschickte, sie zu verlassen, konnte er die Spinne durch dieses Mittel veranlassen, eine grosse Portion der Fliege zu fressen, Den wenigen Hausspinnen, welche Boys aufihr Verhalten gegen die Stimm- gabel prüfte, schien dieselbe nicht an- lockend, sie flohen vielmehr, als wenn sie erschreckt worden wären, eiligst in ihre Schlupfwinkel zurück. Die angeb- liche Vorliebe der Spinnen für die Mu- sik scheint einigen Zusammenhang mit diesen Beobachtungen zu haben, und der Experimentator hat sie mitgetheilt, weil sie vielleicht den zoologischen Be- obachtern einen bequemen Weg an- deuten, in dieser Richtung weitere Nachforschungen anzustellen. (Nature Nr. 581.) Fortpflanzung und Gewohnheiten der Callichthys-Arten. In der Sitzung der Pariser Akade- mie vom 6. Dezember 1880 legte CAr- BONNIER einige interessante Beobacht- ungen über Callichthys fasciatus, eine Welsart der südamerikanischen Flüsse, ihre Fortpflanzung betreffend, vor. Im Augenblicke der Befruchtung nähert das Weibchen seine beiden Bauchflossen einander, in der Art zweier geöffneter Fächer, deren Ränder man vereinigt, und bildet eine Art Sackgasse, in dessen Grunde sich die Oeffnung der Eierstöcke befindet. Die befruchtenden Elemente des Männchen werden so in dieser Art von häutigem Sack aufgenommen, und wenn die Eier einige Augenblicke darauf ankommen, werden sie sich in einer reich mit Spermatozoiden versehenen Flüssigkeit gebadet finden. Es findet immer nur die Ablage von 5—6 Eiern mit einem Male statt, welche das Weib- chen während einiger Minuten in der eben beschriebenen Tasche bewahrt, darauf verlässt es den Boden, um einen 317 für ihre Entwickelung günstigen Ort aufzusuchen. Seine Wahl richtete sich in dem Aquarium, in welchem diese Beobachtungen angestellt wurden, auf eine wohl erleuchtete Glaswandung, oder einen aus dem Wasser empor- A . ragenden Stein. Es reinigt daselbst mit der Schnauze einen wenigstens zehn bis fünfzehn Centimeter unter der Oberfläche des Wassers helegenen Raum, öffnet dann, indem es seinen Bauch gegen diesen Platz wendet, seinen Sack und befestigt seine Eier, welche sich, ver- möge der sie umhüllenden Klebrigkeit, leicht anheften. Wenn alle Eier auf diese Weise untergebracht sind, be- ginnen die Annäherungen der Männchen von Neuem und die Gelege folgen ein- ander vierzig bis fünfzig Mal am Tage: so dass die Totalzahl der Eier sich auf ungefähr 250 Stück erhebt. Ein ferneres interessantes Faktum liegt noch in der bei dieser (Cal- lichthys-Art beobachteten Veränderung der Fortpflanzungszeit. In La Plata fällt sie in die Monate Oktober und November. Nach Europa gebracht, hat sie ein Jahr vorübergehen lassen, ohne sich fortzupflanzen. Im Jahre 1575 haben dann die Gelege im Monat August und September stattgefunden. Die Spröss- linge dieser Generation haben 1580 im Monat Juni gelaicht. Man ersieht, dass dabei eine Anpassung an unser Klima stattgefunden hat, dessen Temperatur- verhältnisse im umgekehrten Sinne sich ändern. Die jungen Fische entwickeln sich bis zur Schwimmfähigkeit in un- gefähr 12—13 Tagen, aber ihre fernere Entwickelung geschieht vergleichsweise langsam, da sie erst in zwei Jahren auswachsen und fortpflanzungstüchtig werden. (Comptes Rendus 6. Dezember 1880.) Ueber die Wanderungen einer andern brasilianischen Art (Callichthys asper) berichtet Joswrmt Mawsox von Bahia: Während der Regenzeit lebt der Fisch in Süsswassertümpeln. Wenn die Teiche 318 in der trockenen Jahreszeit austrocknen, vergraben sie sich im Schlamme und bleiben darin bis zur Wiederkehr der Regenzeit im folgenden Jahr. Man sagt ihnen Festlands-Exkursionen von einem Tümpel zum andeın nach, und will sie oft unterwegs getroffen haben. MAwson, der einige Exemplare in einem Behälter hielt, sah, dass sie auf feuchtem Boden sehr gut fortkommen, wenn er nicht zu uneben war. In einer Nacht fand er ein Exemplar in seinem Hause aus- gewandert, es lag auf der Seite, die Bauch- und Brustflossen seitlich aus- gestreckt, und schnellte sich in Pausen von zwanzig Sekunden empor, während es sich in der Zwischenzeit noch durch Hin- und Herwinden forthalf, und wie es schien, an abschüssigen Stellen mit den Flossen festhielt. Er beobachtete es zwei Stunden lang und sah es sich in dieser Zeit 90 Meter weit bewegen. Wie es schien, suchte das Thier nach Schlamm und nicht nach Wasser, denn etwas auf seinen Weg gegossenes Was- ser kreuzte es. Am Morgen war es todt. «(Science 12. Dezember 1880.) Gehören die Seedrachen einer Nebenlinie der lungenathimenden Wirbelthiere an? In einem Vortrage über den Ur- sprung der Landthiere, welchen Prof. CAarı Voer im Genfer National-Institut gehalten hat und der im Uebrigen keine neuen Thatsachen oder Gedanken ent- hält, wendet sich Carı Vor gegen die neuerdings von MArsn* gestützte An- sicht GEGENBAUR’s, dass die Seedrachen mit ihren zuweilen sechs- bis sieben- zehigen Ruderfüssen, einem frühzeitig von dem fünfzehigen Haupttypus der höhern Wirbelthiere getrennten Neben- typus angehören sollen. »GEGENBAUR, dem sich HAECKEL an- schliesst,« sagt Vocr, »sieht in diesen *= Kosmos Bd. VII S. 79. Kleinere Mittheilungen und Journalschan. Thieren Glieder. des Stammbaumes der Wirbelthiere, welche sich sogar schon vor den Amphibien davon getrennt hät- ten.« »Die Amphibien sowohl als die drei höhern Wirbelthierklassen,« sagt HAECKEL, »stammen alle von einer ge- meinsamen Stammform ab, welche an jedem Beine nur fünf Zehen oder Fin- ger besass. Die Seedrachen dagegen besitzen (entweder deutlich entwickelt, oder doch in der Anlage des Fuss- skelettes ausgeprägt) mehr als fünf Fin- ger, wie die Urfische. Andererseits ha- ben sie Luft durch Lungen, wie die Dipneusten geathmet, trotzdem sie be- ständig im Meere umherschwammen. Sie haben sich daher vielleicht‘ (im Zusammenhange mit den Lurchfischen ?) von den Selachiern abgezweigt, aber nicht weiter in höhere Wirbelthiere fort- gesetzt. Sie bilden eine ausgestorbene Seitenlinie« **. »Diesen Ansichten ‚« sagt Vor, »muss ich aus mehreren Gründen wider- sprechen. Zunächst haben die Enalio- saurier durchaus nicht wie die Di- pneusten geathmet. Bei den letzteren findet man stets als Beweis ihrer dop- pelten Athmungsweise, vollkommen er- haltene und erkennbare Kiemenbögen, während man- bei den Enaliosauriern vergeblich selbst nach Spuren dieser Bögen suchen würde. Diese Thiere ha- ben also nur durch Lungen geathmet, und wenn man die Dinge genau be- trachtet, muss es überraschend erschei- nen, dass Typen, welche jede Spur von Kiemen verloren haben, von kiemen- tragenden Thieren erzeugt worden sein sollen, von andern Typen, bei denen diese selben Kiemen sich erhalten haben. Wir finden zweitens wahre, aus- gesprochen fünfzehige Amphibien, echte Batrachier in viel ältern Schichten, als diejenigen, welche die Ueberreste der Enaliosaurier enthalten. GAupry hat ** Natürliche Schöpfungsgeschichte VII. Aufl, S. 546, { Kleinere Mittheilungen und Journalschau. kürzlich Fussspuren salamanderartiger Thiere entdeckt, welche er Protriton genannt hat, und welche aus den stein- kohlenführenden Schichten von Autun stammen. Die pentadaktylen Amphi- bien existirten also lange Zeit vor den hexa- und heptadaktylen Enaliosauriern. Endlich, und das ist ein wesent- licher Punkt, sind nicht alle Enalio- saurier mit mehr als fünf Zehen ver- sehen, es sind im Gegenheil die älte- sten von Owen Sauropterygier genann- ten Seedrachen, zu denen ausser den Plesiosauriern des Lias die Notho- saurier und andere Arten des bunten Sandsteins und des Muschelkalks ge- hören, welche einfach fünfzehig sind, während die viel jüngeren Ichthyosau- rier, welche erst im Lias erscheinen, wirklich mehr als fünf Zehen haben. Die Paläontologie zeigt uns dem- entsprechend eine Reihe von Glieder- entwickelungen bei den Enaliosauriern, die diametral den von GEGENBAUR und HAECKEL angenommenen zuwiderlaufen ; die pentadaktylen Amphibien erscheinen zuerst, und ihnen folgen gleichfalls pen- tadaktyle Sauropterygier, erst ganz zuletzt erscheinen die polydaktylen Ich- thyopterygier. Diese Thatsachen können durch keine hypothetische Construktion widerlegt werden. Aber diese Thatsachen erklären sich, wenn wir sehen, wie bei den ÜCetaceen durch die Anpassung an das flüssige Nährelement das ganze Glied sich durch die Verkürzung des Armes und Vorder- armes, durch die Lösung der Hand- wurzel in eine gewisse Zahl knochiger Scheiben von ähnlicher Form und durch die Vergrösserung der Zahl der Pha- langen (nicht der Finger) umformt. Diese Tendenzen verrathen sich mehr und mehr und schrittweise bei den Enaliosauriern. Bei den ältesten, den Nothosauriern, sind noch Radius und Cubitus des Arms, Tibia und Fibula des Beins verlängerte cylindrische Kno- chen, während sie bei den Plesiosauriern 319 sich schon verkürzen, bis bei den Ich- thyosauriern alle diese Knochen schei- benförmig werden, und sich von den die Handwurzel, Mittelhand und Finger bildenden Scheiben nur durch ihre Dicke und Stellung unterscheiden. Wir greifen also, indem wir diese Abstuf- ungen sehen, dass der Schwimmfuss der Ichthyosaurier nur das Resultat einer allmäligen Anpassung an das flüs- sige Mittel ist, und dass der penta- daktyle Fuss eines Landthieres durch diese Anpassung schliesslich die poly- daktyle Ruderflosse eines Wasserbewoh- ners geworden ist. (Revue Scientifique 12. März 1881.) be- Rückenmarkshöhle, Becken und Füsse der Stegosaurier. (Mit 4 Holzschnitten,) Zu den Mittheilungen, welche Pro- fessor OÖ. C. MarsH früher über diese höchst merkwürdige Gruppe jurassischer Dinosaurier veröffentlicht hatte (vergl. Kosmos Bd. VII, S. 213— 215), fügt er jetzt (American Journal of Science, February 1881, p. 167 ff.) einige wei- tere Notizen, die ein grosses Interesse beanspruchen. GehirnundRückenmark. Schon im obigen Artikel wurde erwähnt, dass Stegosaurus ungulatus von allen bekann- ten Landwirbelthieren das kleinste Ge- hirn besass. Wir sehen Abbildungen dieses Gehirns in etwa '/a der natür- lichen Grösse in den beistehenden Fi- guren 1 und 2. Bei der späteren Unter- suchung eines andern Individuums der- selben Gattung fand Marsıı eine sehr Fig. 1. Gehirnabdruck von Stegosaurus angulatus Marsn. Seitenansicht; el. Riechlappen ; e. Ge- hirnhemisphären ; op. Sehhügel; on. Sehnerv; cb. Kleinhirn; m. Verlängertes Mark. 320 weite Kammer im Kreuzbein, die durch eine Erweiterung des Rückenmarkkanals gebildet wird. Diese Kammer ist von Gestalt eiförmig und gleicht stark der Gehirnhöhle im Schädel, nur dass sie sehr viel grösser ist, und sogar min- destens zehnmal die Grösse der Höhlung, welche das Gehirn enthielt, beträgt. Dieser merkwürdige Charakter führte Fig. 2. Derselbe Gehirnabdruck wie oben gesehen. Bedeutung der Buchstaben wie in Fig. 1. Fig. 3. Abdruck der Rückenmarkshöhlung im Kreuzbein von Stegosaurus angulatus. Seitenansicht. «. Vor- derende; f. f‘. .f'‘. Oeffnungen zwischen den ein- zelnen Wirbeln desselben; p. Ausgang des Rücken- markkanals im letzten Kreuzbeinwirbel. . Kleinere Mittheilungen und Journalschan. Fig. 4. Derselbe Abdruck von oben gesehen. Bedeutung der Buchstaben wie in Fig. 9. Fig. 5. Umrisse von Querschnitten durch das- selbe Gehirn (5b) und dieselbe Kreuz- beinhöhle (8). Alle Figuren in !/s der natürlichen Grösse. zu der Untersuchung der Kreuzbeine einiger anderen Individuen von Stego- saurus, und es fand sich, dass sie sämmtlich eine ähnliche weite Kammer an derselben Stelle besassen. Die Ge- stalt und Verhältnisse dieser Höhlung sind in Figur 3 und 4 abgebildet, wel- che einen Abguss des gesammten, im Kreuzbein enthaltenen Rückenmarkka- nals wiedergeben. Die weite gewölbte Kammer ist, wie man bemerken wird, hauptsächlich im ersten und zweiten Kreuzbeinwirbel enthalten, obgleich der Kanal auch hinter dieser Höhlung be- trächtlich erweitert ist. Die in Fig. 5 _ dargestellten Querschnitte sind in bei- den Fällen an der Stelle der grössten Querdurchmesser gemacht worden. Der merkwürdigste Charakter in dieser hintern Gehirnhöhle, wenn man sie so nennen kann, ist ihre Grösse im Vergleich mit derjenigen des eigent- lichen Gehirnes dieser Thiere, und in dieser Beziehung steht sie ohne Paral- Kleinere Mittheilungen und Journalschan. lele da. Allerdings ist eine deutliche Anschwellung im Rückenmarksstrang verschiedener lebender Thiere in den Brust- und Beckenregionen, wo die Ner- ven für die vorderen und hinteren Glied- maassen ihren Ursprung haben, heob- achtet worden, und bei ausgestorbenen Thierformen, besonders bei Dinosauriern sind einige bemerkenswerthe Fälle ver- zeichnet worden, jedoch nichts bisher bekannt geworden, was der Kreuzbein- Erweiterung bei Stegosaurus nahe käme. Die Erklärung kann ohne Zweifel zum Theil in der starken Entwickelung der hinteren Gliedmaassen bei dieser Gat- tung gefunden werden; aber bei einigen verwandten Thierformen, bei Campto- notus zum Beispiel, wo das Missver- hältniss zwischen den vorderen und hinteren Gliedmaassen nahezu ebenso ausgesprochen ist, erscheint die Kreuz- bein-Erweiterung des Rückenmarkstran- ges nicht den vierten Theil so gross, als bei Steyosaurus. Es ist eine interessante Thatsache, dass bei jungen Individuen von Steyo- saurus die Kreuzbeinhöhlung verhältniss- mässig grösser ist als bei erwachsenen, was einem bekannten Gesetze des Ge- hirnwachsthums entspricht. Die physiologischen Wirkungen eines hinteren Nerven-Öentrums, welches so viele Male grösser ist als das Gehirn selbst, bilden ein wichtiges Objekt, welches an dieser Stelle einer näheren Erörterung nicht bedarf. Es ist in- dessen einleuchtend, dass bei einem so begabten Thier das Hintertheil domi- nirend sein musste. Hinsichtlich des Beckengürtels ist zu bemerken, dass das Kreuzbein aus vier wohlverknöcherten Wirbeln be- steht. Bei völlig erwachsenen Thieren mag der Beckengürtel noch durch das Hinzutreten von einem oder mehreren Lendenwirbeln verstärkt worden sein. Die Centra der Kreuzbeinwirbel sind fest wie die anderen der Rückenwirbel- säule. Das Darmbein ist bei Sfego- 321 saurus ein sehr eigenthümlicher Knochen, unähnlich allen bisher bei Reptilien be- kannten. Sein am meisten in die Augen springender Charakter ist seine grössere Ausdehnung auf der Seite des Aceta- bulum. Die mit fünf Zehen versehenen Vorder- und Hinterbeine verhalten sich in ihrer Länge ziemlich wie 1:2. DieKnochen des Vorderbeins zeigen klar, dass dieses Glied, obwohl im Verhältniss des Hinter- beines sehr klein, nichtsdestoweniger sehr kraftvoll war, und da sie auf eine beträchtliche Rotation eingerichtet sind, wurden sie zweifellos für andere Zwecke als für die Ortsbewegung gebraucht. Das Missverhältniss in der Grösse zwischen den vorderen und hin- teren Gliedmaassen, sowie im Bau ihrer hauptsächlichsten Gelenke zeigen voll- auf, dass Stegosaurus hauptsächlich als ein Zweifüsser einherschritt, die mas- grosse siven Hinterbeine und der mächtige Schwanz bildeten ohne Zweifel einen Dreifuss, auf welchem das (dreissig Fuss lange) Thier zu Zeiten ausruhte, während die vorderen Gliedmaassen zum Greifen oder zur Vertheidigung gebildet waren. Die schweren Hautplatten und mächtigen Dornen machten die letztere wahrscheinlich zu einer leichten Sache. Die «eographische Vertheilung der lebenden und fossilen Nager vom Standpunkte der Entwickelungslehre bildete den Gegenstand eines Vortrages, welchen E. L. TROUESsART auf dem dies- jährigen Congresse der französischen Naturforscher hielt. Die lebenden Nager sich in theilen vier grosse Gruppen oder Tribus. Die Myomorphen oder Ratten und Verwandte sind die einzi- gen Kosmopoliten unter ihnen, indem sie sich bis nach Australien, Polynesien und Neuseeland ausgebreitet haben. Die Gewohnheiten dieser Thiere, ihre om- nivore Lebensweise, ihre robuste Or- 322 ganisation und grosse Fruchtbarkeit erklären diese weite Verbreitung; sie sind dem Menschen nach jedem Orte und wahrscheinlich schon seit dem höchsten Alterthum gefolgt. Die an- deren Gruppen haben ein beschränk- teres Wohngebiet und die Sciuromor- phen (Eichhörnchen und Murmelthiere) sind wie die Lagomorphen (Hasen) bei- nahe ausschliesslich der nördlichen He- misphäre eigen, die Hystricomorphen (Stachelschweine, Agutis, Cobayas) sind in unseren Tagen auf die südliche He- misphäre beschränkt. Das Studium der fossilen Nager zeigt uns, dass diese vier Typen in der Tertiärepoche weder ebenso streng auf einen gegebenen Bezirk beschränkt wa- ren, noch ebenso scharf umschrieben und von einander getrennt waren, mit Ausnahme der Hasen (Lagomorphen), welche, wie es scheint, schon seit dieser Epoche eine Unterordnung (Duplieiden- tatae) gebildet zu haben scheinen, die von derjenigen der gewöhnlichen Nager sehr verschieden ist. Die Typen der südlichen Hemisphäre sind in der Mio- cänepoche im Norden beider Continente vertreten gewesen, und es ist seit der Abkühlung, welche die Gletscherperiode dieser Hemisphäre eingeleitet und her- beigeführt hat, dass diese Thiere nach Süden ausgewandert sind, nach Süd- america, Südafrica und Neuholland, wo man sie noch heute findet. Der gegenwärtige Typus der Nager zeigt sich seit der Eocänepoche mit seinen eigenthümlichen Charakteren. Aber neben diesen wahren Nagern fin- det man verschiedene Säugertypen, de- ren Bezahnung an jene erinnert, und als deren letzter Nachkomme das Fin- gerthier (Chiromys) von Madagaskar betrachtet werden kann. Gewisse Säu- ger der Sekundärzeit, wie Plagiaulax, Otenacodon u. A. zeigen die charakteristi- schen Schneidezähne der Nager, die sehr verschieden von den Backenzähnen sind, welche mit keineswegs abgestumpf- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. ten Höckern besetzt sind, und eine carnivore oder wenigstens stärker om- nivore Lebensweise anzeigen, als es diejenige der grossen Mehrzahl der mo- dernen Nager ist. Schneidezähne der- selben Gattung finden sich bei einer gewissen Anzahl von Insectenfressern, z. B. bei den Spitzmäusen (Sorex) und bei mehreren Ungulaten-Typen. Man wird so zu der Erkenntniss geführt, dass der Nagertypus im Beginne der Tertiärzeit viel weniger spezialisirt ge- wesen ist, als heute. (Revue scienti- fique, 30. April 1881.) Eine Theorie der Schutzpoeken-Impfung auf Darwinistischer Basis. Ein kürzlich in diesem Journal er- schienener Artikel (Bd. IX, S. 70) hat uns mit den beiden Theorien bekannt gemacht, die man in neuerer Zeit auf- gestellt hat, um die durch frühere Er- krankung oder Impfung erworbene Immunität gegen eine bestimmte Krank- heit zu erklären. Man kann die eine als die »Erschöpfungs»- und die andere als die »Gegengifts<-Hypothese bezeich- nen, sofern die eine behauptet, die vor- hergegangene leichtere oder schwerere Erkrankung beraube die thierischen Säfte eines unentbehrlichen Nährstoffes für den specifischen Parasiten der Krank- heit, und die andere, sielasse ein Gegen- gift zurück, welches die Entwickelung gleichartiger Keime hindere. Dr. PAun Grawırz in Berlin hat nunmehr diese beiden Theorien durch spezielle Ver- suche geprüft, deren Resultate er in VırcHow’s Archiv für pathologische Ana- tomie (Bd. 84, S. 87) veröffentlicht hat und dem wir folgenden kurzen Auszug entnehmen. Wie wir aus dem Artikel von Dr. A. WernicH über »die akkom- modative Züchtung der Infektionsstoffe « (Kosmos Bd. VII, S. 91 ff.) wissen, hat Dr. GrAwrrTZ im vorigen Jahre’nach- gewiesen, dass gewöhnlicher, unschäd- Kleinere Mittheilungen und Journalschan. 4 licher Brotschimmel, indem man ihn durch planvoll geleitete Kulturen all- mälig an alkalische Peptonlösungen ge- wöhnt, schliesslich zu einem im thie- rischen Blute gedeihenden, sehr bös- artigen Infektionspilze umgezüchtet wer- den kann, mit dem sich leicht experi- mentiren lässt, weil einerseits die Grösse seiner Sporen erlaubt, Flüssigkeiten durch Filtration sicher von ihm zu be- freien, und weil er zweitens in die Venen eines Thieres eingespritzt, stets innere Schimmelbildungen erzeugt, deren Narben oder sonstige Spuren auch nach völliger Heilung in dem Thiere nach- weisbar bleiben. Grawıtz stellte nun drei Versuchsreihen an, um durch diese in der verschiedensten Wirksamkeit zu gewinnenden Schimmelgifte die Immu- nitätsfrage zu entscheiden. In der ersten Reihe wurden einige Kubikcentimeter einer durch sorgfältige Filtration von allen Sporen befreiten Peptonlösung, in welcher vorher bös- artiger Schimmel gezüchtet worden war, in die Venen eines Kaninchen gespritzt, was keinerlei schädlichen, aber auch keinen schützenden Einfluss äusserte. Denn wenn einige Wochen nach einer solchen Einspritzung, bösartige Sporen dem Thiere eingespritzt wurden, so er- krankte dasselbe, wie ein nicht geimpf- tes und ging bei genügender Einfuhr in wenigen Tagen an völliger Verschim- melung zu Grunde. Ein Gegengift war also in der Nährstofflösung jeden- falls nicht vorhanden gewesen. Bei der zweiten Versuchsreihe wur- den Impfungen mit den weniger schäd- lichen Uebergangsformen zwischen den unschädlichen auf gesäuertem Brot ge- wachsenen, und den bösartigen, an al- kalische Substrate gewöhnten Schimmel- formen vorgenommen. Obwohl die Menge der injieirten Sporen jedesmal so reich- lich war, dass von der bösartigen Va- rietät der vierte Theil derselben hin- gereicht haben würde, die Thiere zu tödten, erkrankten die Thiere kaum 323 merklich, und bei erfolgender Sektion konnte nur eine leichte Verschimmelung innerer Organe nachgewiesen werden, die indessen die Thiere nicht erheblich angriff. Wurde jedoch diesen geimpf- ten Thieren nach 3—10 Wochen die bösartige Varietät eingespritzt, so er- wiesen sich die mit der halbmalignen Form geimpften Individuen äusserst widerstandsfähig und erkrankten kaum merklich, während allerdings die mit einer sehr schwachen Pilzform geimpf- ten Thiere, wie ungeimpfte zu Grunde gingen, und nachher ganz verschimmelt erschienen. In der dritten Versuchsreihe wurden Impfungen mit malignen Schimmelfor- men aber in grosser Verdünnung vor- genommen, so dass nur wenige Sporen inden Körper gelangten, die aber gleich- wohl, wie einzelne getödtete Exemplare erwiesen, stets kleinere Erkrankungs- herde erzeugten. Indessen blieben diese Thiere, wenn die Verdünung gut ge- troffen war, gegen eine vier Wochen später erfolgte, bei ungeimpften Thie- ren tödtliche, stärkere Einspritzung ma- ligner Schimmelsporen vollkommen ge- schützt, es war eine absolute Immunität erzielt, die nicht den geringsten neuen Krankheitsherd aufkommen liess. Trotz dieser in überraschender Voll- kommenheit an ca. 20 Thieren erzeug- ten Immunität, erwies sich deren Blut an sich durchaus nicht ungeeignet, im Wärmeschrank den bösartigen Schim- mel darin zu kultiviren. Es war also weder an Nährstoff für dieselben er- schöpft, noch enthielt es ein Gegengift, welches die Pilzkeime getödtet hätte. Eine Erwägung der hierbei in Be- tracht kommenden näheren physiologi- schen und pathologischen Verhältnisse führt nun Grawırz zu der Theorie, die auch schon von Dr. Werxıch in unserer Zeitschrift ausgesprochen wurde, dass nämlich ein Kampf um’s Dasein zwischen den Gewebzellen des infieirten Thieres und den Zellen des Eindring- 324 lings beginnt, welcher die Entzündungs- und Fiebererscheinungen der Ansteck- ungskrankheiten erzeugt. Gewinnt der letztere Oberhand, so geht das Thier zu Grunde, ist aber seine Assimila- tionsfähigkeit für den neuen Boden zu schwach, oder sind die eingedrungenen in einer zu grossen Minderheit gegen die zahllosen gesunden Zellen des Kör- pers, so mögen die letzteren ihre Assimila- tionsfähigkeit erhöhen, um dem Gegner wirksameren Widerstand leisten zu können. Diese höhere Assimilations- fähigkeit bleibt ihnen aber, ja sie kann in einem gewissen Grade auf die Nach- kommenschaft vererbt werden, und so erklärt sich die Wirkung der Impfung, als eine im Kampfe mit dem Feinde gewonnene Ueberlegenheit, die aller- dings, soviel bekannt, nur gegen diesen bestimmten Feind schützt. Die Farbe Roth. Die Wahrnehmung, dass in den Schriften der alten Völker die Wörter, welche zur Bezeichnung von Farben dienen, häufig eine sehr unbestimmte und schwankende Bedeutung haben, ist bekanntlich von verschiedenen Seiten so ausgelegt worden, als ob sich der Farbensinn des Menschengeschlechtes erst allmälig im Laufe des historischen Zeitalters entwickelt habe. * Eine nähere Untersuchung der Thatsachen hat in- dess zu dem Ergebniss geführt, dass nicht die Fähigkeit, Farben zu unter- scheiden, zugenommen hat, sondern dass nur die sprachlichen Bezeichnungen für die verschiedenen Farben bestimmter und genauer geworden sind. Die Rich- tigkeit dieser Ansicht wird freilich noch nicht allgemein anerkannt; so vertritt z.B. auch der im Novemberheft (1880) dieser Zeitschrift erschienene Aufsatz * Vol. u. a. Kosmos I. Bd. S. 264 ff., 8,423 fi. 8. 428 ff.; II. Bd. 8. 486 ff.; Kleinere Mittheilungen und Journalschan. . des Herrn Prof. GüntHEreine abweichende Auffassung. Unter diesen Umständen dürfte es von einigem Interesse sein, zu prüfen, in wie weit denn bei den jetzigen Europäern das Unterscheidungs- vermögen und die sprachliche Bezeich- nung für Farbennuancen einander ent- sprechen. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass die Fixirung der Begriffe für die einzelnen Farbennamen auch in der Neuzeit noch stetig fortschreitet. Unsere deutsche Sprache besitzt ur- sprünglich vier einfache Benennungen für die reinen Farben (Spectralfarben) in engerem Sinne (also abgesehen von weiss, schwarz, grau und braun), näm- lich: Roth, Gelb, Grün und Blau. In neuerer Zeit sind ziemlich allgemein, indess vorzüglich in Folge der von der wissenschaftlichen Forschung ausgehen- den Anregung, auch Orange und Vio- lett in die Farbenreihe aufgenommen worden. Im Spectrum und im Regen- bogen unterscheidet man endlich noch eine siebente Farbe, nämlich Indigo, welches zwischen Blau und Violett ein- geschaltet ist. Im gewöhnlichen Leben pflegt man jedoch die Indigofarbe als eine Nuance des Blau aufzufassen. In dem mittleren Theile des Spectrums, welcher das Gelb, Grün und Blau um- fasst, hat man, was bemerkt zu wer- den verdient, keine neuen Farben unter- schieden. Während die Physiker das Indigo vom Blau sondern, macht sich im prak- tischen Leben vielmehr das Bedürfniss geltend, die verschiedenen Nuancen des Roth bestimmter von einander zu unter- scheiden. Wir wissen sehr gut, dass es mehrere Arten von reinem Roth giebt, während wir beim reinen Gelb nur Ver- schiedenheiten in der Intensität der Farbe kennen. Wer Distelblumen und Ziegeldächer oder Rosen und Tomaten mit derselben Farbe malen wollte, würde IT. Bd. 8. 377 £.; IV. 8.494; V. 8. 316, 319 £.; VIIL 8, 116 ff, und 8. 395 ff. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. ohne Zweifel als farbenblind angesehen werden. Wir können im Allgemeinen das Roth in zwei Hauptnuancen oder, wenn man will, Unterfarben, theilen, je nachdem dasselbe dem Orange oder dem Violett ähnlicher ist. Die Farben, welche wir in der Natur sehen, sind bekannt- lich nicht die einfachen Spectralfarben, sondern sie gehen hervor aus der Misch- ung der Lichtsorten, welche von dem farbigen Stoffe nicht absorbirt, sondern zurückgeworfen oder durchgelassen wer- den. sorbiren, sehen grün aus, solche, welche grünes Licht absorbiren, sind roth. Je nachdem sich die Absorption mehr auf das Blau oder auf das Gelb erstreckt, wird das Roth mehr in's Orange oder in’s Violett spielend erscheinen. Wir pflegen sowohl die Zinnoberfarbe als die Karminfarbe für reines Roth zu halten, obgleich beide unzweifelhaft wesentlich verschieden sind. Wir können Zinnober und Karmin als Vertreter der beiden Hauptnuancen des Roth betrach- ten, müssen aber zur Bezeichnung der ganzen zugehörigen Farbenreihen andere Ausdrücke wählen, und zwar solche, welche eine weniger genau bestimmte Bedeutung haben. Es eignen sich dazu die Ausdrücke: Scharlach und‘ Pur- pur, . obgleich Purpur streng genommen eine Nuance bezeichnet, welche zwischen Karmin und Violettschwankt. Schliessen wir indess die Karminfarbe mit in das Purpur in weiterem Sinne ein, so wird für Denjenigen, welcher schärfer unter- scheiden will, das Wort Roth ziemlich entbehrlich werden. Man wird verhält- nissmässig selten in Verlegenheit kom- men, wenn man gefragt wird, ob rothe Substanzen, welche in der Natur auf- treten, purpurfarben oder scharlach- farben sind. Im gewöhnlichen Leben pflegt man bis jetzt nicht so genau zu unterschei- den, sondern man bedient sich gewöhn- lich gewisser Vergleichssubstanzen, wenn man eine bestimmte Nuance des Roth Körper, welche rothes Licht ab-. 325 bezeichnen will. So z. B. spricht man von brand-, feuer-, morgen-, kupfer-, rubin-, ziegel-, rosen-, klatschrosen-, pfirsichblüth-, granat-, kirsch-, fleisch-, blut-, korallen- und krebs-roth, ganz von den zur Vergleichung herangezogenen Pigmentfarben und den Fantasienamen der Farbenindustrie. Die Vergleichsworte deuten zum Theil nur den blasseren oder dunkleren Ton der Farbe an, so z. B. sind rosenroth, pfirsichblüthroth und fleischroth blasse Farben, kirschroth ist dunkel, kupfer- roth bräunlich. Feuerroth und blutroth bezeichnen vorzüglich intensive Farben, lassen jedoch für die Nuance einen ziemlich weiten Spielraum. Merkwür- diger Weise sind brandroth und feuer- roth nach dem Sprachgebrauche unge- mein verschieden ; unter Brandroth ver- steht man eine in's Gelbe oder Braun- gelbe spielende Mischfarbe, während Feuerroth (auch brennend roth) in der Regel ein lebhaftes Scharlach bezeich- net. Uebrigens wurde früher selbst das leuchtende Gelb nicht immer streng vom Roth unterschieden; in der Dichter- sprache redet man noch heute von rothem Golde. Nur wenige der Vergleichssubstanzen sind in ihrer Färbung so beständig, dass sie sich wirklich zur Bestimmung einer besonderen Nuance eignen. Die Färbung der verschiedenen Rosen- und Kirschensorten ist sehr ungleich; die Farbe des Blutes wechselt je nach dem Sauerstoffgehalt, die Bezeichnungen brand-, feuer- und fleisch-roth sind ge- wiss recht unbestimmt. Die Farbe der Granatblüthe ist zwar eine beständige, aber man sieht sie im Norden der Alpen nicht häufig, auch sind die Granatäpfel anders gefärbt, als die Blüthen; dazu kommt, dass man bei uns in Deutsch- land unter Granaten auch rothe Steine, an der Nordsee ferner sogar krebsar- tige Thiere (Garneelen), die im Kochen roth werden, versteht. Wirklich gute Vergleichsobjeete sind eigentlich nur abgesehen 326 Pfirsichblüthen, Klatschrosen und Koral- len. Man wird in Zukunft mehr und mehr die reinen Farbstoffe und farbigen chemischen Verbindungen zur Vergleich- ung benutzen müssen, wenn man Aus- drücke von ganz bestimmter und all- gemein verständlicher Bedeutung er- halten will. In der Färberei und Farbenindustrie gebraucht man allzu zahlreiche Misch- farben und Farbenabstufungen, als dass eine einfache und übersichtliche Ein- theilung der technisch benutzten Farben ausführbar wäre. Weit lehrreicher ist es, die Bemühungen der Gärtner und Botaniker um eine schärfere Bezeich- nung der Hauptnuancen zu verfolgen. In der Botanik hat sich die Unter- scheidung zwischen Scharlach und Pur- pur bereits weit mehr eingebürgert, als im gewöhnlichen Leben. Scharlachfar- bene (und orangefarbene) Blumen sind unter den einheimischen europäischen Gewächsen ziemlich selten; die bekann- testen und auffallendsten derselben sind die Mohnarten (Klatschrosen), von wel- chen in verschiedenen Sprachen der Name für die. betreffende Farbe ent- lehnt ist. Es ist bei der Ungewöhnlich- keit der scharlachfarbenen Blumen sehr natürlich, dass ausländische Pflanzen, welche sich durch diese Blüthenfärbung auszeichnen, in den Gärten besonders geschätzt sind. Mehr noch als in Deutsch- land werden in England solche Gewächse ausdrücklich nach ihrer Blüthenfarbe (Scarlet) benannt. Prächtige Scharlach- blüthen besitzen z. B. Pumica granatum ® Man könnte die Frage aufwerfen, ob nicht vielleicht von Insektenaugen die Pur- purfarbe, von Wirbelthieraugen die Schar- lachfarbe lebhafter empfunden wird. #=* Die Purpurfarbe der Alten wurde mit den Ausdrücken purpureus (griech. Form: porphyreus) und puniceus (griech. Form: phoeniceus) bezeichnet. Später wurden pur- pureus und puniceus auch oft als besondere Nuancen unterschieden. Bei puniceus (ponceau) mag man wohl an die rothe Blüthe der arbor Punica, d. h. des aus dem Punierlande ein- | Kleinere Mittheilungen und Journalschau. (Granatbaum), Oydonia Japonica (könnte »Scharlachquitte« heissen, wird bei uns meist Pyrus genannt), Pelargonium 20- nale (Scharlachpelargonium), Phaseolus multiflorus (Prunker, Scarlet runner), Lychnis Chalcedonica (Brennende Liebe) und Anthurium Scherzerianum. Viel all- gemeiner sind unter den Blumen die Abstufungen der Purpurfarbe vom Rosa und Karmin bis zum Purpurviolett ver- breitet. Dagegen ist unter den Früchten * die Scharlachfarbe (korallenroth, men- .nigroth, zinnoberroth) weit häufiger als die purpurne. Die sorgfältigeren bota- nischen Schriftsteller haben die vor- züglichsten Nuancen des Roth ziemlich gut unterschieden, doch überzeugt man sich bei näherer Betrachtung ihrer An- gaben leicht, wie sehr noch die Be- zeichnungen auf Willkür und indivi- dueller Auffassung begründet sind. So ist phoeniceus bei WILLDENOW scharf- lachfarben und identisch mit coceineus (»zinnoberroth, sehr brennend und kaum merklich in’s Blaue spielend«), bei BiscHorr: »granatroth, reines lebhaftes Roth, eine Mischung von Karmin und Scharlachroth.« Coccineus ist dagegen bei BıscHorr: »helles Karminroth, un- merklich in’s Gelbliche ziehend.« Puni- ceus "ist bei beiden Schriftstellern Karminroth. . WırupEnow betrachtet sanguineus und purpureus** als gleich- bedeutend, BıscHhorr als verschie- den. Beispielsweise seien hier die An- gaben einiger im Allgemeinen sehr zu- verlässigser botanischer Schriftsteller geführten Granatbaums gedacht haben. Die modernen Botaniker gebrauchen die einzelnen Wörter in ganz anderem Sinne; Anagallis phoenicea z. B. blüht mennigroth, d. i. schar- lach in orange übergehend, während man unter porphyreus braunroth versteht. — Bei dem Worte Scharlach denken Manche, be- sonders Mütter und Aerzte, zunächst an das Scharlachfieber, welches sich durch eimen nicht etwa scharlachfarbigen sondern purpur- farbigen Hautausschlag auszeichnet. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. über die Blüthenfarbe bestimmter roth- blühenden Pflanzen angeführt. Adonisautumnalis: blutroth (Nrıneeıch), blood red (Dox), scarlet (Hooker); dunkelroth (GARrcKE). Papaver argemone: blassblutroth (Nkin- REICH), pale scarlet (Don), dunkel- roth (GARcKE). Dianthus armeria: karminroth (Nemm- REICH), hellkarminroth (Garern), pink (Don). Silene armeria: dunkelrosenroth (Neın- REICH), kirschroth (GArcKE), pink (Don). Viscaria purpurea: rose coloured (Dox), lilas (Gopron), hellroth (Garckk), karminroth (NEILREICH), red-purple (HookERr). Melandryum rubrum: \ilas (Gopron), schön purpurroth (GArcKE). Geranium dissectum: \ilas (Gopron), kar- minroth (NEIGREICH), bright red (Hooker), purpurroth (GARcKE). Trifolium incarnatum: bright scarlet (Hoocker), rouge &clatant (GoDRoN), crimson (Do), purpurroth (GARCKE). Lathyrus tuberosus: vose vif (GODRON), rose coloured (Dos), gesättigt rosen- roth oder karmin (NEILREICH), crim- son (HooKER), purpurroth (GARcKE). Erythraea centauriwn: fleischroth (GARr- CKE), red or pink (Hoocker), schön rosenroth (NEILREICH). Polygonum _bistorta: vöthlich weiss (GAxekE), beau rose (Gopron), pink (Hoockkr). P. amphibium: pale or bright rose red (HoockEr), rose (Gopron), schön rosenroth (NEILREICH), purpurroth (GARcKE). Diese Beispiele zeigen, wie wenig selbst solche Männer, welche sich einer genauen, wissenschaftlichen Bezeich- nungsweise befleissigen, in ihren An- 327 gaben übereinstimmen. Weit unbe- stimmter und schwankender müssen sich nothwendig solche Personen ausdrücken, welche gar nicht gewohnt sind, beson- dere Sorgfalt auf die richtige Wahl der Farbenbenennungen zu verwenden. Die verschiedenen Arten des Roth werden ohne Zweifel allgemein sehr gut unter- schieden, aber es besteht noch kein fester Sprachgebrauch, welcher für jede der Hauptnuancen eine allgemein ver- ständliche Benennung geschaffen hat. Die individuelle Auffassung hat noch einen weiten Spielraum in der Wahl der Namen, welche jeder einzelnen Nuance zukommen. Der Unterschied zwischen Scharlach und Purpur oder zwischen Zinnober und Karmin ist kaum weniger auffällig als der zwischen Blau und Grün. In der Jugend der Menschheit fühlte man nicht dasBedürfniss, die letztgenannten Farben sprachlich stets streng aus einander zu halten, gleich wie man heutzutage die verschiedenen Sorten des Roth durch die Sinneswahrnehmung sehr gut, durch die Sprache aber nur unsicher und un- vollkommen unterscheidet. Es sollte die Aufgabe der vorstehenden Zeilen sein, dies Missverhältniss zwischen sinn- licher und sprachlicher Auffassung der Farben an Beispielen aus unserem heu- tigen Leben zu erläutern. Eine andere Aufgabe wird es sein, an der Fortent- wickelung unserer Sprache mitzuarbeiten, und zwar in der Richtung, dass das Wort sich immer genauer der sinnlichen Wahrnehmung anpasst und so dazu beiträgt, die Wahrnehmung selbst zu schärfen und dem Bewusstsein fester einzuprägen. Bremen. Dr. W. O. Focke. Offene Briefe und Antworten. Capetown, 27. Mai 1881. »4) Ist ‘das Weibchen eines auf- »fallenden Männchens einfacher ausge- »stattet und brütet nicht, so legt es »doch viele grosse Eier« — (Strauss). — Aus diesem Satz (Kosmos Band VII, Septemberheft S. 484) geht hervor, dass in Deutschland man noch theilweise der Ansicht ist, der Strauss brüte nicht, sondern überlass dies Geschäft der afri- kanischen Sonne. * — Dies ist indessen verkehrt, wie in dieser Colonie, wo auf jedem Bauernplatz beinahe zahme Strausse gehalten‘ werden, allgemein bekannt ist. — Sowohl das Weibchen wie das Männchen brüten und zwar lösen sie sich dabei mit einer Regel- mässigkeit ab, welche an Genauigkeit die Bauern-Uhren weit übertreffen soll. In der Gefangenschaft allerdings kommt es zuweilen vor, dass Strausse sich nicht paaren wollen; ich habe aber noch nicht gehört, dass, wenn einmal Eier gelegt sind, die Vögel sich nicht mit Lust und Liebe dem Brutgeschäft unter- zogen haben. Ein Bauer zeigte mir vor einiger Zeit, dass ein Paar Vögel ihr Nest mit bebrüteten Eiern von der niedrig gelegenen Seite ihrer Einzäu- nung nach und nach, sowie es bei an- haltendem Regen feuchter wurde, nach der höhern Seite transportirt habe. Wenn man nicht den Straussen schon ihre Eier wegnimmt, um sie künst- lich auszubrüten, nimmt man ihre Küch- lein, sowie sie aus dem Ei gekrochen sind. Dieselben sind aber der elter- lichen Liebe so sehr bedürftig, dass es nöthig ist, anstatt der Alten den jungen Küchlein fortwährend andere Gesellschaft zu verschaffen, und gewöhnlich werden hierzu Eingebornenmädchen verwendet. Auf dem Männchen hauptsächlich lastet die Pflicht der Vertheidigung des Haushalts. Wenn das Weibchen noch mit seinen grossen braunen Augen ver- wundert dreinschaut, färben sich schon die Schienbeine des Männchens hoch- roth und bei weiterer Annäherung des Feindes wirft er den Kopf zurück, bauscht die tiefschwarze Brustbedeckung auf, breitet die Flügel mit den schnee- weissen Schwungfedern auseinander und stürzt sich vorwärts, die Beine hoch auswerfend, mit den Flügeln peitschend und kreischend vor Wuth — und wehe dem Menschen, zwischen welchem und den kräftigen Zehen des Vogels nicht eine genügend hohe Barriere sich be- findet, oder der nicht einen langen gabelförmigen Stock in der Hand hat, mit dem er den Vogel (ihm die Gabel über Hals und Brust setzend) abhält. Der Strauss legt bekanntlich zahl- reiche weisse, grosse Eier in offene Sandnester. Die mächtigen Vögel sind aber wohl im Stande, die ziemlich auf- fallenden Nester gegen gewöhnliche Feinde zu vertheidigen. Ihre grauen Hälse sehen von weitem aus, wie dürre, in die Höhe stehende Baumäste, wie sie in der afrikanischen Halbwüste (Karroo) häufig zu finden sind und in den Hälsen ist bei Männchen und Weib- chen wenig Unterschied. Ich hoffe, diese wenigen Mitthei- lungen werden von Interesse sein und verharre mit der grössten Hochachtung W. Hülken. *= Bemerk. der Red. Hier liegt ein Miss- verständniss unseres geehrten Correspondenten vor. Der Satz bezog sich zunächst auf die amerikanischen und neuholländischen Strauss- arten, bei denen die Weibehenüberhaupt niehtbrüten, sondern nur die Männchen, Druckfehler-Berichtigung. S. 237, Spalte links, Zeile5, lies steigere statt steigern. 8. 240, Sp. links, 2. 11 von unten, ist dies zu streichen. 8 242, Sp. rechts, Z. 3 von oben, liesergebnisse statt begriffe. 8. 242. Sp. rechts, Z. 5 von oben, lies palaeontologischen statt genealogischen. 8. 243, Sp. links, 7. 6 von oben, lies Coilanthus statt Cor- banthus. Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. Von Dr. J. Holetschek. Gleichwie das Aufleuchten einer Sternschnuppe zu jeder Secunde und in jeder beliebigen Himmelsrichtung stattfinden kann, so ist auch die Er- scheinung eines Kometen nicht an Zeit und Ort geknüpft. Keine Rechnung ist im Stande, das Auftreten eines solchen Gestirns vorherzubestimmen, da ihr jeg- liche Basis mangelt. Unvermuthet, doch nicht überraschend trifft die Anzeige einer Kometenentdeckung ein, und ge- wöhnlich schon nach 'wenigen Wochen ist uns der Himmelskörper wieder ent- schwunden. Kommt er vor dem Peri- hel in unseren Gesichtskreis, so ha- ben wir Hoffnung, ihn längere Zeit be- obachten zu können; wird er aber erst bei seiner Rückkehr aus der Sonnen- nähe aufgefunden, so müssen wir uns meistens mit den Positionsmessungen sehr beeilen, wenn wir denselben in unser Kometenregister eintragen wollen. Aber auch von der Sonne aus könn- ten wir den Anblick eines Kometen nicht viel länger geniessen, da er sich von unserem Centralkörper ebenso eilig ent- fernt, als er sich ihm nähert, und zwar um so hastiger, je stärker die Annähe- rung ist. Was also die Sternschnup- pen für die Erde, das sind im allge- meinen die Kometen .für die Sonne; hier wie dort dieselbe Erscheinung: plötzliches Auftauchen, rasche Beweg- ung, schnelles Verschwinden. In Folge der allgemeinen Massen- anziehung krümmt unser Erdkörper die kosmischen Bahnen jener Meteore, die in seinen Bereich kommen; einige stür- zen herab, die anderen gehen in geän- derter Richtung weiter. Spielt nun die Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). Sonne den Kometen gegenüber dieselbe Rolle, wie wir sie an der Erde, den Sternschnuppen gegenüber beobachten ? Oder, um gleich die entscheidende Dop- pelfrage zu stellen: Sind die Haarsterne, gleich den Planeten, Kinder unserer Sonne, oder haben wir sie als Vaga- bunden der Weltenräume zu betrachten? Nach der Kawr’schen Kosmogonie wären die Kometen keine besondere Gattung von Himmelskörpern und wür- den sich von den Planeten nur durch ihre stark excentrischen Bahnen unter- scheiden; demnach bestände ein allmä- liger Uebergang von den Planeten zu den Kometen: je grösser die Excentri- cität, um so geringer der planetarische, um so ausgeprägter der kometarische Charakter eines Himmelskörpers. Diese Ansicht konnte aber nur so lange eini- ges Gewicht haben, als man von der physischen Beschaffenheit der Kometen nichts wusste, und so lange die Aste- roiden unbekannt waren. Unter diesen letzteren gibt es Körper, die in ziem- lich excentrischen Bahnen um die Sonne gehen, wie Polyhymnia, Eva etc., und dennoch hat keiner auch nur das ge- ringste Kometenhafte an sich. Ueber die Constitution der Kometen wissen wir zwar noch immer nur wenig, aber was wir durch Fernrohr und Spectro- skop erfahren haben, zeigt uns mit Be- stimmtheit, dass sie ganz eigenartige Körper sind. Inzwischen haben wir auch unsere grossen Planeten näher studirt und bei jedem neuen Merkmal wurde die Grenze schärfer, die Kluft weiter. Es sind zwar Versuche gemacht worden, die Entsteh- 23 330 ung der Kometen nach der Nebular- hypothese wahrscheinlich zu machen, doch laufen viele Folgerungen, die man daraus nothwendigerweise ziehen musste, aller Erfahrung entgegen. Larracr hat die Kometen nicht berücksichtigt und konnte es auch nicht, daihnen dasHauptcharakteristikum unse- res Planetensystems, die gemeinschaft- liche West-Ost-Bewegung fehlt ; sie strei- cheninallenRichtungen durch unsere Pla- netenwelt. Eine Rotation scheinen sie gar nicht zu besitzen, oder was wohl richtiger ist, sie kehren der Sonne stets dieselbe Seite zu. Larzack hält die Kometen für extrasolare Körper, die um die einzelnen Fixsterne sehr excen- trische Bahnen beschreiben und von System zu System weiterziehen, so dass sie thatsächlich alle Weltenräume durch- streifen können. Wir hätten daher einen solchen wandernden Nebelball mit eini- ger Ehrfurcht zu betrachten, da er als kosmischer Odysseus viele Sonnen, mög- licherweise schon den grössten Theil der Welt gesehen hat. Diese Meinung fand grossen Beifall, und bis in die neuere Zeit galten die Kometen als »astres croiseurs«, die uns auf ihrer ewigen Wanderschaft nur gelegentlich einen Besuch machen, um sich von uns hinweg zu einer anderen Sonne, etwa zum Sirius oder zur Wega zu begeben. Mit dieser Ansicht war jedoch ein Umstand nicht recht vereinbar, nämlich der, dass sämmtliche Kometen, obwohl sie in Gestalt und Bildung von unse- ren Planeten so bedeutend abweichen, doch unter einander selbst ausserordent- lich gleichartig sind. Ist es denn wahr- scheinlich, dass aus ungemessenen Ent- fernungen, aus den verschiedensten Ge- genden des Weltalls uns überall gleiche Körper zugesendet werden? Es ist schwer anzunehmen, dass jeder Fixstern- typus gerade eine bestimmte Kohlen- verbindung in Kometengestalt abson- dert und in die Welt schickt. Die stoffliche Zusammensetzung der Meteo- Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. riten wäre zwar einer solchen Ab- kunft günstig, doch ist die Frage, ob diese Körper wirklich aus den entlege- nen Fixsternräumen zu uns hereinge- langen, noch immer nicht endgiltig ent- schieden. Jedes der beiden Extreme ist somit unannehmbar: Unser Sonnen- system kann nicht die Heimat dieser Gäste sein, weil sie zu den Planeten gar so starre Gegensätze bilden, aber auch als continuirliche Weltenwanderer können sie nicht gelten; das eine ist zu eng, das andere zu weit. Die Wahr- heit liegt wohl in der Mitte. Schon bei geringerer Aufmerksam- keit muss man auf den Gedanken kom- men, dass es von Anfang an nicht das Ziel der Kometen sein konnte, planeten- artig um die Sonne zu kreisen, da sie in diesem Falle eine grössere Consi- stenz aufweisen müssten. Die Kometen ertragen die Hitze nicht, sie scheinen unstreitig für die kalte Region bestimmt zu sein. Die gewaltigen Formverän- derungen und grossartigen Schweifent- wicklungen, die wir an ihnen bewun- dern, zeigen schon, dass sie sich in der Nähe der Sonne nur in einem Aus- nahmszustand befinden; weit von ihr weg — das ist die Regel. Im interstellaren Raum, den man gewöhnlich als leer annimmt, wohin die Anziehung der nächsten Sonne nur mehr wenig wirkt, haben wir die Ko- meten zu suchen. Da wir sie dort aber nicht beobachten können, so ist es unsere Aufgabe, aus den Erschein- ungen, die sie uns in der Sonnennähe darbieten, Schlüsse auf ihr Verhalten in jener entlegenen Gegend zu ziehen, und einen solchen Fingerzeig geben uns die Bewegungsumstände. Das Krrter’sche Gesetz, nach wel- chem die Planeten in Ellipsen um die Sonne gehen, musste, als man die kos- mische Natur der Kometen erkannt hatte, abgeändert werden in das all- gemeinere, dass sich die Himmelskör- per überhaupt in Kegelschnittslinien Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. bewegen. Solcher Curven giebt es vier, zwei geschlossene, Kreis und Ellipse, und zwei offene, Parabel und Hyperbel. Aus mechanischen Gründen ist nun für die Centralbewegung, wenn dieselbe im Kreis oder in der Parabel vor sich gehen soll, eine ganz bestimmte spe- cielle Voraussetzung nöthig, während der Spielraum für eine Ellipse oder Hyperbel sehr gross ist. In Wirklich- keit erweisen sich aber fast alle Ko- metenbahnen als Parabeln, nur wenige nähern sich der Ellipse, und höchst sel- ten zeigt die Bahn einen schwach hy- perbolischen Charakter. Denken wir uns, um die dynami- schen Eigenschaften der hier in Be- tracht kommenden Kegelschnitte ken- nen zu lernen, einen Körper, etwa einen Meteoriten, der sich im Weltraum ge- radlinig und gleichförmig bewegt. Bliebe er unbeeinflusst von jeder äusseren Kraft, so würde er seinen Weg immer in gleicher Richtung mit der- selben Geschwindigkeit fortsetzen. Nun komme er allgemach in den Anzieh- ungsbereich einer Sonne. Diese wird seine Bewegung beschleunigen und seine Bahn krümmen, beides um so stärker, je näher der Körper rückt. Ist er an der Sonne vorübergeeilt, so wird Beschleunigung und Krümmung schwächer und derselbe Vorgang wieder- holt sich in entgegengesetzter Reihen- folge; die Bewegung wird immer mehr oleichförmigundgeradlinig, bis derKörper mit seiner ursprünglichen Geschwindig- keit wieder aus der Anziehungssphäre hinausgelangt. Die Curve, die der Me- teorit beschreibt, ist eine Hyperbel. Was er durch die Sonne an Geschwin- digkeit erhalten hat, verliert er auch wieder. Aber ganz resultatlos war die Sonnennähe nicht; es wurde ja die Richtung der Bewegung geändert. Je grösser nun die anfängliche Geschwin- digkeit war, um so steiler wird die Hyperbel, je kleiner sie war um 50 stärker wird die Bahn gekrümmt, um so mehr 331 nähert sie sich einer Parabel. Aehnlich gestalten sich die Verhältnisse, wenn nebst dem Meteoriten auch die Sonne in Be- wegung begriffen ist. Wir sind nun bei unserem Fall an- gelangt. Da die Kometenbahnen nahezu parabolisch sind, so folgt, dass diese Gestirne zu der Zeit, wo sie die Grenze der Sonnenanziehung passiren, eine äusserst kleine Geschwindigkeit haben müssen, ‘und das ist eben die früher angedeutete Voraussetzung, unter wel- cher eine Centralbewegung in der Pa- rabel vor sich geht. Da die Sonne selbst ihren Ort im Raume stetig än- dert, so müssen auch die Kometen dar- an theilnehmen. Hätten sie eine ei- gene Bewegung in Bezug auf die Sonne, kämen sie also aus den entlegenen Fix- sternräumen zu uns herüber, so müs- sten ihre Bahnen streng ausgesprochene Hyperbeln sein, was aber nicht der Fall ist; diese Folgerung wurde zuerst von HornstEin gezogen und später von SCHIAPARELLI* bestätigt. Verfolgen wir einen Himmelskörper, nachdem er sein Perihel passirt hat. Ist seine Bahn eine Hyperbel, so nimmt seine Geschwindigkeit zwar fortwährend ab, die Bewegung geht aber mehr und mehr in eine gleichförmige über, und mit dieser würde er endlich aus dem Bereich der Anziehung hinauswandern. So bewegen sich gewöhnlich die Me- teoriten, jene kosmischen Massen, von denen uns einige als Feuerkugeln sicht- bar werden. Geht jedoch der Körper in einer Parabel, so nimmt die Ge- schwindigkeit rascher ab, als bei der Hyperbel und nähert sich im Grenzfallder Null, d. h. der Körper bleibt schliesslich stehen, wenigstens relativ zur Sonne; hier haben wir den Fall der Kometen und vielleicht auch der Meteorströme. Diese Gegend des Stillstandes müs- sen wir nun als den regelmässigen * SCHIAPARELLI, Entwurf einer astrono- ischen Theorie der Sternsel »n; 7. Note mischen Theorie der Sternschnuppen; 4.8078. 23* 332 Aufenthaltsort der Kometen betrachten. Wie weit mag dieselbe von uns ent- fernt sein? Wenn die Sonne einem Fixsternsystem angehört, das eine ge- meinschaftliche Bewegung hat, so be- findet sich der Ruheort zum Theil an der Grenze der Anziehungssphären zwei- er Sterne. Schreitet aber unser Cen- tralkörper selbstständig weiter, so ha- ben wir uns diese Gegend als eine Kugelschale zu denken, die jedenfalls vielmal weiter draussen liegt als die Neptunbahn, während sie andererseits doch wieder bedeutend näher ist als die Hälfte einer Sternweite. Damit ist aber nicht gesagt, dass sich jenseits dieser Grenze kein Komet mehr vor- findet, es ist sogar naturgemäss, dass der nächste Fixstern auch seine Wölk- lein besitzt, von denen wir aber wahr- scheinlich noch nie einen zu Gesicht bekommen haben; von den unserigen dürften dieselben wohl verschieden sein, wenn sie auch unter einander die glei- che Constitution aufweisen. Ist der Komet zur Ruhe gekommen, so bedarf es nur der geringsten Stö- rung, etwa der Einwirkung eines ande- ren, soeben von der Sonne zurückkehren- den Kometen, um ihm wieder eine kleine Bewegung zu ertheilen, und er kann daher ein zweites Mal zur Sonne herab- steigen, aber in einer von der ersten ganz verschiedenenBahn. Es ist demnach möglich, dass ein in diesem Jahre sichtbar gewesener Komet später ein- mal wieder an unserem Himmel er- scheint, obwohl sich dann die Identi- tät nicht mehr beweisen lässt, weil das einzige Erkennungszeichen für einen »alten«< Kometen, die Gleichheit der Bahnelemente, ganz illusorisch wird. Freilich sind die Zeiträume von einer Erscheinung bis zur nächsten so gross, dass unter den jetzt bekannten Kome- ten sieher kein einziger ist, der wäh- rend der historischen Zeit schon eine volle Wanderung von der Sonne hin- weg bis jenseits der Neptunusbahn nach Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem dem Ruheort und wieder zurück zur Sonne gemacht hätte. Der allgemeine Anblick, den un- - sere Kometenfamilie nach aussen hin gewährt, dürfte folgender sein. Befin- det sich das beobachtende Auge an einem entlegenen Standpunkt, nicht weit von der Ekliptikebene, so zeigt sich ein Fixstern, begleitet von wenigen Planeten, die mit ihm fast in einergeraden Linie liegen, ähnlich den vier Jupiter- monden. Dieses System ist ringsherum, wenn auch sehr locker eingehüllt von zarten Wolken, die sich zwar sehr weit, aber doch nicht ins Unendliche ent- fernen können; ihre grössten Abstände sind nach jeder Richtung hin ziemlich dieselben, so dass sie als Halbmesser einer ungeheuren Kugel betrachtet wer- den können, deren Mittelpunkt der Fixstern, unsere Sonne ist. Viele die- ser Wölklein befinden sich am äusser- sten Rande der Kugel, und sind ruhig oder doch nur in schwacher Bewegung. Hie und da senkt sich ein Wölklein gegen die Sonne anfangs langsam, dann immer rascher, geht um dieselbe her- um und kommt schliesslich fast an derselben Stelle wieder zurück. Dieses Sinken und Steigen von Wolken, d. i. von Kometen, vollzieht sich unaufhör- lich, und zwar ist die Bewegung für den ersten Anblick nahezu geradlinig. Denkt man ssich noch das ganze System in fortschreitender Bewegung, so sind die Umrisse des Bildes fertig. Die von den Kometen unter solchen Umständen be- schriebenen Bahnen sind Kegelschnitt- linien die von der Parabel wenig ab- weichen, dass wir den Unterschied durch unsere Rechnungen gewöhnlich gar nicht nachweisen können. Die bisherigen Betrachtungen gel- ten für jene Klasse von Kometen, die am zahlreichsten vertreten ist, nämlich solche deren Bahnen parabolischen Charakter besitzen, obwohl manche dar- unter der Rechnung zufolge schwach elliptisch sind. Es giebt aber einige, - Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. die nach der ersten Erscheinung schon ein oder mehrere Male zurückgekehrt sind, im Ganzen zehn. Diese soge- nannten periodischen Kometen sollen uns hier nur kurz beschäftigen. Schon öfter wurde darauf hingewiesen, dass die Umlaufszeit jedes periodischen Ko- meten ungefähr dieselbe ist, wie die Umlaufszeit irgend eines unserer gros- sen Planeten; so ist sie beim Hauuery’- schen Kometen nur um einige Jahre kürzer, als beim Uranus, während der Komet von TurrLe in Bezug auf seine Umlaufszeit fast mit dem Jupiter zu- sammenfällt. Die übrigen acht Ko- meten, welche mit Sicherheit als perio- disch erkannt sind, liegen mit ihren Umlaufszeiten sämmtlich zwischen Mars und Jupiter, und es liesse sich sogar zu jedem auch ein Asteroid finden, der mit ihm in gleicher Zeit um die Sonne läuft. Es ist nun erwiesen, dass diese Kometen ihre geschlossenen Bahnen nur der Attraction eines grossen Pla- neten, gewöhnlich des mächtigen Jupi- ter, zu verdanken haben. Wir können sie hinsichtlich ihrer Bewegungsverhält- nisse ganz in die Klasse der Planeten einreihen, aber nicht als ihre Brüder, sondern als Nachbarn, die in Folge der Massenwirkung in unsere Familie her- eingezogen wurden. Denselben Gedanken hat G. For- BES* in einer etwas anderen Richtung ve:folgt. Er stellt nämlich die Aphel- Distanzen von 5l Kometen, denen die Rechnung elliptische Bahnen giebt, zu- sammen und vergleicht sie mit den Distanzen der grossen Planeten von der Sonne. Jupiter steht bekanntlich etwa 5mal weiter von der Sonne ab, als die Erde, und in der Thatfanden sich in dieser Zusammenstellung eilf Kometen, deren Aphel-Distanz zwischen 4 und 6 liegt. Die Entfernung des Neptun beträgt * On Comets and Ultra-Neptunian Pla- nets; ein Auszug davon in „The Observa- tory“ No. 38 und im „Kosmos“ Bd. VII. 333 30 Erdbahnhalbmesser und das Verzeich- niss weist sechs Kometen auf, deren Aphel-Distanz von 32 bis 35 varürt. Ausserdem finden sich sieben Kometen, bei denen sie etwa 100, und sechs, bei denen sie ungefähr 300 Erdbahnradien beträgt. Da wir nun die Periodieität jedes Kometen einer planetarischen Ein- wirkung zuzuschreiben haben, so muss sie bei den zwei letzten Gruppen von noch unbekannten Planeten herrühren, welche jenseits der Neptunbahn um die Sonne gehen. Forsers hat nun auch die Positionen dieser zwei transnep- tunischen Planeten zu ermitteln gesucht, und, da er besonders den inneren für ziemlich sicher hält, in den Fixstern- katalogen nachgesehen, ob sich an die- ser Stelle ein Stern vorfindet, der seit der Beobachtung nichtmehr gesehen wor- den ist. Nur ein einziger, im Green- wicher Seven-Year-Catalog enthaltener Stern (in der Nähe von r Leonis) schien diese Bedingung zu erfüllen; bald aber führte A. WAGnER** den Nachweis, dass der fragliche Stern am Himmel auch jetzt an derselben Stelle zu finden sei, und demnach die Resultate von FoRBES noch der Bestätigung harren. Immer- hin wäre es aber ein ganz eigenartiger Fall, wenn ein transneptunischer Planet mittelst Kometenbahnen entdeckt würde. So logisch auch diese Folgerungen sind, muss man sie doch desshalb mit Vorsicht aufnehmen, weil ihre Basis keine sichere ist. ForBEs legt nämlich auf die grossen Bahnaxen, die für die einzelnen Kometen berechnet sind, also auch auf die zugehörigen Umlaufszeiten zu viel Gewicht. Es kann nicht oft ge- nug davor gewarnt werden, eine Zahl von Jahren, die im Katalog als wahrschein- lichste Umlaufszeit eines Kometen an- geführt ist, als etwas Exactes zu neh- men, besonders dann, wenn sie ein Jahr- S. 467. ** Monthly Notices of the Royal Astro- nomical Society, London. Vol. 40. 334 hundert übersteigt. So habe ich ge- funden, dass der von Cocsıa am 19. August 1874 entdeckte Komet eine Umlaufszeit von 300 Jahren besitzt. Ich brauche aber die Rechnungsgrund- lagen nur etwas anders zu combiniren und kann leicht eine viel grössere Um- laufszeit finden. Sollte es aber ge- schehen, was gar nicht unmöglich ist, dass dieses Gestirn schon nach 80 Jah- ren zur Sonne zurückkommt, so wird kein Astronom davon überrascht sein; im ersten Augenblick würde eine solche Wiederkehr zwar grosses Interesse er- regen, aber man könnte daran gar nichts Gesetzwidriges finden. Die astro- nomischen Beobachtungen, auf welche sich ja die Rechnung stützen muss, sind nämlich stets mit Unsicherheiten behaftet, die von den Unvollkommen- heiten unserer Sinne und der Messin- strumente herrühren; diese unvermeid- lichen Beobachtungsfehler schleppen sich nun durch die ganze Rechnung mit und machen sich besonders in dem empfind- lichsten Bahnelement, in der Umlaufs- zeit bemerkbar, und zwar um so mehr, je grösser dieselbe ist. Erst dann darf man die Zeit der Periode für gesichert halten, wenn der Komet wirklich wie- derkehrt. Nach dieser kleinen Auseinander- setzung über die periodischen Kometen gehen wir wieder zu einer allgemeinen Betrachtung über, und zwar zur Frage über Kometenradianten. Hovzrau * hat es unternommen, die Richtungen der grossen Bahnaxen aller Kometen, also die Lage der Aphelien unter einander zu vergleichen. Wenn nämlich die Kometen von aussen her in unser Sonnensystem kämen, so würden sie wohl ziemlich gleichmässig von allen Seiten in dasselbe eindringen. Da aber die Sonne mit ihrem Planeten- * Note sur la tendance qu'affeetent les grands axes des orbites cometaires & se diriger dans un sens donne. Bulletins de l’academie royale de Belgique; 42. annee. Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. gefolge eine Bewegung im Raum be- sitzt, so ist die Bedingung nicht mehr dieselbe, und es muss sich eine, der Radiation der Sternschnuppen analoge Erscheinung darbieten. HouzrAau hat nun 209 Kometenbahnen in Betracht gezogen und fand, dass ihre Axen in einem grössten Kreis, der durch die Zwillinge und den Schützen geht, dich- ter angehäuft sind, als in dem darauf senkrecht gelegten Kreis; das Ueber- gewicht ist aber nicht sostark, um auf ein strenges Gesetz schliessen zu lassen. Interessant bleibt das Eine, dass die grösste Anhäufung nicht allzu weit von derjenigen Richtung abweicht, welche man für die Eigenbewegung unserer Sonne gefunden hat. Dieses Princip der Kometenradianten kann natürlich nur dann bestehen, wenn die Kometen an dem Weiterschreiten der Sonne nicht genau theilnehmen, sondern doch eine, wenn auch nur geringe relative Be- wegung haben. Hinsichtlich der Richtung der gros- sen Axen hat auch SchrArARELLI** eine Gesetzmässigkeit gefunden, welche darin besteht, dass Kometen und Meteor- ströme mit kleiner Perihel-Distanz eine vorwiegende Tendenz haben, von jener Gegend des Raumes herzukommen, deren Rectascension 72° und Declination —+ 48° ist, also nicht weit von « Aurigae (Capella). Wir würden dadurch zu dem Schlusse geführt werden, dass in der Richtung der Capella ein System von Massen existirt, die sich im Raume mit einer genau oder fast genau gleichen Richtung und Geschwindigkeit wie die Sonne bewegen. Indess zeigte aber Dr. R. LenmAann-Finaes in Berlin ***, dass diese Zusammendrängung der Aphe- lien durchaus keine reelle ist, sondern nur durch die bei den Beobachtungen obwaltenden Umstände bedingt ist ; diese ZEN, 9. 023. Note: #*2% Deber die Kometen und Meteorströme mit kleiner Periheldistanz. Astronomische Nachrichten, Band 96. Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. bestehen hauptsächlich darin, dass wir auf der nördlichen Erdhemisphäre unter den erwähnten Himmelskörpern am wahrscheinlichsten solche finden werden, deren Aphelien dort liegen, wo sich die Ekliptik am weitesten gegen Norden erhebt, d. h. in den Zwillingen, die ja die Nachbarn des Fuhrmanns sind. Das ist nun auch dieselbe Himmelsgegend, in welcher Hovzsau eine Anhäufung der Kometen-Aphelien gefunden hat. Freilich hat er sämmtliche Kometen berücksichtigt, SCHIAPARELLI nur die mit kleiner Periheldistanz, aber dennoch tragen die letzteren viel dazu bei, in der Houzeau’schen Zusammenstellung ein Uebergewicht in der Gegend der Zwillinge hervorzurufen, so dass also auch diese Schlussfolgerung durch den Einwurf von Leumann-FiuH£s theilweise getroffen wird. Dass die Kometenkörper wenig Con- sistenz haben müssen, ist uns schon durch mancherlei Erscheinungen be- wiesen worden, so durch die Theilung des Bırua’schen Kometen. Wenn nun wirklich solche Spaltungen mehrfach stattfinden, so werden die einzelnen Glieder nach und nach verschiedene Bahnen beschreiben, die aber einen Punkt gemeinschaftlich haben. Auf diese Weise enstehen Systeme von Kometen, ein Capitel, dem Professor Hork in Utrecht grosse Aufmerksamkeit zuge- wendet hat. Er fand nämlich bei meh- reren dieser Gestirne, dass sich ihre Bahnen in einem Punkt des Raumes schneiden oder wenigstens bedeutend nähern, und schloss daraus auf einen gemeinsamen Ursprung. Unlängst hat aber J. GLAusEr* in Bern die Bedingung, unter welcher zwei Kometen auf ein anfänglich zusammengehöriges System hinweisen können, schärfer ins Auge gefasst, wobei sich ergab, dass unter allen Gruppen, die einem Zusammenhang * Ueber Kometen-Radianten. Astrono- mische Nachrichten, Band 9. 335 günstig scheinen, nur eine einzige ist, welche zu einem solchen Schluss wirk- lich berechtigt. Es sind dies zwei Ko- meten, von denen der eine am 11. Juli 1524, der andere am 10. September 1855 sein Perihel passirt hat. Bei die- ser Auswahl muss hauptsächlich die Einschränkung gemacht werden, dass “ alle vor dem Aphelium liegenden Schnitt- punkte auszuschliessen sind, denn natur- gemäss kann ein wirklicher Radiations- punkt nur auf jener Strecke sein, die der Komet während seines Laufes vom Aphel zum Perihel durchmisst. Schliessen wir diese Auseinander- setzungen mit einer kurzen Betrachtung, die in manchen Fällen von Wichtigkeit sein kann. Es befinde sich an der Grenze der Anziehungssphäre unserer Sonne ein Komet, dessen relative Be- wegung sehr klein und zwar gleichför- mig und geradlinig ist. Zielt nun die Rich- tung derselben nahezu auf die Sonne (denn nur in diesem Falle kann das Gestirn für uns sichtbar werden), so sind von jetzt an schon die vier Ele- mente gegeben, welche sich auf Lage und Dimension der Bahn beziehen. Legt man durch ein Bahnstück des Ko- meten und durch die Sonne eine Ebene, so hat man damit Knoten und Neigung, die Differenz zwischen der Bewegungs- richtung und der Verbindungslinie zur Sonne bestimmt den Perihel-Abstand und der heliocentrische Ort des Kometen selbst giebt die Lage des Apheliums. Daraus folgt: Jeder Körper, der einen bestimmten Punkt in gleicher Richtung und Geschwindigkeit passirt, muss die- selben Bahnelemente haben; wenn sich daher eine Gleichheit der Elemente zeigt, so brauchen die beiden Kometen desshalb nochimmer nicht identisch zu sein. Freilich wird es sich nur ausser- ordentlich selten ereignen, dass in dem ungeheuren Raum, der diesen Himmels- körpern zur Verfügung steht, genau an der Stelle, die ein Komet passirt hat, später einmal ein zweiter eintrifft, der 336 dieselbe Bewegungsrichtung besitzt; auch kann man aus dem in der Son- nennähe liegenden Bahnstück nichtleicht einen Schluss auf die Bewegung des Gestirnes in so entlegenen Strecken ziehen, da schon die geringfügigste Aen- derung eines Bahnelementes, z. B. der Länge des Perihels, eine beträchtliche Verschiebung des Kometen im inter- stellaren Raum zur Folge hat, aber immerhin mag in dieser Betrachtung die Erklärung des Umstandes zu suchen sein, dass öfters die Bahnelemente eines Kometen fast ganz mit denen eines anderen übereinstimmen, und die Ge- stirne trotzdem nicht identisch sind. Ich habe übrigens nur wenige hieher bezügliche Kometenpaare gefunden, so z. B. die Kometen von 1532 und 1661, welche schon Pıner& für identisch ge- halten hat; für den Fall der Identität hätte um das Jahr 1790 eine Wieder- kunft stattfinden müssen, doch hat sich diese Muthmassung nicht bestätigt. Ferner gehören hieher die Kometen von 1810 und 1863 (Dec. 27), die man auch : seinerzeit mit einander in Zu- sammenhang bringen wollte.* Es sind nun nahezu alle Umstände und Erscheinungen in Betracht gezogen, welche einen Schluss auf die Zuständig- keit der Kometen mit einiger Sicherheit gestatten. Wir finden immer mehr, dass diese Gestirne als ein ganz eigenes System zu gelten haben, (denn selbst die Beziehungen der wenigen periodi- schen Kometen zu den grossen Planeten sind nichts Ursprüngliches, sondern eine einfache Folge der Gravitation,) und dass sich die kometarischen Massen zur Zeit der Bildung unseres Planeten- systems ausserhalb desrotirenden Nebel- balls befanden, gegenwärtig aber unsere Sonne auf ihrer Wanderung durch den Weltraum begleiten und mit ihr ziem- lich gleichen Schritt halten. * Nachschrift. Während des Drucks dieser Zeilen war an unserem Horizont ein schöner Komet zu sehen, den ich | Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. als neues Beispiel für die hier angege- bene Schlussfolgerung betrachte. Seine Bahn hat grosse Aehnlichkeit mit der des Kometen vom Jahre 1807, wess- halb man gleich im Anfang die Iden- tität beider Gestirne für wahrscheinlich hielt. Vom 22. Juni 1881 an ist der Komet auf der Nordhemisphäre vielfach beobachtet worden, was Veranlassung zu zahlreichen Bahnberechnungen gab, deren Resultate unter einander in recht befriedigender Weisestimmen. Vergleicht man aber diese Bahnelenente mit de- nen des 1807er Kometen, so bleiben sie denselben zwar immer noch ähnlich, werden ihnen aber durchaus nicht gleich; blos die Neigung ist in beiden Bahnen die- selbe (63°), in den übrigen Elementen treten jedoch Differenzen auf, die durch die Einwirkung eines Planeten (etwa Venus) nicht erklärt werden können. Dass die Länge des aufsteigenden Knotens, die doch sicher zu bestimmen war, in beiden Bahnen um 4° verschie- den ist, spricht besonders gegen die Identität; diese Differenz wird sich auch bei einer späteren Rechnung nicht mehr erheblich verringern lassen. Wir haben also zwei Kometen vor uns, die fast in derselben Bahn einher- gehen ähnlich wie die Sternschnuppen, welche demselben Meteorring angehören. Nimmt man nun an, dass der dies- jährige Komet seinerzeit in der Nähe des Ruheortes an ziemlich derselben Stelle wie der von 1807 unter den oben mitgetheilten Umständen sich be- funden hat, so folgt die Aehnlichkeit der Bahnen von selbst, ohne dass dess- halb an eine Identität zu denken wäre. Wollte man dagegen beide Gestirne als zusammengehöriges System betrach- ten, so müsste die Theilung zu einer Zeit und in einer Art stattgefunden haben, für deren Vorstellung unsere gegenwärtigen Kenntnisse nicht -ausrei- chen, da ja in diesem Falle der eine Körper dem andern schon um 74 Jahre vorausgeeilt wäre. J. H. Zur Geschichte des Homologiebegriffes und der genetischen Naturbetrachtung. Von Dr. Willibald Hentschel. Innerhalb des wissenschaftlichen Na- turbetrachtens hat sich im Laufe der Geschichte eine zwiefache Sonderung der Forschungsgebiete hervorgethan. Wie im Alterthum die beiden Philo- sophenschulen der Jonier :und Eleaten sich in gewissem Sinne feindlich gegen- über standen, indem die eine dieser Schulen ein einheitliches Gesetz der Entwickelung und des Werdens für das Weltganze in Anspruch nahm, die an- dere dagegen dieser Weltauffassung geradenwegs entgegentrat, und alle Ent- wickelung der Welt, alle zeitliche Um- | gestaltung derselben als innerlich wider- spruchsvoll aufzufassen suchte, so sehen wir auch die heutigen Disciplinen der Naturkunde in zwei gegensätzliche La- ger zerfallen, von denen das eine eine fruchtbare Erklärung seiner Objecte durch eine historische Herleitung der- selben von einfachsten Ausgangspunk- ten, unter beständigem Hinweis auf die diese Entwickelung treibenden Kräfte anstrebt, das andere sich dagegen bis- her allen entwickelungsgeschichtlichen Vorstellungen verschlossen hat, und seine Naturobjecte als einmal gegebene betrachtet, über deren Wesen und Her- kunft zu forschen — erfolglos sei; wo dagegen solche Erfolglosigkeit nicht von vornherein zugestanden wird, ist doch keinen Ortes der Anfang einer objec- tiven Erkenntniss wahrzunehmen; wir meinen hier eine Erkenntniss, welche von einer blossen Betrachtung der Dinge und der Gesetze des Geschehens zu einer Ergründung des Wesens derselben vorschreitet. Ein Blick auf den Entwickelungs- prozess der Naturwissenschaft überhaupt lehrt zugleich, dass jenes genetische Prineip der Betrachtung immer mehr an Boden gewinnt, wie ja noch in den letzten Decennien sich ein hierauf be- züglicher grossartiger Process auf bio- logischem Gebiete abgespielt hat. Es erhebt sich die von vornherein nicht durchaus zurückzuweisende Frage, ob nicht auch jene bisher dem genetischen Princip der Betrachtung unzugänglichen Disciplinen (Physik im weitesten Sinne und ein Theil der anorganischen Mor- phologie) im weiteren Verlauf der Ge- schichte demselben zugänglich werden möchten, um hierdurch — ähnlich der biologischen Wissenschaft — in eine ganz neue bedeutendere Phase ihrer Entwickelung zu treten. Einige Finger- zeige für ein Für und Wider in dieser Angelegenheit dürften aus einem Stu- dium des nicht nur für die Biologie 338. bedeutungsvollen Begriffes der Homo- logie fliessen, welche Betrachtung uns denn auch in Gegenwärtigem beschäf- tigen soll. Der Begriff der Homologie, wenn wir uns blos an sein Wesen halten, reicht bis in das Alterthum hinein, und werden wir denn zunächst hier seine Gestaltung einer flüchtigen Betrachtung zu unterziehen haben. Die griechische Philosophie bis auf Empedokles und Demokrit begnügt sich damit, in naiv- ster Weise ein Uıtheil über die Welt als ein Ganzes zu fällen. Dieses Ganze entwickelt sich, oder ruht in ewiger Starre, findetsich in beständigem Flusse, oder stellt eine bewegungslose, in allen Theilen gleich schwere Kugel dar, zeigt sich als Product des Wesenwechsels einer Materie, oder des Zusammentritts und der Trennung mehrerer Elemente, oder der Bewegung kleinster Massen- theilchen — immer offenbart sich ein Streben nach einem Verständniss der Natur als eines geschlossenen Ganzen, während den 'einzelnen Naturobjecten oder bestimmten Klassen solcher eine selbständige Betrachtung nur Ausnahms- weise gewidmet wird. Das Chaos, wel- ches sich dem ins Einzelne zu dringen versuchenden Geiste bot, mochte wohl ‚zurückschreckend wirken und die Mein- ung erregen, dass eine irgend eindrin- gende Analyse des Einzelnen dem Men- schengeiste verschlossen sei; auch in dieser Richtung greift die spätere grie- chische Philosophie tief umgestaltend ein und zwar vor allem in ihren zwei hervorragendsten Vertretern, von denen einerseits ein zusammenfassendes Sy- stem aller Naturerscheinung, sowohl physischer als auch intellectueller an- gestrebt wird, wodurch ein systema- tisches Eingehen auf das Einzelne sich unbedingt nothwendig macht, anderer- seits einzelne nunmehr von den übrigen streng gesonderte Disciplinen einer weit gehenden Specialanalyse unterworfen werden. In ersterer Richtung ist die Hentschel, Zur Geschichte des Homologiebegriffes Thätigkeit Puaro's, in letzterer die des ARISTOTELES hervorzuheben. Innerhalb des Platonischen Systems der Ideen werden wir auch den Begriff der Ho- mologie auftauchen sehen, welcher von nun an eine wichtige Rolle in der Wissenschaft spielen sollte. — Bei der Betrachtung der Ideen, d. h. der menschlichen Abstractionen aus mehr oder weniger umfassenden Gruppen von Einzelerscheinungen, ent- wickelte sich bei Praro allmählich ein Begriff der Verwandtschaft dieser Ideen und damit auch der Naturobjecte; schon die Thatsache, dass es möglich sei, aus einer umfassenden Gruppe von Ein- zeldingen einen abgeschlossenen Begriff zu abstrahiren, fordert eine Verwandt- schaft, eine Gleichheit der Eigenschaf- ten all dieser Objecte. Die innerhalb der idealen Abstractionen durch Praro entdeckten Beziehungen gestatten eine Zusammenfassung auch der Ideen zu Ideen höherer Ordnung, wodurch es möglich wird, über der concreten Er- scheinungswelt ein System übereinander geordneter Begriffsetagen aufzubauen. Diese Entdeckung der Verwandt- schaft der Ideen setzt Puaro in Er- staunen, er findet in derselben eine göttliche Eingebung und einen Quell bewundernder Betrachtung, und wenn wir die Bedeutung des Platonischen Begriffsschema’s in Betracht ziehen und bedenken, dass alle Wissenschaft bis auf den heutigen Tag sich wesentlich mit einem planvollen Ausbau jener zu- erst durch Praro angestrebten Begriffs- pyramide beschäftigt, so werden wir solches ahnungsvolle Erstaunen nicht unbegreiflich finden. ‚Wir brauchen uns nur etwa aus der Biologie alles zu ent- fernen, was mit dem System zusammen- hängt, um jene Wissenschaft auf ein Unbedeutendes zusammenschrumpfen zu sehen. Die Beziehung nun, welche PrAro veranlasst, zwei Naturobjecte oder zwei Ideen als unter eine neue Idee unter- und der genetischen Naturbetrachtung. zuordnende, anzusprechen, haben wir als Homologie zu bezeichnen. Offenbar ist hier gleich die Vorstellung, dass diese Beziehung der Homologie auf eine Gleichheit der Objecte hinauslaufe, ganz auszuschliessen, vielmehr zeigt sich nur eine gewisse Aehnlichkeit jener, welche mit der zunehmenden Abstraction der Begriffe in den denselben untergeord- neten ÖObjecten einer weitgehenden Divergenz der Charaktere weichen kann: während die Mitglieder einer Thier- spezies sich oft kaum merklich von einander unterscheiden, können zu einer Gattung oder einer Classe schon weit auseinandergehende Formenkreise ge- hören. ‚Bei der Vergleichung der Objecte ist indess noch in Betracht zu ziehen, dass dieselben fast immer höchst zu- sammengesetzter Natur sind, wesshalb einem Vergleich derselben eine ein- gehende Analyse vorauszugehen hat, worauf alle Objecte als Homologa zu erklären sind, innerhalb deren sich ein Maximum von gleichen Theilen con- statiren lässt. Aus alledem folgt, dass das Kriterium der Homologien für PuAro ein mehr oder weniger willkürliches und nicht scharf zu umschreibendes ist und lediglich auf Aehnlichkeiten der Natur- objecte hinausläuft. Die Versuche zur Erklärung dieser Homologien als eigen- thümlicher gegenseitiger Beziehungen der Naturerscheinungen unter einander sind bei PrAro bekanntlich so durch- aus subjectivistisch metaphysischer Art, dass ein näheres Eingehen auf diesel- ben hier überflüssig erscheint. Der Weiterbildung dieses Platoni- schen Natursystems in allen seinen Theilen, sowie der Umgestaltungen, welche der Homologiebegriff innerhalb der verschiedensten Disciplinen erleidet, zu folgen, kann nun nicht unsere Auf- gabe sein, wir begnügen uns vielmehr für diese Betrachtung zunächst mit einem beschränkten Gebiete dem der biologischen Wissenschaft und be- 339 halten uns zum Schluss eine Rundschau auf die übrigen naturwissenschaftlichen Disciplinen vor. Das erste eingehendere System des Thierreichs stammt von ARISTOTELES und muss als eine der hervorragendsten wissenschaftlichen Leistungen aller Zei- ten angesehen werden; die niedersten Begriffsordnungen innerhalb desselben bilden die Arten, welche den unsrigen gleichnamigen Formenkreisen mehr oder weniger entsprechen, als von der Natur selbst gebildete Gruppen von Einzel- wesen, wobei die aristotelische Art von ziemlicher Dehnbarkeit ist, man sich überhaupt über deren Wesen keine weiteren Kopfzerbrechen zu machen hat; darüber fügen sich noch Ideen einer zweiten Ordnung, unseren Gat- tungen entsprechend, deren Vereinigung unter Ideen einer dritten Ordnung oft mit grösster Genialität zu Stande ge- bracht ist. Als besonderes Verdienst des ARISTOTELES ist hierbei anzuerken- nen, dass er das Platonische Kriterium des Homologiebegriffes auf diesem spe- ziellen Gebiete in mustergiltigster Weise zur Anwendung bringt, dasselbe auch einer fruchtbaren Weiterbildung unter- wirft; so begnügt sich ARrısToTELES nicht mit einer Analyse des fertigen Thieres, also einer möglichst eingreifen- den Anatomie desselben, fordert viel- mehr auch eine solche des werdenden Organismus auf allen Stadien seiner Entwickelung, um so die zur Vergleich- ung zu benützenden Instanzen um ein Wesentliches zu vermehren; bekannt- lich hat Arıstoretes diesem ontogene- tischen Princip der Betrachtung eine Reihe seiner wichtigsten biologischen Erfolge zu verdanken. Wenn demnach das Aristotelische Thiersystem uns als eine Ausführung eines Theils des Platonischen Logos erscheint, so ist doch der Sinn, in wel- chem dieser Ausbau durchgeführt wird, ein wesentlich anderer ; die Analyse der Erscheinungswelt, welche für PLaro im 340 Grunde nothwendiges Uebel war, ist hier einziger Zweck, wo es sich vor Allem um Kenntniss des Einzelnen han- delt und die höheren Begriffscategorien nur als Mittel zur Erreichung einer möglichst systematischen Kenntniss von den Einzeldingen dienen. Nach Arısto- TELES unterliegt mit der Naturphilo- sophie auch die Thierkunde einem weit- gehenden Verfall, nach welchem erst durch die Bemühungen der letzten Jahr- hunderte der Aristotelische Standpunkt wieder errungen werden konnte. Dieser Verfall geht so weit, dass der vielgerühmte Prinsvs die Thiere ihrem Wohnorte nach in Landthiere und Wasserthiere eintheilen konnte; also gegen ARISTOTELES eine endlose Verflachung des Homologiebegriffes, als dessen kritisches Merkmal hier die Le- bensweise der Thiere gilt; wenn wir nicht wüssten, dass der vorzügliche Zoologe der Reformationszeit C. GESsS- NER bei der Aufstellung seines Systems (1551) von wesentlich andern Rück- sichten geleitet wurde, ohne das Stre- ben nach einem natürlichen System auf- zugeben, so würden wir in seinem al- phabetisch geordneten Thiersystem die weitgehendste Verflachung des Homo- logiebegriffes zu constatiren haben. Indess zeigt sich schon mit dem 13. Jahrhundert eine Wiedererweckung des aristotelischen Systems und damit ein gesunderes Streben nach einem alle Charaktere der Organismen in Betracht ziehenden — desshalb natürlichen bio- logischen System; dieses Streben ver- tieft sich bei Worrzn und namentlich bei MAuricH1 so weit, dass dieser letz- tere schon das Bedürfniss einer Ver- gleichung aller Thierformen mit allen fühlen konnte und zum Verständniss der Höheren ein Studium der Niederen als nothwendig erachtete; damit ist aber ein von äusserlichen Aehnlichkei- ten zu einem tieferen Verwandtschafts- studium fortschreitender Vergleich ge- geben. Hentschel, Zur Geschichte des Homologiebegriffes Im Laufe des 17. Jahrhunderts tritt zu diesen naturphilosophischen Ten- denzen der Biologie das neue Bestreben ein chaotisch anwachsendes Material zu beherrschen und eine Uebersicht über dasselbe zu erlangen, aus welchem Be- streben der Speciesbegriff J. Ray’s her- vorgeht; letzterer Forscher bemüht sich. jenen von ARISTOTELES in unbestimmtem Sinne gebrauchten Begriff in eine feste Form zu bringen, und in ihm ein Maass für die thierische Organisation aufzu- stellen, welches nicht in das Formen- reich einzuführen sei, sondern mit dem- selben bereits gegeben erscheint. Die- ses Bestreben, den Speciesbegriff aller subjectiven Willkür zu entziehen, führt Ray zu einer ersten Aufstellung einer positiven Charakteristik der thierischen Homologie, wenigstens, insofern sich diese auf die Mitglieder einer Species bezieht. Alle Formen, meint Ray, ge- hören zu einer Species, welche ihre specifische Natur unwandelbar behalten und von denen die eine nicht aus dem Samen der anderen entstehen kann; hiemit wird der Speciesbegriff allen übrigen biologischen Begriffscategorien als blos logischen gegenübergestellt und als der Ausdruck einer schon in der Natur gegebenen Gruppirung und zwar unwandelbaren Gruppirung betrachtet. Dieser vermeintlichen in der Natur selbst gegebenen Gruppirung der For- men wurde später von Liwn& eine noch präcisere Formulirung durch den Aus- spruch gegeben, dass es so viele Arten gebe, als am Beginn der Dinge von Gott einzelne Thierformen geschaffen worden sind. — In dieser Definition der Species als einer realen physiolo- gischen Einheit liegt eine schwer gra- virende historische That, welche die biologische Thätigkeit zunächst in rein äusserlich systematische Bahnen leitet und sie auf ein tieferes Eindringen in das Wesen der organischen Formen verzichten lässt; die Species, über deren etwaige Wandelbarkeit man sich bisher und der genetischen Naturbetrachtung. keine bestimmte Vorstellung gebildet hatte, deren Unwandelbarkeit man in- dess vorkommenden Falles wohl kaum als Glaubensformel betrachtet hätte, erstarrt nunmehr zu einer in ihrem Wesen unenträthselten Sphinx. Was nun die Homologien Linnt®'s betrifft, so sind consequenterweise deren zwei verschiedene Arten zu unterschei- den, einmal die in der Natur gegebenen Homologien zwischen den einzelnen Re- präsentanten der Species — dieser Ho- mologiebegriff habe gar nichts mit un- serem Ermessen zu thun, er ist nichts anderes, als echte Blutsverwandtschaft, alle Individuen, die unter eine Species fallen, gehören einer grossen durch zahlreiche Vermehrungsprocesse ausge- breiteten Familie an; hieran zu rütteln sei thöricht, es handle sich nur darum, diese Verwandtschaften zu constatiren und die überall in der Natur begrenz- ten Arten als solche anzuerkennen... Zweitens ist eine andere Art der Ho- mologien bei Lisn#& zu unterscheiden, welche nicht identisch mit jener Bluts- verwandtschaft ist, vielmehr nur als Ausdruck einer mehr oder weniger be- deutenden Uebereinstimmung des Baues dienen kann; diese Homologien bezie- hen sich auf die höheren Begriffscate- gorien des Lmmwn®’schen Systems. Bei der Feststellung derselben schlägt Line einen wesentlich anderen Weg ein, als ARISTOTELES; es handelt sich für Linn# um nichts mehr und nichts weniger, als um die Aufstellung eines Systems, in dem man sich mit möglichst gerin- gen Umständen orientiren und in wel- chen man eben so leicht jede neue Form einordnen könne; demgemäss wird ein möglichst durchgreifendes und leicht zu constatirendes Merkmal benützt, um nach seinem verschiedenen Verhalten als bestimmendes Merkmal für die eine oder die andere Gruppe von Formen zu dienen; also in schroffem Gegen- satze gegen ARISTOTELES, für den ja das System nur der präcise Ausdruck 341 tiefgehender und vielseitigster Forsch- ung sein sollte, bei dem der Begriff der Homologie der Ausdruck einer be- stimmten und wesentlichen Gemein- schaftlichkeit des Baues war, ein durch- aus künstliches System, wesentlich zum Zwecke einer mühelosen Gruppirung und Wiedererkennung der Formen, ein Ho- mologiebegriff als beliebiges Erkenn- ungs- und Gruppirungsmerkmal‘ der thierischen und pflanzlichen Form; das gilt nach dem gesagten nur für die höheren Categorien, für die Species hebt sich ja das neue Princip der Bluts- verwandtschaft hervor. So bedeutungsvoll nun auch das Linx#’sche System für eine vorläufige Örientirung im Thier- und Pflanzen- reiche war, so konnte es seiner mangeln- den philosophischen Tiefe wegen doch nur für ein kurzes dem fortschreitenden Forschergeiste. genügen, und das umso- mehr, als man ja nur auf ARISTOTELES zu- rückzugehen brauchte, um eine wesent- liche Vertiefung des Standpunktes zu er- fahren. — Diese principielle Vertiefung des Standpunktes einerseits, sowie eine ungemein fruchtbare Cultur der mor- phologischen Einzelforschung sind die bedeutendsten Verdienste CuviEr’s. Mit ihm dringt die Betrachtung der Formen von dem stummen Aeusseren der Lebwesen wieder in die Tiefe der- selben um eine bis zur äussersten Grenze der Möglichkeit fortschreitende ana- tomische Kenntniss anzustreben. Die so gewonnene Einzelkenntniss darf in- dess nicht als Abschluss der Betracht- ung angesehen werden, vielmehr hat sich auf dieselbe eine systematische Vergleichung aufzubauen, um dadurch zur Erkenntniss der Homologien als dem Ausdrucke tiefster Formenverwandt- schaft zu gelangen. Neben der Formen- verwandtschaft ist indess noch Mehre- res in Betracht zu ziehen, was bei der Aufstellung der Homologien jenes Kri- terium der Formenidentität zu erwei- tern und zu bestätigen hat. — Diese 342 zweite Aeusserung der Homologien be- steht in der gleichen gegenseitigen La- gerung der Theile, in welcher sich ganz dieselbe systematische Gesetzmässigkeit wiederfindet wie in der Gestaltung jener Theile selbst. Hierdurch wird der ver- gleichenden Morphologie die Möglich- keit gegeben, die sich gleichsam ver- steckenden Formen auch in fremdem (Gewande wiederzuerkennen und mit äusserlich gänzlich anders gestalteten als gleichwerthig anzuerkennen, so blosse Analogien aus dem Gebiete der Homo- logien fernzuhalten ; es liessen sich auch Reihen von Organen aufstellen, deren Endglieder durchaus verschieden waren, vielleicht ganz verschiedenen Functio- nen dienten, indess durch die vermit- telnden Beherginge, vielleicht auch der Lagerung wegen als Homologa zu be- zeichnen waren. Als Ergänzung zu diesen Bemüh- ungen einer Vertiefung der Homologie dürfen die Forschungen ©. E. v. Barr’s gelten und das durch denselben seit Arısıro OTELES zuerst wieder in die Ver- gleichung eingeführte ontogenetische Princip, das gleich zu Beginn seine selbständige Bedeutung dadurch docu- mentirte, dass es BAER auf Grund sei- ner entwickelungsgeschichtlichen Unter- suchungen gelang, unabhängig von Cv- VIER, dessen aus dem Boden rein mor- phologischer Betrachtung erwachsene vier thierische Typen, als über den Klassen der Thiere stehende, jene neu zusammenfassende Begriffscategorien, selbständig festzustellen. — Es kommen demnach von nun an viererlei Principien bei der Aufstellung der Homologien in Betracht: 1) Formengemeinsamkeit, 2) gleiche Lagerung, 3) Reihen von Uebergängen aus einem Extrem in das Andere, 4) die individuelle hellen schichte. Von der Species wird hierbei, wie bei Lınnk ganz abgesehen, diese re- Hentschel, Zur Geschichte des Homologiebegriffes präsentirt einen von der Natur gege- benen Kreis blutsverwandter Formen, über dessen Umfang und Bedeutung kein Zweifel zu herrschen hat. Auf die- ser Grundlage gelingt es nun der Cu- vırr'schen Schule, ein so abgeschlos- senes und natürliches System der Thiere, aufzubauen, dass selbst der durch die Einführung des genetischen Principes in der zoologischen Betrachtung herbei- geführte Umschwung keinen wesent- lichen Umbau desselben mehr nöthig machte, dass auch die neuere Morpho- logie, abgesehen von der Herbeiziehung einer ins Weitere gehenden Paläonto- logie, ihre Schlüsse auf derselben Grund- lage aufzubauen sich veranlasst sieht. Auch für die Cuvzer’sche Schule sind demnach die Formen etwas unveränder- lich vom Schöpfer Gegebenes, eine Er- kenntniss der Ursachen ihres Seins, Gesetze, nach denen sie ins Dasein treten, ist ebenso unmöglich, wie die Erkenntniss jenes Schöpfers selbst, da- her es nur thöricht sei, jenen Fragen nachgehen zu wollen; vielmehr kann es unsere einzige Aufgabe nur sein, uns mit ordnendem Geiste in das Chaos der Formenwelt zu vertiefen, die Tau- send zwischen den einzelnen Formen geknüpften Beziehungen zu erfassen und auf dieser Basis ein System des Thier- reiches zu errichten, als einen Ausdruck des tiefst und vielseitigst ergründeten Wesens jener Thierformen. Dieser blos betrachtenden und ord- nenden Wissenschaft tritt seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts ein neues Streben gegenüber, welches in seinen Grundlagen mit den Dogmen jener in Conflict geräth, sich auch bald in einem feindlichen Gegensatze zu jener ÖUvIER'- schen Schule befindet; und zwar tritt uns hier ein verkleinertes Bild jenes gewaltigen Kampfes innerhalb der grie- chischen Geisteswelt gegenüber, den die Jonier und Eleaten einstens gekämpft, auch hier tritt, wenn auch in umge- kehrter Reihenfolge, einer sich mit dem \ und der genetischen Naturbetrachtung. gegenwärtig ZU erringenden Abbilde der Natur begnügenden Richtung eine zweite gegenüber, welche diesen gegen- wärtigen Zustand als einen gewordenen betrachtet und durch eine stufenweise Erklärung desselben ein tieferes Ver- ständniss seines Wesens anstrebt. Da- her giebt es für diese neue Richtung der Betrachtung keine starre, seit einer göttlichen Schöpfung unveränderte For- menwelt, sondern eine allmählich aus einfachsten Anfängen beginnende und nach gewissen zu bestimmenden Ge- setzen bis zu ihrer heutigen Stufe em- porsteigende, keine göttliche augen- blickliche Phantasieschöpfung, sondern ein stufenweises historisches Entstehen des Vollkommenen aus minder Vollkom- menem, dieses aus dem Einfachsten. Das Speciellere dieser Entwicke- lungslehre der Organismen darzulegen, kann nicht unsere Aufgabe sein; es erscheint nur geboten anzudeuten, in welch neuerer Gestalt nunmehr das System der Organismen uns entgegen- tritt, und welche Stellung dem Homo- logiebegriff innerhalb desselben zuzu- schreiben ist. — Wenn, wie schon an- gedeutet, das aus der Cuvızr’schen Schule hervorgegangene System der Thiere so gut wie beibehalten werden, auch die Methode der morphologischen Forschung dieselbe bleiben konnte, so ist doch jenem System nunmehr eine wesentlich neue Bedeutung zuzuschrei- ben: Die Species wird in keinen Gegen- satz zu den übrigen biologischen Be- griffscategorien gebracht, sondern als eben solcher logischer, daher künst- licher Formenkreis angesehen. Die Vergleichung der Formen be- onügt sich nicht mehr mit einer Fest- stellung der Formengleichheit, sondern schreitet, von jener ausgehend, zu einer Feststellung der Blutsverwandtschaft der Organismen vor. Demnach begnügt sich das natür- liche System nicht mehr damit, als ein 345 Ausdruck der Formengleichheit der Or- ganismen zu dienen, sondern stellt die blutsverwandtschaftlichen Beziehungen aller Organismen unter einander dar. Der Begriff der Homologie wird dem- nach mit dem der Blutsverwandtschaft identificirt, seine Bedeutung wird eine scharf zu umschreibende und verständ- liche, denn jene tausendfältigen Homo- logiebeziehungen erscheinen nicht mehr als unerklärliche Phantasieproducte ei- nes Schöpfers, sondern als begreifliche Consequenzen der Entwickelung von gleichem Ausgangspunkt. Schon früher wurde gelegentlich bemerkt, dass der Begriff der Homologie von grosser Dehn- barkeit sei, es wird demnach unsere Aufgabe sein, die verschiedene Gestal- tung, in welcher er innerhalb des ge- netischen Systems (wenn wir das neue System so bezeichnen wollen) auftritt, einer näheren Betrachtung zu unter- ziehen. Hierbei scheiden: 1) Die aus der Vergleichung von Theilen ein und desselben Orga- nismus untereinander entspringen- Homologiebeziehungen. Solche Homologiebeziehungen, die aus einer Vergleichung verschie- dener Organismen oder von Thei- len solcher hervorgegangen sind. Was nun zunächst die letztere Form der Homologie betrifft, welche passend als externe Homologie zu bezeichnen sein wird, so sind, wie angedeutet, auch hier zweierlei Fälle möglich, je nachdem ganze Organismen (Bionten) in Betracht kommen oder Theile solcher. Für die Homologiebezeichnung zwi- schen Bionten hatte sich in der frü- heren Morphologie der allgemeine Aus- druck Verwandtschaft eingebürgert, wo- bei man indess, wie wir sahen, nie- mals an eine aus blutsverwandtschaft- lichen Beziehungen fliessende Erklärung solcher Formenverwandtschaften dachte; um nun diese Art der Homologie von sind zunächst zu unter- 344 jener auf Theile von Organismen be- züglichen zu unterscheiden, wird es zweckmässig sein, sie als biontische Homologie zu bezeichnen. Die- ser Begriff der biontischen Homologie kann nun natürlich in ebenso verschie- dener Bedeutung auftreten, als es ver- schiedene nähere und entferntere Ver- wandtschaftsbeziehungen zwischen Or- ganismen giebt; nach einer monophy- letischen Hypothese würden also in der weitesten Fassung alle lebenden und ausgestorbenen Metazoen untereinan- der biontisch homolog sein, in einer engeren Fassung sämmtliche zu einem Stamm gehörige Formen, in noch en- gerer, die zu einer Klasse gehörigen ; fortschreitend engere Begriffe würden die biontischen Ordnungs-, Familien-, Gattungshomologien bezeichnen, bis endlich die biontische Specieshomologie sich auf die Mitglieder einer Species bezöge; natürlich wäre auch hiermit keine unterste Grenze der Beschrän- kung gefunden, vielmehr könnte dieser Homologiebegriff in einer interfamiliä- ren, geschwisterlichen, elterlichen u. s. w. biontischen Homologie noch des Wei- teren Einschränkungen erfahren, wie das ja innerhalb der menschlichen Gesell- schaft praktisch in so ausgedehntem Maasse zur Durchführung gelangt. Als zweite Form der externen Ho- mologie müsste man eine partielle Homologie unterscheiden als eine zwischen Theilen verschiedener Or- ganismen bestehende und damit also eine specielle Verwandtschaft dieser Theile besagende. Es möchte nun schei- nen, dass diese partiellen Homologien auf Selbstverständlichkeiten hinauslie- fen, da eine nähere oder entferntere Verwandtschaft der Organismen auch eine solche Verwandtschaft ihrer Theile einschliesst, indess ist zu bedenken, dass die biontischen Homologien erst synthetisch aus den ins Einzelne ge- henden partiellen Homologien zu er- schliessen sind, auf deren möglichst Hentschel, Zur Geschichte des Homologiebegriffes kritische Feststellung demnach alles ankommt. — Es erübrigt nun noch, den Sinn festzustellen, welcher dieser Form der Homologie von der neueren Morphologie beigelegt wird; es ist auch hier natürlich von dem organischen Ent- wickelungsprocess auszugehen und die partielle Homologie auf eine phylogene- tische Differenzirung zweier Theile ver- schiedener Organismen aus gleicher Anlage zurückzuführen ; — da nun aber der phylogenetische Process einer un- mittelbaren Betrachtung nicht zugäng- lich erscheint, so macht es sich nöthig, auf einem Umwege zur Feststellung jener Homologien und damit des Ent- wickelungsprozesses zu gelangen, wel- cher aber auf die schon Hervorgeho- benen vier Cuvızr’schen Instanzen un- ter Hinzuziehung der in manchen Fällen bedeutungsvollen Paläontologie hinaus- läuft. Eine besonders hervorragende Stel- lung unter diesen Instanzen nimmt in neuerer Zeit die individuelle Entwicke- lungsgeschichte ein, welche im Hinblick auf das biogenetische Grundgesetz ein- mal einen unmittelbaren Schluss auf die Vorfahrenkette, und damit auf die Stellung einer Form im System erlaubt, andererseits aber aus der Gleichheit des Ausgangspunktes der Entwickelung zweier heterogener Theilformen ver- schiedener Organismen oft noch einen Schluss auf die homologische Bezieh- ung derselben möglich macht, wo sämmtliche übrige Instanzen keine si- chere Gewähr mehr zu geben vermögen. Die nähere Bedeutung der partiellen Homologie wird demnach 'als eine aus dem gleichen phyletischen Ursprung fliessende Beziehung der Theilformen zu bezeichnen sein, deren fortschreitende Divergenz den phylogenetischen Process zur Folge hat. Bezüglich der verschiedenen Formen der partiellen Homologie wäre zu be- merken, dass dieselben ein äusserst mannigfaltiges Bild darstellen müssen, und der genetischen Naturbetrachtung. ein viel reicheres, als die durch das natürliche System zu vollem Ausdrucke gelangte biontische lHomologie; wenn jene biontische Homologie nur das all- gemeinste Resultat der biologischen Forschung zum Ausdrucke bringt, so würde ein System der partiellen Ho- mologien alle zwischen allen Theilen der Organismen bestehenden Beziehun- sen einschliessen müssen, demnach würde ein solches System einen Aus- druck der gesammten Fülle unseres vergleichend morphologischen Wissens gewähren. Auch hier würde bezüglich der en- geren oder weiteren Grenzen der ver- glichenen Formenkreise zu unterschei- den sein zwischen: partieller Stammeshomologie, » Classenhomologie u. s. w., bezüglich des Formenwerthes der ver- glichenen Objecte aber — zwischen: Personenhomologie (wenn die be- treffenden Personen Colonieele- mente repräsentiren), metamerischer Homologie, antimerischer, organologischer, Gewebe- und Zellhomolosgie. All diesen mannigfaltigen eigent- lichen, externen homologischen Bezieh- ungen können wir das System der internen Homologien gegenüberstellen; wenn es die Aufgabe der ersteren war, die möglichen Beziehungen zwischen den Theilen verschiedener Organismen und die Blutsverwandtschaften der Bi- onten festzustellen, so ist es die we- sentlich verschiedene Aufgabe dieser internen Homologien, die Beziehungen, welche zwischen den Theilen ein- und desselben Organismus bestehen, zu be- stimmen. Diese interne Homologie, als Aus- druck des Aufbaues und Wesens der Einzelorganismen, wird demnach die erste und wesentlichste Voraussetzung jener externen Homologie sein, und die Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 345 schon von Praro geforderte Analyse der Einzelerscheinungen repräsentiren. Die Unterscheidung einer internen Personen-, Metameren- und Antimeren- homologie erscheint nun hier überflüs- sig, da die Homologie der entsprechen- den Formeneinheiten innerhalb des Thie- res oder der Pflanze als selbstverständ- lich erscheinen, dagegen ist es wohl nöthig, zwischen einer internen Organhomologie, einer Gewebehomologie und einer internen Zellhomologie zu unterscheiden. Was nun zunächst die internen Or- ganhomologien betrifft, so erscheint es nöthig, auch hier wieder eine Reihe von Unterabtheilungen festzustellen ; so wird die homologische Beziehung eine wesentlich verschiedene Bedeutung ha- ben, je nachdem die zu vergleichenden Organe eine verschiedene Lagerung innerhalb verschiedener Organsysteme, Antimeren, Metameren u. s. w. haben; für diese speciellen Fälle der internen OÖrganhomologie sind auch innerhalb der vergleichenden Morphologie bereits eine Reihe von Bezeichnungen vorhan- den, von denen wir die gebräuchlichsten anführen wollen: Die homodynamen Theile GEGEN- BAUR'S, worunter etwa die Schleifen- canäle der Anneliden, die Kiefer und Fühleranhänge der Arthropoden fallen, als intern homologe Theile innerhalb verschiedener Metameren, wären in un- serem Schema als intern-metamerische Organhomologa zu bezeichnen. Die Ho- motypie Ge». (rechter und linker Lun- genflügel ete.) als interne antimerische Organhomologie. Die Homonomie Ge». (zwischen Organen bestehend, die ein- und der- selben Nebenachse angefügt sind; wie z. B. zwischen den Fingern, Zehen, Flossenstrahlen einer Wirbelthierextre- mität). Endlich würde es nöthig sein, unter einer internen diffusen Homologie diejenigen Fälle zusammenzuziehen, in 24 346 welchen homologe Theile ohne alle Be- ziehung zu den Achsen des Thier- und Pflanzenkörpers auf demselben zerstreut erscheinen, wie etwa die Homologien zwischen den Zähnen und Placoidschup- pen der Selachier. Innerhalb der internen Gewebe und Zellhomologien wird es des weiteren nöthig, zwischen Homologien in einem weiteren oder engeren Sinne zu unter- scheiden, indem ja, den Begriff der Homologie möglichst weit gefasst, etwa sämmtliche Zellen jedes Organismus, als von einer Eizelle abstammend, un- ter einander homolog sind, in einem engeren Sinne sind alle Zellen eines Metamers Homologa, in noch engerem die eines Organes oder Gewebes; nimmt man noch hinzu, dass das System der internen Homologien in den verschie- denen Entwickelungsstadien des thieri- schen und pflanzlichen Körpers ein sehr verschiedenes sein kann, so wird das Bild, welches wir von denselben er- langen, ein noch wesentlich differen- zirteres. Dieses individuelle System jedes Organismus, in welchem das, was man gemeiniglich unter Individualitäts- lehre, Keimblätterlehre und anderen Zweigen der biologischen Forschung zusammenfasst, aufzugehen haben würde, ohne dass dadurch jene individuelle Systematik erschöpft wäre, welches, wie schon angedeutet, als Ausgangs- punkt für das allgemeine biologische System zu dienen hat, wird erst in neuerer Zeit mit tieferem Bewusstsein an- gestrebt (Haeck. Generelle Morphologie) und wird ohne Zweifel an der Hand weitergebildeter ontogenetischer Kennt- nisse zum Ausgangspunkt noch bedeu- tender Vertiefung unserer Kenntniss vom organischen Leben werden. — Be- sonders hervorzuheben ist noch, dass die Kritik der homologischen Beziehungen hier eine wesentlich schärfere und zu- verlässigere ist, da das Gemeinschaft- liche, aus dem die verschiedenen zu vergleichenden Theile im Laufe der On- Hentschel, Zur Geschichte des Homologiebegriffes \. togenesis hervorgehen, nicht selbst wie- der durch Vergleichung festzustellen ist, sondern innerhalb der ontogenetischen Entwickelung unmittelbar vorliegt, hier also blos aufgesucht zu werden braucht. Wenn dem hier gegebenen Schema der möglichen homologischen Bezieh- ungen der Organismen auch keine weitere praktische Bedeutung beizu- schreiben ist, so ist demselben doch zu entnehmen, dass der Begriff der orga- nischen Homologie ein ungemein viel- deutiger ist, wesshalb es nöthig er- scheint, diese vieldeutige Dehnbarkeit desselben beständig im Auge zu be- halten. Fassen wir das Gesagte zusammen, so gelangen wir zu dem Resultat, dass die Entwickelung der organischen Mor- phologie zwei wesentlich verschiedene Stufen durchlaufen hat, eine erste, auf welcher sich dieselbe über eine Betrach- tung der Formen und ihrer Verwandt- schaften nicht zu erheben vermochte, diese vielmehr als unergründliche vom Schöpfer gegebene Objecte betrachtete und eine zweite, innerhalb welcher die Vergleichung der Formen nur dazu diente, zu einer genetischen Betrach- tung emporzusteigen, um auf Grund die- ser letzteren ein wirkliches Verständ- niss der Formen zu erzielen. Es wird sich nun fragen, ob diese zwiefache Gliederung der morphologi- schen Betrachtung allein eigen ist oder ob auch noch andere naturwissenschaftliche Diseiplinen in ihrer Entwickelung einer solchen Gliederung unterworfen sind, und ob demnach dieser Entwickelungs- gang nicht etwa aus einem gemein- schaftlichen Prineip der Naturbetrach- tung entspringe. Da die organische Physiologie über ganz dieselben Objecte der Betrach- tung verfügt, wie die organische Mor- phologie, dieselben nur statt auf ihre Formen auf ihre Functionen untersucht, so erscheint es von vornherein selbst- verständlich, dass mit einer Entwicke- und der genetischen Naturbetrachtung. lung der Formen auch eine Entwickelung der von diesen getragenen Functionen gegeben ist, dass also auch ein auf Grund jenes genetischen Prozesses auf- gebautes natürliches System der Func- tionen und ihrer blutsverwandtschaft- lichen Beziehungen für die Physiologie in Anspruch zu nehmen ist; wenn da- gegen die heutige organische Physio- logie, namentlich auf diesem systema- tischen undentwickelungsgeschichtlichen Gebiete sich noch am Ausgangspunkt ihrer Entwickelung befindet, so kann uns das nicht hindern, dieselbe, bezüg- lich jener aufgestellten Frage, der Mor- phologie als gleichwerthig an die Seite zu stellen. Dessgleichen werden wir jene beiden Stufen der Entwickelung auf den ersten Blick in der Geschichte jener Disciplinen wieder finden, welche als Specialgebiete der Biologie eine mehr oder weniger grosse Selbständig- keit geniessen, wie solche uns in der Anthropologie, Ethnographie, Psycholo- gie, Linguistik u. s. w. entgegen tre- ten; es ist Ja bekannt, wie befruch- tend und bewegend auf allen ‚diesen Gebieten der LAMARCK-DArwın’sche Ent- wickelungsgedanke sich geltend gemacht hat, und wie hier überall durch die Einführung des genetischen Principes der Standpunkt der Naturbetrachtung ein wesentlich verschiedener geworden ist, indem er von einer blossen Be- -trachtung der Objekte zu einer Er- klärung derselben fortschreitet. Eine einzige Ausnahme ‚hiervon bildet die allgemeine Völkergeschichte, welche als Ausgangspunkt aller genetischen Natur- betrachtung anzusehen ist, welche, ihrem Wesen nach, bereits in ihren einfach- sten Anfängen das genetische Princip involvirt. — Die weitgehenden Paral- lelen, welche zwischen der vergleichen- den Sprachforschung und der organi- schen Morphologie bestehen, liegen so auf der Hand, sind auch von so über- zeugender Art, dass sich in den Me- thoden der vergleichend linguistischen 347 | und neueren biologischen Forschung eigentlich kein wesentlicher Unterschied mehr festhalten lässt, dass es im Prin- cip dieselben Fragen sind, deren Be- antwortung durch jene beiden auf den ersten Blick heterogensten Disciplinen angestrebt wird. Wenn uns hier, wegen der Gemein- schaftlichkeit der objectiven Grundlage all dieser Disciplinen, die Gleichheit ihrer Entwickelung nicht weiter Wunder nimmt, so liegt die Sache wesentlich anders innerhalb eines anderen Erschei- nungsgebietes — der allgemeinen Kos- mologie. Um aus dem Engeren in ein Weiteres vorzuschreiten — liefert uns die Geologie in ihrer Geschichte die Bestätigung unseres Satzes von dem allmähligen Umsichgreifen des geneti- schen Principes; aus einer blossen be- trachtenden Geologie entwickelt sich allmählig, wenn auch nicht in so cha- rakteristischen Zügen, wie innerhalb der biologischen Disciplinen, eine Geo- genie, welche es sich vornimmt, die Erdkruste in ihrer jetzigen Gestalt als ein Gewordenes anzusehen, um ihrem Werden Schritt für Schritt folgend, einen Stammbaum der Hervorentwicke- lung der einzelnen Theile derselben aus einander festzustellen und auf Grund dieser Entwickelung ein natür- liches System dieser Theile (Formatio- nen) zu erzielen; innerhalb desselben könnte man dem Homologiebegriffe im Princip ganz dieselbe Bedeutung zu- schreiben, wie innerhalb des Systemes der Organismen, nur dass hier die ob- jecetive Grundlage der Vergleichung, und damit die Beziehungen der vergliche- nen Theile zu einander, wesentlich ein- fachere sind. Ein durchgreifender Unterschied be- steht zwischen dem biogenetischen und kosmogenetischen Prozess nurdarin, dass sich innerhalb des letzteren nur ein einfa- cher Entwickelungsprozessabspielt, wäh- rend innerhalb des biogenetischen sich endlose Reihe solcher Prozesse 24. * eine 348 durch Vermittelung von Fortpflanzung und Vererbung aneinanderreihen, wess- halb denn der kosmogenetische Prozess mit Einschluss des geogenetischen nur mit einem einzigen organischen Zeug- ungskreise zu vergleichen wäre, damit aber auch ein kosmogenetisches System nur mit dem individuellen, nicht mit dem allgemeinen System der Organismen. Damit sind wir indess schon auf die Kosmologie übergegangen, innerhalb welcher der Durchbruch des genetischen Prineipes soweit uns ersichtlich, mit der Kant-Laruace’schen Theorie gege- ben sein möchte, damit aber zugleich wieder die dualistische Gliederung die- ser Disciplin in eine rein descriptive Astronomie und in eine neuere zur Er- klärung der morphologischen Verhält- nisse der Himmelskörper strebende Kosmogenie. Während in allen diesen naturwis- senschaftlichen Disciplinen das gene- tische Princip mehr oder weniger zum Durchbruch gelangt ist, steht ihnen gegenüber ein Kreis weiterer Discipli- nen, welcher jeglicher genetischen Be- trachtung ermangelt, und innerhalb des- sen vielleicht in Folge dieses Mangels bis jetzt eine blosse Betrachtung der Naturobjecte und ihrer Beziehungen vorliegt; diese Disciplinen werden re- präsentirt durch die Physik in weite- stem Sinne und die anorganische Mor- phologie (indess unter Ausschluss der Kosmologie); es möge nämlich vergönnt sein, die gesammten naturwissenschaft- lichen Diseiplinen in der Weise zu grup- piren, dass einer Naturmorphologie (Formenkunde) eine Naturphysiologie (Lehre von der Function und Wechsel- wirkung der Körper) gegenüberstehe, die erstere würde dann in eine anor- ganische (Mineralogie, Beschreibung der Elemente und chemischen Verbindungen, Geologie und Kosmologie) und eine or- ganische Morphologie zerfallen; die Na- turphysiologie abermals in eine anor- ganische (Physik in weitestem Sinne Hentschel, Zur Geschichte des Homologiebegriffes mit Einschluss der Chemie) und eine organische Physiologie. Man hat dann den Vortheil, die in der Gruppirung der naturwissenschaft- lichen Disciplinen noch immer beibe- haltene unpassende Eintheilung in lebende und leblose Natur wegfallen zu sehen, dann aber auch die Genugthuung die chemische Wissenschaft von dem ihr unnatürlich anhaftenden morpholo- gisch-descriptiven Theil zu befreien. Weder den morphologischen noch den physiologischen Disciplinen ist bis jetzt eine alle Gebiete gleichmässig umfassende Entwickelungsgeschichte nachgewiesen; die Eigenschaften des Wasserstoffs, die Anziehungskraft der Himmelskörper sind Dinge, über deren Ursachen und Herkom- men wir ebenso wenig wissen, wie sich die vordarwinsche Biologie eine Erklärung der organischen Formen geben konnte; hier handelt es sich im Gegensatz zu jenen vom genetischen Principe be- fruchteten Disciplinen immer nur um eine Öonstatirung der gegebenen Er- scheinungswelt und um ein möglichst sorgfältiges und eindringendes Studium der Wechselwirkung jener Naturobjecte auf einander. Wir dürfen uns hierbei durch die gerühmte Wissenschaftlichkeit vor allem der physikalischen Zweige nicht beeinflussen lassen, diesen Disciplinen ist vielmehr ein principiell niederer stehender Erkenntnissgrad zuzuschrei- ben, als den genetischen Wissenschaften, trügen diese im Einzelnen auch noch so sehr den Stempel der Mangelhaftig- heit auf sich. — Dieses letztere gilt streng, so lang man nur von den gene- tischen Wissenschaften nichts verlangt, was nicht in den eigentlichen Kreis ihrer Betrachtung gehört, so muss eine Erklärung der Vererbung und Anpassung in ihren letzten Gründen, als eine Auf- gabe der Chemie hingestellt werden, wie überhaupt alle Zurückführung des or- ganischen Geschehens auf substantiell- mechanistische Vorgänge, denn, als ein solcher Ausfluss einer intermolekelaren Dynamik sind auch jene elementaren organischen Functionen anzusehen und damit mit den chemischen Eigenschaften der Körper auf eine Stufe zu bringen. Es müsste nun eine unterhaltende Aufgabe sein, von diesen Gesichtspunkten aus, unsere beiden gegensätzlichen Grup- pen von Disciplinen weiter zu verglei- chen, um innerhalb der geschichtlichen Entwickelung derselben etwaige Paralle- len aufzufinden, um so aus der Geschichte der letzteren Gruppe auf die Frage einiges Licht fallen zu lassen, ob sich innerhalb derselben irgend welche An- zeichen eines auftauchenden genetischen Prineipesconstatiren lassen. So schwan- kend auch ein solcher Weg der Schluss- folgerung sein möge, so drängen sich einem hierbei doch jene Parallelen in Fülle auf, deren Deutung auf ein in irgend welcher Gestalt hereinbrechendes Prineip genetischer Naturbetrachtung nicht als eine durchaus gewagte er- scheinen möchte. Vor allem ist es das System der Elemente, das nicht nur in seiner all- gemeinen Anordnung, sondern auch in den gegenseitigen endlosen Beziehungen seiner Bestandtheile sich dem früheren System der Organismen zur Seite stellt; wenn man den Zerfall der Elemente in die beiden grossen Oberklassen der Metalle und Metalloide in Betracht zieht, den Zerfall jeder derselben in eine Reihe mehr oder weniger abge- schlossener Familien, die stufenweisen Uebergänge, welche sich zwischen den grösseren und kleineren Gruppen con- statiren lassen, endlich den von Ele- ment zu Element allmählich in bestimm- ter Richtung fortschreitenden chemischen und physikalischen Charakter, so drängt sich einem in Hinblick auf die Geschichte der genetischen Wissenschaften unwill- kürlich die Ueberzeugung auf, dass auch hier ein zeitliches Hervorgegangensein des Verschiedenen aus dem Einfachen vorliegen möge, dass demnach mit der Entdeckung dieses Entwickelungspro- \ und der genetischen Naturbetrachtung. 349 zesses und der denselben treibenden Kräfte eine Erklärung dieser Entwicke- lungsproducte gegeben sein möchte. An eine Undenkbarkeit eines solchen Pro- zesses ist hierbei nicht zu appelliren, da dem die Thatsache des biogenetischen Prozesses widerspricht, welcher gewiss seiner Zeit mehr Undenkbares als ein solcher elementarer Prozess in sich trug. Es dürfte indess vorläufig kaum möglich sein, über den Verlauf eines solchen Prozesses etwas näheres auszusagen, wenn man nicht folgende Erörterung auf denselben beziehen wollte. Es erhebt sich nämlich die Frage, ob man innerhalb eines solchen Pro- zesses einen einheitlichen oder vielheit- lichen Verlauf erblicken möchte, d. h. ob derselbe mit einer individuellen Ent- wickelung, wie dem kosmogenetischen Prozess oder einer Vielheitlichen — wie dem biogenetischen zu vergleichen sei? Es möchte nun ein Entscheid dieser Frage zu Gunsten eines vielheitlichen aus aneinandergereihten individuellen Entwickelungskreisen bestehenden Pro- zesses fallen, und zwar in Anbetracht der Beziehungen, welche sich uns aus einer Vergleichung des biogenetischen Prozesses mit jenem vermeintlichen an- organischen ergeben. Wenn wir in den Functionen der protoplasmatischen Körper nichts An- deres, alsFortbildungen des physikalisch- chemischen Characters lebloser Kohlen- stoffverbindungen erkennen, wenn uns, bei genügend vollkommener Kenntniss der Uebergangsstufen zwischen lebloser und belebter Natur ein allmähliches und stufenweises Herauswachsen der letzteren aus jener sich ohne Zweifel ergeben möchte, so scheint es nicht ungerechtfertist, nach dem anorgani- schen Homologon der organischen Indi- vidualität zu fragen; dasselbe müsste ohne Zweifel in dem sinnlich nicht zu- gänglichen nach den heutigen chemi- schen Begriffen intermolekülaren Be- wegungscyclus zu suchen sein, als des- 350 sen sinnlicher Ausfluss uns der physi- kalisch-chemische Charakter jedes Kör- pers zu erscheinen hat. Das Leben je- der organisirten Individualität in seiner vielseitigsten Gestalt wäre demnach als ein in die Länge gezogener, daher zeit- lich verfolgbarer und desshalb auch sinnlich analysirbarer intermolekularer Bewegungsprozess der Materie aufzu- fassen; freilich müsste eine solche Ma- terie der nichtorganisirten gegenüber als endlos zusammengesetzt angesehen | werden. Demnach wäre auch der bio- genetische Prozess in seiner Totalität jenem anorganischen Prozess wenigstens in gewissem Sinne zu vergleichen. * In Consequenz dieser Anschauung könnten wir uns veranlasst sehen, auch in diesem vorausgesetzten anorganischen Prozess einen aus endlosen Einzel- prozessen (Individualitäten) zusammen- gesetztenBewegungsprozesszuerblicken; wenn es einmal möglich werden sollte, auch für diesen Prozess eine Entwicke- | lung aufzustellen, so würden natürlich auch der chemisch physikalischen Wis- senschaft die jetzt noch verschlossenen Segnungen der genetischen Betrachtungs- weise erschlossen werden. In weiterer Consequenz dieser An- schauung müssten natürlich auch die zusammengesetzten chemischen Körper als verschmolzene Bewegungsprozesse verschiedener Elemente angesehen wer- den. * Die Weiterbildung dieses Gedankens s. Kosmos: Jg. IV. Heft 9. Ueber die ur- sächliche Erklärung der Vererbungserschei- nungen. Hentschel, Zur Geschichte des Homologiebegriffes etc. Von diesem Standpunkte aus fällt nun leicht ein bedeutendes Licht auf die allgemeine Erkenntnisstheorie: Insofern, als die heutigen elemen- taren Wissenschaften der Physik und Chemie so häufig und wiederholt sich der naiven Hoffnung hingeben, das sach- liche Wesen ihrer Naturobjecte zu er- gründen, gerathen dieselben ohne Unter- lass in Widerstreit mit dem unabänder- lichen, durch die neuere physiologisch- psychologische Forschung so glänzend bestätigten Kantischen Gesetz von der natürlichen Begrenzung aller Erkennt- niss; hier ist an der blossen Sinnbild- lichkeit jeder auch noch so mechanisti- schen Theorie festzuhalten, dagegen er- öffnet sich innerhalb dieses Kreises sinnlicher Bethätigung für jede Disci- plin, die es wagt, die durchwanderten Pfade der Natur rückwärts zu verfolgen und auf diesem Wege ihren Wandlungen liebevoll nachzugehen, ein unbegrenztes und befriedigendes Gebiet des histori- schen Wissens, zu dem in seiner voll- endeten Gestalt ohne Zweifel die jetzt gerühmte mechanistische Auffassung der Gesammtnatur nur als Vorstufe dienen wird. Es möchte so der Ausspruch C. E. v. Bazrs’: die Entwickelungsge- schichte sei die wahre Leuchte der or- ganischen Formenerkenntniss auf die Erkenntniss aller Naturobjecte ausge- dehnt werden. Sollten wir aber diese Stufe der Naturerkenntniss je erreichen, so wäre damit dem Platonischen erhabenen Traume eines natürlichen Weltsystems eine bedeutungsvolle Auslegung ge- währt. Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Von Dr. Hermann Müller. ». Die Blumenthätigkeit der Bienen. Die vergleichende Betrachtung der pflanzenanbohrenden, insektenanbohren- den und höhlengrabenden Wespen hat uns erkennen lassen, wie die allmäh- lichen Vervollkommnungen der Brutver- sorgung bei den Hautflüglern auch auf ihre Blumenthätigkeit steigernd gewirkt haben. Aber diese Steigerungen zusam- mengenommen sind verschwindend klein gegen den gewaltigen Fortschritt in der Ausbeutung der Blumen, dem wir in der Familie der Bienen begegnen. Aus der Grabwespenfamilie hervorgegangen und von Haus aus mit der Unterschei- dungsfähigkeit und Umsicht, mit der unermüdlichen Energie und mit der Ge- | wandtheit im Einkriechen und Hinein- zwängen in Höhlen ausgerüstet, die eine lange Ahnenreihe, dem Brutver- sorgungstriebe folgend, allmählich er- worben und ihnen vererbt hatte, sind die Bienen dazu übergegangen, auch zur Beköstigung ihrer Brut sich aus- schliesslich auf Blumennahrung zu be- schränken. Das hat natürlich nicht verfehlen können, ihren Blumeneifer und damit ihre Blumentüchtigkeit ganz aus- serordentlich zu steigern. Der Vergleich der niedersten, in ihrer körperlichen Ausrüstung noch nicht | über die Grabwespen hinausgegangenen Bienen (Prosopis) mitsolchen Grabwespen, die ihnen an Grösse und Gestalt am näch- sten stehen (Crabro), lässt mit einem Blicke erkennen, wie viel an Blumen- tüchtigkeit durch die blosse Umände- rung der Larvenkost aus Fleischnah- rung in Blumennahrung gewonnen wor- den ist. In meinen beiden Blumen- werken* sind zusammen 66 verschieden- artige Blumenbesuche von Crabro, 104 von Prosopis verzeichnet. Von diesen kommen auf Blumen mit völlig offen liegendem Honig bei Orabro 66°/o, bei Prosopis 24°/o, auf Blumen mit etwas tiefer geborgenem, nur unter günstigen Umständen noch unmittelbar sichtba- rem Honig bei Crabro 4,5 °/o, bei Pro- sopis 18,3°/o, auf Blumen mit völlig geborgenem Honig bei Crabro 28,8°/o, bei Prosopis 50,9 °/o, auf Pollenblumen bei Crabro 0, bei Prosopis 6,7°/o. Das gesteigerte Nahrungsbedürfniss hat also schon die ersten und einfachsten Bienen veranlasst, vorwiegend die reicheren, völlig geborgenen Honigquellen auszu- beuten. Dass gleichzeitig ihre Behen- digkeit sich erheblich gesteigert hat, wird man leicht gewahr, wenn man Pro- * Die Befruchtung der Blumen durch Insekten, Leipzig 1873, und Alpenblumen, Leipzig 1881. 352 sopis. und Grabwespen auf denselben Blüthen in Thätigkeit beobachtet. Fe- seda, Allium rotundum und zahlreiche andere Blumen bieten dazu Gelegenheit. Im Juli 1867 hatte ich im offenen Fen- ster meines Zimmers einige Blumen- töpfe mit blühender AReseda odorata stehen. »Beständig kamen Prosopis an- geflogen und trieben sich ungemein lebhaft, oft zu 6 bis 8 an einem Stocke umher. Sie steckten bald den Kopf zwischen die schildförmige Platte und die oberen Blumenblätter und leck- ten mit ausgestreckter Zunge den Ho- nig, bald kauten sie noch nicht auf- gesprungene Staubgefässe durch, um den Blüthenstaub zu verzehren.«* Dieselbe Leistung mit gleicher Be- hendigkeit auszuführen vermögen von den Grabwespen erst die viel mal grös- seren Cerceris-Arten, die man wirklich sehr häufig an denselben Blumen in gleicher Weise beschäftigt sieht wie Prosopis. Bei ihnen hat die Vergrös- serung des eigenen Leibes den Nah- rungsbedarf und damit die Nothwen- digkeit, tiefere und reichere Honigquel- len aufzusuchen, in ganz gleicher Weise gesteigert, wie bei Prosopis die Versor- gung der Brut mit Pollen und Honig. Eine Vergrösserung der eigenen Körpermasse hat aber nicht minder auch in der Familie der Bienen stattgefunden und hier, als eine zweite den Nahrungs- bedarf und damit die Blumentüchtig- keit steigernde Ursache, sogar noch eine sehr viel wichtigere Rolle gespielt als bei den Grabwespen. Denn bei den Bienen bildet schon die tiefunterste Stufe der ganzen Familie, die Gattung Prosopis, deren grösste einheimische Arten kaum 8 mm Körperlänge errei- chen, die Grenze, über welche hinaus eine Zunahme der Körpergrösse ohne gleichzeitige Vervollkommnung der ur- sprünglichen Grabwespenwerkzeugenicht statt fand. Bei den nur sich selbst * H. MÜLLER, Befruchtung, 8. 143. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. mit Blumennahrung beköstigenden Grab- wespen dagegen stehen an dieser Grenze erst die Gattungen Üerceris, Gorytes, Philanthus etc., deren grösste einhei- mische Arten bei etwa 16 mm Körper- länge unsere grössten Prosopis-Arten an Körpermasse um wenigstens das 6- bis Sfache übertreffen. Jenseits dieser Grenze finden wir bei den Grabwespen nur eine verhält- nissmässig kleine Zahl grossleibigerer Gattungen, bei denen die Zunge über die ursprünglich ihrer Familie eigene kurze zweilappige Form hinaus ver- längert und dadurch zum Ausbeuten reicherer Honigvorräthe befähigt ist. Bei den Bienen dagegen hat sich über die Gattung Prosopis hinaus eine un- absehbare Mannichfaltigkeit von Formen entwickelt in allen Abstufungen der Grösse von einzelnen, die noch un- ter das Maass der kleinsten Prosopis- Arten hinabsanken (Nomioides, Trigona Iiliput) bis zu den dickleibigsten Hum- meln und Xylocopa-Arten, die Prosopis an Körpermasse weit über das Hundert- fache übertreffen, ebenso in allen Ab- stufungen der allgemeinen Körperbehaa- rung, der Fersenbürsten, der besonde- ren Apparate zum Einsammeln des Pol- lens und zum Gewinnen des Honigs, und im Grossen und Ganzen ist die Zu- nahme der Körpergrösse von einer ge- steigerten Vervollkommnung der der Nahrungsgewinnung dienenden Werk- zeuge in der einen oder anderen Rich- tung begleitet gewesen. In der Ver- vollkommnung gerade dieser Werkzeuge hatte Naturauslese bei den Bienen des- halb das fruchtbarste Feld, weil die- selben bei ihnen nicht minder der Ver- sorgung der Nachkommenschaft als der Erhaltung des Einzelwesens dienen. Wodurch aber mag die stufenweise Steigerung der Körpergrösse selbst: be- dingt gewesen sein, die im Grossen und Ganzen in beiden Familien, der Bienen und der Grabwespen, unverkennbar statt- gefunden hat? Die Grabwespen wurden Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. durch dieselbe jedenfalls zur Erbeutung neuer, immer grösserer Beutethiere be- fähigt, und so wurden ihnen neue, noch unbesetzte Plätze im Naturhaushalte er- öffnet. Von den Bienen sieht man un- zählig oft bei ihrer Concurrenz auf den- selben Blumen, dass der Grössere den Kleineren verdrängt und die Ausbeute allein davonträgt. Diese beiden Vor- theile überlegener Körpergrösse können nicht verfehlt haben, auf die Richtung der Naturauslese wenigstens entschei- dend mitzuwirken. Mit der Körpergrösse zugleich hat sich dann bei einem kleinen Zweige der Bienen (Obtusilingues: Oolletes, Ptiloglossa etc.) nur die Ausrüstung zur Gewinnung des Pollens, bei der überwiegenden Mehrzahl dagegen ausserdem die rela- B 353 tive Rüssellänge und damit die Befäh- igung zur Ausbeutung immer tieferer, reicherer Honigquellen gesteigert. Meh- rere Tausende in meinen Blumenwerken verzeichnete Blumenbesuche der Bienen, mit Angabe der Rüssellänge der Biene und der Röhrenlänge oder Honigtiefe der Blume, liefern dafür einen umfas- senden Beleg. Es lässt sich aus ihnen zugleich der statistische Beweis ableiten, dass im Grossen und Ganzen gleichzeitig mit der zunehmenden Rüssellänge eine immer stärkere Bevorzugung tiefer ge- borgener, reicherer Honigquellen statt- findet, wie die nachstehende Tabelle in Bezug auf den Familienzweig der Hin- terbeinsammler veranschaulicht. Es kann kaum zweifelhaft sein, dass Steigerung der Bevorzugung tieferer Honigquellen mit zunehmender Rüssellänge. Tabelle I. metern. verschiedenen Rüssellänge in Milli- Zahl der beobachteten Arten der Gattungen: IERUSRBER er u. 1—1!a| 15 Andrena, Halietus, Cdissa, Panurgus Ve ne! Andrena, Haliectus, Dasy- | Pod... 4—7 | W Eucera, Anthophora . 9—12 | 4 Anthophora '. 15—21| 3 von den beiden parallel gehenden Er- scheinungen, der zunehmenden Rüssel- länge und der sich steigernden Bevor- zugung tieferer Honigquellen, die letz- tere, das Vorangehende, Bedingende, die erstere das Nachfolgende, Bedingte ge- wesen ist. Wie überhaupt in der ganzen Lebewelt eine Organabänderung erst dann einen entscheidenden Vortheil ge- Bienenarten. De Von 100 verschiedenartigen Blumen- EITE besuchen kommen auf Sen D San SH 8.8 ä >53 ® zZ 253 ESP Es = or ee N | ODE a ag 092 |s 29.2 %| 3800 & == Pr se | sa |esugiezus| 32 ss: | @# |dBe jEaE |Ers | = =5R Au Mer DEE BA HM m sp aa Zar Sera N Po A AB B H ] | s9 10,1 | 23,6 | 17,9 | 30,4 | rer 242 82 | 49 | 33,9 | 34,7 | 18,2 I | I 1 117 113 34 | 21,4 | 48,7 | 15,4 er 34 2,9 | 0 2,9 | 23,5 | 70,6 1} 21 48| 0 0 0 | 95,2 | | währen und durch Naturauslese zur Ausprägung gelangen kann, wenn die Funktion für die es brauchbar ist, be- reits ausgeübt wird, so konnten auch von den Bienen nur diejenigen eine wei- tere Steigerung ihrer Rüssellänge ge- winnen, welche die tiefsten ihnen noch zugänglichen Honigquellen am eifrigsten auszubeuten bestrebt waren. 354 Je höher aber die bereits erklom- mene Stufe, um so enger der Kreis der noch Concurrirenden, um so ange- strengter ihr Wettkampf, um so loh- nender der Sieg. Auf der ersten Stufe, die sich über die in Prosopis uns erhalten gebliebene Schwelle der Bienenfamilie durch Sam- melhaare an den Hinterbeinen und 2—-3'/a mm Rüssellänge erhebt, finden wir ausser einigen COilissa- und Panur- gus-Arten die überwiegende Mehrzahl der gewaltig artenreichen Geschlechter Andrena und Halictus, auf der nächst- folgenden, mit 4—7 mm Rüssellänge*, die Elite dieser beiden Gattungen und Dasypoda, auf der dritten, mit 9—12 mm, Eucera, Saropoda und ein paar Antho- phora-Arten, auf der vierten und höch- sten, mit 15—21 mm, bloss noch ein- zelne (3) der begabtesten Anthophora- Arten, und diese unter sich in rasch fortschreitender Steigerung: A. aestivd- ls mit 15, A. retua mit 16—17, A. pilipes mit 19-—21 mm Rüssellänge. Welcher Concentration aber ihrer gan- zen Honigsammelthätigkeit auf ein und dasselbe bestimmte Ziel diese kleine, am weitesten fortgeschrittene Gruppe ihren Erfolg zu verdanken hat, das zeigt ein Blick auf die fünfte wage- rechte Ziffernreihe unserer Tabelle. Während von den Bienen mit 9—12 mm langem Rüssel selbst Blumen mit zwar etwas tiefer liegendem, aber noch unmittelbar sichtbarem Honig (AB) noch nicht durchaus verschmäht werden, und auf Blumen mit vollständiger Honig- bergung noch ein erheblicher Theil (23,5°/o) ihrer Besuche kommt, fassen dagegen die einzeln lebenden Bienen * Um eine scharfe Sonderung nach der Rüssellänge, die ja immer innerhalb dersel- ben Art einigermassen schwankt, überhaupt zu ermöglichen, mussten, wie hier geschehen ist, die Rüssellängen so ausgewählt werden, dass zwischen je zwei aufeinander folgenden Stufen eine Lücke bleibt. Es konnten über- dies nur diejenigen in meinem Werke über Befruchtung verzeichneten Arten Verwendung ' denfalls aber Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. von 15—21 mm Rüssellänge, wenn sie auf Honigerwerb ausgehen, ausschliess- lich jene ergiebigsten und concurrenz- freisten Blumen ins Auge, die ihren Honigschatz im Grunde langer Röhren oder hinter festen, nur den Bienen er- schliessbarem Verschlusse geborgen hal- ten. Diesen allein entnehmen sie auch fast ausnahmslos ihren gesammten Pol- lenbedarf. Aus diesem angestrengten Wett- kampfe aber um die tiefsten Honig- behälter ist als Siegerin über alle ein- zeln lebenden einheimischen Bienen Anthophora pilipes hervorgegangen, die nicht nur durch ihren 19—21 mm lan- gen Rüssel, sondern auch noch durch andere Anpassungen ** ihre einheimi- schen Gattungsgenossen weit überholt und derartig aus dem Felde geschlagen hat, dass sie ihnen an Häufigkeit vielfach überlegen ist. Gäbe es keine Hummeln, so würde sie allein die erfolgreichste aller einheimischen Blu- menzüchterinnen sein. Da aber die Hummeln, bei viel massenhafterem Auftreten, gleiche Rüssellänge errei- chen, wie die _Anthophora-Arten, so fällt der Mitwirkung der letzteren an der Züchtung von Bienenblumen gewiss nur ein bescheidener Antheil zu. Je- können wir es nur als eine natürliche Folge des treuesten Blumeneifers der langrüsseligsten Bienen betrachten, dass sie überhaupt sich ihnen allein zugänglicher reichster Ho- nigquellen zu erfreuen haben. Und auch unsere langrüsseligste Schenkel- sammlerin Anthophora pilipes erntet nur ihren wohlverdienten Lohn, wenn sie — abgesehen von den von Bombus finden, bei denen die Rüssellänge gemessen ist. *=® 7. B. durch den „Nothzuchtapparat“ des Männchens, d.h. durch die verlängerten und an den Fussgliedern mit einer Reihe langer Haare ausgerüsteten Mittelbeine, mit denen das Männchen, auf das Weibchen im Fluge herabschiessend, dieses umfasst und zur Begattung festhält. H. M., Anwendung der Darwın’'schen Lehre auf Bienen. 8. 74. x - Y Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. terrestris ausgeübten Diebstählen mit Einbruch — die tiefliegenden Honig- vorräthe von Corydalis cava und solida von sämmtlichen Bienen ganz allein geniesst, in den Honiggenuss der Di- elytra spectabilis sich nur mit unserer langrüsseligsten Hummel, Bombus hor- forum, in den von Symphytum offieinale und Primula elatior sich nur mit we- nigen Hummelarten zu theilen hat. Obwohl es nun unzweifelhaft er- scheint, dass mit der Bevorzugung tie- ferer Nektarien längere Rüssel zu einem im Wettkampfe um dieselben Nahrungs- quellen entscheidenden Vortheil gewor- den und durch Naturauslese zur Aus- prägung gelangt sind, so lässt sich doch aus der obigen Tabelle zugleich das mit Bestimmtheit erkennen, dass die Blumenauswahl der Bienen noch durch andere Faktoren als durch die blosse Rücksicht auf möglichst reiche Honigernte bedingt sein muss. Denn während die erste senkrechte Zahlen- reihe der Tabelle, welche die Rüssel- längen angiebt, stetig steigt, ergibt sich in den fünf letzten Spalten ein ziemlich unregelmässiges Steigen und Fallen der Zahlenreihen. Als andere, die Blumenauswahl der Bienen mitbestimmende Faktoren lassen sich seitens der Blumen die spärlichere oder reichlichere, bequemere oder un- bequemere Pollenernte, welche sie dar- bieten, seitens der Bienen, die Aus- bildung einseitiger Blumenliebhabereien erkennen. Beide Bedingungen lassen sich kaum von einander trennen. Schon sehr früh in der Entwicke- lung des Bienenstammes haben gewisse Bienen solche Blumen bevorzugt, die ihre Bauchseite mit Pollen behafteten, andere dagegen solche Blumen, die ein bequemes Abstreifen des Pollens mit- telst der Hinterbeine gestatteten. Den ersteren wurde eine stärkere Entwicke- lung der Bauchhaare, den letzteren der Haare der Hinterbeine von entschei- dendem Vortheile, der die Richtung der 355 Naturauslese bestimmte. Die ersteren wurden die Stammeltern des Familien- zweigs der Bauchsammler, die letzteren gaben dem reichgegliederten Familien- zweige der Hinterbeinsammler den Ur- sprung. Innerhalb beider Familienzweige lässt sich bei mannigfachen Arten die Ausbildung besonderer Blumenliebhabe- reien erkennen. Aus der artenreichen Gattung Andrena z. B. besuchen die meisten Arten alle möglichen ihnen Ausbeute gewährenden Blumen; An- drena fulva dagegen bevorzugt Stachel- heeren und Berberis, A. fulvescens be- schränkt sich auf gelbblumige Cichoria- ceen, A. florea auf Zaunrübe (Bryonia), A. Hattorfiana auf Scabiosa arvensis, A. Cetü auf Scabiosa suceisa. Dasypoda und Panurgus gehen fast nur auf pol- lenreiche gelbe Blumen, besonders auf die der Cichoriaceen. Bei beiden weist die dem Pollen gleiche Farbe des die Hinterschienen bedeckenden Haarwaldes, die sich von der übrigen Körperfärbung so schön abhebt, mit Bestimmtheit dar- auf hin, dass ihre besondere Blumen- liebhaberei schon seit sehr alter Zeit durch Vererbung befestigt sein muss. Denn erst nachdem die Weibchen sich gewöhnt hatten, diesen langen und dichten Haarwald nur mit gelbem Pollen zu füllen, konnten die dicken Pollen- ladungen den Männchen ein Merkmal werden, an dem sie die Weibchen schon von weitem, im Fluge, erkannten ; erst nun konnte eine dem Pollen gleiche Farbe der Sammelhaare die Weibchen auch im unbeladenen Zustande den Männchen kenntlich machen und als dadurch vortheilhaft durch Naturauslese zur Ausprägung gelangen. Von den Bauchsammlern geht un- sere grösste Blattschneiderbiene, Mega- chile lagopoda, nur auf die stattlich- sten Compositenköpfe, Osmia aurulenta fast nur auf Papilionaceen, Osmia, pili- cornis nur auf Pulmonaria. Die nächst- verwandten Arten Osmia loti, adunca 356 Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. und caementaria zeigen alle drei, aber etwadrohende Gefahren verwenden kön- | in stufenweiser Steigerung, die entschie- denste Vorliebe für Echrum. In den meisten der genannten und der sonstigen mir bekannten Fälle wird nachweislich die einseitige Bevorzugung seitens gewisser Bienen solchen Pflan- zen zu Theil, die alljährlich an dem- selben Standorte eine grosse Menge ausbeutereicher Blumen liefern und deren Standort zugleich für die Brut- höhlen der betreffenden Bienen die ge- eigneten Bedingungen darbietet. Man begreift leicht, welchen Vortheil es un- ter solchen Bedingungen der Biene ge- währen muss, zur Ausbeutung einer reichen und sichern Honigquelle stets unmittelbar nach deren Eröffnung mit einer durch einseitigste Uebung hoch- gesteigerten Geschwindiekeit und Ge- schicklichkeit zur Hand zu sein, und kann daher die Möglichkeit solcher ein- seitigen Bevorzugung sehr wohl ein- sehen. Weshalb aber bei gleicher Or- ganisation die eine Osmia Papilionaceen, die andere Pulmonaria, die dritte Echium sich ausersehen hat, lässt sich, wie mir scheint, weder aus den äusseren Lebensbedingungen, noch aus der kör- perlichen Ausrüstung der Bienen, son- dern einzig und allein aus einem Va- riiren der individuellen Neigungen er- klären. Die verschiedenen bisher betrach- teten Umstände, welche den Nahrungs- erwerb der einzeln lebenden Bienen beeinflussen, machen die Blumenthätig- keit derselben bereits zu einer recht mannichfaltigen. Diese Mannichfaltig- keit steigert sich aber noch erheblich da- durch, dass dieBienen mitdem Nahrungs- erwerb beschäftigt, zugleich in der einen oder anderen Weise auf die Wahrung ihrer persönlichen Sicherheit bedacht sein müssen. Am leichtesten wird ihnen dies natürlich, wenn sie eine seit zahl- losen Generationen gewohnte Blumen- arbeit instinktmässig verrichten und daher ihre ganze Aufmerksamkeit auf nen; dagegen sind sie am meisten ge- fährdet, wenn sie sich an einer neuen und über ihre Anpassungsstufe hinaus- gehenden Blume versuchen, die sie in eine unbehülfliche Lage versetzt oder die volle Aufmerksamkeit der Biene für sich in Anspruch nimmt. So überladet sich z. B. an den Antheren der grossen Nachtfalterblume Paradisia Liliastrum die Mutterbiene von Halictus eylindrieus so mit Pollen, dass sie beim Versuche wegzufliegen zu Boden fällt. Andrena albicans? bewegt sich in den Blüthen der japanischen Quitte (Chaenomeles japonica) langsam und ungeschickt, sucht nach dem Honig, ohne ihn zu finden, ent- schädigt sich dann durch Einsammeln von Pollen; aber auch diese Arbeit ist ihr an solcher Blume so ungewohnt und nimmt ihre Aufmerksamkeit so voll- ständig in Anspruch, dass sie sich auf das leichteste mit den Fingern greifen lässt. Mit der aufsteigenden Entwickelung der Bienen hat sich im Ganzen die Mannichfaltigkeit der Blumen, die sie mit instinktiver Fertigkeit auszubeuten vermögen, stufenweise gesteigert und damit die Gefahr der Ungewohnheit vermindert. Bei denjenigen Bienen, die sich an den ausschliesslichen Gebrauch einer bestimmten Blumenform gewöhnt haben, hat sich diese Gefahr sogar auf Null reducirt. Dagegen sind zwei an- dere Gefahren für die persönliche Sicher- heit mit dem Einbringen gerade der reichsten Pollen- und Honigernten ver- bunden, die sich auch durch andauernd- ste Uebung kaum ganz beseitigen las- sen: die Hemmung der freien Beweg- lichkeit durch das Gewicht grosser Pollenladungen und die Behinderung der freien Umschau durch das Hinein- stecken des Kopfes in den Eingang der tiefsten noch zugänglichen Nektarien. Mancherlei Eigenthümlichkeiten in der Blumenthätigkeit der Bienen sind nur aus ihrem Bestreben, diesen Gefahren Hermann Müller, Die Entwiekelung der Blumenthätigkeit der Insekten. zu entgehen, verständlich. Die Mutter- biene von Panurgus z. B. füllt den ge- waltigen Haarwald ihrer Hinterschienen mit Pollen, indem sie sich, auf das Blumenkörbchen einer Cichoriacee an- geflogen, zwischen die Blüthen dessel- ben drängt, auf eine Seite legt und so zwischen den Blüthen hindurch im Kreise herumkriecht, jetzt auf der einen, im nächsten Blumenkörbchen auf der an- deren Seite liegend. Oft liegt sie auch einige Zeit an einer und derselben Stelle auf einer Seite, indem sie mit Vorder- und Mittelbeinen Pollen an die Hinterbeine fest, und zugleich den Hin- terleib oft wiederholt nach innen krümmt, um auch mit ihm die Pollenladung zu vermehren. So behält sie immer nach derjenigen Seite, von welcher ihr Ge- fahr drohen könnte, ein wachsames Auge gerichtet. Nur indem sie ab und zu nach längerem Pollensammeln in einige Blumenröhrchen den Kopf steckt, um Honig zu saugen, verzichtet sie momentan auf das Ausspähen. Aber trotz ihrer beständigen Vorsicht lässt sie sich ziemlich leicht von den Blüthen greifen, weil sie sich, wie es scheint, fast bis zu den Grenzen ihrer Tragkraft mit Pollen belastet, und weil ihre seitliche Lage ihr Wegfliegen ein wenig ver- zögert. Etwas schwieriger lässt sich Dasy- poda (hirtipes)2 während ihrer Blumen- arbeit einfangen, obgleich ihre Pollen- ladung im Vergleich zu ihrer Körper- grösse reichlich ebenso gross ist als bei Panurgus. Da sie dabei vielmal grösser ist als dieser, so fällt sie unter allen einheimischen Bienen durch ihre kolossalen Pollenladungen bei weitem am meisten in die Augen, und schon Christ. Konr. Sprenges schildert (1795) in seiner treffenden Weise den erstaun- lichen Anblick, den sie bei ihrer rast- losen Blumenarbeit gewährt: »In der Mittagsstunde eines schönen Tages traf ich eine Biene auf derselben (Hypochoeris radicata) an, welche an 357 ihren Hinterbeinen Staubballen von einer solchen Grösse hatte, dass ich darüber staunte. Sie waren nicht viel kleiner als der ganze Körper des Insektes und gaben demselben das Ansehen eines stark beladenen Packpferdes. Dennoch konnte sie mit dieser Last sehr schnell fliegen, und sie war mit dem gesam- melten Vorrath noch nicht zufrieden, sondern flog von einem Blumenknauf zum andern, um denselben zu vergrös- sern.... Ich ward sogleich davon über- zeugt, dass diese Biene keineswegs den Staub wissentlich sammelt, wie die zah- men Bienen, sondern dass sie, indem sie den Saft aus den Blumen holt, zu- gleich, ohne es zu wollen, mit ihren haarichten Hinterbeinen den Staub von den Griffeln, welche denselben aus der röhrichten Anthere herausziehen, ab- streift, und auf die Stigmate bringt, und dass zu diesem Ende die Natur ihre Hinterbeine mit so vielen und lan- gen Haaren versehen hat.«* Treffend spricht sich in dieser Schilde- rung der Unterschied zwischen dem auf die mannichfaltigsten Blumen vertheilten und deshalb immer einige Aufmerksam- keit erfordernden Pollensammeln der Honigbiene und dem instinktiven Pol- lensammeln der seit zahllosen Genera- tionen auf dieselbe Blumenform sich beschränkenden Dasypoda, nicht minder treffend die hochgradige Energie der letzteren aus. Aber gerade indem sie rein instinktiv mit unermüdlicher Hast Köpfchen auf Köpfchen abfegt, „den langen, dichten Haarwald, der ihre ab- stehend gehaltenen Hinterbeine um- kleidet, mit mächtigen Ballen gleich- farbigen Pollens füllt, und zugleich den Rüssel in die honighaltigen Röhrchen senkt, behält sie hinlängliche Aufmerk- samkeit frei, um beständig auf ihrer Hut sein zu können, und da sie über- dies sich immer in geeigneter Stellung * SPRENGEL, Das entdeckte Geheimniss der Natur. S. 369, 370. 398 befindet, um bei nahender Gefahr so- fort wegzufliegen, und da zugleich ihre Energie grösser, ihr Flug und ihre ganze Bewegungsweise rascher ist als bei Pa- nurgus@, so ist sie weit weniger leicht zu ergreifen als diese. Noch schwieriger ist die andere der beiden oben bezeichneten Gefahren zu beseitigen, die gerade ausgeprägtere Bienen bei ihrer Blumenarbeit bedroht. Wenn eine Biene mit dem Rüssel auch den Kopf in eine Blumenröhre oder zwischen eng zusammenschliessende Blüthentheile steckt, um einen reich- gefüllten Safthalter zu entleeren, so bleibt sie während dessen den Blicken auflauernder Feinde ausgesetzt, ohne selbst sehen zu können. Es gelingt da- her in solchen Augenblicken leicht, die Biene zu ergreifen, um so leichter, je reicher der Honigvorrath ist, den sie auszusaugen hat, je mehr Saugakte er daher erfordert. Daher ist selbst unsere langrüsseligste und in der Bevorzugung tieferHonigbehälter am weitesten gehende einzeln lebende Biene Anthophora pilipes trotz ihrer hochgradigen Raschheit und Behendigkeit nicht im Stande gewesen, diese Gefahr zu beseitigen. Nur wenn die Biene während des Saugens ent- weder den Blicken der Feinde sich ent- zieht oder selbst freie Umschau behält, vermag sie ohne erhöhte persönliche Gefahr auch tiefere Honigbehälter zu entleeren. Die Glockenblumen, die weitglocki- sen Gentianen und Fingerhutarten, das Löwenmaul und manche andere Hum- melblumen gewähren der Hummel, die, auf ihren eigenen Vortheil bedacht, ihnen den Dienst der Kreuzungsver- mittelung leistet, die persönliche Sicher- heit, die sie selbst aus den Augen ver- liert, indem sie dieselbe während des Saugens schützend umschliessen und den Blicken der Feinde verbergen. Nur verhältnissmässig wenige Bienen- arten haben bei ihrer Blumenarbeit in erster Linie ihre persönliche Sicherheit Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. im Auge, indem sie, den Kopf hoch haltend, sich freie Umschau bewahren und damit auf die Ausbeutung gerade der tiefsten ihnen noch erreichbaren Honigquellen verzichten. Das thutz. B., wie ich oft sah, Andrena Hattorfiana, indem sie saugend und pollensammelnd über dieBlumengesellschaftenihrerauser- wählten Scabiosa arvensis hinwegstürmt. Das thut, wenn mein Gedächtniss mich nicht täuscht, auch Dasypoda hirtipes 2 beim Abfegen der Cichoriaceenkörbchen. Unter allen einheimischen Bienen das imposanteste Beispiel von Wahrung per- sönlicher Sicherheit während der emsig- sten Blumenarbeit hat mir aber Mega- chile lagopoda dargeboten und durch empfindlichen Stich dauernd eingeprägt. Stürmischen Flugs auf dem Blumenkopf eines fast mannshohen Onopordon Acan- thium oder (irsium eriophorum ange- langt, fegt sie, frei umschauend, mit den Beinen emsig Pollen nach hinten kratzend, und nur den 10 mm langen Rüssel in einige Röhrchen senkend, hastig über denselben hinweg, wobei sie den allezeit stechbereiten Hinterleib so hoch hält, dass man die rothe Sam- melbürste seiner Unterseite oder seine Pollenladung schon von weitem sehen kann. Dabei dreht sie sich zur Voll- endung der Umschau einmal auf dem Distelkopfe rings herum. Gelingt es einem trotzdem, mit be- hendem Griffe sie von oben zu fassen, so wird man beim ersten derartigen Versuche gewiss leicht, durch einen ungewöhnlich plötzlichen und schmerz- haften Stich erschreckt, die Gefangene sofort wieder frei lassen. Denn blitz- schnell fährt aus dem Ende des nach oben sich zurückbiegenden Leibes der rächende Stachel hervor. Wie in so zahlreichen Anpassungen, so wird auch in dieser unsere einhei- mische Lebewelt von derjenigen der tropischen und subtropischen Zone weit überholt. Zwei von meinem Bruder Fritz MÜLLER in Südbrasilien beob- - Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. achtete Kuglossa-Arten, deren nackte spiegelglatte Haut prachtvoll, bei der einen smaragdgrün, bei der andern la- surblau erglänzt, bieten an Rüssellänge, Behendigkeit der Bewegungen und ver- mittelst beider an Wahrung persönlicher Sicherheit die höchste bis jetzt be- kannte Leistung unter allen Bienen dar. * Im Gegensatz zu diesen Beispielen lässt die meisten Bienen der ernste Wettkampf um die Blumennahrung mit zahlreichen Concurrenten über die augen- blickliche Gefahr hinwegsehen oder sie wenigstens nur durch gesteigerte Eile nach Kräften abkürzen, und in der Ausbeutung tiefer Nektarien so weit gehen, als es ihre Rüssellänge eben gestattet. Das gilt sogar von den Hum- meln und Honigbienen. An Blumen be- schäftigt, die sie zum Hineinstecken des Kopfes in einen Röhreneingang ver- anlassen, lassen sie sich bekanntlich sehr leicht überraschen und wegfangen, obwohl sie im übrigen an Blumentüch- tigkeit alle einzeln lebenden einheimi- schen Bienen erheblich übertreffen. Der Betrachtung ihrer Blumenleistungen soll der Rest des vorliegenden Aufsatzes gewidmet sein. Welchem Umstande verdanken die Hummeln und Honigbienen ihre hervor- ragende Befähigung zur Ausbeutung der Blumen? Bei den einzeln lebenden Bie- nen, von denen bis jetzt allein die Rede war, lassen sich als dieBlumentüchtigkeit steigernde Momente: 1) der Uebergang zur ausschliesslichen Benutzung von Blumennahrung, 2) die zunehmende Körpergrösse, 3) die mit der Ausbildung der Bienenfamilie immer lebhafter ge- wordene Concurrenz erkennen. Bei Hum- meln und Honigbienen tritt 4) noch die Staatenbildung hinzu. Durch weitere Steigerung des Nahrungsbedarfs musste dieselbe auch auf die weitere Vervoll- kommnung der Fähigkeit, die Blumen * H.M., Die Wechselbeziehungen Zwi- schen den Blumen und den ihre Kreuzung vermittelnden Insekten. 8. 98. 359- auszubeuten, von entscheidendem Ein- flusse sein. Der Nahrungsbedarf wurde aber mit dem Uebergange zur Staaten- bildung sowohl relativ als absolut grösser. Relativ; denn bei einzeln lebenden Bienen ist, ebenso wie bei Grabwespen, die Zahl der in einem bestimmten Zeit- punkte mit Nahrung zu versorgenden Nachkommen jederzeit nur eben so gross als die Zahl der Nahrung einschleppen- den Weibchen, bei den staatenbilden- den Hautflüglern dagegen grösser, oft vielmals grösser. Auf jede Hummel oder Honigbiene kommt daher eine relativ (das heisst im Verhältniss zu ihrem eigenen Körpergewicht) grössere Menge einzusammelnden Blüthenstaubs und Honigs als auf jede einzeln lebende Biene. Wie einerseits die Staatenbildung der Hautflügler nur aus einer Steige- rung des Fortpflanzungstriebes hervor- gehen konnte, so musste daher anderer- seits das mit der Massenaufziehung von Nachkommen verknüpfte relative An- wachsen des Nahrungsbedarfs anspor- nend auf den Brutversorgungstrieb zu- rückwirken. Diese Wirkung allein macht uns sowohl die bei allen staatenbilden- den Bienen zur Ausbildung gelangte Arbeitstheilung zwischen bruterzeugen- den Weibchen (Königinnen) und brut- versorgenden Weibchen (Arbeitern) als die noch erhöhte Blumentüchtigkeit der letzteren erklärlich. Aber nicht bloss relativ, auch ab- solut hat sich mit der Staatenbildung der Nahrungbedarf gesteigert; denn statt einiger wenigen, verbreiteten sich nun aus demselben Nest hunderte oder selbst tausende emsigster Honig- und Pollen- sammler in die Umgebung und kamen mit nicht minder individuenreichen be- nachbarten Bienenvölkern in Concurrenz. Es konnte so leicht der Fall eintreten, dass die alleinige Ausbeutung der tief- sten noch zugänglichen Honigbehälter den Bedürfnissen eines Staates nicht mehr genügte, und dass daher, trotz entschiedener Bevorzugung der ergiebig- 350 sten Nahrungsquellen, ein immer um- fassenderes Zurückgreifen zu weniger ergiebigen, eine immer allseitigere Aus- nutzung der gesammten umgebenden Blumenwelt nothwendig wurde. Dass dieser Fall wirklich eingetreten ist, tritt ganz unzweideutig zu Tage, wenn man die Blumenthätigkeit der Hummeln mit derjenigen einzeln leben- der Bienen von etwa gleicher Rüssel- länge vergleicht. Unsere langrüsseligste einzeln lebende Biene, Anthophora pili- pes, beschränkt sich z. B. fast aus- schliesslich auf die Ausbeutung solcher Blumen, die nur Bienen und Hummeln bequem zugänglich sind, und sucht ganz überwiegend die tiefsten derselben auf. Die Weibchen und Arbeiter unserer lang- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. rüsseligsten Hummel, Bombus hortorum, dagegen, die ganz dieselbe Rüssellänge (von 19— 21 mm) besitzen, ziehen zwar ebenfalls sehr entschieden die concur- renzfreisten tiefsten, den allgemeiner zu- gänglichen, flacheren Honigbezugsquellen vor, und es sind namentlich die lang- röhrigsten Labiaten und Papilionaceen, die Blumen von Aklei, Rittersporn, Eisen- hut, Dielytra, Digitalis lutea u. drg]., an denen sie am häufigsten und beharr- lichsten sich einfinden; daneben aber gehen sie nicht selten auch an die Blumenkörbcehen der Skabiosen und Compositen und verschmähen in der noch blumenarmen ersten Frühlingszeit selbst die spärlichere Honigspende der Apfel-, Pflaumen- und Weidenblüthen Vergleich der Blumenthätigkeit staatenbildender und einzeln lebender Bienen von annähernd gleicher Rüssellänge: m D 3. RE 5 11:6 ee 1.20, Von 100 verschiedenartigen Blumenbesuchen kommen auf: „ ae a | ri ==. - 2 ge‘ ; es Bu ‚a |sa.288% a an 5 Ze een | Fan. ee Seele Tabelle II. oE |<8E| 3 83. |, 285er San ES5a|„eH| 398 BeHscasdn.nn ee or He a= 522 | Aus Is0.2=80Bea55e Ex nen = 309 | g0Uo a: seza3S elv25r = 208 ® cas | E82 | 255 |ssoo s=-3057038 2 "| SS |3s |983 | 30° 1255 a2 A95.2” eg je lea Be £ Po A AB B B Hb Hh | Anthophora pilipes Q 19-21) 171 — - — — 29,4 | 70,6 Bombus hortorum 72 [19—21| 48 2,1 = 62° | 125 83 | 16,6 | 54,2 Saropoda bimaculata \. I | | Anthophora 4maculataQ | 9—10, 18 5,6 — —. | 11,1 | 16,6 | 444 | 22,2 a furcata 7 u] Bombus lapidarius 2 |10—12 N selvarum 10—12 t 2 & 98 3,1 1,0 3,1 | 13,3 | 30,5 | 28,5 | 25,5 n muscorum L. (agrorum F.) 12—13 Megachile centuncwla- | Aa | ı» | 52 | 52 | 105 31,6 | 31,6 | 15,8 Diphysis serratulae 1—8 | ö i ; i ; r Apis mellifica 2 6 | 189 5,8 16,97, 108° | 10,3 1032 9,5 * Umberücksichtigt gelassen ist ein einmaliger flüchtiger Besuch auf einer Apfelblüthe. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. nicht, die sie gewiss nicht anrühren würden, wenn die gleichzeitig blühenden langröhrigen Blumen von Primula, Pul- monaria, Vinca, Lamium und Galeob- dolon ihren ganzen Nahrungsbedarf deckten. Die nebenstehende Tabelle gibt auf Grund der in meinem Werke über Be- fruchtung der Blumen niedergelegten Beobachtungen, einen statistischen Ver- gleich der Blumenthätigkeit staaten- bildender und einzeln lebender Bienen von annähernd gleicher Rüssellänge. Dieser Vergleich lässt keinen Zweifel über die Wirkung, welche der Ueber- gang zur Staatenbildung auf die Blu- menauswahl der Bienen gehabt hat. Statt der Beschränkung auf bestimmte Blumenformen oder der immer aus- schliesslicheren Bevorzugung der tief- sten noch erreichbaren Honigquellen, | die wir bei den einzeln lebenden Hin- terbeinsammlern antreffen, sehen wir die ihnen entstammenden Hummeln und Honigbienen neben entschiedener Bevorzugung der reichhaltigsten Be- zugsquellen in umfassenderer Weise auch auf niedrigere Anpassungsstufen | der Blumen zurückgreifen. Da trotzdem jede einzelne von ihnen eine grössere Menge von Pollen und Honig zusam- menzubringen hat, als eine einzeln lebende Biene von gleicher Rüssellänge, so muss natürlich ihre Leistungsfähig- keit in anderer Weise als durch wei- tere Rüsselverlängerung sich erheblich gesteigert haben. Das ist 1) durch weitere Vervollkommnung des Pollen- sammelapparats, 2) durch Ausbildung von Arbeitstheilung, 3) durch weitere | Steigerung des Eifers und der Einsicht | in Bezug auf die Ausbeutung der Blu- men erreicht worden. Die weiteren Vervollkommnungen, welche der Pollensammelapparat bei Hummeln und Honigbienen erfahren hat, habe ich in meinem Werke über die Befruchtung der Blumen (S. 47. 48) dargelegt. Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 361 Eine Arbeitstheilung ist nicht bloss in der oben bereits erwähnten Diffe- renzirung der Weibchen in Königinnen und Arbeiter, sondern auch in der Blumenthätigkeit der letzteren zur Aus- ı bildung gelangt, in unvollkommnerer Weise bei den Hummeln, in vollkomm- nerer bei den Honigbienen. Die Hummeln, wie übrigens auch schon die ausgeprägtesten einzeln leben- den Bienen, namentlich Anthophora pilipes, suchen an Stellen, wo mehrere gleich ausbeutereiche Blumen sich gleich- zeitig in Blüthe befinden, sehr gewöhn- lich andauernd hintereinander immer nur eine und dieselbe Art auf und ge- winnen dadurch offenbar ganz erheb- lich an Geschwindigkeit in Ausbeutung derselben, also an Zeit. Gar nicht selten sieht man sie aber auch 2, 3 oder noch mehr verschiedene Blumen desselben Standortes unmittelbar nach einander und in beliebiger Abwechse- lung durch einander ausbeuten, beson- ders die Königinnen, so lange ihnen noch allein die Brutversorgung obliegt. So sah ich z. B., um von zahlreichen vorliegenden Beobachtungen nur eine einzige mitzutheilen, im Mai, als noch keine Arbeiterhummeln flogen, Bombus muscorum L. @ nach einander zahl- reiche Blüthen von Ajuga reptans, meh- rere von Geum rivale, einige von Gle- choma hederacea saugen, eine einzelne Blüthe von Lychnis flos eueuli Hüchtig besuchen und dann wieder zu Geum rivale zurückkehren. Die Sammelkörb- ' chen einer Mutterhummel von Bombus terrestris fand ich um dieselbe Zeit mit verschiedenfarbigem Pollen gefüllt, der sich unter dem Mikroskop als minde- stens 5 verschiedenen Blumenarten ent- stammend erkennen liess. Da im Hum- ı melneste Honig und Pollen der ver- schiedensten Blumen zu einem einzigen Futterballen vereinigt werden, in den die Larven sich hineinfressen, so kann die Mutterhummel, so lange ihr die | Brutversorgung noch allein obliegt, nur >» 362 durch das unmittelbarste Bedürfniss der Zeitersparniss veranlasst werden, unter geeigneten Umständen eine Ar- beitstheilung in der Blumenausbeutung vorzunehmen; unter allen Umständen eine solche durchführen zu wollen, würde ihr entschieden von Nachtheil sein. Anders liegt schon die Sache, wenn zahlreiche Honig- und Pollensammler aus demselben Neste hervorgehend sich über die Umgebung desselben verthei- len. Da kann es dem Staate von Vor- theil sein, wenn jedes Einzelwesen sich an consequente Ausbeutung einer be- stimmten, einmal in Angriff genomme- nen und als ausbeutereich erkannten Blumenart gewöhnt, weil das die voll- ständigste Ausnutzung der umgebenden Blumenwelt ermöglicht. Diese Gewohn- heit kann daher in volkreichen Bienen- staaten sehr wohl durch Naturauslese zur Ausbildung gelangen, um so leich- ter, je volkreicher sie sind, und ist wirklich, in niederem Grade bei den Hummeln, in höherem bei den Honig- bienen, zur Ausprägung gelangt. Von letzteren sieht man fast stets jedes Einzelwesen während seines ganzen Aus- flugs consequent eine und dieselbe Blumenart ausbeuten und nur zwischen so nahverwandten Arten wie Ranumcu- lus bulbosus, repens und acris oder Tri- folium repens und fragiferum keinen Unterschied machen. Nur ausnahms- weise, wenn sich das stete Ausbeuten derselben Blumenart als unausführbar erweist und vielleicht auch bei ersten Örientirungsausflügen, nimmt auch die Honigbiene sehr verschiedenartige Blu- menarten unmittelbar nach einander in Angriff. So sah ich im Frühjahr auf einem Brachacker Veronica hederae- Folia, Lithospermum arvense, Sisymbrium Thalianum und Viola tricolor var. ar- vensis nach einander von einer und derselben Honigbiene besucht. Noch wichtiger als die Vervollkomm- nung des Pollensammelapparates und Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. die Ausbildung der so eben erwähnten Arbeitstheilung dürfte aber für die Leistungsfähigkeit der Hummeln und Honigbienen ihr gesteigerter Blumen- eifer und ihre erhöhte Blumeneinsicht sein. Der Fleiss der Honigbienen ist von Alters her sprichwörtlich geworden. Nur von den Hummeln werden sie viel- leicht noch übertroffen. Denn selbst bei schwachem Regen und noch nach Sonnenuntergang trift man oft die Hummeln, niemals die Honigbienen noch an ihrer Blumenarbeit. Ueber die stufenweise Steigerung der Blumeneinsicht der Bienen liegen bis jetzt nur sehr spärliche Beobach- tungen vor. Aber schon diese lassen deutlich erkennen, was für ein unge- mein reiches und anziehendes Beob- achtungsgebiet sich hier der Forschung darbietet. Einige Beispiele mögen das veranschaulichen. Unausgeprägtere einzeln lebende Bienen sieht man nie, Hummeln und Honigbienen sehr häufig bereits ent- leerte von noch Ausbeute darbietenden Blumen schon im Fluge unterscheiden und die ersteren wieder verlassen, ohne sich nur gesetzt zu haben. Die Honig- biene fliegt z. B., wenn sie Genista anglica ausbeutet, an allen bereits los- geschnellten Blüthen vorbei und nimmt ausschliesslich die noch jungfräulichen in Angriff. Ebenso übergehen die Hum- meln, wenn sie an Primula elatior Pol- len sammeln, im Fluge alle langgriffe- ligen Blumen und setzen sich nur an die kurzgriffeligen, deren im Blüthen- eingange stehende Antheren sie allein abzustreifen vermögen; wogegen z. B. Andrena Gwynama auch an langgriffe- lige Blumen dieser Art anfliegt, natür- lich um sie nach einem Zeitverluste von einigen Secunden ohne Ausbeute wieder zu verlassen. Wie hier Unterschiede der Form, so werden in anderen:Fällen deutliche oder selbst sehr geringfügige Differenzen der Färbung der Blüthen von Hummeln Hermann Müller, Die Entwiekelung der Blumenthätigkeit der Insekten. und Honigbienen augenblicklich wahr- genommen. An Blumen, deren Corolle nach erfolgtem Verblühen der Staub- gefässe und Narben die Farbe wech- selt, aber nach dem Aufhören der Honig- absonderung noch längere Zeit frisch bleibt, fliegen, sobald der Farbenwech- sel erfolgt ist, Hummeln und Honig- bienen meist ohne Weiteres vorüber, oder verlassen sie wenigstens, wenn sie angeflogen sind, ohne erst den Rüssel hineinzustecken, um ausschliess- lich auf die jüngeren honighaltigen ihre Zeit zu verwenden. Diese Fähig- keit theilen sie mit den ausgeprägteren einzeln lebenden Bienen; denn auch Anthophora pilipes weiss z. B. an Ribes aureum, eine Osmia an Fumaria pallidi- flora ebenso rasch und sicher die in- tensiver gefärbten alten Blüthen zu erkennen und zu vermeiden. Aber die Unterscheidungsfähigkeit der Hummeln und Honigbienen geht viel weiter. Als ich auf den Alpen einer Bombus ter- restris © aufmerksam zuschaute, die mit dem Pollensammeln von Gentiana acaulis beschäftigt war, bemerkte ich, dass sie in zahlreiche Blüthen nur eben im Fluge hineinschaute und dann, ohne sich gesetzt zu haben, weiter flog, und alle von ihr verschmähten Blumen, die ich sogleich pflückte, zeigten sich ihres Pollens bereits beraubt. Wenigstens 4—5 mal soviel Blüthen verliess sie flugs nach kurzer Besichtigung, als sie wirklich besuchte und ausbeutete. Die Zeitersparniss, die sie durch diese hohe Unterscheidungsfähigkeit erreichte, war also sehr erheblich. Eine andere Bombus terrestris %, die ich im Mai d. J. bei Lippstadt ins Auge fasste, während sie die Blüthen von @aleobdolon Iuteum durch Einbruch ihres Honigs beraubte, flog an vielen Stöcken an den untersten Blüthen nur eben an, und verliess sie wieder, ohne einen Anbohr- oder Saugversuch gemacht zu haben. So oft ich solche Blumen ab- pflückte und genauer betrachtete, zeigte 36: sich, dass die Farbe ihrer Blumenröhre auf der Unterseite schon etwas ins Bräunliche zog, und ihr Nektarium er- wies sich, mit der Lupe untersucht, als honiglos. Ohne Zweifel wusste also. die Hummel den sehr geringen Farben- unterschied alter und jüngerer Galeob- dolon-Blüthen sofort mit Sicherheit zu erkennen. Die äusserlich zum Verwechseln ähn- lichen Blüthen von Hippoerepis comosa und Coronilla vaginalis hält die Honig- biene, wo beiderlei Arten durcheinander gemischt wachsen, mit voller Sicherheit auseinander. An letzterer fliegt sie nach kurzem, kaum eine Secunde währendem Anschauen vorüber; an den ersteren, die allein honighaltig sind, begibt sie sich an die Arbeit. In diesem Falle bleibt es zweifelhaft, ob Form oder Duft der Blumen oder vielleicht die Beblätterung der Pflanzen als Erkennungszeichen be- nutzt wird. Aber auch Hummeln und Honig- bienen haben ihre zerstreuten Augen- blicke und begehen dann Blumenver- wechslungen, die ihnen bei einiger Auf- merksamkeit sicher unmöglich wären. So sah ich einmal in meinem Garten eine Honigbiene von blauen Veilchen auf ebenso gefärbte Hyacinthen über- gehen, nach Besuch von 2 oder 3 Hya- cinthenblüthen zum Veilchen zurück- kehren und nun, ihrer Gewohnheit ge- mäss, andauernd immer nur Veilchen ausbeuten. Augenscheinlich war sie in vorübergehender Unaufmerksamkeit durch die Gleichheit der Farbe zu einer Verwechslung verleitet worden, die ihr sonst nicht hätte begegnen können, und die sie auch alsbald gewahr wurde und verbesserte. Nicht nur an Unterscheidungsfähig- keit sind die staatenbildenden den un- ausgeprägteren einzeln lebenden Bienen weit überlegen; sie vermögen auch weit leichter und in umfassenderer Weise als diese eigene Blumenerfahrungen zu machen und zu verwerthen, was sich 25 * 364 sowohl in dem rascheren Aufgeben sol- cher Blumen, die ihnen keine Ausbeute gewähren, als in der Vervollkommnung der Ausbeutungsmethode an gewissen Blumen, die ihnen noch ungewohnt sind, zu erkennen gibt. Welche Steigerung in dieser Be- ziehung überhaupt stattgefunden hat, tritt schon in folgenden Beispielen klar zu Tage: Blumenböcke mühen sich (wie früher geschildert wurde) an Grasblüthen viele Minutenlang vergeblich ab, die gelbenAn- theren zu erlangen und kitten sich in Orchisblüthen fruchtlos ein dickes Bün- del von Pollinien auf den Kopf. Da- gegen gibt eine einzeln lebende Biene von 8 mm Rüssellänge, Osmia fusca 9, Globularia vulgaris, die ihr keine Honig- ausbeute gewährt, schon nach flüchti- gem Besuche von 8 Blüthenköpfchen ganz auf und wendet sich andern Blu- men zu. Die Honigbiene überzeugt sich meist schon durch 2 oder 5 Versuche, dass ihr der Honig der Schwertlilie (Iris Pseud-Acorus) unzugänglich ist. Den Hummeln genügt an Gentiana verna und bavarica schon eine einzige Probe. Eine Vervollkommnung der Aus- beutungsmethode von Seiten eines und desselben blumenbesuchenden Einzel- wesens habe ich weder bei Käfern noch bei den niederen Abtheilungen des Wes- penstammes jemals wahrgenommen. In Bezug auf die einzeln lebenden Bienen dagegen liegen einige Beobachtungen vor, die unzweideutig ihre Befähigung darthun, ihre persönlichen Erfahrungen in dieser Richtung zu verwerthen: Polygonum Bistorta bietet durch ihre eng zusammenneigenden Perigonblätter den Blumengästen gute Gelegenheit, ihre Geschicklichkeit zu erproben. Kurz- rüsseligeren Fliegen (Syritta pipiens) z. B. misslingt der Versuch, ihren Rüssel in diese Blumen einzuführen, in der Regel, wogegen langrüsseligere (Empis livida, Eristalis, Rhingia) nur selten mit ihrem Rüssel neben dem Blütheneingange vor- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. bei gleiten; der Honigbiene begegnet dies nie. Von einer einzeln lebenden Grabbiene, Andrena albicans Q, sah ich nun einige Male dasselbe Exemplar an einer Anzahl von Blüthenständen, die Blumen versuchend, von unten bis oben hinklettern. Erst fuhr sie an mehreren Blüthenständen regelmässig mit dem Rüssel neben dem Blütheneingang vor- bei, dann aber fing sie allmählich die Sache geschickter an und führte schliess- lich den Rüssel regelmässig in die Blü- then ein. Noch geeigneter als Geschicklich- keitsprobe für kurzrüsselige Bienen ist die alpine Fliegenblume Viola biflora, deren in einem kurzen Sporne gebor- gener Honig zur Ausbeutung zwar nur einen kaum 3 mm langen Rüssel, aber ein Umdrehen auf der Blüthe oder von oben her Beikommen des Insekts erfor- dert. Eine der wenigen in der alpinen Region noch verbreiteten einzeln leben- den Bienen, Halictus eylindrieus %, fin- det sich auch auf dieser ganz den Flie- gen angepassten Blume bisweilen ein und lässt uns dann, bei genauer Be- trachtung ihrer Thätigkeit, unzweideutig erkennen, dass sie die Geschicklichkeit, dieselben in zweckmässiger Weise zu behandeln, sicher nichtererbt hat, sondern erst durch eigene Erfahrung langsam und unsicher erwirbt. Eine Mutterbiene dieser Art z. B. versuchte vor meinen Augen »erst einige Male von unten zu saugen. Auf der dritten Blüthe aber, auf der sie es von unten vergeblich ver- sucht hat, kehrt sie sich um und saugt von oben! Auf den drei folgenden fliegt sie auf das untere Blatt, kehrt sich um und saugt von oben, ohne es erst von unten versucht zu haben. Auf der 7ten Blüthe versucht sie es von unten, fliegt aber sogleich auf eine Ste, auf der sie sich sogleich umkehrt und von oben saugt. Nachdem sie dies noch an 2 Blüthen (9, 10) wiederholt hat, fliegt sie auf der l1ten direct auf die beiden oberen Blätter, den Mund der Blüthen- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. öffnung zugekehrt und saugt direct von oben. — Dann fing ich sie ein. Eine andere Mutterbiene des Hal. cylindrieus verfolgte ich ohne Unter- brechung auf 32 Blüthen. Auf den bei- den ersten versuchte sie wieder bloss ver- geblich von unten, auf den beiden folgen- den, bei denen zufällig der Zugang von unten durch vorliegende kleine Zweige versperrt war, von der Seite, dann wie- der einmal von unten, bei den 5 fol- genden (6—8) erst vergeblich von un- ten, dann mit Erfolg von oben. Erst bei der 9ten flog sie sogleich auf die beiden oberen Blumenblätter, den Mund der Blüthenöffnung zugekehrt, undsaugte direct von oben. In derselben Weise fuhr sie nun fort. Nur bei der l4ten und 16ten Blüthe versuchte sie noch- mals, mit gewaltsamer Aufwärtsbiegung des Kopfes und des Rüssels, von unten zu saugen. An allen übrigen Blüthen von der 9ten bis 32ten einschliesslich saugte sie, direct richtig anfliegend, von oben. Dann flog sie auf eine Blüthe eines dicht daneben stehenden Ranun- culus montanus über und verweilte, meh- rere Nektarien saugend, einige Zeit auf derselben. Sodann flog sie wieder auf Viola biflora und — versuchte nun wie- der von unten zu saugen! Sie hatte also über der anderen Thätigkeit auf Ranunculus die bereits gewonnene und 16 mal ohne Unterbrechung richtig an- gewandte Erfahrung wieder vergessen! Leider verlor ich sie nun aus den Augen, da sie, durch meine zu neugierige An- näherung beunruhigt, wegflog.<* Für die unausgeprägteren einzeln lebenden Bienen ist durch diese Beob- achtungen festgestellt, dass das Einzel- wesen die Fähigkeit besitzt, an unge- wohnten Blumen, wenn auch langsam und unsicher, selbst Erfahrungen zu gewinnen, zu zweckmässigerer Ausbeut- ung zu verwerthen und so den als In- stinkt von den Ahnen ererbten Schatz * H. MÜLLER, Alpenblumen. S. 154. 365 von Blumentüchtigkeit durch eigene Arbeit zu vermehren. Wenn die Rüssel- länge, wie ich glaube, für die aufein- ander folgenden Stufen des Fortschrittes der einzeln lebenden Bienen einen brauch- baren Maassstab abgibt, so muss bei den Bienen, wieim Menschengeschlechte, jene Fähigkeit, eigene Erfahrungen zu verwerthen und dem ererbten Schatze hinzuzufügen, in immer rascherem Tempo sich gesteigert haben; hier wie dort müssen die jeweilig am weitesten fort- geschrittenen nicht nur die Errun- genschaften der vorhergehenden Stu- fen am vollkommensten ererbt und in- stinktmässig weiter benutzt, sondern auch selbst am kräftigsten gefördert haben. Denn die Rüssellängen haben sich, wie uns Tabelle I gezeigt hat, von Prosopis (1—1!/g mm) bis Antho- phora (9—21 mm) nicht gleichmässig, sondern mit zunehmender Geschwindig- keit gesteigert. Entscheidende directe Betrachtungen über den geistigen Fort- schritt der einzeln lebenden Bienen lie- gen aber bis jetzt nicht vor; es wird eine eben so anziehende als lohnende Aufgabe sein, sie anzustellen. Für jetzt müssen wir uns damit begnügen, hin- sichtlich der Proben von Intelligenz auf die kurzrüsseligen einzeln lebenden Bie- nen Andrena und Halictus unmittelbar die weit langrüsseligeren und zugleich staatenbildenden Hummeln und Honig- bienen folgen zu lassen. Wie viel von dem erstaunlichen Fortschritt, der sich bei einem derartigen Vergleich zu er- kennen gibt, bereits vor und wie viel erst mit und nach dem Uebergange zur Staatenbildung sich vollzogen hat, kann erst künftig, durch eingehende biolo- gische Beobachtung der langrüsseligeren einzeln lebenden Hinterbeinsammler, ent- schieden werden. Während bei Halictus eylindricus eine 32malige Wiederholung derselben Blu- menerfahrung die zweckmässigste Aus- beutungsmethode noch so unsicher be- festigt hatte, dass sie über dem Be- 366 suche einer einzigen anderen Blüthe wieder vergessen wurde, sehen wir da- gegen Bienen und Hummeln meist schon nach dem Besuche von 4—5 oder selbst von noch weniger Blüthen einer ihnen neuen oder ungewohnten Form diezweck- mässigste Behandlungsweise anwenden und dann stetig beibehalten. Eine Mut- terhummel von Bombus terrestris sah ich z. B. an einer Blüthe von Vicia Faba den Kopf unter die Fahne zwängen und den Rüssel aufs längste ausrecken, was durch dieFahne hindurch deutlich erkenn- bar war. Da sie den Kopfganz unter den Basaltheil der Fahne drängte, so mochte sie mit der Spitze ihres 9 mm langen Rüssels den Honig eben zu berühren im Stande sein. Sie strengte sich lange an und putzte, als sie den Kopf aus der Blüthe zurückgezogen hatte, andauernd den Rüssel mit den Vorder- beinen, indem sie ihn zwischen den- selben abwechselnd ausreckte und ein- zog, als wollte sie ihn noch dehnbarer machen. Dasselbe wiederholte sie an einer zweiten, dritten und vierten Blüthe. Die Honigausbeute hatte aber jedenfalls ihren Erwartungen nicht entsprochen; denn an der vierten Blüthe biss sie nun mit den Öberkiefern dicht über dem Kelche ein kleines Loch in die Ober- seite der Fahne und führte durch das- selbe ihren Rüssel in den honigführen- den Blüthengrund ein. Ausser diesem einen Falle sah ich Bombus terrestris immer nur durch Einbruch den Honig von Vicia Faba gewinnen*. Es lässt sich wohl annehmen, dass jede einzelne Hummel dieser Art in derselben Weise wie in dem beobachteten Falle die ihr vortheilhafteste Art der Honiggewinnung erst durch einige mal wiederholte eigene Erfahrung erlernt, dann aber constant beibehalten hatte. Aehnliche Beobacht- ungen liegen über das Verhalten von Bombus terrestris Q an Primula elatior ** * H. MÜLLER, Befruchtung der Blumen durch Insekten. 8. 255. #%* Daselbst S. 347. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. und über dasjenige der Honigbiene an Glechoma*** vor. Auch das Verfahren, durch welches die langrüsselige und gewandte Bombus hortorum® sich den Honig von Erica carnea anzueignen weiss, der nur Fal- tern bequem zugänglich ist, lässt auf die Befähigung der Hummeln zum raschen Gewinnen und andauernden Verwerthen neuer Blumenerfahrungen schliessen. Sie sucht nur solche Blü- then auf, die dicht über dem Boden oder über der Gras- und Heide-Unter- lage hängen und führt nun, auf dem Rücken liegend, die Spitze ihres langen Rüssels in die enge Oeffnung des Glöck- chens ein. Ich übergehe die zahlreichen son- stigen bereits vorliegenden Beobachtun- gen, welche die hoch gesteigerte In- telligenz der staatenbildenden Bienen bekunden, um zum Schlusse nur noch eine Thatsache eingehend zu besprechen, aus der sich unzweideutig die Befähig- ung der Hummeln ergibt, zweierlei Blumenarbeiten zugleich derart in der Vorstellung gegenwärtig zu haben, dass sie dieselben regelmässig abwechselnd verrichten. Um mich nicht unbewusst in der Darstellung des Thatbestandes von einer vorgefassten theoretischen Ansicht be- einflussen zu lassen, theile ich den- selben buchstäblich so mit, wie ich ihn, gedrängt durch eine Fülle anderer um mich herum sich abspielender Lebens- erscheinungen, die mir zu theoretischen Betrachtungen gar keine Zeit liessen, frisch an Ort und Stelle zu Papier ge- bracht habe:f »Eine Mutterhummel des Dbombus mastrucatus saugte dicht vor meinen Augen erst 3 Blüthen von Gentiana verna durch von aussen gebissene Lö- cher. Dann ging sie zu G. acaulis über und hielt sich nun andauernd und stet *%% Daselbst S. 320. + H. MÜLLER, Alpenblumen. 8. 335. "Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. an diese. An den beiden ersten Blü- then saugte sie gerade so wie bei verna durch ein von aussen gebissenes Loch, an der dritten kroch sie in die Blumen- glocke hinein, kam wieder heraus, flog einige Secunden, die Blume anschauend vor derselben herum, kroch wieder hin- ein und sammelte nun, wie ich aus der Bewegung ihrer Beine sehen konnte, Pollen. « Zur Erläuterung Folgendes: @. verna ist eine Tagschwärmerblume ; sie hat | die Röhre ihrer Corolla so verengt, dass ihre zu einer Scheibe verbreiterte Narbe den Eingang derselben allen Insekten ausser den dünnrüsseligen Faltern ver- schliesst, und so verlängert, dass nur die langrüsseligsten Schwärmer mit ihrem Rüssel vom Eingange bis zum honig- | führenden Grunde reichen können. Hum- meln müssen daher entweder auf die Aus- beutung dieser Blume gänzlich verzich- ten, wie es in der That alle ausser mastrucatus thun, oder sie müssen den Honig durch Einbruch gewinnen, was von Bombus mastrucatus in grösster Aus- dehnung verübt wird. @. acaulis da- gegen ist eine ächte Hummelblume, die ihre Glocken den Hummeln zum voll- ständigen Hineinkriechen und Bestreifen der Narben und Antheren öffnet. Zum bequemen Erlangen des Honigs aus dem Grunde des verengten Theils der Co- rolla muss aber die Hummel noch einen wenigstens 13—15 mm langen Rüssel haben, während derjenige des 5. ma- strucatus höchstens 12'!/g mm Länge erreicht. Indem nun unsere Hummel von der von ihr in zweckmässigster Weise aus- gebeuteten @. verna zu @. acaulis über- ging, wurde sie bei den beiden ersten Blumen offenbar den Wechsel der Blu- menart gar nicht gewahr. Dieselbe blaue Farbe, die sie so oft zugleich mit einer ihr verschlossenen Blumenthür erblickt hat) sieht sie auch an @. acaulis. Diese flüchtige Wahrnehmung genügt, in ihr die Vorstellung der verschlossenen Thüre 367 zu erwecken, und ohne näher hinzu- sehen, setzt sie die bisher befolgte Aus- beutungsmethode fort; die reiche Pollen- ernte, die gesehen, sicher nicht von ihr verschmähen würde, entgehtihr. An der dritten Blüthe erblickt sie den Eingang der Blumenglocke. Von den auf den Alpen so häufigen Campanula-Arten her, ist sie und waren seit zahllosen Ge- nerationen ihre Ahnen gewohnt, in sol- che Glocken hineinzukriechen und leich- ten Kaufs ohne besondere Rüsselan- strengung, eine reiche Honigernte zu halten. Demdadurch ausgebildetenWahr- nehmungstriebe folgend kriecht sie also beim Anblicke der weit geöffneten Blu- menglocke instinktmässig in dieselbe hinein und streckt ihren höchstens 12!/g mm langen Rüssel nach Honig aus. Natürlich vergebens; sie muss ent- täuscht wieder abziehen; der Instinkt hat sie irre geführt. Und nun kommt ein besonders entscheidender Augen- blick, der die hohe Ueberlegenheit des vielerfahrenen Hummelverstandes über die Einfalt eines Blumenkäfers glänzend ins Licht stellt: sie denkt gar nicht daran, die vergebliche Anstrengung auch nur in einer einzigen anderen Blumen- glocke zu wiederholen. Als ob sie sich dessen bewusst würde, dass sie zu blind instinktmässig darauf losgegangen ist und möglicher Weise dadurch eine viel- leicht doch für sie vorhandene Ausbeute verfehlt hätte, fasst sie, vor der Blume schwebend, dieselbe schärfer ins Auge, entdeckt den vorhandenen Blüthenstaub und nimmt nun, um eine Erfahrung reicher, zum zweiten Male dieselbe Blü- the in Angriff, diesmal mit vollem Er- folg der Pollenausbeute. »Dann kam sie heraus, kroch an der Aussenseite der Corolla hinab, steckte den Rüssel in ein dicht über dem Kelch in die Blumenkrone gebisse- nes Loch und saugte. Von nun an sammelte sie fast an jeder Blüthe erst auf normale Weise Pollen und saugte dann durch Einbruch. Nur in einige e 368 der ersten so doppelt von ihr ausge- beuteten Blüthen flog sie zweimal hin- ein, dazwischen vor der Blüthe fliegend und sich dieselbe anschauend. Später ging sie stets sehr rasch und sicher in der Weise zu Werke, dass sie erst in die Blumekrone kroch und Pollen sam- melte und dann sofort an der Aussen- seite derselben hinabmarschirte, und den Rüssel 2—4 mal von aussen in den Blüthengrund bohrte. Ich folgte ihr in etwa 1 Schritt Entfernung auf mehr als 40 Blüthen. Nur ausnahms- weise ging sie auch einmal vom Saugen einer Blüthe zum Saugen einer dicht daneben stehenden über, ohne erst den Pollen der letzteren ausgebeutet zu haben, oder sammelte den Pollen einer Blüthe, ohne sie dann auch noch an- zusaugen.« Wie kommt es, dass die Hummel nicht bloss in der ersten Blumenglocke, sondern auch noch in einigen folgenden, in die sie hineinkriecht, an das Pollen- sammeln zunächst nicht denkt, sondern erst nachdem sie nochmals heraus- gekommen ist und vor der Blume schwe- bend sich dieselbe erst noch einmal genau angesehen hat? Offenbar genügt ihr die einmalige Erfahrung nicht, die so eben gelernte zweckmässige Behand- lungsweise der Blumenglocke so leben- dig im Gedächtniss zu behalten, dass | 'sie dieselbe nach dem Dazwischentreten einer anderen Thätigkeit sofort wieder in Anwendung bringen könnte. Unend- lich häufiger sind von ihr und ihren Ahnen die ihr Honig bietenden Campa- | nula-Glocken besucht worden, als die ihr beim Hineinkriechen nur Pollen bietenden von Gentiana acaulis. Der Wahrnehmungstrieb zum tiefen Hinein- kriechen, den der Anblick der offenen Blumenglocke erweckt, ist daher zu- nächst stärker als die Erinnerung an die einmalige Erfahrung der Vergeblich- keit dieses tiefen Hineinkriechens und des erfolgreichen Pollensammelns. Wenn Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. diese Erfahrung aber einige Mal wieder- holt ist, so hat sie einen hinreichenden Eindruck gemacht, um den irreleitenden Wahrnehmungstrieb zu überwinden, und von nın an kommt kein vergebliches Hineinkriechen in die Blumenglocke mehr vor; die eigene Erfahrung hat über den Instinkt gesiegt. Wie kommt es ferner, dass die Hummel unmittelbar nach dem Ver- lassen der ersten von ihr auf Pollen ausgebeuteten Blumenglocke aussen an derselben hinabkriecht und durch Ein- bruch saugt? Ein Wahrnehmungstrieb kann sie dabei nicht leiten; denn sie sieht beim Herauskommen aus der Blu- menglocke noch nichts von deren Aus- senseite; trotzdem schreitet sie sofort über den Rand der Corolla hinweg, auf die nicht gesehene Aussenseite hin- über und an ihr hinab, um an ihrem Grunde den Rüssel in ein dicht über dem Kelche gebissenes oder von ihr erst zu beissendes Loch zu stecken. Das ist wohl kaum anders zu erklären, als dass die Vorstellung der Honigaus- beute durch Einbruch in ihr lebendig geblieben ist, trotz der dazwischen getretenen anderweitigen Thätigkeit; sie kehrt also durch einen Vor- stellungstrieb geleitet zu der vorher betriebenen Arbeit zurück. Da sie beim Weiterfliegen zu anderen Exemplaren jedenfalls gar nicht selten früher die Aussenseite der neuen Glocke, als deren offenen Eingang zu sehen bekommt, so lässt sich auch ihr regel- mässiges Beginnen mit der Pollenaus- beute nicht aus einem Wahrnehmungs-, sondern nur aus einem Vorstellungs- triebe erklären. Ohne Zweifel hat also die Hummel, sobald sie die Erfahrung des Pollensammelns einige mal wieder- holt hat, nun zwei verschiedene Blumen- arbeiten gleichzeitig in ihrer Vorstel- lung gegenwärtig und übt sie regel- mässig abwechselnd aus. Aber freilich nur, so lange nicht ein stärker wir- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. kender Wahrnehmungstrieb zwischen die beiden in fester Verknüpfung ge- gebenen Vorstellungstriebe dazwischen tritt. Steht dicht neben der so eben auf Pollen ausgebeuteten Blume eine zweite, in deren Glocke die Hummel sogleich hineinsehen kann, so geht sie wohl einmal vom Pollensammeln der einen unmittelbar zum Pollensammeln der folgenden Blume über. Sieht sie dicht neben der so eben durch Ein- bruch ihres Honigs beraubten Blumen- röhre eine zweite, vielleicht bereits an derselben Stelle durchlöcherte, so ver- gisst sie darüber wohl einmal die Pol- lenausbeute derselben und saugt direct ihren Honig. Stehen aber die Blumen- glocken etwas entfernter von einander, so lässt sie bei jeder einzelnen Blumen- glocke Pollensammeln uud Saugen des Honigs durch Einbruch in dieser Ord- nung auf einander folgen. Mag man das abweichende Verhalten unserer Hummel bei 2 dicht neben einander stehenden Blumen vielleicht auch aus der Absicht der Zeitersparniss erklären können, das ändert nichts an dem Satze, der mir aus den mitgetheilten Thatsachen unzweideutig zu folgen scheint: Die Hummel hat in ihrer Vor- stellung zwei so verschiedene Blumen- arbeiten wie Pollensammeln und Honig- gewinnen durch Einbruch gleichzeitig gegenwärtig und lässt sich durch die beiden Vorstellungen, wenn keine Stö- rung dazwischen tritt, in regelmässiger Abwechselung leiten. Werthvoll würde es sein, wenn un- zweideutig entschieden werden könnte, ob im vorliegenden Falle die Hummel durch ihre persönliche Erfahrung der Pollenausbeutung zum regelmässigen Abwechselnlassen derselben mit der Honiggewinnung geführt worden ist, oder ob ihre Ahnen dieselbe regel- mässige Arbeits-Abwechselung an den Blumen von Gentiana acaulis schon so 369 häufig geübt haben, dass heute Ver- erbung dieser speciellen Fähigkeit mit ins Spiel kommt und die Raschheit der Gewinnung einer neuen Erfahrung be- dingt. Ist letzteres der Fall, so werden alle Exemplare des B. mastrucatus, wenn auch mit individuellen Verschieden- heiten, ziemlich rasch dieselbe Erfah- rung machen und dieselbe Doppelaus- beutung ausüben. Kommt dagegen ausser der allgemeinen Hummelbefähig- ung nur noch die persönliche Erfahrung dieses speciellen Falles ins Spiel, so werden verschiedene Individuen der- selben Hummelart wahrscheinlich in Bezug auf diese Erfahrung sich we- sentlich verschieden verhalten. Bei be- sonders darauf gerichteter Beobachtung, die ich in Ermangelung des leitenden Gesichtspunktes versäumt habe, müsste das leicht zu entscheiden sein. Ich selbst habe ausser der so eben bespro- chenen nur noch eine zweite Mutter- hummel derselben Art an Gentiana acaulis in ihrer Blumenthätigkeit be- obachtet, und diese biss jede Blume an und saugte ihren Honig durch Einbruch, ohne an einer einzigen Pollen zu sam- meln. Es war aber nicht an demselben Beobachtungsorte, bei Preda im Albula- thale, sondern einige Meilen davon entfernt im Rosegthale. Diese Beob- achtung zeigt also, dass in der That verschiedene Individuen des 5. mastru- catus in Bezug auf dieselbe persönliche Erfahrung sich wesentlich verschieden verhalten, und dass mithin das rasche Erlernen der regelmässigen Doppelaus- beutung von (entiana acaulis keines- wegs hauptsächlich durch Ererbung dieser speciellen Fähigkeit bedingt sein kann. Wenigstens nicht durch eine Vererbung, die bis zu den gemeinsamen Ahnen der heutigen Raubhummeln des Albula- und des Rosegthales zurück- reicht. Nur die Möglichkeit müssen wir zugestehen, dass vielleicht im Al- bulathale ein klügeres Volk von B. mastrucatus wohnt, als im Rosegthale. 370 Nachdem J. H. Fapre an einer Grab- wespe, Sphex flavipennis, das Neben- einanderbestehen klügerer und düm- merer Stämme unzweifelhaft nachge- wiesen hat,* vermag ich in der soeben Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. als möglich hingestellten Annahme nichts Unwahrscheinliches zu erkennen. * J. H. FABRE, Souvenirs entomolo- giques, p. 81—92. Staatliche Einrichtungen. Von Herbert Spencer. VII. Berathende Körper. In den letzten beiden Capiteln sind zwei Elemente des ursprünglichen drei- einigen Staatsgebildes gesondert be- handelt worden, oder genauer gespro- chen, das erste wurde unabhängig vom zweiten betrachtet und umgekehrt, und nur gelegentlich wurden ihre Bezieh- ungen zum dritten erwähnt. Hier müs- sen wir noch beide in Verbindung mit einander ins Auge fassen. Nachdem wir gesehen, wie sich aus dem Häupt- ling, der nur wenig über den Andern stand, unter gewissen Bedingungen der absolute Herrscher entwickelt, welcher die wenigen Auserwählten so gut wie die grosse Menge seinem Willen unter- ordnet, und nachdem wir gesehen, wie unter gewissen anderen Bedingungen jene wenigen Auserwählten zu einer Oligarchie werden, die keinen Ober- herren duldet und die Menge in Unter- werfung hält, haben wir nun die Fälle ins Auge zu fassen, wo ein Zusammen- wirken des ersteren mit der letzteren zu stande kommt. Auch wenn die Häuptlingswürde schon fest begründet ist, so hat der Häuptling doch immer noch mancherlei Gründe, im Einverständniss mit seinen angesehensten Mannen zu handeln. Er muss die Eintracht zwischen ihnen aufrechterhalten, er muss sich ihres Raths und willigen Beistandes ver- sichern und in wichtigen Angelegen- heiten ist es wünschenswerth, die Ver- antwortlichkeit mit ihnen theilen zu können. Daher das allgemeine Vor- kommen einer berathenden Versamm- lung. In Samoa »bildeten die Häupt- linge des Dorfes und die Familienhäupter, und sie bilden noch heute, den gesetz- gebenden Körper des Landes«. Bei den Fulahs >»ist der König [von Rabbah] verpflichtet, bevor er irgend etwas Wichtiges unternimmt oder Krieg er- klärt, einen Rath der Mallams und der Obersten im Volke zusammenzuberufen«. Von den Mandingostaaten lesen wir, dass »der König in allen Angelegen- heiten von Bedeutung eine Versamm- lung der angesehensten Männer oder der Aeltesten beruft und sich von ih- rem Rathe leiten lässt«. Und solche Beispiele liessen sich ins Unendliche vermehren. Um nun aber das Wesen dieser Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Einrichtung vollständig zu begreifen und zu verstehen, warum sie in ihrer Weiterentwicklung ihre auszeichnenden Eigenthümlichkeiten erlangt, müssen wir noch einmal zu unserm Ausgangs- punkt zurückkehren. Zeugnisse von vielen Völkern und aus allen Zeiten beweisen, dass der berathende Körper anfänglich nichts weiter war als ein Kriegsrath. In der Versammlung der waffenfähigen Männer unter freiem Himmel ist es, wo wir zuerst die Gruppe der Leitenden jene berathende Function in betreff kriege- rischer Dinge ausüben sehen, die sich später auch auf andere Gebiete er- streckt. Und wenn diese Berathungen schon längst einen viel weiteren Um- fang erlangt haben, so bleiben doch noch immer Spuren dieser Abkunft er- halten. In Rom, wo der König vor allem Feldherr und die Senatoren als Häup- ter der Geschlechter anfänglich Kriegs- häuptlinge waren, wurde die Bürger- schaft, wenn sie zusammenberufen war, gewöhnlich als »Speermänner« angere- det: es lebte noch der Name fort, der ihnen naturgemäss zugekommen war, als sie noch als Zuhörer am Kriegsrath theilnahmen. Aehnliches zeigte sich in Italien in späteren Zei- ten, als die kleinen Republiken empor- kamen. Sısmoxpı beschreibt uns die Versammlung »der Bürger auf den Klang einer grossen Glocke hin, um vereint die Mittel zur gemeinsamen Abwehr zu berathschlagen«, und fügt hinzu: »Diese Zusammenkunft aller waffenfähigen Männer des Staates wurde ein Parlament genannt.< Ueber die Versammlungen der Polen in früheren Perioden lesen wir: »Solche Versamm- lungen kamen häufig vor, ehe ein Senat eingesetzt und so lange die Macht des Königs noch beschränkt war, und Alle, die Waffen trugen, fanden sich dazu ein;« in einer späteren Periode »bestanden die comitia paludata, welche 371 während eines Interregnums zusammen- traten, aus dem gesammten Adel, der sich wie zur Schlacht bewaffnet und gerüstet auf freiem Felde versammelte«. Auch in Ungarn, bis zum Beginn des sechzehnten Jahrhunderts, »les sei- gneurs & cheval et armes de pied en cap comme pour aller en guerre, se reunissaient dans le champ de courses de Rakos, pres de Pesth, et lä discu- taient en plein air les affaires publi- ques«e. Ebenso sagt Stuzes von den alten Germanen: »Der höchste Staats- rath ist das Volk in Waffen», und obgleich zur Zeit der Merowinger die Volksgewalt verkürzt wurde, so >nahm doch unter Chlodwig und seinen näch- sten Nachfolgern das Volk in bewaff- neter Versammlung wirklichen Antheil an den Entschliessungen des Königs.« Selbst heute noch hat sich die Sitte, bewaffnet zu gehen, da forterhalten, wo die ursprüngliche Staatsform noch besteht. »>Bis zum heutigen Tage«, sagt LAvELEYE, »kommen die Bewohner von Appenzell-Ausserrhoden zur Lands- gemeinde, ein Jahr nach Hundwyl, das. andere nach Trogen, indem Jeder ein altes Schwert oder einen rostigen De- gen aus dem Mittelalter in der Hand führt.« Auch Mr. Freeman war Zeuge einer ähnlichen Jahresversammlung in Uri, wo die Leute in Waffen zusam- mentreten, um ihre obersten Behörden zu wählen und Rath zu halten. Man kann allerdings einwenden, dass in alten ungeordneten Zeiten jeder freie Mann um der persönlichen Sicher- heit willen habe Waffen tragen müssen, besonders wenn er sich nach einem fern von seiner Heimath liegenden Ver- sammlungsort zu begeben hatte. Allein viele Beispiele beweisen, dass dies, ob- gleich mit eine Ursache des Waffen- tragens, doch an sich keine ausrei- chende Ursache war. Während wir von den alten Scandinaviern hören, dass »alle waffenfähigen freien Männer Zu- tritt hatten« zur Volksversammlung 372 und dass »der neue Herrscher nach seiner Erwählung aus den Nachkommen des heiligen Geschlechts unter dem Getöse der Waffen und dem Rufen der Menge auf den Schild gehoben wurde«, ist zugleich zu lesen, dass es »Niemand, nicht einmal dem König oder seinem Gefolge erlaubt war, bewaffnet zur Ge- richtsverhandlung zu kommen«. Allein auch abgesehen von solchen Belegen erscheint der Schluss wohlbe- gründet, dass der Kriegsrath die Quelle des berathenden Körpers gebildet und seine Umrisse vorgezeichnet hat. Ueberall war es das Bedürfniss nach Abwehr der Feinde, was ursprünglich zu vereinter Berathung antrieb. Für andere Zwecke mochte die Thätigkeit des Einzelnen oder kleiner Gruppen genügen, zur Sicherung der allgemeinen Wohlfahrt aber war eine combinirte Thätigkeit der ganzen Horde oder des ganzen Stammes nöthig, und dieser Zweck muss die erste Veranlassung zu einer staatlichen Zusammenkunft ge- wesen sein. Ueberdies weisen auch gewisse charakteristische Eigenthüm- lichkeiten der Versammlungen _civili- sirter Völker aus früheren Zeiten dar- auf hin, dass diese aus dem Kriegsrath hervorgegangen sind. Fragen wir uns, was geschehen wird, wenn einige her- vorragende Mitglieder eines Stammes in Gegenwart aller anderen kriegerische Maassregeln besprechen, so ergibt sich von selbst, dass, wo eine ausgebildete Staatsorganisation noch fehlt, die Zu- stimmung der Menge für jede Ent- scheidung erlangt werden muss, bevor sie ins Werk gesetzt werden kann; und dasselbe gilt anfänglich auch dann, wenn sich viele Stämme vereinigen. So sagt GıBBon von dem Reichstag der Tataren, der sich aus den Stam- meshäuptern und ihrem Kriegsgefolge zusammensetzt: »Der Monarch, der die Streitkräfte überschaut, muss auch die Neigungen eines bewaffneten Volkes in Anschlag bringen.« Selbst wenn die Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. wenigen Ueberlegenen unter solchen Umständen der gleich ihnen bewaff- neten Menge ihren Willen aufzunöthi- gen vermöchten, so wäre das offenbar sehr unklug, indem der Erfolg im Kampf durch Ungehorsam gefährdet werden könnte. Es wird sich also der Brauch einbürgern, dem Haufen der streitbaren Männer die Frage vorzulegen, ob sie mit dem Verfahren einverstanden seien, für das sich der Rath der Häuptlinge entschieden. Es wird sich eine ähnliche Form ausbilden, wie sie für Regierungs- zwecke überhaupt bei den alten Römern bestand, deren König oder Feldherr die versammelten Bürger oder »Speer- männer« frug, ob sie den Vorschlag billigten,. oder wie sie Tacitus von den alten Germanen beschreibt, die balddurch‘ Murren, bald durch Zusammenschlagen ihrer Speere die Anträge ihrer Führer verwarfen oder annahmen. Ausserdem aber wird der Ausdruck des Volks- willens natürlich in gewissem Maasse beschränkt werden, ganz wie uns dies berichtet wird. Die römischen Bürger durften auf jede ihnen vorgelegte Frage nur mit ja oder nein antworten, — eben die einfache Antwort, welche der Häuptling und die obersten Krieger von dem übrigen Volke fordern werden, wenn über Krieg oder Frieden ent- schieden werden soll. Eine ähnliche Beschränkung fand sich bei den Spar- taneın. Ausser dem Senat und dem ihm gleichstehenden König hatten sie »eine Ekklesia oder öffentliche Ver- sammlung der Bürger, welche zu dem Zwecke zusammenkam, die ihnen unter- breiteten Vorschläge anzunehmen oder zu verwerfen, jedoch nur mit geringer oder gar keiner Freiheit der Bera- thung« — ein leicht erklärlicher Brauch, wenn wir annehmen, dass in der ho- merischen Agora, von welcher die spar- tanische Verfassung abstammte, die vereinigten Häuptlinge sich erst der Zustimmung ihrer mitanwesenden Ge- folgschaften versichern mussten, bevor | Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. sie wichtigeDinge unternehmen konnten. — Indem wir also hieraus folgern, dass der Krieg die erste Quelle politischer Berathungen ist und dass der auser- wählte Körper, welcher diese Berath- ungen hauptsächlich leitet, gerade bei den Gelegenheiten bestimmtere Gestalt gewinnt, wo für die öffentliche Sicher- heit gesorgt werden muss, sind wir nun darauf vorbereitet, die eigenthüm- lichen Züge, welche den berathenden - Körper in seinen späteren Entwick- lungsstadien auszeichnen, besser zu verstehen. Wir haben bereits gesehen, dass im Anfang die Kriegerclasse nothwen- (dig im Besitz des Landes war. In einem wilden Stamme ist Niemand Eigenthümer des besetzten Gebietes ausser den Kriegern, welche dasselbe gemeinsam zur Jagd benutzen. Während des Hirtenlebens werden gute Weide- gründe für das Vieh mit vereinten Kräften gegen Eindringlinge vertheidigt. Und wo das Ackerbaustadium erreicht ist, da muss das Gemeindeeigenthum, das Familieneigenthum, der Einzelbe- sitz von Zeit zu Zeit mit den Waffen in der Hand behauptet werden. Dar- aus erklärt sich also, wie gezeigt wurde, warum in frühen Stadien das Waffen- tragen und der Besitz von Grund und Boden gewöhnlich verbunden sind. Wo nun, wie bei Jagdvölkern, das Land gemeinsames Eigenthum bleibt, da können zwischen den Wenigen und der Menge nur solche Gegensätze zum Vorschein kommen, die auf wirklicher oder vermeintlicher persönlicher Ueber- legenheit dieser oder jener Art be- ruhen. Allerdings geben, wie schon angedeutet, Unterschiede im Wohlstand, der in Gestalt von Vieh, Böten, Scla- ven etc. erworben werden kann, einigen Anlass zu Classendifferenzirungen und so kann, noch bevor es überhaupt pri- vaten Grundbesitz gibt, die Menge der Besitzthümer zur Scheidung der 373 | Regierenden von den Regierten bei- tragen. Ist das Hirtenstadium erreicht und der patriarchalische Typus einge- bürgert, so vererbt sich das vorhan- dene Eigenthum stets auf den ältesten Sohn; wenn er aber, wie Sir Hay MAınE bemerkt, als Verwalter für die ganze Gruppe zu betrachten ist, so vereint sich diese Würde mit seiner kriegerischen Führerschaft, um ihm Autorität zu verleihen. In einem spä- teren Stadium, wo der Grund und Bo- den von sesshaften Familien und Ge- meinden besetzt wird und der Grund- besitz eine bestimmte Form erreicht hat, tritt diese Vereinigung von Cha- rakteren auf demOberhaupt jeder Gruppe noch mehr hervor, und wie sich in dem Abschnitt über die Differenzirung des Adels von den freien Männern er- gab, wirken verschiedene Einflüsse zu- sammen, um jeweils dem ältesten Sohne des Aeltesten Ueberlegenheit sowohl in betreff der Ausdehnung seines Grund- besitzes als des Grades seiner Macht zu verschaffen. Diese grundlegende Be- ziehung ändert sich auch nicht, wenn ein Adel durch Verdienst an die Stelle eines Adels durch Geburt tritt und, wie dies meist bald geschieht, die An- hänger eines Eroberers durch Theile des unterjochten Landes belohnt wer- den, welche sie unter der Bedingung fortdauernden Kriegsdienstes erhalten. Durchweg macht sich eben in der Classe der Kriegsobersten die Tendenz geltend, sie mit der Classe der Gross- grundbesitzer identisch zu machen. Indem wir also die allgemeine Ver- sammlung der bewaffneten freien Män- ner zum Ausgangspunkt nehmen, die sämmtlich einzeln oder zu Gruppen vereinigt Besitzer des Bodens sind und deren Führer, die ihre Berathungen in Gegenwart der übrigen abhalten, sich nur dadurch vor diesen auszeich- nen, dass sie die geschicktesten Krieger sind, sehen wir, wie sich durch häu- fige Kriege und fortschreitende Befesti- . 374 gung der Verhältnisse ein Zustand herausbildet, in welchem dieser Rath der Führer sich durch grösseren Reich- thum und in Folge dessen durch grös- sere Macht noch schärfer von der Menge abhebt. Indem er dann in immer schrofferen Gegensatz zur grossen Masse der bewaffneten freien Männer tritt, strebt dieser berathende Körper, sich diese allmählich ganz unterzuordnen, sich zuletzt völlig davon abzulösen und gänzlich unabhängig zu werden. Die Entwicklung dieses zeitweiligen Kriegsrathes, zu welchem der König als Oberbefehlshaber die Anführer sei- ner Streitkräfte zusammenberuft, um ihre Meinung zu hören, zu dem blei- benden berathenden Körper, in welchem der König kraft seiner Herrscherwürde den Vorsitz bei den Berathungen der- selben Männer über öffentliche Ange- legenheiten im allgemeinen führt, kön- nen wir in allen Theilen der Welt sich vollziehen sehen. Ueberall setzt sich ein solcher berathender Körper aus kleineren Häuptlingen oder aus den Häuptern der Geschlechter oder aus Lehnsherren zusammen, bei denen mili- tärische und bürgerliche Herrschaft über locale Gruppen gewöhnlich mit ausgedehnten Besitzungen verbunden ist; häufig zeigt sich uns diese Zusam- mensetzung an einem Beispiel zugleich inkleinerem und in grösserem Maassstab, sowohl local als allgemein. Eine rohe und primitive Form der Einrichtung finden wir in Afrika. Bei den Kaffern »wählt jeder Häuptling aus seinen wohl- habendsten Unterthanen fünf oder sechs aus, die ihm als Rathgeber zur Seite stehen..... Der grosse Rath des Kö- nigs setzt sich aus den Häuptlingen der einzelnen Kraals zusammen«. Ein Betschuanenstamm >» umfasst gewöhnlich eine Anzahl Städte oder Dörfer? jedes mit seinem besonderen Oberhaupt, wel- chem mehrere kleinere Häuptlinge unter- geordnet sind«, die »sämmtlich die Oberhoheit des ersteren anerkennen. | Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Seine Macht, obgleich sehr gross und in manchen Fällen unumschränkt, wird nichtsdestoweniger von den kleineren Häuptlingen controlirt, welche in ihren pichos oder pitschos, ihrem Par- lament oder öffentlichen Versammlung, mit der grössten Offenheit auseinander- setzen, was sie an seiner Regierung tadelnswerth oder ungehörig finden«. Von den Wanyamwezi erzählt Burton, dass sich der Sultan »mit einem Ratlı von zwei bis zwanzig Häuptlingen oder Aeltesten umgibt ...... Seine Autorität wird durch das Gegengewicht einfacher Gewalt in Schranken gehalten; die unter ihm stehenden Häuptlinge können wahr- scheinlich ebenso viele Krieger ins Feld stellen wie er«. Aehnliches findet sich in Aschanti. »Die Caboceers und Haupt- lentemr. wollen in allen Fragen über Krieg und auswärtige Politik befragt sein. Solche Angelegenheiten werden in einer allgemeinen Versammlung be- sprochen und der König findet es oft angezeigt, den Meinungen und lebhaften Vorstellungen der Majorität nachzuge- ben«. Auch aus den altamerikani- schen Staaten lassen sich Beispiele an- führen. In Mexico »präsidirte der Kö- nig alle acht Tage einer öffentlichen Versammlung. Sie kamen aus allen Thei- len des Landes zu diesen Versammlun- gen zusammen«; — und im weiteren lesen wir, dass der höchste Rang des Adels, die Teuctli, »vor allen andern im Senat den Vortritt hatte, sowohl in der Reihe der Sitze als beim Ab- stimmen«, woraus also die Zusammen- setzung des Senats zu ersehen ist. Ebenso bei den Centralamerikanern von Vera Paz: »Obgleich die Oberherrschaft von einem König ausgeübt wurde, hatte er doch als Gehilfen kleinere Herren um sich, die meistens Herren oder Vasallen genannt wurden; sie bildeten den kö- niglichen Rath..... und vereinigten sich im Palast des Königs, so oft sie ein- berufen wurden.< Wenden wir uns nach Europa, so mag zuerst des alten Polen Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. gedacht werden. Ursprünglich bestand .es aus selbständigen Stämmen, »jeder von seinem eigenen Kniaz oder Rich- ter regiert, den Alter oder Ruhm seiner Weisheit zu dieser Würde erhobenhatte«, und jeder im Kriege von einem auf Zeit gewählten Voivod oder Haupt- mann angeführt; im Verlaufe jenes durch Kriege bewirkten fortschreitenden Zu- sammensetzungsprocesses aber hatten sich diese Stämme in die Classen der Adligen und Hörigen differenzirt, über denen ein Wahlkönig stand. Von der Organisation, die bestand, bevor der König seine Macht verlor, erfahren wir Folgendes: „Obgleich jeder dieser Palatine, Bischöfe und Barone dem Herrscher seinen Rath er- theilen durfte, so fand doch die Bildung eines Senats nur langsam statt und kam erst zum Abschluss, als die Erfahrung den Nutzen desselben bewiesen hatte. Die einzigen Gegen- stände, über welche sich der Monarch an- fänglich mit seinen Baronen berieth, bezogen sich auf den Krieg: was er ihnen aber ur- sprünglich aus Höflichkeit oder aus Miss- trauen gegen sich selbst oder um im Falle des Misslingens seine eigene Verantwortlich- keit zu verringern, gewährt hatte, das for- derten sie schliesslich als ihr Recht.“ Auch die altgermanischen Stämme, einst halb nomadisch und nur wenig organisirt, entwickelten allmählich, nach- dem sie das Stadium durchlaufen hat- ten, in welchem sich bewaffnete Häupt- linge und freie Männer zu bestimmten Zeiten zur Berathung über Krieg und andere Dinge versammelten, während der Kriege unter einander und gegen Rom eine ähnliche Verfassung. Zu Karl’s des Grossen Zeiten pflegten bei den alljährlichen grossen Versammlungen „die Herzöge, Grafen, Bischöfe, Scabini und Centenarii — welche alle mit der Re- ierung oder Verwaltung in Beziehung stan- en — officiell gegenwärtig zu sein; die Gross- und Kleingrundbesitzer, die Barone und Edelleute fanden sich auf Grund ihrer Lehen ein, die freien Männer kraft ihres Charakters als Krieger, obgleich zweifellos nur wenige derselben Waffen zu tragen ver- pflichtet waren, die nicht wenigstens ein klei- nes Grundstück besassen.“ 375 Von einer späteren Periode schreibt sodann Hauvam: „In allen deutschen Fürstenthümern herrschte eine Art begrenzter Monarchie, welche die allgemeine Reichsverfassung in kleinerem Maassstab wiederspiegelte. Wie die Kaiser ihre gesetzgebende Gewalt mit dem Reichstag theilten, so hatten auch alle die Fürsten, welche zu dieser Versammlung gehörten, ihre eigenen Provinzialstände, die sich aus ihren Lehensvasallen und den reichsmittelbaren Städten in ihrem Gebiete zusammensetzten“; — die Masse der Landbevölkerung hatte also bereits ihre Macht einge- büsst. Aehnliches zeigt sich in Frank- reich während der späteren Feudalzeit. Eine »Verordnung vom J. 1228 in be- treff der Ketzer in Languedoc ist er- lassen nach dem Rathe unserer Gross- herren und Prudhommes«, und eine>vom J. 1246 über Aushebungen und Los- käufe in Anjou und Maine« sagt, »nach- dem wir zu Orleans die Barone und Grossherren der erwähnten Lande um uns versammelt und eingehenden Rath mit ihnen gepflogen« etc. Um dem naheliegenden Einwurf zu begegnen, dass auf die gewöhnlich eben- falls zum berathenden Körper gehörigen Geistlichen keine Rücksicht genommen worden sei, muss noch besonders her- vorgehoben werden, dass die Anerkenn- ung dieser Thatsache keinerlei wesent- liche Aenderung der oben gegebenen Darstellung bedingt. Obgleich wir uns nach den neueren Sitten und Anschau- ungen die Priesterclasse im Gegensatz zur Kriegerclasse denken, so war es früher doch ganz anders. Einerseits wissen wir, dass besonders in kriege- rischen Gesellschaften der König sowohl Oberbefehlshaber als Hoherpriester ist und in beiden Eigenschaften die Ge- bote seiner Gottheit ausführt, und dazu kommt anderseits, dass die gewöhn- lichen Priester meistens direct oder in- direct in den vermeintlich von Gott ge- wollten Kriegen mitthätig sind. _ Als Be- leg des einen sei die Thatsache an- 376 geführt, dass Radama, König von Ma- dagascar, bevor er in den Krieg zog, »da er sowohl Priester als Feldherr ist, am Grabe von Andria-Masina, seinem berühmtesten . Vorfahren, einen Hahn und eine junge Kuh opferte und ein Gebet darbrachte«. Und als Beleg des an- dern sei erwähnt, dass bei den Juden, deren Priester das Heer in die Schlacht begleiteten, Samuel, ein Priester von Kindheit an, den Befehl Gottes, » Ama- lek zu schlagen«, an Saul überbrachte und selbst den Agag in Stücke hieb. Mehr oder wenige active Theilnahme der Priester am Kriege finden, wir über- all bei wilden und halbeivilisirten Völ- kern, so bei den Dacotas, Mundrucus, Abiponen, Khonds, deren Priester die Zeit des Krieges bestimmen oder die Zeichen zum Angriff geben; bei den Tahitiern, deren Priester » Waffen tru- gen und mit den Kriegern zum Kampfe zogen«; bei den Mexicanern, wo die Priester, gewöhnlich die Anstifter des Krieges, ihre Götzenbilder vor dem Heere begleiteten und sofort »die ersten Kriegsgefangenen opferten«; bei den alten Aegyptern, von denen wir lesen, dass »der Priester eines Gottes oft Befehlshaber zu Lande oder zur See war<. Wie naturgemäss aber dieser Zusammenhang ist, der bei rohen und noch jugendlichen Gesellschaften allge- mein vorkommt, beweist sein Wieder- aufleben in älteren Gesellschaften un- geachtet eines demselben widersprechen- den Glaubensbekenntnisses. Sobald das Christenthum aus seinem ausserstaat- lichen Stadium in dasjenige einer Staats- religion übergegangen war, nahmen auch seine Priester während besonders kriegerischen Zeiten wieder den ur- sprünglichen kriegerischen Charakter an. »Um die Mitte des achten Jahr- hunderts war [in Frankreich] der regel- mässige Kriegsdienst von seiten des Clerus bereits vollständig entwickelt. « In der Feudalzeit wurden dann Bischöfe, Aebte und Priore bald selbst Feudal- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. herren mit aller Gewalt und Verant- wortlichkeit, die ihrer Stellung anhaf- tete: sie hielten Truppen in ihrem Sold, nahmen Städte und Festungen ein, hielten Belagerungen aus, führten oder schickten ihre Truppen den Kö- nigen zu Hilfe. Und Orperıch schildert 1094 die Priester, wie sie ihre Ge- meindeglieder und die Aebte ihre Va- sallen in den Kampf führten. Wenn nun auch in neueren Zeiten die kirch- lichen Würdenträger nicht mehr activ am Kampfe theilnehmen, so hat doch ihre berathende Stellung zu demselben — in der sie gar oft eher dazu an- treiben als davon zurückhalten, — auch heute noch nicht aufgehört, wie bei uns vor kurzem das Votum der Bischöfe zeigte, welche mit einer ein- zigen Ausnahme die Eroberung von Afehanistan billigten. Dass der berathende Körper in der Regel auch Geistliche umfasst, wider- spricht also keineswegs unserer Be- hauptung, dass derselbe vom Kriegs- rath seinen Ausgang nimmt und so zu einer bleibenden Versammlung unter- geordneter Feldherrn wird. In etwas anderer Form wiederholt sich hier theilweise dasselbe, was uns schon bei der Öligarchie entgegentrat; der Unterschied liegt nur darin, dass hier der König als mitwirkender Factor hinzukommt. Ebenso gilt manches, was früher über den Einfluss des Krie- ges auf die Verkleinerung der Oligarchie gesagt wurde, auch für jene Verklei- nerung der primitiven berathenden Ver- sammlung, wodurch sie zu einer Körper- schaft von grundbesitzenden Kriegs- adligen wird. Jene durch den Krieg bewirkte Verschmelzung kleiner zu grös- seren Gesellschaften jedoch bringt noch andere Einflüsse ins Spiel, welche mit zu diesem Resultat beitragen. In den Versammlungen gleichmässig bewaffneter Männer in frühen Zeiten ' wird zwar die untergeordnete Menge Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. wohl jene Autorität der wenigen Oberen anerkennen, die auf ihrer Führerschaft im Kriege, auf ihrer Würde als Ge- schlechtshäupter oder auf ihrer ver- meintlich göttlichen Abstammung be- ruht; immerhin aber werden sich die wenigen Oberen bewusst sein, dass sie in einem wirklichen Kampfe nicht gegen die untergeordnete Menge aufkommen könnten, — sie werden also auch die Ansichten derselben mit einer gewissen Rücksicht aufzunehmen genöthigt und nicht im stande sein, die Gewalt voll- ständig an sich zu reissen. Indem aber jene früher beschriebene Classendiffe- renzirung fortschreitet und die wenigen Oberen sich bessere Waffen verschaffen als die Menge oder wie bei vielen Völkern des Alterthums Kriegswagen haben oder wie im mittelalterlichen Europa Panzer und Harnische tragen und beritten sind, werden sie ihren Vortheil fühlen und auf die Ansichten der Menge weniger Rücksicht nehmen. Und. der Gewohnheit, ihre Ansichten zu ignoriren, wird die Gewohnheit fol- gen, jede Meinungsäusserung von ihrer Seite als Unbescheidenheit zu betrachten. Diese allmähliche Usurpirung wird gefördert werden durch die Entstehung jener Haufen bewaffneter Anhänger, mit ‚denen sich die wenigen Oberen um- geben — Söldner oder Andere, die, ohne Zusammenhang mit den gemeinen Freien, durch an Eid an ihre Herren gebunden sind und, weil gleichfalls mit bessern Waffen und Vertheidigungs- mitteln ausgerüstet als die Masse, bald auch anfangen werden, diese mit Ver- achtung anzusehen und sie unterjochen zu helfen. Nicht blos bei Gelegenheit von allgemeinen Versammlungen, sondern auch tagtäglich und an jedem belie- bigen Orte wird die wachsende Macht der Häuptlinge, nachdem sie einmal auf diese Weise begründet ist, die freien Männer mehr und mehr auf den Rang von Hörigen herabzudrücken stre- Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 377 ben, ganz besonders da, wo solche Adlige ihrer Verpflichtung zum Kriegs- dienst gegen ihren König entbunden werden oder sich allmählich davon los- machen, wie dies im dreizehnten Jahr- hundert in Dänemark der Fall war. „Die freien Bauern, die ursprünglich unabhängige Besitzer des "Bodens waren und gleiche Stimme hatten wie die höchsten Ad- ligen des Landes, wurden dadurch genöthigt, den Schutz dieser mächtigen Herren zu sue hen und zu Vasallen eines benachbarten Herre- mand, Bischofs oder, Klosters zu werden. Die Provincialstände oder Lands-Ting wur- den allmählich durch das allgemeine National- parlament des Dannehof, Adel-Ting oder Herredag in den Hinter grund eedrängt, wel- ches letztere sich ausschliesslich aus den Fürsten, Prälaten und anderen grossen Herren des Königreichs zusammensetzte. .... Da der Einfluss der Bauernschaft gesunken war, während die Bürger der Städte noch keiner- lei Antheil au der Staatsgewalt hatten, nä- herte sich die Verfassung, obgleich zerfallen und schwankend, doch rasch der. Form, welche sie schliesslich erlangte, nämlich einer Feudal- und Priester-Oligarchie.* Ein fernerer Einfluss, welcher den bewaffneten Freien die Macht entwin- det und sie in die Hände der bewaff- neten Häuptlinge gelangen lässt, welche den berathenden Körper bilden, erwächst aus jener Erweiterung des besetzten Gebietes, die mit der wiederholten Ver- schmelzung von Gesellschaften zusam- menhängt. Wie Rıchrer von der Zeit der Merowinger bemerkt: »Unter Chlod- wig und seinen nächsten Nachfolgern nahm das in Waffen versammelte Volk wirklich theil an den Entschliessungen des Königs. Mit der zunehmenden Grösse des Königreichs aber wurde eine Zusam- menkunft des ganzen Volkes unmöglich«: nur die, welche dem bestimmten Orte zunächst lebten, konnten derselben bei- wohnen. Zur Beleuchtung dieses Ver- hältnisses seien noch zwei Thatsachen angeführt, von denen eine bereits an anderer Stelle verwerthet wurde. »Der grösste Volksrath in Madagascar ist eine Versammlung des Volkes der Haupt- stadt und der Oberhäupter der Pro- 26 _ 378 vinzen, Bezirke, Städte und Dörfer etc., und von dem englischen Witenagemot sagt Mr. FresmAn: »Manchmal finden wir unmittelbar die Gegenwart grosser und zahlreicher Menschenclassen , wie der Bürger von London und Winchester erwähnt.< Aus beiden Fällen ersehen wir, dass wohl alle Freien das Recht hatten, der Versammlung beizuwohnen, dass aber nur die am Orte selbst Woh- nenden leicht davon Gebrauch zu ma- chen im stande waren. Diese einschrän- kende Ursache, welche auch Mr. Frer- MAN bespricht, wirkt auf verschiedene Weise. Zunächst sind schon die Kosten einer Reise nach dem zur Versammlung festgesetzten Orte, sobald das König- reich einen gewissen Umfang erlangt hat, zu gross, um von einem Einzelnen getragen zu werden, der nur wenige Acker Landes besitzt. Dazu kommen die indirecten Kosten durch Zeitver- lust, die für denjenigen, der persön- lich arbeitet oder die Arbeiten beauf- sichtigt, sehr ins Gewicht fallen. End- lich die besonders in unruhigen Zeiten bedeutende Gefahr, welcher nur der von einem wohlbewaffneten Gefolge Um- gebene trotzen kann. Offenbar müssen alle diese abschreckenden Ursachen um so mehr in Anschlag kommen, je mehr aus den oben dargelegten Gründen die zum Beiwohnen anregenden Momente in den Hintergrund treten. Noch eine andere Ursache macht sich hier geltend. Wenn das besetzte Gebiet ausgedehnt und daher die Be- wohner zahlreich sind, so wäre eine Versammlung aller bewaffneten Freien, selbst wenn sie zu stande käme, doch schon durch ihre Grösse und den Mangel an Organisation verhindert, an den Verhandlungen thätigen Antheil zu nehmen. Fine Menge Menschen, die von weit zerstreuten Punkten her- kommen, die einander meist ganz unbe- kannt sind, die vorher nicht mit ein- ander in Verkehr treten konnten und daher sowohl eines bestimmten Planes Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. als geeigneter Führer entbehren, ver- mag niemals gegen die kleine, aber wohlorganisirte Gruppe Jener aufzu- kommen, die gemeinsame Ideen ver- treten und im Einverständniss mit ein- ander handeln. Endlich ist auch der Umstand nicht zu übersehen, dass, wenn die oben genannten Ursachen alle darauf hinge- arbeitet haben, den ferne wohnenden bewaffneten Freien die Theilnahme an den Versammlungen zu erschweren, und der Brauch eingeführt ist, die Wich- tigeren unter ihnen besonders dazu aufzufordern, die natürliche Folge da- von sein wird, dass im Laufe der Zei- ten der Empfang einer solchen Auffor- derung erst zur Theilnahme autorisirt und das Ausbleiben einer solchen gleich- bedeutend wird mit dem Verlust des Versammlungsrechtes. Hier erkennen wir also meh- rere Einflüsse, sämmtlich directe oder indirecte Folgen des Krieges, welche dazu beitragen, den berathenden Kör- per von der Masse der bewaffneten Freien, aus welcher derselbe hervor- geht, zu differenziren. Sind nun der Herrscher und der so entstandene berathende Körper ge- geben, so erhebt sich die Frage: Wel- ches sind die Ursachen einer Aende- rung in ihren relativen Gewalten ? Zwischen beiden Autoritäten muss stets ein gewisser Kampf stattfinden, jede muss die andere sich unterzuordnen suchen. Unter welchen Bedingungen vermag nun der König den berathenden Körper und unter welchen Bedingungen dieser jenen zu bewältigen ? Dem König verleiht natürlich der Glaube an seine übermenschliche Natur einen ausserordentlichen Vortheil im Wettstreit um die Oberherrschaft. Ist er göttlicher Abkunft, so werden sich seine Gegner kaum offen seinem Willen zu widersetzen wagen und die Mit- glieder seines Rathes werden einzeln Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. oder insgesammt nicht über unterwür- fige Rathschläge hinauszugehen ver- suchen. Ist überdies die Erbfolge so geregelt, dass selten oder nie der Fall eintritt, wo der König von den Häupt- lingen gewählt werden muss, so dass sie keine Gelegenheit haben, einen zu wählen, der sich ihren Wünschen füg- sam zeigen wird, so ist ihnen noch mehr jede Möglichkeit benommen , ir- gendwelche Autorität zu behaupten. Daher finden wir auch gewöhnlich keine berathenden Körper von unabhängiger Stellung in den despotisch regierten Ländern des Ostens aus alter oder neuer Zeit. Obgleich wir vom König der Aegypter lesen, dass »er im Kriege vom Rathe der Dreissig begleitet wor- den zu sein scheint, der offenbar aus vertrauten Rathgebern, Schreibern und hohen Staatsbeamten zusammengesetzt war«<, so ist doch leicht zu ersehen, dass die Mitglieder dieses Rathes nur Angestellte waren und nur so viel Ge- walt besassen, als ihnen vom König gewährt wurde. Ebenso in Babylonien und Assyrien: Höflinge und Andere, welche die Stellung von Ministern und Rathgebern der gottentsprungenen Herr- scher einnahmen, bildeten keinerlei feststehende Versammlung zu Berath- ungszwecken. Auch im alten Persien bestand ein gleiches Verhältniss. Der erbliche König, nahezu heilig und mit überschwänglichen Titeln versehen, ob- schon einer gewissen Beschränkung von seiten der Fürsten und Edlen von kö- niglichem Geblüt unterworfen, welche seine Heere anführten und ihm ihren Rath ertheilten, stand doch nicht unter dem Zwang einer eigentlichen Körper- schaft derselben. In der ganzen Ge- schichte von Japan zeigt sich bis auf unsere Zeiten herab ein ähnlicher Zu- ‘stand. Es lag den Daimios ob, in ‚bestimmten Zwischenräumen sich in der Hauptstadt einzufinden, was als Vor- sichtsmaassregel gegen Unbotmässigkeit geschah; aber niemals wurden sie wäh- 379 rend dieser Zeiten zusammenberufen, um irgendwelchen Antheil an der Re- gierung zu nehmen. Und wie in Japan, so tritt auch in China dieselbe Begleit- erscheinung des erblichen Königthums auf. Wir lesen darüber: >»Obgleich es in der chinesischen Regierung dem Namen nach keinen berathenden Kör- per und nichts einem Congress, Par- lament oder tiers-tat wirklich Analoges gibt, so sieht sich der Kaiser doch durch die Nothwendigkeit gedrungen, mit einigen seiner Beamten Rath und Erwägung zu pflegen.» Auch Europa bietet uns entsprechende Beispiele. Wir können hier nicht blos auf Russ- land, sondern ganz besonders auf Frankreich in der Zeit, wo die Mo- narchie ihre absoluteste Form erreichte, verweisen. In dem Zeitalter, wo Geist- liche, wie Bossurt, die Ansicht aus- sprachen, dass »der König Niemand verantwortlich ist der ganze Staat in ihm liest und der Wille des ganzen Volkes in dem seinigen enthal- ten iste — in dem Zeitalter, wo der König (Ludwig XIV.) >mit der Idee von seiner Allmacht und göttlichen Sendung bekleidet,» >von seinen Unter- thanen mit Anbetung betrachtet wurde>, hatte er »selbst die geringste Spur, Idee oder Erinnerung an jede andere Autorität ausser derjenigen, ‘die von ihm selber ausging, ausgelöscht und absorbirt«. Mit der Festsetzung der bestimmten Erbfolge und der Ausbil- dung des göttlichen Prestige war alle Machtbefugniss der übrigen Stände, die‘ sie in früheren Zeiten besessen hatten, verschwunden. Umgekehrt zeigt sich in manchen anderen Fällen, dass, wo der König das Prestige eines vermeintlich gött- lichen Ursprungs nie besass oder nicht zu behaupten vermochte, die Macht des berathenden Körpers im stande ist, die königliche Gewalt sich unterzuord- nen und schliesslich ganz zu unter- drücken. In erster Linie ist hier Rom 26 * 380 zu nennen. Ursprünglich >»berief der König den Senat zusammen, wann es ihm beliebte, und legte ihm seine Fragen vor; kein Senator durfte unge- fragt eine Meinung aussprechen und noch weniger durfte sich der Senat versammeln, ohne dazu aufgefordert zu sein». Hier aber, wo dem König zwar göttliche Billigung, nicht aber göttliche Abstammung zuerkannt und wo er zwar in der Regel von seinem Vorgänger ernannt, manchmal aber auch that- sächlich vom Senat erwählt wurde und sich stets der Form nach einer Zu- stimmung von seiten des Volkes unter- ziehen musste, erhob sich der bera- thende Körper bald zu einer über- mächtigen Stellung. »Im Laufe der Zeit verwandelte sich der Senat aus einer Körperschaft, welche den Behör- den blos berathend zur Seite stehen sollte, in ein Collegium, das den Be- "hörden Befehle gab und selbst regier- te.» Später »wurde das Recht, Sena- toren zu ernennen und abzusetzen, das ursprünglich den Behörden zukam, den- selben entzogen», und schliesslich »wurde der unantastbare Charakter und die Lebenslänglichkeit der Mit- glieder der herrschenden Classe, welche Sitz und Stimme hatten, auf die Dauer festgestellt«< — und damit war die oligarchische Verfassung fertig. — Die Geschichte von Polen bietet uns ein anderes Beispiel. Erst wurden aus ein- fach regierten Stämmen kleine Staaten und es entstand ein Adel; dann ver- eimigten sich diese kleinen Staaten; endlich kam das Königthum auf. Die- ses, von Anfang an ein Wahlkönig- thum, wie es gewöhnlich der Fall ist, behielt hier diesen Charakter, wurde niemals erblich. Jedesmal, wo eine solche Wahl unter den Gliedern des königlichen Stammes getroffen werden musste, gab sich eine Gelegenheit, Jemand zum König zu machen, den die unruhigen Adligen ihren eigenen Wün- schen fügsam glaubten, und so kam Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. es, dass die Macht des Königthums allmählich in Verfall gerieth. Endlich „war unter den drei Ständen, in welche der Staat zerfiel, derjenige des Königs, ob- gleich seine Autorität früher geradezu de- spotisch gewesen war, amallerunbedeutendsten geworden. Seine Würde war mit keinerlei Macht bekleidet; er war blos der Vorsitzende des Senats und der oberste Richter der Re- publik.“ Hieher gehört auch das Beispiel von Scandinavien, das bereits in an- derer Hinsicht erwähnt wurde. Die dänischen, schwedischen und norwegi- schen Könige waren ursprünglich wähl- bar, und obgleich erbliche Nachfolge mehrmals für einige Zeit in Gebrauch kam, so fand doch ein wiederholter Rückfall in das Wahlsystem statt und die Folge davon war, dass die den berathenden Körper bildenden Feudal- häuptlinge und Prälaten das Ueberge- wicht bekamen. Das zweite Element im dreieinigen Staatsgebilde wird somit wie das erste durch kriegerische Verhältnisse weiter entwickelt. Diese sondern den Herr- scher immer mehr von allen unter ihm Stehenden und diese bewirken auch eine Integration der wenigen Höher- gestellten zu einem berathenden Körper, der sich von der Menge der. Tiefer- stehenden abhebt. Dass der Kriegsrath, eine Versamm- lung von leitenden Kriegern, welche in Gegenwart ihres Gefolges sich bespre- chen, der Keim ist, aus welchem der berathende Körper hervorgeht, lässt sich aus dem Fortbestehen von Ge- bräuchen erschliessen, die zeigen, dass jede politische Versammlung ursprüng- lich eine Versammlung der bewaffneten Männer war. Mit diesem Schluss stim- men manche andere Thatsachen über- ein, wie dass nach Erreichung ei-' nes einigermaassen sesshaften Zustandes die Befugniss des versammelten Volkes auf die Annahme oder Verwerfung der ihm gemachten Vorschläge beschränkt Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. wird, und dass die Mitglieder des be- rathenden Körpers vom Herrscher, der zugleich Oberfeldherr ist, einberufen werden und ihre Meinung nur auf seine Aufforderung hin aussprechen dürfen. Nicht minder erhalten wir auf diese Weise Aufklärung über den Vorgang, durch welchen der primitive Kriegsrath sich ausdehnt, zur bleibenden Institu- tion wird und sich nach aussen ab- schliesst. Innerhalb der Kriegerclasse selbst, welche zugleich die Classe der Grundbesitzer ist, erzeugt der Krieg zunehmende Unterschiede des Reich- thums wie des Ranges, so dass sich im Verlauf der vom Kriege ver- anlassten wiederholten Verschmelzung von kleineren und grösseren Gruppen die Anführer im Kriege als Grossgrund- besitzer und locale Herrscher hervor- heben. Dadurch kommen aber die Mit- glieder des berathenden Körpers in Gegensatz zu den Freien überhaupt, nicht blos als Kriegsführer zu ihren Untergebenen, sondern noch mehr als Männer von Reichthum und Autorität zu denen der grossen Menge. Dieser sich steigernde Gegensatz zwischen dem zweiten und dem dritten Element des dreieinigen Staatskörpers endigt mit völliger Trennung, wenn im Laufe der Zeiten durch Kriege grössere Gebiete vereinigtwerden. Die bewaffneten Freien,vüber ein weites Gebiet zerstreut, werden von der Theilnahme an den periodischen Versammlungen abgehalten durch den damit verbundenen Aufwand an Geld und Zeit, durch die Gefahr und auch durch die Erfahrung, dass sie trotz ihrer Menge, weil unvorberei- tet und unorganisirt, den Wenigen ge- genüber, die wohlorganisirt, besser bewaffnet, beritten und von Haufen von Anhängern umgeben sind, vollständig hülflos erscheinen. Während nun in Folge dessen eine Zeit lang nur die dem Versammlungsorte zunächst woh- nenden, waffenfähigen Freien theilneh- men, kommt bald eine Zeit, wo selbst 381 diese nicht mehr dazu aufgefordert werden und endlich gar nicht mehr dazu berechtigt gelten, so dass sich der berathende Körper zuletzt ganz scharf von letzteren differenzirt. Die Aenderungen in den relativen Befugnissen Herrschers und des berathenden Körpers werden durch nahe- liegende Ursachen bedingt. Wenn der König den Ruf übernatürlicher Abstamm- ung oder Autorität behält oder erlangt und die Erbfolge gesetzlich so gut geregelt ist, dass Wahl durchaus ausgeschlossen bleibt, so sinken diejenigen, die sonst einen berathenden Körper mit coordi- nirter Gewalt gebildet haben würden, zu blossen besonders ernannten Bera- thern des Königs herab. Hat aber die- ser das Prestige des vermeintlich hei- ligen Ursprungs oder Auftrags nicht und bleibt er wählbar, so behält der berathende Körper die Macht in Hän- den und geht sehr leicht in eine Oli- garchie über. Natürlich soll damit nicht gesagt sein, dass ein berathender Körper un- ter allen Umständen auf die beschrie- bene Weise entstanden oder sozusammen- gesetzt sei. Durch Kriege zertrümmerte oder durch Revolutionen aufgelöste Ge- sellschaften behalten manchmal so wenig von ihrer ursprünglichen Organisation, dass auch keine CGlasse von jener Art übrig bleibt, aus der ein berathender Körper von der geschilderten Art ent- stehen könnte. Oder wie wir in un- seren Kolonien sehen, es mögen sich neue Gesellschaften unter Verhältnissen gebildet haben, welche der Entstehung einer Olsse von grundbesitzenden Kriegs- häuptern nicht günstig waren, weshalb jene auch nicht die Elemente darbieten konnten, aus denen sich der berathende Körper in primitiven Gestalt zusammensetzt. Unter Verhältnissen solcher Art bilden sich die Versamm- lungen, welche letzterem so weit als möglich in Stellung und Function entsprechen, unter dem Einfluss der des seiner 382 Ueberlieferung oder des Beispiels aus und setzen sich in Ermanelung der ur- sprünglichen Elemente aus anderen zu- sammen — im allgemeinen jedoch im- mer aus Solchen, die durch ihre Stell- ung, höheres Alter oder frühere Erfahr- ungen in der Verwaltung mehr in den Vordergrund treten als die Masse der Elemente einer Volksversammlung. Die vorstehende Darlegung gilt also blos für den, wie wir sagen könhen, normalen Kleinere Mittheilungen und Journalschau. berathenden Körper, der während jener durch Kriege bewirkten wiederholten Ver- schmelzung von kleineren Gesellschaften zu grossen sich entwickelt; die Senate oder ersten Kammern aber, welche un- ter später herrschenden’ und verwickel- teren Bedingungen auftraten, mögen in- soweit, als die neuen Verhältnisse es gestatten, als Homologa desselben in Function und Zusammensetzung betrach- tet werden. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Beobachtungen an dem neuen Kometen. Wie zu erwarten stand, hat der grosse Komet, welcher zuerst am 29. Mai ds. Jahres von Dr. GouLp zu Cordoba beobachtet wurde und während des Juni und Juli bei uns sichtbar war, zu mancherlei wichtigen Untersuchun- gen mit den Hilfsmitteln der Neuzeit Anlassgegeben. DasResultat der GouLD’- schen Beobachtungen und Rechnungen, die sogenannten Bahnelemente, theilte der Kaiser von Brasilien selbst an die Pariser Akademie mit, und zwar wie folgt: Durchgang durch die Sonnen- nähe 1881, Juni 19,5 (Berliner Mitter- nacht), Länge des Perihels 272°, Länge ‚des aufsteigenden Knotens 273°, Neig- ung der Bahnebene gegen die Ekliptik 64°, kürzester Abstand von der Sonne 0,693 oder etwa 13500000° Meilen. Diese Bahn zeigt eine auffallende Aehn- lichkeit mit der des durch B&sseu’s Untersuchungen berühmt gewordenen grossen Kometen von 1807, weshalb Gouup ihn auch als solchen ankündigte. Dennoch steigen gegen eine volle und ganze Identität gewichtige Bedenken auf. Für den Kometen von 1807 hatte BesseL eine Umlaufszeit von beinahe 1700 Jahren berechnet; welche durch spätere Untersuchungen auf etwa 1600 Jahre reducirt wurde, dass dieselbe nicht so verhältnissmässig klein sein kann, wie 74 Jahre, ergiebt sich schon daraus, dass eine entsprechende Erscheinung aus historischen Zeiten, namentlich aus den Jahren 1734 und 1660 nicht be- kannt ist. Es ist ferner in diesem Falle eminent unwahrscheinlich, dass die von einem grossen Planeten, wie z. B. Ju- piter, ausgeübte Störung die ungeheure Verminderung der Umlaufszeit veran- lasst habe, weil die Bahn an den grös- seren Massen unseres Planetensystems weit vorbeiführt. Der Komet Halley mit 76 Jahren Umlaufszeit hält dieselbe ziemlich regelmässig ein, obgleich er den grossen Planeten viel näher kom- men muss. Nach der Ansicht des Pro- fessor KLINKERFUES in Göttingen be- steht keine Identität mit dem Kometen von 1807, sondern nur eine Bahnüber- einstimmung und möglicherweise eine sonstige nähere Beziehung oder Ver- wandtschaft zu ihm. Wie die einzelnen Theile des Kometen von Biela (zu denen man wohl auch den Kometen von 18181. rechnen darf) einst in einem einzigen Kometen vereinigt gewesen sind, so - Kleinere Mittheilungen und Journalschau. scheine auch im vorliegenden Falle ein sehr grosser Komet vor sehr langer Zeit in zwei grosse zertheilt oder zer- trümmert worden zu sein, von denen der eine vor dem anderen im Verlaufe des langen Wettrennens einen Vorsprung von 74 Jahren erlangt hat. Diese An- sicht kann leicht geprüft werden; es wird darauf ankommen, ob eine Um- laufszeit von 74 Jahren sich den Be- obachtungen der jetzigen Erscheinung anschliesst oder nicht. Bemerkenswerth scheint, dass bis dahin mit Sicherheit nur beim Biela’schen Kometen die Thei- lung nachgewiesen ist, einem Kometen, welcher die Erdbahn dwrchschneidet und einst einmal mit ihr zusammen- getroffen sein muss. Der gegenwärtige Komet, wie der von 1507, durchschnei- det die Bahn des Planeten Venus und muss einst damit zusammen getroffen sein, wenn man Alles in Betracht zieht. Würde unsere Erde durch einen Zu- sammenstoss in zwei Stücke getheilt, so würden sich die Stücke nach kur- zer Zeit in Folge der gegenseitigen An- ziehung wieder vereinigen. Ganz anders bei Kometen, wo nach solchem Falle die Anziehung der Planeten die gegen- seitige der Kometentheile überwiegen und dieselbe mehr und mehr von ein- ander entfernen wird. Im Allgemeinen bot der Komet in den Tagen seines hellsten Glanzes das Ansehen eines ge- waltigen Schwalbenschwanzbrenners dar, dessen von der Sonne abgewendete, lang ausgedehnte Schwanzspitzen stark divergirten, und eine vollkommen dunkle Zone einschliessend, sich fast über zehn Grade am Himmel ausdehnten. Der ‚Kern, welcher dem blossen Auge fast das Aussehen eines Sternes erster Grösse darbot, hat nach Zeichnungen, welche R. S. NewAru in Ferndene von einem Tage zum andern entworfen hat, ziem- lich stark seine Gestalt oder sein Aus- sehen in der Sonnennähe geändert. Heney Drarer in New-York und Janssen in Paris ist es gelungen, den 383 Kometen zu photographiren, und der Letztere legte in der Sitzung der Pariser Akademie vom 27. Juni eine wohlgelun- gene, mit seinem neuen photographischen Teleskop aufgenommene Photographie vor. Seine photometrischen Vergleich- ungen nach der neulich beschriebenen photographischen Methode (vgl. Kos- mos Bd. IX, S. 136) ergaben die über- raschende Thatsache, dass die schein- bar so auffallende Helligkeit des Ker- nes nur derjenigen eines Sternes fünfter Grösse gleichkam, In der Photographie sieht man wie beim direkten Anblick die Sterne durch den Schweif hindurch- funkeln, und es gewinnt in Folge der ausserordentlichen Durchsichtigkeit des Schweifes immermehr die schon von SENECA in seinen Quaestiones naturales aufgestellte Ansicht,. über welche wir vor längerer Zeit einen ausführlichen Artikel gebracht haben (Bd. IH, S. 297) Boden, dass der Schweif nur eine opti- sche Erscheinung sei. Der bekannte englische Spektro- skopiker Wıruıam Hussıns meldet, dass er in der Nacht vom Freitag dem 27. Juni nach einstündiger Exponirung eine Photographie Theiles von dem Spektrum des damals in hellem Glanze sichtbaren Kometen auf einer Gelatin-Platte erhalten habe. Auf dieser Photographie zeigen sich ein Paar helle Linien ein wenig hinter H in der ultra-violetten Region. >Sie schei- nen mir,« sagt Hucsıss, »zu dem hellen Spektrum des Kohlenstoffs (in irgend einer Form) zu gehören, welche ich schon in dem sichtbaren Spektrum der Kometen von 1866 und 1868 achtete. Auch zeigt sich auf der Pho- tographie ein continuirliches Spektrum, in welchem man die Frauenhofer'- schen Linien sehen kann. Diese be- weisen, dass dieser Theil des Kometen reflektirtes des brechbareren beob- des Lichtes Sonnenlicht war. Dieses photographische Zeugniss unterstützt die Resultate, welche ich im Jahre 1868 von einem teleskopischen 354 Kometen erhielt, und nach welchen die Kometen theilweise durch reflektirtes Sonnenlicht, theilweise durch ihr eigenes Licht leuchten, sowie ferner, dass das Spektrum dieses Theils ihres Lichts die Gegenwart von Kohlenstoff, vielleicht in Verbindung mit Wasserstoff, andeutet.« ThoLLon constatirte die grösste Aehn- lichkeit mit dem Spektrum einer Al- koholflamme. Einen etwas ausführlicheren Bericht über das Spektrum veröffentlicht W. H. M. Curistıe vom königlichen Obser- vatorium in Greenwich. Der grössere Theil des Kernes gab ein helles con- tinuirliches Spektrum, welches durch die gewöhnlichen Kometenstreifen unter- brochen wurde, ein Theil jedoch zeigte drei Bänder im grünen, blauen und violetten Theile. Messungen des Haupt- streifens im grünen Theile zeigten, dass er mit dem Streifen im ersten Kohlen- stoff-Spektrum (blaue Flammenbasis) bei 5165 und nicht mit dem des zweiten Spektrum (Vacuumrohr) bei 5198 zu- sammenfiel. Die Bänder in dem blauen und violetten Theile schienen so gut, als es durch Schätzung zu erkennen möglich war, mit den entsprechenden Streifen im ersten Kohlenstoffspektrum zusammenzufallen. Weder im Kerne noch im Schweife konnte eine entschie- dene Polarisation wahrgenommen wer- den. Ranyarn erblickte mittels eines Fünf-Prismen-Spektroskopes für direkte Vision über dem kontinuirlichen Spek- trum des Kernes drei leuchtende grüne Streifen, von denen zwei auch in der den Kern umgebenden Koma sicht- har waren. Die Nektar ahbsondernden Drüsen der Melampvrum-Arten bilden den Gegenstand einer Abhand- lung, welche E. Raruay in den Denk- schriften der Wiener Akademie der Wissenschaften 1880 veröffentlicht hat. Derselbe bemerkte züerst an dem un- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. ter dem Getreide wachsenden purpur- nen Wachtelweizen (Melampyrum arvense) Schwärme von Ameisen, welche von den kleinen schwarzen Punkten der Brak- teen irgend einen süssen Nahrungsstoff zu sammeln schienen. Diese Punkte er- schienen unter der Loupe als kleine scheibenförmige Körper, welche einen süssen Saft aussonderten, der wenig- stens 2°/o durch Kupferoxyd nicht re- dueirbaren Zucker enthielt. Dieselben, schon früher beobachteten drüsenförmi- gen Scheiben kommen auch bei M. ne- morosum, pratense und barbatum vor, und bilden epidermale Trichome auf den Brakteen, welche aus einer kurzen Fuss- zelle bestehen, auf der eine Scheibe in ihrer Mitte befestigt ist, welche aus einer einzigen Lage siebenseitiger Zellen besteht. Nach ihrer Funktion muss man sie zu DE Bary’s Epidermisdrüsen rech- nen; sie sondern den Saft, dem die Ameisen nachgehen, zwischen den Zel- len und der Cuticula ab, worauf er durch Platzen der letzteren hervortritt. Die Entwickelungsart dieser Drüsen ist die nämliche, wie die verwandter Bild- ungen. Der Zweck, dem sie dienen, dürfte nach des Verfassers Meinung weder durch die Hypothesen von Beur und Deupıno, noch nach derjenigen von KErNER über Nektarien ausserhalb der Blüthe zu erklären sein. Die Flüssig- keit schwillt, wenn man die Ameisen fern hält, zu förmlichen Tröpfchen an, und erneuert sich schnell und wieder- holt, wenn man die Flüssigkeit mehr- mals in gewissen Zwischenräumen ent- fernt. Der Farbensinn der Ameisen hatte schon den Gegenstand einiger frühe- rer Untersuchungen von Sir JoHNLUBBOCK ausgemacht, über welche wir im Kos- mos (Bd. VI, S. 312) berichtet haben. Er war dabei von der Erfahrung aus- gegangen, dass wenn Ameisen in ihrem Neste derart gestört werden, dass ein Kleinere Mittheilungen und Journalschau. plötzliches Licht aufihre tieferen Schlupf- winkel fällt, sie ihre Larven und Pup- pen schnell in dunklere Räume flüchten, wahrscheinlich, weil diese nach ihrer Erfahrung am sichersten sind. Indem er nun farbige Gläser auf ihre Nester legte, sah er ferner, dass sie unter vio- lettem Glase schleunigst von dannen flohen, als wenn das violette Licht ihnen sehr empfindlich gewesen wäre, dagegen unter für unsere Augen viel helleren grünen und gelben Gläsern verweilten, am liebsten aber unter rothen Gläsern sich sammelten, als ob dieser Raum einer völligen Finsterniss für sie ent- sprochen hätte. Etwas abgeänderte neue Versuche gaben dieselben Resultate, und wiederum sah er, wenn unmittelbar nebeneinander ein violettes und ein gelbes Glas über den Aufenthalt der Thiere gedeckt wurde, dass sie ihre Jungen schleunigst unter das gelbe Glas flüchteten, obwohl uns dieser Zufluchts- ort vie] heller erscheint als der erstere. Sir Joan kam dadurch auf die Idee, dass vielleicht die Lichtempfindlichkeit bei den Ameisen auf einem viel höhern Punkte der Skala beginnen möchte, als für den Menschen, dass ihnen der rothe Theil des Spektrums möglicherweise noch vollkommen dunkel erscheine, die Lichtwirkung darauf langsam in dem für uns hellsten gelben und grünen Theile beginne, im Blau und Violett ihr Maximum erreicht, und vielleicht noch über den violetten Theil hinaus gehen könnte. Deshalb suchte er sich zu vergewissern, ob vielleicht die für unser Auge völlig unsichtbaren, ultra- violetten Strahlen auf sie noch einen Eindruck verursachen möchten. Zu die- sem Zwecke verwendete er unter An- derm Schwefelkohlenstoff und Auflösun- gen von Chininsulfat, welche alle sicht- baren Strahlen durchlassen und deshalb für uns vollkommen durchsichtig und farblos sind, welche aber die ultra- violetten Strahlen vollständig zurück- halten. Ueber einen Theil von einem 385 ihrer Nester legte er ebenseitige Fla- schen, die mit diesen Flüssigkeiten ge- füllt waren, und über einen andern Theil ein Stück dunkelviolettes Glas und jedesmal wurden die Larven von ihnen unter die durchsichtigen Flüssig- keiten und nicht unter das violette Glas gebracht. Andererseits warf er ein Spektrum in ein ähnliches Nest, und fand, dass wenn die Ameisen nur die Wahl hatten, ihre Jungen in die ultra- violetten oder in die rothen Strahlen zu bringen, sie die letzteren vorzogen. Er schliesst daraus, dass die Ameisen die ultravioletten Strahlen, für welche unsere Augen völlig unempfindlich sind, empfinden. Da nun jeder Strahl von homogenem Lichte, welchen wir über- haupt empfinden, uns als eine verschie- dene Farbe erscheint, so wird es wahr- scheinlich, dass auch diese ultraviolet- ten Strahlen sich den Ameisen als eine bestimmte und eigenartige Farbe, von der wir uns keine Idee bilden können, merkbar machen müssen, die aber den übrigen ebenso unähnlich sein muss, wie Roth dem Gelb und Grün dem Violett. Auch erhebt sich die Frage, ob das weisse Licht sich für diese In- sekten von unserem weissen Lichte un- terscheiden mag, insofern es diese Zu- satzfärbung enthält. Da nur wenige Farben in der Natur reine Farben sind, sondern fast alle aus der Mischung von Strahlen verschiedener Wellenlänge her- vorgehen, und da in diesen Fällen die sichtbare Resultante nicht blos aus den Strahlen, welche wir sehen, zusam- mengesetzt sein würde, sondern viel- mehr aus diesen und den ultravioletten Strahlen, so möchte es in jedem Falle scheinen, dass die Farben der Gegen- stände und der allgemeine Anblick der Natur ihnen einen von dem unsrigen sehr verschiedenen Eindruck darbieten möchten. Aehnliche Experimente, welche Sir Jonw auch mit einigen niederen Krustaceen anstellte, deuteten auf den- selben Schluss, aber den Bericht dar- 386 über verspart er auf eine zukünftige Gelegenheit. In derselben Sitzung machte der berühmte Ameisen-Forscher einige Mit- theilungen über den Orientirungssinn, sowie über die Fähigkeit der Ameisen, ihre Freunde wieder zu erkennen, und theilte einige Thatsachen mit, welche zu beweisen scheinen, dass die Ameisen durch die Wahl des Futters nach Be- lieben aus einem gegebenen Ei, ent- weder einen Arbeiter oder eine Königin produciren können. Zum Schlusse theilte er mit, dass er einige Ameisen besässe, deren Beobachtung er im Jahre 1974 begonnen habe, und welche sich noch am Leben und in völliger Gesundheit befinden; sie müssen daher jetzt mehr als 7 Jahre alt, und deshalb die älte- sten Insekten sein, von denen weiss. (Nature Nr. 607.) man Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Ammonites pseudo-anceps, Ehrav. Im dritten Hefte des »Neuen Jahr- buchs für Mineralogie, Geologie und Paläontologie« (Jahrgang 1881. Bd. TI, S. 435) diskutirt M. _NeumAYR ein kürzlich von DouviLLE aufgefundenes Exemplar des obengenannten Ammo- niten und knüpft daran eine Reihe von Bemerkungen, welche die kürzlich auch von uns (Kosmos Bd. VIII, S. 589 und IX, S. 142 ff.) mitgetheilten Hypothe- sen von Prof. H. von IHERING über diese Thierklasse schon wieder theil- weise in Frage zu stellen scheinen und deshalb hier mitgetheilt werden müssen. Bei diesem anscheinend normal aus- gebildeten Exemplare, welches wir in der beistehenden Figur vor uns sehen, sind nämlich die sogenannten »Ohren« in ganz colossaler Weise entwickelt, und bewirken eine Einengung der Scha- lenmündung, wie sie unter Ammoniten fast einzig dasteht und höchstens bei gewissen Nautiliden (Phragmoceras und (romphoceras) ein entferntes Analogon findet, die Ohren sind, wie ersichtlich, so sehr verbreitert, dass sie sich in der Medianlinie berühren und auf den vor- hergehenden Umgang auflegen, wobei dem Thiere fünf vollständig getrennte Austrittsöffnungen übrig geblieben sind, nämlich vorn eine langgestreckte in der Mittellinie, und zwei ovale zu beiden Seiten derselben, wozu jederseits zwei unregelmässige Oeffnungen zwischen Ohren und Columella kommen. In der gegenseitigen Lage werden sie also fast den fünf Oeffnungen eines menschlichen Kopfes entsprechen, wennmansich Mund- und Nasenöffnungen zu einer einzigen verschmolzen denkt. Da man sich nun vorstellen muss, dass diese fünf Oeff- nungen wichtigen Organen als Austritts- löcher dienten, so konnte sich DouvisuE nicht denken, dass das Thier den Nau- tiliden geglichen und der alten Annahme nach zu den Tetrabranchiaten gehört haben könnte, denn bei diesen ist die Lage von Trichter, Mund, Augen und Armen nicht derartig, dass man sie sich aus einer solchen Schale hervorschau- end denken könnte. In Folge dessen ._ Kleinere Mittheilungen und Journalschau. neigt er sich vielmehr der in neuerer Zeit vielfach (von Surss, MuntEr-CHAL- MAS, von IHERING u. A.) ausgesproche- nen Meinung zu, dass das Thier zu den Dibranchiaten gehört habe, und unter den heute lebenden Thieren vielleicht der Argonauta am ähnlichsten gewesen sei, dass demnach aus dem schmalen Theil der mittleren Oeffnung nach der Ex- ternseite der Trichter, aus dem brei- teren Theile der Mund und die sechs kurzen Arme, aus den ovalen Oeff- nungen die Augen und aus den seit- lichen beiden unregelmässigen, die bei- den meist zurückgeschlagenen längeren Arme hervorgeschaut hätten. Dovvinun möchte eine ähnliche Anordnung für alle Ammoniten annehmen, was, wenn auch verlockend, jedenfalls sehr hypo- thetisch erscheint. Als Hauptergebniss dieser Arbeit bezeichnet NeumAyr, dass die hier nachgewiesenen Mündungs- charaktere, die Annahme einer endo- gastrischen Aufrollung, bei welcher der Trichter auf der Innenseite gelegen haben müsste, ausschlösse und dass dann auch die Aptychen nicht mit den Nackenknorpeln der Dekapoden ver- glichen werden könnten, obwohl sonst der Bau eines Dekapoden "zur Noth ebenfalls auf diese Gesichtsmaske be- zogen werden könnte. Die Bedeutung der Aptychen wäre dann aber dunkler als je. Die Hypophysis der Seescheiden. Trotz der Mühe, welche sich SEm- PER, METSCHNIKOFF und andere Zoolo- gen gegeben haben, die von Kurrrer und KowaAuevsky entdeckte Verwandt- schaft der Seescheiden mit den Wirbel- thieren zu leugnen oder zu widerlegen, erweist sich die Vergleichung der bei- den anscheinend soweit von einander ‚entfernten Thiergruppen alle Tage frucht- barer, und hat neuerdings sogar dazu geführt, ein bisher völlig räthselhaftes Organ im Gehirn der Wirbelthiere, den -wickelte Ascidien-Larve, 387 sogenannten Gehirnanhang (Hypophysis) oder die Schleimdrüse als uralte Erh- schaft aus jenen entfernten Regionen zu erklären. Die älteren entwickelungs- geschichtlichen Untersuchungen hatten, um das wichtigste kurz zu rekapitu- liren, ergeben, dass die völlig ent- bei den mei- sten Gattungen wenigstens, eine die Mitte des Ruderschwanzes einnehmende und der Rückensaite der Wirbelthier- Embryonen vergleichbare Achse besitzt; dass die dorsale Region dieses Körpers einen hückenmarkskanal exodermen Ursprungs aufweist, der durch die Auf- wärtsbiegung und Verschmelzung von hückenplatten gebildet wird, und dass dieser Kanal sich am vorderen Ende zu einer Blase erweitert, in deren Wand- ung entwickelt werden, während das hintere Ende sich gewisse Sinnesorgane “auf der dorsalen Seite der Rückensaite längs des gesammten Schwanzes er- streckt. Die ventrale Region des Kör- pers wird durch den Ernährungskanal eingenommen, welcher unterhalb des Nervenbläschen beginnt, und in seiner ganzen Länge durch die Rückensaite von dem Homologon des Rückenmarkes getrennt wird. entwickelungs- geschichtlichen Untersuchungen haben ferner gezeigt, dass die Oeffnung des Kiemensackes als der Mundöffnung der Wirbelthiere, und der Kiemensack selbst als dem Schlunde derselben homolog betrachtet werden muss. Nun hatte A. Haxcock (1867) ein wimperndes Or- gan unterhalb der Gehirnblase entdeckt, welches von M. Ussow (1875) genauer untersucht und als Geruchsdrüse be- zeichnet wurde, weil es mit dem so- genannten Geruchshöcker durch einen engen Kanal verbunden ist, ein Ver- halten, welches auch noch später durch Nassanorr bestätigt wurde. E. van BENE- DEN in Lüttich, Beziehung dieses Organs zu der Schleimdrüse der Wirbelthiere vermuthet hatte, veran- lasste seinen Assistenten CHARLES JULIN Diese der eine 388 diesem Organe seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, und derselbe studirte es (zu Leewik an der norwegischen Küste) bei den Gattungen Corella, Phallusia und Ascidia und hat darüber im zwei- ten Bande der Archives de Biologie (Fasc. I. 1881) ausführlich berichtet, nachdem er schon vorher in den Bul- letins der Belgischen Akademie (Febr. 1581) eine vorläufige Mittheilung ge- macht hatte. JuLın bestreitet zunächst, der sogenannte Geruchshöcker überhaupt ein Sinnesorgan sei, und be- hauptet, dass es nur die merkwürdig komplicirte Oeffnung des Kanals seiner Hypophysis in den Schlund sei. Er con- statirt, dass er nicht im Stande ge- wesen ist, irgend welche Nervenverbind- ung zwischen dem Höcker und dem Ganglion zu finden, und das der Nerv, welcher als zu dem vermeintlichen Sin- nesorgane laufend, betrachtet wurde, in Wirklichkeit hinter demselben, ohne irgend eine Verbindung vorbeigeht, und dass er desshalb nicht die durch Ussow beschriebene undabgebildete Innervation bestätigen könne. Der histologische Bau des Höckers ist ebenfalls der Wahr- scheinlichkeit seiner sensoriellen Funk- tion entgegen, da keine modificirten Zellen gegenwärtig sind, vielmehr die gesammte Oberfläche mit normalen, säulenförmigen, wimpernden Epithelial- zellen bedeckt ist. Die Gründe, welche Jusin zur Stütze der Homologie dieser Nervendrüse mit der Schleimdrüse vor- bringt, betreffen ihren Bau, ihre Stell- ung auf der ventralen Oberfläche des Ganglion und ihre Beziehung zum Schlunde. Die drüsige Natur dieses Körpers wurde zuerst durch Ussow nachgewiesen, und sein mikroskopi- scher Bau durch Jurın untersucht. Er besteht aus verzweigten Drüsenröhren, welche von einem reichlich mit Blut- gefässen versehenen Bindegewebe um- geben sind, während der ausführende Gang blos in seinem hintern Theile eine vollständige Rückenwandung be- dass Kleinere Mittheilungen und Journalschau. sitzt, auf der Bauchseite aber frei mit den Endungen der Röhrchen communi- cirt, genau wie es mit dem Gange des Schleimdrüsen-Körpers während seiner Entwickelung der Fall ist. JuLın weist nach, dass bei den Ascidien der nach vorn gegen den »Geruchshöcker« ver- laufende Gang in direkter Verbindung mit der Oberfläche des Nervenganglion steht, sofern keine Lage von Binde- gewebe zwischen ihnen liegt, und ebenso ist es, wie er constatirt, bei den Wäir- belthieren der Fall. Die Stellung der Nerven- oder Hypophysen-Drüse, wie sie JULIN zu nennen vorschlägt, ist kon- stant. Wo immer das Nervenganglion gelegen sein mag, — und seine Lage varürt bei den verschiedenen Arten beträchtlich, — die Drüse findet sich stets an seiner ventralen Oberfläche. Der von der dorsalen Oberfläche der Drüse entspringende Ausführungsgang verläuft zunächst unmittelbar unter dem Ganglion gegen den Geruchs- oder Hy- pophysen-Höcker, wo er mit der Schlund- röhre communicirt. Es ist klar, dass Jutın’s Untersuchungen die schwersten Zweifel auf die stets etwas fragliche Geruchssinn-Natur des Höckers werfen. Ein wimperndes Grübchen, welches keine erkennbaren Nervenverbindungen. hat, dagegen durch einen Gang mit einem Organ von wohlausgeprägter Drüsen- Natur in Verbindung steht, hat keinen Anspruch darauf, als Sinnesorgan be- trachtet zu werden. Seine Funktion wie die der Drüse bleibt ein Geheimniss und Juin bekennt sich ausser Stande, irgend welches Licht auf diese Frage zu werfen. Von der bedeutenden Grösse der Drüse, dem beständigen Vorhanden- sein, und dem meist äusserst kompli- cirten Bau des Höckers möchte man schliessen, dass sie eine wichtige Funk- tion in der Oekonomie der Ascidie er- fülle, aber worin diese Funktion be- steht, und weshalb der Ausgang einer Drüse eine so ausgearbeitete Oeffnung in die Schlundröhre besitzt, alles dies bleibt für jetzt völlig unbekannt. Junım giebt uns keinen Aufschluss über die Entwickelung dieser Organe. Im Jahre 1871 beschrieb KowALevsky im Laufe der Entwickelung von Aseidia mammil- lata die Entstehung einer Oeffnung, welche das vordere Ende der Nerven- bläschen mit der Region des Hautblattes verbindet, durch deren Einfaltung der Mundkanal gebildet wurde, und behaup- tete, dass dieser Verbindungsgang zwi- schen dem Nerven- und Eingeweiderohr bei dem erwachsenen Thiere in dem wimpernden Höcker erhalten bliebe. Im Jahre darauf erklärte indessen Kurrrk&kr, dass er nicht im Stande gewesen sei, eine derartige Oeffnung bei der Larve von Asceidia mentula aufzufinden. Wenn Kowauzvsky’s Beobachtung feststünde, und wenn der Kanal wirklich zu dem Gange der Gehirndrüse würde, so würde der Verlauf seiner Entwickelung sehr beträchtlich von demjenigen der Schleim- drüse des Wirbelthiergehirnes, wie er von MımAatwkowıcs, BALFrour und Kör- LIKER beschrieben worden ist, und wie er durch Juuiw’s eigene Beobachtungen bestätigt worden ist, abzuweichen scheinen. Zum Schlusse mag nochmals betont werden, dass die Gründe zu Gunsten der Homologie der Ganglion- Drüse der Ascidie mit dem drüsigen Theil des Gehirnanhangs der Wirbel- thiere sehr stark sind. Bau, Stellung und Beziehungen der beiden Organe sind in einem gewissen Entwickelungs- stadium identisch, vorausgesetzt natür- lich, dass der Eemmehsdck ein modifi- cirtes Schlundrohr ist und dass das Nervenganglion dem Wirbelthier-Gehirn homolog ist. Der einzige zur Unter- stützung der Hypothese noch zu er- forschende Punkt betrifft den Nachweis, dass die Gangliondrüse und ihr Gang wirkliche Bildungen des Hautblattes seien, und dass ihre Entwickelung der- jenigen des Schleimdrüsenkörpers ent- spricht. (W. A. Hurpmann in der »Na- ture« Nr. 603.) Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 389 Die Geschmacksorgane der Fische sind kürzlich von E. Jourpan zum Ge- genstande einer Reihe von Beobacht- ungen gemacht worden, über die er der Pariser Akademie am 21. März 1881 Bericht erstattet hat. Vor nahezu zwanzig Jahren beschrieb Franz Eır- HARD SCHULTZE die in der beistehenden Figur dargestellten becherförmigen Or- Becherförmige Organe aus der Gaumen- schleimhaut von Tinca; n die Lamellen der Lederhaut durchsetzende Nervenbündel, wel- che zu den in der Epidermis gelagerten, von Papillen getragenen Bechern b treten. Von diesen ist nur die äussere aus langen Zellen gebildete Partie dargestellt. Nach E.SCHULTZE. gane beider Barbe und den Kaulquappen, der Wasserkröte oder Unke (Pelobates fuseus), deren Bau er übereinstimmend fand mit gewissen Körpern in der Zunge der Säugethiere , so dass er zu glau- ben geneigt war, dass die beiden Reihen von Organen gleiche Funktionen be- sässen. Jourpan hat nun dieselben Organe bei mehreren andern Fischen untersucht, im besondern beim Pan- zerfisch oder Malarmat (Peristedion ca- taphractum) in dem Marine-Aquarium von Marseille und seine Beobachtungen 390 bestätigen ScHhuLzze’s Schlüsse. Der Malarmat, ein Verwandter der Knurr- hähne, besitzt Bartfäden ähnlich denen der Rothbarbe (Mullus barbatus) und feine dünne Strahlen, ähnlich denen der Knurrhähne. Die Bartfäden sind theils in Büscheln oder alleinstehend in der Zahl von zehn oder zwölf an der un- teren Kinnlade befestigt, zwei von ihnen sind stets gross und besitzen seitliche Verzweigungen. Sie sind überall mit derartigen kleinen becherförmigen Or- ganen versehen, ‘welche zwei Zellen- ‚arten enthalten. Die einen im Üen- trum gruppirt, und an der Oberfläche des Bartfadens ein wenig hervorragend, eleichen Fasern mit einem umfangrei- chen Nucleus, die andern auf der Pe- ripherie sind cylindrisch. Diese Or- gane sind ferner ‘in beträchtlicher An- zahl in der die Mundhöhle auskleiden- den Schleimhaut vorhanden; sie sind reihenweise im Schlunde angeordnet und die Papillen der rudimentären Zunge weisen drei oder vier derselben auf. Sie finden sich überall in der Epidermis. Bei der Meeräsche sind die becher- förmigen Organe viel grösser. Sie glei- chen denjenigen, welche SCHULTZE von der Barbe und dem Schlei beschrieben hat. Jedes Organ findet sich in einer Hautpapille und lässt sich deutlich durch die Gestalt seiner Elemente und die dunkle Farbe, welche es durch Osmium- säure annimmt, von den umgebenden Zellen unterscheiden. Jedes derselben besteht aus den Zellen der beiden Ty- pen, zwischen denen alle möglichen Uebergangsformen vorkommen, nämlich der ceylindrischen Zellen der Peripherie, und den im Centrum des eiförmigen Körpers gruppirten Zellen, welche in konische Fortsätze endigen und sämmt- lich grosse Kerne besitzen. An der Ba- sis jedes Bechers findet sich eine kleine körnige Masse, welche durch die war- zenförmigen Basalverlängerungen der centralen Zellen gebildet wird. In dieser körnigen Masse verschwinden die Kleinere Mittheilungen und Journalschau. cylindrischen Achsen der Nervenfäden, oder gehen in die Zellen des Becher- kerns über. Identische Körperchen fin- den sich in der Schleimhaut der Zunge und des Schlundes. Die Knurrhähne haben becherförmige Körperchen auf der Zunge und wahrscheinlich finden sie sich in der Mundschleimhaut der meisten Fische. Wenn nun diese be- cherförmigen Körper als äussere ‘oder innere Geschmacksorgane zu betrachten sind, so erreicht der Geschmackssinn bei den Fischen eine Ausdehnung und Wichtigkeit, welche durch das Medium, in welchem sie leben, verständlich wird. »Die Aufsuchung der Nahrung«, sagt JOURDAN, »>muss durch empfindende End- organe geleitet werden, die speziell der Aufnahme von schmeckbaren Emana- tionen angepasst sind. Dies erklärt die Vertheilung der becherförmigen Kör- per auf äussere Organe, und auf be- sonderen Fühlern, eine Stellung, welche verschiedene Beobachter getäuscht hat, aber uns nicht mehr in Erstaunen setzen darf, als das Vorhandensein wohlge- formter Hörsteine, fern vom Kopfe auf den hintersten Segmenten von Mysis.« Stereorachis dominans. In der Sitzung der Pariser Akade- {>} mie vom 16. Mai 1881 legte A. GAu- pry einen Block aus den permischen Schichten von Igornay vor, welcher vielleicht das besterhaltendste Exemplar von Vierfüssler enthielt, das jemals in primären Schichten gefunden wurde. Man kann an dem Stereorachis dominans getauften Thiere besonders gut die selt- samen Schuppen studiren, welche in Form von Dornen den Bauch von Eu- chirosaurus, Actinodon und Stereorachis bedeckten. Wenn diese Thiere sich auf den Rücken warfen, und ihre durch breite Rippen und ein sehr starkes Ento- und Episternum gestützte Bauch- fläche darboten, die obendrein durch Stachelschuppen beschützt war, moch- ten sie unangreifbar sein. Die permi- schen Saurier zeigen den bedeutenden Fortschritt, welchen die Wirbelthiere seit den deyonischen Zeiten erfahren hatten. Bei Kuchirosaurus und Actinodon waren, wie früher (Kosmos IV, S. 482) mitgetheilt, die Elemente der Wirbel- körper schon entwickelt, aber noch nicht mit einander verbunden; bei Stereora- chis ist die Verknöcherung vollendet. Die Form und Entwickelung der Kopf- knochen, der Rippen, des Entosternum und der Seitengliedmaassen zeigen, dass die primären Saurier die Idee des Ur- typus der Wirbelthiere nicht realisiren. Sie bieten vielmehr Aehnlichkeiten mit denen der Trias sowohl Europa’s als Südafrika’s und beweisen die Gontinui- tät des Lebens zwischen den grossen Epochen der Primär- und Secundärzeit. Platypodosaurus und Alenrosaurus. In der Sitzung der Londoner Geo- logischen Gesellschaft vom 9. März 1881 gab Professor Owen weitere Nach- richten über jenen triasischen Anomo- donten (Platypodosaurus), bei welchem er Aehnlichkeiten mit den niedersten Säugern zu erkennen glaubt”. Es ist inzwischen der Beckentheil mit Kreuz- bein, rechtem Os innominatum und einem grossen Stück des linken Darmbeins aus der Matrix herausgearbeitet wor- ‚den. Es sind fünf Kreuzbeinwirbel vorhanden, welche Prof. Owen für die Gesammtzahl der diesem Reptil zukom- menden ansieht. Der Rückenmarkkanal der letzten Lendenwirbel hat acht Li- nien Durchmesser, erweitert sich im ersten Kreuzbeinwirbel auf neun Linien, und nimmt bis zu fünf Linien im fünf- ten ab, wodurch eine Ausdehnung des Rückenmarks in der Kreuzbeingegend angedeutet wird, die der starken Ent- ®= Kosmos Bd. VII, S. 480. Kleinere Mittheilungen und Journalschan. 391 wickelung der hintern Gliedmaassen ent- spricht. Die ‚Kreuzbeinwirbel nehmen in der Breite bis zum dritten zu, der vierte hat das breiteste Centrum. Die Verwachsung der Wirbel rechtfertigt die Betrachtung ihrer Vereinigung als einen Knochen oder Kreuzbein, wie bei den Säugern, und zwar nähert es sich in seiner Gestalt demjenigen der Mega- therien, obwohl es weniger Wirbel ein- schliesst. Seine Länge beträgt 7'/2 Zoll, seine grösste Breite am dritten Wirbel 5'/2 Zoll. Das Darmbein bildet die vor- dere und dorsale Wandung der Hüft- pfanne, deren hintere und hintere ven- ° trale Wandung vom Sitz- und Scham- bein gebildet werden. Der Durchmesser seines Aussensaumes beträgt drei Zoll, die Tiefe der Höhlung anderthalb Zoll, und auf ihrem Grunde befindet sich eine 1/3 Zoll breite Grube. Das Hüft- loch ist fast kreisrund von einem Zoll Durchmesser. Die Bauchwand der Becken- mündung wird hauptsächlich vom Scham- bein gebildet; es ist eine Knochenplatte von sechs Zoll Breite, die nach aussen konkav, gegen die Beckenhöhlung hie- gegen konvex ist. Der Subacetabular- Rand ist 7—S Linien dick und zeigt keine Andeutung eines Kammfortsatzes oder einer Hervorragung für die Unter- stützung eines Beutelknochens. Prof. Owen bemerkt, dass unter allen Bei- spielen bei ausgestorbenen Reptilien dieser Beckenbau sich am weitesten von allen bei lebenden Reptilien bekannten Modifikationen entfernt und dem Säuge- thierbeecken am nächsten kommt. Dies wird besonders durch die Zahl und Breite der Kreuzbeinwirbel, durch die Breite desDarmbeins und der vereinigten Steiss- und Schambeine bewiesen. In derselben Sitzung beschrieb Prof. Owen ein neues südafrikanisches Reptil der Triasschichten von Gouh in den Karoo-Distrikten Südafrika’s, welches nach seiner Ansicht ebenfalls starke Annäherungen zu den Säugern zeigt, jedoch rechnet er dieses Reptil zu den . ’ 392 Theriodonten, und daher würde dessen Aehnlichkeit mit Säugern mehr in der Richtung der fleischfressenden Beutler zu führen scheinen. Dieser neue, unter dem Namen Aelurosaurus felinus be- schriebene Typus wird durch einen Schädel mit Unterkiefer repräsentirt, wovon aber der hinter den Augenhöhlen gelegene Theil weggebrochen ist. Es ist ein einfaches Nasenloch vorhanden; der Alveolar-Rand des Oberkiefers ist leicht wellig gebogen, konkav über den Schneidezähnen, konvex über den Eck- und Backenzähnen, und dann gerade bis unter die Augenhöhlen. Der Alveo- larrand des Unterkiefers ist hinter den übergreifenden Zähnen des Öberkiefers verborgen ; seine Fuge ist tief und jeder Spur von Naht ermangelnd; die Länge desselben beträgt 3'/a Zoll, welches auch wahrscheinlich die Länge des gan- zen Schädels war. Die Schneidezähne stehen ° und die Backenzähne wahr- oder ©, alle mehr oder weniger raubthierförmig. Die Länge der hervorragenden Krone des obern Eck- zahns beträgt 12 mm; die auf- und ab- wärts gebogene Wurzel des linken Ober- Eckzahns war doppelt so lang. Von einem Ersatz-Eckzahn ist keine Spur vorhan- den, dagegen scheint die Höhle mit der versteinerten Zahnpulpa eine Er- neuerung des gebrauchten Theils der ‚Eckzähne, durch fortwährendes Nach- wachsenanzudeuten. Der Autorschliesst, dass Aelurosaurus monophyodont war, und am nächsten Zycosaurus verwandt, obwohl die Formel der Vorderzähne mehr an Dasyurus ‘erinnert. scheinlich -— 5—5 Ueber die Wechselbeziehung der Wollen- und Milchproduktion bei Schafen hat Vicror TAyon zur Fortsetzung seiner Untersuchung über die Varia- bilität der Milchdrüsen bei den Schafen der Cevennen (vgl. Kosmos Bd. VII, Kleinere Mittheilungen und J ournalschau. S. 390) einige Beobachtungen gemacht, die er der Pariser Akademie am 16. Mai 1881 vorlegte. Wir geben hier nur die Schlussfolgerungen wörtlich wieder: 1. Es existirt eine umgekehrte Cor- relation zwischen der Produktion der Wolle und der Milchproduktion. Die milchreichsten, mit 4—6 Eutern ver- sehenen Thiere, zu welcher für Milch- gewinnung benutzten Schaf-Gruppe sie auch gehören mögen, sind beinahe gänz- lich der Wolle beraubt. Die Wolle be- deckt bei ihnen nur noch sehr eng begrenzte Körpertheile. Sie verschwin- det vom gesammten Kopfe, unter dem Halse, unter der Brust und dem Bau- che. Die Regionen der Wollfalten, der Achsel- und Seitenfalte, die Vorder- glieder bis zum Oberarm und die Hin- terglieder bis zum Schenkel sind eben- falls kahl. Alle diese Theile werden nur von sehr kurzen Haaren bedeckt. 2. Es giebt bei den Milchschafen auf den Eutern und deren Umgebung, auf einer in ihrer Grösse sehr variabeln Oberfläche Haare, die von unten nach oben gerichtet sind, und jedenfalls mit der Thätigkeit der Milchdrüsen in Be- ziehung stehen. Sie lassen sich den aufsteigenden Haaren vergleichen, die vor dreissig Jahren von Qurnon bei den Kühen beobachtet wurden. (Revue Seientifique 28. Mai 1881.) Die rudimentären Hautmuskeln des Menschen im besondern die des Ohres haben Veranlassung zu mehreren lehr- reichen Vergleichungen des menschlichen Körpers mit dem thierischen dargeboten, und schon die alten Naturforscher ha- ben in der vergleichsweisen Unbeweg- lichkeit des menschlichen Ohres einen wesentlichen Charakter des Menschen, etwa seinem aufrechten Gange vergleich- bar finden wollen. »Bei den Menschen al- lein sagt Pumıvs* sind die Ohren un- * Histor. naturalis, XI. 37, 50. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. beweglich. Davon leitet sich der Bei- name Flaceus (Schlappohr) her.« Aehn- lich drückte sich darüber ARrısToTELEs aus,* und in der That, wenn man das ÖOhrenspiel seiner nächsten Freunde unter den Thieren, des Hundes und Pferdes, in welchem sich alle ihre Stim- mungen spiegeln, mit der Unbeweglich- keit des menschlichen Ohres vergleicht, ist der Unterschied äusserst auffallend, darum legten auch die Alten, wenn sie die thierischen Züge im Charakter des Herkules schildern wollten, einen be- sonderen Werth darauf, dass er beweg- liche Ohren gehabt habe, wie man sol- che auch unbedingt den Satyrn und Faunen zuschrieb. »Wenn du ihn zum ersten Male essen sähest«, sagt Erı- CHARMIS in seinem Busiris vom Her- kules, >so würdest du vor Schrecken sterben. Aus seinem Schlunde erschallt Gebrüll, seine Kinnladen bewegen sich mit Gekrach, er knirscht mit den Backen- zähnen und lässt die Hundszähne her- vorgrinsen. Der Athem fährt schnau- fend aus seinen Nüstern, und die Ohren bewegt er wie die Vierfüssler.«** Es ist indessen nicht ganz gerecht- fertigt, zu behaupten, der Mensch habe von allen Thieren allein unbewegliche Ohren; die Anthropoiden gleichen ihm, wie in so vielen Zügen auch darin, vom Chimpansen und Orang versichern die Wärter der zoologischen Gärten ziemlich bestimmt, dass sie das Ohr niemals bewegen. Der Verlust der bei den niedern Affen noch sehr erhebli- chen Beweglichkeit des äusseren Ohres, hängt wahrscheinlich nicht, wie einzelne Autoren geglaubt haben, mit der ver- mehrten Sicherheit der Anthropoiden in ihrem Baumleben zusammen — eine Ansicht, die auch Cm. Darwıs nicht befriedigte, — sondern sie lässt sich eher mit der allgemeinen Verminderung der zahlreichen Muskeln, welche bei * Hist. animal. 1, 9. ** Athenaeus X. 1. Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 393 den Thieren alle Theile der Oberhaut bewegen, beim Menschen vergleichen. Ob die grössere Freiheit der Hände, die Fähigkeit zudringliche Insekten zu vertreiben, und sich zu kratzen, wenn in der Haut ein lästiges Jucken ent- steht, mit der allgemeinen Funktions- verminderung der Hautmuskeln in Zu- sammenhang steht, muss dahingestellt bleiben. Merkwürdig bleibt, dass sich die Muskeln, welche bei niederen Säu- gern das Ohr bewegen, trotz ihrer so langen Funktionslosigkeit, in einem, wenn auch stark zurückgebildeten Zu- stande, beim Menschen ziemlich voll- ständig erhalten haben, wie wir dies aus der beistehenden Figur ersehen. Die rudimentären Ohrmuskeln am mensch- lichen Schädel. (Nach H. MEYER.) a Aufziehmuskel, 5 Vorziehmuskel, e Rück- ziehmuskel, d Grosser Ohrleistenmuskel, e Kleiner Öhrleistenmuskel, f Ohreckenmus- kel, g Gegeneckenmuskel. Dr. Wıvouerm Roux erklärt sich diese Thatsache in seinem in den litterari- schen Mittheilungen besprochenen neuen Buche »Ueber den Kampf der Theile im Organismus« ($. 105) dadurch, dass diese Muskeln an der betreffenden Stelle keiner Konkurrenz um den Raum aus- gesetzt waren, während atrophürte Or- gane im Innern des Körpers, wo eine oewisse Raumbeschränkung vorhanden 27 394 ist, bald gänzlich oder fast gänzlich verschwinden. So lange aber von einem Muskel oder ganzem Organe noch eine inner- virte Spur vorhanden ist, scheint die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, sie von Neuem in Thätigkeit zu setzen, und von dieser Möglichkeit, nicht allein die Ohr- muskeln, sondern auch verschiedene an- dere für gewöhnlich nicht funktionirende Ueberreste des Hautmuskels von Neuem dem Willen zu unterwerfen, lassen sich eine Menge merkwürdiger Beispiele auf- zählen. Zunächst mag hier zur besse- ren Orientirung vorausgeschickt werden, was Darwın über die allgemeinen Ver- hältnisse des Hautmuskels, seine Wich- tigkeit für die Thiere, und seine bei einzelnen Individuen vorhandene erb- liche Leistungsfähigkeit bemerkt hat*: »Jedermann«, sagt er, »muss die Kraft beobachtet haben, mit welcher viele Thiere, besonders Pferde, ihre Haut bewegen und erzittern machen, und dies wird durch den Panniculus carnosus bewirkt.** Ueberbleibsel dieses Muskels in einem noch wirkungsfähigen Zustande werden an verschiedenen Thei- len unseres Körpers gefunden, z.B. an der Stirn, wo sie die Augenbrauen erheben. Einige wenige Perso- nen haben die Fähigheit, die oberfläch- lichen Muskeln ihrer Kopfhaut zusam- menzuziehen, und diese Muskeln finden sich in einem variabeln und zum Theil rudimentären Zustande. Herr A. DE CAnpouıLe hat mir ein merkwürdiges Beispiel des lange erhaltenen Besteh- ens, oder der langen Vererbung dieser Fähigkeit, ebenso wie ihrer ungewöhn- lichen Entwickelung mitgetheilt. Er kennt eine Familie, von welcher ein * Abstammung des Menschen, 3. deutsche Auflage, Bd. I. S. 16 ft. #=* Einige Autoren haben, ob mit Recht bleibe dahingestellt, angenommen, dass die „kalten Schauer, welche den Rücken hinab- rieseln“, wenn wir in Schrecken oder Auf- regung versetzt werden, reflektorischen Er- regungen in dem Hautmuskel des Rückens Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Glied, das gegenwärtige Haupt der Fa- milie, als junger Mann schwere Bücher von seinem Kopfe schleudern konnte, einzig durch die Bewegung seiner Kopf- haut, und er gewann durch Ausführung dieses Kunststücks Wetten. Sein Va- ter, Onkel, Grossvater und alle seine drei Kinder besitzen dieselbe Fähigkeit in demselben ungewöhnlichen Grade. Vor acht Generationen wurde diese Familie in zwei Zweige getheilt, so dass das Haupt des oben genannten Zweiges Vetterim siebenten Grade zu dem Haupt des andern Zweiges ist; dieser entfernte Verwandte wohnt in einem andernTheile von Frankreich; und als er gefragt wurde, ob er diese selbe Fertigkeit be- sässe, producirte er sofort seine Kraft. Dieser Fall bietet eine nette Erläute- rung dafür dar, wie zäh eine absolut nutzlose Fähigkeit überliefert werden kann, welche wahrscheinlich von unse- ren alten halbmenschlichen Vorfahren herrührt; viele Affen haben nämlich das Vermögen und benutzen es auch, ihre Kopfhaut stark vor- und rückwärts zu bewegen. « »Die äusseren Muskeln, welche dazu dienen, das ganze äussere Ohr zu be- wegen, und die inneren Muskeln, welche dessen verschiedene Theile bewegen (beide zu dem System des Hautmuskels gehörend), finden sich bei dem Menschen in einem rudimentären Zustande; sie sind auch in ihrer Entwickelung oder wenigstens in ihren Funktionen variabel. Ich habe einen Mann gesehen, welcher das ganze Ohr vorwärts ziehen konnte; andere können es nach oben ziehen; noch ein anderer konnte es rückwärts bewegen; und nach dem, was mir eine dieser Personen sagt, ist es wahrschein- zuzuschreiben seien, und eine gewisse Aehn- lichkeit mit der Hauterschütterung der Thiere wird namentlich jener unwillkürlichen Er- schütterung des ganzen Körpers, bei plötz- lichen unangenehmen Eindrücken, wie sie Windstösse, ein sehr kaltes Bad, starke Spi- rituosen u. s. w. erzeugen, nicht abzuleug- nen sein, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. lich, dass die Meisten von uns dadurch, dass wir oft unsere Ohren berühren und hierdurch unsere Aufmerksamkeit auf sie lenken, nach wiederholten Ver- suchen etwas Bewegungskraft wieder- erlangen können. Die Fähigkeit dieOhren aufzurichten und sie nach verschiedenen Richtungen hinzuwenden, ist ohne Zwei- fel für viele Thiere von dem höchsten Nutzen, da diese hierdurch den Ort der Gefahr erkennen; ich habe aber nie auf zuverlässige Autorität hin von einem Menschen gehört, welcher auch nur die geringste Fähigkeit, die Ohren aufzurichten besessen hätte, die einzige Bewegung, welche für ihn von Nutzen sein könnte.« Nach dem Berichte des Abbe Ma- ROLLES hätte jedoch der Philosoph Crassor diese Fähigkeit besessen: »Er hatte etwas sehr besonderes« , sagt er, »welches ich sonst bei Niemanden als ihm allein gesehen, nämlich seine Ohren fallen zu lassen und sie wieder auf- zurichten, wenn er gewollt, ohne dass er sie anrührete.«* Auch beim Kaiser Justinian muss die Beweglichkeit der Ohren, von welcher Prokor in den Anekdoten berichtet, einen hohen Grad erreicht haben, da ihn die Partei der Grünen im Cirkus, mit Anspielung auf diese Eigenthümlichkeit, laut und öffent- lich als »Esel« bezeichnete. Sicher kann aber diese Fähigkeit durch Uebung sehr gesteigert werden, und ein Schulkame- rad des Referenten, der sie in aus- gezeichnetem Grade besass, ‚erzählte, dass er sich einfach darauf geübt habe, nachdem er eine fremde Person die Ohren habe bewegen sehen. Anfangs habe er keine äussere Bewegung ge- sehen oder gefühlt, aber durch darauf gerichtete Aufmerksamkeit und Beharr- lichkeit hat sich die Fähigkeit schliess- lich eingestellt und fortschreitend bis zu einem auffallenden Grade vermehrt. * BAYLE, Krit. Wörterbuch. Art. Her- kules.. Anm. G, = 395 VesaL, der selbst zwei Personen ge- kannt hatte, welche die Ohren bewegen konnten, meinte, bei ihnen seien die spärlichen Fasern der betreffenden, meist atrophischen Muskeln vermehrt, aber man ersieht aus seinen Worten* nicht, ob er dies durch direkte Beobachtung fest- gestellt oder blos gemuthmasst hat. Es lässt sich aber aus der Zunahme an- derer Muskelpartieen durch Anstreng- ung annehmen. Referent hat auch von einem Schüler gehört, der seine Ohren unbewusst und unwillkürlich bewegt haben soll, und aus der öffentlichen Schule genommen werden musste, weil er seine Mitschüler beständig zum La- chen brachte und den Unterricht störte. Der heilige Augustin hat zwei wunder- liche Kapitel geschrieben, in welchen er nach seiner eigenen Erfahrung eine Menge von Beispielen aufzählt, bis zu welchem Grade die Muskeln des menschlichen Körpers, dem menschlichen Willen unter- worfen werden können. Ich will den Eingang des zweiten Kapitels** die- ‚ser Aufzählung, die zum Beweise dienen soll, dass dem Menschen im Paradiese seine Zeugungsglieder ebenso unterthan gewesen seien, wie die übrigen Glied- maassen und erst nach dem Sündenfall rebellisch geworden seien, hier wörtlich wiedergeben, weil er eine Menge hier- hergehöriger Thatsachen enthält. »Es würde also,« meint der Kirchenvater unter der Voraussetzung, dass der pa- radiesische Zustand fortdauere, >»der Mann Nachkommenschaft säen und das Weib aufnehmen, wann es noth wäre und so viel es noth wäre, mit Gliedern, welche durch den Willen bewegt, nicht aber durch Begierlichkeit gereizt wären. Denn nicht blos jene Glieder bewegen wir nach Belieben, welche durch feste Knochen gegliedert sind, wie die Füsse, Hände und Finger, sondern auch jene, welche nur aus Fleisch und Nerv be- * De humani corporis fabrica, II. 13u.17. ** De Civitate Dei XIV. C. 24. 27 * 396 stehen, bewegen wir, wenn wir wollen, hin und her, dehnen sie aus, verdrehen sie und ziehen sie zusammen, wie dies zum Beispiel bei jenen Theilen der Fall ist, welche der Wille am Munde oder im Antlitze bewegt, so weit er es kann. Selbst die Lungen, die mit Ausnahme des Markes die weichsten unter allen inneren Theilen und deshalb von der Brusthöhle geschützt sind, dienen wie die Blasbälge der Schmiede oder der Orgeln dem Willen desjenigen, der haucht, athmet, redet, ruft, singt, um ein- und auszuathmen und den Laut von sich zu geben und ihn zu gestal- ten. Ich übergehe, dass es einigen Thie- ren von Natur aus gegeben ward, die Haut, womit der ganze Körper beklei- det ist, wenn sie an irgend einer Stelle derselben etwas fühlen, was weggetrie- ben werden soll, nur dort zu bewegen, wo sie dies fühlen, und dass sie durch das Bewegen der Haut nicht blos dar- auf sitzende Mücken, sondern auch darin steckende Speere abschütteln. Konnte dies etwa der Schöpfer deshalb, weil es der Mensch nicht kann, den Wesen nicht verleihen, welchen er es verleihen wollte? So hätte also auch der Mensch selber des Gehorsams auch der niedrigeren Glieder sich erfreuen können, dessen er durch seinen Un- gehorsam verlustig ging. Denn es war nicht schwer für Gott, ihn so auszu- statten, dass an seinem Fleische auch das nur auf seinen Willen hin sich be- wegt hätte, was jetzt nur durch die Begierlichkeit bewegt wird. Kennen wir Ja auch Naturen einiger Menschen, die von den übrigen sehr verschieden und durch ihre Seltenheit staunenerregend sind, indem sie mit dem Leibe Einiges thun, was Andere auf keine Weise thun können, und wenn sie davon hören, es kaum glauben. Es giebt nämlich Leute, welche auch die Ohren bewegen, theils einzeln, theils beide zugleich. Es gibt solche, welche ohne den Kopf zu bewegen, das ganze Haupthaar, soweit Kleinere Mittheilungen und Journalschau. die Haare reichen, nach der Stirne zu richten und zurückziehen, wenn sie wollen. Es giebt solche, welche, nach- dem sie unglaublich vieles und mannig- faltiges verschlungen, indem sie nur ein wenig das Zwerchfell zusammenziehen, wie aus einem Sacke ganz unversehrt hervornehmen, was ihnen beliebt. Einige athmen und bilden die Stimmen der Vögel und sonst irgend welcher Thiere so täuschend nach, dass man es, wenn man sie nicht sähe, gar nicht unter- scheiden könnte. Einige geben nach unten ohne allen Geruch beliebig so zahlreiche Laute von sich, dass sie auch mit diesem Theile zu singen scheinen *. Ich selber habe mich überzeugt, dass ein Mensch zu schwitzen pflegte, wann er wollte. Es ist bekannt, dass einige, wenn sie wollen, weinen und im reich- lichen Maasse Thränen vergiessen....« Das letzte Beispiel, welches der Kir- chenvater anführt, von einem jungen Priester, der sobald er Jemand weinen hörte, in eine Art Verzückung ohne Bewegung und Gefühl verfiel, gehört wohl nicht unter die Beispiele von der Macht des Willens über einzelne Kör- pertheile, die wir bei Künstlern und Gauklern aller Art, namentlich bei den Aequilibristen zu Graden der Feinheit ausgebildet sehen, welche auch den, der die Macht der Uebung kennt, in Er- staunen setzen. Am merkwürdigsten bleibt dabei immer die Macht über sol- che Muskeln, die für gewöhnlich dem Einfluss des Willens ganz. entzogen sind, wie z. B. der Magenmuskeln, welche einzelne Künstler geübt haben, um vor- her eingenommene grosse Wassermengen in Form einer langsprudelnden Fontaine aus dem Munde emporzutreiben. Uebri- * Ein von VIVES zu dieser Stelle des heiligen Augustin eitirter Deutscher, der sich im Gefolge des Kaisers Maximilian und sei- nes Sohnes Philipp befand, übertraf, wie es scheint, noch die oben erwähnten alten Künstler: „nec ullum erat carmen, quod non ille erepitibus podieis redderet!“ Kleinere Mittheilungen und Journalschau. gens beweisen die Beispiele des heili- gen Augustinus wohl nichts zu Gunsten seiner Lieblingshypothese,* aber sie sind von grossem Interesse für die Darwin’- sche, oder vielmehr Lamarck’sche Hy- pothese, und sie zeigen, wie wohl die Alten in ähnlicher Richtung zu argu- mentiren wussten, und den Menschen durchaus für keine unabänderliche Krea- tur ansahen. Sie wussten auch recht wohl, dass solche Abnormitäten im Bereiche der Willenssphäre ebensowohl wie Charak- ter- und Geberden-Eigenthümlichkeiten erblich zu sein pflegen. Marrıau be- hauptet dies von den beweglichen Ohren: »dass aber der (Junge) mit spitzem Kopf und Langohren — die er bewegt, wie Esel das zu thun pflegen, — der Sohn des Narren Cyrta sei, wer will das läugnen ?« sagt er im 39. Epigramm des sechsten Buches. Jemand, der Ge- legenheit hat, mit Jongleur-Familien in Berührung zu kommen, könnte gewiss in dieser Richtung merkwürdige Beob- achtungen sammeln, und die Thatsache, dass diese Künstler, immer am liebsten die eigenen Kinder zu ihren Gehilfen erziehen, beruht sicher mit darauf, dass diese viel leistungsfähiger sind, als an- derer Leute Kinder, und oft sieht man hier Grade von Kunstfertigkeit, die es eo ipso zweifelhaft erscheinen lassen, dass sie im Laufe eines Menschen- lebens erworben sein könnten. * Allerdings ist bekannt, dass es gewis- sen Menschen sehr wohl gelingt, einzelne Muskeln des Geschlechtsapparats dem Willen zu unterwerfen, z. B. den Constrietor cunni, um rhythmische Zusammenziehungen der Va- gina zu erzeugen, aber solche handwerks- mässigenFertigkeiten beweisen natürlich nichts 397 Keltische Sprach-Spuren im deutschen Jägerlatein. Von der Annahme ausgehend, dass unter Jägern und Waldhütern, deren Geschäft sie fern von der übrigen Welt hielt, und sich von Generation zu Gene- ration vererbte, Sprachreste der unter- drückten älteren Bevölkerung Deutsch- lands am ehesten erhalten sein könnten, hat ein Mitarbeiter des Hannöver’schen Couriers die aus dem Deutschen un- verständlichen Ausdrücke des Jäger- lateins zu erklären versucht, und ist dabei zu folgenden auffallenden Ueber- einstimmungen gelangt: Schweiss, plattdeutsch Schweet, wälisch gwaedd (sprich Schwäd) = Blut. Loosung, losen, keltisch loist, breto- nisch los —= Auswurf, Koth. Damhirsch, kelt. dam == Hirsch. Blume, kelt. blean = Schwanz desWildes. Baitze (Falkenbaitze), kelt. und wälisch paitharg, der offene Jagdgrund, der zur Vogelbaitze gehört. Pirschen, kelt. bir (Pfeil), bior (Spitze), wälisch ber, der Spiess, birschen, also die Spitze auf etwas richten. Kette (der Rebhühner), wälisch kit, der Verein, die Gesellschaft. Murke (Paarung der Schnepfen), und irisch muirn, Paarung.' Ratzenkahl, bret. raz (kahl). Die Ratte wird kahl geboren, bleibt lange kahl und der Schwanz zeitlebens, weshalb die Schwänze der Jungen leicht ver- wachsen, und die sogenannten Ratten- könige entstehen lassen. kelt. zu Gunsten der Hypothese des Kirchenvaters, sondern sind ihr eher feindlich. Hierher ge- hören auch die wunderbaren Bauchbeweg- ungen, welche die Hauptleistung der orienta- lischen Tänzerinnen ausmachen. Litteratur und Kritik. Der Kampf der Theile im Orga- nismus. Ein Beitrag zur Vervoll- kommnung der mechanischen Zweck- mässigkeitslehre von Dr. WiLHELM Roux, Privatdozent und Assistent am anatomischen Institut zu Breslau. 244 8. in 8. Leipzig. Wilhelm Engelmann. 1881. Schon in seiner Habilitationsschrift:: »Ueber die Leistungsfähigkeit der Prin- zipien der Descendenzlehre zur Erklä- rung der Zweckmässigkeiten des thie- rischen Organismus« hatte der Verfasser dieses gedankenreichen Buches sein Augenmerk auf jenes Hilfsprinzip der Entwickelungslehre, welches man ge- wöhnlich als Wirkung des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs der Theile, besser als »funktionelle Anpassung« bezeich- net, gerichtet, und gefunden, dass es weniger anerkannt und geprüft sei, als ihm bei seiner grossen Wichtigkeit zukomme. Darwın hat der Wirksam- keit der funktionellen Anpassung, die unter Umständen eine direkte zweck- mässige Umgestaltung der Organe unter neuen Lebensverhältnissen oder durch Uebung hervorbringen kann, in seinen spätern Werken die ihr gebührende Rolle zuerkannt, so dass gar kein Grund vorliegt, HÄckeL oder ÜSKAR SCHMIDT, weil sie es gleichfalls gethan haben, des »Lamarckismus« zu be- schuldigen, wie es von Seiten eifriger Bewahrer der reinen Lehre geschehen ist. Der Verfasser geht in seiner Werth- schätzung des betreffenden Prinzips noch weit über LAMARcK hinaus. An dem Beispiele der durchgreifenden Um- änderung ihrer gesammten Organisation, welche z. B. Wasserthiere erfahren mussten, um sich an das Landleben gewöhnen zu können, erläutert er die Bedeutung dieser Vorgänge und: sucht zu beweisen, dass sie einen stärkeren Antheil an den Veränderungen der or- ' ganischen Welt habe, als die freiwillige Variation, die sich meist nur in ver- einzelten Richtungen bewege. Er zeigt, wie der Gebrauch die Organe in den- jenigen Richtungen vergrössert, in denen sie die stärkere Funktion leisten: so nehmen Muskeln und Knochen des Armes durch gewöhnliche Kraftübung nur in der Dicke und nicht zugleich in der Länge zu, wie sie wahrschein- lich thun, wenn eine oft wiederholte Zugkraft auf sie wirkt. Den längst be- kannten Wirkungsweisen dieser Rich- tung fügt der Verfasser in seinem er- sten Kapitel einige weitere Wirkungs- kreise hinzu, bestehend einerseits in der Ausbildung der statischen Struktur der Knochen und der bindegewebigen Organe, sowie in der entsprechenden dynamischen Struktur der aus glatten \ e Litteratur und Kritik. Muskelfasern gebildeten Organe, und zweitens in der vollkommnen Anpassung der Blutgefässwandungen an die eigene Gestalt des Blutstromes. Die Wirksam- keit der direkten zweckmässigen An- passung tritt besonders auch bei dem Heilungsprozesse hervor, in dessen Folge z.B. die ganze Statik eines zerbroche- nen und etwa schief geheilten Knochens sich auf der neu gegebenen Grundlage umwandelt. In dem zweiten Kapitel geht der Verfasser tiefer auf die Ursachen dieser direkten Anpassungsmöglichkeit ein, und sucht mit überzeugenden Gründen darzuthun, dass in einem Organismus nicht alles Geschehen bis in’s Einzelne hinein, Molekel für Molekel, fest be- stimmt ist, wie dies in Folge des Stoffwechsels und des Wechsels der äussern Lebensbedingungen auch gar nicht möglich wäre, sondern dass bei dem fortwährenden Vorkommen von kleinen Variationen in den Qualitäten der Theile, ein Kampf der neuen Qua- litäten mit den alten um Nahrung und Raum stattfinden und von jeher in den Organismen stattgefunden haben muss. Dem äussern Existenzkampfe des Organismus tritt also ein innerer in dem Zellenstaate, aus dem er besteht, zur Seite, die einzelnen Organe, Ge- webe, Zellen, ja deren Elementartheile suchen sich auf gegenseitige Kosten zu erhalten und auszubreiten. Natürlich werden dabei immer die lebenskräf- tigsten Qualitäten siegen und schliess- lich allein übrig bleiben. Dies würde auch auf die eindringenden feindlichen Zellen (Parasiten, Krankheitspilze u. s. w.) Anwendung finden. In denjenigen Or- ganen, auf welche häufig Reize, z. B. die Funktion auslösende Reize einwir- ken, sind die siegreichen Zellen die- jenigen, welche durch den einwirkenden Reiz zugleich am meisten in ihrer Assimilationsfähigkeit gekräftigt werden. Der Verfasser tritt der landläufigen Meinung entgegen, dass die in starkem / 399 Gebrauch befindlichen Theile eintach durch einen stärkeren Blutzufluss ge- kräftigt würden. Die Sache sei viel- mehr so zu verstehen, dass die Funk- tion an sich das Organ und seine Theile kräftige und ihm eine stärkere Assimilationskraft verleihe. So werden eine Menge von Organen alsbald atro- phisch, wenn man den Nerv durch- schneidet, der sie in Funktion - erhält, sogar die bei einem schiefgeheilten Knochenbruch entlasteten Knochenbälk- chen schwinden dahin; man kann also sagen, dass ein Organ nur in seiner Funktion lebt, und deshalb durch die- selbe gestärkt werden wird. Die schein- baren Ausnahmen, dass die Sinnesorgane sich nicht zurückbilden, auch wenn man den Seh- oder Geruchsnerv durch- schnitten hat, bestätigen nur die Regel, denn in Wahrheit bleibt ja hier das äussere Organ den Reizen ausgesetzt und in Funktion, erst ein Aufenthalt in völliger Dunkelheit könnte das Auge vernichten, indem er die Funktion auf- hebt. Je intensiver aber ein Organ in seiner Funktion lebt, um so mehr wird es und event. auf Kosten anderer Organe befähigt sein, dem Blutstrome die ihm nöthige Nahrung zu entziehen, und man weiss z. B., dass den Frauen, welche lange und hinter einander meh- rere Kinder säugen, durch die Milch- drüsen so viel Kalk entführt wird, dass sich bei ihnen eine eigenthümliche Knochenerweichung einstellt. »Es würde allen Thatsachen widersprechen«, sagt der Verf. (S. 158), »wenn man eine passive Ernährung der Theile allein abhängig von der Nahrungszufuhr sta- tuiren wollte, sondern es ergab sich, dass im Gegentheil die Ernährung un- ter qualitativer und quantitativer Aus- wahl seitens der ernährten Theile statt- finde, und dass von der Verbrauchs- stelle aus die Blutzufuhr entsprechend dem Bedarfe in irgend einer Weise regulirt werden muss. Die funktionelle Hyperämie, wo sie stattfindet, kann 400 daher keinesfalls die Ursache der funk- tionellen Hypertrophie sein, sondern sie darf nur als eine günstige, viel- leicht nicht immer einmal unerlässlich nothwendige Vorbedingung derselben angesehen werden. « Man kann also sagen, dass durch den Kampf der Theile Prozesseigen- schaften gezüchtet werden, welche im Stande sind, die Erscheinungen der funktionellen Anpassung hervorzubrin- gen, und zwar erweist sich dies als eine Folge des Kampfes blos der Pro- toplasmatheilchen in den Zellen und des Kampfes der Zellen desselben Ge- webes untereinander. Dagegen führt der Kampf der ver- schiedenen Gewebe und Organe je un- ter einander ausser zur möglichsten Ausnutzung des Raumes im Organismus zur inneren Harmonie, zur Ausbildung eines der physiologischen Bedeutung der Theile für das Ganze entspre- chenden morphologischen Gleichgewich- tes derselben. Der Verfasser sucht hiernach zu zeigen, dass diese hervor- ragenden Leistungen des Kampfes der Theile die Bedeutung des von Darwın und Wautack aufgestellten Prinzipes des Kampfes der Individuen für die Entstehung der Mannigfaltigkeit und für die Anpassung an die äusseren Be- dingungen nicht im Geringsten be- schränkt. Vielmehr ist das Verhältniss beider Kampfesarten derartig, dass aus den vom Kampf der Theile gezüchteten, im Allgemeinen lebenskräftigsten und am stärksten reagirenden Substanzen (oder richtiger Prozessen) der Kampf der Individuen um das Dasein, überall diejenigen speziellen ausliest, welche auch in diesem zweiten Kampfe zu be- stehen geeignet sind. Während so der Kampf der Theile die Zweckmässigkeit im Inneren der Organismen und die höchste Leistungsfähigkeit derselben im allgemeinen dynamischen Sinne hervor- bringt, bewirkt der gleichzeitige Kampf um’s Dasein unter den Individuen die Litteratur und Kritik. Zweckmässigkeit nach aussen, das sich Bewähren in den äusseren Existenzbe- dingungen. . Das dritte Kapitel bringt die im OÖbigen schon kurz angedeuteten Nach- weise einer solchen siegreichen Anpass- ung und Fähigkeit des Protoplasma’s der verschiedenen Gewebe, durch den funktionellen Reiz nicht blos zu seiner - specifischen Thätigkeit, sondern auch zur Assimilation (zum Ersatz und zur Ueberkompensation des Verbrauchten) angeregt zu werden. Indem so die aus- ser Aktivität gesetzten Theile der Mus- keln, Nerven, Drüsen, Knochen u. s. w. schnell entarten, während die in Funk- tion erhaltenen sich kräftiger ernähren und vermehren, siegt der unter dem gegebenenMischungsverhältnisse der äus- seren Reize zweckmässige, unmittelbar, indem das Unzweckmässige oder Ueber- flüssige sich selbst eliminirt, sobald es nicht mehr funktionirt. Nachdem so die trophische Wirkung des funktionellen Reizes durch zahl- reiche wohlgewählte Beispiele nachge- wiesen wurde, geht der Verfasser zur morphologischen Wirkungsweise dieses Prinzips über und sucht im vierten Ka- pitel den Nachweis zu führen, dass in der That der funktionelle Reiz überall quantitativ und formativ das Zweck- mässige direkt hervorzubringen vermag. Durch die Fähigkeit des Kampfes der Theile, derartige Qualitäten zu züchten, musste eine viel höhere in- nere Vollkommenheit, die Zweckmässig- keit der fungirenden Theile bis in’s letzte Molekel hervorgebracht werden und viel rascher sich ausbilden, als wenn sie nach DARwIn-WALLACH durch Auslese aus formalen Variationen im Kampfe um's Dasein unter den Indivi- duen hätten entstehen sollen und können. In einem fünften und letzten Ka- pitel sucht der Verfasser das Wesen des Organischen näher zu ergründen, und kommt nach Verwerfung der bis- Litteratur und Kritik. herigen Definitionen zu einer thatsäch- lich sehr‘ befriedigenden Charakteristik. Da als die erste nothwendige Eigen- schaft des Organischen die Dauerfähig- keit auch unter wechselnden äussern Bedingungen angenommen werden muss, so ergibt sich als die Grundeigenschaft des Organischen einmal die Fähigkeit der Selbstgestaltung des im Wechsel der Verhältnisse zur Erhaltung Nöthi- gen, mit der Assimilation als erster Spezialeigenschaft beginnend und durch vielfache Selbstregulationsmechanismen fortgeführt, und als zweite gleichwer- thige Eigenschaft die Ueberkompensa- tion des Verbrauchten. Selbstregu- lation und Ueberkompensation sind daher die ersten wesentlichen Eigen- schaften des organischen Geschehens und erst nach diesen konnte die -Er- werbung der einzigen ebenso allgemei- nen Eigenschaft, der Sensibilität, der Reflexbewegung, stattfinden. Nachdem wir so eine allgemeine Uebersicht des in diesem Werke ange- bahnten, wie es uns scheint, wichtigen Ideenganges, vielfach mit des Verfassers eigenen Worten gegeben haben, möch- ten wir einige kurze Bemerkungen über unsere sich vielleicht nicht ganz deckende Auffassung der Sachlage anknüpfen. Das unläugbar Wahre ist, dass in den Theilen Kämpfe stattfinden — unsere Krankheiten sind, meist die Symptome solcher akut gewordenen Kämpfe — und dass ein Organ, wie wir es kurz ausdrücken möchten, >nur in seiner Funktion lebt«, durch dieselbe gestärkt wird, oft auf Kosten anderer Organe. Allein, dass durch diesen Kampf immer das Zweckmässige gefördert werde, kön- nen wir nicht unterschreiben, die vielen Hypertrophien und Atrophien der Or- gane, Gewebe und aller Körpertheile, an welchen die Organismen zu Grunde gehen, liefern den Beweis des Gegen- theils. Sie sind oft nachweisbar durch einseitige Steigerung einzelner Funk- tionen hervorgebracht, es gibt da also 401 keine sich selbst setzende Grenze der Funktionssteigerung, die verschiedenen Organe müssen einander in gewissem Umfange das Gleichgewicht halten, und wenn dies nicht mehr gelingt, geht der Organismus zu Grunde. Der Erfolg ist also auch hier, wie in dem äussern Daseinskampfe, Befestigung des Zweck- mässigen durch Ausmerzung des Un- zweckmässigen, eine Selbstelimination tritt an die Stelle derjenigen durch äussere Gewalten, die indessen in der Natur stets die Selbstelimination be- einflussen werden. Die Zweckmässig- keit, die der funktionelle Reiz direkt hervorbringen soll, ist also zunächst nur eine relative, die sich erst zu be- währen hat; der Sieg einer Funktion im Kampfe der Theile und Funktionen muss oft mit dem Untergang des Ge- sammtorganismus bezahlt werden, und das Resultat war dann ein eminent unzweckmässiges. Die Selbstregulation der Organismen ist also keine voll- kommene, und die Ueberkompensation muss den Ausfall decken. Ich glaube nicht, dass diese Bemerkungen im Widerspruch mit der eigenen Ansicht des Verfassers stehen, dessen reiche Ideenwelt die Kenntnissnahme zahlrei- cher, namentlich medizinischer Kreise verdient, trotz der »geringen Schätzung, welche theoretische Ableitungen gegen- wärtig in manchen Kreisen finden, und welche tief unter der Schätzung der geringsten objektiven Beschreibung steht«. Diese letzteren Kreise werden das vorliegende Buch allerdings nicht nach seinem Gehalte zu würdigen im Stande sein, aber dies wird für Nie- mand ein Schaden sein, ausser eben für diese Kreise selbst. K. Die Vorgeschichte der Ethnologie, Deutschlands Denkfreunden gewidmet für eine Mussestunde. 132 8. in 8. Berlin. Ferd. Dümmler’s Verlagshand- lung (Harrwitz & Gossmann), 1580, 402 Diese mit warmer Begeisterung (von Professor A. Bastıan verfasste) Mahn- schrift — man möchte sie im besten Sin- ne fast eine Brandschrift nennen, — führt den auch auf der vorjährigen Ver- sammlung der deutschen anthropologi- schen Gesellschaft erhobenen Ruf: »Rettet was zu retten ist, das ethnologische Material steht in Flammen !« weiter aus, und wir denken, nicht nur die Nach- welt, sondern auch die Mitwelt wird anerkennen, dass er Grund hatte, seine mahnende Stimme zu erheben, damit, ehe mit dem rapiden Dahinschwinden der Naturvölker die Gelegenheit vor- über geht, von den Produkten ihres Geistes und ihrer Hände soviel als mög- lich erhalten werde. Es handelt sich um die Einsammlung des Materials für eine Wissenschaft, die erst in ihren An- fängen existirt, deren Bausteine erst beschafft werden müssen. Seltsam, dass man jenen.Spruch des alten Weisen, dass das vornehmste Studium des Men- schen der Mensch sei, so lange überhört hat, und dass sich erst verhältniss- mässig spät, und in bescheidenen An- fängen der Begriff und die Nothwendig- keitanthropologischer undethnologischer Forschungen entwickelt hat. Indem er diese Geschichte des ersten Auftauchens der Nachfrage nach solchen Menschen- Wissenschaften mit reichem Quellen- material, hauptsächlich als aus philoso- phischen Bedürfnissen herstammend, nachweist, hat der Verf. doch, wie wir glauben, einen Punkt nicht genug be- tont, nämlich den, dass die Natur- geschichte des Menschen erst dadurch ein nachhaltigeres Interesse zu wecken begann, dass der Mensch durch die Lyell-Darwin’sche Schule nachdrück- lichst als Glied der Natur reklamirt wurde, während zugleich die prähistori- sche Forschung einsetzte, und ihn als einen vielälteren Bewohner unseres Plane- ten, als man bisher geglaubt hatte, er- wies. Nachdem man durch unläugbare Zeugnisse erkannt hatte, dass er lange Litteratur und Kritik. vor dem Aufdämmern der Geschichte auch in Europa in jenem Zustande der Wild- heit existirt hatte, wie wir ihn in den andern Welttheilen sehen, dämmerte erst die Erkenntniss, dass der Indianer ein Vergleichsobjekt für uns selbst ist, dass wir aus ähnlichen Zuständen her- vorgegangen und dass die ethnologischen Sammlungen, die als Curiositäten-Cabi- nette begonnen worden sind, den Werth von Archiven einerGeschichte der Mensch- heit erlangen. Basrıan, der früher der Entwickelungslehre sehrschroffund feind- lich gegenüberstand, läugnet heute nicht mehr die Bedeutung der Darwin’schen Ideen, jener folgereichen » Träume eines Nachmittagsschläfchen« für die Wissen- schaft, und es ist in der That ganz in darwinistischem Geiste geschrieben, wenn er (p. 60) sagt: »Die Aufgabe der Eth- nologie wird darin liegen, auf dem ihr angewiesenen Forschungsgebiete die in- duktive Seite der Geschichtsbehandlung (in weitester Fassung der Menschheits- geschichte) zu kräftigen und die An- bahnung der für ihre Verfolgung erheisch- ten Wege zu erleichtern, denn indem das Studium der vergleichenden Psycholo- gie mit den niedersten und einfachsten Formen der Völkergedanken anhebt, um hier unter hellerer Durchsichtigkeit die Elemente der Grundgesetze zu erkennen, wird dadurch (in den Vergleichungen sowohl, wie im genetischen Verfahren) ein Leitungsfaden gewährt sein, der auch unter den Labyrinth-Verwicklungen kom- plieirter Culturschöpfung allmälige Auf- klärungen herbeizuführen verspricht. Die Genesis ist zu erforschen, im gene- tischen Denken (wie ScHLEGEL statt der formellen Logik eine genetische ver- langte), und so mag wenigstens das, auch bei den Grenzen der Naturerkennt- niss zugelassene Surrogat einer re > erlangt werden.« In der Psychologie des Hinelinen und noch mehr der Völker sieht Basrıav die Brücke von der Naturwissenschaft zur Philosophie geschlagen, man muss dieses Litteratur und Kritik. Geistesleben der Naturvölker daher studi- ren, so eifrig es möglich ist, und soviel als davon noch vorhanden ist, um etwas von der Embryologie des Volksgeistes, und dem Larvenzustand des geschicht- lichen Menschen, der uns in seinen ge- schriebenen Ueberlieferungen immer nur als entpuppter Schmetterling erschienen war, zu erkennen. »So muss es der Ethnologie als heiligste und dringendste Pflicht gelten, die psychischen Schöpfun- gen der Naturvölker, die, wenn einmal zu Grunde, für immer dahingegangen (ohne jede Wiederkehr vertilgt und aus- gelöscht) sein würden, als Materialien einer Geschichte der Menschheit zu be- wahren, und bei der Katastrophe des durch Verkehrsrevolutionen eingeleiteten Kataklysmos, der sich, indem was wir die Welt der Naturvölker nennen, gerade jetzt vollzieht, darf kein Augenblick länger versäumt werden, um aus dem bereits an allen Ecken in hellen Flammen bren- nenden Gebäude den letzten Rest dessen, was sich retten lässt, in die ethnologi- schen Museen zu flüchten.« In der That den Naturvölkern gegenüber ist Eile nöthig, denn schon mit dem Augenblicke, der sie uns kennen lehrt, weht der Todes- engel sie an. Was nun das Sammeln der äusseren Ausstattungsgegenstände anbetrifft, da mögen gewöhnliche Reisende genügen, aber für die Auffassung des inneren Menschen, seiner Weltanschauungen, Ueberlieferungen, Gedankenkreise u. s. w. sind in der Völkerpsychologie geschulte Reisende nöthig, und in ihrer Heranbil- dung ruht eine neue Aufgabe der Ethnolo- gie, wobei freilich nur dasBeispiel wirken kann, wie unsBasrıan einsolches vor Kur- zem in der Sammlung der polynesischen Mythenkreise selbst gegeben hat. In die- ser Richtung der begeisterten Anregung sehen wir ein hohes Verdienst dieses klei- nen Buches, welches flüssiger, als die mei- sten früheren Werke des Verfassers ge- schrieben, eine Menge fruchtbarer Ideen enthält, und auch in dem Vergleiche der 403 alten Curiositäten- und Reliquien-Samm- lungen, indemVorschlagezueinemExpro- priationsgesetze, für die im Privatbesitze befindlichen ethnologischen Unica u. s. w. wieder jenen trocknen Humor entwickelt, der dem Verfasser eigen ist, und die Lektüre seiner Schriften belebt. Das Buch sollte von Jedermann gelesen wer- den, dem die Kenntniss des eigenen Ge- schlechtes am Herzen liegt. Mythus und Wissenschaft. Eine Studie von Trro Vısnouı. Autorisirte Ausgabe. (Internationale wissenschaft- liche Bibliothek Bd. XLVII). X und 3178. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1880. In einem Werke über das Funda- mentalgesetz der Intelligenz im Thier- reiche* hatte der Verfasser des vor- liegenden Buches bereits vor einigen Jahren nachzuweisen gesucht, dass die menschliche Intelligenz sich von derthier- ischen nur schrittweise unterscheide, indem der wesentliche Unterschied nur darin bestehe, dass der menschliche In- tellekt zu einer Selbstbeschauung und Beherrschung der psychischen Operatio- nen vorgedrungen sei, die dem Thiere fehlen. Auch der menschliche Geist müsse nach Darwin’schen Grundsätzen aus dem thierischen hergeleitet werden, und um zu verstehen, wie der auf nie- derster Stufe stehende Mensch das Welt- gemälde auffasse, wie erzu den bekannten, in den Hauptzügen bei Völkern auf ähn- licher Stufe übereinstimmenden Mythen- bildungen gelangt sei, müsse man sich in den Geist des Thieres zu versetzen suchen. Durch Versuche und genaue Be- obachtungen an Thieren ist der Verfasser zu dem durchaus wahrscheinlich klingen- den Schlusse gelangt, dass die Thiere noch weniger als der Mensch im Stande seien, sich von den Naturdingen zu un- *® Derselben internationalen Bibliothek Bd. XXXVl. 404 Litteratur und Kritik. terscheiden, dass sie somit alle Objekte, | Macht, die ihm fehlt, in einem Einzel- vornehmlich die sich bewegenden und ihnen in irgend einer Art Widerstand leistenden Dinge für ihres Gleichen an- sehen; ihr gesammter Intellekt erhebt sich zu keinem andern Begriffe als dem dunklen der eigenen Person, also eines Thieres. Der Stein, welcher vom Berge herabpoltert, der Hagelklumpen, welcher sie trifft, die Nessel oder Distel, die da stechen, das Feuer, welches brennt, alles sind ihnen lebendige Thiere, ihr ganzes Sinnen dreht sich umeinenallgemeine En- tification oderPersonification aller sie umgebenden Dinge. Von diesem tie- feren und in dem Buche mit grosser psy- chologischer Feinheit dargelegten Zu- stande des thierischen Intellekts leitet nun der Verfasser als eine gleichsam in Fleisch und Blut übergegangene Erb- schaft, die Tendenz des primitiveren menschlichen Intellekts ab, alle Natur- erscheinungen zu personificiren, wie sie sich nicht nur bei Naturvölkern, son- dern auch bei den Kindern der Kultur- nationen wiederholt. Sie reden und plaudern mit allen lebendigen und un- lebendigen Objekten, als ob sie des Ver- ständnisses sicher wären. Mit diesem thierähnlichen Geisteszustande des un- erzogenen Menschen lässt sich nun jene niedere, als Animismus bezeichnete, den meisten Naturvölkern eigenthümliche Weltanschauung vergleichen, in welcher alle Dinge als beseelt gelten. Es ist dabei aber der dem Menschen allein an- gehörende, und namentlich aus den Er- fahrungen des Traumlebens abstrahirte Begriff des Seelenwesens hinzugekom- men, die als innere, belebende, kraft- äussernde Potenz der Dinge angesehen wird, und da sie den Körper (in den Traumvorstellungen) freiwillig verlassen kann und überlebt, eine geheimnissvolle, meist verborgene Existenz führt. Mit Hilfe dieser Abstraktion kann nun erst recht jeder Gegenstand mit Leben und Kraft erfüllt gedacht werden, ja indem der Mensch alles Vermögen und alle objekte personificirt denkt, z. B. in einem Tiger oder einer Schlange, gelangt er zum Fetischismus, der Anbetung und Verehrung bestimmter, willkürlich aus- gewählter Gestirne, Elemente, Thiere, Pfianzen, Mineralstoffe oder Kunst- produkte. Aber mit der Ausbildung der Sprache leınt der Mensch abgeleitete Begriffe bilden, und dann ist nicht mehr ein einzelner Gegenstand, ein bestimmter Fluss oder Quell, ein bestimmter Baum oder ein Thier, die Sonne oder der Mond für sich der Gegenstand seines Kultus, sondern es erheben sich Gottheiten der Gewässer, der Luft, des Lichtes, Feuers u. s. w., kurz der Polytheismus steigt aus dem Fetischismus empor. Immer wieder handelt es sich dabei um Personi- ficationen, und zwar von Naturkräften und abgeleiteten Begriffen, welche die niedern Völker noch gar nicht kannten, undhiersetztenun die künstlerische Phan- tasie ein, um diese Begriffsgottheiten nach ihren körperlichen, intellektuellen und ethischen Eigenthümlichkeiten durch Poesie, Malerei und Plastik zu versinn- lichen. Wie aber der Polytheismus zum Fetischismus, so verhält sich wiederum der Monotheismus zum Polytheismus, aus dem Götterbegriffe wird der Gott- begriff in seiner Reinheit abstrahirt, und so erreicht die Personificationstendenz des menschlichen Intellekts ihr erhabenes Endziel. Dies ist der allgemeine In- halt des ebenso tief durchdachten, als gewinnend geschriebenen Buches, wel- ches der psychologischen Analyse der Mythenbildung eine solide genetische Grundlage gibt, und die Beachtung eines jeden Arbeiters auf diesem Gebiete beanspruchen darf. In sehr interessanter Weise beleuchtet der Verfasser auch die noch in dem heutigen Menschen steckende und bei jeder Gelegenheit hervor- leuchtende Neigung, alle Begriffe zu personificiren. Wie die Alten alle nur denkbaren Verhältnisse und ethischen Abstraktionen, das Schicksal, die Neme- Litteratur und Kritik. sis, die Fortuna, Victoria u. s. w. personi- fieirten, so thun wir es sogar mit der »drohenden« Wolke, der »treulosen« Welle, dem »tückischen« Sumpf u. s. w., als ob wir nicht ohne diese Umformung der Objekte in uns ähnliche Wesen mit ihnen verkehren könnten. Selbst die Philosophie hat nicht ohne dergleichen Anthropomorphismen arbeiten können, und die ewigen Ideen des Plato, deren Widerlegung einen so harten Kampf in der Entwickelungsgeschichte der Philo- sophie erforderte, gehören ganz und gar in dieselbe Categorie.. Der Verfasser verbreitet sich ausführlich über die ge- meinsame Wurzel von Mythus und Wis- senschaft. In der That strebten beide die Welterklärung ‘an, der Mythus war nur ein verfrüheter Versuch die Vor- gänge aus der schnellfertigen Phanta- sie statt aus der langsam fortschreiten- den Erfahrung aufzubauen. Ebendaher aber hafteten der Philosophie immer ge- wisse mythische Grundvorstellungen an, sei es auch nur die Personification des In- tellekts als besonderen Wesens, und die Aufgabe der kritischen Philosophie wird es sein, im Bunde mit der Psychologie diese Entwickelungserbschaften und rudimen- tären Ideen zu beseitigen. In dieser Rich- tung hat Vino einen bemerkenswerthen Schritt vorwärts gethan, und Niemand wird seinen Darlegungen das ihnen im vollstem Maasse gebührende, lebhafteste Interesse versagen können. K. Von der Ueberzeugung, insbeson- dere der religiösen. Eine Rede her- ausgegeben von Karıu Aunhaus, Pro- fessor an der Universität in Berlin. Dritte durchgesehene Auflage. 73 8. in kl. 8°. Leipzig, Otto Wigand, 1831. Vor einiger Zeit besprachen wir in dieser Zeitschrift (Bd. VI, S. 407) mit warmer Anerkennung das unter dem Titel »Ueberzeugungtreue« deutsch be- arbeitete Werk Moruer’s »ÖOne com- 405 promise«. Uns war damals unbekannt, dass wir eine deutsche Mahnschrift ähn- lichen Werthes besitzen, deren Verfas- ser sich erst in der hier vorliegenden dritten Auflage genannt hat. Sie verdient es, von allen denen gelesen zu werden, die sich klar darüber werden wollen, worin der Werth und das Recht der persön- lichen Ueberzeugung bestehen, und möge vornehmlich jenen religiösen Eiferern zur Beherzigung empfohlen werden, die in vollendeter Nichtachtung der frem- den. Ueberzeugung anderen Personen, die eigene, oft völlig werthlose, weil ererbte und nicht selbst erworbene Ueberzeugung aufdrängen möchten. Um dem Leser von der markigen, schwung- vollen und gedankenreichen Sprache dieser Mahnschrift eine Idee zu ver- schaffen, können wir nichts Besseres thun, als ein paar Sätze daraus wört- lich wiedergeben. Zunächst eine kurze Betrachtung über die gewöhnliche Bildungsweise individueller, aber nicht aus der Er- fahrung und sorgsamer Kritik gewon- nenen Ueberzeugungen. „Der Geist, der in Armuth und Leere nicht verharren will, der da Antwort auf seine Fragen sucht, ja ungestüm irgend wel- chen Abschluss begehrt, — er ergänzt die Lücken aus seinem Eigenen; er schafft, was als seiend sich ihm nicht darbietet, und nur Wirklichkeit hat in ihm selber, — oder er setzt, was hier dem Möglichen, dort dem Nichtmöglichen angehört: Gebilde des Wün- schens und der geschäftigen, dichtenden Ein- bildung. Nicht selten empfängt er in sol- chem Gebahren eine duftige Färbung, die sich über Jegliches ergiesst, was ihm naht; dahinwebend in traumhaftem Dasein, welches nur das ihm Gemässe sucht und aufnimmt, verhält er sich herrisch sogar, sei es der Natur und ihren erregenden Erscheinungen gegenüber, sei es in rein übersinnlicher An- schauung, d. h. in der Sphäre des Geistes für sich vornehmlich als Religion“. Dann ein nicht minder schönes Wort über das zähe Festhalten seiner Ueber- zeugung, ohne fort und fort zu prüfen, ob sie der vorwärtsschreitenden Erkenntniss und Forschung Stand hal- ten kann. sie 406 „Wer... von dem frischen, vorwärts dringenden Strom des Lebens sich bewusst- voll, selbst ausschliesst, abgewandt von der gemeinsamen Arbeit, und regungslos für das ernste Streben, — wer nicht Herz und Sinn geöffnet hält für das Gefundene und klar Erkannte, wer missgünstig, feindselig wider dasselbe steht, um mit schlaffer Selbstbefriedigung im Seinigen zu verharren, d. i. in Wahn und Irrthum, — ein Solcher übt unsühnbaren Verrath an dem Geiste und seiner Wahrheit; ihm wäre gerecht zurück- geschleudert zu werden zu den wüstesten Anfängen des Menschenthums; er hat ver- wirkt, was zuvor ihm unter Einschränkung zugestanden werden konnte, ein Recht seiner behaupteten Ueberzeugung.“ Solche Sätze sprechen für sich sel- ber, sie werden Jedem, der eine beson- dere Ueberzeugung mit redlichem Be- mühen vertritt, aus der Seele gespro- chen sein, und wir wünschten, dass allen Pastoren, Professoren, Volksred- nern u. s. w. eine solche obligatorische Gewissenspredigt alljährlich wenigstens einmal auf Staatsunkosten gehalten würde. ‚Das Ideal der Menschheit. Nach GC. CHR. Fr. Krause’s Schrift »Das Urbild der Menschheit« von ALFRED Cuess. 99 S. in 12°, Stuttgart, Carl Krabbe, 1881. Dieses kleine Buch kann als eine Festschrift zur hundertjährigen Geburts- feier des leider viel zu wenig gekann- ten Humanitätsapostels und Philosophen betrachtet werden, und sie entspricht dieser Bestimmung in würdigster Weise, indem sie uns eine seiner anziehend- sten Schriften in nach Sprache und Umfang verjüngter Gestalt, d. h. in einem Auszuge, der dennoch wie ein Ganzes wirkt, vorführt. Die theuerste, heiligste und erste Angelegenheit des menschlichen Geschlechts auf dieser Erde, ist nach Krause’s Meinung die, sich als Menschheit zu konstituiren, als einen Bund aller Menschen unter sich und mit der Natur, denn »derselbe unsterbliche Naturgeist, der des Men- Litteratur und Kritik. schen Leib erbauet, lebt auch in allen Pflanzen und Thieren«. Ausübung und Förderung von Wissenschaften und Künsten sind neben der Religion die höchsten Aufgaben des Menschen, wenn auch als das erhabenste Mittel, um zum höheren Menschenthum zu gelangen, die Liebe im allumfassenden Sinne von ihm gepredigt wird. Möge es zuerst auch nur, wie er wiederholt betont, die Liebe zu den andern Mitgliedern der grossen Familie des Lebens, oder die Liebe zur Natur und Kunst sein, sie wird doch endlich in den mächtigen Strom der Allliebe einmünden. »Bei Völkern, wel- che zu reiner Gottinnigkeit noch nicht hindurchgedrungen sind, kann innige, echt menschliche, selige Liebe zur Na- tur und zur Menschheit, in allen ihren Zweigen fröhlich blühen, und schöne Früchte tragen. Wer nur irgend eine reine Liebe hat, der ist fähig, sich zur Liebe zu Gott aufzuschwingen, wen aber nicht menschliche Schönheit, nicht Schönheit der Natur rührt, wer den Bruder nicht liebt, der liebt auch Gott nicht.< In diesem Tone ist das ganze Buch gehalten, welches vielleicht das reinste Evangelium der Liebe darstellt, welches seit Christus verkündet wurde. Wie im Paradiese wird auch die innigste Vereinigung zweier Menschen nicht als Sünde, sondern als völlige Hingabe an die Natur, und an die innigsten schaf- fenden Kräfte des Himmels und der Erde angesehen. Wie aber Mann und Weib nur eine höhere Einheit konsti- tuiren, so ist auch die Familie, ein Volk, ja der gesammte Menschheitsbund nur ein Organismus höherer Ordnung, in welchem der einzelne alle seine Kräfte entfalten kann, ein Organismus, in welchem nicht nur die Zukunft, son- dern auch die Vergangenheit in ihrem Streben und ihren Errungenschaften fortlebt; auch alle Opfer der Roheit und Barbarei früherer Zeiten sind nur Opfer im Kampfe um die Erringung dieses höchsten Gutes, der in Liebe Litteratur geeinigten Menschheit. Ein schöneres Denkmal als diese Neubelebung einer sei- ner. tiefsinnigsten Schriften konnte dem Philosophen zu seiner Gedenkfeier kaum errichtet werden. Fische, Fischerei und Fischzucht in Ost- und Westpreussen. Auf Grund eigener Anschauung gemein- fasslich dargestellt von Dr. Berr- HOLD BENECKE, Professor an der Uni- versität Königsberg. 514 Seiten in gr. 8°, mit 493 Abbildungen von H. Braune. Königsberg in Pr., Har- tung’sche Verlagsdruckerei, 1881. Wie wir schon beim Erscheinen der ersten Lieferung dieses vortrefflichen, nunmehr vollendet vorliegenden Werkes hervorhoben, verdient dasselbe weit über den im Titel genannten Bezirk, die Be- achtung aller derjenigen, die dem Leben der Fische und der rationellen Bewirth- schaftung des Wassers ihr Interesse zu- wenden. Der Verfasser hat sich nur des- halb auf die ichthyologischen Verhält- nisse der Provinz Preussen beschränkt, weil er nur schildern wollte, was er aus eigener genauer Anschauung kennt. In dem zoologischen Theile ist der neu- este Standpunkt der Fischkunde ver- treten, wovon uns beispielsweise das Kapitel über die Fortpflanzung des Aales belehren kann. Interessant ist die nach- träglich hinzugefügte Beobachtung aus den Wintern 1879/80 und 1880/81, wonach die Flussneunaugen wirklich, wie Prof. BExneckE schon früher ver- muthet hatte, in unausgewachsenem Zu- stande nach der See wandern. »Die Metamorphose der Querder beginnt, wenn sie eine Länge von 15—18 cm erreicht haben, und in der Verwandlung begriffen, die in kurzer Zeit vollendet wird, gehen sie im Winter und ersten Frühjahre stromabwärts. Aus der Deime und den Memelmündungen haben wir hunderte solcher Flussneunaugen in allen Stadien und Kritik. 407 der Verwandlung erhalten. Wahrschein- lich verweilen sie dann mehrere Jahre in der See, ehe sie zum Laichen in die Flüsse zurückkehren.» Dadurch wäre also die frühere Annahme widerlegt, nach welcher man glaubte, die Neun- augen verbrächten, wie die Schmetter- linge, den grössten Theil ihres Lebens im Larvenzustande, und stürben bald, nachdem sie ihre letzte Wandlung durch- gemacht hätten und geschlechtsreif ge- worden seien. Die reichliche zweite Hälfte Buches ist der Fischerei gewidmet, der eine allgemeine Schilderung der Ge- wässer dieser Provinz (S. 219 — 264) und eine Geschichte der Fischerei in Ost- und Westpreussen (S. 265—331) vorausgeht. Den Beschluss machen zwei ausführliche Kapitel über die volkswirth- schaftliche Bedeutung der preussischen Fischerei, und die Hebung derselben durch rationelle Bewirthschaftung und durch die künstliche Fischzucht (S. 412—514), welche letztere eine sehr eingehende und sachgemässe Darstellung, nach den neuesten Erfahrungen, nebst genauer Beschreibung und Abbildungen der be- währtesten Vorrichtungen hierfür er- fährt. Ueberhaupt sind alle Theile des Werkes, mit Ausnahme der rein geo- graphischen und historischen, reichlich durch vortreffliche, neugezeichnete Holz- schnittabbildungen illustrirt, so dass die Bestrebungen des Verfassers und Verlegers nach allen Richtungen die wärmste Anerkennung verdienen. des Enceyclopädie der Naturwissen- schaften. Erste Abtheilung. Liefe- rung 17—22.. Breslau, Verlag von Eduard Trewendt, 1881. Das Erscheinen von sechs stattlichen Lieferungen dieses grossartig angeleg- ten Unternehmens innerhalb eines halben Jahres liefert wohl den besten Beweis für das rüstige Fortschreiten desselben. 408 Dadurch wird das von G. JÄGER heraus- gegebene Handwörterbuch der Zoologie, Anthropologie und Ethnologie bis zu dem Artikel »Ötenophorae« fortgeführt, | und von dem Handbuch der Botanik ist die erste Lieferung des zweiten Bandes erschienen, welcher die Pflanzenphysio- logie enthalten wird. Diese erste Liefer- | ung eröffnet die Physiologie der Er- nährung von Prof. DETMER in Jena, und behandelt im ersten Abschnitte die Nähr- stoffe, im zweiten die Molekularkräfte und im dritten den Stoffwechsel der Pflanzen. Am meisten gefördert erscheint von den drei gleichzeitig in Angriff ge- nommenen Abtheilungen, das Handbuch der Mathematik, welchem von den vor- liegenden Lieferungen drei angehören, welche die analytische Geometrie und die Differentialrechnung, beide von Prof. R. Hrser in Dresden bearbeitet, ent- halten. Die europäischen Torfmoose. Eine Kritik und Beschreibung derselben von ©. Warnstorr. 152 S. in 8°. Berlin, Theobald Grieben, 1881. Die kleine auch geographisch und geologisch interessante Gruppe der Torf- moose erfährt in dieser kleinen Schrift eine umsichtige, und soweit es die euro- päischen Arten betrifft, eingehende Be- arbeitung nach dem neuesten Stand- punkte der Mooskunde. Dem Darwi- nisten wird es sympathisch sein, die zahlreichen Formen als Varietäten auf Litteratur und Kritik. ungefähr ein Dutzend Artkreise zurück- geführt zu sehen. Uebrigens schliesst sich der Verfasser der Ansicht ScHim- pPER’s an, nach welcher die Torfmoose als eine besondere Klasse, neben den Laub- und Lebermoosen zu behandeln wären, und zeigt in einer besonderen Tabelle, die ziemlich in allen Theilen, Organen und Vegetationsverhältnissen merklichen Abweichungen derselben von den beiden anderen Klassen. Johnston’s Chemie des täglichen Lebens. Neu bearbeitet von Dr. Fr. Dorsgrürn. Mit ca. 100 Abbildun- gen. Lieferung 1—4. Stuttgart, Carl Krabbe, 1881. Mehr als ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit die erste Ausgabe die- ses Buches erschien, und sogleich eine Anzahl deutscher Bearbeitungen hervor- rief, welche, wie die Wourr’sche und Hanmm’sche, entschieden Verbesserungen des Öriginalwerkes waren. Dies wird in noch erhöhtem Maassstabe von der neuen Ausgabe gelten, und sie konnte thatsächlich in keine bessere Hände gerathen, als in diejenigen DoRNBLÜTH’S, der, wie auch die vorliegenden Liefer- ungen bereits bezeugen, der rechte Mann ist, diese Darstellungen mit ihrer glück- lichen Anlage und ihren richtigen Ge- sichtspunkten auf den heutigen Zu- stand des Wissens zu erheben. Jeder Volksfreund wird dem Werke die wei- teste Verbreitung wünschen. H. Spencers Ansichten über Egoismus und Altruismus. Von Dr. B. Anders. Der Name HERBERT SPENCER hat, nicht blos in England und Amerika, son- dern auch auf dem Continent einen guten Klang. Seine »Grundlagen der Philoso- phie < zeigten in ihm einen Gelehrten, wel- cher philosophischen Esprit mit gründ- lichster Kenntniss der Naturwissenschaf- ten verbindet, seine » Principien der Socio- logie« fanden die eingehendste Be- achtung bei unseren Sociologen, und seine Schriften über Erziehung sind viel- leicht das Bedeutendste, was über diesen Gegenstand seit Locke in England ge- schrieben ist. Die vor zwei Jahren er- schienenen »Thatsachen der Ethik« wa- ren von der gelehrten Welt auf beiden Continenten mit Spannung erwartet. Handelte es sich doch nach des Ver- fassers eigenen Worten um nichts Ge- ringeres als um die »Aufstellung von Gesetzen des guten Handelns auf wis- senschaftlicher Grundlage. Jetzt da die sittlichen Gebote allmählich immer mehr die Autorität verlieren, die ihnen bis- her kraft ihres vermeintlich heiligen Ur- sprunges zukam, erscheint die Säkulari- sirung der Sittlichkeit durchaus gebo- ten. Kaum mag etwas verderblichere Folgen haben, als wenn ein nicht mehr zulängliches Gesetzsystem verfällt und abstirbt, bevor ein anderes passenderes Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). an dessen Stelle zur Ausbildung gelangt ist, um es zu ersetzen«. So seine eige- nen Worte in dem Vorwort. Wenn wir uns an diesem Orte begnügen, die Ideen H. Spencer’s über Egoismus und Altruis- mus zu reproduciren, so glauben wir dem Leser nicht bloss ein aus dem Ganzen herausgerissenes Theilchen zu bieten — es ist der Kernpunkt der Ethik, den wir mit der Gegenüberstellung dieser beiden vitalen Mächte betreten. Der Verfasser setzt im XI. Capitel die Ansprüche und den Einfluss des Egoismus auseinander. Ein Geschöpf muss leben, bevor es thätig ist. Die Pflicht der Selbsterhaltung ist für alle lebenden Wesen eine conditio sine qua non; sie ist dringlicher als die Hand- lungen, welche durch das Leben erst ermöglicht werden. »Die zur fortgesetz- ten Selbsterhaltung erforderliche Thä- tigkeit mit Einschluss des Genusses von durch solche Thätigkeiten erlangten Vor- theilen sind die allerersten Vorbeding- ungen der allgemeinen Wohlfahrt.« Der Kenner darwinistischer Anschauungen weiss, dass alles frühere Leben — wie das jetzige — nur so sich entfaltet hat, dass dem Naturgesetze Rechnung ge- tragen wurde: Vortheile dem Ueberle- genen, Nachtheile dem Untergeordneten! 28 410 Nur im Einklang mit diesem Gesetze sorgt die Natur für die Forterhaltung des Lebens und — zugleich für die Er- höhung des Glückes, da ja ein grös- seres Anpassungsvermögen, welches den Ueberlegenen zukommt, zugleich die Summe der Freuden erhöht und die der Leiden vermindert. Nach verschiedenen Seiten hin zeigt sich der Egoismus oder das Streben nach individuellem Glück als allererstes Erforderniss zur Erreichung des höchsten allgemeinen Glückes. Um die Wahrheit dieser Behauptung zu zeigen führt uns der Schriftsteller das Bild zweier Individuen vor Augen. »Nach unge- störtem Schlaf aus dem Bett aufsprin- gend, singend und pfeifend während des Ankleidens, mit strahlendem Gesicht herunterkommend, bei der geringsten Veranlassung zum Lachen bereit, sehen wir den wahrhaft gesunden Menschen voll frischer Kraft, vergangener Erfolge bewusst und durch seine Energie, Rasch- heit und Erfindungsgabe vertrauensvoll auf die Zukunft gestimmt, an sein täg- liches Geschäft gehen, nicht mit Wider- streben, sondern mit frohem Muthe; und nachdem er von Stunde zu Stunde seine Befriedigung in der mit Erfolg er- ledigten Arbeit gefunden, kommt er mit einem reichlichen Ueberschuss von Ener- gie nach Hause, welche noch für alle Stunden der Musse ausreicht. Ein ganz anderes Bild bietet der, welcher durch starke Vernachlässigung seiner selbst geschwächt ist. Seine von vorn- herein mangelhaften Kräfte werden noch mangelhafter durch fortwährende An- strengungen, Dinge auszuführen, welche sich als sein Vermögen übersteigend herausstellen, sowie in Folge der daraus entspringenden Entmuthigung hinter dem niederschlagenden Bewusstsein von der unmittelbaren Zukunft lauert noch die quälende Angst vor der entfernteren Zu- kunft mit ihrer Wahrscheinlichkeit einer Häufung der Schwierigkeiten und einer noch grösseren Schwächung des Ver- mögens, denselben Trotz zu bieten. B. Anders, H. Spencer’s Ansichten über Egoismus und Altruismus. Stunden der Musse, die, wenn richtig verbracht, Freuden mit sich bringen, welche die Lebenswelle erhöhen, und die Arbeitskraft erneuern, können gar nicht ausgenützt werden: es ist nicht Frische genug vorhanden, um ein Ver- gnügen zu geniessen, das mit irgend einer Thätigkeit verbunden ist und der Mangel an froher Stimmung hindert auch ein lebhaftes Eingehen auf — passive Erholungen.< Es liegt auf der Hand, dass ein Individuum der ersten Art be- lebend und erheiternd auf seine Um- gebung einwirkt, während der an Leib und Seele Gebrochene mit seiner trüben Stimmung auch andere belästigen wird. Eine nicht geringe Bedeutung hat bei unserer Frage die Erblichkeit der Con- stitution. Ein Egoismus, der für mens sana in corpore sano sorgt, ist für die Nachkommen die Quelle unberechen- baren Glückes: wohl selten kommt wohl ein Mensch durchs Leben, ohne nicht an einem seiner Tage die Gesundheit als das höchste Gut zu preisen. Unsterblich dann auf allen Lebenswegen Begleitet euch der Ahn mit semem Segen sind Worte W. JorpAn’s, die auch in unserem Sinne ihre vollste Berechtigung haben. Um solchen Egoismus zu er- zielen, muss man darnach trachten, die Bedürfnisse zu erfüllen, welche mit der Ausübung aller Functionen inZusammen- hang stehen, ferner sich allen Freuden hinzugeben, welche das Leben, bietet. Denn — sagt SPENCER — diese haben nicht blos die Wirkung, den Strom des Lebens zu verstärken und die con- stitutionelle Frische zu erhalten, son- dern sie bewahren und erhöhen auch das Vermögen, für Freuden empfäng- lich zu sein. Ein normaler Egoismus ist der Welt ausserdem noch dienlich insofern, als derselbe sich die Kräfte bewahrt, altruistische Thätigkeiten entfalten zu können, der schwächere, also weniger egoistische Mensch — ver- liert die Fähigkeit, andern zu nützen. B. Anders, H. Spencer’s Ansichten über Egoismus und Altruismus. 411 Wer durch das Leben hindurchge- | der Verfasser seiner Erklärung des Be- gangen ist, wird selbst sich eine ein- schlagende Beispielsammlung ins Ge- dächtniss zurückrufen können. Ein un- gehöriger Egoismus, d. h. ich meine in diesem Falle einen solchen Egois- mus, der sich dem Altruismus zu sehr unterordnet, ist für die Zeitgenossen und Nachkommen schädlich. Dasseineun- terschiedslose Wohlthätigkeitserweisung Demoralisation bei den Empfängern her- vorruft, ist eine überall bekannte That- sache. Beachtenswerth sind auch noch die entfernteren Resultate eines zu grossen Altruismus. Wenn der Trieb, für Andere sich zu opfern, so gross wird, dass der Körper in Folge physi- scher Anstrengungen verkümmert, so entsteht die Tendenz zur relativen Ab- nahme in der Anzahl der altruistischen und damit zu einem bedeutenderen Ueberwiegen der egoistischen Indivi- duen. Auf diese Weise sorgt die Natur dafür, dass die Zahl der Unegoistischen und Egoistischen in dem Verhältniss zu einander stehen, welches die höchst- möglichste Ausnutzung des Lebens zu er- zielen im Stande ist. Das XII. Kapitel der Ethik SpenceEr’s führt den Process des Altruismus contra Egoismus. Aengstliche Gemüther, welche in dem Auftauchen der modernen natur- wissenschaftlichen Anschauungen über- haupt und deren vermeintlich streng lo- gischen Consequenzen auf ethischem Ge- biete eine Verbestialisirung menschli- cher Gesinnung befürchten, werden gut thun, dieses zwölfte Kapitel mit Auf- merksamkeit zu lesen, um kennen zu lernen, wie der Mechanismus unserer sittlichen Einrichtungen vor erheblichen dauernden Störungen hinreichend ge- sichert ist, durch Anlagen, die in dem Charakter alles Lebens selbst wurzeln. Zunächst was ist Altruismus? Wir erhalten bei Spencer die Definition: Jede Handlung, welche im normalen Laufe der Dinge Andern Nutzen schafft statt dem Handelnden selbst. Nachdem griffes noch hinzugefügt hat, dass er nicht blos an mit Bewusstsein verbundene Thätigkeit denke, sondern auch an auto- matische, selbst rein physische Processe, bespricht er zuerst den Altruismus in primitivster Form. Er erinnert an die Entstehungen der einfachsten Wesen durch spontane Theilung, bei welcher jedes einzige Stückchen der Keim eines Jungen ist, an die Ausbildung der Eier im elterlichen Körper, welcher seine Nährstoffe ausschliesslich zu Gunsten der Nachkommenschaft verwerthet. Bei den höher organisirten Thieren finden wir den Altruismus als directe Hingabe eines Körpertheiles thätig, aber verbunden mit der Hülfeleistung des übrigen Kör- pers. Man vergesse nämlich nicht, dass auch die bei der Pflege der Nachkom- menschaftgemachten Anstrengungen Aus- gabe elterlicher Substanz sind. In wel- che Aufregung sehen wir Geschöpfe aus diesen Klassen gerathen, wenn sie ihre Jungen in Noth erblicken oder von ihnen getrennt werden! Es spielt somit die Selbstaufopferung eine ebenso wichtige Rolle in dem Haushalt der Natur, als die Selbsterhaltung. Altruismus und Egoismus entwickeln sich mit einander. Nur unter dem Zusammenwirken beider Factoren konnte alles organische Leben unserer Erde sich entfalten. Jede Species verliert — wie wir oben sahen — die in nicht normaler Weise Egoistischen, verliert aber auch die in nicht normaler Weise Unegois- tischen, denn eine Nichtausübung alt- ruistischer Thätigkeit führt entweder den Tod oder schlechte Ernährung der Nach- kommenschaft herbei, somit indirect eine Abnahme des Egoismus überhaupt. Unbewusster und bewusster elter- licher Altruismus sind Vorstufen des socialen Altruismus; letzterer entfaltet sich jedoch nur da, wo der bewusste elterliche Altruismus in ergiebiger Weise gepflegt ist. Nicht wo Polygamie oder Polyandrie herrscht, finden wir das 28* 412 System des socialen Altruismus in der Vollendung zustrebender Form, nur monogamistische Staaten lassen den so- cialen Altruismus am besten sich ent- wickeln. Die voraufgehenden Medita- tionen führen uns von selbst auf eine Untersuchung der Beziehungen zwischen persönlichem Wohlbefinden und der Rücksicht auf Andere. Ein normales Verhältniss kann zwi- schen beiden Factoren nur herrschen, wenn den seitens des Altruismus ge- machten Anstrengungen correspondi- rende, äquivalente Vortheile gegenüber- stehen. So gelangen wir zu einem Al- truismus, der zum gerechten Handeln antreibt, der Gerechtigkeit im Verkehr erzwingt und die Mittel, durch welche Gerechtigkeit geübt wird, hochhält und verbessert. Der Verfasser erläutert diesen Satz durch Beispiele. Um unser per- sönliches Interesse an den Handlungen der Mitmenschen zu zeigen, deutet er darauf hin, wie z. B. die Preise der Kunden desto höher sein müssen, je grösser die Zahl der unbezahlten Kauf- mannsrechnungen sind, wie der Zins- fuss steigt, je weniger zuverlässig die Leute sind. Ein Mann, welcher dem Vaterland seine Dienste entzieht, ver- kennt, dass das Fortbestehen seines eigenen Geschäftes abhängt von dem gesunden socialen Zustande; welche Ge- fahr droht dem Staate, wenn viele Männer ähnlich handeln und Abenteu- rern ihren Platz am Staatsschiff über- lassen! Wir haben die Beziehungen zwischen den in Frage kommenden Fac- toren hiermit noch nicht erschöpft. Nicht ohne für uns Vortheile zu erlangen, schicken wir Geld und Lebensmittel an Kranke — wir verringern die Möglich- keit, dass die Epidemieen auch zu uns gelangen. Es ist unser eigenstes In- teresse, wenn wir für Abnahme der Dummheit im Staate sorgen durch tüch- tigen Unterricht — wir werden vor man- chen wirthschaftlichen Uebeln dadurch bewahrt. Die Dressirung und Gewöh- B. Anders, H. Spencer’s Ansichten über Egoismus und Altruismus. | nung der Jugend an Pünktlichkeit und Ordnung kommt uns zu gute — wie oft werden unsre Plane durchkreuzt durch das Mangeln dieser Eigenschaften bei unsern Mitmenschen. »Bald ist es die Unzuverlässigkeit einer Herrschaft, die einem schlechten Dienstboten ein gutes Zeugniss ausstellt, bald ist es die Unachtsamkeit der Waschfrau, welche die Wäsche zu Grunde richtet, indem sie Mittel anwendet, um sich die Arbeit des Waschens zu ersparen, oder es ist die absichtliche Täuschung durch Mit- reisende auf der Eisenbahn, welche ihre Mäntel ausbreiten, um Einen glauben zu lassen, dass alle Plätze im Coup& be- setzt sind, während dies doch nicht der Fall ist.< Dass selbstloses Handeln weit eher als starrer Egoismus im Stande ist, Sympathien und Wohlwollen bei der Umgebung zu erregen, ist eine bekannte Thatsache — der unsympathische Mensch entfremdet sich von seinen Kollegen, seinen Verwandten, man fühlt sich nicht heimisch in seiner Nähe, ist er in Noth, so rührt sein Elend nicht. Altruistische Freuden haben vor den egoistischen den Vorzug, dass sie nicht wie die egois- tischen im Alter abstumpfen, sie er- setzen dann sogar die egoistischen Ge- nüsse. Der gehörig altruistische Mensch wird mehr ästhetische Genüsse haben, als der egoistische, sein Gefühl ist hin- länglich ausgebildet, um eine Welt von Interesse an den alltäglichen Leiden und Freuden seiner Mitmenschen zu finden. In einer Anmerkung, die SPENCER seiner Schrift angehängt hat, deutet er noch auf die wichtige Thatsache hin, dass egoistische Menschen gewöhnlich egoistische Nachkommen haben werden ; die Vernachlässigung altruistischer Thä- tigkeiten der Eltern ruft Streit und Zank in der Familie hervor, schlechtes Aus- kommen der Kinder ihren Vorgesetzten gegenüber und hat zur Folge, Vernach- lässigung der Eltern im Alter. Der Anwendung dieser so explieirten Wahrheiten auf das Verhältniss zwischen B. Anders, H. Spencer’s Ansichten über Egoismus und Altruismus. grösseren Staaten untereinander, wid- met der Philosoph die letzten Zeilen im XII. Kapitel. Wir würden das Ge- biet der Nationalökonomie betreten, wenn wir des Näheren ausführen wollten, wie Verarmung des inneren Landes schwere Nachtheile für das Volk her- beiführt, welches mit demselben in Han- delsverkehr steht — der Mangel eines gehörigen Altruismus des einen Volkes würde die Leiden bald über sich selbst heraufbeschwören. Das XIII. Kapitel trägt die Ueber- schrift Untersuchung und Compromiss. Dass ein reiner Egoismus nicht zulässig ist, haben wir gesehen; dass ein reiner Altruismus sich nicht auf die Dauer auf- recht erhalten lassen kann, leuchtet gleichfalls ein, wenn wir uns die Un- geheuerlichkeit vorstellen, alle sollen zu gleicher Zeit im höchsten Grade un- egoistisch und im höchsten Grade ego- istisch sein — bereit, sich selbst zu Gun- sten Anderer schädigen und zugleich be- reit, Vortheile auf Kosten Anderer an- zunehmen. Es ist ein Compromiss nöthig zwischen beiden Factoren und diesen glaubt Spencer zu finden, wenn er den Satz aufstellt: Allgemeines Glück ist hauptsächlich durch ein entsprechendes Streben aller Individuen nach ihrem eigenen Glücke, das Glück der Indivi- duen zum Theil durch ihr Streben nach dem allgemeinen Glück zu erreichen. Indem er einen Rückblick auf den Gang der socialen Entwickelung unserer Ver- hältnisse wirft, findet er, dass »die Rück- sicht auf das Wohlergehen Anderer pari passu mit der Vermehrung der Hülfs- mittel zur Sicherung des persönlichen Wohlergehens zugenommen hat, und zwar nicht blos innerhalb eines und desselben Volkes, sondern überhaupt auf inter- nationalem Gebiete. « Altruismus und Egoismus stehen so einander aber immer noch schroff ge- genüber. Wie ist es möglich, dass der Widerstreit beider zur Harmonie sich ausgleicht? Einen Zipfel vom Ariadne- 415 | faden findet Spencer, wenn er an die Aussöhnung zwischen den Interessen der Erzeuger und der Nachkommen erinnert: die altruistischen Bemühungen zu Gun- sten der Jungen werden unter Befriedi- gung elterlicher Instinkte ausgeführt. Bei höher entwickelter Sympathie glaubt er die Zeit voraussagen zu können, wo auch der sociale Altruismus dem elter- lichen ziemlich gleich kommen werde, wo die Sorge für das Glück Anderer zum täglichen Bedürfniss geworden ist. Das ist in der That ein hohes Ideal, dem unleugbar die Besten unserer Zeit der blut- und eisenstarrenden nach- streben. Eine höchst möglichste Entfaltung altruistischer Thätigkeit erhofft Spencer besonders dann, wenn das Mitgefühl oder die Sympathie sich noch mehr wie augenblicklich jetzt ausgebildet hat — bei vermehrter Anwendung der natür- lichen Sprache der Gefühle bei den Mit- gefühl erregenden Menschen und Ver- stärkung des Vermögens, dieselbe zu verstehen, bei dem Mitgefühl empfin- denden Menschen. Da nun Handlungen, die durch das Gefühl für die Mitmen- schen veranlasst sind, ganz besonders zu den von der socialen Bedingung ge- forderten gehören und diese — wie in dem Abschnitte über Relativität von Freuden und Leiden des Näheren aus- geführt ist — zur Quelle von Freuden werden können, so liegt es klar auf der Hand, dass im Laufe der Zeit die Menschen immer mehr darnach trachten werden, Freuden des Mitgefühls schaf- fende Handlungen zu begehen. Die Ver- söhnung zwischen Altruismus und Ego- ismus wird sich dann nach objectiver und subjectiver Seite hin in gleich be- friedigender Weise zeigen. »Vom sub- jeetiven Standpunkt aus betrachtet wird sich die Versöhnung derart darstellen, »dass das Individuum nicht mehr be- ständig zwischen den auf sich und den auf andere bezüglichen Impulsen hin und her schwanken muss, sondern es werden 414 im Gegentheil die Genüsse, welche aus den Impulsen zu Gunsten Anderer ent- springen und Selbstaufopferungbedingen, selten sein und daher hoch geschätzt und so unbedenklich vorgezogen werden, dass der Widerstreit der auf das Ich bezüglichen Impulse mitjenen kaum fühlbar wird. Ferner werden sich wohl altruistische Freuden einstellen, doch wird der Beweggrund zum Handeln nicht bewussterweise die Erlangung al- truistischer Freuden sein, sondern das Streben Andern Freude zu bereiten. In objeetiver Hinsicht wird sich die Ver- söhnung so gestalten, dass jeder nicht mehr seine egoistischen Ansprüche zu erfechten nöthig hat, vielmehr darnach trachten wird, dieselben zu Gunsten Anderer aufzuopfern. Da ihm die An- deren dies zu thun immer weniger ge- statten werden, da sie gleicher Natur sind, so wird jeder sich der Früchte egoistischer Thätigkeit erfreuen können. Doch dies ist noch nicht alles. > Wie in einem früheren Stadium die egois- tischen Bestrebungen, nachdem sie erst einen Compromiss erreicht, wonach kei- ner mehr als einen billigen Antheil be- ansprucht, später sich bis zu einer sol- chen Versöhnung erheben, dass Jeder u B. Anders, H. Spencer’s Ansichten über Egoismus und Altruismus. sich darum bemüht, auch Jedem Ande- ren seinen billigen Antheil zu verschaffen, so werden in einem späteren Stadium auch die altruistischen Bestrebungen, nachdem sie erst den Compromiss er- reicht, wonach Jeder sich davor hütet, einen ungebührlichen Antheil an altru- istischen Genüssen für sich zu bean- spruchen, schliesslich zu einer solchen Versöhnung gelangen, dass Jeder da- für Sorge trägt, dass Jeder Andere gleichfalls Gelegenheit zu altruistischen Genüssen finde: der höchste Altruismus besteht ja eben darin, dass er nicht bloss die egoistischen, sondern auch die altruistischen Genüsse Anderer zum Gegenstande seiner Fürsorge macht.« Wirdesmöglichsein, dass dieMensch- heit noch einmal eine solche Stufe der Vollkommenheit erklimmen wird? In Beantwortung dieser Frage, die gewiss jedem Leser auf den Lippen schwebt, verweist der geistreiche Verfasser der Thatsachen der Ethik auf die grosse Länge derEntwickelungsbahn derMensch- heit, den Muth, solche stolzen Zukunfts- gebilde zu zeichnen, gewährt ihm seine Zuversicht: wessen die beste mensch- liche Natur fähig, sei auch der Men- schennatur im Allgemeinen erreichbar. ’*. ne a; Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Von Dr. Hermann Müller. (Schluss.) 4. Verschiedene Blumenthätigkeit der Männchen und Weibchen. In seinem Aufsatze » Paltostoma tor- rentium. Eine Mücke mit zwiegestal- tigen Weibchen« (Kosmos Bd. VII, S. 37—42) geht mein Bruder Frrırz MÜLLER zur Erklärung der Zwiegestal- tigkeit der Weibchen dieser Mückenart von einem Gesichtspunkte aus, der für die Beurtheilung der Blumenthätigkeit der Insekten überhaupt und der Zwei- flügler insbesondere von höchster Be- deutung ist, nämlich von der verschie- denen Nahrungsbedürftigkeit der Männ- chen und Weibchen. Von ursprünglich blutsaugenden Di- pteren konnten die Männchen, da sie kurzlebig sind und nur für sich selbst zu sorgen haben, viel leichter ihrer stickstoff- reichen Nahrungsquelle sich entschla- gen und an den Genuss von Blumennek- tar gewöhnen als die Weibchen, welche Eier zu zeitigen haben und überwintern müssen. So erklärt sich, dass von man- chen ursprünglich aller Wahrscheinlich- keit nach in beiden Geschlechtern blut- saugenden Zweiflüglern (Stechmücken, Bremsen u. s. w.) nur noch die Weib- chen Blut saugen und mit Mandibeln ausgerüstet sind, wogegen die Männ- chen Blumennektar saugend angetroffen werden und jener ihren blutsaugenden Weibchen eigenthümlichen Werkzeuge entbehren. So lässt sich auch die Möglichkeit einsehen, dass von einer ursprünglich in beiden Geschlechtern blutsaugenden und mit entsprechenden Mundtheilen ausgerüsteten Mücke oder Fliege, die Männchen und ein Theil der Weibchen zur Blumennahrung und ent- sprechenden Anpassung der Mundtheile übergegangen sind, während ein anderer Theil der Weibchen im ursprünglichen Zustande verharrt. In diesem Falle befindet sich nach meines Bruders Auf- fassung Paltostoma torrentium. Bei der grossen Tragweite dieser Erklärung muss es wünschenswerth er- scheinen, als Stütze der ihr zu Grunde liegenden Annahmen weitere, und zwar möglichst sorgfältig beobachtete That- sachen aus dem Leben Blut und Nektar saugender Dipteren beizubringen. Vor allem sollte, wenn es nicht gelingt, die Lebensweise von Paltostoma torrentium selbst festzustellen, der sichere Nach- weis geliefert werden, dass es sonstige Dipteren gibt, deren Männchen sich ausschliesslich mit Blumennahrung be- köstigen, während ihre Weibchen theils Blut saugen, theils Nektar geniessen. Indem ich meine auf Blumen ge- sammelten Zweiflügler von diesem Ge- 416 sichtspunkte aus durchmustere, finde ich unter den Bremsen zwei Arten (Ta«- banus rusticus F. und infuscatus Lorw), von denen ich sowohl Weibchen als Männchen (letztere allerdings in grös- serer Zahl) Blumennektar saugend be- obachtet habe. Es ist nun zwar von vorn herein zu vermuthen, dass die Weibchen dieser beiden Arten daneben auch noch Blut saugen, wie es andere Bremsenweibchen thun, und sobald eine direkte Beobachtung diese Vermuthung bestätigte, wäre damit der verlangte Nachweis geliefert. Bis jetzt aber fehlt diese direkte Beobachtung; ich habe beide Arten überhaupt nur auf Blumen Honig saugen sehen. Die Mitbetheiligung ihrer Weibchen am Blumenbesuche lässt sich also nur als Wahrscheinlichkeits- grund, nicht als Beweis ihrer zwiefachen Lebensweise geltend machen. Beweisend dagegen für die Rich- tigkeit der Annahme, dass es Dipteren giebt, deren Männchen ausschliesslich Blumennektar saugen, während die Weib- chen theils ebenfalls dem Honige der Blumen nachgehen, theils aber auch Blut saugen, ist folgende Beobachtung, die ich eben desshalb in grösserer Aus- führlichkeit hier mittheilen will. Am 26. Mai stehe ich an einer blü- henden Weissdornhecke, um die in die- sem Jahre ungemein spärlichen Insekten in ihrer Blumenthätigkeit zu belauschen. Auf einer Blüthe, die ich ins Auge ge- fasst habe, sitzt unsere langrüsseligste und blumentüchtigste Schwebfliege, Rhin- gia rostrata, die an Geschicklichkeit im Auffinden und Ausbeuten tiefgeborgenen Blumenhonigs selbst mit ausgeprägten Bienen wetteifert. Erst senkt sie wieder- holt ihren lang ausgestreckten Rüssel in den Kelchgrund hinab und saugt Nektar; dann greift sie mit den Klappen an der Spitze ihres Rüssels nach dem einen und anderen Staubgefäss und langt sich Pollenkörner zu. Während ich Be- trachtungen darüber anstelle, wie sie bei ihrer ganzen Blumenarbeit in Folge ihres Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. langen Rüssels freie Umschau behält und ihre persönliche Sicherheit wahrt, nähert sich ihr unvermerkt von der rechten Seite eine weibliche Eimpis punc- tata, die ihr an Körpergrösse weit nach- steht und packt plötzlich ihren rechten Flügel. Die Rhingia steht wie festge- bannt und bewegt sich kaum von der Stelle. Im Nu ist der erfasste Flügel zerknittert und wagrecht ausgereckt, und die Empis rückt nun der Rhingia auf den Leib. Zuerst stösst sie ihr mit ihrem starren, nach unten gerich- teten Rüssel sehr wiederholt unten an die Seite des Thorax und in den Ein- schnitt zwischen Brust und Hinter- leib, während sie den Flügel noch zwi- schen ihren Beinen hat. Dann steigt sie, Schritt für Schritt, der Rhingia auf den Rücken, immer fort mit dem dolch- förmigen Rüssel nach unten stossend, aber auf der Rückseite des Thorax an- scheinend ohne irgend welchen Erfolg. Endlich steht sie ganz aufihrem Rücken und stösst ihren Dolch erfolgreich in die dünne Haut, durch welche der Kopf mit dem Thorax verbunden ist. Der rechte Flügel der Rhingia ist jetzt zwar wieder frei, aber noch zerknittert, die Rhingia ist nur schrittweise langsam weiter vor- gerückt; vielleicht haben die ersten Dolchstiche ihr auch die Beine gelähmt. Nun ist sie mit der auf ihr sitzenden Empis auf die Unterseite der Blüthe angelangt und hat sich so meinen Blicken entzogen. Ich schneide vorsichtig den Zweig ab und kehre ihn um, um meine Beobachtung fortzusetzen, da fliegt die Empis mit ihrer Beute davon. ? Da ich bis dahin Empis-Arten immer nur eifrig Blumennektar saugend beob- achtet hatte, obgleich ich aus entomolo- gischen Büchern wohl wusste, dass sie auch »vom Raube leben« sollen, so schaute ich nun auf den Weissdorn- blüthen neugierig weiter nach den hier zahlreich vorhandenen Zmpis und Rhin- gia umher, bis leider schon nach einer halben Stunde ein einbrechendes Ge- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. witter meinen Beobachtungen ein Ende setzte. Während dieser kurzen Zeit hatte ich noch fünfmal Gelegenheit, Empis punctata mit dem Ermorden und Aussaugen von Rhingia rostrata beschäf- tigt zu sehen, obgleich ich nie wieder Augenzeuge ihres ersten Angriffes war. Diese fünf weiteren Exemplare von Rhin- gia waren sämmtlich schon zur Ruhe gebracht, als ich sie antraf, und zeigten, wenn ich sie in die Hand nahm und mit dem Finger berührte, nur noch schwache Bewegungen des einen oder anderen Beines oder des Rüssels. Eine der mörderischen Empis war in ihr Ge- schäft so vertieft, dass sie sich durch- aus nicht stören liess, als ich die von ihr besetzt gehaltene Rhingia an den Flügeln fasste, zwischen den Finger- spitzen vor meine Augen hielt und mi- nutenlang mit der Lupe betrachtete. Ich konnte so ganz genau sehen, wie die Empis mit dem obersten harten und spitzen Theile ihres Rüssels auf der ganzen unteren Körperoberfläche der Rhingia herumstocherte, besonders eif- rig an den Einschnitten zwischen den Ringen der Chitinbekleidung. Ich sah sie aber nur zwischen Kopf und Thorax an mehreren Stellen mit ihrem Dolche (der Oberlippe und dem unter derselben liegenden unpaaren Stücke) die Haut durchdringen und dann jedesmal wieder- holt diesen Dolch tiefer hineinstecken, während die unteren weicheren Theile des Rüssels (die beiden Kieferpaare: Unter- - kiefer und Unterlippe) aussen bleiben. Ausser den 6 Exemplaren von Rhin- gia, an denen ich die Mörderin noch in Thätigkeit traf, fand ich noch 4 an- dere bereits verlassen und bewegungs- los auf den Weissdornblüthen, eine auf Berührung noch mit schwacher Beweg- ung eines Beines antwortend. Zahlreiche Männchen und Weibchen der Empis punctata sassen auf den Weiss- dornblüthen, die Männchen sämmtlich nektarsaugend oder im Sonnenschein rastend, die Weibchen in geringer Zahl 417 mit Nektarsaugen beschäftigt, die mei- sten in lauernder Stellung. Alle 6 Exem- plare von Empis punctata, die ich Rhin- gia anfallen und aussaugen sah, waren Weibchen. Auch eine nicht näher unter- suchte gelbe Empis (wahrscheinlich eben- falls E. punctata), die, mit einer klei- neren Fliege aus der Familie der Do- lichopiden zwischen den Vorderbeinen, auf einer Weissdornblüthe sass, und, als ich sie ergreifen wollte, wegflog, gab sich durch das spitze Ende des Hin- terleibs als Weibchen zu erkennen. Wenn es hiernach auch sehr zweifelhaft bleibt, ob gewisse Weibchen von Eimpis punctata nur dem Raube, andere nur dem Blumenhonige nachgehen, so geht doch so viel aus der mitgetheilten Be- obachtung wohl mit Sicherheit hervor, dass ihre Männchen ausschliesslich Blu- mennektar saugen, während ihre Weib- chen theils vom Safte erbeuteter In- sekten, theils vom Honige besuchter Blumen sich nähren, und das würde wenigstens leicht zu einer Spaltung in blutsaugende und nektarsaugende Weib- chen mit verschiedener Ausbildung der Mundtheile führen können. Damit ist aber die wesentlichste Schwierigkeit, die man in der von meinem Bruder gege- benen Erklärung der Zwiegestaltigkeit der Weibchen von Paltostoma torrentium finden könnte, aus dem Wege geräumt. Während hiernach bei einem gros- sen Theile der Dipteren der erste Er- werb einer gewissen Blumentüchtigkeit von den Männchen ausgegangen zu sein scheint, liegt der Fall in der Abtheil- ung der Hautflügler gerade entgegen- gesetzt. Die stufenweise Ausbildung immer höherer körperlicher und geistiger Aus- rüstungen, immer grösserer Blumentüch- tigkeit, die wir im Wespenstamme von den pflanzenanbohrenden Blatt- und Gall- wespen bis zu den Grabwespen und Bienen, in der Bienenfamilie von Pro- sopis bis zu Anthophora und Bombus auf- wärts verfolgt haben, ist, wie wir sahen, 418 in erster Linie durch die den Weib- chen allein zufallende Sorge für die Nach- kommenschaft bedingt gewesen. Dieser Sorge haben die Schlupfwespen und ihre Descendenten ihre Behendigkeit und Uebung in umsichtigem Umhersuchen, die Grabwespen und deren Abkömm- linge das Höhlengraben, das Einbringen der Brutkost in die Höhlen, die rast- lose Eile aller ihrer Thätigkeiten zu ver- danken; diese nämliche Sorge für die Nachkommenschaft hat die Stammeltern der Bienen angetrieben, als Larvenfutter statt lebender Beute Pollen und Honig einzutragen und sie dadurch aus Grab- wespen zu Bienen gemacht; dieselbe Sorge endlich hat unter den Bienen einen immer ernsteren Wettkampf um die Blumennahrung hervorgerufen und die Ausprägung immer blumentüchtigerer Rassen mit immer längeren Rüsseln und immer vollkommeneren Pollensammel- apparaten zur Folge gehabt. Ebenso ist es nur der gesteigerte Fortpflanzungs- trieb der Weibchen gewesen, der zur Massenaufziehung von Jungen und da- mit zur Staatenbildung und zu jenen weiteren Steigerungen des Eifers und der Einsicht im Ausbeuten der Blumen- welt geführt hat, die uns bei Hummeln und Honigbienen entgegentreten. Wenn daher von Weibchen erwor- bene Eigenthümlichkeiten auch nur auf | Weibchen sich weiter vererben könnten, so würden bis zu den ausgeprägtesten Bienen aufwärts die Männchen so kurz- rüsselig, so nacktleibig und so blumen- untüchtig geblieben sein, wie ursprüng- lich im Wespenstamme Weibchen und Männchen gewesen sind. Aber gerade die Bienenfamilie giebt uns, wie ich an einer anderen Stelle* eingehender ge- zeigt habe, die unzweideutigsten Be- weise, dass Ausrüstungen des einen Ge- schlechts auch auf das andere über- tragen werden, bisweilen mehr oder weniger abgeschwächt, bisweilen aber “ Anwendung der Darwin’schen Lehre auf Bienen (Verhdl. des naturhist. Vereins Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. auch in voller Ausbildung. Findet sich doch bei Bombus lucorum sogar das Sam- melkörbcehen der Hinterschienen, welches unter allen Pollensammelapparaten der Hinterbeinsammler die höchste Stufe ein- nimmt, bei dem Männchen, dem es völlig nutzlos ist, in ebenso vollkommener Ausbildung wieder wie beim Weibchen, dem es allein seine Ausprägung ver- dankt. Eine so vollkommene Uebertragung eines speciell ausgearbeiteten Organes, das ausschliesslich dem einen Geschlechte dient, auf das andere, gehört nun aller- dings zu den seltenen Ausnahmen. Inder Regel hat dasBienenmännchen von einem besonderen Pollensammelapparate nichts oder nur schwache Andeutungen aufzu- weisen, und nur die Fersenbürsten und die allgemeine Bekleidung des Körpers mit Federhaaren sind von der Mutter her auch ihm zu Theil geworden, aber selbst diese in weniger geregelter Ausbildung. Wesentlich anders dagegen verhält es sich mit allen denjenigen Ausrüstungen, die zwar eben so unzweifelhaft von den Weibchen erworben worden sind, aber doch auch den Männchen zu gute kom- men, wie z. B. mit den Vervollkomm- nungen des Saugapparates. Sie haben sich in fast allen Einzelheiten auch auf die Männchen übertragen. Selbst an Rüssellänge bleiben die Bienenmännchen hinter ihren Weibchen kaum mehr zu- rück als an Körpergrösse überhaupt. Dem entsprechend dürfen wir erwarten, dass sich auch die von dem Weibchen erlangte Fähigkeit, tiefgeborgene Nek- tarien zu entleeren, in nur wenig ab- geschwächtem Zustande auch auf die Männchen vererbt haben wird, und in der That sehen wir, von Prosopis bis Anthophora aufwärts, in der Regel an den als Honigquellen bevorzugten Lieblingsblumen der Weibchen wenig- stens ab und zu auch die Männchen sich bethätigen. für die preuss. Rheinlande und Westphalen. 1872.) S. 40 fi Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Im Ganzen steht aber begreiflicher Weise die Blumenthätigkeit der Männ- chen hinter der der Weibchen weit zu- rück. Denn die Weibchen sind, durch die Sorge für die Nachkommen getrieben, unablässig bemüht, immer neue Futter- ladungen einzutragen, bei ihnen con- centrirt sich, abgesehen von der Wah- rung der persönlichen Sicherheit, die ganze Aufmerksamkeit auf die Blumen- arbeit. So erpicht sind sie auf die- selbe, dass sie nicht einmal zur An- lockung der Männchen und zu behag- lichem Liebesgenuss sich die Musse gön- nen, vielmehr lassen sie sich zum Theil, wie wir bei Anthophora pilipes sahen, mitten in ihrer Arbeit von den Männchen überfallen und zur Begattung zwingen. Nicht minder charakteristisch für die unverbrüchliche Arbeitstreue der weib- lichen Bienen ist es, dass bei manchen von ihnen (Panurgus, ‚Dasypoda) augenfälligste Bild angestrengter Blu- menarbeit , die schwere Pollenladung selbst oder ihre Nachahmung durch die Farbe der Sammelhaare, den Schmuck bildet, an welchem die Männchen ihre Weibchen erkennen. Den Männchen dagegen ist der Brut- versorgungstrieb gänzlich fremd; nur auf Erlangung eines Weibchens_ ist, nächst der Stillung des eigenen Hungers, ihre ganze Aufmerksamkeit gerichtet. Vom Begattungstriebe geleitet fliegen sie an den Ausschlüpfungsplätzen oder an den Lieblingsblumen der Weibchen, nach diesen ausspähend, in Bogenlinien hin und her,* nur ab und zu sich sonnend oder an einer Blume saugend. Die Befriedigung ihres geringen Nah- rungsbedürfnisses können sie mittelst des von der Mutter ererbten Saugappa- rates in der Regel auch ohne besondere Anstrengung leicht decken. Sie lassen sich daher in ihrer Blumenauswahl mehr durch den Wohlgeschmack des ihnen das * Die verschiedene Bewegungsweise der Männchen und Weibchen der Bienen habe ich an einigen Beispielen eingehender dar- 419 dargebotenen Honigs und durch die Be- quemlichkeit seiner Erlangung als durch die Reichlichkeit der Ausbeute bestimmen. In der gesammten Blumenthätigkeit Bienenmännchen und Weibchen sich daher folgende charak- teristische Verschiedenheiten erkennen: 1) Pollenblumen werden fast nur von weiblichen Bienen auf- gesucht. Das ist in dem Umfange richtig, dass sich als Besucher der den Gat- tungen Thalictrum, Anemone, Papaver, Chelidonium, Helianthemum, Agrimonia, Solanum und Verbascum angehörigen Blumenarten in den Besucherlisten mei- ner beiden Blumenwerke ausschliesslich weibliche Bienen verzeichnet finden. Jedoch bedarf der auf den ersten Blick als selbstverständlich erscheinende Satz, dass Pollenblumen ausschliesslich von weiblichen Bienen besucht werden, da diese allein Blüthenstaub für ihre Brut eintragen, nach zwei Seiten hin einer Einschränkung. Einerseits haben nämlich die un- ausgeprägtesten Bienen (Prosopis, Sphe- codes, Halictus, Andrena) die wahrschein- lich von den Grabwespen ererbte Ge- wohnheit, nicht nur Blumenhonig zu saugen, sondern auch Blüthenstaub zu fressen. Diese Gewohnheit musste bei den am tiefsten stehenden Bienen, ins- besondere bei der Gattung Prosopis, noch dadurch begünstigt werden, dass sie, in Ermangelung von der lassen besonders Sammelhaaren, den Pollen mit ihrem Munde einzusammeln genöthigt sind. Aber auch noch bei den niedersten Stufen der mit einem besonderen Pollen- Sammelapparat ausgerüsteten Bienen (Halictus, Andrena) hat sich die Ge- wohnheit des Pollenfressens, wenn auch in abnehmendem Grade, erhalten und wird bisweilen auch von den Männchen derselben ausgeübt. Auch Pollenblumen gestellt in meiner „Anwendung der darwin'- schen Lehre auf Bienen“, 420 sind daher für die Männchen der ge- nannten Bienengattungen nicht ganz ohne Ausbeute, und an Blumen von (lematis, Rosa, Spiraea und Verbascum habe ich wirklich auch Männchen der Gattungen Prosopis, Halictus und Andrena Pollen fressend gefunden. Andererseits finden sich an den Blumen einiger Papilionaceen, die keinen freien Honig absondern (Ononis spinosa, (renista tinctoria), auch von hochaus- geprägten, langrüsseligen Bienen (der Gattungen Megachile, Diphysis, Anthi- dium, Anthophora) nicht selten ebenso wohl Männchen als Weibchen ein. Offenbar haben sie kein äusseres Kenn- zeichen für die Abwesenheit des Honigs, sondern müssen sich erst durch Probiren von derselben überzeugen. Die Weib- chen entschädigen sich, nachdem sie sich von der Abwesenheit des Honigs überzeugt haben, durch Einsammeln des Blüthenstaubes. Die Männchen dagegen stellen nach einigen vergeb- lichen Proben ihre Blüthenbesuche ein, wenn sie sich auch, um den Weibchen nachzujagen, noch längere Zeit an den Stöcken umhertreiben. Ausserdem könnte man erwarten, dass männliche Bienen auch solche Blumen, die sich ihnen sofort als aus- beutelos zu erkennen geben, lediglich in der Hoffnung auf ankommende Weib- chen besuchen würden. Diese Er- wartung wird aber durch die direkte Beobachtung nicht bestätigt und scheint dem unruhigen Charakter der Bienen- männchen wenig zu entsprechen. Vom Begattungstriebe angespornt gönnen sie sich vielmehr, nach Stillung ihres Hungers, selbst auf ausbeutereichen Blumen nur kurzen Aufenthalt und verbringen den grösseren Theil ihrer Zeit mit rastlosem Absuchen der Stellen, an denen sie das Erscheinen von Weib- chen erwarten dürfen. So lange sie aber der Ernährungstrieb zum Besuche von Blumen antreibt, lassen sie sich in der Auswahl derselben weit mehr Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. als die Weibchen vom Wohlgeschmacke und der Bequemlichkeit der Erlangung der dargebotenen Nahrung leiten. Da- her werden 2) manche Honigblumen mit würzigem Dufte von den Männ- chen gewisser Bienen mit beson- derer Vorliebe, von den Weibchen derselben Arten nur flüchtig oder gar nicht besucht. Eine Anzahl von Belegen hierfür hat bereits mein Bruder in seinem eben eitirten Auf- satze (S. 41, 42) angeführt. Aus der einheimischen Blumen- und Insekten- welt kann ich denselben einige würzig duftende Labiaten mit ihrem Bienen- besuche hinzufügen. An Marrubium vulgare sah ich von langrüsseligen einzeln lebenden selbst sammelnden Bienen (Saropoda bimaculata, Anthidium manicatum) ausschliesslich Männchen die kleinen duftigen Blüthen besuchen und den Nektar derselben saugen; den Weibchen wird dieser gewiss nicht weniger schmackhaft, aber zu wenig ausgiebig sein. Von Kukuks- bienen (Obelioxys punctala Lur.) dagegen, die, ebenso wie die Männchen, nur sich selbst zu beköstigen haben, traf ich honigsaugende Weibchen an den- selben Blumen. Dass auch die brut- versorgenden Weibchen (Arbeiter) der Honigbienen sich in grosser Zahl zur Honigbeute an Marrubium einfinden, bedarf nach dem, was über den Ein- fluss der Staatenbildung auf die Blumen- thätigkeit im vorigen Aufsatze gesagt wurde, keiner weiteren Erklärung. Als Besucher von Origanım vulgare sind in meinem Werke über Befruchtung der Blumen nur von staatenbildenden Bienen (Bombus, Apis) Weibchen, von einzelnlebenden selbstsammelnden da- gegen nur Männchen verzeichnet. Später habe ich zwar auch von verschiedenen Arten der letzteren Weibchen an Ori- ganum saugend beobachtet; immer aber waren die Männchen an Zahl der In- dividuen in sehr grossem Uebergewicht. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Aehnlich verhält es sich mit ZLa- vendula vera, an deren Blumen ich z. B. von Megachile fasciata, Willughbiella, centuncularis und Chelostoma nigricorne wiederholt zahlreiche Männchen, nie- mals ein Weibchen, von ÖOsmia aenea zwar Männchen und Weibchen, die ersteren aber regelmässig und zahlreich, die letzteren nur spärlich fand. An der seltenen Nepeta nuda, deren Insektenbesuch ich (8/7/73) an der Wandersleber Gleiche in Thüringen ins Auge fasste, fand ich von langrüsseligen einzeln lebenden Bienen (Anthidium punec- tatum, Osmia adunca, Anthophora quadri- maculata) ausschliesslich Männchen, wäh- rend einerseits von kurzrüsseligen ein- zeln lebenden (Prosopis communis, Ha- lietus flavipes, malachurus), andererseits von langrüsseligen staatenbildenden Bie- nen (Bombus, Apis) gerade im Gegen- theile ausschliesslich Weibchen dieselben Blumen besuchten. Wie regellos auch diese Vertheilung von Männchen und Weibchen auf den ersten Blick erschei- nen mag, so wird sie doch unter den hier zur Geltung gebrachten Gesichts- punkten durchaus verständlich. Für die kurzrüsseligen einzeln leben- den Bienen (Prosopis, Halictus) ist näm- lich die Ausbeutung von Nepeta nuda bereits eine ihrer höchsten Blumenlei- stungen, an der sich eben desshalb bloss die Weibchen betheiligen. Für so lang- rüsselige einzeln lebende Bienen dage- gen wie die oben genannten (mit einer Rüssellänge bis zu 10 mm) gehört die Ausbeutung von Nepeta nuda bereits zu den weniger ausgiebigen, an der daher die Weibchen weniger interessirt sind, als die dem würzigen Dufte und Wohlge- schmacke folgenden Männchen. Unter letzteren finden wir sogar Osmia adunca, deren Weibchen sich fast ganz auf das ausbeutereiche Hchium beschränkt. * z.B. Seilla maritima, Atragene al- pina, Salvia offieinalis, Lycium barbarum, Corydalis luten. #* z.B. Arten der Gattungen Orchis, Po- 421 Die staatenbildenden Bienen endlich sind durch ihr gesteigertes Nahrungsbedürf- niss veranlasst, auch weniger ausgiebige Honigquellen zur Brutversorgung mit zu benutzen. Das so eben an Nepeta nuda ange- troffene Männchen von Osmia adunca führt uns zu dem neuen Satze: 3) In denjenigen Fällen, in denen sich die Weibchen einer Bienenart zu rascherer und siche- rer Ausbeute auf den ausschliess- lichen Besuch einer bestimmten Blumenform oder selbst Blumen- art beschränkt haben, fühlen sich die Männchen an diese Beschrän- kung meist nicht gebunden, son- dernbesuchenauch andereBlumen. Es scheinen indess in dieser Be- ziehung die mannigfachsten Abstufungen vorzukommen von solchen Bienen, deren Weibchen zwar eine bestimmte Blumen- form entschieden bevorzugen, aber sich doch nicht ganz auf dieselbe beschrän- ken und deren Männchen noch ganz frei in der Blumenwelt umherschweifen, bis zu solchen, deren Männchen sowohl als Weibchen fast oder ganz ausschliess- lich an eine bestimmte einzelne Blumen- art sich binden. Von Eucera longieornis halten sich z. B. die Weibchen mit so ausgespro- chener Vorliebe an die Blumen der Pa- pilionaceen, dass sie in meinem Buche über Befruchtung ausschliesslich als Be- sucher solcher sich verzeichnet finden. Erst später habe ich Gelegenheit ge- habt, mich zu überzeugen, dass sie, wo blühende Papilionaceen ihnen nicht zu Gebote stehen, doch auch mancher- lei andere Blumen ausbeuten.* Die langhörnigen Männchen dieser Bienen- art besuchen ausser den Lieblingsblumen ihrer Weibchen auch die allerverschie- denartigsten sonstigen Blumen.** Iygala, Aesculus, Crataegus, Echium, Sym- phoricarpus, Ajuga, Lamium , Lavendula, Syringa, Veronica. 422 Die Weibchen von Osmia adunca be- schränken sich fast ganz auf Echium, das auch von ihren Männchen beständig in Menge umschwärmt wird. Ausserdem treiben sich aber die Männchen auch auf anderen Blumen* weidlich umher. Die Weibchen von Osmia caementaria habe ich ausschliesslich auf Echium ge- funden. Ihre Männchen sind dieser auser- wählten Lieblingsblume mehrerer nächst- verwandter Osmia-Arten zwar weit treuer als die Männchen von O. adunca, doch lassen auch sie sich noch bisweilen vom Ernährungstrieb zum Besuche anderer Blumen** leiten. Aehnlich verhält es sich mit Macropis labiata. Während die un- gemein blumeneifrigen Weibchen dieser Bienenart in den verschiedensten Ge- genden fast immer nur die Blumen von Lysimachia vulgaris ausbeutend gefunden wurden, sah ich die Männchen ausser- dem an Blüthen von Oenanthe fistulosa, Rhamnus frangula, BRubus fruticosus und in Mehrzahl an denen von Melilotus vul- garis Honig saugen. Die Weibchen von Dasypoda hirtipes gehen fast ausschliess- lich auf die gelben Blüthenkörbchen der Cichoriaceen, um sich, Honig sau- gend und frei umherschauend, zugleich den langen Haarwald der Hinterbeine mit mächtigen Blüthenstaubballen zu beladen; die Männchen dagegen besuchen ausserdem nicht selten auch die blauen Blumenköpfchen von Jasione montana, bis- weilen die ebenfalls blauen von (icho- rium Intybus und die rothen von (ir- sium arvense. Ebenso ausschliesslich wie die Weibchen der beiden letztgenannten Arten an ihren auserwählten Lieblings- pflanzen fand ich die prächtigen Weib- chen von Andrena Hattorfiana in West- falen, Thüringen, Bayern, im Elsass und * z.B. Lavendula vera, Salvia praten- sis, Vicia Cracca, Lythrum Salicaria, Ge- ranium robertianum, Gladiolus communis, Oichorium Intybus, Silybum Marianum. ** Sie wurden von mir Honig saugend an Salvia officinalis, Trifolium arvense, Pinguieula vulgaris, die Blüthen probirend an Primula farinosa gefunden. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. in der Schweiz immer nur auf Scabiosa arvensis, und in diesem Falle sind die Männchen bereits mit fast derselben Strenge der Gewohnheit der Weibchen gefolgt; denn nur ein einziges Mal habe ich ein Männchen dieser Andrena-Art an- statt auf Scabiosa arvensis auf Jasione montana gehen sehen. Endlich fehlt es, zum Schlusse dieser Stufenfolge, nicht an Bienen, deren beide Geschlech- ter mit gleicher Ausschliesslichkeit sich an eine bestimmte Blumenform oder selbst an eine einzige Blumen- species binden, wie z. B. Pamurgus an gelbe pollenreiche Blumen von Cichoria- ceen, Ranunculus, Oenothera; Dufourea vulgaris an gelbe Cichoriaceen,* Cilissa melanura an Lythrum Salicaria, ** An- drena florea an Bryonia. In diesen Fällen mag die Blumenauswahl der Weibchen auch dem Geschmacke der Männchen hin- reichend zugesagt und daher die durch andauernde Vererbung immer fester ausgeprägte Gewohnheit der ersteren allmählig auch auf die letzteren sich über- tragen haben. In derRegel dagegen gehen Blumenauswahl nach Reichlichkeit der Ausbeute und Blumenauswahl nachW ohl- geschmack und Bequemlichkeit weit auseinander, und es lässt sich folgender allgemeine Satz aufstellen, der den obi- gen Satz 2 mit in sich schliesst: 4) Von Bienenarten, die man- nigfache Blumenformen ausbeu- ten, geben die Weibchen den aus- beutereichsten, dieMännchen den wohlschmeckendsten oderbequem- sten den Vorzug. Dass besonders wohlschmeckender Blumenhonig in manchen Fällen aus- schliesslich oder vorwiegend von den Männchen gewisser Bienenarten besucht * Ein einziges mal sah ich (7/73 bei Kitzingen) Dufourea vulgaris Pollen sam- melnd in einer Blüthe von Digitalis grandi- flora. ** Ein einziges mal sah ich ein Weib- chen von Cklissa melanura an Hypericum perforatum Pollen sammeln. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. wird, wurde bereits oben gezeigt. Dass auch durch Bevorzugung bequemerer Blumenformen die Männchen von den Weibchen in der Regel sich auszeich- nen, erhellt aus folgenden Thatsachen: Von so wenig ausgeprägten Bienen wie Andrena und Halictus sieht man im Ganzen die Männchen mehr den leichter zugänglichen Honigbezugsquellen nach- sehen und in der Aufsuchung und Aus- beutung tiefer geborgenen Nektars weit hinter den Weibchen zurückbleiben. So finden sich z. B. von Andrena fulvierus in meinem Buche über Befruchtung von den Weibchen 32, von den Männ- chen 13 verschiedenartige, auf Aus- beute gerichtete* Blumenbesuche ver- zeichnet. Von denselben kommen nun auf Blumen mit unmittelbar sicht - barem Honig** beim Weibchen 21,9, ‚beim Männchen 61,5°/o, auf Blumen *** und Blumengesellschaftenf mit völlig geborgenem Honig bei den Weibchen 40,6, bei den Männchen 30,8 °/o, auf Bienenblumenff beim Weibchen 28,1, beim Männchen nur 7,7 °/o, von Pollen- blumen ff beim Weibchen 7,7 °/o, beim Männchen gar keine. Aehnliches lässt sich auch noch bei weit ausgeprägteren einzeln lebenden Bienen von mittlerer Rüssellänge be- obachten. Bei Osmia rufa (mit 7—9 mm Rüssellänge) z. B., von deren Männchen und Weibchen in dem ge- nannten Werke je 19 verschiedenartige Blumenbesuche verzeichnet sind, kommen aufBienenblumen beim Weibchen 63,2*7, beim Männchen nur 38,9 °/o**7f, auf Blu- * Ausserdem ein Besuch des Männchens auf Campanula, in dessen Blumenglocken dasselbe’ lediglich Obdach suchte. #=% Oarum, Ranunculus, Berberis, Bras- sica, Salix, Fagopyrum, Rosifloren. #%% Geranium, Malva, Veronica, Phila- delphus. + Jasione und Compositen. +r Oypripedium, Bryonia, Papilionaceen, Labiaten, Calluna. tr} Anemone, Papaver, Helianthemum. *%+ Asparagus, Iris, Diclytra, Viola, 423 men mit flach geborgenen, unter gün- stigen Umständen noch unmittelbar sichtbarem Honig dagegen beim Weib- chen nur 10,5 j*, beim Männchen eben- falls 38,9 /off*. Nur bei den allerlangrüsseligsten einzeln lebenden Bienen, wie unter den einheimischen namentlich bei Anthophora pilipes, scheint die ursprünglich jeden- falls nur von den Weibchen geübte einseitige Bevorzugung der tiefsten und reichsten Honigbehälter in dem Grade ausgeprägt und durch Vererbung be- festigt zu sein, dass sie sich jetzt un- geschwächt auch auf die Männchen überträgt, so dass sie auch bei diesen den höchsten möglichen Grad fast er- reicht hat und der des Weibchens gleich kommt. In der That besuchen beide Geschlechter von Anthophora pilipes mit nur seltenen Ausnahmen, f*f ausschliess- lich ausgeprägte Bienen- und Hummel- blumen. Mit dem Uebergange zur Staaten- bildung haben die Schenkelsammler, wie bereits gezeigt wurde, sich genöthigt gesehen, die immer einseitigere Bevorzug- ung der tiefsten ihnen noch zugänglichen Nektarien aufzugeben und in grösserem Umfange auch die weniger ausbeute- reichen Blumen niederer Anpassungs- stufen wieder in den Bereich ihrer Sam- melthätigkeit zu ziehen. Mit dem Auf- geben der Einseitigkeit in der Blumen- auswahl seitens der Weibchen hat natür- lich auch die Vererbung derselben auf die Männchen aufgehört, und dieselben sind mehr und mehr dazu zurückgekehrt, Vicia, Glechoma, Salvia, Lavendula, Echium, Syringa. *#=+ Viola, Aesculus, Ajuga, Vinca, Pulmonaria. +* Spiraea salicifolia, Prunus. ++# Ranunculus, Caltha, Stellaria media, Cardamine, Salix, Prunus. ++ Ich traf z. B. das Weibchen von An- thophora pilipes einmal auf ie das Männchen einmal auf einem Weissdornstrau- che den klebrigen süssen Saft junger Triebe leckend. Glechoma, 494 Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. nicht bloss in der Blumenarbeit, son- | besuche der Weibchen und Männchen dern auch in der Auswahl der zu be- | gesondert zusammengestellt, nach den arbeitenden Blumen sich der Bequemlich- | Anpassungsstufen der Blumen geordnet, beit hinzugeben, die ihnen ihr geringes | und dann berechnet, wie viel Procent Nahrungsbedürfniss gestattet. Um dies | der verschiedenartigen Blumenbesuche statistisch nachzuweisen, habe ich von | bei Männchen und Weibchen auf die den sechs häufigsten norddeutschenHum- | einzelnen Anpassungsstufen der Blumen melarten sämmtliche in meinem Werke | kommen. Die so erhaltene Tabelle über Befruchtung verzeichneten Blumen- | giebt auf den ersten Blick eine Uebersicht der Blumenthätigkeit der Weibchen und Männchen unserer häufigsten Hummelarten. 2 5, | Von 100 verschiedenartigen Besuchen kommen auf: = Nreasl zuge | 2e, Ew. 28] 06 Tabelle IL.) 8-1: |sEsl zem.e »ans a: Bea 53 | a | as [232 1288 |Ss5 |s82 lasaälssea] a5 | 83 5) © 388 Ao svo Mgao ar = = Name der Hum- 7 5 = ME mE Par ae m »5 ur: melart. ar Ss? ern ABB: | BER '@) Ok 5) z NE LE 00 |19-21| 42 7.1 143 | 48 107 | 2 ee ! 4090 | — | 60,0 B. muscorum L. | eje) 12—15| 66 4,5 — 45 | 12,1 | 10,6 | 25,8 | 42,4 (agrorum F)\ Z 10-11) 10 | — | — | 100 | 10,0 | 60,0 | 10,0 | 10,0 7 , ls R I I hr ’ I I “ N | 95 |8-14.2| 50 | 40 | — 6,0 | 16,0 | 16,0 | 28,0 | 30,0 . pratorum - eo is | 1,5 ae sh BETTEN EDER ER IEEN: - . lapidarius L. i \ A 8106 62 |625 | 350 | 62 | ooNl10-14" 5 Tre | en] Teer B. silvarum L. = ‚ ; ; ? h |< 19-10. 5 | - | | 690 | 20,0 | 20,0 UL PRRENEN, | 29 |7-9| 6 | 76 |15* | 13,6 | 106 | 6,1 | 22,7 |au,0* 5 1 se es aan za. | -1544;.|.68:8 0A Zusammengenom- | S)8 men | d * Die honigreiche Asclepias syriaca! r #* Davon 22,7 mit gewaltsamem Einbruch ! Wie die durch fetten Druck 'hervor- | rüsseligsten B. hortorum belaufen sich gehobenen Ziffern sofort erkennen lassen, | dieselben sogar auf 73,8 Procent. Bei kommt bei den Weibchen aller 6Hummel- | allen mit allen mit Ausnahme von B. arten von den verschiedenartigen Blumen- | lapidarius sind ferner die Hummel- besuchen weit über die Hälfte auf Hum- | blumen über die Bienenblumen im be- mel- und Bienenblumen; bei der lang- | deutenden Uebergewicht, ja bei B. hor- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. torum betrugen die ersteren allein 57,1 Procent. Trotz der Heranziehung nie- derer Anpassungsstufen geben also die Hummelweibchen den ihnen speeciell an- gepassten langröhrigen und honigreich- sten Blumenformen sehr entschieden den Vorzug, und am ausgeprägtesten tritt diese Bevorzugung bei der langrüsselig- sten Hummelart hervor. Aehnlich wie bei unserer langrüsseligsten, einzeln lebenden Biene, Anthophora pilipes, scheint auch bei unserer langrüsseligsten Hum- mel, Bombus hortorum, die an Rüssel- länge jener vollständig gleichkommt, diese Bevorzugung so fest ausgeprägt zu sein, dass sie auch auf die Männ- chen vererbt wird. Denn auch bei diesen fällt die überwiegende Mehrzahl der verschiedenartigen Blumenbesuche auf langröhrige Hummelblumen. Ausser- dem schenken sie nur noch den ebenso bequemen als bei hinlänglicher Musse ausbeutereichen Blumengesellschaften (der Jasione, Scabiosen, Compositen) ihre Aufmerksamkeit; dagegen lassen sie, im Gegensatze zu den Weibchen, die noch niederigeren Anpassungsstufen völlig unberücksichtigt. Bei allen weni- ger langrüsseligen Hummeln tritt die Verschiedenheit zwischen der Blumen- thätigkeit der Männchen und Weibchen noch deutlicher hervor, indem die erste- ren die von den letzteren stark bevor- zugten Hummel- und Bienenblumen weit mehr vernachlässigen und sich mit noch entschiedenerer Vorliebe den Compositen und Scabiosen zuwenden, die ihnen in aller Behaglichkeit auf derselben Stelle sitzend zahlreiche honighaltende Röhrchen zu entleeren und so ihr ge- ringes Nahrungsbedürfniss zu decken gestatten. Wäre in der vorstehenden Tabelle nicht bloss die Zahl der ver- schiedenen Blumenarten, sondern zu- gleich die Zahl der auf die einzelnen fallenden Besuche berücksichtigt, was leider unausführbar war, so würde sich herausstellen, dass »thatsächlich die Be- vorzugung der Compositenköpfe seitens Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 425 der Hummelmännchen noch sehr viel stärker ist, als es nach dieser Tabelle scheint. Es ist ja allbekannt, wie massenhaft z. B. auf Distelköpfen im Spätsommer Hummelmännchenihr Nacht- quartier nehmen, und bei Tage Honig saugend zu finden sind. Auch die Hum- melweibchen verschmähen keineswegs diese reichen Nahrungsquellen, berück- sichtigen sie aber vergleichsweise doch nur in untergeordnetem Grade, weil sie, rastlos von Stock zu Stock fliegend, in gleicher Zeit aus den langröhrigen honig- reichen Hummel- und Bienenblumen sehr viel mehr Ausbeute gewinnen können, als aus dem für gemächliche Arbeit sehr bequemen, zu hunderten dicht bei ein- ander stehenden, einzeln aber nur sehr wenig ausgiebigen Blumenröhren der Scabiosen und Compositen. Eine andere Erscheinung, in der das verschiedene Nahrungsbedürfniss der brutversorgenden Weibchen und der nur sich selbst beköstigenden Männchen recht auffallend zu Tage tritt, ist die sehr ungleiche Zahl verschiedenartiger Blumen, auf denen in jedem einzelnen Falle die beiden Geschlechter derselben Hummelart beobachtet wurden. Die Hummelweibchen besuchen, wie eine Durchsicht der zweiten senkrechten Zahlenreihe zeigt, durchschnittlich etwa 6 mal so viel verschiedene Blumenarten als ihre Männchen (mindestens 3,6, höchstens 9 mal so viel). Es lässt sich von vornherein mit grösster Wahrscheinlichkeit vermuthen, ‘ass die Bienenmännchen in allen den- jenigen Blumenleistungen, die durch den Brutversorgungstrieb bedingt sind, be- trächtlich hinter den Weibchen zurück- stehen werden, und dahin dürften nicht bloss alle diejenigen Blumenarbeiten zu zählen sein, die einen hohen Grad von Fleiss und Ausdauer, sondern auch die- jenigen, welche eine gespannte Auf- merksamkeit erfordern. Wir werden daher erwarten dürfen, dass die Bienen- männchen z. B. bei den mit dem Ver- 29 426 blühen sich intensiver färbenden Blumen im Ganzen weniger sicher die blasseren noch honighaltigen auszuwählen wis- sen, dass sie an ihnen ungewohnten Blumen sich ungeschickter benehmen, dass sie weniger leicht persönliche Blu- menerfahrungen machen und verwerthen als die Weibchen. Aber unter den bis jetzt vorliegenden Beobachtungen findet sich keine einzige, die sich als that- sächliche Begründung dieser Vermuthung verwerthen liesse. Wir überlassen daher dieses eben so reiche als anziehende Gebiet noch völlig unangebaut der weiteren biologischen Forschung und ziehen zum Schlusse nur noch einen, bereits oben nebenbei berührten Gegen- stand näher in Betracht: Die verschiedene Blumenthätig- keit der Kukuksbienen und der selbst sammelnden. Auch in der Bienenfamilie, in der wir als Wirkung des "Brutversorgungs- triebes bis jetzt nur einen immer steigenden Eifer im Einsammeln von Blüthenstaub und Honig und, in Folge davon, eine immer vollkommenere Aus- rüstung zu dieser Arbeit kennen ge- lernt haben, hat es in verschiedenen Familienzweigen nicht an einzelnen Gliedern gefehlt, die der ererbten Ge- wohnheit untreu wurden, indem sie, anstatt selbst Bruthöhlen anzufertigen, mit mühsam zusammengeschlepptem Larvenfutter zu füllen und dieses dann mit einem Ei zu belegen, sich in die Bruthöhlen anderer Bienen schlichen, und, wenn sie dort die nöthige Futter- masse bereits angehäuft fanden, an diese ihr Ei hefteten. Dieser Gewohnheitswechsel mag von Seiten der zur Kukukslebensweise über- gegangenen Bienen durch individuelle Neigung zum Faulenzen oder, vielleicht richtiger, durch einen nur etwas ge- ringeren Grad von Blumeneifer, von Seiten ihrer Umgebung durch die zu- nehmende Concurrenz bedingt gewesen sein, welche die an Arbeitslust zurück- Hermann Müller, Die Entwiekelung der Blumenthätigkeit der Insekten. stehenden Bienen schliesslich in bittere Noth versetzte und zum Ausspähen nach einer anderen Befriedigung des Brutversorgungstriebes zwang. Jeden- falls war mit diesen Aufgaben der ehr- lichen Arbeit und betrügerischem Aus- beuten fremden Fleisses, sobald es von Erfolg gekrönt wurde, der entscheidende Schritt für die Wirkung der'Naturaus- lese nach einer ganz neuen Richtung hin und damit für die Gründung eines neuen Familienzweiges gethan. Denn von den Nachkommen der ersten Kukuks- bienen irgend welcher Abkunft hatten nicht mehr die arbeitsamsten und blu- mentüchtigsten, sondern die schlausten, als heimliche Einschleicher gewandtesten und behendesten im Wettkampfe um das Dasein den meisten Erfolg. Auch das nur zur ehrlichen Arbeit des Pol- lensammelns dienende Handwerkszeug hatte natürlich für Betrüger von Pro- fession keinen Werth mehr: die Feder- haare des Körpers und der besondere Pollensammelapparat, von zahllosen Ge- nerationen in stufenweiser Entwickelung langsam gewonnen, waren mit einem Male ausser Dienst gesetzt und fielen allmählicher Verkümmerung anheim: Der hochausgebildete Honigsaugapparat da- gegen, der den selbstsammelnden Stamm- müttern nicht nur zur Brutversorgung, sondern auch, ihnen sowohl als den Männchen, zur eigenen Ernährung ge- dient hatte, blieb zu letzterem Zwecke auch den Kukuksbienen von hohem Werthe und dadurch vor Verkümmerung bewahrt. Selbst eine Herabminderung seiner Länge dürfte kaum erfolgt sein. Denn wenn auch die Kukuksbienen, gleich den Männchen von der Herbei- schaffung von Nahrung für die Jungen entbunden und nur auf ihre eigene Beköstigung angewiesen, nicht mehr zur Ausbeutung der tiefsten ihnen zugänglichen Honigbehälter genöthigt waren, so bleibt doch, wie oben ge- zeigt wurde, zur Wahrung der persön- lichen Sicherheit, auch ein die Länge Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. 427 der auszubeutenden Röhren erheblich | der nächst verwandten selbstsammeln- überragender Rüssel von hohem Vortheil. Uebrigens liegt die Sache keines- wegs so einfach, dass mit dem Auf- geben des Einsammelns von Larven- futter nun alle Kukuksbienen in gleicher Weise in ihrer Blumenthätigkeit unter die von ihren selbstsammelnden Stamm- eltern erreichte Stufe hinabsinken und sich in aller Behaglichkeit mit bequemer erreichharem oder besonders wohl- schmeckendem Honig beköstigen müss- ten. Vielmehr werden wir einerseits erwarten dürfen, dass die fest ausge- prägte Gewohnheit gewisser Mutter- hummeln, so viel als möglich die tief- sten ihnen zugänglichen Nektarquellen auszubeuten, da sie sich fast unge- schwächt auf die Männchen überträgt, in gewissem Grade auch auf die zur Kukukslebensweise übergegangenen Nachkommen sich weiter vererben wird, und diese Wirkung wird bei beiden Geschlechtern sich gleich stark äussern müssen. Andererseits muss es für die Weibchen der Kukuksbienen einen gros- sen Unterschied machen, ob sie ohne sonderliche Mühe ihre Eier in die Nester derzu betrügenden Wirthe einschmuggeln können, oder ob sie den grössten Theil ihrer Zeit umherstreifen und auf der Lauer liegen müssen, um den günstigsten Augenblick zum Einschleichen abzu- passen. In letzterem Falle könnte ihnen auch zu ihrer eigenen Beköstigung leicht die Zeit so knapp werden, dass sie, statt der bequemsten oder wohlschmeckend- sten, die ausgiebigsten Blumen wählen müssten, und es würde sich dann auch bei ihnen ein merkbarer Unterschied zwischen der Blumenthätigkeit derMänn- chen und Weibchen herausstellen. Um irgendwie erkennen zu können, welchen Antheil jeder dieser drei zu- sammenwirkenden Faktoren auf die Blu- menthätigkeit der Kukuksbienen hat, müssen wir die verschiedenen Zweige derselben gesondert ins Auge fassen, die Blumenbesuche eines jeden mit denen den Bienen von möglichst gleicher Rüs- sellänge vergleichen, und überdiess die Blumenthätigkeit beider Geschlech- ter der einzelnen Zweige von Kukuks- bienen neben einander halten. Den sichersten Ausgangspunkt für einen derartigen Vergleich dürfte die Kukuksbienen-Gattung Stelis geben, weil sie der selbstsammelnden Gattung An- hidium in allen körperlichen Merkmalen noch bis zur Berührung nahe steht und überdiess mit den kleineren Arten derselben auch in Bezug auf die Rüssel- länge annähernd übereinstimmt. Aus diesem Vergleiche ergiebt sich, wie ein Blick auf die umstehende Tabelle zeigt, dass die der Gattung Anthidium entstammenden Schmarotzerbienen (Ste- lis), ähnlich wie die Männchen der Hummeln, zur Stillung ihres Hungers vorwiegend die Blumengesellschaften mit völlig geborgenem Honig, d. h. die eben so augenfälligen als bequemen Köpfchen der Compositen, Iasionen u. s. w. auf- suchen und sich an der Ausbeutung der Bienenblumen nur in sehr unter- geordneter Weise betheiligen, wogegen die der selbständigen Brutversorgung treu gebliebenen Anthidium-Arten gerade diese als die tiefsten und reichsten ihnen noch zugänglichen Honigquellen sehr stark bevorzugen. Die einfachen Blumen mit völlig geborgenem Honig, an denen die sStelis-Arten ausserdem sich häufig einfinden, sind Malven und Geranien, also ebenfalls sehr augen- fällige Blumen, die gemächliches Honig- saugen und ein längeres Verweilen auf derselben Stelle gestatten, da jeder Blüthengrund derselben fünf im Kreise gelegene Honigtröpfehen birgt. Dieser Unterschied in der Blumenthätigkeit zwischen Stelis und Anthidium erklärt sich einfach auf dieselbe Weise wie derjenige der Hummelmännchen von den Mutterhummeln. Frei von der Arbeitslast des Futtereinschleppens für die Brut suchen die Stelis, wie die Hummel- 29* 428 Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Vergleichende Debersicht der Blumenthätigkeit der Kukuks- bienen und ihnen nächst verwandter und an Rüssellänge un- gefähr gleichstehender selbstsammelnder Bienen. = B &,. |Von 100verschiedenart. Blumenbesuchen kommen auf: z sa : Ba sa2l| :. 183% SFr ESBENE a DEE = 5 za8a| 22 |Bac Eee Bee 2 | 5 = 283] a8 Bas james las | | = =) Be er er I ! = Sa EA: AB." B. | BO EEDU EHE Selbstsammelnde Bienen: Anthidium punctatum , striga- en oblongatum 46 16 — - | 12,5 - 125 | 75,0 - Kukuksbienen der E Gattung Stelis 3la—5l/a| 38 5,3 2.9 .1,28,9: | ‚52,6. 99,2 — Selbstsammelnde | Bienen : Dieselben 3 Anthidium - Arten nebst Chelostoma und Heriades 36 85 1.210 1.1 | 18,8-| 294 | 412 _ 2 Kukuksbienen der Gattungen Stelis und Coelio@ys 31a—T 83 3,6 72 | 24,1 | 44,6 | 20,5 — Kukuksbienen der Gattung Nomada 3—7!/2 | 100 — 2.0. | 33,0 | 10,0 | 41,0: | 12,0 —_ Selbstsammelnde | | | | Bienen: Saropoda bimaculata, Antho- | | Y!phora quadrimaenu- % lata S!a—10 | 29 3,4 - — 13,5 | 13,85 | 48,3 | 20,7 Kukuksbienen: Oroeisa und Melecta| 8—10 14 = 7,1 — | 214 7,1 | 50,0 | 14,3 Selbstsammelnde | Hummeln: Bombus | confusus , hypno- 4’rum, Rajellus und senilis 1014 69 43 |1,4**| 14 | 14,5 | 188 | 26,1 | 33,3 Kukukshummeln: Psithyrus 10-14 90 - 11 6,6 | 13,3 | 45,5 | 14,4 | 18,8 / 3 * In dieser Tabelle sind alle von mir gesammelten einschlägigen Beobachtungen, auch die noch nicht veröffentlichten, verwerthet. ** Die honigreiche Asclepras syriaca. j Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. männchen, ihren geringen Nahrungs- bedarf ohne sonderliche Anstrengung zu decken. Ererbung einer fest aus- geprägten Gewohnheit bestimmter Blu- menauswahl ist bei der völligen Ver- schiedenheit derselben von derjenigen der Stammgattung hier nicht wohl an- zunehmen. Die einzigen Einwürfe, die sich allenfalls gegen das anscheinend völlig klar vorliegende Ergebniss er- heben liessen, sind: die zu geringe Zahlderbeobachteten verschiedenartigen Blumenbesuche, welche dem Vergleiche zu Grunde liegen, und die kleine Differenz der Rüssellänge, welche hier zu Gunsten der selbstsammelnden Anthidium-Arten ausfällt und eine etwas höhere Blumen- leistung dieser erklären könnte. Beide Einwendungen werden aber hinfällig, wenn wir zu den 3 Anthi- dium-Arten noch die verwandten selbst- sammelnden Gattungen Chelostoma* und Heriades,** zu Stelis noch die verwandte Kukuksbienengattung Coelio@ys”** hin- zunehmen. Denn nun ist die Zahl der zum Vergleich kommenden verschieden- artigen Blumenbesuche sehr erheblich, und das Uebergewicht der Rüssellänge liegt nun auf Seiten der Kukuksbienen. Trotzdem zeigt sich derselbe Unter- schied wie vorher, wenn auch natür- lich merklich abgeschwächt, da die lang- rüsseligeren (oeliowys-Arten mit grösserer Bequemlichkeit verschiedene Bienenblu- men ausbeuten können und die kurz- rüsseligeren Chelostoma- und Heriades- Arten mehr auf niedere Anpassungs- stufen der Blumen zurückgreifen müssen. Selbst wenn wir statt Stelis und Coelioxys die verwandte artenreiche Gattung No- mada zum Vergleiche mit den genannten Bauchsammlern wählen, wird am Ge- * Chelostoma campanularum, küssel- länge 3 mm, florisomne 3'/a—4 mm, nigri- corne 4—4!/a mm. *= Heriades truncorum, 4!/» mm. *#% Von Öoelioxys- Arten habe ich ge- messen: conoidea ILL. punctata LP Ai Rüssellänge 6!/.— 7 mm ‚rufescens,6!/.—7 mm, simplee NyL. 4!/„—5 mm. 429 sammtergebnisse des Vergleichs nichts Wesentliches geändert. Anders, wenn wir jene langrüs- seligeren Kukuksbienen (Melecta und Croeisa) ins Auge fassen, die sich von so hoch ausgebildeten Schenkelsamm- lern wie Anthophora oder Saropoda durch Uebergang zur Schmarotzerlebensweise abgezweigt haben. Sie zeigen eine ebenso entschiedene Vorliebe für ausgeprägte Bienenblumen, wie die ihnen nächst- verwandten selbstsammelnden Bienen von etwa gleicher Rüssellänge; nur in der Ausbeutung der tiefsten ihnen noch er- reichbaren Honigbehälter bleiben sie hinter jenen erheblich zurück. Die Zahl der verschiedenen Blumen, an denen sie beobachtet wurden, ist zwar eine sehr geringe (14), die Zahl der beob- achteten Besuche aber eine so grosse, dass sie wohl ein zuverlässiges Urtheil ge- statten. Besonders an Labiaten (Ajuga; Ballota, Lamium, Lavendula) wurden sie sehr oft wiederholt angetroffen, und zwar die Männchen eben so wohl als die Weib- chen. Entweder müssen also diese lang- rüsseligen Kukuksbienen ihre ausge- prägte Vorliebe für Bienenblumen* von ihren langrüsseligen selbstsammelnden Stammeltern ererbt haben, ebenso wie sich auf die Männchen der Anthophora pilipes die einseitige Bevorzugung der tiefsten ihnen noch zugänglichen Blu- * Selbst dass sie sich in der Tabelle als Besucher von Blumen mit offenem Honig ver- zeichnetfinden, kann nichtals Beleg gegen ihre ausgeprägte Vorliebe für Bienenblumen gel- tend gemacht werden. Denn diese Angabe gr ündet sich auf einen einzigen Fall, in wel- chem Melecta luetuosa Dan den Blüthen eines Bergahornbaumes (Acer Pseudoplatanus) sau- gend beobachtet wurde, unter Umständen, die das abweichende Verhalten vollständig er- klären. In weiter Umgebung dieses Baumes fehlte es nämlich an Blumen, die mit den sei- nigen hätten concurriren können, und an den Blüthen desselben wurden gleie hzeitig zahl- reiche selbstsammelnde langrüsselige Bienen Honig saugend beobachtet, darunter Antho- phora aestivalis Q (Rüssellänge 15 mm) und Bombus hortorum \, (21 mm) (H.M., Wei- tere Beob. U. 8. 213). 430 menröhren vonihren Stammmüttern über- tragen hat, oder die Zeit dieser Kukuks- bienen ist durch ihre betrügerische Brut- versorgung so in Anspruch genommen, dass sie dadurch zur Aufsuchung reicherer Honigquellen genöthigt werden, und diese Gewohnheit hat sich auch auf die Männchen übertragen. Vergleichen wir endlich, nach der 4ten statistischen Zusammenstellung der vorstehenden Tabelle, die Blumenthätig- keit der Kukukshummeln mit derjenigen von selbstsammelnden Hummeln gleicher Rüssellänge, so werden dadurch auf hinlänglich breiter Beobachtungsgrund- lage im Wesentlichen diejenigen Schlüsse bestätigt, zu welchen ich von spär- licheren Beobachtungen aus bereits in meinem Werke über Alpenblumen (S8.521) gelangt war. Von der hochgesteigerten Blumenthätigkeit, die zur selbständigen Brutversorgung nöthig war und eine allseitige Ausbeutung der umgebenden Blumenwelt unter entschiedener Bevor- zugung der Bienen- und Hummelblumen erheischte, smd die Kukukshummeln zu der sehr beschränkten, für die eigene Beköstigung nöthigen Blumenthätigkeit übergegangen und bevorzugen nun die ebenso reichen als ihnen bequem zu- gänglichen Blumengesellschaften mit völ- lig geborgenem Honig, die sie mit einer Gemächlichkeit ausbeuten, welche für selbstsammelnde Hummeln unerhört sein würde. Gegen dieses Ergebniss unseres Ver- gleichs lässt sich einwenden, dass wir beide Geschlechter der zu vergleichenden selbstsammelnden und schmarotzenden Hummeln zusammengefasst haben, wäh- rend doch der Unterschied des Nahrungs- bedarfs nur die Weibchen betrifft. Wer- fen wir desshalb noch einen Blick auf die folgende Tabelle (V), in welcher die Leistungen männlicher und weib- licher Kukuks-Bienen und Hummeln neben einander gestellt sind, und ver- gleichen die Blumenthätigkeit der weib- lichen Kukukshummeln mit der aus Ta- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. belle (III) ersichtlichen weiblicher selbst- sammelnder Hummeln, so erhalten wir, wenn auch merklich abgeschwächt, das- selbe Ergebniss. Nur eine der selbst- sammelnden Hummelarten, D. lapidarius, kommt, bei gleicher Rüssellänge, den ' Kukukshummeln in ihrer Blumenthätig- keit ziemlich nahe. Alle übrigen be- vorzugen in sehr viel stärkerem Grade Bienen- und Hummelblumen und be- treiben im untergeordneterem Grade die Ausbeutung der Compositenköpfchen, als es die Kukukshummeln thun. Die Männchen der Kukukshummeln aber stehen in ihren Blumenleistungen hinter ihren Weibchen ganz auffallend zurück. Ueber 70 Procent ihrer Be- suche (gegen nur 30,3°/o bei den Weib- chen) gelten den augenfälligen und be- quemen Blumengesellschaften mit völlig geborgenem Honig, und nur der 10te Theil der von ihnen ausgewählten Blu- men sind Bienen- und Hummelblumen (gegen 48,2°/o bei den Weibchen). Die Zahl der verschiedenen Blumenarten, welche sie aufsuchen, beträgt überdies nur etwa °/s von derjenigen, welche ihre Weibchen ausbeuten. Alles dies weist mit Bestimmtheit darauf hin, dass die Weibchen der Kukukshummeln mit ihren ziemlich schwerfälligen Bewegungen zum Aufsuchen und Einschleichen in die Nester selbstsammelnder Hummeln und zur weiteren Durchführung ihrer gaunerhaften Brutversorgungsarbeit ei- nen so bedeutenden Theil ihrer Zeit verbrauchen, dass sie zur Deckung ihres eigenen Nahrungsbedürfnisses in der ihnen übrig bleibenden Zeit zu grösseren Anstrengungen als die Männchen ge- nöthigt sind. Auch alle übrigen dem Vergleiche un- terzogenen Kukuksbienenmännchen blei- ben in der Ausbeutung der Bienen- blumen hinter ihren Weibchen merklich zurück. Allen bleibt ja dies Umher- suchen, Auflauern, Einschleichen, die ganze Spitzbubenarbeit ihrer brutver- sorgenden Weibchen, erspart, so dass Fe ale Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. sie es sich mit ihrer Blumenarbeit noch bequemer machen können als diese. Aber der Unterschied ist bei allen übrigen weniger bedeutend als bei den Kukuks- Vergleichende Uebersicht der 431 hummeln, und die Zahl der von Männ- chen und Weibchen gemeinsam besuch- ten Blumenarten ist bei allen übrigen viel grösser, als bei diesen. Blumenthätigkeit der männ- lichen und weiblichen Kukuksbienen. ” = | Von je 100 verschiedenartigen Blumenbesuchen kommen auf: easlass | = | un Men EEE gene Bela: | 3 | 2A dealer: ljedssı = |. 7 an & a0 | 4 ern or ©E& Tabelle v. 222 |s32:| = | == a2: Eeilesel Ss | 8: ; „ea lSeel 3 os | sea | 33° |stuEl © 22 = Bon ee 35 BeEo oo ISE-H08 © En Pealesas 3 |de era Bere uere Sala | © Renee Nee Feel Nasa Po. | ANENBEEB Bi: | Hp IHR, MR | o| 23 [52,2% 5,3. |, 7,9: | 28,9. | 52,6 |..52 | = eits | sl az | 44 711 | 72 |8393 | a8,8.| 36 | u EB a aa |. | so a Eee 2 | aloar (ası | — | 37 |ını |as3 | 222 | 296 | ad in | BT 19971 27° | 2,7 |/270.].10,8 488 | 12,2 | ei. omadda | alas. | 219 | = \nennkaaaree des | 6,1 | u Crocisa und Me- | 9 10 | 40,0 = 10,0 —- 10,0 — «| 60,0 | 20,0 F I I I | lecta FI #8- 150,0 | = |. ulm ee | 50,5 | - Bi | DI 56 I 89 | — |18*| 53 | 143 | 308 196 | 286 SULNnYrUs & “ ae | Erde Ts | 12 | 95 *® An Hypericum perforatum saugend oder zu saugen versuchend. ** An Acer Pseudoplatanus saugend. Ich schliesse hiermit meine vor- läufige Mittheilung über die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Als erster Versuch auf einem ganz neuen Forschungsgebiete konnten meine Unter- suchungen natürlich nur zu sehr un- vollständigen und zum Theil vielleicht noch nicht hinlänglich gesicherten Er- gebnissen führen. Das Eine aber dürfte wenigstens dem aufmerksamen Leser vorstehender Aufsätze klar geworden sein, dass in der Blumenthätigkeit der Insekten der biologischen Forschung ein ungemein reiches und dankbares, wenn auch bisher unbeachtet gelassenes Gebiet vorliegt, wohl werth der aus- dauernden und hingebenden Arbeit zahl- reicher rüstiger Forscher. Was der Einzelne hier zu leisten vermag, muss der Natur der Sache nach unvollkom- menes Stückwerk bleiben. Denn fast unerschöpflich sind schon in einem be- schränkten Gebiet die der Beobachtung sich darbietenden Erscheinungen, und selbst die Blumenthätigkeit derselben Insektenart ist in hohem Grade dem 432 Wechsel unterworfen, da sie von so veränderlichen Bedingungen wie dem Wetter*, dem Honigreichthum der Nek- tarien**, der Concurrenz gleichzeitig an demselben Orte blühender Blumen *** und nach Nahrung umherfliegender Blu- mengästef, endlich von der Individuali- tätjf und dem jeweiligen Zustande des beobachteten Insektes selbstfff abhängt. Nur wenn die einzelnen Blumenbesucher in ihrer ganzen Thätigkeit unter wech- * Je nach derniederen oder höheren Tem- peratur ist dasselbe Insekt in seinen Beweg- ungen träger oder lebhafter. Nach längerem Regen sind die Blumengäste ausgehungert und daher weit blumeneifriger als bei an- dauernd sonnigem Wetter. ** Der Honigreichthum der Nektarien derselben Blumenart ist, wie FLAHAULT ge- zeigt hat, in hohem Grade von klimatischen und Witterungsverhältnissen abhängig. Bei Platanthera chlorantha fand ich in gewöhn- lichen Jahren die langen Sporne höchstens etwas über !/s, in diesem abnormen Jahre über ?/s mit Nektar gefüllt. *=® An Blüthen eines Bergahorn bei Jena, in dessen Nähe es an concurrirenden Blumen fehlte, sah mein Sohn zahlreiche langrüsse- lige Bienen saugen. Primula elatior wird begierig von Hummeln ausgebeutet; sobald aber Geum rivale in seiner Nähe aufgeblüht ist, gehen sie nur noch an dieses. + Auf den an Faltern überschwenglich reichen Hochalpen werden auch zahlreiche Bienenblumen sehr gewöhnlich von Faltern besucht; im falterarmen norddeutschen Tief- lande dagegen kann man selbst Gymnadenia conopsea, Lychnis diurna und andere Falter- blumen bei sonnigem Wetter stundenlang Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. selnden Bedingungen, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, oft wiederholt möglichst genau ins Auge gefasst werden, ist eine allseitig be- friedigende Lösung der mannigfachen auf diesem Gebiete sich uns aufdrängen- den Fragen zu erwarten. Das ist aber nur der ausdauernden, hingebenden Arbeit zahlreicher rüstiger Forscher möglich. überwachen, ohne sie von einem einzigen Falter besucht zu sehen. Primula farinosa wird auf den Alpen bei günstigem Wetter stets reichlich von Faltern besucht; in Pom- mern sah sie mein Bruder Dr. Wırn. MüL- LER selbst in den Mittagsstunden eines son- nigen Tages ausschliesslich von der Honig- biene ausgebeutet werden. ++ Ein Exemplar der Honigbiene hatte ich Iris Pseud-Acorus nach vergeblichem Ver- suche einer einzigen Blüthe gänzlich auf- geben sehen (H. M., Befruchtung, S. 70). Vor einigen Wochen sah ich aber ein anderes Exemplar der Honigbiene an den Blumen der- selben Pflanze nicht weniger als 8 vergeb- liche Versuche machen. +rr Die Männchen von Anthophora pilipes fliegen, vom Begattungstriebe geleitet, an einem mit blühenden Primula elatior und Pulmonaria oficinalis besetzten Abhange in grossen Bogenlinien, nach Weibchen su- chend, hin und her und saugen nur ab und zu eine einzelne Blüthe von Pulmonaria, nie von Primula. Kommt aber ein Männchen hungrig angeflogen, so saugt es an Pulmona- ria- und Primula- Blüthen ohne Unterschied, wie sie ihm gerade zuerst in die Augen fallen. Kosmos Bd.K.(1881) Yan wi I ‚ Mi 2 Mi N 35 Pe. Die „augenähnlichen“ Organe der Fische nach den Untersuchungen von Dr. Ussow, Prof. Leydig u. A.* (Hierzu Nur wenige Thierstudien können auf ein so allgemeines Interesse auch in nicht fachwissenschaftlichen Kreisen rechnen, als diejenigen, welche uns die Verschiedenheiten darthun, die sich im Sinnenleben der Thiere finden. Mit Er- staunen lauschen wir den Berichten über Schnecken und Muscheln, die ihre Hör- organe im Fusse tragen, oder deren ‚Rücken oder Mantelsaum, wie bei dem Argus der Mythe mit vielen Augen be- setzt ist, oder die gar auf allen Glied- stücken Augen besitzen, wie die viel- äugigen Borstenwürmer (Polyophthal- mida) oder von solchen, die auf ihrer gesammten Oberhaut mit Geschmacks- organen versehen sind, wiemancheFische, oder endlich gar von Thieren, bei de- nen man nervöse Organe entdeckt hat, die gar nicht den uns bekannten Sin- nessphären anzugehören scheinen, viel- mehr auf einen uns unbekannten sechs- . ten Sinne deuten. In dieser Richtung hat seit einiger Zeit ein Gruppe von meist in grösseren Meerestiefen lebenden Kno- chenfischen die Aufmerksamkeit der For- scher auf sich gezogen, welche man zu den unter einander nahe verwandten ® Dr. M. Ussow, Ueber den Bau der sogenannten augerähnliehen Flecken einiger Knochenfische, Bulletins der Moskauer natur- forschenden Gesellschaft 1879. S. 79—115 mit Tafel III.) Familien der Scopeliden, Sternoptychi- den und Stomiatiden vereinigt hat. Es sind meist kleine, oft nur einen Zoll und noch darunter lange Fischchen, wel- che an ihrer Bauchkante jederseits mit einer von der Schnauze bis zum Schwanze reichenden Reihe glänzender Flecke ver- sehen sind, etwa so, als ob dort das Hautkleid mit einer dichten Doppel- reihe von Perlmutterknöpfen zugeknöpft wäre. Zuweilen wird die Hauptreihe an der Bauchkante, noch von einer halben von Kopf bis zur Analflosse gehenden Nebenreihe dieser Flecken begleitet, häufig finden sich ausserdem einzelne, oft grössere Flecken über den Kopf und Kiementheil, sowie über die Flanken des Fisches zerstreut. Kein Wunder, dass schon in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts wiederholt ver- schiedene Ichthyologen, wie z. B. Ra- FINESQUE in Palermo, DELLE CHIAJE in Neapel, Rısso in Nizza und Cocco in Messina, auf diese Bewohner der Tief- see aufmerksam wurden, welche zuweilen der Sturm aus Land warf, während die Tiefseeforschungeu der Neuzeit noch manche ihrer Verwandten ans Licht ge- Fe Prof. Dr. Franz LeypiG, Die augenähnlichen Organe der Fische. 100 8. in 80 mit 10 Tafeln in Steindruck. Bonn, Emil Strauss, 1881. 454 zogen haben. Es scheint nicht, dass die älteren Ichthyologen jemals die klei- nen perlmutterglänzenden Flecken ge- nauer untersucht haben, sie beschrieben sie einfach als Silberflecken oder Leucht- punkte und LEUCKART erst hat im Jahre 1864 diese Pigmentflecken an Chauliodus Sloani, Stomias boaund Scopelus Humboldtiüi genauer untersucht, wobei er zur An- sicht gelangte, dass diese Gebilde viel- leicht als Nebenaugen zu betrachten seien. Im Jahre 1879 veröffentlichte sodann Ussow in den Schriften der Mos- kauer naturforschenden Gesellschaft eine Abhandlung über den Bau der soge- nannten augenähnlichen Flecken bei Ohauliodus, Stomias, Astronesthes, Gono- stoma und Maurolicus, worin er zu der Auffassung gelangte, dass die augenähn- lichen Flecken der drei erstgenannten Gattungen wirkliche Sehorgane seien; bei den übrigen hingegen sei der Bau ein anderer, und zwar von drüsiger Natur. In demselben Jahr veröffentlichte LeypıG eine Arbeit über COhauliodus Sloani, in welcher er die Augenähnlichkeit der Flecken bei diesem Thiere zugab, aber doch eher an ein Uebergangssinnesorgan als an wirkliche Augen denken wollte, und zugleich auf eine Beobachtung hin- wies, nach welcher diese Organe im Le- ben leuchten sollten. Ausser dieser ‚Art hat nun Lryvıs in neuester Zeit weitere zehn Arten aus den Familien der Sternoptychidae und Scopelidae (und zwar in Spiritus aufbewahrte Exemplare), untersucht, und die Frage wesentlich gefördert, obwohl sie, wie er selbst zu- gesteht, noch nicht als endgiltig abge- schlossen betrachtet werden kann. Bei dem grossen Interesse der Sache wollen wir einen ausführlicheren Auszug zu geben versuchen. Vor Allem drängt sich das Ergeb- niss auf, dass der Bau der Organe bei den Sternoptychiden ein wesentlich an- derer ist, als beiden Scopeliden, und dass bei gewissen Scopeliden eine dritte Art von Bildungen hinzukommt, so dass Ley- Ussow u. Leydig, Die „augenähnlichen* Organe der Fische. DıG 3 Categorien unterscheiden musste: 1) augenähnliche Organe, 2) glas- perlenähnliche und 3) Leuchtor- gane. Schon mit der Lupe lassen sich die dreierlei Organformen deutlich unter- scheiden. Die der ersten Categorie er- scheinen als bräunlich gefärbte und mit grauer Masse gefüllte Säckchen, die der. zweiten als schüsselförmige, bräunlich gerandete Eintiefungen, derenBoden und Wandung mit metallisch glänzender Schicht ausgekleidet sind, die der drit- ten, welche ebenso wie die vorige und oft gemeinschaftlich mit derselben nur bei der Gattung Scopelus vorkommen, heben sich in Gestalt grösserer Flecken von Sil- berglanz oder auch grauer Perlfarbe ab. Die augenähnlichen Organe, über deren reihenweise Verbreitung zu beiden Seiten der unteren Mittellinie des Körpers wir bereits oben gesprochen haben, finden sich ausserdem am Kopfe in der Nasen- und Augengegend, ferner am Kiemendeckel und auf der Kiemen- haut, ja bei der Gattung Chauliodus beschränkt sich ihre Verbreitung nicht auf die äussere Haut, sondern sie finden sich Nester bildend und viel kleiner auch in der Mund- und Kiemenhöhle. Ihre Zahl steigt bei dieser Gattung auf Tausend und darüber, während bei den andern Gattungen die Gesammtsumme kaum die Zahl hundert überschreitet. Die äussere Gestalt ist nicht völlig gleich an den verschiedenen Körperstellen, sie geht aus der eines rundlichen Säck- chens über in’s Walzige, um in ein- zelnen Fällen die Gestalt einer Ampulle oder Glocke anzunehmen. Bei der Gat- tung Argyropelecus ordnen sich mehrere Organe gruppenweise zusammen. Am besten ausgebildet ist gewöhnlich das Organ vor dem Auge, ferner diejenigen der Kiemenhaut, die Mündung ist stets abwärts beim schwimmenden Fische, also centralwärts gekehrt. Den Bau betreffend, bestehen die Organe durch- weg aus einer Hülle von braunem Pig- ment, die von der Lederschicht der all- Ussow u. Leydig, Die „augenähnlichen“ Organe der Fische. gemeinen Hautdecke geliefert wird, und häufig eine Ringfalte oder Einschnü- rung bildet, welche den Innenraum in einen vorderen und hinteren Abschnitt theilt. Auf die Hülle folgt nach innen eine metallisch glänzende Schicht, die entweder dieselbe ganz auskleidet, oder nur einen Gürtel an der Mündung bil- det und aus irisirenden Flittern, Plätt- chen oder Fasern besteht, die in der Lederhaut liegen. Der graue Innen- körper zerfällt immer in zwei Abschnitte, einen hinteren grösseren, das Säckchen erfüllenden und einen kleinen vorderen, welcher dem Halstheil zugehört und aus der Mündung hervorragt. Der hintere Theil ist immer kuglich, der vordere walzenförmig und beide Abschnitte bil- den ein zusammenhängendes Ganzes. Beiden Theilen kommt eine radiale Streifung zu, die von einem Fachwerke herrührt, das sich von einer den grauen Körper umschliessenden Membran in’s Innere fortsetzt. In seinem Längs- durchschnitt lässt sich der hintere kug- liche Theil des Organs dem Querschnitt einer Orange im äusseren Ansehen vergleichen. Allein es handelt sich hier nicht um eine beschränkte Zahl durch- gehender Fächer, sondern um lauter im Centrum zusammenstossende Hohlkegel, von denen eine gewisse Anzahl über den kuglichen Umfang des Säckchens hinaus- strahlt, und den nach aussen mündenden Halstheil erfüllt, so dass die Figur eines in die Kugel eingesenkten Strahlenkegels entsteht. Das Maschenwerk ist wie bei der Orange mit kleinen, zum Theil stark lichtbrechenden Zellen erfüllt, die gegen den gemeinsamen Ausstrahlungspunkt beider Abtheilungen häufig in eine un- durchsichtige körnige Substanz über- gehen. In die Halsgegend dieser Organe tritt nun stets ein Nerv ein, dessen Fasern sich, wie es scheint, in die kör- nige Mitte des kuglichen Abschnittes verlieren, deren genauere histologische Verhältnisse aber nicht ermittelt werden konnten. Nach aussen wird das ge- 435 sammte Organ von einem Lymphraum umschlossen. Die glasperlenähnlichen Or- gane sind in ihrer Vertheilung über Bauchkante, Kopf, Kiemendeckel und Kiemenhaut den vorigen ähnlich, und die drei an der Kiemenhaut übertreffen stets die andern an Grösse. Sie haben die Gestalt eines wenig vertieften Schüs- selchen oder Näpfchen von rundlichem Umriss, dessen Boden mit Metallglanz versehen, und von einer gewölbten durch- sichtigen Decke überzogen ist. In allen Fällen ist auch hier eine äussere braun pigmentirte Hülle, und eine metallisch glänzende Schicht aus regelmässig sechs- eckigen, eng zusammenschliessenden Platten vorhanden, ferner ein binde- gewebiger Gallertkörper aus zarten, strahligen Zellen, die ein Netzwerk er- zeugen, und sich mitunter unter einer dachartigen Verdickung spindelförmig erheben. Auch hier treten Nervenfasern ein. Ganz ähnlich ist endlich der Bau der sich hauptsächlich durch eine viel bedeutendere Grösse unterscheidenden sogenannten Leuchtorgane, die bei Scopelus Rafinesqwi und Se. metopoclam- pus als stark lichtglänzende, abgegrenzte Flecken über der Nasenöffnung und unter dem Auge auftreten, während sie bei Scopelus Humboldtii und Se. Benoiti in Form und Ansehen gedämpfter Perlfiecken erscheinen. Was nun die Deutung dieser Or- gane betrifft, so weist Leypıe zunächst die Annahme Ussow’s zurück, dass es sich, wenigstens bei einigen derselben, um Drüsenorgane handeln könnte. Ebenso wenig liess sich die Ansicht, dass es sich um die Organe eines sechsten Sin- nes handele, festhalten, und so blieb denn zunächst die von LEUCKART, Ussow und Leyvıe selbst aufgestellte, und von SemrEr bereits für zweifellos sicher an- genommene Ansicht zu prüfen, ob es sich um echte, den Augen der Muscheln, Hirudinen u. s. w. vergleichbare Neben- augen handele. LeuckArr und Ussow 436 glaubten, Linse, Glaskörper und Retina unterscheiden zu können, und der Letz- tere veröffentlichte dem entsprechende Zeichnungen, allein genauere Unter- suchungen des Baues, und Vergleich- ungen desselben mit den Augen der Schnecken und Muscheln liessen diese Ansichten doch wiederum sehr für Prof. LeyvıG zweifelhaft erscheinen, wozu noch kommt, dass alle diese Organe, wenn der Fisch wagerecht schwimmt, ihre Mündung nicht gegen das Licht, sondern abwärts nach der dunklen Tiefe kehren. Noch weniger lassen die »glas- perlenähnlichen« Organe eine Vergleich- ung mit Augen zu, vielmehr glaubt Leypıe in dem Bau derselben mit höch- ster Wahrscheinlichkeit eine Ueberein- stimmung mit dem Bau der elektrischen und pseudoelektrischen Organe gewisser Fische zu erkennen, indem das Gallert- gewebe der Schüsselchen der gallert- artigen Ausfüllungsmasse im Innern der Säule, der halbmondförmige körnige Strang der elektrischen Platte entspre- chen würde, während die Nervenendungen ein ähnliches Verhalten in beiden Fällen zeigen. Nach dieser Betrachtungsweise würde ein Schüsselchen für sich je einem Kästchen der elektrischen Organe gleich- kommen. Die rundliche Form könne man sich aus ihrer isolirten Stellung erklären, und sie würden wahrschein- lich wie gewöhnlich eckig werden, wenn sie zur Bildung eines gemeinsamen elek- trischen Organs zusammenzurücken hät- ten. In der Bildung der elektrischen und pseudoelektrischen Organe herrscht an sich eine ähnliche Mannigfaltigkeit vor, wie bei diesen hier besprochenen Organen, deren Homologie durch die ähnliche Lage und Vertheilung über- zeugend ausgedrückt ist. Leypıe glaubt, dass zwei Reihen von Bildungen dieser Art sich entwickelt haben, und dass die eine derselben von den Savi’schen Bläschen des Zitterorgans aus, durch das pseudoelektrische Organ des Gym- narchus niloticus und die schüsselartigen Ussow u. Leydig, Die „augenähnlichen“ Organe der Fische. Organe der Scopelinen hindurch, zu den echt elektrischen Organen führe. Die andere Reihe würde sodann die »augen- ähnlichen« Organe der Sternoptychiden umfassen, und diese Apparate wären es, welche auch bei den Larven der Fischmolche (Menopoma) und den Larven der Urodelen (Salamandra) aufträten. Dieses mehrfach beobachtete Vorkom- men auch bei Amphibien im Stadium ihrer Fischähnlichkeit, würde auf einen bestimmten Zusammenhang der Thätig- keit dieser Organe mit dem Wasserleben hindeuten, worin aber diese Thätigkeit besteht, ob Elektrizität entwickelt wird oder nicht, ist noch in ein völliges Dunkel gehüllt. Von mehreren Seiten sind diese Organe als Leuchtorgane aufge- fasst worden. Der erste Blick zeigt, dass Boden und seitliche Wand der schüsselförmigen Körper mit Silber- und Goldglanz »leuchten« aber nicht anders als etwa der Hintergrund eines mit Tapetum versehenen Fischauges. Auffälliger wird die Erscheinung an den grösseren Organen des Kopfes einzelner Arten, welche daher auch vorzugsweise als Leuchtapparat gedeutet wurden. Wenn aber die ganze Wirkung nur auf der Strahlung eines wie die gesammte Hautdecke der Fische mit Metallglanz versehenen Hohlspiegels, der die zer- streuten Strahlen sammelt, beruhete, so wäre der übrige komplicirte Bau des Organs, und die Innervation über- flüssig und um so unerklärlicher. Nun besitzen wir aber eine Beobachtung, aus der hervorzugehen scheint, dass diese Organe nicht blos Licht sammeln, son- dern wirklich phosphoreseiren. Der früh- verstorbene treffliche Naturforscher der Challenger-Expedition WILLEMOES-SUHM sah die Scopelinen des Nachts phos- phoresciren: »Wie ein leuchtender Stern hing einer im Netz, als er Nachts heraufkam«, erzählt er und setzt hin- zu: »möglicherweise ist der Sitz des Lichtes in den eigenthümlichen Seiten- Ussow u. Leydig, Die „augenähnlichen“ Organe der Fische. organen und es mag diese Phosphores- cenz die einzige Lichtquelle in grossen Tiefen des Meeres sein.«e Der Gedanke, dass in den finstern Abgründen der Tiefsee jedes Thier gleichsam seine Laterne, wie der Bergmann auf dem Kopfe trage, hat nun sehr viel Ver- führerisches, und in der That hat Wiıurr- MORS-SuHM noch mehrere andere Fische beobachtet, welche auf dem abgeplat- teten Kopfe und auf der Kopfbartel, mit »einem merkwürdig grossen Sinnes- organ« versehen waren. Auch VALEN- CIENNES, hat von der Gattung Hemi- ramphus bemerkt, dass sie an der Spitze der Schnauze eine phosphorescirende, starkglänzende Blase trage. Man könnte, da die Mehrzahl dieser Thiere niemals im lebenden Zustande beobachtet wurde, darnach jedoch auf die von Prof. Leypie nicht diskutirte Meinung kommen, dass alle drei Categorieen von Apparaten als mehr oder weniger vollkommene Leuchtapparate fungiren, und wenn man seine Querschnitte der Apparate ver- gleicht, so wird diese nur auf den ersten Augenblick sonderbar erscheinende An- sicht äusserst wahrscheinlich. Nament- "lich das augenähnliche Organ von Ar- gyropelecus und Ichthyococeus gleicht in seinem Querschnitt vollkommen dem Beleuchtungsapparate eines Projektions- Apparates.. Denken wir uns die kör- nige Stelle im Mittelpunkte, in welche die Nervenfasern eintreten, als die im Mittelpunkte des Apparates stehende Lichtquelle, so befindet sich dahinter der Hohlspiegel und davor das Dia- phragma, durch welches der concen- trirte Strahlenkegel unter starker Bre- chung nach aussen geworfen werden würde. Auch bei den perlähnlichen Organen scheint, wenn wir die Dar- stellung von Prof. Leypıe richtig ver- standen haben, ein gewölbter lichtbre- chender Körper auf der nach aussen gewendeten Seite des Organs zu liegen. Wir würden also, wenn sich unsere Vermuthung bewährt, hier nicht 437 ein einfaches leuchtendes Organ, son- dern einen vollkommenen optischen Leucht-Apparat auf verschiedenen Stu- fen der Ausbildung vor uns haben, der das in ihm erzeugte phosphorische Licht mittelst Hohlspiegel und Linsen in möglichst koncentrirter Gestalt nach aussen wirft, und die betreffenden Fische wären mit Reihen kleiner knopfförmiger Leuchtapparate ganz und gar besetzt. Ich möchte zunächst hervorheben, dass diese Idee an sich durchaus nichts Abenteuerliches hat. Wie Prof. Leypıe selbst hervorgehoben hat, sind die »augenähnlichen«, die »perlähnlichen« und die ächten Leuchtorgane durchaus homologe Bildungen, und von den letz- teren, den einzigen, die man an einem lebenden Thiere beobachtet hat, wissen wir, dass sie ein stern- helles Licht ausstrahlen. Wenn nun die Natur in unserem Auge eine be- wunderungswürdige Camera obscura hergestellt hat, warum sollte sie nicht auch die viel einfachere Hohlspiegel- Linsen-Laterne unserer Leuchtthürme hervorgebracht haben, vorausgesetzt na- türlich, dass ein solcher Apparat dem Thiere von’Nutzen sein konnte. Ueber den Nutzen der Leuchtapparate ver- schiedener Thiere habe ich mich be- reits früher ausgesprochen, und zu zeigen gesucht, dass sie wahrschein- lich hauptsächlich als Schreckmittel dienen.* Jedenfalls dürfte die Ansicht aufzugeben sein, als sei das bei Tief- see-Thieren besonders verbreitete Leuch- ten ein Mittel, die purpurne Finsterniss da unten zu erhellen oder, wie man auch gemeint hat, die bunten Farben der Tiefsee-Thiere zu erzeugen; die im Finstern lebenden Thiere bedürfen des Lichtes jedenfalls nicht zu ihrer Exi- stenz, wie ja die vielen blinden Grot- tenthiere beweisen. Auch die Ansicht, dass der Leuchtfisch etwa mit dem neben seinem Auge stehenden Organ * Vgl. Kosmos Bd. VU, 8. 479. 438 seine Beute beleuchte, könnte nicht zur Erklärung etwaiger am Unterkörper stehender Leuchtapparate dienen, denn was diese beleuchten, können die Au- gen nicht sehen; wohl aber können diese Organe das Thier von weitem sicht- barer machen, und daher wie die Trutz- farbe der Oberweltthiere wirken, wenn es etwa zu den wegen üblen Geschma- ckes oder Geruches an sich gemiedenen gehört. Nur in einer solchen Weise würde sich unter anderen auch das Leuchtorgan eines auf der Challenger- Expedition aus einer Tiefe von 1900 Faden emporgezogenen Krusters, wel- cher nach dem ebengenannten Natur- forscher Willemoesia getauft wurde, deu- ten lassen, denn das Thier erwies sich als völlig blind. Prof. LeypıG macht darauf aufmerk- tam, dass das Leuchten meist nur eine Begleiterscheinung sei, die auf der Aus- Ussow u. Leydig, Die „augenähnlichen“ Organe der Fische. scheidung eines fettigen Körpers beruhe, und dass desshalb seine Deutung der hier in Rede stehenden Bildungen als elektrische und pseudoelektrische Or- gane nicht alterirt werde. Indessen möchten wir doch daran erinnern, dass das Leuchten mancher Thiere nach Köruıker’s Beobachtung unter dem Ein- fluss des Willens steht, so dass die Innervation phosphorescirender Organe nicht überflüssig erscheint, und dass nach JousseT DE BELLESME Johannis- würmchen sofort aufhören zu leuchten, sobald man die Kopfganglien entfernt. Uebrigens vermochten nach den Be- obachtungen des Letztgenannten elek- trische Reize das Leuchten ebenso stark zu erregen als Nervenreize, jedenfalls scheint mir die oben dargelegte neue Hypothese über die Bedeutung der augenähnlichen Flecken eine eingehende Prüfung wohl zu verdienen. E. K. Erklärung Fig. 1 Argyropelecus hemigymmus, zweimal vergrössert. „ 2 Ichthyococeus ovatus, zweimal ver- grössert. » 3 Augenähnliches Organ von der Bauch- kante des Argyropelecus hemigymnus im Längsschnitt, mässig vergrössert. „ 4 Das Organ der Nasengegend von Ich- thyococcus ovatus, mässig vergrössert im Längsschnitt. Unterschiede der zelligen Elemente in der „Linse“ und dem „Glaskörper“. Die Eintrittsstelle des Nervenbündels ist die gewöhnliche. » > Längsschnitt des Auges von Stomias anguilliformisnach Ussow, mit Deut- der Tafel. ung als inneren Glaskörper (x), Linse (l), Netzhaut (r), Pigmentschicht (p), irisartige Einschnürung (er) und Seh- nerv (n). Mässig vergrössert. ScopelusRissoi mit „glasperlenartigen“ Organen ?lı. „ 1 Zwei „glasperlenartige“Organe von der Seite des Scopelus Humboldtii. Gering vergrössert, bei auffallendem Lichte. »„ 3 Seopelus Rafinesquwü, zweimal ver- grössert; in der Augengegend die bei- den leuchtenden Organe. » 9 Schwanzende von Scopelus Humbold- tii, mit „glasperlenähnlichen“ Organen und dem grossen Perlileck. Sämmtliche Figuren (mit Ausnahme der fünften) nach Prof. LevpıG’s Abbildungen kopirt. Staatliche Einrichtungen. Von Herbert Spencer. IN. Vertretungskörper. Trotz aller Mannichfaltiokeit und trotz des verwickelten Baues der staat- lichen Organisation hat es sich doch als nicht unmöglich herausgestellt, mit eini- . ger Bestimmtheit zuerkennen, auf welche Weise einfache und zusammengesetzte Staatsoberhäupter sich entwickeln und wie unter gewissen Bedingungen beide als Herrscher und berathender Körper sich vereinigen. Etwas schwieriger aber erweist es sich, herauszufinden, wie ein Vertretungskörper entsteht, denn so- wohl der Vorgang als sein Product sind hier viel variabler. Wir müssen uns da- her mit weniger genauen Ergebnissen begnügen. Wie bisher, so müssen wir auch hier auf den Anfang zurückgehen, um den eigentlichen Schlüssel zu finden. In je- nem frühesten Stadium der wilden Horde, wo es noch keine andere Uebermacht gab als diejenige des Mannes, dessen Stärke oder Muth oder Schlauheit ihm ein gewisses Uebergewicht verlieh, wird der erste Schritt zur Praxis der Wahl gethan — zu einer willkürlichen Er- wählung eines Anführers im Kriege. Ueber das Verhalten roher Stämme bei Wahlen schweigen leider die Reisenden; wahrscheinlich kommen sehr verschie- dene Methoden in Anwendung. Wir haben aber Berichte über Wahlen, die von europäischen Völkern in früheren Zeiten vorgenommen wurden. Im alten Scandinavien wurde der Häuptling einer Provinz von dem versammelten Volk erwählt und dann »inmitten des Ge- töses der Waffen und des Rufens der Menge emporgehoben«, und bei den alten Germanen wurde er auf einem Schild herumgetragen. Diese Ceremonie erinnert ganz an die bis zu den neue- ren Zeiten übliche formelle Einsetzung eines neu erwählten Parlamentsmitglie- des, und wenn wir bedenken, dass jede Wahl ursprünglich bei uns selbst durch Aufheben der Hände vollzogen wurde, so ersehen wir leicht, dass die Wahl eines Vertreters einstens identisch war mit der Wahl eines Häuptlings. Unser Unter- haus hat seine Wurzel in localen Ver- sammlungen gleich denen, in welchen uncivilisirte Stämme ihre Kriegshäupt- linge erwählen. Neben der bewussten Wahl kommt bei rohen Völkern auch eine Wahl durch das Loos vor. Die Samoaner z. B. drehen eine Cocusnuss wirbelnd herum, und derjenige unter den Umstehenden, | auf welchen sie beim zur Ruhekommen mit der Spitze hinweist, wird von ihnen als gewählt betrachtet. Auch alte hi- 440 storische Völker bieten uns Beispiele hiefür, wie = B. die Juden in der Ge- schichte von Saul und Jonathan oder die homerischen Griechen, als sie einen Helden bestimmten, um mit Hektor zu kämpfen. In diesen beiden letzteren Fällen war zugleich ein Glaube an übernatür- liche Einwirkung vorhanden: man dachte, das Loos werde auf göttliche Weise bestimmt. Und wahrscheinlich war die Wahl durch das Loos zu staatlichen Zwecken bei den Athenern und zu krie- gerischen Zwecken bei den Römern, so- wie auch in späteren Zeiten die Ver- wendung des Looses, um Abgeordnete zu wählen, wie in einigen italienischen Republiken und in Spanien (so z. B. in Leon während des 12. Jahrhunderts) von einem ähnlichen Glauben beein- flusst, obgleich unzweifelhaft auch der Wunsch, Reichen und Armen gleiche Chancen zu geben oder vielleicht auch oft Jemand ohne Widerspruch eine Auf- gabe übertragen zu können, die lästig oder gefährlich war, unter den Beweg- sründen mitsprach oder sogar haupt- sächlich dazu beitrug. Hier jedoch in- teressirt uns nur die Thatsache, dass auch dieser Wahlmodus, welcher in der Vertretung eine grosse Rolle spielt, bis auf die Gebräuche der primitiven Völ- ker zurückverfolgt werden kann. Ebenso finden wir auch den Pro- cess der Abordnung bereits in Umris- sen angedeutet. Gruppen von Menschen, welche Unterhandlungen eröffnen oder ihre Unterwerfung anzeigen oder Tri- but senden wollen, bezeichnen gewöhn- lich einzelne aus ihrer Anzahl, die in ihrem Namen handeln sollen. In sol- chen Fällen ist in der That die Me- thode mit Nothwendigkeit vorgeschrie- ben, da eben ein ganzer Stamm nicht wohl als solcher derartige Handlungen ausführen kann. Daraus ergibt sich auch, dass die Bezeichnung von Ver- tretern im ersten Stadium aus densel- ben Ursachen entsprungen ist, welche Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. in späteren Zeiten diesen Gebrauch von neuem aufleben lassen. Denn wie der Wille des Stammes sich zwar in einer Versammlung desselben leicht allen eige- nen Mitgliedern, nicht aber ebenso den übrigen Stämmen kundgeben lässt, son- dern, wo es sich um Angelegenheiten zwischen mehreren Stämmen handelt, durch Abgeordnete mitgetheilt werden muss, so sind auch in einem grossen Volke die Bewohner jeder Oertlichkeit zwar wohl im stande, sich local selbst zu regieren, nicht aber mit Bewohnern entfernterer Localitäten zu Berathungen zusammenzukommen, welche sie alle be- treffen, und sie müssen daher eine oder mehrere Personen hinschicken, um ihren Willen auszudrücken. In beiden Fällen wird durch die Entfernung die directe Aussprache der Volksstimme in eine in- directe Uebermittlung verwandelt. Bevor wir jedoch nun auf die Be- dingungen eintreten, unter welchen diese auf die eine oder andere Weise getrof- fene Auswahl von Einzelnen zu bestimm- ten Aufgaben bei der Bildung eines Ver- tretungskörpers in Uebung kommt, müs- sen wir noch mehrere Classen von Er- scheinungen ausschliessen, die für un- sere vorliegende Untersuchung keine Bedeutung haben. Obgleich die Ver- tretung, wie man sie gewöhnlich auf- fasst und wie sie auch hier betrachtet werden soll, sich in der Regel mit einer volksthümlichen Regierungsform ver- knüpft, so ist doch dieser Zusammen- hang kein nothwendiger. An vielen Or- ten und zu manchen Zeiten hat Ver- tretung zusammen mit vollständiger Aus- schliessung der Massen von der Ge- walt bestanden. In Polen war sowohl vor als nach Annahme der sogenannten republikanischen Form der centrale Reichstag aus vom König ernannten Se- natoren zusammengesetzt, ausserdem aber hauptsächlich aus Adeligen, wel- che in den Provincialversammlungen des Adels erwählt worden waren: — die grosse Masse des Volkes blieb voll- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. ständig machtlos und bestand meistens aus Leibeigenen. Auch in Ungarn bil- dete bis in die neuesten Zeiten die pri- vilegirte Classe, welche auch, selbst nach- dem sie sehr stark zugenommen hatte, doch nur «ein Zwanzigstel von der Ge- »sammtzahl dererwachsenen Männer aus- »machte«, ausschliesslich die Grundlage der Vertretung. >Ein ungarisches Co- »mitat konnte vor den Reformen von »1848. als directe aristokratische Re- »publik bezeichnet werden«: alle Glieder des Adelsstandes hatten nämlich das Recht, die locale Versammlung zu be- suchen und bei der Wahl eines Adels- 'vertreters für den allgemeinen Landtag ihre Stimme abzugeben; die niederen Classen aber hatten keinerlei Antheil an der Regierung. Ausser diesen Vertretungskörpern von exclusiv aristokratischer Art sind aber noch andere zu nennen, welche nicht in das Gebiet dieses Capitels fallen. Wie Duruy bemerkt, »war das > Alterthum nicht so unbekannt mit dem » Vertretungssystem, wie man gewöhn- »lich annimmt. . .. „ Jede römische »Provinz hatte ihre allgemeinen Ver- »sammlungen. So besassen die »Lycier einen wahren gesetzgebenden »Körper, welcher aus den Abgeordneten »ihrer dreiundzwanzig Städte bestand. >»... .. Diese Versammlung hatte so- »gar ausübende Befugnisse«; und Pavia, Gallien, Spanien, alle östlichen Provinzen und Griechenland hatten ähnliche Ver- sammlungen. Allein so wenig auch hierüber bekannt ist, so darf man doch wohl mit Recht annehmen, dass die- selben in ihrer Entstehung sowohl als in ihrer Stellung nur eine entfernte Ver- wandtschaft zu den Körperschaften zeig- ten, welche wir jetzt als Vertretungs- körper unterscheiden. Ebenso wenig haben wir es hier mit regierenden Sena- ten und Räthen zu thun, welche durch verschiedene Abtheilungen einer Stadt- bevölkerung erwählt werden, wie z. B. diejenigen, die in den italienischen Re- Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX), 441 . publiken sich aufdie verschiedenste Weise ausbildeten — alles Körperschaften, die einfach als Werkzeuge dienten und deren Handlungen der unmittelbar sich aus- drückenden Billigung oder Missbilligung von seiten der versammelten Bürger- schaft unterworfen waren. Hier müssen wir uns auf jene Art der Vertretung beschränken, welche in Gemeinschaften auftritt, die ein so weites Gebiet be- wohnen, dass ihre Mitglieder genöthigt sind, die ihnen zukommende Gewalt durch Abgeordnete auszuüben, und ferner haben wir ausschliesslich solche Fälle zu betrachten, in welchen die versam- melten Abgeordneten nicht etwa bereits vorhandene Staatseinrichtungen ver- drängen, sondern mit denselben zusam- menwirken. Wir werden am besten damit be- ginnen, genauer als bisher zu unter- suchen, welcher Theil des primitiven Staatsgebildes es ist, aus dem der Ver- tretungskörper in der hier näher be- zeichneten Auffassung hervorgeht. Im allgemeinen ist diese Frage schon stillschweigend durch den Inhalt der vor- hergehenden Capitel beantwortet worden. Denn wenn sich bei Gelegenheit öffent- licher Berathungen die primitive Horde von selber in die untergeordnete Menge und die wenigen Höheren scheidet, unter welchen letzteren meist Einer den gröss- ten Einfluss besitzt, und wenn im Ver- laufe der mehrfach wiederholten Zu- sammensetzung von Gruppen, welche der Krieg mit sich bringt, der aner- kannte Kriegshäuptling sich zu einem König entwickelt, während die wenigen Höherstehenden zu dem aus den klei- neren Kriegsführern zusammengesetzten berathenden Körper werden, so ergibt sich von selbst, dass, wenn überhaupt noch eine dritte coordinirte Gewalt im Staate vorhanden ist, dieselbe entweder aus der Masse der Untergebenen selbst oder aus irgend einer in ihrem Namen wirkenden Einrichtung bestehen muss. So selbstverständlich dies auch erschei- 30 442 nen mag, so ist es doch nicht über- flüssig, hier noch besonders diesen Um- stand zu betonen, da wir vor dem Be- ginn der Untersuchung darüber, unter welchen Verhältnissen die Ausbildung eines Vertretungssystems aus der Stärk- ung der Volksgewalt hervorgeht, erst die zwischen beiden stattfindenden Be- ziehungen genau kennen lernen müssen. Indem die undifferenzirte Masse in einfachen, noch nicht staatlich organi- sirten Gesellschaften immerhin eine ge- wissermaassen latente Gewalt behält, obgleich sie mehr oder weniger unter- drückt wird, sobald der Krieg eine Unterwerfung zu stande bringt und Eroberungen zu Classendifferenzirungen führen, strebt sie doch, so oft die Ver- hältnisse es gestatten, immer von neuem wieder zur Geltung zu gelangen. Die Gefühle und Ansichten, welche sich all- mählich ausgebildet und überliefert haben und nun in gewissen Stadien der socia- len Entwicklung die Menge veranlassen, sich Wenigen zu unterwerfen, werden unter. anderen Umständen gar oft von anderen Gefühlen und Ansichten durch- kreuzt. Schon mehrfach wurde im Vor- beigehen auf diese Erscheinungen Rück- sicht genommen. Hier müssen wir die- selben der Reihe nach und ausführlicher betrachten. Ein wesentlicher Factor in der Ent- wicklung der patriarchalischen Gruppe während des Hirtenstadiums war, wie sich zeigte, die Begünstigung der Unter- ordnung unter das Oberhaupt durch den Krieg, weil eben beständig jene Gruppen am Leben blieben, in welchen die Unter- ordnung am grössten war. Wenn dem so ist, so folgt umgekehrt daraus, dass ein Aufhören der Kriege dahin strebt, die Unterordnung zu vermindern. Wäh- . rend die Glieder der zusammengesetzten Familie ursprünglich dicht zusammen- lebten und mit einander eng verbunden kämpften, schliessen sie sich nun immer weniger aneinander an, je seltener sie Gelegenheit haben, unter ihrem Ober- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. haupte zu gemeinsamer Abwehr zu- sammenzuwirken. Je friedlicher daher ein Staat ist, desto unabhängiger werden die sich vermehrenden Abtheilungen, welche die Familie, die Phratrie und den Stamm bilden. Mit dem Fortschritt des industriellen Lebens entsteht auch eine grössere Freiheit des Handelns — besonders bei den nur noch entfernt mit einander verwandten Gliedern der Gruppe. Dasselbe muss sich auch in einer nach feudalen Grundsätzen regierten Gruppe zeigen. Wenn beständige Streitig- keiten mit den Nachbarn fortwährend zu localen Gefechten führen — wenn bewaffnete Haufen bereit stehen und die Untergebenen von Zeit zu Zeit zum Kampfe aufgerufen werden müssen — wenn als Begleiterscheinung des Kriegs- dienstes Nachdruck auf Ehrfurchtsbe- zeugungen gelegt wird, so erhält sich von selbst eine strenge Unterordnung aufrecht, welche die ganze Gruppe durch- dringt. Sobald aber die Angriffe und Rachezüge.. weniger häufig werden, er- scheint auch das Tragen von Waffen nicht mehr so nothwendig. Es ergeben sich weniger Gelegenheiten für die perio- dische Bekräftigung der Lehnspflichten und dem entsprechend nehmen jene all- täglichen Handlungen zu, welche ohne die Leitung eines Oberen ausgeführt werden und damit eine Steigerung der Selbständigkeit des Charakters begün- stigen. Diese Veränderungen werden noch gefördert durch die allmähliche Besei- tigung von abergläubischen Ansichten in betreff der Natur des allgemeinen oder localen Oberhauptes. Wie früher gezeigt wurde, dient die Annahme eines übernatürlichen Ursprungs oder über- natürlicher Gewalt des Königs wesent- lich dazu, seine Hände zu kräftigen, und wo den Häuptlingen mehrerer zu- sammengehöriger Gruppen eine Heilig- keit zukommt, welche auf der Bluts- verwandtschaft mit dem von allen ver-. Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. ehrten, halbgöttlichen Vorfahren beruht, oder wo sie Glieder einer erobernden, von Gott abgeleiteten Race sind, da wird ihre Autorität über alle ihre Unter- gebenen bedeutend gestärkt. Dem ent- sprechend muss denn auch Alles, was diese Vorfahrenverehrung und das da- mit verbundene Glaubenssystem unter- gräbt, das Wachsthum der Volksgewalt begünstigen. Unzweifelhaft war die Ausbreitung des Christenthums über Europa dadurch, dass es das Prestige der grösseren und kleineren Herrscher herabsetzte, wesentlich in dem Sinne wirksam, dass es einer grösseren Un- abhängigkeit der Beherrschten vorar- beitete. Diese Ursachen haben verhältniss- mässig geringe Wirkung, wo das Volk zerstreut lebt. In ländlichen Bezirken wird die Autorität des Staatsoberhaup- tes verhältnissmässig sehr langsam ab- geschwächt. Selbst wenn lange Frie- denszeiten herrschen und die localen Häupter ihren göttlichen Charakter längst verloren haben, so haften ihnen doch noch Ehrfurcht einflössende Ueber- lieferungen an: sie sind nicht von ge- wöhnlichem Fleisch und Blut. Der Reich- thum, welcher während längerer Zeiten den Edelmann ausschliesslich auszeich- net, verleiht ihm sowohl thatsächliche Gewalt als auch den aus der Kund- gebung derselben entspringenden Ein- fluss. Indem die verschiedenen Stände seiner Untergebenen, so lange wenig- stens die Fortbewegung von einem Orte zum andern noch schwierig ist, buch- stäblich oder wenigstens thatsächlich auf der Scholle festsitzen, bleibt er indessen für sie das einzige Beispiel eines grossen Mannes: von anderen weiss man nur. durch Hörensagen, er aber ist aus Erfahrung bekannt. Leicht kann er auch seine unmittelbaren und mittelbaren Untergebenen beaufsichti- gen und der Unehrerbietige oder Auf- rührerische kann, wenn auch vielleicht nicht öffentlich bestraft, so doch aus 443 dem Dienst gejagt oder sonstwie in seinem Leben beeinträchtigt werden, so dass er sich entweder unterwerfen oder auswandern muss. Bis auf unsere Zei- ten herab lässt sich im Benehmen der Bauern und Landleute überhaupt gegen den Edelmann wohl erkennen, welch strenger Zwang die Landbevölkerung noch in halbfreiem Zustand gebunden hielt, nachdem die primitiven zwingen- den Einflüsse längst weggefallen waren. Gerade entgegengesetzte Wirkungen dürfen wir unter entgegengesetzten Be- dingungen zu finden erwarten, da näm- lich, wo grosse Volksmengen sich dicht * zusammenhäufen. Selbst wenn solche grosse Mengen aus Gruppen bestehen, die ihrerseits den einzelnen Clansober- häuptern oder Feudalherren unterworfen sind, so wirken doch verschiedene Ein- flüsse zusammen, um die Untergeben- heit zu vermindern. Finden sich an demselben Orte mehrere Herren zu- sammen, denen ihre Untergebenen je- weils Gehorsam schuldig sind, so wer- den diese Herren sich leicht gegenseitig herabsetzen. Die Macht des Einzelnen unter ihnen erscheint nicht so impo- nirend, wenn man täglich andere sieht, welche denselben Rang zur Schau tragen. Wenn ferner Gruppen von Abhängigen sich mit einander vermischen, so lässt sich die Oberaufsicht von seiten ihrer Herren nicht mehr so leicht ausführen. Und was die Ausübung der Controle verhindert, das begünstigt anderseits die nähere Verbindung zwischen dem zu Controlirenden: jede Verschwörung ist erleichtert und die Entdeckung der- selben erschwert. Da ferner die Häup- ter solcher zusammengedrängter Grup- pen unter diesen Umständen leicht auf einander eifersüchtig sein werden, so ist für jeden Einzelnen der Antrieb ge- geben, sich möglichst zu stärken, und es liegt die Versuchung nahe, zu die- sem Zwecke sich um die Volksgunst zu bewerben und daher den Zwang über seine eigenen Untergebenen locke- 30 * Ben! rer werden zu lassen und den von an- deren Herren schlecht behandelten Un- tergebenen Schutz zu gewähren. Noch mehr wird ihre Macht unterwühlt, wenn in diese Gruppen zahlreiche Fremde aufgenommen werden. Wie schon früher erwähnt, begünstigt diese Ursache vor allem anderen die Ausbildung der Volks- gewalt. In dem Maasse, als die Zahl der Einwanderer zunimmt, welche sich von den Familien oder feudalen Ab- theilungen abgelöst haben, denen sie bisher angehörten, tragen sie auch immer mehr zur Schwächung des inne- ren Baues der Abtheilungen bei, in welche sie eingetreten sind. Jede Or- ganisation, in welche diese Fremden aufgenommen werden, muss nothwendig eine lockerere Gestalt bekommen und ihr Einfluss wirkt als auflösendes Mittel auch auf alle sie umgebenden Organi- sationen ein. Hier werden wir denn abermals auf jene Wahrheit zurückgeführt, welche man nicht genug betonen kann, dass nämlich das Wachsthum der Volks- gewalt überall mit der Handelsthätig- keit verbunden ist. Denn nur durch Handelsthätigkeit können viele Men- schen in den Stand gesetzt werden, in näherer Berührung mit einander zu leben. Die physikalische Nothwendig- keit bedingt auf die Dauer eine weite Zerstreuung der Landbevölkerung, wäh- rend ebenso die physikalische Noth- wendigkeit die Ansammlung derjenigen veranlasst, welche sich mit Handel be- schäftigen. Die Mittheilungen aus ver- schiedenen Ländern und Zeiten lassen erkennen, dass periodische Versamm- lungen zur Abhaltung von religiösen Festlichkeiten oder zu anderen öffent- lichen Zwecken die ersten Gelegenheiten zum Kaufen und Verkaufen bieten, die regelmässig benutzt werden, und dieser Zusammenhang zwischen der Anhäufung vieler Menschen und dem Austausch von Lebensbedürfnissen, der sich an- fänglich nur in bestimmten Zwischen- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. räumen geltend macht, wird zu einem dauernden Zusammenhang, wo viele Menschen bleibend zusammenleben — wo eben eine Stadt in der Nähe eines Tempels oder rings um einen festen Platz oder sonst an einer Stelle ent- steht, deren locale Verhältnisse irgend welche Gewerbsthätigkeit begünstigen. Die industrielle Entwicklung unter- stützt ferner die Emancipation des Volkes, indem sie einen neuen Stand schafft, dessen Macht auf seinem Reich- thum beruht und der deshalb mit der Macht derjenigen, welche früher allein wohlhabend waren, der Männer von höherem Rang, zu wetteifeın und sie in manchen Fällen sogar zu übertreffen beginnt. Während daraus ein Wett- streit entsteht, welcher den früher durch die patriarchalischen oder feudalen Öberhäupter allein ausgeübten Einfluss herabsetzt, wird es zugleich ein Anlass zu einer milderen Form der Unter- ordnung. Da gerade im ersten Anfang der reiche Kaufmann in der Regel aus der nicht privilegirten Classe hervorgeht, so ist das Verhältniss zwischen ihm und den unter ihm Stehenden ein sol- ches, welches die Idee der persönlichen Unterwerfung ausschliesst. Je mehr also die industriellen Thätigkeiten über- wiegen, desto mehr verbreitet sich auch ein Zusammenhang zwischen Arbeit- gebern und Arbeitern, welcher sich von dem Verhältniss zwischen Herrn und Sclaven oder zwischen feudalem Ober- haupt und Vasall dadurch unterschei- det, dass er keine Unterthanenpflichten einschliesst. Unter den früheren Be- dingungen konnte der Gedanke an ein abgelöstes Einzelleben gar nicht auf- kommen — an ein Leben, das weder von einem Familien- oder F eudaloberhaupte Schutz empfängt, noch auch in Unter- ordnung unter dasselbe geführt wird. In städtischen Bevölkerungen aber, die sich zu einem guten Theil aus Flücht- lingen zusammensetzen, welche ent- weder Kleinhändler sind oder von an- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. deren angestellt werden, verbreitet sich immer mehr die Erfahrung von der Mög- lichkeit eines verhältnissmässig unab- hängigen Lebens und diese Vorstellung tritt immer deutlicher hervor. Diejenige Form des Zusammenwir- kens nun, welche den auf solche Weise entstehenden industriellen Staat aus- zeichnet, begünstigt stets auch die Gefühle und Gedanken, welche für die Entwicklung der Volksmacht geeignet sind. Im täglichen Verkehr findet eine Ausgleichung aller Ansprüche statt und die Vorstellung von Billigkeit wird Gene- ration um Generation bestimmter aus- gestaltet. Das Verhältniss zwischen Arbeitgeber und Arbeiter und zwischen Käufer und Verkäufer lässt sich nur unter der Bedingung aufrechterhalten, dass die übernommenen Verpflichtungen von beiden Seiten erfüllt werden: wo dies nicht geschieht, da fällt das Ver- hältniss auseinander und es bleiben eben nur jene Verhältnisse in Kraft, wo die Erfüllung der Pflichten statt- findet. Mit dem Erfolge der Handels- thätigkeit und der Zunahme der Be- völkerung sind daher als unvermeid- liche Begleiterscheinungen verbunden die Aufrechterhaltung der billigen An- sprüche aller Betheiligten und die Kräf- tigung des Selbstbewusstseins derselben. Kurz also, der Fortschritt des In- dustrialismus löst in verschiedenster Weise das alte Verhältniss des Status und setzt das neue Verhältniss des Vertrages an seine Stelle (um mich der Antithese von Sir Hrwky Mae zu be- dienen), und dadurch führt er Volks- massen zusammen, welche durch ihre Verhältnisse befähigt und durch ihre Schulung dazu angetrieben werden, die staatliche Organisation, welche ihnen aus kriegerischen Zeiten überliefert wor- den ist, entsprechend umzugestalten. In der Regel pflegt man zu sagen, dass freie Regierungsformen durch glück- liche Zufälle ins Leben gerufen worden 445 seien. Streitigkeiten zwischen verschie- denen Gewalten im Staate oder zwi- schen verschiedenen Parteien haben die eine oder andere veranlasst, sich um die Unterstützung des Volkes zu bewerben, mit dem Resultate, dass die Volksmacht sich dabei kräftigte. Die Eifersucht des Königs gegen die Ari- stokratie hat ihn bestimmt, dass er die Sympathie des Volkes — manchmal der Leibeigenen, häufiger aber der freien Bürger — zu gewinnen sucht und sie daher irgendwie begünstigt, oder das Volk hat auf andere Weise aus einem Bündniss mit der Aristokra- tie zum Widerstand gegen königliche Tyrannei und Bedrückung Vortheil ge- zogen. Es ist kein Zweifel, dass sich die Thatsachen in dieser Weise dar- stellen lassen. Jeder Streit bedingt gewöhnlich den Wunsch nach Bundes- genossen und im ganzen mittelalter- lichen Europa, so lange die Kämpfe zwischen den Königen und dem Adel an der Tagesordnung waren, galt die Unterstützung der Städte für einen wichtigen Factor. Deutschland, Frank- reich, Spanien, Ungarn liefern uns Bei- spiele die Menge. Es wäre aber irrthümlich, wenn man Ereignisse dieser Art als die wirklichen Ursachen der Volksgewalt betrachten wollte. Sie sind vielmehr nur als die Bedingungen aufzufassen, unter denen, die Ursachen in Wirkung treten. Diese gelegentlichen Schwä- chungen der bisher bestehenden Ein- richtungen geben blos der angesammel- ten Kraft, welche staatliche Verände- rungen durchzuführen bereit ist, die geeignete Gelegenheit, sich zu bethä- tigen. Drei Factoren lassen sich in dieser Kraft unterscheiden: die relative Masse derjenigen, welche die indu- strielle Gemeinschaft zusammensetzen, zum Unterschiede von denen, welche noch der älteren Organisationsform an- gehören; dann die bleibenden Gefühle und Gedanken, die in ihnen durch ihre 446 Lebensweise erzeugt werden, und end- lich die zeitweiligen Erregungen, welche durch besondere Fälle der Unterdrü- ckung oder des Unglücks wachgerufen werden. Ueberschauen wir kurz das Zusammenwirken dieser Factoren. Die Demokratie von Athen bietet uns zwei Beispiele dar, die auch der Zeit nach die ersten sind. Der solo- nischen Gesetzgebung ging ein Zustand voraus, in welchem gewaltige Streitig- keiten zwischen den politischen Par- teien an der Tagesordnung waren, und zugleich bestand «eine allgemeine Auf- «lehnung der ärmeren Bevölkerung gegen «die reiche wegen ihres mit Bedrückung «verbundenen Elendes». Die ausge- dehntere Vertheilung der Gewalt, welche die von Kleisthenes angeregte Revo- lution zu stande brachte, fand unter ähnlichen Umständen statt. Die ver- hältnissmässig unruhige Bevölkerung der eingewanderten Händler hatte sich in der Zeit von Solon bis zu Klei- sthenes so vermehrt, dass die vier ur- sprünglichen Tribus, welche die Bevöl- kerung von Attika bildeten, auf zehn vermehrt werden mussten. Und diese vergrösserte Masse, die sich haupt- sächlich aus Menschen zusammensetzte, welche nicht unter der Familiendis- ciplin standen und sich daher viel weniger leicht von den herrschenden Classen im Zaume halten liessen, ver- schaffte sich nun selbst zu einer Zeit, wo die herrschenden Classen unter sich uneinig waren, die Obergewalt. Obgleich berichtet wird, dass Kleisthenes, «nach- »dem erin einem ParteistreitseinemRiva- »len unterlegen war, das Volk zu sich »heranzog» — obgleich also die ganze Umwandlung so dargestellt wird, als sei sie nur durch persönliche Verhält- nisse veranlasst worden, so ist doch klar, dass ohne jenen massenhaften Volkswillen, der schon längst im Wachs- thum begriffen war, die staatliche Um- gestaltung nicht möglich, oder wenn sie stattgefunden hätte, nicht auf die Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Dauer festzuhalten gewesen wäre. Die Bemerkung, welche GroTE aus Arısro- TELES citirt, «dass Aufstände durch «grosse Ursachen, aber durch kleine «Anlässe erzeugt werden», lässt sich mit vollem Rechte auch hier anwenden, wenn wir nur die kleine Aenderung anbringen, statt «Aufstände» zu schrei- ben «staatliche Veränderungen». Denn sobald diese Volksgewalt einmal sich geltend zu machen im stande war, konnte sie offenbar nicht ohne wei- teres wieder ausgeschlossen werden. Kleisthenes hätte unter solchen Um- ständen unmöglich einer so grossen Masse von Menschen Einrichtungen auf- erlegen können, die mit ihrem eigenen Willen in Widerspruch gestanden hätten. Thatsächlich war es also die Entwick- lung der industriellen Macht, welche damals die demokratische Organisation hervorrief und sie auch später erhielt. Wenden wir uns nach Italien, so be- merken wir zunächst, dass die Auf- richtung der kleinen Republiken, von der früher erwähnt wurde, dass sie gleich- zeitig mit dem Verfall der Kaisermacht stattgefunden habe, hier abermals be- sonders im Hinblick darauf angezogen werden kann, dass sie mit jenem Wider- streit - der Autoritäten zusammenfiel, welcher seinerseits diesen Verfall ver- ursachte. So sagt Sısmoxpı: „Der In- »vestiturstreit war es, welcher diesem »allgemeinen Geiste der Freiheit und der »Vaterlandsliebe in sämmtlichen Ge- »meinwesen der Lombardei, Piemonts, »Venetiens, der Romagna und Toscanas »Flügel verlieh.« Mit andern Worten, während der Kampf zwischen Kaiser und Papst die Kräfte beider in Anspruch nahm, gelang es dem Volke, seine Macht geltend zu machen. Und in späterer Zeit bot auch Florenz ein im wesent- lichen gleiches, wenn auch in der Form etwas verschiedenes Beispiel dar. „Zu der Zeit, wo „Florenz die Mediei „vertrieb, war diese Republik ein Spielball „dreier verschiedener Parteien“. Savonarola Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. „benutzte diesen Stand der Dinge, um darauf „zu dringen, dass das Volk seine Macht sich „selbst vorbehalte und sie durch einen Rath „ausübe. Man befolgte seinen Vorschlag „und am ‚1. Juli 1495 wurde dieser Rath als „oberste Gewalt eingesetzt‘. Auch in Spanien stärkte sich die Volksmacht inmitten der Unruhen, wel- che während der Minderjährigkeit Fer- nando IV. herrschten, und von den perio- dischen Versammlungen, zu denen später die Abgeordneten bestimmter Städte zu- sammentraten (dieselben fanden ohne Er- laubniss der Regierung statt), lesen wir: „Dem Wunsche der Regierung, die auf- „strebenden Pläne der Infantes de la Cerda „und ihrer zahlreichen Anhänger zu vereiteln, „musste die Wohlgeneigtheit dieser Versamm- „lungen als unentbehrliches Mittel zu diesem „Zwecke erscheinen. Die Streitigkeiten wäh- „rend der Minderjährigkeit von Alphonso XI. „begünstigten mehr als je die Prätensionen „des dritten Standes. Jeder Candidat für die „Regentschaft bewies den städtischen Autori- „täten aufs eifrigste sein Wohlwollen, in der „Hoffnung, dadurch die nöthigen Stimmen zu „erhalten.“ Wie sehr aber all das nur eine Folge der industriellen Entwicklung war, geht daraus hervor, dass viele, ja fast alle diese verbündeten Städte in einer früheren Periode durch Wieder- besiedelung von Gegenden entstanden waren, die während der langen Kämpfe zwischen Mauren und Christen verödet waren, und dass diese »Poblaciones« oder Gemeinwesen von Colonisten, die, über weite Strecken zerstreut, zu blühenden Städten heranwuchsen, sich aus Leib- eigenen und Handwerkern zusammen- gesetzt hatten, denen durch königliche Urkunde verschiedene Privilegien mit Einschluss desjenigen der Selbstregierung verliehen worden waren. Hiezu kommt nun noch das uns allen bekannte Bei- spiel. Während des Kampfes zwischen König und Baronen, als die Parteien sich nahezu das Gleichgewicht hielten und die Bevölkerung der Städte durch den Handel so zugenommen hatte, dass ihre Hilfe wichtig wurde, fingen letztere 447 zuerst an, eine bemerkenswerthe Rolle zu spielen, zunächst als Verbündete im Kriege, bald auch als Antheilhaber an der Regierung. Es ist nicht zu be- zweifeln, dass Simon von Montfort, als er zu dem Parlament von 1265 nicht blos Ritter der Grafschaft, sondern auch Abgeordnete der Städte und Burgflecken berief, dabei von dem Wunsche beseelt war, sich auf diese Weise der vom Papst unterstützten königlichen Partei gegen- über möglichst zu stärken. Und ob er nun dadurch die Zahl seiner Anhänger zu vermehren oder grössere Geldmittel zu erlangen suchte, jedenfalls war die Folge davon, dass die Stadtbevölkerung ein relativ wichtiger Theil der Nation wurde. Diese Auffassung stimmt mit späteren Ereignissen zusammen. Denn obgleich die Vertretung der Städte nach- her unterblieb, so lebte sie doch bald wieder auf und wurde 1295 auf die Dauer eingeführt. Wie Hums mit Recht bemerkt, hätte eine solche Einrichtung »nicht ein so kräftiges Wachsthum zeigen »und inmitten all der Stürme und Um- »wälzungen nicht so aufblühen können«, wenn nicht »die Nation bereits durch die »allgemeinen Verhältnisse darauf vor- »bereitet gewesen wäre«, wobei wir nur zu ergänzen haben, dass unter jenen all- gemeinen Verhältnissen, eben die ver- mehrte Masse und der in Folge dessen vermehrte Einfluss der freien industriel- len Gemeinwesen zu verstehen ist. Eine Bestätigung unseres Satzes finden wir in den Fällen, welche zeigen, dass die vom Volke während der Zeiten, wo die Macht des Königthums und der Aristokratie durch Zwiespalt gesunken war, errungene Gewalt wieder verloren geht, wenn, während die alte Organi- sation ihre frühere Festigkeit und leb- hafte Wirkung wiedererlangt, die in- dustrielle Ausbildung keine entsprech- enden Fortschritte macht. Spanien oder genauer Castilien ist ein Beispiel hievon. Nachdem sich jene industriellen Gemein- wesen, die aus der Colonisation der 448 wüsten Gegenden hervorgegangen waren, ihren Antheil an der Regierung erkämpft hatten, sank derselbe nach Verlauf eini- ger Regentschaften, die sich durch Kriege und innere Befestigung des Staates aus- zeichneten, auf einen blos noch nominel- len Anspruch herab. Es ist lehrreich, zu beobachten, wie jene ursprüngliche Veranlassung zum Zusammenwirken, welche zu socialer Ver- einigung im allgemeinen führt, auch später noch fortwirkt, um innerhalb einer ganzen Gesellschaft kleinere Ver- einigungen hervorzurufen. Denn gerade wie kriegerisches Verhalten nach aussen hin die Organisation des ganzen Staates in’s Leben ruft und weiterbildet, so wirkt auch kriegerisches Verhalten im Innern auf die Organisation der einzelnen Theile zurück, selbst wenn ihre Thätigkeit vor- wiegend industriell, sie selbst also nicht eigentlich kriegerisch organisirt sind. Prüfen wir die Geschichte dieser an- wachsenden Volksmassen, welche die Städte bilden und deren Leben sich vorzugsweise durch beständigen Aus- tausch von Dienstleistungen nach gegen- ' seitiger Uebereinkunft kennzeichnet, so finden wir, dass sich ihr Regierungs- system doch wesentlich während jener anhaltenden Streitigkeiten mit den krie- gerischen Gruppen in ihrer Umgebung entwickelt. Zunächst zeigt sich, dass diese An- siedelungen von Handelsleuten gerade da- durch, dass sie an Bedeutung gewannen und königliche Bestätigungsurkunden er- hielten, in eine halb kriegerische Lage ver- setzt wurden — sie empfingen nun in etwas veränderter Form auch ihr Lehen vom König und übernahmen die damit verbundene Verantwortlichkeit. Ge- wöhnlich bezahlten sie auch Abgaben aller Art, die im allgemeinen den von den Feudalherren bezahlten gleichwerthig waren, und wie diese hatten auch sie Kriegsdienste zu leisten. In den privile- girten spanischen Städten »lag jedem Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. »Einwohner diese Pflicht ob«, und »jeder »Bürger von einem bestimmten Ver- »mögen war verbunden, als Reiter zu »dienen« oder eine entsprechende Summe zu zahlen. In Frankreich »war in den In- »corporationsurkunden, welche die Städte »erhielten, die Zahl der geforderten Trup- »pen meistens genau angegeben«. Und in den privilegirten königlichen Burg- flecken von Schottland »war jeder Bür- »ger ein unmittelbarer Vasall der Krone«. Dazu kommt nun, dass die indu- striellen Städte, da sie gewöhnlich durch Verschmelzung bereits vorhandener ländlicher Bezirke entstehen, die beson- ders volkreich wurden, weil die ört- lichen Verhältnisse eine bestimmte Form des Handels begünstigten, und bald eine Zufluchtsstätte für Flüchtlinge und ent- laufene Leibeigene bildeten, den kleinen feudal- regierten Gruppen in ihrer. Um- gebung gegenüber in gleiche Beziehungen geriethen, wie sie unter diesen selbst bestehen: sie streben wie diese nach Vermehrung: ihrer Anhänger und sehen sich oft zur Anlegung von Befestigungen genöthigt. Ferner zeigt sich, dass diese Städte und Burgflecken, welche durch königliche Urkunden oder sonstwie die Befugniss zur Verwaltung ihrer eigenen Angelegen- heiten erlangt haben, gewöhnlich auch in ihrem Bereich besondere Einrich- tungen zum Schutz ausbilden. In Eng- land, Spanien, Frankreich, Deutschland entstanden — oft mit Zustimmung des Königs, manchmal aber auch ungeachtet seines Widerstrebens, wie in England, oft sogar seinem Verbot zum Trotz, wie im alten Holland — sogenannte In- nungen, die ihre Wurzel in halbreli- giösen Verbänden von unter sich ver- wandten Personen hatten, sich aber bald zu Seemanns- und Kaufmannsgilden er- weiterten, und diese, in ihren Bezieh- ungen zu einander auf gegenseitige Ab- wehr berechnet, bildeten dann die Grund- lage jener städtischen Organisation, wel- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. cher die allgemeine Vertheidigung gegen die Angriffe der Adeligen oblag. In solchen Ländern sodann, wo die Kämpfe zwischen diesen industriellen und den sie umgebenden kriegerischen Gemeinwesen sehr heftig und anhaltend waren, pflegten sich die ersteren zu ge- meinsamer Abwehr zu verbünden. In Spa- nienwurdendie »Poblaciones«, als sie auf- blühten und zu grossen Städten heran- wuchsen, oft von den benachbarten Feudalherren überfallen und ausgeraubt, worauf sie gegenseitige Schutzbündnisse schlossen, und in späterer Zeit entstan- den unter dem Drang desselben Be- dürfnisses noch ausgedehntere Vereinig- ungen grosser und kleiner Städte, die sich unter Androhung schwerer Strafen für Nichterfüllung der Verpflichtungen gegenseitige Hilfe gegen Angriffe, sei es des Königs oder des Adels, zuschworen. Auch in Deutschland finden wir den ewigen Bund, dem bis 1255 sechzig rheinische Städte beigetreten waren, als während der nach der Entthronung des Kaisers Friedrich II. eingetretenen Unruhen die Tyrannei des Adels uner- träglich geworden war. Und aus gleichem Anlass bildeten sich auch in Holland ähnliche Verbände. So sehen sich denn die hier und dort innerhalb einer Nation emporwachsenden industriellen Grup- pen gar oft durch örtliche Streitigkeiten genöthigt, in kleinerem und grösserem Maassstab die Thätigkeiten und die Ein- richtungen aus sich hervorzuentwickeln, welche die Nation als Ganzes anderen Nationen gegenüber auszubilden ge- zwungen ist. Für uns ist hier namentlich die Folgeerscheinung bedeutsam, dass, wenn die Entwicklung des Industrialismus auf solche Weise durch einen Rückfall in den Militarismus gehemmt wird, dadurch auch die Ausbildung der Volksrechte zum Stillstand kommt. Besonders wo die Vertheidigungs- in Angriffskriege übergehen und das Streben nach Er- oberung anderer Länder und Städte 449 überhandnimmt, wie dies in vielen ita- lienischen Republiken der Fall war, er- leidet die dem industriellen Leben eigen- thümliche freie Regierungsform bedeu- tende Einschränkungen, wenn nicht gar eine völlige Umkehr in die mit krieger- ischem Leben verbundene Zwangsform. Und wenn, wie in Spanien, die Kämpfe zwischen Städten und Adel lange fort- dauern, so hört das Wachsthum freier Institutionen auf, da unter solchen Be- dingungen weder jene commercielle Blü- the, welche grosse Stadtbevölkerungen erzeugt, noch die Pflege der entsprech- enden geistigen Beschaffenheit möglich ist. Daraus lässt sich entnehmen, dass die Entwicklung der Volksrechte, welche die industrielle Entwicklung in England begleitete, wesentlich davon abhing, dass diese Reibungen zwischen den industriel- len und den sie umgebenden feudalen Gruppen verhältnissmässig geringe Aus- dehnung erlangten. Die Wirkungen der Handelsthätigkeit wurden weniger beein- trächtigt und die örtlichen Regierungs- centren der Städte wie des Landes waren nicht verhindert, sich zur Abwehr gegen das allgemeine Centrum zu vereinigen. Sehen wir nun etwas genauer zu, auf welche Weise das Volk zu herr- schendem Einfluss gelangt. Aus der Ge- schichte von Organisationen jeder Art lernen wir, dass der Zweck, dem eine Einrichtung urprünglich zu dienen hat, nicht immer derselbe ist, den sie später erfüllt. So auch hier. Die Uebernahme vonVerpflichtungen und.nichtdie Geltend- machung bestimmter Rechte gab meistens den ersten Anstoss zur Erweiterung der Volksmacht. Selbst die Umwandlung, welche die Revolution des Kleisthenes in Athen bewirkte, nahm die Form einer Anderseintheilung der Tribus und Demen zum Zweck der Besteuerung und des Kriegsdienstes an. Ebenso lag jener Erweiterung der Oligarchie, welche unter Servius Tullius in Rom stattfand, offen- bar die Absicht zu Grunde, den Ple- 450 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. bejern Pflichten aufzuerlegen, die bis dahin ausschliesslich von den Patriciern getragen worden waren. Am besten werden wir aber dieses ursprüngliche Verhältniss zwischen Pflicht und Macht, in welchem die Pflicht den Anfang, die Macht die Folge bildet, verstehen lernen, wenn wir nochmals auf die ersten Zeiten zurückgehen. Denn wenn wir uns erinnern, dass die primitive Staatsversammlung ihrem Wesen nach ein Kriegsrath ist und sich aus den Anführern zusammensetzt, die in Gegenwart ihres bewaffneten Gefolges berathen, und wenn wir bedenken, dass anfangs alle erwachsenen Freien kraft ihrer Eigenschaft als Krieger zur Ab- wehr und zum Angriff zusammengerufen zu werden pflegen, so wird uns einleuch- tend, dass die Theilnahme der bewaff- neten Freien an der Versammlung ur- sprünglich mit dem Kriegsdienst zusam- menhing, zu dem sie verpflichtet waren, und dass die Macht, die sie dabei etwa ausüben konnten, nur eine zufällige Be- gleiterscheinung war. Aus späteren Zei- ten ergeben sich deutliche Beweise, dass dies die normale Ordnung ist, denn sie kehrt überall da wieder, wo nach Auflösung der bisherigen Staatsform die staatliche Organisation von neuem be- ginnt. So in den italienischen Städten, wo, wie wir sahen, die ursprünglichen »Par- lamente«, durch die Sturmglocke zur Vertheidigung zusammenberufen, alle waffenfähigen Männer umfassten: in erster Linie stand die Pflicht, zukämpfen, in zweiter erst das Recht zur Stimm- abgabe. Natürlich erhält sich aber diese Verpflichtung zur Theilnahme fort, nach- dem die primitive Versammlung statt der kriegerischen längst ganz andere Functionen übernommen hat; dafür lässt sich die schon früher erwähnte That- sache anführen, dass es bei den Scan- dinaviern »>für einen freien Mann un- »ehrenhaft war, der jährlichen Ver- »sammlung nicht beizuwohnen«. In Frankreich ruhte die Pflicht, dem Gau- _ oder gericht beizuwohnen, in der Merowingi- schen Periode auf allen freien Männern; in der Karolingischen Zeit »wird das »Ausbleiben mit allerhand Bussen be- »legt«; in England waren die niederen Freien so gut wie die andern »verbun- »den, an der Bezirks- und Gauversamm- »Jung theilzunehmen«, unter Androhung von »grossen Strafen für die Vernach- »lässigung dieser Pflicht«, und inHolland war im dreizehnten Jahrhundert, wenn sich die Bürger zum öffentlichen Gericht zu andern Zwecken versammelt hatten, »Jeder, der ohne allgemeine Be- »willigung die Stadtglocke zog, und » Jeder, der auf ihren Ruf nicht erschien, »einer Busse verfallen«. Nachdem wir dieses primitive Ver- hältniss zwischen Volkspflicht und Volks- macht erkannt, werden wir dies Ver- hältniss auch da besser verstehen, wo es wieder auftritt, wenn die Volksmacht zusammen mit der Entwicklung des In- dustrialismus von neuem aufzuleben be- ginnt. Denn auch hier zeigt sich wieder, dass die Pflicht das Primäre, die Macht das Secundäre ist. Hauptsächlich um dem Herrscher Hilfe zu leisten, in der Regel zu Kriegszwecken, werden die Ab- geordneten der Städte in die Lage ver- setzt, an den öffentlichen Angelegen- heiten theilzunehmen. Es wiederholt sich in complicirterer Form, was wir auf früheren Stadien in einfacher Form be- reits kennen gelernt. Halten wir einen Augenblick inne, um den Uebergang zu untersuchen. Wie in dem Abschnitt über » Die Herr- schaft des Ceremoniells« gezeigt wurde, bestehen die Einkünfte der Herrscher anfangs ausschliesslich und später immer noch theilweise aus Geschenken. Zu- erst unregelmässig und freiwillig dar- gebracht, werden sie allmählich zu pe- riodischen und mehr oder weniger zwangs- weisen Gaben. Die Gelegenheiten, wo Versammlungen zur Berathung öffent- licher Dinge (in der Regel kriegerischer Unternehmungen, für die man Geld Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. braucht) stattfinden, werden naturge- mäss auch dazu benützt, die erwar- teten Geschenke darzubringen und in Empfang zu nehmen. Wenn nun der kampflustige König durch erfolgreiche Kriege mehrere kleinere Gesellschaften zu einer grossen vereinigt — wenn, »die »Königsgewalt in gleichem Maasse an »Intensität zunimmt, wie das Königreich »an Extensität gewinnt« (um mich des bezeichnenden Ausdrucks von Professor Srtuses zu bedienen), und wenn in Folge dessen die halb freiwilligen Gaben mehr eine Sache des Zwanges werden, obschon sie vielleicht noch die Namen ‘ donum und auwilium behalten — so kommt es denn gewöhnlich dahin, dass diese Erpressungen die Grenze des Er- tragbaren überschreiten und anfangs zu passivem, in schwereren Fällen zu offenem Widerstande führen. Ist dann die königliche Gewalt durch mehrfache Aufstände erheblich erschüttert, so wird sich die bisherige Ordnung am ehesten unter der Bedingung wiederherstellen lassen, dass das ursprüngliche System freiwilliger Gaben mit den etwa nöthi- gen Abänderungen festgehalten wird. Als z. B. in Spanien nach dem Tode von Sancho I. Unruhen ausbrachen, be- schlossen die in Valladolid versammelten Abgeordneten von zweiunddreissig Orten, dass alle Forderungen des Königs, wel- che die herkömmlichen Abgaben über- stiegen, durch den Tod seines Abgesand- ten beantwortet werden sollten, und die Nothwendigkeit, sich während des Kam- pfes mit einem Prätendenten des An- hangs der Städte zu versichern, führte offenbar zu einer Duldung dieses Ver- haltens. Ebenso verlangten im nächsten Jahrhundert die Cortes in Burgos, als es während der Minderjährigkeit von Alphonso XI. Streitigkeiten um die Re- gentschaft gab, dass den Städten >nichts »weiter abgefordert werden sollte, als »was in ihren Urkunden vorgeschrieben »sei.« Aehnliche Ursachen führten in Frankreich zu ähnlichen Folgen: Louis 451 Hutin wurde von einem Bunde von Auf- ständischen gezwungen, der Bürgerschaft und dem Adel der Picardie und Normandie Freibriefe auszustellen, worin er auf das Recht, ungebührliche Abgaben zu er- heben, verzichtete ; und mehrfach wurden die Generalstaaten zu dem Zwecke ein- berufen, die Nation mit den zur Fort- führung von Kriegen auferlegten Steuern zu versöhnen. Ebensowenig dürfen wir das uns allen bekannte Beispiel aus un- serer eigenen Geschichte vergessen, wie Adel und Volk, nachdem schon zu St. Alban und St. Edmund vorbereitende Schritte hiezu gethan worden waren, dem König endlich zu Runnymede mit Erfolg die Macht zur Ausübung ver- schiedener Bedrückungen entrissen, wor- unter namentlich diejenige der Aus- schreibung von Steuern ohne Zustim- mung seiner Unterthanen erwähnt wurde. Was für Folgen hatten nun diese Einrichtungen, die mit von den örtlichen Verhältnissen abhängigen Unterschieden in vielen Ländern unter ähnlichen Be- dingungen getroffen worden sind? Wenn der König verhindert war, unbewilligte Forderungen zu erheben, und sich an seine Unterthanen oder wenigstens an die mächtigsten unter ihnen wenden musste, um die nöthigen Mittel zu erhal- ten, so war der erste und wesentlichste Beweggrund, sie oder ihre Vertreter einzuberufen, offenbar der, dass er solche Bewilligungen zu erlangen wünschte. Das Vorwalten dieses Grundes zur Be- rufung von Nationalversammlungen lässt sich schon daraus erschliessen, dass er, wie bereits gezeigt wurde, auch bei localen Versammlungen vorwiegt; so sagt z. B. Heinrich I. in einem Schreiben über die Gauversammlungen, worin er ausdrücklich den alten Gebrauch wieder- herstellen zu wollen erklärt: — >»Ich »will diese Gerichte einberufen lassen, >wann ich will, zur Bestreitung meiner eigenen allerhöchsten Bedürfnisse, nach »meinem eigenen Gutdünken.« Geld zu bewilligen, ist also der erste und oberste 452 Zweck, zu dem sich die Anführer und Vertreter versammeln sollen. Aus der Befugniss, die Bedingungen vorzuschreiben, unter denen Geld be- willigt werden wird, erwächst dann die Befugniss und bald das bestimmte Recht, an der Gesetzgebung theilzunehmen. Diesen Zusammenhang sehen wir schon auf sehr niederen socialen Entwicklungs- stufen angedeutet. Gaben darbringen und dafür Hilfe empfangen, geht von Anfang an Hand in Hand. So wurde früher in dem Capitel über Geschenke von Gulab Singh angeführt: — >»Selbst »mitten aus der Menge konnte man sein »Auge auf sich lenken, indem man eine »Rupie emporhielt und ausrief: »Maha- »rajah, eine Bitte!« Wie ein Habicht »stürzte er auf das Geld herab, und »nachdem er dasselbe an sich genom- »men, pflegte er den Bittenden gedul- »dig anzuhören.< Ebenda habe ich noch fernere Beispiele für dieses Verhältniss zwischen der der Regierung geliehenen Unterstützung und dem von ihr gefor- derten Schutz beigebracht, welche sich noch durch viele andere bekräftigen liessen, wie z. B. dass auch bei uns in früheren Zeiten »der königliche Hof »selbst, obschon die oberste Gerichts- »stelle im Königreich, doch für Nie- »mand offen stand, der nicht dem Kö- »nig Geschenke darbrachte,« und dass, wie die Staatsrechnungen zeigen, jede Abhilfe einer Beschwerde oder jede Sicher- stellung gegen Angriffe mit einer Gabe bezahlt werden musste — ein Zustand der Dinge, der sich, wie Humz bemerkt, auf dem Continent getreulich wiederholte. Wenn dies der ursprüngliche Zu- sammenhang zwischen Unterstützung des Staatsoberhauptes und Schutz von seiten desselben ist, so ergibt sich nun auch leicht das Verständniss für das Ver- halten der parlamentarischen Körper- schaften, wo solche entstehen. Gerade wie in einfachen, aus König, Kriegs- führern und waffenfähigen Freien be- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. stehenden Versammlungen, welche, wie diejenigen in Frankreich zur Zeit der Merowinger, noch in hohem Grade die ursprüngliche Form bewahrt haben, die Darbringung von Geschenken verbunden wurde mit den Verhandlungen über öffentliche, die Rechtspflege sowohl als den Krieg betreffende Angelegenheiten und gerade wie in unsern eigenen alten Gauversammlungen die Ausübung der localen Regierung mit Einschluss der Rechtspflege begleitet war von der Aus- rüstung von Schiffen und der Entrich- tung »einer Entschädigung für das »Feorm-fultum oder den Unterhalt des Königs,«e — so kehrten auch später, als nach erfolgreichem Widerstand gegen die Uebergriffe der Königsgewalt all- gemeine, vom König zu berufende Ver- sammlungen des Adels und der Ver- treter eingesetzt wurden, diese gleich- zeitigen Forderungen nach Geld von der einen und nach Gerechtigkeit von der andern Seite wieder. Wir dürfen es für ausgemacht ansehen, dass im Durch- schnitt der sich widerstreitende Egois- mus der Betreffenden den Hauptfactor bildet und dass auf jeder Seite das Bestreben vorwaltet, so viel zu nehmen und so wenig zu geben, als irgend mög- lich ist. Beispiele aus der Geschichte Frankreichs, Spaniens und Englands vereinigen sich zum Beweise dessen. Als Karl V. von Frankreich 1357 die Generalstaaten angeblich wegen Be- einträchtigung seiner Rechte entliess und sich nun durch fernere Verschlech- terung der Münze Geld verschaffte, was einen Aufstand in Paris verursachte, der sein Leben bedrohte, da fand drei Monate später eine Wiedereinberufung der Staaten statt, in denen dann die Beschwerden der früheren Versammlung berücksichtigt und zugleich eine Summe für Kriegszwecke bewilligt wurde. Und von den im Jahre 1366 versammelten Generalstaaten schreibt HArLLAm: — »Die Nothwendigkeit der Wiederher- »stellung des Münzfusses wird ausdrück- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. »lich als die Hauptbedingung bezeich- »net, unter der sie einwilligten, das »Volk zu besteuern, das lange Zeit mit »der schlechten Münze von Philipp dem »Schönen und seinen Nachfolgern be- »trogen worden war.« In Spanien hatten sich die privilegirten Städte, die auf Grund ihrer Freibriefe nur zu bestimm- ten Abgaben und Leistungen verpflichtet waren, beständig gegen unbewilligte Forderungen zu wehren, während die Könige immer wieder versprachen, nicht mehr als die gesetzlichen und herkömm- lichen Abgaben zu nehmen, allein eben so oft ihr Versprechen wieder brachen. Alphonso XI. »verpflichtete sich 1328, »von seinem Volke keinerlei theilweise »oder allgemeine Steuer zu erheben oder »>ihm auferlegen zu lassen, die nicht bis- »her schon durch das Gesetz bestimmt »wäre, ohne vorherige Zustimmung aller »>zu den Cortes zusammengetretenen »Abgeordneten.< Wie wenig aber solche Versprechungen beachtet wurden, geht daraus hervor, dass die Cortes 1393, nachdem sie Heinrich III. ein Zuge- ständniss gemacht, die Bedingung bei- fügten, dass er — „vor einem der Erzbischöfe schwöre, „von keiner der grossen und kleinen Städte „und keinem der zu ihnen gehörenden Indi- „Viduen unter keinerlei Vorwand dringenden „bBedürfnisses irgend Etwas an Geld, Dien- „sten oder Darlehen zu nehmen oder zu for- „dern, so lange nicht die drei Stände des „Königreichs zuvor nach altem Brauche ge- „bührend einberufen worden und zu den Cor- „tes zusammengetreten seien.“ Ebenso in England während der Zeiten, wo sich die Parlamentsgewalt allmählich befestigte. Während sich die Theile der Nation mehr verschmol- zen und die königliche Autorität da- durch dem Absolutismus nahe gekommen war, hatte sich auch als Rückwirkung dagegen jener Widerstand erhoben, der die Magna Charta schuf und später den fortgesetzten Kampf zwischen dem König, der seine Schranken zu durchbrechen, und seinen Unterthanen, welche dieselben 453 aufrechtzuerhalten und noch zu ver- stärken suchten, hervorrief. Der zwölfte Artikel der Charta hatte bestimmt, dass keine Schildsteuer oder Dienstleistung ausser dem Festgesetzten ohne Zustim- mung der Nationalversammlung aufer- legt werden sollte; beständig aber wieder- holten sich sowohl vor als nach der Erweiterung des Parlaments die Bestre- bungen von seiten des Königs, Beiträge zu erhalten, ohne den Beschwerden Ab- hilfe verschafft zu haben, und die Be- mühungen von seiten des Parlaments, die Bewilligung der Gelder von der Er- füllung jenes Versprechens solcher Ab- hilfe abhängig zu machen. Vom Ausgange dieses Kampfes hing die Ausbildung der Volksgewalt ab, wie wir aus einer Vergleichung der Geschichte des französischen und spanischen mit dem englischen Parlamente ersehen. Die obigen Citate beweisen, dass sich die Cortes ursprünglich das Recht, die Geld- forderungen des Königs zu bewilligen oder zu verweigern und ihre eignen Bedingungen zu stellen, erkämpft und dasselbe auch eine Zeit lang behauptet hatten; schliesslich aber vermochten sie die Erfüllung ihrer Bedingungen nicht mehr durchzusetzen. „In der Kampfperiode der spanischen „Freiheit unter Karl I. begann die Krone es „zu unterlassen, auf die Vorstellungen der „Cortes zu antworten, oder sie bewegte sich „in unbefriedigenden allgemeinen Ausdrücken. „Das führte zu vielen Beschwerden. 1523 „bestanden die Abgeordneten darauf, eine „Antwort zu bekommen, bevor sie Geld be- „willigten. Dieselbe Forderung wiederholten „sie 1525 und setzten auch ein in die „Re- „eopilacion“ aufgenommenes allgemeines Ge- „setz durch, welches bestimmte, dass der Kö- „nig alle ihre Gesuche beantworten solle, „bevor er die Versammlung auflöse. Allein „dies wurde missachtet wie zuvor.“ Und von da an ging die Parla- mentsgewalt rasch ihrem Verfall ent- gegen. — Unter etwas anderer Form vollzog sich wesentlich derselbe Vor- gang auch in Frankreich. Nachdem die Generalstaaten einmal, wie oben 454 gezeigt wurde, die Geldbewilligung von der Durchführung der Gerechtigkeit ab- hängig gemacht hatten, wurden sie dazu gebracht, ihre einschränkende Gewalt aufzugeben. Karl VII. — „erlangte von den Staaten der königli- „chen Domänen, die 1439 zusammentraten, dass „sie [die Steuern] für bleibend erklärt wur- „den, und von 1444 an erhob er sie auf diese „Weise, d.h. ununterbrochen und ohne vor- „herige Bewilligung .... Die Fortdauer „der Steuern wurde auch auf die mit der „Krone verbundenen Provinzen ausgedehnt, „die sich aber das Recht wahrten, dieselben „durch ihre Provincialstaaten zu bewilligen „.... In den Händen von Karl VII. und „Ludwig XI. strebte sich die königliche „Steuer von aller Controle freizumachen .... „Ihre Ausdehnung nahm immer mehr zu.“ Die Folge davon war denn, wie uns Daresıe erzählt, dass, >als die tailes »und aides . ... . auf die Dauer be- »willigt waren, die Einberufung der Ge- »neralstaaten nicht mehr nöthig erschien. >Sie waren bald nichts weiter als blosse »Schaustellungene. In unserem Falle dagegen riefen während des auf die de- finitive Einsetzung des Parlaments fol- senden Jahrhunderts die beständigen Kämpfe, welche durch die Ausflüchte, Listen und Falschheiten der Könige nöthig gemacht wurden, ein stetiges Wachsthum der Macht hervor, die Mittel zu verweigern, bis die Gesuche berück- sichtigt waren. Ist auch zuzugeben, dass dieser Aus- gang durch die Streitigkeiten der grossen politischen Parteien gefördert wurde, welche die Uebermacht des Königs schwächten, so dürfen wir doch mit vollem Nachdruck hervorheben, dass die Zunahme einer freien industriellen Bevölkerung die wesentlichste Ursache desselben war. Die Einberufung der Ritter der Grafschaft, welche die Classe der kleinen Grundbesitzer vertraten, die bei mehreren Gelegenheiten der Ein- berufung von Abgeordneten der Städte vorausging, lässt schon die wachsende Bedeutung dieser Classe, von der wohl Geld zu bekommen war, erkennen, und Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. als Abgesandte der Städte zu dem Par- lament von 1295 eingeladen wurden, verrieth schon die Form der Einladung, dass der Beweggrund hievon in dem Wunsche lag, pecuniäre Hilfe von einem Theil der Bevölkerung zu erlangen, der relativ ansehnlich und reich geworden war. Bereits hatte der König mehr als einmal besondere Agenten in die Graf- schaften und Burgflecken geschickt, um sich von ihnen Beiträge für seine Kriege zu verschaffen. Schon hatte er Pro- vincialräthe versammelt, die aus Ver- tretern der Städte, Burg- und Markt- flecken bestanden, um sie zu Geldbewil- ligungen zu veranlassen. Und als das grosse Parlament einberufen wurde, gab man als Grund dafür in dem Schreiben an, dass Kriege mit Wales, Schottland und Frankreich das Königreich bedroh- ten: womit aber ausgesprochen war, dass das dringende Bedürfniss, neue Geldmittel zu erlangen, zu dieser An- erkennung der Städte sowohl wie der Grafschaften führte. So verhielt es sich auch in Schott- land. Der erste bekannte Fall, wo Vertreter der Burgflecken in das Staats- leben eintraten, bot sich dar, als pecu- niäre Hilfe aus allen Quellen durchaus herbeigeschafft werden musste, nämlich «zu Cambuskenneth am 15. Juli 1326, «als Bruce von seinem Volke einen Bei- «trag forderte, um die Ausgaben für «seine ruhmreichen Kriege und die Be- «dürfnisse des Staates zu decken, was «dem Monarchen von den Grafen, Ba- «ronen, Bürgern und freien Lehnsleuten «in vollständiger Parlamentsversamm- «Jung gewährt wurde». Auch aus diesen Fällen ersehen wir abermals, erstens dass die Verpflich- tung das Ursprüngliche und die Macht das Abgeleitete ist, zweitens aber dass es die zunehmende Masse derjenigen ist, die ein Leben voll freiwilligen statt erzwungenen Zusammenwirkens führen — zum Theil die landbewohnende Classe der kleinen Freibauern, noch mehr aber « Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. die städtische Classe der Handeltrei- benden — welche die ersten Anfänge der Volksvertretung ins Leben rufen. Immer bleibt aber noch die Frage zu beantworten: Wie kommt es, dass sich der Vertretungskörper von dem berathenden Körper scheidet? — Solche Nationalversammlungen behalten noch lange ihren ursprünglichen Charakter eines Kriegsraths bei und sind daher anfangs noch sehr gemischt. Die ver- schiedenen »Waffen«, wie die Stände in Spanien genannt wurden, bilden noch einen einzigen Körper. Im Anfang, wenn die Ritter der Grafschaft zusam- menberufen werden, um im Namen vieler kleinerer, zum Kriegsdienst verpflich- teter Lehnsleute des Königs zu handeln, sitzen und stimmen dieselben gemein- schaftlich mit den grösseren Lehens- herren. Und da die Städte ursprüng- lich im wesentlichen die Stellung von unmittelbaren Lehen haben, so stehen auch ihre Vertreter hinsichtlich ihres gesetzlichen Standes den Feudalhäupt- lingen am nächsten;. und wie sie sich anfänglich mit diesen zur Versammlung einfinden, so bleiben sie in manchen Fällen auch auf die Dauer mit ihnen vereinigt, wie dies in Frankreich und Spanien die Regel gewesen zu sein scheint. Unter welchen Umständen dif- ferenziren sich nun der berathende und der Vertretungskörper von einander? Es ist dies eine Frage, die sich wie es scheint nicht ganz genügend beant- worten lässt. Schon frühe sehen wir eine Nei- gung zur Sonderung angedeutet, welche durch, Verschiedenheit der Functionen veranlasst -ist. In Frankreich fanden zur Zeit der Karolinger alljährlich zwei Versammlungen statt, eine grössere, der alle waffenfähigen Freien beizu- wohnen das Recht hatten, und eine kleinere, die sich aus den höheren Standespersonen zusammensetzte und über engere Angelegenheiten berieth. 455 „War das Wetter schön, so fand all dies „im Freien, sonst aber in besonderen Gebäu- „den statt... . Wenn sich die weltlichen „und geistlichen Herren ..... von der Menge „getrennt hatten, so lag es in ihrem Belieben, „gemeinsam oder gesondert Sitzung zu halten, „je nach den Gegenständen, die sie zu be- „rathen hatten.“ Dass Verschiedenheit der Functio- nen die Ursache einer solchen Sonde- rung ist, finden wir auch an andern Orten und zu andern Zeiten bestätigt. Von den ursprünglich gemischten bewaff- neten Nationalversammlungen der Un- garn schreibt L£evr: — »La derniere »reunion de ce genre eut lieu quelque »temps avant la bataille de Mohacs; »mais bientöt apres, la diete se divisa »en deux chambres: la table des mag- »nats et la table des deputes.« In Schottland waren 1367—68 die drei Stände zusammengetreten; da sie aber aus Gründen der Sparsamkeit und Be- quemlichkeit so bald als möglich ihrer Functionen wieder enthoben zu sein wünschten, so >wählten sie bestimmte »Personen aus, um Parlament zu hal- »ten, die sich in zwei Körperschaften »schieden, eine für die allgemeinen An- »gelegenheiten des Königs und des »Reiches und eine andere kleinere, um »über die Beschwerden zu Gericht zu »sitzen.« In England finden wir, dass noch in den zu Simon von Montfort’s Parlament einladenden Schreiben kein Unterschied zwischen Magnaten und Deputirten gemacht wird; als aber eine Generation später das Parlament blei- bend eingesetzt wurde, machte die Ausschreibung diesen Unterschied: »Rathschlagung wird ausdrücklich in »der an dieMagnaten, Verhandlung und »Zustimmung in der an die Vertreter »gerichteten Einladung erwähnt.« Dass in der That von Anfang an eine Ur- sache zur Sonderung vorlag, ist eigent- lich selbstverständlich, weil die früher gebildete Körperschaft der Magnaten gewöhnlich zum Zwecke der Berathung, insbesondere über den Krieg, die spä- 456 ter hinzugekommenen Vertreter aber nur zum Zweck der Geldbewilligung einberufen wurden. Verschiedene an- dere Einflüsse trugen gleichfalls dazu bei. Eine Ursache lag in der Verschie- denheit der Sprache, die immer noch in erheblichem Maasse bestand und einer gemeinsamen Berathung hinderlich war. Dazu kamen die Wirkungen des Classenstolzes, für die wir bestimmte Beweise haben. Obgleich zu derselben Versammlung gehörend, setzten sich doch die Abgeordneten der Burgflecken »abseits von den Baronen und Rittern, »die es verschmähten, sich unter so »cemeine Leute zu mengen«, und wahr- scheinlich zogen es letztere selber vor, gesondert zu sitzen, da sie sich in- mitten hochmüthiger Adliger kaum wohl fühlen konnten. Ueberdies war es Brauch, dass die einzelnen Stände einer verschieden hohen Besteuerung unterworfen wurden, was natürlich leicht zu Besprechungen der Mitglieder jeder Abtheilung unter sich Anlass gab. Endlich lesen wir, dass >sie (die Ab- »geordneten), nachdem sie zu den von »ihnen verlangten Steuern ihre Ein- »willigung gegeben, auseinandergingen, »da ihr Geschäft damit zu Ende war, »obgleich das Parlament noch zu tagen »fortfuhr und die nationalen Angelegen- »heiten weiter erörterte.< Diese That- sache zeigt wieder deutlich, dass, ob- schon noch anderes mitwirkte, doch der Unterschied in den Öbliegenheiten die Hauptursache war, die endlich eine blei- bende Trennung des Vertretungskörpers vom berathenden Körper bewirkte. War also der Vertretungskörper zuerst nur von geringer Bedeutung und nahm er nur deshalb an Macht zu, weil das mit der Erzeugung und Ver- theilung der Güter beschäftigte freie Element des Gemeinwesens immer mehr an Masse und Bedeutung gewann, so dass seine Anliegen mit grösserer Ach- tung aufgenommen wurden und öfter Berücksichtigung fanden, woraus die . Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Anfänge der Gesetzgebung hervorgin- gen, so schwang er sich doch mit der Zeit zu der Stellung desjenigen Factors in der Regierung empor, der mehr und und mehr die Gefühle und Anschau- ungen des Industrialismus zum Ausdruck bringt. Während der Monarch und das Oberhaus die Erzeugnisse jenes alten Regime’s erzwungenen Zusammenwir- kens sind, dessen Geist sie immer noch, obschon in geringerem Grade, zur Schau tragen, ist das Unterhaus das Erzeugniss jenes neuen Rögime’s frei- willigen Zusammenwirkens, das an die Stelle des alten tritt, und es führt in zunehmendem Grade die Wünsche eines Volkes durch, das an ein durch Ver- träge und nicht durch hergebrachte Zu- stände geregeltes Leben gewöhnt ist. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier noch, bevor wir an die Zu- sammenfassung gehen, vorausgeschickt, dass eine Darstellung der Vertretungs- körper, die in neueren Zeiten rasch nach einander geschaffen wurden, hier nicht beabsichtigt ist. Die Gesetz- gebungskörper der Colonien, in be- wusster Uebereinstimmung mit den aus dem Mutterlande mitgebrachten Ueber- lieferungen eingerichtet, bilden nur in beschränktem Sinne ein Beispiel für die Entstehung eines Senats und Ver- tretungskörpers, indem sie eben nur beweisen, dass sich der Bau der müt- terlichen Gesellschaft in den von ihr abstammenden Gesellschaften selbst wiederzuerzeugen sucht, soweit es das gegebene Material und die Umstände gestatten, aber keinen Aufschluss dar- über gewähren, wie jener Bau ent- standen ist. Noch weniger brauchen wir jener Fälle zu gedenken, wo ein Volk, das bisher unter despotischer Herrschaft gestanden, nach einer Revo- lution verleitet wird, durch Nach- ahmung auf einmal einen Vertretungs- körper einzusetzen. Hier haben wir uns blos mit der stufenweisen Ent- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. wicklung solcher Körper zu beschäf- tigen. Ursprünglich von oberster Bedeu- tung, aber passiv, wird das dritte Ele- ment in dem dreieinigen Staatsgebilde mehr und mehr unterdrückt, je mehr sich die kriegerische Thätigkeit die für sie geeignete Organisation selbst heranbildet, beginnt aber wieder an Macht zu gewinnen, wenn nicht mehr jener unaufhörliche Kriegszustand herrscht. Die Unterordnung lockert sich in demselben Maasse, als sie nicht mehr so dringend geboten erscheint. Die Ehrfurcht vor dem localen oder allgemeinen Herrscher und die damit verbundenen Bezeugungen der Lehens- treue verschwinden immer mehr und ganz besonders da, wo der Glaube an den übernatürlichen Ursprung desselben verloren geht. In ländlichen Bezirken können sich die alten Verhältnisse unter etwas veränderter Form noch lange er- halten; wo sich aber ganze Clans- oder Feudalgruppen in Städten zusammen- häufen und sich hier mit zahlreichen aus jedem Zusammenhang herausgelös- ten fremden Einwanderern vermischen, da wird die Ueberwachung derselben in jeder Hinsicht immer schwieriger, während die neue Lebensweise zugleich jeden Einzelnen zu grösserer Selbstän- digkeit erzieht. Die kleinen industriel- len Gruppen, die auf solche Weise inmitten einer durch kriegerische Zu- stände befestigten und organisirten Nation emporwachsen, können sich aber mit ihrer ganzen Natur nur langsam von ihrer Umgebung entfernen. Denn lange Zeit müssen auch ihr innerer Bau und ihre Beziehungen zu den an- deren Theilen des Gemeinwesens noch kriegerischer Art sein. Im Anfang stehen auch die privilegirten Städte im wesentlichen auf dem Standpunkte von Lehen, welche Feudalabgaben zu zahlen und Kriegsdienste zu leisten haben. Zum Zwecke des gegenseitigen Schutzes bilden sie im eigenen Schoosse Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 457 engere Vereinigungen von mehr oder weniger zwangsweisem Charakter aus. Gar oft haben sie mit benachbarten Adligen oder mit einander Kriege zu führen. Nicht selten schliessen sie Bündnisse zu gemeinsamer Abwehr. Wo aber dieser halbkriegerische Zustand der Städte andauert, da kommen die industrielle Entwicklung und in Zu- sammenhang damit auch das Wachs- thum der Volksmacht zum Stillstand. Wo dagegen die Umstände der Entwicklung der Gewerbs- und Han- delsthätigkeiten und der Vermehrung einer denselben sich widmenden Be- völkerung günstig waren, da macht die letztere ihren Einfluss bald um so mehr geltend, einen je grösseren Bestandtheil der Gesellschaft sie bildet. Der früheren Verpflichtung, dem Staatsoberhaupte Geld und Dienste zur Verfügung zu stellen, wird oft nur mit Widerstreben nachgekommen und offene Auflehnung tritt ein, wenn die Bedrückung zu gross wird, was zu Versöhnungsmaassregeln Anlass gibt. Man bittet lieber um Zu- stimmung, als dass man zu Zwangs- mitteln greift. Wenn keine heftigeren localen Zwistigkeiten im Wege stehen, so wird bei jeder Gelegenheit, wo das Staatsoberhaupt durch Ungerechtigkeit Unwillen erregt hat und durch Auf- stände geschwächt erscheint, ein Zu- sammenwirken mit anderen Classen be- drückter Unterthanen leicht eintreten. Jene Männer, die ursprünglich nur da- zu abgeordnet wurden, um die dem Volke bereits auferlegten Lasten nach- träglich gutzuheissen, werden, je ge- waltiger die hinter ihnen stehende Macht heranwächst, mehr und mehr in den Stande gesetzt, fest auf ihren Be- dingungen zu beharren, und indem sich der Brauch, ihren Gesuchen Folge zu geben, um sich ihrer Unterstützung zu versichern, immer mehr einbürgert, ist auch schon der Anfang dazu gemacht, sie an der Gesetzgebung theilnehmen zu lassen. ol Endlich kommt es, gemäss dem all- gemeinen Gesetz der Organisation, dass Verschiedenheit der Functionen eine Differenzirung und Sonderung der sie ausführenden Theile nach sich zieht, zu einer wichtigen Scheidung. Die durch Wahl bestimmten Mitglieder der Nationalversammlung, anfänglich theils zu denselben, theils zu anderen Zwe- | Kleinere Mittheilungen und Journalschau. cken einberufen wie die übrigen Mit- glieder, zeigen eine Tendenz zur Ab- sonderung von den letzteren, welche da, wo die industriellen Elemente des Gemeinwesens ihre Macht weiter zu entwickeln fortfahren, schliesslich zur Bildung eines von dem ursprünglichen berathenden Körper völlig getrennten Vertretungskörpers führt. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Vererbung. Die in irgend einem neuen Charak- ter oder einer Modifikation vorhandene Tendenz bei dem Abkömmling in dem- selben Lebensalter wiederzuerscheinen, in welchem sie zuerst bei den Vor- fahren oder einem der Vorfahren auf- traten, ist von so vieler Wichtigkeit in Bezug auf die vermannigfachten Charaktere, die den Larven vieler Thiere in den aufeinanderfolgenden Le- bensaltern eigenthümlich sind, dass fast jedes neue Beispiel werth ist, verzeich- net zu werden. Ich habe viele solcher Beispiele unter dem Titel: >» Vererbung in entsprechenden Lebensaltern« mit- getheilt. Ohne Zweifel ist die That- sache der bisweilen in einem früheren Lebensalter, als in demjenigen, in wel- chem sie zuerst auftraten, vererbten Variationen, welche von einigen Natur- forschern als »beschleunigte Vererbung« bezeichnet wird, beinahe ebenso wich- tig, denn, wie schon in der ersten Ausgabe der »Entstehung der Arten« gezeigt wurde, können alle Hauptthat- sachen der Embryologie durch diese beiden Formen der Vererbung, combi- nirt mit der Thatsache mannigfacher, in einem späteren Lebensalter auftre- tender Variationen, erklärt werden. Ein gutes Beispiel von Vererbung in einem späteren Lebensalter ist mir kürzlich durch Herrn J. P. Bısuor von Perry, Wyoming N.-Y., United States, mitge- theilt worden: Das Haar eines Herren von amerikanischer Geburt (dessen Na- men ich unterdrücke) begann grau zu werden, als er 20 Jahre alt war und wurde im Laufe von 4 oder 5 Jahren völlig weiss. Er ist nun 75 Jahre alt und besitzt noch eine Fülle von Haar auf seinem Haupt. Seine Frau besass dunkles Haar, welches im Alter von 70 Jahren nur mit Grau gesprenkelt war. Sie hatten vier Kinder, lauter jetzt erwachsene Töchter. Die älteste Tochter begann ungefähr im zwanzig- sten Jahre grau zu werden, und ihr Haar war mit 30 Jahren völlig weiss. Eine zweite Tochter begann im selben Alter grau zu werden und ihr Haar ist jetzt fast völlig weiss. Die beiden andern Töchter haben die Eigenthüm- lichkeit nicht geerbt. Zwei von den mütterlichen Muhmen (aunts) des Va- ters dieser Kinder »begannen in einem früheren Lebensalter grau zu werden, so dass im mittleren Lebensalter ihr Haar weiss war. Daher sprach der in Rede stehende Gentleman hinsichtlich i Kleinere Mittheilungen und Journalschan. des Farbenwechsels seines eigenen Haars, als von einer Familieneigen- thümlichkeit.« N Herr Bısuop hat mir auch einen Fall von Vererbung anderer Art mit- getheilt, nämlich von einer Eigenthüm- lichkeit, die aus einer Verletzung ent- sprang, welche von einem krankhaften Zustande des Theiles begleitet war. Diese letztere Thatsache scheint ein wichtiges Element in allen solchen Fäl- len zu sein, wie ich anderwärts zu zeigen versucht habe. Einem Gentle- man war in den Knabenjahren von der Kälte die Haut beider Daumen bös- artig aufgesprungen, womit sich irgend eine Hautkrankheit verband. Seine Daumen schwollen stark an, und blie- ben für eine lange Zeit in diesem Zu- stande. Als sie heilten, waren sie ver- unstaltet und die Nägel blieben nach- mals für immer seltsam schmal, kurz und dick. Dieser Mann hatte vier Kinder, von denen das älteste, Sarah, seine bei- den Daumen und Nägel wie sein Vater hatte; das dritte Kind, ebenfalls eine Tochter, hatte einen ähnlich missge- bildeten Daumen. Die beiden andern Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, waren normal. Die Tochter Sarah hatte vier Kinder, von denen das älteste und das dritte, beides Töchter, miss- bildete Daumen an beiden Händen hatten; die andern beiden Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, waren normal. Die Urenkel dieses Gentleman waren sämmtlich normal. Herr Bısmor glaubt, dass der alte Gentleman mit gutem Grunde den Zustand seiner Daumen einem durch eine Hautkrankheit ver- schlimmerten Erfrieren derselben zu- schrieb, da er positiv versicherte, dass seine Daumen ursprünglich nicht miss- gestaltet waren, und es gab keine Er- innerung an eine frühere, vererbte Ten- denz der Art in der Familie. Er hatte sechs Brüder und Schwestern am Leben, welche Familien und zum Theil sehr grosse Familien hatten, und in keiner 459 derselben war irgend eine Spur von Missbildung an den Daumen vor- handen. Verschiedene mehr oder weniger streng analoge Fälle sind angeführt worden, aber bis zu einer neueren Epoche fühlte Jeder natürlicherweise starke Zweifel, ob die Wirkungen einer Verstümmelung oder Verletzung stets wirklich vererbt werden, da zufällige Coincidenzen fast mit Gewissheit ge- legentlich vorkommen müssen. Der Ge- genstand zeigt indessen gegenwärtig ein total verändertes Aussehen, seit Dr. BRown-S£quArp’s berühmte Experi- mente bewiesen haben, dass Meer- schweinchen der nächsten Generation durch Operationen an gewissen Nerven beeinflusst werden. Herr EusEn Du- puy in San Franzisko, Californien, hat, wie er mir mittheilt, gleichfalls gefun- den, dass bei diesen Thieren » Verletz- ungen von Nervenstämmen fast unab- änderlich vererbt werden.«< Zum Bei- spiel werden »die Wirkungen von Sektionen des sympathischen Halsnerven an den Augen bei dem Jungen repro- duzirt, ebenso Epilepsie (wie durch meinen berühmten Freund und Meister Dr. Brown-StquArn beschrieben), wenn sie durch Verletzungen des Hüftnerven herbeigeführt ist. Herr Duruy hat mir noch einen merkwürdigeren Fall von den vererbten Wirkungen einer Nerven- verletzung am Gehirn mitgetheilt; aber ich fühle mich nicht berechtigt, diesen Fall wiederzugeben, da Herr Duruy seine Untersuchungen fortzusetzen be- absichtigt, und wie ich hoffe, die Er- gebnisse veröffentlichen wird. 13. Juli 1881. CHARLES DARWiN. Ein chemischer Unterschied zwischen leben- digem und todtem Protoplasına. Schon vor einigen Jahren hatte E. Pruöser mit Entschiedenheit betont, 1 460 dass zwischen lebendem und todtem Protoplasma ein chemischer Unterschied bestehen müsse, und in der That ist es Oskar Lorw und TmromAs BOKORNY kürzlich gelungen, in einer schwachen alkalischen Silberlösung ein Reagens zu finden, welches nur in Berührung mit lebendem Protoplasma zu schwarzem metallischem Silber reducirt wird, während abgestorbenes Protoplasma ohne Wirkung bleibt. Oskar LoEw war schon früher von einer Hypothese über die Bildung des Albumins* ausgehend, zu dem Schlusse gelangt, dass die leben- dige Bewegung des Protoplasmas wahr- scheinlich auf die Spannkraft der durch ausserordentliche Beweglichkeit ausge- zeichneten Aldehydgruppe, der Tod aber auf deren Verschiebung im Eiweissmo- lekül zurückzuführen sei. Da nun die Aldehydgruppe dadurch ausgezeichnet ist, dass sie selbst aus ausserordentlich verdünnter alkalischer Silberauflösung das Metall reducirt, so bereiteten sie eine solche, und fanden besonders eine stets frisch zu bereitende und auf 1 Liter zu verdünnende Mischung von 1 C.C. einprozentiger Höllensteinlösung und und 1 C.C. einer auf 100 C.C. ver- dünnten Mischung von 13 C.C, Kali- lauge von 1,333 spez. Gew. und 10 C.C. Ammoniak von 0,694 spez. Gew. sehr geeignet für diese Reaktion. Als passendstes Objekt für den Ver- such erschienen die Zellen gewisser Fa- denalgen unserer Süssgewässer, nament- lich Spirogyra, weil sie einestheils ohne weitere Präparation unter dem Mikro- skope studirt werden können, anderer- seits eine sehr durchdringliche Mem- bran und ein theilweise farbloses, was- serreiches Protoplasma besitzen, wäh- rend die geringen Gerbstoff- und Gly- kose-Spuren nicht reducirend auf die * Q. Lorw betrachtet das Albumin als ein Condensationsprodukt des Asparaginsäure- Aldehyds, wie denn beim Keimen der Samen alsbald Asparagin als ein Zersetzungsproduct des Albumins auftritt. Er glaubt ferner, dass Kleinere Mittheilungen und Journalschau. stark verdünnte Silberlösung wirken, oder sich doch nur schwachbraun fär- ben. Spirogyrenfäden, die bei Licht- abschluss einige Stunden in einem Liter Reagens gelegen hatten, zeigten unter dem Mikroskope das Profcplasına na- mentlich au den Stellen intensiverer Lebensthätigkeit, z. B. da, wo es sich zu einer Spore zusammengeballt hatte, oder an den Querwänden und Chloro- phylibändern tief schwarz gefärbt, und die Reaktion trat noch bei einer Ver- dünnung des Reagens auf 2 Millionen ein. Waren die Algen Einflüssen aus- gesetzt gewesen, welche das Protoplasma tödten, so blieb die Reaktion gänzlich aus. Zur Tödtung genügte schon zwei-. tägiges Liegen in destillirtem Wasser, schneller wirkte Erhitzung auf 50°, Aetherdunst, eine höchst verdünnte Na- tronlösung (1— 1"/10°/o) und andere che- mische Stoffe. Auch bei vielen andern Pflanzentheilen zeigte sich die Reaktion wirksam, jedoch nicht in allen Fällen, da manche Protoplasmasorten so em- pfindlich sind, dass sie durch das Re- agens sofort getödtet werden. Dies gilt in noch erhöhtem Grade vom thierischen Protoplasma, dessen ausserordentliche Sensibilität bereits Künne beschrieben hat. Nur bei einigen Infusorien konn- ten positive Resultate erzielt werden. Aus ihren Versuchen schliessen die Genannten, dass das lebende Protoplasma die Fähigkeit besitzt, die edlen Metalle aus selbst sehr verdünnten Lösungen zu reduciren, und dass diese Fähigkeit mit dem Eintritt des Todes verloren geht. Man darf wohl daraus den (wei- teren) Schluss ziehen, dass die myste- riöse, mit dem Namen Leben bezeich- nete Erscheinung wesentlich durch jene reducirenden Atomgruppen bedingt wird. »Wir erklären dem heutigen Stand- Kohlehydr. at-, Fett- und Eiweissstoffe nur Pro- dukte von Condensationen ein und derselben Grundsubstanz (CHOH) seien, welche bereits KEKULE als das Substrat der Kohlehydrate bezeichnet hatte. Kleinere Mittheilungen und Journalschan. punkt der Wissenschaft entsprechend, jene »Gruppen in Bewegung« im leben- digen Protoplasma als Aldehydgruppen, den Tod aber als Folge der Moleku- larverschiebung dieser in allen chemi- schen Beziehungen ganz ausgezeichneten -Gruppe«. (Prvücer’s Archiv XXV. Heft 3 u. 4 und Nachtrag dazu in Roskx- rHAaL’s Biologischem Centralblatt 1. Nr. 7. 1881.) Silurische Pflanzen-Ueberreste. Spuren dieser wahrscheinlich älte- sten aller bekannten Pflanzen wurden zuerst 13575 von Dr. Hıcks in einem mit Sandschichten durchsetzten Thon- schiefer im Pen-y-glog-Steinbruch etwa zwei Meilen östlich von Corwen (Nord- wales) entdeckt. Fernere Untersuchun- gen haben zur Auffindung besserer Stücke geführt, und gezeigt, dass diese Pflan- zenüberreste in noch tieferen Schichten vorkommen. Die Fragmente sind äus- serst massenhaft vorhanden, so dass sie an einzelnen Stellen Kohlenbänder von mehr als einem Zoll im Durch- messer bilden. Alle Stücke sind so zerbrochen, dass man erkennt, sie seien nicht an Ort und Stelle gewachsen, sondern durch Wasserfluthen zusam- men geschwemmt worden. Dünne Stücke von sehr reinem Anthrazit zeigen gelegentlich pflanzliche Struk- tur, und finden sich in noch tieferen Horizonten. Unter den Stücken sind einige sphärische Körper gefunden wor- den, die den Pachytheca Sir J. D. Hoo- KER’s aus den untern Schichten der Ludlow-Reihen gleichen, von denen man annimmt, dass sie Sporengehäuse von Lycopodiaceen darstellen, ferner zahlreiche kleine Körper, die nach CARRU- THERS immer zu dreien vereint sind, und mit den Mikrosporen lebender und fos- siler Lycopodiaceen übereinstimmen, so- dann einige Fragmente, welche eben- falls zu diesen Pflanzen gehören mögen 461 und andere, die wahrscheinlich zu den von Dr. Dawson aus den devonischen Schichten von Canada unter dem Na- men Psilophyton beschriebenen Pflan- zen gehören. Durch diese Pflanzenreste wird die Existenz einer reichen Land- flora in jener frühen Epoche bezeugt. Gemischt mit den obigen kommen in- dessen zahlreiche verkohlte Fragmente einer von Dr. Dawson aus den devo- nischen Schichten von Canada als Coni- fere beschriebenen Pflanze vor, die nach ÜARRUTHERS vielmehr als eine anormale Alge zu betrachten wäre. Ersterer hatte sie Prototaxites genannt, letzterer tauft sie in Nematophycus um. Zahlreiche mikroskopische Querschnitte, welche die Struktur dieser uralten Pflanzen von Pen-y-glog sehr schön zeigen, sind auch von ErH&rinGE und New'ron untersucht worden, und ihre Schlüsse stimmen in der Hauptsache mit denen von ÜARRUTHERS überein... ErTHERIDGE glaubt indessen in dem vorliegenden Stücke eine neue Species zu erkennen, welche er Nematophycus Hicksii nennt. Die allgemeine Aehnlichkeit zwischen dieser sehr alten, wahrscheinlich älte- sten bekannten Flora mit der viel jüngeren devonischen ist sehr auffal- lend, und zeigt eine annähernde Gleich- förmigkeit im Charakter der Verhält- nisse dieser weitgetrennten Perioden an. Die geologische Stellung dieser pflanzenführenden Schichten scheint ungefähr der Horizont der Llandovery- Felsen zu sein. Sie liegen unmittel- bar auf den Bala-Schichtenfolgen auf, und einige derselben sind sogar in die- ser Gruppe eingeschlossen. Die in den- selben Schichten gefundenen Thierüber- reste stellen lauter marine Formen dar, und die Arten scheinen einen allmäli- gen Uebergang vom untern zum obern Silur anzudeuten. Mit Gewissheit kann man schliessen, dass sich in jener mitt- leren silurischen Periode das unmittel- bare Areal, auf weichem die Pflanzen- reste jetzt gefunden worden sind, unter 462 Wasser gewesen sein muss, und dass die Mischung von Meer- und Land- pflanzen in Folge von Fluthen erfolgt sein müsse. Die Landgebiete scheinen hauptsächlich Inseln gewesen zu sein, die von einem mässig tiefen Meere um- geben waren, in welchem Graptolithen im Uebermaass vorkamen (W. J. DauuAs’, Science Review July 1881. p. 273). Wasserthiere in Baumwipfeln. Als ein Nachtrag zu dem unter obigem Titel im’ Kosmos (Bd. VI, 8. 386) erschienenen Artikel von Farrz MÜLLER mag hier erwähnt werden, dass der Brasilien-Reisende E. MorrISs am Rio Negro die Eingebornen auf Bäume steigen sah, deren Aeste mit Bromelien und Tillandsien besetzt wa- ren, um Fischköder (iscal) herunterzu- holen. Sie schnitten die Tillandsien ab, und wirklich fanden sich zwischen den Blättern derselben am Grunde zahl- reiche Würmer (Scientific American 1881. Nr. 19, p. 292). Der Bericht- erstatter scheint indessen nicht zu wis- sen, dass die Blattrosetten dieser Pflan- zen tiefe Wasserbecken bilden, in denen stets eine eigenartige Thier- und Pflan- zenwelt lebt, und sich in den Zeiten der Dürre zwischen den Blättern ver- birgt, denn er bemühte sich, zu er- fahren, wie diese Wasserthiere dorthin kommen und er begnügte sich mit der Antwort der Indianer, dass die Würmer die Bäume erklettern. Entwickelung und Organisation der Wurzel- quallen (Rhizostomae). Von den echten Medusen, die in der Mitte der Unterseite ihrer Scheibe eine einfache, offene, häufig von vier Armen umgebene Mundöffnung besitzen, hatte schon Cuvizr die Arten getrennt, bei denen sich im Centrum keine Mund- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. öffnung befindet, die Nahrung vielmehr, durch die Arme aufgenommen wird, Escuscnuourz, welcher (1829) die Rhizo- stomen den übrigen Akraspeden als Familie entgegenstellte, sagt: »Es man- gelt den Thieren dieser Familie eine grosse, nach aussen frei geöffnete Mund--» öffnung, welche bei denen der andern Familien in der Mitte zwischen allen Armen befindlich ist. Dagegen sind ihre vielfach verästelten oder gespal- tenen Arme mit vielen Saugöffnungen begabt, und zur Aufnahme des einge- sogenen Nahrungsstoffes dienen feine Röhrchen, welche den Saft zum Magen führen, indem sie sich in ihrem Ver- laufe unter einander vereinigen. Tıue- sıus führte dies noch weiter aus, und noch heute figuriren die »Saugwarzen « auf den meist acht Armen der Rhizo- stomen, durch welche sie ihre Nahrung, aufnehmen, in vielen Lehrbüchern. Erst nachdem diese Ansicht dreissig bis vierzig Jahre in Geltung gewesen ist, wurde sie langsam widerlegt. Im Jahre 1861 zeigte Frrrz MüLuer, dass die Vielmündigkeit auf Verwachs- ung der Armränder zurückzuführen ist, welche dadurch zu ebensovielen geräu- migen Röhren werden. Dieselbe Beob- achtung wiederholte im Jahre darauf L. Acassız, und es ging daraus hervor, dass die Vielmündigkeit der Rhizosto- men eine sekundäre Erscheinung ist, und dass die jungen Rhizostomen vor dieser Verwachsung einen einfachen Mund, wie die gewöhnlichen Medusen besitzen. Im Jahre 1870 wurde diese Beobachtung durch ALEXANDER BRANDT bestätigt, und in der Folge festgestellt, dass alle Wurzelquallen in ihrer Ju- gend einen einfachen Mund besitzen, der erst später zuwächst, während sich die Mundarme durch Verwachsung ihrer Ränder zu ebensovielen Mundcanälen ausbilden. Man hatte somit Ursache, die Wurzelquallen als Abkömmlinge der eigentlichen Medusen aufzufassen, und es blieb dabei nur die Schwierigkeit, Kleinere Mittheilungen und Journalschan. die Entstehung der gewöhnlich acht Mundröhren der Rhizostomen aus den vier Mundarmen der Medusen zu er- klären. Indessen hat HÄckeL in neue- rer Zeit gezeigt, dass schon bei unserer gewöhnlichen Öhrenqualle (Abbildung S. 31 dieses Bandes) ausnahmsweise Spaltungen der vier Mundarme in acht vorkommen, und dass bei einer von ihm entdeckten verwandten Form, der Aurosa fwreata HascKEu jeder Mundarm normal in zwei divergirende Schenkel segabelt ist. Nun findet aber die Verwachsung der krausen Armränder z. B. bei der letztgenannten Qualle nicht gleichmässig in allen Punkten statt, sondern es blei- ben eine Menge von Oeffnungen übrig, über welche die Ränder krauskohlartig hinauswachsen, und Trichterkrausen bilden, deren Ränder mit kleinen. kurzen Fransen oder Fäden besetzt sind, die man eben als die Saugfäden ansah. Schon die neueren Untersuchungen von GRENACHER und Noru über den Bau der Rhizostomen (1876) hatten ergeben, dass diese Trichterkrausen wenigstens bei der von ihnen untersuchten Kohl- meduse (Orambessa) keineswegs Zufüh- rungsgänge von mikroskopischer Klein- heit, sondern vielmehr von einigen Centimeter Weite bilden, und dass sich von ihnen Zweigcanäle in den Haupt- canal des Armes ergiessen. Sie zogen einmal auch einen kleinen halbverdau- ten Fisch von Zolllänge aus einer dieser Trichteröffnungen, zum Beweise, dass es sich hier um Verdauungsvorgänge innerhalb der Krausen handelte. Schon viel früher hatte Bramvıuus kleine Fische in der Centralhöhlung einer Rhizostoma bemerkt, aber da man da- mals noch an ein Aufsaugen der Nah- rung durch die feinen Fäden, welche die Krausen bedecken, glaubte, gedacht, diese Fische müssten als Larven ein- sewandert sein. Eine neue Untersuchung von dem Assistenten am zoologischen Institute 463 in Jena, Orro Hamann, welcher kürz- lich im XV. Bande der Jenaischen Zeitschrift für Naturwissenschaften er- schienen ist, beschäftigt sich mit dem anatomischen Bau der Arme und na- mentlich mit ihren Anhangsorganen noch näher, und zeigt, dass sich bei sämmtlichen Rhizostomen im oberen Theile des Armes nur ein weiterer Canal findet, der sich in zwei oder drei parallel verlaufende Zweigcanäle zertheilt, von denen jeder einer Krau- senreihe angehört. Die den Rand der Krausen besetzenden kleinen Fühler (Digitellen) wurden als ektodermale Bildungen nachgewiesen, und von den ferneren Anhangsorganen (Nesselkolben und Nesselpeitschen) gezeigt, dass sie offenbar in erster Reihe als Waffen dienen, einzelne jedoch, welche in ihrer ganzen Länge durchbohrt sind, und durch Ring- verwachsung von Randtheilen entstan- den sind, mögen als Ausführungs- gänge oder als sekundäre Saugöffnun- gen dienen. Die eigentliche Nahrungsaufnahme vollzieht sich jedoch in folgender Weise: »Die Trichterkrausen mit ihren Trichter- öffnungen und den im Kreise den Rand derselben besetzenden Digitellen sind weit geöffnet. Kommt nun ein Thier, sei es ein kleiner Fisch oder ein Krebs, in die Nähe der Oeffnung, so ist die Krause vermittelst ihres Besatzes von Epithelmuskelzellen im Stande, sich auszudehnen und mittelst der Digitellen die Beute aufzunehmen. Hierbei wer- den die Digitellen sowohl als Waffen, wie auch als Tastorgane fungiren. In- nerhalb der Trichterkrause werden die gefangenen Thiere durch die Entoderm- bekleidung verdaut. Man findet Krau- sen, in welchen die Reste von Kreb- sen in halbverdautem Zustand sich be- finden. Der durch die Ausscheidung der Entodermzellen gewonnene Nah- rungsbrei wird nun durch die Canäle vermittelst des Flimmerepithels der Zellen, wie auch durch die Muskel- 464 kontraktionen getrieben Wie dehnbar diese Gefässe sind, kann man aus den oben angeführten Beispielen ersehen, wo man Fische von ziemlich ansehn- licher Grösse in ihnen angetroffen hat. Die unverdauten Theile, das Skelet der Krebse zum Beispiel, werden dann durch einfaches Oeffnen der Krausen wieder entleert. Die Ernährung der Rhizosto- men ist also nur insofern verschieden von der der übrigen Medusen, als die Verdauung nicht im Magen stattfindet, sondern bereits in den Trichterkrausen und den Canälen. Bine neue Ordnung ausgestorbener Jura- heptile. (Coeluria Marsh.) Die schon früher von Prof. O. C. Marsh beschriebenen und Cbelurus fra- gilis benannten Ueberreste* erwiesen sich bei fernerer Untersuchung als Re- präsentanten einer neuen Gruppe von Querdurchschnitt durch einen Halswirbel (a), Rückenwirbel (2) und Schwanzwirbel (c) von Coelurus fragelis Mars. (Natürl. Grösse.) grossem Interesse. Skelettheile von 10 bis 12 Individuen sind nunmehr in dem- selben Horizonte des oberen Jura, welcher das erste Stück ergab, gefunden und im Yale-College-Museum in Sicherheit ge-_ bracht worden. Ein Studium dieser Ueber- reste, welche meist aus Wirbeln bestehen, zeigt klar, dass sie weit von den ent- sprechenden Theilen irgend welcher be- * Kosmos Bd. VI, S. 389. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. kannten lebenden oder ausgestorbenen Reptilien-Ordnungen abweichen, so dass selbst die nächsten Verwandtschaften der Gruppe nicht näher zu bestimmen sind. Der merkwürdigste Zug in allen be- kannten Ueberresten von Coelurus ist die ausserordentliche Leichtigkeit der Knochen, sofern die Höhlungen in den- selben ausgedehnter sind, als in dem Skelette irgend eines bekannten Wirbel- thieres. Die Höhlungen in den Wirbeln, sind zum Beispiel, wie man an den ab- gebildeten Querschnitten eines Hals-, Rücken- und Schwanzwirbels sieht, ver- hältnissmässig grösser als bei irgend welchen Flugeidechsen oder Vögeln, so dass das Knochengewebe hauptsächlich nur auf die äusseren Wandungen be- schränkt ist. Sogar die Rippen von Coelurus sind hohl mit gegen ihre weiten Höhlungen wohl abgesetzten Innenwan- dungen. Gliedmaassen-Knochen von Üoe- lurus sind bis jetzt noch nicht mit Sicherheit bekannt, denn die wenigen bisher provisorisch auf diese Gattung bezogenen Knochen sind in Folge ihrer Zerbrechlichkeit für eine genaue Unter- scheidung zu unvollkommen erhalten. Die Wirbel dagegen, welche von ver- schiedenen Theilen der Säule stammen, sind meist von guter Erhaltung; die Halswirbel gross und verlängert, durch starke Zygapophysen verbunden. Bei den ersten drei oder vier Halswirbeln hinter dem Epistropheus sind die vordern Gelenkflächen des CGentrums etwas kon- vex und die hintern tief konkav. Alle üb- rigen Halswirbel, sowie die des Rumpfs und Schwanzes waren bikonkav. Die Gelenkflächen der Halswirbel sind ge- neigt und zeigen, dass der Hals gebogen war. Die vordern Halsrippen waren wie bei den Vögeln mit den Centris zu- sammen verknöchert. Die Höhlungen der Halswirbel stehen mit dem äussern Raume durch verhältnissmässig weite pneuma- tische Oeffnungen in Verbindung. Der Rückenmarkskanal ist sehr breit. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Rückenwirbel sind viel kürzer als die Halswirbel, und ihre Gelenk- flächen sind nahezu rechtwinklig gegen die Wirbelsäulenachse. Die erhaltenen Rippen haben ungetheilte Köpfe. Die Naht der obern Bögen ist wie bei den Halswirbeln erkennbar, und die von den Höhlungen nach aussen führenden Oeffnungen sind ganz klein. Die Schwanz- wirbel sind verlängert und sehr zahl- reich. Betrachtet man die Wirbelsäule von Coelurus als Ganzes, so verräth sie uns einen breiten und mächtigen Nacken, einen Rumpf von gemässigter Länge, und einen sehr langen, schwachen Schwanz. Soweit die Wirbel irgend etwas auf die Form der Gliedmaassen schliessen lassen, müssten die vordern grösser ge- wesen sein als die hintern, wie bei den Flugeidechsen, und nicht umgekehrt, wie bei den springenden Thieren. Die angeführten Charaktere beweisen sicher, dass Coelurus in keine bekannte Ordnung gestellt werden kann. Seine erhaltenen Ueberreste zeigen Aehnlich- keiten mit Dinosauriern, Flugeidechsen und entferntere mit Vögeln, und er war anscheinend ein verallgemeinerter Sauro- pside, der, wenn völlig untersucht, da- zu dienen kann, irgend eine der vor- handenen Lücken in den Abstammungs- reihen zu überbrücken. Die Summe seiner bekannten Charaktere zeigt, dass er ein Reptil und kein Vogel war. Sein Bau bietet, so weit bekannt, mehr Aehn- . lichkeit mit dem der Dinosaurier als dem der Flugeidechsen, aber um seine nähere Zugehörigkeitzuerkennen, müssen fernere Funde abgewartet werden. Ein Baum-Dinosaurier würde keinen Ana- tomen, der mit der wunderbaren Viel- seitigkeit der Formen in dieser zusam- menfassenden Reptilgruppe vertraut ist, in Erstaunen setzen. Die durch die hier beschriebenen Ueberreste repräsentirte Ordnung wird von MarsH Cboeluria, und die Familie Coeluridae genannt, nach dem Gattungs- 465 typus Coelurus. Sämmtliche bisher be- kannten Ueberreste entstammen den Atlantosaurus-Schichten des obern Jura von Wyomig (American Journal of Science April 1881). Die Klassification der amerikanischen Jura- Dinosaurier. In einer im Maiheft 1881 des « Ameri- can Journal of Science» erschienenen Arbeit beschreibt Prof. Marsh ein bei- nahe vollständiges Exemplar von Bron- tosaurus excelsus, einem der grössten bis- her entdeckten Dinosaurier, sowie zwei neue Arten und Gattungen (Diracodon latipes und Hallopus victor) und giebt dann auf Grund der mehrere hundert Individuen enthaltenden Sammlung des Yale-College in New-Haven folgende hauptsächlich auf die Fussbildung be- gründete Eintheilung der amerikanischen Dinosaurier. Ordnung Dinosauria Owen. l. Unterordnung Sauropoda (Eidechsen- füssler). Herbivor. Sohlengänger mit breiten Nägeln; 5 Zehen an Hand und Fuss. Pubes vorn durch Knorpel ver- bunden. Postpubis fehlend. Präcaudal- wirbel hohl. Gliederknochen dicht. Familie: Atlantosauridae. Gattungen: Atlantosaurus, Apato- saurus, Brontosaurus, Diplodocus und Morosaurus. 2. Unterordnung Stegosauria (Panzer- Eidechsen). Herbivor. Sohlengänger mit breiten Nägeln; 5 Zehen an Hand und Fuss. Pubes vorn frei. Postpubis vorhanden. Wirbel und Gliederkno- chen dicht. Familie: Stegosauridae. Gattung: Stegosaurus. 3. Unterordnung Ornithopoda (Vogel- füssler). Herbivor. Zehengänger mit vier funktionirenden Zehen an der Hand und drei am Fuss. Pubes vorn frei. Postpubis vorhanden. Wirbel dicht; Gliederknochen hohl. 466 Familie: Camptonotidae. Gattungen: Camptonotus, Diracodon, Laosaurus, Nanosaurus. 4. Unterordung Theropoda (Raubthier- füssler). Carnivor. Zehengänger mit Greifkrallen. Pubes vorn verknöchert. Postpubis vorhanden. Familie: Allosauridae. Gattungen: Allosaurus, Creosaurus und Labrosaurus. 5. Unterordung Hallopoda(Sprungfüssler). Carnivor? Zehengänger mit Krallen; drei Zehen am Fuss; Mittelfusskno- chen stark verlängert; Calcaneum stark rückwärts verlängert. Zwei Wirbel im Kreuzbein. Gliederknochen hohl. Familie: Hallopodidae. Gattung: Hallopus. Zweifelhafte Dinosaurier. 6. Unterordnung Coeluria (Hohlschwän- zer). Carnivor ? Familie : Coeluridae. Gattung: Coelurus. Ein Zwerg auf der Insel Buboea. (Ein Beitrag zur Teratologie.) In dem zwei Stunden von GCalchis gelegenen Dorfe Aphrate lebt ein Schaf- oder Ziegenhirt, Namens Kleomenes P. Anastasiu. Das wahrscheinlich zu jedem anderen Berufe sowohl geistig als kör- perlich unfähige Individuum wurde im 3eginn des vorjährigen Mobilisations- paroxysmus als militärpflichtig ausge- hoben und der hiesigen Sanitätscommis- sion zur Tauglichkeitsprüfung unter- stellt. Der Vorstand derselben Dr. Kro- kidas liess den zwergartigen Menschen curliositatis causa photographiren und war so freundlich, mir ein Exemplar nach Athen zu schicken. Das winzige Männchen wurde später von der localen Recrutirungsbehörde der Ober-Sanitäts- commission in Athen zur endgültigen Entscheidung bezüglich seiner Feld- diensttauglichkeit überwiesen und somit Kleinere Mittheilungen und Journalschau. hatte ich als Vorstand derselben Ge- legenheit, eine grössere und beschei- denen künstlerischen Ansprüchen eini- germaassen genügende Photographie anfertigen zu lassen. Als mir zufällig vor einigen Tagen der damals von der Wehrpflicht befreite Zwerg im Geleite einer Schaar von neu- gierigen und ihm auf dem Fuss folgenden Gassenjungen hier in der Stadt wieder zu Gesichte kam und ich mich erinnerte, dass mir die auf ihn bezügliche Notiz abhanden gekommen war, unterwarf ich denselben auf’s Neue einer eingehenden Untersuchung, deren Ergebniss folgen- des ist: _ SZ SS 7 > IE SG Der 26 Jahre alte Kleomenes ist 1,25 m hoch. Wenn diese Duodez- ausgabe von einem Manne nicht kurz geschnittenes Haar trüge, so würde das ganz bartlose, sonnenverbrannte Gesicht mit dem Ausdrucke cretinartigen Ernstes oder geistiger Erstarrung in den klaren braunen Augen den Eindruck eines alten dem Proletariat angehörenden Frauen- antlitzes machen. Das starke, braune und struppige Kopfhaar zeigt hier und Kleinere Mittheilungen und Journalschan. da Lücken oder steht wenigstens nicht überall gleich dicht. Auf der untern linken Scheitel- und der Schläfengegend ist die Farbe desselben eine hellere als auf der rechten Seite des Kopfes und der Scheitelhöhe. Letzterer so wie das Gesicht sind unverhältnissmässig gross, der Raum zwischen Nase und Ober- lippe höher als gewöhnlich. Der Ober- und Unterkiefer enthalten 28 weisse undnichts Regelwidriges zeigende Zähne ; von den Weisheitszähnen ist noch kei- ner zum Vorschein gekommen. Das Kinn ist ein sogenanntes Etagenkinn. Von besonderem Interesse ist die Bildung der Geschlechtstheile. Der dünne mit der Vorhaut ungefähr 2 cm lange Penis ist gegen den Nabel zu und in der Richtung der Trochanter von einer bogenförmigen Hautfalte umgeben. An diese schliesst sich nach unten der ru- dimentäre falten- und haarlose Hoden- sack so an, als wäre diese Verbindung durch eine lineäre, von einem stumpfen Säbelhiebe herrührende, etwas zackige Narbe künstlich bewirkt. Hoden ent- hält das Scrotum nicht, dagegen zeigt dasselbe in seiner Längenaxe eine rin- nenartige, etwa 2 mm tiefe Depression, welche eine entfernte Aehnlichkeit mit dicht an einander liegenden jung- fräulichen Schamlefzen hat. Von Ge- schlechtstrieb will dieser Zwerg nie eine Regung gespürt haben, doch räumt er ein, des Morgens mit Erectionen zu erwachen. Sonst ist an den Genitalien nichts Abnormes wahrzunehmen. Den Habitus anlangend, so ist der- selbe mit Ausnahme der Beckengegend ein weiblicher. Ebenso zeigen die wohl- geformten und ziemlich festen oder wenigstens nicht schlaffen Brüste, ganz im Widerspruche mit der Beobachtung, welche man in der ärztlichen Praxis hierorts häufig und sogar bei jüngeren Frauenzimmern zu machen Gelegenheit hat, einen jungfräulichen Entwickelungs- grad. Abgesehen von den kurzen, dicken und plumpen Fingern, tritt schliess- 467 lich auch in den Conturen der oberen Brustpartie und der Schulterhöhe so wie in den rundlichen, glatten und fett- reichen Armen der weibliche Typus un- verkennbar zu Tage. Man möchte sagen, die Natur habe im Beginne des embryonalen Lebens des eben geschilderten Zwerges die Ab- sicht gehabt, ein weibliches Wesen in’s Dasein zu rufen, habe jedoch in Betreff der das Geschlecht bedingenden Merk- male ihren ursprünglichen Vorsatz be- reuet und eine Creatur geschaffen, die weder Mann noch Frau, dennoch aber kein Hermaphrodit ist. Calchis, 28. Juni 1881. Dr. BERNHARD ÜRNSTEIN. Im Anschluss an den eben mitge- theilten Fall dürfte ein ähnlicher von besonderem Interesse sein, der eine gute Illustration zu dem liefert, was im ersten Bande dieser Zeitschrift über die Ent- stehung der Iphisdichtung mitgetheilt wurde (Kosmos Bd. I, S. 496—509). In einer der letzten Sitzungen der Pariser anthropologischen Gesellschaft stellte Macıror ein ungefähr 40 Jahre altes Individuum vor, welches sich Erne- stine G. nannte. Es mag gleich voraus bemerkt werden, dass es sich um einen Mann handelt, der bisher immer für eine Frau gehalten worden war, er trägt noch heute Haube und Unterrock und ist, was das merkwürdigste ist, im Alter von 17 Jahren an einen Landmann aus den Ardennen verheirathet worden. Nach dreizehnjähriger Ehe ist er Wittwe geworden. Diese beiden sonderbaren Gatten haben zusammen in ziemlich gutem Einverständniss gelebt, besonders im Anfange; Ernestine G. befand sich damals in der Frische ihrer Jugend und konnte trotz des Flaums auf ihrer Ober- lippe für ein weibliches Wesen gelten, auch empfand sie keinen Widerwillen gegen die Annäherungen des Mannes, die natürlich nur unvollkommen bleiben mussten, so dass der anormale Zustand 468 seiner Frau diesem nicht verborgen blieb. Gleichwohl führten sie mitein- ander eine ziemlich gute Wirthschaft, bis sich im Alter von 22—23 Jahren bei Eımestine eine Neigung für das weibliche Geschlecht regte, die dann auch öfter ihre Befriedigung suchte. Im Uebrigen fuhr sie, trotz einiger Scheid- ungsversuche fort, mit ihrem Manne zu leben, und suchte nach dem Tode des- selben, da sie nahezu blind und arbeits- unfähig geworden war, Aufnahme in einem Pariser Asyl, woselbst sie fort- fuhr, Frauenkleider zu tragen. Ihre Grösse beträgt 1,73 m, Hals, Hände und Handgelenk sind gleich- mässig kräftig, ihr allgemeiner Anblick (jetzt) entschieden männlich. Ihre seit ihrer Unthätigkeit bedeutend verringerte Muskelkraft ist immer noch die eines mittelstarken Mannes und übertrifft die einer Frau erheblich. Sie besitzt einen ziemlich starken Bartwuchs und ist gezwungen, sich täglich zu rasiren; ihre Stimme, obwohl wenig tief, hat nichts weibliches. Ihre Brüste bieten einen für einen Mann gewiss ausser- ordentlichen Umfang dar, aber ihre Form ist dennoch keine weibliche. In Summa, nurim Aussehen der Geschlechts- theile gleicht dieses Individuum mehr oder weniger einer Frau. Es ist ein ungefähr 5 cm langer Penis vorhanden, der im Zustande der Erektion 4—5 cm Länge erreichen kann, und undurch- bohrt ist. Unter ihm findet sich die Oeffnung einer Art Vagina von 3 cm Tiefe, die als Sackgasse endigt, und in deren Grunde sich die Harnröhre und die Samencanäle öffnen. Zu beiden Seiten der Oeffnung dieser falschen Va- gina sieht man zwei Hautfalten, welche mehr oder weniger den grossen Scham- lippen analog gebildet sind. Aber in der grösseren, linken, an ihrer Basis sehr dicken Lippe, fühlt man einen an seinem Nebenhoden völlig erkennbaren Hoden, und über der kleineren rechten Lippe, erblickt man einen Vorsprung, _ x Kleinere Mittheilungen und Journalschau. der von einem nicht völlig herabgestie- genen rechten Hoden herrührt. Die Un- tersuchung zeigt vom Mastdarm aus keine Spur von Uterus. Die Ejakulation er- folgt, aber das Sperma schliesst, jetzt wenigstens, keine Spermatozoiden ein. Merkwürdig bleibt die Behauptung die- ser in jeder Beziehung männlich ge- bildeten Person, dass sie in ihrer Pu- bertätszeit Menstruationen gehabt habe. Da von wirklichem Hermaphroditismus keine Andeutung vorliegt, so meinte einer der Sachverständigen (Dr. Pozzı), dass ein Uebermaass von Congestionen, welche in dieser Periode sowohl den männlichen als den weiblichen Organen zukommen, unter Umständen vielleicht derartige Erscheinungen erzeugen könnte. Prof. Maruıas Duvau gab eine aus- führliche Erklärung der Bildungen die- ses auf einem embryonalen Zustande verbliebenen Mannes, welche mit un- serer früher gegebenen Erläuterung über- einstimmt, aber einige Punkte näher detaillirtt, weshalb wir sie anführen wollen. »Wenn die ursprüngliche, dem Eingeweide- und dem Harngeschlechts- System gemeinsame Kloake sich in zwei Theile getheilt hat, einem hintern ana- len, und einem vordern uro-genitalen, so ist der den beiden Geschlechtern gemeinsame embryonische Zustand der folgende: Der letztgenannte, auch Sinus urogenitalis genannte Theil wird durch eine trichterförmige Vertiefung gebildet, in deren Grunde sich einerseits .die Harnblase, und andererseits die Mül- ler’schen und Wolff’schen Canäle öffnen. Vor dieser Vertiefung entwickeln sich die beiden schwammigen Körper und verschmelzen zu einem penisförmigen Körper (Clitoris des weiblichen und schwammigen Körper der Ruthe, des männlichen Geschlechts). Wenn zu die- ser Zeit die Organe sich zum weib- lichen Typus entwickeln, sieht man den Sinus urogenitalis in der Grösse, aber keineswegs in der Tiefe zunehmen, der- art, dass er sehr ausgeweitet, und wenig Kleinere Mittheilungen und Journalschau. tief erscheint und schliesslich den Vor- hof bildet. Der im Gegensatze be- trächtlich wachsende gemeinsame Theil der Müller’schen Canäle stellt später Uterus und Vagina dar, derart, dass der anfangs sehr tief gelegene Vorhof hinabzusteigen scheint und in Folge der starken Entwickelung der hinter ihm belegenen Theile eine der Ober- fläche nähere Lage erlangt. So hat Bupın konstatirt, dass das Hymen anfangs tief gelegen war, und dann zu gleicher Zeit mit dem Eingang der Vulva hinabzusteigen schien. Wenn die Entwickelung dem männ- lichen Typus folgt, so bewahrt der Si- nus urogenitalis seine röhrenförmige Form und bildet den untern prosta- tischen und membranösen Theil der Harnröhre, während der Rest der äus- seren Organe den übrigen Theil der Harnröhre bildet. Bei dem in Rede stehenden Subjekt gibt es nun keinen geschlossenen Harn- röhrencanal, sondern nur einen röhren- förmigen Sinus urogenitalis, welchen man beim ersten Anblick für eine Pseudo- Vagina halten kann, der aber in Wirk- lichkeit dem obern Theile der Harnröhre entspricht. In der That öffnen sich im Grunde dieser Pseudo-Vagina die Blase und die Samen- oder früheren Wolff’- schen Canäle. Diese Pseudo-Vagina ent- spricht nur dem Vestibul der Frau. Ein Hymen ist nicht vorhanden und die Vagina hat sich nicht entwickelt, sie ist höher gelegen und wird durch den Hals der Vorsteherdrüse vertreten und ebenso wird der Uterus wie bei allen Männern durch die Vorsteherdrüse selbst vertreten. Diese Erklärung ist, wie man sieht, vollständig und macht es verständlich, weshalb man so oft bei den angeblichen Hermaphroditen den im embryonalen Zustande verbliebenen Sinus urogenitalis hat für eine Vagina nehmen können. (Revue scientifique 9. Juillet 1881.) Die höchst wichtigen 469 entwickelungsgeschichtlichenConsequen- zen, die man aus der in solchen Fällen frappant hervortretenden Analogie des männlichen und weiblichen Geschlechts- apparates- ziehen kann, haben wir in dem oben eitirten Artikel im ersten Bande dieser Zeitschrift erörtert. Die Kehirnbildung der Eskimos ist von Cuupzınsky an den kürzlich in Paris verstorbenen Eskimos studirt wor- den. Drei dieser Gehirne, zwei von Män- nern und ein weibliches, konnten ab- geformt und beschrieben werden. Alle drei und besonders die beiden Gehirne der Männer zeigen als besondere Haupt- charaktere die Breite und Einfachheit der frontalen Windungen und besonders der orbitalen Lappen. Die dritte Frontal- windung ist klein und ihr hinterer Theil, d. h. der nach Broca am speziellsten mit der artikulirten Sprache in Zusam- menhang stehende Theil ist äusserst verkleinert und gleichsam zusammen- gedrückt zwischen dem vorderen Theil und der aufsteigenden Stirnwindung. Diese sowie die aufsteigende Schläfen- windung, der eiförmige Lappen und die Region der krummen Falte, bieten eine verhältnissmässig enorme Entwickelung dar. Die Region des Scheitels zeigt auch eine sehr ausgesprochene Erhebung, besonders merkbar auf den inneren Ab- güssen des Schädels. In Summa, diese Eskimo-Gehirne sind vorzüglich merk- würdig durch eine geringere Entwicke- lung des vorderen Theiles und durch eine übertriebene Entwickelung der moto- rischen Theile. Im Allgemeinen nähert sich das Gehirn der Frau viel mehr als die beiden männlichen Gehirne dem europäischen Typus. Ihre frontalen Win- dungen sind reicher, und sowohl sie, wie auch besonders die ansteigenden Schläfenwindungen sind absolut und re- lativ viel weniger breit als bei den beiden Männern. (Rev. scientif. 9. Juli 1881.) Litteratur und Kritik. Das Erkenntnissproblem. Mit Rücksicht auf die gegenwärtig herr- schenden Schulen. Von Dr. O. CAsPART, Professor der Philosophie an der Uni- versität in Heidelberg. 51 S. in 8. Breslau, Ed. Trewendt, 1881. Wie tief die darwinistische Weltan- schauung unserer Tage die Philosophie in Anarchie versetzt hat, beweist der wunderbare Streit der Vertreter materia- listischer und spiritualistischer Richt- ungen, welche von ihnen am besten mit den Ansichten des grossen Briten übereinstimme. Nachdem so lange der Darwinismus beinahe mit dem Materialis- mus (wenn auch mit Unrecht) identi- fieirt worden war, ist man neuerdings in das andere Extrem umgeschlagen, und hat spiritualistische Systeme, wie z. B. das von Hreku so dargestellt, als ob sie den Darwinismus in nuce enthielten. Wenn Hesen gelehrt habe, dass sich im Leben des Einzelnen nur das Leben der Gattung und des Ganzen konstruktiv wiederhole, so sei damit eben das in der heutigen Zoologie eine so bedeut- sameholle spielende biogenetischeGrund- gesetz philosophisch abgeleitet. Um Heceu’sche Ansichten mit darwinisti- schem zu identificiren, muss man seinen scholastischen Realismus nicht mehr von seinem direkten Gegensatz, dem Nomi- nalismus unterscheiden können, auf des- sen Boden sich fast alle darwinistischen Anschauungen bewegen. Nicht mit dem Spiritualismus und noch weniger mit dem Materialismus hat eine unbefangene Prüfung der biologischen Probleme sich auseinanderzusetzen, sondern allein mit der Erkenntnisskritik, welche der em- pirischen Untersuchung bedächtige Bun- desgenossin auf Schritt und Tritt sein sollte. Diese Bedeutung des Kriticismus und seine Auseinandersetzung mit den herrschenden Schulen bildet den Gegen- stand der sehr lesenswerthen vier Ab- schnitte (der idealistische Rationalismus — der formale Empirismus — der kri- tische Empirismus — die Resultate) die- ser kleinen aber gedankenreichen Schrift, auf die wir hier nur kurz die Aufmerk- samkeit unserer Leser richten können. Commentar zuKantsKritik der reinen Vernunft. Zum hundert- jährigen Jubiläum derselben heraus- gegeben von Dr. H. VAIHINGER, Privat- dozent der Philosophie an der Uni- versität Strassburg. Erster Band. Erste Hälfte. 208 Seiten in Lex.-8. Stuttgart, W. Spemann, 1881. Kant ist in unsern Tagen mehr als je vorher als der Begründer der Er- kenntnisskritik gefeiert worden, und Kleinere Mittheilungen und Journalschau. überall herrscht das Gefühl vor, dass man zu seinen Fundamenten zurück- kehren müsse, um ein festes und sicheres Gebäude aufführen zu können, und eifrig — man möchte fast sagen reuevoll — wendet sich die neueste Philosophen- schule zu einer Vertiefung in seine Werke zurück. F. A. Lange’s Mahnung, dass man ihm ebenso eindringliche Studien widmen sollte, wie sie früher fast nur dem Aristoteles zugewendet wurden, er- scheint als Motto auf dem Titel des vorliegenden Werkes, welches ein aus der Praxis hervorgewachsenes, exege- tisches Handbuch über das wichtigste Werk Kanr’s werden soll. In streng historischem Sinne und mit philologi- scher Gründlichkeit ist der Verfasser bemüht, zu zeigen, was der grosse Den- ker. Seite für Seite gemeint hat, wie er sich in anderen Schriften über die- selben Punkte ausgesprochen hat, nicht was er nach dem Wunsche eines heutigen Lesers gemeint haben könnte, sondern was er wirklich, so weit zu ermitteln, hat sagen wollen. Wir haben eine Ar- beit aus Alexandria, ein Werk des müh- samsten, bewunderungswürdigsten Fleis- ses, der seltensten Hingebung und Selbst- entäusserung vor uns, vor welchem wir um so tiefer den Hut ziehen, je seltener eine derartige Vertiefang in unserer Zeit der schnelleifrigen »Fruktifikation« auch der Ideen wird. Es liegt nicht in der Aufgabe unserer Zeitschrift, auf ein solches Werk näher einzugehen; wir können ihm nur aus tiefster Ueber- zeugung von dem grossen Nutzen einer solchen Arbeit, eine lebhafte Benützung und baldige Vollendung wünschen. Die Ausstattung ist eine so elegante, wie man ihr bei philosophischen Werken nur „höchst selten begegnet. Essai sur la m&t&orologie de Kep- ler par H. Brocarn, Capitaine du genie, charg& du service meteorolo- gique en Algerie. Grenoble. Typo- 471 graphie et Lithographie Maissonville et Fils. 1881. 37 8. Ueber den ersten Theil dieser für ' die Geschichte unseres kosmischen Wis- sens wichtigen Schrift ward bereits in dieser Zeitschrift Bericht erstattet. Herr BrocArp, der mit Recht bemerkt, dass die Lektüre der Krruer’schen Werke stets zu neuen und unerwarteten Auf- schlüssen führe, analysirt in dieser Fort- setzung besonders jene Stellen, welche sich auf die sogenannte meteorologische Optik beziehen, doch kommt auch eini- ges Astrometeorologische vor, woraus zu entnehmen ist, dass der grosse Astro- nom den himmlischen Bewegungen immerhin einen ziemlichen Einfluss auf die Erscheinungen in unserem Luftkreise und das davon abhängige physische Be- finden der Menschen beimaass. Geo- graphisch interessant ist es zu sehen, wie KErLEr in der »Epitome« den Lauf der beiden Polarkreise beschreibt und bei dieser Gelegenheit die landläufige Annahme widerlegt, als müsse inner- halb der Polarzonen die Natur in ewi- gem: Schnee und Eis erstarrt sein; schon der Name »Grönland« deute auf das Gegentheil, nämlich auf eine grüne Vegetationsdecke des Bodens, hin. Ueber den Grund der Wahrnehmung, dass die Sterngrössen zu schwanken scheinen, hat sich Vrreuuıo dahin vernehmen las- ent, es beruhe dies auf einer Refrak- tions-Erscheinung ; mit dieser Erklär- ung kann sich KrrtLer schon aus dem Grunde nicht einverstanden erklären, weil sämmtliche Sterne der Halbkugel sich ganz gleich verhielten, während die brechende Materie doch nicht durch den ganzen Weltraum gleichmässig ver- theilt angenommen werden könne. Er ist geneigt, den Grund in einer beson- deren Aethersubstanz zu suchen. Von der Lichtbrechung wird ganz richtig ge- sagt, sie sei im Allgemeinen über der Meeresfläche regelmässiger, als in Bin- nenländern, besonders aber auf hohen Bergen. Sehr originell ist die Auffas- 472 sung des Blitzes, über welche sich Krr- LER mit seinem Freunde, dem Friesen FABprıcıus, unterhält. Dieser hatte ihm mitgetheilt, die Blitzschläge seien in seiner Gegend ungleich seltener, als im oberen Deutschland, und KErLER er- klärt dies daraus, dass die Gebirge im Süden tiefer in die eigentliche Luft- region hineinragen, also auch dem Ent- stehungsorte der Gewitter benachbarter sind; freilich spreche gegen diese Theorie die Seltenheit meteorischer Entladungen in dem bergreichen Böhmen. Bei diesem Anlass spricht sich KerLer auch über den isolirten Berg Schöckel in Steyer- mark aus, der für alle Umwohner als Wetterprophet gelte — ein Umstand, der heute noch auf der Grazer Hoch- ebene allbekannt ist. Worin eigentlich die Ursache der Winde zu suchen sei, lässt er unentschieden; kleine Wolken, die sich plötzlich an Berggipfeln u. s. w. zeigen, können eine solche Ursache ge- wiss nicht sein, obwohl sie den Cha- rakter eines Vorzeichens tragen. Ganz correkt spricht sich KrrtLer über das Wesen des Regenbogens 'aus, indem er ihn mit einer Glaskugel vergleicht, die mit Wasser gefüllt, vor einen dunkeln Hintergrund gehalten werde; zugleich wird die Meinung des Plutarch zurück- gewiesen, der den ersten Regenbogen mit einem Hohlspiegel, den zweiten mit einem erhabenen Spiegel in Parallele stellen wollte. Auch die Nebensonnen werden, wie es ja theilweise wenigstens auch heute noch geschieht, auf Brech- ungs-Phänomene zurückgeführt. Den Grund für die Sonnenflecken sucht er dagegen nicht in der Sonne selbst, son- dern denkt an das Dazwischentreten eines anderen Weltkörpers, z. B. eines Kometen. Betreffs der Meteore stand Keruer in lebhaftem Briefwechsel mit Isaak HABRECHT in Strassburg Zum Schluss theilt Herr BrocArD eine Reihe meteorologischer Aufzeich- nungen mit, die KrprtLer in den Jahren 1617—1626 angestellt hat. Dieselben Litteratur und Kritik. geben ihm Veranlassung, eine verglei- chende Betrachtung anzustellen über die Krruer’schen Notizen sowohl als auch über die, ihrer Tendenz nach ähn- lichen, Tagebücher von JoHAnn WER- NER und TycHo BRAHE — die einzigen geordneten Materialiensammlungen me- teorologischer Natur, welche uns aus dem XVI. Jahrhundert verblieben sind. Es ist, da nach Brocarp’s Aufschlüssen KerLEer einige Kenntniss von WERNER’S und Branr’s Arbeiten hatte, gar nicht unwahrscheinlich, dass er durch sie die Anregung erhielt, sich selbst ein Ver- zeichniss bemerkenswerther Witterungs- erscheinungen anzulegen. — Jedenfalls wird jeder Geschichtsfreund das Schluss- wort des Verfassers unterschreiben, in welchem davon die Rede ist, dass Krr- LER einen günstigen Einfluss auf die Klärung der meteorologischen Lehr- meinungen ausübte und desshalb auch eine besondere Würdigung Seitens des Historikers verdiente. Ansbach. Prof. S. GÜNTHER. Grundzüge und Ziele der Stein- kohlen-Chemie von Dr. F. Muck, Vorsteher des Laboratoriums und Lehrer an der westphälischen Berg- schule zu Bochum. Für Lehrer und Lernende. 170 S. in gr. 8, nebst 5 analytischen Tabellen. Bonn, Emil Strauss, 1881. Die Tendenz dieses Werkes ist im Wesentlichen nach der praktischen und technischen Seite gerichtet. Aus seiner eigenen Lehrthätigkeit ergab sich dem Verfasser das Bedürfniss, das sehr zer- streute Material über die Chemie der Steinkohle gesammelt, gesichtet ‚und ergänzt zu sehen und er hat sich dieser Aufgabe mit einer Umsicht unterzogen, die ihm sicher den Dank der bethei- ligten Kreise erwerben wird. Zunächst behandelt er darin die Zusammensetz- ung der Kohle, ihre Klassifikation nach Littera r und Kritik. dem Verhalten beim freien Erhitzen und unter Luftabschluss; die Abhängig- keit der Eigenschaften, namentlich der Schmelzbarkeit, der Coaks-Ausbeute und der Flammenbeschaffenheit von der pro- zentischen Zusammensetzung und der Aschenmenge, darauf die mechanischen Gemengtheile und Aschenbestandtheile, und endlich ihr Verhalten an der Luft (Verwitterung und Selbstentzündung). Anlass zu einem nähern Eingehen bietet uns nur das achte und letzte Kapitel, welches die Ansichten über die Con- stitution der Steinkohle und die che- mischen Vorgänge bei ihrer Bildung diskutirt. Nach Aufzählung der Theo- rieen, die man über die Bildung und Zusammensetzung der Steinkohlen auf- gestellt hat, und der Versuche, die GöPPERT, BISCHOFF ünd in neuerer Zeit besonders FrEmy angestellt haben, um vegetabilische Substanz durch Behand- lung mit Wasser unter höherer Tem- peratur und Druck in eine der Stein- kohle ähnliche Substanz umzuwandeln*, kommt Verfasser auf die von den mei- sten Geologen abgelehnte, in neuerer Zeit von PArror und F. Monk verthei- digte Tangtheorie zurück, und sucht zu zeigen, dass die Annahme, die Stein- kohlen hätten sich aus vermoderten Tangen gebildet, noch die meiste Wahr- scheinlichkeit besitze. Er weist darauf hin, dass die Tange mit oder ohne Luftzutritt sich sehr bald bei Berührung mit Wasser in einen pflaumenmusarti- gen Brei verwandeln und zu einer harten strukturlosen Masse erhärten, wie sie die Steinkohlen darstellen. Wir wollen diese Theorie nicht weiter kri- tisiren, da der Verfasser sich bereit erklärt, dieselben zu Gunsten der Rersc#H’schen Ansichten, ** aufzugeben, nach welcher die Steinkohlen aus in ihrer Masse auf Dünnschliffen noch er- kennbaren, cellulosefreien, niedersten * Vgl. Kosmos Bd. V, S. 460. ** Vgl. Kosmos Bd. VII, S. 149. Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 473 Pflanzenwesen gebildet sein sollen, von denen heute noch die Bakterien, Astero- thrix und ähnliche Formen, als letzte Ausläufer einer alle Zeitalter der Erde durchlaufenden, bis in unsere Zeit hin- einragenden grossen und einst viel mächtiger entwickelten Gruppe von Lebe- wesen zu betrachten seien, die ihr Lebe- lang den Charakter völlig nackter Proto- plasma-Körper bewahrten. P.F. Remsch hat kürzlich » Neue Untersuchungen über die Mikrostruktur der Steinkohle des Carbon, des Dyas und Trias (Leipzig, T. O0. Weigel, 1881) veröffentlicht, und darin auf 64 Steintafeln seine mikro- skopischen Entdeckungen abgebildet, allein in einer Zeit, wo man sogar den Granit und andere Urgesteine aus er- kennbaren Mikro-Organismen zusammen- gesetzt erkennen wollte, wird man be- rechtigt sein, sich solchen Entdeckungen gegenüber kritisch und abwartend zu verhalten, zumal die einzigen zweifel- los bestimmbaren Formen in den Stein- kohlen selbst, wie in den benachbarten Schichten, Farnen und andern Gefäss- pflanzen zugehören, deren Verwandte heute auf dem Lande oder in seichtem Süsswasser wachsen. Die Studirenden werden dem Verfasser dankbar sein, dass er ihnen auch über den Stand dieser unabweislichen Fragen ausführ- lich Bericht erstattet hat, wenn auch das Resultat vorläufig kein befriedigen- des ist. So gibt das Buch eine dankens- werthe Zusammenstellung der von dem Verfasser durch zahlreiche eigene Ana- lysen bereicherten Steinkohlenchemie und aller sich daran anknüpfenden Fra- gen, so dass es den Interessenten bestens empfohlen werden kann. Der Verleger hat dem Buche eine hübsche Ausstat- tung zu Theil werden lassen und bietet es in einem sogenannten englischen Einbande dar, eine Neuerung, deren allgemeinere Einführung das bücher- kaufende Publikum gewiss mit grosser Freude begrüssen würde. 32 474 Die ethnographisch-anthropolog- ische Abtheilung des Museum Goddefroy in Hamburg. Ein Beitrag zur Kunde der Südsee-Völ- ker von F. D. E. Scumevrz und Dr. med. R. Krause. Mit 76 Tafeln und einer ethnologischen Karte des gros- sen Oceans. LIU und 687 Seiten in 8°. Hamburg, L. Friedrichsen & Co... 1881. Dem in dem S. 402 angezeigten Buche Basrıan’s ausgestossenen Mahnruf, zu sammeln was noch zu sammeln ist, sind in Bezug auf. den nach so vielen Richtungen interessanten polynesischen Archipel, wohl wenige Privatsammler in so umfassendem Maassstabe zuvor ge- kommen, wie das Haus Goddefroy in Hamburg, welches seit langen Jahren die rein naturhistorische, wie die eth- nographisch-anthropologische Erforsch- ung der Südsee in ruhmreicher Weise auf sein Programm gesetzt hatte. Das vorliegende, von dem verdienstvollen Konservator des Museums, im Vereine mit dem geschätzten Hamburger Kranio- logen R. Krause herausgegebene Werk ist kein Catalog im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Zwar knüpft es zunächst an die reichen Sammlungen an, aber es erläutert die einzelnen Gegenstände mit Heranziehung der gesammten ein- schlägigen in- und ausländischen Lit- teratur und bietet uns damit ein so durchgearbeitetes Material, wie es der Forscher nur irgend wünschen kann. Die Anordnung ist zunächst eine geographische, und schreitet, mit Neu- seeland und Neuguinea beginnend, nach Polynesien vor, um schliesslich nach Mikronesien zu gelangen, wobei der ethnographischen Behandlung jeder ein- zelnen Inselgruppe Uebersichten über ihre geologischen, faunistischen und floristischen Verhältnisse vorausgehen, welche zur allgemeineren Orientirung dienen. Die Gegenstände selbst sind nach den bei Aufstellung der Kopen- hagener Sammlung in Anwendung ge- Litteratur und Kritik. brachten Abtheilungen geordnet, nämlich: a) Gegenstände, die der Religion und Schriftkunde angehören, b) Menschliche Kleidung und Schmuck, c) Krieg, Jagd, Fischerei, Schifffahrt, d) Haushaltungs-, Ackerbau- und andere Geräthe, Nahr- ungsmittel, Geld, Kunst. An die Be- schreibung der einzelnen Objekte knüp- fen sich Exkurse über die Technik der Eingeborenen, Sitten und Gebräuche, Tempel und Wohnungen, Sagen und Alterthümer, welche die Darstellung an- genehm beleben, während zahlreiche Abbildungen auf 34 Tafeln auch die- jenigen, welche das Museum nicht selbst besucht haben, mit den Hauptobjekten bekannt machen. Ueber sich anknüp- fende Fragen von allgemeinerem Inter- esse, wie Kanibalismus, Fetischismus, Tättowirung, Denkmale der Osterinseln, der Karolinen und Marquesasinseln, fin- den sich ausführlichere Exkurse, doch haben sich (die Verfasser im Allgemeinen der Vergleichungen mitlebenden und aus- gestorbenen Völkern, und weiter geh- ender hypothetischer Schlüsse enthalten. Immerhin sind die dahin gehenden An- deutungen, z. B. über die ältere Kul- tur der sich höher über dem Meere er- hebenden Inseln, im Gegensatze zu derjenigen der Koralleninseln, oft sehr interessant, da man in ersteren Inseln Gebirgsspitzen eines untergegangenen Continentes mit älterer Besiedelung sehen kann. Mehr derartige Schlüsse treffen wir in der zweiten Abtheilung des Werkes, welche die mit 12 Tafeln erläuterten Resultate der Schädel- und Skeletunter- suchungen, ebenfalls mit Voranstellung einer allgemeinen Einleitung giebt. Nach seinen sehr sorgfältigen, nach Irkrıng’s Methode vorgenommenen Schädelmess- ungen will Dr. R. Krause die Micro- nesier als besondern Typus nicht mehr gelten lassen; er vereinigt sie mit den Polynesiern, die er als im allgemeinen brachikephal bezeichnet, und mit WAıtz und GERLAnD von den Malayen Süd- Litteratur und Kritik. asiens ableitet, die in einem Bezirk mit dolichokephaler Grundbevölkerung eingewandert seien, und sich mit letz- terer vielfach vermischt hätten. Die letztere, Negritos, Papuas oder Mela- nesier, deren Schädelbau er sehr dem- jenigen der Neger der Loangoküste ähn- lich findet, möchte er von einem unter- gegangenen südoceanischen Welttheil der Tertiärzeit, also dem Lemurien ScLATErR's ableiten, auf dessen Exi- stenz letzterer aus dem vermeintlich engen Verbreitungsbezirk der Lemuren geschlossen hatte, eine Begründung, die aber dadurch erschüttert worden ist, dass man in der Neuzeit auch in Europa und Nordamerika zahlreiche fossile Reste tertiärer Halbaffen gefunden hat. Die Unterschiede der beiden in Betracht kommenden Rassen fasst Dr. R. Krauss S. 567—-68 wie folgt zusammen: »Die polynesische Rasse ist von mittle- rer Grösse, besitzt einen breiten Kopf, flaches breites Gesicht, orthognath, mit etwas hervorstehenden Backenknochen; Nase kurz und breit; eine in verschie- denen Abstufungen gelbbraune Haut, glattes, grobes, schwarzes Haupthaar und geringen Bartwuchs. Die Papuas zeichnen sich aus durch einen langen, schmalen Kopf, mehr zusammengedrück- tes, vorspringendes Gesicht, hervorge- wölbte dicke Augenbrauen, grossen, mit- unter schnauzenartig hervorgetriebenen Mund, grosse, meist gebogene Nase, deren Spitze nach unten gezogen, mit breiten Nasenlöchern und dickem Nasen- rücken; die Hautfarbe ist dunkel, mehr in's Schwarze neigend, das Haar ist wollig, schwarz, neben reichlichem Bart- wuchs. Ihre Gestalt ist im Allgemei- nen grösser und ihr Körperbau kräftiger, alsbeiden Polynesiern. Ebenso wiein an- thropologischer Richtung unterscheiden sich die beiden Rassen auch ganz bestimmt ethnologisch. Die Polynesier tätto- wiren sich durch Nadelstiche, die Me- lanesier durch Einschnitte in die Haut | mit nachfolgender Narbenbildung. Die 475 Polynesier bereiten das berauschende Kavagetränk, welches der Papua nicht kennt; letzterer kaut dafür Betel, was wiederum der Polynesier nicht thut. Der Gebrauch irdener Geschirre ist nur den Melanesiern eigen, den Polynesiern nicht. Der Anwendung des Tabü bedien- ten sich ursprünglich nur die Polyne- sier, indessen ist in letzterer Zeit diese Sitte auch auf einigen melanesischen In- seln eingeführt worden. Die Papuas ge- brauchen Bogen und Pfeil als Kriegs- waffen, während die Polynesier sich nur der Speere, Keulen und Schleuder be- dienen. Nach allen diesen tiefgreifenden Unterschieden, wird es uns nicht Wun- der nehmen, dass auch geistig, wie mo- ralisch diese beiden Rassen wesentlich von einander abweichen. Der Polynesier steht an Civilisation jedenfalls dem Pa- pua voran, was ja selbst physisch sei- nen Ausdruck in der bedeutend höheren Schädelcapacität von 1481 C. C. gegen- über 1283 bei den Papuas gefunden hat.» Diesen mit einem höheren Grad von Bildung, als sie heute aufweisen, in die polynesische Inselwelt eingewanderten Malayen schreibt Dr. R. Krause auch die vieldiskutirten Denkmäler der Oster- insel und anderer Inselgruppen zu. Seine Ansichten verdienen jedenfalls eine ein- gehende Berücksichtigung, und über- haupt muss das gesammte Werk als eine der besten Quellenschriften für dieses in ethnologischer Beziehung so sehr wichtige Gebiet gelten. Die typo- graphische Ausstattung ist eine vor- zügliche und das bildliche Anschauungs- material in Anbetracht des Umstandes, dass es nur bisher unveröffentlichte Ob- jekte darstellt, ein doppelt werthvolles und sehr reichhaltiges. Beiträge zur Biologie niederster Organismen von Dr. Karı Roser, Assistenzarzt an der chirurgischen Klinik in Marburg. 30 S. mit einer 476 lithographirten Tafel. - Marburg, N. G. Elwert’sche Verlagsbuchhandlung, 1881. Der Verfasser hat eine Reihe von Versuchen über die Gewöhnung von Süsswasser-Infusorien an salzhaltige Sub- strate (Harn, Milch und Blut) angestellt, woraus er beachtenswerthe Schlüsse über die Anpassung der Krankheits-Erreger knüpft. In der Regel benützte er die in ihren Lebensverhältnissen durch die Arbeiten von CoHn, SCHNEIDER und STEIN bekannte Polytoma wvella und fand, dass sobald zu dem lebenden Objekte unter dem Mikroskope ein Tropfen Harn ge- bracht wurde, die Geisseln ihre Beweg- ungen einstellten, während der Zellin- halt zusammenschrumpft und sich von seiner Hülle zurückzieht. Die Flagel- late geht durch Wasserentziehung in den Zustand der sogenannten Trocken- starre über. Sie wird aber dadurch keineswegs getödtet, sondern lebt bei Zusatz von reinem Wasser wieder auf, ja sie entwickelte sich in einer Flüssig- keit, welche den achten Theil Harn ent- hielt, besser als in salzfreiem Wasser. Allmälig konnte sie aber an einen grös- seren Salzgehalt gewöhnt werden und in 5 Wochen war sie demselben soweit angepasst, dass sie sich in unvermisch- tem Blute mit fabelhafter Geschwindig- keit vermehrte. "Dr. Roser glaubt aus seinen Versuchen schliessen zu dürfen, dass es bei der Umzüchtung der niede- ren Organismen zu im lebenden Körper gedeihenden Krankheitserregern, weni- ger an eine Gewöhnung an alkalische Substrate (wie Grawırz glaubt), son- dern an eine Gewöhnung an die salz- haltigen thierischen Flüssigkeiten han- Litteratur und Kritik. dele. Auch bei Pflanzensamen (Bohnen und Erbsen) überzeugte sich der Ver- fasser davon, dass sie in Harn oder Hydrocele-Flüssigkeit nur anschwellen, ohne zu keimen. Er schliesst daraus, dass solche Samen, die in Luftröhre, Nasen oder Ohrgang gelangen, trotz der günstigen Bedingungen von Feuch- tigkeit, Wärme und Sauerstoff, dort des- halb nicht keimen, weil sie, oder viel- mehr ihre Mutterpflanzen, nicht an den Salzgehalt des Blutes angepasst sind. Damit kommt er zu dem Hauptsatz seiner Arbeit: »Nur derjenige Schma- rotzer oder Infektionspilz kann im thie- rischen Körper haften, der zuvor an den Salzgehalt des Blutes des letzteren „angepasst ist. Jede Zelle muss schrum- pfen, wenn sie aus einem salzarmen Medium, z. B. gutem Trinkwasser (salz- reiches Trinkwasser ist schlecht, d.h. in- fektionsgefährlich), direkt in Blutserum übertragen wird.« Hierdurch würden sich manche der von NÄGELI, WERNICH, BucHnEr und GRAWITZ ausgesprochenen Ansichten über Konkurrenz und Ver- drängung, Anpassung und Haftbarkeit modificiren und als die erste Bedingung einer erfolgreichen Impfung oder An- stecküng würde sich ergeben, dass die zu übertragenden Zellen in dem neuen Medium nicht in Trockenstarre verfallen, durch Wasserentziehung in salzhaltige- ren Lösungen. Der Verfasser erörtert in seiner kleinen Schrift noch mehrere andere, mit dem Eindringen der Para- siten in fremde Organismen zusammen- hängende Fragen und seine Arbeit ver- dient die Aufmerksamkeit aller mit die- ser wichtigen Angelegenheit beschäftig- ten Mediziner und Physiologen. KOSMOS. Zeitschrift für Entwickelungslehre und einheitliche Weltanschauung unter Mitwirkung von B. Carneri (Wien), Prof. Dr. O0. Caspari (Heidelberg), Charles Darwin (Down), Francis Darwin (Down), Prof. Dr. J. Delboeuf (Lüttich), Prof. Dr. A. Dodel-Port (Zürich), Dr. W. 0. Focke (Bremen), Dr. Forsyth Major (Florenz), Prof. Dr. $. Günther (Ansbach), Prof. Dr. E. Haeckel (Jena), Prof. Dr. Th. v. Heldreich (Athen), Fr. v. Hellwald (Stuttgart), Dr. F. Hilgendorf (Berlin), Prof. Dr. R. Hörnes (Graz), Prof. Dr. Th. H. Huxley (London), Prof. Dr. @. Jäger (Stuttgart), Sir John Lubbock (London), Prof. 0. C. Marsh (New- Haven), Dr. Fritz Müller (Itajahy), Dr. Herm. Müller (Lippstadt), Dr. C. du Prel (München), Prof. Dr. W. Preyer (Jena), W. v. Reichenau (Mainz), Prof. Dr. 0. Schmidt (Strassburg), Prof. Dr. Fritz Schultze (Dresden), Dr. G. Seidlitz (Königsberg), Herbert Spencer (London), Dr. H. Vaihinger (Strassburg), Prof. Dr. Mor. Wagner (München), Dr. Wernich (Berlin), Dr. F. Weinland (Esslingen), Prof. Dr.A.Weismann (Freiburg), Prof. Dr.L.Wittmack (Berlin), L. Würtenberger (Karlsruhe), Prof. Dr. R. Zimmermann (Wien) und andern namhaften Forschern auf dem Gebiete des Darwinismus herausgegeben von Dr. Ernst Krause. V. Jahrgang. X. Band (October 1881 — März 1882). Mit VIII Tafeln und 59 Holzschnitten. Sin ee. STUTTGART. E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Koch). 1881. Abhandlungen. Carneri, B. Bei'm hundertjährigen Jubiläum der Vernunftkritik Kant’s — — Das Bewusstsein und die Gewissheit . Du Prel, Carl. Kritik des Sonnensystems . Fischer, Dr. H. Vergleichende Betrachtungen über ’2 en. der Ser au der ganzen Erde. (Hierzu Tafel II—IV und 38 Holzschnitte) . Fligier, Dr. Die Nationalität der österreichischen Pfahlbautenbewohner . — — Die prähistorischen Beziehungen der Indoeuropäer zur finnisch- NL Völkerfamilie . ; Focke, Dr. W. O. Die Verbräitmg ee Pelanass a "Thiere R — — Die Schutzmittel der Pflanzen gegen niedere Pilze . ER Hörnes, Prof. Die Entfaltung des Megalodus-Stammes in den jüngeren mesozoise es: Formationen. (Hierzu Tafel VO, VII) ne s Krause, Dr. E. Die schwanzartigen Bildungen beim Mensohen, Kath an ner suchungen von Dr. Bartels, Prof. Ecker, Dr. Ornstein u. A. (Hierzu Tafel I) Ludwig, Dr. F. Ueber die Bestäubungsverhältnisse einiger Süsswasserpflanzen und ihre Anpassungen an das Wasser und gewisse wasserbewohnende Insekten. (Mit 17 Holzschnitten) ß j : ; Müller, Fritz. Bemerkenswerthe Fälle rarbanen Kehle Ike it i* Sc ‘hme De N. I. Aehnlichkeit durch Ungeniessbarkeit a Arten. (Hierzu Tafel VI in Farbendruck) . \ Ne Müller, Dr. Hermann. Die ee lkioket der Blumenköp®s von 2 Oiniotien, Jar ea Nathan, Dr. Julius. ’Teber die Localisation der Hirnfunctionen an den Grosshirn- hemisphären des Menschen und der Thiere. (Mit 2 Holzschnitten) v. Reichenau, Wilhelm. Ueber den Ursprung der secundären männlichen Geschlee er charaktere, insbesondere bei den Blatthornkäfern. (Hierzu Tafel V) . Soury, Dr. Jules. Ueber die hylozoistischen Ansichten der neuern Philosophen 241. 391. Spencer, Herbert. Staatliche Einrichtungen . . . ne RN Yung, Emile. Der Einfluss des farbigen Lichts auf die ee der Thiere Kleinere Mittheilungen und Journalschau. =] 257 334 344 172 401 268 107 Die Hypothese eines gasförmigen Erdkerns 51. — Die Geschichte der Cypressen (Cupressineae). (Nach Starkie Gardner) 52. — Die Entwickelung der Rippenquallen 55. — Müller, Hermann, Ein Käfer mit Schmetterlingsrüssel. (Mit 4 Holzschnitten) 57. — Der ee hienas in Talmud und Midrasch 61. — Die Dauer des Lebens 133. — Die vermeint- lichen Proteaceen der europäischen Tertiärzeit 135. — €. D. Walleott's Untersuchungen IV Inhalt. über die Trilobiten 137. — Eine Beobachtung an Trigona mirim von Fritz Müller 138, — Der Schallapparat ’eines zirpenden Fisches 140. — Embryonalfedern in der Mundhöhle der Vögel 140. — Beobachtungen an einer Spötter-Hecke von Dr. B. Placzek 141. — Die Haushunde der prähistorischen Zeit 144. — Gorilla und Chimpanse 145. — Das Verhalten der Augenhöhlen bei Affen und Menschen 145. — Die Beobachtungen an den Kometen des Jahres 1881 208. — Verkieselte Blüthenstände aus der Steinkohlenzeit. (Mit 2 Holz- schnitten) 210. — Noch einmal die ältesten Blüthenpflanzen (Metaspermen) von P. Magnus 211. — Eine Pflanze, welche bei Nacht die Himmelsgegenden anzeigt von Fritz Müller 212. — Die paläontologische Entwickelung der See-Igel im Vergleich zu ihrer individuellen Entwickelung 214. — Die devonischen Insekten von Neu-Braunschweig und ihre Beziehungen zu den spätern und noch lebenden Insekten 217. — Die Osteoblasten-Theorie und die Ent- wickelung des Knochengewebes in der Thierreihe 223. — O.C. Marsh, Jurassische Vögel und ihre Verwandten 231. — Durch Atavismus verständliche Anomalieen der tiefern Hand- beugemuskeln bei einem mikrocephalen Mädchen 234. — Der Einfluss der Musik auf den Blutumlauf 235. — Eine Hypothese über die Sonnenflecken von Ed. v. Lüdinghausen- Wolff 286. — Der Klimawechsel der Vorzeit 288. — Der Einfluss der Oceane auf die Wärmestatistik des Erdballs 294. — Ueber den Einfluss des bewegten Wassers auf die (Gestaltung der Süsswassermuscheln aus der Familie der Najaden 295. — Eine neue Eintheilung der Crinoiden 296. — Neue Untersuchungen über die Schlangengifte 297. — Prof. Cope’s Untersuchungen über die fossilen Raubthiere Amerika’s 299. — Die parasitischen (rewohnheiten von Molothrus von Charles Darwin 301. — Die Terrassenkimmel der Buddhisten 302. — Die Veränderungen der Mondoberfläche 369. — Gletscherspuren im Harz 370. — Helophyton Williamsonis 371. — Hygroskopische Hüllblätter als Schutzmittel von Blüthen und Samen von P. Magnus 371. — Die Relikten-Seen und ihre Fauna 373. — Eine neue Fundstätte für die britische Paläontologie 374. — Ueber Färbung, Farben- wechsel und Farben-Nachäffung der Thiere 378. — Die Klassifikation der Dinosaurier 382. — Die Erblichkeit des Accents bei Taubstummen 387. — Die periodischen Variationen der Gletscher 437. — Untersuchungen über die Eigenschaft fester Körper sich unter starkem Druck zu vereinigen 439. — Die Stammbildung der Calamarien 440. — Ueber das Zu- sammenleben von Algen und Thieren 441. — Die Rolle des Tetronerythrins im Thier- körper 443. — Eocäne Vögel 444. — Ueber den Ursprung der eigenthümlichen Fuss- bildungen der Hufthiere 445. — Der Stammbaum der Rhinoceronten 446. — Ein merk- würdiger Heilinstinkt beim Hunde 448. — Die Regierungsform und Rechtspflege der Kaffern 450. Littezatur und Kritik . . . .. am 2.0. 66. 146.286.:304:389. 458 Biueiwechsel ri... 5... 20000 UT = au lerne re ee g © El Beim hundertjährigen Jubiläum der Vernunftkritik Kants. Von B. Carneri. An Keinem, der in ernsterer Weise mit Philosophie sich beschäftigt, geht das Jahr 1881 vorüber, ohne dass er in einem längern Aufsatz, einem Vortrag, einem Briefe oder in einer stillen Be- trachtung das Jubeljahr der Vernunft- kritik feierte. Hundert Jahre sind es, dass Kanv’s Kritik der reinen Ver- nunft erschienen ist. Es ist etwas Eigen- thümliches um die Feier solcher Zeit- abschnitte. Ist doch ein Jahr nicht besser, als das andere, und fast sieht es aus, als hänge an dieser Art Vorliebe für be- stimmte Zahlen ein gutes Stück Aber- glauben. Dem ist aber nicht so. Die menschliche Phantasie bedarf fester For- men, soll anders der Gegenstand, dem sie sich hingiebt, von ihr fest umschlossen werden können, und nicht mit ihr ver- schwimmen in haltlose Zerfahrenheit. Dies gilt vor allem gegenüber der Zeit, die auf keinem bestimmten Punkte fest- zuhalten ist, und da wird uns in einer Anzahl von Jahren, am prägnantesten in einem vollen Jahrhundert, eine fass- bare Form geboten. Was ein Jahr- hundert über dauert, giebt schon da- durch Zeugniss von seinem ungewöhn- lichen Werth. Wie viel ein Jahrhundert ist, sagt uns am augenfälligsten die Be- merkung, dass nur deren vierzehn seit dem Anbeginn, nur deren vier seit dem Kosmos, V. Jahrgang (Bd. X). Abschluss des Mittelalters verflossen sind. Wir sagen daher etwas nach mensch- lichen Begriffen Riesiges aus mit dem einfachen Satz: Kanr’s Vernunftkritik hat biszum heutigen Tag von ihrer Bedeutung nichts eingebüsst. Ein recht merkwürdiges Zusammen- treffen ist es, dass A. Rıenu’s: der philo- sophische Kriticismus und seine Bedeu- tung für die positive Wissenschaft, — im laufenden Jahre, mithin genau ein Jahrhundert nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft seiner Voll- endung entgegengeht. Dieses Werk legt uns den philosophischen Kritieismus, dessen erste Spuren schon im Alterthum nachweisbar sind, als die Zerstörung der transcendenten und Grundlegung der positiven Philosophie, und das System Kanr’s als dessen gelungenste Ausprä- gung dar. Vom Standpunkt der Feier dieses Jahres bewegt sich dieses Werk nicht in den Umrissen einer blossen Huldigung: es ist die lebendige und neu belebende Fortentwickelung einer epochemachenden That, und dies in so gediegener Weise, dass, unserer Ueber- zeugung nach, es selbst Epoche machen wird, und zwar als der endliche Ab- schluss jener fieberhaften Fluetuation, die, schwankend zwischen den zwei Ex- tremen, immer wieder Kayr als über- 1 ) B. Carneri, Bei'm hundertjährigen Jubiläum wunden betrachtete, um unmittelbar dar- auf zu ihm zurück zu stürmen, als gäbe es über ihn hinaus keinerlei Philosophie. Es giebt seit Kant nur KAnr’s Kriti- cismus; aber das Beharrenwollen auf der von ihm eingenommenen Position beruht auf einem Missverstehen seines Kriticismus. Mit diesen wenigen Worten ist Kanr’s ganzer Werth gekennzeichnet. Sie legen das klar, was dauernd an ihm ist, und, weit entfernt, durch das Er- öffnen eines Ausblicks nach weiterem Fortschritt den Werth dieses Dauernden herabzusetzen, erweisen sie es als fort- entwickelungsfähig, erschliessen sie da- mit erst recht seinen Werth. Wäre das nicht, so hätten wir es bei Kant mit etwas Erstarrtem, Todtem, Ertödtendem zu thun, während, was er der Wissen- schaft geboten hat, ein Lebendiges ist. Kanr’s unvergängliches Verdienst ist es, auf immer mit aller Transcendenz aufgeräumt zu haben. Dem Wünschen, dem Hoffen, dem Glauben kann Niemand verwehren, seine eigenen Wege zu gehen, und auf den Schwingen der Phantasie in ein erträumtes Jenseits, als in ein wirkliches Land zu ziehen: aber im Ge- biete des Wissens giebt es kein Jenseits mehr; man müsste denn Kant ignoriren wollen. Damit sind nicht unserm Geiste Schranken gezogen; die wissenschaft- liche Forschung. ist dadurch in ihr volles Recht eingesetzt worden. Das ist die Bedeutung, welche die Kritik der reinen Vernunft für alle Zeiten dem philosophi- schen Denken vindicirt hat. Nichts ist irriger, denn ihr Hauptergebniss als ein negatives betrachten zu wollen. Ein negatives ist es nur rücksichtlich der alten Metaphysik. Dieser ist allerdings mit der Transcendenz der Boden unter den Füssen weggerissen worden: wo es nichts Uebernatürliches giebt, da giebt's eben keine Metaphysik in diesem Sinn. Aber das Ziel, das die Vernunftkritik sich gesteckt hatte, war ein positives: dem Skepticismus, der alle Gewiss- heit bestreiten zu wollen schien, galt es entgegenzutreten, und dieses Ziel hat die Vernunftkritik erreicht. Ausser den Begriffen, die dem Menschen im Wege der Erfahrung zu eigen werden, und die, weil fussend auf der sinnlichen Anschauung, wie diese dem Irrthum unterworfen sind, giebt es mit der Na- tur, richtiger gesprochen, mit der sinn- lichen Organisation des Menschen ge- gebene Begriffe, welche bei allen Men- schen dieselben sind, und für die sinn- liche Anschauung unabänderliche Normen abgeben. Diese Begriffe, welche Kant zum Unterschied von den übrigen als Anschauungsformen des Verstandes be- zeichnet hat, sind das Apriorische in unserm Denken, sind alles, was seine Kritik von dem a priori der alten Meta- physik bestehen lassen hat. Ebenso hat Kant den Stoff oder das An-sich der Dinge weder geläugnet, noch als eine ausserhalb der Erscheinungswelt für sich bestehende Welt behauptet. Dieses An-sich nennt er zum Unter- schied von dem, was unter transcen- dent verstanden wird, transcenden- tal, und versteht darunter die Dinge, wie sie sein mögen, wenn die Wesen weggedacht werden, deren Organisation, in ihrer Wechselwirkung mit dem An-sich der Dinge, die zur Erscheinung kom- menden Dinge hervorbringt. Stoff, als das An-sich der Dinge; Raum und Zeit, als die Anschauungs- formen, in welchen dieses An-sich für den Menschen zur Erscheinung wird; Causalität als das Grundgesetz, nach welchem für den Menschen alle Erschei- nungen als bedingte Vorgänge sich ent- wickeln; Identität, als die Wahrheit des Ich bin Ich, und damit unseres Be- wusstseins und der auf seiner Einheit- lichkeit beruhenden Denkgesetze, sohin als der Prüfstein, an welchem der Mensch die an ihn herantretenden Dinge be- urtheilt, sind positive Errungen- schaften der kritischen Philosophie. Das menschliche Denken entfaltet auf dieser Grundlage eine Macht, die keinerlei transcendente Auffassung ihm verleihen könnte. Das Geheimniss dieser Macht liest darin, dass ihre Grundlage die Grenzen unserer Erfahrung nicht über- schreitet. Der Satz, dass alle Erkennt- niss mit der Erfahrung anhebt, war und blieb der Leitstern des grossen Königs- bergers. Darum hat er bei keiner seiner Forschungen von der Naturwissenschaft sich getrennt, und diese ist es, die seiner Kritik den Stempel des Positiven aufdrückt, und ihr frei hält den Weg, mit dem Fortschreiten der positiven Wissenschaften selber und in positiv kritischer Weise fortzuschreiten. Aus alledem ergiebt sich, dass, wie mit dem Fortschritt der Naturwissen- schaft der menschliche Verstand und mit ihm die Anschauungsformen des mensch- lichen Verstandes in geläuterterer Weise begriffen werden mussten — Rızrun's Unterscheidung und vollkommen befrie- digende Erklärung des Apriorischen ist die Klärung dieses Begriffs an der Hand der modernen Wissenschaft —: so auch die praktische Seite der Weltanschauung Kanr’s modifieirt wer- den musste, ja, von selbst sich modi- ficirt hat. Inwieferne man der Vor- stellungen Gott, Unsterblichkeit und Freiheit entrathen kann, oder selbst in einer logischen Verdünnung, die nur mehr deren Namen übrig lässt, sie für unentbehrlich hält, ist rein individuell, und man muss nicht wissen, auf welche unüberwindliche Hindernisse in dieser Richtung das menschliche Denken stösst, um auf diesem Felde den Kampf zu suchen. Betreffend Kanr’s Verhalten zu diesem Vorstellungskreise, haben wir nie des Gedankens uns entschlagen können, dass die Gefühlsrichtung seiner Jugendjahre weit weniger bis zur vollen Reife seines Denkens ihn begleitet, als vielmehr sein Verständniss für die Her- zensbedürfnisse des Menschen ermöglicht hat., Wir haben nie zu denken ver- mocht, dass ein Kanr mit dem Posi- tiven, das seiner Kritik entspringt, sich der Vernunftkritik Kant's. 3 nicht habe bescheiden können, und haben immer die Erklärung, er habe dem Glauben Platz machen wollen, als die gelungenste Wendung betrachtet, mit der eine Rückkehr zur Transcen- denz als der völlige Verzicht auf Er- kenntniss charakterisirt werden kann. Den richtigen Theologen ist der tiefere Sinn jener Wendung nicht entgangen, und die Verfolgung blieb nicht aus; aber die mittlern Schichten des Volkes waren, bald mehr bald minder klar be- wusst, für die neue Richtung des Den- kens gewonnen, und damit war das Gros der Bildung von der neuen Be- wegung des Geistes ergriffen. Für Kanr musste es das Wichtigste sein, seiner Vernunftkritik die weiteste Verbreitung zu sichern; und war dies nur mit jener Wendung möglich, so hat er durch sie der Entwickelung und Klärung des Den- kens weit mehr genützt, als er es ver- mocht hätte durch eine in seiner Zeit unhaltbare Starrheit. Was an seiner Kritik der reinen Vernunft in den Augen der Strenggläubigen ein glaubenertöd- tendes Gift war, wirkte durch das Vor- handensein der Kritik der praktischen Vernunft nicht weniger intensiv, wohl aber in weiteren Kreisen. Und was uns immer wieder zu dieser Ansicht zurückbrachte, und über Kanr’s wahre Meinung beruhigte, war gerade sein kategorischer Imperativ. Bei einem wahrhaftigen Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft hätte sein oberstes Moralgesetz ganz anders lau- ten, und direct aus einer Zusammen- . fassung der drei Postulate Gott, Un- sterblichkeit und Freiheit hervor- fliessen müssen. Hier eben ist der Punkt, der un- vollendet blieb, aber nicht unvollendet im Sinne eines Gebrechens, sondern eines Pflanzenauges, das erst in einer spätern Zeit zu treiben vermochte. Wir können es nicht zu scharf betonen, dass nichts die Grösse der Leistung Kant's in ein helleres Licht stellt, als dass es 1 A 4 B. Carneri, Bei’m hundertjährigen Jubiläum eines vollen Jahrhunderts bedurft hat, um die ihr entspriessenden Früchte zur vollen Reife zu bringen. Die Auffas- sung des Menschen als Selbstzweck ist geradezu das natürlichste Resultat der Consequenzen, zu welchen die Ver- nunftkritik führt, und vollkommen ge- nügend zur Begründung einer ächten Moral. Damit eröffnet sich uns ein voller Ausblick auf das, was Kanr der strebenden Menschheit ist und immer sein wird. Die Kritik der reinen Ver- nunft hat den Menschen auf seine ei- genen Füsse gestellt. Eine ganze Schar reizender Bilder, die in reicher Farben- pracht den Menschengeist umgaukelten, verschwand als trügerische Träumerei, und nüchtern war der Ersatz. Was an ihre Stelle trat, war einfache Geistes- klarheit. Aber hatte einmal der Blick sich daran gewöhnt, so wurde ihm ihre ungetrübte Ruhe zur Nothwendigkeit. Die unabweisbare Folge ist die Erkennt- niss, dass für uns die Welt nur den Sinn haben kann, den sie hat in ihrer Beziehung auf uns. Die unklare Frage nach dem Charakter unserer Freiheit tritt in den Hintergrund gegenüber dem klaren Gefühl, dass wir selbst es sind, die wir wollen und streben, und dass unser gesammtes Streben auf Glück- seligkeit gerichtet ist, als der Vollen- dung der Selbsterhaltung. Es ist leicht begreiflich, warum für Kant die volle Consequenz der Stellung, welche die Vernunftkritik dem Menschen in der Natur erobert hat, ohne Conse- quenzen blieb. Den Skepticismus, der keinerlei festen Halt, durch den, ausser dem Glückseligkeitstrieb, dem Menschen eine bestimmte Richtung ge- geben würde, gelten liess, hatte er be- siegt. Darum war aller Glückseligkeits- trieb zu verpönen, und hatte allein der Verstand die Bausteine zu liefern zum Tempel der Moral. Ohne Berücksich- tigung, ja, mit Vergewaltigung der hei- ligsten Triebe, hatte der Mensch selbst das zu sollen, was er nicht wollen konnte. Wir gehen weiter, und sagen nicht nur, dass, also vor- zugehen, für Kant am nächsten lag, wir sagen, dass er also vorgehen musste, dass es in der Natur der philosophischen Entwickelung lag, nach dieser Richtung den neuentdeckten Boden ganz aufzu- wühlen. Es musste der volle Beweis erbracht werden, dass dieser Weg alle Ethik zerstört. Erst dann konnte der Mensch der Vernunftkritik sich erheben als der ganze Mensch mit seinen Ge- fühlen und Affekten, die keiner Um- wandlung in ihr Gegentheil, und nur der Läuterung bedürfen, um die herr- lichsten Ziele anzustreben. Damit stehen wir vor der grössten Schwierigkeit, aber auch vor der ganzen Wichtigkeit dessen, was an Positivem aus der Kritik der reinen Vernunft sich ergiebt. Es ist hier nicht der Ort, und würde von der gestellten Aufgabe zu weit ablenken, darzuthun, dass der Mensch nicht von Haus aus ein ethi- sches Wesen ist, und erst im Staate dazu wird, in welchem er allmählig zur Werthschätzungseiner Art gelangt. Giebt es keinen angeborenen Drang zur Tu- gend, so wird es eben einen andern Weg zur Tugend gegeben haben; denn die Tugend ist da, und nicht auf sie bezieht sich die Frage. Die Ethik ist wie die Aesthetik, welche gleich jener hinterher kommt, und nicht das Kunst- werk ermöglicht, sondern seinen Werth uns klar macht. Die eigentliche Frage lautet: Giebt es für den Menschen Gewissheiten, die seinem Dasein einen Halt und Werth verleihen, oder gleicht er blossem Staub, der nichtigdahinschwindet? Wir geben zu, dass der Mensch gegenüber dem un- endlichen All und dem endlosen Zeit- verlauf, wie man gewöhnlich sich aus- drückt, ein Nichts ist. Diese Erkennt- niss ist ein werthvoller Schutz gegen den hochmüthigen Dünkel, in den so gern, und ehe sie dessen sich versieht, alle übertriebene Bescheidenheit um- schlägt. Aber ganz wörtlich darf die Sache nicht genommen werden. Der Verlauf der Zeit ist eine subjective Vor- stellung, und schliessen wir auf immer : die Augen, so mag auch das All zum Nichts werden. Von dieser Seite ist eben der Sache nicht beizukommen. Lassen wir aber auch den Menschen aus Staub geworden sein, und wieder zu Staub werden, so ist doch er der Punkt, auf welchem die Natur zum Be- wusstsein kommt. Solch ein Staub ist schon der Rede werth. Und unser Bewusstsein ist uns eine unumstössliche Gewissheit. Auf Grund dieser Ge- wissheit wissen wir, dass eine wirkliche Natur uns umgiebt, und erfahren wir, dass ein und dasselbe Gesetz uns und die ganze Natur beherrscht, und dass wir es sind, die wir dieses Gesetz geben, uns und der Natur. Und unser Wissen erweitert sich mit unserer Erfahrung, und wir gelangen zur Erkenntniss, dass es die Grundbedingung alles Wissens ist, auf Erfahrung zu beruhen, oder wenigstens mit ihr nicht in Wider- spruch zu stehen. Und Eins mit dieser Erkenntniss ist es, dass es für uns ausser dieser Welt, zu der, als deren höchste Entwickelungsform, wir gehören, nichts giebt, dass der Mensch nichts über sich hat in dieser seiner Welt. Ist das noch nichtgenug des Positiven und Gewissen? Ist dem Menschen, da- mit er sich zufrieden gebe, ein über- weltlicher Gebieter unerlässlich? Bedarf er durchaus einer andern Welt, in der er sein Leben ewig fort- setzen kann? Auf diese Forderung zu verzichten, ist übrigens nicht das Op- fer, zu dem das menschliche Herz am schwersten sich entschliesst. Um den Preis, niemand über sich zu haben, ent- sagt es der andern Welt, über. deren Verhältnisse es schliesslich ganz im Dunkeln ist. Die Hauptschwierigkeit bildet die Frage der Freiheit, die im- mer wieder sich aufwirft, sobald es sich um die Sittlichkeit handelt. Frei hat der Vernunftkritik Kant's. 5 der Mensch sich zu wissen, sein Wille hat nach eigenem Ermessen sich selbst bestimmen zu können, soll es anders Tugend und Menschenwürde geben, das irdische Dasein einen ethischen Werth haben. Soweit kommen wir an der Hand der Vernunftkritik. Hilft sie uns aber nicht weiter? Ja, denn die Bahn ist frei durch sie. Die Weltanschauung, die aus ihr sich ergiebt, ist durch das Entfallen des Transcendenten eine vol- lendet einheitliche, welche der Stufe, zu der ein Jahrhundert später die Na- turwissenschaft sich erhoben hat, wie auf den Leib geschnitten ist. Keine vorgedachte Weltzwecke durchkreuzen das allgemeine Causalgesetz, das jede Entwickelung beherrscht. Die Gesetze des Kampfes um’s Dasein, aus welchen in allen Reichen des Le- bens der Fortschritt mit Nothwendig- keit erfolgt, modifieiren sich von selbst in allen Geschehnissen, bei welchen das seiner Natur nach zwecksetzende Be- wusstsein mitspielt. Wir beobachten dies schon beim Thier, und in desto vollerem Maasse, je höher organisirt es ist, am vollsten beim Menschen, dessen Bewusstsein bis zum Selbstbewusst- sein fortschreitet. Die Noth zwingt den Menschen zu der Vereinigung, die wir Staat nennen, und die, mehr und mehr seiner Art sich anpassend, mehr und mehr es ihm ermöglicht, zum Men- schen, den die Menschheit braucht, sich zu entwickeln. Indem er innerhalb der Schranken, welche das Bedürfniss der Art ihm gezogen hat, seiner Natur folgt, eivilisirt sich seine Natur. Es ist der Gang der sittlichen Fortbildung, auf welchem die Menschheit aus dem Zustande der Wildheit zu dem gewor- den ist, was sie heute ist. Ein zeit- weiliger Rückfall in Barbarei und Ver- wilderung war dabei unvermeidlich, und wird auch in Zukunft von Zeit zu Zeit die Moralisten, die von der Mensch- heit mehr fordern, als sie leisten kann, 6 B. Carneri, Bei'm hundertjährigen Jubiläum ete. ausser Fassung bringen. Dem Ethi- ker, für den es keine allmächtige Welt- lenkung giebt, genügt die Thatsache, dass im Grossen und Ganzen der sitt- liche Fortschritt ein unläugbarer ist. Die einfachste Erklärung dieser That- sache ist die aus der steigenden In- telligenz sich ergebende Läuterung des Glückseligkeitsstrebens. In- telligenz in der höchsten Bedeutung des Wortes ist gründliche, viel- seitige und harmonische Entwicke- lung der geistigen Thätigkeit. Bei gan- zen Völkern, gesellschaftlichen Schichten und einzelnen Individuen lässt sich’s durch eingehendere Vergleichung leicht beobachten, dass mit der fortschreiten- den Intelligenz auch die Veredelung un- seres Glückseligkeitsstrebens fortschrei- tet. Nicht nur verfeinert sich der Ge- schmack und mit ihm der Begriff des Genusses; das Bedürfniss, den Genuss mit andern zu theilen, wird immer le- bendiger, und gleichzeitig das Geniessen auf Kosten und zum Schaden anderer seltener. Die Erkenntniss, dass der blosse Genuss nur zu Ekel und Ab- stumpfung, mithin nicht zum wahren Glück führt, wird nothwendiger Weise immer allgemeiner. Ebenso die Erkennt- niss, dass rüstige Arbeit die einzige untrügliche Würze des Genusses_ ist. Dies alles führt schliesslich zu einem Ideal der Glückseligkeit, das man nicht anstreben kann, ohne dadurch in sittlicher Beziehung fortzuschreiten, dem man sich nicht nähert, ohne den Weg zur Tugend zu betreten. Das rechte Glück macht gut; denn es ist nicht das Werk der blossen Klugheit, es ist das Werk der Weisheit. Dass das Streben nach Glückseligkeit, als die Blüte des Selbsterhaltungstriebes, in der Natur des Menschen liegt; dass der Sporn der Noth den Menschen zur Staatenbildung drängt, durch die seine geistige Entwickelung jene Höhe er- reicht, auf welcher alle seine Triebe und Affecte sich verfeinern, die Liebe, die Menschlichkeit und der Gemeinsinn den Glückseligkeitsbegriff bis zur voll- endeten Reinheit klären; dass der Grund- zug dieser Richtung bei aller Verschie- denheit der individuellen Auffassung ein allgemeiner ist, — darin liegt die Bürgschaft für den fernern Fort- schritt. Blickt die Menschheit zurück auf ihren Ursprung, so kann sie mit Stolz gewahr werden, wozu sie es gebracht hat: die Menschennatur hat sich ver- edel. Und ist auch der Wille nicht frei im gemeinen Sinne: wo er auftritt als der Wille einer veredelten Natur, da wird er eine Achtung und Bewun- derung hervorrufen, wie die schranken- loseste Willkür sie nie errungen hätte. Es ist eben falsch, aus dem blossen Bewusstsein, ein Mensch zu sein, Befriedigung schöpfen zu wollen: echte Befriedigung entspringt allein dem Be- wusstsein, ein edler Mensch zu sein. Allerdings ist dabei von keinem Ver- dienst die Rede, wie es der Fall wäre, wenn wir die ganze Leistung uns selbst, und nicht einem glücklichen Zusammen- treffen zahlloser Ursachen und Wir- kungen verdankten. Aber mitgewirkt haben wir durch unsern Charakter, unsere Intelligenz, unsere That- kraft, und wir erfreuen uns in um so würdigerer Weise dessen, was wir geworden sind, wenn wir, anstatt mit übermüthiger Eitelkeit, mit bescheidener Selbsterkenntniss uns dessen erfreuen. Und findet Einer das Leben der Mensch- heit zu kurz, damit die Opfer, die der Einzelne der Art zu bringen hat, einen Sinn haben, und erscheint ihm nur eine ewige Art als ein Gegenstand, der diese Opfer rechtfertigen würde; nun so weiss er einfach nicht, wie nichtig sein ei- genes Leben ist gegenüber dem Leben der ganzen Art. Er weiss auch nicht, was er unter Ewigkeit versteht, dass er aus alter Gewohnheit eine andere Welt damit meint, und dass jene, die im Dienste einer andern Welt leben, a ER N VESPR rer lı F. Ludwig, Bestäubungsverhältnisse einiger Süsswasserpflanzen etc. ji für diese Welt am wenigsten leisten. Er weiss endlich nicht, dass die Kri- tik der reinen Vernunft das Grab jeder andern Welt ist, dass es für den Kriticismus Kanr’s nur diese Welt giebt, und dass diese Welt in erster Linie eine Welt der Arbeit ist. Jenen, welche für unsere Zufriedenheit mit der Welt, wie sie ist, nur ein mit- leidiges Achselzucken haben, können wir leicht helfen, wenn ihre Entrüstung über die moderne Verderbtheit des Men- | schengeschlechtes eine ächt sittliche ist. Ihnen ist geholfen und mit ihnen der Welt, sobald sie den Rath befolgen: Erzieht eure Kinder besser, erhebt sie zu sittlichen Menschen! Hier ist der Punkt an dem der Hebel anzusetzen ist; und zu heben gilt’s, soll erhoben werden. Wie das Leben selbst eine Arbeit ist, so ist auch die morali- sche Freiheit, die Eins ist mit der ethischverklärten, wahren Glückseligkeit, eine Arbeit, rastlose, unendliche Arbeit. Darum können wir diese flüchtige Be- trachtung des bleibenden Werthes der Vernunftkritik und der Bahn, die sie freigemacht hat der Sittlichkeit, nicht besser schliessen, als mit GoETHE’s un- sterblichen Worten: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muss.“ Wildhaus, Ostern 1881. Ueber die Bestäubungsverhältnisse einiger Süsswasserpflanzen und ihre Anpassungen an das Wasser und gewisse wasser- bewohnende Insekten. Von Dr. F. Ludwig in Greiz. (Mit 17 Holzschnitten.) Von den drei verschiedenen Arten des Pollentransportes, durch Thiere, Wind und Wasser, ist die letztere am wenigsten genau untersucht, während über die windblütigen und besonders über die insektenblütigen Pflanzen be- | leichter als das Wasser oder sitzt auf | einem schwimmenden Träger; die Stiele reits eine sehr umfangreiche Literatur vorliegt. Was über hydrophile Pflanzen bekannt geworden, stellte Deupmo 1570 | (Ulteriori osservazioni sulla dicogamianel regno vegetale. Parte II) zusammen *. Er theilt dieselben ein: 1) in solche, welche der Befruchtung unter Wasser ® Vol. auch H. Mürter. Die Befruch- | 2 ; i 5 ‚ wicht des Wassers. Die zu dieser Gruppe tung der Pflanzen durch Insekten. | | | | | und 2) in solche, die der Befruchtung an der Oberfläche des Wassers ange- passt sind. Bei den letzteren, zu denen Ruppia maritima und die in den Wasser- gräben Italiens häufige Vallisneria spi- ralis gehören, ist der Pollen specifisch der weiblichen Blüten verlängern sich, bisweilen durch schraubenförmige Win- dung begünstigt, bis zur Wasserober- fläche. Die ersteren Hydrophilen haben meist fadenförmige Narben oder Pollen- körner und erzeugen eine überschweng- liche Pollenmenge vom specifischen Ge- 8 SER Ludwig, Bestäubungsverhältnisse gehörigen Pflanzen, welche genauer be- obachtet worden sind, sind Meeresbe- wohner — und auch spätere Beobach- tungen betreffen nur solche —, z. B. Posidonia Caulini, Cymodocea aequorea und antaretica, Diplanthera tridentata, Zostera.* Ueber die Bestäubung der Süsswasserpflanzen existiren da- gegen nur wenige, zum Theil ungenü- gende Beobachtungen. Ich habe daher bei einigen Süsswasserpflanzen den Be- stäubungsvorgang genauer untersucht, und theile im Folgenden die — wie ich glaube — nicht uninteressanten Ergebnisse meiner Beobachtungen mit. Sie betreffen die Gattungen Lemna, Cal- litriche, Myriophyllum und besonders Üe- ratophyllum. 1. Lemna minor etc. (Fig. 11-15.) Die kleine Wasserlinse, Lemna minor, ist nicht hydrophil, Staubgefässe und Griffel ragen vielmehr über das Wasser empor. Der monöcische Blütenstand besteht entweder aus einem höher stehenden kurzgriffeligen Stempel und zwei tiefer stehenden, wie jener nach oben gerichteten Staubgefässen mit nicht allzulangem Filament und gelben Antheren, oder Stempel und Staubge- fässe kommen an verschiedenen Stellen des Thalloms hervor, von einer un- regelmässig zerreissenden Hülle um- schlossen. Die beiden Staubgefässe entwickeln sich nach einander (AscHkr- Son u. a. unterscheiden daher in dem Blütenstand zwei Staubgefässblüten und eine Stempelblüte), aber längere Zeit bevor der Stempel hervorbricht. Pro- terandrische Dichogamie und Stellung der Sexualorgane schliessen demnach auch Selbstbestäubung aus. Ebenso ist es undenkbar, dass der Wind hei der Kürze der starren Sexualorgane und der geringen Pollenmenge, die in den beiden Staubgefässen erzeugt wird, *= Vgl. hierüber Kosmos I, 8. 537. unmittelbar über dem dicht durch Lemnarasen bedeckten Wasserspiegel bei der Uebertragung des Pollens eine Rolle spielt. Von den bekannten zoidiophilen Pflanzen weicht die Wasser- linse ab durch den gänzlichen Mangel eines gefärbten Perigons oder anderer auffälliger Anlockungsmittel der Blüte; trotz dem glaube ich behaupten zu können, dass Lemna minor ausgeprägt insektenblütig ist — und zwar ange- passt den auf der Oberfläche des Wassers sich herumtummelnden Wasser- kerfen. Wie ich bereits kurz mittheilte (Bot. Centralblatt 1880, No. 27./28p. 3), sind die Pollenkörner stachelig mit zahlreichen Protuberanzen besetzt, wie bei den ausgeprägtesten Entomophilen (z. B. Malwa, Cucurbita, Compositen). Die Pollenkörner haben einen Durch- messer von ca. 26 4, ihre Stacheln eine Länge von ca. 1 u, so dass sie einerseits leicht dem Körper der über die Staubgefässe streichenden Insekten, andererseits der etwas concaven Narben- scheibe am Ende des Griffels anhaften, während sie durch den Wind wohl kaum von der dehiscirenden Anthere losge- rissen werden könnten. Die auf den Lemnarasen umher schreitenden oder zwischen denselben umherkreisenden Kerfe müssen andrer- seits sowohl mit den Staubgefässen als den Narben in Berührung kommen, ohne dass sie besonders darauf auf- merksam gemacht werden. Die Pflanze hat es hier nicht nöthig, besondere Lockmittel zu gebrauchen — ohne allen Aufwand und ohne eine andere Gegenleistung als etwa die Gewährung eines festen Untergrundes, für nicht mit Kiemen versehene Wasserkerfe, er- reicht sie dasselbe was die »Blumen« durch Entwickelung von Farbenpracht, von Honigsaft und Wohlgeruch, die zu- weilen nur ungerufene Gäste anlocken, erzielen. Thatsächlich beobachtete ich, dass die Bestäubung auf die ange- deutete Weise vollzogen wird. Ausser einiger Süsswasserpflanzen etc. S kleinen Käfern ete. sah ich in einer Wasserlache am Hirschstein bei Greiz wiederholt viele Hunderte grosser und kleiner Wasserinsekten, besonders Hy- drometriden, Naucoriden, Corisiden etc., die über die Wasserlinsen und zwischen denselben behend sich umherbewegten und den Blütenstaub abstreiften. Die gleiche Blüteneinrichtung an- derer Lemna-Species, z. B. L. gibba, polyrrhiza, trisulca, dürfte auf eine ähn- liche Bestäubungsweise hindeuten, so dass die Wasserlinsen als der Bestäubung durch die ganz oder zeitweilig an der Oberfläche des Wassers lebenden In- sekten angepasst zu betrachten wären. 2. Gallitriche stagnalis etc. (Fig. 16, 17.) Während die Wasserlinsen sich nur in horizontaler Richtung an der Wasser- oberfläche ausbreiten, haben die Calli- triche-Arten einmal vom Boden aus eine vertikale Verbreitung, dann aber durch Rosettenbildung und Verbreiterung der oberen Blätter eine Horizontalaus- breitung, der von Lemna von weitem nicht unähnlich. Aus diesen Ober- flächenrosetten ragen auch die zwar längeren (bis 7 mm langen) aber steif filamentirten Staubgefässe und die mit zwei fast an der ganzen Oberfläche mit Narbenpapillen besetzten Griffeln ver- sehenen Stempel der gewöhnlich gleich- falls monöcischen Blüten ganz wie bei Lemma in die Luft. Zuweilen stehen die einzelnen Staubgefässe dicht unter oder neben dem Fruchtknoten, ohne dass dadurch — wenigstens im Anfang — eine Selbstbestäubung möglich wäre. Sevkrin Axeıu hat zuerst (Om anord- ningarna for de fanerogama växternas befruktning p. 38) die Proterogynie von Callitriche (verna) beobachtet und illustrirt. Derselbe glaubt indessen (p. 52) die Pflanze zu den anemophilen (blommor, hvilka pollineras genom vindeus tillhjelp) rechnen zu sollen. Ich habe Callitriche stagnalis Scop. a. vera nebst der Peplis-ähnlichen Form microphylla, sowie Callitriche verna L. beobachtet und untersucht und glaube die über Wasser befindlichen Blüten gleichfalls als entomophil — wenn auch ‘nicht so ausgeprägt wie bei Lemna — betrachten zu müssen. Ein- mal hat die Verbreitung der oberen Blätter und die Stellung der Staub- gefässe und Griffel so viel Aehnlichkeit mit den entsprechenden Verhältnissen bei Lemna, dass eine Insektenbe- stäubung wenigstens vorkommen kann, andererseits ist aber bei der Starrheit der Filamente, ihrer geringen Erhebung über das Wasser und bei der verhält- nissmässig geringen Pollenproduction auf einen Windtransport kaum zu rechnen. Zudem sind die länglich runden (Durchmesser ca. 25 und 21 «) Pollenkörner, wie aus der Figur hervor- geht, schwach höckerig, was direkt auf eine Mitwirkung der Insekten hindeuten dürfte. Ausser den erwähnten Blüten finden sich noch zahlreiche fruchtbare Blüten in den submersen Blattachseln, auch bei solchen Exemplaren die den Wasserspiegel nicht erreichen, so dass unzweifelhaft eine ganz regelmässige Be- fruchtung unter Wasser und durch Vermittelung des Wassers stattfindet. Es dürfte demnach Callitriche als hydro- entomophil zu betrachten sein, als wasserblütig, mit — wenn auch ge- ringer — Anpassung an die Insekten- bestäubung über dem Wasserspiegel. (Die Pollenkörner haben indessen ge- ringeren Zusammenhalt als bei Lemna, so dass sie leichter ausfallen und, bevor sie benetzt werden, auch auf dem Wasserspiegel schwimmend gelegentlich zur Narbe gelangen können.) Vielleicht ist aus dieser Arbeits- theilung zwischen den Luft- und Wasser- blüten auch der im Verhältniss zu anderen Hydrophilen wenig umfang- reiche männliche Befruchtungsapparat zu erklären. 10 F. Ludwig, Bestäubungsverhältnisse 3. Myriophyllum spicatum und M. verticillatum. Myriophyllum spicatum ist anemo- phil. Es erhebt seine blattlose Frucht- ähre soweit über das Wasser, dass hier die Luftströmungen erfolgreich wirken können. Die sehr zahlreichen pollen- reichen Staubgefässe, welche die obersten dem Winde am meisten exponirten* Quirle bilden, besitzen zwar kurze aber sehr dünne Filamente, ‘an denen die verhältnissmässig sehr grossen Antheren im Winde lebhaft hin- und herflattern. Der glatte leichte Pollen verstäubt leicht. Die kurzen Stempel in den unteren Regionen besitzen eine vierseitige stark höckerige Narbe und sind auch bei windstillem Wetter im Anfang durch ausgeprägte proterogynische Dichogamie vor Selbstbestäubung geschützt. — Während bei dieser Art die Blüten- ähre unbeblättert, daher dem Winde leicht zugänglich ist, sitzen bei M. vertieillatum die Blüten in den Blatt- winkeln. Hier kommen dafür, wenn auch sonst «die Verhältnisse ganz ähnliche sind, wie bei M. spicatum, noch sub- merse Blüten vor und in tiefem Ge- wässer befindet sich öfter der ganze Blütenstand unter Wasser. Es ist demnach M. verticillatum anemo- hydrophil, während M. spicatum aus- schliesslich anemophil zu sein scheint. 4, Geratophyllum demersum. (Fig. 1—10.) Veratophyllum demersum ist einestreng hydrophile Pflanze mit einem in wunder- barer Weise der Wasserbestäubung an- gepassten Mechanismus. Männliche und weibliche Blüten stehen, kaum gestielt, getrennt in ver- schiedenen Blattwirteln ordnungslos durch einander (nur scheinen zuunterst * Bei höheren Windblütlern z. B. den Coniferen ete., wo auch die unteren Regionen dem Winde genügend exponirt sind, sind im die weiblichen Blüten zu überwiegen). Die männlichen staubgefäss- und pollen- reichen Blüten sind in beträchtlich grösserer Zahl vorhanden, als die weib- lichen. Letztere enthalten in einem an- ° liegenden vielzipfeligen Kelche einen ovalen Fruchtknoten mit einem den Kelch um das 4—5fache überragenden hakig nach unten gekrümmten Griffel, der sich nach der Spitze zu allmälich verschmälert. Der letztere ist nirgends papillös, doch scheint seine ganze untere Seite einen Klebstoff abzusondern und als Narbe zu fungiren (Fig. 2 und 3 all b). Der männliche Blütenstand besteht aus 12— 16 sehr kurzgestielten Antheren, die von einer vieltheiligen Hülle um- geben sind. Die einzelnen Theile der letzteren sind linealisch, gestutzt, meist zweidornig. Die Staubgefässe bestehen im unteren dem kurzen Stiele aufsitzen- den Theile aus zwei seitlich sich längs- öffnenden Pollenkammern (mit unvoll- kommener Scheidewand) und im oberen Drittel (Fig. 61) aus lockerem lufthal- tigem Gewebe, an der Spitze mit zwei nach der Mitte zu gekrümmten Dörn- chen, zwischen denen meist noch eine. einen schwärzlichen Stoff absondernde mehr oder wenig gerade höckerige Drüse (?) sich befindet (Fig. 7). Diese Spitzenanhängsel des pollenerzeugenden Apparates kommen in fast gleicher Weise an den Enden der Hüllblätter (Fig. 9) und Laubblätter (Fig. 10) vor, so dass sie bei jenem nur die Blattnatur an- deuten, nicht aber in einer besonderen Beziehung stehen dürften zur Befruch- tungsweise. Ihre Bedeutung interessirt uns daher an diesem Orte nicht weiter. Anders verhält es sich mit dem aus lockerem Gewebe bestehenden Antheren- fortsatz. * Derselbe macht das ganze Staubgefäss specifisch leichter als Wasser und treibt dasselbe, wenn es aus der Interesse der Xenogamie diese mit den männlichen Blüten , die Gipfelregionen mit den weiblichen besetzt. eimiger Süsswasserpflanzen etc. 11 Blüte losgelöst wird, nach der Wasser- | eifisches Gewicht ist genau gleich dem oberfläche. Wir nennen ihn kurz den | des Wassers, so dass sie in jeder be- »Auftrieb«. — Die Pollenkörner von liebigen Tiefe suspendirt blieben. Ceratophyllum demersum sind rundlich länglich, aussen glatt, innen feinkörnig, | hyalin (Längsdurchmesser 50—75 u, Querdurchmesser 40—50 1). Dieses verschiedene specifische Ge- wicht der Pollenkörner und des ge- sammten pollenerzeugenden Apparates zusammen mit dem Verhalten der starr- Ihr spe- Fig. 1--10. Ceratophyllum demersum. 1. Weibliche Blüte schwach, 2. und 3. Stempel etwas stärker vergrössert (ab wahrscheinlich Narbenfläche). 4. Männlicher Blütenstand. 5. Hüllkelch desselben nach Entleerung der Staubgefässe. 6. Staubgefäss vergrössert (2 Auf- trieb). 7. Dessen oberer Theil, noch stärker vergrössert. 9. Vergrösserte Spitze der Hüll-, und 10. der Laubblätter. 8. Pollenkörner nach 610fach. Vergrösserung. Fig. 11—15. Lemna minor. 11. Thallom mit einer entwickelten und einer unentwickelten männlichen Blüte. 12. Blüthenstand mit einem ganz, einem z. T. entwickelten Staubgefäss und unentwickeltem Stempel, vergrössert. 13. Entwickeltes Staubgefäss und 15. Entwickelter Stempel, beide in natürlicher Stellung vergrössert. 14. Pollenkorn nach 610facher Vergrösserung. Fig. 16—17. Callitriche stagnalis. 16. 610 fach vergrössertes Pollenkorn. 17. Schwach vergrösserter Griffel. blättrigen Hülle bestimmen den eigen- artigen Pollentransport. Die Hüllblätter haben nämlich das Bestreben, sich nach innen zu biegen — an entleerten Blüten- ständen (Fig. 5) sind sie aufrecht —, so dass die Staubgefässe zur Zeit ihrer völligen Ausbildung keinen genügenden Platz mehr haben. Zur Zeit der Dehis- ' . * 12 F. Ludwig, Bestäubungsverhältnisse einiger Süsswasserpflanzen etc.’ x cenz werden die letzteren daher aus der Hülle herausgepresst und schwimmen unter der Wirkung des Auftriebes nach oben, bis sie die Wasseroberfläche er- reicht haben oder, was häufiger ge- schieht, zwischen den hakigen Blättern der oberen Stengelglieder zurückgehalten werden. Während dieser Aufwärtsbe- wesung werden die Pollenkörner ent- leert, wobei die durch den Auftrieb be- dingteVertikal-Stellungdes Staubgefässes besonders günstig ist, und verbreiten sich — weil vom specifischen Gewicht des Wassers — über den ganzen vom pollenerzeugenden Apparat bestrichenen Raum. (Später findet man die Hüll- kelche entweder ganz leer oder nur noch von einzelnen Antheren erfüllt.) Wird so schon das Wasser, in wel- chem Ceratophyllum wächst, überall von dessen grosskörnigen Pollen erfüllt, so kommt der Verbreitung des letzteren, resp. einer xenogamischen Anthesenächst den Bewegungen des Wassers selbst noch ein anderer Umstand zu Statten — die Eigenbewegung des Ceratophyllum- Stammes,die besondersinruhigemstehen- den Wasser (in welchem ich meine Be- obachtungen angestellt habe) nicht unter- schätzt werden darf. Dieselbe wurde zuerst von E. Ropıer nachgewiesen. * Die jungen (blütentragenden) Inter- nodien haben eine vom Lichte unab- hängige periodische complicirte Be- wegung, welche einen besonderen Fall der von Darwın nachgewiesenen Circumnu- tationen darstellen, sich aber von den ge- *® E. RODIER, Sur les mouvements spon- tanees etreguliers d’une plante aquatique sub- mergee, le Ceratophyllum demersum. (Compt. rend. 1877. T. LXXXIV No. 18. 30 Apr.) wöhnlichen Bewegungen durch die Grösse der Amplitude und durch ihre Complica- tion unterscheiden dürfte. Die Stämme biegen sich im Allgemeinen am Morgen von rechts nach links und am Nachmittag in der entgegengesetzten Richtung. Zu- weilen werden in 6 Stunden Winkel von 200°, in einem Falle wurde sogar in 3 Stunden ein Winkel von 220° zu- rückgelegt. Zudem führen die Zweige um ihre Wachsthumsaxe Torsionsbewe- gungen aus. Die Flexion der Stämme ist schliesslich eine ganz eigenthümliche; sie beginnt an der Spitze und pflanzt sich von da in abnehmender Stärke nach unten fort, während die Rückwärts- bewegung unten beginnt und oben endigt, so dass die Terminalinternodien kurz vor ihrer Zurückbewegung zuweilen mit der Axe einen spitzen Winkel bilden. Berücksichtigt man noch, dass der Pollen in überschwenglicher Menge er- zeugt wird, so dürfte nach alle dem eine erfolgreiche xenogamische Anthese der — wie ich glaube, etwas vor den Antheren .entwickelten — Narben gesichert sein. Zum Schluss sei hier kurz erwähnt, dass durch rasches Wachsthum und in- folge der Lebenszähigkeit der spröden, leicht abbrechenden, hakigen, daher leicht verschleppbaren Zweige die Pflanze an manchen Orten sich ungemein rasch verbreitet und in ähnlicher Weise wie die Wasserpest, Klodea canadensis, alle anderen Wasserpflanzen verdrängend, die Gewässer völlig erfüllt. Ferner von demselben: Seconde note sur les mouvements ete. (ibid. T. LXXXV No. 20. 12 Nov. und separat in Bordeaux erschienen). Be RER a Kosmos Bd.X (1881) Die schwanzartigen Bildungen beim Menschen. Nach den Untersuchungen von Dr. Bartels, Prof. Ecker, Dr. Mohnike, Generalarzt Dr. Ornstein u. A. (Hierzu Tafel I.) Wohl kein Gegenstand der Anato- mie, Embryologie und Teratologie des Menschen ist in den letzten Jahren eif- riger und eingehender behandelt worden, als die Verhältnisse, welche die soge- nannte »Schwanzfrage« betreffen, d.h. die Frage, ob im menschlichen Körper der Anlage nach, ein wirkliches Homo- logon des Thierschwanzes vorhanden sei, und sich gelegentlich zu einem demselben auch äusserlich mehr oder weniger ähnlichen Gebilde entwickeln könne? Ausser zahllosen kürzeren und längeren Notizen über diesen Gegen- stand in anthropologischen, ethnologi- schen und geographischen Journalen, haben wir hier besonders vier grössere Arbeiten in Betracht zu ziehen, näm- lich: 1. Monnıke®’s Broschüre über >Ge- schwänzte Menschen« (Münster 1878); 2. und 3. Zwei Abhandlungen von Prof. A. Ecker im Archiv für Anthropologie (Bd. XII, 1879) und im Archiv für Anatomie und Physiologie (1880, Heft 6) und 4. eine Abhandlung von Dr. Max BArTELS im Archiv für Anthropologie (1880), die sich sämmtlich höchst ein- gehend mit der in Rede stehenden Frage beschäftigen. Die älteren Anatomen standen dieser Frage sehr kühl gegenüber. Sie be- trachteten die aus vier, seltener aus drei oder fünf Wirbelstücken bestehende Verlängerung der menschlichen Wirbel- säule über das Kreuzbein hinaus ohne Bedenken als ein Homologon des thie- rischen Schwanzes, und nannten es dem- gemäss Schwanzbein (Os coceygis). Sie fanden es auch nicht weiter seltsam oder verwunderlich, dass dieser Kör- pertheil mitunter seiner Regel ent- gegen, unverwachsen bleiben und frei hervorragen könne, wie ein thierischer Schwanz, oder sich gelegentlich einmal durch Vermehrung, seiner in ihrer Zahl ohnehin unbeständigen, verkümmerten Wirbel verlängern könne, denn diese Anatomen waren eben von der gesetz- lichen Uebereinstimmung des Grund- schemas im Bau des Menschen und der ihm näher stehenden Thiere viel tiefer durchdrungen als es anscheinend man- che Aerzte und Anatomen unserer Zeit sind. Aber seit dem »grossen Sündenfall«, um das bezeichnende Wort Ecker’s zu gebrauchen, nachdem die Menschheit die Frucht vom Baume der Erkenntniss ge- kostet hat, die ihr Darwıy gereicht hat, darf man anscheinend das Ding nicht mehr bei seinem rechten Namen nennen, man darf nach Professor Hıs sogar 14 Die schwanzartigen Bildungen beim Menschen. nicht einmal mehr von einem Schwänz- chen des menschlichen Embryo sprechen, während man doch von Kiemenbögen des- selben ganz anstandslos redet; der Mensch schämtsich, wie EcKEr diese Prü- derie der Gelehrten launig charakterisirt, nur der näheren, nicht aber der entfernte- ren Vettern. Die älteren Anatomen und Künstler — es seien als typische Ver- treter hier nur Harvey, MecKEL und GoETHE genannt, fanden es ganz natürlich, dass dieses Schwänzchen ge- legentlich einmal, statt sich, wie ge- wöhnlich, einwärts nach dem Becken zu biegen, und in dem muskulösen, als besonderes Vorrecht des Menschen anerkannten Hintertheil gleichsam unter- zutauchen, darüber hervorragen könne, um dann den wirklichen Charakter eines äusseren Schwänzchens darzu- bieten. Sie fanden es gar nicht weiter er- staunlich, dass solche Bildungen mit- unter’vorkommen, und sahen in den betreffenden Individuen, auch nicht mehr wie die Menschen der früheren Zeit- alter, Folgen eines geschlechtlichen Um- gangs mit Thieren, oder eines »Ver- sehens« der Mütter, ja nicht einmal Missgeburten in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern eher Be- weise der Gesetzmässigkeit in der Na- tur und des allen höheren Thieren ge- meinsamen Typus. So schrieb GoETHE am 12. September 1787 von Rom aus: »Die Schwanzmenschen wundern mich nicht; nach der Beschreibung ist es etwas sehr Natürliches. Es stehen weit wunderbarere Sachen täglich vor un- seren Augen, die wir nicht achten, weil sie nicht so nahe mit uns ver- wandt sind.< Doch brauchen wir auf die Ansichten des vorigen Jahrhunderts über die Schwanzmenschen hier nicht näher einzugehen, da in einem frühe- ren Artikel dieses Journals (»Lord Mon- boddo« Bd. V, 8. 439) die Sache aus- führlich besprochen wurde. Eine besonders deutliche Folge des »erossen Sündenfalles« ist nun die kleine Schrift von Dr. OÖ. Monnsıke. Derselbe stützt sich darauf, dass alle Bildungen der Wirbelsäule des Men- schen sich auf seinen aufrechten Gang beziehen, und dass jene Verlängerung der Wirbelsäule nach innen gebogen sei, um dem Mastdarm und den übri- gen Eingeweiden eine Stütze zu bieten, deren sie bei Thieren, die auf allen Vieren gehen, nicht bedürfen. In Folge dessen meint er (S. 100), dass eine dem Schwanze der Thiere homologe Verlängerung des Steissbeines über die Peripherie des Rumpfes hinaus, mit der typischen Menschengestalt, deren Theile sich sämmtlich auf den auf- rechten Gang als letzte Aktion beziehen, demgemäss sich aber gegenseitig ent- sprechen und bedingen, durchaus un- vereinbar sei. Diese Behauptung ist, wörtlich ge- nommen, nicht unrichtig, aber sie be- weist leider gar nichts, denn darnach könnte Jemand kommen und sagen, das Os cocceygis sei also etwa dem eingeklemmten Schwanzbein eines ge- scholtenen Hundes oder anderer Thiere homolog, die den Schwanz nur heben, wenn sie ihre Losung fallen lassen. Der Mensch hebt sein Os coccygis bei derselben und bei anderen Verrichtungen gleichfalls ein wenig, aber dies — meint MoHNIKE — sei ebenfalls kein homo- loger Vorgang, denn das Thier hebe in diesem Falle den Schwanz, um ihn nicht zu besudeln, wozu beim Menschen keine Befürchtung vorhanden wäre. Risum teneatis amiei! So viel mag ja an MoHnIkE'’s pein- licher Beweisführung wahr sein, dass die Einwärtskrümmung des unteren Endes der menschlichen Wirbelsäule mit dem aufrechten Gange in Ver- bindung stehen dürfte: bei den eben- falls eines äusseren Schwanzes entbeh- renden Anthropoiden, die zuweilen auf- recht gehen, ist eine ähnliche Einbieg- ung gleichfalls angedeutet und Hyrın behauptet sogar, dass sich bei Hunden Die schwanzartigen Bildungen beim Menschen. und Bären, denen man das Gehen und Tanzen auf den Hinterbeinen beibringe, allmählig eine ähnliche Einwärtsbiegung 'herausbilde. Alles dies legt doch aber erst recht dar, wenn darüber über- haupt ernstliche Zweifel bestehen könn- ten, dass das Os coccygis des Menschen ein ächtes Homologon der thierischen Schwanzwurzel ist, indem uns daraus klar wird, wie dasselbe zu seiner be- sonderen Gestalt gekommen ist. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass jene Einwärtsbiegung, an welcher das Kreuz- bein theilnimmt, sich weder im Em- bryonalleben des Menschen, noch in seiner ersten Kindheitsperiode findet, sich vielmehr erst einstellt, sobald der- selbe beginnt, seinen Körper aufrecht zu tragen. Offenbar ist diese schwanz- förmige Verlängerung der menschlichen Wirbelsäule einerudimentäre Bildung, eine Erbschaft aus dem Thierreiche, die sich vielleicht nur dadurch erhält, dass die sehr verkümmerten Wirbel des Os cocceygis sich einer neuen Funktion an- gepasst haben, und nicht ganz unnütz geworden sind. Am menschlichen Embryo findet sich bekanntlich in der ersten Epoche sei- nes Embryonallebens, ganz entsprechend wie bei andern Wirbelthieren, eine sehr erhebliche und im Wesentlichen über- einstimmende Schwanzbildung, die nach dem biogenetischen Grundgesetze nicht eben schwer zu deuten ist (s. beisteh- ende Figur). Die Länge dieses Schwänz- chens ist anfangs im Verhältniss zu dem übrigen Körper eine ziemlich er- hebliche. Denn bei Embryonen, welche aus der dritten Woche stammen, ist das Schwänzchen ziemlich genau dop- pelt so lang als die unteren Extremi- täten. Es gehört zu den erwähnten Prüderieen und Unbegreiflichkeiten, wenn sich einige Anatomen, wie z. B. Pro- fessor Hıs in Leipzig, sträuben, dieses Anhängsel als »Schwanz« zu bezeich- nen. Indessen hat der erfahrenste Be- urtheiler dieser Verhältnisse Prof. EckER | 15 diese Benennung entschieden aufrecht erhalten, und unter schliesslicher Be- ruhigung von Prof. Hıs, in dem von Fig. 1. Die obere Figur ist ein menschlicher Embryo nach ECKER, die untere der eines Hundes nach BiscHorr. a) Vorderhirn. Grosshirnhemisphären ete. b) Mittelhirn, Vierhügel. e) Hinterhirn, Klein- hirn, verlängertes Mark. d) Auge. e) Ohr. f) Erster Visceralbogen. g) Zweiter Visce- ralbogen. MH) Wirbelsäule und Muskelmasse. ‘) Vordere Gliedmaassen. X) Hintere Glied- maassen. L) Schwanz oder Coceyx. diesem mitherausgegebenen » Archiv für Anatomie und Physiologie« (1880. Heft 6, S. 442) folgende das Sachver- hältniss darlegende Sätze formulirt: 16 Die schwanzartigen Bildungen beim Menschen. 1. Die Benennung »Schwanz« kann nur dem die Kloake überragenden Theil des hintern Körperendes beigelegt werden. 2. Bei den Embryonen der zweiten Altersklasse, d. h. bei den Embryonen von 8—15 mm Körperlänge, sieht der die Kloake überragende »Schwanz« als freier zugespitzter Vorsprung nach oben und vorne. 3. Dieser Schwanz besteht aus einem wirbelhaltigen und einem wirbel- freien Abschnitt, der letztere enthält nur Chorda und Medullarrohr. 4. Nur das letztgenannte Stück fällt der Reduktion anheim, indem die Chorda dorsalis sich meist zu einem Knötchen entwickelt, während der Rest schwindet. 5. Der wirbelhaltige Theil steht noch längere Zeit als sogenannter Steiss- höcker hervor. Dieser verschwindet allmählig unter der Oberfläche theils und ganz vorzugsweise in Folge der allmählig eintretenden stärkeren Krüm- mung des Kreuz- und Steissbeins, theils auch in Folge der mächtigeren Entwickelung des Beckengürtels und seiner Muskulatur. « Wir müssen also bei dem allmäh- ligen Verschwinden des embryonalen Schwanzes des Menschen zweierlei Vorgänge unterscheiden: 1. eine wirk- liche Rückbildung der Schwanzspitze und 2. eine Verwachsung der Schwanz- wurzel. Der erstere Vorgang, die Rück- bildung des hintersten Abschnittes fin- det nach den neueren Untersuchungen von M. Braun in Dorpat nicht bloss beim menschlichen Embryo, sondern auch bei anderen Wirbelthieren statt. »Ich finde«, sagt dieser Forscher in seinen »Untersuchungen über die Ent- wickelungsgeschichte der Papageien « (Verhandlungen der physikal.- medizin. *-Bei ‚den naplorem fand ECKER manchmal die Spitze des Schwanzfadens ganz scharf und hornig, so dass der Name Schwanz- stachel besser am Platze wäre, und er ver- Gesellschaft in Würzburg, Neue Folge Bd. XV), »beiSchweins-, Katzen-, Schafs- Kaninchen-, Mäuse- und Hunde-Embryo- nen am hintern Schwanzende einen lan- gen Faden, der sich durch seine Dünne scharf vom übrigen Schwanze absetzt; in ihm liegt in jüngeren Stadien das gewun- dene oder getheilte Chorda-Ende, später besteht er nur aus Epidermiszellen und schwindet endlich ganz. Es ist hier- durch der Nachweis geliefert, dass so- wohl bei Säugern als bei Vögeln die Chorda, wenn ich so sagen darf »zu lang angelegt wird«, um ihr hin- teres Ende bilden sich keine Wirbel mehr. Auffallend bleibt, dass dazu auch sehr langschwänzige Säuger ge- hören. « Eine solche, als Schwanzfaden zu bezeichnende Verdünnungist nach Ecker, der im Uebrigen die obigen Beobacht- ungen bestätigen konnte, beim Men- schen nicht mehr vorhanden*; der Schwanz verjüngt sich. vielmehr bei ihm, wie aus obiger Abbildung hervor- geht, in konischer Form. Der fernere Rückbildungsprozess ist bereits in der siebenten Woche des menschlichen Em- bryonallebens so weit vorgeschritten, dass von einem Schwanze füglich nicht mehr die Rede sein kann. Statt des- sen tritt am hinteren Körperende nur noch eine rundliche Hervorragung, der Steissbeinhöcker (vgl. Taf. I, Fig. 5 u. 7) hervor, an welchem einigemale minimale Exkrescenzen, vielleicht Ru- dimente des rückgebildeten wirbellosen Theiles des Schwänzchens sichtbar sind. Dieser Steisshöcker bewahrt anfangs häufig bis Ende des dritten Monats die Gestalt eines gleichschenklichen spitzen Dreiecks, dessen breite Basis am Rücken in der Steissbeingegend ohne deutliche Absatzlinie sich erhebt, während die Spitze über dem After en- muthet, dass möglicherweise der bekannte Schwanzstachel des Löwen nichts anderes sei, als der stehengebliebene embryonale Schwanz- faden oder Schwanzstachel. s Die schwanzartigen Bildungen beim Menschen. 17 digt. Zwei seichte, zum After konver- girende Furchen bilden die seitlichen Grenzen des Steisshöckers gegen die Hinterbacken hin, deren Niveau er deutlich überragt. Jenseits des Afters beginnt nun in der Fortsetzung der Mittellinie dieses Dreiecks die Raphe oder Naht, welche bei männlichen Em- bryonen als stark erhabene Leiste, über Perinaeum, Scrotum und die Unterseite des Penis verläuft, und im Vorhaut- bändchen endigt. Der genannte Steiss- beinhöcker des menschlichen Fötus ist eine Erhebung, die dadurch hervorge- bracht wird, dass die Spitze des noch im- mer fast gerade verlaufenden Steissbeins, dort gegen die Haut stösst und dieselbe empordrückt; die starke Einwärtskrüm- mung ist in dieser Periode noch nicht ausgebildet. In der Zeit des dritten bis vierten Monats erhält der menschliche Fötus bekanntlich sein Kleid von Wollhaaren, welche die Haut ganz schräg durch- bohren, und deshalb Haarströme bilden, welche gegen die Spitze des Steissbein- höckers convergiren und hier einen Wir- bel darstellen. Dieser Steissbeinwirbel (Vertex eoceygeus) bildete in mehreren von EckEr und anderen Forschern be- obachteten und abgebildeten Fällen (vgl. Taf. I Fig. 1) einen förmlichen Pinsel aus längeren Haaren, ein veri- tables Haarschwänzchen, wie es die griechische Kunst an derselben Stelle ihren Faunen und Satyrn gab. Schon von EscHrIcHT isthervorgehoben worden, dass der convergirende Haarwirbel in der Steissbeingegend des menschlichen Fötus an die ähnliche Anordnung der Haare am Schwanz der Säugethiere erinnere. CHr. A. Voıcr hat dieselbe Beziehung in seiner Abhandlung über die Richtung der Haare am menschli- chen ‘Körper (Denkschrift der Wiener Akademie 1856) ausdrücklich hervor- gehoben. »Die Hautstellen«, sagt er, »auf welchen convergirende Wirbel aus- gebildet werden, sind entweder Stellen, Kosmos, V. Jahrgang (Bd. X). die in den früheren Entwickelungsperio- den ganz offen waren . . . oder es sind Stellen, die hervorragende Knochen (Knorpel) decken, die stark wachsen (Steissbein, Ellenbogenhöcker, bei Thie- ren die Spitze des Ohrknorpels), mithin alles Stellen, zu welchen hier zur Zeit der Haarbildung eine Dehnung der Haut noch stattfindet, oder früher statthatte.« Von dem Steisshaarwirbel im Speeciellen bemerkt derselbe Autor: »Sind die Här- chen länger geworden, so erheben sie sich über die Oberfläche und bilden spiralförmig gewundene Haarspitzen, ähnlich den Haarbüscheln an der Schwanz- spitze der Thiere.« Es ist also ein deut- licher ursächlicher Zusammenhang zwi- schen der Bildung des schwanzförmigen Anhangs und dem Steisshaarwirbel vor- handen. Oberhalb des Steissbeinwirbels be- findet sich beim menschlichen Fötus in der Regel eine haarlose Stelle, die Steiss- beinglatze (Glabella coceygea); unter- halb derselben stellt sich später nicht selten und noch bei Personen von mitt- leren Jahren bemerkbar, eine mehr oder weniger tiefe Einsenkung ein: das Steiss- beingrübchen (Foveola coceygea), über dessen Entstehung und Bedeutung man- nigfache, zum Theil seltsame Hypothe- sen aufgestellt worden sind. In der anatomisch-physiologischen Abtheilung der britischen Naturforscherversamm- lung vom Jahre 1878 hielt Lawson Taır einen Vortrag, in welchem er das häufige Vorkommen dieses Hautgrüb- chen in der Nähe der Schwanzbein- endung beschrieb. Er fand bei der Untersuchung einiger hundert Frauen nur 550/0 ohne Spuren einer solchen Vertiefung, während sie bei 220/0 schwach, bei 23 0/o deutlich markirt war, doch schien es nach dem dreissig- sten Jahre wieder undeutlich zu werden. Lawson Taır glaubt, dass das Grüb- chen mit dem embryonischen Vorgange desRückenmarkskanal-Verschlusses oder dem Schwanzverluste zusammenhänge. 2 18 Die schwanzartigen Bildungen beim Menschen. Er erinnerte an die schwanzlosen Katzen der Insel Man und an die schwanzlosen Meerschweinchen, die alle ähnlich dem Menschen noch ein Os coccygis mit drei verlängerten Wirbelcentren in einer Hautfalte besässen, und meinte aus ge- wissen Andeutungen schliessen zu kön- nen, dass verschiedene dieser Thiere und vielleicht auch die Vorgänger des Menschen den Schwanz in Folge einer Missbildung, nämlich der beim Menschen nicht sogar selten vorkommenden Spina bifida, verloren hätten. Man wisse, wie sehr solche Missbildungen zur Vererb- ung neigen, und das Steissbeingrübchen sei so zu sagen die Narbe jenes Schwanz- verlustes.*“ Was die Erblichkeit solcher Missbildungen betrifft, so ist sie aller- dings gross, und als Dr. Wınson einen Kater von der Insel Man mit gewöhn- lichen Katzen kreuzte, waren unter drei- undzwanzig Kätzchen siebzehn schwanz- lose, wurden aber umgekehrt Kätzchen von der Insel Man mit Katern der ge- wöhnlichen Art gekreuzt, so hatten alle Abkömmlinge Schwänze, wenn auch im Allgemeinen kürzere. ** Eine wenıger phantastische Erklärung für die Ent- stehung des Steissbeingrübchen hat Prof. EckEr aufgestellt. Er vermuthet näm- lich, dass die spätere Einwärtskrüm- mung der mit der Haut durch das Li- gamentum caudale verbundenen Spitze des im Fötus viel geraderen Steissbeins, zuweilen die betreffende Hautstelle mehr oder weniger tief trichterförmig einziehe. Dagegen will Eck£r eher die Steissbein- Glatze für jene untere Fontanelle, resp. die spätere Schlussstelle des Canalis sacralis ansehen. Die im Vorstehenden kurz geschil- derten embryologischen Vorgänge und normalen Bildungszustände, reichen im Allgemeinen hin, um die meisten Fälle von sogenannter Schwanzbildung beim * Nature Nr. 461 (August 1878). a EN Darwin, Variiren, 3. Aufl. Bd. II, Menschen, die in ziemlicher Mannig- faltigkeit auftreten, als leicht verständ- liche Unregelmässigkeiten der natür- lichen Entwickelung erkennen zu lassen. Der am wenigsten von dem normalen Zustande abweichende Fall betrifft nur die Hautbekleidung und stellt sich als übermässige Behaarung der Kreuz- und Steissbein-Gegend (Trichosis sacralis) dar. Wir haben schon oben ersehen, dass diese Stelle bei Embryonen regel- recht einen Haarwirbel trägt, der sich nicht selten in einen Haarpinsel oder ein Haarschwänzchen verlängert. Man kann also kaum eine erhebliche Abweichung darin sehen, wenn. dieses Haarschwänz- chen ausnahmsweise nicht eingeht, son- dern im Gegentheile nach der Geburt fortdauert und noch stärker auswächst. In den sogenannten Haarmenschen haben wir bekanntlich Personen, bei denen allem Anscheine nach das Woll- haar des Fötus in oft bedeutender Aus- dehnung weiter gediehen ist, wenigstens ganz dieselben Strich- und Richtungs- eigenthümlichkeiten besitzt. Der Chef- arzt der griechischen Armee Dr. BERN- HARD ÖRNSTEIN hat sich, nachdem ihm’ mehrere Fälle ausserordentlich starker Behaarung in der Sacralgegend bei griechischen Rekruten vorgekommen waren, das Verdienst erworben, diesen Verhältnissen seine dauernde Aufmerk- samkeit zuzuwenden, was ihn zur Con- statirung einzelner sehr merkwürdiger Fälle führte. Der auffallendste derselben betraf den 28jährigen Rekruten Demeter Karas aus der Eparchie von Korinth, dessen Rückenansicht wir auf unserer Taf. I Fig. 4 nach einer uns von Dr. ORNSTEIN gütigst überlassenen Photo- graphie dargestelltsehen. Bei ihm zeigte sich die gesammte Sacralgegend mit etwas über die Seitenfläche hinaus- ragendem dichtem, dunkelbraunem Haar von®8cm Länge bewachsen. Am Rande der das heilige Bein bedeckenden Haut lagen die Haare mehr schlicht auf der- selben auf, während sie sich in der Die schwanzartigen Bildungen beim Menschen. 19 Mitte in zwei starken Büscheln empor- kräuselten. Die gelblich braune Haut des 5!/s Fuss grossen Mannes zeigte sonst am ganzen Körper, mit Ausnahme von Kopf, Gesicht und Schamtheilen, keine Spur von Behaarung, und selbst an letzteren war der Haarwuchs ein ungewöhnlich schwacher. Der Rekrut gab an, dass er mit diesem ungewöhn- lichen Haarwuchs am Rücken geboren sei, und damit schon in der Jugend die Neugier der Einwohner seines heimath- lichen Bezirks auf sich gezogen habe. Er erzählte auch, dass er wegen des starken Wachsthums dieser Haare früher genöthigt gewesen sei, sie in Zöpfe zu flechten und über den Vorderkörper zu- sammen zu binden, während er seitdem vorgezogen habe, sie von Zeit zu Zeit abzuschneiden. Um diese Behauptung zu prüfen, untersagte Dr. Ornstein ihm für einige Zeit das Abschneiden der- selben, und wirklich hatte die Kreuz- beinbehaarung acht Monate später (De- zember 1875) bereits die doppelte Länge (16 cm) erreicht, so dass obige Angabe nicht unglaubwürdig erscheint. Prof. VircHow begleitete die nähere Mittheilung dieses Falles an die Berliner Anthropologische Gesellschaft* mit ei- nigen seltsamen Worten, welche die Vermuthung einzuleiten hatten, dass es sich hier vielleicht, wie in einem andern Falle, um eine Spina bifida occulta handeln möchte, die sich nach aussen, wie dies auch bei Leberflecken, Mutter- mälern u. s. w. vorkömmt, zeigt, durch ver- mehrten Haarwuchs auszeichne. »Es be- steht«, sagte er, »seit langer Zeit in der pathologischen Anatomie — Sie mögen es einen Aberglauben nennen — eine Erfahrung, welche man das ‚‚Gesetz der Duplieität der Fälle“ genannt hat. An demselben Morgen, wo ich den Brief aus Athen bekam, wurde mir gemeldet, dass im pathologischen Institute eine * Sitzungsberichte der Berliner Anthro- pologischen Gesellschaft in der Zeitschrift für Ethnologie 1875. S. 91 und 279. Leiche vorhanden sei, welche auf dem Rücken eine ungewöhnliche Behaarung zeige...«< Da es sich nun in diesem Falle um Spina bifida occulta handelte (vgl. Kosmos Bd. I, S. 169), so sollte eine ähnliche pathologische Ursache möglicherweise auch bei dem griechi- schen Rekruten vorliegen, obwohl der Haarwuchs auf dem Rücken der Berliner Frau eine höher liegende Stelle einnahm, und durchaus nicht die schon bei den menschlichen Embryonen stärker be- haarte Steissbeingegend bezeichnete. Um diese für Vırcmow charakteri- stischen und fast stereotypen Versuche, abnorme Bildungen des menschlichen Körpers, die an thierische Verhältnisse erinnern, auf pathologische Ursachen zurückzuführen, wirksam zu widerlegen, behielt Generalarzt ORNsTEIN die be- treffende Körper-Region bei den Aus- hebungen im Auge und konnte schon im nächsten Jahre (1876) einen zweiten Fall von wohlumschriebener Sacral- trichose mit dichtem dunkelbraunen Haar, welches sich bis zur Schwanzbein- Region hinabzog, constatiren. Im näch- sten Jahre (1877) waren ihm bereits zehn weitere Fälle zu Gesicht gekom- men, aus denen hervorging, dass der- artige Behaarung des Kreuzbeines in Griechenland und auf den "Inseln des ägöischen Meeres nicht gar selten vor- kömmt, und er überzeugte sich, dass in allen diesen Fällen die Unterlage vollkommen normal und von einer Spina bifida keine. Rede war. Das VırcHnow’- sche »Gesetz« von der Duplicität der Fälle hatte sich gleich bei der ersten Probe nicht bewährt. Von den ver- schiedenen anderweiten Personen dieser Art, deren photographische Aufnahmen Dr. Ornsreın bewirkt und uns mitge- theilt hat, geben wir auf Taf. I Fig. 3 noch das Bild des 20jährigen Rekruten I. G. Nikephoros aus Siphno, bei wel- chem das dichte braune Haar der Sa- craltrichose besonders scharf, und ge- nau den Umfang des Kreuzbeines be- 9* 20 Die schwanzartigen Bildungen beim Menschen. zeichnete. Die Haare waren in die- sem Falle 4—6 Centimeter lang und an dem übrigen, etwas schwächlichen Körper war keine abnorme Behaarung wahrzunehmen. Es gehört keine besondere Combi- nations- oder Divinationsgabe dazu, an diese, wie es scheint, in Griechenland besonders häufig vorkommenden, und durch die Verhältnisse des embryologi- schen Haarkleides wohlerklärbaren Fälle von Sacraltrichose, die Vermuthung zu knüpfen, dass die Darstellungen der Faune und Silene in der griechischen Kunst, bei denen dieselbe Körperregion mit einem Haarschwänzchen versehen ist, auf gelegentliche Beobachtungen sol- cher Sacraltrichosen zurückzuführen sein dürften. Als besonders naturalistisch durchgeführt muss in dieser Beziehung die Bildung der betreffenden Partie bei dem Silen mit dem Bacchusknaben im Louvre hervorgehoben werden, bei wel- chem nicht, wie sonst in der Mehrzahl der Darstellungen, ein isolirter pferde- schwanzartiger Pinsel vom Sacrum sich erhebt, sondern vielmehr, wie in den oben erörterten Fällen die gesammte Sacralgegend üppig behaart dargestellt ist, wobei sich nur eine mittlere Locke stärker hervorhebt. (Vgl. Taf. I Fig. 2.) Schon entschiedener nach der Rich- tung wirklicher Missbildungen neigen die sogenannten» angewachsenen Schwänze, von denen Dr. BArTELS in seiner oben citirten Abhandlung einen ausgezeich- neten Fall aus seiner eigenen ärztlichen Praxis beschreibt und abbildet. Bei einem dreitägigen Kinde bildete die Haut, welche das Steissbein bedeckt, eine dreiseitige Erhebung ungefähr von der Gestalt des Schwanzendes beim Em- bryo. Dieselbe war ca. zwei Centimeter lang, mehrere Linien über das Niveau der übrigen Haut hervorspringend und beiderseits durch eine deutliche Furche von der Haut der Hinterbacken abge- setzt. Das spitze untere Ende dieser Hautverdickung lag scheinbar gerade über der Afteröffnung, die sehr eng war und operativ erweitert werden musste, nachdem die Spitze des angewachsenen Schwanzes von dem betreffenden Theile losgelöst worden war. Dieser ange- wachsene Schwanz enthielt keine Wirbel- theile, das Schwanzbein lag vielmehr darunter, und es handelt sich in diesem, wie in einem ähnlichen von LABOURDETTE beobachteten Falle offenbar um eine sogenannte Hemmungsbildung aus der Steisshöcker-Periode. Der angewachsene Schwanz bietet ganz das vergrösserte Bild des embryonalen Steisshöckers dar, und zeigt diese Erhebung, welche sich in der normalen Entwickelung zurück- bildet und mit den Hinterbacken ver- schmilzt, erhalten, wie es scheint, in der Regel vergesellschaftet mit einer unvoll- kommenen Ausbildung der Afteröffnung. (Vgl. Taf. I Fig. 9.) Eine dritte Klasse bilden die soge- nannten weichen Schwänze, welche frei aus der Sacral- und- Steissbein-Gegend herabhängen. und am häufigsten vor- kommen. Sie haben bald die Gestalt eines in eine Spitze ausgezogenen Schweine- schwänzchen, bald die eines dickeren, nur an der Spitze ein wenig zurückge- rollten Fleischanhängsels. Solche weiche Schwänze, die zu den längsten ihrer Art gehören und entweder nackt oder behaart sind, wurden unter andern von BLANCcART, KönıG, ELSHOLTZ, SCHENK VON GRAFENBERG und GREVE beobachtet und beschrieben. Letzterer sandte den 7'/g cm langen, seinem Inhaber (einem acht Wochen alten Knaben), amputirten Schwanz (Taf. I Fig. 6) an Professor VIrRCHow zur nähern Untersuchung ein, und dieser fand hierbei, dass es sich keineswegs um ein blosses Hautgebilde handle, dass vielmehr innerhalb der Haut mit ihrem Unterhautzellgewebe ein fettreiches, von grossen (Gefässen durchzogenes Bündel lag. Bei dieser Art von Missbildungen, zu denen auch die in einem der letzten Hefte von Vırcnow’s Archiv für pathologische Die schwanzartigen Bildungen beim Menschen. 21 Anatomie (Bd. 83, Heft 3) abgebilde- ten Fälle zu gehören scheinen, handelt es sich also nicht um eine blosse Hem- mungsbildung, als welche man den zu- letzt erwähnten Fall auffassen kann, sondern um ein Auswachsen eines in der embryologischen Anlage gegebenen Theiles, der bei der regelmässigen Ent- wickelung verschwindet, um eine Mon- strositas per excessum, wie der alte Kunstausdruck lautet. Nach mancher Beziehung erinnern diese Fälle an ata- vistische Erscheinungen; ' die zu lang angelegte Chorda persistirt, ohne dass sich jedoch Wirbel in ihr ausbildeten. Echte Wirbelschwänze, bei denen der wirbelhaltige Theil des embryonalen Schwanzes unverwachsen bleibt, und das Schwanzbein seine ursprünglich mehr gerade Richtung beibehält, sind, wenn wir den älteren Anatomen und Aerzten Glauben beimessen, nicht allzu selten beobachtet worden. Genauer beob- achtete einen solchen Fall Generalarzt ORNsTEIN in Athen vor zwei Jahren bei einem 26 Jahre alten Griechen von Livadia, und nahm eine Photographie davon auf, nach welcher die Abbildung auf Taf. I (Fig. 8) entworfen ‘ ist. Es handelt sich um ein kegelförmiges, nur an der Spitze freies Schwänzchen von im. Ganzen 5 cm Länge, in dessen Innern sich durch Druck drei Wirbel unterscheiden lassen, doch hängt der Schwanz nicht, wie es nach dem Bilde scheinen könnte, senkrecht herab, son- dern das Schwanzbein ist, wenn auch weniger stark als in den normalen Fällen, schwach nach innen gekrümmt. In seiner Hautfarbe unterscheidet sich dieses trotz seiner anscheinenden Starr- heit ein Wenig bewegliche Schwänzchen von seiner Umgebung nicht; es ist völlig haarlos, dagegen ist die Sacralgegend stärker behaart. Der freie Theil be- trägt nicht ganz die Hälfte der oben angegebenen Gesammtlänge. * Während hier nur drei verkümmerte Wirbelstückchen zu fühlen waren, sind von mehreren älteren Autoren ähnliche freie Schwänze beschrieben worden, bei denen die normale Zahl von vier Wirbeln erheblich vermehrt erschien. Dr. Trırk in Brussa beschrieb 1820 den Fett- schweif eines 22 Jahre alten Kurden, welcher einen dicken Klumpen bildete und vier überzählige Wirbel enthalten haben soll. Ebenso erzählt Tomas BArTHoLınus im 17. Jahrhundert von einem geschwänzten Knaben, bei welchem die Wirbelzahl im Schwanzbein vermehrt gewesen sei. Solche Fälle würden echte atavistische Bildungen darstellen, sind aber nirgends mit der wünschenswer- then Genauigkeit konstatirt worden, ob- wohl an der Möglichkeit eines solchen Vorkommens nicht wohlgezweifelt werden kann. Ueberhaupt mögen derartige Fälle öfter vorkommen, werden aber, wie alle derartigen Bildungen, so lange sie nicht störend sind, streng verheimlicht, weil die meisten Inhaber von dergleichen Miss- bildungen verhüten wollen, auf sich und ihre Mütter einen üblen Verdacht kommen zu lassen. Ueber das Verhältniss dieser aus- nahmsweise, aber nicht allzuselten auf- tretenden Schwanzbildungen bei'm Men- schen zu den Sagen über »beschwänzte Völkerschaften« hat Dr. BARTELS einige treffende Bemerkungen gemacht, während MoHnIKkE diese seit den ältesten Zeiten kursirenden Reiseberichte in dankenswer- ther Weise zusammengestellt hatte. Letz- terer glaubt, dass die älteren Sagen sich häufig auf Affen beziehen lassen möchten, was aber insofern nicht recht wahrschein- lich ist, als die aufrecht gehenden Anthro- poiden, an die man doch zunächst denken müsste, so gut schwanzlos sind, wie der Mensch. Wahrscheinlicher klingt die Ableitung von der Sitte mancher wilden Völker, Thierfelle so über dem Rücken zu tragen, dass der Schwanz an der rechten Stelle herabhängt. ScHwEIn- * Eine genauere Beschreibung findet man in der Zeitschrift für Ethnologie Bd. XI (1879). 22 Die schwanzartigen Bildungen beim Menschen. FURTH beobachtete sogar bei den Weibern der Bongos die Gewohnheit, einen langen aus Palmenfasern gebildeten Schwanz an der entsprechenden Stelle angebun- den zu tragen. Inzwischen kehren die Sagen über geschwänzte Menschenstämme auf den ostindischen Inseln immer wieder, und der holländische Kapitän L. F. W. Schunzs machte 1877 in der Berliner ethnologischen Gesellschaft Mittheilun- gen über solche, theilweis von ihm selbst beobachtete Fälle*, die von Dr. BARTELS für völlig vertrauenswürdig angesehen werden. Einige dieser Nachrichten be- schränken sich auf die Beobachtung vereinzelter mit einem Schwanze ver- zierter Individuen innerhalb schwanz- loser Völker. Diese Mittheilungen lehren uns nichts Neues, denn diese Vorkomm- nisse finden wir in dem gebildeten Europa ebensowohl, als in abgelegenen Einöden und auf isolirten Inseln. An- dere Berichte, wie z. B. der von JuLIus Kösen über die Dajaks auf Borneo, sprechen von einem häufigen Auftreten geschwänzter Individuen unter ihnen. Da hat man dann wohlan eine tiefer steh- ende thierähnlichere Rasse gedacht, bei welcher atavistische Bildungen noch häu- figer aufträten, als bei höher stehenden dem Urzustande längst entwachsenen Völkern. Noch andere Berichte mel- den auch aus der neueren Zeit noch von durchweg geschwänzten Menschen- stämmen. Auch wenn sich ein solches Vor- kommen bestätigen sollte, brauchte man, wie Dr. BArTELS sehr richtig bemerkt, nicht gleich an eine noch lebende Mittel- form zwischen Mensch und Thier zu denken. >Wenn wir nämlich,< sagt er, »berücksichtigen, dass es sich immer um Inselbevölkerungen handelt, welche durch Völker anderer Rasse aus dem * Vgl. Kosmos Bd. I, 166. ** BARTELS a. a. 0. 8. 4. Besitze ihrer Küsten und Häfen ver- drängt und in das schwer zugängliche Innere des Landes getrieben, auf eine für uns unberechenbar lange Zeit zur steten Inzucht, zum dauernden Hei- rathen innerhalb des eigenen Stammes gezwungen waren, so könnte der schon längst, wie bei den übrigen Menschen, abgeworfene Schwanz zuerst als mehr zufällige Abnormität wieder aufgetreten und dann im Laufe der Generationen immer zahlreicher vererbt worden sein. Denn nichts vererbt sich * bekanntlich leichter als Missbildungen, wie die Unter- suchungen auf diesem interessanten Ge- biete der pathologischen Anatomie seit langer Zeit nachgewiesen haben. An dieser Stelle will ich nur auf die all- gemein bekannte Neigung zur Vererbung bei den sogenannten Muttermälern und bei den Hasenscharten aufmerksam machen, auch will ich an die grossen Zähne der Melanesier von der Admi- ralitätsinsel und der Insel Agomes er- innern, welche uns Herr von MIKLUCHO- MacvAy beschrieben hat.«** Im ganz ähnlicher Weise hatte übrigens schon Lord MonBoppo im vorigen Jahrhundert die Schwanzmenschen Borneo’s für ein mit einer erblichen Misshildung behaf- tetes Völkchen erklärt und den Fami- milien der Sechsfingrigen verglichen.*** Damit würde übereinstimmen, was der Missionar GEORGE Brown 1876 von einer förmlichen Züchtung der geschwänz- ten Menschenrasse in Kali auf Neu- Britannien erzählt hat. »Schwanzlose Kinder,« erzählt er, »würden sofort ge- tödtet, da sie sonst zum allgemeinen Ge- spött herumlaufen würden. Regimentation«) unterworfen: die Bewohner waren in Gruppen $e- theilt, welche unter der Controle von Beamten über je zehn, fünfzig, hundert u. s. w. standen. Jeder Bericht wurde durch diese verschiedenen Abstufungen von Regierungscentren bis zu den Gou- verneuren der grossen Abtheilungen vom Blute der Yncas emporgeleitet, um von ihnen endlich zum Ynca selbst zu ge- langen, während seine Befehle »wieder »von einemRang zum andern herabstie- »gen, bis sie den untersten erreichten. « Daneben bestand eine ebenso kunstvoll ausgedachte kirchliche Organisation, welche z. B. fünf Classen von Priestern umfasste, und ausserdem gab es eine organisirte Spionage, um die Handlungen 3 34 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. aller übrigen Beamten zu überwachen und über dieselben Bericht zu erstatten. Alles stand unter öffentlicher Aufsicht. Es gab Dorfbeamte, welche das Pflügen, Säen und Ernten überwachten. Wenn Mangel an Regen eintrat, so wurden abgemessene Wassermengen vom Staate geliefert. Wer ohne Erlaubniss reiste, wurde als Vagabund bestraft; für die- jenigen aber, welche die Erlaubniss zum Reisen zu öffentlichen Zwecken hatten, waren Einrichtungen getroffen, welche ihnen Wohnung und die nothwendigen Lebensbedürfnisse sicherten. »Es war »die Pflicht der Decurionen, darauf zu »sehen, dass die Leute bekleidet gingen, « und dabei war die Art der Kleidung, der Zierraten, der besonderen Kenn- zeichen u. s. w., welche die verschie- denen Stände zu tragen hatten, genau vorgeschrieben. Ausser dieser Regelung des äusseren Lebens bestand auch eine Regelung des häuslichen Lebens. Es war dem Volke befohlen, »bei offenen »Thüren zu Mittag und zu Abend zu »essen, damit die Richter freien Eintritt »fänden,« und diese Richter hatten auch darauf zu achten, dass das Haus, die Kleider, die Geräthe u. s. w. reinlich und in Ordnung gehalten und die Kinder unter gehöriger Zucht erzogen wurden; wer aber sein Haus nicht ordentlich verwaltete, der wurde mit Schlägen ge- züchtigt. Unter dem Drucke dieser Re- gelung arbeitete nun das Volk, um diese ausgedehnte Staatsorganisation zu er- halten. Die Beamten-, Priester- und Kriegerclassen waren in allen ihren Gra- den von Abgaben befreit, während da- gegen die Arbeiterclassen, wenn sie nicht im Heere dienten, alle ihre Erzeugnisse ausser dem, was sie für ihren noth- dürftigsten Lebensunterhalt brauchten, abliefern mussten. Vom ganzen Reiche war ein Drittel des Gebiets zum Staats- unterhalt bestimmt, ein zweites Drittel zum Unterhalt der Priesterschaft, welche den Manen der Vorfahren diente, und das letzte Drittel hatte den Unterhalt für die Arbeiter aufzubringen. Diese mussten Frohndienste leisten, indem sie nicht blos die Länder der Sonne und des Königs, sondern auch diejenigen der im Dienste stehenden Soldaten so- wie diejenigen der Invaliden zu bewäs- sern hatten. Ueberdies waren ihnen be- stimmte Abgaben an Kleidern, Schuhen und Waffen auferlegt. Von den Lände- reien, aus welchen das Volk seinen eige- nen Unterhalt zog, war jedem Manne sein Antheil je nach der Grösse seiner Familie zugemessen. Gleiches galt von den Erträgnissen der Herden. Die Hälfte derselben in jedem District, welche nicht zur Befriedigung öffentlicher Bedürfnisse erforderlich war, wurde in bestimmten Zwischenräumen geschoren und die Wolle durch Beamte vertheilt. Diese Einrich- tungen standen alle in Zusammenhang mit dem Grundsatz, dass »Jedermann »sein Privateigenthum nur nach Erlaub- »niss vom Ynca besitzen durfte und nach »ihren Gesetzenkeinen anderen Anspruch »daraufhatte.« Dieses Volkalso, welches seiner Person, seinem Eigenthum und seiner Thätigkeit nach vollständig im Besitze des Staates war, welches hier und dorthin versetzt wurde, wie es ge- rade der Ynca befahl, und welches, so lange es nicht im Heere diente, doch stets unter einer ähnlichen Zucht lebte wie im Heere selbst, stellte hienach blos eine Zahl von Einheiten in einer centralisirten Regierungsmaschine dar, die das ganze Leben über in möglichst grossem Umfange durch den Willen des Yncas und in möglichst kleinem Um- fange durch ihren eigenen Willen in Be- wegung gesetzt und darin erhalten wurde. Natürlich war mit einer kriegerischen Organisation, die in solcher Weise fast bis zu ihrer idealen Grenze geführt war, ein beinah vollständiger Mangel jeder anderen Organisation verbunden. Sie hatten keine Münze, >»sie verkauften »auch weder Kleider noch Häuser noch »Grundstücke, und der Handel war bei »ihnen kaum durch etwas anderes ver- . Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. DE; »treten als durch einigen Austausch »von Nahrungsmitteln«. Soweit die Berichte über das alte Aegypten reichen, bietet uns dasselbe im allgemeinen, wenn auch nicht im einzelnen, ganz ähnliche Erscheinungen dar. Das Vorherrschen des Militaris- mus in seinen ältesten vorgeschicht- lichen Zeiten geht zur genüge schon daraus hervor, dass eine gewaltige Masse von Sclaven zum Aufbau der Pyrami- den Dienste leisten musste; und die spätere Fortdauer des Militarismus er- kennen wir ebenso aus den ruhmredigen Urkunden ihrer Könige als aus den Dar- stellungen ihrer Triumphe aufden Tempel- wänden. Verbunden mit dieser Form der Thätigkeit finden wir wie im ersten Falle einen von Gott abstammenden Herrscher, dessen Macht blos durch die von seinen göttlichen Vorfahren auf ihn übertrage- nen Gebräuche beschränkt wurde, der zugleich Staatsoberhaupt, Hoherpriester, obersterKriegsführerund oberster Richter war. Unter ihm stand eine centralisirte Organisation, deren bürgerlicher Theil ebenso bestimmt nach Classen und Un- terclassen abgestuft war wie der mili- tärische Theil. Von den vier grossen socialen Abtheilungen — den Priestern, Soldaten, Städtern oder Handarbeitern und dem gemeinen Volke, unterhalb dessen noch die Sclaven kamen — enthielt die erste mehr als zwanzig verschiedene Classen, die zweite un- gefähr ein halbes Dutzend ausser denen, welche auf dem militärischen Rang be- ruhten, die dritte beinah ein Dutzend und die vierte eine noch grössere An- zahl. Obgleich innerhalb der herrschen- den Classen die Kasten nicht so streng gegen einander abgegrenzt waren, dass ein Wechsel der Functionen im Verlauf der Generationen ganz ausgeschlossen gewesen wäre, so führen doch sowohl Herodot als Diodor an, dass sich die gewerblichen Beschäftigungen vom Vater auf den Sohn vererbten: »jeder »besondere Zweig des Handels und der »Fabrikation wurde von seinen eigenen »Leuten besorgt und Niemand ging von »einem Zweige zum anderen über.« Wie ausgedehnt diese Regimentation war, lässt sich aus der eingehenden Schilde- rung des Personals der Beamten und Ar- beiter ersehen, welche in einem ihrer grossen Steinbrüche beschäftigt waren. Die Zahl und Verschiedenartigkeit der Angestellten kam derjenigen in einer Armee gleich. Um diese hoch entwick- elte, streng geregelte Organisation der bürgerlichen, militärischen und kirch- lichen Verhältnisse zu unterhalten — eine Organisation, welche im ausschliess- lichen Besitz des ganzen Landes war — hatten die unteren Classen zu arbeiten. «Aufseher waren über dasarme Volk ge- »setzt, welches mehr durch Stockschläge »als durch warnende Worte zu harter »Arbeit angetrieben wurde.» Und ob nun diese officielle Aufsicht auch eine fortwährende Untersuchung der häus- lichen Verhältnisse mit einschloss oder nicht, jedenfalls ging sie soweit, dass jede einzelne Familie aufgezeichnet war. »Von jedem Manne wurde bei Strafe »des Todes gefordert, dass er der Behörde »eine genaue Darstellung davon gab, wie »er seinen Lebensunterhalt erwarb.» Wenden wir uns nun zu einer anderen Gesellschaft aus dem Alterthum, welche, trotzdem sie in vielen Hinsichten das gerade Gegenstück dazu bildet, doch zeigt, dass verbunden mit fest einge- wurzeltem Militarismus im wesentlichen auch ganz ähnliche Eigenthümlichkeiten des Baues sich ausgebildet haben, -wie sie bei den bisher betrachteten Gesell- schaften gefunden wurden. Ich meine Sparta. Dass die kriegerischen Ver- hältnisse bei den Spartanern nicht zur Einsetzung eines einzigen despotischen Oberhauptes führten, beruhte theilweise wohl auf Ursachen, welche, wie früher gezeigt wurde, die Entwicklung von zu- sammengesetzten Staatsoberhäuptern be- günstigten, zum grössten Theil aber auf der zufälligen Einrichtung ihres doppel- 3* 36 ten Königthums: das Vorhandensein zweier Häuptlinge von göttlicher Ab- kunft verhinderte die Concentration der Gewalt. Obgleich aber in Folge dieser Ursache die Centralisation der Herr- schaft stets unvollkommen blieb, so war doch das Verhältniss dieser Regierung zu den Gliedern des Gemeinwesens der Hauptsache nach dasselbe wie bei krie- gerischen Regierungen im allgemeinen. Ungeachtet der Leibeigenschaft der He- loten auf dem Lande und ihrer Sclaverei in den Städten und ungeachtet der staatlichen Unterordnung der Perioeken waren sie alle wie die eigentlichen Spartaner zum Kriegsdienste verpflichtet. Die arbeitende Thätigkeit der ersten und die Handelsthätigkeit der zweiten Gruppe, soweit sie überhaupt bestand, war der kriegerischen Thätigkeit unter- geordnet, mit welcher sich die dritte Gruppe ausschliesslich beschäftigte. Und die auf solche Weise sich ergebenden bürgerlichen Abtheilungen kehrten in der militärischen Eintheilung wieder: >in der Schlacht von Platää hatte jeder »spartanische Hoplite sieben Heloten »und jeder perioekische Hoplite einen »Heloten zu seiner Bedienung bei sich.» Wir brauchen blos darauf hinzuweisen, bis zu welchem Umfange das individuelle Leben des Spartaners durch die täg- lichen kriegerischen Uebungen, durch die vorgeschriebenen kriegerischen Mahl- zeiten und die feststehenden Lieferungen von Speisen den öffentlichen Anforder- ungen vom siebenten Jahre an auf- wärts untergeordnet war, um die Festig- keit der Schranken darzuthun, welche der kriegerische Typus hier wie ander- wärts aufgerichtet hatte — Schranken, die sich ferner darin kundgaben, dass für die Heirat ein bestimmtes Alter vorgeschrieben war, dass ein häusliches Leben verhindert, jede Industrie oder andere auf Gelderwerb abzielende Be- schäftigung untersagt, die Entfernung vom Wohnorte ohne besondere Erlaub- niss verboten war und jeder Einzelne Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. bei Tag und Nacht unter der Censur der öffentlichen Autoritäten stand. In Sparta wurde die griechische Gesell- schaftstheorie, dass »der Bürger weder »sich selbst noch seiner Familie, son- »dern seiner Stadt angehöre», in vollem Maasse durchgeführt. Obgleich also in diesem Ausnahmefall der chronische Kriegszustand nicht ein einziges Ober- haupt zu entwickeln vermochte, welches der Besitzer des einzelnen Bürgers, seines Lebens wie seiner Güter gewesen wäre, so entwickelte sich doch ein im wesent- lichen gleichbedeutendes Verhältniss zwischen dem Gemeinwesen als Ganzem und seinen Einheiten. Indem das Ge- meinwesen seine Gewalt durch ein zu- sammengesetztes statt durch ein ein- faches Oberhaupt ausübte, machte es doch das Individuum vollständig zu seinem Sclaven. Während das Leben und die Thätigkeit der Heloten aus- schliesslich zum Unterhalt derjenigen bestimmt waren, welche die kriegerische Organisation bildeten, standen ander- seits auch Leben und Thätigkeit der letzteren ausschliesslich im Dienste des Staates: auch sie waren Sclaven mit nur geringem Unterschiede von den andern. Von Beispielen aus der Neuzeit wird dasjenige genügen, welches uns Russ- land liefert. Auch hier wieder kam es in Folge der Kriege, welche Er- oberungen und ein festeres Gefüge des Staates herbeiführten, dahin, dass sich der siegreiche Befehlshaber zum abso- luten Herrscher entwickelte, welcher, wenn auch nicht von vermeintlich gött- lichem Ursprung, doch ein nahezu gött- liches Prestige erlangte. > Alle Menschen »sind gleich vor Gott, und der Gott »des Russen ist der Kaiser,« sagt Dr Custine; >»der oberste Herrscher ist »soweit über die Erde erhaben, dass »er keinen Unterschied zwischen dem »Sclaven und seinem Herrn mehr sieht. « Unter dem Drucke der Kriege Peter’s des Grossen, welche, wie die Adligen "Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 37 klagten, sie von ihrer Heimath fern hielten, »nicht blos wie früher für »einen einzigen Feldzug, sondern auf »lange Jahre,« wurden sie »zu Dienern »des Staates ohne Privilegien, ohne be- »sondere Würden, sogar der körper- »lichen Züchtigung unterworfen und mit »lästigen Aufgaben überbürdet, denen »sie nicht zu entgehen vermochten.« »Jeder Adlige, welcher sich weigerte, >(»dem Staate in der Armee, der Flotte »oder der Civilverwaltung vom Jüng- »lings- bis zum Greisenalter«) zu die- »nen, wurde nicht blos seines Grund- »besitzes beraubt wie in älteren Zeiten, »sondern als Verräther gebrandmarkt; »ja, er konnte sogar zum Tode ver- »urtheilt werden.« »Unter Peter,« sagt WALLACE, wurden alle bürgerlichen »>und militärischen Aemter in vierzehn »Classen oder Ränge eingetheilt,« und er »bestimmte die Verpflichtung eines »jeden mit mikroskopischer Genauigkeit. »Nach seinem Tode wurde das Werk »in gleichem Geiste weiter geführt und »ihren Höhepunkt erreichte diese Ten- »denz während der Regierung von Kaiser »Nicolaus«e.. Um mich der Worte DE CGustin#e’s zu bedienen: ‚der Tschinn >(der Name für diese Organisation) ist »ein zum Regiment formirtes Volk; es »ist das Militärsystem auf alle Classen »der Gesellschaft angewendet, selbst auf > diejenigen, welche niemals Kriegsdienste »leisten.« Mit dieser allgemeinen »Re- gimentation« im Bau der Gesellschaft verband sich eine ebenso regiments- mässige Disciplin. Die Lebensführung war der grossen Menge der Bürger mit gleicher Strenge vorgeschrieben wie den Soldaten. Während der Regierung Peter’s und seiner Nachfolger wurden genau die häuslichen Unterhaltungen ange- geben und überwacht; das Volk wurde genöthigt, seine Kleidung zu ändern, der Clerus, seine Bärte abzuscheren, und selbst die Aufzäumung der Pferde musste dem vorgeschriebenen Muster entsprechen. Die Beschäftigungen wur- den bis zu dem Grade controlirt, dass »kein Jüngling in irgend einen Beruf »eintreten oder denselben, wenn er ihn »einmal ergriffen, wieder verlassen oder »sich aus dem öffentlichen in das Pri- »vatleben zurückziehen, über sein Eigen- »thum verfügen oder ins Ausland reisen »konnte, ohne die Erlaubniss des Zaren«. Diese allgegenwärtige Herrschaft kommt zum schlagenden Ausdruck in dem Refrain gewisser Verse, für deren Abfassung ein höherer Militär nach Sibirien geschickt wurde: ” „Lout se fait par ukase iei; „C’est par ukase que l’on voyage, „C'est par ukase que l’on rit.“ Stellen wir nun die heute lebende barbarische Gesellschaft in Dahome, welche aus Negern besteht, das aus- gestorbene halbeivilisirte Reich der Yn- cas, dessen Unterthanen von ganz an- derem Blute waren, das altägyptische Reich mit einem Volke von wieder anderer Race, das Gemeinwesen der Spartaner von abermals ungleichem Ty- pus der Bevölkerung und die gegen- wärtige russische Nation, welche aus Slaven und Tataren besteht, einander gegenüber, so sehen wir mehrere Fälle vor uns, deren Uebereinstimmung im socialen Bau unmöglich davon abge- leitet werden kann, dass etwa die so- cialen Einheiten einen gemeinsamen Cha- rakter geerbt hätten. Der gewaltige Gegensatz in der Grösse zwischen den Bevölkerungen dieser verschiedenen Ge- sellschaften, welche von Millionen am einen Extrem bis zu wenigen Tausenden am andern wechselt, widerspricht gleich- falls der Annahme, dass die ihnen ge- meinsamen Eigenthümlichkeiten des so- cialen Baues etwa eine Folge der Grösse seien. Ebensowenig ist vorauszusetzen, dass Aehnlichkeiten der Lebensbeding- ungen in Hinsicht auf das Klima, die geographische Lage, die Configuration der Oberfläche, die Bodenbeschaffenheit, die Flora, Fauna oder die Lebensweise, welche durch solche Bedingungen her- 38 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. vorgerufen wurde, irgend etwas mit der Gleichheit der Organisation in diesen Gesellschaften zu thun gehabt haben, denn ihre verschiedenen Wohngebiete zeigen zahlreiche sehr ausgeprägte Unter- schiede. Diejenigen Züge, welche sie gemeinsam aufweisen und die nicht irgend einer anderen Ursache zuge- schrieben werden können, müssen somit aufRechnungdergewohntenkriegerischen Verhältnisse gesetzt werden, welche für sie alle charakteristisch sind. Die Er- gebnisse der Induction allein würden schon fast genügen, um diese Annahme zu rechtfertigen, und sie wird vollends gerechtfertigt durch ihre Uebereinstim- mung mit den Ergebnissen der De- duction, wie dieselben oben dargelegt worden sind. Alle ferneren Zweifel müssen ver- schwinden, wenn wir beobachten, wie fortdauernde kriegerische Zustände eine Weiterentwicklung der kriegerischen Or- ganisation nach sich ziehen. Drei Bei- spiele werden genügen. Als im Verlaufe der römischen Er- oberungen die Tendenz des siegreichen Feldherrn, sich zum Despoten aufzu- schwingen, öfter zum Vorschein kam und schliesslich ins Leben trat — als der Titel Imperator, ursprünglich nur von militärischer Bedeutung, auch zum Titel für den Staatsherrscher wurde und uns damit in grösserem Maassstabe die- selbe Entstehung des Staatsoberhauptes aus dem Kriegsoberhaupte zeigt, welche schon im Anfang erkennbar war — als, wie dies ja gewöhnlich eintritt, der Staatsherrscher auch einen immer gött- licheren Charakter erlangte, was sich schon in der Annahme des geheiligten Namens Augustus sowie in der Aus- bildung einer thatsächlichen Verehrung desselben zeigte — da traten gleich- zeitig auch jene ferneren Züge, welche den kriegerischen Typus in seiner aus- gebildeten Form charakterisiren, immer stärker hervor. Die übrigen Staats- gewalten wurden thatsächlich, wenn auch noch nicht dem Namen nach, von ihm absorbirt. Nach den Worten von Durvy hatte er — „das Recht, Gesetze vorzuschlagen, d.h. „zu machen; Appellationen anzunehmen und „zu entscheiden, d. h. also die oberste Rechts- „pflege; durch sein tribunitisches Veto jede „Maassregel und jeden Richterspruch aufzu- „halten, d. h. seinen Willen im Gegensatze „zu den Gesetzen und Behörden aufzustellen ; „den Senat oder das Volk einzuberufen und „den Vorsitz über dieselben zu führen, d.h. „also die Wahlversammlungen so zu leiten, „wie ihm gut dünkte. Und diese Prärogative „übte er nicht etwa blos ein einziges Jahr, „sondern für seine ganze Lebenszeit, und „zicht,an.kom. allein, ... „........ sondern im „ganzen Reiche aus; er theilte sie nicht mit „gewissen Collegen, sondern übte sie allein „aus, und zwar ohne irgend welche Rechen- „schaft ablegen zu müssen, da er sein Amt „nie aufzugeben hatte.“ In Verbindung mit diesen Verän- derungen vollzog sich eine Vermehrung in der Zahl und Bestimmtheit der so- cialen Abtheilungen. Der Kaiser — „stellte zwischen sich und die Massen „eine grosse Zahl von Leuten, die regel- „mässig nach Kategorien eingetheilt und der- „artig über einander geschichtet waren, dass „diese Hierarchie, welche mit ihrem ganzen „Gewicht auf die unter ihr liegenden Massen „drückte, das Volk und parteisüchtige In- „dividuen in machtloser Unterthänigkeit hielt. „Was vom alten patrizischen Adel noch übrig „geblieben war, nahm den obersten Rang in der „Stadtein;.... unter ihm kam der halberbliche „Adel der Senatoren, darunter der Geldadel „oder der Stand der Ritter — also drei „über einander stehende Aristokratien.... „Die Söhne der Senatoren bildeten eine „zwischen den Senatoren selbst und den „Rittern in der Mitte stehende Classe. .. . . „im zweiten Jahrhundert hatten sich die „Senatsfamilien bereits zu einem erblichen „Adel mit Privilegien entwickelt.“ Zu gleicher Zeit dehnte sich die Verwaltungsorganisation bedeutend aus und wurde immer complicirter. „Augustus schuf eine grosse Zahl neuer „Aemter, wie z. B. die Beaufsichtigung der „öffentlichen Werke, Strassen, Wasserlei- „tungen, des Tiberbettes, der Vertheilung von „Korn. ansdas zNolk. u.IE. were Er „setzte auch zahlreiche Procuratoren für die . Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 39 „finanzielle Verwaltung des Reiches ein und „in Rom allein gab es 1060 städtische Be- „ante.“ Der ein Heer auszeichnende Charak- ter des Baues breitete sich in doppelter Weise aus: militärische Beamte über- nahmen bürgerliche Functionen und An- gestellte des bürgerlichen Standes wur- den theilweise militärisch geschult. Die vom Kaiser eingesetzten Behörden hatten, indem sie die vom Volk eingesetzten zu verdrängen strebten, neben ihrer bürgerlichen Autorität auch noch eine militärische,und während »unterAugustus »die Präfecten der Prätorianer noch aus- »schliesslich Kriegsanführer waren, .... »setzten sie sich allmählich in den Be- »sitz der ganzen bürgerlichen Autorität »und wurden schliesslich nach dem Kaiser »die ersten Persönlichkeiten im Reich«. Ueberdies nahmen die Regierungsein- richtungen an Umfang noch dadurch zu, dass sie ganze Körperschaften von Be- amten sich einverleibten, welche früher unabhängig gewesen waren. »In seinem »Eifer, alles zu organisiren, suchte er »auch das Gesetz selbst streng zu regeln »und setzte einen officiellen Magistrat »ein für das, was bisher stets ein freier »Beruf gewesen war.«< Um aber die Vollmachten. dieser ausgedehnten Ver- waltungsbehörden zu kräftigen, wurde ein stehendes Heer geschaffen und das- selbe einer strengen Disciplin unter- worfen. Mit dem fortdauernden Wachs- thum der regulirenden und ihren Zwang ausübenden Organisation nahmen die Bedrückungen der producirenden Classen zu, und wie schon durch Citate in einem früheren Capitel in betreff der römischen Herrschaft in Aegypten und Gallien gezeigt wurde, war der ar- beitende Theil des Gemeinwesens bald immer mehr zur Bedeutung eines stän- digen Lieferanten herabgedrückt. In Italien kam es schliesslich dahin, dass weite Ländereien »den Freigelassenen »anvertraut wurden, deren einziges Be- »streben dahin ging, das Land mit »möglichst geringen Kosten zu bearbei- »ten und ihren Arbeitern die denk- »bar grösste Arbeitsmenge abzunöthigen, »während ihnen die denkbar geringset »Menge von Nahrung gewährt wurde». Hier können wir ein Beispiel an- schliessen, welches unserer unmittel- baren Beobachtung offensteht, dasjenige des deutschen Reiches. Die Merkmale des kriegerischen Typus in Deutschland, die sich schon vorher gezeigt hatten, sind seit dem letzten Kriege immer deutlicher hervorgetreten. Die active und passive Armee mit Einschluss der Öfficiere und sonst dazu gehörenden Beamten hat sich um ungefähr 100 000 Mann vermehrt und in den Jahren 1875 und 1880 eingeführte Veränderungen, wodurch die Verwendbarkeit gewisser Reserven gesteigert wurde, haben that- sächlich eine fernere Vermehrung von gleichem Betrage verursacht. Ueberdies haben die kleineren deutschen Staaten die Verwaltung ihrer einzelnen Contin- gente zum grössten Theil aufgegeben, wodurch die ganze deutsche Armee ein viel innigeres Gefüge bekommen hat, und selbst die Heere von Sachsen, Würt- temberg und Baiern sind der kaiser- lichen Oberaufsicht unterworfen und ha- ben damit aufgehört, selbständig zu sein. Statt dass jedes Jahr die Aus- gaben für das Heer bewilligt würden, wie es in Preussen vor der Errichtung des Norddeutschen Bundes in Uebung war, wurde der Reichstag i. J. 1871 dazu gebracht, die erforderliche jähr- liche Summe auf 3 Jahre hinaus zu bewilligen; 1874 geschah dasselbe für die nächsten sieben Jahre und 1880 sodann wurde abermals ein bedeutend erhöhter Betrag für die vermehrte Ar- mee auf sieben weitere Jahre hinaus angewiesen — lauter Schritte, welche offenbar dahin führen, das Veto des Volkes gegenüber der kaiserlichen Ge- walt zu schwächen. Gleichzeitig hat diemilitärische Beamtenschaft aufzweier- lei Weise immer mehr die bürgerliche 40 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Beamtenschaft verdrängt. Unterofficiere werden für lange Dienstzeit durch Ein- setzung in Civilämter belohnt — die einzelnen Gemeinden sind gezwungen, ihnen den Vorzug vor bürgerlichen Be- amten zu geben, und nicht wenige Mit- glieder des höheren Civildienstes und selbst der Universitäten sowie Lehrer an öffentlichen Schulen werden, nach- dem sie als »einjährig Freiwillige« ge- dient haben, zu Öfficieren der Land- wehr ernannt. Während der Streitig- keiten des sogenannten Culturkampfes wurde auch die kirchliche Organisation der staatlichen vollständig untergeord- net. Priester, welche von ihren Bischöfen abgesetzt waren, wurden in ihrer Stel- lung erhalten. ‘Es war einem Geist- lichen bei Strafe verboten, öffentlich gegen die Regierung aufzutreten. Einem widerspenstigen Bischof wurde sein Ge- halt gestrichen. Der Bildungsgang der Geistlichen wurde durch den Staat vor- geschrieben und gefordert, dass sie sich einer Prüfung durch Staatsbeamte unter- zögen. Die Kirchenzucht war gleich- falls der staatlichen Billigung. unter- worfen und die Befugniss geltend ge- macht, unnachgiebige Glieder des Clerus aus dem Lande zu verweisen. Gehen wir zu den industriellen Thätigkeiten über, so ist zunächst zu beachten, dass von 1873 an bei mehreren Gelegen- heiten eine immer weitergehende Ueber- tragung der Eisenbahnen in die Hände des Staates stattgefunden hat, so dass nun, theilweise durch selbstbetriebenen Bau (hauptsächlich von Linien für mili- tärische Zwecke) und theils durch An- kauf, wenigstens drei Viertheile aller preussischen Eisenbahnen Staatseigen- thum geworden sind; und dasselbe Ver- hältniss findet sich auch in den übrigen deutschen Staaten wieder: der End- zweck ist jedenfalls der, schliesslich alle kaiserlich zu machen. Beeinflussungen des Handels haben sich auf verschiedene Weise geltend gemacht: durch schutz- zöllnerische Tarife, durch Wiederein- führung der Wuchergesetze, durch Be- schränkung der Sonntagsarbeit. Ver- möge seines Postdienstes hat der Staat auch unmittelbar industrielle Functionen übernommen: — er präsentirt Wechsel, nimmt Geld gegen fällige Wechselbriefe sowohl wie auch gegen gewöhnliche Schuldscheine an, welche ihm eingelöst werden, und er versuchte sogar, sich Bücher unmittelbar von den Verlegern zu verschaffen, bis dem durch Ein- sprache von seiten der Sortimenter Ein- halt gethan wurde. Schliesslich kommen auch noch die Maassregeln in Betracht, welche die Controle direct und indirect aufs Leben des Volkes auszudehnen suchen. Auf der einen Seite gehören hieher die Gesetze, kraft deren bis zur Mitte des letzten Jahres 224 socialistische Gesellschaften geschlossen, 180 perio- dische Zeitschriften unterdrückt, 317 Bücher u. s. w. verboten und ver- schiedene Orte in den kleinen Be- lagerungszustand erklärt wurden. An- derseits sei der Entwurf des Fürsten Bismarck zur Wiedereinführung der Innungen erwähnt (von Körperschaften, welche vermöge ihrer strengen Regulirung einen Zwang über ihre Mitglieder aus- üben) und sein Entwurf der Staatsver- sicherung, mit Hilfe deren dem Arbei- tenden in erheblichem Grade die Hände gebunden würden. Obgleich diese Maass- regeln nicht in der vorgeschlagenen Form durchgeführt worden sind, so ver- räth doch schon die Einbringung der Vorlagen genügend die allgemeine Ten- denz. In allen diesen Veränderungen er- kennen wir einen Fortschritt nach einem völlig integrirten Gebilde hin, nach einer Verstärkung des kriegerischen Theiles verglichen mit dem industriellen Theile der Gesellschaft, nach einer Verdrängung der bürgerlichen durch die militärische Organisation, nach einer Erhöhung der Schranken, welche dem Individuum ge- zogen sind, und einer Regulirung seines Lebens bis in die Einzelheiten hinein. Als letztes Beispiel ist unsere eigene Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 41 Gesellschaft zu nennen seit dem Wie- deraufleben der militärischen Thätig- keit — einem Wiederaufleben, das so lebhaft hervortritt, dass unsere illustrir- ten Zeitschriften Woche für Woche kaum mit etwas anderem angefüllt sind als mit kriegerischen Scenen. Schon im ersten Bande der Principien der So- ciologie habe ich verschiedene Wege angedeutet, auf denen das den krie- gerischen Typus charakterisirende System des zwangsweisen Zusammenwirkens all- mählich sich in das System des freiwil- ligen Zusammenwirkens hineingedrängt hat, das den industriellen Typus aus- zeichnet. Und seitdem jene Zeilen er- schienen sind (im Juli 1876), haben weitere Veränderungen in der gleichen Richtung Platz gegriffen. Innerhalb der militärischen Organisation selbst sei auf die zunehmende Assimilation der frei- willigen Streitkräfte in die reguläre Ar- mee hingewiesen, welche bereits soweit geht, dass man ihre Verwendung auch ausserhalb des Landes zu ermöglichen sucht, so dass sie dann statt nur zur Vertheidigung, wofür sie geschaffen wur- den, auch für Zwecke des Angriffs be- nutzt werden könnten; und ferner sei darauf aufmerksam gemacht, dass die in der Armee während der vorigen Ge- neration hervorgetretene Neigung, den militärischen Charakter so oft als mög- lich zu verbergen, indem man Civil- kleider anlegte, nun durch eine Ordre an die Officiere in Garnisonstädten in ihr Gegentheil verkehrt worden ist, indem ihnen befohlen wurde ihre Uniformen auch ausserhalb des Dienstes zu tragen, wie dies in kriegerischen Ländern Brauch ist. Ob seit dem angegebenen Zeit- punkte auch die Usurpation von bürger- lichen Functionen durch Militärs (welche in den Jahren 1875 und 1874 soweit gediehen war, dass 97 Oberste, Majore, Hauptleute und Lieutenants von Zeit zu Zeit als Inspectoren von wissenschaft- lichen und Kunstschulen verwendet wur- den) ihren Fortgang genommen hat, ver- mag ich nicht zu sagen; allein jeden- falls hat eine deutliche Ausbreitung des militärischen Geistes und der Disciplin in der Polizei stattgefunden, mit dem Erfolge, dass die Polizisten, welche helm- förmige Hüte tragen, Revolver zu führen beginnen und sich selbst halb als Sol- daten zu betrachten anfangen, nun schon soweit gelangt sind, vom Volk als vom »Civil«e zu sprechen und in vielen Fällen über dieses »Civile eine Aufsicht von ganz militärischer Art auszuüben. Als Beispiel sei nur der Polizeidirector von Birmingham erwähnt, Major Bond, dessen Untergebene ganz ruhige Leute, welche nur vom Trinken unsicheren Ganges geworden sind, nach Hause schleppen und sie am nächsten Morgen vor Ge- richt stellen, oder auch die Regu- lirung des sich stauenden Stromes der Fahrzeuge in den Strassen von London durch die Befehle der Schutzmänner. In immer zunehmendem Umfange hat namentlich die Executive in neuester Zeit ein Uebergewicht über die an- dern Regierungsfactoren erlangt, so z. B. in der Angelegenheit mit Cypern und in den durch geheime Instructionen von England aus geleiteten Maassregeln des Vicekönigs von Indien. In verschie- denen untergeordneten Dingen machen sich ferner Bestrebungen bemerkbar, das Beamtenwesen von der Einsprache von seiten des Volkes zu befreien, so z. B. in dem im Hause der Lords ausgedrück- ten Wunsch, dass beim Hängen der Verurtheilten im Gefängniss, welches aus- schliesslich den betreffenden Autoritäten anvertraut ist, keine anderen Zeugen zugegen sein sollten, und in der Zuschrift, welche der verstorbene Staatssecretär des Ministeriums des Innern (am 11. Mai 1878) an den Stadtrath von Derby er- liess, dass dieser sich nicht in das Ver- fahren des obersten Constablers (eines früheren Militärs) mit den unter ihm stehenden Kräften zu mengen habe — ein Schritt weiter zur Centralisirung der Controle über die Localpolizei durch 49 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. das Ministerium des Innern. Gleich- zeitig sehen wir verschiedene schon durchgeführte oder in Aussicht stehende Ausdehnungen der Wirksamkeit öffent- licher Agentien, welche immer mehr die private Thätigkeit verdrängen oder einschränken. Dahin gehört das »en- dowment of research« [die staatliche Unterstützung wissenschaftlicher For- schungen], welche Viele noch weiter zu führen wünschen, nachdem sie bereits durch einen Regierungsfond theilweise ins Leben getreten ist. Dahin gehört ferner der Vorschlag, ein genaues Ver- zeichniss der geprüften Lehrer aufzu- stellen, dahin das Gesetz, welches eine centrale Oberaufsicht über alle öffent- lichen Bibliotheken in kleineren Ort- schaften befiehlt, dahin der Entwurf einer Zwangsversicherung — ein Ent- wurf, der uns in recht lehrreicher Weise zeigt, auf welchem Wege diese regu- lirende Politik sich weiter ausbreitet: zuerst hat die Zwangsarmenpflege ein unvorbedachtes Verhalten der Leute her- vorgerufen und nun kommt die Zwangs- versicherung als Heilmittel dieser Un- vorbedachtheit. Andere Neigungen zur Einführung von dem militärischen Typus eigenthümlichen Institutionen erkennen wir in der immer lauter werdenden Forderung irgend einer Form des Schutz- zolles und in den von seiten der »so- ciety papers« ausgestossenen Klagen dar- über, dass das Duell verschwunden ist. Ja selbst in diejenige Partei hinein, welche ihrer Stellung und Aufgabe nach dem Militarismus gerade entgegengesetzt ist, finden wir eine allmähliche Ausbreitung jener kriegerischen Disciplin; denn das »Caucus« - System [Verpflichtung aller Angehörigen einer Partei, für den in der Wahlversammlung proclamirten Can- didaten einzutreten], ursprünglich nur zum Zweck einer besseren Organisation des Liberalismus eingeführt, muss doch nothwendig in höherem oder geringerem Grade eine Centralisirung der Wahlbe- fugniss und eine Controle über die in- dividuelle Thätigkeit nach sich ziehen. Wir. finden also nicht blos, dass die Eigenthümlichkeiten, welche sich a priori als für den kriegerischen Typus charakteristisch folgern liessen, in all den Gesellschaften beständig wieder- kehren, welche andauernd kriegerische Verhältnisse in hohem Grade zeigen, sondern es ergibt sich auch, dass in anderen Gesellschaften eine Zunahme der kriegerischen Thätigkeit gefolgt wird von einer Weiterentwicklung jener Eigen- thümlichkeiten. Bei mehreren Gelegenheiten habe ich bereits ausgesprochen und bei ande- ren wenigstens angedeutet, dass eine nothwendige Beziehung stattfindet zwi- schen dem Bau einer Gesellschaft und der Natur ihrer Bürger. Es wird am Platze sein, hier im einzelnen die Cha- raktere zu bezeichnen, welche den Glie- dern einer kriegerischen Gesellschaft angemessen sind und gewöhnlich auch bei denselben zum Vorschein kommen. Unter sonst gleichen Verhältnissen wird eine Gesellschaft um so grössere Erfolge im Kriege haben, je mehr ihre Mitglieder mit Körperkraft und Muth begabt sind, und im Durchschnitt wird im Kampfe der Gesellschaften mit ein- ander das Ueberleben und die Ausbrei- tung derjenigen stattfinden, bei welchen die in der Schlacht in Anspruch genom- menen physischen und geistigen Kräfte nicht allein am bestimmtesten . hervor- treten, sondern auch am höchsten ge- ehrtwerden. Die ägyptischen und assyri- schen Bildwerke und Inschriften bewei- sen uns, dass bei ihnen Tapferkeit das- jenige war, was vor allem andern am meisten der ehrenden Erwähnung werth schien. Bezüglich der Wörter gut, ge- recht u. s. w., wie sie von den alten Griechen gebraucht wurden, bemerkt GroTE, dass sie »den Mann von Geburt, »Reichthum, Einfluss und Tapferkeit be- »zeichnen, dessen Arm stark ist zu zer- »stören oder zu schützen, gleichgiltig Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. »welche Richtung seine moralischen Ge- »fühle haben mögen, während das ent- »gegengesetzte Beiwort »schlecht« den »Armen, Niedrigen und Schwachen be- »zeichnet, von dessen Anlagen, mögen »sie auch noch so tugendhaft sein, »die Gesellschaft: wenig zu hoffen oder »zu fürchten hat.«< In der Identificir- ung von Tugend mit Tapferkeit bei den Römern sehen wir denselben Geist hervortreten. Während der früheren unruhigen Zeiten in Europa gehörte zum ritterlichen Charakter, welcher am höchsten geehrt wurde, vor allem auch Furchtlosigkeit: ohne diese waren alle übrigen guten Eigenschaften nichts werth, mit dieser aber wurden Sünden der verschiedensten Art leicht verziehen. Wennuntermehrerensich bekämpfen- den Gruppen primitiver Menschen die einen es eher duldeten als die ande- ren, dass einzelne ihrer Mitglieder ge- tödtet wurden — wenn die einen stets Wiedervergeltung übten, die andern aber nicht, so mussten diejenigen, welche sich nicht zu rächen versuchten, da sie fortwährend ungestraft angegriffen wer- den konnten, entweder allmählich ver- schwinden oder ihre Zuflucht zu un- wirthlichen Wohngebieten nehmen. Es kommt also von selbst zum Ueberleben derjenigen, die kein Vergeben kennen. Mit der Zeit aber wird die lex talionis das Wiedervergeltungsrecht, das ur- sprünglich nur zwischen den verschie- denen Gruppen gegolten hatte, auch zum Gesetz innerhalb der Gruppe, und lang anhaltende Kämpfe zwischen den einzelnen Familien und Familiengruppen werden überall nach dem allgemeinen Grundsatz »Leben um Leben< aus- gefochten. Unter dem kriegerischen Regime wird Rache zu einer Tugend und Misslingen der Rache erscheint als Unglück. Beiden Fidschianern, welche den Zorn bei ihren eigenen Kindern absicht- lich pflegen, kommt es nicht selten vor, dass ein Mann lieber Selbstmord begeht, als dass er ufter dem Druck einer Be- 43 leidigung weiterlebte d. h. also eine solche Unbill ungerächt über sich ergehenliesse. Und in anderen Fällen legt dersterbendeFidschianer seinen Kin- dern die Pflicht der Rache ans Herz. Die- ses Gefühl und das daraus entspringende Verhalten finden wirabermals bei Völkern, die im übrigen ganz anderer Natur, allein lebhaft kriegerisch sind oder ge- wesen sind. Im fernen Osten seien als Beispiel die Japanesen angeführt. Sie werden gelehrt, »dass ein Mann mit »dem Mörder seines Vaters nicht unter »demselben Himmel leben darf, dass »ein Mann nie nach Hause gehen soll, »um sich eine Waffe zu holen gegen den »Mörder seines Bruders, und dass er »mit dem Mörder seines Freundes nicht »im selben Staate leben darf.« Im Westen sei auf Frankreich während der Feudalzeiten hingewiesen, wo die Ver- wandten eines Getödteten oder Beleidig- ten durch die Sitte genöthigt waren, sich an beliebigen Verwandten des Be- leidigers zu rächen, selbst an solchen, die weit entfernt lebten und gar nichts von der ganzen Sache wussten. Selbst bis herab auf die Zeiten des Abb& BRANTömE herrschte dieser Geist so allgemein, dass dieser Geistliche, nachdem er seinen Neffen die Pflicht auferlegt, jedes un- gesühnte Unrecht, das ihm in seinen alten Tagen zugefügt worden sei, zu rächen, von sich selbst sagt: »Ich kann »mich dessen rühmen und danke Gott »dafür, dass ich niemals eine Belei- »digung erlitten, ohne an dem Urheber »derselben gerächt worden zu sein.« Dass da, wo der Militarismus vorherrscht, die private sowohl wie die öffentliche Rache zur Pflicht wird, zeigt sich sehr gut auch in der Gegenwart bei den Montenegrinern — einem Volke, das Jahrhunderte lang mit den Türken im Kriege lag. »Dans le Montenegro,« sagt Boug, »on dira d’un homme d’une na- >trie [clan] ayant tu& un individu d’une »autre: Cette natrie nous doit une tete, »et il faut que cette dette soit acquittee, 44. Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. »car qui ne se venge pas ne se sancti- »fie pas.« Wo die Thätigkeit der Menschen fort- während auf das Erschlagen der Feinde gerichtetist, da wirdTodtschlag zurQuelle des Vergnügens werden; wo der Erfolg in der Unterjochung der Mitmenschen vor allem andern geehrtist, da wird die ge- waltthätige Ausübung der Herrschaft Jedem Freude bereiten, und mit dem Stolz auf die Plünderung des Besiegten wird eine Missachtung der Eigenthums- rechte im allgemeinen Hand in Hand gehen. Wie es undenkbar ist, dass ein Mann angesichts des Feindes mu- thig, angesichts seiner Freunde aber furchtsam sei, so ist es auch undenk- bar, dass die übrigen durch die fort- währenden Kämpfe nach aussen wach- gerufenen Gefühle zu Hause gar nicht wirksam sein sollten. Wir haben be- reits gesehen, dass mit dem Streben nach Rache ausserhalb der Gesellschaft sich ein gleiches Streben innerhalb der- selben verbindet, und so müssen ja überhaupt alle Gewohnheiten des Den- kens und Handelns, welche der fortwäh- rende Krieg mit Nothwendigkeit her- vorruft, ihre Wirkung auch im socialen Leben geltend machen. Von den ver- schiedensten Orten und Zeiten entnom- mene Thatsachen beweisen, dass in kriegerischen Gesellschaften das Anrecht der Einzelnen auf Leben, Freiheit und Eigenthum nur wenig geachtet wird. Die Dahomeaner, die so kriegerisch sind, dass beide Geschlechter mitkämpfen, und die alljährlich Sclavenjagden an- stellen oder wenigstens früher anstell- ten, »um der königlichen Schatzkammer »neue Gelder zuzuführen«, verrathen ihren Blutdurst auch durch die all- jährlichen Feste, bei denen zahlreiche Opfer zum Vergnügen des Volkes öf- fentlich hingeschlachtet werden. Ebenso zeigen die Fidschianer, deren ganze Thätigkeit und Organisationstypus so entschieden kriegerisch sind, die Rück- sichtslosigkeit gegen das Leben nicht allein darin, dass sie ihre eigenen Leute für cannibalische Festlichkeiten erschlagen, sondern auch unglaubliche Mengen ihrer Kinder tödten und bei den geringfügigsten Gelegenheiten, wie z.B. dem Stapellauf eines neuen Boo- tes, Menschenopfer darbringen. Und” bei diesen wird Grausamkeit so hoch gepriesen, dass ihnen zum Ruhm ange- rechnet wird, wenn sie einen Mord be- gehen. Die ältesten Urkunden aus Asien und Europa lassen dasselbe Verhältniss erkennen. Alle Berichte von den pri- mitiven Mongolen, welche, wenn sie sich vereinigten, die westlichen Völker un- barmherzig niedermachten, zeigen uns die chronische Herrschaft der Gewalt- that sowohl innerhalb als ausserhalb ihrer Stämme; und Mordthaten inner- halb der Familie, welche von Anfang an die kriegerischen Türken auszeich- neten, können bekanntlich auch noch heute als charakteristisch für dieselben gelten. Zum Beweis, dass Aehnliches auch bei den griechischen und lateinischen Racen stattfand, genügt es, auf die Ab- schlachtung der zweitausend Heloten durch die Spartaner hinzuweisen, deren Grausamkeit allgemein bekannt war, und auf die Ermordung grosser Mengen ver- dächtiger Bürger durch die misstrauischen römischen Kaiser, welche gleichfalls ebenso wie ihre Unterthanen ihre Freude am Blutvergiessen in der Arena kund- gaben. Dass da, wo das Leben wenig geachtet wird, auch geringe Rücksicht auf die Freiheit genommen werden wird, ergibt sich mit Nothwendigkeit daraus, denn wer nicht zaudert, den Thätig- keiten eines Anderen ein Ende zu setzen, indem er ihn tödtet, wird noch weniger davor zurückschrecken, seine Thätigkeiten einzuschränken, indem er ihn in Knechtschaft hält. Kriegerische Wilde, deren Kriegsgefangene, wenn nicht aufgegessen, so doch zu Sclaven gemacht werden, zeigen uns in der Regel am deutlichsten diesen Mangel an Rücksicht für die ‘Freiheit ihrer Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 45 Mitmenschen, welcher überhaupt die Glieder kriegerischer Gesellschaften im allgemeinen charakterisirt. Wie wenig die Gefühle unter der Herrschaft des kriegerischen Geistes, welcher mehr oder weniger stark alle alten histori- ' schen Gesellschaften durchdrang, sich dagegen auflehnten, dass die Menschen ihrer Freiheit beraubt würden, geht schon hinlänglich aus der Thatsache hervor, dass sich selbst in den Lehren des ersten Christenthums keine aus- drückliche Verdammung der Sclaverei findet. Dasselbe gilt natürlich auch vom Eigenthumsrecht. Wo eine durch rohe Gewalt erlangte Herrschaft ehren- haft erscheint, da werden jedenfalls auch die Ansprüche des Schwächeren an seinen Besitz nur wenig von dem Stärkeren beachtet werden. In Fidschi wird es für eines Häuptlings würdig erachtet, sich der Güter eines Unter- thanen zu bemächtigen, und der Dieb- stahl gilt für tugendhaft, wenn er un- entdeckt bleibt. In Dahome »quetscht« der König Jeden aus, sobald derselbe sich einen gewissen Besitz erworben hat. Bei den Spartanern »errang der schlaue »und erfolgreiche Gauner den grössten »Beifall durch seine Beute«. Im mit- telalterlichen Europa mit seinen fort- währenden Plünderungen der einen Ge- sellschaft durch eine andere fanden auch fortwährende Reibereien innerhalb jeder Gesellschaft statt. Unter den Mero- wingern »waren die Morde und sonsti- »gen Verbrechen, welche sie (die Kir- »chengeschichte der Franken) er- »zählt, fast sämmtlich auf den Besitz »des Schatzes gerichtet, welchen die »ermordeten Personen innegehabt hat- »ten«, und noch unter Karl dem Gros- sen gehörte die Plünderung durch die Beamten zu den alltäglichen Vorkomm- nissen: sobald er seinen Rücken kehrte, fielen »die Profosse des Königs über die »Gelder her, welche Nahrung und Klei- »dung für die Handwerker hätten schaf- »fen sollen«. Wo der Krieg zur Gewohnheit ge- worden und die dazu erforderlichen Eigenschaften höchst nöthig und daher im höchsten Grade geehrt sind, da werden diejenigen, welche sich nicht auf solche Weise auszeichnen, mit Verachtung be- handelt und ihre Beschäftigungen für unehrenhaft gehalten. In früheren Sta- dien ist Arbeit die Aufgabe der Frauen und Scelaven — der besiegten Männer und der Nachkommen von Besiegten, und Handel jeder Art wird nur von un- terjochten Classen betrieben und gilt daher noch lange für identisch mit nie- derem Ursprung und gemeinem We- sen. In Dahome »wird der Ackerbau »verachtet, weil Sclaven dazu verwen- »det werden«. »Die japanesischen Ad- »ligen und Standesherren, selbst die- >jenigen vom zweiten Range, tragen »eine souveräne Verachtung gegen den »>Handel zur Schau.< Von den alten Aegyptern erzählt Wırkınson, >»ihre »Vorurtheile gegen mechanische Be- »schäftigung, soweit es die Krieger be- »traf, seien ebenso stark gewesen wie »in dem strengen Sparta«. »Für Han- »del und Verkehr pflegten die alten »Perser eine ausserordentliche Miss- »achtung zu zeigen«, schreibt RAwum- son. Der Fortschritt der Classendiffe- renzirung, welcher die Eroberungskriege der Römer begleitete, wurde gefördert durch Einführung der Regel, dass es unehrenhaft war, Geld für irgend eine Arbeit anzunehmen, sowie auch durch das Gesetz, welches den Senatoren und ihren Söhnen verbot, sich in irgend welche Speculationen einzulassen. Und wie gross die Missachtung war, welche die kriegerischen Classen in ganz Europa bis auf die neuesten Zeiten herab ge- gen die Handelsclassen zur Schau trugen, braucht nicht nachgewiesen zu werden. Um die Bereitwilligkeit hervorzu- rufen, sein Leben zum Wohle der Ge- sellschaft auf das Spiel zu setzen, muss das Gefühl, welches wir Patriotismus 46 ° Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. nennen, sehr lebendig sein. Obgleich die Ueberzeugung, dass es rühmlich sei, für sein Land zu sterben, nicht als wesentlich betrachtet werden kann, da ja auch Söldlinge ohne dieselbe tapfer kämpfen, so ist doch klar, dass ein solcher Glaube wesentlich zum Erfolg im Kriege beitragen muss und der völlige Mangel desselben sowohl für an- greifende als abwehrende Thätigkeit so ungünstig sein wird, dass leicht ein Miss- lingen und unter gewissen Umständen eine Besiegung die Folge davon sein kann. Es wird daher das Gefühl des Patriotismus schon durch das Ueber- leben derjenigen Gesellschaften fest ein- gepflanzt werden, deren Glieder sich am meisten durch dasselbe auszeichnen. Mit diesem Glauben muss sich aber auch eininstinetiver Gehorsam verbinden. Die Möglichkeit jenes vereinigten Han- delns, durch welches unter sonst gleichen Verhältnissen der Krieg erst wirklich erfolgreich werden kann, hängt von der Bereitwilligkeitder Individuen ab, ihren Willen demjenigen ihres Befehlshabers oder Herrschers unterzuordnen. Loya- lität ist eine sehr wesentliche Eigen- schaft. In den Anfangsstadien tritt die- selbe oft nur zeitweilig zu Tage, wie z. B. bei den Araucaniern, welche sich für gewöhnlich »gegen jede Unterord- »nung widerwillig zeigen, dann aber »(nämlich wenn Krieg in Aussicht steht) »eifrig und gern gehorchen und sich »dem Willen ihrer für diese Gelegen- »>heit gewählten kriegerischen Oberherrn »unterwerfen<«. Und mit der weiteren Ausbildung des kriegerischen Typus hat sich dieses Gefühl auf die Dauer fest- gesetzt. So erzählt uns Erskınr, dass die Fidschianer ausserordentlich loyal seien: Männer die lebendig in die Fundamente eines Königshauses ein- gemauert wurden, hielten sich selbst da- durch geehrt, dass sie so aufgeopfert wurden, und die Bevölkerung eines Sclavendistricts »erklärte selbst, es sei »hier Pflicht, den Häuptlingen zur Nahr- »ung und zum Opfer zu dienen<. No empfinden auch die Leute in Dahome für den König »eine Mischung von Liebe »und Furcht, die beinahe der Verehrung »gleichkommt«. Im alten Aegypten, »wo »blinder Gehorsam das Oel war, wel- »ches den gleichförmigen Gang der gros- »sen Maschinerie« des socialen Lebens möglich machte, zeigen uns die Monu- mente auf jeder Seite mit ermüdender Wiederholung die alltäglichen Acte der Unterwerfung — von Sclaven und ande- ren gegenüber dem todten Herrn, von Kriegsgefangenen gegenüber dem König und des Königs gegenüber den Göttern. Obgleich aus bereits erwähnten Grün- den die anhaltenden Kriege doch bei den Spartanern nicht ein höchstes Staats- oberhaupt erzeugten, welchem ent- sprechender Gehorsam hätte bezeugt werden können, so war doch die Unter- würfigkeit gegen das an Stelle desselben entstandene staatliche Agens nicht min- der tief eingewurzelt: der Einzelwille war in allen. Dingen dem durch die hergebrachten Autoritäten zum Ausdruck kommenden öffentlichen Willen unter- geordnet. Im alten Rom zeigte sich gleichfalls in Ermanglung eines von Gott abstammenden Königs, welchem die Unterwürfigkeit bewiesen werden konnte, eine strenge Unterordnung un- ter einen erwählten König, die nur bei speciellen Gelegenheiten durch die Aeus- serung der eigenen Ansicht eingeschränkt wurde, und das Princip des absoluten Gehorsams, wenn auch etwas gemildert in den Beziehungen des Gemeinwesens im ganzen zu seinem herrschenden Agens, wurde innerhalb des Gemeinwesens selbst durchaus streng festgehalten. Und dass in der ganzen europäischen Geschichte sowohl im kleinen als im grossen Maass- stabe das Gefühl der Loyalität überall da vorherrschend war und noch ist, wo der kriegerische Typus des Gesell- schaftsbaues ausgesprochen erscheint, ist eine Wahrheit, die ohne Einzel- beweise zugestanden werden wird. Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 47 Von den auffälligsten Zügen der Natur kriegerischer Gesellschaften wol- len wir uns nun zu gewissen anderen weniger auffallenden Erscheinungen wen- den, welche daraus entspringen und deren Folgen auch weniger stark her- vortreten. Mit der Loyalität verbindet sich naturgemäss Vertrauen — beide sind eigentlich kaum von einander zu trennen. Die Bereitwilligkeit, dem Be- fehlshaber im Kriege zu gehorchen, setzt den Glauben an seine kriegerischen Fähig- keiten voraus, und die Bereitwilligkeit, ihm während des Friedens zu gehorchen, setzt den Glauben voraus, dass seine Fähigkeiten sich auch auf bürgerliche Angelegenheiten erstrecken. Er impo- nirt schon ohnedies der Einbildungs- kraft der Menschen und jeder neue Sieg erhöht seine Autorität. Es kommen immer häufigere und bestimmtere Be- weise seines übermächtigen Einflusses auf das Leben der Menschen vor und diese erzeugen die Idee, dass seine Macht schrankenlos sei. Unbegrenztes Vertrauen in die Regierungseinricht- ungen wird dadurch gepflegt. Ganze Generationen, die unter der Herrschaft eines Systems erzogen wurden, welches alle privaten und öffentlichen Angelegen- heiten controlirt, nehmen es stillschwei- gend für ausgemacht an, dass diese An- gelegenheiten überhaupt nur auf solche Weise behandelt werden können. Wer keineErfahrung von irgend einem anderen Regime besitzt, der wird schliesslich ganz unfähig, sich eine andere Einricht- ung vorzustellen. In solchen Gesell- schaften, wie z. B. im alten Peru, wo, wie wir gesehen haben, die Herrschaft der strengen Regelung alle Dinge durch- drang, war auch nicht der geringste Anlass dazu gegeben, um sich ein Bild von einem industriellen Leben machen zu können, das freiwillig fortgeführt wird und sich von selber regelt. In Zusammenhang damit zeigt sich ferner ein Zurücktreten der Initiative des Einzelnen und in Folge dessen ein gewisser Mangel an privatem Unter- nehmungsgeist. In demselben Maasse, als ein Heer fester organisirt wird, ge- langt es immer mehr in einen Zustand, wo die selbständige Thätigkeit der ein- zelnen Glieder verboten ist, und in dem- selben Maasse, als diese regiments- mässige Einrichtung die Gesellschaft im ganzen immer mehr durchdringt, hat auch jedes Glied derselben, da es fast bei jedem Schritt von oben herab ge- leitet oder gehemmt wird, nur noch wenig oder gar keine Gewalt mehr, seine Geschäfte anders als auf dem her- gebrachten Wege zu betreiben. Sclaven können nur thun, was sie von ihren Herren gelehrt wurden, ihre Herren kön- nen nichts unternehmen, was ausser- gewöhnlich ist, ohne officielle Erlaubniss dazu zu haben, und eine solche Erlaub- niss ist von den localen Autoritäten nicht zu bekommen, bevor nicht die höheren Gewalten in allen ihren Abstuf- ungen vorher darum befragt worden sind. Deshalb ist "dann der so erzeugte geistige Zustand ein solcher der passiven Aufnahme und Erwartung. Wo der krie- gerische Typus vollständig entwickelt ist, da muss alles und jedes durch öffent- liche Werkzeuge ausgeführt werden, nicht blos aus dem Grunde, weil dieselben alle Gebiete des Handelns schon in Anspruch nehmen, sondern auch aus dem ferneren Grunde, weil, wenn sie dies nicht thäten, keine andern entsprechenden Werkzeuge an ihre Stelle treten würden; die dazu antreibenden Ideen und Gefühle sind völlig verschwunden. Hier dürfen wir auch nicht einen begleitenden Einfluss auf die intellectuelle Beschaffenheit der Menschen übersehen, welcher mit den eben erwähnten mora- lischen Einflüssen zusammenwirkt. Unter solchen Verhältnissen wird nur persön- liche Verursachung anerkannt und die Vorstellung von einer unpersönlichen Verursachung ist verhindert, sich zu entwickeln. Der primitive Mensch hat keine Idee von Ursache im modernen 48 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Sinne. Die einzigen Agentien, welche in seine Theorie von den Dingen ein- treten, sind lebende Personen und die Geister von Verstorbenen. Alle unge- wöhnlichen und selbst jene gewöhn- licheren Vorkommnisse, welche doch einem gewissen Wechsel unterliegen, schreibt er ohne weiteres übernatür- lichen Wesen zu. Und dasselbe System der Erklärung erhält sich auch noch in den Anfangsstadien der Civilisation, wie wir das z. B. bei den Griechen Homer’s noch sehen, welche Wunden, Tod und Rettung in der Schlacht der Feindschaft oder dem Beistande der Götter zuschrieben und glaubten, gute und schlechte Thaten würden auf gött- lichen Antrieb ausgeführt. Fortdauer und Weiterbildung der kriegerischen Formen und Thätigkeiten stärkt natür- lich noch diese Denkungsart. In erster Linie hindert dieselbe indirect die Ent- deckung von causalen Beziehungen. Die Wissenschaften wachsen aus den Künsten hervor — sie beginnen als Verall- gemeinerungen von Wahrheiten, welche die Uebung in den Künsten zu Tage gefördert hat. In demselben Maasse nun, als sich die producirenden Thätig- keiten der Art nach vermehren und immer complicirter werden, ist auch die Möglichkeit gegeben, immer zahlreichere Gleichförmigkeiten zu erkennen, und da- durch entstehen und entwickeln sich die Ideen von nothwendigen Beziehungen und physikalischen Ursachen. Dem ent- sprechend drängt aber der Militarismus, weil er den industriellen Fortschritt ent- muthigt, die Ersetzung der Ideen von persönlichen Agentien durch die Ideen von unpersönlichen Agentien fortwährend zurück. In zweiter Linie geschieht das- selbe durch directe Unterdrückung der geistigen Cultur. Es ist ganz natür- lich, dass die Beschäftigung mit der Aufnahme von neuen Kenntnissen gleich der Beschäftigung mit der Industrie von einem dem Krieg ergebenen Volke nur mit Verachtung angesehen wird. Die Spartaner zeigen uns dies Verhältniss deutlich im Alterthum und es tritt aber- mals während der Feudalzeit in Europa hervor, als das Studium für eine nur den Schreibern und den Kindern des gemeinen Volkes angemessene Beschäf- tigung galt. Und es ist klar, dass, je mehr die kriegerischen Thätigkeiten dem Fortschritt der Wissenschaften im Wege stehen, sie desto mehr auch jene Eman- cipation von primitiven Ideen verzögern, welche eben zur Erkenntniss natürlicher Gleichförmigkeiten führt. Drittens und hauptsächlich wird aber der fragliche Einfluss ausgeübt durch die lebhaften und fortwährenden Erfahrungen von persön- lichen Wirkungen, welche die kriegerische Verfassung der Gesellschaft darbietet. Im Heer wird jede Bewegung vom Ober- befehlshaber an bis herab zum Rekruten, der gedrillt wird, von einem Höheren geleitet und so sieht man auch in einer Gesellschaft, je kunstvoller ihre »Regi- mentation« ausgestaltet ist, alle Dinge zu jeder Zeit so oder so geschehen nur nach dem Willen des Herrschers und seiner Untergebenen. Dadurch kommt es, dass bei der Erklärung von socialen Erscheinungen nur persönliche Verur- sachung als wirksam anerkannt wird. Die Geschichte erscheint nur als eine Chronik von den Thaten hervorragender Männer und es wird stillschweigend an- genommen, dass Gesellschaften durch sie geradezu gebildet worden seien. Und da die Vorstellung von einer unpersön- lichen Verursachung der ganzen Denk- weise durchaus fremd ist, so bleibt auch der Gang der socialen Entwicklung un- erkannt. Die natürliche Entstehung so- cialer Gebilde und Functionen ist eine vollständig fremdartige Idee und erscheint sogar abgeschmackt, wenn sie irgendwo aufgestellt wird. Die Vorstellung von einem sich selbst regulirenden socialen Process ist geradezu unfassbar. So mo- delt der Militarismus die Bürger zu einer Form um, die nicht allein moralisch, sondern auch intellectuell ihm angepasst Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. \ 49 ist — zu einer Form, in der sie auch nicht mehr anders als nach dem her- gebrachten System zu denken vermögen. Nach drei Richtungen also prägt sich der Charakter des kriegerischen Typus der staatlichen Organisation be- sonders aus. Fassen wir nun noch die Uebereinstimmung zwischen denselben ins Auge, welche uns ein Vergleich der Resultate erkennen lässt. Es müssen gewisse, von vornherein selbstverständliche Bedingungen er- füllt sein, damit eine Gesellschaft be- fähigt sei, sich inmitten anderer feind- seliger Gesellschaften zu erhalten. Um ihre gemeinschaftliche Thätigkeit im höchsten Grade wirkungsfähig zumachen, muss sich derselben, weil sie zur Er- haltung des gemeinsamen Lebens noth- wendig ist, jeder Einzelne anschliessen. Unter sonst gleichen Verhältnissen wird die kämpfende Macht da am grössten sein, wo auch diejenigen, welche nicht selber kämpfen können, ausschliesslich zum Unterhalt und zum Beistand der Kampffähigen beitragen; und daraus er- gibt sich sofort, dass der arbeitende Theil nicht grösser sein darf, als gerade zudiesemEndzwecke erforderlich ist. Wer- den nun die Anstrengungen Aller direct oder indirect für die Zwecke des Krieges ausgenutzt, so werden sie sich am wirk- samsten zeigen, wenn sie möglichst voll- ständig combinirt sind; es muss also ausser einer festen Vereinigung der Kämpfenden auch ein ebensolcher Zu- sammenhang der Nichtkämpfenden mit jenen stattfinden, so dass ihr Beistand in jedem Augenblick und in vollem Um- fange verwerthbar ist. Um diesen Er- fordernissen zu genügen, muss das Le- ben, die gesammte Thätigkeit und das Eigenthum jedes Individuums ohne wei- teres der Gesellschaft zur Verfügung stehen. Diese allgemeine Dienstpflicht, diese Combination und dieses Aufgehen der individuellen Ansprüche in den öffentlichen setzen aber ein despotisches Kosmos, V. Jahrgang (Bd. X). controlirendes Agens voraus. Damit der Wille des Kriegshäuptlings auch in einem grossen Aggregat wirksam sei, müssen untergeordnete Centren in zahlreichen Abstufungen vorhanden sein, durch welche die Befehle übermittelt und deren Ausführung überwacht werden können, nicht blos im kämpfenden, sondern auch im nichtkämpfenden Theil. Ebenso wie der Befehlshaber im Kriege dem Sol- daten sagt, sowohl was er nicht zu thun als was er zu thun hat, so muss die Herrschaft auch in dem ganzen kriegerischen Gemeinwesen sowohl ne- gativ als positiv regulirend sein; sie zieht nicht nur gewisse Schranken, son- dern schreibt auch bestimmte Wege vor: der Bürger sowohl wie der Soldat lebt unter dem Einfluss eines Systems zwangs- weisen Zusammenwirkens. Die Entwick- lung des kriegerischen Typus bedingt ferner eine zunehmende Festigkeit des Baues, da der Zusammenhang, die Com- bination, die Unterordnung und die Re- gelung aller Thätigkeiten, welchen die Einheiten einer Gesellschaft dabei un- terworfen werden, unvermeidlich ihr Ver- mögen abstumpfen, von sich aus ihre sociale Lage, ihre Beschäftigung und ihren Wohnort zu ändern. Indem wir dann verschiedene Ge- sellschaften der Vergangenheit und der Gegenwart, kleinere und grössere, die sich in höherem Grade durch kriege- rische Verhältnisse auszeichneten oder noch auszeichnen, genau darauf hin prüften, zeigte sich uns auch a poste- riori, dass trotz aller Verschiedenheiten, welche auf der Race, den Lebensver- hältnissen und dem Grade der Ent- wicklung beruhten, doch fundamentale Aehnlichkeiten von genau derselben Art bestehen, wie sie oben a priori gefol- gert worden waren. Dahome und Russ- land in der Neuzeit sowohl wie Peru, Aegypten und Sparta im Alterthum führten uns jene Herrschaft des Staates über das Leben, die Freiheit und den Besitz desIndividuums vor Augen, welche 4 50 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. einem demKriege angepassten System an- gemessen ist. Und dass in Verbindung mit den weiteren Veränderungen, wel- che eine Gesellschaft noch mehr für krie- gerische Thätigkeiten geeignet machen, sich in derselben eine ganz ähnliche Beamtenherrschaft, eine Dietatur und eine strenge Oberaufsicht verbreiten, wie sie das Leben des Soldaten regeln, zeigte sich uns im kaiserlichen Rom wie im kaiserlichen Deutschland und sogar in England seit dem Beginn seiner neueren aggressiven Politik. Schliesslich kamen wir zu den Zeug- nissen, welche uns der entsprechend an- gepasste Charakter der Menschen lie- ferte, die solche kriegerische Gesell- schaften zusammensetzen. Da der Erfolg im Kriege für des höchsten Ruhmes würdig gilt, so kommen diese Menschen dazu, Güte mit Tapferkeit und Stärke zu identificiren. Die Rache wird bei ihnen zu einer heiligen Pflicht, und indem sie auch zu Hause nach dem Gesetz der Wiedervergeltung handeln, das ihnen nach aussen hin zur Richtschnur dient, sind sie zu Hause nicht minder wie aus- serhalb bereit, Andereihren eigenen Zwek- ken aufzuopfern: nachdem ihr Mitleid im Krieg beständig ertödtet wurde, kann es unmöglich während des Friedens wieder lebendig sein. Sie müssen einen Patriotismus besitzen, welcher den Tri- umph ihrer Gesellschaft für den höchsten Endzweck alles Handelns ansieht; sie müssen die Loyalität besitzen, aus wel- cher der Gehorsam gegen die Autorität entspringt, und um gehorsam sein zu können, müssen sie auch ein unerschüt- terliches Vertrauen haben. Mit dem Glauben an die Autorität und der damit zusammenhängendenBereitwilligkeit,sich regieren zu lassen, verbindet sich na- türlich ein relativ geringes Vermögen der eigenen Initiative. Die Gewohn- heit, alle Dinge unter officieller Bevor- mundung zu erblicken, fördert den Glauben zu Tage, dass die officielle Be- vormundung überall nothwendig sei, und ein Lebenslauf, in welchem persönliche Verursachung zum täglichen Brod ge- hört und die Erfahrungen von unper- sönlicher Verursachung geradezu aus- geschlossen sind, erzeugt natürlich eine Unfähigkeit, sich irgend welche sociale Processe vorzustellen, welche unter dem Einfluss von sich selbst regulirenden Ein- richtungen : ablaufen könnten. Diese Eigenthümlichkeiten der individuellen Natur aber, welche, wie wir sahen, noth- wendige Begleiterscheinungen des krie- gerischen Typus sind, stellen sich auch als diejenigen heraus, die man bei Glie- dern kriegerischer Gesellschaften that- sächlich beobachten kann. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Hypothese eines gasförmigen Erdkerns. In der ersten Sitzung des deutschen Geographentages, die am 7. Juni c. in Berlin gehalten wurde, stellte Pro- fessor ZörprrıTz aus Königsberg in einem Vortrage >über die Mittel und Wege, zur Kenntniss des innern Zustandes der Erde zu gelangen«, die Hypothese auf, dass das Erdinnere nicht fest oder feuer- flüssig sein, wie die meisten Geophysiker annehmen, sondern aus comprimirten Gasen bestehen möchte. Die Erforschung des Erdinnern durch direkte Beobach- tung wird immer nur in höchst unvoll- kommenem Grade zur Verfügung stehen, da unsere Aufschliessungen des Erdin- nern nur bis ca. 1300 m unter die Oberfläche reichen und keine Aussicht ist, diese Tiefe die doch nur ein Fünftausend- stel des Erdradius beträgt, jemals we- sentlich zu überschreiten, da ferner aber selbst die bei dieser Tiefe gemachten Beobachtungen noch keineswegs alsmass- gebend zur Beurtheilung der weiter im Innern herrschenden Verhältnisse erach- tet werden dürfen. Die indirekte Me- thode bleibe demnach allein übrig. Dass die Temperatur im Erdinnern eine hohe ist, erweisen die Thermen und mehr noch die vulkanischen Laven ; aber auch die letzteren geben kein zuverlässiges Bild über den Zustand der Erdmasse in grosser Tiefe schon um deswillen, weil sie bei dem Wege zur Oberfläche durch Herabsinken von Temperatur und Druck zweifellos Abänderungen erleiden. | theorie Man hat für die Annahme, das Erd- innere sei flüssig, unter anderem die Abplattung der Pole als Stütze benutzt, dabei aber ausser Acht gelassen, dass auch ein ganz starrer Körper vermöge der nie fehlenden Elastieität eine ähn- liche Abplattung durch die Rotation erfahren müsste. Einigermassen unter- richtet sind wir über die Dichte des Erdinnern ; denn da die Dichte der Felsen an der Erdoberfläche 21/g—2?/a, die Durchschnittsdichte des Erdkörpers aber 5,6 beträgt, so muss, regelmässige Zunahme der Dichte nach dem Mittel- punkte zu vorausgesetzt, dieselbe dort etwa gleich der des Silbers oder Bleies sein. Vortragender erörterte nunmehr die Wirkung der Anziehung, welche die Gestirne, vornämlich Sonne und Mond, auf die Erdsubstanz ausüben und die Consequenzen dieser Wirkungen auf das supponirte flüssige Erdinnere, daran den Nachweis versuchend, auf welche Unzuträglichkeiten die Annahme jenes flüssigen Kernes führe. Wesentlich mehr für sich habe die auf den ersten Blick bizarr erscheinende Hypothese eines gasförmigen Erdkernes, welche nicht nur mit der bisher bestbegrün- deten Kant-Laplace’schen Weltbildungs- sich gut vertrage, sondern auch durch die Rırrer’schen Unter- suchungen eine beachtenswerthe Unter- lage erhalte. Rırrrer fand, dass, wenn eine Gasmasse sich selbst überlassen bleibt, sie Kugelgestalt annimmt; Ab- kühlung bez. Wärmeausstrahlung hat 4* 592 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. eine Zusammenziehung der äusseren Schicht, und damit einen solchen Druck auf das Innere zur Folge, dass dessen Temperatur fünfmal so viel steigt, als die Wärmeabgabe überhaupt betragen kann. Auf den Erdball angewendet, würde diese Thatsache eine Temperatur von 100 000 Graden, einen Druck von 3 Millionen Atmosphären und eine Dichte gleich dem 145fachen der Dichte des Wassers am Mittelpunkt der Erde bedingen, in einer Tiefe von einem Zehntel des Erdradius bereits von 19000 Grad Wärme. Allerdings ist hierbei vorausgesetzt, dass das Mariotte- Gay-Lussac’sche Gesetz auch für jene abnormen Temperatur- und Druck- Verhältnisse in Giltigkeit bleibe, aber unter allen Umständen würden immer am Erd-Mittelpunkte über 20 000 Grad Wärme herrschen. Bei solcher Höhe der Temperatur sei aber ganz sicher der sogenannte kritische Punkt für die Erdsubstanz, d. h. also derjenige, bei welchem dieselbe überhaupt noch durch Druck flüssig zu machen, bez. flüssig zu erhalten ist, längst überschritten und demnach ein gasförmiger Zustand vorhanden. Allerdings sei die Gas- masse ungeheuer zusammengepresst und demnach von sehr grosser Dichtigkeit zu denken. Eine Sonderung der Gas- masse in verschiedene Bestandtheile nach deren specifischen Gewichten könne nicht angenommen werden, viel- mehr würde die Sonderung erst an der Grenze des Gaskernes, also beim Be- geinne der flüssigen Kruste eintreten. Obschon die ganze Hypothese noch mancherlei Schwierigkeiten biete, so löse sie doch manche bisherige Räthsel in befriedigender Weise, und insbe- sondere komme sie der Geologie sehr entgegen, da deren Forschungen immer dringender darauf hinweisen, dass die Erdrinde durch Horizontalschub ge- staltet (zu Gebirgen) sei, und hiermit die Nothwendigkeit erwächst, eine er- hebliche Zunahme des Ausdehnungs- Coöfficienten nach dem Erdinnern zu anzunehmen. Das sei aber nur zulässig, wenn der Erdkern gasförmig gedacht werde. (? Red.) Redner schloss den Vortrag mit dem Hinweise auf die Nothwendigkeit fernerer Begründung der Hypothese, die allerdings augen- scheinlich sehr schwierig sei. Die Geschichte der Öypressen (Cupressineae). (Nach STARKIE GARDNER.) In Hooker’s Genera Plantarum bil- den die Cupressineen, von denen acht Gattungen aufgeführt werden, den ersten Tribus der Coniferen. Die Gupressineen sind grosse, sehr harzreiche Bäume oder Gesträuche, mit kleinen schuppenähn- lichen Blättern. Die Zapfen sind klein und kuglig, mit sechs oder acht, selten zehn, schildförmigen und ausdauernden Zapfenschuppen, mit Ausnahme des Wachholders, bei welchem sie zu einer fleischigen Zapfenbeere (Galbulus) ver- schmelzen. Die Samen sind klein, zu- sammengedrückt, häufig dreieckig und, mit Ausnahme von Jumniperus und der biota-Abtheilung der Gattung Thauja, mit kleinen häutigen Flügeln an den Ecken versehen. Die Ordnung enthält viele der härtesten aller lebenden Holz- gewächse. Ihr Ursprung kann möglicherweise bis zu der permischen Gattung Ullman- nia rückwärts verfolgt werden, und sie scheinen während der Jura- und Weal- den-Periode, nach der Häufigkeit des als Cupressinoxylon bezeichneten Holzes zu urtheilen, die herrschende Ordnung gebildet zu haben. Die älteren als Widdringtonites, Echinostrobus, T’huyites und Thujopsis beschriebenen Formen sind trotz ihres grossen Interesses noch wenig bekannt, und ebenso steht es mit den Cupressineen der Kreidezeit, aber mit dem Anbruch der Tertiärperiode erscheinen die meisten jetzt lebenden Gattungen und anscheinend bereits Kleinere Mittheilungen und Journalschau. ebensosehr von einander verschieden, wie heutzutage. Einige wenige Cupressineen, wie Cypressen- und einzelne Wachholder- Arten, bewohnen sumpfige und zur Ueber- schwemmung neigende Plätze, während andere Arten derselben Gattungen die luftigsten Berge auswählen, und fast alle andern Holzgewächse an Härte über- treffen, wie denn in Central-Asien Wach- holder und Öypressen in Höhen von 15 000 his 16000 Fuss angetroffen werden. Manche von ihnen scheinen im Stande, sich sehr verschiedenen klimatischen Grenzen anzupassen. Fitzroya, eine stattliche, hundert Fuss hohe Ceder des westlichen Abhanges der patagonischen Gebirge, schwindet an den Grenzen des ewigen Schnees zu einem kleinen, wenige Zoll hohen Busch zusammen und der chilensische Libocedrus, der auf den Cordilleren hundert Fuss hoch wird, ist in Feuerland ein kleiner Zwergbusch. Von allen Gattungen aber ist Juniperus die härteste, da sie sich in niedrigen Büschen auf vielen Gebirgen, weit über die Baumgrenze ausbreitet, und z. B. im Süden noch die Felsklippen des Cap Horn bedeckt (J. wwifera) und nach Norden bis Labrador, Neufundland, Hudsonsbai und Grönland vordringt (J. canadensis). “ Obgleich verhältnissmässig weniger massig als die Sequoien und Fichten, erreichen einige Arten dennoch colossale Dimensionen, wie z.B. die rothe Oregon- CGeder (Thuja gigantea). Dieser Baum, welchen Gorvon als 50—150 Fuss hoch beschreibt, und dem HerscHeEu 200 Fuss beimisst, scheint in Wirklichkeit bis- weilen eine Höhe von 325 Fuss und einen Durchmesser von 22 Fuss zu er- reichen, wenigstens befand sich auf der Weltausstellung zu Philadelphia eine vom Staate Oregon ausgestellte riesen- hafte Bohle, von der angegeben war, dass sie 118 Fuss über der Erde von einem Stamme obiger Dimensionen ge- schnitten sei. Libocedrus decurrens 59 überschreitet 200 Fuss Höhe und die düstere Cypresse des Himalaya (Cu- pressus torrulosa) hat man 150 Fuss hoch und 16 Fuss im Umfange, fünf Fuss über dem Boden messend, ange- troffen. Die Hölzer vieler Arten sind werth- voll, diejenigen von F'renela colummaris, Callitris quadrivalvis und einiger Jumi- ı perus-Arten werden für die feine Möbel- arbeit wegen der Maserung zu Fourni- turen geschätzt. Das gefleckte Grund- stammholz der »Thuja« des Plinius, und vom »Citrus»> des Horaz erreichten während der römischen Weltherrschaft fabelhafte Preise. Cicero soll eine Mil- lion Sestertien (ca. 150 000 Mark) für einen aus solchem Holz gemachten Tisch bezahlt haben, und von zwei derartigen Tischen, die dem König Juba gehört hatten, erreichte einer den Preis von 1 200 000 Sestertien, obwohl der grösste dieser Tische, von dem Nachrichten vor- handen sind, nur 4!/2 Fuss im Platten- durchmesser besass Ausserdem liefern die hierhergehörigen Pflanzen einige der geschätztesten Gummata, Harze, Balsame und Gummiharze. Die erste und paläontologisch wich- tigste Gattung ist Callitris. Man theilt sie in vier Unterabtheilungen, welche von mehreren Autoren als verschiedene Gattungen angesehen werden, nämlich 1) Pachylepis oder Widdringtonia, 2) Te- traclinis oder Callitris im engern Sinne, 3) Hexaclinis oder Frenela und 4) Octo- clinis. Die erste Abtheilung wird mit einem Fragezeichen als Widdringtonites aufgeführt, von dem Lias der Schweizund Württembergs und vom Wealden und den Kreideschichten Norddeutschlands, sowie den Neocomschichten Grönlands. Widdringtonia ist zweifellos von SAPORTA zu Aix und an anderen eocänen Oert- lichkeiten Frankreichs gefunden worden, ferner im Miocän von Oeningen und Bilin, und bei Abwesenheit von Früch- ten zweifelhaft im Eocän Grönlands. 54 Sie ist heute auf Südafrika und Mada- gaskar beschränkt. Die zweite Sektion, Callitris im en- gern Sinne, ausgezeichnet durch die vier abgestutzten und paarweise ste- henden Zapfenschuppen, wird jetzt durch eine einzige auf Nordafrika beschränkte Art repräsentirt. Ihre Früchte hat man indessen nicht blos zu Sheppey, son- dern auch bei Aix, St. Zacharie und Armissan in Frankreich und bei Häring in Tyrol angetroffen. Zwischen diese und die nächste Sektion von Callitris, müsste, falls sie überhaupt zu den Cupressineen gehört, die ausgestorbene Gattung (?) Soleno- strobus gestellt werden, welche Enp- LICHER auf BOWERBANK's Abbildungen mit Früchten von je fünf Schuppen be- gründet hat. Die dritte Sektion F'renela hat einen Zapfen aus sechs paarweise gegenüber- gestellten Schuppen und ist jetzt gänzlich auf Australien und Neu-Caledonien be- schränkt, woselbst gegen zwei Dutzend mehr oder weniger bekannte Arten vor- kommen. Eine der ausgezeichnetsten Cupressineen-Früchte, die man jemals im fossilen Zustande angetroffen hat, entspricht sonst genau der Frenela Enndlicheri vom Port Jackson, hat aber acht Schuppen, und gehört deshalb in die Sektion Octoclinis, die jetzt ebenfalls auf eine einzige australische Species reducirt ist. Wir erhalten so den sichern Beweis, dass verschiedene Abtheilungen der Gattung Callitris während der Eocän- Periode in unsern Breiten. gediehen, und dass somit die paläarktischen, äthiopischen und australischen botani- schen Reiche, sich zu jener Zeit in einem gewissen Grade übereinander wegschoben und vermischten. Sie schei- nen indessen nicht in grosser Zahl bis zu unsern Breiten nördlich gelangt zu sein. Die Gattung Actinostrobus scheint nur durch ETTInGsHAUSEN zu Sagor (1859) Kleinere Mittheilungen und Journalschan. fossil gefunden worden zu sein, und auch die betreffenden beiden Fund- stücke sind sehr unbestimmt, viel kleiner als irgend eine jetzt lebende Art, so dass sie SCHIMPER in seiner Artenliste übergangen hat. Die jetzt lebende patagonische Gattung Fitzroya hat keinen bekannten fossilen Vertreter. Die vierte Gattung Zibocedrus, aus- gezeichnet durch ihre länglichen , aus 4—-6 lederartigen und sehr ungleichen Schuppenblätter : gebildeten Zapfen , und durch ihre dicke, schuppenartige, sehr eigenthümliche Laubbildung, bildet gelegentlich sehr hohe Bäume, die sich über alle Gegenden mit Ausnahme des Örientsund Aethiopiens verbreitethaben, obwohl die gegenwärtig lebenden Arten ein beschränktes Wohngebiet haben. Seltsam ist das Vorkommen von Libo- cedrus in den Tertiärschichten. Er er- scheint schon unterhalb des London- Thons zu Bromley, verschwindet dann bis zur Miocänzeit völlig aus Europa, erscheint in dieser wieder zu Bilin, Schossnitz, Radoboj, Armissan, Sini- gaglia, Bonn, Monod in der Schweiz und in den Bernsteinlagern Preussens. Eine andere Art, die für verwandt mit der lebenden chilensischen Art gehalten wurde, ist im Eocän Grönlands gefun- den worden. Da die meisten Zibocedrus- Arten beträchtliche Höhen bewohnen, sogar die Schneegrenze erreichen und alle für das englische Klima hart sind, so liegt es nahe, zu vermuthen, dass vor der Ablagerung des London-Thons das Klima viel kühler war -als in den folgenden eocänen Zeiten. Dass Zibo- cedrus wirklich während des spätern Theils der Eocänperiode im gemässigten Europa nicht vorhanden war, steht ausser allem Zweifel. Thuja hat kleine ovale oder läng- liche Zapfen aus 6—-10 klappenartigen ungleichen Schuppen und eine der des Libocedrus ähnliche , obwohl weniger symmetrische Blattbildung. Es werden 12—21 Arten aufgeführt, die in fünf Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 55 Sektionen getheilt werden. Einige Arten stellen gigantische Bäume dar. Die grösste Majorität ist in Japan zu Hause, nur zwei Arten bewohnen die neoarktischen Regionen. Die Gattung erscheint zuerst im arktischen Eocän, steigt dann während der Miocänperiode in Europa hernieder , wo sie weite Bernstein erzeugende Wälder an den Küsten des baltischen Meeres bildet. Die ältesten südlichen Fundstätten, von denen Spuren bekannt sind, scheinen die von Armissan in Frankreich zu sein, obwohl die Gattung dort noch selten ist, und die späteren Miocän- bildungen von Marseille und Tuskany. Von England sind Thuja-Reste unbe- kannt und das Chamaecyparites der älteren europäischen Eocänschichten wird jetzt auf Sequoia bezogen. Die sechste Gattung, der stattliche Cupressus, ist einzig von zwei miocänen Oertlichkeiten Deutschlands im fossilen Zustande bekannt. Die lebenden Arten werden meist in gebirgigen Regionen gefunden. Die siebente Gattung, Juniperus, ist sehr verbreitet und in jeder geographischen Region mit Ausnahme von Australien gegenwärtig, stellt auch eine der drei in England einheimischen Gymnospermen dar. Sie ist im fossilen Zustande aufgeführt von Häring, Aix und den Bernsteinschichten Preussens, . aber die Kleinheit der Fragmente und die Abwesenheit jeder Spur von Beeren macht sein Vorkommen besonders an den ersteren Lokalitäten etwas zweifel- haft. Die Verbreitung der in den Tertiär- schichten sicher erkannten Cupressineen erscheint so als eine völlig natur- gemässe, indem die harten Gattungen niemals mit der mehr tropischen eocänen Flora vergesellschaftet vorkommen und die subtropischen Gattungen nicht die gegenwärtigen gemässigten Breiten über- schreiten , noch sich in die spätere miocäne Flora erstrecken. Harte Arten ns bewohnten diese Breiten in den alten, gemässigten eocänen Zeiten, zogen sich zurück, als die Temperatur zunahm, kehrten aus dem Norden zurück, als sie wieder abnahm, und kamen endlich bis nach Nord-Italien. Der Habitus und sogar die Arten der Gattungen scheinen sich nicht wesentlich seit dem Beginn der tertiären Zeiten geändert zu haben, und sie scheinen für physiologische Untersuchungen ver- gleichsweise sichere Daten zu liefern. Die bemerkenswertheste von ihnen be- wiesene und über allen Zweifel er- hobene Thatsache ist, dass heute von weiten geographischen Regionen ge- trennte Typen zur Eocän-Zeit neben- einander in Westeuropa lebten. Da die wahre Beschaffenheit der verschiedenen eocänen und miocänen Floren, besonders durch die Arbeiten SAPORTA’S immer mehr entschleiert wird, so werden die Temperaturschwankungen, welche Europa und Amerika erfahren haben, messbar und ihre Ebbe und Fluth berechenbar werden, so dass einige Annäherung an die Gewissheit zu erreichen sein wird. (Nature No. 605. June 1881.) Die Entwickelung der Rippenquallen bildete das Thema eines Vortrages, wel- chen Prof. Auuman bei der diesjährigen Jahresversammlung der Londoner Linne’- schen Gesellschaft (24. Mai) hielt, und dem wir das Folgende, nach einem Re- ferate der Nature (2. Juni 1881) ent- nehmen. Wie der Vortragende früher gezeigt hat, deutet sich gleich nach den ersten Stadien der Eifurchung eine bemerkenswerthe Eigenthümlichkeit dar- in an, dass die Furchung nicht länger gleichmässig verläuft, sondern viel ener- gischer in gewissen Furchungssphären als in den andern stattfindet, wobei die ersteren in eine Masse kleiner Zel- len zertheilt werden, welche allmählig 10 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. die anderen umhüllen, so dass in die- ser frühen Entwickelungsstufe die Grund- masse zu den beiden Keimblättern, Ek- toderm und Entoderm erzeugt wird. Er zeigte, wie der so gebildete Kör- per eine innere Höhlung bekommt, wel- che bald durch eine Oeffnung mit dem Aussenraume communicirt, und so, wie besonders durch die Untersuchungen von CHun gezeigt wurde, die Verhält- nisse einer Gastrula darbietet, wie der Gastrula-Mund später durch die fort- währende Ausdehnuug des Ektoderms über denselben geschlossen wird; wie eine neue Oeffnung, der bleibende Cte- nophoren-Mund, an der entgegengesetz- ten Höhlung erscheint, nachdem sich das Ektoderm dort eingefaltet hat, um den bleibenden Magen zu bilden, der sich in die Centralhöhlung öffnet, wel- che zu dem Trichter wird, von welchem alle die Gefässe entspringen, welche bestimmt sind, die ernährende Flüssig- keit durch den Körper zu vertheilen; wie an der früher von dem Gastrula- Munde eingenommenen Stelle, gewisse Zellen des Ektoderms differenzirt wer- den, um das rudimentäre Nervensystem zu bilden; und wie die grossen Gefäss- stämme durch die Differentiation von Theilen des Entederms entstehen, in welches sich Ausstülpungen des Ma- gens ausbreiten. Prof. Auuman ging hiernach weiter auf die Thatsachen ein, die sich auf die Metamorphosen beziehen, welchen die Ötenophoren nach dem Verlassen des Eies und bis zum Zustande der Reife unterliegen, Thatsachen, für deren Er- kenntniss wir hauptsächlich den Forsch- ungen von ALEXANDER AGASSız und CHUN verpflichtet sind. Er zeigte, wie die mit Lappen versehene Abtheilung der Gte- nophoren, nach den Untersuchungen von A. Acassız bei Bolina und nach denen von Cnun bei Kucharis (zuerst) gänzlich jener Lappen ermangeln, die eine so charakteristische Eigenthüm- lichkeit des erwachsenen Thieres aus- machen, und wie die junge Rippenqualle zu dieser Zeit alle Charaktere der ein- facher gebauten Cydippiden zeigt, so dass auch Bucharis gleich einer Mertensia in der Richtung der Magenachse zusammen- gedrückt ist, während bei dem erwach- senen Thiere die Zusammendrückung des Körpers im rechten Winkel zu der früheren erfolgt ist; wie die Lappen später seitlich von dem oralen Theile des Körpers auswachsen; wie die meridio- nalen Gefässe des Körpers, die zuerst blind endigen, sich in die rudimentären Lappen ausbreiten, und dort die reichen Verschlingungen und Windungen bilden, welche bei dem erwachsenen Thier so auffallend sind. Ausserdem ging er auf Cuun’s be- merkenswerthe Entdeckung der ge- schlechtlichen Reife sehr junger Bucha- ris-Larven ein, woraus eine junge Brut hervorgeht, welche zu der Larvenform, von der sie ausging, zurückkehrt. Ebenso wurden Caun’s Beobachtungen über die Metamorphosen des Venusgürtels (Ces- tum Veneris) mitgetheilt. Es wurde ge- zeigt, wie dieses im ausgewachsenen. Zustande einem langen flatternden Bande gleichende Thier in seiner Jugend eine fast kuglige Form zeigt und alle we- sentlichen Charaktere der Cydippiden besitzt, so dass trotz der äusserst ab- weichenden Charaktere des erwachsenen Thieres das Junge einen Typus des Magengefässsystems zeigt, wie er bei den Rippenquallen allgemein vorkommt. Die allmählige Ausdehnung der Cydip- pidenähnlichen Larve in der Trichter- Ebene verwandelt das Thier in das erwähnte lange Band, wobei zugleich Modificationen in der Zahl und Richt- ung der Schwimmplatten, und ein Er- satz der älteren verschwindenden Ten- takel durch neue eintritt, während die Vertheilung der Gefässe ebenfalls merk- würdige neue Formen erhält. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 57 Fin Käfer mit Schmetterlingsrüssel. Meinen unter diesem Titel im sechsten Bande (S. 302—304) dieser Zeitschrift erschienenen Aufsatz hat der berühmte Verfasser der Bibliotheca entomologica, Professor Dr. H. A. Hagen in Cambridge, einer kurzen Besprechung unterzogen, aus welcher er die Unannehmbarkeit meiner Schlüsse folgert*. Obwohl die Abstammung der Schmetterlinge von den Phryganiden, welche ich in diesem Auf- satze als höchst wahrscheinlich voraus- gesetzt habe, durch alle bis jetzt an- gestellten Vergleiche nur wahrscheinlich, durch keine einzige bekannte Thatsache unwahrscheinlich gemacht wird, so hätte sich doch gegen diese meine Voraus- setzung sehr wohl geltend machen lassen, dass die betreffenden Vergleiche eben noch keineswegs so umfassend und ein- gehend durchgeführt worden sind, als Fig. 1 und 2. Nemognatha vom Itajahy von oben und von der Seite (?/ı). 3. Mundhöhle der- selben. 4. Mundhöhle von Nemognatha chrysomelina aus Südfrankreich (*/ı), a. Oberlippe, b. Oberkiefer, c. Unterkiefer, d. Unterlippe, e. Die beiden Kieferladen im Querschnitt stärker vergrössert. mit Recht verlangt werden kann, und ich selbst würde der letzte sein, die Berechtigung einer derartigen Forderung anzufechten: vorläufig genügt mir, dass die Abstammung der Lepidopteren von den Phryganiden die nach dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse bei weitem wahrscheinlichste Annahme ist. Herr HA- * Proceedings of the Boston Society of | Natural History Vol. XX. Febr. 25, 1880. pp- 429, 430. Der Schluss des Artikels, des- GEN wendet sich aber durchaus gar nicht gegen die noch zu unsichere Begrün- dung dieser Annahme, sondern nur gegen die von mir gegebenen Thatsachen und Schlussfolgerungen, und diese erscheinen mir so unantastbar, dass ich der her- vorragenden Stellung, welche dem Herrn HAGEN in der entomologischen Wissen- sen Sep.-Abdruck ich erst gestern erhielt, lau- tet: „I believe the whole speeulation given in Mr. H. MÜLLer’s paper can not be accepted,“ 58 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. schaft mit vollstem Rechte zugestanden wird, eine eingehendere Erörterung seiner Einwendungen schuldig zu sein glaube. Zuvor aber muss ich einen von mir auf- gestellten Satz, den Herr HAGEN miss- verstanden und daher wesentlich ent- stellt wiedergegeben hat, wieder richtig stellen. Herr Hagen schreibt mir näm- lich die Ansicht zu, der Schmetterlings- rüssel habe sich mit einem male (at once) aus den Phryganidenmundtheilen entwickelt, eine Ansicht, die mir nie- mals in den Sinn kommen konnte, da sie aller Analogie entbehrt. Ich sage: »Während die Bienenfa- milie von dem ursprünglichen Grabwes- penmunde bis zu dem ausgeprägten Saug- rüssel der Hummel und Honigbiene die mannigfachsten Abstufungen darbietet, und so die stattgehabte Umwandlung uns noch heute fast Schritt für Schritt erkennen lässt, besteht dagegen zwischen dem Rüssel der Schmetterlinge und dem Munde ihrer muthmasslichen Stamm- eltern, der Phryganiden, eine Kluft, die durch keine Zwischenstufe überbrückt wird< und suche die Erklärung dieses auffallenden Unterschiedes 1) in der ein- seitigeren Beschränkung der Schmetter- linge auf Gewinnung tief geborgenen Honigs, 2) darin, dass bei den Schmet- terlingen nur ein Paar einzelne Stücke der Mundtheile, die Unterkieferladen, bei den Bienen dagegen eine grössere Mannig- faltigkeit von Theilen, nämlich Unter- kiefer, Unterlippe und Lippentaster, zu einem Saugapparate sich umgebildet ha- ben. »Während daher die Ausprägung des typischen Bienenrüssels erst im Ver- laufe vielfacher Verzweigung der Bienen- familie durch zahlreiche Schritte lang- sam und allmählich zur Vollendung ge- diehen ist, scheint dagegen die Voll- endung des Schmetterlingsrüssels schon bei dem ursprünglichen gemeinsamen Stamm der Schmetterlingsfamilie, noch vor seiner Differenzirung in verschiedene Zweige erfolgt zu sein. So allein, so aber auch in einfachster Weise scheint mir die unüberbrückte Kluft zwischen Phryganidenmund und Falterrüssel er- klärbar. Für die Richtigkeit der einzi- gen vielleicht etwas zu gewagt erschei- nenden Voraussetzung dieser Erklärung, dass nämlich die Umbildung zweier Kie- ferladen in einen Schmetterlingsrüssel in verhältnissmässig sehr kurzer Zeit (nicht at once!) möglich gewesen sein müsse,« führe ich sodann die Gat- tung Nemognatha als unantastbaren Zeu- gen an, da sie >»in ihren jetzt noch lebenden Arten diese Umwandlung uns thatsächlich vor Augen stellt.« Bei ihr hat sich in der verhältnissmässig- kurzen Zeit der Differenzirung ei- ner Gattung in einzelne Arten das- selbe erreignet, was wir, um die un- "überbrückte Kluft zwischen Schmetter- lingsrüssel und Phryganidenmund ver- stehen zu können, für die Stammeltern der Schmetterlinge voraussetzen muss- ten.« Diese Sätze sind meines Erachtens — immer die Abstammung der Falter von den Phryganiden vorausgesetzt — für Naturforscher, die auf dem Boden der Descendenztheorie stehen, eben so klar und unbestreitbar, als für Anhänger der alten systematischen Schule unverständ- lich und unannehmbar. Ich hätte aller- dings zu weiterer Erläuterung hinzu- fügen können: »Die Zeit, während wel- cher ein jetzt uns vorliegender junger Zweig eines Baumes seine feineren Ver- zweigungen ausgebildet hat, ist verhält- nissmässig kurz im Vergleich zu der Zeit, welche die Hauptäste desselben Baumes zu ihrer Ausbildung erfordert haben. Die Gattung Nemognatha aber kennzeichnet sichdurchdie hervorragende Kieferladenlänge aller ihrer Arten als ein junger Zweig der Cantharidenfamilie, die selbst nur einen untergeordneten Zweig der’ Heteromera bildet. Da nun wirklich während der Differenzirung der Gattung: Nemognatha aus gewöhnlichen Unterkieferladen ein Saugrüssel gleich dem der Falter geworden ist, so liegt Kleinere Mittheilungen und Journalschau. . 59 der thatsächliche Beweis vor, dass diese Umwandlung in verhältnissmässig kurzer Zeit erfolgen konnte. Damit ist aber die einzige vielleicht etwas zu gewagt erscheinende Voraussetzung meiner Er- klärung der zwischen den Mundtheilen der Phryganiden und dem Rüssel der Schmetterlinge bestehenden Kluft als vollberechtigt erwiesen.< Dieser Zusatz dürfte indessen für Anhänger und Geg- ner der Descendenztheorie gleich über- flüssig gewesen sein; denn den ersteren würde er nichts Neues gesagt, die letz- teren nicht überzeugt haben. Herr HagEn würde trotzdem, in völliger Verkennung des Sinnes meiner Worte, mit demsel- ben Rechte wie jetzt, haben behaupten können: »M. glaubt, dass der Schmet- terlingsrüssel sich mit einem male aus den Phryganidenmundtheilen entwickelt hat, weil sonst ihre Verwandtschaft nicht verständlich sein würde. Er betrachtet diese Erklärung für etwas zweifelhaft, aber als gestützt durch die Umwand- lung der Maxillen eines Käfers in einen Schmetterlingsrüssel in einem verhält- nissmässig sehr kurzen Zeitraum. Wes- halb dies eine Stütze für seine Ansicht sein sollte und weshalb die Zeit sehr kurz gewesen sein sollte, wird nicht an- gegeben.<« Es scheint mir in der That eine sehr starke Zumuthung — noch dazu von Herrn Hasen, der sich in seinem Protest gegen meine Speculatio- nen des knappsten Lapidarstyles be- fleissigt — dass ich in einem Aufsatze, der bloss eine einzelne Consequenz der Descendenztheorie zog, die Hauptsätze derselben, die überdiess den Lesern des Kosmos längst geläufig sein müssen, noch einmal hätte auseinander setzen sollen, und nichts weniger als das wäre doch offenbar nöthig gewesen, um Herrn HA- GEN’s soeben angeführtes Bedenken gegen meine Argumentation zu beseitigen. »M. zieht es vor,« sagt Hasen fer- ner, »den kurzen Rüssel so vieler Schmet- terlinge als verkümmert zu betrachten; warum, wird nicht angegeben. « Vom Standpunkte der Selektions- theorie aus ist es undenkbar, dass ir- gendwo im gesammten Pflanzen- und Thierreiche ein Organ sich zunächst klein und funktionslos ausgebildet und erst später, bis zu einer gewissen Grösse herangewachsen, zu funktioniren begon- nen hätte. Denn nur nützliche Abän- derungen vermag Naturauslese zu er- halten und zu dauernden Eigenthüm- lichkeiten auszuprägen; ein funktions- loses Organ aber, wenn auch noch so winzig, wäre ein nutzloser Ballast. Im- mer und überall wird daher bei den lebenden Wesen eine neue Funktion zu- nächst von einem bereits vorhandenen Theile des Organismus ausgeübt, und die stufenweise Ausbildung eines be- sonderen Organes folgt der Ausübung der Funktion nach. Winzige Organe eines ausgebildeten Organismus können daher, wenn sie funktionslos sind — und die sehr winzigen Rüssel mancher Schmetterlinge sind, soviel ich weiss, funktionslos — immer nur als verküm- merte Organe betrachtet werden. Den Lesern des Kosmos gegenüber, welche unter. Andern Gustav JÄGER’s vortreff- liche Aufsätze über Organanfänge ken- nen, habe ich auch diese Auseinander- setzungen in meinem von Herrn HAGEN besprochenen Aufsatze füglich unter- drücken zu dürfen geglaubt. »Wenn allgemein,« lautet ein anderer Einwand Herrn Haszn’s, »von den Mundtheilen der Phryganiden als kurz gesprochen wird (was ich in meinem Aufsatze durch- aus nicht gethan habe! H. M.), so sollte man nicht vergessen, das es Gattungen gibt, deren Rüssel viel länger als der Kopf und gewiss geeignet ist, in Blüthen einzudringen; die grösste Entwickelung desselben, die ich in dieser Gruppe kenne, kommt bei Plectrotarsus Grravenhorstüi vor.< Die Gattung Plectrotarsus ist mir nicht bekannt. Wenn wirklich gewisse Phryganiden Mundtheile besitzen, die als Zwischenstufen zwischen dem gewöhn- lichen Phryganidenmunde und dem 60 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Schmetterlingsrüssel betrachtet werden können, so wird dadurch die Schwierig- keit, welche meine aus dem Schmetter- lingsrüssel von Nemognatha gezogenen Schlüsse beseitigen sollten, nur ver- ringert, diese Schlüsse selbst aber blei- ben davon unberührt. »Die Thatsache, dass Nemognatha verlängerte Maxillen hat, ist nicht neu,« so beginnt die letzte Einwendung Herrn Hacen’s, welche ich noch anzuführen habe. Schon Kırzy hat erwähnt, dass diese Maxillen den Rüssel der Schmet- terlinge nachahmen. Aus Amerika sind 26 Nemognatha-Arten beschrieben, die alle mehr oder weniger lange faden- förmige Maxillen haben, wogegen dies bei keiner der 6 aus der alten Welt beschriebenen Arten der Fall ist, »ob- gleich ihre Maxillen verlängert sind und eine Art, N. rostrata, längst von FABRICIUS beschrieben ist. Ich gestehe, ich bin vollständig ausser Stande einzusehen, wie oder weshalb die 26 amerikanischen Arten sich in einem kurzen Zeitraum aus-der Form der alten Welt, die in Amerika gar nicht vertreten ist, ent- wickelt haben sollten.« Dass es in der alten und neuen Welt zahlreiche Nemognatha-Arten gibt, deren Unterkieferladen zuweilen äusserst lang entwickelt sind, war auch mir aus meiner spärlichen entomologischen Literatur * wohl bekannt. Ich konnte aber mit die- ser Thatsache an sich eben so wenig anfangen, wie mit den vielen Tausenden sonstiger in den systematischen Werken aufgespeicherter Angaben über Eigen- thümlichkeiten der Organisation, deren Funktion völlig ausser Acht gelassen ist. Erst die meines Wissens neue bio- logische Beobachtung meines Bruders Frrtz, dass die Nemognathen ihre langen rinnigen Kieferladen, eben so wie die Falter, zum Gewinnen des Nektars aus tiefen und engen Blumenröhren gebrau- #7. B. aus dem Handbuch der Zoologie von CARUS, PETERS und GERSTAECKER, Ba.:lH, S. 157. chen, brachte Licht in die längst be- kannten Thatsachen und setzte uns in den Stand, den Nemognatha-Rüssel als ein in Anpassung an die Gewinnung der Blumennahrung gewonnenes, durch Naturauslese in verhältnissmässig(!) kurzer Zeit zur Ausprägung gelangtes Organ aufzufassen und zu besserem Ver- ständniss der Entstehung des Schmet- terlingsrüssels zu verwerthen. Die weite- ren und specielleren Angaben Herrn HA- GEnN’s über die Nemognatha-Arten sind mir neu und hoch interessant; wir sind ihm für dieselben um so mehr zu Danke verpflichtet, als durch sie unsere zur Er- klärung der Falterrüssel benutzte Schluss- folgerung nur noch eine schärfere Aus- prägung und festere Begründung erhält. Denn wenn alle 26 amerikanischen Ne- mognatha-Arten in den langen, faden- förmigen (und doch wohl auch rinnigen ?) Unterkieferladen übereinstimmen, dieich, um mit einem einzigen Worte ihre theo- retische Wichtigkeit anzudeuten, als Schmetterlingsrüssel bezeichnethabe, wo- gegen alle 6 Nemognatha-Arten der alten Welt verlängerte Unterkieferladen ge- wöhnlicher Bildung besitzen, so kann es vom Standpunkte der Descendenz- theorie aus kaum zweifelhaft sein: 1) dass die amerikanischen Nemo- gnathen von Nemognathen der alten Welt abstammen, 2) dass die zahlreichen Nemognatha- Arten Amerikas ihren Schmetterlings- rüssel von gemeinsamen Stammeltern er- erbt haben, 3) dass mithin die Umbildung ver- längerter Kieferladen gewöhnlicher Bil- dung in einen Schmetterlingsrüssel bei den Stammeltern der heutigen ameri- kanischen Nemognatha-Arten nach ihrer Uebersiedelung aus der alten Welt nach Amerika, aber noch vör ihrer Differen- zirung in zahlreiche Arten, also in noch kürzerer Zeit, als wir angenommen hat- ten, erfolgt ist. ‚Wir werden nach allem Gesagten gern zugestehen, dass Herr HAGEN zu Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 61 seinem Schlusssatze: »Ich glaube, die ganze in H. MüLuer’s Aufsatz gegebene Speculation kann nicht angenommen wer- den« vollständig berechtigt ist. Nur hätte er wohl hinzufügen dürfen: Ich gestehe, ich bin vollständig ausser Stande einzusehen, wie oder weshalb überhaupt die Arten einer Gattung sich aus ge- meinsamen Stammeltern entwickelt ha- ben sollten. Lippstadt, 28. August 1881. HERMANN MÜLLER. Der Darwinismus in Talmud und Midrasch. Schon im dritten Bande dieser Zeit- schrift (S. 183—185) nahmen wir Veran- lassung, auf die entwickelungsgeschicht- lichen Anklänge näher einzugehen, wel- che Herr Dr. B. PLAczek in Brünn beim Studium verschiedener Theile der Agada aufgefunden hat. Wir entnehmen eini- gen neueren Briefen und Zusendungen desselben Gelehrten folgende zum Theil sehr interessante Einzelheiten, über die naturwissenschaftlichen Kenntnisse und die Weltanschauung der Talmudisten. »Der Midrasch Rabhbah, eine Art Commentar zu einzelnen Bibeltheilen«, schreibt mir Herr Dr. PLAczek, »steht bei Fachgelehrten im hohen Ansehen. Dr. Wünsche in Leipzig ist eben dar- über her und scheut die unsägliche Mühe nicht, dieses umfangreiche Werk in die deutsche Sprache zu übersetzen, weil er sich davon bedeutenden wissen- schaftlichen Gewinn verspricht. Welchen freien Standpunkt dieses Buch, dessen erste Lieferungen soeben erschienen sind, der biblischen W ortdogmatik gegen- über einnimmt, mag aus folgenden Sätzen hervorgehen: » Viele Welten (d.h. Erdbildungen), heisst es darin, hat Gott erschaffen, und wieder zerstört, bis er die gegenwärtige schuf, von der die bi- blische Schöpfungsgeschichte erzählt. « (Ber. Rab. 3 u. 9 Koh. Rab. 3, 11.) »Die Sintfluth«, heisst es ebendaselbst, »war keine allgemeine über die ganze Erde verbreitetee. Diese Meinung wurde entgegen den ausdrücklichen Wor- ten der Bibel: »Gott sprach, ich bringe eine Wasserfluth über die Erde, um alle Wesen zu vernichten. — Und die Flu- then wuchsen über die Erde und es wurden bedeckt alle hohen Berge un- ter dem ganzen Himmel«, wiederholt betont. R. JocHAnAN und mit ihm an- dere stellten schlankweg in Abrede, dass die Sintfluth auch Palästina über- schwemmt habe, und man that dies speciell in Bezug auf Ezechiel 22, 24: >Land das nicht überfluthet ward am Tage des Zormes« (P. R. E., Ber. rab. 35. Jalk. 56, 59). Die Stellen sind be- sonders vom Gesichtspunkte der freien Bibelforschung merkwürdig. In Bezug auf die Kenntniss der Pflanzennatur theilt mir Herr Dr. PrAac- zEK eine Stelle mit, welche zu beweisen scheint, dass die Talmudisten ebenso wie die heutigen Afrikaner eine deut- liche Vorstellung von der Geschlechter- trennung bei den Palmen besassen. »Eine Palme stand traurig da und wollte keine Früchte tragen. Da ging ein weiser Mann vorüber und sprach: »Sie sehnt sich liebend nach einem Ge- nossen, derin Jericho wächst.« Man ver- einigte die Liebenden und die Palme ward fiuchtbar.« Daraus, wie aus der öfter vorkommenden Bezeichnung »männ- liche und weibliche Bäume« geht klar hervor, dass sie schon vor anderthalb Jahrtausenden die Sexualität der Pflan- zen kannten und verwertheten. Vel. Mischna Pessachim 4, 8; Aruch Art. Nassna. Merkwürdig ist vom Standpunkte der Mythenforschung der Bericht über eine Thierpflanze, die einen sehr ähn- lichen Vorgänger des bekannten scy- tischen Lammes oder Barometz darstellt. Sie wird als eine Affenart geschildert, die vermittelst einer langen Nabelschnur in der Erde wurzelt, wild und gefähr- 62 lich, Menschen und Thiere, die in ihre Nähe kommen, zerfleischend. Durch- schneidet man aber seine Verbindung mit der Erde, so stirbt der Affe. (Ki- laim 8, 5. R. S.) In Folge der vielfachen Untersuch- ungen des Thierkörpers, welchedie Speise- gesetze veranlassten, findet sich eine oft überraschende Kenntniss nicht nur des gesunden und kranken Thierkörpers überhaupt, sondern auch der Wechsel- beziehungen, die sich zwischen den Veränderungen der einzelnen Organe zeigen. Von späteren Halachisten wie Zemach (Zedek 71, Pri Megadim, Ple- thi zu J. D. 30) wurde bereits die Wahr- nehmung gemacht, dass das Vorhanden- sein einer Federkrone oder eines Schop- fes die Entwickelung der Hirnschale afficire.. Gänse mit Schöpfen werden daher zu den krankhaften Abnormitäten gezählt, weil sich gewöhnlich unter dem Schopfe eine Perforation oder Schädel- spalte findet. (Darwın, Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. Ill. Deutsche Ausgabe, Bd. 8: 316 u. II. S. 359.) Die Idee der Compensation oder der Wechselbeziehungen des Wachs- thums hat Joseph Albo (Ikkarim 4, 11) zu Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts klar ausgesprochen, wenn auch dabei Ursache und Wirkung verwechselt er- scheinen. »Die gehörnten Thiefe, die sich vom Gras des Feldes nähren, ha- ‚ben, sagt er, weil der Stoff, aus wel- chem die Zähne hätten gebildet werden sollen, für die Hörner aufgebraucht wurde, und die Natur damit kein Aus- langen fand, um auch in der oberen Kinnlade Zähne entstehen zu lassen, von der Natur zum Ersatze für das an- fängliche mangelhafte Zerkauen der Speisen die Fähigkeit des Wiederkäuens erhalten.»Sage niemals, dies .oder jenes kann nie begriffen werden, denn am Ende wird man es doch begreifen. « (Aboth. 2, 5.) Dr. PuAczek erinnert dabei an die Worte Darwın’s (Abstam- mung I, 8.5): »Es sind immer diejenigen, welche wenig wissen, und nicht die, welche viel wissen, die da positiv be- haupten, dass dieses oder jenes Problem nie von der Wissenschaft gelöst werden könne. « und Kritik. in dem ersten Kapitel allen und jeden Boden zu entziehen, indem er, sich den Ansichten von Hopkıns und Ev. RryER anschliessend, die Flüssigkeit des Erd- inneren überhaupt in Frage stellt. » Trotz der grossen im Inneren des Planeten herrschenden Wärme und trotz des ver- flüssigenden Einflusses der durchtränken- den Flüssigkeiten wird das Magma durch Druck verfestigt, sobald es aus Sub- stanzen besteht, welche sich beim Er- starren zusammenziehen.« (S. 26.) Hier- gegen liesse sich jedoch bemerken: Die betreffenden Schlüsse basiren auf ver- schiedenen unerweislichen Annahmen, namentlich darauf, dass das Erdinnere gleich den plutonischen und vulkanischen Ergüssen vorwiegend aus Silikaten be- stehe, denen allerlei gasförmige und flüs- sige Körper beigemengt seien. Aber wir wissen Ja gar nicht, ob diese plu- tonischen und vulkanischen Ergüsse wirklich aus den hier in Betracht kom- menden Tiefen stammen, und die For- Litteratur und Kritik. schungen über das spezifische Gewicht des Erdkörpers deuten vielmehr auf einen spezifisch schwereren, metallischen Kern hin. Bestünde nun dieser schwerere Kern aus Metallen oder Metallgemischen, die sich (wovon man Beispiele hat) beim Schmelzen nicht ausdehnen, son- dern vielmehr, wie das Wasser, zusam- menziehen, so würde nach den von Hopkins ausgeführten Betrachtungen der immense Druck der auflagernden Schich- ten das Magma nicht verfestigen, son- dern vielmehr flüssig erhalten, sogar unter dem Erstarrungspunkt der Masse bei gewöhnlichem Druck. Da man über die chemische Beschaffenheit des Erd- kernes etwas Gewisses nicht weiss, so müssen wir diesen ersten Anlauf gegen die Grundlagen der Faup’schen Theorie in aller Unparteilichkeit für belanglos erachten: die Möglichkeit eines flüs- sigen Erdinnern erscheint uns dadurch nicht widerlegt. Dagegen stimmen wir vollkommen mit der vom Verfasser im zweiten Ka-' pitel begründeten Behauptung überein, dass Sonne und Mond auf einen an freier Bewegung gehinderten flüssigen Erdkern überhaupt nicht in ähnlicher Weise flutherzeugend wirken können, wie auf das Meer; die Ebbe und Fluth des Meeres ist eine sehr komplicirte Erscheinung, die im Wesentlichen mit auf der freien pendelnden Bewegung einer grossen Flüssigkeitsmasse in sehr grossen, offnen, weiten, Schalen beruht; es ist ein durch die regelmässige Wie- derholung des Vorgangs gesteigertes Hin- und Herschwappen, welches auf offenem Meere nur geringe Höhenunterschiede bedingt und erst an besonders gestal- teten Ufern durch die Wucht der in Bewegung gesetzten Masse erheblichere Niveauschwankungen erzeugt. innern wäre an eine solche freie Bewe- gung wohl kaum zu denken, und FAL» hat auch schon in seinen »Grundzügen und Studien über den Vulkanismus« (1875) S. 23 bemerkt, dass die An- Im Erd- | 67 schauung, es handle sich bei seinen Vor- aussetzungen um eine unterirdische, der Meeresfluth analogeLavawelle, auf einem Missverständniss beruhe. »Die Erdes, sagte er damals, >ist nach unserer Theorie den kosmischen Anziehungen gegenüber gewissermassen als ein ko- lossales Aneroid zu betrachten, dessen Empfindlichkeiten für Druckdifferenzen sich durch Differenzen in den Gasemis- sionen äussert.«< In seinen öffentlichen Vorträgen, wie in dem Vorworte seines neuen Buches (S. XX) hat er die at- mosphärischen Flutherscheinungen als eine vermuthlich befördernde Ursache der Eruptionen in Betracht gezogen, sofern nämlich lokal verminderter Luft- druck das Aufsteigen der Lava in den Spalten begünstigen und durch Berüh- rung mit wasserhaltigen Schichten zu Explosionen führen könnte. Diese neuere Wendung FAug’s hat der Kritiker über- sehen und deshalb ist seine Wider- legung nach dieser Richtung unvollstän- dig, aber darin wird kein grosser Mangel liegen, denn diese neue Hilfstheorie dürfte sich bei näherer Betrachtung als ebenso unhaltbar erweisen, als das Auf- steigen der Lava in den Spalten durch die direkte Attraktions- Wirkung von Sonne und Mond. Das wirksamste Kapitel der Kritik ist jedenfalls das dritte über »Erdbeben- statistik«, in welchem gezeigt wird, wie willkürlich FAug mit den Zahlen um- gesprungen ist, um die Uebereinstim- mungen der Erdbebenhäufigkeit mit den Fluthkonstellationen zu erweisen. Dieses Kapitel ist ausserordentlich lehrreich, und der hier nachgewiesene Missbrauch der Zahlen rechtfertigt einigermassen das harte Urtheil, welches der Verfasser über die ganze Theorie ausspricht, in- dem er sie eine haltlose, faule und fri- vole Hypothese, einen wissenschaftlichen Humbug nennt. Wir müssen ihn jedoch daran erinnern, dass er vorher seiner Ueberzeugung Ausdruck gegeben hat, dass Fate ehrlich an seine Aufstel- 5* 68 Litteratur und Kritik. lungen glaube, und dann muss dieses Urtheil doch zu hart erscheinen, denn dann beruht die vorausgesetzte Ueber- einstimmung der Curven eben auf jener willigen Selbsttäuschung, der sich theo- retisch angelegte Geister so leicht über- lassen. Die beiden letzten Kapitel geben uns — immer mit Rücksicht auf die Fars’schen Einwände, eine vortreffliche Uebersicht über den jetzigen Stand des positiven Erdbebenwissens, namentlich was die mit derRindenrunzelung der Erde zusammenhängenden sogenannten Stau- ungserdbeben betrifft, und sind in dieser Beziehung schon an sich und von dem polemischen Charakter ganz abgesehen, höchst lesenswerth. Um unseren Ge- sammteindruck zusammenzufassen, müs- sen wir es als eine sehr verdienstliche und dankenswerthe That bezeichnen, dass Prof. Hörses sich an die für sich eben nicht lockende Aufgabe gemacht hat, eine mit nur zu grosser Selbst- gewissheit auf offenem Markte auspo- saunte Theorie in klarer und allgemein verständlicher Sprache’ zu bekämpfen; auch der Laie kann sich darnach ein Urtheil über die Schwäche der meisten Faug’schen Aufstellungen und über den Charakter seiner vielbesprochenen Pro- phezeiungen bilden. K. Afrika im Lichte unserer Tage. Bodengestalt und geologischer Bau von JOSEPH CHAVANNE. 181 S. in 12° mit einer hypsometrischen Karte von Afrika. Wien, Pest und Leip- zig, A. Hartleben’s Verlag. 1881. Kein Erdtheil war bisher nach sei- nem geognostischen Bau und seiner orographischen Gliederung weniger be- kannt als das alte Afrika. Selbst der uns längst offenliegende, der alten Kul- turgeschichte angehörende, nördliche Theil, war nach seinem eigentlichen Charakter und seinen Höhenverhältnis- sen so wenig bekannt, dass bis in die neueste Zeit hinein, die quarternäre Meeresbedeckung der Sahara als ein Axiom gegolten hat, und als Pfeiler für zahlreiche geologische Spekulationen (z. B. zur Erklärung der Eiszeit) ver- wendet wurde. Je weiter aber die geo- logische Erforschung der Sahara fort- geschritten ist, um so schwieriger und unhaltbarer wurde der Stand jener gros- sen Anzahl von Anhängern einer Mee- resbedeckung der grossen afrikanischen Wüste in den jüngsten geologischen Epochen. Die Petrefaktenfunde bewei- sen vielmehr, dass das Ahaggar-Massiv bereits in der Tertiärzeit seine heutige Erhebung und Gestalt hatte. So gross auch die Ausdehnung der quarternären Formation in der centralen und nörd- lichen Sahara ist, so bedarf es doch keines vorausgesetzten Binnenmeeres, um dieselbe zu erklären. Für die Ly- bische Wüste hat bereits Zırren die Unzulässigkeit der Annahme einer einst- maligen Bedeckung derselben durch ein Diluvialmeer nachgewiesen. Er lässt die Dünen aus nubischen Sandsteinen ent- stehen, indem er dem Winde die Haupt- rolle bei deren Bildung und Ausbreit- ung zuerkennt. Nur für die schmale Depressionsregion der nördlichen Oasen am Südrande des cyrenäischen Plateaus und für einen verhältnissmässig schma- len Küstenstrich lässt sich eine marine Ueberfluthung und ehemalige Ausdehn- ung des Mittelmeeres nachweisen, und nur hier finden sich Ueberbleibsel noch heute im Mittelmeerelebender Conchylien und anderer Seethiere. Ebenso ist die grosse Ausdehnung quarternärer Bildun- gen in der nördlichen Sahara, besonders westlich vom Meridian von Tripolis, durchaus kein Beweis für eine postter- tiäre Ueberfluthung, diese Ablagerungen enthalten meistnur Süsswasserconchylien und sind, wie auf den meisten Theilen der Erde Bildungen von Süsswasserseen, Flüssen und Sümpfen. Wir müssen al- lerdings zu ihrer Erklärung ein früher Litteratur und Kritik. 69 feuchteres Klima voraussetzen, wo- für auch die zahlreichen, oft in ziem- licher Menge nebeneinander gefundenen Blitzröhren sprechen, die uns von ge- waltigen, unter starken elektrischen Ent- ladungen stattgefundenen Niederschlä- gen erzählen, denen man manche der mächtigen Erosionswirkungen in diesen Regionen zuschreiben darf, aber all- mählig nahmen diese Wasserfluthen ab, die Seen und Sümpfe wurden salzig, und liessen eine Salzkruste im Boden zurück. Die Entstehung der Dünen und der gewaltigen Massen losen Sandes, lässt sich als Meeresboden überhaupt nicht deuten, sie sind das Produkt der Verwitterung des nubischen Sandsteines unter dem Einfluss der starken Beson- nung, des grossen täglichen Tempera- turwechsels und der Wüstenwinde. Un- sere bisherige Unwissenheit hinsichtlich des Reliefs von Nordafrika spiegelt sich auch in den mehr oder weniger aben- teuerlichen Projekten einer Wiederbe- wässerung von Theilen der Sahara, für de- ren Ausführbarkeit noch alle Daten feh- len, und deren Nutzen vielfach in Zweifel zu ziehen wäre. Die wirklich unter dem Meeresspiegel liegenden, bis- her bekannten Depressionsgebiete sind so geringfügig, dass sie mit Ausnahme der algerisch-tunesischen Schotts, auf der neuen hypsometrischen Karte, wel- che CHAvANNE seinem Buche beigege- ben hat, kaum hervortreten. Wenn nun selbst die uns nächsten Theile des »dunklen« Welttheils zu so verkehrten Anschauungen Anlass geben konnten, so darf man sich nicht wun- dern, dass Inner-Afrika bis auf die jüngste Zeit eine terra incognita blieb. Erst STAnuLey mit seiner Durchkreuzung hat diesen Bann gebrochen, und nach- dem sein Beispiel Nachahmer gefunden, konnte der Entwurf einer physikalischen Karte, einer geologischen und orogra- phischen Beschreibung des ganzen Welt- theils, wie sie hier vorliegen, versucht werden. Wer das Buch aufmerksam prüft, wird anerkennen müssen, dass hier mit genauester Kenntniss und sorg- fältiger Benutzung unzähliger Quellen etwas höchst Verdienstliches geleistet wurde; in dieser Beherrschung und Ver- arbeitung eines ungeheuren, zerstreuten Materials liegt eine Arbeitsleistung von hohem Werthe. Das Resultat, wie es da in einer sauber gezeichneten und gedruckten Farbenkarte einem einzigen Blicke erreichbar vor uns liegt, ist ein nach mehr als einer Richtung über- raschendes. Von dem Flachlande Mit- telafrikas, welches nach C. Rrrrer das nördliche und südliche Hochland ver- binden sollte, ist nichts zu sehen. Der ganze Welttheil ergiebt sich als ein ge- waltiges, stufenweise ansteigendes Hoch- plateau, welches sich meist nur nach den Küsten zu abdacht, so dass nur diese und geringe Distrikte im Innern unter 300 Meter Meereshöhe liegen. Der grösste Theil Afrikas erhebt sich zwischen 300 und 900 Metern, aber gewaltige Hochebenen, namentlich im Süden und Südosten erheben sich zu 1000 bis 1500 Metern und weit über ein Drittel des Welttheils steigt zu die- sen und grösseren Höhenwerthen empor. In merkwürdigem Gegensatze dazu, steht das Fehlen langer und weitaus- gedehnter Gebirgsketten, deren Berg- spitzen sich über 3000 Meter erheben, wie sie das kleine Europa in weiter Ausdehnung aufweist ; die Gebirgsmas- sive treten um so weniger hervor, als sich um sie gewaltige Hochebenen deh- nen, die in der Regel nicht mehr als 1000 Meter niedriger liegen, als die höchsten Erhebungen. Ein schroffes Ansteigen zu gewaltigen Höhen wie in unseren Alpen oder gar in den Anden oder im Himalaya scheint hier nir- gends vorzukommen. So macht Afrika den Eindruck eines in seiner Configu- ration uralten Erdtheils, in welchem die inneren Erdkräfte seit unvordenklichen Zeiten ruhen, und nur die atmosphä- rischen Kräfte in Arbeit sind, um die 70 ehemals wahrscheinlich höheren Gebirge zu Hochebenen auszubreiten, die wenig Feuchtigkeit verdichten, so dass die Winde an vielen Stellen die Hauptfak- toren einer weiteren Zerstörung bleiben. Nur die gebirgigen Theile sind wasser- reich, und liefern in einzelnen Fällen weit entfernten Plateaus und Ebenen die befruchtenden Ströme von endlosem Laufe. Es bedarf keiner weiteren Aus- führung, dass gerade diese eigenartige Physiognomie des Welttheils, dem sie schildernden Buche ein besonderes In- teresse verleiht, ein Interesse freilich nur für solche, die tiefer denken, und gewohnt sind, zwischen den Zeilen zu lesen und erdgeschichtliche Probleme vor dem inneren Blicke aufsteigen zu lassen. K. Als Eskimo unter den Eskimos. Eine Schilderung der Erlebnisse der ScHWwATRA’schen FRANKLIN-Aufsuch- ungs-Expedition in den Jahren 1878 bis 18580. Von Hemrıch W. Kuur- SCHAK, Zeichner und Geometer der Expedition. Mit drei Karten, zwölf Vollbildern und zahlreichen in den Text gedruckten Illustrationen nach den Skizzen des Verfassers. Wien, Pest und Leipzig, A. Hartleben’s Ver- lag. 1881. Es giebt sicher nicht viele Reise- werke über den hohen Norden, deren Schilderungen von der ersten ‘bis zur letzten Seite so fesselnd wirken, wie die des vorliegenden. In liebenswürdigster Anspruchslosigkeit erzählt der Verfasser, ein Prager Kind, die Erlebnisse der nordamerikanischen, unter Kapitän SCHWATKA’S vortrefflicher Führung aus- geführten Expedition nach König Wil- helm’s Land, deren Zweck, die Schick- sale der Frankuiw’schen Expedition an Ort und Stelle zu studiren, den Ver- hältnissen entsprechend, so gut wie möglich erreicht wurde. Es ist aber Litteratur und Kritik. nicht das geographische oder klimatolo- gische Interesse, für welches wir unsre Leser auf das Buch aufmerksam machen möchten, obwohl auch nach diesen Seiten manches Neue und Anziehende mitgetheilt wird, sondern wesentlich das ethnographische und, beinahe möch- ten wir sagen, das vorhistorische. Wie schon der Titel des Buches es ausdrückt, mussten die Mitglieder der Expedition selbst zu Eskimos werden, um in diesen hohen Breiten mehrere Jahre gesund und frisch ausdauern zu können, sie mussten sich in Nahrung, Kleidung, Wohnung, Lebensweise und Sitten voll- kommen nach den Bewohnern des Lan- des richten, und der Erfolg war eine so vollständige Akklimatisation, dass die Mitglieder bei ihrer Rückkehr in wär- mere Regionen mit mancherlei Unan- nehmlichkeiten zu kämpfen hatten, ehe sie sich wieder an das gemässigte Klima gewöhnen konnten. In der kalten Jahres- zeit zeigte es sich als eine vollkommene Unmöglichkeit, innerhalb der mit ihren Haaren nach innen gewendeten Pelz- kleidung, gleichsam als letzte Erinner- ung an die Kleidung civilisirter Men- schen, Unterkleider zu tragen, weil diese sofort feucht wurden und froren, selbst des Nachts mussten die Mitglieder nackt in einen aus Renthierfellen zusammen- genähten und am Halse zusammenge- zogenen Schlafsack (Snikpik) kriechen, um behaglich warm zu bleiben. Die Nachahmung der Eskimos in Form und Schnitt der Kleidung bot die einzige Garantie für das Wohlbefinden. „Zu Hause trägt man die sogenannte Attiga, ein mit einer Kapuze versehenes Hemd mit den Haaren des Felles am blossen Leib. Die Hosen (Kadlins), breit, nur bis zu den Knieen reichend, sind ebenso gemacht, und als Fussbekleidung dienen zwei Paar Strümpfe, deren inneres die Haarseite nach innen, das andere aber mit derselben nach aussen getragen wird. Ueber diese letzteren kommen ein Paar Schuhe, wenn das Wetter vollkommen kalt und trocken ist, aus Ren- thierfell, im entgegengesetzten Falle aus See- hundsfell gemachte. Für den Aufenthalt im \ Litteratur und Kritik. FA Freien wird noch ein zweiter Anzug mit der Haarseite nach aussen angezogen. Die Befestigung sämmtlicher Kleidungsstücke ge- schieht durch Geflechte aus Renthiersehnen, die auch die Stelle unsres Zwirnes vertreten, und an den Rändern der Kleidungsstücke, dort, wo die Luft leicht zum Körper ge- langen kann, sind Fransen, ebenfalls aus Renthierfell geschnitten, angenäht, die eines- theils den Wind abwehren, andernfalls aber auch eine Ventilation der Luft ermöglichen und jedes Inschweisskommen unmöglich ma- chen. Aber auch noch andere Vortheile bietet diese Kleidung. Sie ist in erster Li- nie leicht und bequem, erlaubt vollkommen freie Hantirung und ermöglicht ein schnelles Aus- und Ankleiden, was in Schneehäusern ein nicht zu übersehender Vorzug ist.“ Man kann die Beschreibung dieser ganz aus Thierfellen und Thiersehnen gefertigten Kleidung kaum lesen, ohne dadurch an jene jedenfalls ganz ähn- liche Kleidung erinnert zu werden, welche unsre Vorgänger in Europa zur Eiszeit getragen haben, wie uns ihre aus Ren- thierknochen gefertigten Pfriemen, Na- deln und sonstigen Geräthe beweisen. Wenn wir uns der 1866 von Boyp- DAaweıns gemachten Aufstellung erin- nern, dass die alten Bewohner Europa’s wirkliche Eskimos waren, oder jedenfalls doch, wie ihre Ueberreste zeigen, nach ihrer Lebensweise den Eskimos geglichen haben, so gewinnen diese Schilderungen des intimen Lebens der heutigen Es- kimos ein erhöhetes und, wie wir schon bemerkten, sozusagen prähistorisches Interesse. Auch in ihrem ganzen Denken und Thun, in ihrer Sprache, in ihrem Glauben und Aberglauben, in ihren Sitten und Gebräuchen tritt uns dieser prähistorische Charakter deutlich ent- gegen. Die Sprache ist ungemein arm an Worten, und es findet sich z. B. hier jener Mangel besonderer Ausdrücke für die Farben, den Referent zuerst als die natürliche Ursache jenes fälsch- lich auf Farbenblindheit gedeuteten Verhaltens bei dem Urzustande nähern Völkern erkannt hat. Die Eskimos ha- ben trotz ihrer immerhin vorgeschrit- tenen Culturstufe noch nicht einmal ein besonderes Wort für die Bezeich- nung der rothen Farbe, und genau, wie ich es früher als naturgemäss hin- gestellt habe, und wie es in den arischen Sprachen geschehen ist, gewinnen sie die Bezeichnung für Roth durch den Vergleich mit dem Blute, sie sagen für Roth teimatu au (wie das Blut), für blau teimatu imik (wie das Wasser), für farblos teimatu siko (wie das Eis) u. s. w. Ebenso unentwickelt sind die grammatikalischen Formen der an Selbst- lautern und besonders an den Conso- nanten k und kt reichen Sprache. Die Verhältnisse der Ernährung zeig- ten in auffallender Weise, wie sich das Klima die Lebensweise erzwingt. Der Uneingeweihte wird bei einer arktischen Expedition vielleicht zunächst an die Mitnahme erheblicher Mengen von Spi- rituosen denken. Die ScHhwArka’sche Expedition hat während ihrer ganzen eigentlichen Reise keine geistigen Ge- tränke mitgehabt, und trotz dessen oder vielmehr gerade deshalb die grössten Strapazen und intensivsten Kältegrade ohne Krankheit und Verlust an Men- schenleben ertragen. Spirituosen er- wärmen wohl rasch, aber sie bleiben immer gefährlich, weil sie schläfrig ma- chen und nur allzu leicht die Veran- lassung zum Erfrieren der betreffenden Person geben. Dagegen zeigte sich ein reichlicher Genuss von Fettstoffen und Fleisch als das einzig rationelle Mittel, die natürliche Wärme und das Wohl- befinden in diesen Regionen zu erhal- ten und eine grössere Anzahl von Hun- den ging in einer Zeit zu Grunde, wo es nicht eigentlich an Fleisch, wohl aber an fettem Fleisch mangelte. Die Fettstoffe, sei es nun der landesübliche Thran, Renthier-Talg, Salmöl, oder das Fett der im Sommer zu diesem Zwecke massenhaft gefangenen Geflügelarten, werden von jedem arktischen Reisenden schliesslich als Bedürfniss erkannt, und damit verschwindet allmählich vollstän- dig der Ekel, den der Weisse seiner 72 Litteratur und Kritik. gastronomischen Verfeinerung halber anfangs gegen dieselben empfindet. Wohl nicht mit Unrecht schreibt KrLurscHAX der vollkommenen Anpassung an die Lebensweise der Eskimos den glück- lichen Erfolg zu, dass die Theilnehmer der ScHhwArkA schen Expedition wäh- rend eines mehr als zweijährigen Aufent- halts in jenen Breiten auch nicht das leiseste Symptom von Skorbut verspür- ten. Nach diesen und vielen anderen Richtungen liegen in den Erfahrungen der SchwArka’schen Expedition werth- volle Winke für künftige Polarreisende. Aber nicht blos in Kleidung und Er- nährungsweise hatten sie sich die Eski- mos zum Vorbilde genommen, sondern auch den Sitten und Gebräuchen der- selben musste man sich immer wieder fügen, so hinderlich manche derselben auch waren. KuurscHak berichtet da- von ein lehrreiches Beispiel: „Wie in Betreff aller Nahrungsmittel, so haben die Eskimos selbstverständlich auch bezüglich der Fische verschiedene alberne Gebräuche. Der auffallendste davon war, dass die gefangenen Fische nicht durch den gewöhnlichen Eingang in die Hütte gebracht werden durften, sondern durch eine separat gemachte Oeffnung sowohl himein, wie beim Beladen der Schlitten auch hinaus gereicht werden mussten, damit sie nicht mit dem Seehundsthran durch die gleiche Oeffnung in die Hütte gelangen. Desgleichen durfte an Ort und Stelle auch kein Fisch im ge- kochten Zustande, sondern blos roh genossen werden, und erst wenn man einen Tage- marsch weit von der Stelle ist, wo die Fische gefangen worden, ist es erlaubt, die- selben an dem Feuer der Thranlampen zu kochen. Dieser Aberglaube hatte für uns Weisse manche Unannehmlichkeiten, da wir uns gleichsam verpflichtet sahen, in Beglei- tung von Eskimos auch eskimoisch zu leben, folglich auch im Aberglauben mitzuhalten. Gelegentlich nahm ich mir die Mühe, nach dem Grunde aller dieser weisen Vorsichten zu fragen. Die Antwort war eine sehr ge- lungene. Es waren dies nämlich zwar nicht die Gebräuche unserer Eskimos, doch jene der Ukusiksilliks und so lange wir durch deren Jagdgründe zu gehen hatten, waren wir verpflichtet, ihre Stammessatzungen zu befolgen. „Wer unter den Wölfen ist, muss mit denselben heulen,“ heisst ein deutsches Sprüchwort, und die Moral davon scheint sich überall, selbst unter den Eskimos gleich zu bleiben.“ Auch an spannenden Episoden, in denen gefährliche Ausflüge und Reisen unter Nahrungsmangelund Entbehrungen aller Art, Ueberfälle wilder Thiere u. s. w. geschildert werden, fehlt es dem Buche ebensowenig wie an komischen Intermezzos: wir wollen, um zugleich eine Probe von dem Bildschmuck des Werkes mittheilen zukönnen, eine Stelle der höchst anziehenden Schilderung des nächtlichen Uebergangs über die gefähr- lichen Stromschnellen des nach dem englischen Marine - Lieutenant GEoRG Back, seinem Entdecker, benannten Back- flusses wiedergeben. Die gefährlichen Stromschnellen dieses von den Eskimos wegen seines Reichthums an Salmen als »grossen Fischfluss« bezeichneten (Gewässers verrathen sich am Tage weit- hin durch mächtige Dampfsäulen, die aus dem kalten Wasser in die noch kältere Luft aufsteigen. Die Scenerie wird von KLurscHAx wiefolgt geschildert: „Unter den imposanten Erscheinungen auf den verschiedenen Gewässern der Erde nehmen die Stromschnellen auf dem Back- fluss im Winter einen hervorragenden Platz ein. Grossartig kann man siezwar nicht nennen, schön um so weniger, aber an Wildheit und Ungestüm suchen sie ihresgleichen. Die hohen Flussufer zu beiden Seiten treten plötzlich eng aneinander und die sonst gleichförmige Eisdecke ist wie abgeschnitten. Zwei Fuss vom Rande steht man noch auf ebenso di- ckem Eis — und auf diese kurze Entfernung schäumt und kocht das Wasser mit einer Ge- schwindigkeit von 6—8 Meilen per Stunde in 3—4 Fuss hohen Wellen einher. Zu bei- den Seiten an den Ufern sind schmale Eis- wege. Mit dem Austritt des Flusses aus der Thalenge hört die Gewalt des Wassers auf und das Eis beginnt. Welche Kraft muss das Wasser hier haben, wenn, wie alte Leute, welche in der unmittelbaren Nähe der Stromschnellen leben, berichten, die grösste arktische Kälte — ich möchte sagen am Kältepole selbst — nicht im Stande ist, über den offenen Stellen eine Eiskruste zu bilden, u. s. w.“ Die »Gefährlichen Stromschnellen« haben in 3 grossen Hauptabtheilungen 73 Litteratur und Kritik. "SISSAYUISIA UISSOAD sap u9TPUUISWOLS uaydTfItßFe oO oO a 74 Litteratur und Kritik. eine Länge von ca. 8 Meilen, aber die gefährlichsten Theile sind nicht eigent- lich die, wo das Wasser tobt und da- herstürmt, sondern gewisse ruhigere Stellen, die sich des Nachts mit einer dün- nen, kaum zwei Zoll starken Eisschicht bedecken, die man nur mit grosser Vor- sicht überschreiten kann. In der Nacht des 7. Dezember 1879 überschritt Kuur- SCHAK mit seiner Abtheilung eine sol- che Stelle und seine durch das obige Bild erläuterte Schilderung hat ein ge- wisses thierpsychologisches Interesse, wegen der Klugheit, welche die Zieh- hunde bei solchen Uebergängen ent- wickeln. „Wir setzten uns alle auf den Schlitten, die Hunde wurden angetrieben und als ob sie wüssten, warum es sich handelte, liefen sie, so schnell sie nur laufen konnten, und der Schlitten, einmal auf der glatten Fläche in Bewegung, glitt schnell hinter ihnen her. So ging es etwa zehn Minuten lang fort, kein Halt, keine Unterbrechung — eine solche wäre unser Durchbruch, wenn nicht Unter- gang gewesen. Sehen konnten wir nichts, um so schauerlicher aber rauschte es unter der kaum 2 Zoll dicken Eisdecke, und der Zu- ruf des Eskimos war bei all’ seinem wilden Tone Gesang und Musik gegen das schauder- volle Toben dieses so gefährlich verkleideten nasskalten Elementes unter uns. Wir waren alle seelenfroh, als wir die spiegelglatte Flä- che verliessen, und wieder schneebedecktes Eis unter uns "hatten. Wer eine recht wilde Schlittenpartie machen will, dem empfehle ich die Ausführung einer solchen Fahrt; er braucht nicht einmal Decken mitzunehmen, denn ich kann versichern, trotz einer Tem- peratur von — 45° Celsius habe ich auf die- ser Tour geschwitzt.“ KrurscHAaX erwähnt nicht, ob die Hunde auf dem dünnen Eise jenes an- dere von Dr. Hayes in seinem Werke über »das offene Polarmeer< geschil- derte, und bei ihnen zum Instinkte ge- wordene Manöver ausgeführt haben, dem Darwın eine ausführliche Erörte- rung gewidmet hat*, und welches darin besteht, dass sie auf den dünnen Stel- * Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Aus dem len sogleich auseinander laufen, um ihre Last besser zu vertheilen. Auch ein anderes von Darwın erörtertes Beispiel der bei Heerdenthieren besonders ent- ickelten thierischen Instinkte, nämlich die geschlossene Erwartung des Angriffs und die Vertheidigungsweise der Heer- denthiere hat uns KuurscHAr’s Zeichen- stift in einer Illustration vorgeführt, die wir als eine fernere Probe der zahl- reichen, durchweg mit künstlerischem Schick ausgeführten Bilder des Buches wiedergeben wollen. Zum Schlusse mögen noch die Be- obachtungen mitgetheilt werden, welche die Reisenden an ihrem körperlichen Be- finden bei dem Uebergange von der einen Lebensweise zur anderen machen konnten. Die Beschwerden, die sie fan- den, sich nach ihrer Heimkehr wieder an die frühere Lebensweise zu gewöh- nen, zeigen gewiss am besten, dass bei ihnen eine vollständige Anpassung des Organismus an die fast ausschliesslich animalische Diät der Eskimos stattge- funden hatte, so dass sie sich kör- perlich wirklich als Eskimos fühlen konnten. „Dieselben Magenbeschwerden und klei- nen Uebelkeiten, die sich bei dem langsa- men Uebergang von der civilisirten Kost zur ausschliesslichenFleischnahrung geltend mach- ten, wiederholten sich, und zwar um so em- pfindlicher, als der Genuss conservirter Ge- müse bei dem früheren Uebergang (diesmal) nicht in Berücksichtigung kam. Brodstoffe, (namentlich frisch gebackenes Brod) wollten zuerst gar nicht munden und hatten für un- sere, nach den täglich consumirten Quanti- täten von Speisen scheinbar bodenlosen Mä- gen gar keinen Nahrungswerth; auch konn- ten wir gar nicht begreifen, zu was man denn eigentlich Thee und Kaffee trinkt. Vierzehn Tage vergingen, bis sich bei uns eine Aenderung unseres Aussehens bemerken und ein gewisses Wohlbehagen spüren liess. Wir waren wohl nie krank gewesen, sahen aber doch ein bischen hergenommen aus, und als nach einem Zeitraume von beinahe sechs Monaten der wiederholte Gebrauch von Was- Englischen von J. VICTOR CARUS. 3. Auf- lage 1875, I. Bd., 8. 97. „Litteratur und Kritik. ser, Seife und Handtuch unsere wahre Ge- sichtsfarbe zum ersten Mal wieder an’s Ta- geslicht treten liess, spiegelte sich in den wettergebräunten Gesichtern eine Gesundheit, die ein gutes Zeichen für die Vorzüge des wohl rauhen, trotzdem aber wechsellosen nordischen Klimas abzugeben im Stande war. Auch das Ablegen der ausschliesslich aus Pelz bestehenden Kleidung hatte für die erste Zeit seine unangenehmen Seiten, der grösste Feind war und blieb uns aber der 75 künstliche Wärmespender — der Ofen. Für unsere bescheidenen Begriffe war eine Tem- peratur von — 10°C. eine normale zu nen- nen, 1 oder 2° über den Nullpunkt war warm, und jetzt sollten wir in ca. + 16° C. den ganzen Tag zubringen! Der beständige Ein- fluss einer solchen Hitze, wie es diese Temperatur für uns buchstäblich war, war ein ungewohnter und bei der gering- sten Unvorsichtigkeit ein sehr schädlicher. Nie während eines beinahe zweijährigen Auf- Moschusochsen-Jagd. enthaltes im Norden wussten wir, was Hu- sten, Schnupfen, Katarrhe, nie was eine ge- wöhnliche Verkühlung war ; kaum waren wir aber mit künstlich erzeugter Wärme zusam- mengekommen, so stellte sich auch schon beim ersten Austrittin die grosse freieNatur das Bedürfniss einer sogenannten besseren, wär- meren Kleidung ein. Nicht die Kälte ist es, die arktischen Reisenden so oft an der Aus- führung ihrer Pläne hinderlich entgegentritt, sondern einzig und allein der Umstand, dass diese den Winter über in überheizten Schiffs- räumen zubringen und beim Uebertritt in das rauhe Klima des Frühjahrs die grosse Ver- änderung physisch nicht ertragen können. Der bedeutende und schnelle Wechsel der Temperatur unseres Klimas bietet dem dar- an sewöhnten Kaukasier keinen Vorzug im nördlichen Klima und ist die Hauptursache, warum sich der Eskimo in der gemässigten Zone nicht wohl fühlen und nicht akklima- tisiren kann.“ Wir glauben, dass diese Bemerk- ungen das Richtige treffen, und dass nach dieser Hinsicht die Erfahrungen der SchwaArkA’schen Expedition die Aufmerksamkeit alle Polarreisenden verdienen. Dass aber auch nach an- derer Richtung werthvolle Ergebnisse erzielt wurden, und dass die Schilder- 76 Litteratur und Kritik. . ungen eine ungemeine Lebensfrische athmen, haben wir bereits erwähnt und geht auch wohl aus den mitgetheil- ten Proben zur Genüge hervor: Unter- haltung und Belehrung stehen in einem guten Verhältniss bei diesem Buche. K. Die heilige Sage der Polynesier. Kosmogonie und Theogonie vonADoLPH Basııan. 302 S. in 8°. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1881. Der rastlose Forscher auf dem Ge- biete der Völker-Psychologie hat uns mit diesem Buche ein Quellenwerk über- geben, dessen Werth gar nicht über- schätzt werden kann. Im Gegensatze zu den für eine sofortige Synthese be- geisterten Völkerpsychologen der eng- lischen Schule hält Prof. Basrran die Zeit für eine solche Synthese noch nicht gekommen; er betrachtet sich beschei- den als einen blossen Sammler und Hand- langer auf diesem Gebiete, und hat seine Auffassung der Sachlage in einem schö- nen Nachworte zu dieser Schrift dar- gelegt, welches eigentlich als Vorwort diesem und hundert ähnlichen Büchern vorangestellt zu werden verdiente. In den Aufgaben der Ethnologie, so sagt er ungefähr, liegt das Bestreben einge- schlossen, die Psychologie zu einer Na- turwissenschaft zu erheben, d h. ver- mittelst der Völkerpsychologie in die Psychologie überhaupt die induktive Me- thode als leitende einzuführen, um im prüfenden Fortschritt vom Einfachen zum Zusammengesetzten, und unter steterCon- trole durch Vergleichungen, nur diejeni- gen Synthesen zuzulassen, welche sich aus dem Verwandtschaftsverhältnisse mit zwingender Nothwendigkeit ergeben. Durch eine derartige naturwissenschaft- liche Ausbildung der Psychologie werde (meint Basrmıan) der vermeintliche Ge- gensatz zwischen Naturwissenschaft und Philosophie verschwinden,dieErforschung der Genesis mythologischer und philo- sophischer Systeme muss die Brücke schlagen, und klar wird sich die schon jetzt nicht mehr bezweifelte Thatsache ergeben, dass auch der Irrthum im Den- ken der Kindheitsvölker sich nach Na- turgesetzen bildet. Diese als Induktion bezeichnete Methode, überlässt der auf diesem Gebiete wie überall sehr eifrigen Deduktion »ihre schillernden Luftschlös- ser, die gleich Seifenblasen zu zerplatzen pflegen,« und zieht es vor, langsam und geduldig auf sicher gelegten Fundamen- ten von unten emporzubauen. Sie be- darf also zunächst der Bausteine, des Rohmaterials, das zuerst durch Hand- langer zusammenzutragen, dann durch Handwerker, später auch durch Künst- ler in Form zu bringen ist. Die be- treffenden Bausteine können nur in den Völkergedanken gefunden werden, welche, wie Basrıan schon oft ausgeführt hat, beidemgesellschaftlichen Grundcharakter des Menschen als die primären anzu- sehen sind, welche den höheren Schöpf- ungen begabtererIndividuen vorausgehen. Diese Völkergedanken müssen sodann ei- ner statistischen Methode unterworfen werden, deren unerlässlichste Vorbe- dingung eine möglichste Vollständigkeit der Sammlung aller vorhandenen Wand- lungsformen des Menschengedankens in seinen socialen, ästhetischen und reli- giösen Vorstellungskreisen wäre. Aber wie lange mag es dauern, bis der For- scher das Verlangen des delphischen Orakels: »Erkenne dich selbst!« er- füllt hat? „Und wenn ernun vielleichtunverdrossen, Hand voll Hand die Tropfen schöpft, dann mag manch’ freudige Ueberraschung in ihm aufblitzen über die gleichartige Zusammen- setzung des Wassers, über das bunte Zoophy- tenleben, was dort krimmelt und wimmelt, dann mögen ihn manchmal auch würzige Düfte erfrischen, von fernher säuselnden Lüften zu- getragen, aber, wie lange freilich wird es noch dauern, bis er, oder seiner Epigonen Fernste das Canoe gerüstet, um die Küsten zu entdecken, welche das grosse Meer des Wissens jenseits des terrestrischen Horizontes Litteratur und Kritik. 77 bespült? Uns hat in der Erkenntniss harmo- nischer Gesetzlichkeit vor Allem die Befrie- digung zu genügen, innerhalb der dem Ein- zelnen beschiedenen Zeitspanne mitgewirkt zu haben am Menschheitsbau des Kosmos. Und hierzu ist ein Jeder befähigt nicht nur, sondern berufen, wenn rechtschaffen und ganz denjenigen Ansprüchen entsprechend, die in- nerhalb seiner Sphäre, ob gross oder klein, an ihn gestellt sind.“ Mit diesen, eine liebenswürdige Be- scheidenheit athmenden Worten hat BA- stIan sein Buch beschlossen, und damit auch freilich alle Kritik entwaffnet. Nur das sei uns gestattet, gleich hier zu be- merken, dass wir eine statistische Me- thode nur als Hilfsmittel betrachten können, und in einer Sammlung der Ur- völker-Gedanken, — die immer lücken- haft bleiben wird — nicht das letzte Ziel sehen können; die blosse Statistik würde nothwendig die ältesten Phanta- sieschöpfungen halbthierischer Urvölker, mit der schon philosophisch angehauch- ten, fortgeschrittener Stämme, oder ein- zelner Individuen aus denselben mit ein- ander vermengen. Wie nöthig aber eine genaue stufenweise Auseinanderhaltung solcher vielleicht um Jahrtausende nach ihrer Entstehung auseinander liegender Mythenkreise sein würde, beweisen ge- rade die polynesischen Mythen in gröss- ter Augenscheinlichkeit, wo die rohesten Indianer-Märchen, von dem Fangen der Sonne in Netzen, und dem Hervorangeln grosser Inseln aus dem Meere, mit Priester-Phantasien vermischt vorkom- men, die den philosophischen Systemen der Gnostiker und Neuplatoniker mit- unter nicht viel nachgeben. Die Schöpfungsmythen der Neusee- länder werden nun hier von Basrıan nach den Mittheilungen dort zu Lande lebender Forscher etwas genauer mit- getheilt, als sie bisher bekannt waren; sie erinnern oft lebhaft an Edda-Lieder, indische und japanische Mythen. Alles geht aus der Urnacht (Po) hervor, der Himmel lag auf der Erde und war nie von ihr getrennt gewesen. Die zwischen beiden lebenden Söhne Rangi’s (des Himmels) und Papa’s (der Erde) be- rathschlagten miteinander, ob sie beide von einander trennen. könnten, oder sie ganz vernichten müssten, um Raum und Licht zu gewinnen. Der eine von ihnen Tuma-tauenga (der Kriegsgott), sprach: »Lasset uns die beiden vernich- ten,« aber Tau-Masuta (der Waldgott), erwiderte: »Nicht also, sie mögen von einander geschieden werden. Lasset den einen emporsteigen und für uns zum Fremden werden; den andern lasset unten bleiben und uns eine Mutter und Verwandte sein!« Derselbe Waldgott war es denn auch, dem nach vergeb- lichen Anstrengungen seiner Brüder die Trennung gelang. Gleich nach der Tren- nung kamen die Menschen aus den Höhlungen der Erde hervor. Nur einer der Brüder war nicht mit der Trennung der Eltern zufrieden, dies war Tawhiri Matea (der Wind), der einzige von ihnen, der auch nicht bei der mütterlichen Erde blieb, sondern am Himmelsgewölbe wohn- te, und seineBrüder verfolgte. Erknickte die Stämme des Waldgottes, der Meer- gott (Tangaroa) verbarg sich in den Tiefen des Ozeans, die andern Brüder flüchteten in die Erde, nur Tumatau- enga (der Kriegsgott) blieb aufrecht und kämpfte mit dem Windgott; sowie auch mit seinen Brüdern, weil sie ihm nicht gegen den Windgott beigestanden hat- ten. So kam der ewige Krieg in die Welt, und man sieht die Nebel als Seufzer der Erde zum Himmel steigen, und die Thränen des Himmels auf die Erde fallen. Die Schöpfung der organischen Welt wurde in dieser Mythe nur in einem vereinzelten Zuge berührt, insofern Fische und Reptilien beide als Enkelkinder Tangaroa’s, des Meergottes, aufgeführt wurden: >Der Sohn Tangaroa's war Punga und Punga hatte zwei Söhne: »SchwimmenderFisch« und »Schrecken«, das grosse Reptil, dessen anderer Name war >Bestürzung«. Als nun Tangaroa zum Ozean floh, stritt sein Geschlecht 78 Litteratur und Kritik. und einige sprachen: »Lasset uns in das Wasser,« andere riefen: »Lasset uns auf das Land«e..... Darauf sagte der Fisch: »So gehe denn auf das Land, geh zu dem flammenden Farnkrauthau- fen«. Da antwortete die Eidechse: » Wenn ich auch auf angehäuftem Farnkraut ge- braten werde, doch sollen Schrecken und Bestürzung über die Menschen kommen, wenn ich mit emporgerichteten Stacheln und zerreissenden Klauen aus meiner Höhle hervor komme”; aber du gehe in das Wasser; geh’ und lasse dich als Speise in Körben aufhängen«..... So trennten sich die beiden Familien, die Familie des »Schreckens«, des Reptils blieb auf dem Lande, aber die Familie Punga’s suchte den Ocean auf. Seit jener Zeit ist unaufhörlicher Kampf zwischen dem Meere oder den Wassern und dem Lande gewesen, weil einige Kinder des Wassers sich auf das Land geflüchtet hatten. Viel ausführlicher und von grossem psychologischen Interesse ist die in Versen abgefasste Theogonie, welche Basrıan auf Hawaii in der Bibliothek des Königs Kalakaua, der sich jüngst in Europa vorgestellt hat, fand, und nach seiner Abschrift theilweise im Ori- *® Anmerk. des Ref. Auf dem Festlande von Australien lebt bekanntlich noch heute eine kaum halbfusslange harmlose Eidechse, deren ganzer, scheusslich anzusehender Leib mit kurzen, dicken Hornstacheln besetzt ist, von denen sich auf dem Kopfe ein paar zu veritabeln Hörnern verlängert haben, der Mo- loch (Moloch horridus GRAY); dieses: Thier scheint der letzte Nachkomme einer Sippe von Stacheleidechsen zu sein, auf deren aus- gerottete Vorfahren sich möglicherweise obige Sagen beziehen könnten. In drei Arbeiten, die in den Jahren 1858, 1880 und 1881 er- schienen sind, hat Owen die Ueberreste eines ausgestorbenen riesenhaften Verwandten dieses Thieres unter dem Namen Megalania prisca beschrieben, welche weit über Victoria, Neu- Südwales und Queensland zerstreut vorkom- men. Auf dem im vorigen Jahre (1880) be- kannt gewordenen Schädel dieses Riesenmo- loch, sassen an Stelle der beiden Hörner sei- nes lebenden Liliputverwandten, deren sieben, ginal und theilweise im Auszuge mit- theilt. Sie soll nach Angabe des in den priesterlichen Riten eingeweihten Königs im Beginne unsres Jahrhunderts nach der mündlich überlieferten Version niedergeschrieben sein und beginnt mit einem Schöpfungsbericht, wie er ein- gehender kaum in irgend einer andern Tradition zu finden sein dürfte. Der Anfang beginnt auch hier mit der Ur- nacht (Po), aber er knüpft an den Un- tergang einer früheren Welt an: Hin dreht der Zeitumschwung zum Ausge- brannten der Welt, Zurück der Zeitumschwung nach aufwärts wieder, Noch sonnenlos die Zeit verhüllten Lichtes, Und schwankend nur im matten Mondge- schimmer Aus Makalii’s* nächt’gem W olkenschleier Durchzittert schattenhaft das Grundbild künft’- ger Welt. Des Dunkels Beginn aus den Tiefen des Ab- grunds, Des Uranfangs von Nacht in Nacht, Von weitesten Fernen her, von weitesten Fernen, Weit aus den Fernen der Sonne, weit aus den Fernen der Nacht Noch Nacht überall. * Die Plejaden. Nach dem Refrain (Po-wale-ho-i von denen sechs paarweise (über den Augen, auf den beiden Schläfen- und Scheitelbeinen) standen und das siebente, die Nase zierte. Der Oberkiefer war mit einer Hornschicht bekleidet, wie bei der Schildkröte, sonst aber zeigte das Thier trotz seines Hautpanzers in seinem innern Bau keine Uebereinstimmung mit dem Bau der Schildkröten, erwies sich vielmehr wie der kleine Moloch als eine echte Eidechse. Im vorigen Jahre (1881) hat OwEN die verknöcherten Ringe des von BENNET aufgefundenen Schwanzes dieses Thieres be- schrieben, von denen jeder das betreffende Wirbelsticck einschloss, und auf dem Rücken (mit Ausnahme des letzten Ringes) zwei Paar kegelförmige Hörner trug, deren Spitzen noch auf dem vorletzten Ringe zehn Zoll von ein- ander entfernt waren. Man kann sich nach diesen wenigen Zügen das Aussehen dieses Thieres malen und muss gestehen, dass die Ausdrücke „Schrecken“ und „Bestürzung“.dar- auf gepasst haben würden. Litteratur und Kritik. — Noch Nacht überall), der sich am Ende jeder Schöpfungsperiode bis zur achten (in welcher das Licht oder Ao hervortritt) wiederholt, wird nun der zeugende Abgrund (Kumulipo) entstan- den gedacht, und neben ihm als weib- liches Prinzip Po@le. Es beginnt zu- erst das Hervorwachsen (hanan) der niedern Thiere und Pflanzen, der Pro- tozoen, Milben, Zoophyten, Korallen, Würmer, Muscheln, wobei zunächst bei diesen niedersten Thieren und Pflanzen eine Art Generatio aequivoca angenom- men zu sein scheint, während später bei den höheren Organismen immer die geschlechtliche Erzeugung betont wird. In siebenzeiligen Versen wird diese sehr ausführliche Aufzählung der Entsteh- ungen aufgeführt, wobei eine Schöpfung in Paaren und ein eigenthümlicher Pa- rallelismus eingehalten wird, so dass jedesmal einer Entstehung im Meere, diejenige seines Gegenbildes auf dem Festlande gegenübergestellt wird, von denen dann bemerkt wird, dass sie sich gegenseitig beobachten und überwachen. Ein Beispiel wird die Form dieser oft wiederkehrenden Siebenzeilen deutlicher machen: Und das Männliche voll Zeugungs- kraft und das Weibliche empfäng- nissbereit. Geboren die Tange in der See Und rasch vermehrt sich ibrer Kinder Zahl Bewachtvon den Schlinggewächsen am Lande; Als Pfeiler der Krakenim Gebrause. Im Streit des Wassers Speise den Aufwachsenden. EingetretendieGötter allein, noch keine Menschen. Die gesperrt gedruckten Zeilen keh- ren dabei in derselben Anordnung zu- nächst immer wieder, der Krake gleich- sam wie ein aus der früheren Welt übergebliebenes, vorweltliches Thier, * Zu einer hübschen Mythenbildung hat auf Mangaia, wie Bastıan an anderer Stelle erzählt, die Beobachtung der Mimiery eines gelbgrünen Schmetterlings, der nicht von den Blättern der Gesträuche zu unterschei- 79 oder der Meergott, der die Neuschöpf- ung beobachtet und auf den Gilbert- Inseln mit seinen Armen den Himmel emporhebt. Die sechste Zeile betont das Verschlingen der schon geborenen Wesen durch die folgenden, die Schluss- zeile besagt, dass damals die Götter allein, aber noch nicht die Menschen in die Schöpfung eingetreten waren. Durch die Pflanzenansammlungen, Ko- rallenbauten u. s. w. füllt sich aber allmälig der zeugende Abgrund (Kumu- lipo) mit Schlamm, verschwindet da- durch, oder verlegt sich, wie es scheint, nachdem die Ufer und Berge empor- gestiegen sind, zunächst aus der Tief- see in die Tiefe des Himmelsgewölbes. Denn in der zweiten Schöpfungs- periode folgt nunmehr die Entstehung der die Luft bewohnenden geflügelten Wesen (Insekten und Vögel), von denen zunächst die Raupen, Schmetterlinge *, Ameisen, Libellen, Heuschrecken und Fliegen namhaft gemacht werden. Dar- auf folgen die Vögel, von denen 26 Arten aufgeführt werden, wobei wie schon früher, immer ein Landvogel einem Wasservogel gegenübergestellt wird: Geboren die Möven in der See, Bewacht von den Falken am Strande Der Kraken als Pfeiler im Gebrause. Eingetreten die Götter allein, noch nicht die Menschen. In der dritten Periode folgt dann die Entstehung der Fische, von denen 50—60 Arten genannt werden, wobei wiederum die Süsswasserfische des Lan- des den Meerfischen gegenübergestellt werden. Der Waltfisch erscheint zuletzt und der bisher unentwegt zuschauende Kraken, wird in das Getümmel mit hin- abgerissen. Nachdem schon am Ende der zwei- ten Periode eine matte Dämmerung hin- durchgebrochen, herrscht in der vierten, den ist, Anlass gegeben. Sie sollen ein von dem Eidechsengott gestohlenes Opfer zurück- holen, und entgehen durch ihre Blattähn- lichkeit der Aufmerksamkeit der vor diesem aufgestellten Wächter. 80 Litteratur und Kritik. der Periode der Reptilien, ein mattes Zwielicht, und beleuchtet das Gewim- mel der Ungethüme, die bald auf dem Rücken, bald auf dem Antlitz kriechen. Schildkröten und Eidechsen erscheinen und mit ihnen bedeutungsvoll das erste Urbild des Menschen. Die Periode der Reptilien, in der auch die ersten Nutz- pflanzen auftreten, wird als die Zeit eines wilden Kampfes geschildert: Getanz im Umhergetriebe der Wurmgethiere Wackelnd mit langem Schwanz, Aerger und Zank, bissig und zornig Hader und Streit um die Nahrung g, um das Fressen Greuel und Missethat auf dem Land. Dieser Streit der Reptilien wird vor- bildlich auf den nie ruhenden Kampf und die Mühen des Menschenlebens be- zogen; doch vor der wirklichen Er- scheinung des Menschen kommt in der fünften Periode zunächst das Schwein, als das höchste Säugethier der Insel mit besonderem Pomp zum Vorschein. Mit Humor werden die schwarzen Schweine, als die störrischen, >die nicht aus- weichen wollen, auf dem engen Pfade, « - geschildert. Zugleich scheidet sich Tag und Nacht, Verstand und Unverstand, und es treten die menschlichen Geschick- lichkeiten (Flechten, Bootbau, Töpferei) gewissermaassen als ewige Ideen hervor. In der sechsten Schöpfungsperiode wird nur die Entstehung der Mäuse und der Tümmler in der See geschildert. Die siebente wird mit psychischen Schöpf- ungen ausgefüllt; es entstehen fernere Vorbedingungen für die Existenz, als Seh- und Hörbilder, Ge- danken, Betsprüche, See- und Zauber- formeln. Mit der achten Schöpfungsperiode endlich erreicht der wilde Schöpfungs- Aufruhr sein Ende, die Naturkräfte werden besänftigt und treten in ein ruhiges Gleichgewicht, und in dem da- mit den Weltraum durchstrahlenden Glanz wird das Weib (Lailai) geboren. Mit ihr hört die Nacht auf, und an menschliche: Stelle des bisherigen Refrains (»Nacht überall«) tritt der neue Refrain: Ao (»Licht«). Auf Lailai, die zugleich als Sonnengöttin geschildert wird, deren Fruchtbarkeit unerschöpflich ist, führen sodann die einzelnen Häuptlinge und Stämme mittelst endloser Geschlechts- register ihre Abstammung zurück. Diese Geschlechtsregister scheinen zum Theil sehr reflektirte Namen zu enthalten, wovon als Beispiele folgende: Te Ahanga, embryonales Aufwachsen in Leibesschwellung, Te Apongo, Gierigkeit, Te Kune iti, innerliche Empfängniss, Te iti, Keimanlage des Embryo, Te kanoiie o te uka (vulva), Tira wahi he kura (penis). Solche Namenbildungen sind gewiss Niederschläge einer spätern, spielenden Phantasie. Ebenso würde die Berück- sichtigung der Schweine im Schöpfungs- mythus von Hawaii entweder auf eine ziemlich späte Entstehung oder auf eine spätere Interpolation und Ergänzung desselben hindeuten. Man ersieht aus alledem, wie vorsichtig solche Tradi- tionen bei der Synthese zu behandeln wären, da offenbar hierbei sehr alte und ursprüngliche Elemente von spätern, oftwohl gar erst durch Missionäre einge- schmuggelten zu trennen wären. Jeden- falls müssen wir dem Verfasser für die reiche Materialien-Sammlung und seine vorläufigen, dabei nach seiner bekannten Manier überall eingestreuten Winke — als mehr wollen sie gewiss nicht gelten — von Herzen dankbar sein. Dadurch, dass diese Winke und Parallelen zum guten Theil in Anmerkungen an das Ende des Bandes verwiesen wurden, hat das Buch, gegen frühere, an Les- barkeit sehr gewonnen, nur an das ge- naue Citiren der Quellen sollte sich der geehrte Verfasser noch gewöhnen, um seinen in so hohem Grade schätzbaren Schriften die volle Nutzbarkeit zu ver- leihen. KR Kritik des Sonnensystems. Von Carl du Prel. Eine Kritik des Sonnensystems kann | nicht so verstanden werden, als wäre der | Mensch vermöge seiner besonderen Gei- | stesgaben befähigt, das Sonnensystem zu bemängeln, und solche Missstände an demselben auszusetzen, die vermieden worden wären, wenn man bei der Einrich- tung des Systems unsere Mathemati- ker und Astronomen zu Rath gezogen hätte. Die Mathematik ist allerdings die vollendetste aller Wissenschaften ; aber sie ist nicht ganz im Stande, die hohe Zweckmässigkeit unseres Planeten- systeıns, wiewohl dasselbe zu den ein- fachsten der vorhandenen Systeme ge- hört, auf ihren ziffermässigen Ausdruck zu bringen. Was nun gar die Pla- neten der Doppelsterne und mehrfachen Sonnen betrifft, so müssen ihre Bahnen so verwickelt sein, dass es — nach Lirtrkow — der mathematischen Ana- lysis trotz ihrer Vollkommenheit un- möglich fallen würde, diese äusserst zusammengesetzten Bewegungen auch nur annähernd zu bestimmen. Von einer Vernunft im Weltall zu reden haben wir also allerdings ein Recht; aber es entsteht nun die Frage, ob wir diese Vernunft als personifieirtes Prinecip an den Anfang, oder blos als Resultat natürlicher Gesetze an das Ende zu stellen haben. Das erstere thut die theistische Schöpfungstheorie, Kosmos, V, Jahrgang (Bd. X). das letztere die naturwissenschaftliche Entwickelungstheorie. Philosophisch ge- nommen ist dieser Gegensatz sehr schroff, aber innerhalb der naturwissenschaftli- chen Betrachtung macht er sich nicht nothwendig geltend: Es ist ein gemein- schaftlicher Boden für beide Anschau- ungen hergestellt, wenn der Naturfor- scher darauf verzichtet, über das Welt- prineip zu speculiren, — worüber er ja als solcher ohnehin nichts weiss —, und der Theist zugesteht, dass ein Weltprincip nur Erhalter aber nicht Stö- rer der Naturgesetze sein kann. - Die Würde desselben wird durch solchen Verzicht auf das Wunder nicht ange- tastet, sondern sogar erhöht, weil of- fenbar der Erfinder eines die Handar- heit ersetzenden Mechanismus höher steht, als der Handarbeiter. Wenn also Theisten und Naturforscher sich dar- über vereinigen, dass alle Veränderungen nach den feststehenden Gesetzen der Materie geschehen, so liegt in der wei- teren Alternative, ob diese Gesetze Ausfluss eines Gesetzgebers sind, oder in der Natur der Materie liegen, nur mehr ein philosophischer Gegensatz, welchen zu betonen in einer naturwis- senschaftlichen Analyse des Sonnen- systems kein Anlass vorhanden ist. Die Kraft, welche die Glieder des Sonnensystems zu einem einheitlichen 6 82 Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. Mechanismus verbindet, ist die Schwer- kraft. Sie bewirkt Erscheinungen von zweierlei Art: sie erhält das Planeten- system im beweglichen Gleichgewicht, und sie verändert beständig den Me- chanismus des Systems, soweit es sich um Cometen und Meteoriten handelt. Das System der Planeten ist demnach conservativ, das der Cometen wandel- bar; die Harmonie des Planetensystems ist eine vollendete, die des Cometen- systems jedenfalls nicht vollendet, weil darin noch beträchtliche Veränderungen der Bahnen vorkommen, welchen erheb- liche Störungen, also mechanische Män- gel vorausgehen müssen. Diesen an- scheinenden Widerspruch, dass die Gra- vitation Resultate so verschiedener Art herbeiführen kann, löst die Entwicke- lungstheorie: die beiden Hauptgruppen des Sonnensystems befinden sich in verschiedenen Stadien eines Processes gegenseitiger Anpassung der Einzelglie- der; hinsichtlich des Planetensystems ist dieser Process abgeschlossen, es hat seinen Gleichgewichtszustand bereits ge- funden, daher ist es conservativ; das Cometensystem dagegen ist wandelbar, weil es sein Gleichgewicht noch nicht gefunden hat. Jeder Zustand idealer Zweckmässig- keit muss seiner Natur nach conserva- tiv sein — bis etwa ein neuer Faktor das Gleichgewicht wieder stört, — aber nicht jeder conservative Zustand muss von idealer Zweckmässigkeit sein. Die ideale Zweckmässigkeit kann nur Eine sein; dagegen genügt schon die blosse Existenzfähigkeit, ja sogar das Minimum derselben, um zu bewirken, dass ein Sy- stem von Kräften conservativ sei. Ver- muthlich hat jeder Fixstern einen plan- tarischen Mechanismus von besonderer Art; und wäre selbst dieses nicht, so sind doch die Planeten bei Doppel- sternen und mehrfachen Sonnen ganz anders geordnet, als in unserem Sy- steme. Wenn nun innerhalb der con- servativen Gruppen Unterschiede der mechanischen Anordnung bestehen, so wäre auch ein mechanischer Rangstreit vorhanden und demnach. wenigstens eine vergleichende Kritik der Systeme zulässig. Wenn aber alle diese Systeme conservativ sind oder wenigstens einst sein werden, dann kann der Gradunter- schied ihrer Zweckmässigkeit nur die Zeitlängen betreffen, während welcher sie bestandesfähig sind; denn eine ewige Dauer kann überhaupt keinem Systeme des Kosmos zugeschrieben werden. Es frägt sich also, warum mehr- fache mechanische Anordnungen im Kosmos gegeben sind, statt einer ein- zigen idealen, aus der sich wenn nicht die ewige, so doch die längste Dauer der Systeme ergeben würde. Es ist doch eine und dieselbe Gravitation, welche alle diese Anordnungen bestimmt hat; wie kommt es, dass dabei ver- schiedenartige Resultate sich ergaben ? Im Allgemeinen kann die Antwort schon hier gegeben werden: Es liegt im Wesen der Gravitation, so lange Bahnveränderungen hervorzurufen, als Störungen vorhanden sind und hieraus muss sich im Entwickelungsprocesse eine objektive Zunahme des Zweck- mässigen ergeben, also auch eine all- mählige Annäherung ans+den conser- vativen Zustand ; denn es liegt ferner im Wesen der Gravitation, einen er- reichten Gleichgewichtszustand nicht mehr zu verändern, da Gleichgewicht Mangel an Störungen bedeutet, aus diesem Mangel aber die Unmöglichkeit von Veränderungen folgt. Dagegen liegt es durchaus nicht im Wesen der Gra- vitation, ein jedes System durch ver- schiedene Entwickelungsphasen hindurch dem Zustande idealer Zweckmässigkeit entgegenzuführen; vielmehr ist jeder erreichte Gleichgewichtszustand schon als solcher conservativ, wird also und würde er auch nur das Minimum der Existenzfähigkeit in sich enthalten, beibehalten ohne Rücksicht darauf, ob damit das Maximum der Existenzdauer erreicht ist, oder nicht. Untersuchen wir diese Verhältnisse näher, so werden wir daraus zwar noch keine Aufklärung über das Wesen der Gravitation — ein rein metaphysisches Problem — erhalten, wohl aber über die gleichförmige Thätigkeitsweise die- ser Kraft, welche den Kosmos zusam- menhält, welche Thätigkeitsweise es eben bedingt, dass die Stufe der idea- len Zweckmässigkeit nicht erreicht wird, ja nicht einmal überall der gleiche Grad der Zweckmässigkeit unterhalb dieser Stufe. Wir müssen uns nach einem Erklärungsprincip umsehen, nach einem Gesetze, welches unter Ver- mittlung ganz allein der Schwerkraft die Existenzfähigkeit der mechanischen Systeme garantirt, aber nicht deren grösstmögliche Zweckmässigkeit; ein Gesetz, welches Veränderungen durch Vermittlung der Schwerkraft nur so lange besorgen lässt, bis die Existenz- fähigkeit erreicht ist ohne Rücksicht auf die Existenzdauer. Wenn wir die Veränderungen im Kosmos von den chaotischen Urnebeln angefangen, bis zu den conservativen Systemen betrachten, so finden wir, dass die kosmische Entwickelung Höher- entwickelung ist, ein Merkmal, das sie gemeinschaftlich hat mit der geologi- schen, biologischen und geschichtlichen Entwickelung. In allen diesen Gebieten lässt sich der Betrag der erreichten Höhe abschätzen, weil wir die nach einander erreichten Stufen, da sie er- halten blieben, zugleich räumlich neben einander haben. Wenn wir nun in die- sen Gebieten auch dem andern Merk- mal der kosmischen Entwickelung be- gegnen würden, dass sie nämlich nur die Existenzfähigkeit ihrer Gebilde ga- rantirt, so wären die irdischen und kosmischen Kräfte zwar nicht inhalt- lich, aber doch bezüglich der Form ihres gesetzlichen Wirkens in Ueber- einstimmung gebracht; alsdann könn- also | Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. 83 % ten wir auch auf dem näherliegenden irdischen Gebiete, jenes Erklärungs- princip antreffen, nach dem wir für den Kosmos suchen. Betrachten wir unter diesem Ge- sichtspunkte die biologische Entwicke- lung als die hiezu geeignetste. Die Erfahrung lehrt, und es ist der Gegen- stand eines seit Darwın lawinenartig angewachsenen Studiums, dass die In- dividuen ihren Wohnorten angepasst sind. Hierauf beruht die Existenzfähig- keit der Individuen; dass aber die höchstmögliche Zweckmässigkeit in Hin- sicht der Existenzdauer in der organi- schen Natur nicht erreicht wird, geht schon hervor aus der tausendfachen Man- _ nigfaltigkeit der Anpassungsmittel, auf deren Verschiedenheit die Classification des Pflanzen- und Thierreichs in unge- zählte Arten und Species und von sehr unterschiedlichen Lebenslängen beruht. So wird also wohl die Existensfähig- keit, aber nicht die höchste Existenz- dauer durch die Anpassung garantirt, und die tausendjährige Linde sehen wir umgaukelt von Mücken, die eben so vollkommen organisirt sind, als irgend eine Art, aber mit Sonnenuntergang ihr Eintagsleben beendigen. Noch klarer geht der Mangel der höchstmöglichen Anpassung daraus her- vor, dass in der geographischen Ver- breitung der Pflanzen und Thiere auf Wohnorte von gleicher Beschaffenheit nicht durchgehends die gleiche, auf un- gleiche Wohnorte nicht ungleiche Flora und Fauna treffen. Vielmehr . finden sich sehr häufig aufbenachbarten und an- nähernd gleichen Wohngebieten höchst verschiedene Lebensformen, während umgekehrt Arten vorhanden sind, die sich in allen geographischen Breiten unter sehr verschiedenen Lebensbeding- ungen finden. Die natürliche Zuchtwahl ist es, welche die organische Anpassung be- sorgt. Die bekannten Vertilgungsfakto- ren der Natur, Klima, Feinde ete. sind 6* 84 die Kräfte, vermöge welcher die Zucht- wahl wirkt. Die Form dieser Wirk- samkeit aber ist die indirekte Aus- lese des Zweckmässigen. Die Zucht- wahl vermag nichts anderes zu thun, als eine bereits gegebene Gesellschaft von Organismen vermöge der Konkur- renz ihrem Wohnorte bis zu dem Grade anzupassen, dass das Gleichgewicht mit den Vertilgungsfaktoren und damit die Existenzfähigkeit der Arten gesichert ist. So lange nun die Existenzbeding- ungen eines Wohnorts dieselben bleiben, liegt gar kein Anlass vor, die Anpas- sung über diesen Grad hinaus noch zu steigern. Nehmen wir eine Thierart an, welche keine Vertheidigungswaffen be- sitzt, aber schnellfüssig ist. Die natür- lichen Feinde dieses Thieres werden in dem sich entspinnenden Vertilgungs- kriege zunächst die langsameren In- dividuen erreichen und tödten, während die schnelleren überleben und sich fort- pflanzen. Die Erblichkeit der Eigen- schaften wird bewirken, dass nur die günstigeren Eigenschaften der ersten Generation in der zweiten beibehalten sind. Die Variationsfähigkeit der Jungen wird aber bewirken, dass einzelne Exem- plare sogar die günstigsten Eigenschaf- ten der ersten Generation übertreffen, und diese werden die grösste Chance des Ueberlebens und Vererbens haben. So wird jede günstige Abweichung er- halten, jede ungünstige beseitigt, und weil sich dieser Process in jeder Ge- neration wiederholt, steigert sich die indirekte Auslese zur natürlichen Zucht- wahl. Aber es ist derselben eine Schranke gezogen. Wenn etwa in der zehnten Generation die Schnellfüssigkeit so weit gesteigert wäre, dass sie der des natür- lichen Feindes gleichkäme, so wäre damit jener Anpassungsgrad erreicht, der durch Vertilgungsfaktoren überhaupt erreicht werden kann, aber sicherlich nicht der höchste Grad von Schnellfüssigkeit. Vertilgungsfaktoren Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. Individuen, sondern beseitigen nur die unzweckmässigen, wirken also durch indirekte Auslese. Sobald die Anpas- sung an die natürlichen Feinde erreicht ist, hört die Vertilgung und damit die Zuchtwahl auf. Immer nur ist es dem- nach die Existenzfähigkeit einer Species, welche durch die Vertilgungsfaktoren besorgt wird; aber es liegt nicht in der Macht dieser Faktoren, mehr als die Anpassung zu erzielen und eine günstige Eigenschaft noch über den Gleichgewichtsgrad zu steigern. Ein höherer Grad von Zweckmässigkeit würde aber unfehlbar eintreten, wenn etwa ein neuer, mit grösserer Schnelligkeit begabter Feind in das Wohngebiet dringen würde; Auslese und Zuchtwahl würden abermals so lange wirken, bis die Anpassung an den neuen Faktor erreicht wäre. Von da an würde der An- passungsprocess kein progressiver mehr sein, sondern ein conservativer; das treibende Moment wäre zum Stillstand gebracht und die Vertilgungsfaktoren würden nur mehr verhindern, dass die Species unter den erreichten Anpas- sungsgrad wieder heruntersinkt. Wenn Pflanzen und Thiere wandern, wird conservative Anpassung oft wieder zur progressiven. In diesem Falle kommt es oft vor, dass die einheimische Flora und Fauna von der eingewanderten ver- tilgt wird. So in Neuseeland, wo meh- rere europäische Pflanzen, wie Polygo- num qaviculare, Rumex obtusifolius, die Gänsedistel und andere grosse Flächen, unter Verdrängung der einheimischen Pflanzen für sich erobert haben. (Vgl. Lussock, Entstehung d. Civil. 407.) Es war also die europäische Flora vor der Wanderung ihrem Wohnorte bis zur Existenzfähigkeit angepasst, so wie auch die neuseeländische. Die Wan- derung hat aber gezeigt, dass für manche europäische Pflanze Neuseeland ein viel besserer Boden ist, und dass neusee- ländische Pflanzen nur eben den für veredeln also nicht die zweckmässigen | Neuseeland genügenden Anpassungsgrad Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. erreichen, der eingewanderten Flora der Colonisten aber keinen Widerstand ent- gegensetzen konnten. So ist immer nur die Existenzfähigkeit der Arten das er- reichbare Resultat, und der ausschliess- liche Grund davon ist der, dass die natürliche Auslese eine indirekte ist. Diese indirekte Auslese der zweckmäs- sigen Exemplare wird besorgt durch Vertilgung der unzweckmässigen; sie trifft also nur diejenigen Individuen, deren Anpassungsgrad die Existenzfähig- keit noch nicht erreicht, während die existenzfähigen Individuen ganz davon unberührt bleiben, darum aber auch keine Steigerung günstiger Merkmale über die blosse Existenzfähigkeit hinaus erwerben können. Vergleichen wir hiemit die kosmi- schen Verhältnisse. Wenn im astrono- mischen Gebiete die Auslese ebenfalls auf indirektem Wege geschehen sollte, so ist klar, dass sich dieses Erklärungs- princip hier viel deutlicher offenbaren muss, als im organischen Reich. In der Biologie setzt nämlich die indirekte Aus- lese des Zweckmässigen vorerst die Erblichkeit der Eigenschaften voraus, sodann aber auch noch die Tendenz der Organismen zu variiren, wahrschein- lich sogar eine bestimmt gerichtete Tendenz. Diese beiden höchst dunklen Probleme fallen’ in der Astronomie ganz hinweg; in dieser handelt es sich ledig- lich um die Anpassung durch indirekte Auslese, also um denjenigen Theil des Darwinismus, der unbestreitbar und darum auch unbestritten ist, weil es sich von selbst versteht, dass Vertilg- ungsfaktoren die widerstandsunfähigen Exemplare beseitigen müssen, den an- gepassten aber nichts anhaben können. Wenn sich also die Uebertragbarkeit des Darwinismus auf die Astronomie herausstellen sollte, so kann es sich nur um den unbestrittenen Theil desselben handeln, und daraus ergibt sich der grosse Vortheil, dass eine solche Darstellung gar nicht betroffen wird von 85 späteren Einschränkungen, die sich der Darwinismus ohne allen Zweifel noch gefallen lassen muss. Im organischen Reich wird ferner die Anpassung durch eine grosse An- zahl von Kräften besorgt, durch die Vertilgungsfaktoren, deren es eine Menge gibt, und die in jedem Wohngebiete wechseln. Dagegen wird der mecha- nische Kosmos ausschliesslich durch die Gravitation zusammengehalten. Diese Kraft hat zwar mit den organischen Anpassungskräften nicht das Mindeste gemein, aber die Uebertragbarkeit des Darwinismus auf die Astronomie bleibt davon unberührt. Es handelt sich nicht um die Uebertragbarkeit der die An- passung besorgenden organischen Kräfte, sondern der blossen Form ihrer Wirk- samkeit: der indirekten Auslese. Diese Auslese ist aber keine Kraft, kein Agens, sondern nur ein Gesetz. Dass in der Biologie lediglich das Gleichgewicht mit den Existenzverhältnissen erzielt wird, liegt nicht im Wesen der die An- passung besorgenden Kräfte, der Ver- tilgungsfaktoren, sondern lediglich an der Form, in der sie wirken, indem sie nämlich indirekte auslesen. Wenn also im astronomischen Gebiete eine durch- aus andere Kraft, die Gravitation, herrscht, so ist die Uebertragbarkeit des Darwinismus auf dieses Gebiet gleich- wohl möglich, sobald nur die Thätig- keitsform dieser Kraft ebenfalls die in- direkte Auslese ist. Dies versteht sich aber ganz von selbst; denn eine Bahn- veränderung eines Gestirnes setzt immer als Ursache eine Störung, d. h. die störende Anziehung eines anderen Ge- stirns voraus, also kann durch die Bahn- veränderung nur eine Störung vermieden werden. Die Gravitation kann also nur das Unzweckmässige beseitigen, gerade wie die organischen Vertilgungsfakto- ren; sobald aber das mechanische Gleich- gewicht erzielt ist, vermag die Gravi- tation nur mehr conservativ zu wirken, wie ebenfalls die Vertilgungsfaktoren. 86 Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. Das organische und das kosmische Reich sind also von verschiedenartigen Kräften beherrscht, aber von dem glei- chen Gesetze der indirekten Auslese des Zweckmässigen. Die Gravitation und die organischen Vertilgungsfaktoren ha- ben eine Gleichförmigkeit ihrer Wir- kungsweise, und diese nennen wir Ge- setz. Zwischen Kraft und Gesetz ist demnach sehr zu unterscheiden. Es kann das Gesetz von Veränderungen bekannt und doch die wirkende Kraft ganz unbekannt sein. So kannte Krr- LER die Gesetze der Planetenbeweg- ungen ganz genau, aber die wirkende Kraft war ihm unbekannt; erst New- ron hat die Ursache der Planeten- bewegungen entdeckt: die Gravita- tion. Ein Gesetz ist also noch keine Kraft, und in der Naturwissenschaft ist die Frage: Warum? immer erst beant- wortet, wenn die wirkende Kraft, die bestimmte Ursache (causa) nachgewiesen ist, aus der das Gesetz fliesst. Die Einsicht, dass das Gesetz der indirekten Auslese des Zweckmässigen in der Biologie und Kosmologie herrscht, wäre schon vor Newrox und vor DAr- wın möglich gewesen, daraus wäre aber nur die philosophische Erkenntniss von der Einheitlichkeit der Natur gefolgt, aber keine naturwissenschaftliche Er- kenntniss der wirkenden Ursachen. Indem also zwischen Gesetz und Kraft unterschieden wird, ergibt sich auch, was wir dem einen und was dem andern zuschreiben dürfen, der Kraft an sich und ihrer gleichförmigen Wir- kungsweise. Dass wir im Kosmos Me- chanismen sehr verschiedener Art haben, einfache, doppelte und mehrfache Sterne, mit höchst verschiedenen Bewegungen ihrer Begleiter, das ist Sache der Gra- vitation; dass aber die Glieder aller dieserMechanismen nur soweit im Gleich- gewicht sind, dass die Existenzfähigkeit des Systems gesichert ist, dies ist nicht Wirkung der Gravitation an sich, son- dern des Gesetzes, dass diese Kraft das Zweckmässige nur indirekte auslesen kann. Die Gravitation erklärt also die Verschiedenheit, die indirekte Auslese, die Zweckmässigkeit der Mechanismen. Will nun aber Jemand die kosmische Thätigkeit der indirekten Auslese nach- weisen, so muss er hiezu natürlich auf empirische Vorgänge verweisen; weil wir aber nur unser Sonnensystem ge- nauer kennen, so muss der Nachweis an diesem geführt werden. Hieraus könnte nun allerdings der Schein ent- stehen, als sollte die bestimmte Be- schaffenheit unseres Systems aus der indirekten Auslese abgeleitet werden; dies ist aber durchaus nicht der Fall. Auch in der Biologie sollen ja nicht die tausendfachen bestimmten organi- schen Formen aus der indirekten Aus- lese erklärt werden, sondern nur das gemeinschaftliche Merkmal aller dieser Formen: die Anpassung an die Exi- stenzverhältnisse, nieht aber das be- stimmte einzelne Anpassungsmittel. Nun erst lässt sich die Frage prä- cise beantworten, in wie ferne das Sonnensystem derKritik unterliegt. Ohne Zweifel ist dasselbe ein sehr zweck- mässiges System; aber dass nicht die höchst denkbare Zweckmässigkeit in ihm zur Darstellung kommt, folgt noth- wendig aus dem Gestaltungsgesetze des Systems. Dieses Gestaltungsgesetz ist die indirekte Auslese, welche überall nur das Minimum der Existenzfähigkeit, aber nie das Maximum der Zweckmässig- keit für die längstmögliche Existenz- dauer garantirt. Die höchste Zweck- mässigkeit kann nicht in mehrfachen Gestaltungen gegeben sein; nun sind aber empirisch mehrfache Gestaltungen kosmischer Mechanik gegeben, zwischen welchen mindestens Unterschiede der Existenzdauer vorhanden sein müssen, — folglich würde höchstens Eine die- ser Gestaltungen der Kritik nicht unter- liegen. Von dieser mechanischen Kritik ab- gesehen, unterliegt das Sonnensystem ' Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. 87 auch noch einer historischen Kritik, indem die noch immer eintretenden Bahnveränderungen der Cometen bewei- sen, dass das Sonnensystem noch immer im Entwickelungsprocesse begriffen ist, und die indirekte Auslese ihre Thätig- keit noch nicht abgeschlossen hat. Es mag genügen, ein Beispiel anzuführen: der 1846 entdeckte schweiflose Comet von BrozsEn hatte bis zum Jahre 1842 eine Ellipse um die Sonne beschrieben, in welcher sein geringster Sonnenabstand 30, sein grösster 117 Millionen Meilen betrug. Seine Bahnebene war zur Ebene der Erdbahn in einem Winkel von 41 Grad geneigt. Durch die störende An- ziehung Jupiters gerieth dieser Comet in eine Bahn von 13 und 113 Millio- nen Meilen Sonnenabstand und einem Neigungswinkel von 31 Grad. Auch diese Bahn des Cometen wird noch keine de- finitive sein, und nach den Rechnungen des Astronomen p’ÄRREST wird er in Folge einer weiteren Störung Jupiters ungefähr um das Jahr 1937 wieder in eine andere Bahn einlenken. Von diesen Bahnveränderungen ab- gesehen ist auch die gänzliche Besei- tigung unzweckmässiger Bahnen durch den Sturz von Meteoriten gegen die Planeten ein alltäglicher Vorgang. Auch darin zeigt sich, dass die indirekte Auslese des Zweckmässigen noch an- dauert, die Periode der conservativen Anpassung noch nicht eingetreten ist, und demnach das Sonnensystem der historischen Kritik unterliegt. Durch den Begriff der Entwickelung werden sowohl LEIBNIZz, wie SCHOPEN- HAUER widerlegt, im Allgemeinen so- wohl, wie speciell in astronomischer Hinsicht. Leısxnız sagt, unsere Welt sei die beste unter den möglichen. Astronomisch genommen ist dies ganz unrichtig; denn thatsächlich sind in unserem Systeme mechanische Unzweck- mässigkeiten gegeben, deren allmäh- lige Beseitigung nicht nur möglich ist, sondern sogar nothwendig eintreten muss: wir haben Asteroiden, deren Bah- nen sich kreuzen, ungezählte Meteoriten, welche die Erdbahn kreuzen, und was die Cometen betrifft, so scheint die Zahl der in conservativer Anpassung befindlichen sehr gering, die überwie- gende Mehrzahl noch der Möglichkeit von Bahnveränderungen ausgesetzt zu sein. Wenn nun auch diese Bahn- veränderungen einer progressiven An- passung, einer mechanischen Vervoll- kommnung des Systems, einer Annähe- rung an einen zweckmässigen Endzustand gleichkommen, so ist jedenfalls die best- mögliche Welt noch nicht, sondern günstigsten Fallwird sie einst sein. Der Begriff der bestmöglichen Welt ist mit Entwickelung, Fortschritt, progres- siver Anpassung nicht vereinbar, son- dern nur mit conservativer Anpassung. So kommt also der alte Speusippus wieder zu Ehren, welcher sagte, dass das Gute nicht als Grund alles Seins am Anfang, sondern nur als Ziel und Vollendung desselben am Schlusse stehen kann, dass also das Weltganze von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit sich entwickelt. (Zewver: Phil. d. Grie- chen. II. 851.) Leisnız begeht mithin zum allermin- desten einen Anachronismus. Sehen wir nun zu, wie sich SCHOPENHAUER zu unserer Frage verhält. Er ist der An- tipode von Leısnız und sagt: „Sogar 'aber lässt sich den handgreiflich sophistischen Beweisen LEIBNIZens, dass diese Welt die beste unter den möglichen sei, ernstlich und ehrlich der Beweis entgegen- stellen, dass sie die schlechteste unter den mötlichen sei. Denn Möglichkeit heisst nicht, was Einer etwa sich vorphantasiren mag, sondern was wirklich existiren und bestehen kann. Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie sein musste, um mit genauer Noth bestehen zu können: wäre sie aber noch ein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehen. Folglich ist eine schlechtere, da sie nicht bestehen könnte, gar nicht mög- lich, sie selbst also unter den möglichen die schlechteste. Denn nicht blos wenn die Pla- neten mit den Köpfen gegen einander renn- ten, sondern auch, wenn von den wirklich 838 h Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. eintretendenPerturbationen ihres Laufesirgend eine, statt sich durch andere allmählig wieder auszugleichen, in der Zunahme beharrte, würde die Welt bald ihr Ende erreichen: die Astronomen wissen, von wie zufälligen Umständen, nämlich zumeist vom irrationalen Verhältniss der Umlaufszeiten zu einander, dieses abhängt und haben mühsam ausgerech- net, dass es immer noch gut abgehen wird, mithin die Welt so eben stehen und gehen kann..... Die Thiere haben an Organen und Kräften genau und knapp so viel erhalten, wie zur Herbeischaffung ihres Lebensunter- halts und Auffütterung der Brut, unter äusser- ster Anstrengung ausreicht; daher ein Thier, wenn es ein Glied, oder auch nur den voll- kommenen Gebrauch desselben verliert, mei- stens umkommen muss.... Also durchweg, wie zum Bestande des Ganzen, so auch zum „ Bestande jedes Einzelwesens, sind die Be- dingungen knapp und kärglich gegeben und nichts darüber.... Die Welt ist also so schlecht, wie sie möglicher Weise sein kann, wenn sie überhaupt noch sein soll. W. z. b. w.“ (Parerga II, 667.) SCHOPENHAUER ist kein Philosoph, der in den Tag hineinschreibt, und selbst seinen Irrthümern liegt ein Wahr- heitskern zu Grunde. So ist es auch in diesem Falle. Es lässt sich gar nicht bestreiten, dass jeder kosmische Mechanismus, wie jeder biologische Or- ganismus nur so viel Zweckmässigkeit besitzt, als zur Existenzfähigkeit eben hinreicht. So muss es sogar sein, weil die Harmonie der Systeme, wie die An- passung der Organismen durch indirekte Auslese erzielt wird, welche ihrer Natur nach nicht mehr zu leisten vermag, als die blosse Existenzfähigkeit. Insoferne hat ScHoPENHAUER Recht; aber es geht gewiss nicht an, daraus zu folgern, dass die Welt die schlechteste unter den möglichen sei. Wie SCHOPENHAUER dem Leıssız einwerfen konnte: „Mög- lichkeit heisst nicht, was sich Einer vorphantasiren mag‘, so könnte man SCHOPENHAUER entgegnen: ‚Gut heisst nicht, was sich Einer vorphantasiren mag, sondern was dem Zweck entspricht, der erreicht werden sollte.‘‘ Wenn nun für die Zwecke der Natur die blosse Existenzfähigkeit der Mechanismen und Organismen hinreichend wäre, d. h. wenn alle weiteren Zwecke auf dieser Existenzfähigkeitaufgebaut werden könn- ten, so wäre jeder weitere Grad von Zweckmässigkeit ganz überflüssig, weil zur Existenzfähigkeit nichts weiter bei- tragend. Es wäre alsdann die lex par- simoniae naturae verletzt, also die Welt gewiss keine bessere. Unbestreithar ist, was SCHOPEN- HAUER sagt, dass unser System nicht bestandesfähig wäre, wenn die Störun- gen in demselben in der Zunahme be- harren würden, statt sich auszugleichen, dass ferner dieser Ausgleich nicht statt- finden würde, wenn die Planeten ratio- nale, d. h. solche Umlaufszeiten hätten, die sich zu einander wie ganze Zah- len verhielten. Bestreitbar ist nur die Folgerung SCHOPENHAUER's, dass das System besser wäre, wenn es grössere Störungen vertrüge. Eine Thurmuhr verträgt grössere Störungen und Ein- griffe als eine Taschenuhr, die sich für Temperatureinflüsse und Staubatome empfindlich zeigt; gleichwohl muss letz- tere als ein höheres Kunstwerk ange- sehen werden. Ja der vollendetste Me- chanismus ist gerade der für äussere und innere Störungen empfindlichste. Aehnlich im organischen Reiche: Je höher ein Wesen auf der biologischen Stufenleiter steht, je weiter der Diffe- renzirungsprocess seiner Organe gedie- hen, je mehr es Beziehungen zur äusse- ren Natur hat, desto leichter ist natürlich auch das Gleichgewicht der Kräfte gestört, auf denen der Lebens- process beruht; tiefer stehende Orga- nismen vertragen auch grössere Stö- rungen. Dies ist aber kein Grund, die Saurier über den Menschen zu stellen. Wenn also die Natur mit dem Minimum von mechanischer und organischerZweck- mässigkeit doch die Existenzfähigkeit erreicht, also mit den geringsten Mit- teln den Zweck, um den es ihr in erster Linie zu thun ist, so lässt sich doch wahrlich nicht sagen, dass sie Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. 89 schlechter sei, als jede andere denk- bare Natur. Wenn die Natur in der blossen Existenzfähigkeit ihrer Produkte hinter dem von ihr Erstrebten zurück- bliebe, dann allerdings hätte ScHoren- HAUER Recht. Aber wer vermag das zu sagen? Wir sind in die Zwecke der Natur und des Daseins nicht eingeweiht, und dürfen wir der Natur keine aus unserer Phantasie geschöpften Zwecke aufdrängen. Nur das Eine wissen wir, dass sie in erster Linie die Existenz- fähigkeit ihrer Gebilde erstrebt; das beweist sie durch die Anpassung in allen Gebieten, und speziell noch im organischen durch Lebensinstinkt, Todes- furcht und Fortpflanzungstrieb. Wenn also Möglichkeit nach ScHo- PENHAUER’S Ausspruch im Sinne von Existenzfähigkeit zu nehmen ist, so gilt ganz dasselbe von der naturwissen- schaftlichen Güte der Naturprodukte. Also gilt gegen SCHOPENHAUER dasselbe, was er an LeEIBnız aussetzt. Die Natur erstrebt die Existenzfähigkeit ihrer Pro- dukte und erreicht dieselbe mit den sparsamsten Mitteln. Nun gilt aber diese lex parsimoniae in allen Gebieten der Wissenschaft und Kunst als erster Grundsatz und Charakteristik des Guten. Vom Rednerz.B. sagt LAROCHEFOUCAULD: La veritable eloquence consiste a dire tout ce qu'il faut, et & ne dire que ce qu'il faut. Wenn zwei Reden die gleichen Gedanken enthalten, so ist die concise besser als die langathmige. Hier heisst es: Le mieux est l’ennemi du bien, oder — wie Hesıop sagt: die Hälfte ist mehr als das Ganze. Jedes überflüssige Wort ist ein Ballast, womit der Verstand des Zuhörers un- nöthiger Weise beschwert wird. ScHo- PENHAUER weiss das sehr wohl, und er empfiehlt dem Redner eben das Princip des kleinsten Kraftmaasses, das er doch an der Natur tadelt: „Wie jedes Uebermaass einer Einwirkung meistens das Gegentheil des Bezweckten her- beiführt, so dienen zwar Worte, Gedanken fasslich zu machen, jedoch auch nur bis zu einem gewissen Punkte. Ueber diesen hinaus angehäuft machen sie die mitzutheilenden Gedanken wieder dunkler und immer dunkler. Jenen Punkt zu treffen ist Aufgabe des Styles und Sache der Urtheilskraft: denn jedes überflüssige Wort wirkt seinem Zwecke ge- rade entgegen.... Viele Worte, um wenige Gedanken mitzutheilen, ist überall das un- trügliche Zeichen der Mittelmässigkeit; das des eminenten Kopfes dagegen, viele Gedan- ken in wenig Worte zu schliessen.“ (Pa- rerga II, 558.) Das Bestreben des subjektiven Gei- stes geht dahin, die objektive Natur logisch zu durchdringen. Da nun die Natur den Zweck ihrer Produkte mit den geringsten Mitteln erreicht, so müs- sen auch diejenigen wissenschaftlichen Hypothesen die besten sein, welche die Erscheinungen nach dem Begriffe des kleinsten Kraftmaasses begrifflich zer- gliedern. Der objektiv geringste Kraft- aufwand der Natur muss sich wieder- spiegeln in dem minimalen und doch zureichenden Aufwande an Logik in wissenschaftlichen Hypothesen. Von zwei Hypothesen, die gleich viel erklären, ist die einfachere die bessere; darum findet sich der erste Grundsatz der Wissenschaft schon bei PrATo gepriesen, dass die Erklärungsprineipien ohne Noth nicht vermehrt werden dürfen. Hier liegt nun aber ein Missverständ- niss sehr nahe. Die Geschichte der Wissenschaften zeigt, dass die einfach- sten Theorieen immer die letzten sind, während sie doch die ersten sein sollten, wenn sie die geringste Denkkraft er- forderten und es am leichtesten wäre, gerade auf sie zu verfallen. Aber der geringste Aufwand an Logik, der die Hypothesen auszeichnen soll, soll ja möglichst viel leisten, die vollständige Erklärung der Erscheinung, darum sind die einfachsten Hypothesen wahrhaft genial und auch historisch die letzten. Der geringste Kraftaufwand bei wissen- schaftlichen Theorieen ist also nicht in der Denkkraft des Erzeugers zu suchen, sondern nur auf Seite des Lesers, des- 90 Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. sen Geist ein Lustgefühl erfährt, wenn ihm nicht nur die Erklärung des Phä- nomens überhaupt geliefert wird, son- dern auch noch die einfachste Erklä- rung. Es wäre ganz falsch, diese Lust- empfindung aus Denkfaulheit abzuleiten; es beruht vielmehr auf der instinktiven aber festen Ueberzeugung, dass die Ein- fachheit das Siegel der Wahrheit ist. Wenn nun aber diejenige Hypo- these die beste ist, in der sich die objektive lex parsimoniae naturae am besten wiederspiegelt, so müssen wissen- schaftliche Theorieen den zu erklären- den Erscheinungen knapp und nicht wie ein schlotterndes Kleid angepasst sein. Wenn innerhalb dieser Erschein- ungen manches auch anders sein könnte, ohne dass sich die Theorie als zu eng erwiese, so muss sie fehlerhaft sein. Natur und Theorie müssen sich voll- ständig decken. Wenn ein Ueberschuss von Erscheinungsthatsachen auf Seite der Natur vorhanden ist — nicht etwa blos ein Widerspruch, ein unauflös- licher Rest der Theorie, sondern schon ein blosser Ueberfluss —, dann ist das Kleid, die Theorie, zu eng; finden sich überschüssige Gedankenoperationen auf Seite der Theorie, dann ist das Kleid zu weit. Die objektive Erzeugung des Phänomens darf nicht durch eine ge- ringere Anzahl realer Mittel gesche- hen sein, als die begriffliche Nachbild- ung des Phänomens in der Hypothese logische Mittel erfordert; sonst ist die Theorie zu weit. Der objektive Kraftaufwand der Natur darf aber auch nicht grösser sein, als der subjektive des Nachbildners, sonst ist die Theorie zu eng und umfasst nicht das Ganze der Erscheinungen. Nehmen wir ein Beispiel: Der englische Philosoph Hrr- BERT SPENCER sagt in einem Essay, worin er die Schöpfungstheorie mit der Nebularhypothese vergleicht: „Das mechanische Gleichgewicht würde darunter nicht leiden, wenn die Sonne ohne irgend eine rotatorische Bewegung wäre oder wenn sie sich in einer umgekehrten Rich- tung als die Planeten drehen würde. Mit eben so grosser Sicherheit könnte die Be- wegung des Mondes um die Erde von ent- gegengesetzter Richtung sein als die Beweg- ung der Erde um ihre Achse; oder die Be- wegung der Jupitersatelliten hätte eben so gut anders sein können als die Rotations- bewegung des Jupiter; und ebenso bei Saturn. Da jedoch keiner von diesen Fällen vorhan- den ist, so muss die Gleichförmigkeit hier wie in allen anderen Fällen als ein Beweis für die Unterordnung unter ein allgemeines Gesetz betrachtet werden, und muss einer natürlichen Causalität im Unterschiede von einem arbiträren Arrangement zugeschrieben werden.“ Alle diese vom Standpunkte der Schöpfungshypothese zufälligen und über- flüssigen Gleichförmigkeiten in unserem Sonnensystem, sind durch die Nebular- hypothese causaliter als nothwendig, erklärt. Die erstere Hypothese ist dem- nach zu eng, die letztere liegt knapp an. Ein Beispiel für den entgegengesetz- ten Fall, dass die Theorie zu weit ist, und um die Erscheinungen schlottert, bietet der sogenannte physiko-theologi- sche Beweis. Aus der bewunderns- werthen Zweckmässigkeit im kosmischen und organischen Gebiete lässt sich kein Schöpfer der Materie ableiten, sondern höchstens ein Weltbaumeister. Man darf einer Ursache nicht mehr Eigen- schaften beilegen, als die zur Erklärung der Wirkung nöthigen, wie dieses KAnt (Kritik d. r. Vernunft 491. Kehrbach) und noch ausführlicher Hums (Unter- suchungen ü. d. menschlichen Verstand ete. 135 — 147) nachgewiesen haben. Wir haben also im geistigen Ge- biete das genaue Analogon der lex parsimoniae naturae, und wenn wir sie dort bewundern, dürfen wir sie hier nicht verachten, wie SCHOPENHAUER ge- than. Andere Beispiele für dasselbe Verhältniss bieten der Turner, Tänzer, Reiter, Schwimmer, kurz die körper- lichen Fertigkeiten. Gehen die Beweg- ungen geschmeidig und ohne alles über- flüssige Beiwerk vor sich, so nennen wir sie graciös, daher denn J. HExLE Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. 91 in seinen »Anthropologischen Vorträgen « (Braunschweig 1876) sagt: »Graciös sind die Bewegungen, welche ihren Zweck mit dem geringsten Aufwand von Mit- teln erreichen.»zu- fälligen Umständen, nämlich zumeist vom irrationalen Verhältniss der Um- laufszeiten zu einander« abhängt. Zu- fällig ist nun dieser Umstand aller- dings, aber nur in Ansehung der Ne- bularhypothese, die ihn nicht erklärt, also einen Ueberschuss auf Seite der Wirklichkeit lässt. Die Aufgabe be- steht also darin, die Nebularhypothese — welche, da sie so vieles erklärt, gewiss richtig ist — zwar beizubehalten, aber doch diejenige Correktur an ihr vorzunehmen, welche diesen Ueberschuss tilgt, wodurch also ihre Anpassung an die Wirklichkeit erhöht ‚und der schein- bar zufällige Umstand irrationaler Um- laufszeiten in einen nothwendigen ver- wandelt wird; und zwar soll dieses ge- schehen, ohne dass noch eine neue Kraft zu der Gravitation hinzugefügt wird, weil diese die einzige ist, welche das mechanische Gleichgewicht des Son- nensystems begründet. Diesen Beding- ungen wird genügt, wenn wir in die Nebularhypothese noch den Process einer indirekten durch die Gravitation be- sorgten Auslese einschieben. Die Astronomie lehrt nämlich, dass diejenigen Planeten durch ihre gegen- seitige Anziehung sich am meisten stö- ren, deren Umlaufszeiten nahezu ratio- nal sind, d. h. sich wie zwei ganze Zahlen verhalten. Wäre dieses rationale Verhältniss ganz erreicht, so würde das zur Auflösung des Systems führen; da es nur nahezu besteht, gleichen sich diese Störungen in ihrer Wiederholung wieder aus. So zwischen Jupiter und Saturn, Erde und Venus, Erde und Merkur. Nun hat das Sonnensystem mehr als zweihundert Planeten, und doch finden sich keine rationalen Um- laufszeiten, sondern nur solche, deren Verhältniss nur durch Bruchtheile ganzer Zahlen sich ausdrücken lässt. Wollte man diese an einem Haare hängende Harmonie aus der blossen Nebular- hypothese ohne indirekte Auslese er- klären, so käme das der Behauptung gleich, dass der gesetzmässige Natur- verlauf direkt auf das Zweckmässige zusteuert, dass also die Sonne bei der allmähligen Verkürzung ihres Durch- messers einen Ring immer nur in dem Augenblicke zurückliess, wenn es ohne üble Folgen für das System geschehen konnte, also wenn ihre jeweilige Aequa- torschichte gerade eine Umdrehungs- geschwindigkeit besass, welche mit kei- ner Umlaufsgeschwindigkeit der früher abgetrennten Planeten in einem ratio- nalen Verhältniss stand, dass hingegen Pausen in der Abtrennung eintraten, so oft ein rationales Verhältniss be- stand. Statt die Sonne in dieser Weise gleichsam mit einem mathematischen Erinnerungsvermögen auszustatten, ist es gewiss zulässiger, den Abtrennungs- process so oft eintreten zu lassen, als die Ursache dazu in der Sonne selbst lag, und die gegenseitige Harmonie der Planeten aus einer indirekten Auslese irrationaler Umlaufszeiten, die nach- träglich eintrat, zu erklären. Dadurch wird zudem die kosmische Entwickelungslehre in Analogie gebracht mit der biologischen, wo ebenfalls das Passende nur ein Ueberlebendes ist, während das weniger Passende durch den Ausjätungsprocess beseitigt wird. Es ist aber durchaus nicht nöthig, sich die kosmische Auslese so vorzustellen, dass ursprünglich eine ungeheuere An- zahl von Planeten bestand, die so lange Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. mit den Köpfen gegen einander rannten, bis nur mehr wenige harmonische übrig blieben. Ein solche »Rempeltheorie« aufgestellt zu haben, hat mir zwar ein geistreich sein wollender Kritiker einst vorgeworfen, aber damit eben nur seine Vorstellung der kosmischen Auslese lä- cherlich gemacht. Gerade indem wir die Analogie mit dem biologischen Pro- cesse festhalten, müssen wir uns vor- stellen, dass die der kosmischen Aus- lese 'vorausgehenden Störungen schon durch die Ringe verursacht wurden, dass also schon die Keime künftiger Planeten von rationalen Umlaufszeiten beseitigt wurden, wie auch in der Bio- logie der Ausjätungsprocess nicht erst die ausgewachsenen Individuen betrifft, sondern schon die Keime. In unserem Systeme findet sich nur Ein Exemplar solcher Planetenkeime, gleichsam ein kosmisches Petrefakt: die Ringe des Saturn. Aus der Analyse derselben muss also die kosmische Auslese sich be- gründen lassen, wenn eine solche über- haupt stattfindet: Wenn ein um seine Achse rotiren- der Körper vermöge seiner beständi- gen Verdichtung auch beständig an Rotationsgeschwindigkeit zunimmt, so muss auch die Verkürzung seiner Achse und die Abtrennung äquatorealer Ring- materie beständig vor sich gehen, und es kann nicht wohl angenommen werden, dass er nur manchmal unter Zurücklassung eines grossen Ringes ruck- weise sich zusammenzog. Wenn die Ursache beständig ist, muss es auch die Wirkung sein. Dann aber müsste auch ein ununterbrochener Zusam- menhang zwischen dem Lichtkern eines Nebels und seiner zurückgelassenen Ring- materie vorhanden sein; nachträglich aber müsste dieser Zusammenhang un- terbrochen werden durch die Beseitig- ungderjenigen concentrischenRingzonen, deren Umlaufsgeschwindigkeiten rational wären. So würde die ganze breite Ring- zone in eine Mehrzahl concentrischer Kosmos, V, Jahrgang (Bd. X). 97 Ringe zerfallen, die durch leere Zwi- schenräume getrennt wären. Dies ist nun aber in der That das Bild, welches die Ringe des Saturn bieten, von wel- chen man in der Regel nur in der /weizahl redet, weil eine sehr deutliche Trennungslinie zwischen ihnen sich be- merklich macht. Sorgfältige Beobacht- ungen haben aber ergeben, dass solche Trennungslinien in grösserer Anzahl vor- handen sind, und zwar eben dort, wo, wenn sie ausgefüllt wären, die Umlaufs- geschwindigkeiten in einem rationalen Verhältnisse stünden zu der eines der 8 Monde, von welchen Saturn ausser- dem noch begleitet ist. Zwar konnte nieht konstatirt werden, dass diese se- kundären Trennungslinien den ganzen Ring durchziehen, aber dieses liegt wohl nur daran, dass das Ringsystem nicht senkrecht aufunserer Gesichtslinie steht, so dass nur die breite Haupttrennungs- linie in ihrer ganzen Ausdehnung ge- sehen wird. Ferner hat man in neuerer Zeit ein Anwachsen des innersten Rin- ges in der Richtung gegen Saturn be- merkt. Da nun aber Saturn durch einen bedeutenden Zwischenraum von dieser innersten Ringgrenze getrennt ist, so lässt sich dieses Anwachsen nicht so deuten, als würde über diesen Zwi- schenraum hinüber neue Materie des Saturn sich dort anlagern. Vielmehr muss nach Obigem der Zusammenhang der Ringe mit dem Saturn (vorbehaltlich einiger Trennungsstriche) ununterbro- chen sein, der Zwischenraum also in Wirklichkeit gar nicht bestehen, und nur die Sichtbarkeitsgrenze die- ser Materie kann es sein, welche in der Richtung gegen Saturn beständig vor- geschoben wird. Es erklärt sich dieses aus der zunehmenden Abkühlung des Planeten, der sich noch im Zustande des Selbstleuchtens befindet, wie über- haupt die grösseren Planeten. So ent- stehen auch bei der Abkühlung unserer Luftschichten sichtbare Nebel, deren Materie nicht neu gebildet wird, son- - 98 Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. dern eben nur durch grössere Verdicht- ung sichtbar wird. AR ZöLLnerR hat nun die Hypothese aufgestellt, dass künftige Generationen das Schauspiel erleben werden, dass der innerste Ring die Saturnkugel be- rühren wird, woran sich — beiläufig gesagt, — noch die weitere Hypothese anfügen liesse, dass die räthselhafte, aber in den Traditionen aller Völker wiederkehrende Sintfluth aufeinemähn- lichen Vorgang beruhte, nachdem die Erde in ihrem Abkühlungsprocesse eine meilendicke Kruste gebildet hatte, auf der die Ringmaterie ihres Aequators sich niederschlagen konnte. Nach Jon#s und Hkıs besitzt die Erde noch immer einen solchen Ring, das sogenannte Zodiakallicht, das entweder ausserhalb oder innerhalb der Mondbahn sie um- gibt. Saturn besitzt nun ein Ringsystem, dessen Breite einschliesslich des tren- nenden Hauptspaltes 46 000 Kilometer beträgt; und wenn alle beobachteten sekundären Theilstriche den ganzen Ring durchziehen sollten, so würden etwa 30—40 concentrische Ringe vor- handen sein. Da nun diese merkwür- digen Begleiter unzweifelhaft mit dem Saturn ehemals zusammenhingen — ja durch verdünntere unsichtbare Materie noch zusammenhängen —, so ergibt sich, dass Saturn, indem er sich ver- dichtete und seinen Durchmesser um 46 000 Kilometer verkürzte, mindestens 30—40 Ringe abtrennte. Es ist daher im höchsten Grade unwahrscheinlich, dass dagegen die Sonne, die — wenn Neptun der äusserste Planet sein sollte — ihren Durchmesser um 700 Millionen Meilen verkürzt hat, dabei nur 8 Ringe abgetrennt haben sollte. So scheint also das Saturnsystem zu beweisen, dass die Sonne statt 8 sehr breiter und durch sehr grosser Zwischenräume getrennter Ringe, deren vielmehr eine unbestimmbare Anzahl ohne beträchtliche Zwischenspalten nach und nach abgetrennt hat, dass also die Abtrennung nicht selten und sprung- weise, sondern nahezu eben so conti- nuirlich geschah, als die zu Grunde liegende Ursache thätig war: der Ver- dichtungsprocess der Sonne. Die in- direkte Auslese hätte demnach bereits die Keime der künftigen Planeten be- troffen, und dadurch die Anzahl der ringförmigen und späterhin kugelförmi- gen Begleiter zwar wesentlich verringert, aber auch die zweckmässige Massen- vertheilung der Ueberlebenden erzielt. Dagegen würde uns die entgegenstehende Ansicht, dass eben so viel Ringe über- leben, als abgetrennt werden, dass also die Sonne nur 8 oder mit Einschluss der vereinigten Asteroidenmasse 9 Ringe abtrennte und keine indirekte Auslese stattfand, zu der jedenfalls höchst be- denklichen Folgerung treiben, dass Sa- turn, wenn nicht ausnahmsweise sein Ringsystem stabil geblieben wäre, nun- mehr das merkwürdige Schauspiel eines von nahezu 50 Monden begleiteten Pla- neten bieten würde. — Die indirekte Auslese des Zweck- mässigen lässt sich in Ansehung des Sonnensystems auf verschiedene Weise nachweisen: 1. Auf induktivem Wege durch Be- obachtung des Resultates, das sich aus den wahrnehmbaren Bahnveränderungen ergibt. In dieser Hinsicht sind wir an diejenigen Glieder des Systems ver- wiesen, die sich noch im Zustande pro- gressiver Anpassung befinden: die Öo- meten. Die Beobachtung aber zeigt eine beständige Beseitigung des Un- zweckmässigen, aus dem sich immer Störungen ergeben, welches einer ob- jektivren Zunahme des Zweckmässigen gleichkommt. 2. Auf deduktivem Wege, indem man die indirekte Auslese voraussetzt und die Veränderungen erforscht, die sich unter Voraussetzung dieses Prin- cips ergeben müssten. Stimmen alsdann die theoretischen Folgerungen mit den Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. 99 Thatsachen der Wirklichkeit überein, ohne dass sich auf Seite dieser ein Ueberschuss ergibt, so ist die Thätig- keit des vorausgesetzten Princips in hohem Grade wahrscheinlich. Nur durch indirekte Auslese aber scheint es sich zu erklären, dass die Glieder unseres Systems sich theilweise in conservativer Anpassung befinden — die Planeten — theilweise noch in progressiver — die Cometen. Wenn ferner einer der Be- gründer der Nebularhypothese, LArLAck, zu dem Verlegenheitsausspruche sich genöthigt sieht, dass die Cometen Fremd- linge des Systems sind, auch wenn sie rechtläufig sind, d. h. das räumliche Bewegungsmoment mit den Planeten theilen, so macht dagegen die indirekte Auslese sie zu einheimischen Gliedern, zu Bruchstücken der im Ausleseprocess beseitigten Planeten; es wird also ein für die Nebularhypothese vorhandener Ueberschuss der Wirklichkeit beseitigt, wenn wir noch Auslese stattfinden lassen, und der Erklärungsumfang der Nebu- larhypothese wird erweitert, ohne dass eine weitere erklärende Kraft herbeigezo- gen werden müsste, als die Gravitation. Nachdem ich mich diesen beiden ersten Aufgaben schon anderweitig, theils im »Kampf ums Dasein am Him- mel«, theils in den »Planetenbewohnern« unterzogen habe, konnten hier nur mehr ergänzende Untersuchungen ihren Platz finden, während der Hauptzweck der war, die indirekte Auslese zu be- weisen 3. durch Vergleichung des im Son- nensystem niedergelegten Entwickelungs- resultates mit den wahrnehmbaren Re- sultaten des organischen Entwickelungs- processes. Es hat sich gezeigt, dass in beiden Gebieten, die Besonderheit der Objekte natürlich abgerechnet, iden- tische Resultate vorliegen, welche auf die Identität des wirkenden Princips, die indirekte Auslese, schliessen lässt. Wer an der Schale der Erscheinungen mit seinem Blicke hängen bleibt, wird freilich die Uebertragbarkeit des Dar- winismus auf die Astronomie schon darum nicht einsehen, weil Planeten keine Säugethiere sind; wer aber zum Kern der Sache durchdringt, wird auch einsehen, dass die ganze Terminologie des Darwinismus astronomisch verwerth- bar ist, soweit es die Objekte gestatten, also in Bezug auf Auslese und Anpas- sung. 4. Durch vergleichende Abschätzung des Princips der indirekten Auslese mit denjenigen anderen Principien, auf wel- che die kosmische Zweckmässigkeit zu- rückzuführen noch versucht werden könnte. Der Theismus in seiner land- läufigen Form und der Materialismus haben sich in dieser Hinsicht als un- zulänglich erwiesen. Die Wissenschaft sucht nach natürlichen Kräften und die Berufung auf transscendente Eingriffe ist nur ihre Banquerotterklärung. Nur der- jenige Theismus steht also mit der Wissenschaft wenigstens nicht in Wider- spruch, der die göttlichen Absichten durch die natürlichen Gesetze vollzogen werden lässt. Der Materialismus da- gegen, bei welchem blinde Kräfte das Zweckmässige nur etwa so finden kön- nen, wie die blinde Henne ein Korn, nimmt das unwissenschaftliche Erklär- ungsprincip des Zufalls an, der aber überhaupt nichts mehr erklärt, sobald es sich um eine aufsteigende Reihe zweckmässiger Veränderungen handelt. Der beständige Fortschritt liegt nicht im logischen Begriffe des Gesetzes, das ja auch im Chaos herrschen kann. Nun sehen wir aber aus chaotischen Nebeln feingegliederte Sonnensysteme entstehen, durch geologische Veränderungen die Möglichkeit des Lebens vorbereitet wer- den, im biologischen Processe immer höhere Lebensformen entstehen, und Ver- nunft und Moral als höchste Blüthen der Kulturgeschichte. Kein Einsichtiger wird behaupten, dass mit der Erforschung der Gesetze aller dieser Veränderungen das Welträthsel gelöst wäre. Gesetze, 7* 100 deren Produkt eine beständige Höher- bildung ist, sind eben zielstrebige Ge- setze. Hier hat also die Philosophie den Faden in die Hand zu nehmen, während der Naturforscher, der durch Aufdeckung der Gesetze seine Schuldig- keit allerdings glänzend gethan hat, als Mohr abzutreten hat. Die Kritik des Sonnensystems führt also zu folgenden Ergebnissen hinsicht- lich des zu erklärenden Objekts und des erklärenden Princips: Das Objekt betreffend ergibt sich, dass die vorliegende Welt das Resultat eines Entwickelungsprocesses ist, der nach natürlichen Gesetzen verläuft. Die gesetzmässig wirkenden Kräfte der Ma- terie sind die einzigen Agentien, welche kosmisch, wie organisch, die Einzel- gebilde hervorrufen. Wir brauchen aber noch ein treibendes Moment für den Fortschritt, der sich nicht aus den Kräften erklärt, sondern erst aus der Concurrenz der von den Kräften her- vorgerufenen Einzelgebilde. Von einer solchen Concurrenz lässt sich aber im übertragenen Sinne in der Astronomie so gut reden, als es in der Linguistik bereits geschehen ist. In dieser Con- currenz wird das Zweckmässige indirekte ausgelesen. Diese Auslese ist aber so wenig ein eigentliches wirkliches Agens, als irgend ein Naturgesetz. Naturgesetze | sind nur Vorstellungen, die wir uns von der gleichförmigen Wirkungsweise der wirklichen Agentien, nämlich der Natur- kräfte bilden. Veränderungen werden also niemals durch Gesetze, sondern nur durch Kräfte nach einem be- stimmten Gesetze, d. h. in gleichförmi- ger Weise bewirkt. Die kosmische Kraft ist also die Gravitation, das kosmische Naturgesetz ist die indirekte Auslese des Zweckmässigen. Es hat sich gezeigt, dass es in der Natur dieses Gesetzes liegt, nur das Minimum der Existenzfähigkeit zu er- zielen, aber nicht das Maximum der Zweckmässigkeit. Dieses ist gleichwohl Carl du Prel, Kritik des Sonnensystems. nicht pessimistisch im Sinne SCHOPEN- HAUER’sS auszulegen; vielmehr liegt in dieser beschränkten Zweckmässigkeit unseres Sonnensystems nur ein Fall jener lex parsimoniae naturae, die wir in allen Gebieten beobachten. Auf Grund- lage der blossen Existenzfähigkeit un- seres Systems sahen wir Gebilde her- vorgerufen werden, welche kosmisch, organisch und geistig, in der Astrono- mie, Biologie und Geschichte als eine aufsteigende Reihe von Erscheinungen sich darstellen, trotzdem auch in den beiden letzteren Gebieten nur indirekte Auslese waltet und nur eben die Exi- stenzfähigkeit ihrer Produkte erzielt. Wenn aber der biologische und geistige Fortschritt jedenfalls unsere Verwunde- rung und Bewunderung herausfordert, wie sollten wir die astronomische Grund- lage dieses Processes pessimistisch aus- legen dürfen ? In Bezug auf das Weltprineip er- gibt die Kritik des Sonnensystems Fol- gendes: Es kann dieses Prineip aus der empirischen Welt nur dunkel erkannt werden. Das letzte Wort der Natur-. wissenschaft ist das blinde Gesetz. Aber es ist unbestreitbar, dass dieses nicht das letzte Wort des Welträthsels sein kann. Das Naturgesetz ist selbst der Erklärung bedürftig. Es kann Gesetze ohne Fortschritt, ja mit beständigem Rückschritt oder Kreislauf geben. Das Stück Welt, das wir überblicken, zeigt eine beständige Höherentwickelung. Diese Tendenz muss also im Gesetze liegen. Es kann in der Wirkung nicht mehr liegen, als der Anlage nach bereits in der Ursache liegt; wenn also der Ent- wickelungsgang unseres Systems anhebt mit dem chaotisch zerstreuten Nebel, und derzeitig abschliesst mit der Kul- turgeschichte und ihren höchsten Blü- then, Wissenschaft, Kunst und Moral, so muss der Keim dieser Blüthen schon in der Ursache liegen, die Naturgesetze müssen irgendwie mit Intelligenz durch- webt gedacht werden. Die blinde Un- W. 0. Focke, Die Verbreitung der Pflanzen durch Thiere. vernunft kann nicht Vernunft hervor- bringen, und da Vernunft ist, so kann die Unvernunft nicht Weltprineip sein. Materialisten also können wir auf kei- nen Fall sein, sondern nur Theisten oder Pantheisten. Wenn aber der Ma- terialismus überwunden ist, so ist es wenigstens vom praktischen Standpunkte | | 101 aus ziemlich gleichgültig, ob wir Theis- ten oder Pantheisten, Dualisten oder Monisten sind. Auf Erkenntniss hin ist das Sonnensystem jedenfalls angelegt ; ' für den Dualisten ist der Naturverlauf Erkenntnissprocess eines Objekts, für den Monisten Selbsterkenntnissprocess eines Subjekts. Die Verbreitung der Pflanzen durch Thiere. Von Dr. W. O. Focke. Im vierten Hefte des fünften Jahr- ganges (Band IX) dieser Zeitschrift findet sich ein interessanter Aufsatz des Herrn Dr. E. Huru über die Anpass- ungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. Es sind in demselben zwei Grnppen von Erscheinungen be- sprochen worden, und zwar erstens eine einseitige, ausschliesslich den Pflan- zen vortheilhafte Anpassung, nämlich die anhäkeligen Samen und Früchte, sowie zweitens eine gegenseitige, sowohl den betheiligten Thieren als den Pflanzen nützliche Einrichtung, nämlich die Beeren- und Steinfrüchte. Es könnte nun scheinen, als ob der Herr Verfas- ser diese beiden Anpassungen, durch welche die Pflanzen sich die Bewegungs- fähigkeit der Thiere als Transportmittel für ihre Samen zu Nutze gemacht ha- ben, für nahezu die einzigen hält, wel- che diesem Zwecke dienen. Es dürfte daher wohl gerechtfertigt sein, die lehr- reichen Mittheilungen des Herrn Ver- fassers durch einige sich daran anrei- hende Bemerkungen zu ergänzen, die vielleicht zu genaueren Beobachtungen anregen werden. In der Oesterreichi- schen Botanischen Zeitschrift habe ich früher einmal (September 1874) dar- auf aufmerksam gemacht, dass die gros- sen und schweren Samen, die ich als Nussfrüchte zusammenfasste, ganz spe- ciell der Verbreitung durch Thiere an- gepasst sind. Es giebt nach meiner Ansicht in Europa und auch wohl in der ganzen nördlichen gemässigten Zone keinen Baum und kaum einen grösse- ren Strauch, deren Samen nicht mit ir- gend einem Verbreitungsmittel ausge- rüstet wären. Auch bin ich geneigt zu glauben, dass in den wenig zahlreichen Fällen, in denen ich mir keine Rechen- schaft über die Verbreitungsweise zu geben vermag, dennoch Anpassungen an irgend welche Transportmittel vorhan- den sind. Ein Apfelkern, ein Himbeer- steinchen, ein der Flughaut beraubter Tannen- oder Birkensame sind voll- kommen geeignet, die Art fortzupflan- zen. Und doch giebt es keinen Baum und keinen Strauch, welche derartige Samen hervorbrächten, ohne dass sie mit irgend “einem Verbreitungsmittel ausgestattet wären. Die Thatsache ver- dient beachtet und in ihrer ganzen Be- deutung gewürdigt zu werden. Im Anschluss an die Hurn’sche Ar- 102 beit möchte ich zunächst einige Bemerk- ungen machen. Ich bin der Meinung, dass von dem geehrten Herrn Verfas- ser etwas zu ausschliesslich die Bezieh- ungen der beerenfrüchtigen Gewächse zur Vogelwelt betont sind. Manche nie- drige Beerensträucher und Kräuter schei- nen kaum geeignet, gerade den Vögeln eine augenfällige Speise zu bieten. Völ- lig unbrauchbar für Vögel sind indess die grossen fleischigen Früchte der Aep- fel, Pomeranzen, Kürbisse, Bananen und zahlreicher anderer tropischer Gewächse. Unzweifelhaft sind diese Früchte der Ver- breitung durch Säugethiere angepasst, “ unter denen die Affen und die Bären ganz besonders in Betracht kommen dürften. Der Mensch hat in den gemäs- sigten Klimaten in mehr als einer Be- ziehung die Erbschaft der Bären ange- treten, indem er vielfach sowohl ihre Wohnstätten als ihre Nahrungsmittel für sich selbst in Anspruch nahm. Die einst so zahlreichen Bären haben in vorgeschichtlichen Zeiten die Früchte der Pflaumen-, Apfel- und Birnbäume, der Himbeeren undBrombeeren, derErd- beeren, Heidelbeeren u. s. w. massen- haft verzehrt und sind dadurch zugleich für die Ausbreitung dieser Fruchtpflan- zen thätig gewesen. Für die Vögel sind dagegen diejenigen Früchte die werth- vollsten, welche sehr lange unverdor- ben an den Baum hängen bleiben, z. B. die beerenartigen Früchte der Eber- eschen, Hülsen und Wachholder. Wie ich schon oben andeutete, wird nach meiner Ansicht die Bedeut- ung der grossen stärkemehlreichen Sa- men für die Verbreitung der Pflanzen noch vielfach unterschätzt. Man ist gewöhnlich der Ansicht, dass der grosse Nährstoffvorrath in den Nusssamen und Eicheln für das Gedeihen ihrer Keim- pflanzen nützlich sei. Es soll nicht bestritten werden, dass dies in der That der Fall ist, aber man hat kei- nen Grund, den Nutzen allzu hoch an- zuschlagen. Die winzigen Samen von W. 0. Focke, Die Verbreitung der Pflanzen durch Thiere. Salix alba und Populus nigra liefern viel kräftigere und raschwüchsigere Keim- pflanzen und junge Bäume als die tau- sendmal schwereren Eicheln. Allerdings erfordern Salix und Populus zu ihrem Gedeihen in der Jugend viel Feuchtig- keit, aber auf trockenerem Boden sind Carpinus, Betula, Pinus und andere Bäume trotz ihrer ungleich kleineren Samen bei der Keimung keineswegs in besonders auffallendem Nachtheil gegen Quercus und Fagus. Die Grösse der Samen ist somit der jungen Pflanze von verhältnissmässig geringem Nutzen, während sie unstreitig für die Thier- welt ausserordentlich werthvoll ist. Eine Eiche trägt Jahrhunderte lang alljährlich viele tausend Eicheln. Von den Millionen Eicheln, die jeder Baum somit im Laufe seines Lebens hervor- bringt, braucht durchschnittlich nur eine einzige sich wieder zu einem voll- kommenen Baume zu entwickeln, um die Species in ihrem Individuenbestande zu erhalten. Es können somit unzäh- lige Früchte mit Nutzen geopfert wer- den, wenn dadurch der Zweck erreicht wird, dass eine einzige an einer gün- stigen Stelle keimt und heranwächst. Wenn 1°/o der Früchte verschleppt wird, von diesem Procent wieder nur 1°/o keimt, und von letzterem Zehntausendstel wie- der 1°/o zu kräftigen alten Bäumen wird, ist nicht allein der Fortbestand der Art gesichert, sondern auch deren Ausbreitung, da die Lücke, welche je- der zusammenbrechende alte Stamm hinterlässt, in der Regel durch seine aus nicht verschleppten Früchten er- wachsenden Nachkommen ausgefüllt wer- den wird, weil dieselben an der betref- fenden Stelle, zunächst durch ihre grosse Individuenzahl, bei der Wettbewerbung im Vortheil sind. Es kann somit gar nicht zweifelhaft sein, dass es für lang- lebige, zahlreiche Früchte hervorbring- ende Bäume von ausserordentlichem Nutzen ist, wenn ihre Samen von Thie- ren als Nahrung aufgesucht werden, W. ©. Focke, Die Verbreitung der Pflanzen durch Thiere. vorausgesetzt, dass die Thiere einen, wenn auch nur kleinen, Theil dieser Samen unbeschädigt verschleppen. Es sehen den Thieren aber stets Früchte, die sie als Nahrungsmittel forttragen, verloren, bald auf der Flucht, bald zu- fällig, bald in den Magazinen, welche sie sich für den Winter anlegen. — Es würde natürlich für die Ver- breitung jeder Pflanzenart nur nach- theilig sein, wenn deren Samen vor voller Reife gefressen würden. Manche grosssamige Bäume besitzen daher an ihren Früchten besondere Schutzmittel, welche die unreifen Samen vor den An- griffen gefrässiger Thiere bewahren. Die Stacheln der Kastanien, Rosskasta- nien und Buchen, dienen diesem Zwecke, ähnlich wie auch einzelne Beerenfrüchte (z. B. niedrige Rubus-Arten) vor der Reife durch stachlige Hüllen geschützt sind. Die unreifen Zirbelnüsse und Pinienkerne sind in festgeschlossenen Zapfen geborgen; bei den Wallnüssen ist vielleicht die herbe Fruchtschale ein Schutzmittel. Bei der Reife hört die Wirksamkeit dieser Schutzmittel auf; die Samen fallen z. B. aus ihren Sta- chelhüllen heraus. Wäre die Kastanie bestimmt, einfach zur Erde zu fallen und dort einen etwaigen günstigen Mo- ment zur Keimung abzuwarten, so wäre ihr der Schutz der Stachelhülle nach der Reife noch nützlicher als vor der- selben, denn die auf den Erdboden gefallene Frucht ist viel zahlreicheren Thieren zugänglich als die auf dem Baume sitzende. Die Kastanie ist aber bestimmt, Thieren als Nahrung zu die- nen; es werden zahlreiche Samen ge- opfert, damit einzelne an einen für die Keimung günstigen Platz gebracht wer- den können. Eine besondere Anpassung an die Verbreitung durch Thiere zeigen die hartschaligen nussartigen Samen, wie die Hasel- und Walnüsse, die Man- * Die Pfirsich ist eine Mandel mit flei- schiger Fruchtschale; in diesem Falle hat 103 deln, manche Palmenfrüchte u. s. w. Die Gewinnung des nahrhaften Kerns aus diesen Samen ist für die Thiere zeitraubend; die Nüsse werden daher oft in ein Versteck oder an einen einiger- massen sichern und bequemen Ort ge- bracht, bevor sie eröffnet werden; durch den Zeitverlust und die während dieser Zeit eintretenden Störungen und Zwi- schenfälle müssen offenbar verhältniss- mässig viele Samen nach dem Ver- schleppen der Zerstörung durch den Zahn der Thiere entgehen. Die Anpassung durch Grösse der Samen ersetzt oft bei nahe verwand- ten Gattungen andere Anpassungen. Bei den Palmen kommen vielfach so- wohl fleischige als nussartige Früchte vor. Unter den Cupuliferen haben Eichen, Kastanien, Rothbuchen und Haselnüsse grosse nahrhafte Samen, die Hainbuchen (Carpinus, Ostrya) ugfähige ; unter den Walnüssen haben Juglans und Carya grosse, von einer halbflei- schigen Hülle umgebene Nüsse, während Pterocarya geflügelte Früchte besitzt; ähnlich verhalten sich auch die Gat- tungen Magnolia und Liriodendron zu einander*. Die Nadelholzbäume haben im Allgemeinen fliegende Samen, einige Arten (Pinien, Zirbeln) jedoch grosse, nahrhafte. Es ist somit klar, dass die Nahrhaftigkeit der Samen andere Ver- breitungsmittel ersetzt. Da manche geflügelte Samen bei massenhaftem Vor- kommen eine nicht wunbeträchtliche Menge von Nahrungsstoff bieten (Tan- nen, Hainbuchen), daher auch vielfach von Thieren verzehrt werden, so lässt sich leicht erkennen, auf welchem Wege sich die schwersamigen Arten aus den fliegenden herausgebildet haben werden. Die grossen nahrhaften Samen werden zum Theil von Vögeln (Häher) gefres- sen und verschleppt; vorzugsweise sind sie, wenigstens in gemässigten Klima- Anpassung entwickelt, durch welche sie viel- leicht grösseren und weiter wandernden Thie- sich bei einer nussartigen Frucht eine neue | ren (Bären?) nützlich wurde. 104 ten der Verbreitung durch Eichhörn- chen, Hamster und andere Nagethiere angepasst ; dies gilt ganz besonders von den Nüssen. Die Zahl der grosssami- gen Bäume und Sträucher ist verhält- nissmässig klein; dass aber die Grösse und Nahrhaftigkeit der Samen ein Vor- theil für die Verbreitung sein muss, lässt sich schon daraus schliessen, dass alle kleinsamigen Bäume mit sonstigen Verbreitungsmitteln ausgerüstet sind. Im Haushalte der Natur nehmen die schwersamigen Bäume eine beson- dere Stellung ein. Wenn auch Samen zum Verschleppen bestimmt sind, so liegt es doch in der Natur der Sache, dass sie in der Regel* nicht sehr weitfortgeführt werden. Die schwer- samigen Bäume treten daher in der Regel gesellig, häufig in geschlossenen Beständen auf. Auf neuen Standorten, Dünen, Fel- sen, Ruinen u. s. w. siedeln sich zu* erst immer flugsamige und beerenfrüch- tige Arten an. Am weitesten fliegen von europäischen Holzpflanzen die Weiden, Heiden, Rhododendren und verwandten Gewächse, aber beerenfrüchtige Sorbus, Vaceinium, Empetrum, Hippophaö, Juni- perus u. s. w. pflegen ihnen doch in der Besiedelung der schwer zugängli- chen Standorte zuvorzukommen. Dar- auf folgen die Birken und dann die Arten mit schwereren Flügelsamen, wie die Ulmen, Eschen, Linden, Ahorne und namentlich Nadelhölzerund Weissbuchen, die schon geschlossene Wälder bilden. In den Gegenden, in welchen grosse zusammenhängende Landstriche sich für Waldwuchs eignen, folgen dann die langsam sich verbreitenden Wald- bäume mit den schweren Samen, die Eichen, Kastanien und Buchen. In Dä- nemark und anderen Ländern hat man beobachtet, dass eine ehemalige Vege- tation von Birken und Kiefern später * Anders verhalten sich natürlich die schwimmfähigen Cocosnüsse. ihre | | | W. ©. Focke, Die Verbreitung der Pflanzen durch Thiere. durch Eichen und schliesslich durch Buchen ersetzt ist; es ist dies einfach der Gang der Verdrängung der flügel- samigen durch dieschwersamigen Bäume, welche von dem aus Wasser oder Glet- schereis emportauchenden Lande am spätesten Besitz ergreifen konnten. Auf einsamen oceanischen Inseln, wie Madeira und die Azoren, wurden die ursprünglichen Wälder von Beeren- früchtlern gebildet, denen sich einzelne Sträucher mit sehr feinen und leichten fliegenden Samen (Saliz, Erica) bei- gesellt hatten. Auf den näher am Fest- lande gelegenen Canaren kamen schon einzelne Arten mit grösseren Flugsamen vor. Dagegen fehlten auch hier die schwersamigen Bäume und Sträucher ebenso vollständig wie auf Madeira und den Azoren. Diese Betrachtungen zei- gen, wie verschieden die Stellung der Pflanzenarten im Haushalte der Natur sich gestaltet, je nachdem die Verbreit- ungsmittel ein sprungweises Wandern gestatten oder nicht. Die schwerfrüch- tigen Bäume rücken langsam in ge- schlossenen Beständen vor; ohne die Hülfe der Häher und Nagethiere wür- den sie aber nicht im Stande sein, auch nur das schmalste Bachthal zu über- schreiten oder einen nur einigermaas- sen steilen Abhang zu erklimmen. Nahrungsreiche Samen kommen aber nicht nur an Bäumen vor. So z. B. stellen Vögel den Samen der Sonnen- blumen (Helianthus) und Disteln (Car- duus) eifrig nach; während viele ver- zehrt werden, werden andere zerstreut und einzelne dürften auch wohl am Gefieder hängen bleiben, so dass sie auf weite Strecken verschleppt werden können. Mais, Reis und manche an- dere Gräser und Hülsenpflanzen dürf- ten in ähnlicher Weise verbreitet wer- den. Man hat die Vermuthung aus- gesprochen, dass Erbsen, Bohnen und andere Hülsengewächse mit nahrhaften Samen dadurch verbreitet werden, dass Vögel sie fressen und im Kropfe auf- W. O0. Focke, Die Verbreitung der Pflanzen durch Thiere. bewahren. so werden die Samen als verwerthet, wird er aber getödtet so ge- langen sie zur Erde und können, wenn der Platz günstig ist, keimen und heran- wachsen. chen Fall wirklich beobachtet (Abh. Naturw. Ver. z. Bremen V. S. 649). Man wird sich indess schwer entschlies- sen, zu glauben, dass eine Pflanzenart gerade der Verbreitung durch zufällig umkommende Vögel angepasst sein sollte. Vielleicht entgehen von Samen, die gleichzeitig in grosser Menge ge- fressen werden, einige der mechanischen und chemischen Einwirkung der Ver- dauungswege. Die Art und Weise, wie gewisse Leguminosen durch Vögel verbreitet werden, ist somit noch nicht ganz klar, obgleich es nicht füglich be- | zweifelt werden kann, dass zu der Aus- streuung ihrer Samen Thiere wesentlich beitragen. Man findet unter den Schmet- terlingsblüthlern (Leguminosen) häufig Samen mit Schleuder- oder Flugvorrich- tungen oder anhäkelige Früchte; es ist daher wahrscheinlich, dass die nahe verwandten concurrirenden Gattungen ebenfalls in irgend einer Weise bevor- Bleibt der Vogel am Lehen, | Nahrung Ich habe einmal einen sol- | | | zugt sind, durch welche sie ihre Aus- breitung sichern. Für die historische Entwickelung des Pflanzenreichs sind die Beziehun- gen zwischen Pflanzen und Thieren von besonderer Wichtigkeit. In Südafrika, auf dem Australcontinent und auf Neu- seeland sind einheimische Frucht- und Nähr-Pflanzen ungemein selten. Die Beziehungen zwischen Blumen und In- secten sind wenigstens in Afrika und Australien — ob in Neuseeland, mag dahingestellt bleiben — ebenso ent- wickelt wie bei uns auf der nördlichen Halbkugel. Die Zahl der Fruchtbäume und Beerensträucher ist dagegen in je- nen Gegenden sehr gering. Einzelne Arten aus südamerikanischen fruchttra- genden Gattungen finden sich in Neu- seeland, aus ostasiatischen in Australien, 105 aus indisch-abyssinischen in Südafrika. Zum Theil stimmen selbst die Arten ganz oder nahezu überein. Ganz be- sonders gering ist in jenen Ländern die Zahl der für den Menschen geniess- baren Früchte. Weder Bären noch Affen haben dort vor Ankunft des Menschen Fruchtpflanzen gezüchtet. Der an die Vorwelt erinnernde Charakter, welchen insbesondere die Pflanzenwelt Australiens zeigt, beruht zum Theil in dem Mangel an Anpassungen an Säuge- thiere und Vögel. Die Ausbildung von geniessbaren Früchten, stachligen Or- ganen, Giftstoffen u. s. w. hat aber auf die übrigen Eigenschaften der be- treffenden Pflanzen zurückgewirkt und | der Vegetation einen ganz andern Cha- rakter verliehen. Auch die Kleinheit der Verbreitungsbezirke vieler südafri- kanischen und australischen Pflanzen- arten dürfte zum Theil auf diese Ver- hältnisse zurückzuführen sein. Schliesslich möchte ich die Aufmerk- samkeit der Beobachter auf Beziehungen zwischenPflanzen undThieren lenken, wel- chenoch so gut wie völlig unbekannt sind. Die höheren Pflanzen bieten den Insecten Honig und Pollen, den Säugethieren und Vögeln nahrhafte und wohlschmeck- ende Früchte, damit die Thiere gele- gentlich einen Theil des Pollens und der Samen verschleppen. Durch Farbe und Geruch werden die Thiere auf die Nahrungsquellen aufmerksam gemacht. Eine ähnliche Verbindung von Nähr- stoff, den die Pflanze selbst nicht ver- werthet, mit Farben und Gerüchen fin- den wir vielfach bei den höheren Pil- zen. Betrachten wir ein Zycoperdon, so finden wir, dass der junge Frucht- körper zwar umfangreich und nahrhaft ist, dass er aber im eigenen Interesse der Pflanze verwendet wird. Das ganze Innere des Pilzes verwandelt sich in Sporen, die sich beim Platzen der Hülle als Staubwolke verbreiten und durch den Wind weithin entführt werden können. Da das Platzen der Frucht- 106 körper manchmal durch den Fusstritt von Menschen und Thieren bewirkt wird, muss sich ein Theil der Sporen auch an den lebenden Geschöpfen fest- setzen und durch sie entführt werden, aber dieser Umstand dürfte bis jetzt als ein zufälliger Vortheil und nicht als Anpassung zu betrachten sein. Ver- gleicht man nun andere Pilze, z. B. Agaricus und Boletus, mit Lycoperdon, so erkennt man leicht, dass ihre Sporen viel geringere Aussicht haben, durch den Wind ausgestreut zu werden, wäh- rend wenigstens manche Arten aus diesen Gattungen in ihrem Hute oberhalb der Fruchtstände eine grosse Menge Nahr- ungsstoff enthalten, den die Pflanze selbst gar nicht ausnutzen kann. Die Sporen fallen aus dem Hute nach un- ten direct auf den Erdboden; nur wenn der absterbende Pilz umfällt oder um- | geworfen wird, ist für sie die Aussicht, durch die Luft verbreitet zu werden, eine etwas grössere. Viele Arten wach- sen aber im Walde unten am Erdboden, wo der Luftzug sehr gering zu sein pflegt. Ich bin nun der Ansicht, dass manche Pilze der Verbreitung durch Schnecken angepasst sind. Sie enthal- ten grosse Mengen Nährstoff für diese Thiere, welche als Gegenleistung die Ausstreuung der sich an ihren schlei- migen Körper festsetzenden Sporen be- sorgen. Ein Transport auf weite Ent- fernungen ist freilich durch die Schne- cken nicht wohl möglich; dagegen sind die gewöhnlichen Aufenthaltsorte der Schnecken, insbesondere der Limax- Arten, auch für viele Pilze sehr geeig- net. Gegen die Pilzgifte scheinen Schnecken unempfindlich zu sein. Es ist indess wahrscheinlich, dass noch irgend welche sonstigen Anpassungen zwischen Pilzen und anderen Thieren bestehen. Die lebhaften Farben man- cher Pilze sind schwerlich für Schnecken- augen bestimmt ; vielmehr ist zu ver- muthen, dass dieselben den Zweck ha- ben, irgend welche Insecten anzulocken. W. ©. Focke, Die Verbreitung der Pflanzen durch Thiere. Eine deutliche Beziehung zur Insecten- welt zeigt Phallus, der unter starkem Fäulnissgeruch zu einer schleimigen Masse zerfällt, so dass aller Wahr- scheinlichkeit nach durch Aasfliegen die Verbreitung der Sporen vermittelt wird. Unter den übrigen Kryptogamen scheinen Anpassungen an die Thierwelt, welche die Verbreitung der Sporen be- zwecken, selten zu sein. Die farn- ähnlichen Gewächse liefern den Thieren wenig Nahrung; die Farnpflanzen schei- nen von den Farnwurzeln fressenden Riesenvögeln Neuseeland’s keinen Vor- theil gezogen zu haben. Möglich, dass Thiere an der Verbreitung der Marsi- leen, Pilularien und Iso&ten theilnehmen, deren Früchte immerhin etwas Nähr- stoff bieten. Unter den Laubmoosen ist es eine einzige Gruppe, welche allem Anschein nach genaue Anpassungen an die Thier- welt zeigt. Die Splachnaceen wachsen auf verwesendem Thierkoth und haben unter allen Moosen die augenfälligsten Früchte. Bei Splachnum ist der Ansatz unterhalb der die Sporen enthaltenden Büchse stark entwickelt, bei Tayloria ist es mehr die die Büchse bedeckende Haube. Die ungewöhnliche Ausbildung dieser Nebenorgane macht die frucht- tragenden Splachnaceen so auffallend; ganz besonders schön sind einige sub- arktische Arten. Man kann unmöglich die Vermuthung zurückweisen, dass die Augenfälligkeit der Splachnaceenfrüchte die Anlockung von Insecten bezweckt, und dass diese Insecten die Sporen jener Moose von einem Kothhaufen auf einen andern übertragen. Es ist mir nicht bekannt, dass Untersuchungen über diese Verhältnisse angestellt sind, ich weiss auch nicht, in welcher Weise die Sporen oder die jungen Pflanzen von Splachnum überwintern. Die That- sachen sind aber so eigenartig, dass an dem Bestehen irgend welcher ge- nauen Beziehungen zwischen Lebens- weise, Augenfälligkeit und Verbreitung Emile Yung, Der Einfluss des farbigen Lichts ete. der Splachnaceen kaum ein Zweifel ob- walten kann. Die Anpassung zwischen Vögeln und beerenfrüchtigen Gewächsen, welche von Herrn Dr. Hurm eingehend geschildert worden ist, dürfte somit nur eine ein- zelne, wenn auch besonders wichtige Thatsache aus der Reihe der Wechsel- beziehungen sein, welche zwischen Thie- | 107 ren und Pflanzen bestehen. Es ist in- dess nothwendig, sich auch mit solchen Erscheinungen einigermaassen vertraut zu machen, über welche wir noch nicht genügend unterrichtet sind, damit Die- Jenigen, welche in die Lage kommen, Beobachtungen anzustellen, die ihnen gebotene Gelegenheit auch wirklich be- nutzen. Der Einfluss des farbigen Lichts auf die Entwickelung der Thiere. Von Emile Yung. Zoologisches Laboratorium in Genf. Ich habe nicht die Absicht, diesen umfangreichen Gegenstand vollständig abzuhandeln. Es ist aber absolut ge- ‚wiss, dass das Licht je nach seinen verschiedenen Intensitätsgraden und je nach seiner verschiedenen Färbung eine verschiedene Wirkung ausübt auf drei Klassen von Körpern, nämlich auf ei- nige chemische Substanzen, auf die Pflanzen und auf die Thiere. Die grü- nen Strahlen sind den grünen Pflanzen schädlich, die violetten Strahlen schei- nen für die Thiere vortheilhaft zu sein. Jedes organische Individuum ist der Einwirkung einer bestimmten Anzahl von Kräften unterworfen, die es sich nutzbar macht oder bekämpft, und es ist die Aufgabe der Experimentalwissen- schaften, die Rolle zu erforschen und zu bestimmen, welche diese verschie- denen Kräfte in dem Leben des orga- nischen Individuums spielen. Ein be- stimmter Temperaturgrad, eine be- stimmte electrische Spannung, eine be- stimmte Menge Licht ist ebenso unum- gänglich nothwendig für diese oder jene Lebensthätigkeitalsebendieselben Kräfte z.B. für die Schmelzung oder Krystalli- sation eines Minerals erforderlich sind. Das junge Thier (oder die junge Pflanze) befindet sich vom Eizustande bis zu seinem Tode unter der Einwir- kung des physikalisch-chemischen Me- diums, in welchem es sich entwickelt. Um den Einfluss dieses Mediums genau kennen zu lernen, muss man dasselbe in seine Elemente zerlegen und jede der das Medium constituirenden Kräfte einzeln studiren. Da ich im Begriff bin, eine Anzahl von Versuchen zu wiederholen, welche bis jetzt an zu den verschiedensten Thiergruppen gehörigen Thieren ange- stellt wurden, um den Einfluss der far- bigen Lichtstrahlen, welche vereinigt das weisse Licht ergeben, auf die Ent- wickelung derselben zu bestimmen, so benutze ich diese Gelegenheit, um die über diesen Gegenstand bis jetzt be- kannten Thatsachen zu resumiren. PAuL Bert hat berühmt gewordene Untersuchungen angestellt, um den Ein- fluss der farbigen Lichtstrahlen auf die Pflanzen zu studiren. Wir verweisen auf die Analyse, welche er früher davon gegeben hat* und beschränken uns dar- auf, über die an Thieren angestellten Versuche zu berichten. * P. BERT (Revue scientif. 20 avril 1878). 108 Im Jahre 1858 hatte ein französi- scher Physiologe, BücLAarp, die Idee, Fliegeneier, welche zu derselben Zeit gelegt worden waren (Mausca carnaria), unter farbige Gläser zu bringen; als er dieselben einige Tage hatte liegen lassen, bemerkte er, dass die aus den Eiern ausgekrochenen Larven in ihrer Entwickelung sehr von einander ver- schieden waren. Er stellte fest, dass die im violetten Licht entstandenen Maden mehr als um das Dreifache an Dicke und Länge die im grünen Licht ausgekrochenen Maden übertrafen; er ordnete daher die Farben des Spectrums in folgende Reihe, indem er ihren gün- stigen Einfluss auf die Entwickelung der Eier berücksichtigte.. Die erste Farbe ist die vortheilhafteste: Violett. Roth. Weiss. Blau. Gelb. Grün *. Etwas später erfuhren wir durch zwei englische Forscher, Mac DoNnnELL und Hıs6ınBorton, dass die zu gleicher Zeit im Lieht und im Finstern gross gezogene Froschlarven sich gleich gut in beiden Fällen entwickelten **. In einemsehr merkwürdigen Memoire, welches von Posy von der Academie Unter violettem Glasdach. | vier anderen Emile Yung, Der Einfluss des farbigen Lichts der Wissenschaften im Namen des Ge- nerals PLEASONToN aus Philadelphia vor- gelegt wurde, findet sich ein Bericht über den nachstehenden Versuch, dessen Resultat mit der Behauptung B£cLArp’s über das violette Licht übereinstimmt; freilich verdient dieser Bericht nicht uneingeschränkte Glaubwürdigkeit, weil in demselben Angaben über die Be- dingungen des Versuchs fehlen: »Am 3. November 1869 brachte der General drei kleine Sauen und einen- Eber in einen Stall, dessen Dach aus violetten Scheiben hergestellt war, drei andere Sauen und einen Eber brachte ı er in einen anderen Stall mit weissem Glasdach. Die acht Schweine waren ungefähr zwei Monate alt, und das Ge- sammtgewicht der vier ersten betrug 167!/2 Pfund, das Gesammtgewicht der 205 Pfund. Sie wurden von derselben Person gefüttert mit dem- selben Futter, sowohl der Qualität als auch der Quantität nach und zu den- selben Tageszeiten. Als am 4. März 1870 die sechs Schweine weiblichen Geschlechts gewogen wurden, erhielt man nachstehende Resultate. Unter weissem Glasdach. 3. Nov. 1869. 122 Pfd. 144 Pfd, 4. März 1870. 520, „ 5a Gewichtszunahme 398 Pfd. 386 Pfd. Es wogen also die unter violettem Glasdach gefütterten Thiere 12 Pfund mehr als die unter weissem Glasdach gefütterten, und da die drei unter vio- lettem Glasdach gefütterten Schweine schon im Anfange 22 Pfund weniger ge- wogen hatten als die unter weissem | Glasdach gefütterten, so ergab sich ein Unterschied von 34 Pfund in der Ge- | * J. BECLARD, Note relative A Vinflu- ence de la lumiere sur les animaux (Compt. rend. de l’Acad. des sciences, t. VI, 1858). ## Mac DONNELL, Expose de quelques experiences, etc. (Jourmal de physiologie de Brown Sequard, t. II, p. 625). J. Hıscın- | | wichtszunahme. Die Vergleichung der Körpergewichte der beiden Eber lieferte ungefähr dasselbe Resultat. Andere Versuche, welche von dem- selben Experimentator mit dem Wein- stock und einem Stiere angestellt wur- den, bestätigten diese Ergebnisse ***. Endlich wollen wir noch über den von Prof. SCHNETZLER aus Lausanne an- BOTTON, Influence des agents physiques sur le developpement, etc. (meme journal, 1863). *** A, Po&y, Influence de la lumiere vio- lette sur la croissance de la vigne, des co- chons et des taureaux (Compt. rend. de l’ Acad. des sc. t. LXXIIH, 1871, p. 1236). auf die Entwickelung der Thiere. gestellten Versuch berichten, durch wel- chen er die Einwirkung des grünen Lichts auf die Entwickelung von Frosch- eiern (Rana temporaria) feststellen wollte. Dieser Gelehrte brachte in einen weissen Glasbecher, welcher 2000 ccm Wasser und einen genügenden Vorrath von Wasserpflanzen (Klodea canadensis) ent- hielt, eine Anzahl von diesen Eiern; eine andere Anzahl wurde in einen grü- nen Becher gebracht, in dem 1100 cem Wasser und dieselben Pflanzen waren. Die zwei Gefässe wurden unter denselben Bedingungen demselben Licht ausgesetzt. Ende Mai hatten die Larven im weissen Gefäss 4 cm Länge, und die Hinterfüsse waren bei den meisten von ihnen entwickelt. Die Larven im grünen Gefäss krochen aus dem Ei einige Tage später als die des dem weissen Licht ausgesetzten Gefässes und blieben klein. Ende Mai hatten sie kaum eine Länge von 2 cm, und keine Spur einer Anlage von Hinterfüssen zeigte sich. >Am 10. Juni, fährt SCHNETZLeER fort, zeigten sich bei den Larven im weissen Gefässe die Vorderfüsse, einige von ihnen hatten sich fast vollständig zu Fröschen umgebildet. Die Larven im grünen Ge- fässe waren immer noch sehr schwarz und lebhaft und hatten keine Spur von Extremitäten, sie athmeten noch fast ausschliesslich durch innere Kiemen. »Am 25. Juli hatten alle Larven im weissen Gefässe ihre Metamorphose beendet. An den Larven im grünen Gefässe konnte man noch keine Spur von Füssen bemerken. Die zwölf Lar- ven im ersten Gefäss hatten jede 266 ccm Wasser zu ihrer Benutzung. Die sieben Larven im zweiten Gefäss hatten jede im Anfang 157 ccm Wasser. Um sie unter günstigere Bedingungen zu * J. B. SCHNETZLER, Influence de la lumiere sur le developpement des larves de grenouilles (Arch. des sciences phys. et na- tur., t. LXI, 1874, p. 247). ** E. Yung, Influence de differentes cou- leurs du speetre sur le developpement des | 109 versetzen, wurden vier Larven aus dem zweiten Gefäss in das erste gebracht. »Jede der drei übrigen Larven im zweiten Gefäss hatte 366 ccm ‚Wasser zur Benutzung. Diese Wassermenge wurde oft erneuert, ebenso die Pflan- zen, welche den Larven zur Nahrung dienten. Nachdem zwei dieser Larven von der dritten verzehrt ‚worden waren, hatte diese allein am Leben gebliebene 1100 cem Wasser zu ihrer Benutzung. Trotz dieser günstigen Lebensbedingun- gen war sie Ende Juli nur 3'/e cm lang, zeigte keine Spuren von Füssen und athmete hauptsächlich durch innere Kiemen**. »Eine einzige von den drei aus dem grünen in das weisse Gefäss versetzten Larven bildete sich in Folge dieser Ver- änderung vollständig um.« Durch seinen Versuch hat SCHNETZLER eine vollständige Entwickelung des Fro- sches nicht erhalten können. Es ist übrigens eine allgemein ge- machte Beobachtung, dass die Sterb- lichkeit unter den in einem Aquarium lebenden Thieren zunimmt, wenn die, Scheiben desselben sich mit grüner, confervoider Substanz bedecken. Aus den verschiedenen Arbeiten, welche wir soeben kurz resumirt haben, geht auf das Deutlichste hervor, dass die verschiedenen Farben eine verschie- dene Wirksamkeit besitzen; dieser Um- stand war die Veranlassung dafür, dass wir eigene Untersuchungen anstellten, deren Ergebnisse wir während der letz- ten Jahre veröffentlichten **. Für Versuche dieser Art hat das farbige Glas mehrere Uebelstände, unter denen sein hoher Preis und die Schwie- rigkeit es vollständig monochromatisch zu erhalten, die wesentlichsten sind. Wir animaux (Arch. de zoologie experimentale et generale, t. VII, 1878, p. 251), et Influence des lumieres color&es sur le developpement | des animaux (Mittheilungen aus der zoologi- schen Station zu Neapel, Il. Band, 2. Heft, p- 233, 1880). * 110 haben es daher durch farbige Lösungen ersetzt, welche zwischen zwei Gefässe von gewöhnlichem weissen Glase, aber von etwas verschiedenem Durchmesser gegossen wurden. Man nimmt fünf Gefässe von drei bis vier Liter Inhalt und stellt sie der- artig in fünf andere Gefässe von der- selben Form, aber von einem etwas grösseren Durchmesser, dass der zwi- schen beiden Gefässen befindliche Raum fünf bis sechs Millimeter beträgt, dar- auf bringt man in diesen Raum eine möglichst monochromatische Lösung. Wenn man nun jedes der Gefässe mit einem dicken Pappdeckel bedeckt, so erhalten natürlich die in ihrem Innern befindlichen Körper nur farbiges Licht. Ich benutze bis jetzt folgende Farb- stoffe: Eine alkoholische Lösung von voll- ständig monochromatischem Kirschfuch- sin für das Roth. Eine gesättigte Lösung von chrom- saurem Kali für das Gelb. Die Lösung lässt ein wenig Roth und Grün durch- gehen, es ist uns aber nicht gelungen ein monochromatisches Gelb zu finden. Für das Grün eine concentrirte Lösung von salpetersaurem Nickeloxydul, voll- ständig monochromatisch. Für das Blau eine alkoholische Lösung der Lyoner Blau genannten Anilinfarbe; die Lösung lässt ein wenig Violett durchgehen. Für das Violett endlich eine alko- holische Lösung der »Violet de Parmes genannten Anilinfarbe, die Lösung lässt einige blaue Strahlen durchgehen. Diese Gefässe, welche wir von nun an durch ihre Farbe bezeichnen, stan- den neben einander auf demselben Fen- ster, in ihnen allen befand sich dieselbe Quantität Wasser, ihre der Luftventila- tion ausgesetzten Oberflächen waren gleich gross, endlich herrschte in ihnen dieselbeTemperatur, dieäusseren Lebens- bedingungen waren daher für die Be- wohner dieser Gefässe dieselben, mit Ausnahme der Beleuchtung. Emile Yung, Der Einfluss des farbigen Lichts Die Eier der Wasserthiere, mit wel- chen wir unsere Versuche angestellt haben, waren zu derselben Zeit gelegt worden und hatten daher dasselbe Alter. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Eier ungefähr in derselben Weise sich entwickelt hätten, auch wenn sie an ihrem ursprünglichen Orte dem Gange der natürlichen Entwickelung überlassen worden wären. Dennoch ist es immer nothwendig auf individuelle Verschieden- heiten Rücksicht zu nehmen, und zu, diesem Zwecke ist es vortheilhaft, mit einer genügend grossen Menge von Eiern Versuche anzustellen, mindestens mit zehn oder zwölf und Messungen an mehreren Individuen vorzunehmen. Die mittleren sind besonders instruktiv. Zur Vergleichung füllten wir noch zwei einfache Gefässe, von denen das eine sorgfältig in dem Dunkel eines Schrankes aufbewahrt wurde, das an- dere aber dem weissen Sonnenlicht aus- gesetzt wurde. Als Alles demgemäss angeordnet war, brachten wir in jedes Gefäss Eier von Rana esculenta und Rana tempo- raria, von Salmo trutta, von Limnaea stagnalis, von Loligo vulgaris und Sepia officinalis, von Thieren also, die, wie , man sieht, sehr verschiedenen Typen angehören. Da die Eier von der Forelle u. s. w. im stagnirenden Wasser bald sterben, so stellten wir vermittelst Röhren, welche in demselben Reservoir saugten, und vermittelst passend angebrachter Wasserheber eine ununterbrochene Strö- mung her, welche stets dieselbe Wasser- menge, sowohl der Quantität als auch der Qualität nach, in den verschiedenen Gefässen unterhielt. In den andern Ge- fässen genügte es, das Wasser regelmäs- sig Morgens und Abends zu erneuern. Diese Anordnungen genügen, solange es sich nur darum handelt, die Ent- wickelung des Embryo im Ei zu ver- folgen, sobald aber der Embryo das Ei verlassen hat, kommt ein anderer auf die Entwickelung der Thiere. Umstand hinzu, das ist die Nahrung. Gleiche Ernährungsverhältnisse in allen Gefässen herzustellen, ist schwierig, und es ist deshalb die grösste Vorsorge er- forderlich. In jedem Gefäss muss sich quanti- tativ und qualitativ dieselbe Nahrungs- substanz befinden. Die Froschlarven wurden während der ersten Tage ihres selbständigen Lebens mit Algen ge- füttert, welche von derselben Art waren und von demselben Ursprung. Ausser- dem wurde noch ganz allmählich und zu derselben Zeit animalische Nahrung hinzugefügt. Der Einfluss der Nahrung auf die Entwickelung ist äusserst be- merkbar, namentlich bewirkt die Auf- nahme animalischer Substanzen ein ra- pides Wachsthum der Larven. Wir kommen übrigens in einem späteren Artikel auf das Maass dieses Einflusses noch zurück. Verfolgen wir nun die Entwickelung der Eier, z. B. die Froscheier, welche, am Tage nachdem sie gelegt worden waren, in die Gefässe gebracht worden waren. Nach sieben Tagen waren Lar- ven in allen Gefässen ausgekrochen, aber aus unseren Notizen lassen sich schon Unterschiede des einen Gefässes vom anderen erkennen. So sind das violette und blaue Gefäss im Vortheil hinsichtlich der Anzahl und Kräftigkeit der Jungen, welche sich in ihnen be- finden. In dem Maasse als man vor- schreitet, verstärken sich immer mehr und mehr die Unterschiede. Das Wachs- thum der dem violetten oder blauen Licht ausgesetzten Larven ist beschleu- nigt, das Wachsthum der dem rothen oder grünen Licht ausgesetzten Larven ist gehindert. Diese Thatsache ergiebt sich aus den Messungen, welche an drei Individuen in jedem Gefässe einen Monat nach ihrem Auskriechen vorge- nommen wurden. Man findet in meinem Bericht, der in den »Archives de zoologie experimen- tale«, welche von Lacazr - DUTHIERS 111 herausgegeben werden, veröffentlicht ist, noch zahlreichere Angaben, aus wel- chen der Fortschritt zu verschiede- nen Zeitpunkten ersehen werden kann. Im Alter von einem Monat erfreuten sich die Larven der besten Gesundheit in allen Gefässen. Ich muss jedoch sogleich bemerken, dass ich im Laufe des zweiten Monats bei drei Versuchs- reihen die im grünen Licht gross ge- zogenen Jungen durch den Tod verloren habe, und dass dasselbe etwas später mit den Jungen im rothen Gefäss sich ereignete. Der Versuch wurde beendet mit der Umbildung der Larve zum Frosch, d.h. nachdem die Larve ihre Hinter- und Vorderfüsse entwickelt und den Schwanz abgeworfen hatte. Sobald diese Umbildung stattgefunden hatte, wurde die Larve aus dem Gefässe entfernt. Der Verlust der äusseren Kiemen, das Erscheinen der Hinter- und Vorderfüsse sind leicht verständliche Wachsthums- phänomene, aber sie sind von grossen individuellen Unterschieden bedingt, so dass in unseren verschiedenen Gefässen diese Erscheinungen nicht in der Reihen- folge auf einander gefolgt sind, welche der nach der Körpergrösse festgestellten | entsprochen hätte. Es giebt gewiss Ein- flüsse secundärer Art, die diese Phäno- mene bedingen. Wir müssen jedoch darauf beharren, dass immer in dem violetten Gefäss sich der erste voll- ständig entwickelte Frosch gezeigt hat. Eine andere wichtige Thatsache ist die Beobachtung, dass in der Dunkelheit eine vollständig normale, wenn auch mässig verlangsamte Entwickelung sich zeigte. F. Wınuıam EpwaArps hatte in seinem Buche über den Einfluss der physischen Agentien auf das Leben be- hauptet, dass die Entwickelung bei gänzlichem Lichtmangel nicht von Stat- ten gehen könne; einen Nachhall von dieser Meinung findet man noch heute in mehreren Elementarwerken. Wir haben jedoch gesehen, dass Mac DonneuL und Hı661nBoTTon zu ganz entgegengesetzten 112 Resultaten gelangt sind. Nach ihnen lich durch die Dunkelheit beeinflusst. Die Wahrheit scheint nach unseren Unter- suchungen die zwischen beiden Ansich- ten vermittelnde Meinung zu besitzen, jedoch scheint die letzte Ansicht der Wahrheit näher gekommen zu sein. Die Grösse der Emile Yung, Der Einfluss des farbigen Lichts | Dunkelheit verhindert nicht durchaus würde die Wachsthumszeit nicht merk- | die Entwickelung, aber sie verlangsamt dieselbe. Gleichalterige Larven im dun- keln Gefäss waren kleiner als solche in dem dem weissen Licht ausgesetzten Gefässe. Ausserdem war die Sterblich- ı keit im dunkeln Gefäss ein wenig be- trächtlicher als im anderen Gefäss. einen Monat alten Larven von Rana esculenta in Millimetern nach den verschiedenen farbigen Medien. Rothes Gefäss. Gelbes Gefäss, Grünes Gefäss. Blaues Gefäss. u [u Tore Mein. Ike Bram Bar, De 19,00 4,50 22,00 5,00 16,00 4,00 24,00 5,50 19,50 4,50 23,00 5,50 15,00 3,50 25,50 6,00 19,00 4,50 2350 5,50 14,50 3,50 24,00 5,50 Summa 57,50 13,50 68,50 16,00 45,50 11,00 73,50 17,00 Mittel 19,16 4,50 22,83 5,33 15,16 3,66 24,50 5,66 Violettes Gefäss. Weisses Gefäss. Dunkles Gefäss. Länge. Breite. Länge. Breite. Länge. Breite. 29,00 7,00 23,00 5,50 19,00 4,50 26,50 6,50 23,50 5,50 21,00 5,00 27.00 6,50 23,00 5,50 19,00 4,50 Summa 82,50 20,00 69,50 16,50 59,00 14,00 Mittel 27,50 6,66 23,10 5,50 19,66 4,66 Wenn wir nun in unsere Gefässe »1. Das violette Licht befördert die an Stelle der Froscheier Eier hinein- | Entwickelung der niederen Organismen. brachten, welche den vorher erwähnten | Thieren angehörten, so gelangten wir zu denselben allgemeinen Resultaten. der zoologischen Station zu Neapel an- gestellt, wo die Fülle an Wasser und Arbeitsmaterial beträchtlich war. Farben ausgesetzt, und die Jungen kro- chen früher aus in dem violetten und blauen Gefäss als in dem gelben und rothen Gefäss. Uebrigens hat Serrano FarıcArı in einem Ende 1879 der Academie des sci- ences vorgelegten Bericht meine ersten Resultate bestätigt, dieich durch Versuche mit Infusorien erhielt. Ich berichte hier seine eigenen Schlussfolgerungen : Eier | von Sepia und Loligo wurden einfachen | »2. Das grüne Licht verzögert sie. >3. Die Kohlensäureproduction ist immer grösser im violetten Licht und Im vergangenen Jahre habe ich diese | Untersuchungen an marinen Arten auf | kleiner im grünen Licht* etc.« Aus diesen sämmtlichen Versuchen ergiebt sich, dass im Gegensatz zu den bei den Pflanzen beobachteten Vorgän- gen, bestimmte einfache farbige Licht- strahlen für die Entwickelung der Thiere günstiger sind als das zusammengesetzte Sonnenlicht. Diese wichtige Thatsache, auf welche BscLarn zuerst die Auf- merksamkeit der gelehrten Welt gelenkt zu haben scheint, verdient einer stren- gen Kritik unterworfen zu werden, und ich muss nun auf die Differenz auf- ® SERRANO FATIGATI, Comptes rendus de ’Academie des sciences, t. LXXXIX, 1 dee. 1879. auf die Entwickelung der Thiere. merksam machen, welche zwischen den Schlussfolgerungen BrcLArp’s und «den meinigen herrscht in Hinsicht der Stei- gerung der Farben unter dem für uns wichtigen Gesichtspunkt. Wir haben vorher die Anordnung BrcLARrD's an- gegeben, die unsrige unterscheidet sich von ihr besonders darin, dass das rothe Licht viel unter dem gelben und weissen Licht, sehr nahe aber dem grünen Licht za stehen kommt, welches sich unter allen Umständen als der Entwickelung der Thiere nicht zuträglich erwiesen hat. Im Nachfolgenden geben wir un- sere Gruppirung unter den angegebenen Bedingungen. Violett. Blau. Gelb. Weiss. Das gelbe und weisse Licht stehen einander sehr nahe. Die Jungen waren bisweilen in dem weissen Gefässe dicker und stärker als die in dem gelben Ge- füsse; aber in den meisten Fällen fand das Entgegengesetzte statt. Die Existenzbedingungen und na- mentlich die Ernährungsweise ist der- artig bei Thieren und Pflanzen verschie- den, wenigstens bei den Arten, mit denen bis jetzt Versuche angestellt wur- den, dass wir nicht erstaunen dürfen, wenn wir zu entgegengesetzten Resul- taten im Laufe unserer Untersuchung gelangt sind. Die Dunkelheit übte eine tödtliche Wirkung auf die Pflanze aus, weil sie die Function der ChlorophyllI- bildung zum Stillstand bringt. Brrr stellte Versuche an mit fünfundzwanzig Pflanzenarten, unter denen sich sowohl Cryptogamen als auch Phanerogamen * Jamin, la Photochimie (Revue seient. 1866—67). ** Jun. Sachs, Physiologie vegetale, tra- (duetion”frangaise par Marc Mıcnenı, 1868, p- 25, et Jur. Sachs, Wirkungen des farbigen Lichts auf Pflanzen. (Bot. Zeitung, 1864.) *** BECLARD, loc. cit. + SELMI et PIACENTINI, Dell’ influenza dei raggi colorati sulla respirazione. (Ren- dieonti dell’ Instituto lombardo, 2. serie, vol. Kosmos, V. Jahrgang (Bd, X). Roth. Grün. 113 aus den verschiedensten Familien be- fanden, er pflanzte die einen unter ein gewöhnliches weisses Glas, die andern unter weisses ungeschliffenes, schwarzes, rothes, gelbes, blaues Glas und ge- langte zu folgender allgemeiner Schluss- folgerung: ’ In letzter Beziehung sind alle Far- ben für sich genommen für die Pflanzen schädlich; ihre Vereinigung aber nach den Verhältnissen, aus denen das weisse Licht entsteht, ist für die Gesundheit der Pflanzen erforderlich; die Gärtner müssen daher auf die Anwendung von farbigen Gläsern und Dächern bei Ge- wächshäusern und Fenstern verziehten. Drarsr stellte folgenden gelungenen Versuch an, über den Jamın berichtet hat: er nahm sieben Glasröhren, welche mit Kohlensäure geschwängertes Wasser und ein Gramineenblatt enthielten, dar- auf liess er auf jede von ihnen eine der sieben Spectrumfarben einwirken *. Nach einiger Zeit wurde Sauerstoff frei in den Röhren, welche gelbe und rothe Strahlen erhielten, in den andern Röh- ren dagegen nicht. Die rothen und gelben Strahlen, welche den leuchtend- sten Theil des Spectrums ausmachen, sind also die einzigen, welche den Pflanzen die Fähigkeit ertheilen, den Sauerstoff der Luft zu erneuern. Dieser elementare Versuch wurde unter den verschiedensten Formen und mit der grössten wissenschaftlichen Strenge wie- derholt, immer aber gelangte man zu denselben Resultaten **. Wenn wir nun zurückblicken auf die Versuche von B£cLArn ***, Sermı und Pıacknrinı f, Porr ff, Mouescnhorr und III, p. 51—63, 1870.) ++ Rosert Port, Vergleichende Unter- suchung über die Mengenverhältnisse der durch Respiration und Perspiration ausge- schiedenen Kohlensäure bei verschiedenen Thierspecies in gleichen Zeiträumen, nebst einigen Versuchen über Kohlensäureaus- scheidung desselben Thieres unter verschie- denen physiologischen Bedingungen (Habili- tationsschrift ‚Jena, 1875) S 114 Fuginı* über die Wirksamkeit des Lichts, so müssen wir constatiren, dass gewisse Abweichungen in den über die Lungen- und Hautathmung bei den Thieren ge- wonnenen Resultaten vorhanden sind, welche den wissenschaftlichen Werth derselben um vieles vermindern. Morr- schorr hat im Jahre 1855 gezeigt, dass das weisse Licht im Vergleich mit dem Lichtmangel in nicht zu engen Grenzen einen günstigen Einfluss auf die Kohlen- säuremenge, welche bei Fröschen frei wird, ausübe. dass die Vermehrung der Kohlensäure- menge um so grösser ist, je beträcht- licher die Lichtintensität ist, mit an- dern Worten, dass die Frösche für die- selben Gewichts- und Zeiteinheiten "/ı2 Er fand zur selben Zeit, | Emile Yung, Der Einfluss des farbigen Lichts bis '/a Kohlensäure mehr ausathmen unter dem Einfluss des Lichts als unter dem der Dunkelheit, so lange die Tem- peraturgrade gleich sind oder nur um weniges differiren. Hierin stimmen alle überein, aber diese Uebereinstimmung verschwindet, sobald es sich um die far- bigen Strahlen handelt. Nach SeLmı und Pıackntinı wirkt das grüne, gelbe und blaue Licht energischer auf die Ath- mung als das weisse Licht, während ' das rothe und violette Licht in dieser Hinsicht unter ihm stehen. Sie haben Versuche angestellt mit dem Hund, der Turteltaube und dem Huhn. Die nach- folgende Tabelle ist der evidenteste Be- weis für diese Thatsache. Beziehung zwischen der ausgeathmeten Kohlensäurequantität und der Natur . 13 des Lichts nach Serum und Pıacknting”. Dunkelheit : Violettes Licht . Rothes a Weisses n Blaues 5 Grünes 5 Gelbes = Hund. Turteltaube. Huhn. 100 100 100 107 1 119} 112 129 133 122 147 144 126 147 149 141 159 153 155 194 187 #® Die Zahlen beziehen sich auf die Kohlensäure-Quantität (— 100) als Einheit ge- rechnet, welche in der Dunkelheit erhalten wurde. Diese allgemeinen Resultate sind be- stätigt worden von R. Port, der Ver- suche in Bezug auf die Anordnung der Farben mit Mäusen (Maus musculus) an- stellte; die Zahlen aber, welche er er- halten hat, wachsen viel rapider als die in der Tabelle der italienischen Experi- mentatoren angegebenen: Relative Quantität der von Mäusen ausgeathmeten Kohlensäure unter verschiedenen Beleuchtungsbedingungen, nach R. Port. Dunkelheit Violettes Licht Rothes Y Weisses %,„ Blaues Mn Grünes F Gelbes u; Temperatur. Verhältnissmässiger Betrag - der Kohlensäure. 152.0 100 152 133 15°2 143 14°,5 153 1502 187 14°,5 196 15°5 267 * MOLESCHOTT et FuBinı, Sull’ influenza della luce mista e eromatica nell’ ehalazione di acido carbonico per l’organismo-animale. Torino, 1879. auf die Entwickelung der Thiere. Man könnte also aus diesen beiden Versuchsreihen schliessen, dass gewisse farbige Lichtstrahlen die Athmungsfunc- tion beschleunigen. Aber in ihrer neu- sten Arbeit sind Morzscnorr und Fugint auf Grund einer sehr grossen Anzahl von Versuchen zu anderen Schluss- folgerungen gelangt, über welche es nicht unnöthig sein wird, zu berichten. Sie haben Versuche angestellt mit Amphibien, Vögeln und Säugethieren; sie haben ihre Versuche verdoppelt und sind dabei mit einer Genauigkeit und Vorsicht zu Werke gegangen, wie man sie nicht bei den Versuchen ihrer Vor- gänger wiederfinden kann. Sie haben ihre Aufmerksamkeit namentlich auf das weisse, rothe, gelbe und veilchenblaue (azzuro violacea) Licht gerichtet. Aber unter den farbigen Lichtstrahlen haben sie beständig gefunden, dass das Veil- chenblau energischer auf die Ausath- mung von Kohlensäure wirkt als die andern farbigen Lichtstrahlen im Gegen- satz zu den oben erwähnten Resultaten, Kohlensäurenmengen, welche bei verschiedener Beleuchtung, 115 ja es zeigte sich sogar dieses Licht in den meisten Fällen dem weissen Licht überlegen. Dieser letzte Punkt ist für uns besonders wichtig, weil er von un- bestrittener Wahrheit für die Batra- chier ist. Das rothe Licht ist viel weniger günstig als die andern untersuchten Lichtarten, so dass beim Frosch diese Lichtart weniger wirksam ist als die Dunkelheit. Diese Beobachtung war schon von UHAasanowitz gemacht wor- den*, indem er mit demselben Thier Versuche anstellte. Er gelangte zu dem Resultate, dass, wenn man die durch dieselbe Gewichts-Menge von Fröschen innerhalb vierundzwanzig Stunden aus- geathmete Kohlensäure als 100 setzt, die Menge, welche unter denselben Be- dingungen im rothen Licht ausgeathmet wird, nicht mehr als 95 beträgt. Ich will hier noch einige Zahlenangaben zum Vergleich zusammenstellen, welche von MouescHort und Fugını herstammen. aber in derselben Zeit von verschiedenen Thieren ausgeathmet wurden. Dunkelheit. Frosch . . RR 00 Vögel (Sperling, Kanarienv nvogel) 100 Wanderratte . . . 100 Wir besitzen keinen Bericht über die Intensität der Athmungsphänomene bei den Froschlarven, aber man kann auf Grund der soeben berichteten That- sachen annehmen, dass die chemisch- wirksamen Strahlen des Spectrums, blau und violett, zu einem schnelleren Ver- brauch der Gewebe führen als die ther- mischen Strahlen. Dies wird durch folgen- den Versuch bestätigt: Wenn man eine be- stimmte Anzahl von Froschlarven nimmt, welche ungefähr von derselben Körper- * ÜHASANOWITZ, Ueber den Einfluss des Lichtes auf die Kohlensäureausscheidung Rothes Veilchenblaues Weisses ı Lieht. Licht. Licht. 100,5 115 112 128,0 139 142 111,0 140 137 grösse sind und bisher unter densel- ben Bedingungen erzogen worden sind und sie darauf aushungert unter der Einwirkung verschiedener Farben, so wird man die im violetten Licht befind- lichen viel schneller sterben sehen, als die andern, und die Anordnung der Far- ben ist in diesem Falle genau die Um- kehrung von derjenigen, welche wir für das Wachsthum erhalten haben. Das farbige Licht ist im Allgemeinen dem Leben ohne Nahrung nicht zuträglich im thierischeu Organismus. Inaugural-Dis- sertation. Königsberg, 1872. 116 und in dieser Hinsicht nimmt das vio- lette Licht die erste Stelle ein. Wie kommt es nun, dass dasselbe Licht uns so schöne Resultate für das Wachsthum geliefert hat? Man muss zugestehen, dass das farbige Licht die Nahrungserscheinungen, die Assimilation der Nahrungsmittel in einem noch grös- seren Maasse beschleunigt als die Ver- brennungs- und Zersetzungserscheinun- gen. Im violetten Licht ist der Bruch- theil der gewonnenen Substanz über die verlorene Substanz beträchtlicher als in den andern Lichtarten. Nehmen wir eine gleiche Anzahl von Froschlarven, welche vom Ei an ihre Entwickelung in den farbigen Gefässen durchgemacht haben, und legen sie alle in die dem weissen Licht ausgesetzten Gefässe, entziehen ihnen jede Nahrung, so werden wir bemerken, dass die Frosch- larven, welche sich im violetten Licht entwickelt haben, länger dem Aushun- gern widerstehen als diejenigen, welche sich in den andern Lichtarten entwickelt haben. In dieser Hinsicht hat der Versuch gezeigt, dass die Anordnung der Farben die folgende war: Violett, Blau, Gelb, Weiss, Roth, Grün. Die im violetten Licht aufgezogenen Larven hatten eine solche Quantität von Nahrungsstoffen aufgespeichert, dass sie besser dem Nahrungsmangel widerstehen konnten als die andern, während die- jenigen, welche der Einwirkung des rothen und grünen Lichts ausgesetzt waren, und welche wir immer so elend gesehen haben, sehr schnell zu Grunde gingen. Es ist zu bedauern, dass die grünen Strahlen von Morescnorr und Fusını nicht studirt worden sind, die rothen Strahlen aber nähern sich sehr der Dunkelheit oder stehen selbst unter ihr (Cmasanowırz) in Hinsicht ihrer Ein- wirkung auf die Athmung, ein Platz, der ihnen in gleicher Weise in Folge Emile Yung, Der Einfluss des farbigen Lichts unserer Versuche über die Entwickelung gegeben worden ist. Jetzt haben wir über die für’s Erste gewonnenen Resultate unserer Versuche berichtet, ohne dass es uns für den Augenblick möglich war, eine genügende Erklärung zu geben. Kommt der Ein- fluss der einfachen Lichtarten und des weissen Lichtes vermittelst des Nerven- systems zu Stande oder vermöge einer directen Einwirkung auf die Gewebe? Morzscnorr hat einst gezeigt, dass das Auge an der Vermehrung der Koh- lensäure Theil nimmt, welche von Frö- schen unter dem Einfluss des Lichts ausgeathmet wird. Unter denselben Be- dingungen der Temperatur und der Lichtintensität verhält sich der mittlere Werth der Kohlensäure, welche von blinden Fröschen erzeugt wird, zu dem von völlig intacten Thieren wie 490 zu 561 oder wie 1 zu 1,14. In neuester Zeit ist MoLEscHoTT in seiner in Ge- meinschaft mit Fuzisı gemachten Arbeit zu analogen Resultaten für die farbigen Lichtstrahlen gelangt. »Für das farbige Licht, sagen sie, haben wir in Bezug auf die blinden Thiere dieselben Resultate erlangt als in Bezug auf die sehenden Thiere, mit dem Unterschiede jedoch, dass der Grad des Effects ein geringerer ist. Die Wirksamkeit des veilchenblauen Lichts auf die Säugethiere und Vögel ist viel schwächer als diejenige des rothen Lichts.< Sodann fügen sie hinzu: »Der Einfluss des Lichts, den Stoffwechsel an- zuregen, vollzieht sich nicht nur ver- mittelst der Augen, sondern auch ver- mittelst der Haut. Wenn das Licht auf dem einen oder dem andern Wege allein wirkt, so ist der Effect geringer als wenn beide Wege geöffnet sind. Bei den Fröschen und Säugethieren ist der Effect, welcher auf einem dieser Wege gewonnen wird, gleich demjenigen, der auf dem andern Wege erreicht wurde, aber die Summe dieser beiden Effecte ist kleiner, als wenn beide ge- u TG EG ABERGERR? Wir, Ban Een sah NE Pu Kosmos Bd.X.(1831) “ md, Bat Tr — (==) co m! r< =] je =} (2) = Er 2 u . a H. Fischer, Vergleich. Betrachtungen über. die Form der Steinbeile ete. öffnet sind, woraus man schliessen kann, dass sie sich gegenseitig anregen. Die Athmung der Gewebe, soweit sie durch die Menge der ausgeathmeten Kohlensäure gemessen wird, wächst unter dem Einflusse der Lichtarten in dem Maasse als die gesammte Respira- tion zunimmt. « Dieser Einfluss auf das Nervensystem muss noch studirt werden in seinen Be- ziehungen mit demjenigen, welcher direct durch die Haut zu Stande kommt. Auf diesem Wege werden wir eines Tages 447 gewiss-dahin kommen, uns Rechenschaft zu geben von den einzelnen Resultaten, die wir soeben resumirt haben. Es ist also erforderlich, die Versuche, zu ver- vielfältigen, und wir müssen noch, indem wir schliessen, bemerken, dass diese Studien, was uns wenigstens betrifft, sich nur auf Wasserthiere bezogen haben. Jede Anwendung auf höhere Thiere würde zum wenigsten verfrüht sein *. = Revue scientifique, T. XXVII, Nr. 17, 1881. Vergleichende Betrachtungen über die Form der Steinbeile auf der ganzen Erde. Von Dr. H. Fischer. (Hierzu Tafel II—IV und 38 Holzschnitte.) Innerhalb der bequemen Lebensver- hältnisse, welche die cultivirten Staaten dem Menschen von Jugend auf bieten, kommt man nur selten auf den Gedanken, sich in die Lage der allerersten Bewohner unseres Erdtheils* zu versetzen. Am ehesten sind wohl diejenigen hiefür in der Lage, welche selbst einmal als neue Ansiedler in den Urwäldern Ame- rika’s sich ihre Blockhäuser selbst zu bauen hatten oder wenigstens solche Situationen aus Reisebeschreibungen, Erzählungen u. s. w. kennen. Dass nun die ersten Menschen, wel- che Europa bevälkerten, noch nicht mit Werkzeugen und Waffen aus Me- * Wir sagen geflissentlich hier, wenn wir von Europa, Afrika u.s. w. reden, Erdtheil, nicht Welttheil, wie dies leider noch heut- zutage fast durchweg, selbst in den gelehrte- sten Schriften geschieht. — Die Fixsterne, Planeten, Trabanten u. s. w. sind Welttheile; | I | (Freiburg 1. B.) tall bekannt und versehen waren, ent- nehmen wir aus den unzähligen Meis- seln, Beilen, Hammerbeilen, welche aus den verschiedensten Steinsorten her- gestellt, sich am reichlichsten in den sogenannten Pfahlbauten der deut- schen, schweizerischen, italienischen Seeen, dann in Moorgründen und sonst einzeln zerstreut in der Erde finden. Die Mühseligkeit, sich einen Weg durch Urwälder — und mit solchen war Europa ohne Zweifel ursprünglich zum grossen Theil gleichfalls bedeckt — zu bahnen, mag daraus unmittelbar entnommen werden, dass, als vor etwa hundert Jahren die ersten europäischen unsere Erde im Ganzen ist ein Welttheil, die Theile der Erde selbst sind Erdtheile. Wir müssen uns in unseren Ausdrücken end- lich doch einmal von jener Zeit zu unter- scheiden trachten, wo man die Sonne sich noch um die Erde drehen liess! 118 Seefahrer Cook und Forster Neusee- land besuchten, einige wenige Leute ihrer Expedition mit ihren Metallbeilen mehr Holz zu fällen vermochten, als fünfzig Neuseeländer mit ihren Stein- äxten. Angesichts der in prähistorisch- ethnographischen Museen vorliegenden höchst einfachen Werkzeuge u. s. w., sowie mit Zuhilfenahme lebhafter Ein- bildungskraft können wir uns nun jeden Augenblick ein Bild entwerfen von den primitiven Lebensverhältnissen des Menschen in Europa und damit dann in passender Weise die Cultur- zustände derjenigen Völker der Erde vergleichen, welche noch jetzt auf einer tiefen Stufe stehend, auch noch mit den gleichen rohen Steinwerkzeugen ausge- rüstet erscheinen. Bei solchen Betrachtungen verliert sich alsbald das paradiesische Bild, welches sich früher die Phantasie von dem Leben der ersten Menschen aus- zumalen pflegte. An dessen Stelle tritt die allernüchternste Prosa; man lernt es bald, den gesunden Menschenver- stand für derartige Erörterungen in Anwendung zu bringen und ist selbst darüber erstaunt, wie das, was frühere Jahrhunderte in kindlicher Auffassung auf uns vererbt hatten, so lange Zeit fort gedankenlos nachgehetet werden konnte. Lassen wir uns vielmehr bei den in die allererste Menschengeschichte zurückreichenden Studien rein nur von den Grundsätzen der Naturbeobachtung leiten, so freut es uns, für Zeiten, wo- hin keine Geschichte und Ueberliefer- ung mehr zurückreicht, es Schritt für Schritt verfolgen zu können, wie der Mensch, durch den Kampf um’s Dasein gedrängt, seine körperlichen und gei- stigen Kräfte mehr und mehr anstrengte, um sich zunächst den nöthigen Lebens- unterhalt zu verschaffen, sich gegen Feinde aller Art zu vertheidigen, sich durch Kleidung zu schützen; mit die- H. Fischer, Vergleichende Betrachtungen über sem letzteren Gedanken verknüpfte “sich dann bald auch der des Schmu- ckes, und es ist höchst interessant, zu sehen, wie schon damals ein Gegen- stand, der die Form eines Beiles, also einer Waffe hat, sich allmählig zur Prunkwaffe, zum Schmuck umgestaltete, bei welchem die unmittelbare Verwen- dung zum Kampfe ‘jedenfalls schliess- lich ganz wegfiel. Sobald der geistige Prozess, wohl zunächst durch gewöhnliche Natur- Erscheinungen, wie Sonnenauf- und untergang, Mond, Pracht des Sternen- himmels, dann auch durch ungewöhn- lichere Erscheinungen, wie Blitz, Don- ner, Erdbeben und deren Folgen bis zur Annahme einer höheren Macht, einer oder mehrerer Gottheiten fortge- schritten war, knüpfte sich daran auch das Bestreben, diese Mächte sich ‚ge- neigt zu machen oder sich vor bösen Mächten, vor Krankheiten u. s. w. zu schützen und es entstanden die Amu- lete, die häufig aus eben denselben Steinarten gefertigt wurden, wie die feineren Beile. Die Bearbeitung der zu all den oben berührten Zwecken verwen- deten Steine war nun aber nicht immer die gleiche, sondern richtete sich nach der Natur derselben und hier kommen wir auf einem Gebiete an, wo nach unserer Ansicht bis auf die neueste Zeit gewisse, früher einmal zur Geltung gekommene Anschauungen fest- gehalten werden, welche ganz und gar ohne Kenntniss von der Natur und Bearbeitungsfähigkeit der Steinarten selbst aufgestellt wurden. Diese An- schauungen haben sogar zur Aufstel- lung verschiedener Culturperioden ge- führt, die uns in der Schärfe, wie sie in gelehrten und populär gehaltenen Schriften über vorgeschichtliche Perio- den fortan dargestellt sind, gar nicht haltbar scheinen. So nahm man bisher an, dass die polirten Steinbeile gegenüber den in die Form der Steinbeile auf der ganzen Erde. durch Zurechtschlagen gewonne- nen eine höhere Culturstufe verrathen und demnach für die jeweiligen vor- geschichtlichen (oder auch geschicht- lichen) Menschenstämme einer spätern Zeitperiode angehören müssten. Das geschah desshalb, weil das Material der verschiedenen Steinbeile hiebei ganz ausser Acht gelassen wurde und weil Leute hierüber eine Entscheidung gaben, welche weder von der möglichen Be- arbeitung der Mineralien und Fels- arten zu Steinbeilen und -Hämmern u. s. w., noch von dem natürlichen Vor- kommen und der geographischen Ver- breitung dieser verschiedenen Mate- rialien über die Erde auch nur die geringste Ahnung hatten. — Die aus sog. Silex (Feuerstein und Jaspis) hergestellten Steinbeile und Meis- sel wurden in einer Zeit, da man noch keine Metalle, keine Stahlhämmer kannte, also nur direct mit Stein gegen Stein hantieren konnte, durch Schlagen gewonnen und konnten, so wie sie vor uns liegen, nur durch Schlagen gewonnen werden, da diese Substanzen, welche mineralogisch als kryptokrystal- linische Quarz-Varietäten zu betrach- ten sind, vermöge ihrer Sprödigkeit und gleichmässigen innern Be- schaffenheit der kleinsten Theilchen die Eigenschaft besitzen, beim Zerschlagen freiwillig scharfe Ränder zu _zei- gen, die geeignet sind, zum Sägen, Schneiden weicherer Körper zu dienen. Vergleichen wir nun die verschie- denen prähistorischen Silexwerkzeuge, so finden wir innerhalb derselben selbst wieder Abstufungen in der Kunstfertig- keit des Zurechtschlagens. Einige, wie z. B. diejenigen von St. Acheul in der Pi- * Da für den vorliegenden Aufsatz eine Anzahl Abbildungen einem früheren Werke des Verf. (FISCHER, Nephrit und Jadeit u.s. w. Stuttgart E. Schweizerbart [E. Koch] 1875. 8; 2. Ausgabe Stuttg. 1880) entnommen werden konnten, so sind dieselben hier wie dort dem Texte als Holzschnitte eingeschaltet; die 119 cardie (Fig. 1a.bf*), sind ganz roh und gerade nur so weit zurechtgeschlagen, dass man scharfe Ränder (Kanten) ge- wann; andere, wie die in der nord- deutschen Ebene, Dänemark (Fig. 2f) u. s. w. gefundenen zeugen von viel mehr Kunstfertigkeit, sind vielfach’schön vierseitig und ebenflächig, aber ganz und gar nur durch Schlagen gewon- nen, wieder andere sind mehr biconvex und nach dem Schlagen noch ge- schliffen (Fig. 3abf). In diesem Fall, bei den Silexinstrumenten, vertritt aber nun für den Sachverständigen, der mit Steinen umzugehen weiss und vermöge dessen hier ganz allein zu einem Urtheil befähigt und berechtigt ist, nicht das Schleifen und Poliren, sondern das Zurechtschlagen die höhere Kunstfertigkeit, weil viele Gewandtheit und Uebung dazu gehört, aus einem Stück Silex ein hübsch symmetrisch gestaltetes, vierkantiges Beil zu schla- gen. “Man muss nämlich auch noch erwägen, dass der Feuerstein (in der Kreideformation) und der Jaspis (in der Formation des Jura und des Tertiär- gebirges |z. B. Aegypten]|) in abgerun- deten Knollen eingebettet zu sein pfle- gen und also durch Zerschlagen (wo- möglich noch frisch an ursprünglicher Lagerstätte und zur Zeit gewonnen, wo sie noch ihre Bergfeuchtigkeit be- sitzen) zuerst von dieser ihrer ursprüng- lichen Form in kleinere Brocken zer- theilt werden mussten, um sie dann zu Instrumenten zurecht schlagen zu können, weil man ihnen anders gar nicht beikommt. Ist nun ein solches Beil durch Zurechtschlagen in die ge- wünschte Form gebracht, so gehört weiter gar keine Kunstfertigkeit neuen Figuren dagegen finden sich in der entsprechenden Reihenfolge auf den Tafeln II bis IV in Lithographie ausgeführt und ist zur Bequemlichkeit des Lesers allen Citaten der letzteren Bilder das Zeichen + wie oben beigefügt. 120 mehr dazu, dasselbe auch nachträglich noch zu schleifen, sondern man braucht hiezu nur noch Zeit, Geduld, Schleif- steine, Sand und Wasser. Das Schleifen der Silexinstrumente ist, wie die in den verschiedensten Gegenden gefun- denen vorgeschichtlichen Exemplare leh- ren, auch in tausenden von Fällen ganz und gar unterlassen worden und wo es wirklich geschah, mag es viel eher einen besonderen technischen Zweck (z. B. um mit einem nach der Schneide hin geschliffenen Beil leichter als Keil in den Riss eines Baumes Behufs der Spaltung einzudringen) gehabt haben, als dass eine ästhetische Absicht zu Grunde gelegen wäre. Die allerschwierigst herzustellenden Silexinstrumente vollends, nämlich Lan- zen- und Pfeilspitzen, bei denen man also von Seite derjenigen, welche die polirten Instrumente glauben höher stellen zu sollen, am allerehesten Po- litur erwarten müsste, wurden unseres Wissens gerade gar niemals polirt, hätten auch durch diesen nachträglichen Vorgang an der Fähigkeit, den Feind durch möglichst viele ‘scharfe, schnei- dige Stellen zu verletzen, wesentlich eingebüsst. Ein zweites Mineral, der Obsi- dian, ist mit denselben Eigenschaften wie der Feuerstein und Jaspis für die in Frage stehende Bearbeitung ausge- stattet, nur liefert er noch viel schärfer wie Glas schneidende Kanten, die oft (weil allerfeinste Splitterchen unmerk- lich in die Haut eindringen) recht schlimm verletzen können. Dieser Ob- sidian hat ein viel beschränkteres Ver- breitungsgebiet und auch ein ganz an- deres geognostisches Vorkommen, fand aber, wo er auftritt, die gleiche archäo- logische Verwendung. Während Feuerstein und Jaspis als kleinere und grössere Knollen in nep- * In manchen neueren mineralogischen Lehrbüchern findet man ihn gar nicht mehr H. Fischer, Vergleichende Betrachtungen über tunischen Felsarten (Kalkschichtenu.s.w) eingebettet getroffen werden und, wie erwähnt, kryptokrystallinische, d. h. ganz dichte Varietäten von Quarz vor- stellen, ist der Obsidian* als vulka- nisches Glas zu betrachten und tritt besonders in Unteritalien, Ungarn, Grie- chenland, Teneriffa, am rothen Meer, Transkaukasien, Sibirien, Island, Grön- land, Mexico, Australien, Neuseeland auf. Derselbe wird im vulkanischen Ge- birge obiger Länder theils in Form loser Auswürflinge, theils in Strömen angetroffen. Prähistorische Beile aus Obsidian sind uns niemals zu Gesicht gekom- men, dagegen scharfschneidende Messer und Lanzenspitzen aus Unteritalien, Griechenland, Mexico, wo sie eine grosse Rolle spielten; vereinzelt sahen wir Obsidian auch als Lanzenspitze aus Australien. Alle diese Obsidian-Instru- mente sind blos zurechtgeschlagen, aber niemals auch nicht die feinsten und zierlichsten Formen — geschlif- fen, was gewiss schon sehr entschieden gegen die früher so allgemeine An- nahme spricht, dass das Schleifen der Steininstrumente eine höhere Cultur- stufe repräsentire. Wo man irgendwelche Werkzeuge oder Waffen aus Obsidian, Feuerstein oder Jaspis trifft, kann man daneben auch die sog. Kernstücke (Nuclei) finden, d. h. den innersten Theil der Gesteinsknollen, von deren Oberfläche durch eine besondere Kunstfertigkeit der prähistorischen Menschen nachein- ander die zu Messern oder Lanzen- spitzen, Pfeilspitzen weiter zu bearbei- tenden Scherben abgeschlagen worden waren. Ganz und gar anders verhält es sich nun — wenn man, wie in der ersten vorhistorischen Zeit, bloss mit Stein gegen Stein wirken muss —, mit aufgeführt, da er jetzt mehr zu den Fels- arten gerechnet zu werden pflegt. die Form der Steinbeile auf der ganzen Erde. der Bearbeitung aller derjenigen Stein- sorten, welche nicht wie die oben erwähnten Quarzvarietäten und wie Obsidian, spröde sind. und beim Zer- schlagen leicht scharfkantige Stücke geben. Von einfachen Mineralien, welche uns aus vorgeschichtlichen Pe- rioden Europa’s — oder bei weniger eultivirten aussereuropäischen Völker- stämmen auch jetzt noch — als zu Steininstrumenten verarbeitet begegnen, ist besonders Kieselschiefer, Ser- pentin, Nephrit, Jadeit, Chlo- romelanit, Fibrolith zu nennen; von gemengten Gesteinen, sog. Fels- arten sind es vor allem die zähen und kryptomeren, d. h. aus aller- winzigsten Mineralpartikelchen zusam- mengesetzten Gesteine, welche von allen Nationen bevorzugt wurden, nämlich Diorit, Hornblende-Schiefer, Gabbro, Eklogit, Glaukophan, Diabas, Thon- schiefer, Basalt u. s. w. Alle diese Körper besitzen die der Sprödigkeit gerade entgegengesetzte Eigenschaft der Zähigkeit in grösserem oder gerin- gerem Grade; viel seltener wurden auch Gneisse, Granite in gleicher Art ver- wendet. Alle diese Silicatgesteine haben eine ganz überaus viel grös- sere Verbreitung auf der Erde alsder Feuersteinund Obsidian und muss- ten also in Ermangelung letzterer noth- wendig zur Herstellung von Steinwerk- zeugen eine grossartige Verwendung finden. Sie konnten aber bei dem Mangel an Metallhäm- mern gar nicht (oder nur mit ganz unverhältnissmässiger Anstrengung) * durch Schlagen — wie bei Feuer- stein und Obsidian — in die Form von Beilen oder Meisseln gebracht wer- den, sondern man suchte einfach am Ufer von Bächen und Flüssen u. s. w. *® Unter vielen Tausenden solcher Sili- catbeile begegnete mir erst ein einziges aus Gneiss, das durch Zurechtschlagen erzielt‘ war und bei diesem bin ich erst noch 121 Gerölle, welche der gewünschten Form schon von vornherein am näch- sten standen,** also für die Bearbei- tung die wenigste Mühe erforderten und erzielte die verlangte Form durch Schlei- fen auf rauhen Steinen, zum Theil wohl auch mit Zuhilfenahme von Sand und Wasser. War das Werkzeug dazu be- stimmt, in eine Handhabe aus Holz oder Horn gefasst zu werden, so be- gnügte man sich sehr häufig, das Stück nur gegen die Schneide hin zu schlei- fen, während das gegenüberliegende Ende noch die rauhe Oberfläche zeigt. Aber auch an den geschliffenen Flächen kann man in weitaus den meisten Fäl- len an einzelnen Stellen die den Ge- röllen eigenen, sanft runzligen Vertief- ungen noch erkennen, indem natürlich durch das Abrollen der von den Berg- abhängen in das Wasser gerathenden Gesteinsbrocken meist einige Stellen nicht in das Niveau der Gesammtober- fläche gelangen, sondern vertieft blei- ben und ebenso blieben meist auch vertiefte Stellen übrig, wenn der Mensch sich aus Geröllen Beile, Meissel zurecht- schliff, wobei man mit der Lupe sehr oft die Schleifstreifen noch erkennen kann. Alle diese eben geschilderten Ver- hältnisse versteht einzig der mineralo- gische Fachmann zu beurtheilen, wel- cher aus eigener Erfahrung nur zu gut weiss, wie schwer es bei den zuletzt genannten Gesteinen ist, selbst mit einem gutgestählten Hammer nur die für die Sammlungen bestimmten Formatstücke durch Schlagen zu ge- winnen und wie dieses ohne Metall- instrumente für gewöhnlich ganz un- ausführbar wäre; viel weniger würden ohne die genannten Hilfsmittel, bloss durch Schlagen mit Stein gegen Stein, die feineren Beil- und Meisselformen herzustellen gewesen sein. gar nicht ‚sicher, ob es prähistorischen Ur- sprungs ist. #* Dies geschieht z. B. nachweislich noch heute von gewissen Völkerstämmen in Java. 122 Es gibt nun eine gewisse Form von Steinwerkzeugen, welche uns auf der ganzen Erde mehr oder weniger gleichartig gestaltet immer wieder be- gegnen; es dies die mehr minder biconvexen Beile mit einer geradlinigen oder halbmondförmigen Schneide, wäh- rend die Basis entweder gleichfalls mit einer Kante oder aber mit einer Spitze endet, so dass eine Breitfläche entweder vier- (vgl. Fig. 10. 11) oder dreiseitig (Fig. 13 a. b. f) aussieht; seitlich laufen diese Beile entweder in eine Schmalseite (Fig. 12) oder eine mehr minder stumpfe (Fig. 19 bf) oder scharfe Kante (Fig. 37) aus. Die erwähnte Form von Steinwerk- zeugen scheint demnach den ersten und dringendsten Bedürfnissen der vor- geschichtlichen Menschen zum Gebrauch als Waffe, wie auch zum Umhacken von Bäumen, zum Ausgraben von Wur- zeln (Fig. 50a) schon auf der nieder- sten Stufe der Cultur am ehesten ge- nügt, am meisten entsprochen und zugleich die geringsten Anforderungen an Kunstfertigkeit gestellt zu haben. War bei solchen etwas convexeren Beilen die Schneide, welche sonst von der ersten Herstellung aus durchweg als sanft abgedacht erscheint, abge- nützt, so wurde dieselbe nachgeschlif- fen, was man an dem plötzlich stei- leren Abfallen der Schneide erkennt, wie dies Fig. 4a. b.f in der vorderen und Seitenansicht zeigt. Diesen Vor- gang beobachtet man ebenso gut an manchen Beilen der europäischen Pfahl- bauten, als an auswärtigen; so sah ich z. B. diese Form an einem kleinen chinesischen Fihrolith-Beil, das Evans, Verfasser des rühmlichst bekannten Werkes: The ancient stone implements u. s. w. London 1872, mir zu leihen die Gefälligkeit hatte und welches * Unsere Figur stellt gerade das schönste bis jetzt in Europa sefundene Nephritbeil von Blansingen bei Kleinkembs (Baden) vor; | H. Fischer, Vergleichende Betrachtungen über früher irrigerweise als Nephritbeil be- stimmt gewesen war. Die Schneidenkante dieser polirten Silicat-Beile, wie wir sie füglich gegenüber den aus Feuerstein oder Jas- pis bestehenden Silex-Beilen nennen könnten, ist nun, wie bereits erwähnt, bald mehr geradlinig (s. unten Fig. 10. 11. 12. 14.7 u. Fig. 5) oder schwach gebogen (Fig. 6. 7) oder symmetrisch geschweift, wie bei Fig. bald mehr schief wie bei Fig. 9af. Letzteren Fall beobachtet man, wie früher schon Desor hervorhob, mehrfach auch an Beilen aus aussereuropäischem Material, näm- lich Nephrit,* gelegentlich aber auch an ganz gewöhnlichen Beilen aus Diorit u. s. w. in den Pfahlbauten. Die im Folgenden nun zu ent- wickelnde Uebersicht der Abweichungen von der gewöhnlichen Form soll, da früher unseres Wissens eine solche noch nicht existirte, nur einen Anstoss zu weiteren, derartig vergleichenden Stu- dien geben und macht daher noch nicht die geringsten Ansprüche an Vollstän- digkeit, welche ja nur durch ausgiebige Bereisung der verschiedensten Museen annähernd zu erzielen wäre, anderer- seits aber viel leichter im Anschluss an diesen ersten Entwurf angebahnt werden dürfte, wenn die Fachgenossen sich bemühen wollten, ihre Erfahrungen mit den unserigen zu vergleichen und die hier etwa noch nicht vertretenen Formen durch weitere, mit Abbildungen versehene Publicationen zu vervollstän- digen. Es soll jedoch schon hier darauf hingewiesen sein, dass uns die im Fol- genden auseinanderzusetzende grosse Mannigfaltigkeit der Formen der po- lirten Silicatbeile — gerade im Gegen- satz zu den Silexbeilen — im grossen Ganzen gerade durch den Umstand ihrer Herstellung aus Geröllen be- dingt zu sein scheint, deren Formen dasselbe liegt im museum. Freiburger Universitäts- die Form der Steinbeile sich. der Mensch, so weit es anging, schon wegen der Ersparung unnöthiger mühsamer Arbeit gerne anschloss, und wenn uns in gewissen Gegenden und an gewissem Gesteinsmaterial bestimmte Formen vorherrschend begegnen, so kann dies nach mineralogischen Erfah- rungen gerade wieder damit zusammen- hängen, dass z. B. vorherrschend blät- trige Textur bei Mineralien, z. B. ge- wissen Nephritvarietäten aus Neuseeland oder schiefrige Structur bei Felsarten auch flachere Geröllformenalsbeianderen Gesteinen, und insofern vielfach auch eine flachere Form der Beile hervorrufen konnten, wie dies eben bei sibirischen, neuseeländischen, neucaledonischen Ne- phritbeilen öfter auffällt (vgl. Fig. 10. 11. 12 aus Neuseeland, Fig. 13 a. bf aus Neucaledonien, wo die Seitenan- sicht bf die überaus flache Gestalt versinnlicht, und Fig. 147 aus Sibirien). Beile von mehr dreieckiger Form (d. h. spitz auslaufender Basis und mehr weniger biconvexer Beschaffenheit treffen wir mehrfach unter den in Eu- ropa gefundenen Prachtexemplaren aus Jadeit (so z. B. an den fünf bei Gon- senheim unweit Mainz entdeckten Beilen vonabsteigenderGrösse), sodannanjenem aus Grimmlingshausen bei Düsseldorf, Jadeit, 353 mm lang (Fig. 15a. br), end- lich an dem Chloromelanitbeil von Wes- selingen bei Bonn, 200 mm lang (Fig. 16), an dem Chloromelanithbeil von Kloppen- burg bei Oldenburg, 290 mm lang (Fig. 17 a.bf) u. s. w. Als Muster mehr weniger plancon- * Zur Vergleichung fügen wir in Fig. 297 die Befestigung eines Pfahlbau-Beilchens in Hornheft, in Fig. 30 + die Befestigungsweise eines Chloromelanitbeils in Holzheft aus Neu- guinea, in Fig. 30«f endlich ein Beil in Holz- heft zum Wurzelnausgraben, von den Fidschi- Inseln, alle drei aus dem Freiburger Univ.- Museum, bei. #= Bei der deutschen Anthropologen- Versammlung zu Konstanz. 1877 legte Herr Baron v. SCHRÖDER zu Degerweil (Schweiz) bei Konstanz nebst Topfwaaren aus Costa- auf der ganzen Erde. 125 vexer Beile führen wir Fig. 18a. bi (Thonschiefer aus Neubritannien ; Frei- burger Museum) und Fig. 19a. bf Jadeitbeil aus Mexico (Museum des H. Hermann Strebel in Hamburg) an. Biconvex, nach der Schneide sich zu- schärfend ist ein Chloromelanitbeil aus Neuguinea (Fig. 20 a. bf, Freiburger Museum), nach der Basis sich zuschär- fend ein Jadeitbeil unbekannter Abh- kunft (Fig. 21a. b. c) im Dresdener Museum; c ist der Querschnitt am untern Ende); stark biconvex erscheint ein Beil (Fig. 22 a. bj) aus Rotheisenstein vom Sennaar (Nubien), grosse Selten- heit, im Freiburger Museum. Ziemlich ungewöhnliche Beilformen sind Fig. 23a. b aus Chloromelanit, Mexico (Berliner miner. Museum) und Fig. 24 (Nephrit, Orient, dass. Mus.), Fig. 25 aus Perü; eingeschnürt zum Befestigen an einem Heft erscheinen Fig. 26 aus Venezuela, Fig. 27 abf und 28a. b f aus Nordamerika (Freiburger Museum),* Fig. 3l a. bf aus Calabrien (Mus. des Prof. Lovısaro in Sassari, Sardinien), Fig. 32 5 Brasilien (Copie aus der portugiesischen Schrift von CArLos FREDERICO Harrr: Descripcao dos objectos de pedra de origem indi- gena, conservados no Museu Nacional, in: Archivos do Mus. Nac. do Rio de Janeiro 1876. 4. Vol. I. 20 e 30 Tri- mestres p. 45 segq.), Fig. 33 Tebendaher, Kriegswaffe derGavioesindianer; Fig. 347 Beil des Caraibischen Typus (Freiburger Stadtmuseum) ;** sog. geschulterte Beile (Fig. 35 7) bildet V. Barn (Jungle Life rica auch zwei ebendaher stammende schwarz- braune Beile vor, wovon das eine an der Basis etwas verengt war und seitlich in Spitzen auslief, das andere auf der Fläche nach beiden Seiten (Rändern) hin abschüssig aussah. Nach einer mündlichen Mittheilung des H. Dr. med. Joos in Schaffhausen, wel- cher längere Zeit in Centralamerika lebte, dürften ie an der Basis eingeengten Stein- beile in Amerika bis zum 1.° nördl. Breite reichen. H. Fischer, Vergleichende Betrachtungen über 124 ÄUCCNENMNNN ZEN CR) Fig. 8. Fig. 7. (!a) CR) Fig. 12. (2) Fig. 10. die Form der Steinbeile auf der ganzen Erde, a b Fig. 21. (1%) Fig. 16. (1) Fig. 3. (1%) a b Fig. 23. (Ye) () Fig. 26. (1%) Fig. 39. 126 in India. London 1880. 8) ab und in Scutismann’s Prachtwerk Ilios, 1881, S. 495 Fig. 655 finden wir einen ähn- lich geformten, an der Basis verengten, nach dem Autor möglicherweise als Gewicht zu deutenden Gegenstand aus Stein dargestellt; in Fig. 36 fügen wir das Bild einer Kriegskeule (»Mere«, »Pätuh-Pätuh«) der Neuseeländer bei. Fig. 375 aus Eklogit (Pfahlbau- ten der Schweiz; Freiburger Museum) stellt ein sehr schlankes Beil, Fig. 38 und 39 meisselartige Jadeitwerkzeuge ebendaher dar. Wir kommen nun zur Besprechung derjenigen Beilformen, welche entweder in irgend einer Weise zum Anhängen durehbohrt oder durch eingravirte Zeich- nungen verziert, beziehungsweise als sog. Prunkbeile bezeichnet sind oder beide Eigenschaften mit einander ver- binden. In Europa sind uns unter vielen tausend prähistorischen Beilen erst ganz wenige durchbohrte begegnet und waren dies meist Wetzschiefer, welche die verticale Durchbohrung nach dem spitzen Ende hin zeigten und also vielleicht darauf hinweisen, dass man dieselben an einem Faden bei sich trug, um sie zum Schärfen anderer Steininstrumente stets bequem zur Hand zu haben. Von Prof. IsseLn in Genua wurde in Mor- TıLuEr’s Materiaux pour l’histoire etc. de V’homme, Vol. II. 1566. 244, ein in Malta angeblich in einem phönizi- schen Grabe entdecktes, grünes, durch- bohrtes beilähnliches Instrument unter Beigabe einer Abbildung, welche wir hier in Fig. 40 f copiren, erwähnt; die Substanz ist leider noch nicht näher ermittelt. Die Durehbohrung ist nun entweder vertikal wie in obigem Fall, sodann bei Fig. 41, Jadeit? aus Mexico (Zü- richer Museum), Fig. 42 (fast löffelartig) aus Nephrit, von ? (ebenda), Fig. 43 a.b f Jadeit, aus Yucatan, Mexico (Leidener Museum); Fig. 44 a. bf Jadeit, angeb- H. Fischer, Vergleichende Betrachtungen über lich in Merida, Prov. Caceres, Spanien, gefunden, möglicherweise jedoch aus Mexico dahin verschleppt; aus einer Privatsammlung in Dresden uns durch H. Dr. Caro daselbst bekannt gewor- den; Fig. 45a. b am Grunde jeder- seits etwas eingeschnürt und auf der Unterseite (b) mit Sägeschnitt, wovon weiter unten die Rede sein wird. Eine andere Art der Durchboh- rung ist die submarginale, d. h. unter einer Kante hindurchlaufende, wie bei Fig. 46a. b. c aus Jadeit, wahrscheinlich aus Mexico (ehemals Wiser’sche Sammlung, jetzt im Poly- technikum zu Zürich), Fig. 47a. b. (Jadeit, Mexico, Baseler Museum); Fig. 48 a. b. (Substanz noch unbestimmt, aus Mexico, Berliner mineral. Museum); bei diesen ist die Durchbohrung am Grunde der betr. Beile angebracht, da- gegen an beiden Seiten bei Fig. 497, Chloromelanit, von Pilgern aus Mittel- asien mitgebracht als sog. »Tebers, »Derwisch-Axts, im Privatbesitz von Baron GRAFFENRIED-BARKÖ, z. Zeit zu Boulogne-sur-Seine, dessen Sammlung in Thun liegt; Fig. 50 a. b. cf (Jadeit, Mexico, Museum des H. Pnır. J. BECKER in Darmstadt); Fig. 5la. b. (Substanz noch unbestimmt, Mexico, Berliner mineral. Museum). Eine dritte Art der Durchbohrung ist die sogenannte subcutane (der Ausdruck ist der chirurgischen Ope- ration des Haarseilziehens entnommen, bei welcher ein Einstich in die Haut [eutis| und mit Dazwischenlassen einer gewissen Brücke der Ausstich geführt wird); hier liegen also die beiden Ca- nalöffnungen in, einer und derselben Fläche, wie .dies Fig. 52a. bf zeigt (Chloromelanit, Mexico, Freib. Univ.- Museum). Einige der zuletzt besprochenen Beile zeigten neben den hier erörterten Durch- bohrungen auch schon eingravirte Figuren und diesen letzteren, diez. B. unseres Wissens an den .in Europa ge- die Form der Steinbeile auf der ganzen Erde, fundenen prähistorischen Beilen noch nicht ein einzigesmal, vielmehr aus- schliesslich nur an amerikanischen Beilen u. s. w. beobachtet wurden, haben wir jetzt noch unsere Aufmerk- samkeit zuzuwenden. Die Gravirungen stellen entweder blosse Zierathen dar, wie z. B. Fig. 53a.bf (Substanz schwarz, nicht näher angegeben; von der holländischen, zu den kleinen Antillen oder Caraibischen Inseln gehörigen Insel Saba [neben St. Eustache], Museum zu Leiden) und oben bei Fig. 48, oder es sind mexi- canische Hieroglyphen, wie Fig. 54 (Jadeit, Mexico, Berliner min. Museum), oder mehr weniger erkennbare mensch- liche Gesichter und Figuren, wie z.B. schon in Fig. 48.50 7 vorkamen und wie wir hier weiter solche noch in Fig. 55a. b, 56a. b, 57a. b (alle drei aus Costarica, ersteres aus Saussurit, im Freiburger Univ.-Museum, letztere beide aus Glimmerschiefer (?) im ethno- eraph. Museum zu Bremen), endlich in Fig. 58a. bf, 59a. bf (beide aus Me- xico, in dem Museum des H. Herm. STREBEL in Hamburg) vorführen. Was nun die schon im Verlauf des Aufsatzes angedeuteten Sägeschnitte betrifft, so erblicken wir solche an den neuseeländischen Nephritbeilen Fig. 10. 12, an dem sibirischen Nephritbeile Fig. 14 f, an deren Seite, sodann an den costaricanischen Figuren 45, 55, 56, 57 von den Seiten her nach deı Mitte hin ausgeführt, so dass in der Mittellinie eine schmale, noch mit dem frischen Bruche des Minerals versehene Brücke bestehen blieb; wahrscheinlich wurden gegen Ende der Arbeit von beiden Seiten her Holzkeile in die Sägespalten gelegt und der Ausdehnung derselben im Wasser das allmählige Lossprengen der schmalen Brücke über- lassen. Es muss uns in hohem Grade interessiren, dieselbe Sägearbeit auch an einem in Fig. 60 von der Unterseite 127 dargestellten, in Kleinasien getragenen Nephrit-Amulete wiederzufinden, welches dieses Jahr von H. Dr. EmıL Rıreeer (Expedition Riebeck, Halle a. d. S.) in Damaskus erworben und an das Frei- burger Museum eingesandt wurde. [Das Sägen von Steinen mit der Zähigkeit des Nephrit, Diorit u. s. w. ohne Metallsägeblätter muss eine ganz überaus mühselige Arbeit sein und konnte wohl nur mittelst Sehnen oder kieselhaltigen Gräsern, Rohr, Sand und Wasser bewerkstelligt werden. | Sucht man nun aus den oben ge- schilderten thatsächlichen Verhältnissen Schlüsse zu ziehen, vermöge deren es z. B. möglich werden sollte, die Her- kunft von Steinbeilen, bezüglich deren die Angabe des Vaterlands in einer Sammlung von vornherein fehlt oder verloren gegangen ist, zu bestimmen, so liegen eigentlich nicht viele Anhalts- punkte dafür vor; es liesse sich wohl etwa sagen, dass sehr flache Beile und zwar von mehr weniger vierseitiger Gestalt uns am ehesten aus Nephrit gefertigt von Neuseeland (Fig. 10. 11. 12), Sibirien (Fig. 147), sehr flache dreiseitige (Fig. 137) aus Nephrit und anderen Gesteinen von Neucale- donien zu Gesicht ‚Eareır an der Basis dreispitzige (Fig. 34 T) kennen wir nur aus dem burn. halbmond- förmige (Fig. 32 7, 33+#) nur aus Brasi- lien, an der Basis eingeschnürte (Fig. 27 und 317) aus Calabrien, Troja und Nordamerika, an der Basis oder an den Seiten submarginal durchbohrte (Fig. 46—51) vorzugsweise aus Mexico, Yucatan und Mittelamerika, dann auch aus Asien, subeutane Durchbohrung be- gegnete uns an Beilen (Fig. 527) aus Mexico, sowie an modernen Steinorna- menten aus China! Werfen wir schliesslich noch einen Blick auf das Verhältniss der Auffin- dung der in Europa und Amerika bis jetzt gar nicht als Rohmaterial bekann- 1 2 8 H IE ISse °h e ji IV e n gle i chen d e B e tr a ch tu n ge n ä b e -; F " v „a r = 2. & 1) / Fi ig: 1 8 a. (% la ) F ig Ye! 8 b. (€ Ro) die Form der Steinbeile auf der ganzen Erde. 129 vs IV Ns Fig. 55a. (1) D. er IR Fig. 55b. (1/) YORE x Fig. 57. (1) * a Fig. 56. (1) » Kosmos, V, Jahrgang (Bd, X), 9 130 ten Substanzen Nephrit, Jadeit und Chloromelanit in Form von vorgeschichtlichen Beilen, so gestaltet sich dasselbe in folgender Weise, die H. Fischer, Vergleichende Betrachtungen über sich am bequemsten in der Form der Parallelstellung von Fragen und Ant- worten übersehen lässt: A. Für Nephrit, Fragen: 1. Wo. finden sich natürliche Vor- kommnisse von Nephrit, ohne dass bis jetzt ebendaselbst auch vorgeschicht- liche Nephrit-Instrumente bekannt wä- ren? 2. Wo finden sich natürliche Vor- kommnisse von Nephrit neben nach- weisbaren prähistorischen Nephrit-In- strumenten ? 3. Wo finden wir prähistorische Beile (oder Amulete) aus mineralogisch wohl diagnosticirtem Nephrit ohnedaneben nachweisbares natürliches Vorkommen von Nephrit (weshalb sonach auf Ein- führung zu schliessen ist)? 4. In welchen Ländern ragt die Ver- arbeitung des Nephrits zu Ornamenten irgend welcher Art nachweislich noch bis in die Jetztzeit herein ? Antworten: 1. In Turkestan (und China ?), der Nephrit ist farblos, bläulich, gelblich oder mehr weniger schmutzig dunkel olivengrün, zuweilen mit Graphit-Inter- positionen durchzogen. 2. In Sibirien (Nephrit smaragdgrün, öfter mit rostrothen Flecken) und in Neuseeland, (Nephrit smaragdgrün, stel- lenweise auch rostroth, mehr weniger deutlich schiefrig). 3. a. In Europa: England ? Frankreich (? 1 Stück). Deutschland 3—4 Stücke (Blan- singen in Baden, Nördlingen und Sta- renbergsee) fern von Pfahlbauten; so- dann sehr viele in den Pfahlbauten am Bodensee. : Schweiz (in den Pfahlbauten reich- lich). Italien, vereinzelt. Griechenland, desg]. b. In Asien: Kleinasien, Troja (ScHLIEMANN), Me- sopotamien, diese nach den Bestimm- ungen des Herrn Prof. Dr. Nevıu Srory- MASKELYNE in London. c. In Amerika: e | einzeln in Form von Brasili ; | Amuleten und Idolen. rasilien 4. In Sibirien, Ostindien, (hiefür kön- nen wir jetzt Beweise aus der Gegend von Lucknow, Delhi und Agra vorlegen) China, Japan??, Neuseeland. die Form der Steinbeile auf der ganzen Erde. 131 B. Für Jadeit. Fragen: 1. Wo finden wir ein natürliches Vorkommen von Jadeit bis jetzt ohne daneben nachweisbare prähistorische Gegenstände aus Jadeit ? 2. Wo finden wir natürliche Vor- kommnisse von Jadeit neben nach- weisbarem Auftreten prähistorischer Objeete aus Jadeit? 3. Wo finden wir Jadeitgegenstände der vorgeschichtlichen oder ältesten geschichtlichen Periode ohne daneben nachweisbares natürliches Vorkommen von Jadeit ? 4. In welchen Ländern ragt nach- weisbar die Verarbeitung von Jadeit zu Ornamenten irgend welcher Art noch bis in die Jetztzeit herein ? Antworten: l. InHinterindien, in der Gegend von Mogoung (auch Mungkong geschrie- ben) unweit Bhamo. 2. Bis jetzt ist hiefür keine Gegend bekannt. 3. a. In Europa: Deutschland: von Oldenburg bis Erfurt, vom Unterrhein bis zum Boden- see als Beile bis zu 350 mm Länge, mässig reichlich. Schweiz, Pfahlbauten reichlich. Oesterreich, selten. Frankreich, reichlich. Italien, mässig reichlich. Spanien, vereinzelt, hier überall in Form von Beilen und Meisseln. b. In Asien: Kleinasien; Beilchen (Coll. Schuir- MANN und VIRCHOWw). ec. In’Afrika: Scarabäen aus Aegypten, (Museum zu Frankfurt a. M.) d. In Amerika: Mexico, Yucatan und Mittelame- rika; Prunkbeile mit und ohne Sculp- tur, Klangplatten, Idole, vereinzelt. 4. In China, (Japan ??). G. Für Ghloromelanit. Fragen: 1. Wo finden wir natürliche Vor- kommnisse von Chloromelanit bis jetzt ohne daneben nachweisbares Auftreten prähistorischer Objecte aus Chlorome- lanit? Antworten: Ad 1 und 2. Bis jetzt ist noch gar nirgends auf der Erde das Vorkomm- niss des Chloromelanit ergründet, nur hat es viele Wahrscheinlichkeit für sich, dass derselbe in Asien, vielleicht zu- y* 132 Fragen: 2. Wo finden wir natürliche Vor- kommnisse von Chloromelanit neben nachweisbarem Aufreten prähistorischer Objecte aus Chloromelanit? 3. Wo finden wir ohne nachweisliches natürliches Vorkommen von Chloro- melanit irgend welche prähistorische Objecte aus Chloromelanit ? 4. In welchen Ländern ragt nach- weisbar die Verarbeitung von Chloro- melanit zu Ornamenten irgend welcher Art noch bis in die Jetztzeit herein ? Aus dieser Uebersicht dürfte übri- gens soviel hervorgehen, dass gegen- über all’ diesen Hinweisen auf die Ab- stammung der Nephrit-, Jadeit- und H. Fischer, Vergleich. Betrachtungen über die Form der Steinbeile etc. Antworten: gleich mit dem Jadeit, dem er eng- stens verwandt ist, auftrete; es ist nämlich ermittelt worden, dass muha- medanische Pilger, wie solche bis heute! aus Innerasien (Kabul, Pe- schawar) nach Budapest (Ungarn) zu dem dort befindlichen Grabmal ihres Sektenhäuptlings Gül Baba (zu deutsch: Rosenvater) wallfahren, unter anderen Steinamuleten auch ein solches in Beilform aus Chloromelanit mitbrachten. 3. In Europa: Deutschland: von Oldenburg bis Schlesien, vom Unterrhein bis zum Bo- densee; Schweizer Pfahlbanten, Oester- ‚reich, Italien, Frankreich, Griechenland, hier überall Beile, bis zur Länge von 290 mm! In Afrika: In Aegypten: Scarabäen mit Hiero- glyphen (Museen von Wien und Wies- baden). In Asien: (Vgl. die obige Notiz über das hi- storische Vorkommen von Derwisch- Aexten, sogenannte Teber aus Mittel- asien.) In Amerika: Prähistorische Beile aus Mexico und Chile; ein grosses Idol aus Me- xico im Privatbesitz des Herrn Dr. Ju- rıC in Wien. In Oceanien: Beile; eines aus Neu-Guinea Freiburger Univers. Museum. 4. Diese Frage ist in so fern noch nicht mit voller Sicherheit zu beant- worten, als möglicherweise das oben erwähnte, durch Pilger aus Asien nach Europa gebrachte AmuletseinemÜUrsprung nachaufalteZeitenzurück datiren könnte. im Chloromelanitgegenstände aus ausser- europäischen Ländern die entgegen- stehende Ansicht auf sehr schwachen Füssen steht. Letztererzufolge sollen diese Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Mineralien gleichwohl in Europa zu Hause sein und das Material für die ent- sprechenden prähistorischen Beile ge- liefert haben, sollen aber — trotz der Länge solcher Beile bis gegen 400 mm und trotz deren grossen Menge in ihrem natürlichen Vorkommen nur noch nicht entdeckt sein! Gegenüber dem sonstigen Fleisse der europäischen Mineralogen und Geo- gnosten möchte man sagen, sie müssten für die Auffindung dieser Mineralien geradezu mit Blindheit geschlagen sein, wenn das Material für die überaus vie- len prähistorischen besprochenen Beile, besonders aus Jadeit, irgendwoher aus den Alpen stammen sollte (nur in die- sen konnte man sich am allerehesten die verborgene europäische Heimat noch 133 träumen) und dennoch bis jetzt keine Lagerstätte dafür bekannt worden wäre. Das Rohmaterial für die in Afrika und Amerika entdeckten prähistorischen Ob- jecte gleichfalls auf die Alpen beziehen zu wollen, hat man denn doch noch nicht gewagt. Kam dasselbe aber für die letzteren aus Asien, warum sollte es denn nicht eben so gut für die in Europa ausgestreuten Beile gleichfalls daher gekommen sein ? Der Leser wird aus dieser ganzen Darstellung ersehen, dass die Mineralo- gie für das Gebiet der archäologischen und prähistorischen Studien gleichfalls wichtige Aufschlüsse zu geben hat. Letz- tere zu ihrem Endziele zu führen, ist jedoch immer noch mit fast unüber- steiglichen Hindernissen verbunden. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Dauer des Lebens. Jene alte Frage, durch welche Ur- sachen den einzelnen Thier- und Pflanzen- arten eine so verschiedene Dauer des Lebens zugemessen worden ist, behan- delte Professor Aucust WEISMAnN auf der diesjährigen Naturforscherversamm- lung zu Salzburg in einem geistvollen Vortrage, in welchem er den Nachweis zu führen suchte, dass diese Verschieden- heit als die Folge einer Anpassung an die äussern Lebensbedingungen aufzu- fassen sei. Die Erkenntniss der That- sache, dass diese Verschiedenheit eine sehr grosse ist, und dass jeder Thier- art ein bestimmtes mittleres Maass der Lebensdauer zukommt, spricht sich schon in jenen alten Versen des Hxsıop aus, in denen das Alter der Nymphen nach demjenigen der Raben berechnet wird, die dreimal so lange als die | Hirsche leben sollen, während diese vier Lebensalter der Krähen, und die Krähen neun Menschengenerationen (zu30Jahren gerechnet) überdauern sollen. Aehnlich klingt die noch heute im Volksmunde verbreiteteStufenreihe: Zaunkönig,Hund, Pferd, Mensch, Esel, Elephant, Papagei, Krähe, Eichbaum, bei welcher jedes folgende Glied dreimal so lange leben soll, wie das vorhergehende und der Zaunkönig drei Jahre. Darnach würde sich die Lebensdauer des Menschen auf 81, die der Krähe auf 6000 und des Eichbaums auf 18 000 Jahre berechnen. Jedenfalls zeigen diese Rechnungen, dass der gemeine Mann längst auf die ver- schiedenen Altersgrenzen, die den ein- zelnen Thieren gesteckt sind, geachtet hat, und auch in dem hohen Alter, welches einzelnen Vögeln beigemessen wird, malt sich eine aus einzelnen Be- obachtungen geschöpfte richtige Erkennt- 134 niss. Worin liegt aber die Ursache dieser so verschiedenen Altersgrenzen ? Zunächst könnte man glauben, dass sie in einem gewissen graden Verhältniss zur mittleren Wachsthumsdauer des Art-Individuums bis zu seiner Voll- endung und geschlechtlichen Reife, oder zur Complieirtheit und Grösse des Kör- perbaues stünden. Wir wissen aller- dings, dass grössere Thiere in der Regel nicht nur eine grössere Tragzeit, sondern auch eine längere Wachsthums- periode besitzen und in der That hat man dementsprechend gefunden, dass Elephanten zweihundert Jahre alt wer- den, und will ähnliches von Walfischen behaupten. Gleichwohl zeigt sich bei näherer Betrachtung bald, dass die Körpergrösse zu der Lebensdauer nicht in einem einfachen, graden Verhältnisse steht: das Pferd lebt nicht länger als die kleine Kröte, und die Katze über- trifft das Schwein an Lebensdauer. Andrerseits stehen die Intensität des Lebens, die Heissblütigkeit, Schnellig-, keit des Stoffwechsels u. s. w. nicht, wie man glauben sollte, in einem um- gekehrten Verhältnisse zur Lebensdauer, was schon das hohe Alter, welches einige Vögel erreichen, beweist. Man darf eben das Leben nicht einer verzehren- den Flamme vergleichen, die eine ge- gebene Menge Brennstoff verzehrt und dann erlischt; es wird derselben viel- mehr immer neue Nahrung zugeführt und bei regem Stoffwechsel ist mit dem Verbrauch auch der Ersatz ein schnellerer. So werden die Weibchen und Arbeiter der Bienen trotz ihres angestrengteren Daseins mehrere Jahre alt, während die ganz ebenso organi- sirten Männchen nur wenige Wochen alt werden. Auf diesen Wegen ist mit- hin der Lösung nicht näher zu kommen und es scheint schliesslich nur eine solche Lösung Anspruch auf Wahrschein- lichkeit zu haben, die von darwinisti- schen Prinzipien, von dem Kampfe um’s Dasein ausgeht, Erinnern wir uns, dass nur einige derselben wiederholen. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. % wenn das Leben einer Art fortdauern soll, die Lebensaufgabe des Individuums darin besteht, die Fortpflanzung in aus- reichendem Maasse zu vollziehen, so wird die erforderliche Lebensdauer der einzelnen ArteinestheilsvonderSchnellig- keit, mit der sie zur Fortpflanzung ge- langt und von der Menge der erzeugten Brut, und andrerseits von den grösseren oder geringeren Gefahren, denen die- selbe ausgesetzt ist und durch welche sie theilweise wieder vernichtet wird, abhängen. Dabei kommt natürlich ferner in Betracht, ob das Junge seitens seiner Eltern des Schutzes, der Pflege und Erziehung bedarf, oder ob die Eltern schon mit der Bergung der Eier an einem passenden Ort ihre Aufgabe er- füllt haben. Natürlich kommen ausserdem viele Faktoren in Betracht, denen der Vortragende durch einzelne Beispiele gerecht zu werden suchte. Wir wollen Die Eier und die junge Brut der Vögel sind sehr vielen Gefahren und Zufälligkeiten ausgesetzt, und ihr ganz und gar auf den Flug berechneter Organismus ist zur Fruchtbarkeit wenig disponirt, gerade die besten Flieger legen jährlich nur ein paar Eier. Aus allen diesen Gründen bringt ein Vogelpaar oft im Laufe mehrerer Jahre nur ein einziges Junges auf, und es bleibt, wenn die Art er- halten bleiben soll, kein anderes Mittel, als eine lange Lebensdauer des In- dividuums. Damit übereinstimmend fin- den wir, wie schon erwähnt, bei den Vögeln, trotz ihrer Heissblütigkeit, eine lange Lebensdauer: man hat beobachtet, dass eine Nachtigal zwanzig, ein Kukuk zweiunddreissig und ein Adler hundert Jahre alt werden. Ein wumgekehrtes Verhalten zeigen die Insekten, deren Lebensdauer im ausgebildeten Zustande meist sehr kurz ist: die sonst und mit Recht als Gleichniss der Vergänglich- keit des Lebens citirte Eintagsfliege lebt noch nicht einmal einen ganzen Tag, sondern nur 4—5. Stunden. Ein Kleinere Mittheilungen und Journalschau. wunderbar vollendeter Organismus bildet sich aus, entschlüpft der Puppe, um gleich darauf nach vollzogener Begatt- ung und beschleunigter Eiablage zu sterben! Damit steht nun wieder im vollsten Einklang, dass die Insekten nicht nur zu den fruchtbarsten, sondern auch zu den verfolgtesten Thierarten ‚gehören; es konnte daher für die Er- haltung der Art keine bessere Anpassung an diese Verhältnisse geben, als eine möglichst kurze Lebensdauer und eine überreichliche, schleunige Fortpflanzung. Die Lebensdauer ist also eine variable Grösse und man kann annehmen, dass sie sich nach den bestehenden äussern Existenzbedingungen, die für jede Art verschieden sind, geregelt hat, da sie im Allgemeinen die Zeit einer gesicherten Fortpflanzung nicht um vieles über- dauern wird. Dabei muss die Frage auftauchen, ob der Tod überhaupt eine Nothwendigkeit sei, und ob der Stoff- wechsel nicht im Stande sein müsste, die Lebewesen dauernd lebensfähig zu erhalten? Diese Frage gehört zu den schwierigsten und bisher wohl kaum gelösten Problemen, man muss eben annehmen, dass die Verjüngung der Gewebe keine vollkommene ist, dass sich mit dem beginnenden Alter viel- leicht bestimmte Verbindungen in den Geweben bilden, die ihre Funktions- fähigkeit schwächen, nur im Repro- ductionssystem findet die vollkommene Verjüngung des Lebens statt. Zu dieser allgemeinen innern Nothwendigkeit des Absterbens kommen die von äussern Einflüssen hervorgebrachten und nur in den seltensten Fällen ganz ausbleiben- den Schädigungen einzelner Organe, wodurch der Organismus als Ganzes an Leistungsfähigkeit einbüsst. Abgenutzte und unvollkommen funktionirende Indi- viduen sind aber nicht nur für das Leben der Art überflüssig, sondern sogar schädlich, da sie den jüngern voll- kommener funktionirenden Individuen den Platz wegnehmen und die Existenz- 135 bedingungen streitig machen, und in diesem Sinne muss der Tod, wenn nicht als innere Nothwendigkeit, so doch jeden- falls als Zweckmässigkeitseinrichtung be- zeichnet werden. Es ist dies, wie hier in Parenthese bemerkt werden mag, der- selbe Schluss, zu dem auch Erasmus Darwın gelangte, das Glück der Ge- sunden und Jungen stehe höher als der Tod der Alten und Kranken, denen der Tod oft sogar selbst nicht einmal als ein nennenswerthes Uebel erscheine. Das Individuum muss vielmehr sterben, da- mit das Geschlecht unsterblich bleiben kann. Uebrigens sterben dennoch streng genommen, nicht alle Organismen, denn bei den Thieren der niedersten Stufen, welche sich durch Theilung vermehren und bei denen eine Abnutzung von Ge- weben und Gerüsttheilen nicht vorkom- men kann, weil sie keine besitzen, wie z.B. bei den Amöben, kann man eigent- lich kaum sagen, dass das Individuum stirbt, falls es nicht durch gewaltsame äussere Eingriffe vernichtet wird. Jedes der durch Theilung entstandenen neuen Lebewesen wächst wieder zu einem dem ursprünglichen genau gleichen Lebewesen heran, man kann nicht einmal sagen, das eine sei das ältere mütterliche Wesen und das andere die Tochter, und da diese Theilungen sich bis in’s Unend- liche wiederholen, so haben wir hier Lebewesen, die nicht den Keim des Todes in sich selbst tragen, wenn wir auch nicht sagen können, dass sie unsterblich ' wären, da sie leicht durch eine äussere Ursache vernichtet werden können Die vermeintlichen Proteaceen der europäischen Tertiärzeit. In der Sitzung der Pariser Akade- demie der Wissenschaften vom 16. Mai 1881 las Graf G. DE SarorrA eine Ab- handlung über die vermeintliche Iden- tität oder nahe Verwandtschaft der Proteaceen im tertiären Europa mit den 136 heute in Neuholland lebenden, welche eine weitergehende principielle Bedeut- ung und Beachtung in Anspruch neh- men darf. Die Proteaceen sind jetzt auf die südliche Hemisphäre begrenzt und bilden zwei natürliche Gruppen, eine neuholländische, welche die Gat- tungen Petrophila, Grevillea, Lomatia, Banksia und andere nicht in Afrika vorkommende Gattungen in sich be- greift, und eine südafrikanische Gruppe aus Gattungen, die wiederum nicht in Neuholland vorkommen, wie Protea, Leucadendron, Leucospermum u. A. Die Pflanzeneinschlüsse der europäischen Ab- lagerungsschichten, welche von den jüngeren Kreideschichten bei Aachen an gerechnet, als Proteaceen gedeutet wor- den sind, wurden nun auf australische Gattungen, wie Grevillea, Lomatia, bank- sia, Dryandra, bezogen. AD. BRONGNIART bezeichnete mit einem Fragezeichen eine unter den von GAupry aus Kumi mitgebrachten Arten als Stenocarpites. SAPORTA erinnert hierbei nun an ge- wisse Beispiele, welche die Identifikation fossiler europäischer Pflanzen mit au- stralischen Proteaceen-Typen mindestens zweifelhaft erscheinen lassen. Stenocar- pites amisoloba BRonGN., welche durch SAPORTA selbst als Grevillea amisoloba bezeichnet worden war, ist durch UnGER schliesslich als ein einzelnes abgebro- chenes Blättchen, eines zusammenge- setzten Araliaceenblattes (Cussonia po- Iydrys Une.) erkannt worden. Beinahe sämmtliche auf Grevillea bezogenen fos- silen Blätter haben eine Aderung, wie sie beiden Thymeleen vorkommt. UngEr’s Dryandroides und die meisten seiner Banksites-Arten sind auf Myricaceen zu- rückgeführt. Dryandra Schrankii (oder Comptonia dryandraefolia) zeigt die Fruchtbildung der Myricaceen. Dryandra Coutzeniana und primaeva De. aus den Aachener Senonschichten sind wahr- scheinlich Comptonien. Dryandra Mi- chelottii Wan. der Pariser Eocänschichten bietet zwar die charakteristische Phy- Kleinere Mittheilungen und Journalschäu. siognomie von Dryandra dar, aber so lange man keine beglaubigten Früchte oder Samen findet, wird man es nicht mehr wagen dürfen, sie auf eine au- stralische Form zu beziehen. Die ZLo- matites-Arten aus dem Gyps von Aix in der Provence, besonders L. aquensis SAP. zeigen eine grosse Aehnlichkeit mit Zo- matia linearis und longifolia aus Au- stralien, aber dieser Umstand verliert viel von seiner Ueberzeugungskraft, wenn man sie mit den Blättern von Baccharis semiserrata DE CAnD. var. glabra, einer brasilianischen Composite vergleicht. Diese Blätter gleichen denen von Loma- tites aquensis Sar. so ausserordentlich, dass man kaum im Stande ist, dem Schlusse einer allgemeinen Verwandt- schaft zwischen der fossilen und dieser lebenden Pflanze zu widerstehen. Nichts- destoweniger sind dabei Unterschiede vorhanden, die zur Bildung einer dem provencalischen Tertiär eigenthümlichen Sektion oder einer Untergattung führen würden. Die Textur der Blätter müsste mehr lederartig gewesen sein, die Rand- zähne gehen in Dornen aus und die Aderung ist im Allgemeinen undeut- licher. Diese Eigenthümlichkeiten und die allgemeine Form führte dazu, dass die fossile Pflanze auf Lomatia bezogen wurde, aber Sarorra hält es für natur- gemässer, sie als zu den Baccharideen gehörig anzuerkennen und demgemäss Baccharites aquensis zu nennen. Diese Ansicht wird durch das Vorkommen zahlreicher Achänen oder Compositen- früchte mit den Blättern in denselben Lagern unterstützt. Diese als Cypselites bekannten Fossile umfassen zu Aix wenigstens vier Arten: Cypselites gypso- rum, stenocarpus, Philiberti und socius. Die beiden letzteren stimmen in ihren Charakteren gänzlich mit Conyza und Baccharis überein ; der Körper der Frucht ist an der Basis mehr oder weniger spindelförmig oben verschmälert und an dem Scheitel abgestutzt, daselbst mit’ einem sitzenden Pappus gekrönt, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. dessen Seidenhaare in einer einfachen Reihe angeordnet erscheinen. Wenn diese Thatsachen als ent- scheidend angenommen werden, und uns zum Aufgeben der Meinung führen, dass wir Proteaceen von australischem Ty- pus in Europa repräsentirt finden, so werden wir von einer grossen Schwie- rigkeit befreit sein. Das Vorhandensein von jetzt exotischen Pflanzentypen im alten Europa befindet sich im Allge- meinen im Einklang mit der gegen- wärtigen geographischen Vertheilung dieser Typen. In dieser Weise haben sicherlich viele wohlcharakterisirte Gat- tungen früher Europa bewohnt, von denen einige jetzt speciell auf Afrika, andere auf Asien und noch andere auf Nordamerika begrenzt sind. Aufein- anderfolgende Umwälzungen mit all- mähliger Abkühlung des Klimas werden das Verschwinden derselben erklären, aber die direkte Verpflanzung einer ganzen, heute auf einen Theil der süd- lichen Hemisphäre beschränkten Pflanzen- Colonie mitten in das Herz des alten Europa und ohne dass irgend welche Vorposten in dem dazwischen liegenden Raum vorhanden sind, erfordert, um angenommen werden zu können, die zweifellosesten Beweise. (Comptes ren- dus 16. Mai 1881.) 6. D. Wallcott’s Untersuchungen über die Trilobiten, auf die wir bereits im zweiten Bande dieser Zeitschrift (S. 69) mit einigen Worten eingegangen waren, sind nun- mehr mit einer im Märzheft des laufen- den Jahrgangs der Bulletins des Museums für vergleichende Zoologie des Harvard- Colleges in Cambridge abgeschlossen worden, und haben endlich zu einer Beendigung derlangen Ungewissheit über die Stellung dieser Thiere unter den Crustaceen geführt. Bekanntlich hatten die meisten neueren Zoologen mit Linx& 137 die Trilobiten als eine den Branchipoden nahestehende Klasse der Krebse ange- sehen. Wäre diese Ansicht richtig, so müssten sie platte Schwimmfüsse be- sessen haben, was sich nicht entschei- den liess, da meist nur das harte Rücken- schild im fossilen Zustande gut erhalten ist. Diese Rückenansicht zeigt nun aber eine gewisse Aehnlichkeit mit derjenigen der Asseln oder Isopoden; in diesem Falle müssten sie jedoch Fühler besessen haben, was wieder nicht zu erkennen war. Schon Burmeister hatte nun eine gewisseVerwandtschaft mitdemMolucken- krebse herausgefunden und als man die Entwickelung desselben in den letzten Jahren genauer studirte, fand man, dass die Larven desselben in der Rücken- ansicht eine wirklich grosse Aehnlich- keit mit Trilobiten darboten, so dass man auf eine Abstammung von ihnen schliessen konnte. Gewissheit konnte darüber aber nur erhalten werden, wenn man die Gliedmaassen der Trilobiten wirklich an gut erhaltenen Exemplaren studiren konnte, und diese fanden sich endlich in einer von WALLcoTT aus- gebeuteten Schicht des silurischen Tren- ton-Kalksteins, wobei es ihm durch Auf- wendung vieler Mühe und Sorgfalt gelang, zu einem sichern Resultate wenigstens bei einer Art (Calymene senaria) zu ge- langen, deren Füsse nach Zahl und Ge- stalt derartig festgestellt werden konnten, dass eine Restauration der unteren An- sicht möglich war. Diese Untersuchung hat nun die Vermuthung bestätigt, dass die Trilobiten mitden lebenden Molucken- krebsen (Zimulus) und den ausgestor- benen Riesenkrebsen (Eurypterida) in die Klasse der Poecilopoda oder Mero- stomata zu stellen wären, in der sie jedoch eine besondere Abtheilung bilden würden. Wie jenen, so fehlen auch ihnen die bei jüngeren Krebsen in Fühler und Kiefer umgewandelten Füsse, und es dienen die in der Nähe des Mundes stehenden Gehfüsse, durch besondere Zurichtung ihrer Basaltheile zugleich als 138 Kaufüsse, von denen jedoch nur vier Paare vorhanden waren. Ausserdemfehlen ihnen die den andern Poecilopoden zu- kommenden kleinen Nebenaugen (Ocelli). Ausser den Kaufüssen findet sich aber an jedem Thorax- und Abdominal-Seg- ment ein Paar mit mannigfachen Kiemen- anhängen versehener Füsse, so dass die Verwandtschaft mit den Branchipoden doch ebenso und deutlicher ausgedrückt ist, als bei andern Poecilopoden. Die Gesammtorganisation deutet aber, wie zu erwarten stand, eine sehr tiefe Organi- sationsstufe unter den Krebsthieren an. Fine Beobachtung an Trigona mirim. Im September 1873 hatte ich aus dem hohlen Aste eines vor Jahren ge- fällten Baumes ein Volk der 4 bis 4,5 mm langen Trigona heimgebracht, die hier den Namen der kleinen Biene („Abelha mirim‘) führt, obwohl sie in unserer kaum über 2,5 mm langen Li- liputbiene einen noch weit winzigeren Gattungsgenossen hat. Die erste Ein- richtung in ihrem neuen Heim gab den Thierchen viel zu thun. Brutwaben und Vorrathstöpfe wurden durch Wachs- balken an Boden und Wänden des Kastens befestigt; was beim Heraus- nehmen aus dem Aste und unterwegs verbogen oder zerdrückt worden war, wurde ausgebessert ; dem Flugloch wurde mit Wachs und Harz seine gehörige Grösse und Gestalt gegeben, so dass eben vier Bienenköpfe nebeneinander als Wachen herauslugen konnten u. s. w. War so der Arbeit jetzt mehr, so waren der Arbeiter weit weniger, — denn viele waren in der unregelmässigen Höhlung des Astes zurückgeblieben, — und dazu befanden sich dieselben in einer fremden Gegend, mit deren Blu- men sie noch nicht vertraut waren. So nahmen denn, wie ich es oft in ähnlichen Fällen gesehen, die Honig- vorräthe meiner Bienchen rasch ab. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Ich setzte ihnen daher auf den Boden ihres Kastens ein flaches Gefäss mit in Wasser gelöstem Zucker. Sie mach- ten sich rasch darüber, die gebotene Speise in ihrem Baue aufzuspeichern. Eine so unerschöpfliche Quelle in näch- ster Nähe war ihnen sicher noch nie- mals geflossen. Statt aus hundert Blu- men ein winziges Honigtröpfchen nach dem anderen mühsam aufsuchen und aus weiter Ferne die süsse Last heim- tragen zu müssen, konnten sie hier in vollen Zügen ihren Saugmagen füllen, um ihn sofort wieder in die nahen | Honigtöpfe zu entleeren. Ich darf wohl daran erinnern, dass unsere stachel- losen Bienen (Melipona und Trigona) nur für ihre Brut regelmässige Waben bauen und zwar nicht senkrechte mit zwei Zellenschichten, sondern einschich- tige wagerechte Waben, dass sie da- gegen ihre Vorräthe von Honig und Blüthenstaub in grossen rundlichen, un- regelmässig über einander gehäuften Töpfen verwahren, die aus stark mit fremden Stoffen versetztem Wachse ge- baut sind. Bei der Abelha mirim haben diese kugligen Vorrathstöpfe etwa 15 mm Durchmesser. — Nun waren, wie es bei diesen Thieren Sitte ist, die ent- leerten Honigtöpfe schon grösstentheils abgebrochen und so fehlte es bald an Gelass für die reichlich eingetragene Zuckerlösung. Da überraschte mich, am Morgen des 2. October, ein wunder- licher Bau, durch welchen die Bien- chen der durch den Ueberfluss entstan- denen Verlegenheit zu begegnen gesucht hatten. Auf einen dicht an der Wand des Kastens stehenden Honigtopf, der schon, um geschlossen zu werden, stark nach oben verjüngt war, hatten sie eine walzenförmige, 6 mm weite, 50 mm hohe Röhre aufgesetzt und durch meh- rere Wachsbalken an die nahe Wand befestigt. Sie war bis zum Rande ge- füllt. Am nächsten Tage begannen die Bienen diese Röhre, in der sie vor- läufig ihren Ueberfluss untergebracht, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. wieder zu leeren und erleichterten sich diese Arbeit, indem sie gleichzeitig die Wand der Röhre auf einer Seite ab- trugen und stets auf gleicher Höhe mit dem Spiegel der Flüssigkeit hielten. Am Abend des 3. October war die Röhre zur Hälfte, am folgenden Morgen voll- ständig entleert und die eine Seite der- selben abgebrochen; die andere Seite hat dann noch Tage lang gestanden, bis gelegentlich das Wachs zu anderen Arbeiten verbraucht wurde. — Aus. der wundervollen Regelmässig- keit der Bienenwaben, wie aus anderen wunderbar vollkommenen Leistungen der Thiere hat man schliessen wollen, dass die Befähigung dazu sich nicht all- mählig auf natürlichem Wege habe ent- wickeln können, dass dabei vielmehr eine höhere Einsicht, ein »unbewusstes Hellsehen« im Spiele sein müsse. Wäre dem so, so müsste sich diese höhere Einsicht doch wohl auch da kundgeben, wo sie gerade am meisten von Nöthen wäre, in ungewohnten Lebenslagen, in welchen die ererbte oder selbst erwor- bene Gewohnheit und Erfahrung das Thier im Stiche lässt. Sehen wir denn, inwiefern der eben erzählte Fall für oder wider das Bestehen eines solchen unbewusst das Zweckgemässeste wählen- den Hellsehens spricht. Um 1413,7cbmm Zuckerlösung un- terzubringen, haben die Bienen eine walzenförmige Röhre von 6mm Durch- messer und 50 mm Höhe, also eine Wand von 942,5 qmm gebaut. Hätten sie statt dessen einen ihrer gewöhn- lichen kugligen Honigtöpfe von 15 mm Durchmesser gebaut, so hätten sie ihn nur bis zu etwa zwei Drittel seiner .Höhe (genauer: 10,7 mm hoch) aufzu- bauen brauchen, um den ganzen Zucker unterzubringen, und derselbe hätte bis dahin nur 504,2 qmm Oberfläche gehabt, so dass sie fast die Hälfte (genauer: 0,465) des zur Röhre verwendeten Wach- ses und ebensoviel an Arbeit gespart haben würden. Und mit dem Wachse 139 der Röhre hätten sie einen ganzen Honigtopf und noch einen zweiten bis auf ein Drittel seiner Höhe bauen und darin 2094,53 cbmm, also fast andert- halb mal so viel Honig unterbringen können. Da ist also keine Spur einer über das Allernächste hinausblickenden höhe- ren Einsicht; für das Allernächste aber, für das unmittelbare Bedürfniss jedes einzelnen Augenblicks haben die Bienen das beste Auskunftsmittel gewählt. Die mit dem Baue eines Honigtopfes be- schäftigten Bienen sind dabei, ihn zu schliessen und haben ihn schon bis auf 6 mm Durchmesser verengt; da drängen sich plötzlich die honigtragenden Bie- nen mit immer neuen und neuen La- dungen heran, die untergebracht sein wollen; das Einfachste war da jeden- falls von dem schon vorhandenen Rande des Topfes aus aufwärts zu bauen. Und es war auch für eine gewisse Zeit weit zweckmässiger, als einen neuen Honigtopf anzufangen. Um 50 cbmm Honig unterzubringen, musste man an der Röhre eine Wand von 33,3 qmm Oberfläche bauen; mit einer gleich gros- sen Wand hätte aber ein neu begon- nener kugliger Topf von 15mm Durch- messer nur 11,4 cbmm, also noch nicht den vierten Theil gefasst. Und so bleibt die Röhre bis zu 8,9mm Höhe im Vor- theil über den kugligen Topf; bei die- ser Höhe fasst sie 252cbmm und hat 1680 qmm Oberfläche; mit gleicher Oberfläche würde der kuglige Topf 3,6 mm Höhe erreicht haben und ebenfalls 252 cbmm fassen. Von da ab fasst der Topf mehr als die Röhre. — Das Lehrreiche an diesem Falle scheint mir das zu sein, dass unter ungewohnten Verhältnissen der gewohnte Weg verlassen und ein neuer einge- schlagen wurde, obwohl letzterer nur für den Augenblick der bessere war, ersterer schon nach kurzer Frist der weitaus vortheilhaftere gewesen wäre. Das »unbewusste Hellsehen« vermochte 140 nicht, um die nächste Ecke zu blicken, und bis dahin bedarf man seiner nicht. Frırz MÜLLER. Der Schallapparat eines zirpenden Fisches. Die Redensart »stumm wie ein Fisch« wird bekanntlich durch verschiedene Fi- sche widerlegt, die bei mannigfachen Gelegenheiten deutliche knurrende, zir- pende und piepende Töne hören lassen. Die Schlammpeitzger, Barben, Karpfen sind nach dieser Richtung bekannt, der Häring soll, wenn er bemerkt, dass er sich in einem Netze gefangen hat, wie eine Fledermaus schreien. Die Ursache des hervorgebrachten Geräusches ist bei den einzelnen Arten verschieden, und wird bald durch aus der Schwimmblase in die Speiseröhre entlassene Luft, bald durch Reibung der Schlundknochen oder Zähne und anderweit erzeugt. Eine be- sondere, mit dem Stridulationsapparat verschiedener Insekten Analogieen dar- bietende Einrichtung hat kürzlich HAp- Don bei einem Siluroiden (Callomystax gagata) beobachtet, welche aber nicht auf der Oberhaut, sondern im Skelet liegt. Die 2 oder 3 ersten Wirbel sind unter sich und mit dem Kopf verschmol- zen, und das erste intervertebrale Liga- ment hinter diesem Punkte ist dicker als irgend eines der übrigen. Dieser Um- stand kündigt schon im Voraus an, dass diese Region die Stelle ausgedehnterer Bewegungen ist, als irgend ein anderer Punkt der Wirbelsäule. Das ist nun auch in Wirklichkeit der Fall, und so- bald man den Körper des Thieres verti- kal drückt, hört man einen scharfen, durchdringenden Ton. Ausserdem ver- binden sich die breiten Neurapophysen der verschmolzenen Wirbel untereinan- der und vereinigen sich vermittelst einer schiefen Naht dem Hinterhauptskamm, so dass sie eine Fortsetzung desselben nach hinten darstellen. Die hintere Hälfte dieser Knochenplatte ist in zwei verti- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. kale Platten getheilt, deren obere und hintere Kanten nach ihrer innern Ober- fläche fein gezähnt sind. Andrerseits vereinigen sich die bei- den vordern, interspinalen Knochen durch Nähte miteinander, und verbreitern sich derart, um den starken vordern Dorn der Schwimmflosse zu stützen. Der keil- förmige Knochen, welchen sie darstellen, ist gleichfalls wie eine doppelte Feile auf beiden Seiten gezähnelt und lagert sich zwischen den oberwähnten beiden Platten. Es ist nunmehr leicht zu ver- stehen, durch welchen Mechanismus das Geräusch hervorgebracht wird, der Kopf, die vordern Wirbel und ihre verschmol- zenen Neurapophysen bilden ein starres Ganze; der Rest der Wirbelsäule, mit- sammt den interspinalen Knochen, ist im Gegentheil mehr oder weniger be- weglich. Wenn nun die doppelte Feile, welche der erste interspinale Knochen trägt, mit der innern gezähnten Ober- fläche, der Neurapophyse in Berührung kommt, so entsteht eine Stridulation. (Journal of Anatomy and Physiology XV. p. 322. 1881.) Embryonalfedern in der Mundhöhle der Vögel. Der Privatdozent an der Leipziger Universität Dr. PAun Fraısse hat im »Zoologischen Anzeiger« (IV. Nr. 85. p- 310. 1881) die Beobachtung mit- getheilt, dass gewisse Papillen, die sich auf der Zungen-Oberfläche der erwach- senen Ente befinden, durch die Verbin- dung und vollkommene Verschmelzung der bei dem Embryo daselbst entwickel- ten Federkeime gebildet werden. Diese Federn lassen sich leicht an dem Em-. bryo der Ente, zwei Tage vor dem Aus- schlüpfen aus demEi beobachten. In die- ser Entwickelungsperiode besitzen diese Zungenfedern genau denselben Bau, wie diejenigen, welche die äussere Oberfläche des Körpers bekleiden: wie diese treten sie aus einem kleinen Follikel hervor, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. und die einzige Verschiedenheit besteht darin, dass sie ein wenig kürzer als die Federkeime der Oberhaut sind. Im Uebrigen bietet diese Beobachtung nichts Ueberraschendes: denn, wie man weiss, entwickelt sich die Schleimhaut des Mun- .des wie die Haut aus dem Ektoderm, so dass in entwickelungsgeschichtlicher Beziehung das Epithel des Mundes, das Aequivalent der Epidermis ist. Bekannt- lich kommen bei verschiedenen Thieren auch Horn- und Zahnbildungen, welche letzteren ebenfalls zu den Hautgebilden gehören, auf der Zunge und der innern Mundauskleidung vor, und man weiss, dass bei gewissen Leporiden auch Haare im Innern des Mundes vorkommen und die innern Backenflächen auskleiden. Personen mit Haaren auf der Zunge würden sich mithin eher denken lassen, als die angeblich so verbreitete Abart, welche Haare auf den Zähnen tragen soll. Beohachtungen an einer Spötter-Hecke. In meinem Garten nistet seit Jahren ein Spötterpaar (Ficedula hypolais). Lange gab ich mir vergebliche Mühe, das Nest ausfindig zu machen, bis es mir in diesem Frühjahr gelang. Ich entdeckte es zwischen einem dreifach gegabelten Aste eines Zwergbirnbaumes geschickt versteckt. Ganz unbekümmert um den unerwünschten Lauscher setzten die alten Spottvögel ihr Brutgeschäft fleissig fort. Männchen und Weibchen wechsel- ten darin genau um die Mittagsstunde | miteinander ab. Acht Tage, nachdem die Jungen, 5 nette graugelbe Kerlchen, _ aus den Eiern geschlüpft waren, nahm ich sie mit raschem Griffe sammt dem Neste, setzte es’ in ein bereitgehaltenes Bauer, das ich an demselben Baum be- festigte, wo das Nest gewesen. Die Alten, welche mich während der kurzen Uebersiedlungsmanipulation mit “ängst- lichem Gekreisch umflattert hatten, fütterten, als ob nichts geschehen wäre, 141 durch die Stäbe des geschlossenen Käfigs ihre mit erstaunlichem Appetit geseg- neten Jungen unausgesetzt vom frühen Morgen bis zum späten Abend, 15 Stun- den lang, die ersten Tage aus dem Kröpfchen, dann mit todten aber ganzen Insekten und zuletzt mit lebendigen, als Vorbereitung für den selbstständigen Nahrungserwerb. Die kräftigeren Schrei- hälse, — es waren deren drei, welche sich im Neste weiter bis zu den Käfig- stäben vorstreckten und das meiste Futter für sich in Beschlag nahmen, nur wenig davon an ihre Hintersassen durchlassend, — gediehen prächtig, während die beiden Andern aus mangel- hafter Ernährung schon nach einigen Tagen zu Grunde giengen. Also der Kampf ums Dasein und das Ueberleben des Tüchtigsten schon im Neste, Die Alten, welche noch immer die nun überflüssig gewordene Vorsicht des in- direkten Anfluges, um das Nest vor Entdeckung zu schützen, gebrauchten, kamen abwechselnd, durchschnittlich 3 mal in 2 Minuten, ‚und brachten ein grösseres Kerbthier oder mehrere kleinere im Schnabel — das machte täglich ungefähr 1500 Insekten, die blos von den Jungen verzehrt wurden. Unmittelbar nach Unterbringung im Käfig, wo sie schon in zwei Tagen lustig auf den Sprossen umherhüpften, ohne selbst zur Nachtzeit ins Nest zu- rückzukehren, versuchte ich mitzu- füttern, was mir in der ersten Zeit nicht gelingen wollte, obgleich ich sie mit einem Pinsel am Schnabel kitzelte. Doch nach 6 Tagen nahmen sie auch aus meiner Hand animalisches Futter, gerade so gierig, als aus den Schnäbeln der Eltern, nur mit dem Unterschiede, dass sie es von mir lautlos nahmen, während sie die Alten, sobald sie ihrer aus der Ferne ansichtig wurden, mit lautem stossweisen Gekreische, zu dem sich das anfängliche Wispern und Piepsen gesteigert und mit weit aufgesperrten Schnäbeln begrüssten oder eigentlich 142 deren knabbernde, prackende, rätschende Lock- und Signalrufe erwiederten. Am 18. Tage nach ihrer Trans- ferirung, an welchem die Alten sie un- gewöhnlich eifrig und häufig gefüttert hatten, begannen die Jungen des Abends ein lautes klägliches Geschrei, wie man es bisher von ihnen nicht vernommen, auszustossen, so oft sich ihnen die Alten mit grösseren Kerfen im Schnabel näherten. Ich wusste mir dieses selt- same Gebahren und Gehaben nicht zu erklären, bis der darauffolgende Tag den Erklärungsgrund dafür brachte. Die Alten zeigten sich nämlich nicht mehr in der Nähe der Hecke. Der Lärm Abends zuvor bedeutete also die Mün- digkeitserklärung, den Abschied. Die Jungen verhielten sich seit da- mals merkwürdigerweise lautlos stille, zeigten sich aber sonst ganz munter, ohne besondere Unruhe oder Sehnsucht zu verrathen, und schlangen das ge- reichte Futter (Insekten, Beeren, in Milch geweichte Semmel) mit unersätt- licher Gier hinunter. Am 4. Tage erst gaben sie die von ihren früheren Laut- äusserungen ganz verschiedenen, aus Schmätzen und Knabbern bestehenden Ton der Alten von sich. Ich schliesse daraus, wie aus der Art ihres früheren schnarrenden Gezwitschers, dass dieses zumal, wie überhaupt ihre Lautgebungen während der elterlichen Pflege nur als Verständigungsmittel und Empfindungs- austausch für die Alten galten. Gewohnt, sich gegenseitig die ge- reichte Nahrung aus den Schnäbeln zu reissen, gelangten sie zur Erfahrung, dass sie vereint auch eine grössere Raupe oder einen Mehlwurm leichter bewältigen und zerreissen könnten, und so kam es, dass der Eine seine Beute, die er nicht allein klein- und hinunter- bekommen konnte, mit auffordernder Schnabelbewegung dem andern hinhielt, der sie dann an dem freien Ende erfasste. Beide zerrten aus Leibeskräften an dem Wurm, und wohl öfter kam der Dritte Kleinere Mittheilungen und Journalschau. als tertius gaudens und annektirte sich den besten Bissen, das Mittelstück. So führte sie die Zwietracht zur Einigung, der Kampf gegen einander zur Bundes- genossenschaft. — Im Völkerleben ist es freilich umgekehrt bestellt. — Ueber- haupt ist es erstaunlich, wie rasch die winzigen Guckindiewelt Erfahrungen be- greifen und sich zu Nutze machen. Ich hatte ihnen einen Wassernapf zum Baden ins Bauer gestellt, der, wie ich dachte, bei 280 Reaumur nicht überflüssig wäre. Sie nahmen aber anfänglich keine No- tiz davon, bis sie einmal von einem Platzregen tüchtig durchnässt wurden; von da ab badeten sie täglich einige- mal. Indess, wenn auch dem blitz- artigen Empirismus ein grosser Antheil an derEntwickelung der Vögel eingeräumt werden kann, so lässt sie doch eine beträchtliche Anzahl von Fragen offen. Woher haben junge Vögel, wenn sie kaum das erste Mal aus dem Neste hüpfen, ein solches fast untrügliches Augenmaass für Distanzen, dass sie, wie meine Pfleglinge, so sicher in ziemlicher Entfernung von Stäbchen zu Stäbchen springen, ohne erst durch Schaden und Verfehlen klug zu werden ? Wie treffen sie die schwierigsten Verrich- tungen und complicirtesten Bewegungen, die sie nie gesehen oder gehört? Wie kam es, um das einfachste Beispiel zu erwäh- nen, dass meine Spötterbrut mit Giernach Ameisenpuppen pickte, die sie damals noch nicht gesehen und gekostet haben konnte, weil sich solche im Freien noch nicht vorfanden und die Alten sie schlechterdings nicht aus dem Ameisen- haufen zu graben vermochten? Sollen wir uns mit den landläufigen Auskunfts- mitteln, mit Schlagworten, wie Instincte, Triebe u. s. w. begnügen, die ja nur fehlende Begriffe markiren? Sollten wir uns nicht lieber nach einem rich- tigeren Erklärungsgrund umschauen ? So sei denn noch eine Hilfshypothese gewagt, die selbst zur Erklärung der ersten kindlichen Lebensäusserungen Kleinere Mittheilungen und Journalschau. nicht versagen dürfte. Die rasche Be- rührung einiger Tasten erzeugt die ersten Läufe einer Tanzmelodie; das Gehör vermittelt sie und setzt sie un- bewusst in rhythmische Bewegungen unserer Gliedmaassen um, die, gewohnter Uebung folgend, auch die Tanzfiguren der folgenden Takte vollführen, welche sie diessmal nicht gehört. Wir haben es also nicht nur mit einer Ideenasso- ciation zu thun, wobei aufeinanderfol- gende Vorstellungen sich gegenseitig ins Bewusstsein rufen, sondern auch mit einer gemischten Folge einander erweckender Wahrnehmungen, Gefühle, Willensäusserungen und Bewegungen. Angenommen, durch eine Reihe von Generationen würde eine prompte Wechselbeziehung zwischen Empfin- dungs- und motorischen Nerven und diedurch Sinneswahrnehmung vermittelte Auslösung von Bewegungen bezüglicher Organe hereditär, d. h. die Fähigkeit, (nicht erst eine zu entwickelnde An- lage) auf einen äussern Eindruck durch eine entsprechende Bewegung anfänglich unwillkürlich dann bewusst zu reagiren, sei einer gewissen Partie in den Ner- vencentren erblich immanent: so wird es dem Verständnisse näher gerückt, warum und wie besonders rasch sich entwickelnde, auf einfache Existenzbe- dingungen hingewiesene Lebewesen bei auszuübenden Thätigkeiten eine an- geborene Geschicklichkeit entfalten, förmlich mit der Sicherheit und Prä- eision einer Maschine fungiren. — Es gehört namentlich für eine physiologisch geschulte Denkweise kein sonderlicher Scharfsinn dazu, nach dieser Theorie obige und ähnliche Fragen zu lösen. Versuchen wir’s an einigen davon: Dem in gewisser Ferne erblickten Stäbchen entspricht beim jungen Vogel die durch diesen Sinneseindruck ausgelöste Thä- tigkeit der Sprung- und Greifmuskeln, welche dazu gehört, um das Stäbchen zu.erreichen und zu umfassen. Sehen bedeutet ja schon, den Lichteindruck 143 bis zu dem Punkte, von dem er aus- gegangen, zurückverfolgen. Der Anblick des Stäbchens weckt nun in dem Vogel mit dem Wunsche auch die Kraft, es im Sprunge zu umfassen. Diese ver- mittelnde Eigenthümlichkeit im Senso- rium ist hereditär, mit andern Worten, an eine ererbte Fähigkeit einer be- stimmten Nervenfaser gebunden, gleich- viel ob Muskeln und Nerven sich aus be- sonderen Zellen entwickeln oder durch Umwandlung frischer Keimsubstanz in »gebildete Substanz« sich ermeuern. Das Organ der Causalität zwi- schen Wahrnehmung, Lust oder Unlust und Thätigkeit ist erb- lich. Der Vogel hat demnach die Fähigkeit geerbt, beim Anblicke eines von seinen Stammeltern ' viele Gene- rationen hindurch mit Vorliebe gesuch- ten Nahrungsobjektes die Lust darnach zu verspüren, welche entsprechende Muskelapparate in die erforderliche Be- wegung setzt, das Nahrungsmittel zu ergreifen. Esist eine anerkannte That- sache, dass Thiere durch Ver- erbung den Geschmack für ge- wisse Arten von Nahrung er- langen. (Darwin, Abstammung d.M. 1. 88.) Wir finden ja auch beim Menschen, dass sich sogar Idiosynkrasien vererben. »Die Vererbung überhaupt ist ein wun- derbares Ding«, sagt Darwın (Variiren u. s. w. II. 2), und stimmt mit H, Hor- LAND überein, dass das Ueberraschendste nicht die Vererbung eines Merkmals sondern dessen Nichtvererbung sei — und das bezieht sich auch auf das Ge- ringfügigste, auf Gesten, Manieren, Ge- fühlsausdrücke, kleinliche Gewohnhei- ten, sogar auf die Handschrift. Hor- ACKER (Ueber die Eigenschaften u. s. w. 34) führt an: »Wenn englische Knaben in Frankreich im Schreiben unterrichtet werden, so neigen sie von Natur der englischen Art der Schrift zu und ge- rathen in dieselbe.« Wer sich mit den seltsamen Er- scheinungen der Heredität durch fort- 144 gesetzte Ueberlieferung und Anhäuf- ung* beschäftigt und beispielsweise nur einen Blick in Dr. Prosper Lucas’ grosses Werk »De l’heredit& naturelle« oder in GAauron’s: »On Hereditary Ge- nius« gethan, wird an einer derartigen Hypothese nichts Absonderliches finden; möglicherweise wird man sogar darin die Platonischen Ideen (Arist. Metaph. A. 6; Phaedon, 72, 102; Diog. L. II. 8), vielleicht die Arauvnoıg, freilich ins Materialistische übertragen, auferstehen sehen, oder, wasnäher liegt, eine weitere Stufe der von Darwın (Variiren II. 27. Cap.) aufgestellten Idee der Pange- nesis erkennen, nach welcher »jedes Wesen als ein Mikrokosmos betrachtet werden muss, als ein kleines Universum gebildet aus einer’ Menge sich selbst fortpflanzender Organismen, welche un- begreiflich klein und so zahlreich sind, wie die Sterne am Himmel.« Meine jungen Spötter fangen mir an, unruhig zu werden. Ist es, weil ihnen all das grause Zeug imputirt wird’? oder ahnen sie schon den Ruf der un- bekannten Genossen, die sich nun zum »Ziehen« rüsten? Brünn im August 1881. Dr. B. PLAczer. Die Haushunde der prähistorischen Zeit bildeten den Gegenstand eines Vor- trages, welchen J. N. WoLprıcH auf der diesjährigen Versammlung der öster- reichischen Anthropologen in Salzburg (12.—15. August) hielt. Noch vor weni- gen Decennien wäre es vermessen ge- wesen, an die einstige Lösung der »Hunde- frage« zu denken, oder gar von irgend einer Abstammung unserer mitunter so weit auseinanderlaufenden Hunderassen mit einiger Bestimmtheit reden zu wollen. Erst als die Anthropologie die Spuren des Menschen nach rückwärts verfolgte, ermittelte man auch die Vorfahren sei- nes treuesten Begleiters, und RürımEYER Kleinere Mittheilungen und Journalschau. fixirte den »Torfhund«, den Hund der Pfahlbauten. JEITTELES unterschied dann aufGrundseiner vorgeschichtlichenFunde in Olmütz einen zweiten prähistorischen Hund, den Bronzehund (Canis fami- liaris matris optimae), worauf RUTIMEYER seinen Torfhund ©. f. palustris nannte. Redner hat sodann aus Anlass von prä- historischen, vom Grafen WURMBRANDT bei Weikersdorf in Niederösterreich ge- machten Funden einen dritten prähistori- schen Hund unterschieden, welchen er den Aschenhund (Ü. f. intermedius Woupr.) nennt (vgl. JEITELES die »StammväterunsererHunderassen«, Wien 1877, und WoLDkrıcH, über Caniden aus dem Diluvium, Wien 1878.) Die Stamm- form des Torfhundes der Steinzeit glaubte JEITTELES im kleinen Schakal zu erkennen, welchen die Pfahlbauer als Hüter des Hauses gezüchtet hätten, und er meinte, dass die Wachtelhunde, Spitze, Pinscher und selbst die Dachshunde von ihm abzuleiten seien. Den Bronze- hund ist JEITTELES geneigt, von dem indischen Wolfe (Canis pallipes) wegen der Aehnlichkeit der Schädelbildung ab- zuleiten; er hält ihn für einen Heerden- und Jagdhund, und meinte, dass unsre Schäferhunde und Pudel, sowie auch gewisse grössere Jagdhunde, wie der schottische Schweisshund von ihm ab- zuleitenseinmöchten. DenAschenhund wollte WoLprıcH vom Dib (Canislupaster) ableiten, welchen JEerrELEes für den Stammvater der ägyptischen Strassen- hunde hält. Nach Srroger entspricht jedoch (©. f. palustris dem heutigen Jagd- hunde, (©. f. matris optimae dem Wind- hunde, ©. f. intermedius dem Schäfer- hunde. Eine vierte von STROBEL in den Terramaren und verwandten Fundorten Italiens constatirte Form, €. f. Spalletti, wäre der Ahn unseres Spitzes. Neuer- dings sind nun auch noch ältere di- luviale Hunde entdeckt, und es hat Vortragender aus den Höhlen Schipka und Certovadira (Neutitschein in Mäh- ren) einen Diluvialhund herausgefunden, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 145 .den er als den Vorfahren des Ü. f. | dern ebenso wie Baboo, Soko und Quia palustris anspricht und zu Ehren Mır’s C. Mikii nennt, der sich von dem be- reits bekannten Diluvialhunde Bouraur- anar’s (Canis ferus) durch seine Klein- heit unterscheidet. Worprıch hält es ebenfalls für wahrscheinlich, dass ‘diese Diluvialhunde ursprünglich wild gewesen seien und unter Umständen auch zur Nahrung gedient haben. Gorilla und Chimpanse. H. von KorpenFreus, welcher sich | auf Forschungsreisen im Gaboon-Lande (West-Afrika) befindet, constatirt in | einem Briefe, der in einem der letzten Hefte des »American Naturalist< zum Abdruck gekommen ist, dass er hin- reichende Beweise für das Vorkommen von Kreuzungen zwischen dem männ- lichen Gorilla und dem weiblichen Chim- panse erhalten habe. sache«, meint er, »macht all’ den Fragen über Kooloo-Kamba, N’schego, M’bouve, den Soko’s, Baboots u. s. w. ein Ende. « Besonders scheinen, nach Korrrxrets, die französischen Gelehrten eine Vor- liebe für Aufstellung neuer Species, nach Variationen der Schädelform, wie sie »Diese That- | nur die verschiedenen Namen des Chim- panse bei den verschiedenen Stämmen. Die Mischlings-Nachkommenschaft des weiblichen Chimpanse und männlichen Gorilla, welche KorrknreLs angetroffen hat, findet sich nur in einzelnen Indi- viduen und verdient als solche einen besonderen Namen nicht. Das Verhalten der Augenhöhlen bei Affen und Menschen. Unter den eigentlichen anthropolo- gischen Vorträgen der diesjährigen Ver- sammlung der deutschen Anthropologen zu Regensburg (8.—10. August) wäre als von weitergehendem Interesse wohl nur derjenige des Professor AUREL voN Török aus Klausenburg »über die Or- bita bei den Primaten und die Methode ihrer Messung« hier zu erwähnen. Leider würde ein näherer Bericht ohne be- ' gleitende Abbildungen nicht verständ- lich sein, und wir müssen uns darauf beschränken, nur die allgemeinsten Ge- sichtspunkte hervorzuheben. Nach diesen an einer grossen Anzahl von Schädeln ' angestellten Untersuchungen würde die bei diesen Thieren so häufig vorkommen, | zu haben. ist die Heimath der Gorillas auf den westlichen Theil des äquatorialen Afrika beschränkt, und es finden sich deshalb unter ihnen keine Varietäten, während der Chimpanse über das gesammte tro- pische Afrika verbreitet ist und daher beträchtliche Abänderungen zeigt. So unterscheide sich der Chimpanse des nördlichen Guinea sehr wesentlich von demjenigen des südlichen Theiles von demselben Lande, und der Soko diffe- rirt nach Lıvınestone sehr wesentlich von beiden, ohne deshalb aufzuhören, ein Chimpanse zu sein. Du Cmarmuu’s Kooloo-Kamba, N’schego und M’bouve sind keine verschiedenen Species, son- Kosmos, V. Jahrgang (Bd. X). Nach seinen Erfahrungen mehr oder weniger vollkommene Ge- schlossenheit der Augenhöhlen am Schä- del einen Maasstab für die geistige Ent- wicklungsstufe des betreffenden Wesens abgeben. Bei den Halbaffen sind die grossen, vorn einander sehr genäherten und mit einem hohen Rande versehenen Augenhöhlen nicht vollständig durch eine Knochenwand abgeschlossen, sondern communieiren mit den Schläfengruben. Hiermit und mit der abweichenden Form und Stellung der Fissura orbitalis, stehe die schiefe, nach hinten gerichtete-Stell- ung der Augen in Verbindung, und alle diese Verhältnisse zeigen bei den eigent- lichen Affen Uebergangsformen zu denen, wie sie sich bei den Anthropoiden und dem Menschen zeigen. In Zusammen- . hang mit der Entwickelung des Ober- 10 146 kiefers nähern sich die Anthropoiden nach Form und Geschlossenheit der Orbita immer mehr dem Menschen, und zwar steht ihm in dieser Beziehung der ÖOrang-utang am nächsten, darnach folgt der Gorilla und dann erst der Chimpanse. Prof. Török demonstrirte diese Ver- hältnisse an genauen Gypsabgüssen, und Litteratur Zum Kampf der Theile im Organismus.* Dem in Heft 5 (Band IX) dieser Zeitschrift befindlichen kritischen Refe- rate über die Bearbeitung obigen Thema’s sei es gestattet, einige Bemerkungen seitens des Autors hinzuzufügen, und, da es sich um den Kernpunkt des Ge- genstandes handelt, zugleich etwas weiter auszuholen. Die Beschäftigung mit Specialunter- suchungen über den » Wirkungsumfang und die genauere Wirkungsweite des von Lamarck aufgestellten Prineipes der »Wirkung des Gebrauches und Nichtgebrauches der Organe« oder der »funetionellen Anpassung«, wie ich es mit zu Grundelegung einer bestimmten Auffassung seiner Ursache genannt habe, machte es nöthig, zugleich theoretische Untersuchungen über das Wesen und die allgemeine Begründung desselben anzustellen, um mit dem Einzelnen nicht auf ganz unbekanntem Fundament oder gar in der Luft zu stehen. Als das Wesen der functionellen An- passung zeigte sich die Fähigkeit des = Anmerk.d. Red. Obwohl vorliegende Entgegnung zum Theil auf missverständlicher ne: des in unserm Referate Gesagten zu beruhen scheint, namentlich in dem, was dort über die Hypertrophieen bemerkt wurde, so genügen wir dem Wunsche des Herrn Litteratur und Kritik. knüpfte die Bemerkung daran, dass auch für die menschlichen Rassenunterschiede die Form der Orbita charakteristisch sei. VırcHow konnte dies bestätigen und legte eine Reihe vergrösserter Or- ' bita-Abbildungen von germanischen und ı slavischen Schädeln vor. und Kritik. ' Individuum der höheren Wirbelthiere ı resp. des Menschen, in mannigfachen ‚ neuen Verhältnissen direct entsprechende zweckmässige Aenderungen der Organi- sation auszubilden. Und dieses geschieht ebensowohl, wenn das Individuum durch zwingende äussere Ursachen als wenn es durch eigene freie Wahl in neue Thätigkeitsbedingungen kommt. Solche directe zweckmässige Aenderungen kön- nen in allen Organsystemen vorkommen, und sie betreffen gewöhnlich fast alle diese Systeme gleichzeitig, immer aber eines oder mehrere vorzugsweise; so bald be- sonders die Organe der Ernährung bei willkürlicher oder erzwungener Aende- rung der Nahrung, bald besonders die der Locomotion und sonstigen mechani- schen Thätigkeiten: die Muskeln, Sehnen, Knochen und Bänder, bald die Sinnes- organe und das Nervensystem, je bei höherer Inanspruchnahme ihrer Func- tionen. Auf dieser Fähigkeit der directen Anpassung beruht überhaupt alle unsere willkürliche Thätigkeit und auch ein Theil des unwillkürlichen Geschehens: so un- ser Vermögen Sinneseindrücke zu bilden, Verfassers, sie in unsererZeitschriftabgedruckt zu sehen, doch sehr gern, zumal uns derselbe schreibt, dass er m den vorliegenden Zeilen den Kern seiner Ansichten klarer dargelegt zu haben glaube, als in seinem Werke selbst. Litteratur und Kritik. welche der Aussenwelt in einer bestimm- ten nutzbaren Weise entsprechen, Ab- stractionen aus ihnen zu entwickeln, erfahrungsgemäss und zweckbewusst zu handeln, durch Uebung bestimmte Ver- richtungen zu erlernen, kurz, überhaupt geistig und körperlich thätig zu sein. Nachdem von Darwın und WALLACE die Möglichkeit der mechanischen Ent- stehung einer nur dem Anschein nach teleologischen Zweckmässigkeit nach- gewiesen war, dadurch, dass aus den vielen vorkommenden und der Mehrzahl nach unzweckmässigen Variationen der Individuen im Kampfe um’s Dasein immer blos die sich in den äussern Umständen bewährenden übrig bleiben und ihre günstigen Eigenschaften vererbten, so war also noch eine wirklich den Charakter teleologischer Zweckmässigkeit tragende Fähigkeit unerklärt zurückgeblieben. Indem ich sowohl für diese als auch für mehrere erst in den letzten Jahren erforschte feinste Zweckmässigkeiten des Baues der höheren Organismen ein er- klärendes Prineip suchte, erkannte ich den nothwendig züchtenden Charakter der Wechselwirkung der Theile im Or- ganismus. Diese Wechselwirkung erwies sich als ein Princip, welches viele für die Dauerfähigkeit der Organismen gün- stige und zum Theil unerlässliche Eigen- schaften auf einem viel näheren Wege ausbilden musste, als auf dem der Aus- lese im Kampfe ‚der Individuen mit den äusseren Verhältnissen unter zu Grunde- gehen fast ganzer Generationen. Unter den auf diese Weise züchtbaren Eigen- schaften ist auch eine Qualität der Ge- webe, welcher sowohl die Befähigung der Individuen zur directen, functionellen Anpassung, als auch zugleich die Aus- bildung der erwähnten feinsten Zweck- mässigkeiten in der Structur zukommt. Es ist. die Eigenschaft der Gewebe, durch den funetionellen Reiz nicht blos zur Function angeregt zu werden, sondern zugleich auch noch, direct oder indirect, in der Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen 147 und zu assimiliren, gestärkt zu werden. Dadurch kommt das Wachsthum in Ab- hängigkeit von dem Grade und der Häufigkeit der Functionirung, und häu- figer oder intensiver gebrauchte Organe oder Organtheile werden sich stärker ausbilden, seltener gebrauchte kleiner bleiben oder sich zurückbilden. Diese allein schon durch den Kampf der Theile gezüchtete Eigenschaft ist aber, soweit sie vorkommt, für die Er- haltung des betreffenden Organismen- reiches durchaus zweckmässig, denn sie stellt ein Princip der grössten Oeconomie und der Selbstausbildung des Noth- wendigen dar. Trotzdem aber kann der im Einzelfalle vorhandene Special- charakter dieser Eigenschaft für den Träger nachtheilig sein, sofern die Natur einer solchen Gewebesubstanz zu stark oder zu schwach ist, in der Wechsel- wirkung mit den anderen Geweben oder sofern sie in ihren Functionen sich nicht für die äusseren Existenzverhältnisse des Individuums eignet. Im letzteren Falle wird also der Kampf der Individuen aus den im Allgemeinen für die Erhal- tung zweckmässigen Züchtungen des Kampfes der Theile seinerseits blos die- jenigen auslesen und damit erst der dauernden Erhaltung überliefern, welche zugleich auch ihrem Träger in seinem Specialkampf nicht nur nicht schaden, sondern Nutzen zu gewähren vermögen. Ich glaube, in dem 4. Kapitel des bezüglichen Buches eine für die erste Be- gründung genügend grosse Anzahl von Beweisen des direeten zweckmässigen Gestaltungsvermögens dieser so in den beiden Kampfesinstanzen gezüchteten Qualitäten an- und ausgeführt zu haben, und wenn Referent p. 401 zu dem Ur- theil kommt: >Die Zweckmässigkeit, die der functionelle Reiz direct hervor- bringen soll, ist also zunächst nur eine relative, die sich erst zu bewähren hat; der Sieg einer Function im Kampf der Theile und Functionen muss oft mit dem Untergange des Gesammtorganismug 10* 148 bezahlt werden, und das Resultat war dann ein eminent unzweckmässiges«, so sind in diesem Urtheil und bei den zur Begründung angeführten Beispielen die Erwerbung der betreffenden Qualitäten und ihre Wirkung, nachdem sie einmal in vollkommener Weise gezüchtet wor- den sind, nicht vollkommen auseinander gehalten. Die Erwerbung der Qualitäten geschieht durch Auslese in den beiden Kampfesarten, die Wirkung derselben aber ist alsdann, wie in der Schrift ausführlich dargelegt, fähig, die Er- scheinungen, die wir unter dem Namen der functionellen Anpassung zusammen- gefasst haben, hervorzubringen. »Die vielen Hypertrophieen der Or- gane, Gewebe und aller Körpertheile, an welchen die Organismen zu Grunde gehen«, sind nicht im Stande, den Be- weis des Gegentheils zu liefern. Reine Inactivitätsatrophieen und Activitäts- hypertrophieen sind für die Oeconomie des Organismus stets zweckmässig. Wenn aberdie Vernachlässigung des Gebrauches eines Körpertheiles und die daraus fol- gende geringe Ausbildung desselben ihrem Urheber dereinst nachtheilig wird, so darf nicht der Mechanismus des Or- ganismus, sondern nur die geringe Ein- sicht oder der schwache Wille des betreffenden Individuums dafür verant- wortlich gemacht werden. Ersteres wäre gleich, als wollte man einen gemeinen Soldaten dafür tadeln, dass ein Offizier versäumt hat, ihm einen nöthigen Auf- trag zu geben und dass er ihn infolge dessen auch nicht ausgeführt hat. Wenn andererseits z. B. bei spinaler Kinder- lähmung die Ganglienzellen im Rücken- mark für bestimmte Muskelgruppen durch Krankheit zerstört worden sind, und die Gebrauchsmöglichkeit für diese Muskeln damit aufgehoben ist, so muss die ein- tretende Atrophie der betreffenden Mus- keln und ihrer Stützorgane, der Knochen, Bänder etc. als durchaus zweckmässig - angesehen werden. Die Hypertrophieen angehend, so Litteratur und Kritik. trägt die Herzhypertrophie beim Vor- handensein von Herzklappenfehlern den Charakter höchster Zweckmässigkeit an sich, denn sie befähigt das Herz, die durch den Klappenfehler bedingte Vergrösserung der Widerstände zu be- wältigen und so den Betrieb der Blut- cireulation unter sehr erschwerenden Umständen fortzuerhalten. Dass aber das Herz zufolge der functionellen An- passung auch bei rein nervös veran- lasster Verstärkung seiner Thätigkeit, beim nervösen Herzklopfen, mit der Zeit hypertrophisch wird, kann weniger der functionellen Anpassung zur Last ge- legt werden, sondern fällt unter den soeben bei der Inactivitätsatrophie ge- kennzeichneten Gesichtspunkt. Selbständige Hypertrophieen aber, wie z. B. die zuerst von AUERBACH nachgewiesene echteMuskelhypertrophie, welche stets mit Verminderung der Leistungsfähigkeit verbunden ist, oder idiopathische Atrophieen der Theile, be- ruhen stets auf einer krankhaften, von der von uns vertretenen, in beiden Kampfesinstanzen gezüchteten, abwei- chenden Qualität und die nachtheiligen Wirkungen derselben können daher die zweckmässigen Leistungen der in diesen beiden Kampfesweisen gezüchteten Quali- täten nicht herabsetzen. Durch die Hypothese, dass nach dem Ablaufe der selbständigen (embryo- nalen) Entwickelungs- und Wachsthums- periode jedes Gewebes die Theile des- selben ein von dem functionellen Reize abhängiges Reizleben führen, und durch den Nachweis der Züchtungsmöglichkeit solcher Gewebequalitäten im Kampfe der Theile hat somit in der That die func- tionelle Anpassung des Menschen in der unendlichen Mannigfaltigkeit ihrer di- rect zweckmässigen und daher teleologi- schen Wirkungen eine rein mechanische Erklärung gefunden. Nach dieser das Principielle betreffen- den Erörterung sei es noch vergönnt, ' ein paar kleine Irrthümer in dem Refe- Litteratur und Kritik. rat zu berichtigen, wie sie bei einer | vielbeschäftigten Redaction sehr leicht vorkommen, ohne indessen für den Autor, welchem sie zugeschrieben werden, ebenso leicht verzeihlich zu sein. Bei Gelegenheit der Besprechung des von mir aufgestellten Gesetzes von der Beschränkung der Activitätshypertrophie 149 schon seit Jahren Untersuchungen über die Ursachen des Längenwachsthums dieser Organe angestellt und Hunderte von Messungen zum Zwecke ihrer Er- forschung vorgenommen habe, ohne in- auf bestimmte Dimensionen der Organe | ist in dem Referat auch der blossen Verdickung der Knochen ohne Verlänge- rung derselben bei vermehrtem Gebrauche als eines Beispieles Erwähnung gethan. Dies ist aber nicht berechtigt. Denn während es bei den mit interstitiellem Wachsthum begabten Weichgebilden, wie z. B. den Muskeln und Bändern höchst auffallend erscheinen muss, dass sich die Vergrösserung dieser Organe bei verstärkter Leistung bloss auf die beiden Dimensionen des Querschnittesuntervoll- kommenem Ausschluss einer Vergrösse- rung der Längendimension beschränkt, so ist dieser Ausschluss des Längen- wachsthums bei den Knochen einfach eine mechanische Nothwendigkeit. Dies ist darin begründet, dass bei dem normal oppositionellen Wachsthum der Knochen | nach der Verknöcherung der inter- mediären EpiphysenknorpeleineVerlänge- rungüberhauptunmöglichist,so dass bloss seitliche Auflagerung, also Verdickung stattfinden kann. Es wäre aber nicht zu billigen, wollte man auf Grund der äusseren vollkommenen Uebereinstim- mung der Wachsthumserscheinungen die- ser Organe mit denen der Weichgebilde, die Processe ‚beider unter einem ge- meinsamen Gesichtspunkt zusammen- fassen, da solches, wenn ihm wissen- schaftliche Bedeutung zukommen soll, stets auch eine Gemeinsamkeit der Ur- sachen involviren muss. Schliesslich hat auch die Bemerkung, dass Muskeln und Knochen wahrschein- lich in die Länge wüchsen, wenn oft wiederholte Zugkräfte auf sie wirken, dessen bis jetzt zu einem genügend gestützten Resultate gelangt zu sein, habe ich mich in dieser Frage der Aus- sprache eines Urtheiles enthalten. Ich urgire dies, weil, soweit ich bis jetzt sehe, gerade die erwähnte Hypothese am wenigsten Wahrscheinlichkeit für sich hat. W. Roux. Neues Werk von Ch. Darwin. The formatian of vegetable mould through the action of worms with observations on their ha- bits. By CuArues Darwin, L.L.D,., F.R. S. With illustrations. London, JOHN Murray, 1881. Schon im Jahre 1837 hatte CHARLES Darwın der Londoner Geologischen Ge- sellschaft eine kürzere Arbeit über den hier behandelten Gegenstand vorgelegt*, in welcher gezeigt wurde, dass inner- halb einer Reihe von Jahren durch die Auswürfe der Regenwürmer alle über die Oberfläche des von ihnen bewohnten ' Bodenszerstreueten Gegenstände, alsz.B. nicht mich zum Urheber. Denn obgleich ich, oder vielleicht gerade, weil ich Kohlenstückchen, Steine u. s. w. langsam überdeckt werden, so dass sie immer tiefer sinken, und endlich von einer mehrere Zoll hohen Schicht von Ackererde bedeckt werden, die ihrerseits immer wieder von Neuem den Körper der Regenwürmer zu passiren hat, und recht eigentlich gerade nach ihren wesent- lichsten Eigenschaften als das Produkt dieser niedern Thiere betrachtet werden muss: Diese Ansichten wurden später von p’Arcnıac und Fısu bekämpft, welche theils die Verbreitung der Erd- würmer unterschätzten, und theils ihnen ® Gesammelte Werke XII. Bd. 2. Abthlg. S. 93—98. 150 eine so grosse Leistung nicht zuerkennen wollten. CmArtes Darwın hat deshalb unausgesetzt den Gegenstand im Auge behalten und liefert nun in seinem so- eben ausgegebenen, neuen Werke auf Grund umfassender, das Problem nach den verschiedensten Seiten angreifender Beobachtungen, Versuche und Rech- nungen, die zum überwiegenden Theile von ihm selbst, zum andern von seinen Söhnen und wissenschaftlichen Freun- den in allen Theilen der Welt ange- stellt worden sind, den überzeugenden Beweis, dass durch die Thätigkeit dieser kaum beachteten Thiere, eine wichtige Stelle im Haushalte der Natur erfüllt wird, die selbst als geologischer Faktor in Betracht gezogen werden muss. Ver- suchen wir es, eine kurze Uebersicht des reichen und überaus den Inhaltes dieses nächstens in deut- scher Uebersetzung vorliegenden Werkes zu geben. Im Eingangskapitel schildert der Ver- fasser die Verbreitung, Eigenschaften und Lebensgewohnheiten dieser über die ganze Welt verbreiteten Thierklasse, welche nur wenige Gattungen umfasst, deren Arten sich im Aussehen nahezu gleichen. Sie leben fast überall in einem Boden, der ein wenigFeuchtigkeitzurück- hält und ein tieferes Eindringen ge- stattet, am zahlreichsten auf trockenem Wiesen- und lockern Feld- oder Garten- boden, fehlen dagegen auf trockenen Heiden und auf Felsboden, den nur eine dünne Humusschicht bekleidet. Man kann sie gleich den meisten ihrer Ver- wandten, die im Wasser leben, selbst als halbe Wasserthiere bezeichnen, und PERRIER sah sie nahezu vier Monate mit Wasser bedeckt weiterleben. Wenn der Boden im Sommer austrocknet, oder im Winter an der Oberfläche friert, steigen sie zu grösseren Tiefen abwärts, als im Frühjahr und Herbst, welche die Zeiten ihrer eigentlichen Thätigkeit darstellen. Die letztere ist hauptsäch- lich eine nächtliche; sie kommen dann Litteratur und Kritik. aus ihren Löchern bei feuchtem Wetter in Masse hervor, theils mit dem Schwanze darin festsitzen bleibend und nur die Umgebung absuchend, theils umher- wandernd und in der Herstellung neuer Löcher begriffen, wie ihre zahllosen im Schlamme zurückgelassenen Spuren des Morgens beweisen. Nach dem Rück- zuge liegen sie am frühen Morgen dicht an der Oeffnung und werden in gewissen Jahreszeiten in grosser Zahl durch Drosseln und Amseln daraus hervor- gezogen, obwohl sie sich mittelst ihrer beträchtlichen Muskelkraft und ihrer auf jedem Ringe stehenden Borsten sehr schnell vorwärts und rückwärts in ihre Löcher zurückziehen und darin so fest- halten können, dass sie sich eher zer- reissen als daraus hervorziehen lassen. anziehen- | An ihrem Körper ist für das Ver- ständniss ihrer Rolle im Naturhaushalt besonders die Kenntniss des Baues ihres Nahrungskanals wichtig, durch welchen ein grosser Theil des Oberflächenhumus beständig zu passiren hat, wobei einige einmündende Kalkdrüsen und dahinter ein noch vor dem eigentlichen Magen liegender, mit starken Quermuskeln ver- sehener Kropf, der innen mit einer chitinösen Membran ausgelegt ist, und offenbar zu weiterer Zerreibung der auf- genommenen, meist stark mit Erde ver- setzten Nahrung dient, wichtig erschei- nen, sofern angenommen werden muss, dass aufgenommene Steinchen von !/2o bis Y/ıo Zoll Durchmesser, darin wahr- scheinlich an Stelle der fehlenden Kiefer und Zähne, zur Zerkleinerung des Speise- breies dienen und so das gleichmässig feine Korn der Auswürfe erzeugen. Von einem ganz ungewöhnlichen Interesse sind hierfür auch die Versuche, welche Darwın an in Blumentöpfen gehaltenen Würmern über ihre Sinnesfähigkeiten an- gestellt hat. Obwohl sie augenlos sind, erwiesen sie sich als für das Licht keineswegs unempfindlich. Zwar störte sie das Licht einer Blendlaterne mit Schiebern von dunkelrothem oder blauem ! Litteratur und Kritik. Glase, bei deren Licht man sie zur Noth erkennen konnte, welches aber gewiss nicht heller war, als Vollmondslicht, im Allgemeinen wenig; auch das Licht einer Kerze oder einer hellen Lampe störte sie im ersten Augenblicke, selbst wenn es intermittirend zur Wirkung kam, ge- wöhnlich nicht. Mitunter aber benahmen sie sich dabei sehr verschieden und zogen sich schon beim ersten Licht- scheine, zuweilen augenblicklich und eiligst in ihre Löcher zurück, und dies letztere geschah etwa einmal unter zwölf Fällen. In andern Fällen erhoben sie wohl das tastende Vorderende des Kör- pers von der Erde, als sei ihre Auf- merksamkeit erregt, oder bewegten es wie suchend hin und her und zogen sich dann langsam in ihre Löcher zurück, einigemale noch längere Zeit daraus hervorlugend. Wurde das Kerzenlicht dagegen durch eine Linse auf die vordere Extremität geworfen, so zogen sie sich gewöhnlich, aber nicht in allen Fällen augenblicklich, in ihre Löcher zurück, “und kamen auch, so lange es vor den- selben hell blieb, nicht wieder hervor. Wie schon HorrMmkEIsTER bemerkt hat, ist indessen nur die vordere Körper- extremität, in welcher die Gehirnganglien liegen, lichtempfindlich, und wenn dieser Theil beschattet ist, kann man den übrigen Körper nach Belieben beleuchten, ohne eine entsprechende Wirkung zu erzielen. Ebenso zeigten sie sich un- empfindlich selbst gegen das durch eine Linse auf ihre Vorderextremität con- centrirte Licht, so lange sie emsig be- schäftigt waren, Blätter in ihre Löcher zu ziehen oder daran zu fressen, ebenso wie sie sich auch bei der Paarung vom Morgenlicht überraschen lassen: sie scheinen demnach, ebenso wie höhere Thiere, der Aufmerksamkeit und Ver- . senkung in eine bestimmte Beschäftigung in dem Maasse fähig zu sein, dass sie darüber andere, leichtere Eindrücke über- sehen. Ihre Gewohnheit, nur des Nachts aus ihren Löchern hervorzukommen, 151 durch welche sie vielen Gefahren, denen sie im Lichte ausgesetzt sein würden, entgehen, scheint sich zu einer strengen Periodizität ihrer Lebensweise ausge- bildet zu haben, denn auch in bedeckten Töpfen kamen sie eine Woche lang allnächtlich empor und blieben während des Tages, obwohl es in diesen Töpfen ziemlich finster war, in der Erde. Weniger als gegen helles Licht schienen die Würmer gegen eine mässige strahlende Wärme empfindlich zu sein. Selbst ein zur dunklen Rothgluth erhitztes Schür- eisen, welches in derselben Entfernung der Hand sehr empfindlich war, ver- anlasste von mehreren Würmern nur den einen zum schleunigen Rückzuge, die andern zogen sich etwas weniger schnell zurück, ja der eine schien gar keine Notiz davon nehmen zu wollen. Der Gehörssinn geht den Würmern gänzlich ab. Sie nahmen nicht die min- deste Notiz weder von den schrillen Tönen einer Metallpfeife, noch von den tiefsten und lautesten Tönen eines in ihrer Nähe gespielten Fagotts. Ebenso wenig störte sie starkes Schreien oder Klavierspiel aus nächster Nähe. Dage- gen zeigten sie sich äusserst empfind- lich gegen die Erschütterungen fester Körper, und sobald der Topf auf das Klavier selbst gestellt und ein tieferer oder höherer Ton angeschlagen wurde, zogen sie sich schleunigst in ihre Löcher zurück. Ebenso wirkten zufällige Stösse an den Tisch, auf welchem die Töpfe standen, oder ein scharfes, stossförmiges Anblasen. Der über den ganzen Körper verbreitete Gefühlssinn scheint beson- ders in der vorderen Extremität sehr ausgebildet zu sein, und es scheint, als ob sie mittelst desselben im Stande seien, sich eine dunkle Vorstellung von den Formen der Dinge zu machen. Was den Geruchs- und Geschmacks- sinn anbetrifft, so schien der erstere nicht besonders ausgebildet, nur scharfe Gerüche, wie Essigsäure, welche wahr- scheinlich ihre nackte Haut reizen, 152 vertrieben sie bald. Indessen wurden Stückchen von Kohlblättern, Meerrettig und Zwiebeln, oder rohem Fleisch, wenn sie '/a Zoll tief unter die Erde des Topfes gebracht wurden, nach einiger Zeit von ihnen entdeckt und verzehrt, - und hier war deutlich sowohl ein schnel- leres Finden als ein Vorziehen des einen vor dem andern merklich. So wurden Zwiebelblätter und Mohrrübenblätter fast allen andern vorgezogen. Wurden Stücke von Kohl-, Rüben-, Meerrettig- und Zwiebelblättern in einen Topf ge- legt und mit Erde bedeckt, so waren sie nach einigen Wochen alle verzehrt, dagegen blieben Blattstückchen von Beifuss, Salbei und Thymian unangerührt, offenbar ihres den Würmern nicht sym- wegen. Im Uebrigen sind sie Allesfres- ser; sie verzehren nicht nur die meisten Sorten von frischen und welken Blät- | tern, sondern auch rohes und gekoch- tes Fleisch und Fett und sind sogar Kannibalen, denn sie fressen ihre ab- gestorbenen Mitwürmer auf. Wie L&on FREDERICQ gezeigt hat, dauungsflüssigkeit dem pankreatischen Safte der höheren Thiere sehr ähnlich, und daraus .erklärt sich leicht, sie alle diese so verschiedenartigen Nahrungsmittel verdauen können, und | sogar die fast nur aus Cellulose bestehen- den welken Blätter, die im Herbst von den Bäumen fallen. Diese in eine Tiefe von 1—3 Zoll gezogenen Blätter wer- | den dort von den Würmern mit der erwähnten alkalischen Flüssigkeit be- netzt, die wie es scheint, sind, erweicht, das Chlorophyll zerstört, und so zur leichten Verdauung geeig- neter macht, z. B. die Stärkekörnchen und die Protoplasmatheilchen auflöst oder in lösliche Verbindungen überführt. Da verwesende Blätter und Humus für sich eine saure Reaktion annehmen, so dienen der alkalische Pankreassaft, wie die Ausscheidungen der erwähnten Kalk- ist ihre Ver- dass ihr schnelles Absterben befördert, sie, wenn sie hart Litteratur und Kritik. drüsen wahrscheinlich dazu,- die Säuren des Humus abzustumpfen, wenn derselbe durch den Körper geht, weil die pankrea- tische Verdauung nur bei leisem Vor- walten von Alkali vor sich gehen kann. Bei dem Ergreifen der auf der Bodenoberfläche liegenden Blätter ver- fahren die Würmer auf zweierlei Weise. Entweder fungirt der Mund als Greif- organ, indem er sich in eine Öber- und Unterlippe theilt, wenn sie die Blätter am Rande ergreifen, oder als Saugorgan, wenn sie dieselben auf der Fläche anfassen. In den meisten Fällen ziehen sie dieselben, wie DArwın durch unzählige Versuche festgestellt hat, mit dem schmaleren Ende voran in die , Löcher, und da nun bald das Stielende, pathischen Geruchs oder Geschmacks bald das Scheitelende schmaler ist, so behandeln sie die verschiedenen Blatt- arten nach ihrer Beschaffenheit sehr verschieden. Weiche Blätter werden häufig durch Ansaugen auf der Fläche hineingezogen, wobei die Ränder sich zusammenfalten. Mit Fett eingeriebene Papierdreiecke (um ihr Aufweichen im Nachtthau zu hindern) wurden wie Blätter behandelt. Die folgende Tabelle giebt eine Uebersicht der in dieser Richtung erhaltenen Ergebnisse, aus der sich ergiebt, dass diese Thiere im Stande sein müssen, sich durch einige Versuche eine allgemeine, sei es noch so dunkle, Vorstellung davon zu ver- schaffen, wie ein betreffender, vielleicht auf ihrem Gebiete ganz fremder Gegen- stand am besten zu behandeln sei. Es mag noch im Voraus bemerkt werden, dass diese Blätter meist nicht als Nah- rung, sondern zum Verstopfen der Oeff- nung ihrer Gänge hineingezogen wer- den, und dass in Ermangelung von Blättern oder Blattstielen kleine, oder vielmehr im Verhältniss zu dem Wurm- körper oft ziemlich grosse Steine durch Ansaugen herbeigezogen werden, um über die Oeffnung der Gänge, vermuth- lich zum Schutze gegen die eindringende Kälte angehäuft zu werden. Litteratur und Kritik. 153 Name der in die Oeffnungen hinab- An oder nahe| In oder nahe | An oder nahe gezogenen Gegenstände. der Spitze. | der Mitte. der Basis. Lindenblätter, Basis breit, oberes Ende zuge- »die Kiefer des gemeinen Hirschkäfers und wahrscheinlich auch vieler anderen Spe- cies als wirksame Waffen im Kampfe benutzt werden, so ist es doch zwei- felhaft, ob ihre bedeutende Grösse hier- durch erklärt werden kann. Wir haben gesehen, dass bei dem Zucanus elaphus von Nordamerika dieselben zum Er- greifen des Weibchens benutzt werden. Da sie so auffaliend und elegant ver- zweigt sind, so ist mir zuweilen die Vermuthung durch den Kopf gegangen, dass sie den Männchen als Zierrathen dienstbar sind... ..« Die Entomologen wissen aber, dass die Formen mit gros- sen Kiefern durch reichliche, die klei- nen dagegen durch kümmerliche Er- nährung der Larven erzeugt werden, so dass es scheint, als liege hier nur ein Fall von directer Anpassung vor. Was überhaupt die Kiefer bis zu ihrer * Loc. cit. Bd. I. S. 335. insbesondere bei den Blatthornkäfern. erstaunlichen Grösse zuweilen zu stei- gern vermag, ob äussere oder innere (Wachsthums-) Verhältnisse, das be- trachten wir später. Jedenfalls bleibt es uns unbenommen, ein Gebilde wie die Kiefer des männlichen Hirschkäfers und vieler seiner Verwandten unter die Einwirkung der Naturauslese zu stellen, wenn, wie beobachtet wurde, die langzangigen Männchen ihre klei- neren Rivalen beim Nahrungserwerb vom Stamme (dessen ausfliessenden Saft sie allein geniessen) herabwerfen, sich besser stärken können und daher wohl auch eher zur Paarung zu ge- langen vermögen, als die unvollkom- mener entwickelten Exemplare. Eine ernstliche Brautwerbung mit lebhaften Kämpfen scheint nämlich nur zu den Ausnahmen zu gehören. Dass die klei- neren Formen überhaupt noch existiren, würde nach der angeführten Erfahrung der Entomologen nicht daher rühren, weil diese Bildung von der Naturzüch- tung noch nicht gehörig fixirt und also zu Rückschlägen auf einen früheren und weniger modificirten Zustand ge- neigter, * sondern weil sie dem directen Einflusse der Ernährung ausgesetzt ist. Wir haben also hierin eine theilweise Parallele zu den Bienen vor uns: wird die weibliche Made in geräumigem - Zwinger mit guter Nahrung versehen, so entwickelt sich daraus das grosse, vollkommene Weibchen, die Königin des Stockes; wird sie aber in enger Klause mit armseligem Bienenbrod gefüttert, so kann sie sich nur zur Arbeitsbiene heranbilden. Uebergehen wir an dieser Stelle nun eine grosse Anzahl herge- höriger Fälle und wenden wir uns der zweiten Gruppe zu. Bei vielen Blatt- hornkäfern haben die Männchen auf- fallende Hörner auf dem Kopfe oder dem Thorax, welche zum Kampfe ganz untauglich sind und auch nicht zur * DARWIN scheint diese Fälle im All- gemeinen unter obige Annahme zu stellen. Vgl. Entstehung der Arten, VI. Aufl., über- Kosmos, V. Jahrgang (Bd. X). 177 Vertheidigung gegen Feinde gebraucht werden können. Darwın glaubt,** »dass die Schlussfolgerung, welche am besten mit der Thatsache übereinstimmt, dass die Hörner so immens und doch nicht in einer feststehenden Weise entwickelt worden sind — wie sich durch ihre ausserordentliche Variabilität in einer und derselben Species und durch ihre ausserordentliche Verschiedenartigkeit in nahe verwandten Species zeigt, die ist, dass sie zur Zierde erlangt worden sind«. Auch glaubt er, wiewohl er zugesteht, »dass diese Ansicht auf den ersten Blick äusserst unwahrschein- lich erscheinen werde«, »dass bei vie- len Thieren, welche in der Stufenleiter viel höher stehen, nämlich bei Fischen, Amphibien, Reptilien und Vögeln die verschiedenen ArtenvonLeisten,Höckern, Hörnern und Kämmen allem Anscheine nach nur für diesen einen Zweck entwickelt worden sind«. Wie vorhin, wollen wir auch hierfür einige Bei- spiele, welche von Darwın als herge- hörig betrachtet werden, nach der Na- tur beschreiben und uns dann fragen, ob sie auf solche Weise ihre Erklärung finden oder nicht. Das Weibchen des gemeinen Nas- hornkäfers (Oryctes nasicornis) zeigt uns in Fig. 13 wie vortrefflich sein Kopf und Thorax dem Graben im Mulm alter Eichen, seiner natürlichen Wohnstätte, angepasst sind. Der Kopf hat auf der Stirne eine kurze keilförmige Erhöhung, um in das faule Holz eingestossen wer- den zu können, während der Thorax dahinter einer Schaufel gleicht, um das losgestossene Material fortschieben oder -schleudern zu können. Bei diesen, behufs Unterbringung der Eier statt- findenden, den Lebenszweck in sich begreifenden Arbeiten helfen auch die tüchtigen Schienen der Vorderbeine und der übrigen Beine ebenso wie beim setzt von CARUS. Gesetze der Abänderung. Ss. 174—178. ** Abstammung etc. Bd. I. S. 331. 12 178 Hirschkäferweibehen kräftig mit und sind demgemäss kurz und breit. Der secundäre Geschlechts-Charakter der Männchen besteht nun darin, dass die soeben angeführten Charaktere des Kopfes und des Thorax weit stärker ausgebildet sind. Die keilförmige Er- höhung auf dem Kopfe des Weibchens erhebt sich zu einem kegelförmigen, etwas rückwärts gekrümmten Horne, und der obere oder Schaufeltheil des weiblichen Grabthorax wird beim Männ- chen nahezu kutschenschlagförmig. Auch bei diesem Käfer sind die Uebergänge noch vorhanden. So sehen wir in Fig. 14 eine genau zwischen dem Weibchen und dem grotesken Männ- chen (Fig. 15) mitten inne stehende Form eines kleineren Männchens. Eine grosse Menge von Blatthornkäfern (Za- mellicornia) weist ein ähnliches Verhält- niss auf. Oft sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nur gering, wie z. B. bei den mexikanischen Blu- menkäfern der Gattung Cotinis (Bur- MEISTER), zuweilen sehr gesteigert, wie bei dem prachtvoll goldgrünen, zwei- gliedslangen oberguinensischen Kopf- hornkäfer (Dicranorhina micans), oder gar so ferne gerückt, dass man ohne Kenntniss der genealogischen (oder Species-) Verhältnisse Männchen und Weibchen einer Art unter weit von einander liegende Genera stellen könnte, 2. B. bei den Megalosoma-Arten Guiana’s, welche die Grösse einer mittelmässigen menschlichen Handfläche und männ- licherseits mehrere Hörner auf Kopf und Thorax, weiblicherseits nur Höcker- chen und Runzeln auf dem ganz an- ders geformten Kopf und Thorax haben. Ebenso gross, wenn nicht noch auf- fallender ist der secundäre Geschlechts- unterschied bei Chalcosoma Atlas, den Darwın abgebildet zeigt, und bei den Gattungen Golofa (Hore) und Dynastes (Kırzy). Ich erinnere nur denjenigen, welcher einmal eine grössere Käfer- sammlung besichtigt hat, an die hand- v. Reichenau, Ursprung der secundären Geschlechtscharaktere, langen grotesken Gestalten des Her- cules- und Neptunkäfers, sowie an deren unbewehrte Weibchen. Aber auch von den letztgenannten Käfern gibt es klei- nere männliche Exemplare, deren Hör- ner unverhältnissmässig mit der Ab- nahme der Grösse bedeutend kleiner geworden sind, wie denn die Mainzer Sammlung solche besitzt, die ich er- worben habe. Es gibt auch Staphylinen oder Moderkäfer mit secundären Ge- schlechtscharakteren, wie den Bledius taurus, dessen Abbildung in Darwın’s »Abstammung etc.« zu sehen ist. Alle diese secundären männlichen Geschlechts- charaktere der Hornkäfer sind in hohem Grade variabel, oft ungeheuer ent- wickelt und seltsam geformt bei den stärkeren männlichen Exemplaren, oft klein und einfacher gebildet bei schwä- cheren Männchen. DArwın glaubt, dass den Weibchen dieser Käfer die lang- hornigeren Männchen besser gefielen, oder, um mich in meiner Weise exacter auszudrücken, dass sie vermittels des Gesichtssinnes der Gattin auf deren Geschlechtsfunction einen grösseren Reiz ausübten, anregender wirkten, als die »minder geschmückten«. Im grossen G$nzen würden daher die Ge- schmücktesten durch weibliche Auslese Obsieger bleiben und die unbedeutenderen Formen liefen eben noch so nebenher, weil die Bildung des auffallenden Cha- rakters verhältnissmässig neu sei, indem die Geschmacksauslese noch nicht lange genug gewirkt habe, um ein Fixum erreichen zu können und — weil es eben wan- delbare Weibergeschmacksauslese wäre. II. Geschlechtswerbung bei den Insekten. Um in dieser interessanten Sache ganz klar sehen zu können, wird es gut sein, vorerst einmal die nackten Resultate vorurtheilsfreier Beobachtung uns zurückzurufen und dann zu fragen, insbesondere bei den Blatthornkäfern. welche Analogieschlüsse auf innere Mo- tive bei den Insekten zulässig erscheinen. Die meisten Insekten pflanzen sich nur nach geschehener Begattung fort, und in diesem Falle sind diejenigen, mit welchen wir es hier zu thun haben. Der die Begattung und folglich das Fortbestehen der Art bei diesen Thieren einzig ermöglichende Geschlechtstrieb muss ihnen demnach zugesprochen wer- den, und alle Handlungen, welche wir die Insekten in der betreffenden Periode ausführen sehen, bestätigen die Richtig- keit dieser Annahme, die aus unseren menschlichen Erfahrungen geschöpft ist. Wenn wir den Geschlechtstrieb nicht aus uns selbst kennten, ständen wir dagegen vor einem räthselhaften Motiv, wie es z. B. dasjenige für uns ist, wel- ches die chemischen Elemente zu einer Verbindung sich vereinigen, oder die Salzlösung zu einem Krystall sich zu- sammenfügen lässt. Denn selbst den Fall gesetzt, dass wir für letztere Punkte den mechanischen Hergang festgestellt hätten, würde uns das Motiv des- selben dennoch transcendental bleiben (SCHOPENHAUER nennt es »Wille«). Wir müssen nun bei Feststellung des Charak- ters des bei anderen Wesen angenom- menen Geschlechtstriebes, wie überhaupt aller Motive, sehr vorsichtig zu Werke gehen, denn nichts wäre ja einfacher aber auch übereilter, als wenn wir ihnen menschlichen Geschlechtstrieb vindicir- ten. Auf alle Bewegungen und Lebens- äusserungen, welche uns die Insekten zur Fortpflanzungsperiode zeigen, müssen wir genau acht geben, um den Schluss hernach wagen zu können, welcher Art ihr Geschlechtstrieb sei. Wir müssen vorurtheilsfrei annehmen, dass ein Trieb, welcher den Lebenszweck zu erfüllen bestrebt scheint, aller natürlichen Or- gane sich bedienen kann, welche wir bei den Beobachtungsobjecten vorfinden, insbesondere aber der Sinnesorgane. Wir kennen oder verstehen deren fünf, nämlich Tasten mit fast allen Körper- 179 theilen, Schmecken und Riechen mittels der mit dem Nährsystem zusammen- hängenden Organe des Affinitätssinnes, Hören durch zur Aufnahme der Schall- wellen geeigneter Organe und schliess- lich Sehen mittels gewisser, die Unter- schiede der Beleuchtung wahrnehmender Organe, die wir Augen nennen können. Wir wollen nun sehen, welcher dieser Organe sich der Geschlechtstrieb der Insekten vornehmlich bedient, um einen Schluss auf den Eindruck machen zu können, den werbende Insekten von einander erhalten müssen. Ich halte mich zuerst an die eigene Beobachtung und führe dann die fremde an. Um mit den sehr aufmerksam beobachteten Puppenwespchen, von welchen ich über tausend gezogen habe, zu beginnen, citire ich meine betreffende Schilde- rung*: Im Frühjahre, etwa um die Mitte des April, wenn die weissen Schmetter- linge ihre Gürtelpuppen verlassen, nagen sich auch die Puppenwespchen (Ptero- malus puparum) mit ihren Beisszangen aus den Puppen, deren Inhalt sie als Maden verzehrten, so dass der sich in der Puppe von rechtswegen bildende Kohlweissling nicht erscheinen kann, in- dem seine Stoffe zur Bildung der Wesp- chen herhalten mussten. Nun ist die Puppe leer und zeigt an den Flügel- scheiden stecknadelkopfgrosse kreisrunde Löcher; ihre Wandungen bleiben hart, wovon die Folge, dass die einst ange- stochenen Puppen noch mehrere Jahre überdauern, während diejenigen, welche der Schmetterling verliess, dünnhäutig sind, am Rücken und den Flügelschei- den gesprengt wurden und von den ersten Stürmen verweht werden. Die aus einer und derselben Puppe kommen- den Insassen sind meist entweder über- wiegend Weibchen oder Männchen. Beide Geschlechter entwickeln sich trotz der verschiedenen Grösse gleichzeitig. Das * KArTTer’s Entomologische Nachrichten, IV. Jahrgang, 1878, Seite 215 ff. 12* 180 Leben der kleinen Thierchen ist nur auf die Fortpflanzung gerichtet. Kaum haben die Männchen die Puppe ver- lassen und sind nur einigermaassen, man möchte sagen, >»trocken hinter den Ohren geworden«, so begeben sie sich auf die Suche nach Weibchen. Sei es nun, dass ein solches ihnen bei ihren weiten Fusstouren aufstösst, die übri- gens, wenn das Terrain unergiebig scheint, durch tolle Zickzackflüge ohne bestimmtes Ziel unterbrochen werden, um gleich darauf von Neuem zu be- ginnen, sei es, dass, was sehr häufig sich ereignet, eine Puppe mit voller Ladung im Auskriechen begriffener Weib- chen entdeckt wird, so beginnt sogleich eine hitzige Jagd. Laufend und sprin- gend, mit Fühlern und Flügeln wirbelnd und zitternd, ereilen die Männchen die trägeren Weibchen und springen ihnen auf Rücken und Flügel. Die Weib- chen, anscheinend phlegmatischen Tem- peraments oder doch zum mindesten etwas spröde, streifen den weit kleineren Reiter wiederholt mit den Hinterbeinen ab; dies macht die vom Willen zum Lebenlassen ganz beseelten Männchen indess nicht irre, sie haben noch ein Mittel in petto, ihren Zweck sicher zu erreichen, welches mich, als ich den Vorgang unter der Lupe zum ersten Male beobachtete,höchlichstüberraschte: Das Männchen fächelt plötzlich ausser- ordentlich rasch mit den Flügeln, richtet sich dabei auf den vier hinteren Beinen hoch empor und springt mehrmals nach dem Kopfe des Weibchens, dessen Rücken es trotz der Abstreifungsversuche nicht mehr verlässt, und treibt mit Flügel- schlägen und Fühlerbewegungen die Fühler des Weibchens zusammen, fasst sie mit dem Munde und leckt sie, wie es scheint, am Ende des sogenannten Peitschenstieles oder der Geissel, da, wo die kleinen Glieder beginnen. Dann lässt es die Fühler fahren, beständig mit dem Körper vor- und rückwärts schwingend, und bietet seine zusammen- v. Reichenau, Ursprung der secundären Geschlechtscharaktere, gelegten Fühler dem Munde des Weib- chens. Sobald diese angenommen wer- den, ist der Zweck des Liebesspieles erreicht, d.h. es erfolgt die eigentliche Begattung. Soviel sich ersehen lässt, ist es bei diesen kleinen Thieren nur der Geruchs- sinn, welcher die Männchen das Weib- chen finden lässt, und, wenn mehrere Männchen einem Weibchen nachstellen, so bleibt in erster Linie das schnellere Sieger. Oft bewerben sich drei und mehr Männchen um ein Weibchen und gelangen nacheinander zum Ziele. — Von einer Auswahl seitens des Weib- chens kann hierbei gar keine Rede sein, so dass eine solche nicht zur Erklärung des prächtigen Goldgrünes und Purpurs der Männchen, wodurch sie sich leicht vom Weibchen unterscheiden lassen, herbeigezogen werden darf. Eine andere Beobachtung betrifft den gemeinen Schwammspinner (Liparis dispar)* Ein am Tage vorher ausge- gangenes und, weil ungepaart, Tag und Nacht ganz regungslos sitzendes, Weib- chen dieses Spinners setzte ich an einen Pfosten des Gartenhauses, um zum wieviel hundertsten Male die Paarung der Schmetterlinge genau zu beobachten. Bei der geeigneten Mittagstemperatur brauchte ich denn auch keine fünf Minuten zu warten, als sich schon zwei kleine braune Männchen in gaukelndem Zickzackfluge einstellten, das Garten- haus umschwirrten und schliesslich dem Pfosten sich näherten. Andere Männ- chen, welche mit sehenden Augen das Weibchen hätten bemerken müssen, aber nicht über dem Gartenhause, welches überall offen und nur rebenumrankt ist, hin, sondern eirca !/2 Dutzend Schritte vorbeiflatterten, zogen nicht an. Die beiden Bewerber nun taumelten am Pfosten auf und nieder, bis etwa nach einer Minute der flinkere (dunkler ge- * Citat aus KATTER’s Entomol. Nach- richten. VI. Jahrgang, 1880, Seite 209. insbesondere bei den Blatthornkäfern. färbte) seitlich zu Fusse angerückt kam und unter den dachförmig geschlossenen Flügeln des ganz unbeweglichen Weib- chens her den Hinterleib zu dessen aus- gestreckter Legeröhre hinschob, worauf sofort der Zangenverschluss erfolgte. Ich ersah dies Männchen zum Opfer der Wissenschaft, durchbohrte seinen Thorax in der Mitte mit einer starken Nadel — woraufkeinerleiBewegung erfolgte! — und riss es daran gewaltsam von dem an seinemPlatze festgehaltenen Weibchen ab. Hierbei wurde das Männchen der beiden letzten Hinterleibsringe nebst Geschlechtstheilen verlustig, indem diese Organe an dem Hinterleibsende des Weibchens hängen blieben. Von der Nadel befreit und auf den mitten im Gartenhause stehenden Tisch gesetzt, flatterte dies so schwer verwundete Thier, ohne irgend welche Schwäche zu zeigen, im bekannten Taumelfluge sofort wieder zum Weibchen an die alte Stelle, wo es copulirt war und ver- suchte mit dem Stummelchen des Hinter- leibes die Begattung fortzusetzen! Ein Beispiel unwiderstehlichen Geschlechts- triebes und grauenerregender Fühl- losigkeit gegen organische Störungen. Nachdem dieser Krüppel beseitigt, be- obachtete ich weiter. Zwei andere Männchen kamen, wollten aber nicht anbeissen, drückten sich vielmehr auf der Stelle herum, von wo das Weib- chen herabgerutscht war und wo es gesessen, ehe es gepaart war. Zehn Minuten, nachdem sich die Ringel des Männchens losgelöst, welche einige Zeit noch an den Geschlechtstheilen des Weibchens haften geblieben waren, voll- zogen noch zwei weitere Männchen in gewohnter Weise die Begattung .... Gestochene und so befestigte Weibchen der Smerinthus-Arten, Spinner und Amphydasis-Spanner lassen sich stets von zufliegenden Männchen begatten und legen alle Eier ab. — Der be- kannte Nagellleck (Aglia Tau) ist zur Zeit des ersten Buchenlaubes (25. April 181 bis 30. Mai) in den Laubwäldern der Mittelrheingegend eine sehr häufige Er- scheinung. An einem sonnigen Vor- mittage sieht man daselbst über hundert Männchen, besonders über sonnenbe- schienene Strecken hin in einem wirren Zickzackfluge, der sich selten über einen Meter vom Boden erhebt, nach Weib- chen suchen. Letztere sitzen meist nach Art ruhender Tagfalter mit über dem Rückensenkrechtzusammengeschlagenen Flügeln am Grunde des Stammes und strecken, wenn sie von einem Männchen umflattert werden, als einziges Zeichen des Lebens und zugleich ihrer unbe- dingten Bereitwilligkeit die gelbliche Legeröhre vor. Das erste beste Männ- chen, und nachher auch noch ein zweites und drittes, vollzieht die Paarung. Hält man in geeigneter (Flug-) Höhe ein frisches Weibchen auf der Hand, so findet hier, ob man gleich spricht oder umhergeht, ungenirt dasselbe statt, wie am Baumstamme. Das Weibchen des Lastträgers (Orgyia antiqua) verlässt, da es sehr träge und ungeflügelt ist, nicht einmal die Aussenwand des Gespinstes, erwartet hier stumpfsinnig die Annäher- ung eines Männchens und legt an Ort und Stelle seine Eier ab. Das Weib- chen der Sackträger (Psyche unicolor, villosella, pulla) erwartet, wie ich oft beobachtet, entweder auf oder gar in dem hinteren offenen Ende des Raupen- sackes seine Bewerber, die zuweilen zu dreien oder vieren am Sacke sitzend oder flatternd, des Loslassens eines Zuvorgekommenen harren. Ganz so stumpfwillig sind die Weibchen der bei uns in den letzten Decennien so häufig gezüchteten exotischen Saturniden, wie der Aetherea Pernyi, Yama-Mayu, Atta- cus Cynthia u. s. w., deren Begattung ich selbst hunderte Male mitangesehen habe. Lässt man ein Weibchen dieser schönen Spinner von einem Männchen anderer Art, z. B. ein Pernyi-Weib- chen von einem Cynthia-Männchen um- flattern, was in einem kleinen Zwinger 182 leicht zu bewerkstelligen ist, so streckt es gerade so willig die Legeröhre her- aus, als wenn der paarungslustigste Gesell von eigenem Blute es umwürbe! Doch ich will den Leser nicht mit zu vielen Einzelbeobachtungen ermüden, vielmehr zu einem feststehenden Schlusse kommen. In den angeführten Fällen wird das Männchen nur von der Aus- dünstung der weiblichen Geschlechts- theile angezogen, wenn dieselben frei funetioniren können; anderen Sinnes- eindrücken folgten die Männchen augen- scheinlich nicht. Das Weibchen aber ist, mag das Männchen nun nach un- seren Begriffen schön sein oder nicht, unbedingt willig zum Paarungsacte, da- bei aber vollständig passiv in Bezug auf die Individualität des Männchens, von dem es in den meisten Fällen kaum jemals die Oberfläche der Flügel zu sehen bekommen kann. Von Wahl kann keine Rede sein. Bestätigend seien hier die Worte eines der ersten Forscher auf dem Gebiete der Biologie einheimischer Lepidopteren angeführt, meines Freundes Dr. AnouLr RössLEer in Wiesbaden: * „Die Weiber, selbst vieler Tagfalter (z. B. Limenitis Iris), ganz entschieden aber die der Spinner, die flügellosen selbstver- ständlich, erwarten regungslos nach ihrer Entwicklung aus der Puppe zunächst die Be- fruchtung. Erst nach derselben beginnt ihre Activi- tät, insbesondere Flug, um die Eier an die Nahrungspflanzen zu vertheilen, sofern sie nicht (wie die flügellosen, z. B. das @ von Gon. antiqua) sich darauf beschränken müssen, dieselben auf ihre Puppenhülle zu legen. Das Weib gehört dem ersten Mann, der es findet. Das kann wohl der schnellste und scharfwitterndste sein — aber ebenso gut ein ganzin der Nähe ausgekommener verkrüp- pelteroder gänzlichentfärbter. Von einer Wahl durch das Weib kann gar keine Rede sein.“ Man glaube aber ja nicht, dass es * Jahrbücher des nassauischen Vereins für Naturkunde, 1880, Jahrgang XXXI und XXXIL Seite 240. v. Reichenau, Ursprung der secundären Geschlechtscharaktere, immer der Geruchssinn sei, welcher die Männchen ihre Gattinnen ausfinden lasse, wenigstens spricht dem das Benehmen der Tagfalter entgegen. Betrachten wir z. B. unseren gemeinen Kohlweissling (Pieris brassicae L.). Wenn dieser überall auf Culturland heimische Falter nach beendigter Ausbildung noch einige Stun- den geruht hat, begibt er sich auf die ihn aus allen Windrichtungen her, also durch ihre Farbe, anziehenden Blumen und stärkt sich mit deren Nektar. Nicht von vorn herein, wie bei den Spinnern, die sich nicht selten sogar im, bezüg- lich der Flügel, unausgebildeten Zu- stande schon begatten und bei denen die Männchen es oft nicht abwarten können, bis das Weibchen die Puppen- hülse verlassen hat, sondern erst später, vielleicht erst am zweiten Tage und noch späterhin — unsere Citronenfalter (Gonopteryx rhamni) schlüpfen im Juli aus der Puppe, fliegen bis Anfang Sep- tember an Blumen, legen sich dann zur Ueberwinterung zwischen abgefallenem Laub nieder, erwachen wiederim nächsten Frühlinge und paaren sich dann erst, nachdem sie Wochen lang die Blumen besucht haben — suchen die mittler- weile viel lebhafter gewordenen Männ- chen das mit halbgeöffneten Flügeln und erhobenem Hinterleibe im Sonnen- schein eines Gatten harrende Weibchen auf. Auch hierbei sah ich das Weibchen immer willig, das Männchen dagegen sehr oft, ja bei weitem in den meisten Fällen, nur das Weibchen umtändeln und dann, ohne eine Begattung ernst- lich versucht zu haben, wieder von dannen ziehen. Die Eifersucht muss ihre Rolle spielen. Dies kommt schon bei den nur dem Geruchssinne folgen- den Spinnern vor. Oberförster Borc- MANN hatte ein Weibchen des selte- nen Habichtskrautspinners (Orateronyx Dumi L.) aus der Raupe gezogen und setzte dasselbe auf dem Flugplatze dieser Species in einem Kasten mit offener . Thüre aus. Nach einiger Zeit stürmten insbesondere bei den Blatthornkäfern. gleichzeitig zwei Männchen heran, von denen eines im Kasten gefangen wurde. „Bei dem im Kasten befindlichen Manne siegte aber sofort der Erhaltungstrieb über den Begattungstrieb, er fühlte sich gefangen und kümmerte sich um das vorher so sehr begehrte Weib gar nicht mehr. Ungestüm stürmte das Männchen von einer Wand zur anderen und suchte einen Ausweg, und zwar zuletzt so systematisch, dass ich die feste Ueberzeugung habe, es hätte sich durch jede Oeffnung gedrückt, wenn eine hinreichend grosse vorhanden gewesen wäre. Hierbei kam es oftmals in directe Berührung mit dem Weib, jedoch ohne sich um dasselbe zu kümmern. Meine Hoffnung auf den gewünsch- ten Erfolg war bedeutend herabgestimmt. Je- doch Isis war mir hold und fügte zu den vielen glücklichen Umständen noch einen weiteren. Wohl bald eine halbe Stunde moch- ten die Begattungsversuche des im Kasten gefangenen Männchens angedauert haben, als ein drittes (beziehungsweise viertes: es war früher schon ein einzelnes dagewesen, während das mit dem Gefangenen angelangte aussen an der Gaze des Kastens sass, da, wo das Weibchen sich innen befand) Männchen an- geschwirrt kam. Dasselbe umflog ganz in derselben Weise den Käfig, und sofort — wohl in Folge der erwachten Eifersucht — fand in demselben die Begattung statt, und zwar mit einer Sicherheit und Schnelligkeit, welche mir das vorherige Verhalten fast unbegreiflich erscheinen liess. In demselben Moment, als die Begattung stattfand, flog das ausserhalb befindliche chen davon, was mir eben- falls hoch interessant erschien.“ * Das Abfliegen des letzterwähnten Männchens zeigt eben deutlich, dass nur der vom Weibchen, so lange es frei war, ausströmende Geschlechtsduft Anziehungsursache gewesen; nun, da das Ausströmen des Duftes verhindert war und damit die directe Ursache aufhörte, folgte das Thier seinem unruhigen Triebe wieder. Doch zurück zum Kohlweissling. Das gleich allen Tagfaltern von einem mehr zur Kampfsucht als zur wirklichen Paar- ung neigenden Geschlechtstriebe ent- flammte Männchen fliegt auf Alles zu, was in unseren Augen einem Weissling ähnlich sieht, wie Darwın schon er- * Entomologische Nachrichten von KAT- TER. VII. Jahrgang, 1881. Seite 8, 9. 183 + wähnt, auf Papierschnitzel, wobei es sich denn bald getäuscht findet, um so mehr aber gegen jeden anderen weissen Schmetterling. Der schwache Senfweiss- ling (Pieris sinapis) hat zuweilen unter solchen übermüthigen Angriffen zu lei- den. Bei dem kampflustigen Kohl- weissling zieht natürlich, wie bei den heisshungrigen Möven, einer den andern an, so dass wir sehr häufig sechs, acht, ja ein Dutzend männlicher Kohlweiss- linge in wirbelnder Balgerei häuserhoch aufsteigen sehen. Hierbei verlieren sie manches Schüppchen und selbst manches Stück ihrer Flügel, sodass sie schliess- lich oft ganz zerfetzt gefunden werden. Das Auge ist es, welches die Kämpen, welches die Geschlechter bei den Tagfaltern zusammen- führt; der Geschlechtsduft des Weib- chens muss sehr schwach sein, denn nie habe ich ein Männchen, welches dicht über die Stelle hinflog, wo zuvor ein ungepaartes Weibchen gesessen, von derselben angezogen werden gesehen, wie es bei den Spinnern immer der Fall ist. Dennoch können wir überzeugt sein, dass in letzter Instanz der Ge- schlechtsduft das Männchen zur Begattung anreizt, wie denn mangelnder Geschlechtsduft bei einem eierschwangeren Weibchen das werbe- lustige Männchen regelmässig davon- fliegen lässt. Das Minnespiel, das Um- flattern der Männchen regt entschieden das Weibchen in höherem Grade an, und es ist für die Tagfaltermännchen diese Anregung auch nothwendig, weil in Folge davon die Geschlechtstheile des Weibchens — für uns unwahrnehm- bar — jedenfalls stärker functioniren, duften und so das Männchen zu fesseln wissen. Bei dem kleinen Bläuling (Zy- caena Argus) habe ich in diesem Früh- jahre gesehen, wie ein braunes Weib- chen: von drei Männchen umflattert, darauf auf derselben Nelkenblüthe um- schritten wurde, und wie dann das 184 Dazwischenkommen eines der Männchen das zunächst zitternd flatternde zur Be- gattungsvollziehung bewog. Das Weib- chen vollzog keine Wahl. Wie die Weisslingsarten, sobenehmen sich auch die Scheckfalter und Perl- mutterfalter, indem sie auf alle Ver- wandten Jagd machen und oft nach erbittertem Kampfe erst ihren Irrthum gewahren. Am eifersüchtigsten unter allen Tagfaltern scheint aber der ge- meine Alexis-Bläuling zu sein. Mit ge- spreizten Flügeln sitzen die Geschlechter auf Blumen oder auf der Spitze von Grashalmen und sonnen sich, wobei die Männchen auf Alles acht haben, was vorbeifliegt. Vorzugsweise bekämpfen sie die eigene Art und die nahever- wandten Bläulinge; doch nicht genug hiermit, wagen sie sich auch an Weiss- linge und selbst an den grossen Schwal- benschwanz, mit Verlust ihrer Schön- heit die arglos Vorüberziehenden in die Flucht schlagend. Wie bei den Tag-- faltern, so wirkt auch bei manchen Spannern (Geometrae) die Farbe an- ziehend, z. B. bei dem schon bei Be- ginn der Dämmerung fliegenden Hollun- derspanner das in die Augen leuchtende weissliche Schwefelgelb, welches sich über die ganze Aussenseite des Thieres erstreckt. Doch tritt bei der Mehrzahl dieser mehr nächtlichen Wesen der Ge- ruchssinn in den Vordergrund. Bei den Käfern kehren dieselben Verhältnisse wieder. Die bei Tage flie- genden Cicindelen oder Sandflugkäfer verfolgen sich nicht selten in geschlecht- licher Absicht, wie das Ende lehrt, und es ist sehr wahrscheinlich, dass dies mittels des grossen Auges geschieht. Die Maikäfer folgen dem Geruchssinne, was unzweideutig daraus hervorgeht, dass die mit gespreizten Blättern ihrer Fühlernasen umherschwärmenden Männ- chen ihre Weibchen im dichtesten Laub- werk entdecken, und zwar auf einige Entfernung unter dem Winde. Die Todtengräber und Mistkäfer fol- v. Reichenau, Ursprung der secundären Geschlechtscharaktere, gen, wie die einfachsten Versuche mit eingegrabenem Köder lehren, überhaupt nur dem Geruchssinne und paaren sich gelegentlich bei ihren lucullischen Schmäusen, indem das Männchen von hinten auf das Weibchen steigt, wobei der Flinkste oder Erste zum Ziele ge- langt. Es findet nur insoweit eine Werbung statt, als zuweilen mehrere Männchen sich gleichzeitig um ein Weib- chen einfinden und einander zu ver- drängen suchen, ohne dass jedoch dabei planmässige Kämpfe oder Ver- folgungen des Rivalen zu bemerken wären. Wohl auch nur gelegentlich treffen die Geschlechter der erzschim- mernden und farbenprächtigen Rosen- käfer oder Cetonien zusammen, wenig- stens konnte ich noch keine andere Ursache des Zusammenkommens ersehen, als bei Cetonia aurata und aenea die Rosenmalzeit, bei Cetonia speciosissima und marmorata den Genuss ausfliessen- den Saftes der Eichen und anderer Laubhölzer (Ulme, Erle) oder Obst- bäume (Zwetsche). Die Hirschkäfer und einige andere Käfer kämpfen um ein Weibchen, wie sie zuweilen auch um die Nahrung sich stossen und kneipen; die stärksten siegen und Schwächlinge werden verdrängt. Was aber das Weib- chen betrifft, so hat noch Niemand etwas beobachtet, was auf eine Wahl sich beziehen liesse. Gewisse Käfer endlich zirpen im Zustande grosser Erregung oder geben einen sonstigen Laut, ja manche verursachen durch Aufprallen ihres Körpers ein klopfendes Geräusch. Offenbar dienen alle diese Laute und Geräusche in der Fortpflan- zungszeit zur besseren Auffindung und Anreizung der Geschlechter. So wurde meine Aufmerksamkeit am 8. Juni 1877 durch ein lebhaftes Zirp-Duett auf einen Saalweidenbusch gelenkt, wo ich zwei Weberböcke (Lamia textor) mit gehobe- nen Fühlern in dem heissen Sonnen- schein umherspazieren sah und beob- achten konnte, wie sie durch Bewegungen insbesondere bei den Blatthornkäfern. des Thorax das zirpende Geräusch her- vorbrachten. Die heftigen Bewegungen des starken Männchens zeigten unzwei- deutig an, dass auf dieses Duett eine Paarung folgen werde, welche abzu- warten mir die Zeit nicht mehr erlaubte. Dass indess auch bloss die innere Er- regung im Allgemeinen und nicht allein die geschlechtliche Aufregung als Ge- legenheitsursache des Zirpens mit Schrill- apparaten auftreten kann, beweisen die Bockkäfer, Todtengräber und Kehricht- wanzen (Reduvius personatus), wenn man sie zwischen den Fingern hält; denn in diesem Falle wollen die laut zirpenden, ängstlich erregten Thiere nur davon- kommen. Die Bedeutung eines Schreck- mittels oder eines Warnungsrufes dagegen dürfte das unter solchen Um- ständen hervorgebrachte Zirpen schwer- lichjemals erlangen. Als Entstehungs- ursache des Zirpens haben wir vielmehr nur die geschlechtliche Erregung zu betrachten, und wenn Darwı angibt,* »dass die männliche Wanderheuschrecke Russlands, während sie sich mit dem Weibchen paart, aus Aerger oder Eifer- sucht das Geräusch hervorbringt, so- bald sich ein anderes Männchen nähert, « so haben wir darin immer noch eine in das Gebiet des Geschlechtslebens ge- hörende Erregung als Motiv zum Her- vorbringen des Geräusches zu erblicken. »Wird aber«, sagt er weiter, >»das Heimchen oder die Hausgrille während der Nacht überrascht, so gebraucht es seine Stimme, um seine Genossen zu warnen.«e Hier möchte ich ein- schalten: Da die Grille weder ein so- ciales noch ein edelmüthig denkendes Wesen ist, wird man ihr die Absicht, warnen zu wollen, schwerlich zu- schreiben dürfen, wiewohl das Resultat eines abgebrochenen Zirpens oder so zu sagen eines Angstrufes dasselbe sein wird, als wenn ein wirklicher Warnungs- * Abstammung u. s. w. Erste Auflage. B. I. Seite 315. 185 ruf (mit Bezug auf die Genossen) ausgestossen worden wäre. Die Wirk- ung ist hier nur dieselbe, weil jede Grille instinctiv das Gefühl oder die Erregung zu würdigen weiss, welches oder welche das schrille Abbrechen eines gemüthlichen Zirpens bewirkt. Auch wir, die wir vermöge der uns vor allen anderen Thieren so hoch auszeichnen- den Erwerbung der Sprache, deren rein subjective Seite das Denken ist, wirk- liche Mahn- und Warnungsworte zu- rufen können, werden doch (immer noch) durch ein ganz unarticulirtes Angstge- schrei ebenso heftig erschreckt und zur Flucht angetrieben, als wenn man uns eine Warnung mit Bezug auf unsere Person zuriefe. Wirkliche Warnungs- rufe halte ich nur bei socialen Wesen für möglich, wie z. B. die Henne ihre Küchlein warnt. Hierbei ist von Be- zug auf andere (in die Eigenliebe so zu sagen organisch eingeschlossenen) In- dividuen die Rede. Es wird daher wohl auch der Stridulationsapparat nicht unter dem Einflusse eines anderen Nütz- lichkeitsprincips sich gebildet haben, als unter dem der geschlechtlichen Zu- sammenkunft und Anregung. Die Ge- schlechtserregung ist die oberste von allen beim entwickelten Insect, sie wird auch die Grille zum Geigen, die Cicade zum Singen angetrieben haben. Kurz zusammengefasst, lautet das Resultat aller noch nicht durch Theo- rieen getrübter Beobachtungen über In- sektenwerbung also folgendermaassen: 1. Die Mehrzahl der Insekten- männchen sucht die Weibchen mittels der Fühlernase auf und zwar meist bei Nacht, wie fast alle Nachtschmetter- linge und Kleinschmetterlinge, die Mehr- zahl der keulenhörnigen und blatthörni- gen Käfer, namentlich Hirschkäfer und Nashornkäfer, was von vornherein eine Wahl des in die Augen fallenden Gro- teskeren oder Schöneren ausschliessen muss. 2. Eine andere Anzahl Insekten- 186 männchen folgt neben der Nase (Fühler) auch dem Gehör, wie dies bei Hymen- opteren zuweilen wahrscheinlich ist (Ho- nigbiene, Hochzeitsgesang derselben). 3. Bei manchen Insekten folgen in der Regel die Weibchen dem Gehör, indem sie die sie durch Geräusche (Zirpen, Singen) anregenden Männchen aufsuchen. Grille, Heuschrecken, Klopf- käfer. 4. Die Tagfalter (Rhopalocera) su- chen, vielleicht als die einzigen unter allen Insekten, ihre Rivalen sowohl als ihre Weibchen mit dem Auge auf, doch ist es höchst wahrscheinlich, dass die Geschlechtsbestimmung und Blutsver- wandtschaft (Species) erst in nächster Nähe durch den Geruchssinn ermittelt wird. 5. Eifersüchteleien und Kämpfe der Männchen kommen bei allen diesen Gruppen vor und regen den Begattungs- trieb in höherem Grade an, auch be- wirken sie eine Elimination der phleg- matischen oder schwächlicheren Indi- viduen. IM. Ursprung sexueller Charaktere bei den Insekten.‘ Wir ersehen aus den soeben zu- sammengestellten Resultaten der nackten Beobachtung, dass bei den Insekten Begünstigungen bestimmter Eigen- thümlichkeiten beider Geschlechter bei der Aufsuchung und Werbung, welche der eigentlichen Begattung vorausgehen, stattfinden. Die Begünstigung einer oder mehrerer den Geschlechtern zugehören- der Eigenthümlichkeiten oder Erwerb- ungen muss in alternirendem Verhält- nisse abhängig sein von der Entwicke- lung gewisser Sinne der Insekten. Was würde z. B. einem Tagfalterweibchen die Absonderung eines besonders starken Geschlechtsduftes nützen, wenn es kleine oder keine Flügel hätte, sein Männchen aber schwachen Geruchssinn besässe und mit den Augen nur nach umherfliegen- den, in’s Auge fallenden Faltern Um- v. Reichenau, Ursprung der secundären Geschlechtscharaktere, schau hielte? Das kleinflügelige aber stark duftende, in nächster Distanz viel- leicht höchst anziehende Weib würde von den hoch und rastlos fliegenden Männchen übersehen und müsste als alte Jungfer seine Tage vertrauern, wo- gegen inhaltlosere mit grossen Flügeln prahlende Rivalinnen den Schein für sich haben und vielleicht die Augen Vieler auf sich ziehen würden, wenngleich es ihnen bei näherer Bekanntschaft nur der Sporn der Eifersucht oder Neben- buhlerschaft ihrer Liebhaber ermöglichte, endlich einen derselben zu fesseln. Doch setzen wir nicht Möglichkeiten, bleiben wir vielmehr bei den Thatsachen! Durch sexuelle Auswahl kön- nen nursolche Charaktere gezüch- tet werden, welche den Geschlech- tern auffallen können oder welche zur Aufsuchung und Begattung derselben dienen. Gehen wir zu Punkt 1 über. Das Nachtpfauenauge (Saturnia pa- vonia minor) ermittelt, ebensowohl im grellen Sonnenscheine, als bei Beginn der Nacht fliegend, sein Weibchen nur durch den Geruch. Da das Weib- chen geräuschlos dasitzt und seine nach unserer Schätzung sehr schönen Flügel höchst nachlässig hängen lässt, so kann dem Männchen, wie überdies die Versuche beweisen (Weiber mit ab- geschnittenen Flügeln üben dieselbe An- ziehungskraft aus), nur der Geschlechts- duft des Weibchens auffallen. Daher werden 1) Männchen mit starkge- kämmten Fühlern, worin die Ge- ruchsnerven liegen, und 2) Weibchen mit stark duftenden Genitalien, aber rudimentären Fühlerkäm- men gezüchtet. Die eigenthümliche Schönheit der Flügel beider Geschlech- ter bedarf einer anderen Erklärung und wurde auch bereits die Vermuthung ge- äussert, es möchten die auffallenden Augen der vier Flügel als täuschendes Mittel gegen Vögel dienen, indem sel- bige hiernach pickten und den Leib insbesondere bei den Blatthornkäfern. des Spinners verschonten. Ich wage nicht, diese Deutung für die richtige zu nehmen, noch eine bessere dafür zu geben. Es sei nur angeführt, dass meine insektenfressenden Vögel (Buch- finken und Bergfinken), welche bräun- liche Ringelspinner und andere nicht bunte Lepidopteren mit Vorliebe ver- zehrten, sich weigerten, die auffallen- den, scharfriechenden und jedenfalls ebenso ekelhaft schmeckenden Nacht- pfauenaugen zu sich zu nehmen. Nur in einem Falle wurde ein solches ge- tödtet, aber nicht verzehrt. Es schien mir daher einmal, als könnte die Ge- sammtwirkung der schönen Zeichnung diejenige einer Trutzfarbe sein, nach Art der rothen Farbe der Widderchen (Zygaenae) und Bärenspinner (Euprepiae), deren Besitzer beim Anfassen aus den Fugen des Thorax und sogar manch- mal aus den Fühlern scharfe und übel- riechende Flüssigkeit austräufeln lassen und daher von allen Vögeln verschmäht werden. Ich bemerke noch, dass die dem Gehöre (und Geruche ?) nachgehen- den Fledermäuse dagegen die eierstrotz- enden Leiber unserer Saturnie verzeh- ren müssen, sonst würde man nicht am frühen Morgen die Flügel des Nacht- pfauenaugenweibchens so häufig auf ge- wissen Wegen finden. Aus ebendemselben, oben klarge- legten Grunde hat der männliche Mai- käfer grosse, der weibliche kleine, auf niederer Entwickelungsstufe stehenge- bliebene Blätter an den Fühlern: so ist es bei allen Blatthornkäfern. Nicht die in die Augen fallenden Gebilde werden bei diesen Käfern be- wundert, sondern der Geruch des Weib- chens, und der besseren Wahrnehmung desselben haben sich die Fühlerkämme der Männchen angepasst. Die Hörner und Geweihe bedürfen, da sie weder als Mittel zur Auffindung der Geschlech- ter, noch als Reizmittel (ein solches ist beim Weibchen das innere Fortschreiten der Eierentwickelung einerseits und das 187 Umsummen der Männchen andererseits) dienen können, vielmehr einer anderen Erklärung. Die Hörner und Geweihe der Blatthornkäfer können also auch der geschlechtlichen Züchtung unmöglich ihren Ursprung ver- danken. So entspricht bei Punkt 2 und 3 das, Geräusche oder Töne producirende, Organ den feinen Hörorganen, und die Farbe spielt bei solchen Insekten keine andere Rolle als die des Schutzes oder Trutzes. Ich erinnere an die von Gu- sSTAV JÄGER erörterte Wespenfarbe *, so- wie an die, die grosse Regel bildende Schutzfarbe und Schutzgestalt der Heu- schrecken, welche zuweilen bunte Hinter- flügel haben, die ihnen, indem sie Auge und Schnabel des verfolgenden Vogels auf sich lenken, das Leben zu retten be- fähigt erscheinen, aber nicht als sexu- elle Charaktere aufgefasst werden dürfen. Es ist überhaupt gewagt, einen Charak- ter, der bei beiden Geschlechtern in ganz gleichem Maasse vorhanden ist, für einen von dem einen Geschlechte erworbenen und auf das andere über- tragenen secundären Sexualcharakter zu erklären, wie DaArwın es wiederholt gethan. Ganz anders steht es bei den unter Punkt 4 aufgeführten Tagfaltern : sie sind Augenthiere, wie die Vögel, welche bei Tage fliegen. Sie folgen der Farbe nach, welche sie in so hohem Grade aufweisen. Daher besteht ihr Sexualcharakter auch in der Verschie- denheit der Farbe, bei denen wenigstens, _ bei welchen nur das eine Geschlecht das andere aufsucht (Weissling, Ci- tronenfalter, Bläulinge). Wahrscheinlich suchen sich bei den gleichgefärbten Arten die Geschlechter gegenseitig auf; es fehlen mir hierüber aber noch alle Thatsachen. So habe ich die Begat- tung unseres gemeinsten Nesselfalters * Kosmos, Band I. Seite 486 fl. „Gelb- feindlichkeit*. 188 (Vanessa urticae) und seiner Verwand- ten noch niemals beobachtet und ich weiss nicht, ob dieser Vorgang schon veröffentlicht worden ist. Nachdem wir uns klar gemacht, dass unter den ge- nannten Punkten die Erklärung für die oft so auffallenden Hörner und anderen »Kopfschmuck« der Lamellicornier nicht gesucht werden darf, müssen wir uns fragen, ob sie vielleicht unter Punkt 5 gehören und als Waffen zu betrach- ten seien. Bei den verlängerten Kiefern der Lucaniden oder Hirschkäfer ist dies, wie versichert wird, der Fall. Unseren Hirschkäfer habe ich selbst, wenn auch nicht um ein Weibchen, wiederholt mit anderen seinesgleichen kämpfen sehen; Lucanus elaphus, der breitköpfige nord- amerikanische Hirschkäfer, ergreift mit den Geweihkiefern bei der Paarung sein Weibchen. Die langen Kiefer functio- niren also doch, und die Function müssen wir allemal als ausreichend für das Bestehen eines Organes betrachten. Aber wenn wir die hornartigen Gebilde auf dem Kopfe und Thorax, welche die Hercules- und Nashornkäfer haben, für Waffen halten wollten, würden wir uns ebenso sehr irren, als wenn wir sie für, dem Auge des Weibchens wohl- gefallende oder imponirende, Schmuck- zeichen nähmen, wie DArwın wollte. Bei diesen Käfern wirkt ja der Geruch als Reizmittel für die Geschlechter, deren steife Augen gar nicht zur Be- wunderung schöner Formen geeignet, vielmehr oft ganz oder theilweise be- deckt sind und selbst Gefahren so gut wie nicht wahrnehmen. Es wäre auch ein Wunder, wenn Thiere, welche sich durch den Mulm durchgraben müssen, ein hochdifferenzirtes Gesicht und, zum Theil auf diesem beruhende, feinere Eindrücke von Gestalten hätten! Zu Gunsten eines Nutzens dieser Gebilde * In BREHM's Thierleben. Insekten. Seite 91. %* Tropical nature (Tropenwelt Seite 210 v. Reichenau, Ursprung der secundären Geschlechtscharaktere, (— Organe dürfen wir sie kaum nennen, so lange noch keine Func- tion derselben aufgefunden wurde —) lässt sich überhaupt nur wenig vor- bringen. Bei dem Durchbrechen der Cocons und dem weiteren Herausscharren aus der Erde oder dem Wurmmehl etc. kön- nen Auswüchse aller Art nur hinder- lich sein und gelegentlich das Stecken- bleiben eines langhornigen Männchens, sowie Deformitäten der noch weichen Hörner verursachen, wie TASCHENBERG auch berichtet *. WauvAcz#** und ich *** haben unabhängig von einander wenig- stens einige Bedeutung darin zu finden geglaubt, dass die langen Kopftheile oder Thoraxstachel dem umherziehen- den, den Angriffen der Vögel sehr aus- gesetzten Männchen als Schreckmit- tel dienen können. Allein es ist mehr als fraglich, ob sich aus dieser Be- deutung die kleinen Hörnchen kaum halbgliedslanger und noch viel kleine- rer Käferchen ableiten liessen, wie z. B. die gewisser Onthophagen. Wir thun daher gut, wenn wir die Strasse, auf der man nur nach äus- seren Verhältnissen sucht, welche eli- minirend auf die zufällige Variation der Individuen einwirken, verlassen und im Organismus spontane Ursachen, Wachsthumsprinzipien zu entdecken streben. Diese unmittelbaren Anpas- sungen, Correlationen und Compensa- tionen sind es ja doch immer, auf welche wir bei allen derartigen Ver- suchen in letzter Instanz stossen. Drehen und wenden wir uns auch, wie wir wollen: Von allen unseren Erklär- ungsversuchen der organischen Form gelangen nur diejenigen auf den wahren Grund, welche die Form als ein Resultat der physischen Thätigkeit des Or- und 211 als Schutzmittel, welches das Ver- schlingen erschweren soll). %%** Kosmos, Band IV, Seite 56 und 57. insbesondere bei den Blatthornkäfern. ganismus auffassen. Welcher Che- mikalien sich hierbei der Organismus bedient, ist zunächst gleichgültig; denn nicht die chemischen Verbindungen sind in letzter Instanz Ursache der Form, sondern die Thätigkeit, der Wille des Organismus, von wo die Wahl der Stoffe ausgeht. Wir verlangen also die Organthätigkeit als Ursache der sonderbaren Gebilde, wie sie uns in Gestalt geweihartiger Kiefer und horn- artigen oder kronenartigen Kopf- und Thoraxschmuckes bei den Blatthorn- käfern entgegentreten, aufgestellt zu sehen und wollen versuchen, unter die- sem wirklichen Gestaltungsprinzipe et- was mehr Licht zu erhalten. Nun ist seit LAMARcK schon so viel über den ungeheueren Einfluss des Gebrauchs und Nichtgebrauchs geschrieben worden, dass es fast über- flüssig erscheinen möchte, deren Wirkung auf den Organismus nochmals klar legen zu wollen; einerseits erheischte dies aber eigentlich eine öfter anzutreffende einseitige Verkennung dieses Prinzips, welches nichts anderes in sich begreift, als gerade die Organthätigkeit, — und die Organthätigkeit ist, da die gering- sten Gefässe und Zellen des Organis- mus als Organe erkannt worden sind und von diesen die Reaction, das Ge-. genwirken und Einwirken im Organis- mus und auf die Aussenwelt factisch vollzogen wird, doch gleichbedeutend mit der physischen oder organischen Reaction des Organismus, welche ihn vor anderen Wesen (Gasen, Krystallen etc.) so sehr auszeichnet! — Auf der anderen Seite bin ich überzeugt, dass man gerade durch dieses Wachsthums- prinzip dereinst noch manches Räthsel, deren der Organismus so viele dar- bietet, lösen wird, wenn die allgemeine Aufmerksamkeit der nach dem natür- lichen Grunde der Lebewesen forschen- den Zoologen und Botaniker sich mehr als gegenwärtig dahin wendet. Es ist so allgemein bekannt, dass 189 der Gebrauch der Organe in bestimm- ter Richtung dieselben kräftigt, — be- ruht doch auf der Anerkennung dieser Thatsache die ganze Gymnastik — dass hierüber kein Wort mehr zu ver- lieren ist. Ebenso weiss alle Welt, dass der Nichtgebrauch die Organe schwächt und schwinden macht. Es kann ferner für nachgewiesen erachtet werden*, dass Gebilde, welche dem Normalorganismus fremd sind, wie Fett- polster auf dem Kopfe des Menschen oder auf dem Rücken des Kameels und einiger anderen zum Reiten und Last- tragen benutzten Wiederkäuer durch den functionellen Reiz entstehen, wel- cher durch äusseren Druck hervorge- rufen wird. Neuerdings hat WıLHELm Roux ein lehrreiches Werk ** über die functionelle Anpassung und Reizwirkung geschrieben, welches nicht nur meine früheren Ansichten über das Entstehen des Kammes und anderer Ornamental-, bezüglich Reizgebilde männlicher Vögel zu bestätigen geschaffen scheint, son- dern auch der gestaltschaffenden zweck- mässigen Thätigkeit des Organismus im Grossen und Kleinen die gebührende Gerechtigkeit widerfahren lässt. Ich verweise also bezüglich der anzufüh- renden Wirkungen der Organthätigkeit auf dieses vorzügliche Werk, welchem das Verdienst zukommt, das Zweck- mässige erklärt zu haben, wo die Theorie von der Naturauslese in Dar- wın’ scher Fassung nicht mehr aus- reichte. Ich gedenke noch einiger mon- strösen Gebilde, welche dadurch ent- stander sind, dass ihnen die natürliche, sie aus- oder abnutzende Function ganz oder zum Theil entzogen wurde, Ge- bilde, welche als hypertrophische auf- treten, deren Ursache ein continuir- licher functioneller Reiz ist, obgleich die Function ganz oder theilweise in * Kosmos Band VI, Seite 143 f. ** Der Kampf der Theile im Organis- mus. Leipzig 1881. 190 Wegfall gekommen ist. Nichtgebrauch scheint dabei also nicht Schwund der Theile, sondern zweckloses Ueberwachs- thum herbeizuführen. Dahin zähle ich die zur Ungebühr fortwachsenden Hufe oder »Schalen« des Stallviehes, die halbkreisförmig weiter wachsenden, seit- lich ausgebogenen oder sonst, z. B. wegen Fehlens eines Zahnes der Reib- ung eines gegenüberstehenden Zahnes entbehrenden Schneidezähne der Nage- thiere, den bei mangelnder Tannen- zapfenarbeit ins Ungeheuere auswach- senden Schnabel des Kreuzschnabels, die Krallen in Käfigen eingesperrter Distelfinken u. s. w., ja auch die Stoss- zähne des Mammut und die Eckzähne des Hirschebers, welche in der Jugend als Hauer functionirt haben müssen. In sol- chen Wachsthumserscheinungen haben wir nach meiner Ansicht analoge Fälle für die räthselhaften Hörner der Nashorn- und Herculeskäfer vor Augen. Aber, wird man sagen, von Analogie könne hierbei doch keine Rede sein, denn in den angeführten Fällen hätten jene Gebilde alle doch einmal wirklich func- tionirt und nur die Entziehung des Normalgebrauches habe sie veranlasst, in Folge einfacher Nichtabnutzung mon- strös weiter zu wachsen. Dennoch glaube ich, dass die Analogie aufrecht erhalten werden kann. Der Grundstock der merk- würdigen Käferhörnerhat bei der Mut- ter functionirt, und von ihr ist der functionelle Reiz auf das nachfol- gende nicht functionirende Männ- chen übertragen, vererbt worden. Betrachten wir uns nur die Weibchen, oder beziehentlich die Mütter der mit Kopfgebilden versehenen Blatthornkäfer näher, so finden wir bald, dass sie alle mit eigenthümlich geformten Schilden des Kopfes und des Thorax, sowie auch mit breiten Vorderbeinschienen sich lang- wierigen Grabarbeiten unterziehen, um die Eier sicher und zweckmässig unter- bringen zu können. Da haben wir die Weibchen der v. Reichenau, Ursprung der secundären Geschlechtscharaktere, Nashornkäfer (Oryctes), Strategus, Phyllo- gnathus etc., welche, wie oben beim gemeinen europäischen Nashornkäfer be- schrieben wurde, treffliche kurze Spitz- hacken- und stemmeisenförmige Höcker auf dem schaufelförmigen Kopfe oder Thorax vorzeigen. Je schwieriger die Arbeit im Mulme oder in der Humus- erde, je tiefer der auszuscharrende Brut- bau, um so muldenförmigeristder Thorax, um so spitzhöckeriger der Kopf. Diese Theile der Weibchen sind zweckmässige Anpassungen, welche sehr nothwendige Functionen versehen und keineswegs Rudimente männlichen Schmuckes, wie Darwın glaubt. Bei den Männchen sind die Höcker in Hörner, die Mulden kut- schenschlagartig ausgewachsen. Die Weibchen der hochinteressanten Go- lofaarten haben ein zum Einbohren und Wühlen in faulem Holze taugliches Kopf- schild und, da sie keine Mulde auf dem Thorax besitzen, um das losgearbeitete Material fortzuschieben, so zeigen sie hier eine kleine Mittelleiste und viele körnige Rauhheiten, so dass kein Abgleiten des Materials erfol- gen kann. Bei den Männchen sind die Kopftheile in’s Ungeheuere ausgewachsen und auf dem glatten Mittelrücken erhebt sich ein abenteuerliches Gebilde. Alle Körnchen des weiblichen Thorax er- scheinen hier zur Mittelleiste hinzuge- zogen und dann der Hypertrophie unter- worfen worden zu sein. Ein sehr ähn- liches Verhältniss trifft bei den Dy- nastiden oder Hercules- und Neptun- käfern u. s. w. zu. Ein Blick auf ein solches Weibchen (Fig. 16) zeigt uns die ganze Grabform, ein Blick auf das Männ- chen eine grossartige Verzerrung einer ursprünglich zweckmässigen Anpassung an (Fig. 17 u. 18). — Betrachten wir uns die furchtbaren Megalosoma-Arten, wie den Actaeon oder Typhon aus Guiana, oder die herrlichen Gabelnasen Guineas, die Cotinis-Blumenkäfer und selbst un- seren Eremit (Osmoderma eremita), über- all haben die Weibchen dieser Thiere insbesondere bei den Blatthornkäfern. Graborgane, welche beim Männchen oft zügellos ausgebildet sind. Es kann un- möglich meine Absicht sein, den Leser durch Aufzählung hunderter von Arten ermüden zu wollen, bei welchen überall ein solches Verhältniss zu treffen ist: die Thatsachen zeigen es uns ja deut- lich genug, dass bei allen den Lamelli- corniern, deren Männchen sonderbare Kopf- oder Thoraxgebilde haben, die Weibchen diesen Gebilden entsprechende als Graborgane functionirende Kopf- oder Thoraxformen besitzen. Dies ist der Fall vom grotesken Phanaeus lan- cifer bis zu unserm Geotrupes typhoeus, dem Schafmistkäfer und herab zu den im Dung und in Pilzen sich herumtrei- benden erdwühlenden Ontophagen, wenn sie auch kaum einige Millimeter Körper- länge haben, und bis zu unserem kleinen eylindrischen Eichenmulmkäfer, dem $i- nodendron eylindricum. Wir können hier- nach als Regel aufstellen: Sind die Männchen der Blatthornkäfer grösser alsihre Weibchen und ar- beiten sie nicht, so sind sie mit merkwürdigen Kopf- und Thorax- gebilden versehen, denen keiner- lei Function zukommt. Sehen wir uns dagegen nach den Käfern um, deren beide Geschlechter arbeiten, so finden wir (siehe dazu Fig. 19 bis 21): Betheiligen sich die Männ- chen der Blatthorn- oder anderer Käfer beider Arbeit, so sind sie nicht grösseralsihre Weibchen und haben dieselben Graborgane auf Kopf und Thorax. Hieraus leiten wir folgende Schlüsse auf Grund des Compensationsgesetzes des Wachsthums ab: Bei den Blatthornkäfern kommen fol- gende Fälle vor: 1) Die Männchen sind grösser als die Weibchen und vorihnen mit eigenthümlichen Auswüchsen ausgezeichnet; dann arbeiten sie nicht gleich den Weibchen, woraus folgt, dass die bei den 191 Weibchen zur Bildung und Un- terbringung der Eier verwen- dete Kraft für sie disponibel war und an denjenigen Stellen des Körpers zum Ausbau von Gebilden verwendet wurde, wo in Folge der Örganthätigkeit der Mutterein erblicher functioneller Reiz sich localisirte (Hercules- käfer, Nashornkäfer etc.). 2) Die gleichgrossen Männ- chen arbeiten mit den Weibchen, dann ist für sie keine Lebens- kraft freiverfügbar vorhanden und sie haben keine anderen als die functionirenden Grab- gebilde des Weibchens (Ateuchus- Arten). 3) Männchen und Weibchen sind von gleicher Grösse, das Männchen arbeitet nicht und das Weibchen nurunbedeutend, dann sind die Männchen nur in geringem Grade durch Aus- wachsen (Hypertrophiren) der beiden Weibchen functioniren- den Graborgane vom anderen Geschlechte verschieden (Mai- käfer). Zu Satz 3 bemerke ich, dass viele männliche Blatthornkäfer, die sich der Arbeit nicht unterziehen, durch längere Beine, vor Allem durch oft unmässig lange Vorderbeine vom Weibchen unter- schieden sind. Beim Weibchen dienen diese Organe hauptsächlich neben Kopf- und Thoraxschildern zum Graben, es gilt also hier der Satz des erblichen functionellen Reizes, wie oben bei den Horngebilden. In der That haben die Lamellicornierweibchen ganz vortreff- liche Grabschienen, welche denen exclu- siver Grabthiere wenig nachstehen. Das berühmteste Grabvorderbein unter allen Insekten hat die Maulwurfsgrille (Gryllo- talpa), welches wir in Figur 25 vor uns sehen. In Figur 26 erblicken wir das nämliche Glied von der gemeinen Feld- grille (Gryllus campestris), aus denselben 192 Elementen zusammengesetzt, aber nur in untergeordnetem Grade dem Graben (von kurzen Höhlen) angepasst. Das erste Glied des Beines, die Hüfte (R), ist bei der Feldgrille nur wenig er- weitert und mit kleiner, wahrscheinlich nur dem Oberschenkelgelenk zum Schutze dienender Spitze versehen; der Unter- schenkel oder die Schiene (us) hat einige beim Laufen und Scharren gleichnütz- liche Dornen, und die Glieder des Fusses oder die Tarsen (f) sind kräftig ent- wickelt, zum Laufen tauglich. Und was hat die zeitlebens, vom Eie an, grabende Maulwurfsgrille aus einem solchen, wohl sicher den Ahnen einst zugehörigen Grab-Laufbein für ein äusserst geschicktes Organ im Laufe der Zeit herausgebildet! Die Hüfte (A) ist ungeheuer gross und stark geworden und deren Spitze in eine Pflugschar ver- wandelt. Der Oberschenkel (os) ist un- gemein kräftig und muskulös, der Unter- schenkel (us) breit, in eine zum Ein- stechen und eine zum Zurückkratzen dienende Abtheilung geschieden und mit vorzüglichen, spitzen, scharfen und star- ken Schaufelspitzen versehen. Dagegen sind die Tarsen (f) rudimentär geworden, weil dieselben nicht mehr functioniren, indem zum Laufen die Hüfte verwendet wird. Auch manche Käfer, wie der keulenhörnige Hister inaequalis (Figur 24 A. B), eine der grösseren Stutzkäfer- Arten aus Südfrankreich, haben eine zum Graben bestimmte Entwickelung der Schenkel und Schienen aufzuweisen, wel- che an die der Maulwurfsgrille erinnern. Beim Stutzkäfer sind die Tarsen ru- dimentär, leicht abfallend; die alsfleissige Gräber bekannten Pillenkäfer oder Ateu- chus-Arten, haben sie im Laufe der Ge- nerationen bereits ganz verloren, wie uns das Grabbein des ‚„heiligen‘‘ Pillen- drehers (A. sacer) in Figur 23 zeigt. Als Laufbein und Grabbein gleich gut geeignet muss das Vorderbein der schon‘ oben erwähnten Golofa Porteri, Figur 22B, erscheinen. Vorzüglich zum v. Reichenau, Ursprung der secundären Geschlechtscharaktere, Graben ist die kurze Form desselben und die breite zackige Unterschenkel- schiene (us) mit mehreren zum Ein- kratzen oder Einbohren sehr wohl taug- lichen, zu beiden Seiten der Tarsen, die beim Graben schlaff zur Seite liegen, befindlichen Spitzen. Man besehe sich dagegen das Vorderbein des Männchens (Figur 22 A)! Stelzenförmig ist der Schen- kel, ist die Schiene ausgewachsen, und ebenso kraftlos ragen die langen Tarsen in’s Weite. Dort ein kräftiges Grab- bein, hier eine kraftlose Ranke! Kaum tauglich zum Gehen, untauglich zu ernst- lichem Festhalten des Weibchens stehen die Vorderbeine in die Welt hinaus, ein hypertrophisches Auswuchsgebilde! In geringem Gradezeigtunseinsolches Verhältniss schon unser gemeiner Mai- käfer (Melolontha vulgaris). Wir ersehen daher aus dem Vorgeführten ganz klar, dass ein Theil der für sexuelle Charaktere gehaltenen Gebilde (kammartige Fühler und Saug- platten) sich durch Steigerung der Function auf der Seite des Männchens, ein anderer Theil (kahlere oder kleinere Fühler des Weibchens) durch Verminderung der Function auf der Seite des Weibchens, ein dritter (Hörner, lange Vorderbeine) durch Hyper- trophie, erzeugt durch den nicht zur Auslösung durch Arbeit ge- langenden vererbten functionellen Reiz homologer weiblicher (müt- terlicher) Organe — erklären lässt. Nun zum Schlusse noch einige Bei- spiele, welche sich ganz einfach aus dem Principe des Wachsthumes erklären lassen. Die mit weniger langen Hörnern u. dergl. ausgestatteten Männchen sind nach meiner Erfahrung ausnahmslos die kleineren; ihre Larve hat we- niger Nahrung gehabt, daher ist weniger Material zu hypertrophischen Gebilden vorhanden — und die erhaltene männ- insbesondere bei den Blatthornkäfern. liche Form kommt der weiblichen näher. Oder sollte es kleinere, weniger ge- schmückte Männchen geben, weil ein Spruch ist: De gustibus non est dis- putandum, weil es immer einige Käfer- weiber geben sollte, die ein anderes Ideal verfolgten als ihre Colleginnen ? Haben die, mitgrabende Männchen be- sitzenden Weiber gar keinen Geschmack, da deren Gatten stets „ungeschmückt“ sind? — eine auffallende Thatsache. Ein schöner indischer Hirschkäfer, Anoplocnemus bicolor, hat männlicherseits auf der linken Seite einen den anderen um die Hälfte an Länge und Breite übertreffenden geweihartigen Zangen- kiefer. Beim Weibchen liegt der linke fast ganz gleichgrosse Kiefer über dem rechten, wenn beide geschlossen sind; der linke hat also offenbar beim Graben mehr Arbeit zu überwältigen, als der rechte: sein functioneller Reiz wird er- höht, wird erblich und erzeugt beim linken Kiefer des nicht arbeitenden Männ- chens die alle Symmetrie störende Hyper- trophie. Oder hat gerade das Weib- chen dieses Käfers einen so verschrobe- nen Geschmack, dass es nur Männchen mit schiefen Gesichtern leiden mag? — dann wäre bei den Käferın die Weiber- laune noch wunderbarer als bei uns und ich möchte nicht unter ihnen sein. Ein bestätigendes Beispiel bietet der Kopf von Hister inaequalis (Figur 21), woran deutlich zu ersehen ist, dass durch die wegen seiner Lage dem linken Kiefer mehr aufgebürdete schwere Erdarbeit functionelle Hypertrophie entstehen muss. Hier ist sie functionell, — dort durch Reizvererbung zu erklären. Aber es möchte ja scheinen, als solle so ganz unter der Hand mit der geschlechtlichen Auslese, soweit sie das Gebiet der Wahl der Weibehen unter den Männchen be- trifft, auch die Naturauslese beseitigt werden. Allein dies ist nicht der Fall: Roux hat nachgewiesen, dass der Kampf der Theile im Organismus nothwendig eine Auslese der Theile herbeiführen Kosmos, V. Jahrgang (Bd. X). 193 muss; Darwın hat längst gelehrt, dass im Kampf um’sDasein im grossen Ganzen die besser ausgestatteten Varietäten be- stehen bleiben, und dies ist auch bei unseren Käfern der Fall. Wenn die Auswüchse auch nur höchst selten ein- mal nützen, wenn sie nur nicht gerade schädlich sind, so lässt Naturauslese sie bestehen. Bei den Weibchen aber wür- den sie schädlich sein, wenn sie ja ein- mal entstünden, und dann würde Natur- auslese sie ausmerzen. Bestimmt functio- nirende Organe sind aber nur in ge- ringem Grade variabel, einmal weil die Theile des Organismus, von der Function abhängig, fast nur im Kampfe mitein- ander das Zweckmässige hervorbringen können (— dass jeder bestimmten Func- tion eine bestimmte Organform ent- spricht, lehrt die Technik und ein Blick auf die in allen Klassen des Thierreiches analogen Anpassungsformen), zum an- deren Mal, weil es an Material zu hyper- trophischen Erscheinungen in der Regel fehlt und weil Naturauslese im Darwın’- schen Sinne (die Individuen selbst be- treffend) längst die Fehlschlagenden be- seitigt haben würde. Es stört unsere Erklärung nicht im Mindesten, dass mir ein Fall von einer kleinen Hypertrophie der auch beim männlichen Geschlechte, wenn gleich in bedeutend geringerem Grade, thätigen Kiefer eines Hirsch- käferweibchens bekannt wurde. Das- selbe hat sonst rein weiblichen Typus *. Was aber Darwın’s, den Weibchen zu- erkanntes Wahlvermögen, bezüglich de- ren menschlich feinen Geschmack angeht, so bemerke ich nur noch, dass ich zwar aufGrund tausendfältiger Beobachtungen ‘überzeugt bin, dass die Brechungen des Lichtes, wie das Licht selber, anziehend auf Insekten wirken, dass aber ein Kri- terium der Gestalt, wie es dem mensch- lichen Denken zukommt, bei denselben nicht vorausgesetzt werden darf. An- * GUSTAV DE Rossı, in KATTER’s En- tomol. Nachrichten. Band VI. Seite 228. 13 194 v. Reichenau, Ursprung der secundären Geschlechtscharaktere ete. ziehung existirt in der Natur, von der chemischen Affinität biszum leidenschaft- lichen, die Farbe, die Ausdünstung oder den Schall als Leiter benutzenden Ge- schlechtstrieb der Thiere hinauf; den N Sinn für das’ Schöne aber, meine ich, nennen wir nicht unser geringstes Eigen, und wo immer in der weiten Natur das Schöne auftritt, da sind wir es gewesen, die es hineingetragen haben. Erklärung 1—7. Vorderfüsse männlicher Schwimm- 14. &7 käfer (Dytieiden). . Agabus bipustulatus mit Bürste und Saugplättchen. . Colymbetes adspersus mit Wimper- borsten und Saugplättchen. . Hydaticus austriacus mit Kegel- näpfen. . Acilius sulcatus mit Saugbürsten (b) und Kegelnäpfen (e). . Dyticus latissimus mit Haarbürste und grossen Näpfen. . Oybister Roeselii mit Haarbürste und gezipfelten Saugplättchen (b). . Dyticus marginalis mit Saugbürste und grossen Näpfen (b). . Halteplatte ohne Saugapparat vom Vorderfuss des Hydrophilus piceus. . Hirschkäfer (Lucanus cervus), W eib- chen. Grabkopf. . Derselbe, kleines Männchen. 12. Kopf und Halsschild eines grossen Exemplar’s von oben und von der Seite. . Grabkopf und Grabthorax des weib- lichen Nashornkäfers (Oryctes nast- cornis). Dieselben von einem kleinen Männ- chen. der Tafel V. Fig. 15 l6 ll 18 9 „20. 2 Bam a see2g u .24 nu 24: = .25 „126 . Dieselben von einem grossen Männ- chen. . Dynastes Hercules, Kopf und Thorax des Weibchens. . Dymnastes Hercules, Kopf und Thorax des grossen Männchens. . Dynastes Neptuni, Kopf und Thorax eines grossen Männchens. . Grabschild eines Todtengräbers (Ne- crophorus mortuorum). Grabkopf und Thorax von Ateuchus sacer. . Grabkopf von Hister inaequalis. A. Golofa Porteri, Vorderbein des Männchens. B. Golofa Porteri, V order- (Grab-) bein des Weibchens. . Ateuchus sacer, Grabbein (der Fuss fehlt). . A. Hister inaequalis, Grabbein mit ausgestreckten Tarsen. B. Dasselbe mit herabhängenden Tar- sen (vergrössert). . Gryllotalpa vulgaris, Grabbein mit Pflugschar und verkürzten Tarsen (2:2. . Gryllus campestris, Vorderbein der Feldgrille. Alle Figuren sind nach Exemplaren des Mainzer Museums gezeichnet und zwar Fig. 1—8, 19, 21, 24b, 25, 26 vergrössert, die übrigen in natürlicher Grösse. Staatliche Einrichtungen. Von Herbert Spencer. X. Der industrielle Gesellschaftstypus. Die meisten Gesellschaften haben sich fast unablässig gegen äussere Feinde zu vertheidigen, während sie im In- nern die Processe der Selbsterhaltung fortführen müssen, und zeigen uns da- her, wie im letzen Capitel dargelegt wurde, in der Regel eine Mischung verschiedener Typen des Baues, wie sie solchen verschiedenen Zwecken ange- messen sind. Eine Zergliederung der- selben ist nicht leicht. Je mehr ein Typus vorwiegt, desto mehr verzweigt er sich durch den andern hindurch, wie dies z. B. die Thatsache beweist, dass, wo der kriegerische Typus bedeu- tend entwickelt ist, der Arbeitende, gewöhnlich in Sclaverei lebend, eben- sowenig ein freies Agens darstellt als der Krieger, während, wo der industri- elle Typus eine bedeutendere Entwick- lungerlangthat, der Krieger, dernununter bestimmten Bedingungen freiwillig dient, insofern wenigstens in die Lage eines freien Arbeiters kommt. Im einen Falle durchdringt das System des Status, das die kämpfenden Theile charakterisirt, auch den arbeitenden Theil, während im anderen Fall das System des Ver- trages, eigentlich nur für den arbei- tenden Theil geeignet, seinen Einfluss auch auf den kämpfenden Theil über- trägt. Ganz besonders pflegt die dem Kriege angepasste Organisation die für die Industrie geeignete zu verdunkeln. Während, wie wir gesehen haben, die theoretisch festgestellte Form des krie- gerischen Typus in gewissem Maasse bei sehr vielen Gesellschaften zum Aus- druck kommt, so dass über sein eigent- liches Wesen kein Zweifel herrschen kann, werden die charakteristischen Züge des industriellen Typus durch die- jenigen des immer noch vorherrschen- den kriegerischen Typus so sehr mas- kirt, dass wir für seine ideale Form nirgends mehr als nur sehr theilweise Belege auffinden können. — Nachdem wir so viel vorausgeschickt, um Erwartungen auszuschliessen, welche doch nicht er- füllt werden können, wird es gut sein, wenn wir vor dem Weitergehen auch noch einige wahrscheinliche Missver- ständnisse beseitigen. In erster Linie darf der Industri- alismus nicht mit Arbeitsamkeit ver- wechselt werden. Obgleich die Mit- glieder einer industriell organisirten Gesellschaft gewöhnlich auch arbeitsam (industriös) sind und in der That, wenn die Gesellschaft weiter entwickelt ist, dazu genöthigt werden, so darf man deswegen doch nicht vermuthen, dass 13* 196 die industriell organisirte Gesellschaft nothwendigerweise so beschaffen sei, dass viel darin gearbeitet werde. Ist die Gesellschaft klein und ihr Wohn- gebiet so günstig, dass sich das Leben ohne grosse Anstrengung angenehm fortführen lässt, so können alle die so- cialen Beziehungen, welche für den in- dustriellen Typus charakteristisch sind, sehr gut mit einer sehr gemässigten productiven Thätigkeit zusammen vor- kommen. Es ist nicht der Fleiss ihrer Mitglieder, welcher die Gesellschaft zu einer industriellen in dem hier verstan- denen Sinne macht, sondern die Form des Zusammenwirkens, unter welcher ihre Arbeiten von kleinem oder grös- serem Umfange ausgeführt werden. Die- sen Unterschied wird man sich am besten durch die Beobachtung verständlich machen, dass im Gegensatz dazu eine lebhafte Industrie in Gesellschaften bestehen kann und oft wirklich be- steht, die nach dem kriegerischen Ty- pus gebildet sind. Im alten Aegypten lebte eine massenhafte arbeitende Be- völkerung und diese brachte eine grosse Menge der verschiedenartigsten Lebens- bedürfnisse hervor. In noch höherem Grade zeigte das alte Peru ein gros- ses Gemeinwesen von rein militärischem Bau, dessen Mitglieder doch unabläs- sig arbeiteten. Wir haben es also hier nicht mit der Menge der Arbeit, sondern mit den Einrichtungen, unter welchen dieselbe ausgeführt wird, zu thun. Ein Regiment Soldaten kann zur Aufführung von Erdwerken, ein an- deres zum Holzhauen, ein drittes zum Wasserherbeibringen in Thätigkeit ge- setzt werden; dadurch sind sie aber noch nicht für die betreffende Zeit in eine industrielle Gesellschaft umgewandelt. Die vereinigten Individuen, welche diese verschiedenen Aufgaben nach Befehl vollziehen und keine privaten Ansprüche an ihre Arbeits- Erzeugnisse haben, sind, obgleich industriös beschäftigt, doch noch nicht industriell organisirt. Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Und das Gleiche gilt überall in der ganzen kriegerischen Gesellschaft um so mehr, je mehr sich die »Regimenta- tion< ihrer Vollkommenheit annähert. Der eigentlich so zu nennende in- dustrielle Gesellschaftstypus muss fer- ner von einem andern Typus unter- schieden werden, den man sehr leicht damit zu verwechseln geneigt ist — von dem Typus nämlich, in welchem die einzelnen Individuen, während sie ausschliesslich mit Production und Ver- theilung der Güter beschäftigt sind, unter einer Ähnlichen Herrschaft stehen, wie sie von Socialisten und Commu- nisten befürwortet wird. Denn auch dieser Typus bedingt unter einer an- deren Form das Princip des zwangs- weisen Zusammenwirkens. Unmittelbar oder mittelbar werden die Einzelnen davon abgehalten, sich selbständig und für sich allein so zu beschäftigen, wie es ihnen gefällt; es soll ihnen verboten sein, mit einander in der Hervorbring- ung von Gütern gegen Bezahlung zu wetteifern; es soll ihnen verboten sein, sich unter den Bedingungen, die ihnen gut dünken, zu verdingen. Es gibt über- haupt kein künstliches System zur Re- gulirung der Arbeit, das nicht mit dem natürlichen System in Gegensatz träte. In demselben Maasse, als die Menschen davon abgehalten sind, Verpflichtungen jeder beliebigen Art einzugehen, arbeiten sie auch unter der Herrschaft des Be- fehls. Gleichgiltig in welcher Weise das controlirende Agens beschaffen sei, stets zeigt es gegenüber den controlirten Ein- zelwesen dasselbe Verhältniss wie das- jenige einer kriegerischen Gesellschaft. Und wie zutreffend das Regime, wel- ches Jene gern einführen möchten, die sich gegen jede freie Wettbewerbung nachdrücklich aussprechen, auf diese Weise charakterisirt ist, ersehen wir sowohl aus der ‚Thatsache, dass com- munistische Formen der Organisation thatsächlich schon in früheren Gesell- schaften existirten, welche vorzugsweise Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. kriegerisch waren, als auch daraus, dass inder Gegenwart communistische Projecte hauptsächlich in den kriegerischsten Gesellschaften auftauchen und dort am meisten Anklang finden. Endlich möchte wohlnoch eine andere vorläufige Erläuterung nöthig sein. Man darf die einzelnen Züge des für den industriellen Gesellschaftstypus geeig- neten Baues nicht in bestimmten For- men da zu finden erwarten, wo sie zum erstenmal auftreten. Im Gegentheil müssen wir uns darauf gefasst machen, dass ihre Anfänge sich nur in ganz un- bestimmten schwankenden Umrissen zei- gen. Sie gehen ja durch allmähliche Abänderungen aus bereits bestehenden Gebilden hervor und es dauert daher nothwendigerweise lange, bis sie jede Spur dieser Abkunft abgestreift haben. Der Uebergang von dem Zustande, in welchem der Arbeiter gleich dem Thiere blosses Eigenthum ist und seinen Un-. terhalt empfängt, damit er ausschliess- lich zum Nutzen seines Herrn arbeite, in den Zustand, in welchem er voll- ständig von Herrn, Boden und Land abgelöst ist und es ihm freisteht, ir- gendwo und für irgend Jemand zu ar- beiten, erfolgt durch allmähliche Ab- stufungen. Ebenso langsam und un- merklich vollzieht sich der Uebergang von der dem Militarismus angepassten Einrichtung, wonach die Unterthanen ausser ihrem Lebensunterhalt noch ge- legentlich Geschenke bekommen, zu der Einrichtung, dass sie anstatt dieser beiden Formen der Belohnung festge- setzte Löhne oder Besoldungen oder Gewinnantheile erhalten. Gleichermaas- sen lässt sich beobachten, dass der Process des Austausches in seinen An- fängen ganz unbestimmt verläuft und erst da eine bestimmte Form erreicht, wo der Industrialismus bedeutend ent- wickelt ist. Der Handelsverkehr hat nicht mit der ausgesprochenen Absicht begonnen, das eine Ding für ein anderes von gleichem Werthe hinzugeben, son- 197 dern vielmehr damit, dass ein Geschenk gemacht und dagegen ein anderes em- pfangen wurde, und selbst heute noch haben sich im Osten deutliche Spuren dieser ursprünglichen Art des Handels- verkehrs erhalten. In Kairo wird der Einkauf der verschiedensten Artikel bei einem Kaufmann durch sein Anerbieten von Cafe und Cigaretten eingeleitet und während der Verhandlung, welche mit der Aufforderung zu einer Fahrt in der Dahabieh endigt, übergibt der Drago- man verschiedene Geschenke und er- wartet, solche zu empfangen. Dazu kommt, dass unter solchen Verhältnissen noch keine Spur jener bestimmten Gleich- werthigkeit zu finden ist, welche den Handel bei uns auszeichnet: die Preise sind keineswegs fixirt, sondern schwan- ken mit jeder neuen Unterhandlung inner- halb weiter Grenzen auf und ab. Wir müssen daher bei allen unsern Er- läuterungen die Wahrheit fest im Auge behalten, dass die dem industriellen Typus eigenthümliche Form des Baues und der Functionen sich nur ganz all- mählich von der dem kriegerischen Ty- pus eigenthümlichen Form abhebt. Nachdem wir uns auf solche Weise den Weg bereitet, wollen wir nun näher zusehen, welches a priori die Züge jener socialen Organisation sein mögen, die vollständig ungeeignet, sich gegen äussere Feinde zu vertheidigen, dagegen ausschliesslich dazu eingerichtet ist, das Leben der Gesellschaft zu erhalten, in- dem das Leben ihrer Einheiten geför- dert wird. Wie bei der vorhergehenden Betrachtung des kriegerischen Typus wollen wir auch hier wieder bei Be- trachtung des industriellen Typus zu- erst seine ideale Form erörtern. Während gemeinsame Thätigkeit das erste Erforderniss in einer Gesellschaft ist, welche sich inmitten feindseliger Ge- sellschaften erhalten soll, erscheint die- selbe im Gegentheil da, wo solche Feinde fehlen, keineswegs mehr als oberstes Erforderniss. 198 Die Fortdauer einer Gesellschaft ist zunächst dadurch bedingt, dass sie nicht als Ganzes durch äussere Feinde zer- stört, und zweitens, dass sie nicht im einzelnen vernichtet werde, weil ihre Mitglieder sich selbst nicht mehr zu er- halten und fortzupflanzen vermögen. Hört aber jede Gefahr der Zerstörung aus der ersten Ursache auf, so bleibt blos noch die Gefahr der Zerstörung aus der zweiten Ursache. Die Erhal- tung der Gesellschaft wird nun erreicht durch die Selbsterhaltung und Vermehr- ung ihrer Einheiten. Wenn jeder Ein- zelne seine eigene Wohlfahrt und die- jenige seiner Nachkommen im vollen Maasse fördert, so wird dadurch auch mittelbar die Wohlfahrt der Gesellschaft erzielt. Es bedarf nun blos noch eines sehr geringen Betrages von gemeinsamer Thätigkeit. Jeder Einzelne kann sich durch seine Arbeit ernähren, seine Er- zeugnisse gegen diejenigen Anderer aus- tauschen, Anderen Hilfe leisten und Be- zahlung dafür empfangen, in diese oder jene Combination zur Ausführung eines kleinen oder grossen Unternehmens ein- treten, ohne dass die Gesellschaft als solche einen Einfluss darauf ausübte. Der einzige Zweck, dernoch durch öffent- liche Thätigkeit zu erreichen bleibt, ist der, die private Thätigkeit innerhalb der gebührenden Schranken zu halten, und die Summe der hiefür erforderlichen öffentlichen Thätigkeit wird um so ge- ringer, je mehr die privaten Thätig- keiten sich selbst im erforderlichen Maasse einschränken. Während also im kriegerischen Ty- pus die Forderung gemeinschaftlicher Thätigkeit durchaus wesentlich erscheint, ist sie im industriellen Typus, soweit sie überhaupt hier noch besteht, vor- zugsweise äusserlich: sie wird nur her- vorgerufen durch jene Angriffsneigungen der menschlichen Natur, welche lange dauernde kriegerische Verhältnisse be- günstigt haben, und kann allmählich um so mehr verschwinden, je mehr die letz-. Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. teren unter dem Einfluss eines dauern- den friedlichen Lebens sich verlieren. In einer zu kriegerischer Thätigkeit organisirten Gesellschaft muss die In- dividualität jedes einzelnen Mitgliedes dergestalt in Bezug auf Leben, Freiheit und Eigenthum untergeordnet werden, dass es in bedeutendem Grade oder voll- ständig zum Eigenthum des Staates wird ; in einer industriell organisirten Ge- sellschaft dagegen zeigt sich kein Be- dürfniss für eine derartige Unterord- nung des Einzelnen. Es fehlt jede Ge- legenheit, welche die Anforderung an ihn stellen könnte, sein Leben auf's Spiel zu setzen, während er das Leben An- derer zerstört; er ist nicht gezwungen, seine Beschäftigung zu verlassen und sich den Befehlen eines Officiers zu unter- werfen, und es herrscht kein Bedürfniss, dass er für öffentliche Zwecke irgend etwas von seinem Eigenthum, das ihm abgefordert werden könnte, hinzugeben hätte. | Unter dem industriellen Regime muss die Individualität des Bürgers, statt von der Gesellschaft hingeopfert zu werden, von dieser vielmehr vertheidigt werden: die Vertheidigung seiner Individualität wird sogar zur wesentlichen Aufgabe der Gesellschaft. Dass in der That, nachdem der äussere Schutz nicht mehr gefordert wird, innerer Schutz zur Hauptfunction des Staates wird und dass eine erfolgreiche Ausübung dieser Function der hervor- stechende Zug des industriellen Typus sein muss, lässt sich leicht nachweisen. Denn es ist einleuchtend, dass unter sonst gleichen Verhältnissen eine Ge- sellschaft, in welcher Leben, Freiheit und Eigenthum gesichert und alle In- teressen gebührend berücksichtigt sind, besser gedeihen muss als eine, wo dies nicht der Fall ist, und in Folge dessen muss unter mit einander wetteifernden industriellen Gesellschaften eine allmäh- liche Verdrängung derjenigen, in wel- chen persönliche Rechte nur unvoll- kommen aufrechterhalten werden, durch Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. solche eintreten, in welchen dies voll- kommen durchgeführt ist. Durch Ueber- leben des Passendsten muss also ein socialer Typus zu stande kommen, in welchem der Staat nicht weiter in die für unantastbar erklärten individuellen Rechte und Ansprüche eingreift, als er- forderlich ist, um die Kosten ihrer Auf- rechterhaltung oder vielmehr der Recht- sprechung zwischen ihnen zu bestreiten. Denn wenn einmal die Angriffsneigungen, welche die kriegerischen Zeiten gepflegt hatten, ausgestorben sind, so beschränkt sich die gemeinsame Function darauf, jene mit einander in Widerspruch ge- rathenen Ansprüche zu schlichten, deren billige Regelung den betreffenden Per- sonen nicht selbstverständlich erschien. Mit dem Mangel eines Bedürfnisses jener gemeinsamen Thätigkeit, durch welche die Anstrengungen der ganzen Gesellschaft zu kriegerischen Zwecken ausgenutzt werden können, verbindet sich natürlich auch der Mangel des Be- dürfnisses eines despotischen, das Ganze controlirenden Agens. Ein solches Agens ist aber nicht blos überflüssig, es ist auch unmöglich geworden. Denn wenn es, wie wir ge- sehen haben, zu den wesentlichen Er- fordernissen des industriellen Typus ge- hört, dass der Individualität des Ein- zelnen uneingeschränkter Spielraum ge- lassen werde, soweit dies mit den ähn- lichen Ansprüchen der Uebrigen verein- bar ist, so wird dadurch die despotische Controle, die sich nothwendig gerade dahin ausprägt, dass sie die Indivi- dualität der Menschen auf mancherlei andere Weise einschränkt, natürlich aus- geschlossen. In der That erscheint ein autokratischer Herrscher durch seine blosse Gegenwart schon als Feind der Bürger; thatsächlich oder potentiell übt er eine Gewalt aus, die ihm nicht von ihnen übertragen wurde, und insofern jedenfalls beschränkt er ihren Willen mehr, als sie es durch gegenseitige Uebereinkunft gethan haben würden. 199 Die Controle, welche unter dem in- dustriellen Typus überhaupt noch nöthig ist, kann nur durch ein besonders dazu bestimmtes Agens ausgeübt werden, wel- ches den Willen der Gesammtheit fest- zustellen und auszuführen hat, und hie- für eignet sich am besten eine reprä- sentative Einrichtung. Wenn die Thätigkeiten Aller nicht ganz gleicher Art sind, was ja in einer entwickelten Gesellschaft mit ausgedehn- ter Theilung der Arbeit nicht möglich ist, so macht sich das Bedürfniss der Versöhnung widerstreitender Interessen geltend, und um nun eine billige Re- gelung dieser Verhältnisse zu sichern, muss jedes Einzelinteresse im stande sein, sich gebührend zum Ausdruck zu bringen. Man kann sich nun vorstel- len, dass das hiezu bestimmte Agens ein einzelnes Individuum sei. Aber ein Einzelner wäre niemals im stande, zwischen zahlreichen verschiedenartig beschäftigten Classen und zahlreichen Gruppen, die in den verschiedensten Oertlichkeiten wohnen, gerecht zu ent- scheiden, ohne eine Menge Zeugen ab- zuhören: es müssten also von jeder Partei Vertreter erscheinen, um ihre An- sprüche vorzubringen. Daher bleibt nur die Wahl zwischen zwei Systemen: nach dem einen müssten die Vertreter privat und vereinzelt ihren Fall einem Richter vortragen, von dessen Einzelurtheil die Entscheidungen abhängen würden; nach dem anderen hätte jeder dieser Ver- treter in Gegenwart aller andern seinen Fall zu erläutern und das Urtheil würde öffentlich durch allgemeinen Consensus bestimmt. Ohne nun hervorheben zu wollen, dass eine gerechte Ausgleichung der Classeninteressen viel eher durch diese letztere als durch die erstere Form der Vertretung erreicht werden kann, genügt es, zu bemerken, dass die letztere Form auch vollständiger mit der Natur des industriellen Typus übereinstimmt, da auf diese Weise die Individualität der Menschen im geringsten Grade 200 beeinträchtigt wird. Wenn die Bürger eines Staates für eine vorgeschriebene Zeit einen einzelnen Herrscher einsetzen, welcher die Majorität ihres Willens wäh- rend dieser Zeit durch den seinigen durchkreuzen kann, so haben sie ihre Individualität in grösserem Umfange dahingegeben, als wenn sie aus den localen Gruppen eine Anzahl von Re- gierenden abordnen, welche nun, indem sie unter öffentlicher Beobachtung und sich gegenseitig einschränkend, spre- chen und handeln, in der Regel auch den Willen der Majorität zum Ausdruck bringen. Nachdem das Gesammtleben der Ge- sellschaft nicht mehr in Gefahr schwebt und das der Regierung übrig bleibende Geschäft nur darin besteht, die Beding- ungen aufrecht zu erhalten, welche für die höchste Entwicklung des individuellen Lebens erforderlich sind, so erhebt sich vor allem die Frage: welches sind diese Bedingungen ? Im Vorhergehenden wurde schon an- gedeutet, dass sie einfach als Rechts- pflege bezeichnet werden können ; allein die Bedeutung dieses Ausdruckes im allgemein üblichen Sinne ist so schwan- kend, dass wir hier eine genauere Dar- stellung derselben geben müssen. Ge- rechtigkeit, wie wir sie hier verstehen, bedeutet also Erhaltung des normalen Zusammenhanges zwischen Thätigkeit und Erfolg — sie bedeutet, dass Jeder so viel Vortheil erlange, als seinen An- strengungen entspricht, nicht mehr und nicht weniger. Die Gerechtigkeit fordert, dass die einzelnen Individuen, da sie innerhalb der durch ihr gegenseitiges Vorhandensein ihnen auferlegten Schran- ken leben und wirken, sämmtlich auch die Folgen ihres Handelns auf sich neh- men. weder in höherem noch in ge- raus ist aber nicht der Schluss zu lass private und freiwillige Hilfe- ir den Untergeordneten damit aus- ı sei, sondern nur öffentliche und : Hilfe. Alle die Wirkungen, Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. ringerem Maasse, als ihnen zukommt. Der Ueberlegene soll den Vortheil seiner Ueberlegenheit, der Untergeordnete den Nachtheil seiner Untergeordnetheit tra- gen. Es wird also jeder öffentlichen Thätigkeit Einhalt gethan, welche irgend einem Menschen einen Theil der Vor- theile entzieht, die er sich erarbeitet hat, und sie anderen Menschen zukommen lässt, welche sie nicht verdient hahen. Dass der entwickelte industrielle Ge- sellschaftstypus jede Form der commu- nistischen Vertheilung ausschliesst, deren wesentlichster Zug darin besteht, dass sie das Leben der Guten und Bösen, der Faulen und Fleissigen möglichst gleich zu machen strebt, lässt sich leicht nachweisen. Denn wenn nach dem Auf- hören des kriegerischen Kampfes ums Dasein zwischen den einzelnen Gesell- schaften nur noch der industrielle Kampf ums Dasein besteht, so muss das schliess- liche Ueberleben und die Ausbreitung jenen Gesellschaften vorbehalten bleiben, welche die grösste Zahl der besten In- dividuen hervorbringen, d. h. solcher Individuen, welche am besten. dem Leben im industriellen Staate angepasst sind. Denken wir uns nun zwei im übrigen gleiche Gesellschaften, von denen aber die seine den Ueberlegenen gestattet, zu eigenem Nutzen und dem Nutzen ihrer Nachkommen den ganzen Ertrag ihrer Arbeit zu behalten, während die andere den Ueberlegenen einen Theil ihrer Er- trägnisse zum besten der Untergeord- neten und ihrer Nachkommen entzieht, so wird offenbar der Ueberlegene in der ersten besser gedeihen und sich rascher vermehren als in der zweiten. Es wird in der ersten eine grössere Anzahl von gut ausgestatteten Kindern aufgezogen und schliesslich wird sie also die zweite an Umfang weit überragen. * welche die Sympathie der Besseren für die Schlechteren von sich aus hervorbringt, sollen natürlich nicht beeinträchtigt werden und wer- den auch im ganzen von wohlthätigem Er- folge sein. Denn während die Besseren im Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Von einer andern Seite betrachtet ist dieses System, unter dessen Einfluss die Anstrengungen jedes Einzelnen we- der mehr noch weniger als eben ihren natürlichen Ertrag einbringen, das Sy- stem des Vertrages. Wir haben ge- sehen, dass das Regime des Status in jeder Hinsicht dem kriegerischen Typus eigenthümlich erscheint. Es ist die Be- gleiterscheinung jener abgestuften Unter- ordnung, durch welche die combinirte Thätigkeit einer kämpfenden Körper- schaft erreicht wird und welche diese kämpfende Gesellschaft im ganzen durch- dringen muss, um ihre gemeinsame Thä- tigkeit sicher zu stellen. Unter der Herrschaft dieses Regimes wird das natürliche Wechselverhältniss zwischen Arbeit und Ertrag durch die Autorität durchkreuzt. Wie in der Armee die Nahrung, Kleidung u. s. w. jedes Sol- daten nicht das unmittelbare Ergebniss der von ihm geleisteten Arbeit ist, son- dern ihm willkürlich zugetheilt wird, während man ihm willkürlich andere Pflichten auferlegt, so gebietet auch überhaupt in der ganzen kriegerischen Gesellschaft der Höherstehende die Ar- beit und vertheilt die Erträgnisse so, wie es ihm beliebt. Wenn aber mit der Abnahme des Militarismus und der Zu- nahme des Industrialismus die Macht und der Bereich der Autorität sich ein- schränken und die uncontrolirte Thätig- keit sich immer mehr ausbreitet, so wird das Vertragsverhältniss zur allge- meinen Regel und im vollentwickelten industriellen Typus herrscht dasselbe ganz allgemein. i Unter dem Einflusse dieses univer- salen Vertragsverhältnisses kommt dann, wenn es in billiger Weise gewahrt wird, jene Bemessung des Vortheils nach der darauf verwendeten Anstrengung zu stande, welche die Einrichtungen der Durchschnitt solche philanthropische An- strengungen gewöhnlich nicht soweit treiben werden, dass sie damit ihre eigene Ver- mehrung verhindern, so werden sie dies 201 industriellen Gesellschaft eben erreichen wollen. Wenn jeder Einzelne als Er- zeuger, Vertheiler, Verwalter, Berather, Lehrer oder Helfer irgend welcher Art von seinen Genossen eine solche Be- lohnung für seine Dienste erhält, als dem Werthe derselben, welcher durch die Nachfrage bestimmt wird, entspricht, so ergibt sich daraus jene genaue Ver- theilung der Belohnung je nach Ver- dienst, welche das Gedeihen der Ueber- legenen sichert. Nehmen wir noch einen anderen Standpunkt ein, so sehen wir, dass, wäh- rend öffentliche Controle im kriegerischen Typus sowohl positiv als negativ herrscht, dieselbe im industriellen Typus blos noch eine negative Bedeutung hat. Zum Sela- ven, zum Soldaten oder zu irgend einem anderen Gliede eines für den Krieg or- ganisirten Gemeinwesens sagt die herr- schende Autorität: »Du sollst dies thun; du sollst jenes nicht thun.« Zum Gliede der industriellen Gemeinschaft aber sagt die Autorität nur: »Du sollst jenes nicht thun.« Denn Menschen, welche ihre pri- vaten Thätigkeiten auf Grund des frei- willigen Zusammenwirkens ausführen und ebenso freiwillig thätig sind, um ein regierendes Agens zu schaffen und zu erhalten, werden natürlich auch letz- terem nur eine soweit gehende Befugniss verleihen, dass es ihren Einzelthätigkei- ten keine anderen Schranken aufzuerlegen vermag als solche, an deren Aufrecht- erhaltung sie alle ein Interesse haben — jene Schranken, welche unrechtmässige Uebergriffe verhindern. Lassen wir Ver- brecher jeder Art ausser Betracht (welche unter den angenommenen Verhältnissen, wenn nicht eine ganz verschwindende, so doch jedenfalls nur eine sehr kleine Anzahl betragen können), so wird jeder einzelne Bürger es wohl vermeiden, in doch soweit führen, dass das Unglück der Schlechteren gemildert wird, ohne deswegen ihre eigene Vermehrung zu ermöglichen. 202 das Thätigkeitsgebiet Anderer überzu- greifen, zugleich aber auch den Wunsch hegen, sein eigenes Thätigkeitsgebiet unbeeinträchtigt zu sehen und alle Vor- theile für sich zu behalten, welche er innerhalb desselben erlangen konnte. Derselbe Beweggrund, welcher sie Alle dazu antreibt, sich zur Unterstützung eines öffentlichen Beschützers jedes Ein- zelnen zu vereinigen, wird sie auch an- treiben, zu dem Zwecke zusammenzu- stehen, um jede Beeinträchtigung ihrer Individualitäten, welche über das zu diesem Zwecke erforderliche Maass hin- ausgehen würde, zu verhindern. Während nun also im kriegerischen Typus der regimentsmässigen Einricht- ung des Heeres eine centralisirte Ver- waltung der ganzen Gesellschaft ent- spricht, zeigt sich hier, dass im in- dustriellen Typus die Verwaltung nicht allein decentralisirt, sondern auch in ihrem Umfange bedeutend eingeschränkt wird. Fast alle öffentlichen Organi- sationen verschwinden nothwendiger- weise, mit einziger Ausnahme der die Rechtspflege besorgenden, da sie eben alle von der Art sind, dass sie den Bürger beeinträchtigen, entweder indem sie ihm bestimmte Handlungen befehlen oder indem sie ihm mehr von seinem Eigenthum entziehen, als zu seiner Be- schützung nothwendig war. Wer ge- zwungen ist, seine Kinder in diese oder jene Schule zu schicken oder direct oder indireet zum Unterhalt einer Staats- priesterschaft beizutragen ; wer Steuern zahlen muss, damit Gemeindebeamte öffentliche Wohlthätigkeit ausüben kön- nen; wer Beiträge zu liefern gezwungen ist, um solchen Leuten, die kein Geld für Bibliotheksbedürfnisse sparen, ihre Bücher gratis zu verschaffen; wer sein Geschäft nur unter der Oberaufsicht von Inspectoren führen darf; wer die Kosten von staatlichem Unterricht in Wissenschaft und Kunst, einer vom Staate geförderten Auswanderung u. s.w. tragen muss, dessen Individualität wird Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. stets dadurch beeinträchtigt, dass er ge- nöthigt ist, entweder zu thun, was er von sich aus nicht gethan hätte, oder Geld hinzugeben, das sonst seine pri- vaten Zwecke gefördert haben würde. Erzwungene Einrichtungen dieser Art, so sehr sie mit dem kriegerischen Ty- pus in Uebereinstimmung stehen, ver- tragen sich unmöglich mit dem in- dustriellen Typus. Hand in Hand mit dem verhältniss- mässig kleinen Umfange der öffentlichen Organisation geht beim industriellen Ty- pus ein verhältnissmässig weiter Um- fang privater Organisation : der von der einen offen gelassene Bereich wird von der anderen ausgefüllt. Verschiedene Einflüsse tragen dazu bei, diese Erscheinung hervorzubringen. Dieselben Motive, welche da, wo keine Unterordnung durch den Krieg noth- wendig gemacht wird, die Bürger ver- anlassen, sich zur Behauptung ihrer In- dividualität zu vereinigen, welche nur noch einer gegenseitigen Beschränkung unterworfen ist, führen auch dazu, sie zum Widerstande gegen jede Beein- trächtigung ihrer Freiheit aufzurufen und private Combinationen zu bilden, welche keine Angriffstendenz in sich schliessen. Ueberdies wird das Princip des freiwilligen Zusammenwirkens, wel- ches mit dem Austausch von Gütern ° und Dienstleistungen nach bestimmter Uebereinkunft zwischen Einzelnen be- ginnt, blos in grösserem Maassstabe durch solche engergeschlossene Körper- schaften von Individuen ausgestaltet, die mit einander sich verbinden, um gemeinsam dieses oder jenes Geschäft, diese oder jene Function durchzuführen. Und ebenso findet sich eine vollständige Uebereinstimmung zwischen der Reprä- sentativverfassung solcher privater Com- binationen und derjenigen der öffent- lichen Combinationen, welche, wie wir früher sahen, dem industriellen Typus angemessen ist. Dasselbe Gesetz der Organisation beherrscht die Gesellschaft Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. im allgemeinen natürlich ebenso wie im besonderen. Ein unvermeidlicher Zug des industriellen Typus ist denn also die Mannichfaltigkeit und Ungleich- artigkeit der religiösen, commerciellen, philanthropischen und socialen Ver- einigungen aller möglichen Berufsarten in allen Grössen. Hiezu kommen noch zwei indirect hervorgerufene Charakterzüge des in- dustriellen Typus. Der erste derselben ist seine verhältnissmässige Biegsam- keit. So lange gemeinsame Thätigkeit zur nationalen Selbsterhaltung nothwendig ist — so lange, um combinirte Abwehr oder Angriffe zu bewirken, jene abge- stufte Unterordnung aufrechterhalten wird, die alle Untergebenen ebenso fesselt, wie der Soldat an den Officier gebunden ist — so lange jenes Ver- hältniss des Status herrscht, welches die Menschen in den Stellungen zu fixiren strebt, in denen sie jeweils ge- boren sind — so lange ist auch eine verhältnissmässige Starrheit der socialen Organisation gesichert. Mit dem Auf- hören dieser Bedürfnisse aber, welche den kriegerischen Typus des socialen Baues veranlassten und erhielten, und mit der Einsetzung des Vertrages als des universellen Verhältnisses, unter dessen Einfluss die Leistungen zum gegenseitigen Vortheil combinirt wer- den, verliert auch die sociale Organi- sation ihr starres Gefüge. Der Ort und die Beschäftigung des Menschen werden nicht mehr durch das Princip der Ver- erbung, sondern durch das Princip der Leistungsfähigkeit bestimmt, und man- cherlei Veränderungen des Baues er- folgen, sobald die Menschen, nicht mehr an vorgeschriebene Functionen gebun- den, nur diejenigen Aufgaben über- | nehmen, für die sie sich selbst am besten geeignet erwiesen haben. Indem er leicht jede Aenderung in seiner inneren Einrichtung gestattet, kennzeichnet sich also der industrielle Typus der Gesell- 203 schaft dadurch, dass er sich ohne Schwierigkeit den neuen Erfordernissen anpasst. Das andere beiläufige Ergebniss, das noch zu erwähnen war, ist eine Tendenz nach dem Aufgeben der wirthschaft- lichen Selbständigkeit. So lange feindselige Beziehungen zu den benachbarten Gesellschaften fort- dauern, muss jede einzelne Gesellschaft hinsichtlich ihrer Production sich selbst genügen; mit der Herstellung friedlicher Beziehungen aber hört dieses Bedürf- niss nach Selbstgenügendheit auf. Eben- so wie die kleineren Abtheilungen, welche eine unserer grossen Nationen zusammen- setzen, während jener Zeiten, wo sie noch beständig mit einander in Fehde lagen, eine jede für sich selbst fast alles, was sie brauchten, hervorzubringen hatten, jetzt aber, wo sie in dauerndem Frieden mit einander leben, soweit von einander abhängig geworden sind, dass keine ihre eigenen Bedürfnisse ohne Beiträge von den andern zu befrie- digen vermöchte, so werden auch die grossen Nationen selbst, die gegenwärtig noch in bedeutendem Umfange gezwun- gen sind, ihre wirthschaftliche Selb- ständigkeit zu wahren, viel weniger hie- zu gezwungen sein, wenn einmal die Kriege abnehmen, und damit werden sie einander zugleich immer unentbehr- licher werden. Während auf der einen Seite die besonderen Vorzüge, welche jede einzelne hinsichtlich bestimmter Productionsarten besitzt, den gegen- seitigen Austausch ihrer Producte vor- theilhaft machen, werden anderseits die Bürger jeder Nation unter demselben Regime gar nicht mehr jene Einschränk- ungen ihrer Individualität dulden, wie sie durch Handelsverbote bedingt sind. Mit der Ausbreitung des industriellen Typus also erhebt sich das Streben nach Niederreissung der Schranken zwischen den Nationalitäten und nach der Aus- breitung einer gemeinsamen Organisation | durch alle hindurch, wenn auch nicht 204 unter einer einzigen Regierung, so doch unter einer Bundesgenossenschaft von Regierungen. Wenn dies die Verfassung des in- dustriellen Gesellschaftstypus ist, welche sich aus seinen Erfordernissen erschlies- sen lässt, so haben wir nun zunächst zu untersuchen, welche Zeugnisse uns die Gesellschaften thatsächlich dafür liefern, dass die Annäherung an diese Verfassung den Fortschritt des Industrialismus be- gleitet. Weil aber während der Aus- breitung der Menschen auf der Erde der Kampf ums Dasein zwischen den einzelnen Gesellschaften von kleinen Horden an bis hinauf zu grossen Na- tionen fast überall geherrscht hat, so dürfen wir, wie schon früher hervor- gehoben wurde, nicht etwa erwarten, ohne weiteres Beispiele des socialen Ty- pus zu finden, welche eine Anpassung an ein ausschliesslich industrielles Le- ben zeigten. Die Urkunden des Alter- thums stimmen mit den Zeitungen vom heutigen Tage darin überein, dass sie sämmtlich beweisen, wie bisher noch keine einzige civilisirte oder halbeivili- sirte Nation in solche Umstände gera- then ist, die alle socialen Einrichtungen zur Abwehr von Angriffen überflüssig gemacht hätten; und die Berichte der Reisenden aus allen Ländern bringen immer neue Zeugnisse dafür herbei, dass fast überall auch bei den unecivi- lisirtenVölkern Feindseligkeiten zwischen den einzelnen Stämmen eine chronische Erscheinung sind. Immerhin jedoch gibt es einige wenige Beispiele, welche mit - leidlicher Deutlichkeit die Umrisse des industriellen Typus in seiner rudimen- tären Form erkennen lassen — in der Form, welche er da annimmt, wo die Cultur nur erst geringe Fortschritte ge- macht hat. Wir wollen erst diese Fälle in's Auge fassen und dann erst dazu übergehen, die den industriellen Ty- pus kennzeichnenden Züge herauszu- suchen, welche etwa bei grossen Na- tionen vorkommen, die sich einer vor- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. wiegend industriellen Thätigkeit zuge- wendet haben. Auf den indischen Bergen leben meh- rere Stämme, welche verschiedenen Ra- cen angehören, allein in ihrer theilweise nomadischen Lebensweise einander glei- chen. Indem sie meistens Landbau trei- ben, befolgen sie fast alle die Praxis, einen Fleck Landes so lange zu be- bauen, als er durchschnittlich gute Er- träge gibt, sobald er aber erschöpft ist, anderswohin zu ziehen und dort dasselbe zu wiederholen. Sie sind vor erobernden Völkern auf die Berge ge- flohen und haben bald hier, bald dort Gegenden gefunden, wo sie im stande waren, ihre friedlichen Beschäftigungen unbelästigt fortzuführen; allerdings be- ruht in manchen Fällen das Ausbleiben dieser Belästigung auch nur auf ihrem Vermögen, in einer mit Malaria ge- schwängerten Atmosphäre zu leben, wel- che den arischen Racen verderblich wird. Ich habe schon öfter in verschiedenen Capiteln auf die Bodo und die Dhimäls verwiesen, jene durchaus unkriegerischen Völker, welche nur nominelle Anführer besitzen, weder Sclaverei noch sonstige sociale Abstufungen kennen und deren Glieder sich gegenseitig bei schwieri- gen Unternehmungen Beistand leisten; auf die Todas, die ein ruhiges Leben führen und ‚aller der Vereinigungsbande „entbehren, welche die Menschen im „allgemeinen im Hinblick auf drohende „Gefahren zu knüpfen veranlasst sind‘, und die ihre Streitigkeiten durch ein Schiedsgericht oder durch einen Rath von Fünfen schlichten; auf die Misch- mies als auf unkriegerische Leute, die gleichfalls nur nominelle Häuptlinge kennen und in öffentlicher Versamm- lung Recht sprechen; und daran schloss sich das Beispiel eines Volkes aus weit entfernter Gegend und von ganz an- derer Race: der alten Pueblos von Nordamerika nämlich, welche sich in ihren umwallten Dörfern schützten und nur kämpften, wenn sie angegriffen wur- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. den, und welche gleichfalls mit ihrem gewohnten industriellen Leben eine freie Regierungsform verbanden: ‚der Gouver- „neur und sein Rath wurden alljährlich „durch das Volk erwählt‘‘. Hier möchte ich nun noch einige verwandte Beispiele anführen. Wie es in dem Berichte der indischen Regierung für die Jahre 1869— 70 heisst, sind ‚‚die » weissen „Karenen« von milder und friedlicher „Anlage; . . ihre Häuptlinge „werden als Patriarchen verehrt, die „wenig mehr als nominelle Autorität „besitzen“; oder wie Lieutenant Mc MAHon von ihnen erzählt: ‚Sie ken- „nen weder Gesetze noch eine herr- „schende Autorität.‘ Ein ferneres Bei- spiel sind die „entzückenden‘ Lepchas — nicht arbeitsam (industriös), aber doch industriell in dem Sinne, dass ihre socialen Beziehungen dem nicht- kriegerischen Typus angehören. Ob- gleich ich nichts Genaueres über das System angegeben finde, unter welchem sie in ihren für kurze Zeit gebauten Dörfern leben, so lassen doch die von ihnen berichteten Thatsachen hinläng- lich den zwanglosen Charakter desselben erkennen. Sie haben keine Kasten; „Familien- und Staatsstreitigkeiten sind „beide gleichermaassen unerhört bei „ihnen“. ‚Sie sind dem Kriegsdienste „abgeneigt‘‘, ziehen die Flucht in die Dschungeln und das Leben von roher Nahrung ‚dem Erdulden irgend welcher „Ungerechtigkeit oder harten Behand- „lung“ vor — lauter Züge, welche dem gewöhnlichen staatlichen Zwange zu- widerlaufen. Betrachten wir sodann die „ruhigen, harmlosen“ Santals, welche, obgleich sie im Nothfalle mit blinder Tapferkeit kämpfen, um einen Angriff abzuwehren, doch dem Wesen nach un- kriegerisch sind. Diese Leute ‚sind „fleissige Ackerbauer und freuen sich „ihres Daseins, ohne durch die Kaste „gefesselt zu sein“. Obgleich, da sie tributpflichtig geworden sind, in jedem Dorfe gewöhnlich ein von der indischen 205 Regierung eingesetztes Oberhaupt be- steht, welches für den Tribut u. s. w. verantwortlich ist, so bleibt deswegen doch die Natur ihrer hergebrachten Ein- richtungen noch deutlich genug erkenn- bar: während sie einen Patriarchen ha- ben, der hoch verehrt ist, aber nur selten seinen Einfluss ausüben muss, „besitzt jedes einzelne Dorf seinen Ge- „meindeplatz ..... wo sich der Aus- „schuss versammelt und die Angelegen- „heiten des Dorfes und seiner Bewoh- „ner beräth. Alle kleineren Misshellig- „keiten sowohl bürgerlicher als crimi- „neller Natur werden dort erledigt“. Das Wenige, was wir von den in den Schervaroy-Bergen lebenden Stämmen hören, weist uns, soviel wir daraus entnehmen können, auf dasselbe Er- gebniss hin. In seiner allgemeinen Schil- derung derselben sagt SHORTT, sie seien „im wesentlichen ein furchtsames und „harmloses Volk, vorzugsweise den Be- „schäftigungen des Hirten und Acker- „bauers sich widmend‘; und indem er eine Abtheilung desselben näher be- schreibt, fügt er hinzu: ‚sie führen ein „friedfertiges Leben unter einander und „alle Streitigkeiten, welche etwa auf- „treten,werden gewöhnlich durch Schieds- „gerichte beigelegt“. Um ferner zu zei- gen, dass diese socialen Eigenthümlich- keiten nicht irgend einer bestimmten Menschenvarietät zukommen, sondern vielmehr von den Verhältnissen abhän- gen, sei an die schon früher erwähnten papuanischen Arafuras erinnert, welche ohne jede Rangabstufungen oder erb- liche Häuptlingswürde ein harmonisches Leben führen, das nur durch die Ent- scheidungen ihrer versammelten Aelte- sten controlirt wird. In allen diesen Fällen können wir deutlich erkennen, dass die oben angedeuteten Charakter- züge solchen Gesellschaften zukommen, welche nicht durch Kriege zu gemein- samer Thätigkeit genöthigt sind. Da eine kräftige centralisirte Controle nicht erforderlich ist, so wird die überhaupt 206 vorhandene Herrschergewalt durch einen ohne besondere Förmlichkeiten gewähl- ten Rath ausgeübt — durch eine rohe Form der repräsentativen Regierung; Classenunterschiede sind nicht vorhan- den oder nur leise angedeutet — das Verhältniss des Status fehlt also; aller Verkehr, der zwischen den Einzel- nen vorkommt, beruht auf gegenseitiger Uebereinstimmung und die Aufgaben, welche dem regierenden Körper noch übrig bleiben, sind im wesentlichen auf den Schutz des Privatlebens beschränkt, indem er alle etwa auftauchenden Strei- tigkeiten zu schlichten und für die ge- ringen Widersetzlichkeiten, die etwa vorkommen, milde Strafen aufzuerlegen hat. Ganz andere Schwierigkeiten zeigen sich uns, wenn wir zu civilisirten Ge- sellschaften übergehen und bei ihnen die Charakterzüge des industriellen Ty- pus aufsuchen. Alle haben sich ja unter dem Einflusse von Kriegen consolidirt und organisirt, die sie fast beständig in den früheren Zeiten ihrer Existenz führen mussten und die meistens auch noch bis in verhältnissmässig neuere Zeiten fortgedauert haben; da sich aber gleich- zeitig in ihrem Schoosse bestimmte Or- ganisationen zur Hervorbringung und Vertheilung von Lebensbedürfnissen ent- wickelten, welche nach und nach in Gegensatz zu jenen für die kriegerischen Thätigkeiten geeigneten Einrichtungen traten, so bieten sich nun diese beiden Formen überall so durcheinanderge- mischt dar, dass eine klare Scheidung derselben, wie schon im Anfang er- wähnt wurde, beinah unmöglich erscheint. Weil jedoch das zwangsweise Zusammen- wirken, das organisirende Prineip des kriegerischen Typus, so grundsätzlich verschieden ist von dem freiwilligen Zu- sammenwirken, dem organisirenden Prin- cip des industriellen Typus, so können wir vielleicht, indem wir die allmäh- liche Abnahme der aus dem ersteren hervorgewachsenen Einrichtungen beob- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. achten, implieite auch das allmähliche Auftreten der dem letzteren angemesse- nen Verhältnisse erkennen. Wenn wir also von den frühesten Zuständen der civilisirten Nationen, in welchen der Krieg das Hauptgeschäft des Lebens war, zu späteren Zuständen übergehen, wo die Feindseligkeiten nur noch gelegentlich herrschten, so gehen wir gleichzeitig zu Zuständen über, wo die Beherrschung des Individuums durch seine Gesellschaft nicht mehr so anhaltend und unerbitt- lich erzwungen wird, wo die Unterwerf- ung der einen Rangstufe unter die an- dere gemildert erscheint, wo die staat- liche Herrschaft nicht mehr rein auto- kratisch ist, wo die Regelung des Le- bens der Bürger dem Umfange und der Strenge nach verringert ist, während der Schutz derselben ein grösserer wurde: und in alledem können wir dann zu- gleich auch die Charakterzüge des sich entwickelnden industriellen Typus her- ausfinden. Eine Vergleichung verschie- dener Zeiten enthüllt uns Resultate, wel- che sämmtlich zur Bestätigung dieser Wahrheit beitragen. Nehmen wir zunächst den Gegen- satz zwischen den frühesten Zuständen der civilisirten europäischenVölkerim all- gemeinen und ihrer späteren Verfassung. Wenn wir dabei von der Auflösung des römischen Reiches ausgehen, so finden wir zuerst viele Jahrhunderte hindurch, während deren harte Kämpfe in end- losem Wechsel zu Staatenbildungen, zu Auflösungen und Neubildungen führten, dass alle Kräfte, die nicht unmittelbar dem Kriege gewidmet wurden, doch zu wenig anderem verwendbar blieben als dazu, die Organisationen, auf welche die Kriegführenden sich stützten, zu unterhalten: der arbeitende Theil jedes Gemeinwesens existirte nicht um seiner selbst willen, sondern nur zu gunsten des kämpfenden Theils. So lange der Militarismus so vorherrschend und der Industrialismus noch so gänzlich un- entwickelt war, zeigte sich die Herr- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. schaft der überlegenen Kraft, welche fortwährend in der Unterjochung der einen Gesellschaft durch die andere zum Ausdruck kam, ebensosehr auch inner- halb jeder einzelnen Gesellschaft. Von den Sclaven und Leibeigenen an durch die Lehnsleute verschiedener Abstufun- gen bis hinauf zu Herzögen und Kö- nigen herrschte eine erzwungene Unter- ordnung, welche die Individualität Aller im höchsten Maasse beschränkte. Zu derselben Zeit aber, wo die herrschende Macht innerhalb jeder Gruppe die per- sönlichen Rechte ihrer Glieder vollstän- dig aufopferte, um Angriff und Abwehr nach aussen durchführen zu können, wurde zugleich die Aufgabe, ihre eige- nen Glieder gegen einander zu ver- theidigen, nur in geringem Grade er- füllt: es blieb ihnen selbst überlassen, sich zu vertheidigen. Wenn wir dann mit diesen Verhältnissen der europäischen Gesellschaften im Mittelalter ihre Lage in den neueren Zeiten vergleichen, so erkennen wir die folgenden wesentlichen Unterschiede. Zunächst haben mit der Bildung von Nationen, welche weite Gebiete bedecken, die fortwährenden Kriege innerhalb jedes solchen Gebietes aufgehört, und obgleich die von Zeit zu Zeit entbrennenden Kriege nun einen viel grösseren Umfang annehmen, so sind sie doch weniger häufig und bilden nicht mehr die Lebensaufgabe aller freien Männer. Zweitens ist in jedem Lande eine verhältnissmässig grosse Be- völkerung entstanden, welche Produc- tion und Vertheilung zu ihrem eigenen Nutzen ausführt, so dass, während in alten Zeiten der arbeitende Theil nur zu gunsten des kämpfenden Theils über- haupt existirte, der letztere nun vor- zugsweise zu gunsten des arbeitenden Theiles noch besteht — ausdrücklich zu dem Zwecke existirt, um den letz- teren bei der ruhigen Verfolgung seiner Zwecke zu schützen. Drittens ist das System des Status nicht blos unter verschiedenen Formen ganz verschwun- 207 den und unter anderen bedeutend ge- mildert worden, sondern es wurde auch fast allgemein durch das System des Vertrages verdrängt. Nur unter Sol- chen, die nach eigener Wahl oder durch Aushebung der kriegerischen Organi- sation einverleibt werden, gilt dieses System des Status in seiner ursprüng- lichen Strenge noch so lange, als sie in dieser Organisation verbleiben. Vier- tens haben mit dieser Abnahme des zwangsweisen und der Zunahme des frei- willigen Zusammenwirkens auch manch- erlei geringere Einschränkungen der in- dividuellen Thätigkeiten sich vermindert oder ganz aufgehört. Die Menschen sind viel weniger an ihren Ort gebun- den als früher; sie sind nicht genöthigt, eine bestimmte religiöse Ueberzeugung zu bekennen; sie werden kaum mehr verhindert, ihre politischen Ansichten auszusprechen; ihre Kleider und Lebens- weise werden ihnen nicht mehr vorge- schrieben und verhältnissmässig geringe Schranken werden dem Bestreben auf- erlegt, private Combinationen zu bilden und Versammlungen für diesen oder jenen politischen, religiösen oder so- cialen Zweck abzuhalten. Fünftens wird der einzelne Bürger viel weniger von den öffentlichen Werkzeugen an- gegriffen, um so mehr dagegen durch diese öffentlichen Werkzeuge gegen an- dere Angriffe geschützt. Statt eines Regimes, unter welchem die Einzelnen ihre privaten Misshelligkeiten durch rohe Gewalt, so gut sie konnten, erledigten oder den allgemeinen oder localen Herrscher bestachen, um seine Gewalt zu ihren gunsten verwendbar zu machen, ist nun ein Regime ausgebildet, unter welchem nicht blos viel weniger Selbst- schutz nöthig ist, sondern auch die Hauptaufgabe der herrschenden Macht und ihrer Agentien gerade darin be- steht, für Gerechtigkeit zu sorgen. In jeder Weise also erkennen wir, dass mit dieser relativen Abnahme des Mi- litarismus und relativen Zunahme des 208 Industrialismus auch ein Uebergang von einer socialen Ordnung, in welcher die Individuen nur zum Vortheil des Staates existirten, zu einer socialen Ordnung Kleinere Mittheilungen und Journalschau. stattgefunden hat, in welcher der Staat zum Nutzen der Individuen existirt. (Schluss folgt.) Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Beobachtungen an den Kometen des Jahres 1891. Als Ergänzung zu den im neunten Bande dieser Zeitschrift (S. 336 und 382) mitgetheilten Beobachtungen und Schlüssen, zu denen die zahlreichen Ko- metenerscheinungen des letzten Jahres Veranlassung gegeben haben, wollen wir aus der grossen Masse derselben nur noch einige früher nicht erwähnte Ein- zelnheiten nachtragen, sofern sie einige Schlüsse über die Natur und Rolle dieser Weltkörper in unserm Welt-System er- lauben. An den Kometen bundc 1881 hat H. C. VoGEL auf dem astrophysika- lischen Observatorium in Potsdam eine Beobachtungsreihe angestellt, die ergab, dass ihr Spektrum von dem des reinen Kohlenwasserstoffes etwas abwich, und mehr einem durch Kohlenoxyd modifi- cirten Kohlenwasserstoff-Spektrum ent- sprach. (Astronomische Nachrichten Nr. 2395.) Wir würden also darnach die Ansicht aufgeben müssen, dass die Kometen aus reinem Leuchtgase oder Petroleum bestehen können, da sich die Gegenwart von Sauerstoff verräth, wie ja auch schon an obenerwähnter Stelle bemerkt wurde, dass THoLLon eine grosse Aehnlichkeit des Kometenspek- trums mit dem einer Alkoholflamme, also eines Kohlenhydrats konstatirt zu haben glaubt. In einem der Pariser Akademie vor- gelegten Berichte (Comptes rendus T. XCII. p. 439) hat Respıicur hervorge- hoben, dass es noch gar nicht ausge- macht sei, ob der Kometenkern neben dem zurückgeworfenen Sonnenlichte auch ein eigenes Glühlicht ausstrahle, viel- mehr könne unter der Annahme, dass dieser Kern mit einer dampfförmigen Hülle umgeben sei, das Bandenspektrum auch durch theilweise Absorption des in diese Kometenatmosphäre tiefer ein- gedrungenen Sonnenlichtes hervorge- bracht werden, während das zugleich sichtbare continuirliche Spektrum von der einfachen Reflexion des Sonnenlichtes durch die äussersten Schichten dieser Atmosphäre herrühre. Das Vorhanden- sein einer solchen absorbirenden Atmo- sphäre um den Kern ist kaum zweifel- haft, und an dem Kern des grossen Kometen b 1881 haben Taury und W. Meyer in Genf” konstatiren kön- nen, dass sein Umriss ein durchaus un- bestimmter war, und keine starken Ver- grösserungen vertrug, ja dass seine scheinbare Gestalt von der eines Kreises in die einer Ellipse hin und her schwankte. Einen wirklichen flüssigen oder festen Kern könne man also erst innerhalb die- ser stark absorbirenden Dampfhülle ver- muthen. Von dem scheinbaren Kerne gingen nun, als der Komet in die Son- nennähe kam, auf der der Sonne zu- gewendeten Seite, deutliche leuchtende Strahlenbündel aus, die sich an ihren Enden zurückkrümmten, und dadurch * Archives des sciences physiques et naturelles Aöut 1881. Kleinere Mittheilungen und Journalschan. mehr oder weniger excentrische Hüllen um den Kern bildeten. Die äusserste dieser Hüllen, welche an der von der Sonne abgewendeten Seite ausserordent- lich excentrisch war, öffnete sich dort, fern vom Kerne und bildete den Schweif. Man hatte also ungefähr den Eindruck, als ob die Sonnenhitze eine ungeheure Verdampfung an der Oberfläche des Kernes hervorrief, wobei mehrere leuch- tende Dampfsäulen strahlenförmig aus dem Kerne hervorbrachen, und sich dann gleichsam von der Sonne abge- stossen, um den Kern zurückbogen, wobei sie übereinander liegende Schich- ten bildeten, als seien die erzeugten Dämpfe von . verschiedenem Gewichte. Dabei schienen die Krümmungen dieser Hüllenschichten stärker auf der linken oder östlichen Seite und erweckten da- durch die Vermuthung einer rotirenden Bewegung des Kernes. Wenn es sich hier um eine wirkliche Verdampfung handelte, müsste der Kern natürlich an Grösse abnehmen, und in der That hatten die amerikanischen Beobachtun- gen dem Kometen D einen viel grösse- ren Kern zugeschrieben, als er bei uns in seinem Perihel zeigte, indessen konn- ten die erwähnten Beobachter keine weitere Abnahme des Kernes nachwei- sen, sondern nur unregelmässige Schwan- kungen konstatiren, auch ist es nach dem Obigen nicht einmal wahrschein- lich, dass wir den Kern selbst sehen würden, falls ein solcher oder mehrere derselben von fester oder flüssiger Ge- stalt vorhanden wären. W. Meyer theilt bei dieser Gelegen- heit einen ausführlichen Brief von SchiA- PARELLI mit, in welchem die kosmische Stellung der Kometen besprochen und _ die Vermuthung ausgedrückt wird, dass die Kometen im Sternsystem der Milch- strasse eine ähnliche Rolle spielen dürf- ten, wie die Meteoriten im Sonnensystem. Sie zeigen, wenn sie in unser spezielles System eintreten, eine der Bewegung der Sonne im Himmelsraum gleich ge- Kosmos, V, Jahrgang (Bd. X). 209 richtete Bewegung, wie manche Fix- sterne, z. B. die des grossen Bären eine untereinander gleichartige Bewegungs- richtung zeigen. Solche Gleichartig- keiten der Bewegung deuten nach der Nebulartheorie darauf hin, ‘ dass die betreffenden Weltkörper einem gemein- samen rotirenden Nebel ihren Ursprung danken, sei es dem gewaltigen Nebel, aus dem sieh die Sterne des Milch- strassensystems geballt haben, oder ei- nem kleineren Compartimente desselben. Sind nun die Kometen gleich den Me- teoriten Rückstände der Ballung aus einer gleichartig bewegten Nebelmasse, so wird man sich um so weniger wun- dern dürfen, zwei oder mehrere der- selben die’ gleiche Bahn wandeln zu se- hen. Solchen denselben Weg zur Sonne folgenden Kometen werde man dann meist auch im Besondern denselben Ur- sprung zuschreiben müssen, sei es, dass man sie entstanden denkt durch die Theilung eines und desselben inter- stellaren Nebels in mehrere Stücke, oder eines schon gebildeten Kometen, aber oft wird es schwer sein, sie von ein- ander zu unterscheiden, wie es bei dem orösseren Kometen dieses Jahres der Fall war, "dessen Identität mit einem früher bekannten vermuthet wurde. Man sieht, diese Ansichten SCHIAPARELLI’S laufen auf ähnliche Vorstellungen hin- aus, wie die kürzlich von Dr. Hour- TSCHEK in unserm Journale erörterten. Wie sehr aber die Kometen noch die Objekte luftiger Spekulationen sind, beweist unter andern auch die Kometen- Theorie eines berühmten Chemikers, des Professor BAEYER in München, der in seiner vor wenigen Jahren (1878) ge- haltenen Rede »über die chemische Syn- these« sich mit der Frage beschäftigt hat, woher die Kohlenwasserstoffe stam- men könnten, aus denen die Kometen bestehen sollen. »Hat der Wasserstofl«, sagt BARYER, »sich einmal mit der Kohle verbunden, so klammert er sich mit äusserster Kraft daran, und ist bei der 14 210 Fäulniss oder in der Hitze sogar im Stande, ein einzelnes Kohlenstoff-Atom aus seiner festen Verbindung heraus- zureissen ...... Das Grubengas wird in der Atmosphäre wegen seiner grossen Beständigkeit nicht zersetzt, wenn es nicht mit dem Blitz oder einem irdi- schen Feuer zusammentrift. Wo es bleibt, weiss man nicht, da es in der Luft nicht nachweisbar ist, jedoch ge- stattet die neuere Gastheorie zu ver- muthen, dass das dem Schlamme der Sümpfe und der Kloaken entsteigende Gas einer höhern Bestimmung entgegen- geht und, wie weiland das Haar der Berenice als ein glänzendes Gestirn an den Himmel versetzt wird. Die mitt- lere molekulare Geschwindigkeit des- selben beträgt nämlich bei 0° in der Sekunde 600 Meter, gelangt nun ein Theilchen an die Grenze der Atmosphäre, so ist seine Geschwindigkeit trotz der niederen Temperatur des Weltraums doch vielleicht noch ausreichend, um aus der Sphäre der Anziehungskraft un- serer Erde zu entschwinden. Da nun die Kometen nach den Ergebnissen der Spektralanalyse möglicherweise aus Koh- lenwasserstoffen bestehen, so ist es nicht unmöglich, dass wir in diesen wunder- baren Bewohnern des Himmels unsere verlornen Erdenkinder zu suchen haben«. Verkieselte Blüthenstände aus der Stein- kohlenzeit. Die ausgezeichnete Erhaltung ver- kieselter Pflanzenreste der Steinkohlen- zeit von Autun, St. Etienne und andern französischen Fundstätten, welche in neuerer Zeit von Granp’Eury, B. Rr- nAuULT und andern Naturforschern un- tersucht worden sind, hat uns genauer, als dies bisher geschehen war, mit dem Bau von Stamm, Blättern, Blüthen und Früchten bekannt gemacht, über deren Stellung im System man bisher ziem- lich zweifelhaft war, und die man so- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. gar bereits nach ihren Samen den Me- taspermen zugetheilt hatte. Die ge- näuere hier ermöglichte Prüfung ergiebt, dass sie entschieden den Ursamenpflan- zen (Archispermae) zuzurechnen sind, und meist den Cycadeen angehören. Einem ausführlichen Referate, welches Prof. Wrıss über die neueren Veröffent- lichungen Renauur’s im Neuen Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und Palä- ontologie (Jahrgang 1881, Bd. II. S. 293—297) gegeben hat, entnehmen wir die nachfolgenden Einzelheiten und Abbildungen. Sie beziehen sich auf die Cordaianthus Penjoni REn. Gattung Cordaianthus, von welcher Rr- NAULT die männlichen Blüthenstände dreier Arten beschrieben hat, nämlich von C. Penjoni Ren., (©. subglomeratus Grannd’Eury und Saportanus Ren. Ihre Blüthen sind höchst einfach und be- stehen nur aus einigen Staubgefässen, welche in Gruppen zu 2 oder 3 oder auch isolirt mitten zwischen sterile Brak- teen gestellt sind. Jedes Staubgefäss wird von einem Staubfaden (a) ähnlich wie eine Braktee gebildet, getragen; an seiner Spitze sitzen drei bis vier Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Antheren (b), die an der Basis ver- wachsen sind. Das abgebildete Exemplar von Cor- daianthus Penjoni ist etwa 1 cm lang und besitzt die meisten Blüthen. Auch lose Pollenkörner kommen bisweilen massenhaft vor. Von weiblichen Blüthenständen be- schreibt Renauut 4 Arten, als ©. Wil- liamsonü Ren., C. Grand’ Euryi Ben., C. -Lakatii Ren. und (C. Zeilleri Rex., fünf andere waren von Gran EurY benannt worden. Jene sind junge Aeh- ren, welche in diesem Zustande den männlichen ausserordentlichähnlich sind. Die Blüthen stehen einzeln zwischen den Brakteen auf sehr kurzen seitlichen Stiel- chen, von einigen Brakteen (c) umge- ben, und bilden eine von einem Inte- gument (d) eingeschlossene Samenknospe (a). Bei seinem Cordaianthus Grand’ Euryi befinden sich im Kanal der Mi- cropyle sowohl als im Innern Pollen- körner von der Art der isolirt gefun- denen; die Blüthe ist also im Zustande % N 0177 WDR: 0] m Y Cordaianthus Grand’ Euryi RENAULT. Einzelblüthe in Befruchtung begriffen. der Bestäubung verkieselt, und wir können hier einen Befruchtungsprozess | 211 aus der Steinkohlenzeit beobachten! (Fig. 2.) Prof. Wrıss macht hierbei darauf aufmerksam, dass bereits GOLDENBERG die Blattwinkelstellung der zusammen- gesetzten Aehren erkannt hatte. Eine eingehende Diskussion der Organisation der Cordaiten führt Rexaunt zu dem Schlusse, dass die Cordaiten gänzlich den Cycadeen unterzuordnen seien, und dass sie trotz beträchtlicher Differenzen namentlich in den Inflorescenzen nur eine besondere Familie der Öycadeen darstellen, wie man dies freilich längst angenommen hatte. In einem Schlussworte erklärt sich der Verfasser gegen die Auffassung der Steinkohlenpflanzen als Urtypen späte- rer Pflanzen; er will keinen Zusammen- hang zwischen Lepidodendron und Si- gillaria nebst den Nadelhölzern aner- kennen u. s. w. Prof. Weıss macht in- dessen mit Recht darauf aufmerksam, wie wenig solche einseitigen Schlüsse be- deuten wollen, auch muss REnAuLT selbst zugeben, dass Sigillariopsis zwi- schen Sigillaria und den Cordaiten ver- mittle, und dass Poa-Cordaites, eine Gattung mit viel schmäleren Blättern als die echten Cordaiten, eine den Taxi- neen entsprechende Holzbildung zeige, so dass da wieder eine Verknüpfung zwischen Cycadeen und Coniferen vor- liegt. Es treten gewiss bei der man- gelhaften Erhaltung widersprechende Einzelheiten hervor, aber sie können kaum die aus den Gesammtverhältnissen gezogenen Schlüsse erschüttern. Noch einmal die ältesten Blüthenpflanzen (Metaspermen). Aus dem englischen Oolith haben WILLIAMSON und ÜARRUTHERS fossile Blüthenstände beschrieben, die sie für männliche Blüthenstände, speciell von Zamites gigas, hielten, und auf die CAr- 14* 212 RUTHERS* später die Gattung William- sonia gegründet hatte. Herr A. S. Nar- HORST weist nun in »Nägra anmärknin- oar om Williamsonia Carruth. (aus Öf- versigt af Kongl. Vetenskaps-Akade- miens Förhandlingar 1880 Nr. 9)« nach, dass sie in ihrem Aufbaue den Blüthen- ständen von den Gattungen Thonningia und Langsdorffia sehr gleichen, die zu der merkwürdigen Pflanzenfamilie der Balanophoreen gehören, deren Angehö-. rige parasitisch auf den Wurzeln der Phanerogamen leben. Er erklärt daher Williamsonia gigas für eine Balanophoree. Der Blüthentrieb dieser Art wird von freien Hüllblättern umgeben, ganz ähn- lich, wie bei Thonningia, die der Verf. zum Vergleiche abbildet. Wie bei dieser ist auch eine mit Antheren besetzte Achse innerhalb dieser freien Hüllblätter vorhanden. In derselben Schicht kommt noch eine andere Williamsonia vor, de- ren Hüllschuppen mit einander ver- wachsen sind, wie das bei Balanophora involucrala der Fall ist. NArHorst nennt sie W. Leckenbyü. Wie im Kosmos Bd. 9 p. 313 be- richtet ist, haben auch die Herren SA- PORTA und Marıon Williamsonia einer genauen Untersuchung unterworfen. Ihre Beschreibung stimmt vollständig mit der Narnorsr’s überein. Auch sie beschrei- ben die vielblätterige Hülle und die kegelförmige mit Antheren besetzte Achse des männlichen Blüthenstands, die NAr- HORST mit Recht mit Thonningia ver- gleicht. AnderePflanzenreste derselbenSchich- ten, die Wıruıamson ebenfalls zu Willi- amsonia gezogen hatte, sollen nach HrEr zu den Rafflesiaceen, einer anderen sehr merkwürdigen phanerogamen Schmarot- zerfamilie zu stellen sein. Auch möchte dahin die schon 1849 von Fr. BRAUN als Rafflesiacee (Rhizanthee) beschrie- * Hurtrton und W. CARRUTHERS: On fossil eycadean stems from the secondary rocks of Britain in Transactions of the Lin- nean Society London. Vol. 26 part. IV. 1870. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. bene Weltrichia märabilis aus den rhä- tischen Schichten Frankens gehören. Sie ähnelt der lebenden Gattung Brug- mansia, die Naruorst zum Vergleiche mit abgebildet hat. Mit geringerer Sicherheit wird das von Hrer aus dem ostsibirischen Oolithe beschriebene Kaidacarpum sibiricum, wel- ches dieser Forscher zu den Pandaneen gestellt hatte, den noch von den Schup- pen eingehüllten Köpfchen der Balano- phoreengattungen Helosis und Rhopalo- cnemis verglichen. Ebenso möchten nach GorpPpErT’s Be- schreibungen und Abbildungen Schützia anomala Gemırz und Dictyothalamus Schrollianus GoEpr. aus der permischen Formation zu den Balanophoreen ge- hören, und zwar zeigen die weiblichen Dictyothalamus grosse Aehnlichkeit in Bau und Habitus mit Sarcophyte san- gwinea SPARRM. und lässt auch die männ- liche Schützia mit Lophophytum sich vergleichen. Die ältesten bisher bekannten Me- taspermen (Angiospermen) möchten da- her zu den merkwürdigen Familien der Balanophoreen und Rafflesiaceen ge- hören. P. Macnus. Eine Pflanze, welche bei Nacht die Himmels- segenden anzeigt. An einer gelben Lupine sah Darwın * die Blätter in drei verschiedenen Stel- lungen schlafen bei einigen waren die Blättchen steil aufgerichtet und bilde- ten einen hohlen Kegel; andere Blätter bildeten einen senkrechten Stern; bei wieder anderen hatten sich alle Blätt- chen gesenkt. Gleich mannichfaltig fand ich die nächtliche Stellung der Blätter bei mehreren jungen Pflanzen einer hiesigen Crotalaria (C. cajanae- Jolia), die ich um ihrer schönen gelben Blumen willen in meinem Garten aus- gesät hatte. Die Blätter dieser Art * DArwın, Bewegungsvermögend. Pflan- zen. Deutsch von J. V. Carus. 1881, S. 292. 2 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. sind dreizählig, und, mit Ausnahme der jüngsten, noch im Wachsen begriffenen Blätter, bewegen sich die Blättchen beim Einbruche der Nacht abwärts, bis sie senkrecht oder fast senkrecht nieder- hangen, — während bei einer andern von DArwın* erwähnten Crotalaria die einfachen Blätter Nachts zu senk- rechter Stellung aufsteigen und sich dem Stengel anlegen. — Die nieder- hangenden Blättchen unserer Art sind nun meist gleichzeitig gedreht, bald alle drei, bald zwei, bald nur ein ein- ziges. So sieht man bei einigen Blättern die beiden seitlichen Blättehen um 90° gedreht, so dass sie, statt sich ihre unteren Flächen zuzukehren, in einer Ebene liegen; dabei kann ihre obere Fläche entweder vom Stamme abge- wandt oder demselben zugewandt sein; in ersterem Falle ist das unpaarige endständige Blättchen stets ohne Dre- hung abwärts gebogen, wendet also seine obere Fläche ebenfalls vom Stamme ab; in letzterem Falle sieht man es bisweilen um 90° gedreht, so dass es mit der Ebene der seitlichen Blättchen rechte Winkel bildet. In anderen Fällen sind die seitlichen Blätt- chen einfach abwärts gestiegen und kehren also einander ihre Unterflächen zu, während das Endblättchen sich um 90° gedreht hat und zwar bald nach rechts, bald nach links. In wieder an- deren Fällen sicht man minder bedeu- tende Drehungen des einen oder an- deren Blättchens; dagegen scheinen Drehungen von mehr als 90° nicht vor- zukommen und ebensowenig Blätter, deren Blättchen alle drei ungedreht ge- blieben. Bei jungen Pflanzen mit noch wenigen Blättern schläft jedes in an- derer Weise, aber diese besondere Weise bleibt bei jedem Blatte dieselbe für alle Nächte und das deutet schon dar- auf hin, dass die anscheinende Willkür, mit der sich ein Blättchen rechts, ein * a. a. O. pag. 289, mr 213 anderes links, ein drittes gar nicht dreht, nur eine scheinbare sei, dass in dieser anscheinenden Unregelmässigkeit doch eine bestimmte Regel walten müsse. Und so ist es auch und zwar ist die Regel so einfach, dass man sie auf den ersten Blick hätte erkennen sollen. Mir musste erst, nach einigen Tagen, eine andere, nahehei wachsende Schmetter- lingsblume die Augen öffnen; es war dies ein Sämling eines Centrosema, der eben die beiden ersten dreizähligen Blätter entfaltet hatte, von denen das eine nach Norden, das andere nach Süden gerichtet war. Gegen Sonnen- untergang sah ich nun, dass die End- blättchen beider Blätter sich so ge- dreht hatten, dass der eine Seitenrand aufwärts, der andere abwärts gerichtet, die obere Fläche aber der scheidenden Sonne zugewandt war; und in dieser Stellung verharrten sie bis tief in die Nacht hinein und wahrscheinlich bis zum Morgen. — Nun genügte ein Blick auf die zur nächtlichen Ruhelage sich niedersenkenden Blättchen von Ürota- laria, um zu sehen, dass auch hier die Strahlen der untergehenden Sonne es sind, welche deren Drehung hervorrufen. Jedes Blättchen wendet der scheiden- den Sonne seine obere Fläche zu, falls es dies thun kann, ohne sich um mehr als 90° drehen zu müssen. So wird an einem auf der Westseite des Sten- gels stehenden Blatte das Endblättchen ohne Drehung niedersinken, die seit- lichen Blättchen aber werden sich um 90° drehen und zwar so, dass sie ihre obere Fläche vom Stamme abwenden ; es wird dann die obere Fläche aller drei Blättchen der sinkenden Sonne zu- gekehrt sein. Ebenso werden bei einem Blatte auf der Ostseite des Stammes die seitlichen Blättchen sich um 90° zu drehen haben, um der Sonne ihre obere Fläche zuzuwenden, aber in die- sem Falle so, dass diese obere Fläche dem Stamme zugekehrt wird. Bei Blättern, die auf der Nord- oder Süd- 214 ’ seite stehen, werden die beiden seit- lichen Blättchen ohne Drehung nieder- sinken; denn das eine wendet so seine obere Fläche der Sonne zu, das andere aber würde, um dies zu thun, sieh um 180° drehen müssen; dagegen wird sich das Endblättehen um 90° drehen und zwar von Nord nach West bei dem nördlichen, von Süd nach West bei dem südlichen Blatte. Auf diese Weise zeigt während der Nacht Crotalaria cajanaefolia, und zwar jedes einzelne Blatt der Pflanze, den Ort des Himmels an, an welchem die Sonne zur Rast gegangen ist; denn an jedem Blatte werden mindestens zwei Blättchen (bei den Blättern der West- seite alle drei) ihre obere Fläche der- selben Himmelsgegend zuwenden, und diese ist Westen, oder genauer der Ort des Sonnenunterganges. Wie aber, wenn bei Tage keine Sonne geschienen hat? Ich kann bis jetzt nur sagen, dass nach einem trü- ben Tage mit dichtbewölktem Himmel (7. Septbr.), der einer langen Reihe sonniger wolkenloser Tage folgte, die blättehen in gleicher Richtung, wie in den früheren Nächten sich drehten ; doch begannen sie erst lange nach Son- nenuntergang ihre Schlafbewegungen; erst etwa drei Stunden später (ja bei zwei Pflanzen erst gegen Mitternacht) hatten sie ihre Senkung vollendet, und statt um 90° hatten sich die meisten nur um 60°, 45° ja einige kaum um 30° gedreht. Da Lupinus und Crotalaria zu der- selben Gruppe der Schmetterlingsblumen, den Genisteen gehören, so dürfte zu erwarten sein, dass auch bei den Lu- pinen die bei Blättern derselben Pflanze verschiedene Nachtstellung auf ähnlichen Ursachen beruhe, wie bei Orotalaria, und ich möchte fast wetten, dass jene zierlichen senkrechten Sterne, die DAr- wın sah, dem scheidenden Tagesgestirn sehnend sich zuwendeten. Es öffnet sich da noch ein weites Kleinere Mittheilungen und Journalschan. Feld für lehrreiche Beobachtungen und Versuche. Itajahy, Septbr. 1881. Frırz MÜLLER. Die paläontologische Emtwickelung der Nee- Igel im Vergleich zu ihrer individuellen Entwickelung. In einer Rede, die ALEXANDER AGASsSsIZ auf der vorjährigen Versammlung der amerikanischen Naturforscher zu Boston gehalten hat und die inzwischen an fünf bis sechs verschiedenen Stellen zum wörtlichen Abdruck gelangt ist, ver- suchte derselbe den Parallelismus der Stammesentwickelung mit der embryo- logischen Entwickelnng an dieser be- stimmten Thiergruppe nachzuweisen. Er betonte im Eingange seiner Rede, dass sein Vater zuerst in seinem Werke über die fossilen Fische auf die Aehnlichkeit ausgestorbener Thiere mit den Embryo- nen heute lebender aufmerksam gemacht habe, wobei freilich daran erinnert werden muss, dass Louıs AGAssız diese Thatsache nicht in dem Sinne gedeutet hat, der derselben heute ganz allgemein und von der Mehrzahl der Naturforscher beigelegt wird. Es schienen nun die Seeigel wegen ihrer ausgezeichneten Ver- steinerungsfähigkeit und der verhältniss- mässig leichten Uebersehbarkeit ihrer Formenreihen — man kennt etwa 200 lebende und 3000 fossile Arten — bhe- sonders geeignet, die Wirksamkeit des sogenannten biogenetischen Grundge- setzes zu prüfen, und wenn man die hier wie überall unter den Fossilien- reihen vorhandenen und so wohlver- ständlichen Lücken in Betracht zieht, ist das Ergebniss durchaus zu Gunsten desselben ausgefallen. Wir müssen uns indessen hier auf einen kurzen Auszug der mit unendlichem Detail überladenen und ohne Abbildungen oder genaue Fachkenntniss auch kaum verständlichen Rede beschränken. Kleinere Mittheilungen und Journalschan. Acassız begann nach einer ausge- dehnten Einleitung seine Betrachtung der paläontologischen Entwickelung der Seeigel mit den Arten der Trias, in welcher sie noch eine wenig umfang- reiche Gruppe bildeten, aus der uns zunächst die Cidariden mit schmalen, wellig gebogenen Ambulacren, und wenigen, grossen, primären Warzen, die gewaltige, oft keulenförmig verdickte Stacheln trugen, entgegentreten. Dieser Typus, dem ein Zehntel aller fossilen Formen zugehört, hat sich mit geringen Abänderungen, die sich auf eine Ver- breiterung der porenführenden Zonen, auf die Verzierung der Schalen und eine etwas bedeutendere Abänderung in der Form der Stacheln beschränken, bis auf den heutigen Tag erhalten. Aber schon früh haben sich von ihm nach verschie- denen Richtungen ausgehende Seiten- zweige entwickelt, aus denen als primäre Form Hemicidaris zu nennen ist, welche eingreifende Abweichungen nicht nur in der Schale sondern auch im Rückenpol und Mundapparat aufweist, die uns weiter entwickelt in den Arbacien, Dia- dematiden, Triplechiniden und Echino- metren meist schon im Jura entgegen- treten. In derselben Epoche finden wir mit Stomechinus bereits die eigentlichen Echinideen vertreten. Wenden wir uns hiernach wieder zu den Hemicidarideen zurück, so genügen nach einer andern Richtung leichte Um- wandlungen, um aus dieser Familie Acrosalenia und aus dieser Gattung die noch heute lebenden Salenien abzuleiten. In diesen beiden aus den Hemicidari- deen hervorgegangenen Formenzweigen lässt sich die Umwandlung der Poren- zonen in dem ersteren und der Ambu- lacralhöcker in dem zweiten vollkommen schrittweise und direkt verfolgen bis zu den lebenden Vertretern derselben. Nicht so vollständig sind die Formen- reihen bekannt, welche in der Vorwelt den Uebergang von den regelmässigen zu den unregelmässigen Seeigeln her- 215 stellten, jedoch können von den ältesten Galeriten leicht Reihen abgeleitet wer- den, welche von diesen zu Conoclypeus, und in anderer Richtung zu den ver- schiedenen Formen der Clypeastriden führen; ebenso ist von der Gattung Pygaster, die von den Liaszeiten bis zur Neuzeit ausgedauert hat, nur ein Schritt zu den ersten, noch in den jetzigen Meeren herrschenden Echino- nöideen, wie Galeropygus u. s. w., und von diesen lassen sich ohne Zwang und Mühe die verschiedensten Linien der Echinonäiden, Cassiduliden, Collyritiden, Ananchyten und Spatangen ableiten. Mit diesen Erfahrungen, die man über die paläontologische Aufeinander- folge der Echiniden machen konnte, stehen nun die embryologischen Be- obachtungen im besten Einklange. Bei den lebenden Vertretern der Cidarideen- Familie, die als die paläontologische Ausgangsfamilie des gesammten neueren Geschlechts anzusehen ist, bieten schon die ersten Entwickelungsphasen sehr ge- nau die Charaktere der Erwachsenen dar; die Umwandlungen sind daher bei ihnen beschränkter Art und wenig ein- greifend, ganz wie man es nach den paläontologischen Thatsachen erwarten musste. Bei den jüngeren Regulären be- gegnet man stets einem der Grundform (Cidaris) ähnlichen Jugendzustand mit nur wenigen Ambulacraltafeln, welche spärliche grosse Warzen mit gewaltigen Stacheln tragen, während die Ambula- cralporen in vertikalen Doppelreihen geordnet sind. Erst später entwickeln sich aus diesen, in den verschiedensten Familien gleichartigen Jugendformen die so mannigfaltig und nach den verschiedensten Richtungen abirrenden neueren Familien- und Gattungstypen. Auch bei den Irregulären tritt dieselbe Erscheinung ein. Bei den jungen Clypeastriden sind anfangs die Charak- tere der Familie fast gar nicht zu er- kennen, vielmehr ganz wie bei den 216 älteren Familien wenige Interambula- craltafen und primäre Warzen mit grossen Stacheln vorhanden, und wie bei den vorigen liegt die Afterlücke noch sehr nahe an dem Scheitelapparat. Aber schnell und in dem Maasse, wie das Thier wächst, vermehrt sich die Zahl der Platten und Höcker, die Stacheln nehmen an Grösse ab, der After wandert und das vorige Thier wäre nicht mehr zu erkennen, wenn man nicht die Um- wandlungen schrittweise verfolgenkönnte. Dasselbe gilt für die Spatangoiden, deren Larven in der Bildung der Platten, Warzen und Stacheln anfangs lebhaft an Cidaris erinnern und deutlich den Weg der Wandlungen erkennen lassen. Der für einige Arten charakteristische zweilippige Mund ist bei den Jungen nirgends zu erkennen. Fasst man Thatsachen zu- sammen, so ergeben sich folgende lehr- reiche Verallgemeinerungen: In erster Reihe sind alle jungen Seeigel in dem Larvenzustande, den man als Pluteus bezeichnet, durch die geringe Zahl ihrer Coronalplatten, das Fehlen jeder Tren- nung zwischen dem Apikalapparat, dem Mundapparat und der eigentlichen Schale ausgezeichnet. Ebenso gleichen sich alle durch die erheblichen Dimensionen ihrer primären Stacheln, sowohl die Jungen der Cidaris- als der Arbacia-, der Echinus-, Olypeaster- und Spatangus- Verwandten. Alle haben sie in ihren ersten Entwickelungsphasen einfache und vertikale Porenzonen. Später treffen wir als charakteristische Abänderungen der einzelnen Unterfamilien die Trennung des Mundes von den Coronalplatten, das Erscheinen der Afterlücke, die schnelle Zunahme der Coronalplatten und Strahlen unter. gleichzeitiger Ab- nahme ihrer Dimensionen, die Bildung eines Afterringes und die Umbildung der einfachen und geradlinigen Poren- zonen in Reihen von bestimmten Poren- bögen. Bei den Spatangoiden und Clypea- diese Kleinere Mittheilungen und Journalschau. stroiden kann man als den beiden Grup- pen gemeinsame Züge die Wanderung der Afterlücke an ihren bleibenden Ort, die allmälige Umwandlung der einfachen Porenzonen in blattartige, und der ur- sprünglich einfach ellipsoiden Schalen- form in die mehr oder minder unregel- mässige verfolgen, wobei eine schnelle Zunahme der Strahlen und Höcker er- kennbar ist. Bei den Spatangoiden kommt noch die Lippenbildung, die deutliche Trennung des Vorder- und Hintertheils, sowie das Erscheinen der Binden hinzu. In allen diesen Erscheinungen der embryonalen Entwickelung kann man den Parallelismus mit dem Erscheinen der fossilen Gattungen nicht verkennen. Dasselbe gilt nun aber auch für die embryonalen Phasen der übrigen Echino- dermen, nämlich der Seesterne,Schlangen- sterne und Haarlilien, soweit wir deren Stammesentwickelung zu verfolgen im Stande sind. So viel bekannt, beginnen die jungen Individuen dieser Klassen und die Holothurien, deren Geschichte sich aus Mangel eines festen Skelets nicht soweit rückwärts verfolgen lässt, sämmtlich mit einer Phase, in der man den jungen Seeigel nicht von einem Seestern, und die junge Seelilie nicht von einer Holothurie unterscheiden kann, während sie doch in kürzester Zeit zu den verschiedensten Formen sich ent- wickeln. Eine gemeinsame Urform, als deren Nachbild wir dieses embryonale An- fangsstadium betrachten könnten, kennen wir jedoch nicht, und wir wissen nur, dass die obengenannten vier Echino- dermenklassen, die Holothurien ausge- nommen, nebeneinander schon in den ältesten Fossilien führenden Schichten auftauchen. Wir müssten also noch etwas tiefer hinabsuchen, wenn wir eine gemeinsame Urform zu finden hoffen wollen. Als Fingerzeig kann dabei die Thatsache dienen, dass in der paläo- zoischen Epoche einige Unterordnungen der Seelilien ihre Glanzperiode erreich- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. ten, aber lange vor unsrer Epoche gänz- lich ausgestorben sind. Nun ist es sehr merkwürdig, dass der erwähnte frühe, allen Echinodermen gemeinsame embryo- nale Typus mit jenen ältesten Meer- liliengeschlechtern und namentlich mit den Cystideen eine gewisse allgemeine Aehnlichkeit darbietet, und wir werden kaum fehlgehen, wenn wir sie als dem hypothetischen gemeinsamen Urtypus der Stachelhäuter besonders nahestehend betrachten. Wir hätten beinahe geschrieben dem gemeinsamen — Stammvater. Aber da wären wir schön bei Herrn Agassız jun. angekommen, der trotzdem, dass alle seine an den Seeigeln gemachten Be- obachtungen als sprechende Beweise für die Descendenztheorie und dassogenannte biogenetische Grundgesetz gelten können, für gut befunden hat, seine Rede mit einer gewaltigen Philippika gegen die »Stammbäume« eines gewissen, von ihm nicht genannten Naturforschers zu be- schliessen. Wir dürfen ihm die kleine Freude wohl gönnen, da ja wie gesagt, die ganze Rede nur eine einzige grosse Bestätigung der von HÄckzu in’s Leben gerufenen Anschauungen war, aber we- derder amerikanische, noch die deutschen Naturforscher, die sich über Häckzn's Stammbäume lustig machen, scheinen den leisesten Begriff davon zu haben, was diese Häckzv’schen Stammbäume eigentlich vorstellen sollen, wenn sie dieselben immer wieder als eitle Hypo- thesen und Luftschlösser hinstellen. Sie haben ja nie etwas anderes vorstellen wollen, als hypothetische Ausdrücke unsres augenblicklichen, wenn auch noch so lückenhaften Wissens über die Her- kunft einer Formengruppe, als For- schungsprogramme, deren man nicht entrathen kann, und die gleich nützlich sind, ob sie bestätigt oder widerlegt werden. Das aber mögen sich diese Herren gesagt sein lassen, ein Natur- forscher, der nicht vorwärts schaut und bei seiner Arbeit keinen höhern End- 217 zweck hat, als die »Formspielereien der Natur« kennen zu lernen und sie sorgsam zu beschreiben, dass ein solcher Naturforscher eine Genügsamkeit besitzt, die fast — beneidenswerth wäre. Die devonischen Insekten von Neu-Braunschweig und ihre Beziehungen zu den spätern und noch lebenden Insekten. In den Denkschriften der naturwis- senschaftlichen Gesellschaft von Boston für das Jahr 1880 hat Samusr H. SKUDDER eine ausführliche Arbeit über die devonischen Insekten veröffentlicht, deren Schlusssätze wir unten ausführ- lich wiedergeben, nachdem wir einige allgemeinere BemerkungenüberdieFunde selbst vorausgeschickt haben. Die sechs ältesten Insekten, welche man bisher kennt, wurden vor einer Reihe von Jahren von C. F. Harrr in den sogenannten Farnschichten unge- fähr eine Meile westlich von der Stadt Carleton, unweit St. Johns in Neu- Braunschweig aufgefunden. Die Felsen dieses Ortes werden als der Fluth aus- gesetzte und in der Ebbezeit trocken liegende Schichten von Sandstein und fossilienführenden Schieferthon beschrie- ben, die reich an Pflanzenresten sind. Ursprünglich hatte Dr. GsinetZ ver- muthet, es handle sich um Steinkohlen- schichten, aber Dawson hat ihre Zu- gehörigkeit zuden devonischen Schichten erwiesen und diese ist jetzt allgemein anerkannt. In diesen Schichten wurden, wie er- wähnt, Reste von sechs Insekten ent- deckt, welche die ältesten aller Insekten darstellen und von SKUDDer in einerReihe von Memoiren beschrieben worden sind. Wir wollen hier diese Reste kurz cha- rakterisiren, um die spätern allgemei- nen Bemerkungen verständlichzumachen. Von diesen sechs Insekten wurden zwei aus einer tiefern Schicht des Schiefer- thones erhalten, als die übrigen, welche 218 somit als die allerältesten unter ihnen zu betrachten wären und Xenoneura antiquorum und Gerephemera simplex ge- nannt wurden. Der den ersteren Namen führende Ueberrest gehört zu dem Ba- saltheil eines Flügels von ungefähr zwei Zoll Ausdehnung. Als Haupteigenthüm- lichkeit dieser Flügel bemerkte SKUDDER eine Anzahl anscheinend unabhängiger Aederchen, welche concentrische Ringe um die Flügelbasis bildeten, und die er als ein Analogon des Schrillorgans gewisser Heuschrecken und Grillen ansah. Man hat daraus geschlossen, dass schon die devonischen Wälder und Fluren mit dieser eintönigen Musik erfüllt gewesen seien, und dass diese Gattung einer synthetischen Gruppe zwischen Ortho- ptern und Neuroptern angehöre, aus der sich die jüngern Neuroptern und die Orthoptern entwickelt haben könn- ten. Diese ältern Netzflügler, denen sich die ältesten Insekten und von den spätern unter andern die Eintags- fliegen, Termiten und Libellen annähern, unterscheidet man von den Netzflüglern im eigentlichen Sinne neuerdings als falsche Netzflügler (Pseudoneuroptera) bes- ser als Urflügler (Archiptera). Das zweite Exemplar der devonischen Fossilien besteht aus einem. Fragment von der Spitze eines breiten Flügels, welcher dem einer Eintagsfliege (Ephe- mera) gleicht, und darnach Gerephemera simplex genannt wurde. Das dritte Stück wird für einen Theil vom Oberflügel einer gigantischen Ephemeride gehalten, welche fünf Zoll Flügelweite besessen haben muss, aber zugleich Aehnlich- keiten mit den Wasserjungfern (Odonata) darbot und Platephemera antiqua genannt wurde. Das vierte Insekt (Litenthomum Hartii) wird durch ein Flügel-Bruch- stück repräsentirt, welches man dem Unterflügel eines den Sumpflibellen (Sia- lidae) ähnlichen Insektes von 3!/a Zoll Flügelweite zurechnet. Das fünfte Exem- plar (Dyseritus vetustus) wird durch ein so kleines Flügelstück repräsentirt, dass ‘ Kleinere Mittheilungen und Journalschan. man eben nur die Verschiedenheit von den übrigen, und die Zugehörigkeit zu den Netzflüglern im ältern Sinne er- kennen kann. Das letzte Bruchstück endlich besteht aus dem grössern Theile des Oberflügels eines Insektes, welches nach SKUDDER die Charaktere von Was- serjungfern (Odonata) und Sumpflibellen (Sialiida) vereinigte und Homothetus fos- silis genannt wurde. Nach diesen Vorbemerkungen über die früheren Arbeiten geben wir die Schlussfolgerungen der neuen Arbeit SKUDDERS mitgeringen Kürzungen wieder: 1) Im Bau jener ältesten aller be- kannten Insekten sagt er, findet sich nichts, was mit dem früheren Ergebniss, wonach der allgemeine Typus des Flügelbaues seit den ältesten Zei- ten unverändert geblieben ist, im Widerspruch wäre. Drei dieser sechs Insektenformen (Gerephemera, Homo- thetus und Xenoneura) haben offenbar eine sehr eigenthümliche, den Typen der Steinkohlenformation, wie den neueren unähnliche Netzbildung besessen. Wie sub 10 gezeigt werden wird, ist die Unähnlichkeit im Bau aller devonischen Insekten über alle Erwartung gross, jedoch können alle Eigenthümlichkeiten der Nervatur mit dem von HEER auf- gestellten System in völlige Harmonie gebracht werden. 2) Diese ältesten Insekten wa- ren sechsbeinig und giengen, soweit die Beweismittel vorliegen, sowohl den Arachniden als den Myriapoden zeitlich voraus. Dies wird einzig durch die Flügel erwiesen, welche unter allen be- kannten Insekten nur den Hexapoden zukommen, so dass durch sie das frühere Auftreten dieser Gruppe erwiesen wurde. Dies ist jedoch nach allen Hypothesen so unwahrscheinlich, dass wir daraus auf einen Mangel in den Beweismitteln schliessen müssen. 3) Sie waren sämmtlich nie- dere Heterometabola. Da die Flü- gel die allein erhaltenen Theile sind, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. so können. wir aus den Ueberresten selbst nichts darüber aussagen, ob sie zu den saugenden oder beissenden In- sekten gehört haben. Dieser muss bei vielen der älteren Insekten unentschieden bleiben, bis vollständigere Reste von ihnen aufgefunden worden sind. Sie waren sämmtlich den Netz- lüglern im älteren und weiteren Sinne (d. h. einschliesslich der Urflügler) ver- wandt und zugehörig. Wenigstens zwei der Genera, nämlich Platephemera und (rerephemera müssen der engeren Ver- wandtschaft der Urflügler oder Pseudo- neuroptera zugerechnet werden, da sie thatsächlich keine näheren Beziehungen zu den ächten Netzflüglern darbieten, als solche bei den Palaeodictyoptera* gefunden werden. Zwei andere Gat- tungen (Litenthomum und Xenoneura) verhalten sich umgekehrt, d. h. den Netzflüglern im engeren Sinne näher verwandt, als den Urflüglern und eine fünfte (Homothetus), welche vergleichs- weise wenig mit den Palaeodictyoptera gemein hat, ist trotz seiner auffallen- den Pseudoneuropter-Charaktere wahr- scheinlich den Neuroptern näher ver- wandt. Bei dem sechsten (Dyseritus) sind die Reste zur sicheren Klassi- fizirung zu unvollkommen. So sind die devonischen Insekten nach ihren Cha- rakteren fast gleichmässig zwischen den eigentlichen und den falschen Netz- flüglern vertheilt, und keines zeigt irgend eine besondere Charaktereigen- thümlichkeit der Orthoptern, Hemiptern oder CGoleoptern. 4) Fast alle sind synthetische Typen einer verhältnissmässigeng begränztenReihe. So kann Platephe- mera als ein Ephemer mit odonater Netzaderung, und Homothetus als eine Sialiide mit odonater Anordnung in dem Hauptzweige der Schulter-Ader betrach- tet werden, und auch bei jeder andern * Ueber diese auf die synthetischen Eigen- thümlichkeiten einzelner Steinkohlen-Insekten begründete Familie vgl. Komos V, 8. 61. Punkt | 219 Species wird man in ihren Charakteren Andeutungen irgend einer Gombination finden. 5) Nahezu alle zeigen Zeichen einer Verwandtschaft mit den Pa- laeodictyoptera der Steinkohle, sei es in der netzaderigen Flügeloberfläche, oder in ihrer longitudinalen Nerven- verzweigung oder in beiden Beziehungen. Bei einigen unter ihnen, wie Gerephe- mera und Xenoneura ist die Aehnlich- keit deutlich markirt. Die meisten Arten aber zeigen die Charaktere der Palaeo- dietyoptera nur in dem, was man die neuropterische Seite nennen könnte, und ihre Abweichung von den Palaeodictyo- ptera der Steinkohle ist so gross, dass sie kaum mit der Hauptmasse der pa- läozoischen Insekten zusammengestellt werden könnten. Denn bei den letzte- ren finden wir einen durchaus gemein- samen Typus des Flügelbaues, in wel- chen die Nerven der devonischen Insek- ten nur theilweise hineinpassen würden. 6) Andererseits sind sie oft von mehr oder doch nicht weni- gerverwickelter Anordnungalsbei den meisten Palaeodictyoptern. Dies trifft zu für die drei oben er- wähnten Genera mit eigenthümlicher Aderung und speciell, wenn sie mit dem Genus Dictyoneura und seinen nächsten Verwandten verglichen werden. Aber es ist nicht bindend für alle übri- gen. Es giebt noch andere Palaeo- dietyoptera der Steinkohlenzeit mit noch komplizirterer Aderung als Dietyoneura, aber diese drei devonischen Insekten übertreffen sie anscheinend und nahezu alle Steinkohlen-Insekten in dieser Rich- tung. Ferner 7) besitzen sie mit Ausnahme des sub 5 erwähnten Punktes wenig spe- zielle Beziehungen zu den Stein- kohlen-Insekten, indemsie einbe- sonderes, eigenartiges Aussehen haben. Dies ist sehr auffällig; es würde gewiss nicht möglich sein, an einem Orte der Steinkohlengebirge sechs Flügel zu sammeln, die nicht durch ihre Verwandtschaft mit den bereits bekann- ten, das Steinkohlen-Alter der Ab- lagerungen bewiesen. Aber an dieser devonischen Lokalität treffen wir nicht eine einzige Palaeoblattaria, oder etwas ihnen Aehnliches, während mehr als die Hälfte der Steinkohlen-Insekten zu die- sem Typus gehören. Der demnächst vor- herrschende Steinkohlen-Typus ist Dic- tyoneura und ihre nahen Verwandten; aber von allen devonischen Insekten zeigt nur Gerephemera eine nähere Ver- wandtschaft mit ihnen und selbst bei ihr sind die Details der Flügelstruktur sehr verschieden. Ausser Xenoneura zeigt alsdann nur noch Platephemera eine gewisse allgemeine Aehnlichkeit mit Steinkohlen-Formen, aber auch das nur in der Flügelform und dem allge- meinen Verlauf der Nerven. Bei ge- nauerer Betrachtung zeigt sich indessen die feinere Aderung polygonal und nicht quadratisch. In dieser Richtung diffe- rirt Platephemera thatsächlich nicht allein von allen modernen Ephemeriden, son- dern auch von denen aller geologischen Formationen. Ein anderer vorwiegender Steinkohlen-Typus, die Termiten, fehlen den devonischen Schichten ganz. 8) Die devonischen Insekten waren von grosser Statur, hatten häutige Flügel und waren wahr- scheinlich Wasserbewohner. Die letztere Annahme wird blos aus dem Umstande vermuthet, dass alle modernen Typen, die ihnen zunächst verwandt sind, jetzt Wasserbewohner sind. In Betreff des Vordersatzes mag erwähnt werden, dass die Flügelspannung zwi- schen 40 und 175 mm variirte und auf 107 mm im Mittel geschätzt werden kann. Xenoneura war viel kleiner als die andern, ihre Breite überstieg 40 mm nicht, während wahrscheinlich die Flü- gelspannung aller übrigen mehr als 100 mm betrug, Homothetus allein aus- genommen. In der That, wenn Xeno- neura ausgeschlossen wird, so beträgt Kleinere Mittheilungen und Journalschau. das Mittel der Flügelweite 121 mm, eine Ausbreitung, welche mit derjenigen der Aeschiniden und der grössten unter den lebenden Odonaten verglichen wer- den kann. Es ist keine Spur ‘von le- derartiger Consistenz der Flügel, noch einer Annäherung an eine solche durch Verdickung und gegenseitige Näherung der Nerven vorhanden. 9) Einzelne der devonischen Insekten waren im vollen Maasse Vorläufer jetzt lebender Formen, während andere keine Spuren zu- rückgelassen zu haben schei- nen. Die besten Beispiele für die erstere Abtheilung sind Platephemera, eine abweichende Form einer noch jetzt existirenden Familie und Homothetus, welcher, obwohl in der Zusammensetzung seiner Charaktere von allen bekannten lebenden und fossilen Insekten abwei- chend, doch das einzige paläozische Insekt ist, welches jene eigenthümliche Nerven-Anordnung darbietet, die man an der Flügelbasis der Odonaten findet, charakterisirt durch den Arculus, eine sonst nur bis zur Juraperiode zurück- verfolgbare Bildung. Beispiele der letz- tern Abtheilung sind Gerephemera, welche eine Vielheit paralleler Adern nächst der Randader der Flügel aufwies, wie sie kein anderes bekanntes, lebendes oder fossiles Insekt darbietet, und Xe- noneura, deren Aderung uns ganz ab- norm erscheint. Wenn obendrein die früher von mir als Stridulationsorgan gedeuteten, concentrischen Runzeln, als wirkliche Bestandtheile des Flügelge- äders erwiesen werden könnten, wür- den wir eine Anordnung erhalten, wie sie sich seither nie bei einem lebenden Wesen wiederholt hat. 10) Zeigten die devonischen Insek- ten eine merkwürdige Mannig- faltigkeit des Baues, was auf einenReichthum desInsekten- lebens zujener Zeithindeutet. ... . Die vorhandenen sechs Flügel zeigen eine Verschiedenheit der Aderung, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. die ebenso gross ist, wie diejenige unter den hundert und mehr Arten der Stein- kohlenzeit. Bei einigen, wie Platephe- mera ist der Bau sehr einfach, bei an- dern, wie Homothetus und Xenoneura ist’er einigermaassen komplicirt; einige der Flügel, wie Platephemera und Gere- phemera sind netzadrig, die andern be- sitzen nur mehr oder weniger bestimmte oder direkte Queradern. Nicht zwei dieser Flügel könnten zu ein und der- selben Familie gerechnet werden .... dies zwingt uns mit starker Wahrschein- lichkeit, eine grosse Fülle in der In- sektenfauna jener Epoche anzunehmen. Obgleich andere paläozische Oertlich- keiten eine grössere Manniefaltigkeit von Insektentypen ergeben haben, hat keine in der Welt Flügel von so weit- gehender Verschiedenheit der Aderung geliefert. Denn die Aderung der Pa- laeodictyoptera ist nicht wesentlich wei- ter verschieden von derjenigen der al- ten Termiten oder Palaeoblattarien, als diejenige von Platephemera und Gere- phemera einerseits von der bei Homo- thetus und andrerseits bei Xenoneura. Unbewusster Weise gestatten wir unsrer Kenntniss der lebenden Typen und ihrer vergangenen Geschichte vielleicht unsre Würdigung der Verschiedenheit zwischen den alten Formen zu modifieciren. Denn während wir deutlich in den Palaeo- blattarien der Steinkohlenzeit die Vor- gänger einer Ordnung der Insekten sehen, so würden wir doch ohne diese Kenntniss ihre Ahnen in der Stein- kohlenperiode nicht von einander tren- nen. Es kann somit leicht eingesehen werden, wie es möglich ist, in diesen devonischen Insekten eine Verschieden- heit der Flügelstruktur aufzufinden, die grösser ist, als sie bei den Steinkoh- len- Vertretern der modernen Neuro- ptern, Orthoptern und Hemiptern zu fin- den ist. 11) Die devonischen Insek- ten unterscheiden sich auch merkwürdig von allen andern 221 e bekannten Typen, alten wie mo- dernen; und einige scheinen so- gar coMmplicirter gewesen zu sein, als ihre nächsten leben- den Verwandten. Mit Ausnahme von Platephemera kann nicht ein ein- ziges von ihnen in eine bereits be- kannte lebende oder fossile Familie ein- bezogen werden, und sogar Platephemera differirt nachgewiesenermaassen, stark vonallen andern Gliedern der Familie, in die man sie setzt, sowohl in der all- gemeinen Nervatur als in der Netz- aderung, mehr als sonst die abweichend- sten Typen es thun. Dieses selbe Ge- nus ist auch complicirter in seiner Flü- gelstruktur als seine modernen Ver- wandten, die Flügeladerung ist an be- stimmt begränzter Stelle polygonal und ziemlich regelmässig, statt einfach qua- dratisch zu sein, während die Zwischen- Adern alle verbunden sind, anstatt frei zu sein. Auch Xenoneura zeigt mit mo- dernen Sialiiden verglichen, was man als einen höhern, oder wenigstens spä- teren Bildungstypus ansehen könnte, in der Verschmelzung der intermedianen und Scapularvene für eine weite Ent- fernung von der Basis, sowie in an- dern Beziehungen. 12) Wir scheinen daher im Devon dem Anfange nicht näher zu sein als in der Steinkohlenzeit, soweit es sich um eine grössere Einheit und Einfach- heit der Bildung handelt, und diese älteren Formen können zur Stütze ir- gend einer besondern Theorie über den Ursprung der Insekten nicht mit mehr Vortheil als die Steinkohlen-Typen be- nutzt werden. Alle derartigen Theorien haben irgend eine Zoöa-, Leptus-, Cam- podea-, oder eine andere einfache fHügel- lose Form als Ausgangspunkt aufge- stellt, und diese Stammform muss, we- nigstens nach HäÄcken, oberhalb der Silurschichten gesucht werden. Aber wir haben im Devon keine Spur von solchen Formen gefunden, finden viel- mehr bis zur Mitte dieser Periode hinab 222 umgekehrt geflügelte Insekten mit höher differenzirter Bildung, welche im Gan- zen als niedriger betrachtet werden kann, als die der Insekten der oberen Stein- kohle, aber nur wegen des Fehlens der sehr wenigen Halbflügler und Käfer, deren sich die letztere rühmen kann. Lässt man diese wenigen Insekten un- berücksichtigt, so werden die Insekten des mittleren Devon mit denen der oberen Steinkohle, sowohl in Betreff der Compliecirtheit wie der Mannigfaltigkeit der‘ Struktur den Vergleich aushalten. Ferner zeigen sie keine Annäherung an irgend eine der niedern flügellosen For- men, die man hypothetisch als die Vor- fahren der mit Tracheen versehenen Gliederthiere betrachtet hat. 13) Während endlich einige For- men vorhanden sind, welche gewisser- maassen die Erwartungen erfüllen, die sich auf die Abstammungshypothese hinsichtlich der Struktur-Entwickelung stützen, giebt es ebensoviele, die ganz unerwartet sind, und durch diese Theorie nicht erklärt werden können, ohne dass man Annahmen macht, für welche ge- genwärtig keine Thatsachen angeführt werden können. Platephemera und Ge- rephemera sind zweifellos Insekten von sehr niedriger Organisation im Vergleich zu den lebenden Ephemeriden, die be- kanntlich von niederer Organisation sind als andere lebende Insekten; diese Ephe- meriden gehören nämlich zu den nie- drigsten Gliedern ihrer Unterordnung und letztere selbst ist eine der untersten Unterordnungen. Dyseritus mag eben- falls zu einer ähnlichen niederen Rang- stufe gehören, obwohl seine Aehnlich- keit mit Homothetus dies unentschieden lässt. Aber keins dieser Insekten zeigt irgend eine niedrigere Entwickelungsstufe im Vergleich zu ihren nächsten Ver- wandten der spätern Steinkohlenschich- ten, und sie stehen sämmtlich höher als manche der dort vorkommenden. ... Es ist als ständen wir vor zwei ge- trennten Abstammungslinien, wenn wir Kleinere Mittheilungen und Journalschau. die devonischen und carbonischen In- sekten studiren; sie haben wenig ge- meinsam und jede ihre besondere zu- sammenfassenden Typen. Von diesem Gesichtspunkte urtheilend, könnte man unmöglich sagen, dass die devonischen Insekten eine geeignetere Synthese oder einen roheren Typus zeigten, als die Steinkohlen-Insekten. Dies kann aber daher rühren und rührt auch wahr- scheinlich daher, dass unsere Kennt- niss der Steinkohlen-Insekten soviel aus- gedehnter ist; aber wenn man bloss an der Hand der Thatsachen (d. h. von, den sechs gefundenen Fragmenten aus! Ref.) urtheilen wollte, so würde es schei- nen, dass die Steinkohlenformen uns weiter rückwärts zu einfacheren und mehr verallgemeinerten Formen führen. Wir haben (unter den aufgefundenen Insekten) vom Devon keins was so einfach ist, wie Zuephemerites, keins, was so umfassend ist, wie Kugereon, keins, was gleichzeitig so einfach und so umfassend ist, wie Dietyoneura. Nach der Abstammungs-Theorie müssen wir aus unserer jetzigen Kenntniss devoni- scher Insekten vermuthen, dass die Pa- laeodictyoptera der Steinkohle in dieser Epoche- bereits ein alter und stehen- gebliebener »embryonischer Typus« sind, dass einige andre Insekten der Stein- kohlenzeit gemeinschaftlich mit den meisten devonischen von einem gemein- samen Grundstock im unteren Devon oder Silur abstammten; und dass die Vereinigung dieser mit den Palaeodic- tyoptera zeitlich noch weiter zurückliegt, so dass der Ursprung der geflügelten Insekten in ein viel entlegeneres Alter zurückgeführt werden muss, als man denselben jemals zugeschrieben hat. Man wird dadurch gezwungen an die Ab- stammungstheorie zu glauben, da das Studium der in den Gesteinen enthal- tenen Beweismittel niemals für sich zu einer vollen Ueberzeugung führen kann, auch kann kein Beweismittel zu Gunsten derselben angeführt werden, was sich Kleinere Mittheilungen und Journalschau.' 223 nur auf solche Untersuchungen stützt. Die tiefen Lücken unserer Kenntniss der ältesten Insekten-Geschichte, auf die ich in meiner frühern Abhandlung hingewiesen habe, sind somit grösser und dunkler als angenommen worden ist. Indessen muss ich Bedenken tra- gen, diese Uebersicht zu schliessen, ohne der Ueberzeugung Ausdruck zu geben, dass einige dieser älteren, un- bekannten, zusammenfassenden Typen, wie sie oben angedeutet wurden, existirt haben und aufgesucht werden müssen. Man sieht, SKUDDER spricht sich auf Grund seiner Studien der Devon- Insekten nicht mehr so entschieden zu Gunsten der Descendenztheorie aus, wie noch vor einigen Jahren (vgl. Kos- mos Bd. V, S. 61), allein mit Unrecht, denn die von ihm untersuchten devoni- schen Insekten liefern dem vorurtheils- freien Beobachter einzig Argumente für die Descendenz-Theorie, aber keine ent- gegenstehenden, indem alle gefundenen devonischen Insekten der niedersten Stufe heute lebender, sämmtlich mehr oder minder nahe verwandt waren, wäh- rend in der Steinkohlenzeit bereits neben den niedersten viel höherstehende Grup- pen vertreten waren. Die Osteoblasten-Theorie und die Entwickelung des Knochengewebes in der Thierreihe. Ueber die Art und Weise, in wel- cher sich die Knochen im thierischen Körper bilden, hat sich in neuerer Zeit ein Gegensatz der Ansichten dahin aus- gebildet, dass nach der älteren An- sicht das Knochengewebe durch ein- fache Umbildung (Metaplasie) von fibril- lärem Bindegewebe oder von Knorpel in Knochen entstehen soll, während die neuere Lehre behauptet, dass das Ge- webe der knorpeligen oder bindegewe- bigen Knochenanlage bis auf geringe Reste ihrer Grundsubstanz zerstört werde, und dass das eigentliche Knochengewebe der höhern Thiere als eine Neubildung (Neoplasie) auf die verkalkten Reste der früheren Grundsubstanz aufgelagert werde. Diese letztere »neoplastische Lehres nimmt also keine blosse Um- bildung, sondern eine förmliche Ver- drängung (Envahissement) des ältern durch das neue Gewebe an; sie wurde durch Roeın (1850) und H. MüruEer (1858) begründet, und durch die schnell aufeinanderfolgendenArbeiten von SriEDA (1872), STRELZoFF (1873), STEUDENER (1875) und Busen (1877) ausreichend gestützt. Hiernach trennt sich die peri- chondrale Umhüllung der ersten knorp- lichen Knochenanlage bei höhern Wir- belthieren in zwei Schichten, eine in- nere rein zellige Lage: die osteogene Schicht, und eine äussere, fibrilläre und gefässhaltige. Die osteogene Schicht bildet zuerst die periostale Grund- lamelle, mit welcher sie die verkalkte Knochenanlage umhüllt, alsdann durch- bricht die osteogene Schicht dieses ihr eigenes Produkt an einer Stelle und dringt nun in die Knochenanlage ein, die Knorpelzellen verdrängend oder viel- mehr zerstörend, und auch von der verkalkten Grundsubstanz nur ein zar- tes Balkenwerk zurücklassend. Aus der äussern periostalen Schicht folgen bin- degewebige, gefässhaltige Zapfen auf demselben Wege, den die Zellen der osteogenen Schicht vorausgegangen wa- ren, und nun erst lagern die Zellen der osteogenen Schicht neues Knochenge- webe auf das aus den Ueberresten der verkalkten Knorpelsubstanz bestehende Balkengerüst auf. Die Perforationsstelle, durch welche die äussern periostalen Gewebe ihre Invasion in das Innere der Knochenanlage vollführten, verbleibt, wie STEUDENER zuerst erkannte, während der ganzen späteren Existenz des Kno- chens als Foramen nutritium offen. Wenn nun das Knochengewebe eine Neubildung ist, so tritt die Frage hervor, woher es stammt und wie es entsteht. Diese Frage hat Professor 224 F. Busch in Berlin durch Aufstellung seiner Osteoblasten- Theorie (1878) zu lösen gesucht, indem er im Anschlusse an GEGENBAUR und WALDEYER eine be- sondere knochenbildende Zelle, die des- halb mit dem Namen der Osteo- blasten-Zelle belegt wird, aufstellt, die nur den höheren Thieren zukommt, und durch deren Vorhandensein erst die eigentliche echte Knochenbildung als ein von der einfachen Verkalkung des Bindegewebes und des Knorpels ver- schiedener Prozess zur Ausführung ge- langt.* Diese Theorie ist vielfach an- gefochten worden. Einige neuere Geg- ner, wie z. B. M. Kassowrvz ** in Wien, der sonst auf dem Standpunkte der neoplastischen und speziell der osteo- plastischen Theorie steht, basiren ihre Einwürfe gegen die allgemeine Gültig- keit der letzteren Theorie namentlich auf die seltenen Fälle von isolirtem Vorkommen angeblicher Knochenbildun- gen mitten in Weichtheilen unter pa- thologischen Verhältnissen. In der Sit- zung der Berliner physiologischen Ge- sellschaft vom 10. Dezember 1880 zeigte Professor Buscn jedoch, dass diese Vor- kommnisse zum Theil recht zweifelhafter Natur sind, und dass echte Knochen- bildung in Weichtheilen mit Sicherheit nur nach dem Vorgange Ovurer’s durch Verpflanzung der von jugendlichen Knochen abgelösten Perioststücke in der Chirurgie sicher zu erzielen ist, während alle sonstigen Praktiken, die darauf hinzielen, ohne Vorhanden- sein von Osteoblastenzellen Knochen- Neubildungen hervorzurufen, erfolglos bleiben. Ueber den Ursprung der Osteoblasten- zelle kann natürlich nur von dem Stand- punkte der Descendenztheorie eine be- friedigende Antwort gegeben werden, und dies hat Prof. Busch in einer Dar- legung gethan, die er in der letzter- = F. Busen, die Osteoblasten-Theorie. (Deutsche Zeitschrift für Chirurgie 1878. Ba.X. S. 59-90.) "Sarkode auffassen müssen. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. wähnten Versammlung über das Auf- treten des Knochengewebes in den ver- schiedenen Wirbelthierklassen gegeben hat. Da diese Betrachtungen für die Descendenztheorie von grossem Inter- esse sind, so geben wir im Folgenden einen ausführlichen Auszug daraus, nach den »Verhandlungen der physiologischen Gesellschaft, « *** jedoch mit dem Unter- schiede, dass wir eine nachträgliche Er- gänzung obiger Darstellung, welche Prof. Busch in der Sitzung vom 20. Mai 1881 derselben Gesellschaft mitgetheilt hat, gleich an der betreffenden Stelle einschieben. Prof. Busch verfolgt den Weg, den die thierische Entwickelung genommen hat, zu diesem Zwecke zunächst rück- wärts bis zu der gemeinsamen Wurzel alles thierischen Lebens, als welche wir das formlose, belebte Protoplasma, die »Jeder Theil ist hier noch dem andern gleichwerthig, die Funktionen sind noch an keine be- sondern Organe gebunden, und eben- sowenig bietet die Körpermasse irgend welche Andeutung verschiedener Gewebe dar. Aus dieser gemeinsamen Stamm- form des thierischen Lebens findet nun die fortschreitende Vervollkommnung statt nach dem Gesetz der Theilung der Arbeit, wie es MıLn& EpwArnps ge- nannt hat, oder der fortschreitenden Differencirung, wie es Bronx bezeich- nete. Die homogene Leibesmasse des Protoplasma sondert sich in verschie- dene Theile, die einander nicht mehr gleichwerthig sind, sondern von denen die einen nur der Circulation, die an- deren nur der Respiration, die dritten nur der Digestion, die vierten nur der Locomotion u. s. w. dienen. Je weiter diese Trennung sich ausbildet, um so entwickelter ist das Thier, um so hö- her steht es in der auf continuirlicher Entwickelung beruhenden Thierreihe. ®= Die normale Ossifikation. Wien 1881. ### Du Bois REYMoxD’'s Archiv für Phy- siologie 1881. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Diese Auffassung steht, soweit sie die Organe betrifft, augenblicklich wohl bereits ohne Widerspruch da. Merk- würdigerweise hat sich dieselbe aber bisher kaum auf die ersten Grundlagen des Thierkörpers übertragen, nämlich auf die Gewebe, und doch liegt es auf der Hand, dass höher differenzirte Or- gane nur gebildet werden können durch höher differenzirte Gewebe. Das ur- sprüngliche Protoplasma konnte sich nie zu getrennten Organen gruppiren, die Vorbedingung dazu war eben, dass sich das Protoplasma zuerst in be- stimmte, von einander verschiedene Ge- webe differenzirte, erst dadurch wurde es fähig, differenzirte Organe zu bilden. Diese Differenzirung des ursprüng- lichen Protoplasma in bestimmt cha- rakterisirte und von einander verschie- dene Gewebe lässt nun bereits bei sehr tiefstehenden Organismen vier Gruppen unterscheiden, und diese sind: das Epithel, die Bindesubstanz, das Nerven- gewebe und das Muskelgewebe. Es ist jedoch zweifelhaft, ob zu diesen vier Gruppen nicht noch als fünfte die Blut- zellen hinzutreten, deren Unterbringung in einer der anderen Gruppen nach der bisherigen unvollkommenen Kenntniss über die ‚Entstehung derselben kaum möglich sein dürfte. Es ist nun, wie mir scheint, keine gewagte Hypothese, anzunehmen, dass diese Gewebsgruppen in der aufsteigenden phylogenetischen Reihe getrennt bleiben, dass also eine Zelle, welche auf einer gewissen Höhe der Entwickelung die deutlichen Cha- raktere einer Muskelzelle angenommen hat, in der fortschreitenden Reihe nicht mehr in eine andere Gruppe übergeht, sondern innerhalb der Grenzen ihrer Gewebsgruppe beharrt. Es liegt diese Auffassung von der Trennung der Ge- websgruppen eigentlich bereits implicite in der Lehre von der Trennung und höheren Differenzirung der Organe ent- halten. Wer z. B. die Entwickelung des Gehirns durch die Thierreihe ver- Kosmos, V, Jahrgang (Bd. X), 225 folgt, der dürfte sich kaum der Auf- fassung verschliessen können, dass die grössere Hirnmasse der höheren Thier- formen hervorgegangen ist aus einer Vermehrung der den niederen Thier- - formen zugehörigen Ganglienzellen und nicht etwa dadurch, dass mit zuneh- mender Entwickelung von dem binde- gewebigen Stützgerüst: der Neuroglia neue Ganglienzellen der Hirnmasse hin- zugefügt sind. Mit der Differenzirung der vier Ge- websgruppen ist jedoch nur die Grund- lage gegeben, auf welcher sich weiter fortschreitende Differenzirungen vollzie- hen. Ich übergehe hierbei die drei Ge- websgruppen des Epithels, des Muskel- gewebes. und des Nervengewebes, und beschränke mich in den weiteren Aus- einandersetzungen nur auf die Binde- substanz. Die niederste Form, unter welcher uns dieselbe in dem Thierreiche entgegentritt, ist das Schleimgewebe, gebildet aus einer Anzahl sternförmiger Zellen in homogener schleimiger Grund- substanz, und das zellige oder blasige Bindegewebe, bei welchem bläschenför- mige Zellen dicht aneinander liegen, ohne durch irgend welche Grundsubstanz ge- trennt zu sein. Als weitere Fortbildung erscheint dann das fibrilläre Bindege- webe mit spindel- oder sternförmigen Zellen in einer aus leimgebenden Fi- brillen bestehenden Grundsubstanz. Als nächste Stufe erscheint das Knorpel- gewebe, bei welchem in einer chondrin- gebenden, resistenten Grundsubstanz Zellen enthalten sind, die entweder Sternform haben wie im Schleimgewebe, oder runde und ovale Formen zeigen. Die Form des Knorpelgewebes mit stern- förmig verästelten Zellen ist die höch- ste Form, in welcher sich die Binde- substanz bei den Wirbellosen zeigt, und zwar sind es nur die höchstent- wickelten Mollusken: die Cephalopoden, welche dieses Gewebe in ihrem Kopf- skelet darbieten, doch kommt bei nie- deren Mollusken, z. B. im Mantel der 15 226 Tunicaten, öfter ein Gewebe vor, wel- ches, wie LeypıG hervorhebt, zwischen Schleimgewebe und Knorpelgewebe in der Mitte steht, und dadurch die nahe Verwandtschaft dieser beiden Gewebe documentirt, ein Verhalten , welches auch in der menschlichen Pathologie klar hervortritt. In der niedersten Klasse der Wirbel- thiere, bei den Fischen, findet sich nun das Knorpelgewebe viel ausgedehnter zum Aufbau des inneren Skelets ver- wandt, als in einer der höheren Klas- sen, jedoch treten bereits in dieser Klasse zwei Gewebe auf, welche als höhere Stufen der Ausbildung der Bin- desubstanz betrachtet werden müssen, nämlich das Knochengewebe und die Dentine. Es ist jedoch charakteristisch, und wie ich glaube, von Bedeutung für die Richtigkeit dieser Auffassung von der phylogenetischen Entwickelung der Bindesubstanz, dass diese beiden neuen Gewebe zuerst in einer Form erscheinen, welche sie deutlich als die unvollkom- mene Vorstufe derselben in den höhe- ren Wirbelthierklassen auftretenden Ge- webe erkennen lässt. Wir verdanken KÖLLIKER* sehr genaue Untersuchungen über das Knochengewebe der Fische, und dieselben haben ergeben, dass eine grosse Anzahl Genera der Knochenfische keine Knochenkörperchen in ihrer Ske- letsubstanz enthält (weder sternförmige noch spindelförmige), und dass sie da- her kein wirkliches Knochengewebe be- sitzen. Es zeigte sich ferner, dass die meisten hochorganisirten Fische Kno- chenkörperchen haben, und KöLuıkER betrachtet daher das knochenkörperchen- freie „osteoide‘‘ Gewebe als eine nie- drigere Vorstufe des eigentlichen, mit Knochenkörperchen ausgestatteten Kno- chengewebes. Er hebt ferner hervor, dass in den höheren Klassen der Wirbel- thiere ein Mangel der Knochenkörper- * On the different types of the micro- scopie structure of the skeleton of osseous Kleinere Mittheilungen und Journalschau. chen nicht mehr vorkommt, da selbst die niedersten derselben, die Perenni- branchiaten, wirkliches Knochengewebe besitzen. In den niederen Abtheilungen der Fische kommen zahlreiche Verschie- denheiten des Knochengewebes vor. Bei den Leptocephalidae sind die Knochen eine ganz structurlose homogene Masse, bei anderen haben sie ein eigenthüm- liches fibröses Ansehen und bestehen aus einem Gemisch von Knorpel und osteoidem Gewebe, wie QUEKETT zuerst zeigte bei den Generis Orthagoriscus und ZLophius, zu welchen KöuLıkER einige Balistini hinzufügt. Aber in der grossen Mehrzahl der Abzweigungen die- ser Gruppe enthalten die Knochen eigen- thümliche Röhren, welche den Dentin- röhren mehr oder weniger ähnlich sind. Wenn diese Röhren gut entwickelt sind, dann erreichen die Knochen eine Struc- tur, die in keiner Weise von Dentine unterschieden werden kann, eine That- sache, welehe auch dem Scharfsinne von QuERErTT nicht entgangen ist, wel- cher ihr Vorkommen erwähnt in dem Genus Fistularia (Sphyraena baracuda und Belone vulgaris). KÖLLIKER fand dieselbe Structur auch bei anderen Ge- neris dieser Gruppe, besonders unter den Plecetognathen, Pharyngognathen, Sparidae und Squamipennes, aber in der grösseren Zahl ist diese röhren- förmige Structur nicht so gut entwickelt, und ist untermischt mit nahezu structur- losen Stellen. KöLLıkzr dehnte seine Untersuchun- gen auch aus auf die Hartgebilde in der Haut der Fische, sowie die Strahlen der Flossen und fand dieselben Ver- hältnisse, welche in dem Endoskeleton vertreten waren, auch in dem Exo- skeleton. Es zeigte sich das beson- ders in den Flossen, deren Strahlen . bei allen den Abtheilungen Knochen- körperchen enthielten, bei welchen die fishes. Proceedings of the royal Society of London 24. Febr. 1859. S. 656—668. Kleinere Mittheilungen und Journalschan. inneren Knochen damit versehen waren, während in den anderen Fällen diese Strahlen gebildet waren von einer ho- mogenen osteoiden Substanz, oder von einem röhrenförmigen Gewebe, welches in manchen Fällen die Structur wahrer Dentine annahm, wie bei vielen Plec- tognathen und gewissen Acanthopterygii. In Bezug auf die Haut der Fische spricht er sich dahin aus, dass kein Fisch, des- sen Endoskeleton der Knochenkörper- chen entbehrt, dieselben in den Hart- gebilden seiner Haut enthält, dass aber auf der anderen Seite diejenigen Ab- theilungen, welche wirkliches Knochen- gewebe in dem Endoskeleton enthalten, dasselbe in keiner Weise stets in der Haut darbieten. KöLumker fügt dann noch hinzu, dass auch noch eine dritte Gruppe von Fischen existirt, bei denen das Endo- skeleton nur aus gewöhnlichem Knorpel zusammengesetzt ist, oder aus Knorpel mit Ablagerung von Erdsalzen, wie bei den Cyclostomen und Selachiern. Keiner von diesen Fischen, nicht einmal die Plagiostomen und Chimaera, besitzen wirkliche Knochenzellen in ihren harten Theilen, denn diese werden gebildet, wie J. MÜLLER schon vor vielen Jahren zeigte durch verknöcherten Knorpel, d. i. Knorpelzellen in einem verknöcherten Grundgewebe. Selbst die harten Strah- len der Flossen und der Haut dieser Thiere sind nicht wirkliche Knochen, sondern Dentine, wie seit langer Zeit von Acassız und QuEkETT gezeigt wurde (S. 667). Für Jeden, der sich der Descendenz- lehre nicht vollkommen verschliesst, liegt in diesen Befunden, wie ich glaube, der Beweis, dass es sich in der Klasse der Fische um die Fortbildung der niede- ren Formen der Bindesubstanz: des fibril- lären Bindegewebes und des Knorpels in die höheren Stufen des Knochen- gewebes und der Dentine handelt. Die neuen Gewebe treten jedoch noch nicht scharf ausgeprägt und deutlich von ein- 227 ander gesondert auf, sie sind vielfach noch auf unvollkommenen Vorstufen stehen geblieben und mit einander ver- mischt. Die Dentine hat noch einen wesentlichen Antheil an der Skelet- bildung, und ist noch in keiner Weise auf die Zähne beschränkt. Andererseits ist aber auch das Knochengewebe viel- fach zur Zahnbildung verwandt. So entsteht ein Mischgewebe, welches von R. Owen mit den Namen der Osteo- dentine bezeichnet wurde. Auch ge- fässhaltige Dentine (vasodentine) findet sich vielfach in den Zähnen der Fische. Der erste Anfang der Knochenbil- dung in den knorpelig präformirten Knochen der Batrachier vollzieht sich nach den neuen Untersuchungen von N. KAstscHENKoO * im Wesentlichen in derselben Weise, wie bei den Säuge- thieren, d.h. die umhüllende Membran der Knorpelanlage theilt sich in zwei Schichten, eine äussere fibrilläre Schicht und eine innere rein zellige Schicht. Die wuchernden Zellen dieser (osteo- genen) Innenschicht dringen nun in die Knorpelanlage hinein und schaffen dadurch in derselben den primordialen Markraum, während die Invasionsstelle selbst als Canalis nutritius dauernd offen bleibt. Die in den Markraum eingedrungenen Zellen der osteogenen Schicht, die Osteoblasten GEGENBAUR’s, lagern nur den unzerstört geblie- benen Knorpelbalken Knochengewebe nach neoplastischem Typus auf, die Balken selbst aber vollziehen durch Metaplasie ihren Uebergang in Knochen- gewebe. Die ersten Anfänge der periostalen Knochenbildung, durch welche die pe- riostale Grundlamelle entsteht, erfolgen in einer Art, welche keinem der beiden Typen der Knochenbildung vollkommen entspricht, sondern die Mitte zwischen beiden hält. Die weitere Fortsetzung = Ueber Genese und Architektur der Batrachierknochen. (Archiv für mikroskopi- sche Anatomie Bd. XIV, Heft I.) 15* 228 der periostalen Knochenbildung wird durch Osteoblastenzellen bewirkt nach ausgesprochenem neoplastischen Typus. Sowohl die endochondral wie die periostal gebildete Knochensubstanz, besteht aus einer verkalkten, in con- centrische Lamellen geordneten Grund- substanz, in welcher sternförmig ver- ästelte Knochenkörperchen eingebettet sind. Zwischen beiden befindet sich eine Lage von Knochensubstanz, welche sowohl der lamellösen Schichtung wie der Knochenkörperchen entbehrt und daher eine ganz strukturlose zu sein scheint. Havers’sche Lamellensysteme existiren in der Wand eines Röhren- knochens bei den Batrachiern nicht. Alle Lamellen sind. generelle Lamellen und umkreisen die ganze Markhöhle. Durch die Knochenwand tritt in schrä- ger Richtung der Canalis nutritius, der in der Regel doppelt vorhanden ist, und einige kleine Ernährungscanäle, die jedoch nicht von eigenen Lamellen- systemen umgeben sind. Die Epiphysen bleiben während des ganzen Lebens des Thieres rein knorpelig und enthalten keine eigenen Knochenkerne. Ein Ab- schluss des Längenwachsthums scheint bei den Batrachiern nicht vorzukommen; so lange diese Thiere leben, wachsen auch ihre Knochen, da selbst bei den grössten Thieren die epiphysäre Knorpel- grenze noch deutliche Proliferations- erscheinungen darbietet. Aus diesen Angaben KAsTscHENnKo’s ist zu ersehen, dass das Knochengewebe der Batrachier auf einer viel höheren Stufe der Entwickelung steht, als das Knochengewebe der Fische. Die Verthei- lung sternförmig verästelter Knochen- körperchen in einer lamellös geschich- teten Grundsubstanz bildet bereits eben so wohl die Grundform des Knochen- gewebes der Batrachier wie der höhe- ren Wirbelthierklassen. Was den Ba- trachierknochen und daher, in allgemei- nerer Weise gesprochen, den Knochen der Amphibien zum Unterschiede von Kleinere Mittheilungen und Journalschan. den höheren Klassen der Wirbelthiere hauptsächlich fehlt, sind die Havers’- schen Lamellensysteme und die eigenen Knochenkerne in den Epiphysen. Was den ersten Punkt betrifft, so zeigt sich auch bei dem Knochengewebe der Säugethiere, dass die generellen Lamellen die primäre Bildung sind, innerhalb deren sich erst um einge- schlossene Gefässe Resorptionslücken bilden, deren Ausfüllung mit concen- trischen Lamellen zur Entstehung der Havers’schen Lamellensysteme Veran- lassung giebt. Phylogenetische und on- togenetische Entwickelung stimmen also in so fern überein, als die generellen Lamellen die frühere, die Havers’schen Lamellensysteme die spätere Bildung sind. Auch in dem zweiten Punkt, welcher die Anwesenheit eigener Kno- chenkerne in den Epiphysen betrifft, zeigt sich eine deutliche Uebereinstim- mung der phylogenetischen und der on- togenetischen Entwickelungsreihe. So- wie phylogenetisch bei den Knochen der Batrachier der Knochenkern in der Diaphyse zuerst erscheint und einen hohen Grad der Entwickelung erreicht, während die Epiphysen noch das ganze Leben hindurch rein knorpelig bleiben, so ist auch in der menschlichen Ent- wickelungsgeschichte der Knochenkern der Diaphyse stets der primäre und seine "Ausbildung ist bereits eine weit vor- geschrittene, bevor sich die ersten Spu- ren der epiphysären Knochenkerne zu bilden anfangen. Letztere entstehen beim Menschen vielfach erst nach der Geburt, zu einer Zeit also, in welcher die Diaphyse bereits eine sehr erheb- liche Ausdehnung erreicht hat. Was den Typus der Knochenbildung betrifft, so herrscht bei den Batrachiern der neoplastische Typus bereits ent- schieden vor, wenngleich sich neben ihm der metaplastische Typus in grösse- rer Verbreitung findet, als das bei den höheren Thierklassen der Fall ist. Bei der Bildung der periostalen Grundla- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. melle zeigt sich ferner die interessante Erscheinung, dass die beiden Typen der Knochenbildung sich noch nicht deutlich gesondert haben, sondern dass zwischen ihnen noch eine Vermischung stattfindet. Auch dieses Verhalten scheint mir für die phylogenetische Entwicke- lung des Knochengewebes von Bedeu- tung zu sein. Bei den Fischen beruht die Knochenbildung wohl noch aus- ‚schliesslich aufMetaplasie, ihre Knochen- substanz ist in der That nichts Anderes, als ein durch langsame Umwandlung und Verkalkung aus fibrillärem Binde- gewebe und Knorpel hervorgegangenes Gewebe ; — der neoplastische Typus der Knochenbildung, sowie dieOsteoblasten- zelle treten, falls sie hier überhaupt vor- handen sein sollten, der Metaplasie gegen- über vollkommen in den Hintergrund. Bei den Batrachiern findet man nun bereits die Osteoblastenzelle sowie den neopla- stischen Ossificationstypus, ja dieselben sind bereitsder metaplastischen Knochen- bildung deutlich überlegen. Ueber das Knochengewebe der Repti- lien fehlen noch ausreichende Unter- suchungen; das Knochengewebe der Vö- gel ist in seinem feineren histologischen Verhalten von H. MÜLLER, STRELZOFF und Kassowırz ausreichend erforscht, und das Knochengewebe der Säuge- thiere und speciell des Menschen ist von jeher am sorgfältigsten und eifrig- sten untersucht. In dieser ganzen Reihe dürfte sich nun herausstellen, dass auf einer je höheren Stufe der Entwicke- lung die betreffende Thierklasse steht, um so mehr die metaplastische Knochen- bildung zurücktritt, während der neo- plastische Typus an Ausdehnung und Bedeutung zunimmt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die einfache Umwandlung der niederen Formen der Bindesubstanz in Knochengewebe der urprüngliche Vorgang war und dass sich erst im weiteren Verlauf fortschreiten- der Entwickelung nach dem Gesetz von der Theilung der Arbeit eine besondere 229 knochenbildende Zelle entwickelte, de- ren Thätigkeit sich dann in der Aus- bildung des neoplastischen Ossifications- typus bemerkbar machte. Bewahrheitet sich diese Art der Ent- stehung des Knochengewebes so hat es durchaus nichts Auffallendes an sich, die beiden Typen der Knochenbildung in derselben Thierklasse neben einander bestehen zu sehen, doch so, dass je höher die betreffende Thierklasse in der Entwickelung steht, um so mehr die neoplastischeKnochenbildung überwiegt, und es hat in Folge dessen auch nichts Ueberraschendes, dass selbst noch beim Menschen, besonders unter pathologi- schen Verhältnissen, einige Ueberreste metaplastischer Knochenbildung vor- handen sind. Bei den Säugethieren ist Knochen- gewebe und Dentine vollkommen scharf getrennt, reines und typisch durchbil- detes Knochengewebe mit regelmässig vertheiltenKnochenkörperchen und deut- licher Scheidung der Grundsubstanz in Lamellensysteme, bildet, abgesehen von den ersten Jugendzuständen, die ge- sammte Skeletsubstanz, und die eben- so typisch durchbildete gefässlose Den- tine ist auf die Zähne beschränkt, de- ren hauptsächlichstes Constituens sie darstellt. Diese typische Durchbildung und gegenseitige scharfe Absonderung der beiden Gewebe, die in ihrem ersten Auftreten einander so ähnlich und mit einander vermischt waren, kommt nun, wie ich glaube annehmen zu dürfen, dadurch zu Stande, dass die Zellen, welche diese Gewebe bilden, einen ho- hen Grad von Ausbildung und Selbst- ständigkeit erlangt haben. Nach dem Princip der Theilung der Arbeit und der dadurch bedingten Specificirung hat sich aus den niederen Formen der Bindesubstanz eine Zelle herausgebildet, welche die ausschliessliche Fähigkeit der Knochenbildung erlangt hat, und diese Zelle ist es, welcher wir mit 230 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Recht den Namen der Osteoblastenzelle | Knorpel thut, und so sehen wir denn, zuertheilen können. Auf demselben We- ge ist eine andere Zelle entstanden, welche sich zur Fähigkeit der Dentine- bildung erhoben hat, und das ist die Odontoblastenzelle oder Dentinezelle. Beide heben sich desshalb nicht aus der Gruppe der Bindesubstanz heraus, sie gehören auch jetzt noch der Ge- websgruppe an, innerhalb deren sie sich herangebildet haben, sie sind eben nur die äussersten Spitzen, bis zu welchen sich die Bindesubstanz an Ausbildung und dementsprechend an Specificirung erhoben hat. Die Dentinezelle ist je- doch anf diesem Wege weiter vorge- schritten, ihre Selbständigkeit geht so- weit, dass sie sowohl unter normalen wie unter pathologischen Verhältnissen beim Menschen kein anderes Gewebe bildet, als Dentine, sowie Dentine an- dererseits beim Menschen nie auf an- dere Weise entsteht als durch Odonto- blastenbildung. * Die Osteoblastenzelle hat diesen höchsten Grad eigener Selbständigkeit nicht erreicht. In ihrer ungestörten Thätigkeit bildet sie allerdings aus- schliesslich das ihr zugehörige Gewebe: die reine exquisit lamellöse Knochen- substanz; wird sie jedoch durch äussere Einwirkungen wie Druck und Reibung, oder irgend welche andere Verhältnisse, welche ihre Proliferation wesentlich be- schleunigen, zu erhöhter Thätigkeit ge- reizt, so flectirt sie, geht auf ihr phy- logenetisches Vorstadium zurück, und bildet das Gewebe, welches wir als periostalen Knorpel kennen gelernt ha- ben. Dieses Gewebe, welches histolo- gisch vollkommen die Charaktere des Hyalinknorpels darbietet, bewahrt aber doch noch eine viel nähere Beziehung zur Knochenbildung, als es gewöhnlicher * Siehe die betreffenden Angaben dar- über in meinem Vortrag: Zur weiteren Be- gründung der Osteoblastentheorie in den Ver- handlungen der physiologischen Gesellschaft zu Berlin vom 28. Februar 1879. dass dieser periostale Knorpel die me- taplastische Umwandlung in Knochen- gewebe schnell und leicht vollzieht, zu welcher der gewöhnliche Knorpel der höheren Säugethiere und des Menschen schwer, wenn überhaupt fähig ist. Nachdem ich somit die Entstehung der Osteoblastenzelle auf dem Wege der Phylogenie verfolgt habe, handelt es sich nun um den Nachweis ihrer Entstehung auf dem Wege der Onto- genie des Menschen. Auch in der Ontogenie des Men- schen vollzieht sich die Ausbildung so, dass sich aus dem Material der indiffe- renten Bildungszellen die vier grossen Gewebsgruppen: Epithel, Bindesubstanz, Muskelgewebe und Nervengewebe her- ausbilden. Auch hier spricht Alles da- für, dass diese Gewebsgruppen constant hleiben, d.h. dass eine Zelle, welche einmal die deutlichen Charaktere der einen Gruppe angenommen hat, nicht mehr die Grenzen dieser Gruppe über- schreitet; auch hier sehen wir ferner innerhalb der Gruppen und speciell in der uns hier besonders interessirenden Gruppe der Bindesubstanz unter dem Einfluss der Vererbung eine fortschrei- tende Differenzirung zu höheren Formen, welche zur Ausbildung der Osteoblasten- zelle und der Odontoblastenzelle führt. Beide Zellarten gehen aus den tiefer- stehenden bindegewebigen Zellen durch Metaplasie hervor. Sind sie aber ein- mal entstanden, so bewahren sie ihre Selbständigkeit und pflanzen die ihnen innewohnenden Fähigkeiten auf ihre durch Theilung hervorgehende Nach- kommenschaft fort. Ob die Fötalzeit die einzige Zeit ist, in welcher die Heranbildung einer tieferstehenden bin- degewebigen Zelle zur Odontoblasten- zelle und besonders zur Osteoblasten- zelle geschieht, oder ob auch in der nachfötalen Zeit, z. B. bei den spät verknöchernden Knorpelanlagen (Patella, alle Hand- und fünf Fusswurzelknochen Kleinere Mittheilungen und Journalschau. und die Sesambeine) sich die Ausbildung der Osteoblastenzellen aus tieferstehen- den bindegewebigen Zellen vollzieht, das mag, wie ich bereitwillig zugebe, Ge- genstand der Discussion sein, als fest- stehende Thatsache betrachte ich es dagegen, dass sich die Ausbildung der Osteoblastenzellen aus den niederen Zellformen zum bei Weitem grössten Theile in der Fötalzeit vollzieht. Ebenso bestreite ich nicht, dass unter patho- logischen Verhältnissen auch bisweilen aus tieferstehenden Formen der Binde- substanz eine Heranbildung von Osteo- blastenzellen zu Stande kommen kann, die dann zur Entstehung wirklichen la- mellösen Knochengewebes Veranlassung geben. Die grosse Seltenheit dieses Vorkommens, so wie der Umstand, dass wir dasselbe in keiner Weise durch das Experiment herbeiführen können, be- weist jedoch, dass es sich hier um ganz exceptionelle, uns in ihren Grund- zügen noch unbekannte Processe han- delt. Ganz besonders aber habe ich bereits früher hervorgehoben, dass die Östeoblastenzelle selbst flexionsfähig bleibt. Sie flectirt von ihrer Höhe der Durchbildung, wenn sie, wie bereits oben ausgeführt wurde, den periostalen Knorpel bildet, sie flectirt aber noch viel weiter unter dem Einfluss der ma- lignen Tumorbildung‘“. Am Schlusse wies der Vortragende noch darauf hin, dass die maligne Tu- morbildung beim Menschen (das Sar- kom und die Krebsgeschwulst) sich dar- auf zurückführen lassen, dass bei der ersteren Art ein Rückschlag hochent- wickelter bindegewebiger Zellformen auf niedere bindegewebige Gewebstypen stattfindet, und bei der Krebsgeschwulst gleichfalls ein Rückschlag hochentwickel- ter epithelialer Zellformen auf indiffe- rente, functionslose Epithelzellen, sowie eine regellose (atypische) Durcheinan- * Die vorliegende Abhandlung wurde am 2. September 1881 vor der Sektion D der Britischen Naturforscherversammlung in 231 derwucherung dieser niederen epithe- lialen Zellformen mit dem darunterliegen- den, gefässtragenden Bindegewebe. Jurassische Vögel und ihre Verwandten von Prof. 0. 6. Marsh.* Vor ungefähr zwanzig Jahren wurden zwei fossile Thiere von grossem Interesse in den lithographischen Schiefern Bayerns gefunden. Das eine war das jetzt im britischen Museum befindliche Skelet des Archaeopteryc und das andere der im königlichen Museum zu München aufbewahrte Compsognathus. Eine ein- zelne Feder, auf welche der Name Ar- chaeopteryx durch von MEYER zuerst an- gewendet worden war, hatte man vorher an derselben Lokalität entdeckt. In neuerer Zeit ist ein anderes Skelet in denselben Schichten an’s Licht gekom- men und befindet sich nunmehr in der Berliner paläontologischen Sammlung. Diese drei Exemplare von Archaeoptery& sind die einzigen bekannten Ueberreste dieser Gattung, während von Compso- gnathus das Originalskelet bis zu dieser Stunde der einzige Repräsentant ist. Diese beiden Thiere wurden bei ihrer ersten Entdeckung durch WAGNER, wel- cher den Compsognathus beschrieb, alle beide als Reptile betrachtet, und diese Ansicht ist von verschiedenen Autoren bis zur gegenwärtigen Zeit festgehalten worden. Die besten Autoritäten stimmen indessen jetzt mit Owen darin überein, dass Archaeopteryx ein Vogel, und dass Compsognathus, wie (GEGENBAUR und Huxuey gezeigt haben, ein zu den Dinosauriern gehöriges Reptil ist. Da ich für mehrere Jahre mit der Untersuchung mesozoischer Vögel Ameri- ka’s beschäftigt gewesen bin, wurde es wichtig für mich, die europäischen For- men zu studiren, und ich habe kürzlich York gelesen. Sie berichtigt viele der früher von CARL VoGr gemachten Angaben (vgl. Kosmos Bd. VI, S. 226). 232 ” Kleinere Mittheilungen und Journalschau. mit einiger Sorgfalt die drei bekannten | untern Kinnlade sind keine Zähne be- Exemplare von Archaeopterys untersucht. Ich habe ausserdem in den Museen des Continents verschiedene fossile Reptilien, welche Licht auf die ursprünglichen Formen der Vögel zu werfen versprechen, und darunter den Compsognathus studirt. Während meiner Untersuchungen des Archaeoptery& beobachtete ich einige früher nicht festgestellte Charaktere von Wichtigkeit, und ich habe es für pas- send erachtet, sie hier vorzulegen. Die wichtigsten dieser Charaktere sind die folgenden: 1. Das Vorhandensein wahrer Zähne an Ort und Stelle im Schädel. 2. Bikonkave Wirbel. 3. Ein wohlverknöchertes Brustbein. 4. Nicht mehr als drei Finger, die sämmtlich mit Krallen versehen sind an der Hand. 5. Getrennte Beckenknochen. 6. Das distale Ende der Fibula in - einer Front mit der Tibia. 7. Getrennte oder unvollständig ver- einigte Mittelfussknochen. Diese Charaktere zeigen in Ver- bindung mit den früher beschriebenen freien Mittelhandknochen und dem langen Schwanze klar, dass wir im Archaeo- pterys eine höchst merkwürdige Form vor uns haben, welche, wenn sie, wie ich glaube, einen Vogel vorstellt, gewiss der reptilienähnlichste aller Vögel ist. Wenn wir jetzt diese verschiedenen Charaktere im Detail untersuchen, wird ihre Wichtigkeit augenfällig werden. Die wirklich in dem Schädel an Ort und Stelle befindlichen Zähne scheinen im Prämaxillare zu sitzen, da sie unter oder vor der Nasenöffnung befindlich sind. Die Form der Zähne ist, sowohl was Krone als Wurzel betrifft, sehr ähnlich derjenigen bei Hesperornis. Der Umstand, dass einige Zähne in der Nähe der Kinnlade verstreut sind, dürfte dar- auf schliessen lassen, dass sie in eine Rinne eingepflanzt waren. Aus der breites reptilisch. kannt, aber es waren wahrscheinlich solche darin vorhanden. Die Präsakral-Wirbel sind sämmtlich oder nahezu alle bikonkav und gleichen denjenigen von Ichthyornis in der all- gemeinen Form, ohne jedoch die weiten seitlichen Oeffnungen zu haben. Es scheinen einundzwanzig Präsakralwirbel und dieselbe oder nahezu dieselbe Zahl von Schwanzwirbeln vorhanden zu sein. Die Zahl der Kreuzbeinwirbel ist ge- ringer als die bei irgend einem bekann- ten Vogel vorhandene; es sind deren jedenfalls nicht über fünf und wahr- scheinlich weniger zusammen vereinigt. Der Schulterbogen gleicht genau demjenigen der modernen Vögel. Die Artikulation des Schulter- und Raben- bein und des letzteren mit dem Brust- bein ist charakteristisch, und das Gabel- bein ist entschieden vogelartig. Das Brustbein ist eine einzige breite wohl- verknöcherte Platte. Es trug wahr- scheinlich einen Kiel, aber derselbe ist bei den bekannten Exemplaren nicht exponirt. Bei dem Flügel selbst konzentrirt sich das Haupt-Interesse auf die Hand und ihre freien Mittelhandknochen. In Form und Stellung sind diese drei Knochen genau so, wie man sie bei einigen jungen Vögeln unsrer Tage sehen kann. Das ist ein Punkt von Wichtig- keit, da es ausgesprochen worden ist, dass die Hand des Archaeoptery& nicht in allen Stücken vogelartig sei, sondern Die Knochen des Reptils sind in der That vorhanden, aber sie haben bereits das Gepräge des Vogels erhalten. Einer der interessantesten während meiner Untersuchung des Archaeopteryx festgestellten Punkte war der getrennte Zustand der Beckenknochen. Bei allen andern bekannten, erwachsenen Vögeln, und zwar bei den lebenden sowohl als bei den ausgestorbenen sind die drei Bestandtheile des Beckens, Darmbein, Kleinere Mittheilungen und Journalschan.. z Sitzbein und Schambein, fest unterein- ander verknöchert. Bei jungen Vögeln sind diese Knochen getrennt, und bei allen bekannten Dinosauriern sind sie ebenfalls getrennt. Dieser Punkt wird vielleicht etwas deutlicher werden durch die beiden vor Ihnen befindlichen Dia- gramme, welche ich der Freundlichkeit meines Freundes Dr. WoopwArD vom Britischen Museum verdanke, der mir auch ausserordentliche Erleichterungen für die Untersuchung des unter seiner Oh- hut befindlichen Archaeoptery& gewährte. Auf dem ersten Diagramm haben wir das Becken eines dem Iyuanodon ver- wandten amerikanischen Jura-Dinosau- rier dargestellt, und hier sind die Becken- knochen getrennt. Das zweite Diagramm giebt eine vergrösserte Ansicht des Beckens vom Archaeopteryx im Britischen Museum, und hier kann man ebenfalls erkennen, dass das Darmbein von dem Sitz- und Schambein getrennt ist. Bei Vögeln ist das Wadenbein ge- wöhnlich unten unvollständig oder gänz- lich mit der Seite des Schienbeins ver- wachsen. Bei den typischen Dinosauriern, Iguanodon zum Beispiel, steht das Waden- bein an seinem distalen Ende in einer Front mit dem Schienbein, und dies ist genau seine Stellung bei Archaeopteryz, ein interessanter bisher bei Vögeln nicht beobachteter Punkt. Die Mittelfussknochen von Archaco- pteryx zeigen, wenigstens auf der äussern Seite, tiefe Gruben zwischen den drei Elementen, welche darauf schliessen lassen, dass die letzteren getrennt oder spät mit einander vereinigt sind. Die freien Mittelhandknochen und getrennten Beckenknochen-würden ebenfalls auf un- verbundene Mittelfussknochen schliessen lassen, obgleich sie natürlich so dicht aneinander gestellt sind, dass sie ver- bunden erscheinen könnten. Unter andern Punkten von Interesse beim Archaeopteryx mag die Gehirnform erwähnt werden, welche zeigt, dass das Gehirn, obgleich verhältnissmässig klein, 233 doch dem eines Vogels ähnlich war, und nicht demjenigen eines Dinosaurier- Reptils. Es gleicht in der Form dem Gehirn-Abdruck von Laopteryx, einem amerikanischen Jura-Vogel, welchen ich kürzlich beschrieben habe.* Das Gehirn dieser beiden Vögel scheint eine etwas höhere Entwickelungsstufe zubezeichnen, als dasjenige des Hesperornis, aber dies mag der Thatsache zuzuschreiben sein, dass der letztere ein Wasservogel war, während die jurassischen Arten Land- vögel waren. Da die Dinosaurier jetzt allgemein als die nächsten Verwandten der Vögel betrachtet werden, war es interessant, in jenen viele Punkte von Aehnlichkeit mit der letzteren Klasse erforscht zu finden. Compsognathus zum Beispiel zeigt in seinen Extremitäten eine schla- gende Aehnlichkeit mit Archaeopterys, Die drei bekrallten Finger der Hand stimmen genau mit denen jener Gattung überein, obgleich die Knochen von verschiedenen Proportionen sind. Der Hinterfuss hat auch im Wesentlichen bei beiden denselben Bau. Die Wirbel und die Beckenknochen von Compso- gnathus weichen indessen wesentlich von denjenigen des Archaeopteryx ab, und die beiden Formen sind in Wirklichkeit weit von einander getrennt. Als ich das Skelet des Compsognathus untersuchte, entdeckte ich in der Unterleibshöhle desselben die Ueberreste eines kleinen Reptils, welche vorher nicht beobachtet worden waren. Die Gestalt und Lage dieses einge- schlossenen Skelets würden darauf schliessen lassen, ‘dass es ein Fötus war; aber es mag auch möglicherweise das verschluckte Junge derselben oder einer verwandten Art darstellen. Kein ähnliches Beispiel ist unter den Dino- sauriern bekannt geworden. Ein Uebereinstimmungspunkt von einiger Wichtigkeit zwischen Vögeln und Dinosauriern liegt in dem Schlüsselbein. * Vgl. Kosmos Bd. IX, S. 159 234 Alle Vögel haben derartige Knochen, aber dieselben wurden als den Dino- sauriern fehlend betrachtet. Zwei im Britischen Museum befindliche Exem- plare von JIguanodon zeigen indessen, dass diese Elemente des Brustgürtels bei jener Gattung vorhanden waren, und in einem vor Ihnen befindlichen Diagramm ist einer dieser Knochen dar- gestellt worden. Einige andere Dino- saurier besitzen Schlüsselbeine, aber in verschiedenen Familien dieser Unter- klasse, wie ich sie auffasse, scheinen sie zu fehlen. Die nächste für jetzt bekannte An- näherung an die Vögel dürfte anschei- nend bei den sehr kleinen Dinosauriern aus den amerikanischen Juraschichten zu finden sein. Bei einigen derselben können die getrennten Knochen des Skelets nicht mit Sicherheit von den- jJenigen der jurassischen Vögel unter- schieden werden, wenn der Schädel fehlt, und sogar in diesem Theile ist die Aehnlichkeit schlagend. Einige dieser kleinen Dinosaurier waren vielleicht nach ihrer Lebensweise Baumbewohner, und der Unterschied zwischen ihnen und der mit ihnen lebenden Vögeln mag zuerst hauptsächlich in den Federn bestanden haben, wie ich in meiner im vergangenen Jahre publieirten Arbeit über die Zahn- vögel gezeigt habe. Es ist eine interessante Thatsache, dass alle bekannten jurassischen Vögel sowohl von Europa als von Amerika Landvögel waren, während alle aus den Kreideschichten stammenden Wasser- formen sind. Die vier ältesten bekann- ten Vögel differiren indessen weiter von einander, als es irgend zwei jetzt lebende Vögel thun. Diese Thatsachen zeigen, dass wir auf höchst wichtige Entdeck- ungen in der Zukunft hoffen dürfen, im Besondern aus den Triasschichten, welche bis jetzt noch keine authentischen Vogel- * Anm. d. Red. In der an diesen Vor- trag sich knüpfenden Diskussion sprach Prof. H. G. SEELEY die Vermuthung aus, dass der Kleinere Mittheilungen und Journalschau. spuren geliefert haben. Für die primi- tiven Formen dieser Klasse müssen wir augenscheinlich auf die paläozoischen Schichten rechnen.* Durch Atavismus verständliche Anomalieen der tiefen Handbeugemuskeln bei einem mikrocephalen Mädchen fand Cnunzinsky bei der schon früher (1875 u. 76) durch Broca studirten Marie Conrad, einer 3!/g Monate alt gewordenen Microcephalen und sei- nem am 4. August 1881 der Pariser anthropologischen Gesellschaft vorge- legten Bericht entnehmen wir das Nach- stehende: Das Gehirn dieses Mädchens wog nur 104 Gramm. Ausserdem bot ihr Körper mehrere Anomalieen in den Eingeweiden und besonders eine Ver- bindung des Rectum mit der Vulva dar. Es ist wahrscheinlich, dass diese von BrocA beschriebenen Anomalieen nicht die einzigen waren, denn die Sektion ist an dem in Alkohol aufbewahrten Cadaver nicht vollständig durchgeführt worden. Beim Studium des Muskel- und Nervensystems dieser Microcephalen fand nun Cnupzinsky verschiedene ata- vistische Bildungen, für deren Verständ- niss es nöthig ist, kurz die Anordnung der tiefen Beugemuskeln der Hand beim Menschen und bei den andern Primaten zu beschreiben. j Beim Menschen sind die beiden tie- fen Beuger, d. h. der besondere Beuger des Daumens und der gemeinsame Beuger der Finger von einander isolirt. Noch mehr, das für den Zeigefinger bestimmte Bündel dieses letzteren Muskels ist ge- wöhnlich von der gemeinsamen Masse trennbar. Indessen kommen mitunter und am häufigsten bei den Negern Ana- stomosen zwischen den beiden tiefen Beugern sei es vermittels Muskelfasern Archaeoptery& des Britischen Musaum nicht nur der Art sondern sogar der Gattung nach von dem Berliner Exemplar verschieden sei. Di Kleinere Mittheilungen und Journalschau. oder sehniger Abtheilungen vor, Das zerstört im Allgemeinen nicht die fun- damentale Anordnung des menschlichen Typus. Bei den pithekoiden Affen bilden die beiden tiefen Beuger nur eine ein- zige gemeinsame Masse, deren Sehnen bis in die Nähe des Handwurzelgelenks verschmolzen sind. Die dem Daumen bestimmte Sehne löst sich allein von dem vordern Theile der gemeinsamen Sehnenmasse. Sie ist sehr dünn und ihre Richtung sehr schief. Der fünfte Finger empfängt im Gegentheil ein iso- lirtes Muskelbündel, welches sich auf dem Ellbogenbein inserirt. Dieselbe An- ordnung soll beim Gorilla vorkommen. Bei den Gibbons ist die Anordnung der tiefen Beugemuskeln beinah mensch- lich. Er existirt einzig zwischen dem besondern Beuger des Daumen und der tiefen Flechse des Mittelfingers eine Anastomose, die durch eine von dem besondern Beuger des Daumens aus- gehende sehnige Ausdehnung gebildet wird. CHupzıssky hat diese Anordnung bei Negern sehr häufig konstatiren können. Bei den Chimpansen ist der besondere Beuger des Daumens nur durch eine kurze Sehne vertreten, welche von der Scheide der gemeinsamen Fingerbeuger entspringt. Beim Orang endlich ist der besondere Beuger des Daumens nur durch eine kurze und winzige Sehne vertreten, welche von den Muskeln der Daumen- klopferspitze und besonders des kurzen Daumenbeugers entspringt. Es ist nun genau diese letztere, von dem menschlichen Typus entfernteste An- ordnung, welche Cuupzıssky bei Marie Conrad konstatirte. An beiden Händen war der eigene Beuger des Daumens 235 durch eine winzige, von dem Adduktor und dem kurzen Extensor des Daumens ausgehende Flechse ersetzt. Die ein- zige an den besondern Beuger des Daumens gebliebene Erinnerung war ein sehr dünnes Bündel des gemein- samen Beugers, welches sich an den Rollenknorpeln befestigte. CmupzınskY hat einen Abguss dieser Theile an- gefertigt und im Museum Broca de- ponirt. Der Einfluss der Musik auf den Blutumlauf ist beim Menschen wiederholt und noch in neuerer Zeit konstatirt worden. Von Interesse sind aber einige neuere Beob- achtungen von Dr. DocıEL, welche zeigen, dass die Musik auf das Gefässsystem der Thiere in ganz ähnlicher Weise einwirkt, und in den häufigsten Fällen eine Be- schleunigung der Herzschläge, aber auch ausserdem Aenderungen im Blutdruck und in der Respiration hervorbringt. Der Gesang der Fische, Frösche und Vögel in der Paarungszeit erhält da- durch einen tiefern Sinn. Docızı glaubt sichüberzeugtzuhaben, dassdie Wirkung zunächst von dem verlängerten Mark aus- geht. Natürlich taucht dabei die seit den Tagen Sauls ventilirte Frage wieder auf, ob die Musik nicht doch als ein wichtiges Heilmittel angewendet werden könnte, und die Quelle, der wir diese Angaben entnehmen (Revue scientifique. 15. Octob. 1881. S. 506), gedenkt eines Kranken, der an nervösem Asthma litt, und jedesmal bei musikalischen Auf- führungen eine bedeutende Erleichterung seines Leidens verspürte. Natürlich wird die Wirkung bei nervösen Personen am | stärksten sein. Litteratur und Kritik. Neuere philosophische Schriften. 1)Philosophie der Naturwissen- schaft. Eine philosophische Ein- leitung in das Studium der Natur und ihrer Wissenschaften von Prof. Dr. Frrrz Schuutze. I. Theil. 446 8. in 8. Leipzig, Ernst Günthers Ver- lag, 1881. 2)Die Grundgedanken des Ma- terialismus und die Kritik, derselben. Ein Vortrag von Prof. Dr. Frırz Schuutze. 80 S. in 8. Leipzig, Ernst Günthers Verlag, 1881. 3)Der Zusammenhang der Dinge. Gesammelte philosophische Aufsätze von Dr. Orro CAspArı, Prof. an der Universität zu Heidelberg. 488 8. .in8. Breslau, Eduard Trewendt, 1881. 4) Ueber den Ausgangspunkt und dieGrundlage der Philo- sophie. Zur Richtschnur für die Bewerber um den vom freien deutschen Hochstifte für Wissenschaften, Künste und allgemeine Bildung in Göthe’s Vaterhause zu Frankfurt am Main ausgesetzten Preis von MAXIMILIAN Dross#AcH. Frankfurt a.M. 111 S. in S. Freies deutsches Hochstift. 1881. (Zu ‘beziehen durch F. A. Brockhaus in Leipzig.) | 5)Die einheitliche Weltanschanu- ung und die Grundzüge des menschlichen Gesellschaftsle- bens von A. REICHENBACH. 268 8. in 8. Berlin, Wilhelm Issleib, 1881. | l) Scuuurze’s Philosophie der Na- turwissenschaft strebt den Versuch an, zu einem Ganzen vereinigt, Geschichte, Kritik und Resultate der Philosophie in einer allgemein verständlichen Sprache und in gewinnender Form darzustellen, um der jetzt ziemlich weit verbreiteten Geringschätzung der. Philosophie ent- gegenzuarbeiten und ihr zahlreiche neue Anhänger zuzuführen. In diesem Plane wird also der von EDUARD ZELLER, E. Erpmann und Kuno FIscHEr in ihren historischen Darstellungen betretene Weg über die Philosophie zu philosophiren, fortgesetzt, wobei die im Gange der Entwickelung aufgetretenen Unzuläng- lichkeiten und neuen Aufgaben klar vor dem Auge des Lesers, der diese Entwickelung gleichsam durchlebt, her- vortreten. Der Verfasser hatsich dann im besondern die Aufgabe gestellt, die gewonnenen Resultate für die Natur- wissenschaften im weitesten Sinne des Wortes zu verwerthen, um eine gegen- seitige heilsame Durchdringung zwischen diesen und der Philosophie anzubahnen. Sein Buch ist also vorzugsweise für die Männer der mathematisch-empirischen Wissenschaften bestimmt, aber nicht in dem Sinne, als ob es nur für diese geschrieben und verständlich wäre, son- dern vielmehr um ihre Resultate im Lichte des Kritizismus zu betrachten und zu begrenzen, mit andern Worten, um den empirischen Forscher vor’ jenen Schlüssen zu bewahren, die oft weit über das Gefundene hinausgehen. Es will ihn auch vor der nicht weniger bösen Klippe bewahren, Schlüsse als - Litteratur und Kritik. neu hinzustellen, die schon längst da- | gewesen sind, und vor der philosophi- schen Kritik nicht haben bestehen kön- nen. Man sieht, die Idee dieses Wer- kes ist eine glückliche und vielverspre- chende, auch die Ausführung erscheint uns, soweit sie vorliegt, als eine durchweg sehr wohl gelungene. Da die meisten Artikel dieses Bandes, der die geschicht- liche Entwickelung und Kritik der Phi- losophie von den jonischen Philosophen bis auf Kant enthält, früher im »Kos- mos« erschienen sind, so brauchen wir den Lesern die grosse Klarheit dieser Darstellungen und die Schärfe der Dia- lektik nicht besonders in’s Gedächtniss zu rufen, in dieser Beziehung dürften sie in der gesammten philosophischen Literatur kaum ihres Gleichen ha- ben. Der zweite Theil, dessen Er- scheinen binnen Kurzem in Aussicht gestellt ist, soll die auf diesem kriti- schen Wege gewonnenen Resultate ent- halten. 2) Die kleinere, den »Grundgedanken des Materialismus« gewidmete Schrift desselben Verfassers ist eine noch mehr populäre und auf das Verständniss wei- terer Kreise berechnete Darlegung der Unzulänglichkeit des Materialismus als eines philosophischen Systems. Sie zeigt, dass der Materialismus, so lange es sich nur um die Erforschung der materiellen Welt und ihrer Gesetze handelt, als methodologischesForschungsprinzip wohl berechtigt sein kann, und doch zurück- gewiesen werden muss, sobald es sich um ein die Gesammtwelt umfassendes philosophisches System handelt. Von besonderem Interesse ist der Abschnitt (S. 44—49), in welchem dargelegt wird, dass der Darwinismus in keiner Weise, obwohl es immerfort behauptet wird, mit dem Materialismus in einer nähern Ver- bindung steht, als in derjenigen, dass er sich eben, wie unser ganzes positi- ves Wissen, auf die Erforschung der materiellen Verhältnisse stützt. 237 „Angenommen,“ sagt der Verfasser, „es wäre bereits exact bewiesen, dass die Pflan- zen- und Thierformen sich allmälig ausein- ander entwickelt hätten, so wäre über den ersten Ursprung der anorganischen wie der organischen Welt damit noch gar nichts ent- schieden. Es blieben darüber noch eine Fülle von Möglichkeiten offen: die Welt könnte von einem transcendenten Gott ge- schaffen sein, und dieser die Entwicklungs- fähigkeit von vorn herein in sie hineinge- lest haben, oder die Welt könnte, wie a Pantheismus meint, eben selbst das Göttliche sein, das sich entwickelt hätte, oder die Welt als blosse Materie könnte sich durch Zufall zu dem entwickelt haben, was sie jetzt ist, der Darwinismus kann diese Frage nach dem ersten Ursprung aller Dinge so wenig mit Sicherheit beantworten, alsirgend eine andere Lehre, denn er hat es mit einem rein em- pirischen und immanenten Problem zu thun, nicht mit einem transcendent-metaphysischen. Der Darwinismus ist also auch an sich (ge- rade so wie irgend eine Lehre der Physik oder Chemie), weder christlich noch heidnisch, weder materialistisch noch pantheistisch — er ist einzig naturwissenschaftlich. An sich also steht er den metaphysischen Hypothesen ganz indifferent gegenüber. Ge- rade deshalb kann man ihn allerdings auch mitjeder beliebigen metaphysischen Theorie in Verbindung setzen. Vor- zugweise die Materialisten haben sich des Darwinismus bemächtigt, ihn für sich zum Beweise ihrer Theorieen gemissbraucht und ihn bei Anhängern anderer Lehren dadurch in Misskredit gebracht. Aber man sucht ver- geblich nach einem Grunde, warum der Dar- winismus nicht ebenso gut in ein pantheisti- sches System hineinpassen oder sich mit rein christlichen Anschauungen vertragen solle.“ Es ist dies dieselbe Ansicht, die stets im »Kosmos« vertreten wurde, und ebenso können wir uns völlig mit dem- jenigen einverstanden erklären, was Verf. über den sittlichen Materialismus sagt, nämlich, dass auf Grund des reinen Materialismus keine sittliche Weltan- schauung aufzubauen sei, wohl aber auf Grund des reinen Darwinismus, da in diesem das Prinzip des Fortschrittes und des Aufschwungs zu einem höheren Dasein den Mittelpunkt bildet. Wenn der Mensch dem Thierreiche entsprossen ist, so kann dieses Verhältniss nur dazu dienen, ihn zu einem immer höhern Streben zu ermuntern, und dass er 238 dazu nicht den blinden Antrieb des Kampfes um’s Dasein erwarte, sondern seine erworbenen intellektuellen Fähig- keiten zu benützen hat, ist selbstver- ständlich. der Verfasser den Materialismus und seine Folgen im praktischen Leben und Lebensgenuss, in der Kunst und Religion, und schliesst damit, dass er unsere Zeit als einen Herkules bezeichnet, der un- endlich gewaltigere Thaten verrichtet habe, als der antike, aber auch als einen Herkules am Scheidewege, der den rechten Weg auf realem Boden zum sichern Ideal zu wählen habe. Die Rede verdiente die weiteste Verbreitung und Beherzigung unter den Gebildeten. 3) Eine ähnliche Tendenz wie dem ersterwähnten Werke, nämlich Natur- wissenschaft und Philosophie miteinan- der in Berührung und Wechselwirkung zu bringen, wohnt auch dem CaAsPpArr- schen Buche ein, welches zum Theil ebenfalls aus Aufsätzen hervorgegangen ist, die früher im »Kosmos« erschienen waren, aber auch verschiedene ganz neue, von besonderem actuellem Inter- esse enthält. Es zerfällt in vier Ab- schnitte: 1) Naturwissenschaftliche Pro- bleme. 2) Zur Erkenntnisskritik dertrans- scendentalen Grundphänomene. 3) Zur Psychologie. 4) Zur Ethik. Wir machen hier besonders auf die Bemerkungen des Verfassers über das Raumproblem aufmerksam, hinsichtlich dessen er sich auf die Seite von Rısmann und HELnm- HOoLTz stellt, und die Ansichten von Wuxpr bekämpft. Ebenso tritt er den Wunpr’schen Anschauungen über das Seelenvermögen entgegen und sucht zu zeigen, dass sie’ sich in einer längst überwunden geglaubten, naiv dogmati- schen Richtung bewegen. Die nicht eigentlich philosophischen Kreise wer- den am meisten von einigen Aufsätzen angezogen werden, die das Problem über den Ursprung der Sprache behan- deln. Der jetzt zum Gemeinplatz ge- Mit drastischen Farben malt Litteratur und Kritik. wordene Satz, dass die Sprache die Vernunft erschaffen habe, welchen man gewöhnlich Lazarus GEIGER zu- schreibt, ist, wie wir hier erfahren, schon erheblich früher von dem Ver- fasser in seiner Doctoratsschrift: »Die Sprache als psychischer Entwickelungs- grund« (Berlin, 1864) aufgestellt wor- den und den verschiedenen, von empiri- schen Fundamenten ausgehenden Theo- rieen über den Sprachursprung, die man nach ihrem auf polemischem Wege erhaltenen Spitznamen als Wauwau- und Bimbam-Theorieen bezeichnet, hat CAs- parı die Adaptions-Theorie hin- zugefügt, welche den Einfluss der Familien- und Gesellschaftsbildung auf die Lautfixirung betont. Eine lesens- werthe Polemik gegen Noırk, Max MürLer und Warney knüpft sich an diese Darlegungen, und mit Recht wird am Schlusse derselben bemerkt, dass der Sieg auf diesem Gebiete we- der denreinen Empiristen, wie PESCHEL und Gustav JÄGER, noch auch den Na- tivisten (SrtEINTHAL, M. MÜLLER, GEIGER, Noir#),nochgardenreinenTheologen (den Anhängern Wuırney’s) zufallen werde, sondern vielmehr denen, die sich über die Einseitigkeiten der genannten Theorieen zu erheben im Stande sind. In dieser Weise übt der Verfasser die Waffen des Kritizismus auf den verschiedensten Feldern und Grenzgebieten der Philo- sophie, und seine mit der kritischen Sonde erhaltenen Ergebnisse sind immer werth, geprüft zu werden, auch dann, wenn sie uns im ersten Augenblicke wie Paradoxieen entgegentreten. 4) Das als viertes in unserer Reihe angeführte Buch will den Ausgangs- punkt einer neuen Philosophie in der »bewussten Anschauungs der Natur- dinge feststellen, also ungefähr von demselbenerkenntnisstheoretischen Prin- zipe ausgehen, auf welchem die ge- sammte Kantische Schule und im be- sondern der Kritizismus seine Stoa : Litteratur und Kritik. errichtet. Daher will es uns etwas son- derbar bedünken, wenn dasFreie deutsche Hochstift gerade nur die seit 1865 er- schienenen Schriften von MAxIMILIAN DrosspAcH und deren erkenntnisstheo- retischen Ergebnisse zu einem wohlge- fügten Lehrgebäude aufgerichtet haben will, und zu diesem Zwecke einen Preis von 1000 Mark ausschreibt. Noch son- derbarer aber erscheint es uns, dass das Hochstift Herrn DrossBAcH ersucht hat, die vorliegende Anleitung zu Lös- ung dieser Aufgabe zu verfassen, denn viel einfacher und aussichtsreicher wäre es doch am Ende gewesen, Herrn Dross- BACH lieber gleich selber zur Errichtung dieses wohlgefügten Lehrgebäudes zu veranlassen, denn er muss doch am Ende seine Gedanken am besten zu sammeln und zu ordnen im Stande sein. Auch das Buch selbst enthält viele seltsame Ideen, z. B. die von dem fort- schreitenden Gott, der, weil er ebenso wie der Mensch immer höhere Stufen erreicht, auch immer gleich weit über demselben erhaben bleibt. Immerhin bleibt es dankenswerth, die gesammte, in mancherlei Schriften zersplitterte Ideenwelt DrosspAcH’s, welche der Ori- einalität, wie das eben citirte Beispiel beweist, keineswegs ermangelt, hier kurz zusammengestellt zu finden. 5) Das letzte Werk, welches wir hier erwähnen, beschäftigt sich mehr mit einer praktischen Philosophie und Ethik, wie sie sich aus der sogenann- ten monistischen Weltanschauung er- geben. Es ist aus zwei mit Beifall aufgenommenen öffentlichen Vorträgen hervorgegangen, welche über »die alte Weltanschauung und deren Zersetzung und über »Natur- und Sittengesetz« handelten. Demgemäss ist der Charak- ter des Buches ein völlig populärer. Eigentlich neue und überraschende Ideen haben wir kaum in dem Buche ange- troffen, obwohl der Verfasser betont, dass er hier nur seine eigene dreizehn- 239 jährige Gedankenarbeit mittheile. Aber im Einzelnen sind seine Ansichten grossen- theils einem gesunden Gefühle, und der Anerkennung des Entwickelungsprinzipes entsprungen ; der ewig-unendliche Wer- deprozess des Weltalls ist ihm die Ver- wirklichung des Absoluten. Der Mensch muss seiner Stellung im Naturganzen entsprechen, und sich zu sittlicher Frei- heit und Selbständigkeit emporzuringen suchen. Eine gewaltsame, auf Umsturz gerichtete Entwickelung verwirft der Ver- fasser, weil sie nichts Solides erreiche, nur eine allmälige, stetige und gründ- liche Umgestaltung führe zum Ziele. Das Buch ist besonders denen, welche in der neuen Weltanschauung den Unter- gang der Moral und Religiosität sehen, zur eingehenden Lektüre zu empfehlen. Henry Thomas Buckle’s Leben und Wirken von Aurkep H. Hurn. Auszugsweise umgearheitet von Lro- PoLD Karscher. 229 S. in kl. 8. Leipzig und Heidelberg, ©. F. Winter’- sche Verlagsbuchhandlung, 1381. Den zahlreichen Bewunderern Buck- ve’s in Deutschland, und namentlich den Besitzern seiner wahrhaft im entwickel- ungsgeschichtlichen Sinne geschriebenen Geschichte der Civilisation in England wird die vorliegende, reichlich mit Briefen des Geschilderten illustrirte Biographie, deren Verfasser ihm persönlich nahe gestanden hat, gewiss eine willkommene Gabe sein. Uebrigens hat der Bearbeiter sehr Recht daran gethan, das etwas weitschweifige englische Original erheb- lich zu kürzen; wir erhalten genug, um uns ein deutliches Bild von dem Leben und Wirken des ausgezeichneten Historikers, den ein früher Tod an der Vollendung seines Lebenswerkes hin- derte, machen zu können, 240 Studien zurältesten Geschichte derRheinlande von Dr. C. Mer- vıs. Fünfte Abtheilung. Mit Bei- trägen der Professoren Dr. O. FrAAS, Dr. Horprr-Seyter, Dr. WALDEYER, Geheimrath Dr. ScnaarnAausen. (Her- ausgegeben von der Pollichia, natur- wissenschaftlichem Vereine der Rhein- pfalz). 70 S. in 8° und 6 Tafeln. Leipzig, Duncker & Humblot, 1881. Diese neue Fortsetzung der »Stu- dien« enthält die genauere Beschreib- ung des wichtigen Grabfundes zu Kirch- heim an der Eck, über welchen der Verfasser auch im »Kosmos« (Bd. VIII, S. 445—50) kurz berichtet hatte. Bei der genauen Untersuchung und Bestim- mung der Knochenreste und sonstigen Fundstücke hatte sich Verfasser der Unterstützung der auf dem Titel ge- nannten Gelehrten zu erfreuen, und es mag hier zu dem früher Mitgetheilten noch hinzugefügt werden, dass Prof. SCHAAFHAUSEN bei seiner nachträglichen Untersuchung des Skelettes die Aehn- lichkeit der Schädelbildung mit derje- nigen des prähistorischen Menschen von Engis hervorhebt, und eine primitive Bildung desselben betont. Er erklärt ihn für einen Urgermanen, und Dr. Menuıs glaubt ihn nach Bestattungs- art, und Beigaben in die zweite Hälfte des ersten Jahrtausend vor unsrer Zeit- rechnung zurückversetzen zu können. Seine Parallelen mit andern namentlich in Osteuropa sind sehr lehr- reich und zeigen manche Züge, die sich auch bei den Begräbnissen der Eskimos finden, nämlich Beigaben vom Moschusochsen und Hund, (letzteren als Seelenführer betrachtet). Die Ta- feln geben uns genaue Darstellungen Funden | den Leitfadens sagen. Litteratur und Kritik. sowohl der Oertlichkeit, als der Lage, Skeletttheile und Beigaben. Tu. H. Huxiry’s Leitfaden für praktische Biologie. Mit Be- willigung des Verfassers in das Deut- sche übertragen von Dr. Oskar THAMm- HAYN, praktischer Arzt in Halle. 208 8. in 8. Stuttgart, Ferdinand Enke, 1881. Von einem Werke Huxury’s beson- ders zu versichern, dass es instruktiv und praktisch sei, gehört zu den über- flüssigsten Dingen von der Welt; wir wollen deshalb hier nur ein paar Worte über Methode und Inhalt des vorliegen- Er enthält die ausführliche Demonstration des Bau’s und der Lebenserscheinungen von drei- zehn typischen Protisten, Pflanzen und Thieren, nämlich : Hefe, Protococcus, Amöben (Blut-Körperchen), Bakterien, Schimmelpilze, Chara, Farnkraut, Boh- nenpflanze, Glockenthierchen, Süsswas- serpolyp, Süsswassermuschel, Krebs und Frosch, wobei der Raum so verwendet ist, dass dem Frosch als dem höchst- stehenden der hier demonstrirten Lebe- wesen mehr als ein Drittel der Sei- tenzahl gewidmet ist. Die für die mi- kroskopische Untersuchung erforder- lichen Reagentien, Farbstoffe u. s. w. sind in einem Anhange nach ihrer Zu- sammensetzung erörtert. Das Buch wird sich beim Universitätsstudium sicher bald einführen, aber es verdient auch — trotz seines Mangels an Abbildungen, der wenigstens bei den einfacheren Wesen nicht so ins Gewicht fällt — für das Privatstudium warm empfohlen zu werden. Ausgegeben 10. Dezember 1881. Ueber die hylozoistischen Ansichten der neuern Philosophen. Von Dr. Jules Soury. Allgemeine Characteristik der hylozoistischen Lehren der neuern Philosophen und Physiologen. Obwohl sehr viele Naturforscher vor nicht langer Zeit sich mit der Hoffnung trugen, man werde alles Geschehene in allen Substanzen auf mechanisch-phy- sikalische Veränderungen zurückführen und die Ursachen der Dinge auf mecha- nischem Wege ausfindig machen können, so sind sie gegenwärtig doch in ihrer Hoffnung getäuscht zu der uralten Physik der jonischen Physiologen, welche durch ihren Hylozoismus characterisirt ist, oder genauer gesprochen zu den Monaden und dem verwickelten Lehrgebäude des Leienıtz zurückgekehrt. Als Schirr und einige Andere Allen deutlich bewiesen hatten, dass die gei- stigen Thätigkeiten ohne die Beweg- ung der Nerven nicht vor sich gehen, weil die Nerven immer mehr und mehr sich erwärmen, während der Geist fühlt und empfindet, da glaubten manche mit Bestimmtheit sogar behaupten zu können, dass die Empfindung nur Be- wegung sei, und da alle Veränderungen an den Körpern der lebenden Wesen als auch im ganzen Weltall auf die kleinen Bewegungen der Theilchen zu- rückgeführt werden, so glaubte man Kosmos, V. Jahrgang (Bd, X), allgemein, dass die Naturprobleme nicht unerforschlich seien, sondern dass sie mit Hülfe der rein mechanischen An- schauungsweise gelöst werden können. Dieser Glaube konnte jedoch nicht lange bestehen, und heute gibt man zu, dass wir auch dann nichts würden über Empfindung, Gefühl und Bewusstsein aussagen können, wenn wir auch die sämmtlichen Bewegungen der Hirnfasern und Hirnganglien ebenso genau kennen würden, wie die Wellen des Aethers oder wie die‘ mathematische und, wie Du Boıs-ReymonDp sagt, astronomische Bedeutung der Schwere, und wenn uns auch ferner die Beweglichkeitszustände aller irgend ein Gehirn constituirenden Atomein einem bestimmten Zeitmomente bekannt wären. Diese psychischen Zu- stände, deren Erkenntniss vielleicht für unsere Verstandeskräfte unmöglich ist, scheinen nicht auf Gewichtsbestimmun- gen und Zahlen zurückgeführt werden zu können. Wenn man aber schon die Hoffnung aufgab, das Weltall nach der Weise der alten Jonier zu erklären, so wider- strebte man ebensosehr auf die alte Lehre des CArtesıus zurückzugehen, da dieser der Ansicht war, dass der Geist vom Körper specifiseh verschieden und getrennt sei, um nicht, wie Lrısnıtz 16 242 sagt: »in das scholastische Vorurtheil »de animabus prorsus separatis« zu verfallen*. Nichts wichtigeres haben daher die Philosophen unserer Zeit zu thun, als jenen von den Vorgängern überkommenen Unterschied zwischen Geist und Körper, wonach beide ein- ander entgegengesetzt sein sollen, auf- zuheben: Aus diesem Bestreben ist jene Richtung der Philosophie hervorgegan- gen, welche als Monismus bezeichnet wird. Es sind jedoch zwei einander entgegengesetzte Lehrmeinungen, welche die Bestrebungen nach einer monisti- schen Philosophie gezeitigt haben, Idea- lismus und Materialismus: von denen der erstere leugnet, dass die Materie oder die Ausdehnung die wahre Sub- stanz sei, dass aber die sinnliche Er- scheinung der Dinge unwahr sei, weil diese nicht in die Wahrnehmung fallen können; der Materialismus dagegen leug- net, dass der Geist eine Substanz sei und behauptet, dass er nur eine be- stimmte Function der Materie sei. Derartige extreme Lehrmeinungen sind jedoch nicht geeignet, wissenschaft- liche Probleme zu fördern, sondern ein- fach das Vorhandensein derselben zu negiren. Selbst Spınoza war der Ansicht, dass Geist und Materie mit demselben Recht existiren, wenn sie auch nur zwei Modi einer und derselben Substanz sind. Heute jedoch scheint nicht so- wohl jener substantielle Monismus des SPINOZA, als vielmehr der atomistische Monismus des LEIBNITZ, wenn man so sagen darf, bei den Naturforschern und Philosophen Anhänger gefunden zu ha- ben. Wir können auf zweifache Weise diejenige Lehrmeinung interpretiren, wel- che in dem Satze gipfelt, dass sich die Natur selbst gleich sei, wie schon FROSCHAMMER ** bemerkt. Dennentweder hat Alles seinen Ursprung genommen * Prineipia philos., $ 14. ** Monaden und Weltphantasie. Von J. FROSCHAMMER. München 1879. p. 259. Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten aus einem Principe, so dass die Dinge nur Modi einer und derselben Substanz sind, oder es gab von Anfang an meh- rere Principien, welche als einfache Sub- stanzen oder als Monaden bezeichnet werden. Da man nun die Absicht hatte, die Natur und den Ursprung des Lebens und des Geistes aus einem einzigen Realprincipe herzuleiten, so war es auch nothwendig, den Urelementen diejenigen Eigenschaften beizulegen, welche sowohl an den belebten als leblosen Wesen wahrgenommen werden — denn selbst Lebloses scheint zu fühlen —, weil ja alle diese Wesen aus jenen Elementen bestehen. Denn wenn die Atomcomplexe füh- len, so ergibt sich daraus, dass auch die Atome selbst mit Gefühl begabt sein müssen. Man macht daher das Zugeständniss, dass alle Elemente Ge- fühlsvermögen besitzen, dass dieses letz- tere aber nur unter bestimmten Be- dingungen aus dem Zustande der Po- tentialität in den der Actualität über- gehe oder, was dasselbe besagt, aus einer Spannkraft eine lebendige Kraft werde; und zwar besteht dieses Gefühls- vermögen der Atome als eine Spann- kraft fort, bis eine Gelegenheit zur Umsetzung in lebendige Kraft gege- ben ist. Die Atome, Corpuskeln und beson- ders die Plastidulen, welche die Ur- elemente der Pflanzen und Thiere bil- den, scheinen daher sowohl der Empfin- dung als auch des Strebens und nicht nur allein der spontanen Bewegung fähig zu sein. Durch diese Annahmen sind zwar unsere Atome sehr unähnlich geworden jenen festen Corpuskeln, welche nach Democrır die Naturforscher an- genommen hatten; denn sie besitzen nun nicht nur mechanische und physi- kalische Kräfte, sondern auch jene neue und fast unglaubliche Kraft des Empfin- dens, Strebens und der spontanen Be- wegung, aber es kann auch nicht ge- der neuern Philosophen. leugnet werden, dass die Corpuskeln der neuern Philosophen sich nicht sehr von den Monaden des Leısnıtz unter- scheiden. Auch kommen diesen Atomen in gleicher Weise wie den Monaden innere Zustände zu, sie besitzen wie diese einen unvollkommenen Bau, Ent- wickelung und gute oder schlechte Be- gehrungen, wie ZÖLLNER behauptet, ja sie besitzen mit einem Worte ein gewisses dunkeles Bewusstsein, in wel- chem sich die Gesammtheit der Dinge gemäss seiner Vollkommenheit und Natur wiederspiegelt. Capitel 1. $ 1. Da es meine Absicht ist, in gedrängter Schilderung nachzuweisen, welche Veränderungen der alte Begriff des Atoms vom siebzehnten Jahrhundert an bis auf unsere Zeit erfahren hat, so will ich nur aus historischem Inter- esse erwähnen, dass schon lange vor ARISTOTELES, welcher mit seinem genialen Blicke erkannt hatte, dass die Natur allmälig vom Leblosen zum Lebenden übergeht *, so dass sie ohne Sprung von den Steinen und Metallen zu den Pflan- zen und Thieren aufsteigt, der Syracu- saner EcpHAnTus, ein Schüler des PyrHA- GORAS, körperliche Monaden angenommen zu haben scheint **. Diese untheilbaren Körperchen (adırigsra OWuere), welche * Arist. de animal. hist. 1. VIII, e. 1. ** Joan. Stobaei Eclogarum physicarum et ethicarum lib. duo (Heeren, Göttingen 1792) L. 1. 16, p.308. Der Syracusaner ECPHANTOS, ein Pythagoräer, behauptete, dass Alles aus untheilbaren Körperchen und aus dem Leeren bestehe. Denn die Monaden der Pythagoräer bezeichnete dieser als Erster als körperlich. — Sext. Empiric. Adversus mathematicos (Coloniae Allobrogum, 1621), p. 367. — Strab,, 1. XVI, c. H, 27 (Paris, F. Didot, 1853), p. 645. — Das alte Dogma von den Atomen stammt her von dem Sidonier Mo- SCHUS, welcher vor der troischen Zeit lebte. — JAMBLICH. De pythagorica vita, III, 14, (Paris, F. Didot, 1862), p. 18. — ovußalor zois te Moxov Tod gvowokoyov nrgopyTas «noyovorg. | 243 er mit dem Leeren als die Principien der Dinge betrachtete, sollen, wie Po- sıpoxzus berichtet, nicht sehr unähnlich denen des Drmocrır und des Phöniziers MoscHhus gewesen sein. Im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert glaubten NıcoLAus CUsAnus und GIORDANO BRUNO, da sie den Aristo- telischen Dualismus von Form und Ma- terie von Grund aus bekämpften, dass sowohl auf dieser Welt als auch auf den zahllosen Welten, aus welchen das Universum im unendlichen Raume be- steht, Alles beseelt sei und sie haben geglaubt, dass die Materie selbst die Formen erzeuge, in welchen sie sich ewiglich offenbart. Während jedoch jener der Ansicht ist, dass die einzelnen Wesen oder Ein- heiten (unitates) auf ihre Weise wie Spiegel der Welt das Universum be- trachten, nennt dieser die kleinsten Theilchen der Dinge minima oder Mo- naden und denkt sich dieselben wie absolut unausgedehnte Punkte, welche aber kugelförmige Gestalt haben und belebt und körperlicher Natur sind *. Der berühmte Mediciner DAnıEL Sennerr (1572—1637), welcher die Atomlehre bei den Deutschen wieder erneuerte, behauptete, dass in den klein- sten Körpertheilchen, welche weder ge- theilt noch auf irgend eine Weise wahr- genommen werden können, die Seele selbst vollständig latent vorhanden sei und sich erhalte**, und hierauf grün- * LuciLıus VANINUS fügte hinzu, als er die bewegenden Kräfte der Himmelskörper, die bewegenden Geister der Welten nannte: „Wenn ich nicht in einer christlichen Schule erzogen worden wäre, so würde ich ernst- lich "behaupten, dass der Himmel ein Thier sei, welches durch seine eigene Form, welche Seele ist, bewegt wird.“ De admirandis na- turae reginae u. s. w., libri quatuor (Paris., 1616), p. 20 (Dial. 4). — Dass die Welt ein Thier sei, haben viele Gelehrte Pan PoMmPONIUS MELA, De situ orbis, 1b. IE. 5 ** Hypomnemata physica (Francofurti, 1601), In De atomis et mixtione, ce. 1., p. 103. 16 * 244 dete der gelehrte und berühmte Pro- fessor Forrunıus Licerus aus Padua seine Theorie über die spontane Ent- stehung der Lebewesen. SENNERT scheint beabsichtigt zu haben, die Physik des Dermockır mit den scholastischen Vor- urtheilen in Einklang zu bringen. Von den Atomen des Demockır wenigstens unterscheiden sich die Corpuskeln des SENNERT, welche qualitative Atome sind und ihre besonderen Eigenschaften ha- ben, so sehr, dass man mit Recht be- haupten könnte, sie seien in der That Theilchen oder Molekeln (Urmischungen) aus den Uratomen der Elemente und seien somit aus Atomen des Feuers, der Luft, des Wassers, der Erde zusammen- gesetzt. Daher behauptet auch Lass- wırz*, SENNERT müsse mit Recht als der Urheber der Corpuscularphilosophie betrachtet werden. Was wir jedoch von der Lehre dieses Mannes nament- lich hier hervorheben müssen ist, dass Sennert glaubte, dass die Formen oder Seelen (formae vel animae) in den klein- sten und nicht mehr wahrnehmbaren Atomen ihrem Wesen nach unbeschadet verharren **, dieses erkenne man aus den Metallen, die bis in ihre klein- sten Atome durch Scheidewasser auf- gelöst werden und dennoch in jenen kleinsten Atomen ihre Natur und Be- schaffenheit behaupten. Die Pflanzen aber und Thiere, welche spontan ent- stehen, stammen nicht von den Me- tallen und Steinen, sondern von Cor- puskeln der organischen Materie her ***. * DieErneuerung der Atomistik inDeutsch- land durch DANIEL SENNERT, in der Viertel- jahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1879, III Jahrg. ** Hypomnemata physica, V, ce. III, 376. ef., p. 400. *%*% Ipid. IV, c. VI. Dass der Samen Leben besitze, und dass die Seele in dem Samen den belebten Körper bilde. + Ibid., p.482. „Wenn auch die Dinge, in welchen diese sind, nicht immer Leben zeigen und auch nicht wirken, so sind sie dennoch in ihnen verborgen enthalten und werden sichtbar, sobald sie zur rechten Zeit Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten In einzelnen Wassertropfen und Humus- theilchen, wie auch in der Luft und in den Winden sind Samen oder befruch- tende Principien latent vorhanden, wel- che, sobald sie auf geeignete Materie gestossen sind, zu wachsen beginnen und zum Leben erwachen. Anstatt eines Schlusses fügen wir wenigstens hinzu, sagt SENNERT, dass nach unserer An- sicht ArıstorELes mit Recht schreiben kann rıavze 700109 Tıva MANON Wuyn. Alles ist angefüllt auf eine bestimmte Weise mit Lebenf. Auch ein anderer Mediciner und Philosoph, der im siebzehnten Jahr- hundert berühmte Tuomas Wırvıs be- kämpft die allgemeine Ansicht in einem ausgezeichneten Buche, »dass die Ma- terie, aus welcher alle Naturdinge be- stehen, rein passiver Natur sei und sich nicht bewege, wenn sie nicht bis zu einem gewissen Grade von einem an- dern bewegt wird. Wıruıs behauptet vielmehr, dass die Atome, welche die Substanz aller Körper bilden, im hohen Grade activ seien und sich selbst be- wegende («vzoxirrzor), sodass sie nie- mals lange halt machen, sondern aus einem Subject in das andere allmälig wandern, oder, wenn sie in demselben Subject eingeschlossen sind, Poren und Gänge sich schaffen, in welchen sie sich ausbreiten« ff. S 2. Besonders aber FRrAncıscus Grısson muss von allen, welche die ge- schichtliche Entwickelung der Atomlehre erkennen wollen, berücksichtigt werden. die passende Substanz angetroffen haben. — Dieses wenigstens muss festgehalten werden, dass die spontan entstehenden Organismen nicht von einem äussern Princip, sondern von einem innern Princip aus ihren Ursprung nehmen, ob man dieses Prineip Samen, oder samenartiges Princip, oder Analogon des Sa- mens oder noch anders nennen will, das ist einerlei.“ jr De anima brutorum quae hominis vi- talis ac sensitiva est exereitationes duae — prior physiologica — altera pathologiea — Studio Thomae Wırrıs, M, D... Londini, 1672, in 4°, p. 9. Nur der neuern Philosophen. Die Natur der Materie, sagt jener als Philosoph wie als Anatom berühmte Mann in seiner Abhandlung (de natura substantiae energetica, seu de vita naturae eiusque. tribus primis faculta- tibus naturalibus), welche er über die energetische Natur der Substanz oder über das Leben der Natur und über seine drei Urvermögen schrieb, die Natur der Materie, soweit sie als energetisches Princip betrachtet wird, erscheint in drei Fähigkeiten, nämlich Perception, Streben und Bewegung*. Wenn die körperliche Substanz, oder vielmehr jede Substanz Energie besitzt und eine gewisse lebendige Kraft, so fühlt sie auch und empfindet; »denn ohne Perception gibt es kein Streben, und ohne Streben keine Bewegung, oder ohne Bewegung kein Streben. dass jede Substanz wirke und dass jedes Wirksame Sub- stanz genannt werden müsse«**, Was nicht wirkt, existirtnicht. Wir brauchen daher nicht die plastischen Kräfte (vires plasticae) und nicht die Archäi, um alle in der Welt auftretenden Bewegungs- erscheinungeu zu erklären: »denn ob- wohl ich consequent behaupte, dass das Einzelne in der Natur mechanisch erklärt werden müsse, so muss man dennoch ausser der Ausdehnung eine primitive Kraftim Körper annehmen ***«. Leiısenırz selbst hat öfters erzählt, wie sehr er für die mechanische Er- klärungsweise der Mathematiker im Anfang eingenommen gewesen wäre, nachdem er bereits von der Scho- lastik sich losgesagt hatte. Obwohl er die substantialen Formen wieder einführen wollte, so verachtete er den- noch die Gewohnheit der damaligen Philosophen, welche von den Formen unaufhörlich sprachenf. Auch in seinem »Nouveaux Essais« (II, XI, $ 11) gibt er zu, »dass die Bewegungen der Mimosen mechanisch zu.Stande kommen«, und er stimmt nicht im Geringsten den- jenigen bei, welche gleich mit der An- nahme einer Seele bei der Hand sind, sobald sie die einzelnen Vorgänge in den Pflanzen und Thieren erklären sollen. »Dennoch muss, wie LEIBNITZ öfters sagt, dieser Mechanismus selbst nicht nur aus dem materialen Prineip und den mechanisch wirkenden Ursachen seinen Ursprung nehmen, sondern er muss aus einer höheren und, wenn ich schem Wege kennen lernen, zu begreifen, bemerkte ich, dass der Begriff der ausge- dehnten Masse allein nicht genügte, und dass man noch den Begriff der Kraft einführen müsse, der trotz seines metaphysischen Ur- sprungs dennoch sehr verständlich ist.“ Systeme nouveau de la nature. Erdm., 124—5. cf., p. 701 et sqg. der neuern Philosophen. 249 so sagen soll, metaphysischen Quelle | Seelen allein in der ganzen Natur eine herstammen« *. Obwohl er früher die Atome und das Leere als Principien angesehen hatte, so bemerkte er später nach vielem Nachdenken doch, dass man vergebens in der Materie als dem rein passiven Principe nach einer wahren Einheit suche; denn selbst das kleinste Theilchen der Materie bestehe wieder nur aus Theilen und sei daher theil- bar, man müsse daher die Atome nur als Wunderdinge bezeichnen**. Er kam daher auch zu der Einsicht, nachdem er sich von den Vorurtheilen seiner Jugendzeit frei gemacht hatte, dass man die Atome sammt dem Leeren verwerfen müsse. Um nun zu jenen Prineipien zu gelangen, durch welche die Einheit existire, setzte LEIBNITZ an die Stelle der körperlichen Atome die formalen oder substantiellen Atome und bezeichnete sie als die Elemente der Dinge und als die wahren Atome der Natur***. Diese einfachen Substanzen oder Monaden besitzen weder Theile, noch Ausdehnung noch Gestalt und können weder auf natürliche Weise entstehen noch untergehen. Auch sollen jene Krafteinheiten, wie Leımsnırz glaubt, nach Analogie unserer Seele beschaffen sein und Leben, Perception und Streben besitzen. Im Gegensatz ferner zu den Cartesianern, welche glaubten, dass die Dinge selbst nicht thätig seien, behauptete er, dass überall Seelen, oder wenigstens den Seelen analoge Wesen »aut analoga saltem animabus« vorhanden seien, und dass alle Dinge selbstthätige Kraft besitzen, und er fragte, ob es vernünftig sei, unseren * De ipsa natura sive de vi insita actioni- busque creaturarum, $ 3. Erdm., 155. Epist. ad FRED. HorrmAnn, Erdm., 161. Lett. ä Clarke, p. 777. 8 113, 115, 116. ** „Untheilbare physikalische Wesenheiten sind für meine Fassungskraft Wunderdinge.“ Lettre a FOUCHER, 1692. Erdm., 115. immanente, eingepflanzte selbstthätige Kraft zuzuschreiben, allen anderen Seelen aber, oder Formen, oder substantiellen Wesen jene selbstthätige Kraft vorzu- enthalten. Diese selbstthätige Kraft und Thätigkeit eines inneren Prineips, welche von einer Vorstellung zur anderen strebt (wenn auch dieses Streben nicht immer zu derjenigen Vorstellung ge- langt, auf welche es sich richtet) ff, und welche Streben genannt werden kann, ist in allen Thieren und Pflanzen und Steinen auf verschiedene Weise vor- handen, nicht nur aber ist sie unseren Seelen :eigen; denn selbst in jedem kleinsten Theilchen der Materie scheint eine Welt lebender Wesen hindurch. Was aber ist thätig und empfindet in den Pflanzen? Was in den Thieren? Wir wissen es nichtfjf. Dieses aber hat Leisnırz durch seinen genialen Blick erkannt, dass in Folge des Ge- setzes der Stetigkeit, von dem er fest überzeugt war, die Reihe alles Lebenden eine ununterbrochene in der Natur sei; denn dafür schien ihm ein Beweis zu sein die auffallende Aehnlichkeit zwi- schen Pflanzen und Thieren, wie sie beispielsweise in der Athmung der In- sekten und Pflanzen von SWAMMERDAM nachgewiesen worden war. Das Vor- stellen, welches alle Monaden besitzen, ist ihr innerer Zustand, ihr dunkleres oder deutlicheres Bild von den Dingen, vermöge dessen jede einfache Substanz oder Monade das Universum vorstellt, soweit sie es vermag, und daher einen lebendigen, beständigen Spiegel des Universums darstelltf*. Das Vorstellen ist daher nach Leısnıtz ein übergehender Zustand, welcher latent in sich enthält *%*® Principia phil., $ 3. + De ipsa natura, $ 10. 7} Prineip. philos. $ 15, 66, 67. +++ Nouveaux Essais, UI, XI, s$ 11. Erdm. 235, Trois lettres a M. BoURGUET. Erdm. 720. j* Prineip. phil. $ 56. 250 und vorstellt die Vielheit in der Ein- heit und in der einfachen Substanz*, so dass eine jede Monade in ihrem mehr oder weniger verworrenen Vor- stellen das Universum anschaut. Denn Leısnırz zeigt, dass nicht jede Vorstellung bewusste Empfindung sei, sondern dass es auch eine Vor- stellung des nicht mehr Wahrnehmbaren gibt**: >»Ich könnte zum Beispiel, sagt er, nicht grün empfinden, wenn ich nicht blau und gelb vorstellen würde, woraus sich jenes ergibt; dennoch empfinde ich nicht, das heisst stelle ich nicht bewusst vor Blau und Gelb, wenn ich nicht das Microscop zu Hülfe nehme.« Wenn wir bewusst- los sind und traumlos uns im tiefen Schlaf befinden, so erinnern wir uns an Nichts und haben keine klare Vor- stellung, so dass in diesem Zustande unsere Seele sich nicht unterscheidet von der nackten Monade***. Dennoch folgt hieraus nicht, dass diese einfache Substanz gar keine Vorstellung habe, obwohl jenes Fehlen jedes Vorstellens als eine Eigenschaft der nackten Monaden bezeichnet worden istf. Da wir jedoch, sobald wir erwacht sind, bewusste Vor- stellungen haben, und da eine Vor- stellung immer nur aus der anderen entsteht, wie eine Bewegung aus einer anderen; so müssen wir Vorstellungen gehabt haben, wenn wir uns auch der- selben gar nicht bewusst gewesen sind. Alle Monaden streben daher, obwohl sie einander unähnlich sind, nach dem- * Prineip. phil. $ 14—16. *® Ibid.$ 13. Cf. $ 19. Epist. ad WAGNER. Erpm. 466. #%** Princip. phil. $ 20. + Ibid. $ 23—24. r Prineipes de la nature et'de la gräce 83. {rr Oeuvres philosophiques de De avec une Introduction et des notes, par M. PauL JAnET. Introduct., p. XXV, V,1. Kanr’s sämmtliche Werke II, 335. Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik 1766 ... „Und LEIBNITZ scherzhafter Einfall, nach welchem wir viel- leicht im Kaffe Atome verschlucken, woraus Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten selben Ziele, alle stellen als lebendige Spiegel die Gesammtheit der Dinge vorff. Ein gradueller Unterschied be- steht daher nur zwischen den Monaden des Menschen und denen des Steines, in jeder ruht duvausı eine unvollkom- mene Seele, welche wie eine vom Schlum- mer übermannte vernünftige Seele zu schlafen scheint fff. Jeder erkennt deutlich, welche An- regung und einen wie grossen Nutzen Leissırz aus den Versuchen und Be- obachtungen SwWAMMERDAM’S, MALPIGHT'S und LEUWENHOER’s gezogen hat. Sie haben ihn zu der Einsicht gebracht, wie vorher DANIEL SENNERT, dass nie- mals aus dem Fäulnissprocesse Pflan- zen, Insekten und Thiere entstehen, sondern aus Samenkeimen, in denen jene lebenden Wesen ohne Zweifel prä- formirt waren, nicht nur die Körper bestehen daher vor der Empfängniss für sich, sondern auch die Seelen in diesen Körpern, sodass man im eigent- lichen Sinne weder von Erzeugung noch von Tod sprechen kann. >»Denn nur Entwickelungen und Volumzunahmen sind, wie LEIBNITZ sagt, die Erzeugungen und nur Rückbildungen und Volumen- abnahmen machen das Wesen des Todes ausf”. Da keine äussere Ursache auf die Monaden einwirken kann, so müssen sie natürlich ein inneres Prineip für ihre Veränderungen besitzen. Jene un- körperlichen oder metaphysischen Atome scheinen daher gleichsam unkörperliche Automaten zu sein; denn sie besitzen Menschenseelen werden sollen, wäre nicht mehr ein Gedanke zum Lachen. — Leibnitzii principia philosophiae more geonn. demonstr. theor. LXXXVI, schol. 3. (auctore MicH. GoTTL. HAnscHı1o), Francof. et Lips. 1728 in 4°. LEIBNITZ will, dass den einfachen Sub- stanzen, welche nur (unentwickeltes) ein- faches Vorstellen besitzen, der Namen „Mo- nade“ oder „Entelechie“ beigelegt werde, dagegen sollen Seelen genannt werden nur jene, deren Vorstellen klar, mehr entwickelt und mit Gedächtniss vereint ist. Cf. Princip. philos. $ 19. +* Prineip. philos. $ 73. der neuern Philosophen. eine gewisse Selbstverwirklichung, so dass sie im eigentlichen Sinne als Entelechien* bezeichnet worden sind, und alle Actionen stammen aus ihrer eigenen immanenten Thätigkeit. Wenn Einer sich aber wundert, dass die Prineipien und Consequenzen jener verwickelten Lehre auf philosophisch- atomistische Ansichten und auf das Be- streben nach mechanischer Naturerklär- ung zurückgeführt werden, so möge er den Entwickelungsgang und die ersten Studien von Leısnitz berücksichtigen. Denn an die Stelle der Atome Drmocrrts, welche weder vorstellen, noch spontane Bewegung besitzen und deshalb nicht zu erklären vermögen, warum alles Exi- stirende zu leben, zu empfinden und spontan sich zu bewegen scheint, setzte Leitz jene unkörperlichen mit Leben, Vorstellung und Bewegung begabten Atome und wollte, dass diese unkörper- lichen Automaten vorstellen und stre- ben. Jeder sieht sogleich, wie gross die Aehnlichkeit ist, die zwischen den Monaden des Lrıentrz, den Atomen der Physiker und jenen Prineipien des T. Lucrertius CArvs besteht, welche die individuellen, unzerstörbaren, ewigen Elemente der Dinge sind. Wir müssen daher zugestehen, dass Lrısnıtz als der Urheber und Gründer jener Philo- sophie bezeichnet werden muss, welche bei den Physikern und Physiologen der Gegenwart in hohem Ansehen steht, denn auch diese erkennen selbst den letzten Bestandtheilen der Körper Leben und Vorstellung zu, wenn es auch un- begreiflich sei, wie einst aus einer zu- * Ibid. $ 19. ** Ueber GAssEnDI schrieb ÜEBERWEG (Grundriss der Geschichte der Philosophie, II, p- 15 et sq. 3. Ausgabe): „Sein Atomis- mus ist ein lebensvollerer als der des Ericur. Die Atome besitzen nach GAssennı Kraft und selbst Empfindung: wie den Knaben das Bild des Apfels bewegt von seinem Wege abzubiegen und sich dem Baume zu nähern, so bewegt den geworfenen Stein die zu ihm hinlangende Einwirkung der Erde, von der 251 fälligen Vereinigung der Corpuskeln die Welt und die lebenden Wesen entstan- den seien. Capitel II. Bevor ich berichte, welche Ansichten Huvgens und Nzwrox über das innere Be- wegungsprincip und über das Streben ** der Körper, vermöge dessen sie wechsel- seitig auf einander einwirken und sich anziehen, gehabt haben, muss ich noch erwähnen, dass Locke der Meinung war, es überschreite die Grenzen mensch- lichen Erkennens zu entscheiden, ob die materiellen Körper als solche zu denken vermögen oder nicht, und ob Gott gewissen Atomcomplexen, welche eine bestimmte Constitution besitzen, die Fähigkeit vorzustellen und zu denken verliehen habe. Er näherte sich jedoch sehr der Ansicht, dass schon die Üor- puskeln oder Elemente der Dinge Vor- stellung, Empfindung und Denken be- sitzen**; denn er hat sich darüber folgendermaassen geäussert: > Wie kann man sicher sein, dass einige Vorstell- ungen, wie Lust und Schmerz nicht ebensogut anzutreffen seien in gewissen, modificirten und auf eine bestimmte Art bewegten Körpern als in einer ma- teriellen Substanz in Folge der Be- wegungen der Körpertheile ?<*** Eben- dieselbe Ansicht hat auch. der berühmte Astronom und Physiker ZoELLNER. Weilnun Dunkelheit darüberherrscht, aus welchem Grunde die Körper durch ihre eigene Schwere nach der Erde zu fallen, so haben die Philosophen die verborgenen Ursachen dieser wunder- geraden Linie abzubiegen und sich der Erde zu nähern.“ cf. noch was LAnGE an dieser Stelle sagt (Geschichte des Materialismus, 1, 280, 2. Auflage).” **%* LEIBNITZ erwähnt selbst, dass LOCKE darüber in Zweifel war, ob die Seelen ma- teriell und von Natur zerstörbar sind (Recueil de lettres, entre LEIBNITZ et ÜLARKE, Erdm. 746). Oeuvres philosophiques de LOCKE (edit. TuuRoOT). Essai sur l’entendement humain, VI, III, $ 6. 252 baren Erscheinung in den Körpern selbst | gesucht, wie’ HuyGens meint, und sie haben angenommen, dass die Gravi- tation eine den Körpern selbst einge- pflanzte Kraft oder Fähigkeit sei*, ver- möge der sie immer nach unten hin sich richten und gleichsam vermöge eines Triebes dem Mittelpunkt des Erd- kreises zustreben; so hat man an die Stelle von Ursachen unbegreifliche An- nahmen gesetzt. Wenn man aber auch Denjenigen verzeihen muss, bei welchen dergleichen Annahmen Ansehen haben, so kann man nicht so verfahren, wenn wir Huycens glauben, mit Demockım und seinen Anhängern. Denn da sie sich rühmten, alles Geschehene im Universum mit Hülfe der atomistischen Theorie zu erklären, so legten sie den Dingen und Atomen Gravitation bei und forsch- ten nicht weiter, warum die Dinge diese eigenthümliche Kraft besitzen. Mit Grisson und LEIBnITz war HuyGens nicht einer Ansicht; denn er meinte, dass zur Bewegung der Corpuskeln der leere Raum erforderlich sei, auch mit Des- CARTES stimmt er nicht überein, da dieser glaubte, dass das Wesen der körperlichen Dinge in der Ausdeh- nung bestehe; Huyszns dagegen war der Ansicht, dass die Corpuskeln * „Ich bin der Ansicht, hatte COPERNICUS gesagt, dass die Gravitation nur ein Natur- trieb sei, den die göttliche Vorsehung des Weltbaumeisters den Theilen zuertheilte, da- mit sie durch das Streben nach der Kugel- gestalt ein unversehrtes Ganze bilden. Diesen Trieb besitzen wahrscheinlich Sonne, Mond und die übrigen Planeten, damit sie durch seine Wirksamkeit in der Kugelform ver- harren, die sie schon besitzen: trotzdem voll- ziehen sie auf mannigfache Art ihre kosmi- schen Bewegungen.“ Nicol. Coperniei revol. lib. I, cap. IX. cf. Schopenhauerum, qui haec refert (Ueber den Willen in-der Natur, p. 81), et Johannem Herschelium (Treatise on Astro- nomy, 1853; Outlines of Astronomy 1849, le. VL, $ 371). *#* (CHRISTIAN HUYGENS, Discours de a cause de la pesanteur (A. Leide, 1690). Preface et p. 162. #**® PAUL JANET hat zuerst in seinem Jules Soury, Ueber die 'hylozoistischen Ansichten undurchdringlich und seien**. ae S$S 2. Ein sehr schweres und wich- tiges Problem ist es, ob NEwrox 'ge- glaubt habe, dass die Materie und also die kleinsten Theilchen der Körper An- ziehungskraft besitzen, durch welche sie einander vermittelst Fernwirkung. an- ziehen, oder ‘ob sie eine derartige Kraft nicht besitzen***. Welcher Ansicht New- Ton wirklich. war, darüber sind die Astronomen und Mathematiker der Ge- genwart nicht einig. So behauptet Du Bors-ReymoxnD in einer Redef, welche er 1872 in der deutschen Naturforscher- versammlung hielt, nichts widerspreche der Ansicht und den Worten NEw'ron’s mehr, als die Annahme, dass alle Kör- per Attractionskraft besitzen. Dieser Ansicht stimmte in demselben Jahre auch G. Tuomson beiff. Bald darauf zeigte CLERK MAxwELL in einer Rede, welche er in der Königl. Londoner Ge- sellschaft hielt, dass nicht New'on, sondern seinen Schülern die Schuld an jener falschen Ansicht zugeschrieben werden müsseTfTT- Denn RosEr Cores führte zuerst dieselbe in jener übereilten Vorrede zur zweiten Auflage der »Philosophiae natu- ralis principia« von Isaac NEwWTon, auf. absolut: hart bekannten Werke „Le Materialisme con- temporain“ die Stellen veröffentlicht, die für die Entscheidung dieser Frage wichtig sind, und es kann aus ihnen erschlossen werden, dass NEWTON keineswegs der Ansicht war, man müsse die Gravitation auf mechanische Ursachen zurückführen. + Teber die Grenzen des Natur- erkennens ein Vortrag gehalten von EMmıL Du Boıs-REvmonD (Leipzig, 1876, 4. Aufl.), p-13. „Durch den leeren Raum in die Ferne wirkende Kräfte sind an sich unbegreiflich, ja widersinnig, und erst seit NEWTON’s Zeit, durch Missverstehen seiner Lehre und gegenseineausdrückliche War- nung, den Naturforschern eine geläufige Vorstellung geworden.“ +r Papers on Electrostatics and Magne- tism, 1872. +rr On action in distans. 1873. (Procee- dings of the Royal Institution 1873, Febr. 3). “ der neuern Philosophen. Da. jener junge Mann läugnete, dass die Naturphänomene aus mechanischen Ursachen, nämlich aus Materie und Be- wegung hergeleitet werden könnten und darauf drang, dass jene erdichtete Ma- terie, wie er sagte, der äusserst feinen Aether, welcher alles durchdringen und anfüllen sollte, obwohl er weder ge- sehen, noch gefühlt, noch mit irgend einem andern Sinne wahrgenommen wird, aus dem Weltraum geschafft werde, so griff er-in seinen Schriften heftig Die- jenigen und namentlich die Cartesianer an, welche die Wirbeltheorie begünstig- ten und die Schwere als etwas Ge- heimnissvolles und Uebernatürliches an- sahen und ein beständiges Wunder nannten, so dass sie der Ansicht waren, man müsse mit jener Theorie aufräumen, da in der Physik für übernatürliche Ur- sachen kein Platz ist. Alle:Körper sind daher nicht nur, meinte Roger Corzs, ausgedehnt und beweglich und undurchdringlich, son- dern sie sind auch schwer, vermöge einer den Körpern innewohnenden Kraft, und er rechnete daherzu den Grundeigenschaften der Körper die Schwere. Wir müssen nun zwar diesen Mann desswegen loben, weil er einsah, dass selbst die ein- fachste Ursache nicht mechanisch er- klärt werden könne*, aber wir müssen wiederum auch zugestehen, dass er die qualitates occultae, die verborgenen Eigenschaften wiedereingeführt hat, und dass er die Philosophie Newrox’s vom richtigen Wege abgelenkt habe; denn sein ganzes Bestreben war darauf ge- richtet, diejenigen durch Schmähungen niederzuhalten, welche zu behaupten wagten, dass Alles durch ein Fatum gelenkt werde, und dass die Materie * Philos. natur. prineipia mathematica (Genevae, 1739), I, p. XXIII et XXIX. #* Die Annahme, NEWTON sei ein Geg- ner der materiell unvermittelten Fernewirkung gewesen, involvirt für mich ein so grosses psychologisches Räthsel, dass es mir unbe- greiflich ist, wie man auf Grund eines gänz- 253 unbegrenzt und ewig durch eine ge- wisse Nothwendigkeit immer und überall existirt habe. Ebendieselbe Ansicht, welche wäh- rend der letzten Jahre Physiker und Physiologen ausgesprochen haben, hatte über diesen Gegenstand auch FArApAY gehabt, und er lobte daher auch die folgende Stelle des Briefes, den Nrw- ron an K. Bentuey schrieb: »Mit dem menschlichen Verstande kann nicht be- griffen werden, auf welche Weise die Corpuskeln der rohen und leblosen Ma- terie (inanimate brute matter) ohne Medium und ohne jede gegenseitige Be- rührung auf andere Corpuskeln einzu- wirken vermögen, was ja zutreffen würde, wenn, wie Erıcur wollte, die Schwere eine Eigenschaft der Materie wäre.« Diese Worte Newron’s ändert ZOELL- NER, welcher annimmt, dass die Materie hier mit Leben und Streben begabt sei, folgendermaassen um :** »Dem mensch- lichen Verstande ist es begreiflich, wie Corpuskeln der belebten Materie ohne Medium auf andere Corpuskeln einzu- wirken vermögen.« Newron selbst hat einige Andeu- tungen gegeben »über eine Art von sehr feiner Substanz, welche in die Körper eindringt und in ihnen verborgen ist, durch deren Kraft und Wirkungen die Theilchen der Körper sich auf kleine Distanzen gegenseitig anziehen und in der Berührung zusammenhalten, auch die elecetrischen Körper wirken auf grössere Distanzen sowohl durch Ab- stossen als auch durch Anziehen der benachbarten Corpuskeln; auch das Licht strahlt aus und erwärmt die Kör- per, ebenso kommt jede Empfindung zu Stande und die Glieder der Thiere lich missverstandenen (!) Briefes von NEW- Ton an BENTLEY eine solche Anschauung öffentlich zu vertreten den Muth besitzen kann.“ Principien einer electro- dynamischen Ihe orie der Materie von J. C. FriEDRICH ZOELLNER (Leipzig, 1876), p. XXIX. V. p. 39. 254 bewegen sich gemäss dem Willen durch die Schwingungen jener feinen Sub- stanz (spiritus), welche durch die soliden Nervenfäden von den äusseren Sinnes- organen zum Gehirn und vom Gehirn zu den Muskeln fortgepflanzt werden. Es kann dieses jedoch nicht mit weni- gen Worten klar gemacht werden, und es ist auch nicht eine genügende Menge von Experimenten vorhanden, durch welche die Wirkungsgesetze jenes »spiri- tus« genau bestimmt und nachgewiesen werden können «*. Obwohl Nrwron zu jener Zeit, wie sich aus dem Vorhergehenden ergibt, der Ansicht war, dass in den Körpern »subtilissimum spiritum« eine Art im- materieller Kraft vorhanden sei, so geht dennoch aus den Schriften und der ganzen Anschauungsweise des Mannes hervor, dass er, wie fast alle seine Zeit- genossen, die Schwere aus mechanischen Gründen erklären zu müssen geglaubt hat. Da schon von DEscArTEs und Hoss die Gravitation aus dem Stossen der Aethertheilchen hergeleitet worden war, so lehrte Nzw'ron, dass jene Kraft, durch welche alle Himmelskörper als durch ihre Gravitation getrieben wer- den, nichts Anderes sei, als die Summe der schweren Theilchen, aus welchen sie bestehen. Da NkwTon, wie HuyGEns und alle jene Mathematiker und Physiker jene Cartesischen Lehrmeinungen anfangs angenommen hatte, so glaubte er, dass alles Geschehen in der Natur mechanisch erklärt werden müsse. Welches die natür- lichen Ursachen der Gravitation wären, wusste er nicht, wie er selbst öfters eingestanden hat, aber er hielt für * Philosophiae naturalis principia mathe- matica auctore J. NEWTONO. HI, p. 676. Lib. III. de mundi systemate. Prop. XLH. Probl. XXH. Scholium generale. ** Öptice, sive de reflexionibus, inflexi- onibus et coloribus lueis libri tres, auctore Is. NEWTonO. Latine reddidit SAMUELCLARKE (Lausannae et Genevae, 1740). — Authoris monitio altera ad lectorem, p. XIV—XV. *** Ibid. Quaestio XX Oder ob die Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten sicher, dass solche existiren und nannte daher auch die attractiven Kräfte einen Antrieb (impulsus). Dagegen stimmte er mit der Ansicht seiner Schüler nicht überein, sondern läugnete ausdrücklich in seiner Vorrede zur zweiten Ausgabe der Optik, dass er die Schwere >»zu den wesentlichen körperlichen Eigen- schaftenrechne «**,. Erstellte die Beant- wortung der Frage nach der Ursache der Gravitation dem eigenen Ermessen eines Jeden anheim***. Er glaubte, dass dieses Problem noch nicht genügend durch Experimente erforscht sei. Zuerst ver- muthete er die Ursache der Gravitation in der Elasticität des überall ausge- breiteten Aethers, wie CLERK MAXWELL berichtet hat. Schon im Jahre 1675 sprach er in einer der Königl. Gesell- schaft zugesandten Commentation von jenem durch das ganze Universum aus- gebreiteten Aether, aus dessen Wirken Licht und Gravitation folgt. Aber mit zunehmendem Alter alterte auch des Newron erhabener Geist, und obwohl er im Jahre 1675 die Ursache der Gravi- tation in jene sehr feine Materie ver- legt hatte, und obwohl er im Jahre 1678 Ro. BoyLE aufgetragen hatte, in jener ätherischen Substanz immer nach jener Ursache zu forschen, so schrieb er dennoch im Jahre 1686 an Hauuky, dieses sei eine reine Hypothese und er- innerte BEnTLEY an diejenigen, welche sagen, es sei unentschieden, ob jene Kraft, gleichviel welche es auch wäre, materiell sei oder nicht; in der letzten Zeit gestand er endlich auch zu, dass als »die einfachste Ursache« die Schwer- kraft angesehen werde in jener sehr kleinen Theilchen der Körper anziehende und abstossende Kräfte besitzen, vermöge deren sie selbst wechselseitig auf einander aus der Ferne wirken, p. 303. + Die Gravitation muss verursacht sein durch eine beständige, nach bestimmten Gesetzen wirkende Kraft, aber ob diese Kraft materiell oder inmateriell sei, das habe ich der Ueberlegung meiner Leser über- lassen. der neuern Philosophen. denkwürdigen Vorrede, welche Roger CorEs verfasste. Hieraus nahm eine philosophischere Ansicht ihren Ursprung, welche freilich weder mit der alltäg- lichen Meinung, noch mit der Lehr- meinung der Gelehrten und auch nicht mit der Newron’s übereinstimmt, denn dieser hatte ja oft es ausgesprochen, dass er nicht darnach forsche, durch welche wirkende Ursache die anziehen- den Kräfte entständen und nicht dar- nach, warum die Körper gegenseitig einander zustreben und sich so wechsel- seitig anziehen, er hatte es öfters aus- gesprochen, dass diese Kräfte sowohl durch einen Impuls als auch auf eine andere uns unbekannte Weise zu Stande kommen können*. Hieraus stammt auch die chemische Affinität, welche von der Wissenschaft hätte beseitigt werden müssen, wenn die philosophisch-mechani- sche Erklärungsweise mehr Verbreitung und Ansehen gefunden hätte. Die alte Atomlehre ist derartig verändert worden, dass die Atome selbst, wie die Monaden des Leısnırz ganz unräumlich gedacht worden sind. Einige wie BoscovicH haben ange- nommen, dass die letzten Theile der Dinge reale, untheilbare und nicht aus- gedehnte Purfkte der Materie, »einfache * V. Das Räthsel von der Schwerkraft. Kritik der bisherigen Lösungen des Gravi- tationsproblems auf rein mechanischer Grund- lage. Von Dr. C. ISENKRAHE (Braunschweig, 1879), p. 15. cf. Optice p. 304 et 326. sr Dei ist eine Pflicht der Billigkeit, welche man NEWToN gegenüber ausüben muss, sagt MAUPERTUIS: Er hat niemals die Attrae- tion als eine Erklärung der Anziehungs- phänomene betrachtet, welche man beim Ein- wirken der Körper auf einander beobachtet: er hat oft bemerkt, dass er diesen Ausdruck nur zur Bezeichnung einer Thatsache, nicht zur Bezeichnung einer Ursache anwende; dass er ihn nur zur Vermeidung von Systemen und Erklärungsversuchen anwende; er hat oft bemerkt, dass er sich denken könne, dieses Streben seie durch irgend eine feine Materie verursacht, welche aus den Körpern stamme, und dass sie der Effect eines wirklichen Triebes sei; aber es sei dieses Phänomen doch 255 Monaden« seien, welche die von uns angenommenen attractiven und repul- siven Kräfte selbst besitzen, und nach- dem FArapAy die Kraftcentren erdacht hatte, entstand hieraus die alte Lehre von den Corpuskeln, wonach alle Ele- mente im Universum durch sich selbst bewegt zu werden scheinen. Nicht Newron aber war, sage ich, wie ZOELL- NER irrthümlich glaubt, der Ansicht, dass die Atome belebt seien, und dass die letzten Theilchen der Körper gegen- seitig auf einander durch den leeren Raum hindurch wirken**; er glaubte vielmehr, dass eine derartige Thorheit einem Philosophen niemals in den Sinn kommen könne***, S$S 3. Sehr bemerkenswerth ist die Ansicht BoERHAAVvE’s, eines Zeitgenossen von NkwTon. Dieser Mann, welcher ein scharfes Urtheil hatte, erneuerte die alte Lehre des EmpepocuEs von der Freundschaft (gyıÄie), obwohl er das Paradoxe der Theorie anerkannte, da- mit er sich die Mischungserscheinungen und die constanten Gewichtsverhältnisse erklären könne. Denn in seinen Ele- menten der Chemie f trägt der berühmte Arzt bei Besprechung der Lösungsmittel die Ansicht vor, dass die Theile eines jeden Lösungsmittels sich mit den eine wichtige Thatsache, die man zum Aus- gangspunkte nehmen könne für die Erklärung der andern davon abhängenden Phänomene. Discours sur les differentes figures des astres, $ 2. Diseussion metaphysique sur l’attrac- tion. Oeuvres I, 92. *#*%* Dass die Gravitation eine innerliche, anhaftende und wesentliche Eigenschaft der Materie darstellen sollte, so dass ein Körper aus der Ferne durch ein Vacuum, also ds jedes Medium auf einen andern Körper sollte wirken können, und die Wirkung und Kraft von einem zum andern sollte übertragen werden können, dieser Gedanke erscheint mir als eine so grosse Thorheit, dass er meines Erachtens nach keinem in den Sinn kommen wird, der über philosophische Pro- bleme nachzudenken gelernt hat. + HERMANNUS BORRHAAVE. Elementa chemiae (Paris, 1733). 256 Theilen des zulösenden Körpers mischen, und er forscht nach der Ursache, durch deren Wirkung die wunderbare Er- scheinung zu Stande kommt, dass die Theilchen der lösenden Substanz sich von einander losreissen und nach Ver- einigung mit den Theilchen des zu lösenden Körpers streben, anstatt in ihrem früheren Zustande zu verharren. BorrHAAvE konnte sich nicht genug darüber wundern, wie er öffentlich be- kannte, dass die Theilchen des zu lösenden Körpers, welche schon durch die Einwirkung des Lösungsmittels aus ihrem Zusammenhang gerissen sind, sich mit den Theilchen des Lösungs- mittels zu vereinigen streben, anstatt dass nach geschehener Auflösung die Theilchen des Lösungsmittels und des zu lösenden Körpers vermöge ihrer Affinität sich wiederum zu vereinigen streben sollten, um wie vor der Lösung Körper von gleichartiger Substanz zu bilden. Er war aber der Ansicht, dass die Ursache in allen Fällen, sowohl im Lösungsmittel als auch in dem zu lösen- den Körper wirksam sein müsse, eine Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten der neuern Philosophen. gemeinsame und wechselseitige Ursache scheint daher vorhanden zu sein. »Denn warum bleiben, sobald man das Gold als Goldchlorid im Königswasser löst, die Theilchen des aufgelösten Goldes vereinigt mit den Theilchen des auf- lösenden Königswassers, warum bleiben die Goldtheilchen im Königswasser sus- pendirt und sammeln sich nicht unter dem leichteren Wasser, da sie ja acht bis zehn Mal schwerer sind als das Königswasser? Geht hieraus nicht deutlich hervor, dass zwischen einem jeden Goldtheilchen und einem jeden Theilchen des Königswassers eine wech- selseitige Einwirkung. stattfindet, so dass jedes Goldtheilchen jedes Theil- chen Königswasser liebt, sich mit ihm vereinigt und es festhält? Hier muss man daher nicht an mechanische Actionen, nicht an stürmische Einwir- kungen, nicht an Feindschaften, son- dern an Freundschaft denken, wenn nicht als Liebe bezeichnet werden muss das Streben nach Vereinigung‘ *. * Elementa chemiae, I, p. II. de the- oria artis — de mentruis dietis in chemia, p- 360. (Fortsetzung folgt.) N. MN 0, H N » N f eK u, “ Kosmos Bd X (1881) late! V7 Lith. Inst. o. Henry ın Bonn Bemerkenswerthe Fälle erworbener Aehnlichkeit bei Schmetterlingen. Von Fritz Müller. Hierzu Tafel VI in Farbendruck. I Aehnlichkeit durch Ungeniessharkeit geschützter Arten. Dass weit verschiedenen Gattungen angehörige, aber in derselben Gegend lebende Schmetterlinge in zahlreichen Fällen einander zum Verwechseln ähn- lich sind, hatte sich als merkwürdige Thatsache schon vor langen Jahren der Beachtung der Sammler und Forscher aufgedrängt.* Eine Erklärung dieser Thatsache aber hat man in vordarwi- nischer Zeit wohl nicht einmal versucht. Wozu auch nach der Bedeutung einer Ausnahme fragen, so lange die Regel selbst, — dass mit der Verschieden- heit des Baues eine entsprechende Ver- schiedenheit der äusseren Erscheinung Hand in Hand geht, — als gegebene, einer Erklärung weder bedürftige, noch zugängliche Thatsache, als unerforsch- licher »Schöpfungsplan« hingenommen wurde. Erst als mit der Anerkennung wirklicher, leiblicher Verwandtschaft die Aehnlichkeit verwandter Arten als ererbt eine einfache Erklärung gefun- * Vgl. BOISDUVAL, Species general des Lepidopteres. Tome I. pag. 23. 1836. *= Trans. Linn. Soc. vol. XXIII. 1862. pag. 495. — Leider kenne ich die Abhand- Kosmos, V. Jahrgang (Bd, X), den hatte, stellte sich auch die erwor- bene Aehnlichkeit nicht verwandter Ar- ten als Lösung heischende Aufgabe hin. Und für die Schmetterlinge liess die Lösung nicht auf sich warten. Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des »Ursprungs der Arten« wurde sie, wie bekannt, von H. W. Bars, dem scharf- blickenden »Naturforscher am Amazo- nenstrome« gegeben.** Wo an gleichem Orte mehrere täuschend ähnliche, nicht verwandte Schmetterlinge zusammen- leben, pflegt eine der Arten in der ge- wöhnlichen Tracht ihres Verwandten- kreises aufzutreten, während die ande- ren in Flügelschnitt, Zeichnung und Färbung sich oft weit von ihren näch- sten Verwandten entfernen. Letztere dürfen desshalb als Nachahmer der ersteren bezeichnet werden. Jene erste Art pflegt häufig zu sein und obwohl oft mit leuchtenden Farben geschmückt und von langsamem Fluge, also augen- fällig und leicht zu erhaschen, von Vö- geln nicht verfolgt und gefressen zu werden, wofür sich als Grund bisweilen auch uns ein widriger Geruch zu er- lung von BATES nur aus GERSTÄCKER’S Jahresbericht und aus dem, was DArwın (Origin of Species. 4th Ed., p. 503 und Descent of Man. V. I, p. 411) daraus mittheilt. 17 kennen gibt. Die anderen Arten pfle- gen weit seltener zu sein und Falter- gruppen anzugehören, die von Vögeln verspeist werden. So erscheint also die Annahme berechtigt, dass die Maske jener ersten, häufigen, durch Widrig- keit geschützten Art, welche diese Nach- ahmer tragen, ihnen Schutz verleiht gegen Verfolger und dass die täuschende Aehnlichkeit allmählich durch Na- turauslese entstand, indem immer die dem Vorbilde ähnlichsten Thiere am besten der Verfolgung durch Vögel und andere Feinde entgingen. Mit Recht durfte Darwın diese von Barzs an den Ithomia- und Leptalis-Arten des Amazonasgebietes im Einzelnen dar- gelegte Entstehungsweise der »Mi- miery« als ein vortreffliches Beispiel zur Erläuterung der Naturauslese be- zeichnen.* Andere freilich haben anders dar- über gedacht und dasselbe Beispiel von Ithomia und Leptalis benutzt, um daran nachzuweisen, dass zur Erklärung ihrer Aehnlichkeit Naturauslese nicht aus- reiche. Naturauslese, sagte man **, könne nur wirken, — und das ist nicht zu bestreiten, — wenn jede einzelne in vortheilhafter Richtung auftretende Abweichung sich für das abweichende Thier nützlich erweise. Also erst, wenn die Aehnlichkeit zwischen Nachahmer und Vorbild gross genug geworden, um die scharfen Augen der Vögel zu täu- schen, könne sie durch Naturauslese erhalten und weiter ausgebildet wer- den. Nun aber sei der Unterschied der äusseren Erscheinung zwischen einem gewöhnlichen weissen Pieriden und den Ithomiinen*** so gross, dass jedenfalls solche Zwischenstufen, welche * DARWın, Origin. of species. 4th Edi- tion, pag. 506: „an excellent illustration of the principle of natural selection.“ ** Vgl. Das Unbewusste vom Standpunkte der Physiologie und Descendenztheorie. 1872. S.9—11, wo diese „Ausstellungen gegen die Tragweite der natürlichen Zuchtwahl“ mit be- Fritz Müller, Bemerkenswerthe Fälle erworbener ersteren im Aussehen noch näher ständen, als letzteren, in keiner Weise irgend welchen Schutz geniessen, also ihrem Inhaber keinen Vortheil vor der Stammform gewähren würden. Hier sei also obige Voraussetzung nicht nur für die ersten Stufen zufälliger Ab- weichungen, sondern selbst bis zur Mitte des Weges hin nicht erfüllt, also das Eingreifen der Naturauslese nicht möglich. Nur da, wo die Stammform, von welcher die Umwandlung zur na- türlichen Maske ausgeht, der nachge- ahmten Art ohnehin schon so ähnlich aussehe, dass eine Verwechslung von Seiten der Feinde möglich sei, nur da sei Naturauslese im Stande, die Aehnlich- keit zu vervollkommnen und immer täuschender zu machen. Gegen diese und ähnliche Beden- ken ist im allgemeinen zu bemerken: 1) »Von jedem beliebigen Ausgangs- punkte aus würde Naturauslese dahin wirken können, ein Thier unter einem zahlreichen Schwarm einer andern Art für die Augen seiner Feinde verschwin- den zu lassen, etwa einen weissen Pie- riden unter einem Schwarme bunter Ithomien. Würden die ersten unerheb- lichen Abweichungen von der ursprüng- lichen weissen Färbung auch nur da- durch nützen, dass ihre Inhaber auf minder weite Entfernung hin die Auf- merksamkeit achtlos vorüberfliegender Feinde auf sich zögen, sie würden eben immerhin nützen und »ihre Inhaber concurrenzfähiger im Verhältniss zur Stammform machen«; sie würden mit- hin als Grundlage dienen können für die allmähliche Herausbildung einer Aehnlichkeit, die selbst die scharfen Augen der den Ithomienschwarm nach sonderer Klarheit und Schärfe dargelegt sind. **%* Teber die Unterschiede zwischen den früher zu den Heliconiinen,, jetzt meist zu den Danainen gestellten Ithomiinen und zwi- schen den eigentlichen Danainen vgl. Frırz MÜLLER, Ituna und Thyridia, in Kosmos Bd. V, S. 100. Aehnlichkeit bei Schmetterlingen. Beute durchspähenden Vögel zu täu- schen im Stande wäre.«” 2) Das »scharfe Auge der Vögel«, die durch das Vertilgen aller minder gelungenen Nachahmungen die Mimiery zu der Vollkommenheit gebracht haben, die wir heute bewundern, hat jedenfalls erst in stetem Wettkampfe zwischen immer besser sich bergender Beute und immer schärfer spähendem Verfolger seinen Scharfblick erlangt. Auch aus diesem Grunde werden anfangs die Ver- folger auch durch minder vollkommene Nachbildungen zu täuschen gewesen sein. Was aber im Besonderen den Fall der Ithomiinen und der sie nachahmen- den ZLeptalis-Arten betrifft, so ist den obigen Bedenken gegenüber zu sagen: 1) In Bezug auf die Ithomiinen, dass, wie WALLACE** vortrefflich und eingehend auseinander gesetzt, diesel- ben wahrscheinlich zur Zeit, als sie die heute ihnen Schutz gewährenden wi- drigen Absonderungen zu erlangen be- gannen, ziemlich schlicht gefärbt waren, entweder dunkel mit helleren Streifen oder Flecken, oder gelblich mit dunk- lem Saum und bisweilen mit röthlichen Binden oder Flecken, — dass also die- sen unscheinbaren Ithomiinen leicht diese oder jene schutzbedürftige Pieride ähnlich genug sein konnte, um bis- weilen von- ihren Feinden damit ver- wechselt zu werden. 2) In Bezug auf Leptalis, dass nichts dafür spricht, ihre Stammform sei »eine gewöhnliche weisse Pieride« gewesen, dass vielmehr diese Stammform wahr- scheinlich schwarz und gelb war, und zwar mit ähnlicher Anordnung der Far- ben und mit ähnlichem Flügelschnitt, wie bei vielen Ithomiinen und wie wir es auch unter den Zeptalis-Arten heute * Fritz MÜLLER, Einige Worte über Leptalis in: Jenaische Zeitschrift für Natur- wissenschaft. Bd. X. 1876. 8.2. ** WALLACE, Tropical Nature and other Essays. 1878. 8. 189. 259 noch bei den keine fremde Art nach- ahmenden Männchen von Zeptalis Melia und Melite sehen. Ich habe anderwärts*** dies auch ausführlich nachzuweisen ver- sucht und will hier nur kurz im Hin- weis auf die gegebene Abbildung von Leptalis Astynome (Fig. 7) einen meiner Gründe wiederholen. Die durch Natur- auslese entstandene Nachahmung kann selbstverständlich in keiner Richtung über das nachgeahmte Vorbild hinaus- gehen, wodurch sie sich ja wieder von demselben entfernen würde oder, mit anderen Worten, es wird das Vorbild nie zwischen dem Nachahmer und des- sen Stammform in der Mitte stehen können. Alle durch Ungeniessbarkeit geschützten Falter aber, die etwa der Leptalis Astynome als Vorbild gedient haben können (Fig. 1—5), stehen in ihrer Flügelform mitten inne zwischen dieser lang und schmalflügligen Leptalis und einem kurz und breitflügligen »ge- wöhnlichen weissen Pieriden<«. Einem solchen kann folglich die Stammform der Leptalis nicht geglichen haben. Die grosse Verschiedenheit der äus- seren Erscheinung zwischen dem Vor- bilde und der Stammform der nach- ahmenden Leptalis, auf welche allein die oben dargelegten Bedenken sich stützen, hat aller Wahrscheinlichkeit nach niemals bestanden. Wie aber die einmal in der Aehnlichkeit mit ge- wissen lIthomiinen Schutz findende Leptalis durch Naturauslese Schritt für Schritt auf demselben Wege weiter- geführt werden konnte, auf welchem erstere zu ihrer heutigen oft so grellen Färbung gelangten, bedarf wohl keiner weiteren Ausführung.f So dürfte Zeptalis kein glücklich gewähltes Beispiel sein, um darauf »eine Ausstellung gegen die Tragweite der na- ##* Jenaische Zeitschrift für Naturwissen- schaft. Bd. X, pag. 1. + Vgl. was Witnaon a. a. O. treffend darüber sagt. Ir 260 türlichen Zuchtwahl« zu begründen und ich bezweifle, dass andere Fälle schü- tzender Aehnlichkeit sich besser dazu eignen würden. Eine andere Frage ist es, ob alle Fälle von Mimicry, na- mentlich bei Schmetterlingen, als schü- tzende Aehnlichkeit aufzufassen sind.* Wenigstens gibt es gar manche Fälle, in denen die von BArzs seiner Erklär- ung der Mimiery zu Grunde gelegten Voraussetzungen nicht zutreffen, auf welche also diese Erklärung nicht ohne Weiteres Anwendung finden kann. Es kann z. B. die nachahmende Art viel- mal häufiger sein, als die nachgeahmte, — oder es können, soweit sich nach ihrem Benehmen und tenkreise urtheilen lässt, beide des Schutzes der Ungeniessbarkeit entbeh- ren, — oder es können auch umge- kehrt zwei oder mehrere täuschend ähn- liche Schmetterlinge sämmtlich durch Ungeniessbarkeit geschützten Falter- gruppen angehören. Diesen letzten Fall, die Aehnlichkeit zwischen geschützten Arten, sen Blättern besprochen** und bin da- bei zu dem Ergebniss gelangt, dass auch sie als schützende, durch Natur- auslese entstandene Aehnlichkeit zu be- trachten sei. Ich wusste damals nicht, dass schon vor mir WALLACE auf die- sen Fall hingewiesen, ihm aber eine weit verschiedene Deutung gegeben hatte, und diess veranlasst mich, jetzt noch einmal auf denselben Gegenstand zurückzukommen. In einem Vortrage, den er am 6. Sep- tember 1876 als Vorsitzender der biologi- schen Abtheilung der »British Associa- tion« zuGlasgow hielt, sagteW ALLAcH***: »In Südamerika finden wir in den drei sämmtlich durch Widrigkeit geschützten Unterfamilian der Danainen, Acraeinen und Heliconiinen dieselben Farben und Zeichnungen wiederholt, bisweilen bis ins * Frırz MÜLLER, April 1875, Jena- ische Zeitschr. Bd. X, 8. 12. ** Ituna und Thyridia. Kosmos, Bd. V, ihrem Verwand- habe ich schon einmal in die- Fritz Müller, Bemerkenswerthe Fälle erworbener Einzelnste sich gleichend, und zwar ist jede besondere Weise der Färbung be- zeichnend für ein bestimmtes Gebiet des Erdtheils.. Neun sehr verschiedene Gattungen betheiligen sich an diesen gleichlaufenden Wandlungen (parallel changes), — Lycorea, Ceratinia, Me- chanitis, Ithomia, Melinaea, Tithorea, Acraea, Heliconius und Eueides. Gruppen von drei, vier oder selbst fünf dersel- ben erscheinen zusammen in derselben Tracht in dem einen Bezirk und in einem benachbarten Bezirk erleiden die meisten oder alle zugleich denselben Wechsel in Färbung oder Zeichnung. So treten in Guiana Arten von JItho- mia, Mechanitis und Heliconius auf mit gelben Flecken der Flügelspitze, die alle in Südbrasilien durch Arten mit weissen Flecken vertreten sind. Von Mechanitis, Melinaea und Heliconius und bisweilen von Tithorea sind die Arten der südlichen Anden (Bolivia und Peru) mit Orange und Schwarz gezeichnet, während die der nördlichen Anden (Neu-Granada) fast immer orangegelb und schwarz sind. Aehnliche Wand- lungen kommen bei Arten der genann- ten Gruppen vor, welche dieselben Ge- genden, sowie Centralamerika und die Antillen bewohnen. Bald ist die so erzeugte Aehnlichkeit zwischen weit verschiedenen Arten nur eine allgemeine, bald aber so ins Einzelne gehend, dass sie nur durch genaue Untersuchung des Baues sich unterscheiden lassen. — Da aber alle in gleicher Weise durch die widerliche Absonderung geschützt sind, welche sie für Vögel unschmack- haft macht, kann dies kaum wirkliche Mimicry sein.e — Warvacz führt diese Fälle an als Belege für den Einfluss der Oertlich- keit auf die Farbe und meint, dass die Aehnlichkeit unbekannten örtlichen Ur- sachen zugeschrieben werden müsse 1879, S. 100. %** WALLACE, Tropical Nature. 1878, pag. 256. Aehnlichkeit bei Schmetterlingen. 261 (»the similarity must be due to un- | besuchten Blumen, wie Poinsettia oder known local causes«, wie er sich in Betreff der Aehnlichkeit nicht geschütz- ter Arten ausdrückt). — So ungern ich, gerade wenn es sich um Schmetterlinge handelt, den An- sichten des unübertrefflichen Beohach- ters entgegentrete, der auf langjährigen Reisen die schmetterlingsreichsten Ge- genden der alten und neuen Welt durch- wandert hat, und dessen seltenem Ge- schick in Lösung schwieriger Fragen ich meine aufrichtige Bewunderung zolle*, glaube ich doch meine eigene Meinung der seinigen gegenüber auf- recht erhalten zu müssen. Ich will meine Bedenken, gegen die von WALLAcE vertretene Ansicht an ein bestimmtes Beispiel knüpfen und führe daher zunächst dem Leser (in Fig. 1—5) fünf täuschend ähnliche Schmetterlinge der Provinz Santa Ca- tharina vor, aus ebenso vielen ver- schiedenen Gattungen, die sämmtlich durch Ungeniessbarkeit geschützten Faltergruppen angehören. Zu den eigent- lichen Danainen gehört die hier sehr sel- tene Zycorea (Fig. 1), der ich nur einmal (5. Febr. 1878) auf dem Wege nach S. Bento am Fusse der Serra begegnet bin. Dagegen ist hier Mechanitis Ly- simnia (Fig. 2) in manchen Jahren einer der häufigsten Schmetterlinge. Sie ge- hört, wie Melinaea (Fig. 3) zu den Itho- miinen, während der Unterfamilie der Heliconiinen (Maracujäfalter) Heliconius Eucerate (Fig. 4) und Eneides Isabella (Fig. 5) angehören. Mechanitis und Melinaea trifft man, wie alle hiesigen Ithomiinen, fast nur auf weissblühenden Compositen, unter denen Adenostemma brasilianum ihre besondere Lieblings- blume ist, dagegen nie auf manchen andern von den Maracujäfaltern gern * „Mr. WALLACE, who has an innate genius for solving diffieulties“ DAarwın, Des- cent of Man. Vol. I, 1871, pag. 416. ** CARUS STERNE, Werden und Ver- gehen. II. Aufl., 1880, 8. 608, Fig. 384. Lantana. Ehe ich weitergehe, glaube ich einen Zweifel beseitigen zu müssen, den wahr- scheinlich mancher Leser gegen meine Bezeichnung der fünf Schmetterlinge als täuschend ähnlich erheben wird. Gewiss, hat man ihre Flügel neben einander vor sich liegen, so erkennt man in ihnen sofort fünf ganz verschie- dene, leicht zu unterscheidende Arten. Schon schwieriger ist die sofortige Unterscheidung, wenn unvermuthet einer oder der andere über den Weg flattert. Allein es handelt sich ja überhaupt gar nicht darum, ob wir, sondern ob die Schmetterlingsfresser durch die Aehn- lichkeit getäuscht werden können und dafür ist gerade in diesem Falle der Beweis leicht zu führen. Es genügt, mit ihnen zwei andere ähnlich gefärbte hiesige Falter, Protogonius Hippona (Fig. 6) und ZLeptalis Astynome (Fig. 7) zu vergleichen, welche beide nicht durch Widrigkeit geschützt sind und ihre Aehn- lichkeit mit den fünf ungeniessbaren Arten nur dem Umstande danken, dass dieselbe durch Täuschung ihrer Feinde ihnen nützlich wurde. Für Zeptalis bedarf dies keines weiteren Nachweises, namentlich nicht WArLAcE gegenüber, der hierin gleicher Meinung ist; was Protogonius anlangt, so suchen nicht nur mehrere seiner nahen Verwandten unter täuschenden Verkleidungen Schutz, — zum Theil von wunderbarer Voll- kommenheit, wie die des Blattschmet- terlings, Siderone strigosus**, — sondern auch seine eigene Raupe und Puppe verrathen sich als geniessbar dadurch, dass erstere ein Blatt der Nahrungs- pflanze in eine lange spitze Tüte zu- sammenrollt, welche sie bei Tage nicht verlässt‘, letztere die grüne Farbe des Der Schmetterling ist in Wirklichkeit da- durch noch blattähnlicher, als in der Abbil- dung, dass er die Fühler zwischen die zu- sammengelegten Flügel birgt. 262 Laubes trägt, zwischen dem sie auf- gehängt ist. — Diese beiden nachahmen- den Arten nun, deren Aehnlichkeit mit den fünf ungeniessbaren ohne Frage eine ihre Verfolger täuschende ist, ent- fernen sich in ihrem Aussehen weit mehr von diesen ihren Vorbildern, als letztere von einander und so darf ohne Bedenken auch die Aehnlichkeit dieser fünf Arten als täuschend bezeichnet werden. Wie ist nun diese täuschende Aehn- lichkeit der fünf durch Widrigkeit ge- schützten Arten entstanden ? Ererbt kann sie nicht sein, da jede Art einer anderen Gattung angehört und diese Gattungen verschiedenen Unterfamilien. WALLACH leitet die Aehnlichkeit ab von dem Einfluss unbekannter örtlicher Ursachen. Aber welche örtlichen Ursachen könn- ten möglicherweise hier gewirkt haben ? Von vornherein ist in diesem Falle gerade von denjenigen örtlichen Ver- hältnissen abzusehen, die sonst bei Gestaltung der Arten die wichtigsten zu sein pflegen, von der Thier- und Pflanzenwelt, mit der und von der die- selben zu leben haben. Anderen Thie- ren treten Schmetterlinge nur als Beute gegenüber und so könnte die Aehnlich- keit nur als schützende mit der um- gebenden Thierwelt in Beziehung stehen und als solche will sie ja WALLACH nicht gelten lassen. Die Nahrungs- pflanzen der Raupen aber, die biswei- len nicht ohne Einfluss auf die Fär- bung der Schmetterlinge zu sein schei- nen, sindin diesem Falle an der Aehn- lichkeit der fünf Arten jedenfalls ganz unbetheiligt; denn sie leben auf ganz verschiedenen Pflanzen, Mechanitis, wie manche andere Ithomiinen, auf Sola- neen, Heliconius und Kwueides, wie alle ihre Familiengenossen, auf Passifloren, und zwar findet sich die Raupe von Enueides Isabella oft auf derselben Pas- siflora mit derjenigen der feuerfarbenen Dione Juno, nicht aber mit derjenigen von Heliconins Eucrate. So bleiben also Fritz Müller, Bemerkenswerthe Fälle erworbener als »örtliche Ursachen< nur Wärme, Feuchtigkeit, Gleichmässigkeit oder schroffer Wechsel der Jahreszeiten, wol- kenloser oder wolkentrüber Himmel, kurz die Witterungsverhältnisse. — Darf man nun diesen wohl einen gewissen Ein- fluss auf die Färbung der Schmetter- linge einräumen und darf man War- LACE zugestehen, dass von solcherlei örtlichen Ursachen ihre bleichere Farbe auf gewissen Inseln, ihr metallischer Glanz auf anderen abhängen möge*, so erheben sich doch gar manche und ernste Bedenken gegen Ausdehnung die- ses Zugeständnisses auf die Aehnlich- keit unserer fünf Schmetterlinge. Selbst wenn dieelben als die ein- zigen einen kleinen abgeschlossenen Be- zirk mit ganz eigenartigen Witterungs- verhältnissen bewohnten, würde es kaum denkbar sein, dass dieselbe blind und gleichmässig auf verschiedene Stamm- formen wirkende Ursache denselben eine so ähnliche buntfarbige Zeichnung habe aufprägen können; nun aber verbreiten sie sich über ein weites Gebiet, durch viel Breitengrade , vom Meeresstran de his hoch in die Berge, und bewohnen es mit Hunderten anderer Schmetter- “linge, die auch nicht den leisesten An- klang an die jenen fünf eigenthümliche Zeichnung und Färbung aufweisen, bei denen also der dort so mächtige Ein- fluss der »örtlichen Ursachen« völlig wirkungslos geblieben ist. Das gilt so- gar für ihre nächsten, an gleichem Orte lebenden Verwandten, bei denen doch ähnliche Empfänglichkeit für dieselben Einflüsse zu vermuthen gewesen wäre. Neben Khteides Isabella lebt hier die acraea-ähnliche E. Pavana und die feuer- farbene E. Aliphera; neben Heliconius Euerate der H. Besckei mit sammet- schwarzen Flügeln, von denen die vor- deren mit breiter rother Binde und nahe der Wurzel mit gelbem Längs- strich, die hinteren mit schwefelgelber * a. a. O. pag. 257—261. Aehnlichkeit bei Schmetterlingen. Längsbinde geschmückt sind, sowie. H. Apseudes mit ebenfalls sammetschwarzen und zugleich blauschimmernden Flügeln, von denen die vorderen zwei gelbe Quer- binden tragen, eine breitere in der Mitte, eine schmälere nahe der Spitze; — neben Mechanitis und Melinaca leben eine ganze Zahl glasflügliger Ithomiinen (Thyridia, Ceratinia, Dircenna, Ithomia) und ebenso neben ZLycorea die glas- flüglige Ituna. — Ja, was noch mehr ist, unter den hiesigen Verwandten der fünf Arten finden sich noch drei andere Gruppen verschiedenen Gattungen an- gehöriger, täuschend ähnlicher Arten. Das sind erstens die glasflügligen Arten, von denen Ituna den eigentlichen Da- nainen, Thyridia, Dircenna u. s. w. den Ithomiinen angehören; dann die feuer- farbenen Heliconier: Eueides Aliphera, Colaenis Julia und Dione Juno, und drit- tens Acraea Thalia und Eueides Pavana. Nach Kırgy’s Verzeichniss der Tagfalter würden sich die in Betracht kommen- den Arten in folgende Reihe ordnen: Danainen: 1. Zycorea. 2. Ituna. — Ithomiinen: 3. Thyridia. 4. Dir- cenna. D. Ceratinia (C. Eupompe u. a.). 6. Mechanitis Lysimnia. 7. Ithomia (T. SyWwo u. a.). 8. Melinaea. — Acrae- inen: 9. Acraea Thalia — Heliconi- inen: 10. Heliconius Euerate. 11. Eu- eides Pavana. 12. E. Aliphera. 13. E. Isabella. 14. Colaenis Julia. 15. Di- one*, von denen also 1, 6, 8, 10 und 13, — dann 2, 3, 4,5 und 7, — dann wieder 12, 14 und 15 — und endlich 9 und 11 je eine durch Aehnlichkeit der Zeichnung und Färbung zusammen- gehaltene Gruppe bisweilen zum Ver- wechseln ähnlicher Arten bilden. — So hätten also die gleichen »unbekannten örtlichen Ursachen« gleichzeitig ver- wandten, also anfangs ähnlichen Arten (z. B. den drei Eueides-Arten) ein weit * Obwohl die Reihenfolge der Arten die- selbe ist, weicht meine Anordnung von der Kırpy’s darin ab, dass dieser die Ithomiinen nicht von den Danainen trennt, und die Gat- 263 verschiedenes, und nicht verwandten, also anfangs verschiedenen (z. B. Acraea Thalia und Eueides Pavana) ein fast un- unterscheidbar ähnliches Gewand gege- ben. Gewiss eine höchst absonderliche Wirkungsweise! — Die Schwierigkeiten der von WALLACE vertretenen Ansicht steigern sich, wenn wir näher betrachten, in welcher Weise die Ähnlichkeit unserer fünf Schmetter- linge zu Stande kommt. Die Vorder- flügel zeigen auf schwarzem Grunde drei Flecken, einen orangefarbenen, der von der Wurzel etwa bis zur Mitte des Flügels reicht, einen gelben (oder statt dessen bei Zycorea drei kleinere, nicht zusammenhängende Flecken), der etwa von der Mitte des Vorderrandes schief nach aussen und hinten geht, und einen kleineren (bei Zycorea und Melinaea mehrere) nahe der Spitze, bald (Zycorea und Eueides) dem . mitt- leren Flecken gleichfarbig, bald (Mecha- nitis, Melinaea und Heliconius) weiss. Die Hinterflügel haben an der Wurzel und längs des Vorderrandes ein helles Feld (orange, oder gelb, oder zwie- farbig, orange und gelb), das vollständig oder fast vollständig von einer breiten schwarzen Binde umschlossen ist; auf diese schwarze Binde folgt eine breite orange Binde und dann der schwarze Saum des Flügels. Eine so verwickelte mehrfarbige Zeichnung in ähnlicher Weise bei fünf verschiedenen, nicht verwandten Arten zu wiederholen, muss für eine blind wirkende Ursache als kaum glaubliche Leistung bezeichnet werden. Lassen wir auch die blind wirkenden »örtlichen Ursachen«, wie sie nach Wauvack die Schmetterlinge mancher Inseln gebleicht oder die der Philippinen mit Metallglanz angehaucht zu haben scheinen, so in unserem Falle dieselben verschiedenen Farben bei den tungen Colaenis und Dione nicht zu den Heliconiinen, sondern zu den Nymphalinen rechnet. 264 betreffenden Arten erzeugen, so ist damit noch sehr wenig erreicht; denn ebensoviel, wenn nicht mehr noch, als auf der Farbe selbst, beruht die Ahn- lichkeit auf deren Anordnung. Der helle Fleck der Flügelspitze ist gelb bei Eueides, weiss bei Mechanitis und Heliconius, ohne dass dies die täuschende Ähnlichkeit wesentlich beeinträchtigt. Wie konnte nun eine ähnliche Zeich- nung entstehen? Eine blosse Umfärbung, die an bereits vorhandene Zeichnungen der Stammformen anknüpfend deren Schattirungen in neue Farben umge- wandelt und etwa noch das Gebiet der-einen oder anderen Farbe erweitert oder verengt hätte, würde offenbar nur aus bereits Aehnlichem wieder Aehnliches erzeugt haben, lässt also eine aus verschiedenen Stammformen hervorge- gangene Aehnlichkeit unerklärt. Statt an die vorhandene Zeichnung anzu- knüpfen, hätten die »unbekannten ört- lichen Ursachen« auch wohl unabhängig von derselben die entsprechenden Flügel- stellen der fünf Arten mit denselben Farben schmücken und so deren Aehn- lichkeit bewirken können. Auch das liesse sich allenfalls noch einer blind wirkenden Ursache zutrauen. Allein das ist nicht geschehen. Die einander entsprechenden Theile der Zeichnung liegen bei den fünf Arten nicht an entsprechenden Stellen der Flügel, oder, — was dasselbe sagt, — die entsprechen- den Stellen der Flügel sind bei den verschiedenen Arten oft in ganz ver- schiedener Weise gezeichnet und ge- färbt. Einige wenige Beispiele, die Jeder nach den Abbildungen beliebig vermehren kann, werden genügen. Das hinterste Feld des Vorderflügels (zwischen Hinterrand und Submediana) ist schwarz bis auf einen winzigen orange Fleck an der Wurzel bei Zycorea und Melinaea, dagegen umgekehrt orange bis auf einen kleinen schwarzen Fleck an der Flügel- wurzel bei Zueides, endlich in seiner vorderen Hälfte (längs der Submediana) Fritz Müller, Bemerkenswerthe Fälle erworbener schwarz, in der hinteren Hälfte (längs des Randes) orange bei Heliconius und Mechanitis. Die Aehnlichkeit der Schmet- terlinge wird durch diese Verschieden- heiten offenbar gesteigert, indem bei den Arten mit schmaleren Hinterflügeln (Mechanitis, Heliconius und Ewueides) durch den orangefarbenen Saum der Vorderflügel der helle schwarzumrandete Fleck der Hinterflügel breiter und da- durch dem der Arten mit breiteren Hinterflügeln (Zycorea und Melinaea) ähnlicher erscheint. Wäre bei den drei ersteren Arten der schwarze längs der Submediana verlaufende Strich bis zum Hinterrande ausgedehnt, wie bei Meli- naea und ZLycorea, so würde das die Aehnlichkeit erheblich beeinträchtigen. Wie aber sollen blinde, ohne Rücksicht auf etwa sich ergebende Aehnlichkeit wirkende »örtliche Ursachen« dazu kom- men, dasselbe Flügelfeld einmal schwarz, einmal orange und ein drittes Mal halb, schwarz, halb orange zu färben ? In besonders wirksamer Weise tragen zur Steigerung der Aehnlichkeit bei die hellen (weissen oder gelben) Flecken der schwarzen Flügelspitze. Diese Flecken haben bei jeder der fünf Arten eine andere Lage. Bei Zycorea liegen drei getrennte Fecken in Zelle 4, 5 und 6 (nach HrRRICH-ScHÄrFEr’sBezeichnung) ; bei Mechanitis findet sich ein einziger durch Zelle 5 bis 7 hindurchgehender und noch in Zelle 8 übergreifender Fleck; bei Melinaea zwei grössere Flecken dicht am Rande in Zelle 6 und 7, zwei kleinere in5 und 8; bei Heliconius ein einziger Fleck, der durch Zelle 6 und 7 hindurch geht und noch etwas in Zelle 8 ein- dringt; endlich bei Kueides ein Fleck in Zelle 6, der etwas in Zelle 5 über- greift. Besomders bemerkenswerth sind in Bezug auf diese Flecken die beiden Ithomiinen, Mechanitis und Melinaea. Viele Falter dieser Gruppe haben auf der Unterseite weisse Randflecken, die oft, doch meist weniger deutlich, auch auf der Oberseite erscheinen. Diese Aehnlichkeit bei Schmetterlingen. Randflecken sind es, die bei Melinaea sich vergrössert haben und die weissen Flecken der Flügelspitze bilden; bei Mechanitis fehlen die entsprechenden Randflecken der Oberseite entweder voll- ständig oder sind sehr klein und wenig in die Augen fallend. Der weisse Fleck der Flügelspitze liegt weiter vom Rande entfernt; in Zelle 7 fängt das Weiss bei Mechanitis gerade da an, wo es bei Melinaea aufhört; was bei Mechanitis weiss ist, ist bei Melinaea schwarz und umgekehrt. — Durch Vergrösserung der Randflecken wird Melinaca der Mecha- nitis weit ähnlicher; aber die »unbe- kannten örtlichen Ursachen«, denen Warrack die Entstehung der Aehnlich- keit zuschreibt, konnten doch wohl kaum bei einer Art die Randflecken vergrössern, bei einer anderen sie ver- kümmern oder völlig schwinden lassen. — Die schwarze Binde in der Mitte der Hinterflügel liegt bei allen Arten, Lycorea ausgenommen, ganz ausserhalb der Mittelzelle; bei Mechanitis und Heli- conius bleibt sie durchweg in ziemlicher Entfernung von derselben, während sie bei Melinaea und Kwueides in Zelle 5 dicht an die Mittelzelle herantritt. Im Gegensatz zu den übrigen vier Arten tritt bei Zycorea diese schwarze Binde schon in Zelle 2 an die Mittelzelle heran und in sie hinein und folgt won da ab, theils innerhalb, theils ausser- halb liegend, dem Rande derselben. Wollte man ihr hier dieselbe Lage geben, wie in einer der anderen Arten, so würde bei der grösseren Breite der Flügel und der grösseren Ausdehnung der Mittelzelle alle Aehnlichkeit der Hinterflügel schwinden. Aber wie hätte darauf eine blindwirkende »örtliche Ursache« Rücksicht nehmen können’? Wenn eine blindwirkende Ursache bei verschiedenen Schmetterlingen ähn- lich gefärbte, aber nicht an entsprechen- den Stellen der Flügel liegende bunte Flecken erzeugte, wie überaus unwahr- scheinlich würde es sein, dass daraus 265 selbst nur bei zweien eine einigermaassen ähnliche Zeichnung hervorginge; wenn aber, wie hier, solche nicht an gleiche Flügelstellen gebundene Flecken trotz- dem bei fünf verschiedenen Arten ein buntfarbiges täuschend ähnliches Ge- sammtbild liefern, so darf man mit der Gewissheit nahe kommender Wahr- scheinlichkeit behaupten, dass dieses Ergebniss nur entstehen konnte unter dem züchtenden Einflusse eines Auges, welcher jeden Strich, jeden Fleck, jede Farbenabstufung festhielt, wo immer sie auch auftrat, sobald nur dadurch die Aehnlichkeit gesteigert, die Täuschung der Feinde erleichtert wurde. Was unsere fünf Arten wegen ihrer grösseren Zahl, sowie wegen ihrer mehr- farbigen, minder einfachen Zeichnung besonders deutlich hervortreten lassen, ergibt sich übrigens ebenso aus der Betrachtung jeder anderen Gruppe durch Widrigkeit geschützter ähnlicher Arten, dass nämlich ihre Aehnlichkeit nicht durch irgendwelche blindwirkende Ur- sache erzeugt, dass sie vielmehr eine schützende, durch Täuschung ihrer Feinde nützende sei. Sie würde dies nicht sein können, wie ich bereits in dem Aufsatze über Ituna und Thyridia ausgesprochen*, wenn insektenfressende Vögel, Eidechsen u. s. w. die Kenntniss der für sie geniessbaren und ungeniessbaren Kerfe mit auf die Welt brächten, wenn sie vor aller Erfahrung wüssten, unter wel- chem Gewande sie einen leckeren Bissen zu verfolgen, unter welchem einen ekel- haften zu meiden haben. Wenn aber jeder einzelne Vogel erst durch eigene Erfahrung diese Unterscheidung lernen muss, so wird auch von den ungeniess- baren Schmetterlingsarten eine gewisse Zahl dem noch unerfahrenen jugend- lichen Nachwuchse der Schmetterlings- fresser zum Opfer fallen. Wenn nun mehrere ungeniessbare Arten zum Ver- wechseln ähnlich sind, so wird die an * Kosmos, Band V, Seite 107. 266 einer derselben gemachte Erfahrung auch den anderen zu Gute kommen; alle zu- sammen werden nur dieselbe Zahl von Opfern zu stellen haben, die jede einzelne stellen müsste, wenn sie auffallend ver- schieden wären. Wartacz schreibt, wie wir sahen, unbekannten örtlichen Ursachen nicht nur die Aehnlichkeit durch Widrigkeit geschützter Schmetterlinge zu, sondern auch die gleichgerichteten Wandlungen ihrer Zeichnung oder Färbung, die solche Gruppen ähnlicher Arten mehrfach in verschiedenen Gegenden unseres Erd- theiles erleiden, wie z. B. wenn ein gelber Fleck der Flügelspitze, der in Guiana bei Arten von Ithomia, Mecha- nitis und Heliconius auftritt, bei ver- wandten Arten des südlichen Brasiliens durch einen weissen Flecken ersetzt ist. Auch für diese Fälle scheint mir das Zuhilferufen unbekannter Ursachen entbehrlich, die ja überhaupt, weil unbe- kannt, nichts erklären. Naturauslese wird dahin wirken, die einmal herge- stellte vortheilhafte Aehnlichkeit der be- treffenden Arten zu erhalten, wenn irgend wo eine der häufigeren aus irgend welcher Ursache nach irgend welcher Richtung abändert. Natürlich kann sie nur wirken, wo entsprechende Abänderungen der übrigen Arten, die sie bevorzugen kann, auftreten, und es ist von vorn herein zu erwarten, dass dies nicht in allen Fällen geschehen werde. In der That hat in dem vorliegenden Falle nur bei drei Arten (Mechanitis, Melinaea und Heliconius)dieFlügelspitze weisseFlecken, während bei zwei Arten (Zycorea und Eueides) diese Flecken ihre gelbe Farbe bewahrt haben*, — ganz so, wie von den beiden nicht durch Ungeniessbar- keit geschützten Nachahmern der eine, Protogonius, einen weissen, der andere, Leptalis, einen gelben Flecken besitzt. * Ich sage: „bewahrt haben“, weil wahr- scheinlich diese Schmetterlinge sich aus dem wärmeren Norden nach dem kühleren Süden verbreitet haben und nicht umgekehrt. Fritz Müller, Bemerkenswerthe Fälle erworbener Das ist so wenig befremdend, dass es, wie gesagt, von vorn herein zu er- warten war. Wohl aber wäre es im höchsten Grade befremdlich, wenn ört- liche Ursachen von so mächtiger Wirkung, dass sie unseren fünf verschiedenen Arten ein täuschend ähnliches Aussehen aufprägten, an der solcher Leistung gegenüber so unbedeutenden Aufgabe hätten scheitern sollen, das Gelb in der Flügelspitze von ZLycorea und KEueides in Weiss zu verwandeln. Meine Erklärung der Aehnlichkeit durch Ungeniessbarkeit geschützter Schmetterlinge fusst auf der Voraus- setzung, dass jeder einzelne Schmetter- lingsfresser die geniessbaren und unge- niessbaren Arten durch eigene Erfahrung als solche kennen lernen müsse. Ist diese Voraussetzung richtig, so werden die nachahmenden Schmetterlinge den Tribut sparen können, den auch sie der jugendlichen Unerfahrenheit ihrer Feinde zu bringen haben, wenn sie erst dann auf der Bühne erscheinen, nachdem bereits ihr Vorbild allgemein als ungeniessbar erkannt worden ist. Und das scheint in der That in ge- wissen Fällen zu geschehen. Die letzten Jahre sind hier so überaus schmetter- lingsarm gewesen, dass es mir unmög- lich gewesen ist, eine befriedigende Zahl entscheidender Beobachtungen zu machen; doch will ich das Wenige, was ich gesehen, mittheilen, um die Auf- merksamkeit Anderer auf diese Frage zu lenken. — Ich schicke voraus, dass Acraea Thalia hier zweimal im Jahre als der häufigste unserer Schmetterlinge auftritt, einmal zu Anfang des Sommers (November, December), einmal zu Ende desselben (März, April); je nach der Witterung tritt die Flugzeit früher oder später ein und dauert bald nur bis Anfang Mai, bald bis in den Juni hin- ein. — Am 16. Mai 1871 traf ich nun auf einem Ausfluge nach der Colonie Brusque am Itajahy-mirim auf einer Mikania einen der gelungensten, kaum Aehnlichkeit bei Schmetterlingen. durch die gelbe Fühlerkeule zu unter- scheidenden Nachahmer der Acraea, ein noch frisches Weibchen von Kueides Pavana. Ringsum war nichts mehr von Acraea zu sehen, doch fing ich am Nachmittag desselben Tages, wenn auch an einer anderen Stelle, noch einige abgeflatterte Stücke. Ich konnte mir damals einen nachahmenden Schmetter- ling kaum anders denken, als inmitten eines Schwarmes der vorbildlichen Art und wurde durch diesen einsamen Ewueides so überrascht, dass er mir noch heute mit der ganzen Oertlichkeit lebhaft vor Augen steht. — Im Mai 1878 fand ich an einer Maracujä eine Gesellschaft mir unbekannter Heliconier- Räupchen; ich fütterte sie auf und aus den Puppen schlüpfte am 7. und 8. Juni Eueidess Pavana. Die Flugzeit von Acraea war so gut, wie vorüber. — Im April vorigen Jahres (1880) machte ich einen mehrtägigen Ausflug, auf welchem ich längs der Wege die Lieb- lingsblume vieler unserer Schmetterlinge, eine Vernonia, in voller Blüte und überall von zahllosen Acraeen umflattert antraf, aber vergeblich nach Kueides Pavana und der acraea-ähnlichen Zeptalis spähte. Erst mehrere Tage später fing ich bei meinem Hause die ersten Stücke dieser beiden nachahmenden Arten; die Lep- talis wurde entschieden häufiger, als schon Acraea seltener wurde und Eueides wurde noch gefangen, als kaum noch eine Acraea zu sehen war. Im laufenden Jahre, wo die Flugzeit der Acraeen unge- wöhnlich früh eintrat und aufhörte, habe ich an Zeptalis dieselbe Erfahrung ge- macht, freilich nur an einer sehr unge- 267 nügenden Anzahl; denn ich habe im Ganzen kaum dreissig Stück zu sehen bekommen. Sollten, wie ich vermuthe, weitere Beobachtungen bestätigen, dass Leptalis acraeoides, und Eueides Pavana und viel- leicht noch andere nachahmende Schmet- terlinge erst erscheinen, wenn die Art, unter deren Maske sie Schutz finden, schon längere Zeit geflogen und den Schmetterlingsfressern Gelegenheit ge- boten hat, sie als ungeniessbar kennen zu lernen, so würde dies als neuer Beleg dienen können für die Richtig- keit der Voraussetzung, dass der junge Nachwuchs der Schmetterlingsfresser selbst geniessbare von ungeniessbaren Arten unterscheiden lernen muss und somit für meine auf dieser Voraus- setzung fussende Erklärung der Aehnlich- keit durch Ungeniessbarkeit geschützter Schmetterlinge. Itajahy, August 1881. Nachschrift. Die wenigen Stellen, die ich für vorstehenden Aufsatz in WALLACH’s „Lropical Nature“ nachzuschlagen hatte, regten mich an, noch einmal das ganze an- ziehende Buch durchzulesen und dabei finde ich, — leider erst nach Absendung des Auf- satzes, — dass ich völlig vergessen hatte, was WALLACE selbst (a. a. O. S. 216) als „wahrscheinlichste Ursache“ der anscheinend nur durch örtliche Einflüsse bedingten ähn- lichen Färbungen betrachtet, nämlich: „die Gegenwart eigenthümlicher Grundstoffe oder chemischer Verbindungen in Boden, Wasser oder Luft, oder besonderer organischer Stoffe in der Pflanzenwelt“. Auch dieser von W ALLACE vermutheten Ursache gegenüber bleiben übri- gens meine Bedenken gegen irgendwelche blindwirkende Ursache der Aehnlichkeit ge- schützter Arten ungeschwächt bestehen. Den 4./10. 1881. F. M. Erklärung der Figuren auf Tafel VI. Fig. 1. Lycorea. S » 2. Mechanitis Lysimnia. 2 » 3. Melinaea. „ 4. Heliconius Eucrate (= Narcaea Gon.). SZ „ 9. Eueides Isabella. Fig. 6. Protogonius Hippona. „» 7. Leptalis Astynome. 9 „ 8. Flügel von Ituna Ilione d' (Unter- seite). „ 9. Flügel von Thyridia Megisto d' (Unterseite). Staatliche Einrichtungen. Von Herbert Spencer. XI. Der industrielle Gesellschaftstvpus. 5 (Sehluss.) Wenn wir uns von der allgemeinen Gegenüberstellung der alten europäi- schen Gemeinwesen mit den gegen- wärtigen nunmehr dazu wenden, ein solches, in welchem die industrielle Entwicklung weniger durch Militarismus gehindert wurde, mit einem andern zu vergleichen, in welchem diesesin höherem Maasse der Fall war, so treten ent- sprechende Resultate hervor. Als bestes Beispiel können wohl die Gegensätze angeführt werden, welche zwischen unsrer eigenen Gesellschaft und denjenigen des Continents, z.B. Frankreichs, allmählich zu stande gekommen sind. Nachdem sich die erobernden Normannen über England ausgebreitet hatten, erfolgte eine viel vollständigere Unterordnung der localen Herrscher unter den allge- meinen Herrscher, als dies anderswo eintrat, und in Folge dessen fanden lange nicht so viele innere Kämpfe statt. So sagt Hauzam von dieser Periode: >wir lesen nur wenig von Bürgerkriegen »in England«. Obgleich von Zeit zu Zeit Aufstände vorkamen und unter Stephen z. B. eine ordentliche Revolution aus- brach, und obgleich zwischen den Adligen gelegentlich Kämpfe ausgefochtenwurden, so waren doch während ungefähr ein- hundertundfünfzig Jahren bis zu den Zeiten König Johanns durch die Unter- werfung des Adels verhältnissmässig ge- ordnete Zustände gesichert. Ferner ist hervorzuheben, dass jene allgemeinen Kriege, die in diese Zeit fielen, meistens ausserhalb des Landes geführt wurden: Landungen an unseren Küsten fanden nur wenige und unwichtige statt und die Kämpfe mit Wales, Schottland und Irland hatten auch nur einige Einfälle auf englischen Boden zur Folge. Dem- gemäss stellten sich dem industriellen Leben und der Ausbildung der dem- selben angemessenen socialen Formen verhältnissmässig geringe Hindernisse entgegen. Zu derselben Zeit lagen die Dinge in Frankreich ganz anders. Wäh- rend dieser Periode und noch lange nachher fanden ausser den Kriegen mit England (die zumeist auf französischem Boden ausgefochten wurden) und an- deren Ländern auch überall locale Kämpfe statt. Vom zehnten bis zum vierzehnten Jahrhundert lagen die Lehns- herren mit ihren Vasallen sowohl als Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. diese unter einander fast fortwährend in Streit. Erst gegen die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts begann der König ein grösseres Uebergewicht über die Adligen zu erringen und erst im fünfzehnten Jahrhundert war die Stellung des obersten Herrschers soweit gefestigt, dass er die Kämpfe der localen Herrscher zu hindern vermochte. Wie schwer in Folge dessen der Druck auf der industriellen Entwicklung lastete, lässt sich aus der allerdings wohl übertriebenen Sprache eines alten Schriftstellers ent- nehmen, welcher von diesen Zeiten, wo der letzte Kampf der Monarchie mit dem Feudalismus stattfand, uns be- richtet, dass »Ackerbau, Handel und alle »Künste vollständig aufgehört hatten«. — Wenn solches die Gegensätze sind zwischen dem geringen Grade, in welchem industrielles Leben in England durch den Krieg verhindert, und dem hohen Grade, in welchem es in Frankreich durch den Krieg zurückgedrängt wurde, so wollen wir uns nun fragen: was für politische Gegensätze entsprangen hier- aus? Zunächst ist hervorzuheben, dass schon um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts in England eine Milderung der Leibeigenschaft eintrat, indem die Frohndienste eingeschränkt und theil- weise durch Geld abgelöst wurden, und dass im vierzehnten Jahrhundert die Umwandlung der Leibeigenen in eine freie Bevölkerung zum grössten Theil schon durchgeführt war, während in Frankreich um diese Zeit wie in den übrigen Ländern des Continents die alten Verhältnisse noch fortbestanden und sogar noch schlimmer wurden. So sagt FREEMAN von dieser Zeit: >In Eng- »land war die Leibeigenschaft fast überall »im Aussterben begriffen, während sie in »vielen anderen Ländern immer härter »und härter wurde.«»Die Regie- »rung betrachtete das Volk kaum von »einem anderen Standpunkte denn als »steuerfähige und Soldaten liefernde »Masse.< Während der kriegerische Theil des Gemeinwesens sich bedeutend ausgebildet hatte, war der industrielle Theil wieder dem Zustand eines ständi- gen Lieferanten nähergerückt. Durch Conscriptionen und Pressgänge war jene Aufopferung des Lebens und der Frei- heit der Bürger, welche der Krieg mit sich bringt, zu einem verhältnissmässig hohen Grade getrieben und das Anrecht auf Eigenthum wurde durch unbarm- herzige Besteuerung geschmälert, welche die mittleren Classen so hart bedrückte, dass sie ihre Lebensweise bedeutend vereinfachen mussten, während die grosse Masse des Volkes in so erbärmliche Zu- stände gerieth (theilweise allerdings auch durch schlechte Ernten), dass »Hunderte »sich von Nesseln und anderem Unkraut »nährtene. Mit diesen auffallenderen Uebergriffen des Staates gegenüber dem Individuum verbanden sich zahlreiche kleinere Beeinträchtigungen. Die keiner Verantwortung unterworfenen Agenten der Executive waren bevollmächtigt, öffentliche Versammlungen zu unter- drücken und die Leiter derselben zu verhaften, und Tod war die Strafe für diejenigen, welche sich nicht auf den ersten Befehl hin zerstreuten. Biblio- theken und Lesezimmer durften nicht ohne besondere Erlaubniss eröffnet wer- den und es war strafbar, Bücher ohne behördliche Genehmigung auszuleihen. Es wurden »energische Versuche ge- »macht, die Presse zum Schweigen zu »bringen«, und die Buchhändler wagten es nicht, Werke von verrufenen Autoren zu veröffentlichen. »Spione wurden be- »zahlt, Zeugen bestochen, Geschwornen- »gerichte widerrechtlich zusammenge- »setzt, und da die Habeas corpus-Acte Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. »beständig aufgehoben war, so hatte »auch die Krone das Recht, ohne Unter- »suchung und ohne Beschränkung der » Zeit die Leute ins Gefängniss zu werfen. « Während die Regierung den Bürger in diesem Maasse besteuerte, fesselte und hemmte, war anderseits sein Schutz desselben ganz ungenügend. Allerdings hatte man das Strafgesetzbuch ausge- dehnt und verschärft: die Definition von Verrath wurde erweitert und viele Uebertretungen zu Capitalverbrechen ge- stempelt, welche dies früher nicht ge- wesen waren, so dass es nun >»eine »grosse und unerhörte Mannichfaltigkeit »von Vergehen gab, für welche Männer »und Weiber dutzendweise zum Tode »verurtheilt wurden«: — »es herrschte »geradezu ein teuflischer Leichtsinn im » VerfahrenmitdemmenschlichenLeben«. Zu gleicher Zeit aber nahm die öffent- liche Sicherheit nicht etwa zu, sondern vielmehr ab. So sagt PıkE in seiner Geschichte des Verbrechens: »Es zeigte sich, dass, je grösser die »Anspannung des Widerstreites der Ge- »walten, desto grösser auch die Gefahr »eines Rückschlages in Gewaltthat und »Gesetzlosigkeit ist.< Wenden wir uns nun zum entgegengesetzten Gemälde. Nachdem sich das Land von der Er- schöpfung erholt, welche lang andauernde Kriege zurückgelassen hatten, und jene durch die Verarmung verursachten socia- len Störungen wieder verschwunden waren, begann ein Wiederaufleben der dem industriellen Typus eigenthümlichen Züge. Die Einschränkung des Bürgers durch den Staat nahm in verschiedener Hinsicht ab. Freiwilliger Eintritt er- setzte den erzwungenen Kriegsdienst und manche kleinere Schranken der persön- lichen Freiheit fingen an niederzufallen, wie dies die Aufhebung der Gesetze be- weist, welche den Handwerkern verboten, zu reisen, wo es ihnen gefiel, und welche Handelsgesellschaften untersagt hatten. Mit diesen Kundgebungen einer grösse- ren Achtung vor der persönlichen Frei- Kosmos, V, Jahrgang (Bd. X), 273 heit lassen sich jene zusammenstellen, welche sich in der Verbesserung des Strafgesetzbuchs ausprägten: nachdem das öffentliche Auspeitschen von Frauens- personen gleich im Anfang abgeschafft worden war, schränkte man auch die lange Liste der Capitalverbrechen immer mehr ein, bis schliesslich nur noch eines übrig blieb, und zuletzt wurden auch der Pranger und die Schuldhaft abge- schafft. Alle die Strafen für religiöse Unabhängigkeit, die noch vorhanden waren, verschwanden nun allmählich, zuerst durch Beseitigung der gegen die protestantischen Dissenters gerichteten, sodann derjenigen, welche aufden Katho- liken lasteten, und endlich auch jener, die sich ganz besonders gegen die Quäker und Juden richteten. Durch die Parla- mentsreformbill und die Municipalreform- bill wurde eine grosse Zahl von Bürgern aus der Unterthanenclasse in die regie- rende Classe versetzt. Die Beeinträchti- gung der Geschäftsthätigkeit der Bürger wurde vermindert, indem freier Handel mit ungemünzten Edelmetallen gestattet, die Errichtung von Actiengesellschaften und Banken erlaubt, zahlreiche Hemm- nisse der Einfuhr von Lebensmitteln abgeschafft wurden, bis schliesslich nur noch wenige übrig blieben, die Zoll zu zahlen hatten. Und während durch diese und ähnliche Veränderungen, wie z. B. die Beseitigung der noch auf der Presse lastenden Schranken, die Hinder- nisse der freien Thätigkeit der Bür- ger allmählich abnahmen, wurde die schützende Thätigkeit des Staates immer grösser. Durch ein bedeutend verbessertes Polizeisystem, durch Land- gerichtshöfe u. s. w. wurde besser für die persönliche Sicherheit und das Eigen- thumsrecht gesorgt. Wir können unsere Darstellung nicht noch weiter ausdehnen, indem wir die Verhältnisse der Vereinigten Staaten ebenso ausführlich schildern, die ja mit geringen Abweichungen dieselbe Er- scheinung zeigen; die angeführten Be- 18 274 weise dürften aber den oben aufgestellten Satz schon zur genüge unterstützen. Inmitten all der Verschiedenartigkeiten und Störungen zeigt uns die Vergleichung doch mit hinlänglicher Klarheit, dass in noch existirenden Gesellschaften jene Züge, welche wir als für den industriellen Typus besonders charakteristisch er- schlossen hatten, sich offenbar in dem- selben Maasse ausprägen, als die socialen Thätigkeiten vorherrschend durch Aus- tausch von direeten Leistungen nach gegenseitiger Uebereinkunft ausgezeich- net sind. Wie wir im letzten Capitel auch die Charakterzüge hervorhoben, welche den einzelnen Gliedern einer fast be- ständig im Krieg befindlichen Gesell- schaft zukommen, so haben wir hier nun die Charakterzüge aufzuzählen, welche den Gliedern einer Gesellschaft eigenthümlich sind, die sich ausschliess- lich mit friedlichen Bestrebungen be- fassen. Schon indem wir oben die An- fänge des industriellen Gesellschafts- typus nachzuweisen versuchten, welche sich bei gewissen kleinen Gruppen von unkriegerischen Völkern zeigen, wurden einige Andeutungen von den damit ver- bundenen persönlichen Eigenschaften ge- geben; es wird aber angemessen sein, * Obgleich, wie früher erwähnt, bisher alle Verweisungen auf die Quellen bis zu der Zeit verschoben wurden, wo diese Capitel in Buchform erscheinen werden, so hielt ich es doch für angebracht, hier für die nächsten Seiten die Möglichkeit zum Nachschlagen zu geben, und zwar deswegen, weil die in den folgenden Paragraphen citirten Thatsachen wohl mancherlei Erstaunen und vielleicht sogar Zweifel erregen werden. — !) HODGSON, Journ. Asiatie Socy. Bengal, XVIII 746. ?) CAMPBELL, Journ. Ethn. Socy., July 1869. ®) HuUNTER’s Annals of Rural Bengal, I. 209; SHERVILLE, Journ. As. Socy., XX. 554. *)Rev.P.FAvRE, Journ. ofIndian Archipelago, I. 266—7. °)HoDGson, Journ. As. Socy. XVII. 746. ®)Col. ÖQUCHTERLONY, Memoir of Survey of the N. H., p. 69. °) CAMPBELL, Journ.Ethn.Socy., July1869. rn FAVRE, Journ. Ind. Arch., Il. 266. °) EArL's transl. of .208. Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. dieselben hier noch besonders zu be- tonen und einige andere hinzuzufügen, bevor wir die entsprechenden persön- lichen Eigenschaften aufsuchen, welche bei weiter vorgeschrittenen industriellen Gemeinwesen zu finden sind *. Das Fehlen einer centralisirten Zwangs- herrschaft ist selbstverständlich damit verbunden, dass die. Gesellschaft ihren Einheiten nur geringe politische Schran- ken auferlegt, und es entwickelt sich daher unter diesen Verhältnissen ein lebhafter Sinn für individuelle Freiheit und ein fester Entschluss zur Behaup- tung derselben. Die liebenswürdigen Bodo und Dhimäls widersetzen sich, wie wir gesehen haben, >»allen ihnen »unrechtmässig auferlegten Geboten mit »starrköpfiger Hartnäckigkeit«'). Die friedliebenden Lepchas »unterziehen sich »lieber grossen Entbehrungen, als dass »sie der Unterdrückung oder der Unge- »rechtigkeit nachgäben« ?). Der »einfach »gesinnte Santälkenheitund Gewaltthaten sind bei ihnen »unbekannt« ®). Camrgenu bemerkt von den Lepchas, dass sie »nur selten unter »einander Händel bekommen« °). Auch die Jakuns »haben nur selten Streitig- »keiten mit einander«, und die Zwiste, die etwa unter ihnen ausbrechen, werden durch ihre vom Volk gewählten Ober- häupter »ohne Streit oder Bosheit« geschlichtet®). Ebenso leben auch die Arafuras »in Frieden und brüderlicher »Liebe mit einander<°). Ferner lesen wir in den Berichten über diese Völker auch nichts vom Wiedervergeltungsrecht. Da alle Feindseligkeiten mit benach- barten Gruppen fehlen, so kennen sie auch innerhalb jeder einzelnen Gruppe nicht jene »heilige Pflicht der Blutrache«, die in kriegerischen Stämmen und Natio- nen allgemein in Geltung ist. Noch bedeutungsvoller ist der Umstand, dass wir sogar für die gerade entgegengesetzte Lehre und Praxis Beispiele finden. So 275 sagt CAMPBELL von denLepchas: — »sie »sind merkwürdig zum Vergeben von »Ungerechtigkeiten geneigt . und »machen sich gegenseitig Abbitten und » Zugeständnisse « 19), Naturgemäss verbindet Gh mit dieser Achtung vor der Individualität Anderer auch eine grosse Rücksicht gegen ihr Eigenthumsrecht. Schon im einleitenden Capitel habe ich Zeugnisse für die grosse Ehrlichkeit der Bodo und Dhimäls, der Lepchas, der Santäls, der Todas und anderer Völker von ähnlicher Form des socialen Lebens citirt und hier will ich noch einige andere hinzufügen. Von den Lepchas sagt HookEr: »in meinem »ganzen Verkehr mit diesem Volk zeigte »sich dasselbe von einer geradezu ängst- »lichen Ehrlichkeit beseelt« ''}). »Bei »den reinen Santäls«, schreibt Hunter, »sind Verbrechen und Criminalbeamte »unbekannt«!?); während Dauron von den Hos, welche zu derselben Gruppe gehören wie die Santäls, uns erzählt: »Ein Zweifel an der Ehrlichkeit oder »Wahrheitsliebe eines Mannes kann ge- »nügen, um ihn zum Selbstmord zu »treiben«!?). Auf ähnliche Weise be- zeugt SHortr, dass »die Todas im »ganzen niemals schändlicher Verbrechen »irgend welcher Art überführt worden »sind«!*); und von anderen Stämmen der Shervaroy Berge führt er an, dass > Ver- »brechen schwerer Natur bei ihnen unbe- »kannt seien«'®). Von den Jakuns lesen wir ferner, dass »bei ihnen nie von »Diebstahl die Rede war, auch nicht »die allerunbedeutendsten Dinge be- »treffend«!°),. Und so schreibt Jukes von gewissen Eingebornen von Malacca, die »eine natürliche Neigung zum Handel »besitzen<: »Kein Theil der Welt ist »freier von Verbrechen als dieser District »von Malacca«; »einige wenige gering- »fügige Fälle von thätlicher Beleidigung »oder von Streitigkeiten über das Eigen- »thum sind alles, was von dieser Art »vorkommt« !?). Diese Völker also, frei von jenem ir 276 Gesetzeszwang, welcher durch kriege- rische Thätigkeit nöthig wird, und ohne jenes Gefühl, welches die nothwendige Unterordnung überhaupt ermöglicht — Völker, die in solcher Weise ihre eigenen Rechte behaupten, während sie die gleichen Rechte Anderer gehörigachten — welche dergestalt der rachsüchtigen Ge- fühle entbehren, die ein Leben voll Uebergriffe ausserhalb und innerhalb des Stammes erzeugt — diese Völker zeigen uns nun auch statt des Blut- durstes, der Grausamkeit, des selbst- süchtigen Niedertretens der Unter- gebenen, wodurch sich kriegerische Stämme und Gesellschaften auszeichnen, in ganz ungewöhnlichem Grade die humanen Gefühle. Hopeson hebt mehr- fach die liebenswürdigen Eigenschaften der Bodo und Dhimäls hervor und er- wähnt insbesondere, dass sie »fast voll- »ständig aller der Eigenschaften, die »unliebenswürdig sein könnten, ent- »behren«!?). Hunter bemerkt, dass der Santäl >zugleich höflich und gastfreund- »lich, aber auch fest und frei von aller »Kriecherei« ist und dass er glaubt, »unbarmherzige Menschen« werden nach dem Tode zu leiden haben!”). Von den Lepchas bemerkt Hooker: »®Sie sind >immer die vordersten im Wald oder »auf den öden Bergen und zeigen sich »stets bereit, zu helfen, Lasten zu »schleppen, das Lager aufzuschlagen, »zu sammeln oder zu kochen«, und fügt hinzu: »sie erfreuen den Reisenden innig »durch ihren keineswegs aufdringlichen »Eifer in seinem Dienste«; und ferner: »ein Geschenk wird gleichmässig unter »viele getheilt ohne eine Silbe des »Missvergnügens oder neidische Blicke »oder Worte«?®). Auch von den Jakuns erzählt uns FAvreE, dass sie »im allge- »meinen freundlich, zuthulich, zu Dank- »barkeit und Wohlthun geneigt sinds; ihr Streben ist nicht, Gunstbezeugungen zu fordern, sondern solche zu erweisen ?'). Und von den friedfertigen Arafuras er- fahren wir durch Kourr: Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. „Sie haben einen gewissen sehr entschuld- baren Ehrgeiz, den Ruf reicher Leute zu erlangen, indem sie die Schulden ihrer ärmeren Dorfgenossen bezahlen. Der Öfficier (Herr Bik), den ich oben erwähnte, hat mir ein sehr schlagendes Beispiel davon erzählt. In Affora war er bei der Wahl des Dorfhäupt- lings zugegen, wobei zwei Männer sich um die Stellung eines Orang Tua bewarben. Das Volk erwählte den älteren der beiden, was den andern sehr betrübte; aber bald darauf erklärte er sich mit der vom Volke ge- troffenen Wahl einverstanden und sagte zu Herrn Bik, welcher mit einem Auftrag dort- hin gesandt worden war: „Was habe ich für einen Grund, mich zu grämen? Ob ich Örang Tua bin oder nicht, ich habe doch immer noch das Vermögen, meinen Dorf- genossen zu helfen.“ Mehrere alte Männer stimmten dem bei, offenbar um ihn zu trösten. So besteht denn der einzige Gebrauch, den sie von ihrem Reichthum machen, darin, ihn zur Beilegung von schwierigen Verhältnissen zu verwenden“ ??), Diese verschiedenen Zeugnisse lassen sich noch durch andere bekräftigen, die wir in verschiedenen Werken über Japan finden, welche seit dem Beginn dieser Capitel veröffentlicht wurden. Ich führe nur im Vorbeigehen die Thatsache an, dass Capitän Sr. Joun, indem er von der »Güte und Freundlichkeit« des Volkesin dem » wilden Theile von Japan « spricht, wo sie noch keinen Europäer gesehen haben, hinzufügt: »Ich fand »stets, dass, je weiter ich mich von »den offenen Häfen entfernte, desto »liebenswürdiger das Volk in jeder Hin- »sicht war«?®) — und wende mich gleich zu dem Bericht von Miss Bırp über die Ainos. Diese scheinen eine ureinge- borne Race zu sein, welche gleich den Bergvölkern von Indien sich vor einem erobernden Volke zurückgezogen hatte. Nach dem Bericht dieser reisenden Dame »kennen sie keine Ueberlieferungen von »mörderischen Kämpfen unter einander »und die Kriegskunst scheint bei ihnen »schon seit langer Zeit verloren ge- »gangen zu sein«. Sie sind >» wahrheits- »liebend«, »sanft«, »vorbedacht«, und wenn ein Haus niedergebrannt ist, so helfen alle Männer, dasselbe wieder Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. aufzubauen. Sie sind »von einer pünkt- »Jichen Rechtschaffenheit« in allem ihrem Thun, sehr eifrig im Geben und wollen, wenn man sie zum Verkauf von irgend etwas beredet hat, nur die Hälfte des angebotenen Betrages nehmen. In der allgemeinen Schilderung ihrer Charakter- züge sagt sie: »Ich hoffe, ich werde »nie die Musik ihrer tiefen wohlthuenden »Stimme, das sanfte Licht ihrer milden »braunen Augen und ihr wunderbar »süsses Lächeln vergessen «**). Mit dieser höheren Ausbildung der socialen Verhältnisse in dauernd fried- fertigen Stämmen verbindet sich eine ähnliche Höhe ihrer häuslichen Be- ziehungen. Wie ich schon früher hervor- hob, ist der Status der Frauen bei den dem Krieg ergebenen Stämmen und selbst in weit vorgeschrittenen kriege- rischen Gesellschaften gewöhnlich ein sehr niedriger, dagegen ist er meist sehr hoch in jenen primitiven friedlichen Gesellschaften. Die Bodo und Dhimäls, die Kocch, die Santäls, die Lepchas sind monogamische Völker, wie es auch die Pueblos waren, und mit ihrer Mono- gamie verbindet sich denn auch eine sehr hohe geschlechtliche Moralität. Von den Lepchas sagt Hooker: »die Frauen »sind durchweg keusch und das Band * In einem Artikel „Symposium“, der in der Zeitschrift „Nineteenth Century“, April und Mai 1877 veröffentlicht war, wurde „der Einfluss eines Niedergangs des religiösen „Glaubens auf die Moralität“ besprochen und schliesslich die Frage aufgeworfen, ob über- haupt Moralität ohne Religion bestehen könne. Die Beantwortung dieser Frage fällt einem allerdings nicht schwer, wenn man sich von dem Verhalten dieser rohen Stämme nun zu demjenigen der Europäer während der christ- lichen Zeitrechnung wendet, mit ihren un- zähligen und unermesslichen, öffentlichen und privaten Schrecknissen, ihren blutigen An- griffskriegen, ihren unaufhörlichen Familien- Vendettas, ihren räuberischen Baronen und kämpfenden Bischöfen, ihren politischen und religiösen Metzeleien, ihren Folterqualen und Verbrennungen und ihren alles durchdringen- den Verbrechen, von den Mordthaten der Kö- nige und deren Ermordungen bis herab zu den 277 »der Ehe wird streng gehalten«?°). Unter den Santäls ist »Unkeuschheit beinah »unbekannt« und »Ehebruch kommt sel- »ten vor«2%). Von den Bodo und Dhimäls »werden Polygamie, Concubinat und »Ehebruch nicht geduldet«; »Keusch- »heit wird an Männern und Frauen, »an Verheirateten und Unverheirateten »hochgeschätzt«?”). Ferner ist hervorzu- heben, dass bei diesen Völkern auch das Betragen gegen die Frauen ein sehr gutes ist. »Der Santäl behandelt »die weiblichen Mitglieder seiner Familie »mit Achtung«?®); die Bodo und Dhimäls >begegnen ihren Frauen und Töchtern >mit Vertrauen und Güte; dieselben »sind aller Arbeit ausser dem Hause »überhoben«?”). Und selbst bei den Todas, so niedrig auch die Formen ihrer geschlechtlichen Beziehungen sind, »>werden die Frauen von ihren Gatten »mit entschiedener Achtung und Auf- »merksamkeit behandelt«°°). Ausserdem erfahren wir von mehreren dieser un- kriegerischen Völker, dass auch der Status der Kinder ein hoher ist, und nirgends kennen sie jenen Unterschied in der Behandlung der Knaben und Mädchen, welcher die kriegerischen Stämme auszeichnet *. Wenden wir uns nun zu den civi- Lügen und kleinen Diebstählen der Selaven nd Leibeigenen. Auch der (regensatz zwischen unserem eigenen Handeln in der Gegenwart und dem Handeln dieser soge- nannten Wilden lässt uns nicht in Zweifel über die richtige Antwort. Wenn wir erst unsere Polizeiberichte und Schwurgerichts- verhandlungen, die Schilderungen von be- trügerischen Bankerotten u. s. w. lesen, welche in unsern Zeitungen die Ankündigung von Predigten und die Berichte über Br Versammlungen begleiten, und dann erfahren, dass die „liebenswürdigen“ Bodo und Dhimäls, die so „ehrlich und wahrheitsliebend“ sind, „kein Wort für Gott, für Seele, für Himmel „und Hölle haben“ (obgleich sie eine gewisse Vorfahrenverehrung und damit zusammen- hängende religiöse Ansichten besitzen), so sehen wir uns allerdings ausser stande, den in jenem Artikel behaupteten Zusammenhang anzuerkennen. Wenn wir unmittelbar neben 278 lisirten Völkern, um auch hier den Cha- rakter des Einzelnen kennen zu lernen, welcher die industrielle Form der Ge- sellschaft begleitet, so stossen wir na- türlich auf die Schwierigkeit, dass die dem Industrialismus eigenthümlichen persönlichen Züge gleich den socialen Besonderheiten mit denen des Milita- rismus vermengt sind. Dies können wir an uns selber deutlich genug be- obachten. Eine Nation, welche ausser den allerdings seltenen grossen Kriegen fortwährend kleine Kriege mit uncivi- lisirten Völkern auszufechten hat — eine Nation, welche im Parlament wie in der Presse vorzugsweise von Män- nern geleitet wird, die in ihrer ganzen die Erzählungen von Unterschlagungen, Eisen- bahnschwindel, Chicanen auf der Rennbahn u. s. w. bei einem Volke, das sich ängstlich besorgt zeigt, dass das Unterhaus seinen Gottesglauben unbefleckt erhalte, die Schilde- rungen von jenen „entzückenden“ Lepchas stellen, die so „wunderbar ehrlich“ sind, aber „keine Religion bekennen, obgleich sie an „die Existenz von guten und bösen Geistern „glauben“ (und dabei nur den letzteren über- haupt irgend welche Aufmerksamkeit schen- ken), so sehen wir in der That nicht ein, wie es möglich sein sollte, das Dogma anzunehmen, welches unsere Theologen für so selbstver- ständlich richtig halten; und diese Annahme wird uns keineswegs erleichtert, wenn wir die Schilderung von den gewissenhaften San- tals hinzufügen, die „niemals daran denken, „einem Fremden Geld abzulocken“, und „sich „peinlich berührt fühlen, wenn ihnen für ange- „botene Speise Geld aufgedrängt wird“, von denen es aber auch zugleich heisst, dass sie „keine Vorstellung von einem höchsten und „wohlthätigen Gott besitzen“. Die Aner- kennung der Lehre, dass das richtige Handeln von der theologischen Ueberzeugung abhänge, wird recht schwer, wenn wir lesen, dass die Veddahs, die „fast jedes religiösen Gefühls „bar“ sind und keine Idee „von einem obersten „Wesen“ haben, nichtsdestoweniger „es für „geradezu unbegreiflich halten, dass irgend „Jemand etwas nehmen sollte, was ihm nicht „angehört, oder seinen Mitmenschen schlagen „oder etwas sagen sollte, was nicht wahr ist“, Nachdem wir gefunden, dass unter den Aus- erwählten der Auserwählten, welche unsern hergebrachten Glauben bekennen, der Maass- stab der Wahrhaftigkeit so hoch steht, dass die Angaben des einen Ministers über Cabinets- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Schulzeit gelehrt wurden, sechs Tage in der Woche Achilles als ihren Helden zu feiern und am siebenten Christum zu verehren — eine Nation, welche bei öffentlichen Festlichkeiten gewöhnlich | zuerst ihr Heer und ihre Flotte hoch- leben lässt, bevor sie an ihre gesetz- gebenden Körper denkt — eine solche Nation ist noch lange nicht soweit über den Militarismus hinaus, dass wir er- warten dürften, die den Industrialismus auszeichnenden Einrichtungen oder per- sönlichen Züge hier deutlich ausgeprägt zu finden. In Unabhängigkeit, in Recht- schaffenheit, in Wahrheitsliebe und Menschlichkeit können ihre Bürger nicht von ferne jenen uncultivirten, aber fried- verhandlungen geradezu durch die Angaben eines anders gesinnten Ministers gefälscht werden, und wenn wir uns dann der merk- würdigen Wahrheitsliebe dieser gottlosen Bodo und Dhimäls, dieser Lepchas und anderer friedfertiger Stämme von gleichen Ansichten erinnern, welche soweit geht, dass der Vorwurf der Falschheit genügt, um einen der Hos zum Selbstmord zu veranlassen, so vermögen wir nicht einzusehen, warum mit dem Mangel eines theistischen Glaubens un- möglich Achtung vor der Wahrheit verbunden sein könnte. Wir finden in einer Wochen- zeitschrift, welche insbesondere die Universi- tätscultur vertritt, an der ja auch unsere Priester theil haben, eine laute Klage über die moralische Verkommenheit, die sich in unserer Behandlung der Boers zeige — wir werden darin für heruntergekommene Wesen erklärt, weil wir dieselben nicht zur Strafe für ihren erfolgreichen Widerstand gegen un- sere Uebergriffe niedergemetzelt haben — wir sehen jeden Tag, dass die „heilige Pflicht der „Blutrache“, welche der cannibalische Wilde hochhält, auch von Solchen vertheidigt wird, denen die christliche Religion während ihrer Erziehung alltäglich gepredigt wurde — und - sehen dem gegenüber die eh dass die unreligiösen Lepchas „merkwürdig zum „Vergeben von Ungerechtigkeiten geneigt „sind“ —: wie sollen wir da die behauptete Beziehung zwischen Humanität und Gottes- glauben irgendwie mit so schlagenden Be- weisen in Uebereinstimmung bringen? Wenn wir mit dem Ehrgeiz unserer in die Kirche laufenden Mitbürger, die (keineswegs immer auf sehr ehrenhafte Weise) ein Vermögen zu erraffen suchen, um grossen Staat machen und sich dann an dem nee weiden zu können, Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. fertigen Völkern gleichkommen, die oben geschildert wurden. Wir dürfen höch- stens eine Annäherung an diese mo- ralischen Eigenschaften voraussetzen, die einem durch keinerlei internationale Streitigkeiten gestörten Zustand ange- messen sind, und eine solche finden wir in der That. In erster Linie hat die fortschrei- tende Ausbreitung des Vertragsverhält- nisses eine Zunahme der Unabhängig- keit zur Folge gehabt. Der tägliche Austausch von Leistungen nach gegen- seitiger Uebereinkunft bedingt zu glei- cher Zeit die, Aufrechterhaltung der eigenen wie die gebührende Berück- sichtigung der fremden Rechte und be- dass sie nach ihrem Tode „eine grosse Leiche“ haben werden, den Ehrgeiz der Arafuras ver- leichen, bei denen Reichthum erstrebt wird, amit sein Besitzer die Schulden ärmerer Leute bezahlen und schwierige Verhältnisse ausgleichen könne, so sehen wir uns freilich genöthigt, die Annahme zurückzuweisen, dass „brüderliche Liebe“ blos als Folge von gött- lichen Geboten mit dem Versprechen hoher Belohnung und der Androhung schwerer Strafen möglich sei; denn wir lesen von den- selben Arafuras, dass sie „von der Unsterblich- „keit der Seele nicht den geringsten Begriff „haben; auf alle meine Fragen über diesen „Gegenstand antworteten sie stets: „„Kein „„Arafura ist jemals nach dem Tode zu uns „„zurückgekommen; wir wissen daher nichts „„über einen künftigen Zustand und dies ist „„das erstemal, dass wir davon hören.““ Ihre „Meinung darüber war: wenn du todt bist, „so ist es mit dir zu Ende. Sie haben auch „keine Ahnung von der Erschaffung der Welt; „sie antworteten einfach: „„Niemand von uns „„ist dabei gewesen, wir haben auch nie „„irgend etwas davon gehört und wissen „„daher nicht, wer das Alles gethan hat.““ Und wenn uns dann ferner Miss BırD die Furcht der Ainos vor Gespenstern und einige verwandte abergläubische Ansichten derselben schildert, aber hinzufügt: „es ist ein Unsinn, „über die religiösen Ideen eines Volkes zu „schreiben, das eigentlich keine hat“, und dann von diesen „sanften und entzückenden „Wilden“ erzählt, dass sie für etwas, was sie zu kaufen wünschte, nur die Hälfte des Ge- botenen annehmen wollten — wenn wir uns im Gegensatz dazu der Juden erinnern, die, nachdem sie drei Jahrtausende unter dem Einfluss des Monotheismus gelebt haben, ihr 279 günstigt dadurch ein normales Selbst- bewusstsein und einen daraus entsprin- genden Widerstand gegen unbefugte Macht. Schon der Umstand, dass das Wort »Unabhängigkeit« in seiner mo- dernen Bedeutung bei uns erst seit der Mitte des letzten Jahrhunderts in Ge- brauch ist und dass diese Eigenschaft auf dem Continent viel weniger ausgebildet erscheint, lässt den Zusammenhang zwischen derselben und der Entwick- lung des Industrialismus vermuthen. Dieser Charakter zeigt sich hier zu Lande in der Mannichfaltigkeit der re- ligiösen Secten wie in der Spaltung der politischen Parteien und in klei- nerem Maassstab z. B. im Mangel jener Geld zu wucherischen Zinsen ausleihen und ihre Schuldner durch unbarmherzige Ver- folgung ihrer Ansprüche zu Grunde richten, so sehen wir freilich, dass die Güte, welche ohne Gottesglauben möglich ist, ebenso auf- fallend sein kann wie die Schlechtigkeit, die in Verbindung mit demselben Glauben vor- kommt. Was uns die Thatsachen zeigen, ist einfach soviel, dass, was den moralischen Zustand der Menschen betrifft, die Theorie fast nichts und die Praxis fast alles be- deutet. Gleichgiltig wie hoch ihr nomineller Glaube steht, immer werden Nationen, die sich der politischen Gaunerei ergeben, um „wissenschaftliche Grenzen“ und ähnliches zu erringen, unter ihren Mitgliedern Solche finden, die auch einfach das Gut Anderer zu ihrem eigenen Nutzen „annectiren“, und mit dem organisirten Verbrechen des Angrifls- krieges werden sich stets verbrecherische Neigungen im Verhalten des einen Bürgers gegen den andern verbinden. Wie uns umge- kehrt diese uncultivirten Stämme beweisen, haben solche Menschen, gleichviel wie sehr sie auch alles religiösen Glaubens entbehren mögen, sofern sie nur Generation um Gene- ration unbelästigt blieben und auch anderen kein Unrecht zufügten, ihre altruistischen Gefühle durch den sympathischen Verkehr im friedfertigen täglichen Leben so gepflegt, dass sie dann auch die daraus entspringenden Tugenden aufweisen. Uns thut allerdings die Lehre noth, dass es unmöglich ist, Unge- rechtigkeit und Grausamkeit nach aussen "hin zu vereinigen mit Gerechtigkeit und Mensch- lichkeit im eigenen Hause. Wie schade, dass diese Heiden nicht veranlasst werden können, Missionäre unter die Christen zu senden! 280 »Schulen« in Kunst, Philosophie u. s. w., die sich auf dem Continent vermöge der Unterordnung der Schüler unter einen anerkannten Meister bilden. Dass die Menschen in England wirklich mehr als anderwärts eine entschiedene Ab- neigung gegen jede Vorschrift und eine grosse Bestimmtheit im Handeln nach eigenem Gutdünken zeigen, dürfte wohl kaum in Abrede gestellt werden. Die geringere Unterordnung unter die Autorität, welche die Kehrseite die- ser Unabhängigkeit bildet, bedingt na- türlich auch eine Abnahme der Loya- lität. Die Verehrung des Monarchen, die übrigens bei uns niemals die Höhe er- reichte wie in Frankreich im Anfang des letzten Jahrhunderts oder in Russ- land bis herab auf die neueste Zeit, hat sich nun in eine gewisse Achtung verwandelt, die ganz bedeutend von dem persönlichen Charakter des Mo- narchen abhängt. Unsere Tage sind nicht mehr Zeugen einer so kriechenden Unterwürfigkeit im Ausdruck, wie sie die Geistlichen in der Widmung der Bibel an König Jakob brauchten, oder so übertriebener Schmeicheleien, wie sie vom Oberhaus an Georg III. ge- richtet wurden. Die Lehre vom gött- lichen Recht ist längst begraben; der Glaube an eine dem König innewoh- nende übernatürliche Gewalt (wie er sich in der Berührung des Königs zur Heilung von Drüsengeschwülsten u. s. w. aussprach) wird nur noch als Merk- würdigkeit aus vergangenen Zeiten an- geführt und die monarchische Verfas- sung wird sogar nur noch mit Grün- den der Zweckmässigkeit vertheidigt. So bedeutend hat dieses Gefühl, wel- ches unter dem kriegerischen Regime den Unterthan an den Herrscher fes- selte, bereits abgenommen, dass gegen- wärtig allgemein die Ueberzeugung aus- gesprochen wird, dass, sollte der Thron von einem Karl II. oder einem Georg IV. bestiegen werden, die Folge davon höchst wahrscheinlich eine Republik Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. sein würde. Und diese Veränderung des Gefühls zeigt sich auch in der Hal- tung gegen die Regierung im ganzen. Denn nicht allein leben Viele unter uns, welche die Autorität des Staates noch in Hinsicht auf manche andere Dinge ausser dem religiösen Glauben bestrei- ten, sondern Manche widersetzen sich auch in passiver Weise dem, was sie für ungerechte Ausübung seiner Auto- rität halten, und zahlen lieber Straf- gelder oder gehen in das Gefängniss, als dass sie sich unterwürfen. Wie diese letztere Thatsache schon erkennen lässt, ist mit der Abnahme der Loyalität auch ein allmähliches Verschwinden des Glaubens nicht allein an den Monarchen, sondern überhaupt an die Regierung Hand in Hand ge- gangen. Jenes Vertrauen auf die kö- nigliche Allmacht, wie es im alten Aegypten existirte, wo man glaubte, die Gewalt des Herrschers erstrecke sich his in die andere Welt hinüber, was ja heutzutage noch in China gilt, hat im Westen überhaupt niemals sein Seitenstück gefunden ; immerhin aber zeigte sich bei europäischen Völkern in vergangenen Zeiten jenes für den kriegerischen Typus wesentliche Ver- trauen auf den Soldatenkönig, welches sich unter anderem in übertriebenen Vorstellungen von seinem Vermögen aussprach, Krankheiten zu heilen, gute Thaten auszuführen und die Dinge nach seinem Willen zu gestalten. Wenn wir die bei uns herrschenden Ansichten hierüber mit denen der früheren Jahr- hunderte vergleichen, so finden wir eine unbestreitbare Abnahme dieser leichtgläubigen Erwartungen. Obgleich während der neuerlichen rückschreiten- den Bewegung gegen den Militarismus hin die Staatsgewalt wieder für man- cherlei Zwecke angerufen wird und der Glaube an ihre Wirksamkeit in der Zunahme begriffen ist, so hatte sich doch bis zum Beginn dieser Reaction eine ausgesprochene Veränderung nach Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. der entgegengesetzten Richtung hin vollzogen. Nach der Beseitigung des vom Staat gebotenen Religionsbekennt- nisses wurde bald dem Staat auch die Fähigkeit abgesprochen, überhaupt die religiöse Wahrheit zu bestimmen, und es machte sich eine immer stärkere Bewegung dahin geltend, denselben von der Aufgabe des Religionsunterrichts ganz zu entbinden, da dieselbe für ihn ebenso überflüssig als schädlich sei. Schon vor langer Zeit hat man aufge- hört zu glauben, dass die Regierung irgend etwas Gutes stiften könne, in- dem sie die Nahrung, die Kleidung und die häusliche Lebensweise des Volkes re- gulire, und was die vielfältigen Processe betrifft, welche bei der Erzeugung und Vertheilung der Güter ausgeführt wer- den, die ja den weitaus grössten Theil unserer socialen Thätigkeiten ausma- chen, so glauben wir auch hier nicht mehr, dass die gesetzgeberische Thä- tigkeit einen förderlichen Einfluss ha- ben könne. Ueberdies verräth jede Zeitung durch ihre Kritik über die Thaten der Minister und das Verhalten des Unterhauses das verringerte Ver- trauen der Bürger auf ihre Herrscher. Aber nicht blos durch die Gegenüber- stellung der Vergangenheit und der Ge- genwart in unserem Lande erkennen wir diese Eigenthümlichkeit eines sich höher entwickelnden industriellen Zu- standes: sie zeigt sich auch in einem ähnlichen Gegensatz zwischen den hier und auf dem Continent herrschenden Ansichten. Die Speculationen der so- cialen Reformer in Frankreich und Deutschland beweisen unmittelbar, dass die Hoffnung auf die durch staatliche Wirksamkeit zu erreichenden Vortheile dort noch viel lebendiger ist als bei uns. In Verbindung mit dieser Abnahme der Loyalität und dem begleitenden Verschwinden des Vertrauens auf die Macht der Regierung hat auch der Pa- triotismus abgenommen — d.h. der Patriotismus in seiner ursprünglichen 281 Form. »Für König und Vaterland« zu kämpfen ist ein Ehrgeiz, der heut- zutage nur noch einen kleinen Raum im Geiste der Menschen einnimmt, und obgleich es auch bei uns noch wohl die Mehrzahl ist, deren Gefühl durch den Ausruf repräsentirt wird: »Unser Vaterland, recht oder schlecht!« — so gibt es doch auch schon Viele, deren Streben nach der menschlichen Wohl- fahrt im grossen ihre Sucht nach na- tionalem Prestige soweit überragt, dass sie sich gegen die Aufopferung der ersteren zu gunsten des letzteren auf- lehnen. Der Geist der Selbstkritik, der uns in vielen Hinsichten dazu führt, recht ungünstige Vergleiche zwischen uns und unseren continentalen Nach- barn anzustellen, hat uns auch schon viel mehr als früher veranlasst, uns selbst wegen schlechten Verhaltens ge- gen andere Völker zu tadeln. Die lau- ten’Anklagen, welche von verschiedenen Seiten gegen unser Verfahren mit den Afghanen, den Zulus und den Boers erhoben worden sind, zeigen deutlich, dass jene Gefühle, die von der »Jingo«- Classe (den Chauvinisten) als unpatrio- tisch verdammt werden, bereits be- deutend an Boden gewonnen haben. Jene Anpassung der individuellen Natur an die socialen Bedürfnisse, wel- che im kriegerischen Zustand den Men- schen verführt, den Krieg zu preisen und friedliche Beschäftigungen zu ver- achten, hat bei uns den Gefühlen theil- weise schon eine entgegengesetzte Rich- tung gegeben. Der Beruf des Solda- ten steht lange nicht mehr so hoch wie früher, derjenige des Bürgerlichen aber ist um so geehrter. Während des vierzigjährigen Friedens änderten sich die Anschauungen des Volkes allmäh- lich soweit, dass mit Verachtung vom Soldat-sein gesprochen wurde, und die- jenigen, die sich anwerben liessen, ge- wöhnlich nur faule und unordentliche Leute, wurden meistens in dem Sinne betrachtet, dass sie damit ihre Schande 282 vollgemacht hätten. Ebenso war es auch in Amerika vor dem letzten Bür- gerkrieg, wo die kleinen militärischen Versammlungen und Uebungen, die von Zeit zu Zeit abgehalten wurden, nur das allgemeine Gelächter erregten. Zu gleicher Zeit sehen wir, dass körper- liche und geistige Arbeiten, die dem Einzelnen und seinen Mitmenschen nütz- lich sind, nicht allein ehrenhaft erschei- nen, sondern in hohem Maasse sogar zur unabweisbaren Pflicht werden. In Amerika nöthigen die abfälligen Ur- theile, welche denjenigen treffen, der nichts thut, denselben fast unwider- stehlich zur Ergreifung irgend eines Be- rufes, und- bei uns ist die Achtung vor dem industriellen Leben so gestiegen, dass Männer von hohem Rang ihre Söhne im Geschäft erziehen lassen. Während, wie wir gesehen haben, das zwangsweise Zusammenwirken, wel- ches dem Militarismus angemessen ist, die ‚Initiative des Einzelnen verbietet oder wenigstens bedeutend entmuthigt, verschafft das freiwillige Zusammenwir- ken, welches den Industrialismus aus- zeichnet, dem Streben des Einzelnen vollen Spielraum und entwickelt es na- mentlich dadurch, dass es jedes Unter- nehmen seine normalen Vortheile ge- niessen lässt. Wer mit Erfolg origi- nelle Ideen und Handlungen zu Tage fördert und demgemäss in höherem Maasse prosperirt und sich vermehrt als Andere, muss nothwendig im Laufe der Zeiten einen allgemeinen Typus der Natur hervorbringen, welcher die ausgesprochene Neigung zeigt, Neues zu unternehmen. Die speculativen Be- strebungen der englischen und ameri- kanischen Capitalisten und der bedeu- tende Umfang, in welchem weitgreifende Unternehmungen sowohl zu Haus als in anderen Ländern von ihnen durch- geführt werden, beweisen deutlich ge- nug diese Charaktereigenthümlichkeit. Obgleich auch auf dem Continent in Verbindung mit erheblicher Einschränk- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. ung des Militarismus durch den Indu- strialismus eine Zunahme des privaten Unternehmungsgeistes stattgefunden hat, so ergibt sich doch schon aus dem Um- stand, dass viele Städte in Frankreich und Deutschland durch englische Ge- sellschaften mit Gas und Wasser ver- sorgt wurden, während in England nur wenige Unternehmungen ähnlicher Art in den Händen ausländischer Gesell- schaften sind, zur genüge, dass bei den industriell stärker beeinflussten Eng- ländern die Initiative des Einzelnen höher entwickelt ist. Auch dafür haben wir Zeugnisse, dass die Abnahme der internationalen Feindseligkeiten, da sie auch eine Abnahme der Feindseligkeiten zwischen den Familien und den Einzelnen nach sich zieht, mit einer Milderung der rachsüchtigen Gefühle verbunden ist. Dies geht schon daraus hervor, dass in unserem eigenen Lande die ernste- ren Privatkriege längst aufgehört ha- ben und nur die leichteren Streitig- keiten in Form von Duellen zurücklies- sen, die nun gleichfalls schon seit ge- raumer Zeit verschwunden sind, und zwar fiel dies Verschwinden mit der grösseren Entfaltung des industriellen Lebens zusammen — eine Erscheinung, der wir die Thatsache gegenüberstellen können, dass das Duell in den mehr kriegerischen Gesellschaften, -so in Frankreich und Deutschland, noch in voller Blüthe steht. So sehr hat sich bei uns die Macht des Wiedervergel- tungsrechtes abgeschwächt, dass Jemand, der sich in seinen Handlungen durch das Streben nach Rache an seinem Beleidiger leiten lässt, eher getadelt als dafür gelobt wird. Während diese Neigung zu Ueber- griffen, welche in Gewaltthaten und daraus entspringenden Racheacten zum Ausdruck kam, immer mehr verschwand, hat sich allmählich auch immer mehr jenes unbändige Wesen verloren, das zu verbrecherischen Handlungen im all- o Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. gemeinen führt. Dass diese Umwand- lung eine Begleiterscheinung des Ueber- ganges vom kriegerischen in einen mehr industriellen Zustand gewesen ist, lässt sich kaum mehr bezweifeln, wenn man die Geschichte des Verbrechens in Eng- land studirt. So sagt PıkE in seinem Werk über diesen Gegenstand: »Der »innige Zusammenhang zwischen dem »kriegerischen Geist und jenen Hand- »lungen, die nun vom Gesetz zu Ver- »brechen gestempelt sind, ist im Ver- »lauf dieser Geschichte aber und aber- »mals nachgewiesen worden.< Wenn wir ein früheres Jahrhundert, in wel- chem die Folgen feindseliger Thätigkeit noch viel weniger durch die guten Wir- kungen friedlicher Thätigkeiten einge- schränkt waren, als sie es heute sind, mit der Jetztzeit vergleichen, so sehen wir einen lebhaften Gegensatz, auch was die Zahl und Art der Vergehen gegen die Person und das Eigenthum betrifft. Wir kennen in England keine Seeräuber mehr, von Stranddieben ist auch nicht mehr die Rede und kein Reisender trifft noch Vorbereitungen für den Fall, dass er Strassenräubern begegnen sollte. Ausserdem ist auch jene Schändlichkeit der Regierungswerk- zeuge selbst verschwunden, die sich früher in der Käuflichkeit der Minister und der Parlamentsmitglieder und in der corrupten Rechtspflege zeigte. Mit der Abnahme inder Zahl der Verbrechen hat zugleich der allgemeine Abscheu vor dem Verbrechen zugenommen. Die Lebensbeschreibungen von Seeräuber- capitänen, in denen die Bewunderung ihres Muthes aus jeder Zeile spricht, finden keine Stelle mehr in unserer Literatur, und die kriechende Freund- lichkeit gegenüber den »Helden von der Landstrasse« kommt in unseren Tagen nur noch selten zum Vorschein. So zahlreich auch die Uebertretungen sind, von denen unsere Zeitungen berichten, so haben sie sich in Wirklichkeit doch sehr verringert, und obschon im Han- 283 delsverkehr noch viel Unehrenhaftigkeit herrscht (namentlich von mehr indirecter Art), so braucht man doch blos Drror’s »Englischen Kaufmann« zu lesen, um sich zu überzeugen, wie bedeutend die Besserung der Zustände seit jener Zeit ist. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass die Veränderung des Charakters, welche eine solche Abnahme ungerech- ter Handlungen mit sich brachte, zu- gleich eine Zunahme wohlthätiger Hand- lungen veranlasst hat, wie wir dies in den Beiträgen zum Loskaufen von Scla- ven, in der Pflege der verwundeten Sol- daten unserer kämpfenden Nachbarn und in philanthropischen Bestrebungen der verschiedensten Art erkennen. Wie beim kriegerischen Typus, so vereinigen sich also auch beim indu- striellen Typus drei Wege der Beweis- führung, um uns seine wesentliche Na- tur zu enthüllen. Stellen wir nun kurz die verschiedenen Resultate zusammen, um die Uebereinstimmung derselben darzuthun. Wenn wir uns überlegen, welches die Charakterzüge einer ausschliesslich zur Ausführuug innerer Thätigkeiten or- ganisirten Gesellschaft sein müssen, so dass dieselbe mit möglichst grossem Erfolg der Förderung des Lebens ihrer Mitbürger diene, so finden wir, dass es folgende sein werden. Eine gemein- same Thätigkeit, welche die Thätig- keiten der Einzelnen sich unterordnet, indem sie dieselben zu vereinter An- strengung verbindet, ist nicht mehr er- forderlich; im Gegentheil liegt nun der Zweck der geringen gemeinschaftlichen Thätigkeit, die überhaupt noch besteht, blos im Schutz der Einzelthätigkeit gegenüber allen Störungen, welche nicht nothwendig durch gegenseitige Be- schränkungen bedingt sind. Der Ge- sellschaftstypus, bei welchem diese Auf- gabe am besten erfüllt wird, ist auch derjenige, welcher sich forterhalten muss, da seine Glieder am besten ge- 284 deihen werden. Während die Erforder- nisse des industriellen Typus ein des- potisch controlirendes Agens ohne wei- teres ausschliessen, bedingen sie als einzig zweckentsprechendes Mittel zur Durchführung der überhaupt erforder- lichen gemeinschaftlichen Thätigkeiten eine Versammlung von Vertretern, wel- che den Willen des Ganzen zum Aus- druck bringen können. Die Aufgabe dieses controlirenden Agens, die man im allgemeinen als Rechtspflege be- zeichnen kann, besteht im einzelnen darin, dass es darauf zu sehen hat, dass jeder Bürger weder mehr noch weniger Vortheile erlange, als seine Thätigkeit ihm normaler Weise gewährt. Und damit ist denn auch alle öffent- liche Thätigkeit, welche irgend eine künstliche Vertheilung des Ertrages zu stande bringen soll, von selbst ausge- schlossen. Nachdem das dem Milita- rismus eigenthümliche Regime des Sta- tus verschwunden ist, tritt das Regime des Vertrages an seine Stelle und findet immer allgemeinere Anerkennung, und dieses verbietet jegliche Störung des Wechselverhältnisses zwischen Anstreng- ung und Ertrag durch willkürliche Ver- theilung. Von einem andern Stand- punkt betrachtet zeichnet sich der in- dustrielle Typus vor dem kriegerischen dadurch aus, dass er nicht zugleich positiv und negativ regulirend wirkt, sondern nur in negativem Sinne. Mit dieser Einschränkung des Wirkungs- kreises der gemeinschaftlichen Thätig- keit verbindet sich aber eine Erweiter- ung des Wirkungskreises der einzelnen Thätigkeit und aus jenem freiwilligen Zusammenwirken, welches das Grund- prineip dieses Typus ist, entspringen dann zahllose private Combinationen, die alle in ihrem Bau der öffentlichen Combination der Gesellschaft gleichen, von welcher sie umfasst werden. Auf indirectem Wege ergibt sich auch noch die Folge, dass eine Gesellschaft vom industriellen Typus eine bedeutende » Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Biegsamkeit erlangt und dahin strebt, ihre wirthschaftliche Selbständigkeit auf- zugeben und mit benachbarten Gesell- schaften zu verschmelzen. Die nächste Frage, die wir dann zu erledigen hatten, war die, ob die durch Deduction erschlossenen Züge des industriellen Typus auch durch die Induction bestätigt würden; und wir fanden, dass sie in wirklich vorhan- denen Gesellschaften mehr oder weni- ger deutlich zum Vorschein kommen, jenachdem der Industrialismus mehr oder weniger bei ihnen entwickelt ist. Nachdem wir einen Blick auf jene klei- nen Gruppen von uncultivirten Völkern geworfen, die gänzlich unkriegerisch sind und den industriellen Typus in rudimentärer Form aufweisen, wendeten wir uns zur Vergleichung des Baues der europäischen Völker im allgemei- nen während der früheren Zeiten des chronischen Militarismus mit ihrem Bau in der Neuzeit, die sich durch den Fortschritt des Industrialismus aus- zeichnet, und wir sahen, dass die Ge- gensätze durchaus von der angenom- menen Art waren. Sodann verglichen wir zwei solche Gesellschaften, Frank- reich und England mit einander, die einst auf ziemlich gleicher Stufe ge- standen hatten, von denen aber in der einen das industrielle Leben viel stär- ker durch kriegerische Verhältnisse unterdrückt worden ist als in der an- dern, und es zeigte sich, dass der Ge- gensatz, welcher mit jeder Generation immer lebhafter zwischen ihnen hervor- tritt, genau von der Art war, wie er unserer Hypothese zufolge erwartet werden musste. Indem wir uns endlich auf England beschränkten und zunächst untersuchten, wie ein Rückgang der Eigenthümlichkeiten des industriellen Typus, die sich bereits geltend gemacht hatten, während einer längeren Kriegs- zeit stattfand, konnten wir doch deut- lich nachweisen, dass in der darauf folgenden langen Friedenszeit, welche Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. mit dem Jahre 1815 begann, zahlreiche und entschiedene Annäherungen an je- nen socialen Bau sich vollzogen haben, der, wie wir gefolgert hatten, die Entwick- lung des Industrialismus begleiten muss. Endlich suchten wir zu ermitteln, welcher Typus der Natur des Einzel- nen diesen industriellen Gesellschafts- typus begleitet, um zu erfahren, ob auch aus dem Charakter der Einheit so gut wie aus dem Charakter des Ag- gregats eine Bestätigung unserer An- nahme zu erlangen sei. Gewisse un- eultivirte Völker, deren Leben mit fried- fertigen Beschäftigungen verbracht wird, zeigten sich als durch Unabhängigkeit, durch Widerstreben gegen jeden Zwang, durch Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, ver- zeihenden Sinn und Güte ausgezeich- net. Indem wir den Charakter unserer Vorfahren während der kriegerischen Perioden mit unserem eigenen Charak- ter verglichen, sahen wir, dass in Zu- sammenhang mit einer Stärkung des Industrialismus gegenüber dem Milita- rismus immer mehr das Streben nach Unabhängigkeit, eine weniger ausge- prägte Loyalität, ein geringeres Ver- trauen auf die Regierung und ein be- deutend eingeschränkter Patriotismus zum Vorschein kamen, und während sich in dem Aufschwung des Unter- nehmungsgeistes, im geringeren Glauben an die Autorität, im Widerstand gegen jede unverantwortliche Gewalt eine Kräf- tigung des Selbstbewusstseins ausspricht, hat sich damit auch eine zunehmende Achtung vor der Individualität der An- deren verbunden, wie dies aus der Ab- nahme der Angriffe gegen dieselben und aus der Zunahme der Bestrebungen zu ihrem Wohle hervorgeht. Um jedoch einem Missverständniss vorzubeugen, dürfte es nicht überflüs- sig sein, wenn wir zum Schluss noch erklären, dass diese Züge weniger als unmittelbares Resultat des Industrialis- mus denn als entferntes Resultat von nichtkriegerischen Bedingungen zu be- 285 trachten sind. Das Verhältniss ist nicht so sehr der Art, dass ein friedlichen Beschäftigungen gewidmetes sociales Leben positiv moralisirend, als vielmehr der Art, dass ein mit dem Krieg beschäf- tigtes sociales Leben positiv demoralisi- rend wirkt. Die Aufopferung Anderer zum eigenen Vortheile ist in jenem Fall nur zufällig, in diesem Fall aber geradezu nothwendig. Die Uebergriffe des Egois- mus, welche das industrielle Leben be- gleiten, sind nur eine nebensächliche Er- scheinung, während sie durchaus wesent- lich sind für das kriegerische Leben. Obgleich der Austausch von Dienstleist- ungen nach gegenseitiger Uebereinkunft ganz allgemein ohne Mitgefühl sich voll- zieht, so wird dabei doch gegenwärtig in erheblichem Grade gebührende Rück- sicht auf die Rechte Anderer geübt, und es könnte dies in noch viel höhe- rem Maasse der Fall sein — es könnte beständig begleitet sein vom Bewusst- sein sowohl der dem Andern erwiese- nen Vortheile wie des eigenen Vor- theils. Das Erschlagen des Gegners aber, das Niederbrennen seines Hauses, die Aneignung seines Besitzes kann nicht anders als begleitet sein von einem lebhaften Bewusstsein des ihm zugefügten Unrechts und einem ent- sprechenden verrohenden Einfluss auf die Gefühle — einem Einfluss, der sich eben nicht blos auf den Soldaten erstreckt, sondern auch auf diejenigen, welche den Soldaten zu diesem Zwecke verwenden und seine Thaten mit Ver- gnügen betrachten. Diese letztere Form des socialen Lebens ertödtet daher un- vermeidlich das Mitgefühl und erzeugt einen Geisteszustand, welcher zu allen möglichen Arten des Vergehens und der Uebertretung antreibt, während die erstere Form, indem sie den Mitge- fühlen freien Spielraum verschafft, selbst wo sie dieselben nicht unmittelbar aus- übt, jedenfalls die Ausbreitung altru- istischer Gefühle und die daraus ent- springenden Tugenden fördert. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Bine Hypothese über die Sonnenflecken. Die Meinungen über die Natur der Sonnenflecken gehen weit auseinander. SECCHI sieht in ihnen aufgerissene, mit Metalldämpfen erfüllte Vertiefungen. WEBER und KırcHnHor erklären sie für durch die Sonnenfackeln hervorge- brachte Rauchwolken, Rrıs für aus Eisenoxydhydrat bestehende Rostwolken und FAyE, ZÖLLNER, GAUTIER, SPILLER und SPpörEr behaupten, dass sie durch Abkühlung des feuerigen Sonnenstoffs hervorgebrachte Schlackenmassen oder Schollen seien. Keine dieser Meinungen vermag zu befriedigen und sich die Herrschaft zu erringen: Die der Ersteren lässt sich schwer in Ein- klang bringen mit der überschwenglich hohen Temperatur die dem Sonnen- körper nothwendigerweise zugeschrieben werden muss, so wie auch mit der Form und Gestalt der Flecken und die Schlackentheorie der Letzteren nimmt eine weit grössere Abkühlung des Sonnen- stoffs an, als es die Thatsachen der Beobachtung zulassen. Ich möchte in Nachstehendem eine, meines Wissens noch nicht ausgespro- chene und vielleicht auch nicht ganz unglaubwürdige Hypothese über die Natur der Sonnenflecken einer geneigten und nachsichtigen Prüfung unterbrei- ten. Die Anschauung der Sonnenflecken Rauchwolkenhypothese- im Fernrohre bietet uns unstreitig das deutliche Bild von Lücken und Löchern in einer hell-leuchtenden, einen dunklen Körper umgebenden Hülle dar, durch welche man auf die dunkle Oberfläche desselben hindurchblickt. Diese Mein- ung, wonach die Sonne ein dunkler, aber von einer Lichthülle .oder hell- glühenden Photosphäre umgebener Kör- per und die Sonnenflecken Oeffnungen und Lücken in dieser Photosphäre dar- stellen, wurde, trotzdem dass sie den offenbaren Augenschein für sich hatte, sehr bald verlassen und zwar aus dem Grunde, weil man einen dunklen Sonnen- kern sich nur allein als einen festen und relativ kalten Körper glaubte vor- stellen zu müssen und ein solcher frei- lich mit der immensen Gluth der ihn umgebenden Photosphäre nicht verein- bar war. Diese Vorstellung aber, welche der Gluth nothwendig auch immer ein Leuchten für unser Auge und dem dunklen Stoffe einen kalten und meist starren Aggregatzustand vindieiren will, ist eine physikalisch unhaltbare, die sich nicht aus dem Banne unserer Backofen- und Fabrikessenerfahrungen frei zu machen vermochte. Die geringen Gluthen, welche wir hier auf Erden er- zeugen und die in gar keinem Verhält- nisse zu den überschwenglichen Gluthen, ihrer Urquelle, der Sonne, stehen, können nicht als maassgebend für diese gelten. Bei gewissen sehr hohen Temperaturen > des Stoffes und bei sehr geschwinden Oscillationen seiner Atome sind freilich die Ausstrahlungen desselben für unser Auge als Lichteindrücke wahrnehmbar, daraus folgt aber noch lange nicht, dass alle Steigerungen der Temperatur bis in endloser Progression, in ihren Ausstrahlungen, sich dem menschlichen Auge immer als Lichtempfindungen fühl- bar machen müssen. Ja, es wäre die Annahme, dass weil gewisse niedere Stufen des glühenden Zustandes uns als Licht erscheinen, darum die so überschwengliche und höchste Gluth, wie eine solche dem Sonneninneren zu- kommen muss, uns gleichfalls als Licht sichtbar sein müsse, nicht nur eine durchaus willkürliche, sondern sie wider- spräche sogar den physiologischen und optischen Erfahrungsthatsachen, die uns das Spectroscop liefert. Das Farbenspectrum, in welches wir das Licht zerlegen, bietet uns eine grosse Reihe von objectiven Licht- strahlen, von denen nur ein sehr be- schränkter Theil unserem Auge als Licht offenbart wird. Das violette Licht bietet uns die geschwindesten Aether- schwingungen, die uns noch als Licht wahrnehmbar sind, bei den über dasselbe noch weiter hinausgehenden Stufen, welche noch geschwindere Schwingungen enthalten, erlischt das Spectrum für unser Auge in vollkommenes Dunkel, obwohl sie gerade objectiv noch weit thätigere und lebendigere Lichtprocesse darstellen. Wunpr sagt in seinen » Vorlesungen über die Menschen und Thierseele« I. Band Seite 179: »Man denke sich einen Stab in einem dunklen Zimmer, der durch irgend einen Mechanismus immer geschwinder und geschwinder be- wegt werden kann. Wenn die Schwing- ung nahe bis 138 Millionen Schwing- ungen in der Sekunde gestiegen ist, kommt die Wirkung in die Ferne zum Vorschein, strahlende Wärme erreicht unsere Haut und bewirkt Wärmeem- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 287 pfindung; diese steigt mit Zunahme der Schwingungen und zugleich beginnt der Stab in schwachem rothen Lichte zu leuchten. Er glüht zuerst roth, dann gelb, grün, endlich violett. Nimmt die Geschwindigkeit der Bewegung immer noch zu, so wird auch die Lichtem- pfindung schwächer und endlich, unge- fähr bei 8 Billionen Schwingungen in der Sekunde, tritt wieder Nacht ein.« Wo die Lichtthätigkeit der glühen- den Masse eine so grosse ist, dass die von ihr angeregten Aetherschwingungen über die Grenze von 8 Billionen in der Sekunde noch weiter hinausgehen, da hört sie für unser menschliches Auge auf Licht zu sein, sie wird zur Finster- niss, zum schwarzen Dunkel. Bei einer Alles überbietenden und so exorbitanten Gluth und Atombe- wegung, wie das Innere der Sonne sie aufweisen muss, ist es wohl mehr als wahrscheinlich, dass die von dort ausgesandten Strahlen ausser- halb der Grenzen des für uns sichtbaren Lichtes stehen, daher für uns unsichtbar und dunkel sind. Erst die abgekühlte Oberfläche des Sonnenkörpers, die Photo- sphäre vermag uns solche Strahlen zuzusenden, für welche das Auge die Liehtempfänglichkeit besitzt. Daher die leuchtende Photosphäre bei dunkel erscheinendem Sonnen- inneren, daher die dunklen Sonnenflecken, wo die Photo- sphäre durch aufsteigende Gase des Inneren durchbrochen wird. Aus dieser Annahme erklären sich die Protuberanzen, die Penumbra und die, die Sonnenflecken stets umgeben- den Auftreibungen der Photosphäre, die sogenannten Sonnenfackeln, ganz von selbst. Die der Wolken- und Schlacken- theorie conträren Beobachtungen SEc- cuı’s, dass die Sonnenflecken nicht weni- ger, sondern mehr Hitze ausstrahlen, als die übrigen Theile der Sonnenoberfläche, dass ferner die die Frauenhofer’schen 288 Linien erzeugende Ursache im Inneren der Flecken stärker wirkt, nnd dass man häuflg aus der Mitte der Flecken leuchtende Schleier auftauchen siehtz alle diese Thatsachen, welche die bis- herigen Hypothesen zu erschüttern ge- eignet sind, werden aus der meinigen nicht nur erklärt, sondern auch mit Nothwendigkeit gefordert. Auch bei dunklen Linien des Ab- sorptionsspectrums, welche uns das Sonnenlicht bietet und welche bei flüch- tiger Betrachtung der Hypothese con- trär zu sein scheinen, entsprechen bei genauerer Ueberlegung derselben durch- aus, da die leuchtende Photosphäre, je nach ihren Abkühlungsstadien, in ver- schiedenen Schichten mit verschiedenen Liehtenergien bestehen muss. EDMUND von LÜDINGHAUSEN-W OLFF. Der Klimawechsel der Vorzeit. Aus den neueren paläontologischen Forschungen in höheren nordischen Brei- ten hat man sicherere Schlüsse, als sie ehedem möglich waren, über das Sinken und Steigen der mittleren Temperaturen in den früheren Erdperioden ableiten können. Insbesondere haben Prof. HrER und Graf Sarorra dieses Problem im neuerer Zeit wiederholt bearbeitet, und es ergaben sich, namentlich aus den Arbeiten des ersteren über die fossile arktische Flora folgende allgemeine Er- gebnisse: Die silurische und devonische Lebewelt lässt auf ein unter allen Breiten- graden überraschend gleichförmiges, sehr warmes Klima schliessen. Auch die in neuester Zeit untersuchte silurische For- mation von Grinnelsland (79—82°N.B.) zeigt in ihren ca. 60 Thierarten den- selben Charakter. Im Beginne der Steinkohlenzeit waren die Bäreninsel (74° 30°) und Spitz- bergen (78°) mit einer ähnlichen Vege- tation bedeckt, wie Mitteleuropa zur Kleinere Mittheilungen und Journalschau. selben Zeit erzeugte, woraus man auf eine übereinstimmend warme Tempe- ratur schliessen darf. Dasselbe Resultat ergiebt der Bergkalk von Grinnelsland (79—82°) durch seine mit den engli- schen grossentheils übereinstimmenden Thierreste. Die Pflanzen der mittleren Steinkohlenformation in Spitzber- gen (77!/2°) stimmen gleichfalls zum grossen Theile mit denen überein, welche in Mitteleuropa (Böhmen u. s. w.) zur selben Zeit gediehen. Herr schätzt in der zweiten Auflage seiner Urwelt der Schweiz (8. 659) die mittlere Tempe- ratur der Steinkohlenzeit in der Schweiz auf 23—25°C. Sarorta normirt sie im Allgemeinen auf 25—30° C. Die Thierreste der Trias von Spitz- bergen (78!/2°) stimmen mit den gleich- altrigen der Schweiz und anderer Län- der überein; arktische Pflanzen derselben Erdperiode sind bisher nicht bekannt. Die Juraformation birgt am Cap Bohemann im Eisfjord (78° 24°) Farne, Coniferen, Cycadeen, die vielfach mit denen des englischen, russischen und südfranzösischen Jura übereinstimmen. Eine Vergleichung mit den Jurapflanzen Indiens ergiebt, dass hier wie dort die Farne 40 Prozent der bis jetzt gefun- denen Pflanzenarten bilden, wogegen in Spitzbergen die Nadelhölzer stärker, die Cycadeen aber schwächer vertreten sind. In der unteren Kreide trägt die Flora Grönlands den Charakter der tropischen und subtropischen Gegenden. Vom Beginn der silurischen For- mation bis zum Schlusse der unteren Kreide treten uns somit in der arkti- schen Zone theils in der Landflora, theils in der Meeresbevölkerung tropi- sche und subtropische Typen entgegen, und erst in der ersten Stufe der oberen Kreideformation finden sich bei TO'N.B. deutliche Spuren der abnehmenden Temperatur und damit der Beginn einer Scheidung der verschiedenen Klimate nach der geographischen Breite. Leider lässt sich der Vorgang nicht durch alle Stufen verfolgen, da das Eocän in den höheren arktischen Breiten bisher nicht nachgewiesen werden konnte. Die mio- cäne Flora dagegen, die aus allen Breiten bekannt ist, zeigt, dass die arktische Zone zu ihrer Zeit noch immer ein viel wärmeres Klima besessen haben muss, als heute daselbst herrscht, wenn auch gegenüber dem der Kreidezeit für Spitzbergen und Grönland eine unver- kennbare Temperaturabnahme nachge- wiesen werden kann. Auch tritt die zonenweise Abgrenzung der einzelnen Klimate nunmehr bestimmter hervor. Nur unter dem Aequator selbst (Sumatra, Java, Borneo) zeigen die tertiären Pflan- zen nach dem übereinstimmenden Ur- theil von HEER, GÖöPrPERT und GEYLER keinen Unterschied gegenüber den heut- zutage dort vorhandenen klimatischen Zuständen. Hat man bis hierher den Eindruck einer ruhigen, langsamen, von dem Nord- pole ausgehenden, regelmässigen Ab- kühlung, deren Fortsetzung selbst in der sogenannten Eiszeit der Quartär- periode gefunden werden könnte, so muss am meisten die seitdem erfolgte Wiedererwärmung der sogenannten ge- mässigten Zonen in Erstaunen setzen, die sich als eine Art Wärme-Rückfall in den Gang der allmäligen Entwickelung einschiebt. Um nun jene in den ältesten Perioden bis zu hohen Breiten nachweisbare Gleichförmigkeit des wärmeren Klima’s, und die Existenzfähigkeit einestropischen Pflanzen- und Thierlebens daselbst zu erklären, sind eine Menge Hypothesen aufgestellt worden, die grösstentheils nicht viel innere Wahrscheinlichkeit besitzen. Ganz aufgegeben hat man in dieser Beziehung die Annahme einer Veränderung der Pollage, oder die Ab- leitung der grösseren Luft- und Wasser- wärme von einer ehemals höheren Eigen- wärme der Erde, in Anbetracht des ge- ringen Leitungsvermögens der Erdkruste; auch die frühere Vermuthung Hrurs, Kosmos, V. Jahrgang (Bd. X). Kleinere Mittheilungen und Journalschan. 289 dass das Sonnensystem sich damals vielleicht in einer wärmeren Region des Weltraumes bewegt habe, als später, entbehrt der innern Wahrscheinlichkeit. Von der in neuerer Zeit vielfach er- örterten Grundanschauung ausgehend, dass alles, selbst die starren Erdschich- ten, beweglich sei, hat WerTstEm in seinem Buche über »die Strömungen des Festen, Flüssigen und Gasförmigen« (1880) die Ansicht aufgestellt, dass die Steinkohlenschichten Spitzbergens, wel- che eine tropische oder subtropische Flora einschliessen, sich in Wirklich- keit unter den Tropen gebildet haben müssten, und erst nachträglich, dem Gesetz der Strömungen folgend, pol- wärts bewegt worden wären, eine Idee, die von ihm auch auf die übrigen fos- silen Thier- und Pflanzenreste ange- wendet wird, die in nördlicheren Gegen- den gefunden werden, als ihre nächsten Verwandten heute bewohnen. Diese paradoxe Theorie ist der ge- treue Ausdruck der Thatsache, dass wir selbst unter der Annahme, es habe ehemals bis zu den Polen eine höhere Temperatur geherrscht, uns in höhern Breiten das Gedeihen einer tropischen Pflanzenwelt nicht denken können, wie diejenige, deren Reste wir daselbst fin- den. Denn man darf die Beleuchtungsver- hältnisse der Polarländer, und die fast halbjährige Winternacht nicht vergessen, die ja für Bäume mit abfallendem Laube ohne Schaden verlaufen würde, kaum aber für Bäume, die ihr Laub das ganze Jahr behalten, wie die meisten der hier in Betracht kommenden Tropengewächse. Alle diese Schwierigkeiten sind in einer Hypothese berücksichtigt, die in neuerer Zeit von BLANnDET aufgestellt, und von SAroRTA unterstützt worden ist. Diese Hypothese geht von der Kant-LarLAck'- schen Weltbildungstheorie aus und nimmt an, dass in jenen alten Zeiten, in denen die paläozoischen und meso- zoischen Schichten abgelagert wurden, und die Erde also längst oberflächlich 19 290 erkaltet war, die Sonne vielleicht noch bedeutend ausgedehnter gewesen sein möchte, als heute, und ihre Umrisse noch bis zur Merkursbahn erstreckt haben könnte. Eine so grosse Sonne, deren scheinbarer Durchmesser vielleicht vierzig Grade betrug, musste eine wesentlich verschiedene Wirkung auf die Erdoberfläche ausüben, von der unserer heutigen Sonne. Ihre übergrosse Wärmestrahlung zwar konnte durch eine bedeutend ausgedehntere, mit Dünsten beständig überladene Erdatmosphäre ab- gehalten werden, aber die Beleuchtungs- erscheinungen selbst mussten wesentlich andere sein, die Nächte viel kürzer, die Dämmerungszeiten und Tage be- deutend länger ausfallen. Man muss sagen, dass sich diese Hypothese nach vielen Richtungen sehr gut den That- sachen anschmiegt, zumal man längst betont hat, dass die Pflanzen der paläo- zoischen Epoche grösstentheils solche sind, deren heutige Verwandte am besten in einer warmen und dunstigen Atmosphäre gedeihen, und des direkten Sonnenlichtes zu ihrer Entwickelung durchaus nicht bedürfen. Gleichwohl verdient ihrer grösseren Einfachheit wegen eine andere Hypo- these, die ursprünglich von SARTORIUS VON WALTERSHAUSEN aufgestellt wurde, kürzlich aber von Dr. J. Progst den neueren Erfahrungen gemäss modifizirt und im 37. Jahrgang der Jahreshefte des »Vereins für vaterländische Natur- kunde in Württemberg« (1881 S. 47 bis 113) ausführlich dargelegt wurde, volle Beachtung. Dieselbe geht davon aus, dass die gesammte Erde in der paläozoischen und mesozoischen Periode durchweg Seeklima besessen haben müsse, aus dem einfachen Grunde, weil das Inselland damals gegen die vom Meere bedeckte Oberfläche fast ver- schwand. Das Inselland, auf welchem * DovE, Vertheilung der Wärme auf der Oberfläche der Erde. 1852. ** SARTORIUS VON WALTERSHAUSEN, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. die Steinkohlenpflanzen wuchsen, erhob sich nur wenig über das Niveau des Meeres, wie seine häufigen Ueberfluth- ungen beweisen; der gleichzeitige Koh- lenkalkstein ist eine reine Meeresbildung, ebenso die Keuperbildung, die jurassi- schen und Kreidebildungen stammen wenigstens von einem sehr niedrigen, sumpfigen Terrain. Nun sind dem reinen Seeklima bekanntlich, wegen des Nieder- sinkens der abgekühlteren Wasser- schichten jene Contraste fremd, die dem Continentalklima eigen sind, und Inseln, die mitten im Meere liegen, haben ein bedeutend höheres Jahres- mittel als in gleicher Breite liegende Orte des Continents. Denken wir uns nun für jene Urzeiten alle Continente weg, und alles Land was damals über die Meeresfläche emporschauete, als Inselland, so wird sich dadurch eine erheblich höhere Mitteltemperatur der höhern Breiten bis in die Nähe der Pole und im Allgemeinen eine viel grössere Gleichmässigkeit des Klimas ergeben. Dieses Seeklima müsste auf der Erde bis gegen Ende der Sekundär- zeit, wo dann das Festland gegenüber dem Insellande das Uebergewicht er- reichte, gedauert haben. Die Scheidung der Klimate wurde damit eingeleitet, und durch die spätere Erhebung der Gebirge vollendet, wodurch sich dann gegen Ende der Pliocänzeit die dritte Periode der Klima-Aenderung einleitete. Der Vortheil dieser Vorstellungen gegenüber den ältern Hypothesen be- ruht namentlich darin, dass sie auf lauter greifbaren Thatsachen beruhen und dass sich ihre Wirkungen berech- nen lassen. Dr. J. Progst giebt zu- nächst eine Tabelle, in welcher die Resultate der Berechnungen von Dovr* über das Normalklima der nördlichen Halbkugel und von SARTORIUS VON WAL- TERSHAUSEN** über das reine Seeklima Untersuchungen über die Klimate der Gegen- wart und Vorwelt ete. 1865. Kleinere Mittheilungen und Journalschan. der Gegenwart nebeneinandergestellt wurden. Unter dem Normalklima ver- steht Dovz die mittlere Temperatur des Parallels (auf die Meeresfläche reducirt), somit jene Temperatur, welche der Paral- lelkreis an allen Punkten zeigen würde, wenn die auf ihm wirklich vorhandene aber ungleich vertheilte Temperatur gleichmässig vertheilt wäre. Das reine Seeklima der Gegenwart wurde durch SARTORIUS VON WALTERSHAUSEN unter Zugrundelegung von neunzehn möglichst insularen Stationen der nörd- 291 lichen und südlichen Halbkugel und unter dem Gesichtspunkte berechnet, dass die Erdoberfläche gänzlich mit Meer bedeckt sei, oder dass das Land so sehr zurücktrete, dass dasselbe sich klimatisch nicht weiter geltend zu machen im Stande sei. In einer be- sondern Kolonne hat Dr. Progsr die Differenzen zwischen dem Normalklima und dem reinen Seeklima der Gegen- wart zusammengestellt, woraus sich er- giebt, dass diese Differenzen am klein- sten in den Tropen ausfallen: T 2. 3. 4. Normalklima Reines Seeklima Differenz zwischen Breitegrad der Gegenwart der Gegenwart nach |2 und 3 zu Gunsten der nach Dove SARTORIUS Wärme des Seeklimas 90 — 13°,20 R. —+ 0,84 R. + 14,04 R. 80 — 11,20 —- 17,49 —- 120,69 70 — 7,10 —+ 3°,36 —+ 10°,46 60 — 0,80 —- 6°,20 —- 7,00 50 —+ 4,30 —+ 99,68 —+ 50,38 40 —- 109,90 —-13°,33 —+ 2,43 30 —- 16,80 —- 16°,70 — 00,10 20 —- 20°,20 —- 19,34 — 0,86 10 + 21,30 200,89 — 0°%,41 0 —- 21,20 —- 21,14 — 0,06 Man ersieht aus dieser Tabelle, dass die Differenz unter den Tropen zwischen dem Seeklima und dem Landklima sehr gering ist, aber in Folge der Meeres- strömungen und der grossen specifischen Wärme des Wassers, gegen die Pole hin im Sinne einer allgemeinen Aus- gleichung sehr zunimmt. Dies wird aber in der Vorzeit in noch erhöhetem Maasse der Fall gewesen sein, was die höhern Breiten anbetrifft. In den Tropen wird der Klimawechsel ein viel ge- ringerer sein, die Regelmässigkeit der Winde und des gesammten Ganges der Witterung ist dort auch heute noch ziemlich gross, und es lässt sich an- nehmen, dass unter Voraussetzung einer etwas höhern Mitteltemperatur, sich ein ähnliches Verhältniss von Heiterkeit und Trübung des Himmels, wie es noch heute über dem tropischen Theile des stillen und atlantischen Oceans besteht, auch in der Vorzeit meist vorgeherrscht haben wird. Mit diesen Vorstellungen in Einklang finden wir, dass daselbst in allen Perioden ähnliche Pflanzen und Thiere existirt haben, wie sie noch heute daselbst vorkommen, während sich die Lebewelt der höhern Breiten seitdem so sehr verändert hat. Der Klimawechsel der höhern Breiten drückt sich wahrscheinlich am auffallend- sten in den Aenderungen der Bewölk- ungsverhältnisse aus. Heute giebt es 138 292 trockene Landwinde, (auf der nördlichen Halbkugel der Nordost), welche das Ge- wölk aufsaugen, und uns klaren Himmel verschaffen, womit sofort und ganz ab- gesehen von der Temperatur der Luft- strömung eine beträchtliche, besonders des Nachts merkbar werdende Abküh- | lung durch Ausstrahlung der Erdwärme gegen den Himmelsraum verbunden ist. Diese trockenen Landwinde fehlten ehe- mals mehr oder weniger, und damit verschwand für die höhern Breiten jene Manmnigfaltigkeit in der Wolken- bildung, die ihnen zur Zierde gereicht, wie denn der Wolkenhimmel auch sonst in vieler Beziehung ein Abbild der Ver- theilung von Land und Wasser auf der Erdoberfläche darstellt. Wie die Strö- mungen des Wassers, so nahmen auch die Strömungen der Luft einen viel regelmässigeren Verlauf, da sie weder durch ungleiche Erwärmung der Ober- flächen, noch durch die materiellen Hindernisse grosser Continente (für die Wasserströmungen) und hoher Gebirge für die Luftströmungen zu ähnlich starken Abweichungen von dem normaler Rich- tung veranlasst wurden. Der Prozess der Wärmeausgleichung auf der Erd- oberfläche ging mit einem Worte regel- mässiger von Statten. Sobald nun die in den Tropen mit WasserdampfgesättigtenLuftströmungen bei ihrem Abfluss nach den höheren Breiten in Regionen kamen, die bei gleicher Höhe einen geringeren Erwär- mungsgrad besassen, so ging ein Theil ihres unsichtbaren Wasserdampfes in sichtbare Dunst- und Nebelgestalt über und hüllte die höheren Breiten in eine bei der Regelmässigkeit dieser Vorgänge konstante Wolkendecke, die gegen die Tropen hin dünner, gegen die Pole dichter war, und die nächtliche Abküh- lung durch Ausstrahlung hinderte. Man wird hierbei an die mit dem Aequator parallel laufenden Streifen des Jupiter und Saturn erinnert, die deutlich auf eine ähnliche zonenweise Anordnung Kleinere Mittheilungen und Journalschau. der Wolken hindeutet. Man muss sich dabei zugleich erinnern, dass diese grossen Planetenmassen sich in einem jüngeren Stadium der Abkühlung be- finden, als Erde und Mond, und ihre fast konstante, dichte Bewölkung ist daher für die Erkenntniss der älteren Verhältnisse unserer Erde sehr lehrreich. Auch die Venus, die der Erde an Grösse ungefähr gleichsteht, aber, weil zu den inneren Planeten gehörig, wohlals jünge- ren Ursprungs betrachtet werden darf, als die Erde, besitzt eine dichte Atmo- sphäre, die mit Wolken fast beständig verdeckt ist, und so selten hinreichend klar wird, um den Durchblick auf die Oberfläche der Planeten zu gestatten, dass manche Astronomen, wie z. B. HerscHeEu ihr Lebelang nicht dazu ge- kommen sind, sie zu erblicken. Die Wirkung dieser Bewölkung ist nun die Zusammenhaltung der durch die warmen Wasserströmungen aus den Tropen den höhern Breiten zugeführten Wärme, die ja jetzt schon deren Klima so beträchtlich verbessert, es aber unter Voraussetzung einer konstanten Be- wölkung dem der Tropen bedeutend angenähert haben muss. Aus Betracht- ungen und Zahlen, die Dr. Progsr aus den von Prof. v. Zechu festgestellten Witterungstabellen von Stuttgart abge- leitet hat, schliesst derselbe, dass durch die angenommene konstante Bewölkung des Himmels der Urzeiten in den höhern Breiten die Ausgleichung und Erwärm- ung, die durch das reine Seeklima gegenüber dem Normalklima hervorge- rufen wird, je in den verschiedenen Breiten noch um ungefähr ihren eigenen Betrag vermehrt wird. Darnach be- rechnet sich das Klima der alten geo- logischen Perioden durch Addition der Columnen 3 und 4 obiger Tabelle für die verschiedenen Breiten derartig, dass sich für den 90. bis incl. 60. Grad N. Br. eine Mitteltemperatur von 14 GradR. ergiebt, die sich für je zehn Breite- grade um c. einen Grad steigert, so dass Kleinere Mittheilungen und Journalschau. am Aequator eine Wärme von 21 Grad gefunden wird. Die abgeleitete Mittel- temperatur von 14 Grad R. würde hin- reichen, das Gedeihen von Baumfarnen und ähnlichen subtropischen Gewächsen unter Annahme einer gleichförmigen Temperatur und feuchteren Luft in jenen hohen Breiten zu erklären; um indessen auch das Gedeihen der Korallen und | ähnlicher Bewohner der Tropenmeere daselbst zu erklären, schliesst Dr. Progst | auf die Mitwirkung eines ferneren Fak- tors zur Erhöhung der Mitteltempera- tur und glaubt denselben in der aus- gedehnteren oder dichteren Kohlensäure- reicheren Atmosphäre und in der inneren Erdwärme suchen zu müssen. Beide Faktoren würden indessen in allen Breitegraden eine gleichmässige Tempe- raturerhöhung bedingen, also der vor- ausgesetzten Ausgleichung entgegen- wirken, so dass darnach in den Tropen eine zu starke Wärme geherrscht haben würde, um das Leben seiner heutigen Bewohner zu ermöglichen. Referent hält den Faktor der innern Erdwärme für ungeeignet, dieses. Be- dürfniss zu decken, und würde die Annahme einer stärkeren Wärmestrahl- ung der vergrösserten Sonne im Sinne Branper’s für richtiger halten, da eine ähnliche Annahme, wegen der immer- grünen Polargewächse der älteren Perio- den doch kaum abzuweisen ist. Dr. Progst hat, wie dem Referenten schei- nen will, mit Unrecht der BLanper’schen Hypothese entgegengehalten, dass ja noch heute die Sonne von einem ähn- lichen leuchtenden Ringe, der uns als Zodiakallicht erscheint, umgeben sei, denn das Licht- und Wärmestrahlungs- vermögen dieses Ringes ist jedenfalls gar nicht in Vergleich zu stellen, mit einer Sonne, deren Aequator in der Merkurbahn läge. Die Abnahme der Temperatur in den höhern Breiten während der Ter- tiärzeit würde sich nun nach obigen Auseinandersetzungen folgerichtig von 293 der Ausdehnung der Festlandsbildungen während dieser Periode ableiten. Das Festland war noch ein sehr niedriges — Hrer giebt ihm zur Molassezeit eine Erhebung von 2—300 Fuss über den Meeresspiegel — und die Rück- wirkung auf die meteorologischen Vor- gänge konnte noch keine bedeutende sein, indessen begannen sich ohne Zweifel doch bereits die Landwinde geltend zu machen, und die Wolkenkappe der Polarländer stellenweise zu durchbre- chen und zurückzuschieben. Dieser Rückgang war ein derartiger, dass am Ende der Tertiärperiode (Pliocänzeit) etwa, wie man nach den Lebensformen derselben schliessen kann, die Tempe- raturverhältnisse den heutigen glichen. Die um diese Zeit stattgefundene Er- hebung der Gebirge musste dann ver- möge ihrer Schneeansammlungen und sonstigen kondensirenden Eigenschaften eine so starke Temperaturerniedrigung hervorbringen, dass daraus unter Mit- wirkung des immer noch stärker als heute herrschenden feuchten Seeklimas die sogenannte Gletscher- oder Eiszeit hervorging, die ihrerseits mit der all- mäligen Herabwitterung der Gebirgs- spitzen, und dadurch, dass dem Schnee und Eis Wege zum Herabfliessen ge- schaffen wurden, allmälig in unser heu- tiges Klima überging. Diese Modifikation der Theorie von SArrtorıus hat, wie man sieht, den Vortheil, die astronomischen Spekula- tionen zu vermeiden, und den ganzen Gang der klimatischen Entwickelung aus irdischen Verhältnissen abzuleiten. Ref. möchte in dieser Beziehung noch auf einen Punkt aufmerksam machen, der diese Theorie wesentlich ergänzen kann, indem er die Gebirgserhöhung als eine Folge des allmäligen Klima- wechsels während der Tertiärzeit erklärt. Wenn nämlich obige Verhältnisse der Wirklichkeit entsprechen, so kann die Abkühlung und Zusammenziehung der Erdrinde so lange nur schr langsam 294 und allmälig vor sich gegangen sein, so lange Seeklima und dauernde Be- wölkung der höhern Breiten herrschte, denn gerade diejenigen Zonen, in denen die Wärmeausgabe heute am stärksten ist, hatten damals die wenigsten Aus- gaben. Als nun in Folge des allge- meinen Sinkens des Seespiegels Fest- land in grösserer Ausdehnung, und damit Aufhellung des Himmels in höhe- ren Breiten auftrat, musste ziemlich plötzlich die Abkühlung der Erdrinde ein schnelleres Tempo annehmen, wo- durch die Gebirgserhebung veranlasst wurde. In dieser Beziehung reichen einander vorweltliche Geologie und Kli- matologie die Hände. K. Der Einfluss der Oceane auf die Wärme- statistik des Erdballs wurde von Professor A. MoLIkoF in der Sitzung der Berliner Gesellschaft für Erdkunde vom 9. Oktober 1881 in einem Vortrage erörtert, dem wir mit Rücksicht auf den vorstehenden Artikel einige Einzelnheiten entnehmen. Durch die Beweglichkeit seiner Theile unter- scheidet sich das Wasser sehr wesent- lich von der festen Erdrinde, und zeigt daher betreffs mancher Eigenthümlich- keiten der letzteren ein durchaus ab- weichendes Verhalten. So findet sich in der Tiefe der Oceane keineswegs die hohe Eigenwärme der Erde, welche wir im Innern der festen Erdrinde be- obachten; im Gegentheile besitzt das Meerwasser am Meeresgrunde selbst in den Tropen eine den Gefrierpunkt nur wenig übersteigende Temperatur. Zieht man die Luft noch mit in Vergleich, so begründet der Umstand, dass — abgesehen von der Verschiedenheit des specifischen Gewichtes — das Wasser eine beträchtlich grössere Wärmecapa- cität (1 Raumth. Wasser vermag soviel Wärme aufzunehmen, wie 3234 Raumth. Luft) besitzt, die verschiedene Verthei- Kleinere Mittheilungen und Journalschau, lung der Wärme in Luft, Boden und Wasser. Die grossen ÖOceane zeigen das besondere Verhalten des Wassers am besten, und zwar wegen ihrer be- deutenden Tiefe und ununterbrochenen Verbindung miteinander. Die Unter- suchungen der maritimen Expeditionen des »Challenger«, der »Gazelle« und der »Tuscarora« dienten als Material zur Berechnung der Mitteltemperatur für die ganze Wasserschicht vom Grunde bis zur Oberfläche (durchschnittlich 4000 Meter Tiefe), und diese Berech- nung ergab für die tropischen Breiten zwischen 20° nördlicher bis 20° süd- licher Breite etwa 4° C.; überhaupt ist nur in wenigen Fällen ein Mittel- werth von mehr als 5° C. gefunden worden, obschon Oberflächentempera- turen von mehr als 29° C. in Rech- nung standen. Die Einwirkung der Sonnenwärme erstreckt sich überhaupt nur bis zu einer Tiefe von höchstens 100 Metern. Von der grössten Wich- tigkeit für die Vertheilung der Wärme im Meerwasser ist das Dichtigkeits- ‘ maximum des Wassers, welches nicht, wie das des Süsswassers, bei 4° C., sondern unzweifelhaft tiefer und zwar in der Nähe des Gefrierpunktes liegt. Wäre dies nicht der Fall, so würden die kältesten Polarwasser an der Ober- fläche über einer wärmeren Schicht ver- bleiben, sich weithin verbreiten und auf das organische Leben der Küsten- gegenden den nachtheiligsten Einfluss üben. So aber sinkt das kältere Wasser nach unten und bedeckt den Meeres- grund, ohne auf die darüber befind- lichen wärmeren Schichten wesentlich erkältend einwirken zu können, noch weniger auf die Luft. Die Frage, ob der Erdball weiter erkaltet, glaubt Vor- tragender bejahen zu müssen; die Ab- kühlung vollzieht sich aber wahrschein- lich in einer solchen Weise, dass die unteren oceanischen Schichten, ent- sprechend obiger Darstellung, immer kälter werden und vielleicht auch die Kleinere Mittheilungen und Journalschan. kalten Schichten immer mehr Raum einnehmen, so dass Hunderttausende von Jahren vergehen können, ehe die oberen Wasserschichten und die Luft davon afficirt werden. Demgemäss würde die Abkühlung der Erde für deren Or- ganismen noch für lange Zeit wirkungs- los bleiben, da letztere sich nur an der Oberfläche bewegen. Noch verweilte Vortragender bei dem scheinbaren Wider- spruche, in welchem das Vorkommen von Eis im Weltmeere mit der niedri- gen Lage des Dichtigkeitsmaximums steht. Man könnte auf den ersten Blick meinen, die Eisbildung wäre bei fort- währendem Untersinken des abgekühlten Wassers unmöglich. Aber in den nörd- lichen Polarregionen bringen die zahl- reichen Ströme eine solche Masse Süss- wassers in die oberste Meeresschicht, dass dadurch Gelegenheit zur Eisbil- dung geboten wird; im südlichen Eis- meere aber findet ein fortwährendes Flottwerden von Gletschermassen statt, welche durch die Wasserwärme unten abgeschmolzen werden. Dieser Entsteh- ung entspricht eben auch die Form der in den beiden Eismeeren vorkom- menden Eismassen. Ueber den Einfluss des bewegten Wassers auf die Gestaltung der Süsswassermuscheln aus der Familie der Najaden hat HrRMAnN JorDAN in Berlin einige Studien im Biologischen Centralblatt (1. Jahrgang Nr. 15) veröffentlicht, denen wir folgende Einzelnheiten entnehmen. Die Najaden LAMARcKS, zu denen un- sere Entenmuschel (Anodonta anatina), die Malermuschel (Unio pictorum) und die Flussperlmuschel (Margaritana mar- garitifera) gehören, leben sowohl in stehendem als in fliessendem Süsswasser, sowohl in stillen Teichen als in Seen mit heftigem Wogenschlag, in schnell- fliessenden Bächen und Flüssen mit reinsandigem oder kiesigem Grunde und 295 in deren schlammigen Buchten, und ändern, wie man Aehnliches auch bei den Austern beobachtet hat, ihre Ge- staltung, um sich den verschiedenen Bedingungen ihres Wohnorts anzupas- sen, dermaassen, dass ein geübtes Auge aus derselben die Beschaffenheit des Fundorts zu erkennen vermag. Bei den Fluss-Unionen, denen von den fortgerissenen Steinen der Ström- ung Gefahr droht, ist durchweg das gegen den Strom wie ein Sturmbock gerichtete Vordertheil immer unverhält- nissmässig dicker als das Hintertheil entwickelt, welches letztere durch jenes geschützt, auch in ziemlich schnell fliessenden Gewässern oft ganz dünn bleibt. Eine Ausnahme von dem letz- teren Punkte bildet die im Ganzen sehr starkschalige und zumeist nur sehr reis- sendes Wasser bewohnende Umio cras- sıs und die Flussperlmuschel, bei denen jedoch immer die Dicke des Vorder- theils stark überwiegt. Bei den See-Unionen, welche durch die Strömung bald von der einen und bald von der andern Seite getroffen werden, weshalb das Thier keine be- stimmte Stellung nimmt, sind die Scha- len vorn und hinten von einer mehr gleichmässigen Stärke, vorn schwächer, hinten stärker als bei den Fluss-Unionen. Im starkwogenden Wasser sind diese Muscheln besonders bei niedrigem Stande und weichem Schlammgrunde der Gefahr des Fortgespültwerdens ausgesetzt, und es bildet sich an solchen Oertlichkeiten sowohl bei Unionen als bei Anodonten ein langgestreckter Unterrand heraus, dessen Hintertheil fast hakenförmig nach unten gebogen, und wie ein Anker tief in den Schlamm eingesenkt ist. Solche Formen der Malermuschel findet man unter andern im Chiemsee und im Wörthsee bei Klagenfurt, und ihr An- sehen ist so eigenthümlich, dass Ross- MÄSSLER eine besondere Art daraus machen wollte. In klaren, ruhigen Seen mit tiefem Wasser fehlt der Maler- 296 muschel dieser Nothanker vollständig, es ist im Gegentheil ein aufwärts ge- krümmter Schnabel vorhanden. Die Malermuscheln schnell fliessender Bäche und Flüsse zeigen ebenfalls deutlich die Tendenz eines nach unten gerich- teten Hintertheils, allein dasselbe ist nicht hakenförmig gestaltet, sondern bildet für die gegen den Strom gerich- tete Muschel eine schräg nach hinten und unten gerichtete Spitze, welche sich fest in den Sand des Flussbetts ein- stemmt. Unter anderen minder klar verständlichen Unterschieden ist zu er- wähnen, dass die Fluss-Unionen sehr oft, die See-Unionen niemals eine schön grüne Strahlenfärbung besonders auf der hinteren Hälfte der Schalen tragen, und dass die letzteren bauchiger und aufgeblasener, die ersteren schlan- ker und eckiger zu sein pflegen. Ebenso scheinen sich die Schlosszähne bei sol- chen Arten von Unio, welche stark- fliessende Gewässer bewohnen, stärker zu entwickeln, als in ruhigeren, und bei der Gattung Anodonta, welche in dem ruhigen tieferen Wasser der Teiche wohnt, fehlen, wie der Name besagt, diese Schlosszähne ganz. Schon Ross- MÄsSSLER hat die Bemerkung gemacht, dass die Najaden grösserer Wasser- becken im Allgemeinen auch grösser seien, was JORDAN bestätigt findet. Be- kanntlich hat Semrer dieselbe That- sache beiunserer gemeinen Teichschnecke (Limnaea stagnalis) durch den Versuch bestätigt. Bine neue Eintheilung der (rinoiden. Bei Gelegenheit der Beschreibung eines neuen sehr merkwürdigen Crinoiden aus dem unteren Kohlenkalk von Schott- land, die P. H. CARPENTER und R. ErHr- rıpGe kürzlich (Annals and magazine of natural. history 5. S.,' vol. VII, April 1881) gegeben haben, stellen dieselben eine neue Klassifikation der Crinoiden Kleinere Mittheilungen und Journalschau. auf, für die bis in die neueste Zeit die Eintheilung von JoHANNES MÜLLER in die paläozoischen mit uneingelenkten Plättchen bedeckten Tesselaten und in die Jüngeren, mit durch Gelenke ver- bundenen Plättchen bedeckten Artiku- laten gegolten hat. Die vielgestaltige neue Form, Allageerinus Austini, welche als der Typus einer neuen Gattung und Familie (Allagecrinidea) betrachtet wird, bietet die Eigenthümlichkeit, dass ihre Jugendformen die Charaktere der paläo- zoischen Tesselaten und zwar speciell der Haplocriniden darbieten, während das erwachsene Thier bereits zu den Artikulaten gerechnet werden muss. Sie unterscheidet sich indessen von allen übrigen Artikulaten durch die ungleiche Grösse der Radialien. Entwickelungs- geschichtlich ist auch der Umstand von Interesse, dass die jungen Thiere, ähn- lich wie die jungen Comatula, eine sehr ausgebildete Mundpyramide besitzen, die sich allmählich bis zum vollkommenen Verschwinden zurückbildet, während sich die den Jungen fehlenden Centralkanäle der Radialien später ausbilden. In Betreff der Unterscheidung von Tesselaten und Artikulaten hatte nun bereits LürkEn gezeigt, dass der zur Trennung gewählte Charakter nicht durchgreifend sei, sofern die mesozoische Gattung Apiocrinus theilweise verwach- sene Radialien und Interradialien zeigt, während bei dem paläozoischen Taxo- crinus ebenso bewegliche Gelenkplatten vorhanden sind, wie bei Pentacrinus. Ein gleiches Vorkommen gelenkiger Radialien haben nun ÜARPENTER und ErHERrIDGE noch bei vielen anderen Paläocrinoidennachgewiesen und gezeigt, dass in diesen gelenkigen Kelchplatten auch innere Kanäle wie bei den jünge- ren Crinoiden vorhanden sind. Auch gegen das neuerdings von WACHSMUTH und SPRINGER aufgestellte Eintheilungs- prinzip, nach welchem die älteren paläo- zoischen Crinoiden (Palaeocrinoidea) sämmtlich einen innerlich liegenden Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Mund, die jüngeren und noch heute lebenden (Stomatocrinoidea) dagegen stets einen äusseren Mund besässen, werden Bedenken erhoben, und ein durchgreifen- der Charakter zwischen den älteren und jüngeren Crinoiden in der vollkommen regelmässigen und symmetrischen Kelch- bildung der letzteren aufgestellt, gegen- über der Unsymmetrie, die bei denälteren Crinoiden stets durch das Vorhanden- sein eines Anal-Interradius entsteht. Selbst bei den am meisten regelmässigen Formen, wie Eucalyptocrinus spricht sich der Mangel an Symmetrie in der un- gleichen Zahl der Basal- und Radial- platten (4 gegend) aus. UnterBerücksich- tigung dieser und einiger weniger wich- tigen Unterschiede bezeichnen CARPEN- TER und ETHERIDGE nunmehr die älte- ren Crinoiden (Palaeocrinoidea WAcHsm. u. Srıne.) oder Tesselata MüLLEr’s als Irregularia und stellen ihnen die jüngeren oder Neocrinoidea (Articulata Mürner’s) als Regularia gegenüber. Die Paläocrinoiden zeichnen sich durch die Persistenz vieler, bei den Neocrinoiden nur noch im Embryonalstadium anzu- treffender Merkmale aus. Als solche sind zu nennen: die starke Entwicke- lung der Mundtheile (manchmal einer Oralpyramide); das häufige Vorhanden- sein einer die ganze Ventralseite oder nur den Mund einschliessenden Scheitel- decke; die fehlende Symmetrie; die starke Entwickelung des Kelches im Vergleich zu derjenigen der Arme, und endlich das häufige Fehlen von deut- lichen Artikulationen zwischen den ersten und zweiten Radialien, sowie von Axillar- kanälen in den Radial- und Armplätt- chen. (N. Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und Paläontologie 1881. II. Bd. S. 287.) Neue Untersuchungen über die Schlangengitte, welche verschiedene, auch vom ent- wickelungsgeschichtlichen Standpunkte interessante Resultate ergeben haben, 297 sind in jüngster Zeit von mehreren französischen Aerzten und Chemikern angestellt worden, worüber hier kurz und im Zusammenhange berichtet wer- den soll. In verschiedenen Mittheilungen hat zunächst A. Gaurmr darauf hin- gewiesen, dass in dem Gifte der Schlan- gen eine den Alkaloiden oder Pto- mainen analoge giftige Substanz vor- handen sei. Das Gift der Brillenschlange (Naja tripudians), welches einen Sper- ling schon bei einer Dosis von einem Viertel Milligramm tödtet, kann zum Sieden erhitzt, filtrirt, und mit Alkohol behandelt werden, ohne seine Wirk- samkeit einzubüssen, Beweis genug, dass es sich in den wirksamen Bestandtheilen desselben nicht um organisirte Ferment- stoffe handeln kann. Vielmehr nähern sich die wirksamen Bestandtheile des Schlangengifts durch diese Eigenschaften den Alkaloiden. Aber das wichtigste Ergebniss der neueren Untersuchungen ist, dass nicht dem Speichel der Gift- schlangen allein jene zerstörenden Ei- genschaften eigenthümlich sind, sondern vielmehr dem Speichel aller anderen Thiere, z. B. dem des Hundes, des Kaninchen und auch des Menschen eben- falls beiwohnen und sich geltend machen, sobald sie in den Blutumlauf eines Thieres gelangen. Wenn man ein wäs- seriges Extract aus dem menschlichen Speichel bereitet, so erhält man eine äusserst giftige Flüssigkeit, welche einen Vogel beinahe ebenso schnell tödtet, wie Schlangengift. Es sind in diesen Thatsachen vom Gesichtspunkte der Evolutions-Theorie äusserst werthvolle Perspektiven enthalten; der Speichel des Menschen, des Hundes, der Schlange differiren darnach nicht wesentlich in ihren Eigenschaften, sie enthalten sämmt- lich sehr giftige Alkaloide, und der einzige Unterschied würde in einer mehr oder minder erheblichen Concentration des Giftes bestehen. Und wie diese Con- centration bei ein und derselben Schlan- genart nach den Breitegraden, so dif- 298 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. ferirt die Giftigkeit des menschlichen | destillirtem Wasser verdünnt, und die Speichels mit den Tageszeiten, und ist des Morgens, im nüchternen Zustande, d.h. also bevor ein Erguss stattgefun- den hat, am grössesten. Man sieht hierin ferner, wie sich eine Analogie zwischen Thier und Pflanze darin zeigt, dass es nicht den vegetabilischen Ge- weben allein vorbehalten ist, allerlei Arten von Alkaloiden und Giften zu erzeugen. Ueber das chemische Allgemein-Ver- halten des Schlangengifts hat Dr La- CERDA einige Versuche angestellt und sich dabei des Giftes der Surukuku (Lachesis muta) bedient. Er konnte fest- stellen, dass dieses Gift die eiweiss- artigen Stoffe auflöst und die Fette in Emulsion verwandelt, dass es sich dem Anscheine nach also sehr ähnlich dem pankreatischen Saft verhält. Auch hierin finden wir mithin eine Aehnlichkeit zwischen dem giftigen und verdauenden Speichel der Schlangen, und dem ver- dauenden, mehr oder weniger giftigen Speichel der anderen Thiere.* De Lacerpa hat auch eine inter- essante Versuchsreihe über die wirk- samsten Gegengifte des Schlangengifts angestellt. Nachdem er sich von der mehr oder weniger vollständigen Un- wirksamkeit des Eisenchlorid, des Bo- rax, des sauren Quecksilbernitrats, des Tannins und anderer vorgeschlagenen Chemikalien überzeugt hatte, versuchte er das übermangansaure Kali und war von dem Erfolge wahrhaft überrascht. Die in der ersten Versuchsreihe erhal- tenen Resultate, wobei das mit destil- lirtem Wasser verdünnte Gift der Bo- throps dem Zellgewebe der Hunde in- Jieirt wurde, liess bereits erkennen, dass dieses Mittel im Stande war, die örtlichen Verletzungen des Giftes völlig zu verhindern. Das in Baumwolle in Folge zahlreicher Bisse einer Bothrops aufgefangene Gift war mit S— 10 Gramm * Gazette medicale 1881, p. 391. Hälfte davon vermittelst einer Pravaz’- . schen Spritze in das Zellgewebe des Schenkels oder der Weichen eingeführt worden. Ein oder zwei Minuten darauf, einige Male auch noch etwas später injieirten sie an derselben Körperstelle eine gleiche Quantität einer filtrirten einprozentigen Lösung von übermangan- saurem Kali. Die am folgenden Tage untersuchten Hunde zeigten keine Spur von örtlicher Verletzung, höchstens war eine sehr kleine lokalisirte Anschwel- lung in der Nähe des Spritzen-Einstichs, doch ohne irgend welche Reizungs- oder Infiltrations-Erscheinungen vorhanden. Andererseits brachte dieselbe, anderen Hunden ohne Gegengift injieirte Gift- menge, stets grosse örtliche Geschwülste, mehr oder weniger umfangreiche Ab- scesse mit Substanzverlust und Zer- störung der Gewebe hervor. In einer zweiten Versuchsreihe wurde Gift und Gegengift unmittelbar in die Adern eingeführt, und auch hier mit überraschendem Erfolge. Nur in zwei von dreissig Fällen versagte das Gegen- gift und hier betraf es beidemale schlecht- genährte, schwächliche Thiere, denen das Gegengift etwas zu spät eingeflösst worden war. Es wurden hier 2 Centi- meter des Gegengifts eine halbe Minute nach der Einführung des Gifts ange- wendet, und die Thiere zeigten, trotz- dem die mit Wasser verdünnte Gift- menge von 10—12 Bissen angewendet wurde, nur eine wenige Minuten an- dauernde Beschleunigung des Herz- schlages und befanden sich dann an- dauernd wohl. Selbst nachdem bereits die charakteristischenVergiftungserschei- nungen (Pupillenerweiterung — Ath- mungs- und Herzstörungen — Krämpfe — Koth- und Harnentleerungen — Schwäche) eingetreten waren, brachte die Einführung von 2—3 Centimeter der einprozentigen Lösung nach 15—25 Minuten dem Thiere Heilung, während andere Thiere, denen dieselbe Gift- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. menge ohne Gegengift in die Ader ge- spritzt wurde, mehr oder weniger schnell zu Grunde gingen. * Prof. Gope’s Untersuchungen über die fossilen Raubthiere Amerika’s. Mit grossem Eifer verfolgt Prof. Core die Untersuchung und Anordnung der fossilen Wirbelthiere Nordamerika’s und hat im Laufe der letzten beiden Jahre eine ganze Reihe von Publi- kationen über die fossilen Hufthiere und Raubthiere herausgegeben. Hin- sichtlich der ersteren haben seine Ar- beiten trotz der grossen Formenvermehr- ung wenig Neues zu Tage fördern kön- nen, weil im Allgemeinen die Linien in denen sich diese Chaos der Formen anordnen, schon früher durch die von ihm selbst, MArsu und Leipy ange- stellten Untersuchungen schon erkannt sind, dagegen hat er für die Anordnung der Raubthiere durch die Aufstellung seiner Klasse der Creodonten”* einen besonders glücklichen Griff gethan, und wir wollen desshalb hier nach einem Referate der Revue Scientifigue (Tome XVII, Juli 1881) seine neueren Forsch- ungsergebnisse wiedergeben. Man weiss, wie unsicher an manchen Orten der Felsengebirge die Grenze zwischen Kreide- und Tertiärschichten sich ziehen lässt. In Neu-Mexico ge- hörten zu diesen ungewissen Schichten die fossilienarmen Puerco beds, in denen man neuerdings Reste von Säugethieren und Schildkröten gefunden hat, welche ihre Einreihung unter die Eocänschichten erlauben. Unter den darin gefundenen und von Corz beschriebenen*** neuen * Comptes rendus de l’Acad. des Sec. d. Paris, 12 Septemb. 1881. #=* Kosmos Bd. II, S. 502 ft. **® AmericanNaturalist, April 1881,pg.337. 7 On the Genera of Felidae et, Cani- dae, in den Proceed. Acad. of Natur. Sciences of Philadelphia, July 1879. — On the Genera 299 Typen ist der interessanteste ein Fleisch- fresser, welchen er Periptychus carinidens getauft hat, und der zu der als Creo- donten bezeichneten Unterordnung sei- ner Bunotherien gehört. Der Peri- ptychus, welcher den Wuchs eines grossen Fuchses hatte, ist merkwürdig durch sein Gebiss, welches von einem gänz- lich primitiven Typus für ein Raubthier war. Alle Backenzähne sind darin ein- ander ähnlich (wie bei den gegenwärtig lebenden Seehunden) und man unter- scheidet darunter keinen stärkeren und spitzeren Reisszahn wie er bei den Raub- thieren und vielen modernen Insekten- fressern vorhanden ist. — Ein Insek- tenfresser von kleinerem Wuchs (Delta- therium fundaminis) gehört zu der Fa- milie der Lepticetidae, deren Bezahnung an diejenigen der nordamerikanischen Beutelratten (Didelphys) erinnert. In mehreren zusammenfassenden Ar- beiten, welche Core in den letzten drei Jahren den tertiären Raubthieren Nord- amerika’s gewidmet hat, in welchen er sie mit den noch heute lebenden, und mit denjenigen fossilen Arten vergleicht, welche FırsuoL und LEMOoINE neuerdings in gleichaltrigen Schichten Frankreichs gefunden haben, hat er besonders die beiden Haupt-Familien der Felidae und Canidae neu angeordnet und Stamm- bäume für dieselben aufgestellt. In einer neueren Arbeitff resumirt er das Resultat seiner gesammten Beobacht- ungen über die fossilen Felidae Nord- amerika’s, und stellt drei Unterfamilien auf: Nimravidae, Cryptoproctidae und Felidae im engern Sinne, von denen die erste völlig ausgestorben, die zweite nur noch auf Madagaskar vertreten ist, und nur die letzte eine weitere Ver- of the Creodonta in Proceed. Americ. Phil. Societ. July 1880. ++ On the Nimravidae in Bull. of Geol. and Geogr. Survey 1881, VI. pg. 165; — On the extinet Cats of America in the American Naturalist Dec. 1880, pg. 833. 300 breitung in der heutigen Lebewelt be- sitzt. Die Nimravidae unterschieden sich durch einen verlängerten Kopf und durch eine Anordnung der Löcher und Nähte der Schädelbasen, welche an die- jenigen der Viverridae erinnert, obwohl die Bezahnung derjenigen der Katzen gleich ist. Sie enthalten die Gattungen Prooelurus, Pseudoelurus, Archaelurus, Aelurogale, Nimravis, Dinictis, Pogonodon, Hoplophoneus, Eusmilus Europa’s und Nordamerika’s. Sie erscheinen im oberen Eocän Frankreichs, sind zahlreich im Miocän und verschwinden auf beiden Continenten vor dem Beginn der plio- cänen Epoche. Eine gewisse Anzahl von ihnen besitzt bereits die säbel- förmigen Eckzähne, welche man bei den pliocänen Feliden wiederfindet. Nach einer von FıuLHou über die Gattung Pro- oelurus veröffentlichten Arbeit*, welche gleichzeitig mit der von Prof. Core er- schien, wird es wahrscheinlich, dass | Kleinere Mittheilungen und Journalschau. man ohne Schwierigkeit in der Lage sein wird, die beiden Familien der Nimravidae und Cryptoproctidae mit- einander vereinigen zu können, und den so erhaltenen gemeinsamen Typus ein- fach als Unterfamilie der Canidae zu betrachten. Die Felidae im engern Sinne Cop&’s enthalten die Gattungen Drepanodon (Machaerodus), Smilodon und Felis (Un- cia Cop etc.). Sie treten auf beiden Continenten im mittleren Miocän auf, setzen sich im Pliocän fort und sind noch in unsern Tagen durch zahlreiche und verschiedenartige Formen vertreten. Die Gattung Uneia wurde von Cop&E aufgestellt, um darunter alle die grossen Arten der lebenden und fossilen Gat- tungen Leo, Tigris und Leopardus zu- sammenzufassen. Für die Felidae, Ca- nidae und Hyaenodontidae stellt CorE einen gemeinsamen Stammbaum auf, den wir in etwas vereinfachter Form wiedergeben. Carnivora { Felidae Canidae Hyaenodontidae | Oxyaenidae Miacidae Mesonychiidae Öreodonta - Er Amblyetonidae. Die Amblyctonidae (zu denen die oben ' erwähnte Gattung Periptychus gerechnet wird) und die Oxyaenidae enthalten die mächtigsten Raubthiere der ersten Ter- tiärperiode auf beiden Continenten und können als die Ahnen der Nimravidae betrachtet werden. Die Felidae leiten sich ihrerseits von den Nimraviden ab, und zwar von Prooelurus durch das Zwischenglied des Pseudoelurus und die Gattungen Drepanodon und Smilodon * Bullet. de la Societe des scienc. phys. et nat. de Toulouse, Dec. 1880. würden die Abkömmlinge von Hoplo- phoneus und andern Gattungen mit lan- gen Eckzähnen sein, von denen Cop& mehrere bildlich dargestellt hat. Wie Core bemerkt, besassen die ältesten echten Raubthiere, wie z. B. die Hyaenodontidae lange Kiefer mit zahlreichen Zähnen, von denen der letzte Molar den Reisszahn bildete, was eine weite Oeffnung des Rachens voraus- setzte; in Folge des Entwickelungs- fortschritts verkürzte sich das Gebiss nach und nach, die Zahnzahl vermin- derte sich, und der Wirkungspunkt des Kleinere Mittheilungen und Journalschaun. Kaumuskels näherte sich seiner Inser- tionsstelle. Die parasitischen Gewohnheiten von Molothrus. In meinem Buche über die Entsteh- ung der Arten nahm ich die von eini- gen Autoren unterstützte Ansicht an, dass das Kuckucksweibchen seine Eier in Folge seiner Gewohnheit, sie in Zwischenräumen von 2—3 Tagen ab- zulegen, in die Nester anderer Vögel lege, denn es könnte kaum verfehlen, unvortheilhaft für dasselbe zu sein (und ganz besonders weil es zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Wanderschaft an- zutreten hat) junge Vögel von ver- schiedenen Altersstufen und Eier alle zusammen in demselben Neste zu haben. Nichtsdestoweniger findet man dies bei dem nichtschmarotzenden nordamerika- nischen Kuckuck. Wenn dieser letztere Fall nicht gewesen wäre, dürfte man geschlossen haben, dass die Gewohnheit des gemeinen Kuckucks, seine Eier in viel längeren Zeitzwischenräumen abzulegen als die meisten andern Vögel, eine An- passung wäre, um ihm Zeit für die Aufsuchung der Pflegeeltern zu geben. Von dem Rhea oder südamerikanischen Strauss wird geglaubt, dass er gleich- falls seine Eier in Zwischenräumen von zwei bis drei Tagen lege, und mehrere Hennen legen ihre Eier in dasselbe Nest, auf welchem das Männchen sitzt, so dass man beinahe sagen kann, eine Henne sei der Parasit‘ einer andern Henne. Diese Thatsachen machten mich ehemals sehr neugierig zu erfahren, wie die verschiedenen Molothrus-Arten, wel- che in sehr verschiedenen Abstufungen bei andern Vögeln schmarotzen, ihre Eier ablegen, und ich habe soeben einen Brief von Mr. W. Narıon, datirt Lima den 22. September 1881, erhalten, der mir über diesen Punkt Aufklärung giebt. Er sagt, dass er daselbst für 301 eine lange Zeit Molothrus purpwrascens in Gefangenschaft gehalten, und seine Gewohnheit gleicherweise im Natur- zustande beobachtet hat. Er ist ein Bewohner von West-Peru und legt seine Eier ausschliesslich in die Nester eines Sperlings (Zonotrichia), eines Staars (Sturnella bellicosa) und einer Pieplerche (Anthus chü). Er fährt dann fort: »Die Eier des Sperlings sind denjeni- gen des Molothrus in Grösse und Farbe sehr bedeutend ähnlich. Die Eier des Staars sind grösser und in der Farbe etwas verschieden, während die Eier der Pieplerche sowohl in der Grösse als in der Färbung sehr verschieden sind. Im Allgemeinen findet man ein Ei des Molothrus in einem Neste, aber ich habe deren bis zu sechs Stück angetroffen. Der junge Molothrus , wirft nicht immer seine Pflegebrüder aus dem Nest, denn ich habe einen nahezu voll- kommen befiederten Molothrus mit zwei jungen Staaren in einem Neste gesehen. Ich habe auch zwei nahezu vollbefiederte Molothrus in dem Nest eines Staaren gefunden, aber in diesem Falle waren die jungen Staaren aus dem Nest ge- worfen worden.« Er theilt sodann mit, dass er ein Männchen und ein Weib- chen dieser Molothrus-Art, welche jetzt sechs Jahre alt sind, lange in Gefangen- schaft gehalten habe. Das Weibchen begann im Alter von zwei Jahren zu legen, und hat jederzeit sechs Eier ge- legt, welches auch die Eierzahl von Icterus, einem nahen Verwandten von Molothrus ist. Die Daten, an welchen die Eier dieses Jahr gelegt wurden, sind folgende: 1., 6., 11., 16., 21. und 26. Februar, so dass ein Zwischenraum von genau vier vollen Tagen zwischen der Ablage von jedem Ei vorhanden ist. Später in der Saison legte sie sechs nachträgliche Eier, aber in viel längeren Zwischenräumen und unregel- mässig, nämlich am 8. März, 6. und 13. April und am 1., 16. und 21. Mai. Diese interessanten von Mr. Narıon 302 an einem Vogel, der so weit von dem Kuckuck verschieden ist wie Molothrus, beobachteten Thatsachen, unterstützen stark den Schluss, dass irgend eine nahe Beziehung zwischen Schmarotzer- thum und Eiablage in beträchtlichen Zeitzwischenräumen vorhanden ist. Mr. Narıon fügt hinzu, dass er bei der Gattung Molothrus unter drei jungen Vögeln ohne Ausnahme zwei männliche gefunden hat, während bei Sturnella, welche blos drei Eier legt, zwei der Jungen ohne Ausnahme Weibchen sind. Down, Beckenham, Kent, 7. No- vember 1881. CHARLES DARWIN. Die Terrassenhimmel der Buddhisten bildeten den Gegenstand eines sehr eingehenden Vortrages, welchen Prof. A. Basrıan in der Sitzung der Berliner Anthropologischen Gesellschaft am 15. Oktober hielt. Der Buddhismus hat ein ungemein entwickeltes, auf den ersten Blick höchst complicirt erscheinendes System von Himmeln, welches beson- ders im Zusammenhange mit der Kos- mogenie viel Interessantes bietet. Diese Schöpfungsgeschichte kennt keinen An- fang und kein Ende, sie beschäftigt sich lediglich mit dem unaufhörlichen Werden. Nachdem Buddha sich nach Nirwana zurückgezogen, schalteten die Priester, die Mönche als seine Stell- vertreter auf Erden, und je besser diese verpflegt werden, desto glücklicher ist die Menschheit. Aber sie vermögen nicht, die Religion in dauernder Ver- ehrung zu erhalten; nach den ersten tausend Jahren beginnt der Niedergang, im zweiten Jahrtausend verschlimmern sich die Zustände, nach dem dritten sind die Priester selbst schon verkom- men, nach dem vierten erscheint eine Dewa (eine Gottheit) und verkündet, dass die Welt nach tausend Jahren untergehen werde. Die verstockte Mensch- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. heit achtet der Warnung nicht, welche sich schrecklich erfüllt. Am Ende des fünften Jahrtausend, wo die Mönche sich schon verheirathet haben und kein Mensch mehr nach der Religion fragt,‘ erscheint eine zweite Sonne; die Flüsse vertrocknen, die Erde versengt; die dritte, vierte, fünfte Sonne entsteht; ein ungeheurer Weltenbrand erfolgt, der die Erde und selbst die Himmel bis zum dreizehnten derselben zerstört. Nicht weniger als achtundzwanzig Him- mel bietet nämlich der Buddhismus seinen Gläubigen (abgesehen von Unter- schieden, die hier wie in anderen Punk- ten bei den einzelnen Sekten vorkom- men), während andere Religionen höch- stens über sieben Himmel verfügen. Das ganze Weltsystem ist wie folgt construirt. Als Grundpfeiler steht in der Mitte der Berg Meru, auf einer Granitmasse ruhend, welche die Höllen umschliesst. Eine grosse Schildkröte trägt diese Massen, selbst auf Wassern schwimmend, die von Wirbelwinden getragen werden. Rings um den Berg Meru laufen sechs Bergkreise, durch Wassermassen geschieden; in dem Meere ausserhalb des sechsten Kreises liegen die von Menschen bewohnten Conti- nente; das Ganze wird durch einen letzten Felsenring abgeschlossen. Der Berg Meru nun ist der Träger der Him- mel, welche schon an seinem Abhange beginnen; unter den Himmeln wohnen an demselben Abhange halbdämonische Wesen, so die Asuren, die Feinde der Dewa. Sonne und Mond herrschen in diesen Regionen. Höher hinauf beginnt dann der erste Himmel, der der Dewa, an dessen vier Ecken vier »Markgrafen« mit gezückten Schwertern Wache hal- ten; der zweite reicht bis zur Kuppe des Berges; obenauf thront Indra und leitet den Kampf gegen die Asuren. Dieser zweite Himmel entspricht etwa dem Olymp oder der Walhalla; in ihn gehen die abgeschiedenen Helden ein, um die Heerschaaren Indras zu ver- Kleinere Mittheilungen und Joumalschau. stärken. Der dritte Himmel, Jama, ist der Himmel der Kampfeslosen, der über den Streit Erhabenen; hier beginnt der Einfluss auf die Geschicke der Erde, Tag- und Nachteintheilung finden hier ihren Ursprung. Es folgt Tuschita, der Himmel der »Heiligen<, der Tugend- helden; von hier kommen die künftigen Buddha’s.. Nemanarati, der Himmel der magischen Verwandlungen, steht an fünfter Stelle. Seine Bewohner kön- nen durch Willen und Wunsch Alles auf der Erde hervorbringen, auch Phan- tastereien. Während die Werke der- selben aber stets harmloser Natur sind, tragen‘ diejenigen der Bewohner von Parinimirta Gawartu, des sechsten Him- mels, einen gewaltthätigen Charakter. Wille und Wunsch dieser Wesen er- füllen sich unmittelbar: Macht über alle Theile der Schöpfung ist die Folge, dem Menschen können sie schaden. Hier weilt auch Mara, der Hauptgegner Buddha’s, der dem Glauben bei den Menschen entgegenwirkt. Alle diese sechs Himmel tragen immer noch Spu- ren des Materiellen; sinnliche Genüsse sind noch nicht verschwunden, wenn auch verfeinert, gemildert. So wird die Zeugung durch ein Anlächeln bewirkt, der Genuss von Speisen hat keine Aus- sonderungen zur Folge u. s. w. Nun- mehr aber folgt dieser Kamawaradscha die Welt der geistigen Beschauung — Rupawaradscha — repräsentirt durch achtzehn Brahmanenhimmel, welche in Gruppen von drei bis fünf Dhyanen getheilt sind. Jeder — auch der un- teren — Himmel überragt beträchtlich den vorhergehenden, aber jede Dhyana begreift unter sich tausend der oben geschilderten Welten mit ihren Him- meln, und all das Ganze ist nur ein Lotoskern in Buddha’s Himmel, davor der kahlköpfige Buddha sitzt, von Zeit zu Zeit einen solchen Kern essend. Die Lebensdauer der Wesen in diesen Himmeln ist ausserordentlich gross, aber 303 phantastischer Weise wird dieselbe zu versinnlichen gesucht. So etwa durch einen Diamantberg, welcher vierhundert Quadratmeilen bedeckt. Alle hundert Jahre streift ihn ein Schmetterling mit den Flügeln, und wenn durch diese Berührungen der Berg in Staub ver- wandelt ist, hat der erste Cyclus ge- endet. Die Wesen müssen auf die Erde zurück (Seelenwanderung); erst in Nir- wana ist definitiv mit dem Irdischen gebrochen; mit jedem höheren Himmel steigt die Dauer der Cycelen. (Aehnlich seltsame Relationen finden sich in der Atomenlehre der Buddhisten. Sie unter- scheidet fünf Klassen von Atomen, je dreiundsechzig einer Klasse gehen auf eines der nächsthöheren; die der ober- sten haben wieder bestimmte Bezieh- ungen zur Grösse eines Reiskornes etc.) Eine letzte Gruppe von vier Him- meln, Arupa, unterscheidet sich wie- derum von den Rupa, den Brahmanen- himmeln; in ihnen finden die in trans- scendentale Speculationen Verirrten Auf- nahme. Die Höllen andererseits sind ähnlich angeordnet; aber auch der, Aufenthalt in ihnen ist begrenzt. So raffinirt ersonnen ihre Qualen, so um- schliessen sie doch ihre Opfer nicht hoffnungslos; wie aus den Himmeln, so kehren auch aus den Höllen die Bewohner zur Erde zurück. Man ist gewohnt, den Buddhismus als die Re- ligion des Pessimismus aufzufassen ; diese Auffassung scheint indess gegen- über so vielen mit Lichtwesen bevöl- kerten Himmeln, gegenüber der Mög- lichkeit der Rettung aus Höllenqualen nicht ausreichend begründet. Nirwana repräsentirt die eigentliche Realität für den Buddhisten, die Welt ist ihm nur Illusion. Die Vernichtung der Welt kann durch Feuer, Wasser oder Wind er- folgen; hiernach ist der Umfang der Zerstörung verschieden; das Feuer er- streckt sich bis zur zweiten Dhyana. doch nicht unendlich; in wunderbar | In der entstandenen Leere erhebt sich 304 (durch den Connexus rerum, die An- ziehung der Dinge) ein Wind, der sich zu Sturm-Wirbeln steigert; Reste der Welt ballen zu Wolkenmassen, welchen ein Regen entströmt, der feste Gestalt gewinnt ; die so entstandene Erde über- zieht sich mit einer süssen Kruste. Unter dem Einflusse der Kama, der moralischen Verantwortlichkeit, steigen Bewohner der zweiten Dhyana hernie- der; da sie von der süssen Kruste essen, erbleicht ihr Lichtglanz, sie gehen allmählich in Menschen über. Noch einmal vereinigen sie sich im Litteratur und Kritik. Gebete und zeugen Sonne und Mond; die Kruste verschwindet, Pflanzen ent- stehen und bilden den Reis. Um Land und Nahrung entspinnen sich dann Streitigkeiten; das Bedürfniss gesetz- licher Ordnung tritt auf. Ein Fürst, Mahassamata, wird eingesetzt und es beginnt nun die politische Geschichte des Landes; von Mahassamata leiten die Fürsten der Gegenwart ihre Genea- logie ab. Bei den Thibetanern und auf der malayischen Halbinsel findet sich ausserdem der Glaube an die Ab- stammung von Affen. Litteratur Religiöser Monismus. l. Die monistische Philosophie von Sprmoza bis auf unsere Tage von WILHELM vox REICHENAU. Köln und Leipzig, 1881. 8°. S. XII und 348. Wir haben es da mit einer gekrön- ten Preisschrift zu thun, was schon für sich beachtenswerth, im vorliegenden Fall aber besonders hervorzuheben ist, weil die Aufgabe eine ganz eigenthüm- lich gebundene war. Wie wir aus der Vorrede ersehen, handelte sich’s nicht um die Lösung eines wissenschaftlichen Problems, oder um die Darstellung der Grundzüge einer bestimmten Wissen- schaft in den verschiedenen Phasen ihrer Entwickelung: dem Bewerber wurde aufgegeben, die Systeme von DESCARTES, SPINoZA, LEıBnız, Kant, SCHOPENHAUER, ROBERT MAYER, DARWIN, GEIGER und Noır&k vom Standpunkt des Monismus zu beleuchten, und nicht nur zwischen Monismus und Materialismus und Kritik. die Frage zu prüfen, ob der Monismus »geeignet ist, die Forderungen des Ge- müths mit den Resultaten der Wissen- schaft zu versöhnen, und solcher Art an Stelle der bisher vorherrschenden Systeme die Weltanschauung der Zu- kunft zu werden«. — In der so gestell- ten Aufgabe ist die Frage nach der Wahrheit mit der Frage nach der Zweckmässigkeit in bedenklichster Weise verquickt, und wir halten es für uner- lässlich, gleich zu Anfang auf diesen Umstand aufmerksam zu machen, weil unserer Ansicht nach das Meiste von dem, was wir an dem vorliegenden, in so mancher Beziehung vortrefflichen Werke zu bekämpfen haben werden, darin seinen Grund hat. Vor allem muss anerkannt werden, dass die Darstellungsweise REICHENAU’S eine ganz vorzügliche ist. Ein höherer Grad von Klarheit ist kaum denkbar, und in Verbindung mit der enthusias- tischen Ueberzeugung, die sie durch- scharf zu unterscheiden, sondern auch | dıingt, wirkt diese Klarheit hin und Litteratur und Kritik. wieder geradezu berückend. Es ist keine Kleinigkeit, so viel philosophische Systeme in so anziehender, nicht einen Augenblick ermüdender Weise zu be- handeln. Vielleicht kam es dem Ver- fasser dabei zu Statten, dass er, als Naturforscher, kein eigentlicher Fach- mann ist. Was man ihm da als Ober- flächlichkeit zum Vorwurf machen könnte, fällt der Aufgabe zur Last. Wie kom- men DescArTEs, LEIBNIZz, MAYER unter die Monisten? Sind sie doch alle drei Dualisten von reinstem Wasser. Frei- lich, wenn man die Eine Hälfte des Systems über Bord wirft, sind alle Phi- losophen Monisten. Oder kann man wirklich von DESCARTES sagen, er habe den Monismus angebahnt, wie wir gleich auf Seite 1 lesen? Er hat mit aller Schärfe die Zweiheit der Welt betont, und, nur vom Grund aus ihn refor- mirend, ist SpmwozA zum Monismus über- gegangen. Oder war Leisnız ein Mo- nist, weil in neuester Zeit Noırk seine Monade wieder aufgenommen hat? Wenngleich auch wir der Anschauung sind, dass SpinozA, streng genommen, Monist war, weil in seinem Deus seu natura das seu niemals die Congruenz betont, und nur andeutet, dass das Wort, das es mit einem andern in Zu- sammenhang bringt, mit diesem gleich- bedeutend und dafür zu brauchen ist; so können wir doch das pantheistische Moment nicht wegläugnen, und dem Verfasser es nicht verdenken, dass er Srınoza vornehmlich von dieser Seite beleuchtet. Auch Kant ist nur im kritischen Theil seines Systems Monist zu nennen. Seine Kritik der reinen Vernunft hat, das Ansich der Dinge im Sinne der Immanenz Spınoza’s erfassend, und die Transscendenz beseitigend, aller Zweitheilung der Natur ein Ende ge- macht, und wahrhaftig den Monismus angebahnt. Aber in seiner Gesammt- heit kann seine Weltanschauung nur als eine dualistische bezeichnet werden. Der eigentliche Monismus kennt keine Kosmos, V, Jahrgang (Bd. X), 305 doppelte Buchführung zu bald theore- tischem, bald praktischem Gebrauch. SCHOPENHAUER ist daher unter den in der Preisaufgabe genannten Philo- sophen der erste Monist. Allein wo- her hat er seinen Monismus, oder viel- mehr, woher stammt dieser Name ? Seltsamer Weise aus der von SCHOPEN- HAUER in Acht und Aberacht erklärten Heseu’schn Schule. Nach Hans VaAısınGer (Kosmos Juliheft 1878) hat GöscHEu diese Bezeichnung zuerst ge- braucht, und es dürfte dies in der 1832 erschienenen Schrift: Der Monismus des Gedankens, — der Fall gewesen sein, die aber nur den Monismus der Hrsen’- schen Dialektik im Auge hat. Später wurde ziemlich allgemein die Hrgrr’sche Immanenz zur Vermeidung des Aus- drucks Pantheismus als Monismus be- zeichnet, und die Anwendung dieser Bezeichnung auf Spmmoza gehört einer noch spätern Zeit an. Imsoferne man darunter den Gegensatz des Dualismus versteht, ist die materialistische Weltanschauung eine monistische, und in dieser Beziehung ist der geehrte Ver- fasser, obwohl er dem Materialismus mehr als Einen wuchtigen Schlag ver- setzt, die scharfe Unterscheidung, welche der Preisausschreiber gefordert hat, schuldig geblieben. Es freut uns dies von dem trefflichen Naturforscher, weil der moderne Hyperkriticismus ebenso wie der neueste Spiritualismus den Ma- terialismus in einer Weise angreifen, welche ihm die Sympathien jedes nicht spiritualistischen Monisten zuwendet. Uebrigens war auch SCHOPENHAUER kein reiner Monist. Wenigstens sprechen seine, für die Spiritisten unbezahlbaren, im Aether schwimmenden Willen Ver- storbener dagegen; und dass er Kant begriffen habe (S. 98), ja dass er gar Kanr’s »gründlichster Kenner« (S. 99) gewesen sei, würde Kant selbst gewiss nicht zugeben. Kar bezeichnet das Ansich der Dinge ausdrücklich als immanent, und eben darum besteht 20 306 zwischen der Entwickelungslehre und der Vernunftkritik kein Widerspruch ; während SCHOPENHAUER, den Willen als das Ding an sich erklärend, in den eclatantesten Widerspruch mit Kant getreten ist, und folgerichtig auch DAr- wın’s Lehre zurückgewiesen hat. Der geehrte Verfasser hat nur zu Recht, wenn er (S. 110) ausruft, dass der »Wille nicht metaphysisch ist, obwohl SCHOPENHAUER es so wills; — aber wo bleibt dann SCHOPENHAUER und sein grosser Fortschritt über Kant hin- aus? Es ist dies Eine jener Stellen, die des Verfassers Streben in seiner ganzen Grundehrlichkeit klarlegen, und ihm das Herz jedes unbefangenen Lesers gewinnen müssen. Zu diesen Stellen gehört ganz vor- züglich auch folgende: »Wir werden nach einigem Nachdenken finden, dass die von Lupwıs Noır# gelehrte moni- stische Philosophie überall der Wahr- heit zu entsprechen scheint, und da- her am besten unser Denken befriedigt. « (S. 189.) Dieses »scheint« ist reines Gold. Nichts liegt uns ferner, denn die geistreichen Apercus Noırk’s zu verkennen, und nicht zugeben zu wollen, dass er auf der breiten Bahn, die der geniale Sprachforscher LAZAR GEIGER gebrochen, die herrlichsten sprachlichen und ethischen Blüthen gepflückt habe. Allein zur Begeisterung unseres sehr geehrten Verfassers können wir uns nicht emporschwingen. Es ist freilich viel- leicht nicht blos Begeisterung, wenn er von NoIRk sagt, er habe gelöst »die Frage nach dem Ursprung des Lebens, nach dem Anfang der Welt, und was dergleichen entweder zu kurz gefusste oder aber das Erkenntnissvermögen überschreitende, in ihrem Grunde eigent- lich unberechtigte Fragen mehr sind«. (S. 201.) Aehnlichen Betrachtungen mag jenes »scheint« entsprungen sein, und der Ausdruck: »das Erkenntniss- vermögen überschreitende«, — auf ge- löste Fragen angewendet, ist gewiss Litteratur und Kritik. nicht ohne einen Hauch feiner Ironie. Die Ironie ist nicht unberechtigt gegen- über dem Aplomb, mit welchem Noır& anhebt: »Nunmehr ist die Zeit ge- kommen, an die Stelle der von Kant gefundenen einfachsten Denkelemente die ihnen in der Wirklichkeit der ob- jektiven Welt entsprechenden Ureigen- schaften der Dinge zu setzen« u. s. w. (S. 184.) Wie ScHoPENHAUER das Ding an sich, so hat er Raum und Zeit entdeckt, jenen als die Bewegung, diese als die Empfindung. Genau betrachtet, liegt in dieser nähern Be- stimmung eine womöglich noch grössere Willkür, als in SCHOPENHAUER’S allge- meinem Willen; denn es wäre nicht schwer, mit gleich gewichtigen Argu- menten den Raum als die Coexistenz der Empfindungselemente, und die Zeit als die Succession der Bewegung zu erklären. Doch wir wollen auf diese Spätlinge ScHorEnHAuEr’scher Meta- physik nicht näher eingehen; gegen solche Noth ist die Zeit, ihrer »Iden- tität mit der Empfindung< zum Trotz, die empfindungsloseste und darum ver- lässlichste Helferin. Glücklicher Weise hat Rogßert MAyErr das Wärmeägquiva- lent schon entdeckt; denn solang Sätze wie: >Die Welt als Bewegung, als Mechanismus, ist zeitlos«s, — (S. 196) in Geltung sind, wäre an eine Richtig- stellung des Kraftbegriffsnicht züdenken. Alle Achtung für Noıx’s Phantasie und Combinationsgabe; aber bei der aufrichtigsten Anerkennung des Fort- schritts, der in dem Gedanken liegt, die Entstehung der Sprache aus der Thätigkeit des Menschen zu erklären, in der Zurückführung der Ana- lyse auf. das Graben und der Synthese auf das Flechten (S. 234) vermögen wir etwas gar so überraschendes nicht zu erblicken. Schon der alte CoNDILLAC leitet die Begriffswörter vom mensch- lichen Thun z. B. die Analyse vom Zerlegen ab. In seiner Logik (Paris 1780), also vor hundert Jahren, beruft Litteratur und Kritik. er sich dabei auf die kleinsten Schneide- rinnen — jusqu’aux plus petites cou- turieres — und sagt: »Wenn ihr ihnen ein Kleid von besonderer Form gebt, damit sie ein ähnliches anfertigen, so kommen sie naturgemäss auf den Ge- danken, das Modell zu zertrennen und von Neuem zu machen, um zu er- fahren, wie sie das bestellte Kleid zu Stande bringen; sie wissen daher um die Analyse so gut wie die Philoso- phen« (a. a. O. 8. 23). Vielleicht ist es nur eine Schwäche unserseits, dass wir Sätze wie: »Das Unendliche ist uferlos, darum unerreich- bar«, — (S. 332) weit eher in einem Roman, denn in einer erkenntnisstheo- retischen Schrift am Platz finden. Und was das Werkzeug anbelangt, so können wir nicht umhin anzumerken, dass seine ganze Bedeutung für die Menschwerdung schon vor zwanzigJahren von M. Lazarus (Ueber den Ursprung der Sitten) mit den Worten: »Der In- stinkt schliesst das Werkzeug aus,« — erkannt worden ist. Dass neben der Sprache und dem Werkzeug die Benützung des Feuers das wichtigste Moment ist bei der Ent- wickelung des Menschen, wird längst nicht mehr bestritten. Das besondere Gewicht, das im vorliegenden Buche darauf gelegt wird, hängt mit einer Auf- fassung der Religion zusammen, der zu Folge diese letztere jenen drei Mo- menten, sowohl als den Menschen vom Thiere unterscheidend, als auch seine volle Entwickelung ermöglichend, an- gereiht wird. Diese Darstellung, zu welcher die Werke LaAzar GEkIGER’S, Lupwıs Noırk’s und Max Müuter’s in reichlichstem Maasse benützt sind, bildet den Kern des vorliegenden Wer- kes, und die Innigkeit, mit welcher der geehrte Verfasser dieser Richtung folgt, sagt uns unverkennbar, dass er, dem Standpunkt der Preisausschreibung ge- mäss, in der glücklichen Lösung dieser Frage die Rettung des Monismus 307 erblickt. Diese Richtung ist übrigens seit HERBERT Spencer’s Vorgehen häu- figer betreten worden, und die Anschau- ung, nach welcher die Religion der blos- sen Furcht einerseits, der blossen Schlechtigkeit anderseits entsprungen wäre, kann als abgethan betrachtet werden. Niemand ist heute noch so befangen, den Nutzen des Glaubens in allen Fällen, in welchen das Wissen mangelt, zu verkennen; dafür nimmt aber auch die Unbefangenheit zu, wel- che ein offenes Auge hat für die Schäd- lichkeit des nur zu leicht in den Aber- glauben umschlagenden Glaubens, und der dem kirchlichen Priesterthum ver- fallenden Religion. Allein selbst abge- sehen von diesen Schattenseiten könnten wir, die Fortentwickelung des Menschen betreffend, die Religion nicht höher stellen, als die Kunst, und am aller- wenigsten den Glauben unter die Haupt- merkmale aufnehmen, die den Menschen vom Thier unterscheiden; wir müssten denn die Sache vom verkehrten Stand- punkt anpacken und sagen, dass dem Thiere nur der Glaube beschert sei. Wir scherzen nicht, und empfehlen viel- mehr dem gütigen Leser die leider et- was zu weitläufige und schwerfällige, aber unstreitig geniale Schrift: Mythus und Wissenschaft von Tıro Vıenouı, (Leipzig, Brockhaus, 1880), welche den Ursprung des Mythus und von allem, was drum und dran hängt, aufdeckt in der auch den Thieren eigenen Neig- ung, alles, was aus nicht offen zu Tag liegenden Ursachen sich bewegt, als lebendig aufzufassen, und mit den Eigen- schaften des eigenen Wesens auszu- statten. Das ist ein fortschrittlicher Entwickelungsgedanke für unsere Er- kenntniss; während es in neuester Zeit Entwickelungen giebt, die zu alten Ver- wickelungen zurückzuführen drohen. Im vorliegenden Werke wird die Entdeckung des Feuers der Religion vindieirt. Allerdings liessen die Griechen Prometheus zum Himmel steigen, um 20 * 308 dort das Feuer zu rauben, und wir be- streiten nicht die etymologische Ver- wandtschaft seines Namens mit dem, Pramatha genannten, senkrechten Stab eines Bohrers, dessen Rad mit einer Schnur rasch gedreht wurde; Prometheus war ein analytisch grübeln- der Bohrer. (S. 238 und 257.) Noch viel weniger könnten wir bestreiten, dass nach Art eines solchen Bohrers das älteste Feuerzeug construirt ge- wesen sei. Und der die heut zu Tage noch in weitesten Kreisen geübte, rein mechanische Andacht kennt, wird ohne Schwierigkeit sich vorstellen können, dass vor Zeiten die Andacht in hohem Grade gefördert wurde, wenn das Haken- kreuz — indisch Svastika oder Arani — mit einer jenem Bohrer ähn- lichen Vorrichtung. in rasche Umdreh- ung versetzt wurde, und den Gläubigen die um einen heiligen Mittelpunkt sich bewegenden vier Weltgegenden versinn- lichte. Möglich ist es ja, dass bei einer solchen Gelegenheit durch den Eifer der fort und fort bewerkstelligten Drehung »zum ersten Mal der Gott Agni aus dem Holze hervorgesprungen, und mit Andacht und Inbrunst begrüsst worden seic. — (S. 263.) Aber der geehrte Verfasser wird uns schon die Gottlosigkeit verzeihen, wenn wir es viel wahrscheinlicher finden, dass dieses glückliche Ereigniss bei einer ganz ge- meinen Arbeit in einer primitiven Werk- stätte eingetreten sei, wobei die mög- lichst rasche Drehung des Bohrers keine fernliegende Erklärung heischt, und dass, wie in so vielen andern Fällen, das Priesterthum erst hinterdrein der Sache sich bemächtigt habe. Vielleicht viele Jahrhunderte nach seiner Entdeckung ist das Feuer zu etwas Heiligem er- hoben, im geheimnissvollen Grau der darüber hingeflossenen Zeit mythisch verherrlicht, und die Weise seiner Ent- deckung unter die kirchlichen Gebräuche aufgenommen worden. Doch das sind Nebensachen. Das Litteratur und Kritik. Wichtige an Reıcurnau’s Buch ist die religiöse Färbung, die dem Monismus verliehen wird. Um was es dabei sich handelt, ist die Befriedigung eines in- dividuellen Bedürfnisses, also um etwas, das in so unzählbaren Nüancirungen auftritt, als die menschliche Individua- lität. Vorschreiben lässt sich da nichts. Man hat nur zu fragen, ob die Auf- fassung des Gemüths eine solche ist, die mit den Forderungen der Wissen- schaft in Widerspruch steht, und so lang dies nicht der Fall ist, kann man nur erfreut sein über die mit der neuen Auffassung gebotene Möglichkeit, den Kreis der Anhänger der Entwickelungs- lehre zu erweitern. In dieser Beziehung wird auch jeder, dem es Ernst ist mit der Verbreitung des Monismus, das. vorliegende Werk mit aufrichtiger Freude begrüssen. Es ist zwar etwas kühn, dar- um, weil der Sprachgebrauch uns ge- stattet, für Religiosität auch Religion zu sagen, die blosse Religiosität schlecht- weg Religion zu nennen; denn eigent- liche Religion ohne Gott ist ein Un- ding. Allein durch die Entstehung der Religion, wie sie uns hier aus »dem geistigen Drängen unter dem Druck des Unendlichen< (S. 288) er- klärt wird, modificirt von selbst sich der Begriff, und hört für den, der ver- stehen will, das Wort Max Mürner’s: »die Religion erreichte ihre letzte und höchste Stufe, den Atheismus«s, — (S. 313) vollständig auf, paradox zu sein. An der Hand dieses durch seine edle Begeisterung so fesselnden Ge- lehrten werden wir in die tiefsten My- sterien der indischen Dichterphilosophen eingeweiht, und unmerklich in das Reich der christlichen Liebe übergeführt. Aus der Asche des Einzelmenschen erhebt sich wie ein Phönix das erhabenste Bild der Menschlichkeit. Dass jene Denker fern vom Gewühle des Marktes Ideen ausdenken konnten, »zu welchen bei anderen Völkern kaum die ersten Anläufe sich gebildet haben«, — (8. 321) Litteratur und Kritik. ist Eine jener Hyperbeln, die so leicht jenen entschlüpfen, die allzu tief mit einem Specialstudium sich beschäftigen. Sie hindert uns nicht, festzuhalten an der Unterscheidung zwischen Glaube und Wissen, die zwar beide durch dieselben Organe zu Stande kommen, wovon aber jener mit Annahmen sich begnügt, dieses Erfahrungen fordert. Sie hindert uns nicht, Srinoza’s Fröm- migkeit, als die klare Harmonie seiner Lehre mit seiner Individualität, weit über die im Grunde doch trübe Verschmelzung zu stellen, zu der die Visve Devas im Pragäpati mit dem bis zur Unbewusstheit sich concentri- renden Inder verfliessen, um sich zu erheben zu einem: »Hier ist das Ende der Erkenntniss ; das höchste Ziel, Brah- man; Dies ist Das« (S. 329). Wir glauben nicht, dass wir eines so weiten Fluges bedürfen, um die Identität als den Sinn des monistischen Gedankens menschlich fassbar wiederzugeben. Wir glauben nicht, dass es eine mangelhafte Organisirung ist, die in der buddhisti- schen Einfassung das Unendliche erst recht uns erscheinen lässt als eine Last, unter der das Menschenherz vernichtet zusammenbricht; denn das Ideal des Inders ist Vernichtung. Unser Ideal ist das Leben. Leider befinden wir uns auch anlangend den Begriff des Lebens in Widerspruch mit einer jetzt sehr verbreiteten Anschauung, der alles als belebt und empfindend gilt, und die, wie es in dem vorliegenden Werke der Fall ist, der gesammten Natur bis hinab zum Atom Dunkelbewusstsein und Urwillen zuschreibt. Damit wer- den die wichtigsten Probleme umgan- gen, und daran wird nichts dadurch geändert, dass man die Sache als eine Lösung ausgiebt. Wir haben in jüng- ster Zeit an Hugo Spitzer (Ueber Ur- sprung und Bedeutung des Hylozoismus, Graz 1881) einen sehr werthvollen Bundesgenossen gefunden, der in einer ebenso gelehrten als von ächt kritischem 309 Geiste dietirten Studie die dem wohl- verstandenen Materialismus widerspre- chenden Durchgeistigungen des Stoffs, von den ältesten bis zu den neuesten Tagen, schonungslos aufdeckt. Allein darüber ist eben Streit, und diesen aufzunehmen, ist die Besprechung des vorliegenden Werkes nicht der Ort. Worüber jedoch heute noch Streit ist, und nicht sein sollte, ist eine andere Frage, und diese wollen wir zum Schluss kurz, aber klar zur Sprache bringen. SCHOPENHAUER, GEIGER, MÜLLER, Noır& haben die Grundsteine geliefert zu dem monistischen Dom, der, wir läugnen es nicht, einen erhabenen Ein- druck macht. Wenn wir nun auch die Aechtheit des Materials annehmen, mit anderen Worten zugeben, es sei der Standpunkt ein berechtigter, der das Atom mit Bewusstsein und Willen aus- stattet; niemals könnten wir zugeben, dass die auf diesem Standpunkt ge- wonnenen Consequenzen in Einklang stehen mit den Forderungen des Dar- diese Con- winismus. Welche sind sequenzen? Wir brauchen sie nicht erst selber zu ziehen; der geehrte Verfasser überhebt uns dieser Mühe. Wie die ominöse Form der Preisaus- schreibung, die nach einer Weltan- schauung >der Zukunft« verlangt, nicht ohne Grund an Zukunftsmusik gemahnt, gerathen wir ganz einfach in einen Darwinismus mit Leitmotiv. Die dreigliedrige Doppelnatur der Cau- salität Norke’s führt zu der ganz un- verblümten Erklärung, es sei »ein grosser Irrwahn, die reiche, vielge- staltige Schöpfung aus einer objec- tiven Nöthigung herleiten zu wollen« (S. 209). Allerdings wird auf derselben Seite als das Zweite neben dieser Nö- thigung uns nur genannt »die schmale aber fest vorgezeichnete Spur des Zusammenhanges der Formen«. Allein wer zeichnet diese Spur vor? Und ist sie, wie die individuelle Selbständigkeit, auch nur das Resultat objeetiver Nö- 310 thigung, so bleibt’s bei dem Irrwahn. Dieser Irrwahn aber, zu dem wir, wie zu einer einzigen Causalität, un- verbesserlich uns bekennen, ist der lautere Darwinismus. Gewiss führt er nicht zu einer so stolzen Höhe des Wissens, auf der es ihm gestattet wäre auszurufen: »Das Leitmotiv aber ist und bleibt das Emporstreben zu stets höherer Freiheit, Macht und zu stets hellerer Bewusstheit« (S. 210). Der Darwinismus kenntweder eine Zweck- mässigkeit noch eine Zielstrebig- keit oder verkappte Zweckmässigkeit in der Natur; und dass er ohne sie den Fortschritt in der Entwickelung erklärt, ist das Wesentliche an ihm, über das man nicht hinausschreiten kann, ohne über ihn hinwegzuschreiten. Die Verbesserer Darwın’s mögen ja Recht haben. Vielleicht finden sie eines Tages — sie haben schon soviel ge- funden! — auch den Compositeur dieses Leitmotivs; aber Darwinianer sich zu nennen, haben sie kein Recht. Mehr behaupten wir nicht. Darwın ist es niemals eingefallen, alles erklären zu wollen. Thatsachen hat er gebracht, welche in durchschlagender Weise die Descendenzlehre bekräftigen. Wie die Anhänger LAmarcK’s ohne diese That- sachen, ohne eine Ahnung vom Wie festhielten an ihrer Ueberzeugung vom Dass, bis endlich durch Darwın das Wie offenbar wurde: so werden die Anhänger Darwın’s an dem neuen Dass festhalten, bis die Naturforschung ein weiteres Wie aufdeckt. Das sind nicht Fragen, welche durch philoso- phische Speculationen gelöst wer- den können. Damit machen wir aber dem Verfasser des vorliegenden Werkes keinen Vorwurf. Er hat nur gesammelt und zu einem Bilde vereint, was heute als tonangebende Philosophie betrachtet werden kann; und der sein reizendes Buch aufmerksam liest, wird viel ler- nen, — Litteratur und Kritik. II. Der Optimismus als Weltan- schauung und seine religiös- ethische Bedeutung für die Gegenwart von Jurıus Dusoc. Bonn 1881. 8°. S. VII und 399. Aus diesem Buche tritt uns ein phi- losophisch feingebildeter Geist entgegen, dem es mit dem Monismus ernst ist, für den es keinerlei Jenseits gibt, und dessen ganzes Streben dahin gerichtet ist, eine Weltanschauung zu begründen, die dem unvertilgbaren religiösen Be- dürfniss eines weicheren Gemüthes für den entschwundenen Gott Ersatz bietet. Die vier Theile, in welche das Werk zerfällt: I. Die Erschütterung des Jen- seits, II. der Sinn des Seins im Opti- mismus, IH. die Preisgebung des In- dividuums im Weltprocess, IV. der Op- timismus und das Gewissen, — bezeich- nen klar den Gedankengang, der den Optimismus als die allein berech- tigte Weltanschauung erweisen, und da- durch den Pessimismus auf immer aus dem Felde schlagen soll. Die Be- kämpfung dieses letztern ist unserer Ansicht nach unter allen Umständen eine sehr verdienstliche. Eine andere Frage ist es, ob dies von der entgegen- gesetzten, optimistischen Seite aus mit Erfolg geschehen kann ? Allerdings ist der Optimismus, wie der geehrte Verfasser sich ihn zurecht legt, nicht der gemeine, leichtlebige, mit dem je- weiligen Stand der Dinge zufriedene. Er bezieht sich mehr auf die Verhältnisse der Welt im Grossen, welche unschwer als die allerbeste sich darstellen lässt, wenn dabei die Leiden des dem Welt- process preisgegebenen Individuums nach dem Beispiele Leısnız’ abgefertigt werden. Die Preisgebung des Indivi- duums fasst aber Dusoc viel zu po- sitiv auf, als dass sie nicht ihre Schatten auch über die fortwährende Vervollkommnung des grossen Welt- ganzen werfen müsste. Sehen wir uns den Satz: >»Das Litteratur und Kritik. Sehnen nach Welterlösung durch Welt- vernichtung ist an sich hochberechtigt, aber es ist aussichtslos« (S. 132), ge- nauer an, so reicht er trotz aller im Uebrigen meisterhaften Bekämpfung dem Pessimismus HArrmann’s geradezu die Hand. Es spricht dies übrigens weit mehr, als es ein eigentlicher Optimis- mus vermöchte, zu Gunsten des Ver- fassers. Wie der eigentliche Pessimis- mus, ist auch der eigentliche Optimis- mus eine extreme Richtung. Wer Einem dieser beiden Extreme verfällt, mag noch so gelehrt und geistreich sein; ein eigentlicher Philosoph ist er nicht. Das Ziel der Philosophie ist die Wahr- heit, und dieser nähert man sich nur, wenn man zwischen den Extremen die richtige Mitte einhält. Sicherlich be- ruht die Neigung zu einer extremen Beurtheilung des Menschenlebens in er- ster Linie auf der individuellen Or- ganisirung. “Allein insofern der Ein- druck, den die Dinge und Ereignisse auf uns machen, modificirt werden kann durch die Weise unseres Denkens, ist eine Macht des Denkens thatsächlich vorhanden. Verfügt Einer über diese Macht nicht, so dass er die auf ihn einwirkenden Erscheinungen nach keiner Richtung hin beherrscht, sei es dann in Folge der einseitigen Entwickelung seines Denkens, oder einer besonders ungünstigen Beschaffenheit seiner Ner- ven und Säfte: woher soll er das Zeug zu einem Philosophen nehmen ? Dusoc’s Optimismus beruht darauf, dass er alles vom Standpunkt der ewigen Vervollkommnung des Weltganzen betrachtet. Dieser Standpunkt, auf dessen Berechtigung einzugehen, uns hier zu weit führen würde, scheint uns ein Bisschen zu hoch. Unserer Erde vindieirt er keine Unend- lichkeit, und deren Bewohner haben blutwenig von einer universellen Ver- vollkommnung; an der sie nicht als In- dividuen theilnehmen. Wir legen einen Werth auf Duzoo’s Grundgedanken, und 311 zwar wegen der Selbstlosigkeit, die aus ihm spricht; jedoch es fehlt uns — wir bekennen es offen — die »unerläss- liche Religiosität«, um so hoch diesen Werth zu greifen, dass er zum Cardinalpunkt einer Weltanschauung dienen könnte. Dusoc polemisirt gegen Max Mürter betreff’s dessen »Druck des Unendlichen« (S. 76), unter dem’ wir REICHEnAU so tiefreligiös erbeben sahen. Seine Bemerkungen sind rich- tig, aber sein Premiren des »>Unsicht- baren, Uebersinnlichen, Ueber- natürlichen, Göttlichen, Abso- luten« (S. 84), das heisst dessen, was das Verständniss des Menschen überragt, das Geheimnissvolle wirft ein zweifelhaftes Licht auf seinen Mo- nismus, wie auf seine entgötterte Na- tur, ohne uns um einen einzigen Schritt weiter zu bringen. Wir stehen immer vor dem Unendlichen, wie beim Anblick des sub specie aeterni, das als erstes Motto seinem Buch an die Stirne geschrieben ist. Wie das Unendliche, ist auch das Ewige nur begrifflich zu erfassen; kann Einer das nicht, so wird er davon erfasst, denn Vorstellung gibt's dafür keine, höchstens, und darin stim- men wir dem geehrten Verfasser unbe- dingt bei, ein religiöses Gefühl. Es ist aber nicht die befriedigende Klar- heit eines positiv abgeschlossenen Glau- bens, es ist eine bange, dumpfe Schwüle, die bei diesem ewigen Zurückführen auf das Ewige uns überkommt. Gar nichts hat ein Ende: wie jeder Eindruck un- auslöschlich, ist jede Empfindungs- schwingung unvertilgbar ; wenngleich in andere DBewegungsformen sich um- setzend, sie pflanzt sich als dieselbe Kraft fort in’s Unendliche. Damit hat es seine volle Richtigkeit, und wir wollen zugeben, dass eine gewisse Befriedigung darin liegt. Kein Gefühl geht verloren ; alles was wir denken, ist auf ewig ge- dacht, — freilich auch das Dümmste, in welchem Falle das verpönte sub specie hodierni der günstigere Ge- 312 sichtspunkt wäre. Damit soll nicht diesem das Wort geredet sein. Viel- leicht genügt diese lächerliche Wen- dung, um zu zeigen, dass wir einfach mit einem Extrem es zu thun haben, dessen Geneigtheit, ins Gegentheil um- zuschlagen, seine Berechtigung eine Weltanschauung zu begründen, zu einer :sehr zweifelhaften gestaltet. Der rich- tige Standpunkt einer Weltbetrachtung liegt nach unserem Dafürhalten in dem keineswegs nichtigen, sondern festfass- lichen sub specie rei. Wir haben die Dinge zu nehmen, wie sie für uns sind, und bei der Behandlung des Le- bens der Menschheit nicht anders vor- zugehen, denn bei der Behandlung un- seres Einzellebens. Im Bereich des Endlichen finden wir für unsere Mit- menschen , wie für uns selbst, Arbeit vollauf, und in dieser Arbeit mehr Trost, als in der Betrachtung des Unendlichen, Dusoc’s Buch ist übrigens sehr reich an wundervollen Stellen und Citaten ; und um zu zeigen, wie glücklich er bei der Wahl und Anwendung der letzteren ist, heben wir die Verse aus SCHILLER’S Maria Stuart (S. 161) hervor. Die Auf- fassung allgemein menschlicher Verhält- nisse ist eine von ächtem Seelenadel getragene, und über Affecte wird eben so anregend als belehrend gesprochen, wenn auch über Manches, z. B. über seine Erklärung des Gewissens und die betreffende Polemik mit FruEsrBAcH sehr ernstlich zu rechten wäre (S. 319 bis 324). Auffallend ist bei einer opti- mistischen Weltanschauung der gänz- liche Mangel an Lebensfrische. Der Ver- fasser beschäftigt sich viel zu sehr mit dem Tode, welchem er, nachdem er durch viele Seiten über ihn gesprochen, noch (8. 301 ff.) ein ganzes Kapitel widmet. Den Stachel nimmt er ihm, aber die Wunde brennt nach wie vor. Der Tod hat eben neben seiner Licht- seite — ewig zu leben, wäre ja ent- setzlich — auch seine Schattenseite, die sich nicht wegraisonniren lässt, zu- Litteratur und Kritik. mal für den, dessen Leben andern noch nothwendig wäre. Da ist nicht zu hel- fen. Jeder verständige Mensch bestellt sein Haus bei Zeiten, um nicht etwa im letzten Moment seine Schuldigkeit zu thun verhindert zu sein, und denkt nicht weiter dran. Die grösste Thor- heit ist es, auf den Tod sich vorzu- bereiten. Erstens trifft’s jeder ohne Vorbereitung ; zweitens macht uns die Beschäftigung mit dem Tode zum Le- ben untüchtig. Selbst der berufsmässig in den Tod geht, der Krieger, wird nichts Grosses leisten, wenn er im Gewühl des Kampfes an’s Sterben denkt, an- statt an den Ruhm des Lebens. Man kann nicht läugnen, dass der Unsterb- lichkeitsglaube neben seinen Schatten- seiten auch seine Lichtseite hat, und es ist die grösste Barbarei, diesen Glau- ben dem zu rauben, den er glücklich macht. Dusoc fehlt dieser Glaube, aber nicht die Sehnsucht nach »Weltver- nunft« (S. 159), und vielleicht ist es diese Sehnsucht, die ihn bei jedem An- lass drängt, das Reich der Empfindung und des Lebens bis über die Grenzen des Begriffs der blossen Materie aus- zudehnen. (S. 384 Anm.) Es scheint dies, wie wir auch aus REICHENAU’s monistischer Philosophie ersehen, die Begründung einer religiösen Welt- anschauung ohne Gott wesentlich zu erleichtern. Wer Duroc bis auf den Grund der Seele blicken will, braucht nur die Worte über den Anhang des Werkes aufmerksam zu lesen. Der eigenthümliche Eindruck, den auf ihn FscHhner’s unerschütterlicher Gottes- glaube macht, erklärt zur Genüge, wie sehr eine solche Natur eines Halts be- darf, der weit über die Grenzen des Einzellebens hinausreicht. Auf dem ethischen Gebiete, das übrigens in dem vorliegenden Werke nicht viel mehr als gestreift wird, hul- digt Duroc einer eudaimpnistischen An- schauung, die an HurcHzson’s Wohl- wollen als Gravitation ($. 228) erinnert, Litteratur und Kritik, 313 und bedauern lässt, dass er nicht inni- ger in diesen Theil seiner Lebens- betrachtung sich vertieft hat. Das Ge- fühl, für die Seinen und die Mensch- heit gelebt zu haben, kann auch als Religion empfunden und aufgefasst werden, nämlich in dem Sinn, in wel- chem alles leidenschaftlich Erfasste uns zur Religion wird. Dieses Gefühl hätte ein Gemüth wie das seinige vielleicht abgehalten, fort und fort auf das »un- absehbare, hehre Geheimniss« zurückzukommen, das schliesslich zur Axe wird, um die seine Religiosität sich dreht. Die Bezeichnung Religion ist uns unwesentlich, und solang kein Sinn damit verbunden wird, der dem mo- nistischen Grundgedanken widerstreitet, haben wir schon viel zu oft und tief in die Falten des Menschenherzens ge- schaut, um nicht längst alle Starrheit des Verständnisses abgelegt zu haben. Allein dieses »hehre Geheimniss« geht uns zu weit. Damit ist mehr ge- sagt, als derjenige sagen darf, der nicht der Fahne des Glaubens folgt. Wir wissen sehr wenig und in Hinblick auf das, was es noch zu wissen gibt, un- endlich wenig; aber was wir wissen, ist für uns ebenso unendlich werthvoll. Wir schätzen das, was wir wissen, nicht nach seinem vollen Werth, wenn wir von dem, was wir nicht wissen, mehr aussagen, als dass wir es nicht wissen. Der Werth dessen, was wir wissen, liegt darin, von dem Glaubenan das Ge- heimnissvolle uns befreit zu haben. Es wäre der schlimmste Rückschritt, wollten wir auf diesen Standpunkt zu- rückkehren. Der Ausdruck Geheim- niss hat eine Nebenbedeutung, auf die das Epitheton hehr den Accent legt, gleichsam den Schleier des Bildes lüf- tend. Es lüftet ihn aber nicht, und lässt uns nur den Eindruck empfangen, dass etwas ganz ausserordentliches da- hinter, und nicht das Wissen der Weg sei, es zu erkennen. Diese Art Welt- weisheit mag zu den hehrsten Resul- taten führen, und ein Gemüth beruhigen, das sonst durch nichts zu beruhigen wäre, es kann ja sein; aber Eines kann nicht sein: die Wahrheit dabei gewinne, Wildhaus, 4. dass August 1881. B. CARnERı, Ein Wissen für einen Glauben. Naturstudien den Zweifelnden zur Beruhigung vorgelegt von Dr. J. Huın- RICH SCHMICK, Professor, Zweite Aus- gabe. Leipzig, 1881. Carl Meissner. Bei zufälligem Durchblättern der Nr. 29 des laufenden Jahrgangs der Wochenschrift »Daheim« frappirte mich jüngst ein Artikel durch die Ueber- schrift: »Der naturwissenschaftliche Un- sterblichkeitsbeweis. Von Prof. Dr. ©, ZÖCKLER.« »Wie?«s fragte ich mich er- staunt, »hat denn der gelehrte Professor der Theologie, der streitbare Redakteur »Boweis des Glaubens« einen Be- weis für die Unsterblichkeit der Seele entdeckt? und noch dazu einen na- turwissenschaftlichen Beweis?« Indess schwand dies Erstaunen sehr bald, als ich bei näherer Einsichtnahme des Auf- satzes mich davon überzeugte, dass es sich hier nicht um eine originale Leist- ung des berühmten Greifswalder 'Theo- logen, sondern nur um ein wohlwollendes Referat über die genannte Schrift handelt. In dem Referat liest man unter Andrem: »Mit einer inter- essanten Reihe physischer und physio- logischer, dem Naturleben des Menschen entnommener Argumente für die Seelen- fortdauer macht uns der durch ver- schiedene tüchtige, theilweise bedeutende Leistungen auf geologischem und astro- nomischem Gebiete bekannte Naturfor- scher Prof. J. H. Sonmior in Cöln be- kannt. »..... Als Beruhigungsmittel verdient der Inhalt dieses Büchleins in der That empfohlen zu werden, Die Be- ruhigung, die es gewährt, ist zugleich heilsame Stärkung.« Prof. Sunmick war des eingangs 314 mir bisher hauptsächlich nur dadurch bekannt, dass er in dem letzten De- cennium die mir nahestehende Monats- schrift »Gäa« des Oefteren zur Arena machte für einen gelehrten Streit um die von ihm aufgestellte, vielfach ange- fochtene » Theorie dersäkularen Schwank- ungen des Seespiegels«e. Was Wunder, wenn mich eine gewisse Neugierde über- kam, des Näheren zu erfahren, was denn der College von der »Gäa« Alles zur hochwichtigen Frage der persön- lichen Fortdauer nach dem Tode vor- zubringen weiss. Diese Neugierde wurde nicht zum Wenigsten genährt durch die Absonderlichkeit einiger von Prof. Zöck- LER referirend aufgeführter » Argumente«. Nach etlichen Tagen lag die Schrift vor mir. Ich habe dieselbe sine ira et studio mit grosser Aufmerksamkeit ge- lesen und bereue es durchaus nicht, sie gelesen zu haben. Bei der Lectüre der in klarem, edlem Style gehaltenen Ar- beit wird man unwillkürlich angenehm berührt von dem Fehlen jeder ver- letzenden Polemik gegen Andersdenkende und der Wärme der Ueberzeugung, die uns aus jeder Seite entgegenweht. Wenn es in der Vorrede heisst: »Die ange- stellten Untersuchungen und Betracht- ungen hatten für den Verfasser voll- kommen den gehofften Erfolg; seine Zweifel wurden gänzlich zerstreut, so glaube ich dies dem Autor auf sein Wort, ebenso »dass Leser des Büch- leins aus den verschiedensten Klassen der Gesellschaft sich gedrungen gefühlt haben, dem Verfasser mündlich und schriftlich, mitunter in bewegten Worten, ihren Dank auszusprechen»Dass es in unserem Körper eine Substanz (die Seele) geben müsse, die nicht ausgedehnt, nicht zusammen- gesetzt, sondern einfach ist, eine Vor- stellungskraft hat und alle unsere Be- griffe, Begierden und Meinungen in sich vereinigt« ist mit nichten von ihm erbracht worden. Schmick will einzig und allein vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus auf dem Wege der Empirie, der Erfahrung das Vorhanden- sein einer »Seele« darthun; und man muss bekennen, dass er mit dem red- lichsten Bemühen seine Aufgabe zu lö- sen versucht hat. Aber hat er sie ge- löst? Ebenso wenig, als seine philo- Keine der un- 316 läugbaren Thatsache des menschlichen Selbstbewusstseins entnommenen Argu- mente zwingen in irgend einer Weise zu der Annahme einer vomKörper unabhäng- igen Seele und noch dazu einer »imma- teriellen« Seele. Wenn er sagt: »das bei den Sinnenthätigkeiten betheiligte Materielle ist lediglich Apparat, und das Wahrnehmende im Menschen steht ausserhalb dieses Apparates, weil es frei über denselben verfügt, so lässt sich einfach darauf antworten: dass nach den übereinstimmenden Er- gebnissen der physiologischen Forschung der Sitz des »Wahrnehmenden« nur innerhalb der Rinde der Grosshirn- hemisphären, also innerhalb eines Ma- teriellen, sein kann. — Auf den er- sten Blick schwerwiegend tritt uns der Satz entgegen: »Der Mensch erscheint als eine Zweiheit durch die Unwandelbar- keit seines intellektuellen Besitzes bei wechselnder Bewegung der Materie.« In- dess ergiebt eine nähere Ueberlegung das Unhaltbare auch dieses »Beweises«. Im Gehirn, der unbestreitbaren Werkstätte aller »geistigen« Thätigkeiten, findet, wie in den übrigen Organen des mensch- lichen Körpers, ein ununterbrochener Stoffwechsel statt, verbrauchte Materie wird durch den Blutstrom abgeführt, neue zugeführt. So muss das Gehirn, mit Bezug auf die es constituirenden Elemente, fortwährend sich erneuern, mit der Zeit ein anderes werden. Dess- halb könnte — so schliesst Schmick — das Selbstbewusstsein, das Erinnerungs- vermögen, kurzum das »Ich« unmöglich das nämliche bleiben, wenn nicht im Gehirn ein unveränderliches Etwas be- stände, was von jenem Wechsel nicht berührt wird. Hierbei übersieht Schuick, dass bei der Funktionirung eines Or- gans das Morphologische, der Bau des Organs die dominirende Rolle spielt. Mag in einem bestimmten Gehirn der Stoff immerhin wechseln, die Anordnung der Theile, der Bau wird in concreto derselbe bleiben und damit ist auch Litteratur und Kritik. für das betreffende Individuum die Con- tinuität des Selbstbewusstseins, der >in- tellektuelle Besitz« gesichert. — Wenn der rückenmarks-, nicht gehirnkranke Dichter Hermkrıch Heise als »frappan- ter Beleg für die Doppelheit des Menschen nach Materie und Nicht- materie« aus dem Grunde hingestellt wird, weil er noch in der letzten Zeit seines Lebens »lebhaft, humoristisch, witzig und als Dichter erfolgreich thä- tig war«, so bedarf es nur eines ge- ringen Nachdenkens, um einzusehen, was von der Beweiskraft solcher »Gründe« zu halten ist. Nicht besser steht es um die Behauptung, >dass sich der Mensch in den Erscheinungen vor, im und nach dem Tode als Doppelwesen offen- bart.« Jene Erscheinungen lassen eine ganz andere Deutung zu. Ueberdies entspricht die von ScHMIcK gegebene Schilderung derselben nicht immer der Wirklichkeit. So liest man z. B., »dass jede Art Wahnsinn in allen Fällen dicht vor der Auflösung schwindet und ein normaler Gang des Denkens das Leben schliesst«. Dies ist nicht richtig. Mir selbst sind aus meiner ärztlichen Praxis Fälle bekannt, wo Narren Nar- ren blieben bis zum letzten Athemzuge. Ueberhaupt sind manche »Thatsachen«, auf welche Schumick seine Argumentatio- nen basirt, nicht über jeden Zweifel erhaben. Hier noch einige Proben! »Man findet, dass Jeder auf der näm- lichen Seite am besten sieht und hört, entweder mit rechtem Auge und Ohre, oder mit beiden linken Sinneswerk- zeugen am feinsten wahrnimmt.« An mir selbst kann ich gerade das Gegentheil constatiren. >Kurze, dünne Figuren sind ausnahmslos mit Energie des Charak- ters, des Sprechens und Handelns, mit Witz, sogar mit grossen Talenten ver- bunden. Lange, namentlich schwere Gestalten sind ebenso fast durchgängig gekennzeichnet durch Schlaffheit des Wesens und oft unter dem Mittel steh- ende Begabung.« Hiergegen protesti- Litteratur und Kritik. ren aus dem Grabe Carl der Grosse, Peter der Grosse und noch sehr viele andere lange grosse Männer. Dass Fürst Bismarck mehr als Mindermaass hat und auch im nicht bildlichen Sinne als eine »gewichtige« Persönlichkeit gelten darf, ist männiglich bekannt. Indem ich hiermit der Schmick’schen Schrift Valet sage, kann ich nur wie- derholen, dass der »naturwissenschaft- liche Unsterblichkeitsbeweis« in ihr nichts weniger, als geführt ist. Trotz- dem möchte ich das Werkchen einem grösseren Leserkreise empfehlen; es ent- hält in fasslicher Form des Anregenden so viel, dass es der Beachtung wohl werth ist. Vermag es ausserdem noch min- der schwer zu überzeugenden Lesern, die in Gefahr sind mit ihrem Kirchen- glauben Schiffbruch zu leiden und der Aussicht auf ein »Jenseits« nicht ent- behren können, ein, wie ZÖCKLER sagt, »Mittel der Beruhigung und heilsamen Stärkung« zu werden, so darf man dem Verfasser dazu ja nur Glück wünchen. Dieser »Beruhigung und Stärkung« wird derjenige nicht bedürfen, welcher das Universum streng monistisch nicht als einen blinden Mechanismus, sondern als einen vernünftigen, selbstbe- wussten Organismus aufzufassen gelernt hat. Bei dieser die Begriffe Gott und Welt identificirenden An- schauung weiss er sich Eins mit sei- nem Gott, in dem er »lebt, webt und ist«, und die Schrecken des Todes ver- schwinden ihm vor dem erhebenden und versöhnenden Gedanken: dass das scheinbar Vergängliche unvergänglich fortbesteht in dem Einen, Unendlichen, Göttlichen, dem der Strom der flüch- tigen Erscheinungswelt entquillt, und in das er wieder zurückfliesst. Berleburg. Dr. A. VoELKEL. Zellbildung und Zelltheilung von Dr. EDUARD STRASSBURGER, Pro-. fessor an der Universität Jena. Dritte 317 völlig umgearbeitete Auflage. 392 S. in gr. 8. mit XIV Tafeln und 1 Holz- schnitt. Jena, Gustav Fischer (vorm. Fr. Mauke). Man kann wohl, ohne sich der geringsten Uebertreibung schuldig zu machen, das vorliegende Werk als ein Fundamentalwerk bezeichnen, dessen Studium Niemand vernachlässigen darf, der sich mit entwicklungsgeschichtlichen, physiologischen undhistologischenUnter- suchungen beschäftigen will. Denn die Zelle ist das Elementarorgan, aus dem sich jeder zusammengesetzte Organis- mus aufbaut und zusammensetzt, und jeder zusammengesetzte Organismus be- steht im Beginn seines individuellen Lebens aus einer derartigen einfachen Zelle. Wie ausserordentlich viel von dem Verfasser und von anderen Forschern in den letzten Jahren auf diesem Ge- biete Neues erarbeitet wurde, zeigt eine oberflächliche Vergleichung dieser dritten Auflage mitihren Vorgängerinnen. Ueber die Hauptresultate dieserneueren Forsch- ungen auf dem Gebiete der Zellbildungs- lehre haben wir im »Kosmos« (Bd. VIII, S. 204—210) ausführlich nach dem Vor- trage berichtet, welchen Prof. Srrass- BURGER darüber auf der Danziger Natur- forscher-Versammlung (1880) gehalten hat, und können daher hier auf dieses Referat verweisen. Die Anordnung des Materiales ist derartig, dass in dem ersten Theile (S. 1—231) die Beob- achtungen und Untersuchungen über die freie Zellbildung und Zelltheilung im Pflanzenreiche mitgetheilt werden. In dem zweiten Theile (S. 235— 317) sind sodann die Ergebnisse der Beobacht- ungen über Zellbildung und Zelltheilung im Thierreiche zusammengestellt worden, während der dritte Theil (S. 321—374) die allgemeinen Ergebnisse und Be- trachtungen enthält. Alle neueren Unter- suchungen haben fast übereinstimmend den Satz bestätigt, dass die Vorgänge der Zellbildung und Zelltheilung sich 318 in gleicher Weise im Thier- und Pflanzen- reiche abspielen. Auf eine Homologie dieser Vorgänge will der Verfasser daraus nicht schliessen; es sind Gestaltungs- vorgänge, die unabhängig von einander unzählige Male selbstständig entstanden sein mögen, sofern sie sich aus den Eigenschaften des Protoplasmas wie ein Krystallisationsvorgang unmittelbar er- gaben. Eine sehr interessante Frage be- rührt der Verfasser auf den letzten Seiten, nämlich die, ob sich verschie- dene freischwimmende Zellen gegen- seitig anziehen mögen. Bei seinen im Vereine mit Dr Barry (1877) ange- stellten Untersuchungen über eine be- kannte Mittelmeer-Alge (Acetabularia) hatte der Verfasser beobachtet, dass die Geschlechtszellen (Gameten) dieser Alge sich gegenseitig anziehen und so zur Copulation gelangen. Diese An- ziehung, welche sogar den Einfluss des Lichtes überwindet — dem sich die Sporen sonst entgegen bewegen — findet aber nur zwischen zwei aus verschiede- nen Sporangien stammenden Gameten statt, eine interessante Vorstufe der geschlechtlichen Vermischung! — und diese selbe Anziehung, welche ein merk- würdiges Gegenstück zu den physi- kalischen Anziehungen und Ferne- wirkungen (mit denen schon EMPEDOKLES die Liebe verglich) abgiebt, beobachtete 'FALKENBERG bald darauf bei einer andern Alge (Cutleria). Wurde dem Wasser, welches Spermatozoiden dieser Alge enthielt, ein befruchtungsfähiges Ei hinzugefügt, so hatten sich in wenigen Augenblicken sämmtliche Sper- matozoiden von allen Seiten her um dies eine Ei versammelt, selbst wenn dasselbe mehrere Öentimeter von der Hauptmasse der Spermatozoiden ent- fernt lag. Auch hier wurde die Wirk- ung des Lichtes durch die Anziehungs- kraft des Eies überwunden, und diese Anziehungskraft äusserte sich nur auf die Spermatozoiden derselben und nicht Litteratur und Kritik. mehr auf diejenigen verwandter Arten. Dies jedoch nebenbei, denn die Be- fruchtungsvorgänge im Allgemeinen musste der Verfasser wegen der Fülle seines Stoffes von der Betrachtung ausschliessen. Wir erwähnen zum Schlusse noch der wundervoll ausge- führten Tafeln, welche ein ungemein reiches Anschauungsmaterial bieten, und im Vereine mit der gediegenen typographischen Ausstattung dem Werke auch äusserlich den Charakter des Klassischen wahren. K. Allgemeine Zoologie oder Grund- gesetze des thierischen Baues und Lebens von Prof. Dr. H. ALEXANDER PAGENSTECHER. Vierter Theil. 959 Seiten in 8. mit 414 Holzschnitten. Berlin. Paul Parey, 1881. Ueber die drei ersten Bände dieses "umfassend angelegten Handbuchs haben wir früher eingehend berichtet. Es stellt eine wahre Schatzkammer dar sowohl für den studirenden als für den ar- beitenden und docirenden Zoologen, sofern darin mit möglichster Vollständig- keit die auf die einzelnen Körpertheile, Organe, Funktionen und Lebensverhält- nisse der Thiere bezüglichen Arbeiten in historischer Anordnung rekapitulirt werden, wobei die einzelnen Meinungen, sofern die Sache noch streitig ist, gegen einander gesetzt werden. Es ist dies unserer Ansicht nach die beste Methode, welche sich befolgen lässt, und das Werk wird auf diese Weise im Vereine mit einem ausführlichen systematischen Handbuche, wenn es vollendet sein wird, eine ganze zoologische Bibliothek ersetzen können, zumal auch die Ent- wickelungsgeschichte eingehende Berück- sichtigung erfährt. Der neue Band be- handelt die Organe der Harnausschei- dung und die äusseren Bedeckungen der Thiere und bringt damit die Darstellung der Organe des vegetativen Lebens zu Litteratur und Kritik. Ende, da Nahrungsaufnahme, Verdauung, Blutumlauf und Athmung in den vor- hergehenden Bänden behandelt worden waren. Die Behandlung geht in allen diesen Abtheilungen stets nach der ver- gleichenden Methode von den niederen Thieren zu den höheren, womit unter- stützt durch zahlreiche Abbildungen nicht nur eine ungemeine Klarheit, sondern auch eine leichte Uebersicht- lichkeit und ein Zurechtfinden ohne Register ermöglicht wird. Mit der Dar- stellung der Harnausscheidung in den verschiedenen Abtheilungen hat der Ver- fasser die Bearbeitung der Phosphores- cenz-Erscheinungen verbunden, weil die Absonderung des Leuchtstoffes bei dem Johanniswürmchen und vielleicht noch bei manchen anderen Thieren mit der Bildung von Harnsäure vergesellschaftet auftritt und möglicherweise bei niederen Meeresthieren im Allgemeinen die Harn- bildung begleitet. Die Zusammenstel- lung der beiden Funktionen erscheint etwas gewagt, beeinflusst aber die Dar- stellung nicht weiter. Während die Betrachtung der Harnausscheidung und Phosphorescenz 170 Seiten umfasst, nimmt die Darstellung der äusseren Bedeckungen beinahe 800 Seiten in Anspruch. Es ist dies nicht zu ver- wundern, denn in den äusseren Bedeck- ungen der Thiere prägt sich jene Mannig- faltigkeitderBildungen aus, welche haupt- sächlich das Chaos der Formen, Farben, Zeichnungen erzeugt, in welches die Ge- schlechter der Thiere zerfallen. Während die inneren Organe sich bei den Ange- hörigen eines und desselben Stammes im Wesentlichen gleich bleiben, und selbst bei verschiedenen Stämmen oft ziemlich weitgehende Analogieen zeigen, malt sich in der Configuration der äusseren Bedeckungen die ganze Ver- schiedenheit der Lebensbedingungen, denen die einzelnen Familien, Gattungen und Arten ausgesetzt waren, die Aussen- welt wird hier von jedem einzelnen Wesen in seiner Art wiedergespiegelt. 319 Darum wird dieser Band auch in her- vorragendem Maasse die Aufmerksamkeit des Darwinisten fesseln, und wir brauchen in dieser Beziehung z. B. nur auf die ausgezeichnete Darstellung der Frage über das Zustandekommen des Farben- wechsels bei Mollusken, Fischen, Amphi- bien und Reptilen verweisen. Von den Häuten und Panzern der niedersten Thiere an, dem Chitinkleide der In- sekten und den Gehäusen der Mollusken bis zu den Hautbekleidungen der höheren Thiere mit ihren farbigen Schuppen, Schildern, Haaren, Stacheln und Federn war hier eine ungemeine Verschieden- heit der Bildungen zu erörtern, und wir glauben nicht, dass diese vielseitige Aufgabe irgendwo bereits mit glück- licherem Gelingen gelöst wurde. Selbst die neuesten Angaben und Arbeiten finden wir thunlichst berücksichtigt. Auch hat es sich der Verfasser stets angelegen sein lassen, den verschiedenen “Ansichten über Entstehung, Bedeutung und Nutzen der einzelnen Bildungen gerecht zu werden und die zusammen- gehörigen Bildungen auch im Zusammen- hange zu behandeln. So finden wir z. B. die Drüsen und Nervenapparate der Haut mit den Hautbedeckungen, die Duftschuppen der Schmetterlinge mit den Farbschuppen, die Drüsen der Vögel, welche die Federn fettig erhalten, mit diesen selbst abgehandelt u.s. w., ebenso die Muskeln, welche zum Hautsysteme gehören, die Nägel, Geweihe und andere Schutzwaffen. In Folge dieser Durch- dringung von Anatomie, Physiologie, Biologie, Geschichte der Zoologie u. s. w. wird auch für den Studirenden jene Monotonie der Darstellung vermieden, welche rein anatomische oder physio- logische Werke gewöhnlich als unver- meidlichen Stempel tragen. Den hoffent- lich bald folgenden ferneren Bänden bleibt die vergleichende Behandlung der animalischen Funktionen, des Nerven- systems und der Sinneswerkzeuge, des Bewegungs-undFortpflanzungsapparates 320 zu behandeln und wird nach Vollendung derselben ein Werk vorliegen, welches als eine wahrhaft hervorragende Be- reicherung der zoologischen Literatur bezeichnet werden muss. K. Physiognomische Studien von Sorkus ScHack, Major und Historien- maler. Aus dem Dänischen von Eugen LiegicH. Zwei Theile in einem Bande. 257 Seiten mit 127 Illustra- tionen. Jena, 1881. Hermann Cos- tenoble. Es kann nicht leicht einen grösseren Gegensatz geben, als er sich heraus- stellt, wenn man das vorliegende Buch mit dem Werke Darwın’s über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen ver- gleicht. In letzterem lauter wohldurch- dachte, tiefbegründete Schlüsse, dortganz und gar nichts anderes als vages Herum- deuteln an den Gesichtsformen und — Spielereien. Der Verfasser war gewiss ein edeldenkender, seine sich selbst gestellte Aufgabe mit Begeisterung ver- folgender Beobachter, aber er besass für diese Arbeit nicht die genügenden zoologischen, anatomischen und literari- schen Kenntnisse, und ermangelte ausser- dem der Kritik; — kurz es handelt sich um die Arbeit eines gebildeten Dilettanten. Man glaubt eines jener physiognomischen Werke des Alter- thums, wie sie POLEMO, ADAMANTIUS und andere Autoren hinterlassen haben, vor sich zu haben, wenn man in dem ersten allgemeinen Theile mit naiver | Litteratur und Kritik. Selbstgewissheit Schlüsse vorgetragen findet, wie z. B. die folgenden (S. 35): „Intensive Genies, solche, die auf einen Punkt hin eine mächtige Einwirkung entfalten, haben im Allgemeinen feste, scharfe Züge, bestimmt hervortretende Hirnhöcker und perpendikuläre Stirnen, den expansiven dagegen sind feine, weichere, luftigere, abge- rundetere Züge und zurückfallende Stirnen eigen... Perpendikuläre Stirnen, deren oberste Partie etwas hervorspringt, über horizontalen Augenbrauen und tiefliegenden Augen, deuten immer (!Ref.) auf Anlage zu kaltem, stillem und tieferem Denken.“ Der zweite Theil enthält nun gar eine noch weitere Ausführung des Ge- dankens, welchen der alte Porta im sechzehnten Jahrhundert mit so vielen kuriosen Bildern illustrirt hat, dass man nämlich die Eigenthümlichkeiten von Geist und Charakter eines Menschen nach seiner näheren oder ferneren Ge- sichtsähnlichkeit mit bestimmten Thieren deuten könne. Der Verfasser übertrumpft den alten Neapolitaner noch in seinen Figuren — man vergleiche S. 190 den Vergleich des Kopfes eines Droschken- kutschers mit dem eines Dorsch! — und diese nicht ohne Geschick hinge- worfenen Figuren — obwohl die Rundung der Augenlidspalte durchweg der Thier- ähnlichkeit zu Liebe übertrieben ist — werden dem Buche vielleicht eherFreunde verschaffen, als sein wissenschaftlicher Gehalt. Der Uebersetzer hat wahrschein- lich nicht gewusst, dass wir Deutsche in den Werken von C. G. Carus, Ta. Pıperır u. A. viel werthvollere Arbeiten über menschliche Physiognomik seit längeren Jahren besitzen, als die, welche er uns hier zugeführt hat. K. Ausgegeben 5. Januar 1882. Ueber die hylozoistischen Ansichten der neuern Philosophen. Von Dr. Jules Soury. (Fortsetzung. (apitel II. S 1. Maupertuis hat sich sehr grosse Verdienste erworben um die Erneuerung der hylozoistischen Welt- anschauung der alten Philosophen, wäh- rend Gassennı die alte Atomlehre wieder zu Ehren brachte; denn er hat sich zu zeigen bemüht, dass das Ge- fühl eine Eigenschaft sei, die der ge- sammten Materie zukomme. Seitdem jene Lehre wieder erneuert war, haben Philosophen und Physiologen die füh- lenden und denkenden Atome nicht mehr aus den Augen verloren. Man muss daher in vielen Hinsichten MAUPERTUIS nicht nur als den Erneuerer jener alten Philosopheme, sondern auch als den Vorläufer und Urheber des modernen Idealismus und Pessimismus bezeich- nen*. Während Einige vergebens sich bemühten, mit der lediglich als raum- erfüllend betrachteten Materie und der Bewegung die Erscheinungen der Natur zu erklären, während Andere zu diesem Ziele zu kommen suchten, indem sie gewisse Eigenschaften, wie Undurch- dringlichkeit, Trägheit, Attraction der * Oeuvres, II, 196 sq. Lettre IV. — I. 171. Essai de philosophie morale. cf. Briefe Kosmos, V, Jahrgang (Bd, X). Materie zu Hülfe nahmen, erkannte MaAupertuıs sogleich, dass man nicht einmal die chemischen Processe auf diese Weise erklären könne, geschweige denn, dass man sich hierdurch die Entsteh- ung der Pflanzen und Thiere verständ- lich machen könne. Wunder, nicht natürliche Ursachen führen diejenigen an, welche der Ansicht sind, dass alle Lebe- wesen zugleich mit Erschaffung der Welt erzeugt worden sind, dass nichts Neues entstehe, sondern dass es sich nur um Entwickelungen und Wachsthums- vorgänge von Thieren und Pflanzen handle, die schon vorher in den Samen organisirt und präformirt vorhanden waren. Keiner wird jemals erklären können, auf welche Weise jene attractive, durch das ganze Weltall verbreitete Kraft aus den leblosen Theilchen der Materie die lebenden Körper erzeuge, wie aus dem Gefühllosen Fühlendes, wie der Dichter sagt, entstehen könne. Man muss da- her zu einem psychischen Princip seine Zuflucht nehmen und anerkennen, dass die Materie dem Begehren, der Abneig- ung und dem dGedächtniss analoge über die SCHOPENHAUER’'sche Philosophie von JuLıus FraunstÄpt (Leipzig, 1851). 21 322 Eigenschaften besitzt*. Wenn man es als festgestellt betrachtet, dass dieses geistige Princip die Thiere, wie z. B. die Elephanten besitzen, warum scheut man sich da anzunehmen, dass auch die kleinsten Theilchen der Materie oder die Elemente der Dinge daran Theil haben. ($ XVII— XIX, XXXI)? Viel- leicht möchte Jemand sagen, dass jene wundervolle Structur und Gliederung der Pflanzen und Thiere nicht im ge- ringsten bei Sandkörnern vorzufinden sei. Hierauf aber fragt MAUPERTUISs mit Recht, ob denn die Structur und Organisation, die ja ihrem Wesen nach nur in einer bestimmten Anordnung der einzelnen Theilchen besteht, Gefühl oder Wahr- nehmungen oder Gedanken jemals zu erzeugen vermöge ($ XVI). Selbst Or- thodoxe und alte Theologen waren der Ansicht, dass die Thiere ohne jeden Zweifel denken und fühlen, dass man sie daher keineswegs als Automaten und natürliche Maschinen betrachten kann; sie gestanden auch den Thieren ein geistiges Prinzip zu und sahen auch jenen stumpfen Geist als materiell an. MaAvpERTUIS läugnet daher auch, dass ein specifischer Unterschied zwischen Denken und Gefühl bestehe, und er meint, dass jedes Gefühl, jede Empfind- ung auch Gedanke sei; denn sie ist immer mit Selbstgefühl verbunden. Jenes Selbstgefühl macht auch die Einfach- heit und Untheilbarkeit einer jeden Sub- stanz erst möglich, und deshalb muss man für das dunkele Fühlen der Mu- scheln ebensogut eine solche einfache und untheilbare Substanz annehmen als für das sublime Speculiren eines New- ron** Von den Affen, Hunden und Essai sur la Öeuvres, Il * Systeme de la nature. formation des corps organises. 136 et sg. — $S XIV. Von diesem Werke waren schon drei Auflagen erschienen. Die eine Auflage ist in lateinischer Sprache ab- gefasst (Dissertatio inauguralis metaphysica de universali naturae systemate pro gradu doctoris habita. Baumanno auctore. Erlan- gae, 1751); von dieser Auflage ist es heute Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten Vögeln geht MAupzrrtuis herab zu den Muscheln und Pflanzen durch alle Stu- fen des Lebens, aber nirgends findet er auf diesem Wege Veranlassung, halt zu machen. Obwohl es nun ganz klar sei, dass der körperlichen Entwickelung der Thiere die geistige im Allgemeinen parallel laufe, so zweifelte MAaurertuis doch daran, ob auch in demselben Grade, in welchem die Körper Veränderungen er- führen, dieses auch mit den Seelen der Fall sei. Er war nicht darüber im Klaren, ob z. B. die Seelen der In- secten nur unvollkommener oderaber von unseren Seelen ganz verschieden seien. Jedoch die dualistische Ansicht des Cartesıus bekämpfte er auf das heftig- ste; denn er war der Meinung, dass Materie und Denken, wenn sie auch einander ganz unähnlich seien, dennoch die Eigenschaften einer und derselben uns unbekannten Substanz seien. Es ist kein Grund vorhanden, wie Mav- PERTUIS glaubt, warum nicht eine Co- existenz von Materie und Denken mög- lich sei. Wenn wir aber mit Hülfe der Materie und Bewegung eine genügende Erklärung von der Bildung der Organis- men zu geben im Stande wären, dann wäre allerdings CArrrsıus der grösste Philosoph, und man brauchte nicht zur Annahme neuer Eigenschaften seine Zu- flucht zu nehmen. Aber je mehr Natur- phänomene zu unserer Kenntniss ge- langen, um so mehr Eigenschaften be- merken wir an der Materie. Warum haben wir also eine so grosse Ab- neigung in der Materie ein intelligentes Princip als vorhanden anzuerkennen, da wir ja schon erkannt haben, dass es nicht mehr möglich, ein einziges Exemplar in allen öffentlichen Bibliotheken Europas aufzufinden, obwohl DIDEROT dieses Schrift- chen im vorigen Jahrhundert gelesen und Einiges daraus excerpirt hat. Die andere Auflage ist ins Französische übertragen s.a.n.l. und die dritte ist in Berlin 1754 erschienen. ** Lettres, V. Surl’äme des betes. (Oeuvres, H, 215.) der neuern Philosophen. unrichtig wäre, jenes intelligente in dem Dinge vorhandene Princip sich als der menschlichen Intelligenz ähnlich zu denken, und da uns diese Annahme natürlich fern liegt. Wenn wir jedoch bei sorgfältiger Beobachtung erkennen, wie verschieden von einander die mannig- fachen Zustände unseres Geistes sind, sei es, dass wir über Etwas in unserem Geiste nachdenken, sei es, dass wir im tiefen Schlaf uns befinden oder soeben die Fesseln desselben gesprengt haben, so werden wir auf das Deutlichste ein- sehen, dass die Intelligenz des Men- schen trotz ihrer hervorragenden Stel- lung nicht specifisch verschiedener Na- tur ist (LXD). Jedoch nicht nur den Dualismus, sondern auch die alte Atomlehre be- kämpfte MAauperturs. Er konnte sich nicht genug darüber wundern, woher Leben, Gefühl, Intelligenz entstanden sein sollten, wenn die Atome, wie die alten Philosophen meinten, weder Le- ben noch Gefühl noch Intelligenz be- sitzen; diese Phänomene mussten seiner Ansicht nach aus einer und derselben Quelle, aus Gott, welcher die Elemente aller Dinge mit Wahrnehmung begaben wollte, ihren Ursprung genommen haben (LXII—LXV). Wenn die Perception eine wesent- liche Eigenschaft der Materie ist, so muss, glaubte er, ihre Summe im Uni- versum weder zu- noch abnehmen (LIT). Bei uns aber »scheinen alle Perceptionen der Elemente mit einander zu verschmel- zen, so dass eine einzige, aber stärkere und vollkommenere Perception entsteht, welche vielleicht zu einer jeden der andern Perceptionen sich ebenso ver- hält, wie der organisirte Körper zum Element. Da jedes Element bei der Verbindung mit andern Elementen seine Perception mit den Perceptionen jener vermischt und sein eigenes Selbstge- * Nur diese Worte sind übrig von jenem "in lateinischer Sprache verfassten Schriftchen. 323 fühl einbüsst, so können wir uns aller- dings nicht mehr des Urzustandes der Elemente erinnern, und unser Ursprung bleibt uns in Folge dessen ganz in Dunkel gehüllt« (LIV) *. Die einzelnen Theile unseres Kör- pers tragen aber nicht in gleicher Weise bei zur Entstehung jener vollendeten Perception, welche aus denen der Ele- mente resultirt, sondern zwischen den verschiedenen Perceptionen der verschie- denen Elemente bestehen sehr grosse angeborene oder erworbene Unterschiede. Es entstehen daher aus den Perceptionen einer Art von Elementen Gedanken, aus denen einer andern Art Gefühle, aus denen einer dritten Art jene dunkeln, nicht in das Bewusststein tretenden Perceptionen. So hat beispielsweise der Verlust einiger Körperglieder nur einen ganz geringen schädlichen Einfluss auf den Geist, während die Lageveränder- ung der kleinsten Gehirnpartikelchen die Geisteskraft zu schwächen und zu vernichten scheint. Wenn man aber aufmerksam beobachtet, so leuchtet es bald ein, dass viele Vorgänge, welche wir bei uns wahrnehmen, auch bei den übrigen Lebewesen anzutreffen sind, bei den Thieren und bei den Zoophyten und bei sämmtlichen Pflanzen, Steinen und Metallen (LV). Es würde uns zu weit von unserer eigentlichen Aufgabe ablenken, wenn wir auch diejenigen An- sichten MAuperruis’ berichten wollten, welche sich auf die erbliche Ueber- tragung der geistigen und körperlichen Eigenschaften der Grosseltern und EI- tern auf die Nachkommen beziehen, oder wenn ich erörtern wollte, welche An- sicht MAuprrruıs über die Entstehung der monströsen Naturphänomene oder über die Unfruchtbarkeit der Bastarde gehabt hat (XXXIII—-IV—LV]). Ob- wohl ich nun nicht die Absicht habe diese Ansichten bis in ihre einzelnen V. Pensees sur l’interpretation de la nature (Oeuvres de DIDEROT, 1875), II, p. 47. 21* 324 Details zu verfolgen, so will ich dennoch nicht unerwähnt lassen, welche Vor- stellungen sich Maurerrums über die erste Entstehung der Metalle, Steine, Pflanzen und Thiere gebildet hatte. Er war der Meinung, dass dieselben Vorgänge, welche in dem Samen der lebenden Wesen stattfinden, sich auch vollziehen, wenn die kleinsten Theilchen eines Salzes sich anordnen und regel- mässige Krystalle bilden. Da im An- fang die gesammte Materie flüssig war, so entstanden natürlich leichter die Me- talle und Steine als ein noch so niedrig organisirtes Insekt (XLVII—IX). Die einzelnen Elemente der Dinge bildeten, je nachdem sie weniger activ oder mehr activ waren, die ersten Metalle und Pflanzen oder auch das Menschen- geschlecht und die übrigen Thiere im Laufe der Jahrhunderte. Wenn daher unsere Erde durch Wasser oder Feuer wieder einst vernichtet würde, so wür- den vielleicht aus den neuen Verbin- dungen der Elemente neue Pflanzen- und Thierarten hervorgehen (L). Jetzt aber sieht man ein, warum wegen des Ge- dächtnisses und der Perception der Ele- mente auch dieselben Thierarten be- stehen bleiben, und warum bei ihnen die geistige und körperliche Beschaffen- heit der vorhergehenden Generationen wieder zum Vorschein kommt. In Folge der Verschlechterung des Gedächtnisses der Elemente, oder in Folge der Schwäche oder der gänzlichen Vernichtung des- selben entstehen auch die monströsen Phänomene, und hieraus erklärt sich auch, warum die Neugeborenen in Et- was von ihrer Art abweichen und der- selben unähnlich sind (XLI) *. MaAurERTUIS stimmt daher in seiner Ansicht über die Entstehung der Welt und der lebenden Wesen nicht den- jenigen bei, welche behaupten, dass die gesammten Dinge durch ein zufälliges # Venus physique, Ile p. Varietes dans l’espece humaine, ch. IV. Des negres blancs. Et ch. II—V. Production de nouvelles especes Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten Zusammentreffen der Corpuskeln ent- standen seien, er ist auch nicht mit denjenigen einverstanden, welche als sicher annehmen, dass von Anfang an Gott gleichsam wie ein Baumeister Alles so angeordnet habe, sondern er nimmt mit Perception, Gefühl und Intelligenz begabte Elemente an, welche, weil sie selbst thätig sind und empfinden, sich in einer bestimmten Ordnung angeord- net haben. Trieb und Instinct nennt er jene Kraft, durch welche die Misch- ungen der Elemente nach bestimmten Verhältnissen zu Stande kommen, und durch welche die Elemente zur Körper- bildung sich vereinigen und um einen Punkt herum sich anlagern. Die letzten Theilchen der Materie erscheinen daher dem Philosophen als belebte Wesen, welche ohne Zweifel im Verhältniss zu den Insekten auf eben derselben niedri- gen Stufe der Entwickelung stehen, wie die Insekten im Verhältnis zu den Schlangen und Vögeln (LX—LXI). Wenn wir aber die Kunsttriebe der Bienen so sehr bewundern, ohne eine Erklärung dafür finden zu können, so ist es gewiss nicht so schwer, als es erscheint, jenen viel niedriger organi- sirten »Thieren«, den Elementen, einen Trieb und eine Fähigkeit, sich in einer bestimmten Ordnung aneinander zulagern zuzuertheilen. S$S 2. Diveror hat in seinen Pen- sees sur l’interpretation de la nature sehr eingehend eine metaphysische Doc- tordissertation critisirt, als deren Ver- fasser er einen Doctor Baumann be- trachtete. Obwohl er nun das neue in jenerDissertation aufgestellteErklärungs- verfahren sehr lobte und es sogar als den Versuch eines grossen Philosophen bezeichnete, so machte er dennoch mit ge- heuchelter Entrüstung** auf die schreck- lichen Consequenzen der Hypothese auf- merksam und bezeichnete sie als die ver- (Oeuvres, I). ** GRIMM, Correspondance litteraire, I, 147. 1er mai 1754. der neuern Philosophen. führerischste Art des Materialismus *. Maupertuisaberläugnete ehrlicherWeise, dass er einen so grossen Fehler be- gangen habe. Wenn einige wollen, dass zwei von einander verschiedene Substanzen exi- stiren, nämlich Materie, welche nur aus- gedehnt ist und auch nicht einmal eine dunkle Perception besitzt, und Geist, welcher der Intelligenz theilhaftig ist, wie können sie dann auch noch ein einem dunkeln und verworrenen Getaste ähnliches Gefühl anerkennen, welches Dıperor seiner Materie zuertheilt hat? Warum hat ferner Diperor das Gemein- gefühl der Materie an die Stelle der Perceptionen der Elemente gesetzt? MAu- PERTUIS, der in seinen Ansichten mit Diperor übereinstimmt, argwöhnt, dass dieser subtile Philosoph durch die Unbestimmtheit seiner Bezeichnungen die Leser habe für sich gewinnen wollen. In Wirklichkeit jedoch stimmt DipE- ror mit MAuUPpERTUIS überein; denn er erklärt sich mit LeısBnız einverstanden und glaubt daher, dass überall, wo Streben vorhanden sei, dass die einzel- nen mit einem bestimmten Streben aus- gerüsteten Theilchen der Materie wie die Monaden selbstthätige Kräfte seien **. Zwei Arten von Kräften aber sind in der Gesammtheit der Dinge wirksam, die einen stammen aus einer äusseren Kraftquelle, welche schnell sich erschöpft, die andern dagegen stammen aus einer inneren, unerschöpflichen und ewigen Kraftquelle, sie constituiren die innerste feuerartige, wasserartige u. s. w. Na- tur der Partikeln und besitzen immer Streben ***. Damit er nun um so leich- ter den Unterschied der beiden Sub- stanzen als einen hinfälligen nachweisen könne, suchte Diperor zu beweisen, * DIDEROT, Pensees sur l’interpretation de la nature. Oeuvres, II, 16, 45 sq- ** Principes philosophiques sur Ja matiere et le mouvement (1770). — Entretiens entre D’ALEMBERT et DIDEROT (1769). — Reve de D’ALEMBERT, 325 dass das Gemeingefühl das Wesen der Materie ausmache, und er war daher der Ansicht, dass durch die bestimmte Anordnung der Corpuskeln Gefühl, Le- ben, Gedächtniss, Bewusstsein, Affeet und Denken zu Stande kommenf. Alles Wunderbare in den Phänomenen des Le- bens und des Fühlens verschwindet, sagte er, sobald die Materie selbst nicht mehr todt und träge ist, sondern fühlt. Die Steine empfinden, wenn auch ihre Empfin- dung dunkel bleibt, und nur diejenigen bezweifeln diese Thatsache, welche sie zersprengen und zertrümmern und ihr Klagen überhören. Diesem dunkeln Empfindungsvermögen der Steine stellte er, ebenso wie es GLısson that, gegen- über das energische und deutliche Empfinden der Thiere und vielleicht der Pflanzen. Dadurch, dass jene ihre Nahrung sich assimiliren, indem sie dieselbe in vegetabilische oder animalische Sub- stanz umbilden, wird die dunkle und ver- worrene Empfindung dieser Materie lebendig und bewusst. In scherzhafter Weise schreibt daher auch Diperor mit folgenden vier Worten den Lebenspro- cess vor: Esset, verdauet, assimilirt in den dazu bestimmten Organen, et fiat homo secundum artem. Diperor war der Ansicht, dass aus der mit einem dunkeln Fühlen ausge- rüsteten und in unaufhörlichem Streben befindlichen Materie Alles hervorgehe, und dass die Gesammtheit der Dinge auch wieder in jenen Zustand der Ma- terie zurückkehre, er fügte daher auch die wahren Worte hinzu: »Erinnere Dich, dass Du Staub bist und wieder zu Staub wirst.«e Aus diesem Grunde glaubte auch der Philosoph, dass die Theorie präformirter Keime mit der Erfahrung *** Principes philos. Oeuvres, II, 64 sq. + Eine zu grosse causale Wichtigkeit gesteht DIDEROT der Constitution des Kör- pers zu, und er beweist in dieser Hinsicht weniger Scharfblick und Genie als MAUPER- TUIS, 326 und mit dem Verstande nicht in Ein- klang zu bringen sei; er war der An- sicht, dass die Partikeln der Materie wohl in Gedanken, nicht aber in Wirk- lichkeit endlos theilbar seien und ge- theilt werden können. Er nahm für NEEDHAM gegen VOLTAIRE Partei, und sah in dem kleinsten Wasser- tropfen eine verkürzte Wiederholung aller stattgefundenen Lebensprocesse, gleich- sam eine Geschichte vergangener Jahr- hunderte. Als die mit Leben und Ge- fühl ausgestatteten Corpuskeln der Ma- terie, welche Ursprung und Wesen der Natur darstellen, sich einander ange- passt und vereinigt hatten und die thierischen oder pflanzlichen Gewebe er- zeugten, da entstanden nicht mecha- nische Anhäufungen, sondern gleichsam vitale Einheiten oder Monaden. Wie zwei Tropfen Quecksilber in einen zu- sammenfliessen, so vereinigen sich zwei Corpuskeln zu einem mit Leben und Gefühl begabten Corpuskel. DipEror bediente sich auch öfters, wie schon vorher MAuPpERTUIS*, eines sehr schönen Vergleichs, um recht klar zu machen, dass die Continuität der Dinge ganz etwas anderes sei als der blösse me- chanische Zusammenhang. Denn, wenn ein Bienenschwarm aus dem Bienen- stock vertrieben, sich um einen Baum- ast herumgesetzt hat, so kann man ihn mit einer Traube beflügelter Thierchen vergleichen und als ein hundertköpfiges Thier betrachten ; wenn man aber anstatt der Contiguität eine Continuität unter den Bienen hergestellt hätte, dann würde man glauben, nur noch das Bild eines und desselben Thieres zu sehen. Ebenso bestehen alle Theile unseres Körpers aus jenen äusserst kleinen Lebewesen, den mit Leben und Gefühl ausgerüste- ten Corpuskeln, welche, sobald sie zu einer continuirlichen Einheit sich ver- * Systeme de la nature, $ LI. ** Essai sur la formation des corps or- ganises (Berlin, 1754). Avertissement, p. IV—V. Cf. GRIMM, Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten einigen und eine Lebenseinheit bilden, ihres besonderen Einzelbewusstseins ver- lustig gehen und ein Gemeinbewusst- sein Aller constituiren. Capitel IV. S 1. Diese Corpuskeln, wie sie MAv- PERTUIS und DiDEroT sich dachten, wa- ren nun schon in der Mitte des acht- zehnten Jahrhunderts von den Natur- forschern zu den organischen Molecülen des Burron und NEEDHAM vereinigt worden**. Denn in Wirklichkeit sind jene Molecüle gebildet aus den letzten, Gefühl besitzenden Corpuskeln der Ma- terie. Wie einige Philosophen jener Zeit behauptete auch Burron, dass die Materie Formgestaltung besitze und or- ganisirt sei, dass sie aber lebe oder leblos sei; denn Alles Form- und Ge- staltlose in der Natur ist seiner An- sicht nach Nichts anderes, als das leb- lose Residuum der Lebewesen ***. Er deutet daher an, dass die ein- zelnen Dinge gleichsam aus einer un- begrenzten Zahl ähnlicher Theilchen be- stehen, und dass die Structur der Pflan- zen und Thiere mit der Zusammen- setzung der Steine und Salze vergleich- bar sei, indem er folgende Worte L£v- WENHOER’S citirt: »Sowohl diese kleinen als auch die grossen Gestalten sind nur entstanden durch eine grosse Anzahl kleinerer Theilchen, welche dieselbe Ge- stalt haben, wie ich oft zu beobachten Gelegenheit hatte; denn wenn ich See- wasser oder gewöhnliches Wasser, in welchem gewöhnliches Salz aufgelöst worden war, unter dem Microscop be- trachtete, so bemerkte ich zierliche, kleine und viereckige Gestalten, welche so winzig waren, dass tausend Myriaden derselben noch nicht einem etwas dicke- ren Sandkorn an Grösse gleichkommen. Sobald ich jedoch diese sehr kleinen Correspondance litteraire, 1er mai 1754. *** Histoire naturelle (aux Deux-Ponts, 1785), III, 45. Cf. DiDEroT, Pensees sur linterpretation de la nature, LVII, 3. der neuern Philosophen. Partikeln beobachte, bemerke ich, dass sie durch Wachsthum allseitig zuneh- men, ohne jedoch ihre zierliche vier- eckige Gestalt einzubüssen *.« So ernähren sich nach der Hypo- these des Burron, welche Huxuey sehr lobt, die Pflanzen und Thiere von den organischen Molecülen, aus denen sie bestehen, auf gleiche Weise wachsen sie und ‚erhalten die Art. Denn die Samenkörperchen, welche aus allen Thei- len des Körpers Bestandtheile zu ihrer Bildung entnehmen, stellen gleichsam den ganzen Körper, nur en miniature dar. Trotzdem glaubt Burrox, dass die Annahme zahlloser sich untereinan- der vermehrender präexistirender Keime nicht gerechtfertigt sei, dass aber die organische Materie, welche Selbstthätig- keit und Empfindung besitzt, in alle lebenden Körper übergehe und ihnen ähnliche Lebewesen erzeuge. Man darf daher nicht Burron, wie LeEıBnız, den Vorwurf machen, dass er die Anerken- nung der Epigenesis-Theorie von C. F. WoLrFr verzögert habe. Im Uebrigen stehen die organischen Molecüle wie die Monaden des Leısnız in keinem engern causalen Verhältniss zum Verbrennungs- und Fäulnissprocess, sondern wenn die Organismen zu Grunde gehen, dann tre- ten sieaus den eingegangenen Verbindun- gen aus und erlangen auf diese Weise ihre verloren gegangene Freiheit wieder. Der einzige Grund dafür, dass Burron seine Molecüle nicht Monaden nannte und * Arcana naturae detecta, p. 3. Cf. Ana- tomia seu interiora rerum cum animatarum tum inanimatarum ope et beneficio exquisi- tissimorum microscopiorum detecta, p. 5—6b. ** ]V, 22, ch. X. De la formation du foetus. „Die lebenden Wesen enthalten eine rosse Menge lebender und selbstthätiger olecüle; das Leben des Thieres oder der Pflanze scheint daher nur das Resultat der gesammten Actionen, der sämmtlichen klei- nen Sonderleben, wenn ich mich dieses Aus- drucks bedienen darf, zu sein, welche die sämmtlichen activen Molecüle, deren Leben ein ursprüngliches und unzerstörbares ist, be- sitzen. Wir haben diese lebenden Molecüle 327 Lerısnız selbst nicht einmal erwähnte, kann daher, wie schon Du Boıs-Rery- MOND vermuthet, nur darin gefunden werden, dass eine jenem Philosophen sehr feindselige Stimmung zur damaligen Zeit herrschte, und dass er den Sti- cheleien eines VoLTAIRE und Anderer aus dem Wege gehen wollte. Endlich können wir in unserer hohen Meinung von den Verdiensten dieses Forschers nur noch mehr bestärkt werden, wenn wir erfahren, dass in einigen Stellen seiner Histoire naturelle die Zellentheorie gleichsam schon kurz skizzirt ist**. Es entging aber auch jenem Manne nicht, dass man nicht im geringsten die sämmtlichen Eigenschaften der Mo-- lecüle auf rein mechanischem Wege er- klären könne, und obwohl er CArtesıus nach Recht und Verdienst pries, so be- ruhigte er sich daher dennoch nicht bei dessen Angaben, sondern forschte, ob wirklich in der Ausdehnung allein, in der Undurchdringlichkeit, Theilbar- keit, Bewegung und Gestalt das Wesen der Materie bestehe, oder ob sie nicht etwa noch andere, von jenen ganz ver- schiedene und uns unbekannte Eigen- schaften besitze, die wir nur dann be- merken würden, wenn wir mit feineren Sinnesorganen ausgestattet wären ***, Zum Schlusse muss noch erwähnt werden, dass Burron durch die fehlerhaften Ex- perimente NEEDHAM’s getäuscht, die An- sicht vertrat, dass die niedrigsten Or- ganismen durch Zusammenballung der in allen Thieren und Pflanzen vorgefunden, und wir sind der festen Ueberzeugung, dass alle diese organischen Molecüle in gleicher Weise zur Ernährung geeignet sind und da- her auch zur Erzeugung von Thieren oder Pflanzen. Es macht auch nicht die geringste Schwierigkeit, sich vorzustellen, dass diese Molecüle, sobald sie sich in bestimmter An- zahl vereinigen, ein lebendes Wesen bilden; denn da das Leben in jedem einzelnen Theile vorhanden ist, so kann es natürlich auch in einem Ganzen, in einer beliebigen Ansamm- Aue dieser Theile wieder vorgefunden wer- en.“ *** Ibid. III, 57—59. 328 organischen Molecüle spontan entstehen, er hat daher nicht, wie Leısnız, die generatio spontanea geläugnet. Es sind jedoch diese Ansichten Burrox’s und NeepHAm’s über jene Gegenstände bald durch die Versuche SPALLANZANIs und durch die Argumente Boxner’s als nichtig und unbegründet nachgewiesen worden*. S 2. Sehr häufig, besonders aber in dem Buche: Considerations sur les corps organises bekämpfte Bonner die Theorie der organischen Molecüle von BuFFoN und stellte ihr seine Theorie der prä- formirten Keime gegenüber. Diese prä- formirten Keime sind, wenn wir nach- forschen, in einer anderen Beziehung den Monaden des Lerısnız sehr ähn- lich**. Da nun Bonser eifrig die Theorie der präformirten Keime verfocht, so glaubte er, dass sowohl diejenigen, welche lehren, dass überall Keime aus- gestreut seien, als auch diejenigen, welche vermuthen, dass die Keime sich unter einander, wenn auch nicht in’s Endlose, vermehren, der Wahrheit gleich sehr nahekommen. Jene endlose Theil- barkeit jedoch, durch welche man die Ein- schachtelung der Keime sichern will, ist zwar logisch richtig, aber factisch falsch. Er bekümmerte sich daher nicht um das neue System des Burron und läugnete, dass Pflanzen und Thiere jemals erzeugt werden können durch die organischen Molecüle, da diese weder thierischer noch pflanzlicher Natur seien ***. End- lich ist es noch der Erwähnung werth, dass schon bei Bonner jene von DARWIN als Pangenesis bezeichnete Theorie cri- tisirt und zum grössten Theil wieder- legt worden istf. * HALLER’s Ansicht über diesen Gegen- stand kann man einsehen: Reflexions sur le systeme de la generation de M. DE BurFonN, traduites d’une preface allemande de M. DE HALLER, qui doit &tre mise a la t£te du se- cond volume de la traduction allemande de l’ouvrage de M. DE BurFon. Geneve, 1751, in-18. ** RixNER, Handbuch der Geschichte der Philosophie (Sulzbach, 1829), III, 224. Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten $ 3. Ungefähr zu derselben Zeit untersuchte der sehr gelehrte und streng religiöse BOURGUET in seinen philoso- phischen Briefen, ob nicht die regu- lären Krystalle des Diamants und des Laugensalzes, die würfelförmigen des Salzes und die octa&drischen des Alauns u. s. w. organisirte Körper wären und von verschiedener Art unter einander, wie die Arten der Pflanzen, Insekten, Vögel und Fische ff? Da die lebenden Wesen sich sehr von den Steinen durch die natürlichen Kräfte ihres Körpers unterscheiden, so ist deshalb auch die Organisation der lebenden Wesen eine viel vollkom- menere; trotzdem aber stammen alle Wirkungen aus einem und demselben inneren Bewegungsprincipe; denn stufen- weise vollzieht sich der Fortschritt vom Einfacheren zum Vollkommeneren, wie Allen bekannt ist. Alles materielle Sein, glaubte daher BouRGUET, sei organisch, und die Organisation der Corpuskeln dürfe nicht im Geringsten in Zweifel gezogen werden, wenn auch dieselbe nie empirischer Beobachtung zugänglich werden wird fff. Diese nicht wahrnehm- baren Corpuskeln, welche dem Beobach- tungsfelde unserer Sinne entzogen sind und nur durch das Microscop einst für uns sichtbar werden können, gehen die von der Natur vorgeschriebenen Ver- bindungen nach ewig gültigen Ge- setzen ein in gleicher Weise wie die anderen Arten der Pflanzen und Thiere. Die einzelnen mit einem gewissen Leben ausgerüsteten Corpuskeln mischen sich im Universum auf die mannigfaltigste Art, und je nachdem diese Mischungen *** Cm. BONNET, ÖOeuvres d’histoire na- turelle, III, ch. VIII. + Ch. VI, XCO. rr Lettres philosophiques sur la forma- tion des sels et des crystaux, et sur la gene- ration et le m&canisme organique des plantes et des animaux (Amsterdam 1762), p- 70—81. +rr Cf. jene drei Briefe des LEIBNIZ an BoURGUET (1714). — Erdm. 718 sq. der neuern Philosophen. sich verdichten oder durch Lösung sich wieder mehr und mehr verdünnen, stel- len sie Erde, Steine und Metalle dar, oder bilden Flüssigkeiten und Dämpfe wie Wasser, Luft und Aether. S 4. Nach Maurerruis hat Keiner consequenter als J. B. Rosıner den Hylozoismus vertreten und Keiner hat standhafter jeglichen Unterschied zwi- schen belebten und unbelebten ‚Dingen verworfen. Alles in der Natur, Thiere und Pflanzen, Steine und Metalle, Wasser, Luft und Feuer, unsere Erde, Sterne und Cometen besitzen nicht nur Leben, sondern essen, wachsen und pflanzen sich auch fort nach des Philo- sophen Ansicht. Der Urheber und Be- gründer dieser Lehre ist, wie RoBmmEr selbst gesteht, Leıenız. Denn auf zwei Principien, auf das Continuitätsgesetz und auf jenes sehr bekannte Philo- sophem: »natura non facit saltum« basirt RoßBin#et seine Lehren, und als seine Quelle bezeichnet er jenen berühmten Brief des Leıenız an Hermann (16. Ok- tober 1717), welchen im achtzehnten Jahrhundert Kornıc veröffentlichte *. Bonner tadelt mit Unrecht, dass RoBınEr alles animalisirt habe; denn wenn man zugesteht, dass Alles in der Natur lebt, pereipirt und strebt, dann muss auch die ganze Natur von den entferntesten Sternen bis zu den Atomen herab als * V. Appel au public du jugement de l’Academie roy. de Berlin sur un fragment de lettre de LEIBNIZ, cite par M. KoEnIG (A. Leide, 1752), p. 42 et sq., cf. apud G. G. Leibnitii omnia opera (Dutens); ich bin nicht überzeugt von der Richtigkeit jener Einwürfe, welche nach dem fünfzehnten Briefe des LEIBNIZ an JOH. JAC. HERRMANN (II, 531), gegen die Authenticität des Briefes ge- macht werden, unter denen besonders her- vorgehoben werden, dass LEIBNIZ dann die wunderbare Beschaffenheit der Polypen, wie ein Seher, vorher verkündigt hätte, und dass er dann jenes Princip der Ersparung der Kraft, welches in der Mechanik von allge- meiner Gültigkeit ist, vorausgesagt hätte, obwohl MAUPERTUIS und EULER dessen Ent- deckung für sich in Anspruch nehmen. Denn dieser Brief, welchen KoEnIG aus den von 329 thierisches Leben betrachtet werden **. Rogıner behauptet daher consequent auf Grund des Continuitätsgesetzes, es sei kein Grund vorhanden, weshalb man nicht nur den Steinen, sondern sogar den letzten Theilchen der Materie nicht ein Princip der Intelligenz und des Denkens zuerkennen könne. Obwohl man von den höher organisirten Wesen fast ohne Unterbrechung abwärts gehen kann, so sind dennoch die Thiere, Pflan- zen und Steine nur Modi einer und der- selben organisirten Materie, und sie haben alle mehr oder weniger an dem- selben Leben Theil. Ebenso muss man sogleich nach genauer Erforschung des Sachverhaltes in Folge des Continuitäts- gesetzes jene Ansicht des Diperor und Burrox verwerfen, dass unorganisirte oder todte Materie existiren könne. Wenn dieses nicht der Fall wäre, wenn nicht Alles in der Welt mit einander im Zusammenhang wäre, wie sollten dann die lebenden Wesen aus den leblosen entstanden sein ? Rogner ist daher der Ansicht, dass Alles sich durch sich selbst bewegt, und. obwohl er, wie Lrısnız zu der Annahme sich hinneigt, dass jeder Or- ganismus thatsächlich ein Mechanismus sei, so ist er dennoch überzeugt, dass jener Mechanismus organisch sei ***. Die Molecüle und Atome der Physiker, welche Henzı geliehenen Exemplaren publicirte, scheint mir eine eben so grosse Authentieität zu besitzen, als der zweite aus eben der- selben Quelle herstammende Brief, der von derselben Hand geschrieben ist, und dessen Original der gelehrte FOUCHER DE ÜCAREIL, der es fälschlich unedirt glaubte, in der Königl. Bibliothek zu Hannover wieder auffand. V. Nouvelles lettres et opuscules inedits de Leıenız (Paris, 1857), p. 1 et sq. *= Contemplation de la nature, I, part. VI, OA VIE **# De ]a nature (Amsterdam, 1766), IV, ch. VI, p. 11; 106—112, 142. — Cf£. Con- sidörations philosophiques de la gradation naturelle des formes de l’ötre, ou les essais de la nature qui apprend ä faire l’homme (Paris, 1768), p. 12. 330 als die letzten Bestandtheile der Dinge bezeichnet werden, schienen dem Phi- losophen Phantasiegebilde, nicht aber reale Dinge zu sein; denn er glaubte, dass selbst das einfachste Atom aus zahllosen andern gleichartigen Theilen bestehe. Nur Keime sind Elementar- bestandtheile, und das Wesen der ge- sammten Materie besteht in ihrer keim- artigen Natur. Da aber die einzelnen Keime sich unter einander unterschei- den, so sind auch die Elemente in der Natur verschiedener Art. Es kann dem- nach wohl ein aus den Elementen zu- sammengesetzter Körper als solcher zu Grunde gehen, Keime aber, aus welchen in zahlloser Anzahl die einzelnen Ele- mente bestehen, sind unzerstörbar und ewig. S 5. Es ist von hohem Interesse zu bemerken, dass der berühmte Vor- gänger EHRENBERG's, der sehr gelehrte 0. F. MÜLLER, welcher zahlreiche Arten von Fluss- und Meer-Infusorien be- schrieb und ihnen wie die meisten Na- turforscher nach LEUWENHOEK sowohl eigenes Leben als auch willkürliche Be- wegung zuerkannte, dass dieser Mann die am niedrigsten organisirten jener Wesen Monaden genannt hat*. Wäh- rend Müruer aber im Zweifel war, ob jene Infusorien Seelen besässen, glaubte CHRISTIAN Ausust Crusıus** dagegen, dass dieselben auch in so zarten Cor- puskeln vorhanden seien, und dass sie die Seelen vieler Thiere durch ihre Vor- züge überträfen. Mit Crusıus stimmte GLEICHEN überein; denn er behauptete auf Grund zahlreicher eigener Beobach- tungen, dass fast alle wesentlichen Eigen- * Animalcula infusoria fluviatilia et ma- rina, opus posthumum. Cura Othonis Fabrieii (Havniae, 1786), p. 1, 4. ** Anleituug über natürliche Begeben- heiten ordentlich und vorsichtig nachzu- denken (Leipzig, 1749), II. Th., p. 1226. — RöseL,, Insektenbelustigungen, II. Th., p: 544. *** Considerations sur les corps organises, ch. VIII. (Oeuvres Neuchätel,*1779), III, 83. Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten schaften des Lebens bei jenen Infusorien vorhanden seien. Als er daher erwähnt hatte, dass nach Bonner’s Ansicht *** auch Naturwesen existiren könnten, welche auf eine uns unbekannte Weise sich ernähren und fühlen, fügte er die nachstehenden Worte hinzu: »Was würde jener 'scharfsinnige Mann wohl gesagt haben, wenn er jene Infusorien, deren ‚Abbildungen ich hier ange- fertigt habe (Tab. XXIII), selbst ge- sehen hätte; denn ausser jenem eine Ente darstellenden Mechanismus des Vaucanson hat Keiner jemals eine Ma- schine essen und verdauen sehen. Weil aber derartige Phänomene ein gewisses Leben und eine Seelenkraft in hin- reichender Weise erkennen lassen, des- halb leben die Infusorien und besitzen Seelen« f. S 6. Aus allen Beobachtungen, welche mit Hülfe des Microscops ge- macht worden waren, sahen endlich die Philosophen und Naturforscher wie auch CApanıs, dass Alles in der Natur lebe und deshalb Lust und Schmerz empfinde, und dass das Fühlen der Thiere, der Instinect der Pflanzen, die chemischen Affinitäten und die überall verbreitete Anziehungskraft der Körper in vielen Hinsichten mit einander übereinstim- menff. CaAsanıs warf sich daher die Frage auf, ob nicht jene Erscheinungen durch einen überall vorhandenen Trieb zu Stande kämen, der in den einzelnen Theilchen der Materie seinen Sitz habe. Bei den niedrigsten Organismen kann man jenen Trieb weniger deutlich er- kennen, deutlicher schon bei den Pflan- zen und Thieren, welche die einen nach + Dissertation sur la generation, les animalcules spermatiques et ceux d'infusion, ar le baron DE GLEICHEN. Ouvrage traduit e l’allemand (Paris, an VII). Et in germ. libro (Nürnberg, 1778 , p. 99). +r CABAnNIS. Note touchant le supplice de la guillotine (an IV). Oeuvres, II, 173. — Rapports du physique et du moral de l!’homme, IV, 264, 268—69, 272—276. der neuern Philosophen. diesem, die andern nach jenem streben vermöge ihres Willens und ihres deut- licheren Bewusstseins. Ferner machte dieser geniale Mann auch die Beobach- tung, dass bei den sehr lebenszähen und daher auch niedrig organisirten Thieren die Functionen des Lebens in gleicher Weise an alle Theile des Kör- pers gebunden seien, so dass alle Theile des Körpers allen Functionen ohne Un- terschied vorstehen können. Denn die Infusorien sind derartig beschaffen, dass sie mit denselben Körpertheilen bald fühlen, bald sich bewegen, bald auch athmen, verdauen oder sich fortpflanzen. Sobald aber ein scharf von einander getrenntes Nerven- und Muskelsystem vorhanden ist, sobald sich ein Ver- dauungs- und Respirationsapparat vor- findet, ein Blutumlauf und auch fein organisirte Sinnesorgane, dann sind alle diese Thiere den verschiedensten Zu- fällen ausgesetzt, sie sind weniger lebens- zäh, die Todesursachen mehren sich, und mit der Zunahme ihrer Anzahl nimmt auch ihre Gefährlichkeit zu, so dass diese Thiere, da eine höhere Or- ganisation auch eine grössere Gebrech- lichkeit bedingt, unfehlbar zu Grunde gehen würden in Folge der von allen Seiten auf sie eindringenden todbrin- . genden Einwirkungen, wenn nicht mit ihrer verfeinerten Organisation auch ihre Intelligenz sich vervollkommnet hätte. Keiner darf aber glauben, lehrte Capanıs, dass die Lebensfunctionen an bestimmte Körpertheile localisirt sind, da weder ein Nervensystem noch ein Gehirn beispielsweise bei den Infusorien von den neueren Anatomen aufgefunden worden ist, obwohl diese Wesen fühlen und willkürlich sich bewegen. Ebenso war er nicht im Geringsten mit den- * A brief account of microscopical ob- servations made in the months of June, July and August, 1827, ou the particles contained in the Pollen of Plants; and on the general existence of active Moelcules in organie and in anorganic bodies. Edinb. New Phil. Journ, 331 jenigen Philosophen oder Naturforschern einverstanden, welche leugneten, dass das Empfinden ohne jegliches Bewusst- sein sich vollziehen könne, und noch weniger glaubte er, dass das Wesen der Empfindung (Gefühls) in einem Zu- stande des Bewusstseins bestehe. Das Gefühl existirt dennoch und besteht durch sich selbst, gleichviel ob ein Be- wusstsein vorhanden ist oder nicht, gleich wie dies beim thierischen Leben der Fall ist, das zahllose belebte Cor- puskeln zur Grundlage hat. $ 7. In Beginn dieses Jahrhunderts hat Roserr Brown die Burron’sche Lehre von den organischen Molekeln wieder erneuert*. Als er nämlich Staub- theilchen der Olarkia pulchella im Was- ser beobachtete, bemerkte er, dass mehrere Theilchen jenes Staubes nicht nur sich von der Stelle bewegten, son- dern dass sie auch öfters ihre Gestalt veränderten, sich contrahirten oder sich in Wirbeln bewegten. Da diese Beweg- ungen weder in Folge einer inneren Strömung im Wasser, noch inFolge der langsamen Verdunstung entstanden sind, so glaubte Rogerr Brown, dass diese Partikelchen sich durch sich selbst be- wegen, und dass sie die organischen Molekeln des NerpuAam, Burron und Mürter seien. Bei zahlreichen und lange andauernden Beobachtungen der verschiedensten vegetabilischen und ani- malischen Theile erblickte er immer die- selben Bewegungen, und nichtnuran den Ueberresten und Rückständen lebender Wesen, wie an Harz, Kohle, an fossi- lem Holz u. s. w. constatirte er ihr Vorhandensein, sondern auch an leb- losen Dingen, wie an dem Glase, an den Steinen und Metallen beobachtete er jene activen Molecüle. Ihre Gestalt, V. 1828, p. 358—371. — Annales des scien- ces naturelles, XIV, 1828, p. 341—362. — OkKEN, Isis, XXI, 1828, col. 1006—12. — Phil. Mag., IV, 1828, P 161—73. — Po6- GEND. Ann., XIV, 1828, p. 294—313. 332 welche meistens kugelförmig ist, ändert sich in Folge der Verbindungen der Partikelchen und der Complieirung der Bewegungen. Ihre Grösse scheint zwi- nal er schwanken, endlich sind diese Molecüle wie die Monaden des Lerısnız durch Feuer unzerstörbar. Als viele Rogert Brown den Vor- wurf machten, dass er aus jenen acti- ven Molecülen lebende Wesen gemacht habe, da wies er jenen Vorwurf in den Addititiis Annotationibus von sich *; denn wenn alle Molecüle, wie er ge- lehrt hatte, sowohl bei den belebten als auch bei den unbelebten Dingen aus eben derselben Materie bestehen, dann ist es auch nothwendig, dass alle Theile der Materie Leben und Seele besitzen, weil sie sich ja aus eigenem Antriebe bewegen und deshalb mit Recht als fühlende betrachtet würden. Nur dieses hielt Rogerr Brown aufrecht, dass die activen Molecüle der anor- ganischen wie auch organischen Materie unter Wasser eine sehr grosse und gleichsam willkürliche Bewegungsfähig- keit zeigen, weshalb man fast geneigt ist, sie als sehr einfache Infusorien zu betrachten; er läugnete dagegen mit Entschiedenheit, dass er jene Molecüle wegen ihrer Bewegung mit Thieren je- mals verwechselt habe, wie es vorher GLEICHEN, LEUWENHOEK, NEEDHAM, BUF- FON und SpALvLAnzanı thaten, da des letzteren animalettid’ultimo ordine.nichts anderes als active Molekeln zu sein schienen. Ausser JACoB DRUMMoND, wel- cher ein kleines Schriftchen (On certain schen einer Unze zu * Additional Remarks on active Mole- cules. Edinb. Journ. I, 1829, p. 314—20. — Ann. des sc. nat., XIX, 1830, p. 104—110. — The Edinb. new philosophical Journal, XV— XVI, 1830, p. 41. ** Transactions of the Royal Society of Edinburgh. 1814. Vol. VI. *** Annalen der Physik und Chemie. Heraus- egeben zu Berlin von J. C. POGGENDORFF, 1863, XXVIIH. vol., p. 79 et sq. y Microscopische Untersuchungen über Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten appearances observed in the Dissection of the Eyes of Fishes) herausgegeben hatte **, erwähnt er noch BywAter als Vorgänger, welcher im Jahre 1819 auf Grund zahlreicher microscopischer Beobachtungen als erster die An- sicht aufstellte, dass sowohl die Theil- chen der belebten als auch der un- belebten Dinge Leben und Irritabilität besitzen (animated or irritable par- tieles). Aber auch die Gegner des RoBERT Brown haben auf das Deutlichste ge- zeigt, eine wie ausgedehnte und innige Verwandtschaft zwischen den activen Molecülen, den Monaden des Leısnız und den hylozoistischen Lehren einiger neueren Naturforscher besteht. So hat CHRISTIAN WIENER, welcher R. Brown widerlegte, es nicht für überflüssig ge- halten, festzustellen, dass die activen Molecüle keine Infusorien sind ***. Nach SCHULTZEf und WIENER hat SIGIsMmUNnD Exner es wahrscheinlichgemacht ff, dass jene von R. Brown beobachteten Be- wegungen der Molecüle, welche hier- durch ihren Namen erhalten haben, nur durch innere Strömungen im Wasser, welche um so energischer sind, je in- tensiver die Einwirkung von Licht und Wärme ist, entstehen. Aber vor RoBERT Brown oder auch zu seiner Zeit hat es nicht an sehr gelehrten Männern ge- fehlt, die, wie Oken, HEUSINGER, Pur- KINJE und CARL MEYER in Deutschland der Ansicht waren, dass organische Theilchen existiren, von denen ein je- des seine eigene Seele oder Entelechie, welche Leısnız als Monade bezeichnet des Herrm RoBERT BROWN Entdeckung lebender, selbst im Feuer unzerstörbarer Theilchen in allen Körpern, und über Er- zeugung von Monaden. Carlsruhe und Frei- burg, 1828. Dieses Buch habe ich nicht ge- sehen. jr NSitzungs-Berichte der K. Akademie der Wissenschaften, Mathem. - Naturwiss. Classe. Wien, LVI. B. H. Abth., 1867, p- 116. der neuern Philosophen. hatte, besitze, und wie die Infusorien ein selbständiges Leben führe *. $S 8. Ebendieselbe Ansicht hatten in Frankreich DurrocHher ** und Ras- pAIL***, Denn dieser stellte in seinem neuen System der organischen Chemie die Ansicht auf, als er feststellen wollte, dass eine bestimmte kugelförmige Cıy- stallisation der Kohle und des Wassers Le- ben besitze, dass die neuen vitalen Eigen- schaften der lebenden Wesen, der Thiere oder der Pflanzen von jener Gestalt der Molecüle hergeleitet werden müssen, und dass man keinen andern Unter- schied zwischen organischen und un- organischen Atomen und Molecülen auf- finden könne. Mit dieser Lehre von den organischen Molecülen scheint die Zel- lentheorie, welche von ScHwAnn und andern vor bald fünfzig Jahren begründet wurde, zum grössten Theile übereinzu- stimmen. »Wir halten, sagt Du Boıs-Reymonp, so lange nicht das Gegentheil bewiesen wird, daran fest, dass alle Naturpro- cesse in den Elementarorganismen, wie Bruck die Zellen genannt hat, ganz ebenso sich vollziehen, wie in den übri- gen Naturphänomenen. Diese vitalen Zellprocesse kommen unserer Ansicht nach durch die Kräfte der Atome selbst, nicht aber durch unbestimmte Entele- chien zu Stande. « S 9. Obwohl jene Zellen der Phy- siologen mit den Monaden des LEIBnız in keiner Verbindung zu stehen schei- nen, so haben dennoch fast alle sogleich anerkannt, dass die Lehre jenes Philo- sophen gleichsam in der neuen Theorie erneuert worden sei, und JOHANNES * Du Boıs-REyMoND, LEIBNIZ’sche Ge- danken, p. 26. ** Memoires pour servir a l’histoire ana- tomique et physiologique des vegetaux et des animaux, par M. H. DuTrocHkT (Paris, 1837). II, 468: De la structure intime des organes des animaux et du mecanisme de leurs actions vitales. #** Nouveau systeme de chimie organique (Paris, 1838). $ 831, 832, 1556, 4421. 333 MÜLLER war von dieser innern Ver- wandtschaft so fest überzeugt, dass er in seinem berühmten Handbuch der Physiologie des Menschen die organi- schen Zellen Monaden nannte. Da die lebenden Wesen ihre Nahrungsstoffe von den leblosen hernehmen, so waıf sich jener berühmte Mann die Frage auf, ob nicht wie die übrigen Natur- kräfte auch ein Princip der Intelligenz in aller Materie vorhanden sei? Nach MEYER und PurKkISnyJE, welche die or- ganischen Urtheilchen oder Monaden in allen Theilen der Pflanzen und Thiere vermutheten ff, bezeichnete JOHANNES MürLtEer selbst ebendieselben Urtheil- chen, aus welchen die organisirten Kör- per bestehen, als Monaden, ja er ver- stand unter dieser Bezeichnung sogar die kleinsten Organismen, welche unter- gehen würden, wenn sienicht immer neue Kraftzufuhr erhielten, und welche, wie Allen bekannt ist, die Physiologen or- ganische Zellen genannt haben. Diese physiologische und nicht philosophische Bedeutung des Wortes gebrauchte er, und aus diesem so bestimmten Begriffe entnahm er seine Beweismittel zur Wi- derlegung derjenigen, welche seine Mo- naden mit denen des Hrrsarr identi- ficiren wollten. Denn es sieht jeder ein, dass diese, wie die Monaden des Leıenız einfache Substanzen sind und daher gleichsam mathematische, untheil- bare und unveränderliche Punkte. Wäh- rend aber jene wahren Atome des Leır- nız Leben besitzen und mit anderen Kräften ausgerüstet sind, besitzen die Monaden des HrrBArT dagegen der- artige Grundeigenschaften nicht, son- + Organische Monaden. V. Handb. der Phys. d. Menschen, II. (Coblentz 1840), p. 555—555 (A. Urtheilchen der organischen Körper. B. Monaden im Sinne der philo- sophischen Atomistik). ++ Die Idee wirksamer organischer Ur- theilchen, organischer Monaden. — Die Idee von selbständig wirkenden Urtheilchen. J. MÜLLER, Handbuch, 1. 1. 334 dern erzeugen nur, wenn sie auf ein- ander einwirken und eine Störung setzen, gegenseitig die eine in der andern eine Selbsterhaltung und täuschen uns durch Hermann Müller, Die Vielgestaltigkeit eine trügerische Continuität, welche in uns Veranlassung giebt zur Bildung der gewöhnlichen Dingbegriffe. (Fortsetzung folgt.) Die Vielgestaltigkeit der Blumenköpfe von Gentaurea Jacea. Von Dr. Hermann Müller. Für die Entwickelungslehre, nach welcher die Verschiedenheiten der Arten, Gattungen, Familien u. s. w. von indi- viduellen Abänderungen ausgegangen sein müssen, sind Beispiele hochgradiger Variabilität immer von besonderem In- teresse. Ich möchte deshalb die Leser dieser Zeitschrift auf die Blüthenköpfe unserer gemeinen Üenlaurea Jacea auf- merksam machen, die nicht nur in Bezug auf Augenfälligkeit, Farbe und Gestaltung ihrer Blumen stark differiren, sondern namentlich auch in Bezug auf Geschlechtervertheilung kaum weniger weit auseinander gehen, als die ganze Abtheilung der Compositen überhaupt. Die Köpfchen desselben Stockes fand ich immer von annähernd gleicher Form, am häufigsten so, wie ich sie bei Abfassung meines Buchs über die Befruchtung der Blumen durch Insekten (vgl. S. 382—384 desselben) allein kannte, d. h. mit lauter unter sich gleichen Rand- und Scheibenblüthen, auf welche die damals gegebene Be- schreibung passt: »Sechzig bis über hundert Blüthen mit 7—10 mm langer Blumenröhre, 3—4'/2 mm langem Glöck- chen und etwa 5 mm langen, linealen Zipfeln sind in ein Blüthenkörbchen ver- einigt, dessen die Röhren umschliessen- der Theil nur S—10 mm Durchmesser hat. Indem aber die Röhren mit ihrem oberen Ende sich um so stärker nach aussen biegen, je näher sie dem Rande stehen, und indem dadurch die aus dem Blüthenkörbehen hervorragenden Glöckchen divergiren, stellen die in voller Blüthe befindlichen Körbchen, von oben gesehen, rothe kreisförmige Flächen von 20—30 mm Durchmesser dar.«< Betreffs der Bestäubungsein- richtung dieser Form, die mit der Mehrzahl der Cynareen im Wesentlichen übereinstimmt und deshalb wohl als die Stammform von Üentaurea Jacea betrachtet werden darf, verweise ich auf Text und Abbildung meines eben genannten Buches. Der eben eitirten äusseren Beschreibung .dieser Stamm- form habe ich nur hinzuzufügen, dass auf sterilem Haideland an kleinen Stöcken die Blumengesellschaften nicht selten bis. 15, bisweilen sogar bis 10 mm Durchmesser und bis zu einer Zahl von 40 bis 32 einzelnen Blüthen hinabsinken. Von dieser Stammform aus lassen sich nun, namentlich auf Culturland, mannigfache Abstufungen einerseits zu- der Blumenköpfe von Centaurea Jacea. nehmender, andererseits abnehmender Augenfälligkeit verfolgen, mit denen zugleich gewisse Abänderungen der Be- fruchtungsorgane und der Blumenfarbe verbunden sind. Die Augenfälligkeit des Blumenkörbchens nimmt stufen- weise ab durch eine Verkleinerung seiner Blüthen, die von aussen nach innen fortschreitet und regelmässig von einer Verkümmerung der Antheren und einem Dunklerwerden der Blumenfarbe begleitet ist. Dagegen nimmt die Augen- fälligkeit der Körbchen von der Grund- form aus stufenweise zu durch immer stärkeres Wachsen und sich nach aussen Biegen der Randblüthen, welches zu- gleich von einem Verkümmern der Be- fruchtungsorgane und des Nektariums, sowie von einem Aufgeben der Glöckchen- form und von einem Blasserwerden der Randblüthen, zuletzt selbst von einem Aufgeben der weiblichen Funktion seitens der Scheibenblüthen begleitet ist. Die äussersten Glieder dieser beiden in Bezug auf Augenfälligkeit entgegen- gesetzten Abänderungsrichtungen sind von erstaunlicher Verschiedenheit. Wer sie in einer ihm fremden Gegend zum ersten Male sähe, ohne die Ausbildung ihrer Geschlechtsorgane zu untersuchen und ohne ihre Zwischenstufen zu kennen, würde sie sicher für zwei weit ausein- anderstehende Arten halten. Wären diese entgegengesetzten Ab- änderungen nur durch eine Verschieden- heit des Bodens, der Feuchtigkeit oder der Belichtung hervorgebracht, so müsste mit der Ursache auch die Wirkung wieder verschwinden, und man würde an demselben Standorte, unter ganz gleichen äusseren Bedingungen, auch nur Stöcke mit gleicher Form der Blumenköpfchen antreffen. Das ist aber keineswegs der Fall. Auf derselben Wiese, an demselben Ackerraine stehen nicht selten Stöcke mit ganz verschie- denen Blumenköpfen dicht neben ein- ander. Gerade zwei ziemlich extreme Formen von Blumenköpfen, die ich auf 335 zwei dicht neben einander stehenden Stöcken am Rande eines Ackerfeldes (am 19. August 1881) im Vorüber- gehen zufällig erblickte, veranlassten mich, der gemeinen Centaurea Jacea, mit der ich längst abgeschlossen hatte, von Neuem meine Aufmerksamkeit zuzu- wenden. Da diese beiden Stöcke mit ihrer hochgradigen Verschiedenheit unter gleichen Lebensbedingungen den schla- gendsten Beweis liefern, dass ihr Variiren nicht bloss durch physikalische und chemische äussere Einwirkung bedingt sein kann, sondern wesentlich mit auf einerindividuellenVerschiedenheit derin- neren Beanlagung beruhen muss, so halte ich es für der Mühe werth, gerade ihre Unterschiede im einzelnen darzulegen. Die Köpfchen des einen Stockes sind von blass rosenrother Blumenfarbe und erreichen durch bedeutend vergrösserte und nach aussen gebogene geschlechts- lose Randblüthen einen Durchmesser von reichlich 50 mm; die des anderen Stockes sind von merklich dunklerer Blumenfarbe als die der gewöhnlichen Form und haben im ausgebreitetsten Zustande nur 15—18 mm Durchmesser; in den ersteren sind nur die männ- lichen, in den letzteren nur die weib- lichen Befruchtungsorgane zurFunktions- fähigkeit entwickelt.. Die Zergliederung eines Köpfchens des grossblumigen, männlichen Stockes ergab 14 geschlechts- lose vergrösserte Randblüthen und 51 männliche, in ihren Dimensionen im ganzen der Stammform gleichende, nur im Glöckchen etwas (bis zu 5 mm) verlängerte Scheibenblüthen, zusammen also 66 Blüthen. Ein Köpfchen des kleinblumigen weiblichen Nachbar- stockes, das ich ebenfalls zergliederte, umfasste dagegen 78 Blüthen von gleicher Bildung. In den Randblüthen des grossblumigen Stockes sind die Ovarien zu dünnen (nur !/s bis '/s mm dicken) Rudimenten von normaler Länge (1!/g mm) verkümmert, ohne Samen- knöspchen; auch von Staubgefässen, 336 Stempeln und Nektarien ist in diesen Blüthen keine Spur vorhanden. Dafür aber sind ihre Blumenkronenröhren, von 7—10 mm bei der Stammform, auf 16—20 mm verlängert, mit ihrer die Körbehenhülle überragenden, roth- gefärbten Aussenhälfte gerade nach aussen gerichtet und laufen am Ende derselben, ohne sich erst in ein Glöck- chen zu erweitern, noch überdies in 5 divergirende lineale Zipfel von 10 bis 13 mm Länge aus. In den Scheiben- blüthen derselben Köpfchen sind die Ovarien wenig oder gar nicht ver- kümmert, bei gleicher Länge etwa 3mal so dick (?/a mm), und enthalten ein ziemlich oder vollständig ausgebildetes Samenknöspchen, das sich oft durch blossen Druck aus dem Fruchtknoten hervorpressen lässt. Auch ihr Griffel ist wohl entwickelt und wächst bis 4!/a mm lang aus der Antherenröhre hervor; er ist, wie bei der Stammform, am Grunde von einem Nektarkragen umgeben, der durch die Blumenkronen- röhre durchscheint und reichlich Honig absondert; er trägt, wie bei der Stamm- form, unter seiner Spaltung in zwei Aeste eine ringförmige Fegebürste, die den Pollen aus der Antherenröhre her- vorfegt; seine Funktion als weibliches Befruchtungsorgan hat er dagegen auf- gegeben: seine beiden Aeste bleiben stets bis oben hin dicht an einander liegen. Durch Druck lassen sie sich zwar im letzten Drittel ihrer Länge von einander trennen und zeigen dann unter dem Mikroskop auf der Innen- fläche noch die normale Ausbildung der Narbenpapillen; vielleicht würden sich diese nach künstlicher Blosslegung auch noch als funktionsfähig erweisen lassen; im natürlichen Zustande aber sind sie nun funktionslos. Die Staub- gefässe sind von ganz normaler Ent- wickelüng und Farbe, ihre Filamente mit Härchen besetzt (H. M. Befruchtung S. 383, Fig. 146, 3, h.) und reizbar, wie bei der Stammform. Hermann Müller, Die Vielgestaltigkeit Die kleinblumigen, weiblichen Köpf- chen des Nachbarstocks haben lauter kräftig entwickelte Ovarien mit ausge- bildeten Samenknöspchen, aber reducirte Blumenkronen undrudimentäreAntheren. Ihre Blumenkronen bestehen aus einem nur 5—6 mm langen weissen Röhrchen, das sich am oberen Ende schwach nach aussen biegt, aus einem nur 3 mm langen Glöckchen und fünf nur schwach divergirenden linealen, 4'/g mm langen Zipfeln. Ihre Antherenröhren sind ver- schrumpft, an Länge bedeutend redueirt (von 41/2 bei der Stammform auf 2!/2 mm ohne die Endklappen), bräunlich ge- färbt, dem durch sie hindurchgehenden Griffel dicht anliegend; nur ihre End- klappen haben noch die normale Länge (1!/2 mm), sind aber von weisser Farbe. Auch auseinander gebreitet und auf der Innenseite unter dem Mikroskop betrachtet, zeigen die Antheren keine Spur von Pollen. Dieselbe Farbe und Pollenlosigkeit haben sie auch schon in der Knospe. Die Härchen an den Staubfäden sind bis auf kleine Ueber- reste verkümmert; ihre Reizbarkeit ist gänzlich verloren gegangen. Der Griffel überragt die Antherenröhre auf etwa 4 mm Länge, wovon etwa 1'/s mm auf seine beiden Aeste kommen. Die Griffelbürste, obgleich ebenfalls funk- tionslos geworden, ist noch ebenso ent- wickelt vorhanden wie bei der Stamm- form. Die Griffeläste divergiren als- bald nach dem Hervortreten aus der Staubgefässröhre mit ihren äussersten Spitzen ziemlich stark, legen sich aber wieder zusammen, sobald sie befruchtet sind. An dem soeben betrachteten Stocke waren sie grösstentheils zu- sammengeschlossen, was auf reichliche Kreuzungsvermittlung hinweist. Auch eine grosse Menge wohlentwickelter Samen in den alten Köpfchen desselben Stockes und die direkt beobachtete Häufigkeit der Hummel- und Bienen- ' besuche, nicht gerade an den beiden in Rede stehenden Stöcken, wohl aber der Blumenköpfe von Centaurea Jacea. an Centaurea Jacea überhaupt, lassen an der Reichlichkeit der Kreuzungs- vermittlung keinen Zweifel. So gross sind die Verschiedenheiten der Blumenköpfe zweier Stöcke von Centauwrea Jacea, die an demselben Stand- orte dicht neben einander wachsen, ohne dass sich inunmittelbarer Nähe Zwischen- stufen finden! Durchstreifen wir aber jetzt die in geringer Entfernung gelegenen Wiesen- flächen der Lippstädter Flur, so können wir in wenigen Stunden einen grossen Strauss verschiedener Blüthenkörbchen von Oentaurea Jacea eingesammelt haben, die eine lückenlose Kette von Zwischen- stufen zwischen den beiden soeben be- schriebenen, ziemlich extremen Formen bilden und die allmähliche Ausbildung derselben Schritt für Schritt erkennen lassen : An manchen Stöcken, die sich un- mittelbar an die Stammform anschliessen, finden wir noch fast alle Blüthen der Körbehen zweigeschlechtig und auch sonst in jeder Beziehung wie bei der Stammform ausgebildet; nur einige Blüthen ringsum am Rande sind rein weiblich und auch übrigens gleich den oben beschriebenen weiblichen Blüthen abgeändert. An anderen Stöcken hat sich die Zahl der rein weiblichen Blüthen vom Rande her mehr und mehr gesteigert, bis endlich nur noch eine winzige Zahl in der Mitte des Körbchens stehender Blüthen oder selbst nur eine einzelne zweigeschlechtig und auch übrigens gleich denen der Stamm- form geblieben ist, so dass uns nun Schritt für Schritt der Uebergang von der Stammform zur rein weiblichen vor Augen liegt. Nach der anderen Seite hin reihensich an die Stammform Stöcke, deren Randblüthen sich stufenweise immer mehr vergrössert und zugleich erst die Funktion der Staubgefässe, dann auch die der Stempel, dann mehr und mehr bis zu völligem Schwund auch die funktionslosen Ueberreste von Kosmos, V. Jahrgang (Bd. X). 337 beiderlei Geschlechtsorganen nebst Nek- tarium und Glöckchenform verloren haben und nun ganz ausschliesslich noch der Sichtbarmachung der Blumengesellschaft dienen, während ihre Scheibenblüthen zunächst noch Form und Zweigeschlech- tigkeit der Stammform bewahren. End- lich aber, nachdem die Randblüthen ihre Corolle aufs Aeusserste vergrössert und, abgesehen von einem dünnen, tauben Fruchtknoten, alle übrigen Theile ganz verloren haben, ergreift die Ab- änderung auch die Scheibenblüthen ; deren Griffeläste thun sich, nach dem Herausfegen des Pollensausder Antheren- röhre, immer weniger, schliesslich gar nicht mehr auseinander und beginnen dann von der Basis her zu einer soliden Fegestange zusammenzuwachsen. Damit ist nun die weite Kluft zwischen den beiden so auffallend verschiedenen Stöcken, die wir zuerst dicht neben einander an demselben Ackerrain fanden, vollständig ausgefüllt. Gleichzeitig aber mit den Zwischen- stufen sind uns auch noch neue Formen begegnet, die nach beiden Seiten hin über die äussersten uns bis jetzt be- kannten hinausgehen. Die.rein männlichen Köpfchen mit ge- schlechtslosen strahlenden Randblüthen steigern nämlich ihre Augenfälligkeit bis- weilen noch erheblich stärker als wir bis jetzt gesehen haben. Sie erreichen einen Durchmesser von reichlich 55 mm’ und lassen ihre stark vergrösserten Randblüthen bis zu reinem Weiss ab- blassen, so dass sie von dem Roth der Scheibenblüthen prächtig abstechen und weithin in die Augen fallen. Der erste Anblick eines solchen Blüthenkörbehens von Centaurea Jacea mit rother Scheibe von 23 und weissem Strahlenkranze von 55 mm Durchmesser wirkt in der That so überraschend, als wenn man plötzlich eine auffallend schöne, ganz neue Blumenart entdeckt hätte. Doch zeigt sich auch diese Form mit der bereits beschriebenen, rein männlichen, 22 338 sowohl in Grösse als in Farbe noch durch alle Zwischenstufen verbunden und überdiess in der Zahl der Rand- und Scheibenblüthen und in der Ver- kümmerung der Geschlechtsorgane der ersteren noch in hohem Grade variabel. So hatte eines der weissumstrahlten Köpfchen, welches ich zergliederte, 17 Randblüthen und 69 Scheibenblüthen, ein anderes (eines getrennten Stockes) nur 10 Randblüthen und 31 Scheiben- blüthen, und in den weissen strahlenden Randblüthen verschiedener Stöcke finden sich bald nur Rudimente von Staub- fäden, bald bloss vom Griffel, bald von beiden, bald endlich sind beiderlei Theile spurlos verschwunden. (Dieselbe Variabilität der Geschlechtsrudimente in den Randblüthen wird sich bei weite- rem Nachsuchen vermuthlich auch in den rothumstrahlten Köpfchen heraus- stellen.) In noch überraschenderer Weise sind von den uns bereits bekannten Formen die am entgegengesetzten Ende der Reihe stehenden über die bis jetzt festgestellte Grenzehinausgegangen. Von den Stöcken mit rein weiblichen Köpfchen, die, wie wir sahen, an Augenfälligkeit am weite- sten unter die Stammform hinabgesunken sind, haben nämlich manche nachträg- lich dadurch eine erhöhte, selbst über die Stammform etwas hinausgehende Augenfälligkeit wieder erlangt, dass auch ihre Randblüthen geschlechtslos und strahlend geworden sind. Sie er- reichen dadurch 32—33 mm Durch- messer (gegen 15—18 mm bei den nicht strahlenden weiblichen), während die Köpfchen der Stammform in der Regel nur zwischen 20 und 30 mm schwanken. Ein solches wieder augenfällig ge- wordenes weibliches Köpfchen, welches ich vor mir habe, besitzt 19 strahlende Randblüthen und 49 Scheibenblüthen. Die letzteren zeigen sich von denen der oben beschriebenen nicht strahlender weiblicher Köpfchen in keinerlei Be- Hermann Müller, Die Vielgestaltigkeit ziehung bemerkenswerth verschieden ; die strahlenden Randblüthen dagegen haben sich fast ebenso beträchtlich abgeändert als die der rein männlichen Köpfchen. Sie bestehen aus einem dünnen tauben Ovarium und einer 22 bis 23 mm langen Corolle, während bei ihren nicht strahlenden Nachbarn die Ovarien voll entwickelt, die Corollen nur 13—14 mm lang sind. Die Corolle der Randblüthen besteht aus einer 14 bis 15 mm langen Röhre, die mit den 7—9 untersten Millimetern ihrer Länge in der Körbchenhülle eingeschlossen, weiss geblieben und gerade nach oben gerichtet ist, dann sich plötzlich nach aussen umbiegt, röthlich färbt, ohne ein Glöckchen zu bilden allmählich erwei- tert, undam Ende in fünf 8—9 mm lange Zipfelausläuft, während beiden Scheiben- blüthen die nur 4'/e—6 mm lange weisse Röhre sich in ein 31/g—4 mm langes Glöckchen erweitert, das sich in fünf 4—4'/g mm lange Zipfel spaltet. Die Antheren der strahlenden Rand- blüthen sind spurlos verschwunden; ihr Griffel dagegen ist noch vorhanden. Er ist aber ebenfalls funktionslos ge- worden; seine beiden Aeste thun sich gar nicht mehr auseinander, und seine Fegebürste zeigt den ersten Beginn der Verkümmerung, indem sie nicht mehr ganz so stark entwickelt ist wie bei den Scheibenblüthen, bei denen sie zwar ebenfalls nicht mehr fungirt, aber doch derjenigen der Stammform noch gleicht. Bevor wir nun den Versuch wagen, die vorliegenden Thatsachen mit einem geistigen Bande zu umfassen, erscheint es zweckmässig, aus der lückenlosen Kette in einander übergehender Formen die durch ihre Geschlechtervertheilung sich von einander unterscheidenden her- auszugreifen und in derjenigen Ordnung, in welcher sie sich durch Zwischenstufen aneinander reihen, übersichtlich zu- sammenzustellen. Wir erhalten so folgende der Blumenköpfe von Centaurea Jacea. Uebersicht der durch Geschlechtervertheilung verschiedenen Blüthenköpfchen von Centaurea Jacea. Stammform. Alle Blüthen des Köpfchens zweigeschlechtig. d. Uebergang zur Weiblichkeit. a! (erste Stufe). Aeussere Blüthen ver- kleinert, weiblich , innere zweigeschlechtig, von ursprünglicher Form. a? (zweite Stufe. Alle Blüthen ver- kleinert, weiblich. a? (dritte Stufe), Randblüthen wieder vergrössert, strahlend, geschlechtslos, Schei- benblüthen verkleinert, weiblich. Wenn wir zunächst nur den Aus- gangspunkt und das Ende dieser zwei- spaltigen Formenreihe mit einander ver- gleichen, so ergiebt sich, dass die bei | der Stammform in jeder einzelnen Blüthe vereinigten beiden Geschlechter durch die stattgehabte Umbildung in stufen- weisem Fortschritte auf zweierlei ge- trennte Stöcke auseinandergelest sind, die zwar beide an Augenfälligkeit der Blumenköpfe die Stammform übertreffen, aber doch in ungleichem Grade, und zwar so, dass die rein männlichen Köpf- chen viel augenfälliger sind, als die rein weiblichen. Der entscheidende Vortheil, der zur Ausprägung dieser beiden Endglieder durch Naturauslese geführt hat, lässt sich daher, wenn wir zugleich den Insektenbesuch berücksichtigen, der den Blumen von Centaurea Jacea that- sächlich zu Theil wird, unschwer er- kennen. In meinem Buche über Befruchtung ‚der Blumen durch Insekten habe ich als Besucher der Blüthen von Centaurea Jacea nicht weniger als 48 verschiedene Insektenarten nachgewiesen, die fast sämmtlich blumenstet sind und zum grössten Theile zu den eifrigsten Blumen- gästen gehören. 28 derselben sind Bienen, und von denselben finden sich b. Uebergang zur Männlichkeit. b! (erste Stufe). Randblüthen vergrössert, strahlend, weiblich, innere zweigeschlechtig, von ursprünglicher Form. b? (zweite Stufe). Randblüthen stärker ver- grössert, strahlend, geschlechtslos, innere zweigeschlechtig, von ursprünglicher Form. b° (dritte Stufe). Randblüthen noch stär- ker vergrössert, (oft weiss-) strahlend, ge- schlechtslos, innere schwach vergrössert, der Funktion nach männlich. die Honigbiene, die Hummeln und Saropoda bimaculata ganz besonders häufig auf den Blüthenköpfchen von Oentaurea Jacea ein. Auf diesen schon bei der Stammform, die mir damals allein bekannt war, so reichlichen In- sektenbesuch kann das Strahlendwerden der Randblüthen nur noch weiter stei- gernd gewirkt haben. Sobald aber der Besuch zur Kreuzung geeigneter Insekten völlig gesichert ist, gereicht einer Blume jede Abänderung, welche die Kreuzung getrennter Stöcke durch dieselben wahr- scheinlicher macht, zum entscheidenden V.ortheile, und es giebt kein wirksameres Mittel, regelmässige Kreuzung getrennter Stöcke durch die besuchenden Insekten ganz unausbleiblich zu machen, als die Vertheilung beider Geschlechter auf ge- trennte Stöcke und die gleichzeitige Veranlassung der Besucher, regelmässig erst auf männliche Stöcke zu fliegen, auf denen sie sich mit Pollen behaften, dann auf weibliche, auf welchen sie den mitgebrachten Pollen zum Theil an den Narben absetzen. Diese Veranlassung wird hier, wie bei anderen Diöecisten, den Insekten dadurch gegeben, dass die männlichen Blüthen die weiblichen an Augenfälligkeit übertreffen. Es kann somit nicht dem mindesten Zweifel unter- liegen, dass bei dem überreichlichen 22* 340 Insektenbesuche, wie er thatsächlich an Centaurea Jacea wiederholt beobachtet worden ist, die strahlenden männlichen und weiblichen Köpfchen zusammen den Vortheileiner Kreuzung getrennter Stöcke sicherer und regelmässiger gewähren, als die Blüthen der Stammform, welche die Möglichkeit der Selbstbefruchtung nicht ausschliessen. Zum Verständniss unserer zweispalti- gen Entwickelungsreihe genügt es indess nicht, die Eigenthümlichkeiten ihrer beiden Endglieder als unter den ge- gebenen Lebensbedingungen entschei- dend vortheilhafte zu erkennen; auch die ihnen vorausgegangenen, nicht minder scharf ausgeprägten Abände- rungen bedürfen der Erklärung. Auch jede von diesen konnte nur dadurch zu der Ausprägung, in der sie uns vorliegt, gelangen, dass sie entweder für sich allein, oder mit der Stamm- form zusammen, die Erhaltung der Art besser sicherte, als die Stammform für sich allein diess zu leisten vermag. Die beiden ersten Stufen des Ueber- ganges zur Männlichkeit bestehen in einem immer stärkeren Wachsen der Randblüthen und damit der Augenfällig- keit der ganzen Blumengesellschaft und gleichzeitig in einem immer stärkeren Verkümmern der Befruchtungsorgane derselben Blüthen, welches letztere mit den Staubgefässen beginnt. Da beiderlei Veränderungen im ganzen in gleichem Grade fortschreiten, so liegt die Ver- muthung nahe, dass beide in unmittel- barem ursächlichem Zusammenhange stehen, derart, dass die ursprünglich den Befruchtungsorganen zufliessenden Säfte mehr und mehr diesen entzogen werden und statt dessen der Blumen- krone zu gute kommen. Wir werden später Gründe kennen lernen, die diese Vermuthung fast unabweisbar zu machen scheinen. Die Randblüthen werden also strah- lend und zunächst rein weiblich; ihre strahlende Corolla bietet anfliegenden Hermann Müller, Die Vielgestaltigkeit Besuchern die bequemste Anflug- und Standfläche dar, und ihre Narbe ent- nimmt denselben sogleich einen Theil des von anderen Köpfchen desselben oder auch eines fremden Stocks mitge- brachten Pollens. Die Blumengesell- schaft hat mithin an Augenfälligkeit und damit an Reichlichkeit des Besuchs von Kreuzungsvermittlern gewonnen, ohne an Zahl fruchttragender Indi- viduen etwas einzubüssen. Der erste Schritt des Ueberganges zur Männlich- keit ist damit ebenso verständlich, wie die Ausprägung rein weiblicher strah- lender Randblüthen bei Arnica, Chry- santhemum und der Mehrzahl der übri- gen Senecioniden. Nun steigert sich die Vergrösserung der Randblüthen noch weiter, während gleichzeitig auch ihre weiblichen Ge- schlechtsorgane der Verkümmerung an- heimfallen. Ein Theil der Gesellschafts- glieder opfert damit seine individuelle Existenz dem Besten der ganzen Blumen- gesellschaft, und diese gewinnt durch die erhöhte Augenfälligkeit und den da- durch gesteigerten Besuch der Kreuzungs- vermittler noch mehr, als sie durch das Sterilwerden der Randblüthen verliert. Das Köpfchen befindet sich jetzt auf dem Standpunkt von Centaurea Cyanus und erfreut sich derselben Vortheile wie dieses. Auch die zweite Stufe des Ueberganges zur Männlichkeit lässt sich also, als durch Naturauslese zur Aus- prägung gelangt, wohl begreifen; nur wird man das Verkümmern der bis dahin noch erhalten gebliebenen weib- lichen Geschlechtsorgane nicht als un- mittelbare, sondern nur als mittelbare Folge der Naturauslese betrachten dürfen, d.h. man wird annehmen müssen, dass die Körbchen mit den am stärksten vergrösserten Corollen durch Naturaus- . lese erhalten worden sind, und dass durch das Wachsen der Corollen über ein gewisses Maass hinaus das Ver- kümmern des letzten Restes der Be- fruchtungsorgane, ganz unabhängig von der Blumenköpfe von Centaurea Jacea. Naturauslese, bewirkt worden ist. Für einen solchen ursächlichen Zusammen- hang spricht folgende Erwägung: Durch Naturauslese können irgend- welche Organe überhaupt, also auch im vorliegenden Falle die weiblichen Befruchtungsorgane der Randblüthen, nur beseitigt werden, nachdem sie nutz- los geworden sind. Nun sind zweierlei Bedingungen denkbar, unter denen ihr Nutzloswerden eintritt. Einerseits kann die stufenweise Vergrösserung der Rand- hlüthen die strahlenden Köpfchen so hervorstechend augenfällig machen, dass sie die Aufmerksamkeit umherfliegender Blumengäste immer oder doch in der Regel zuerst auf sich lenken und von denselben zuerst besucht werden. Wenn dieser Fall eintritt, so haben die Be- sucher, wenn sie auf den strahlenden Köpfchen auffliegen, noch keinen Pollen anderer Stöcke an sich geheftet, der die Narben der strahlenden befruchten könnte. Diese Narben sind also nun überflüssig geworden und werden, da jede Ersparniss nutzloser Bildungen ein Vortheil ist, der Verkümmerung anheim- fallen. Dieses Funktionsloswerden der weiblichen Geschlechtsorgane und ihr darauffolgendes Beseitigtwerden durch Naturauslese würde aber alle Blüthen der strahlenden Köpfchen gleichzeitig betreffen und die ganzen Köpfchen rein männlich machen. Es würde also nur den dritten und letzten Schritt des Uebergangs zur Männlichkeit erklären, aber nicht den zweiten, bei welchem bloss die bis dahin noch erhalten ge- bliebenen weiblichen Geschlechtsorgane der Randblüthen beseitigt werden. Andererseits kann die erhöhte Augen- fälligkeit der strahlenden zweigeschlech- tigen (b!) und weiblichen Köpfchen (a°) den Insektenbesuch so steigern, dass der Wegfall des weiblichen Geschlechts in den ersteren, welcher Kreuzung getrennter Stöcke unausbleiblich macht, vortheil- hafter wird, als das Erhaltenbleiben desselben, welches ihre Befruchtung mit 341 Pollen desselben Stockes ermöglicht. Aber auch in diesem Falle werden die weiblichen Befruchtungsorgane in allen Blüthen der strahlenden zweigeschlech- tigen Köpfchen gleichzeitig nutzlos; auch dieser ursächliche Zusammenhang kann also bloss die letzte Stufe des Ueberganges zur Männlichkeit, nicht des Geschlechtsloswerden der bis dahin weiblichen Randblüthen erklären. Soweit wir zu erkennen vermögen, werden also in den strahlenden Rand- blüthen, während ihre Corollen sich stufenweise weiter vergrössern, die weib- lichen Geschlechtsorgane funktionslos und fallen der Verkümmerung anheim, ehe noch ihre Funktion nutzlos ge- worden ist. Sie werden also jedenfalls nicht durch Naturauslese beseitigt, son- dern wahrscheinlich nurdurch Entziehung des Säftezuflusses, den die Corolla in verstärktem Grade für sich in Anspruch nimmt. Derselben Ursache könnte man es zuschreiben, dass mit dem Griffel auch das seine Basis ringförmig umschlies- sende Nektarium verschwindet. Da dasselbe aber jedenfalls mit dem Ge- schlechtsloswerden der Randblüthe, wahrscheinlich sogar schon mit der Verlängerung ihrer Röhre und dem Ver- lorengehen ihres Glöckchens nutzlos wird, so kann an seiner Beseitigung auch Naturauslese mit betheiligt sein. Wir beschliessen hiermit zunächst die Betrachtung der Abänderungen, welche von der Stammform aus zu den strah- lenden männlichen Köpfchen geführt haben und fassen den Uebergang der- selben Stammform in strahlende weib- liche Köpfchen ins Auge. Wie bei @Glechoma, Thymus und vielen anderen Gynodiöcisten (vgl. Kosmos Bd. II, S. 23) sind auch bei Centaurea Jacea die ursprünglich proter- andrischen Zwitterblüthen auf gewissen Stöcken durch Verkümmerung der Anthe- ren rein weiblich geworden, unter gleich- zeitiger Verkleinerung der gefärbten 342 Blüthenhüllen. Auch in der Reichlich- keit der Honigabsonderung und des Insektenbesuches stimmt sie mit den genannten Gynodiöcisten überein. Im Gegensatze zu diesen sind aber bei ihr nicht nur einzelne Blüthen, sondern ganze Blüthengesellschaften weiblich und zugleich kleinblumig geworden, und diese Umwandlung hat die einzel- nen Glieder der Gesellschaft nicht gleich- zeitig, sondern nach einander, von der Peripherie des Köpfchens nach der Mitte zu fortschreitend, betroffen. Centaurea Jacea lässt daher in ihrem Uebergange zur Diöcie Zwischenstufen erkennen und gestattet Schlüsse, zu welchen jene einzelblüthigen Gynodiö- cisten keine Gelegenheit geben und die daher für das Verständniss der Ent- stehung der Gynodiöcie und Diöcie von besonderem Werthe sind. Schon die ersten einzelnen Blüthen, welche am Rande des Köpfchens der Stammform mit verkleinerter Corolla auftreten, besitzen verkümmerte Staub- gefässe und gleichen in jeder Beziehung den Blüthen der rein weiblichen Köpf- chen. Ihre Antheren sind im Zusammen- hang mit der Verkleinerung der Corolla verkümmert, noch ehe sich die Augen- fälligkeit merklich vermindert hat! Die früher* in Bezug auf Glechoma und Thymus von mir versuchte Erklärung der Gynodiöcie, nach welcher die klein- sten Blüthen deshalb rein weiblich geworden wären, weil sie von den Blumengästen in der Regel zuletzt he- sucht werden und ihren Pollen daher nutzlos produciren, kann deshalb bei Centaurea Jacea keine Anwendung finden. Die für die Verkümmerung der Antheren entscheidenden Momente sind aber bei Glechoma und Thymus anscheinend ganz * Die Befruchtung der Blumen, p. 319. 326. ## Die verschiedenen Blüthenformen(Uebers. von J. V. Carus), p. 259—262. 2 *#* Diess zahlenmässig nachzuweisen, war mir deshalb unmöglich, weil meine Beob- achtungen erst in den letzten Wochen des Hermann Müller, Die Vielgestaltigkeit dieselben wie bei Centaurea Jacea; auch für diese muss deshalb meine durch Cu. Darwın bereits sehr zweifelhaft gemachte Erklärung der Gynodiöcie nun definitiv aufgegeben werden! Für Thymus Serpyllum, vulgaris und Satureja hortensis hat Cm. Darwın ** nachgewiesen, dass die weiblichen For- men viel mehr Samenkörner produ- ciren als die hermaphroditischen. Ganz dasselbe ist augenscheinlich bei €. Jacea der Fall**,. In der vermehr- ten Fruchtbarkeit liegt auch bei ihr ein unzweifelhafter Vortheil vor, der durch das Weiblichwerden erst eines Theils, dann allmählich aller Blü- then der Körbchen gewisser Stöcke thatsächlich erreicht worden ist, und dieser Vortheil ist um so grösser, als durch dasselbe Weiblichwerden gewisser Stöcke zugleich die Kreuzung derselben mit getrennten Stöcken unausbleiblich wird. So bieten denn auch die beiden ersten Stufen des Ueberganges der Stammform von Üentaurea Jacea zur Weiblichkeit der Erklärung vom Stand- punkte der Selectionstheorie aus keine besonderen Schwierigkeiten dar. Ebenso wenig der letzte Schritt, der sich an diesen Uebergang anschliesst, das Ge- schlechtslos- und Strahlendwerden der Randblüthen der weiblichen Köpfchen. Denn wie wir einerseits in dem gleich- zeitigen Verkümmern der Antheren und Kleinerwerden der Corolla beim Ueber- gang in den weiblichen Zustand, mit CH. Darwin, eine Kompensation der ge- steigerten Fruchtbarkeit erblicken, so dürfen wir andererseits die Vergrösserung der Randblüthen, durch welche die herab- geminderte Augenfälligkeit der weib- lichen Körbchen, selbst über das ur- sprüngliche Niveau hinaus, sich wieder Sommers begonnen, als bereits ein grosser Theil der Samenkörner ausgefallen war. Ich habe indessen Samen der verschiedenen Formen eingesammelt, um sie in meinem Garten auszusäen und weiter zu beobachten. der Blumenköpfe von Centaurea Jacea. hebt, als Ursache ihres gleichzeitigen Ge- schlechtslos-werdens betrachten. Der Vortheil aber, den die Ausbil- dung strahlender weiblicher neben noch augenfälliger strahlenden, männlichen Köpfchen für die von blumensteten In- sekten so reichlich besuchte Oentaurea Jacea hat, wurde bereits oben, beim Vergleiche der Endglieder ihrer zwei- spaltigen Abänderungsreihe mit der Stammform, dargelegt. So lassen sich sämmtliche Glieder der ungemein vielgestaltigen Formen- reihe der Blüthenköpfchen von Centaurea Jacea als aus einem weiteren Variabili- tätskreise durch Naturauslese glatt her- ausgebildet begreifen. Wollten wir aber trotzdem die dargelegte Entwickelungs- reihe auf einen »Schöpfungsplan« oder auf ein >»immanentes Entwickelungs- gesetz«e zurückführen, so würde (€. ‚Jacea selbst, durch ihre mannigfachen sonstigen Abänderungen, eine solche willkürliche Annahme widerlegen. Denn in der That treten bei ihr auch nicht selten individuelle Abänderungen auf, die, weil sie für das Leben der Pflanze gleichgültig sind, nicht zur festen Ausprägung gelangen, oder, weil sie direkt nachtheilig sind, durch Natur- auslese wieder beseitigt werden. Ich beschränke mich darauf, ein einziges, wie mir scheint, ganz unzweideutiges Bei- spiel der letzteren Art hier anzuführen. In einem Köpfchen von 55 mm Durch- messer, mit geschlechtslosen, weissen, strahlenden Randblüthen und functionell männlichen, rothen Scheibenblüthen trat bei einem Theile der Scheibenblüthen der Griffel in normaler Weise, den Pollen herausfegend, aus dem oberen Ende der Antherenröhre hervor, in noch zahl- reicheren Blüthen aber blieb sein oberes Ende an derselben Stelle innerhalb der Antherenröhre sitzen, und die allmähliche Streckung des ganzen Griffels bewirkte dann bloss, dass er mit seinem unter- halb der Antherenröhre befindlichen Theile sich immer stärker nach einer 343 | Seite hin auswärts bog und die An- therenröhre nach der entgegengesetzten Seite drückte, erst in schräg aufsteigen- der, dann in wagerechter, dann in schräg absteigender Richtung, worauf endlich das Griffelende aus dem unteren Ende der Antherenröhre herausschlüpfte, ohne mehr Pollen hervorzufegen, als die we- nigen Körner, die an der Aussenseite ı der zusammen gelegten Griffeläste und an der Oberseite der Griffelbürste haf- ten geblieben waren. Ich durchmusterte nun hunderte von Blüthenköpfchen nach derselben Abänderung; es gelang mir aber nur noch ein einziges mal, die- selbe aufzufinden, und zwar in einem Köpfchen von 20 mm Durchmesser, wel- ches am Rande ein paar vereinzelte weibliche, sonst lauter zweigeschlechtige, der Stammform gleichende, im ganzen 70 Blüthen umfasste. Bei zweien der- selben drängte sich der wachsende Griffel, wie vorhin beschrieben, unten aus der Antherenröhre heraus, anstatt obendurch dieselbe hindurchzuwachsen, die übrigen Zwitterblüthen waren normal entwickelt. Hier haben wir also eine entschieden unvortheilhafte Eigenthümlichkeit vor uns, die als individuelle Abänderung auftritt, aber, eben weil sie direkt schäd- lich ist, sich nicht dauernd zu erhalten, weiter auszuprägen und andere Formen zu verdrängen vermag. “ie wird sich stets nur so sporadisch, bald bei der einen bald bei der andern Form, ein- finden wie jetzt, wo sie sich in den fortgeschrittensten Fällen noch nicht einmal über sämmtliche Blüthen eines einzigen Köpfchens erstreckt zu haben scheint. Weshalb in der von uns nachge- wiesenen Entwickelungsreihe der Blü- thenköpfehen von Centaurea Jacea die ursprünglicheren Formen durch die aus ihnen hervorgegangenen vortheilhafteren nicht bereits vollständig verdrängt und ersetzt worden sind, ist damit nicht erklärt. Ich kann auch nur unsichere Vermuthungen darüber aufstellen. 344 Es kann das jetzt vorliegende theilweise Verdrängt- und Ersetztwer- den der alten Formen durch die neuen der Anfang des völligen Verschwin- dens der ersteren sein. Es können aber vielleicht auch bei unseren höchst schwankenden Witterungsverhältnissen, die, wie uns noch der letzte Som- mer gezeigt hat, bisweilen eine ausser- ordentliche Insekten - Armuth verur- sachen, in normalen Jahren die neuen, in besonders ungünstigen die alten, den Nothbehelf spontaner Selbstbe- fruchtung ermöglichenden Formen die vortheilhafteren sein, und so dau- Julius Nathan, Ueber die Localisation der Hirnfunctionen ernd beide neben einander erhalten bleiben. Welche dieser oder möglicherweise noch anderer Vermuthungen aber auch die richtige sein mag, in jedem Falle liegt uns in der Vielgestaltigkeit der Blumenköpfe unserer gemeinen Centaurea Jacea ein ungewöhnlich lehrreiches Bei- spiel des Entstehens neuer Blumenfor- men vor, wohl werth, von Jedem, der sich für die Entwickelungslehre inter- essirt, näher ins Auge gefasst zu wer- den, wohl werth einer eingehenden Unter- suchung der Fruchtbarkeit und der Erb- lichkeit der verschiedenen Formen. Ueber die Localisation der Hirnfunctionen an den Grosshirn- hemisphären des Menschen und der Thiere. Von Dr. Julius Nathan. Schon im Alterthum hatten einige Schüler des HıpporrArTes die Ansicht ausgesprochen, dass das Gehirn der Sitz des Denkens sei, und obwohl diese An- sicht durch die fortschreitende Kennt- niss des anatomischen Baues des Thier- und Menschenkörpers bestätigt wurde, so blieb dennoch bis in die neuere Zeit hinein die Frage, in welcher Weise man sich das Gehirn als Sitz der Seele vor- zustellen habe, von den Naturforschern unbeachtet; auch in Philosophenschulen behauptete man oft, dass die Seele im Gehirn ihren Sitz habe oder im Körper. Aber man begnügte sich hier wie dort | mit einer philosophischen Abstraction, die man in dem Worte Sitz ausdrückte, und die nur in oberflächlicher Weise die in dieser Hinsicht herrschende Unkennt- niss verschleierte. Erst Descartes und die sämmtlichen Philosophen der ma- terialistischen Schule versuchten auf speculativem Wege sich eine ihrer An- sicht nach genügende Vorstellung von dem Verhältniss zwischen Gehirn und Seele, sowie von dem Antheil des erste- ren an dem Zustandekommen der psy- chischen Erscheinungen zu bilden. So ist es allgemein bekannt, dass schon Descartes den Sitz der Seele in die Zirbeldrüse des Gehirns verlegte, dass er mit Hülfe seiner Hypothese von den Lebensgeistern einen grossen Theil der organischen und psychischen Erschei- nungen lediglich aufmechanischem Wege zu erklären versuchte. Jedoch alle diese Theorien blieben nicht lange in Gel- tung, sondern mit dem Wechsel der an den Grosshirnhemisphären des Menschen und der Thiere. philosophischen Systeme wechselten auch die Ansichten über das Verhält- niss von Seele und Gehirn. Erst im achtzehnten Jahrhundert be- gannen die Physiologen mit dieser Frage sich zu beschäftigen, man versuchte durch Vivisectionen dieselbe zur Ent- scheidung zu bringen und fand als Re- sultat, dass die Hemisphären des Gross- gehirns durch alle bekannten Reize un- erregbar seien; man glaubte auf Grund der gemachten Beobachtungen mit Recht behaupten zu können, dass es keinen gesonderten Sitz für die verschiedenen geistigen Fähigkeiten gebe, sondern dass die Gehirnrinde ihrer Function nach in allen Theilen gleichwerthig sei. Diese Ansicht wurde von allen For- schern widerspruchslos anerkannt, zu- mal da auch die Pathologen zahlreiche Gehirnverletzungen am Menschen ohne jeden Nachtheil für die seelischen Func- tionen beobachtet hatten, und die Lo- calisationstheorie der Gehirnfunctionen durch die absurden Lehren GALnv’s und SPURZHEIM’s bei den Physiologen sehr in Misskredit gerathen war. Unterden Physiologen war es nament- lich FLourens (1842), welcher durch zwei berühmt gewordene Versuchsreihen nachgewiesen zu haben glaubte, dass die Annahme der Localisation der psy- chischen Fähigkeiten mit den Thatsachen in offenem Widerspruch stehe. Bei der ersten Versuchsreihe hatte dieser For- scher Vögeln das ganze Grossgehirn entfernt und beobachtet, dass diese grosshirnlosen Thiere in einen traum- artigen Zustand verfielen, dass alle Willensactionen und alle Zeichen, aus welchen man auf ein Bewusstwerden der Empfindungen mit Sicherheit schliessen konnte, verschwanden. Die Thiere nah- men nie mehr aus eigenem Antriebe Nahrung zu sich, sondern verhungerten, . selbst wenn man sie auf einen Berg von Nahrungsmitteln setzte; sie hielten sich zwar auf den Füssen und flogen auch, wenn sie in die Luft geworfen 345 wurden, sie verschluckten in den Schna- bel gebrachte Gegenstände und konnten auf diese Weise längere Zeit am Leben erhalten werden, aber sie führten nie mehr eine spontane Bewegung aus. Hieraus glaubte FLourkns mit vollem Recht schliessen zu können, dass das Grossgehirn der einzige Sitz des Wil- lens und der Empfindung sei. Dieser Schluss schien auch durch das Resultat der zweiten Versuchsreihe bestätigt zu werden; denn ob FLourens seinen Ver- suchsthieren das Grossgehirn scheiben- weise von vorn nach hinten, oder von hinten nach vorn oder von aussen nach innen abtrug, immer glaubte er zu be- obachten, dass die psychischen Func- tionen in ihrer Gesammtheit gleich- mässig abnahmen. Nur eine einzelne Thatsache war es, die mit seiner Hy- pothese nicht in Einklang zu bringen war: denn wenn einem Thiere eine be- stimmte Menge Hirn entfernt worden war, so erloschen plötzlich alle psychischen Actionen, es erfolgte jedoch eine voll- ständige Restitution der verlorenen Fähigkeiten nach wenigen Tagen, so- bald man von weiteren Abtragungen Abstand genommen hatte. Diese letzte Beobachtung war es, welche FLouRENSs veranlasste, seiner anfänglichen Behaup- tung einen Zusatz hinzuzufügen, der eine contradictio in adjecto war; denn während Frourens bisher behauptet hatte, dass das ganze Grosshirn in gleicher Weise der Sitz sämmtlicher psychischen Functionen sei, musste er nun zugestehen, dass auch ein be- stimmter-Theil desselben für das Ganze eintreten könne. Diese Ansicht wurde von den be- deutendsten Physiologen anerkannt und bestätigt, trotzdem Hauver und Zinn (1756), sowie ein unbekannter Autor bei Verletzungen des Gehirns Mus- kelbewegungen beobachtet haben woll- ten. Selbst BovınLLaup, der schon ge- gen Ende des ersten Viertel unseres Jahrhunderts (1825) die berühmt ge- 346 wordene Entdeckung gemacht hatte, dass Sprachlosigkeit (Aphasie) die Folge der Zerstörung einer kleinen excen- trischen Gehirnpartie sei, blieb unbe- achtet, ebenso einzelne Kliniker wie AnprAL, welche durch das Studium der pathologischen Erscheinungen zu der festen Ueberzeugung gekommen waren, dass zum wenigsten besondere moto- rische Centren im Gehirn vorhanden sein müssen. Erst BrocA und MEYNERT, zwei hoch angesehene Gelehrte, konn- ten der Localisationstheorie der Hirn- functionen einigermaassen Beachtung verschaffen. BrocA, welcher anfänglich ein Gegner dieser Theorie gewesen war, machte wie BouıLLaun die Entdeckung, dass die Degeneration einer bestimmten Region der Hirnrinde Verlust des Sprach- vermögens, Aphasie, nach sich ziehe; MeEysert behauptete auf Grund ana- tomischer Studien mit grösster Bestimmt- heit, dass die vordern Antheile der Ge- hirnrinde den motorischen, die’ hintern Antheile den sensibeln Functionen die- nen. Eine breite empirische Basis er- hielten diese Anschauungen aber erst durch die Entdeckungen von FrrrscH und Hrizıc (1870). Sie bewiesen nicht nur als die ersten, dass die Grosshirn- rinde electrische Erregbarkeit besitze, trotzdem die bedeutendsten Physiologen und Vivisectoren wie MAGENDIE (1839), Lonser (1842), FLourens (1842), MAT- tsuccı (1845), Van Dren, E. WEBER, Buner (1842), Schirr (1859), das Gegentheil behauptet hatten, sondern sie stellten auch vermittelst der Me- thode der electrischen Reizung fest, dass es gewisse psychomotorische Centren für mehrere grosse Muskelgruppen des thierischen Körpers gebe. Auch durch die Exstirpation umschriebener Stellen der Grosshirnrinde gelangten sie zu den- selben Resultaten, trotzdem alle seit dem Beginn unseres Jahrhunderts aus- geführten Exstirpationen des Grosshirns, oder eines Theils desselben, oder seiner Rinde resultatlos verlaufen waren. Diese Julius Nathan, Ueber die Localisation der Hirnfunetionen Entdeckungen von FrırscH und Hırzıs wurden für die Entwickelung der spe- ciellen Physiologie der Grosshirnrinde epochemachend; denn zahlreiche For- scher wandten sich dem Studium dieser Objeete zu, unter denen namentlich FFRRIER (seit 1873), Goutz (seit 1869) und Munk (seit 1877) zu nennen sind, obwohl sie nicht mit gleich glücklichem Erfolge gearbeitet haben. Gefühlssphäre. Das Muskelsystem des Menschen und der Thiere hat zum Nervensystem und daher auch zur Psyche ein doppeltes Ver- hältniss. Die Muskelcontraction kann nämlich durch eine Kraft ausgelöst d. h. bewirkt werden, die unabhängig von der Psyche wirkt und ausser- halb des Bewusstseins der letzteren liegt, oder sie kann durch eine Kraft ausgelöst werden, die von dem Willen abhängig und daher durch den Vor- stellungs- und Willensmechanismus ver- mittelt ist. Obwohl die Wirkung in beiden Fällen die Muskelcontraction ist, so wird sie dennoch aus den angegebenen Gründen im ersten Falle als Reflexvor- gang, im letzteren als psychomotorischer bezeichnet. Es ist daher wegen der vollkommenen Identität der Wirkung oft schwierig, ja unmöglich, die causale Natur der Muskelcontraction mit Sicher- heit zu erkennen. Durch diese ge- nannte Schwierigkeit ist es den For- schern bis in das letzte Decennium hin- ein unmöglich gewesen, das Verhältniss des Muskelsystems zur Psyche und zu dem Sitz derselben, der Grosshirn- rinde zu erkennen. Schon seit dem Beginn dieses Jahrhunderts glaubte man durch Gehirnexstirpationen festgestellt zu haben, dass die Grosshirnhemisphären der Sitz der Intelligenz seien, dass nach Abtragung oder Zerstörung derselben psychomotorische, d. h. willkürliche Muskelcontractionen nicht mehr zum Vorschein kommen, jedoch erst Hırzıc und FrrrscH, welche als die Begründer an den Grosshirnhemisphären des Menschen und der Thiere. der speciellen Grosshirnphysiologie be- zeichnet werden müssen, waren im Stande, bestimmte Regionen an der Grosshirnrinde anzugeben, von denen aus durch electrische Reize bestimmte, aller Wahrscheinlichkeit nach psycho- motorische Muskelcontractionen ausge- löst werden können; sie fanden, dass ein Theil der Convexität des Gross- hirns des Hundes motorisch, ein an- derer Theil nicht motorisch sei, der motorische Theil liegt mehr nach vorn, der nicht motorische nach hinten ; wenn der erstere electrisch gereizt wird, so treten combinirte Muskelcontractionen an der gegenüberliegenden Körperhälfte auf, welche durch Anwendung schwacher Ströme auf bestimmte Muskelgruppen localisirt werden können, und zwar sind es die Nackenmuskeln, welche vom lateralen Theil der präfrontalen Win- dung (Gyrus praefrontalis) aus in Thätig- keit versetzt werden können. Das CGen- trum für die der Streckung und An- ziehung des Vorderbeins dienenden Mus- keln (Extensores, Adductores) liegt im äussersten Ende der postfrontalen Win- dung. Nach rückwärts von diesem Gen- traum in der Nähe der Coronalfissur fanden die genannten Forscher den Rindenort, welchem die der Beugung und Drehung des Vorderbeins dienen- den Muskeln (Flexores, Rotatores) zuge- ordnet waren. Medianwärts und mehr nach hinten von dem Centrum der Vor- derbeinmuskeln liegt, ebenfalls im post- frontalen Gyrus, das Centrum für die Hinterbeinmuskeln. Die vom Gesichts- nerven (Nervus facialis) versorgten Mus- keln haben ihr Centrum im mittleren Theil des supersylvischen Gyrus. Jedoch auch die andere Methode des Exstir- pirens bestimmter Gehirntheile wandten Fritsch und Hırzıs an, um ihre auf dem ersten Wege erlangten Resultate zu controliren, und auch auf diesem Wege erhielten sie eine Bestätigung derselben; denn nach Exstirpation des durch die electrische Reizung festge- 347 stellten Centrums für die Muskeln des Vorderheins beobachteten sie bedeutende Motilitätsstörungen an dem betreffenden Körpertheil. Beim Laufen setzte das Thier die betreffende Vorderpfote un- zweckmässig auf, bald mehr nach innen, bald mehr nach aussen als die andere, es rutschte mit dieser Pfote leicht nach aussen davon, so dass das Thier zur Erde fiel. Bisweilen setzte das Thier die kranke Pfote mit dem Rücken statt mit der Sohle auf, ohne davon, wie es schien, eine Ahnung zu haben, ebenso konnte man mit diesem Körpergliede die beliebigsten Bewegungen ausführen, es in die unbequemsten Lagen bringen, ohne dass der Hund im Geringsten wider- strebte, während jeder versuchten Lage- veränderung einer anderen Pfote der entschiedenste Widerstand entgegen- gesetzt wurde. Auf Grund dieser Be- obachtungen glaubte Hırzıc behaupten zu können, dass das Thier nur ein mangelhaftes Bewusstsein von den Zu- ständen des betreffenden Körpergliedes besitze, und dass es zwar das Vorder- bein bewegen könne, sich aber nicht mehr vollkommene Vorstellungen über diese Extremität bilden könne, weil wahrscheinlich irgend eine Leitung von dem psychischen Organ zum Muskel noch vorhanden ist, dagegen die Leitung vom Muskel zum Seelenorgan irgendwo unterbrochen sei. Dass es sich in dem vorliegenden Falle wirklich um psycho- motorische Vorgänge handele, hat Sour- MANN durch seine Versuche sehr wahr- scheinlich gemacht; denn er beobachtete, dass electrische Reizversuche der ge- nannten Grosshirncentren bei jungen, einige Tage alten Hündchen wirkungs- los blieben. Diese Untersuchungen wurden von vielen Forschern, unter denen ich nur NOTHNAGEL und FERRIER nenne, wie- derholt und in ihren Resultaten be- stätigt, wenn auch in Bezug auf ein- zelne Angaben und auf die Auslegung der beobachteten Erscheinungen nicht 348 unbedeutende Differenzen zu Tage traten. Namentlich Ferkıerr behauptete im Gegensatz zu Frırsch und Hırzıc, dass fast die ganze Grosshirnrinde erregbar sei (Stirnlappen, Hinterhauptslappen, Schläfenlappen); er will ferner für die- selbe Muskelgruppe bisweilen mehrere, weit auseinander liegende Centren ge- funden haben und wiederum von einer und derselben Stelle aus verschiedene Muskelgruppen in Bewegung gesetzt haben. Da die Methode der electrischen Reizung nun dadurch eine sehr grosse Unvollkommenheit besitzt, dass sich selbst bei Anwendung der grössten Sorg- falt nicht immer entscheiden lässt, ob die eingetretene Muskelcontraction die Wirkung ‚des isolirten Reizes sei, oder der Reizung einer anderen Gehirnstelle, zu welcher der Strom vermittelst einer sogenannten Stromschleife gelangt ist, so sind diese Differenzen bis zur Gegen- wart bestehen geblieben. Als sicher aber ist festgestellt, dass FERRIER von den vorderen und basalen Hirnpartien des Hundes und der Katze aus Fress- bewegungen auslöste, worauf auch Wunpr aufmerksam gemacht hat. NorH- NAGEL bestätigte zwar die Resultate der Exstirpationsversuche von Hrrzig und Fritsch; denn auch er beobachtete dieselben Motilitätsstörungen, nachdem am äussern Ende der postfrontalen Win- dung ein Chromsäureheerd erzeugt wor- den war, aber er adoptirt dennoch die alte Theorie FLouress’ und erklärt jene Erscheinungen als eine partielle Läh- mung des Muskelsinnes. Bauocr führte ebenfalls Versuche an Hunden aus mit tetanisirenden Inductionsströmen und fand an der Gehirnrinde sieben Punkte, deren electrische Reizung Beschleu- nigung des Herzschlages hervorrufen sollte, ferner einen Punkt, dessen Reizung eine Verlangsamung des Herzschlages nach sich ziehen sollte. Scmrr con- statirte als erster, dass nach Exstir- pationen gewisser Centren nicht Motilitätsstörungen und nicht nur nur Julius Nathan, Ueber die Localisation der Hirnfunetionen Störungen des Muskelsinnes, sondern auch Störungen der Hautsensibilität auftreten. Jedoch trotz dieser Ergebnisse war man in vielen Kreisen der Localisations- theorie der Gehirnfunctionen wenig ge- neigt; denn NOTHNAGEL hatte beobachtet, dass die Motilitätsstörungen sieh all- mälig verlieren, wenn die operirten Thiere längere Zeit am Leben bleiben, und CAr- VILLE, DURET, BRAUNE, HERRMANN, GLIKY, Hırzıc wiesen auf experimentellem Wege nach, dass es sich in den Versuchen um Reizung von Nervenfasern handele, wel- che mit bestimmten Muskelgruppen in Beziehung stehende Nervenbahnen in der grauen Substanz der Hirnrinde dar- stellen. Hiermit war die Annahme einer Reizung von Ganglienzellen ausgeschlos- sen, dagegen die andere schon von GouTZ ausgesprochene Ansicht wahrscheinlich gemacht, dass die letzte Endstation, in welcher die anlangenden sensibeln Ein- drücke in psychische, innerhalb des Be- wusstseins befindliche Processe umge- setzt werden, erhalten sei, dass da- gegen nur eine Zwischenstation, welche ein noch unbekannter Centralpunkt zu sein scheint, zerstört sei, oder dass, wie Goutz meinte, durch den Reizungs- zustand Hemmungsvorgänge von der Grosshirnwunde aus gesetzt seien, welche bestimmte im Kleingehirn und seinen Verbindungen gelegene Centren lähmen und dadurch jene vergänglichen Stör- ungen veranlassen. Erst Munk brachte durch seine Ex- stirpationsversuche diese Fragen theil- weise zur Entscheidung, er glaubt auf Grund seiner Versuchsresultate mit grösster Bestimmtheit behaupten zu kön- nen, dass die angeblich psychomotori- schen Centren des Hundes seine Fühl- sphäre constituiren, die sich auf die Rinde des Scheitel- und Schläfenlappens erstreckt und in sieben Regionen zer- fällt, nämlich in die selbständige Fühl- sphäre des Ohres, in die selbständige Fühlsphäre des Auges, in die Hinter- an den Grosshirnhemisphären beinregion, Vorderbeinregion, Kopf- region, Nackenregion, Rumpfregion. Wenn also einem Hunde eine grössere Partie der Rinde innerhalb der Strecke D, welche die rechte Vorderbeinregion darstellt, exstirpirt wurde, so konnte man nach einigen Tagen beobachten, dass der Hund, wenn das rechte Vorder- bein mit dem Finger oder der Nadel- spitze berührt oder gedrückt, oder ziem- lich stark gestochen wird, ganz theil- des Menschen und der Thiere. 349 nahmslos blieb, während er sofort hin- sah oder biss, oder das Bein hob und es zu entziehen suchte, sobald man auf ähnliche Weise mit einer der an- dern Extremitäten verfahren wollte ; erst wenn das rechte, Vorderbein stark ge- drückt wird, oder wenn man die Nadel tief in dasselbe einsticht, hebt der Hund das Bein, ohne jedoch zu beissen ‘oder hinzusehen, ein Reflexvorgang, den wir auch bei einem des Grosshirns beraubten Grosshirnrinde des Hundes nach HERMANN Munk. A Sehsphäre. B Hörsphäre. C bis J Fühlssphäre. D Vorderbeinregion. € Hinterbein- region. E Kopfregion. F Augenregion. @ Ohrregion. FH Nackenregion. J Rumpfregion. Hund beobachten können. Munxk glaubt aus diesen Beobachtungen schliessen zu können, dass der Hund die Berührungs- und Druckvorstellungen für das rechte Vorderbein verloren habe. Wenn man ferner das rechte Vorder- bein des Hundes an den Körper anzieht (addueirt) oder von demselben abzieht (abducirt) oder nach vorn oder nach hinten schiebt oder in den Gelenken beugt und streckt oder mit dem Fuss- rücken auf den Boden setzt, so leistet der Hund nicht den geringsten Wider- stand und verharrt mit dem Bein in jeder noch so unbequemen Lage, bis er Gehbewegungen macht, während er der geringsten Lageveränderung eines an- dern Beines den entschiedensten Wider- stand entgegensetzt; was nach Munk nur als Folge der verloren gegangenen Lagevorstellungen für das rechte Vorder- bein gedeutet werden kann. Wenn man ferner die Bewegungen der Extremitäten beobachtet, so bemerkt man sogleich, 350 dass der Hund mit dem rechten Vor- derbein allein nie eine active Bewegung ausführt, dass er immer nur die linke Pfote reicht, obwohl das Thier darauf eingeübt war, wenn die Hand an sei- nem Auge vorbeigeführt wurde, die gleichseitige Pfote zu geben oder auf den Ruf »Pfote« die eine Pfote, auf den Ruf »andere Pfote« die zweite Pfotezureichen, mit einem Worte der Hund braucht in allen Fällen und bei allen Gelegenheiten nur seine linke Vorderpfote, gleichviel ob er etwa Nahrungsmittel heranholen oder festhalten muss, oder Kratzbe- wegungen ausführt u. s. w. Hırzıc, der genau dieselben Beobachtungen schon früher an seinen Versuchsthieren ge- macht hatte, glaubte hieraus auf einen Willensdefect schliessen zu müssen, Monk dagegen nimmt an, dass der Hund die Bewegungsvorstellungen ver- loren haben muss, da dieselben aus der psychischen Vereinigung der Innerva- tions-, Druck- und Muskelgefühle her- vorgehen und in bestimmter Stärke die zugehörige Bewegung zur Folge haben. Endlich soll der Hund auch die Tast- vorstellungen für das rechte Vorderbein verloren haben, weil er nicht mehr mit der früheren Geschicklichkeit mit die- sem Beine beim Laufen auftritt, son- dern es bald zu hoch, bald zu niedrig hebt, bald zu weit, bald zu wenig weit nach vorn setzt, bald mit der Sohle, bald mit dem Fussrücken aufsetzt und öfters auch mit ihm ausgleitet. Im Laufe von S—10 Wochen verschwinden alle diese Abnormitäten und zwar in umgekehrter Reihenfolge, so dass sich nach Munk’s Terminologie gesprochen, zuerst die Druck- oder Gefühlsvorstel- lungen, dann die Lagevorstellungen, dar- auf die Bewegungsvorstellungen, zuletzt die Tastvorstellungen wiedereinstellen. Da nun nach sehr kleinen Exstirpationen nur diejenigen Abnormitäten zum Vor- schein kommen, Verlust der Bewegungs- und Tastvor- stellungen schliesst, so behauptet er, aus denen Muxk auf Julius Nathan, Ueber die Localisation der Hirnfunctionen dass diese zusammengesetzteren Vor- stellungen am frühesten verschwinden und am spätesten wieder auftreten Die Rinde des Scheitel- und des Stirnlappens ist daher die Fühlsphäre der gegenseitigen Körperhälfte des Hun- des, sie zerfällt in die schon genannten sieben Regionen, welche zu bestimmten Theilen dieser Körperhälfte in Bezieh- ung stehen, und zwar enden in den die Wahrnehmung vermittelnden cen- tralen Elementen jeder Region die Ner- venfasern, welche die Haut-, Muskel- und Innervationsreize der betreffenden Körpertheile fortleiten ; innerhalb dieser Regionen sollen auch die Gefühlsvor- stellungen, welche Munk als Producte jener genannten Gefühle bezeichnet, ihren Sitz haben. Wird eine kleine Exstirpation innerhalb irgend einer Re- gion ausgeführt, so verlieren sich theil- weise die Gefühlsvorstellungen des zu- gehörigen Körpertheils, grössere Exstir- pationen dagegen haben immer den Ver- lust sämmtlicher Gefühlsvorstellungen zur Folge, so dass das Thier für das betroffene Körperglied seelenbewegungs- los und seelengefühllos ist; diese Er- scheinungen verschwinden jedoch all- mälig, indem in dem erhaltenen Reste der betreffenden Region sich die Ge- fühlsvorstellungen von Neuem bilden. Werden noch grössere Exstirpationen ausgeführt, so sollen auch die Gefühle selbst geschädigt werden, weil nur ein Theil der Gefühlsvorstellungen sich wie- derherzustellen vermag. Die völlige Zer- störung der Fühlregion eines Körper- theils verursacht den dauernden Ver- lust aller Gefühle und Gefühlsvorstel- lungen für den zugehörigen Körpertheil und endet daher mit Rindenlähmung, die aus der Rindenbewegungs- und Rindengefühllosigkeit sich zusammen- setzt. In wie weit diese psychologischen Erörterungen, Theorien und Schlüsse Munk’s auf Thatsachen zu beruhen scheinen, kann hier nicht festgestellt an den Grosshirnhemisphären des Menschen und der Thiere. werden, ich glaube jedoch die objectiven Thatsachen der Munk’schen Versuche deutlich von den subjectiven Meinungen des Experimentators geschieden zu haben und dadurch den Leser selbst in den Stand gesetzt zu haben, sich eine eigene Ansicht bilden zu können. Vor wenigen Wochen haben Bugxor und HAIDEN- HAIN neue Beobachtungen veröffentlicht, welche sie durch Reizversuche an mo- torischen Hirncentren erworben haben ; sie haben die äusserst wichtige Ent- deckung gemacht, dass man von einer und derselben Rindenstelle sowohl be- stimmte Muskelgruppen in Contraction setzen, als auch die gesetzte Contrac- tion hemmen könne. Aus dieser wich- tigen Entdeckung ergiebt sich, dass Munk’s Annahme, Bewegungsvorstel- lungen seien die Ursachen der von be- stimmten Rindenstellen ausgelösten Mus- kelcontractionen, falsch ist; denn man müsste jetzt annehmen, dass an der- selben Stelle eine die Bewegung aus- lösende und eine die Bewegung hem- mende Vorstellung localisirt seien, oder dass dieselbe Vorstellung bald eine Be- wegung auslöse, bald eine Bewegung hemme, je nachdem ein schwächerer oder stärkerer Strom angewendet wird. Ferner ist durch diese Entdeckung zur Evidenz erwiesen, dass die sogenannten motorischen Centren von HırzıG, FERRIER und Anderen, wenn sie überhaupt Gen- tren sind, ebensowohl motorische Aus- lösungscentren als auch motorische Hem- mungscentren darstellen; ich glaube je- doch, dass diese Centren nur Rindenstellen sind, welche den zu bestimmten Muskel- gruppen führenden Leitungsbahnen in Bezug auf den Raum wie auf die Wir- kung möglicher Stromschleifen am näch- sten liegen, so dass natürlich mit mini- malen Stromstärken von diesen Stellen aus die Contraction der betreffenden Muskelgruppen ausgelöst werden kann. Nächst dem Hunde, der wegen seiner hohen Intelligenz und wegen seiner leich- ten Beschaffung zu den genannten Ver- 351 suchen sich am meisten eignete, war es aus leichterklärlichen Gründen der Affe, der vielfach das Interesse der Ex- perimentatoren erregte. FERRIER unter- suchte zuerst die Grosshirnrinde des Affen und fand eine ganze Anzahl Orte, von denen aus durch elektrische Reize Bewegungen der verschiedensten Art ausgelöst werden können, er ist jedoch über die causale Natur derselben zu keiner bestimmten Ansicht gelangt, zu- mal da er von der unhaltbaren Voraus- setzung ausging, dass durch Reizung der Hirnrinde zweierlei Bewegungen, eigentliche psychomotorische und durch eine Sinnesempfindung eingeleitete Re- flexbewegungen ausgelöst werden können. Im Allgemeinen fand er fünfzehn Rin- denfelder, deren Reizung bald Vorwärts- bewegung des Beines der entgegenge- setzten Körperhälfte, bald combinirte Bewegung des Ober- und Unterschenkels und des Rumpfes, bald Schweifbeweg- ungen combinirt mit den genannten, bald Bewegungen des Mundwinkels, des Nasenflügels, der Oberlippe, der Augen- muskeln, des Kopfes, der Finger, der Faust u. s. w. auslöste. Auch beim Affen fand FERRIER für manche Muskel- gruppen mehrere Rindenauslösungsorte, und öfters beobachtete er auch, dass die wiederholte Reizung eines und des- selben Rindenortes nicht immer die- selben Bewegungen auslöste; im All- gemeinen aber glaubte er gefunden zu haben, dass die OCentren der willkür- lichen Bewegung beim Affen in der Um- gebung der Rolando’schen Furche sich befänden; wobei er annahm, dass alle von bestimmten Orten der Grosshirn- rinde ausgelösten Bewegungen an den Augen, den Ohren, der Nase u. s. w. als Erscheinungen der Reizung von Sinnes- centren anzusehen seien. Nächst FErRIER war es Hırzıs, der die Funktionen der Grosshirnrinde des Affen zu erkennen suchte, er fand Cen- tren für die Extremitäten, für die vom Gesichtsnerven (Nervus facialis) versorg- 352 ten Muskeln, für die Mund-, Zungen- und Kieferbewegungen u. s. w., welche sämmt- lich in der vorderen Centralwindung liegen und die Fläche von der grossen Horizontalspalte an bis zur Sylvischen Grube einnehmen. In letzter Zeit hat sich endlich Munk damit beschäftigt, die Grosshirn- rinde des Affen durch Exstirpations- versuche in Bezug auf ihre Funktionen zu erforschen, er fand, dass auch die Fühlsphäre des Affen in die sieben schon genannten Regionen, wie beim Hunde, zerfalle, nur sollten die Regionen bei diesem Thiere eine etwas veränderte Lage und Ausdehnung zu einander haben, so soll der Gyrus angularis die Fühl- sphäre für das Auge des Affen sein, nicht aber die Sehsphäre, wie FERRIER behauptet hatte, wodurch sich heraus- stellen würde, dass der englische For- scher in fehlerhafter Weise vom Gyrus angularis aus ausgelöste Augenbeweg- ungen als von Gesichtsempfindungen veranlasste Reflexvorgänge betrachtet hatte, ebenso verhält es sich mit dem FERrRIER schen Hörcentrum, welches Munk als die Fühlregion für die Ohrgegend erkannte. Besondere motorische Centren fand Munk ebensowenig an der Gross- hirnrinde des Affen als an der des Hundes, da er von der Annahme aus- geht, dass die Bewegungsvorstellungen, welche mit den Druck-, Lage- und Tast- vorstellungen in der Fühlsphäre locali- sirt sind, die Ursachen der willkürlichen Bewegungen seien, und da er ein Ein- greifen des Willens in den sogenannten psychomotorischen Centren Hırzıg’s, FERRIER'S und anderer ebenso wie die motorischen Centren überhaupt, in Ab- rede stellt und mit der Annahme von Centren, wie sie sonst der Bewegungs- anregung dienen, innerhalb der Gross- hirnrinde nichts mehr erklären zu können glaubt. Ausser dem Hunde und Affen waren es noch mehrere Thierspecies, mit denen Versuche angestellt wurden. FERRIER, Julius Nathan, Ueber die Localisation der Hirnfunctionen Hrrzıs und BURDON-SANDERSON experi- mentirten an der Katze und fanden, dass die ihrer Ansicht nach motorischen Centren in Bezug auf Lagerung und Anzahl mit denjenigen des Hundes über- einstimmen, nur fand FERRIER auch hier wie beim Hunde eine viel grössere Zone der Grosshirnrinde erregbar als Hırzıc. Beim Schafe fand MarcaAccı motorische Rindenfelder, die für die Beugung des Vorderbeins, für die Dreh- ung des Nackens, für die Bewegungen des Leckens und für die Kaubewegungen dienten. Mit dem Kaninchen experimen- tirten FERRIER, FÜRSTNER, NOTHNAGEL, ÜBERSTEINER, dietheils durch Exstirpatio- nen, theilsdurch Reizversuche gefundenen Resultate der verschiedenen Forscher zeigen wenig Uebereinstimmung, dagegen bestätigen die genannten Experimenta- toren, dass sich am Kaninchenhirn eine geringere Anzahl von Centren vorfinde, und dass diese letzteren weniger scharf von einander abgegrenzt seien. Noch weniger Centren als am Grosshirn des Kaninchens will FerRIıEr an dem des Meerschweinchens und der weissen Ratte gefunden haben, nur Spuren solcher Centren sollen sich nach FERRIER an der Grosshirnrinde der Taube und des Frosches vorfinden, und an den Hemi- sphären der Fische konnten selbst An- deutungen von Centren nicht ausfindig gemacht werden. Aus der Gesammtheit der berichteten Resultate scheint sich der Schluss zu ergeben, dass die Rindencentren oder Sphären an dem Grosshirn eines Thie- res um so zahlreicher und um so schär- fer abgegrenzt sind, je grösser der Grad der Intelligenz ist, den das Thier be- sitzt, ferner scheint sich herauszustellen, dass für diejenigen psychischen und physischen Thätigkeiten, welche einer Thierspecies besonders eigen sind, sich immer scharf abgegrenzte Rindencentren oder Sphären finden; jedoch erst auf Grund einer viel umfassenderen Kennt- niss des Untersuchungsmaterials wird an den Grosshirnhemisphären des Menschen und der Thiere. endgültig über diese beiden Annahmen entschieden werden können. Sehsphäre. Kurze Zeit nachdem Frırsch und Hırzıs die Entdeckung gemacht hatten, dass von bestimmten Stellen der Gross- hirnrinde bestimmte Muskelgruppen in Contraktion versetzt werden können, machte der letztgenannte Forscher die Beobachtung, dass Exstirpationen in .der Gegend der Hinterlappen beim Hunde Blindheit des auf der andern Seite lie- genden Auges und paralytische Erweite- rung der zugehörigen Pupille zur Folge haben; bevor jedoch Hırzıa diese Beob- achtung publicirte, veröffentlichte FEr- RIER die Resultate seiner Untersuch- ungen. FERRIER war, wie ich schon be- merkte, der Ansicht, dass auch zur Auffindung der sensibeln Rindenfelder die Methode der electrischen. Reizung neben der Exstirpationsmethode ver- wendbar sei; denn er nahm an, dass durch die electrische Reizung eines sen- sibeln Rindenfeldes die zugehörige, spe- eifische Sinnesempfindunggeweckt werde, welche an dem zugehörigen Sinnesorgan Reflexbewegungen auslöse. Diese Me- thode ist jedoch mit vielfachen Mängeln behaftet; denn erstens ist es eine blosse Hypothese, dass Sinnesempfindungen Reflexbewegungen auslösen, zweitens kann die auftretende Reflexbewegung daher stammen, dass der electrische Strom vermöge einer nicht beabsich- tigten Verbreitung, einer sogenannten Stromschleife, andere Stellen des Ge- hirns gereizt hat, welche entweder Re- flexcentren enthalten, oder sensible Rin- denfelder darstellen. FERRIER berichtet nun, dass Affen, wenn der eine Gyrus angularis durch tetanisirende Ströme gereizt wird, beide Augen nach der andern Seite oder nach aufwärts oder nach abwärts bewegen, die Augenlider zwinkernd schliessen und die Pupillen gewöhnlich verengen. Kosmos, V, Jahrgang (Bd. X), 353 Wurde der linke Gyrus angularis mit Galvanokauter gebrannt und zerstört und wurde das linke Auge mit einem Pflaster fest verklebt, so bietet das Thier, nachdem es sich von der Chloro- formnarkose erholt hat, einen eigenthüm- lichen Anblick dar: der Affe, sonst so munter, sitzt theilnahmslos an einem Orte, nichts vermag ihn aus seiner Apathie aufzuscheuchen, in den Käfig gebracht, nimmt er keine Notiz von seinen Genossen und verharrt beweg- ungslos in der eingenommenen Stellung, wird das Thier gestossen und gezwungen sich fortzubewegen, so rennt es anjeden auf seinem Wege befindlichen Gegen- stand an. Wird dagegen die Bandage vom linken Auge entfernt, so schaut sich der Affe sofort um, rennt in den Käfig, vereinigt sich mit seinen Ge- nossen, fährt an’s Licht gehalten zurück und wendet den Kopf weg u. Ss. w. Werden beide Gyri angulares mittelst Kauters zerstört, so zeigen sich die- selben Erscheinungen, ohne dass ein Auge durch Bandage verschlossen wird. Hieraus glaubt Ferrıer schliessen zu können, dass der Gyrus angularis das Sehcentrum sei. Wie weit diese Beob- achtungen dem Thatsachenbestande ent- sprechen, in wie weit ferner der aus ihnen gezogene Schluss Berechtigung hat, lässt sich nicht entscheiden, nur muss es befremden, dass FErrIERr’s Thiere meistens nur wenige Tage beobachtet wurden, dass ferner bei einseitiger Zer- störung des Gyrus angularis das Seh- vermögen dem erblindeten Auge bis- weilen schon am folgenden Tage nach der Operation zurückgekehrt war. Auch beim Schakal, Hund und bei der Katze fand FErrıEr die entsprechen- den Gehirntheile als die Rindencentren für die Gesichtswahrnehmung. Nächst FERRIER war es Munk, der sich mit dieser Frage eingehend be- schäftigte; er exstirpirte an der Con- vexität des Hinterhauptlappens des Hun- des nahe seiner hintern obern Spitze 23 354 beiderseitig kreisrunde Rindenstücke von ca. 15 mm Durchmesser und ca. 2 mm Dicke und beobachtete nach 3—5 Tagen, dass das Thier im Zimmer wie an jedem andern Orte frei sich herumbewegte, nie an einen Gegenstand anstiess, Hin- dernisse auf seinem Wege umging oder geschickt überwand, dass dagegen an die Stelle des frühern muntern Wesens und der gewohnten Lebendigkeit völlige Apathie getreten war. Der Anblick der Personen, welche das Thier immer freu- dig begrüsste, macht auf ihn keinen Eindruck mehr, sein Geselligkeits- und Spieltrieb ist erloschen, denn er nimmt von seinen Genossen keine Notiz, Hunger und Durst bewegen ihn nicht mehr, in der gewohnten Weise an den Stellen des Zimmers zu suchen, an denen er sonst sein Futter fand, Futternapf und Wassereimer bleiben unbeachtet, auch wenn man sie ihm mitten in den Weg hineinsetzt, und selbst wenn die Nah- rungsmittel vor seinen Augen gehalten werden, bleibt er dennoch kalt, solange er dieselben nicht riecht; nichts macht auf das vor der Operation so muntere Thier mehr Eindruck, gleichviel ob man den Finger oder Feuer seinem Auge nähert, um ihn zum Blinzeln zu be- wegen, oder ob man die Peitsche, bei deren Anblick er sonst immer in die Ecke kroch, in die Hand nimmt. Die Pfote bleibt in Ruhe, auch wenn man hundert Mal die Hand an seinem Auge vorbeibewegt, obwohl er darauf einge- übt war, sobald man die Hand an dem rechten oder linken Auge vorbeibewegte, die rechte oder linke Pfote zu geben; er stutzt vor der Treppe, die er. sonst hinauf- und hinablief u. s. w. Allmäh- lig verschwanden diese Abnormitäten dadurch, dass der Hund wieder die ihm als Gesichtseindrücke unbekannten Ge- genstände kennen lernte; hat man ihn erst wieder einmal mit der Peitsche ge- schlagen, dann kriecht erfernerhin inden Winkel, sobald er dieselbe erblickt, hat man ihm einmal die Schnauze in den Julius Nathan, Ueber die Localisation der Hirnfunctionen Wassereimer gesteckt, so erkennt er so- fort denselben in Zukunft wieder u. s. w. Aus diesen Erscheinungen glaubte auch Munk schliessen zu können, dass der Hund zwar noch sehe, auch Ge- sichtswahrnehmungen habe, dass er aber, wie das neugeborene Hündchen diese letzteren nicht verstehe, weil durch die Exstirpation der Stelle Aı (vgl. obige Figur) in den Sehsphären ihm die Er- innerungsbilder der Gesichtswahrneh- mungen, die Gesichtsvorstellungen, ab- handen gekommen seien oder von ihm nicht mehr reproducirt werden könnten, d. h. weil der Hund seelenblind gewor- den sei. Nicht nur aber Seelenblindheit ist die Folge der genannten Exstirpation, sondern der Hund ist auch für die Stelle des deutlichsten Sehens auf der Netzhaut rindenblind, er hat die Fähig- keit, Lichtempfindungen und Gesichts- wahrnehmungen zu haben, eingebüsst, weil die Stelle des deutlichsten Sehens auf der Netzhaut der Stelle Aı der Sehsphäre coordinirt ist, und daher in Folge der gemachten Exstirpation die wahrnehmenden Elemente für jene Netz- hautstelle für immer zerstört sind. Wird dagegen nur in einer Sehsphäre der- Grosshirnrinde die Stelle Aı exstirpirt, z. B. in der linken, so ist der Hund nur für das rechte Auge seelenblind; denn nur, nachdem das linke Auge durch Verband am Sehen gehindert ist, treten die beschriebenen Abnormitäten auf, und er ist auch nur für die Stelle des deutlichsten Sehens in der Netz- haut des rechten Auges rindenblind; es verschwindet jedoch die Seelenblind- heit in diesem Falle nicht durch die Länge der Zeit; denn der Hund ver- nachlässigt die Netzhautbilder, welche an den nicht rindenblinden Netzhaut-. stellen des rechten Auges entstehen, weil nur das an der Stelle des deut- lichsten Sehens im linken Auge ent- standene Netzhautbild von ihm wahr- genommen wird, sobald er einen Gegen- . ; an den Grosshirnhemisphären des Menschen und der Thiere. 355 stand mit Aufmerksamkeit betrachtet. Erst wenn der Hund durch Verband am Sehen mit dem linken Auge ver- hindert und daher gezwungen ist, auf die Netzhautbilder zu achten, wel- che an den nicht rindenblinden Netz- hautstellen des rechten Auges ent- stehen, verschwindet allmälig die See- lenblindheit für dieses Auge. Munxk macht zur Erklärung der letztern Er- scheinung eine sehr seltsame Hypo- these, indem er annimmt, dass von je- dem der Seele bekannten Gegenstande zwei Gesichtsvorstellungen vorhanden seien, welche in der Stelle Aı der beiden Sehsphären localisirt seien, und wenn er ferner behauptet, die Seele könne die in der linken Sehsphäre localisirte Gesichtsvorstellung nicht benutzen, um eine in der rechten Sehsphäre ent- standene, entsprechende Gesichtswahr- nehmung zu erkennen; dass deshalb der Hund für das rechte Auge seelen- blind sein soll, obwohl doch unter allen Umständen die Gesichtsvorstellungen der linken Sehsphäre erhalten sein müssen, ist sehr unwahrscheinlich. Ich brauche wohl nicht erst lange zu beweisen, dass diese ganze Hypothese ad acta gelegt werden muss; denn es ist wohl jedem sofort einleuchtend, dass in der Psyche nichts doppelt besteht, und dass es sich daher in dem genannten Falle, wie Munk selbst schon andeutet, nur um eine Unterbrechung der Associations- wege zwischen den Gesichtswahrnehm- ungen und Gesichtsvorstellungen, resp. deren anatomischen Stätten handeln kann, welche durch die Exstirpation der Stelle Aı hervorgerufen ist. Im Laufe der Versuche hat Munk ferner festgestellt, dass nach totaler Exstir- pation beider Sehsphären der Hund von Stund an rindenblind ist und die Fähig- keit zu sehen, soweit die Beobachtungen reichen, nicht mehr wiedererlangt. Die Sehnervenfasern müssen daher einerseits in der Netzhaut des Auges, andererseits in den Sehsphären enden, es stehen je- doch die Fasern eines einzigen Seh- nerven mit beiden Sehsphären, dagegen nur mit einer Netzhaut in Verbindung, und zwar ist der äusserste laterale Theil der Netzhaut jedes Auges der gleichseitigen Sehsphäre zugeordnet, der übrige Theil der gegenseitigen Seh- sphäre. Die specifischen Endelemente endlich der Sehnervenfasern in der Netz- haut, welche nach ihrer Gestalt als Zapfenstäbchen bezeichnet werden, sind derartig den centralen Rindenelementen der Sehsphären coordinirt, dass die la- terale Partie der Netzhaut dem lateralen Theil der gleichseitigen Sehsphäre ent- spricht, der laterale Rand des übrigen Netzhautrestes ist dem lateralen Rand des gegenseitigen Sehsphärenrestes, der innere Rand der Netzhaut dem media- nen Sehsphärenrande, der obere Netz- hautrand dem vorderen Sehsphärenrand, der untere Netzhautrand dem hinteren Sehsphärenrand zugeordnet. Auch am Affen hat Munk Versuche angestellt und im Grossen und Ganzen dieselben Beobachtungen gemacht und die gleichen Resultate gewonnen, nur hat er die Hemiopie, die Rindenblind- heit der Netzhauthälften beider Augen bald beobachtet, während er am Hunde diese Erscheinung erst später bemerkte, obwohl v. Guppen, LucIans, TAMBURINI und Goutz durch Versuche schon vor- her festgestellt hatten, dass auch beim Hunde eine unvollständige Kreuzung der Sehnerven stattfindet, und dass daher auch jede Grosshirnhälfte des Hundes mit beiden Augen in Verbindung steht. Aehnliche Verhältnisse hat Nicarı bei der Katze vorgefunden, endlich hat auch beim Pferde Munk den Hinterhaupt- lappen als das Rindenfeld der Gesichts- wahrnehmungen erkannt. Gehörsphäre. Die Erforschung der Hörsphäre ver- mittelst Exstirpationsversuche ist wegen der technischen Schwierigkeiten, welche zu Tage traten, erst in jüngster Zeit 23* 356 gelungen. Freilich hat Ferrier schon in seiner ersten Veröffentlichung ein Hörcentrum angegeben, welches in der obern Schläfenwindung liegen sollte, da jedoch diese Angabe sich zum grössten Theil auf Reizversuche stützte, und nur wenige Exstirpationsversuche von dem englischen Forscher ausgeführt worden waren, so konnte dieser Mittheilung nicht unbedingte Glaubwürdigkeit bei- gemessen werden. Erst Munk gelang es und zwar am spätesten durch wie- derholte Exstirpationsversuche die Lage und Grösse des Rindenfeldes für das Gehör festzustellen. Wenn man am Schläfenlappen nahe seiner untern Spitze die Stelle Bı ex- stirpirt, so stellt sich an dem operir- ten Thier vollständige Seelentaubheit ein, der Hund hört zwar noch; denn er spitzt die Ohren bei jedem Geräusch, aber das Verständniss der einzelnen Gehörswahrnehmungen ist abhanden ge- kommen, man kann ihm »pst« oder »komm« oder »hoch« oder »schön« oder »Pfote« zurufen, oder man kann ihn bei seinem Namen rufen, er re- agirt nicht mehr darauf, und alle die- jenigen Bewegungen bleiben aus, die früher fast maschinenmässig auf solche Zurufe erfolgten. Allmälich lernt je- doch der Hund auch hören, immer besser und richtiger wendet er die Ohren und den Kopf der Schallquelle zu, im- mer vollkommener erkennt er die Ver- schiedenheit der Geräusche, und wenn er in gewohnter Weise wieder dressirt wird, so verbindet er allmälig auch mit den Geräuschen die bestimmten Be- wegungen, so dass 4—5 Wochen nach der Operation jede Spur von Seelen- taubheit verschwunden ist. Wird aber auf beiden Seiten die ganze Hörsphäre, welche die Rinde des Schläfenlappens unterhalb der Sehsphäre ‘und oberhalb des Gyrus hippocampi einnimmt, ex- stirpirt, so ist der Hund von Stund an dauernd rindentaub, er hat weder Ge- hörswahrnehmungen noch Gehörsvor- Julius Nathan, Ueber die Localisation der Hirnfunetionen stellungen, man kann rufen, schreien, lärmen, so viel man will, man kann musiciren, pfeifen, das Tamtam schlagen in selbst normalen Hunden unerträg- licher Weise, die andern Hunde können anschlagen und im Chorus bellen und heulen, der operirte Hund reagirt nicht mehr, und schon nach vierzehn Tagen gesellt sich zu der Taubheit Taubstumm- heit, er bellt nicht mehr, mag kom- men und gehen, wer da will. Ehkenso hat sich im Laufe der Untersuchungen herausgestellt, dass jede Hörsphäre mit dem gegenseitigen Ohr in Verbindung steht, und dass daher die Fasern des linken Gehörnerven (Nervus acusticus) in der Hörsphäre der rechten Gross- hirnhälfte enden; denn wenn die rechte Hörsphäre exstirpirt wird, und das rechte Gehörorgan durch Wegbrechen der untern Schneckenwand zerstört wird, so stellt sich vollständige Rindentaub- heit ein. Wenn die Hörsphärenexstir- pation eine unzureichende war, so dass etwa an der obern oder untern Grenze der Hörsphäre ein Rest der Rinde er- halten blieb, so hörten solche Hunde zwar noch, aber es stellten sich mannig- fache Verschiedenheiten heraus, aus de- nen sich schliessen liess, dass die ein- zelnen Theile der Hörsphären nicht gleichwerthig seien. Dieser Schluss wurde durch eine Reihe von Versuchen als sachgemäss bestätigt; denn es wurde festgestellt, dass die hintern Partien der Hörsphäre in der Nähe des Klein- gehirns der Wahrnehmung tiefer Töne, die vordere Partie der Hörsphäre in der Nähe der Sylvischen Grube der Wahrnehmung hoher Töne diene. War nur das vordere Drittel oder noch we- niger von der Hörsphäre erhalten, so hörte der Hund nicht die Töne tiefer Orgelpfeipfen, nicht den tiefen Zuruf im Bass; war dagegen nur das hintere Drittel oder noch weniger erhalten, so hörte der Hund nicht den Pfiff, nicht die Töne hoher Orgelpfeifen, nicht den hohen Zuruf im Falset. Der erstere an den Grosshirnhemisphären des Menschen und der Thiere. Hund wurde in der Folge auch taub- stumm, der letztere dagegen nicht. Das gewöhnliche, alltägliche Hören des Hun- des endlich scheint hauptsächlich, wie Munk beobachtet haben will, an die untere Hälfte der Hörsphäre gebunden zu sein. Ehe ich diesen Abschnitt schliesse, ‘will ich noch kurz das Wenige erwäh- nen, was wir über das Geruchs- und Geschmacksvermögen wissen. FERRIER, der auch hier in seinen Angaben von denen Munk’s abweicht, behauptet, dass das Geruchscentrum sich in der Spitze des Unterlappens (Unceus), das Geschmackscentrum im Gyrus hippocampi, das Tastcentrum im Hippocampus major, das Hungercentrum, oder was dasselbe besagt, das Centrum für die Visceralgefühle in den Hinter- hauptlappen befinden. Munk dagegen glaubt auf Grund der anatomischen Verhältnisse und eines bei einem seiner Versuchshunde beobachteten pathologi- schen Falles mit grösster Bestimmtheit behaupten zu können, dass die Riech- sphäre des Hundes die Rinde des Gyrus hippocampi einnehme; ebenso vermuthet er, dass auch die Schmecksphäre sich an jener Stelle befinde. Untersuchungen über den Sitz der Intelligenz. Erst in der neuesten Zeit, nachdem schon die Untersuchungen über die Lo- calisation der Sinnesthätigkeiten ziem- lich weit gediehen waren, warf man wiederum die so nahe liegende Frage auf, wo denn der Sitz der Intelligenz im Gehirn sei. FERRIER, welcher auch hier den Anfang machte, glaubte im Anschluss an frühere Forscher, dass der Stirnlappen vorzugsweise als Sitz der Intelligenz betrachtet werden müsse. Hiergegen erhoben jedoch GoLTz und Mun& Widerspruch. Goutz namentlich hat zur Entscheidung dieser Frage in- teressante Versuche angestellt, während Musk& nur in allgemeiner Weise sich 397 über diesen Punkt äusserte. GouTz spülte Hunden eine Grosshirnhemisphäre aus oder er schälte ganze Quadranten der Gehirnrinde, welche nebeneinander oder übereinander oder kreuzweise ge- lagert waren, ab. Nachdem die Thiere sich von der Operation erholt hatten, zeigte sich die Hautsensibilität auf der dem Operationsfelde entgegengesetzten Seite herabgesetzt, Gesichtseindrücke des Auges ebenderselben Seite wurden nicht erkannt und konnten also geistig nicht verarbeitet werden, angelernte und erworbene Geschicklichkeiten waren ver- loren gegangen u. s. w., so dass ein solches Thier als blödsinnig bezeichnet werden musste. Ebenso interessante Be- obachtungen hatte man schon vor länge- rer Zeit durch Exstirpationsversuche an Hühnern gemacht. Werden einem Huhn die Grosshirnhemisphären entfernt , so weiss sich das Thier in irgend einer schwierigen Situation nicht mehr zu helfen, es vermag zwar noch instinetive Handlungen auszuführen, weicht noch Hindernissen aus, steigt noch auf Centi- meter hohe Leisten, aber es fliegt nie mehr vom Boden auf einen Stuhl, es entflieht nicht mehr, wenn man sich ihm nähert, um es zu erfassen, auf den Finger gesetzt, lässt es sich wie ein Jagdfalke tragen, würde aber das Gleich- gewicht verlieren bei raschen Bewe- gungen, es fürchtet sich vor keinem Hunde, gewöhnt sich weder an eine be- stimmte Schlafstelle noch an einen Lieb- lingsplatz, wo es hingesetzt wird, bleibt es sitzen und verfällt in die bekannte Schlafstellung der Hühner. Hieraus glaubten zahlreiche Forscher schliessen zu können, dass mit der Abtragung der Grosshirnhemisphären das Organ der Intelligenz entfernt werde, zumal da Brown-SEQuArD, Kussmausn, TENNER, FLEmING, MrrcHeL, RiCHARDSON, WAL- THER und Andere nachgewiesen hatten, dass Bewusstlosigkeit, ein schlafähn- licher Zustand eintrete, sobald durch Blutentziehung oder durch Abkühlung 358 die Grosshirnhemisphären functionsun- | selben Motilitäts- fähig gemacht worden sind. Diese Ansicht, dass die Intelligenz eine für sich bestehende psychische Kraft sei, die in einem bestimmten Orte der Grosshirnhemisphären ihren Sitz habe, wurde in ihrer Allgemeingültig- keit als falsch nachgewiesen durch Gourz’s Versuche über den Sitz der In- telligenz des Frosches; dehn dieser For- scher wies auf experimentellem Wege nach, dass auch nach Abtragung der Grosshirnhemisphären der Frosch in schwierigen, ungewohnten Situationen Bewegungen ausführe, aus denen man auf ein Vorhandensein von Intelligenz mit der grössten Bestimmtheit schliessen könne, so behauptet auf einer aus der horizontalen in die vertikale Lage all- mälig übergehenden Unterlage der Frosch dennoch das Gleichgewicht, so- lange er die Vierhügel besitzt, indem er durch zweckmässige Bewegungen den Schwerpunkt seines Körpers der Unter- stützungsfläche nähert, ebenso vermeidet er ein auf seinem geraden Wege hinge- stelltes Hinderniss, indem er eine an- dere Sprungrichtung einschlägt, auch wenn ihm ein Bein am Körper festge- näht wird, umgeht er durch geschickte Bewegungen das Hinderniss. Wird da- gegen einem Frosche nur das Grosshirn abgetragen, so macht er von selbst nie eine Bewegung, verräth keine Furcht vor dem Menschen, obwohl er, wie be- reits angegeben, Gesichtswahrnehmun- gen und Gesichtsvorstellungen hat, er ist unfähig, selbständig Nahrung aufzu- nehmen und giebt freiwillig keinen Laut von sich. Hieraus geht hervor, dass das Grosshirn des Frosches das Centrum für die willkürlichen Bewegungen ist, und dass nach seiner Entfernung Em- pfindungen, Gefühle und Affecte ver- schwunden sind, keineswegs aber ist es alleiniger Sitz der Intelligenz. Vernichtet man die Lobi optiei des Frosches, so zeigt das Thier fast die- Julius Nathan, Ueber die Localisation der Hirnfunetionen und Sensibilitäts- störungen, welche bei Hunden nach Ex- stirpation einer Beinregion beobachtet wurden; wenn endlich der Frosch nur noch das Kleinhirn, Rückenmark und verlängerte Mark besitzt, so macht er zwar selbst auf Reizung keine Bewe- gungen mehr, aber er ist immer noch bestrebt, die Bauchlage einzuhalten. Schon ehe Gourz diese Versuchsergeb- nisse publicirte, hatten Renzı und Vur- pIAN beobachtet, dass grosshirnlose Frösche und Tauben noch Gesichtsein- drücke haben, dass grosshirnlose Fische noch Hindernisse umschwimmen, und Vurpsan hatte sogar die interessante Beobachtung gemacht, dass grosshirn- lose Ratten noch unverkennbare Zeichen von Gemüthsbewegungen geben, Furcht verrathen u. s. w. Aus allen diesen Ergebnissen glaubt Gourz schliessen zu können, dass die Intelligenz oder das Anpassungsver- mögen, wie er sie auch bezeichnet, theilbar sei, und dass die einzelnen Theile Functionen der einzelnen Central- organe, Centren seien, welche den ver- schiedenen, von ihnen abhängigen psy- chischen Thätigkeiten und Bewegungen vorstehen. Vor Gourz war namentlich VoLK- MANN ähnlicher Ansicht; auch er be- hauptete, dass nach Entfernung der Grosshirnhemisphären das Vermögen gewisse objective Verhältnisse aufzu- nehmen, zu Vorstellungen zu verarbeiten und zu bestimmten Zwecken selbständig und willkürlich zu benutzen erhalten bleibe, und dass nur die Intelligenz auf eine kleinere Sphäre beschränkt und in ihrer Energie geschwächt sei. Dass die Intelligenz theilbar sei, ist offenbar falsch und ein Schluss, der nur durch eine völlige Verkennung psychischer Verhältnisse möglich war; denn die In- telligenz oder das Anpassungsvermögen als besonders localisirte psychische Fähigkeit ist in ihrer Existenz von dem Felde und den Objecten ihrer Thätig- 5. 7 an den Grosshirnhemisphären des Menschen und der Thiere. 359 keitund Anwendbarkeitganzunabhängig, | Thatsache, dass einzelne Gehirntheile dagegen wird allerdings mit der Ver- nichtung psychischer Thätigkeiten auch das Feld ihrer Anwendbarkeit beschränkt, weil die Intelligenz offenbar, z. B. sich nicht mehr durch zweckmässige Anord- nung von Bewegungen äussern kann, wenn das Thier die Fähigkeit willkür- liche oder Reflexbewegungen auszu- führen nach Zerstörung aller Bewegungs- centren verloren hat. Munk, dessen Ansicht ich kurz hier noch erwähne, nimmt im Gegensatz zu allen übrigen Forschern an, dass die Intelligenz überhaupt nur eine psycho- logische Abstraction sei, nicht aber eine real existirende, psychische Fähigkeit, und dass es daher auch falsch sei, nach einem Sitze derselben zu fragen oder zu forschen ; Intelligenz ist Munk’s An- sicht nach nur die Resultante aus den Producten der Sinnesthätigkeiten, in dem Maasse wie diese letzteren daher zu functioniren aufhören, in demselben Maasse schwindet auch die Intelligenz. Untersuchungen über die Localisation psychi- scher Thätigkeiten an der Grosshirnrinde des Menschen. Während wir über die Functionen fast aller Theile des thierischen Ge- hirns einen vorläufig befriedigenden Auf- schluss erhalten haben, kann dieses lei- der vom Gehirn des Menschen nicht be- hauptet werden. Es hat diese That- sache natürlich darin ihren Grund, dass die Forscher zum Studium der Func- tionen des Gehirns des Menschen nur auf die pathologische Casuistik ange- wiesen sind; jedoch das Wenige, wel- ches wir auf diesem Wege kennen ge- lernt haben, nimmt das grösste Inter- esse für sich in Anspruch. Wir wissen nicht sicher, ob auch am Menschengehirn in Analogie mit dem des Thieres sensible Rindenfelder vor- handen sind, jedoch einzelne beobach- tete Sensibilitätsstörungen bei Rinden- läsion und die als sicher festgestellte atrophiren, verkümmern, sobald ein Sinnesorgan längere Zeit zu functioniren aufgehört hat oder zerstört worden oder seit der Geburt funetionsunfähig war, berechtigen zu dem Schlusse, dass auch am Menschenhirn sensible Rindenfelder vorhanden sind, wenn wir auch kaum eine Ahnung haben, wo dieselben liegen, wie gross ihre Ausdehnung ist u. s. w. Da ferner constatirt ist, dass Läsionen eines Stirnlappens oder eines Hinter- hauptlappens gewöhnlich keine Motili- tätsstörung oder Sensibilitätsstörung oder Störung der geistigen Functionen zur Folge haben, so können wir dar- aus die allerdings unerklärliche That- sache entnehmen, dass einseitige Zer- störung der sensibeln Rindenfelder in der grössten Mehrzahl der Fälle beim Menschen keine Sensibilitätsstörung zur Folge hat. Um ein recht characteristi- sches Beispiel hierfür dem Leser vor Augen zu führen, will ich folgenden pathologischen Fall zur nähern Kennt- niss bringen. Ein psychisch normales Individuum, das seit seiner Geburt linksseitig gelähmt war, starb an Phthisis, die Section ergab, dass die rechte Gross- hirnhälfte nicht vorhanden war, und dass der Platz derselben in der Schädelhöhle von einer serösen Flüssigkeit ausgefüllt war. Hier haben wir einen untrüg- lichen Beweis dafür, dass selbst die Zerstörung einer ganzen Grosshirnhälfte ohne nachtheilige Folgen für die sen- sorischen Functionen und geistigen Fähigkeiten bleiben kann. Eine bedeutend genauere Kenntniss haben wir von denjenigen Rindenfeldern des Menschengehirns, deren Zerstörung Lähmung gewisser Muskelgruppen ver- bunden mit klonischen Krämpfen zur Folge hat, so dass man jene Rinden- felder nach Hırzıc’s Ansicht als psy- chomotorische Centren odernach Munk’s Auffassung als Rindenfelder der Fühl- sphäre bezeichnen kann. Wie diese einzelnen Rindenfelder zu einander ge- 360 legen sind, wo jedes einzelne zu suchen ist, und welche Ausdehnung es besitzt, lässt sich bis jetzt nicht feststellen, da- her hat jeder bedeutende Physiologe hierüber seine eigene Ansicht, nur im allgemeinen kann man mit Sicherheit behaupten, dass diese sämmtlichen Rin- denfelder um die Rolando’sche Furche herum gelagert sind. Die ausführlichste Kenntniss jedoch besitzen wir von einer Anzahl Erschei- nungen, die der Natur der Sache nach am Menschen allein beobachtet, unter dem Namen der Aphasie zusammenge- fasst worden sind; jedoch je reichhal- tiger unsere Erfahrung in diesem Falle ist, um so geringer ist unsere Erkennt- niss auf diesem Gebiete. Mit dem Namen der Aphasie be- zeichnet man im weiteren Sinne eine Gruppe krankhafter Störungen, die nach Verletzung der im Grunde der sylvischen Grube liegenden Reil’schen Insel, sowie nach Verletzung noch nicht sicher be- stimmter angrenzender Theile in die Erscheinung treten. Wenn ein Mensch Worte hört, aber mit ihnen nicht mehr die zugehörigen Begriffe verbindet, wenn ferner einer Person die Begriffe und Vor- stellungen gegenwärtig sind, wenn sie jedoch diese, sowie die mit ihnen aus- geführten Denkoperationen nicht in Worte zu kleiden vermag, wenn endlich ein Individuum die zum Aussprechen bestimmter Worte erforderlichen Inner- vationen nicht mehr zu setzen vermag, obwohl eine Lähmung oder anderweitige Störung der Sprechorgane nicht vor- handen ist, so bezeichnet man diese Störungen als Aphasie. Jede dieser drei Hauptformen der Aphasie tritt jedoch unter verschiedenen specifischen Formen auf, welche namentlich durch die par- tielle oder totale Ausdehnung der Stö- rung auf alle oder nur auf bestimmte Classen von psychischen Erscheinungen bedingt sind. Man beobachtete Krank- heitsfälle derart, dass der Patient zwar Julius Nathan, Ueber die Localisation der Hirnfunctionen den Worte falsche oder ganz sinnlos zusammengefügte gebrauchte, z. B. statt »Doctor« »Butter« sagte, Buchstaben und Silben ausliess, andere nicht zuge- hörige einsetzte, Infinitive statt der be- stimmten Zeitform gebrauchte, unregel- mässige Zeitwörter regelmässig conju- girte u. s. w., und man bezeichnete diese Erscheinung in Folge vollständiger Ver- kennung der eigentlichen causalen Na- tur derselben als Paraphasie. Wenn man diese Erscheinung in ihrem cau- salen Wesen erkennen will, so muss auf die Entwickelung des Sprechvermögens beim Kinde Rücksicht genommen wer- den. Wer auch nur oberflächlich diese Entwickelung beobachtet hat, wird wissen, dass das Kind, welches seine ersten Sprechversuche macht, immer statt der bestimmten Zeitformen Infi- nitive gebraucht, dass es bis in das siebente Lebensjahr hinein einzelne un- regelmässige Zeitwörter regelmässig con- jugirt. Hieraus geht hervor, dass jener Kranke nicht mehr die geistige Ent- wickelung besitzt, eine Thätigkeit mit ihren verschiedenen Zeitbestimmungen durch die entsprechende Conjugations- form auszudrücken, während das Kind diese geistige Entwickelung noch nicht besitzt, ferner ergiebt sich, dass jener Kranke die Tempora der unregelmässi- gen Zeitformen vergessen hat, während das Kind sie sich noch nicht eingeprägt hat. Auch die Verstümmelung der ein- zelnen Worte durch Abstossung zuge- höriger oder Ansetzung nicht zugehöri- ger Silben ist auf diese Weise leicht erklärlich. Ich beobachtete längere Zeit die Entwickelung des Sprechvermögens eines jetzt sieben Jahre alten, geistig sehr geweckten Mädchens und fand, dass das Kind Monate hindurch statt Lampe Bampe sagte, mich selbst statt Onkel Julius Ottel Thulu nannte u. s. w. Wer diese Verstümmelungen berücksichtigt, wird wohl finden, dass es sich sowohl bei dem Kinde als auch bei dem par- sprach, aber statt der sinnentsprechen- | aphasisch genannten Patienten nur um an den Grossbirnhemisphären des Menschen und der Thiere. 361 d ein Unvermögen handelt, die zum ge- nauen und richtigen Aussprechen eines Wortes erforderlichen Innervationen zu setzen. Das Kind sowohl als der Patient gleichen einem ungeübten Turner, der eine gesehene gymnastische Uebung nur unvollkommen und stückweise zu repro- duciren vermag und bei dem Versuche dazu eine Anzahl nicht beabsichtigter, nicht zugehöriger, unzweckmässiger Be- wegungen macht; der Turner vermag ebensowenig die sämmtlichen Inner- vationen der Bewegungsmuskeln in der zum Gelingen der Uebung erforderlichen Reihenfolge zu setzen, als jenes Kind und jener Patient die zum Aussprechen eines Wortes erforderlichen Innervationen der Muskeln des Sprachorgans in rich- tiger Reihenfolge zu setzen vermögen. Die Krankheitserscheinung, welche man als Paraphasie bezeichnet, ist daher der Hauptsache nach eine specifische Unter- art der dritten Hauptform der Aphasie, nicht der ersten. Ausser den paraphasisch Kranken beobachtete man andere Patienten, die zwar hörten, aber die Worte nur als ein verworrenes Geräusch vernahmen, einzelne Vokale hörten sie deutlich und sprachen dieselben auch nach, so dass KussmAuL bemerkt hat, die Stelle des Gehirns, an welche die Empfindung von Geräuschen einzelner Vocale und Con- sonanten gebunden ist, müsse eine an- dere sein als diejenige Gehirnstelle, in welcher das gehörte Wort, das acustische Wortbild als Symbol einer Vorstellung aufgefasst wird. Mit der Sprachtaub- heit ist gewöhnlich die Sprachblindheit verbunden, denn wenn ein Kranker ge- hörte Worte nicht mehr mit den rich- tigen Begriffen zu verbinden vermag, so kann er es auch nicht mit geschriebenen Worten, welche ihm zum Lesen über- geben werden, obwohl sein Sehvermögen erhalten ist. Diese Erscheinungen kön- nen wiederum auch nur für bestimmte Arten der Verständigungssymbole be- stehen; denn es sind Fälle beobachtet worden, in denen nur die Auffassungs- gabe für Zahlen oder auch nur das Ver- ständniss für geschriebene musikalische Noten verloren gegangen war, so dass der Kranke noch einzelne Ziffern lesen konnte, ihre Stellenbedeutung jedoch nicht mehr erkannte oder in dem an- dern Falle wieder noch gut nach dem Gehör spielen konnte. Hier in Berlin ist vor einiger Zeit ein Fall von Aphasie beobachtet worden, der dadurch eine ganz besondere Wichtigkeit besitzt, dass während seines Verlaufes die drei Haupt- formen der Aphasie, welche im Anfange gleichzeitig vorhanden waren, successive in einer bestimmten Reihenfolge allmälig verschwanden. Ein Schneider, welcher sich gesund am voraufgehenden Abend zu Bette ge- legt hatte, war am Morgen, als er er- wachte, völlig ausser Stande, ein Wort auszusprechen oder zu schreiben und Gesprochenes oder Geschriebenes zu ver- stehen; nach drei Wochen begann er wieder zu sprechen, er verwechselte je- doch anfangs noch häufig die Worte, allmälig schrieb er auch wieder und konnte geläufig lesen und das Gelesene, wie er angab, auch verstehen. Am spätesten erwarb er sich jedoch die Fähigkeit wieder gesprochene Worte, obwohl er dieselben hörte und richtig nachsprechen konnte, mit den sinn- entsprechenden Begriffen zu verbinden. Als ihn der Arzt eines Tages fragte, was eine Scheere sei, sah er den Arzt, und seine Frau fragend und Hilfe suchend an. »Scheere?« sagte er, das Wort habe ich schon einmal gehört; als der Arzt ihm darauf eine Scheere zeigte, stellte sich sofort die fehlende Vor- stellung ein, auch andere Worte wie Tisch, Haus, Hand, Kind, verstand er begrifflich nicht, oder er verwechselte sie mit andern ähnlich klingenden Wor- ten, so dass er z. B., wenn er nach einem Messer gefragt wurde, ein Meter- maass herbeibrachte. Wurde der Patient aber aufgefordert, das begrifflich nicht 362 verstandene, aber gehörte Wort aufzu- schreiben, so verstand er dasselbe so- fort, selbst wenn er nur die Hälfte des- selben zu Papier gebracht hatte. Wir erkennen aus diesem Falle sehr deut- lich, dass am schnellsten das Unver- mögen die zum Aussprechen der Worte erforderlichen Innervationen zu setzen verschwindet, darauf stellt sich allmälig die Fähigkeit wieder ein, gedachte Be- griffe und Vorstellungen mit den sinn- entsprechenden Worten zu verbinden und niederzuschreiben oder geschriebene oder gelesene Worte mit den entspre- chenden Vorstellungen zu verbinden, zuletzt endlich wird der Kranke auch fähig, gehörte Worte mit den entspre- chenden Vorstellungen und Begriffen zu verbinden. Die Theile des Sprachver- mögens treten daher, wenn sie einmal verloren gegangen sind, in einer Reihen- folge wieder auf, die zu der Reihenfolge ihrer Entstehungs- oder Erwerbungsart im umgekehrten Verhältniss steht. Bei der zweiten Hauptform der Aphasie, welche gewöhnlich mit Agra- phie verbunden ist und darin besteht, dass der Kranke seine Gedanken nicht in Worte zu kleiden vermag, um die- selben auszusprechen oder niederzu- schreiben, obwohl er vorgesprochene Worte sowohl nachsprechen als auch niederschreiben kann, sind ebenfalls mannigfache Eigenthümlichkeiten beob- achtet worden; so waren z. B. von manchen Kranken nur einzelne Worte, oder nur die Hauptworte, oder nur ein- zelne Namen, oder endlich gar nur ein- zelne Worttheile, oder alle Silben ' bis auf den Anfangsbuchstaben eines jeden Haupt- und Eigenschaftswortes verges- sen worden und konnten dem Gedächt- niss nicht mehr eingeprägt werden. Noch merkwürdigere Eigenthümlich- keiten sind bei der Alexie beobachtet worden, welche die dritte Hauptform der Aphasie darstellt und darin besteht, dass der Kranke zwar seine Gedanken in Worte zu kleiden vermag, dass er Julius Nathan, Ueber die Localisation der Hirnfunctionen aber nicht die zum Aussprechen der Worte erforderlichen, centralen Inner- vationen setzen kann; solche Kranke können offenbar in Worten denken; denn sie sind im Stande, das Resultat ihres Denkens niederzuschreiben, aber sie vermögen nicht vorgesprochene Worte nachzusprechen, obwohl sie mit ihren Sprechwerkzeugen willkürliche Beweg- ungen ausführen können; die Patienten haben die Fähigkeit articulirte Laute auszustossen eingebüsst, obwohl sie einzelne Buchstaben auszusprechen ver- mögen, man beobachtete daher, dass die Kranken zwar z. B. die Silbe tan, nicht aber ihre Umkehrung nat, nicht ihre Abkürzung na oder ta aussprechen konnten, sie sprachen ein bestimmtes Wort richtig aus, nicht aber dasselbe Wort mit Weglassung einer Silbe, oder mit Umstellung der Silben, oder eine Silbe mit Umstellung der Buchstaben. Ebenso vermögen solche Kranke einen Buchstaben in einem Worte, z. B. r in toujours auszusprechen, nicht aber den Buchstaben r in trois, wie BRocA an einem Kranken beobachtete. Endlich hat man beobachtet, dass namentlich nach Zerstörung der Reil’schen Insel oder der linken untern Stirnwindung (Gyrus frontalis inferior sinister) der linken Hemisphäre derartige aphasische Störungen am häufigsten auftreten, dass dagegen bei linkshändigen, also abnor- malen Individuen die Zerstörung der genannten Theile der rechten Hemisphäre des Gehirns Aphasie zur Folge habe, weshalb mehrere Forscher, namentlich BrocA, behauptet haben, dass für die Sprache ebenso wie für die mechanischen Fertigkeiten und Arbeiten (Schreiben u. s. w.) mehr die linke Grosshirnhemi- sphäre, welche der rechten Körperhälfte zugeordnet ist, als die rechte Gross- hirnhemisphäre eingeübt werde, weil ja auch die mechanischen Fertigkeiten meistens mit der rechten Hand ver- richtet würden. Ehe ich diese kleine Monographie an den Grosshirnhemisphären des Menschen und der Thiere. abschliesse, muss ich noch erwähnen, dass der bedeutende Physiologe GouTz die Localisationstheorie als eine grund- falsche Hypothese verwirft. Gourz hat | mit als einer der Ersten entdeckt, dass die Grosshirnhemisphären erregbar seien, aber er ist auf Grund seiner Versuchs- ergebnisse von Anfang an ein conse- quenter Gegner der Localisatoren ge- wesen. Erst vor wenigen Wochen hat Goutz die Resultate seiner zahlreichen in den letzten Jahren angestellten Ver- suche und Beobachtungen veröffentlicht, er hat mit grosser Genauigkeit und mit besondern, zu den Versuchen con- struirten Instrumenten Versuche ange- stellt und glaubt dennoch auf Grund seiner letzten Resultate die Behauptung aufrecht erhalten zu müssen, dass alle Abschnitte der Grosshirnrinde des Hun- des gleichwerthig seien. Er hat Hunden ganze Quadranten der Grosshirnrinde erst an einer Seite, dann nach längerer Zeit an der andern Seite, bald vorn, bald hinten abgetragen und hat selbst mehrere Monate nach der letzten Ope- ration die Ausfallserscheinungen beob- achtet. Bei einem Hunde gelang es ihm in vier nach entsprechenden Pausen vorgenommenen Operationen alle vier Quadranten der Grosshirnrinde zu ent- fernen, bei andern Hunden exstirpirte er bald die beiden Quadranten einer Seite, oder die beiden vordern, oder die beiden hintern, oder einen vordern der einen Seite und einen hintern der. an- dern Seite und in allen Fällen machte er Beobachtungen, welche sich mit der Localisationstheorie nicht in Einklang * Den sich spezieller für dieses augen- blicklich in lebhaftester Erörterung befindliche Wissensgebiet interessirenden Leser machen wir auf folgende neuere Publikationen auf- merksam: 1. HERMANN Munk, Ueber die Funktionen der Grosshirnrinde, Berlin 1881. 369 bringen lassen. Gourz hat daher fol- gende allgemeine Behauptungen als Re- sultate seiner Versuche aufgestellt: Die Annahme umschriebener, geson- derten Functionen dienender Centren innerhalb der Grosshirnrinde ist un- haltbar. Es giebt keinen Abschnitt der Gross- hirnrinde, der ausschliesslich dem Sehen oder Hören, oder Riechen, oder Schme- cken, oder Fühlen dient. Durch irgend eine begrenzte Zer- störung der Grosshirnrinde ist es un- möglich, irgend einen Muskel dauernd zu lähmen oder auch nur dem Einflusse des Willens zu entziehen. Die Intelligenz, das Gemüth, die Leidenschaften, Naturtriebe sind nicht an functionell gesonderten Rindenab- schnitten localisirt. Es bewirken jedoch die Zerstörungen der vordern Abschnitte der Grosshirn- rinde Ausfallserscheinungen, welche sich in einigen Punkten von denjenigen unter- scheiden, die nach Verlust der hintern Abschnitte eintreten; es scheinen aber diese Unterschiede durch die gleichzei- tige Verletzung der zum Hirnstamm führenden Leitungsbahnen bedingt zu sein. ’ Durch diese Versuche und Ergeb- nisse Goutz’s sind fast alle Beobacht- ungen der Localisatoren wieder in Frage gestellt, und erst in Zukunft wird durch neue, umfassende Versuchsreihen fest- gestellt werden können, ob die Locali- sationstheorie der Hirnfunctionen dem Sachverhalt entspricht oder mit ihm in Widerspruch steht.* — 2. F. GoLtz, Ueber die Verrichtungen des Grosshirns, Bonn 1881. — 3. S. ExNER, Untersuchungen über die Localisation der Funktionenin der Grosshirnrinde desMenschen, Wien 1881. Die Nationalität der österreichischen Pfahlbautenbewohner. Eine archäologisch-ethnologische Studie von Dr. Fligier. Das Alter der Pfahlbauten des Mond- sees, Attersees, Stahremberger- sees, des Laibacher Moors und des Neusiedlersees lässt sich nur in so weit bestimmen, dass dieselben aus der Steinzeit herrühren, dass aber auch die Bronze bereits den Pfahlbautenbewoh- nern bekannt zu werden begann. Die Bewohner des Pfahlbaues im Mondsee in Oberösterreich verwendeten nach Dr. Much# in überwiegendem Maasse und in jeder Richtung ihrer Thätigkeit Werk- zeuge und Geräthe ausSteinundKnochen, so zwar, dass kaum eines der Wesentlich- sten derselben nicht vertreten ist. Auf eine sehr grosse Zahl im Gebrauche ge- wesener Steingeräthe weisen auch die vielen Behau- und Schleifsteine,, "mit deren Hilfe sie verfertigt worden sind, und die zugleich nebst anderen Um- ständen Zeugniss geben, dass diese Stein- und Knochengeräthe nicht von auswärts importirt, sondern von den Bewohnern selbst verfertigt wurden. Ne- benher geht aber schon der, wenn auch seltene Gebrauch von Werkzeugen aus Bronze, ja sogar die Kenntniss und die Ausübung des Erzgusses selbst. Wie die Werkzeuge und Waffen, ist auch der Schmuck vorzugsweise aus Stein und Knochen angefertigt. Die auf der Bühne des Pfahlwerkes gebauten Hütten bestanden aus Flechtwerk mit einem Lehmbewurf. Die Nahrung der Pfahl- bautenbewohner bestand nach Dr.Muc#*, dem verdienstvollen Entdecker und Durchforscher dieser Pfahlbauten, aus dem Fleische der Hausthiere, des Rindes, der Ziege, des Schafes und Schweines. Von Fischen finden sich wenige Spuren, doch nimmt Dr. Muc# an, dass mit der Seeforelle die Tafel des Pfahlbautenbewohners reichlich be- setzt war. Getreide muss in genügen- dem Maasse zu Gebote gestanden sein, darauf deuten einzelne zerstreute Wei- zenkörner und die verkohlten Speise- reste, die an Topfscherben haften. Der vom Grafen B£uLA Sz£&cHENnYI durch- forschte Pfahlbau im Becken des Neu- siedlersees zeichnet sieh durch eine Menge von Steingeräthen und durch das gänzliche Fehlen von Metallgegen- ständen aus. Im Uebrigen erinnern aber die Funde aus dem Neusiedler- see ganz und gar an die Funde des Laibacher Moores. — Die Frage * Mittheilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien. VI. Bd. Nr. 6 u. 7. Fligier, Die Nationalität der österreichischen Pfahlbautenbewohner. nach der Herkunft der Erbauer dieser Pfahlbauten ist bis jetzt nicht einmal aufgeworfen worden. Ich werde in- dessen in Folgendem die Nationalität der Pfahlbautenbewohner festzustellen ver- suchen. Vorerst sei zu bemerken, dass, wie sich aus den Funden im Laibacher Moor ergeben hat, die Pfahlbautenbe- wohner ein dolichokephales Volk ge- wesen sind. Da selbstverständlich bei dem hohen Alter der Pfahlbauten Ger- manen und Slawen als deren Be- wohner absolut nicht in Betracht ge- zogen werden können, so könnte man in den Kelten als sehr alten Bewoh- nern dieser Gegenden aus römischer und vorrömischer Zeit, leicht die» Erbauer der österreichischen Pfahlbauten ver- muthen. Wir werden gleich sehen, dass auch dies absolut nicht der Fall sein kann, da die keltische Epoche durch zahlreiche, in den Alpenländern gemach- ten Funde genau bekannt und durch Jahrhunderte jedenfalls von der ihr vor- angegangenen Pfahlbautenperiode ge- trennt ist. Die keltische Epoche cha- rakterisirt am besten das Hallstädter Grabfeld und die Funde von Maria- Rast an der Grenze zwischen Kärnten * und Steiermark. Frh. v. SAcKkEn ** ver- legt die Funde aus den Hallstädter Grä- bern in die Zeit zwischen der römischen Herrschaft in Noricum und der zwei- ten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. und schreibt sie entschieden dem keltischen Stamme der Taurisker zu. Die Sonnen- und Schwanenbilder deu- ten auf gallischen Naturdienst. End- lich bestätigen diese Gräber die nach Cazsar beiden Galliern übliche Pracht der Leichenbestattung (oder vielmehr Verbrennung) und die Sitte, dem Ver- storbenen mitzugeben, was ihm im Le- ben lieb und werth war. In Bezug * (GUNDAKER Graf WURMBRAND. Das Urnenfeld von Maria-Rast. Archiv für An- thropologie XI. Bd. p. 237 u. ff. Der gelehrte Verfasser schreibt Fe Funde von Maria- Rast gleichfalls den Kelten zu. Der Auf- 365 auf die Ornamentik zeigt sich eine viel- fache Uebereinstimmung mit den kelti- schen Münzen, auf denen die beliebten Motive und Typen wie der Kreis mit dem Centralpunkt, der Perlenkreis, die Sonne und namentlich das .Pferd con- stant wiederkehren. Für eine gemischte Bevölkerung — sagt SACKEN — spre- chen die verschiedenen Bestattungsar- ten des Hallstädter Grabfeldes und man ist versucht, das brandlose Begräbniss, welches im Durchschnitt Aermeren zu Theil wurde, den älteren besiegten Ein- wohnern, die Verbrennung mit reichen Beigaben den herrschenden Kelten, bei denen diese Bestattung üblich war (Caesar de bell. gall. VI, 19), zuzu- schreiben. In der unterworfenen Be- völkerung vermuthet SAcken Rhätier. Aus dem Hallstädter Grabfeld ersehen wir, welcher Art die keltische Cultur gewesen ist. Hallstadt musste eine zahl- reiche und, wie aus den Funden her- vorgeht, wohlhabende Bevölkerung ge- habt haben, die auf einen kleinen Raum zusammengedrängt wohnte, der ausser ihr kaum noch einige Ziegen beherber- gen konnte. Diese Bevölkerung war darauf angewiesen, ihren gesammten Lebensmittelbedarf wie noch heute von auswärts zu beziehen, und da wären wohl nach Dr. MucH die Bewohner der Pfahlbauten, wenn diese noch ge- standen hätten, in der Lage gewesen, die Produkte ihrer Viehzucht oder ihrer Jagdbeute gegen den schönen Bronze- schmuck oder die eisernen Werkzeuge der Hallstädter abzusetzen; wir müss- ten doch bei einem solchen unmittel- baren Nebeneinanderwohnen auch einen Verkehr unter einander, einen gegen- seitigen Einfluss (beispielsweise bei der an beiden Orten verschiedenen Töpferei!) wahrnehmen. Da wir aber keine Spur satz kann in vielfacher Hinsicht als muster- giltig bezeichnet werden. ** SACKEN. Das Grabfeld von Hallstadt. Wien 1868, p. 146 u. f. 366 eines solchen geistigen oder materiellen Austausches finden, so können wir auch mit Dr. MucnH mit vieler Wahrscheinlich- keit annehmen, dass die Pfahlbauten Oberösterreichs zur Zeit der Hall- städter (keltischen) Culturperiode nicht mehr bestanden haben. Die Bewohner der Pfahlbauten sind noch vor dem Erscheinen der Kelten ausgewan- dert und, wie wir es gleichfalls mit grosser Wahrscheinlichkeit behaupten können, haben sie gegen Süden ihre Wanderungen angetreten, der seit jeher auf die nordi- schen Völker eine grosse Anziehungs- kraft ausgeübt hat. Es mag hier noch bemerkt werden, dass die Kelten ihre Wanderungen gegen Westen viel später als die Illyrier, Thraker, Hellenen und Italiker begonnen haben. Aus den Forschungen MüLtLEenHorr's (Deutsche Alterthumskunde) über die »ora mari- tima« des Avıpnus, geht nämlich her- vor, dass der Schrift des Avıknus ein phönieischer Periplus aus dem 7. Jahr- hundert v. Chr. zu Grunde lag, welcher die Kelten in Gallien noch nicht kannte. Die Kelten müssen daher erst im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. ihre Züge aus Osteuropa, der Heimath aller Arier, begonnen haben, und wie ich es nachträglich zeigen werde, mussten die Bewohner der norischen Pfahlbauten zu dieser Zeit bereits die Apenninenhalb- insel betreten haben. Welcher Abstam- mung mag aber dieses Volk gewesen sein? Waren es vielleicht Rhätier, deren Heimath in Tirol, Ostschweiz und in den angrenzenden Theilen Bayern’s gesucht werden muss, oder vielleicht Illyrier, zu denen die Japyden, Dal- mater und Pannonier gezählt haben? Die Rhätier, die nach dem Urtheile * PICHLER. Etruskische Funde in Steier- mark und Kärnten. Mittheilunsen der Cen- traleommission in Wien 1880, #* Professor PELLEGRINO STROBEL in Parma bemerkt indessen in einer Kritik meiner neuesten Schrift „Die Urzeit von Hellas und Italien“, Braunschweig 1881, Vieweg, dass Fligier, Die Nationalität | desgesammten AlterthumsmitdenEtrus- kern einst ein Volk gebildet haben, mögen einst viel weiter östlich ver- breitet gewesen sein, als man gewöhn- lich annimmt. Dafür sprechen die von SACKEN angeführten archäologischen Zeugnisse und die etruskischen Inschrif- ten aus Kärnten und Untersteiermark, von denen einige schon früher durch Mommsen und andere, neuestens durch Fr. PıcHter in Graz” bekannt geworden sind. Die alten Rhätier müssen aber ein brachykephales Volk gewesen sein, weil ihre Nachkommen die Ladiner exquisit brachykephal sind, während die Be- wohner des Laibacher Pfahlbaues Do- lichokephalen waren. Illyrier können gleichfalls nicht in Betracht gezogen wer- den, weilihre Nachkommen, die Geghen Albaniens nach Vırcnow zu den am meisten brachykephalen Völkern Euro- pa’s gehören. Die Cultur der österreichischen Pfahl- bauten istim Wesentlichen mit der Pfahl- bautencultur der oberitalienischen Seen identisch. Hier wie dort wiegen Steinge- räthe vor; Bronze kommt nur in wenigen Exemplaren vor. In allen diesen Pfahl- bauten sehen wir ein Volk leben und s&haf- fen, das sich vorwiegend mit Viehzucht und Ackerbau beschäftigt, dem Fischfang dagegen abgeneigt ist, denn Reste von Fischen sind im Mondsee selten und Heusıs hat dasselbe bei den italieni- schen Pfahlbauten beobachtet. ** Wir haben es hier wie dort mit einem Bauern- volke zu thun. Heusıc *** hat in der scharfsinnigsten Weise dargethan, dass die Bewohner der oberitalienischen Seen sich später in der Emilia niedergelassen haben, und dass sie dort, weil Seen fehlten, Pfahlbauten auf ebener Erde, die Bewohner der Terremare zwar keine Fische gekannt haben, wohl aber die Pfahlbauten- bewohner Oberitaliens. (Vgl. Bullettino di paletnologia Italiana 1881 fase 7 e 8.) #** HELBIG. Die Italiker in der Poebene. Leipzig, 1879. der österreichischen Pfahlbautenbewohner. die sogenannten Terremare, errichtet haben. In den Terremare herrscht gleichfalls die Steinzeit vor, doch ist die Bronze zahlreicher vertreten als in den oberitalienischen Pfahlbauten. Die Bewohner der Terremare, welche Hrr- BiG- sehr treffend ein Bauernvolk nennt, haben bereits in der Cultur einen mässi- gen Schritt vorwärts gethan. Nicht min- der scharfsinnig hat Hrusıg dargethan, dass die Cultur der Terremare mit der altrömischen vollständig übereinstimmt, d. h., dass die Italiker (Umbrer, Sa- beller, Osker) sich zuerst an den ober- italienischen Seen niedergelassen, hier- auf die Terremare errichtet und zuletzt sich in Latium und im Centrum der Apenninenhalbinsel dauernd festgesetzt haben. Von Norden — wahrschein- lich über den Brenner — vollzog sich die Einwanderung der Italiker. Nörd- lich und nordöstlich vom Brenner mö- gen die Italiker vielleicht Jahrhunderte lang gesessen haben, denn es ist doch gewiss nicht anzunehmen, dass die Ita- liker direkt von Osteuropa nach der Apenninenhalbinsel, die ihnen doch un- bekannt sein musste, gewandert sind. Man kann sich daher nicht wundern, dass die Cultur der österreichischen und ita- lienischen Pfahlbauten identisch ist, denn beide rühren von einem und demselben Volke, von den Italikern, her. Die Anfänge des italischen — und somit auch römischen — Volkes werden uns somit an der Hand archäologischer Zeugnisse aus einer Zeit bekannt, von der weder NıEBUHR noch MommsEn eine Ahnung gehabt haben. Aus der Sprache der Italiker und Hellenen ergibt sich der evidente Beweis, dass beide Völker einst längere Zeit neben einander gewohnt und sich mit Acker- bau und Viehzucht beschäftigt haben müssen (vergl. &0® — aro, KOa«TOOV — * Kosmos Bd. IX, 1881, p. 216 ff. *# Zeitschr. für österreichische Gymna- sien 1878, p. 862. 367 aratrum etc.). Ich bemerke weiter, dass die Thiere, deren Reste in den Pfahl- bauten gefunden wurden, in beiden Sprachen ee Aion aber (vergl. Boos — us, 0lg — ovis, 0.9 — es ndpxog — poreus etc.). Ich habe bereits in diesen Blättern * die Vermuthung ausgesprochen, dass Hel- lenen und Italiker sich in der pan- nonischen Ebene, wo Raum gerade für ein Viehzucht und Ackerbau treibendes Volk, inhinreichendem Maasse vorhanden war, getrennt haben. Aus ihrer Sprache ergibt sich ferner der evidente Beweis, dass ihnen Bronze und Bronzetechnik da- mals noch total unbekannt waren (vergl. xahxog —= aes, tinog — forma ete.). Einen schlagenden Beweis für meine Be- hauptung finde ich in dem Umstande, dass im Neusiedlersee also in Pannonien — wirklich kein Bronzefund gemacht worden ist. Archäologie und Linguistik stimmen in diesem Falle in ihren Resultaten überein. Es sei noch bemerkt, dass wie im Laibacher Moor auch die Schädel aus den alten Grä- bern Latiums nach Nıcorvccı meist dolichokephal sind. Prof. TomAscHex ** nimmt an, dass Illyrier, Graeken und Italiker von Osten kommend den Karpathenwall über- schritten haben. Ich glaube sogar, dass sie längs der Karpathen gezogen sind und durch die Einsenkung zwischen den Karpathen und Sudeten die Marchebene betreten haben. Die Höhlenfunde bei Krakau stimmen im Ganzen mit den Funden aus den österreichischen Pfahl- bauten überein. Ossowskı *** hat zahl- reiche Steinartefakte .der verschieden- sen Art, Fibeln, Werkzeuge und Orna- mente aus Bein gefunden. Auch Bronze kam, wenn auch nur in 2 Exemplaren, schon vor. Die Krakauer Funde sind bestimmt vorslawisch, denn aus den *** Zbior wiadomoseci do antropologii kra- | jowej 1880. \ 368 slawischen Sprachen ergibt sich der Be- weis, dass den Slawen in ihrer gemein- samen Heimath das Eisen bekannt war. Uebrigens haben die Slawen diese Ge- gend etwa ein Jahrtausend nach der Er- bauung der österreichischen Pfahlbauten betreten. Ich nehme daher an, dass die Funde bei Krakau von demselben Volke herrühren, das später die Pfahl- bauten in Oesterreich und Italien er- richtet hat. Dieses Volk kam wie alle Arier aus dem östlichen Europa, wo es neben finnischen Völkern gesessen haben muss. Erklärlich werden uns nun die Entlehnungen aus den classi- schen Sprachen in den finnischen Dia- lekten (vergl. perm. »pors«, veps, »porzas« das Schwein, gr. 709x208, lat. poreus, finn. kapris Bock, lat. caper, finn. »paimen« Hirt, gr. zeo1 tv ete. ete.). Zuletzt noch ein archäologisches Curiosum. Dr. MucHn sagt in seinem Bericht über den Pfahlbau des Mondsees: Merk- würdig ist die den Bewohnern des Pfahl- baues im Mondsee und den durch hunderte von Meilen und durch viele Völker getrennten Merjänen im Innern des europäischen Russland gemeinsame Gepflogenheit, Thierkrallennachzubilden, im Mondsee allerdings in Stein, bei den Merjänen, jüngerer Zeit entsprechend, in Bronze. Stammt diese Gepflogenheit aus der grauen Uırzeit, in welcher Ita- liker neben finnischen Völkern gesessen haben? Dieser Aufsatz ist nur eine natür- liche Folge der Forschungen Heüsıe’s. (Dieltaliker inder Poebene. Leipzig1879.) Wer Hersis’s Forschungen über die italienischen Pfahlbauten gelesen hat, Fligier, Die Nationalität der österreichischen Pfahlbautenbewohner. musste mit der Zeit die Nationalität der österreichischen Pfahlbautenbewohner herausfinden. Zugleich mit der Correctur dieses Aufsatzes ist mir eine Besprechung meiner »Urzeit von Hellas und Italien« 1881, Braunschweig, von Prof. Dr. MEHuis im »Ausland« 1881 vom 26. December zugekommen, in welcher Dr: Meutuıs sagt, dass die Cultur der italienischen Pfahlbauten von der Cultur der öster- reichischen und schweizerischen Pfahl- bauten nicht verschieden sei. Vielleicht ergreift Dr. Menuis in dieser Angelegen- heit noch einmal das Wort, da er gerade in solchen Fragen sehr competent ist. Ich wollte in diesem kleinen Aufsatze diese Frage nur in Fluss bringen. In- competent sind dagegen in dieser An- gelegenheit die sogenannten Koryphäen der classischen Archäologie, denen die erforderlichen Grundlagen für das Ver- ständniss derartiger Fragen zu fehlen pflegen. Beispielsweise sei hier er- wähnt Conze’s mit homerischem Ge- lächter aufgenommene Entdeckung eines indogermanischen Kunststyls in einer Arbeit, die sich sogar in die Sitz- ungsberichte der Wiener Akademie der Wissenschaften verirrt hat. Coxze steht als grosser Gelehrter nicht verein- zelt da, er hat seine Nachtreter und Nachfolger! — Seitdem SCHLIEMANN grossartige Entdeckungen gemacht hat, ohne zur auserwählten Zahl der »viri doctissimis zu zählen, suchen ihm auch die berühmten Fachmänner gleichzu- kommen. Man reist nach Griechenland, man reist nach Italien, man reist sogar nach Karien und Lycien, um sich einen Namen zu machen, aber — die Wissen- schaft nimmt davon keine Notiz. Par- turiunt montes, nascetur ridieulus mus. u; ‘ Dr. Scaumipr unter andern: Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Veränderungen der Mondoberfläche. Obwohl schon frühere Astronomen gewisse Veränderungen auf der Mond- oberfläche hatten wahrnehmen wollen, so ist doch ein greifbares Beispiel zu- erst von Dr. H. J. Krein in dem neu entstandenen Krater Hyginus nachge- wiesen worden, hinsichtlich dessen, wie wir früher* mittheilten, der englische Selenograph EpmunD NEısox sich völlig auf den Standpunkt Krerım’s gestellt hatte. Neuerdings hat nun auch der Nestor der jetzt lebenden Mondbeobach- ter, Dr. Juzıus Schmivr, Direktor der Sternwarte in Athen, sich in einem offe- nen Sendschreiben an Dr. Kuren für die behauptete Neubildung ausgespro- chen. In diesem Sendschreiben sagt »Ein Aus- zug aus den Handschriften zu meinen Originalzeichnungen ward schon 1877 begonnen, bald nachdem Sie mir ge- meldet, was Sie in gedachter Gegend gesehen, und die Gründe dargelegt hatten, aus denen mit Wahrscheinlich- keit auf eine Neubildung geschlossen werden durfte. Ich glaubte jedoch, mit der Veröffentlichung meiner Angaben nicht eilen zu müssen, sondern hielt es für besser, das eigene Urtheil von den Beobachtungen der folgenden Jahre ab- hängig zu machen. Inzwischen geht * Kosmos Bd. III, S. 434, Kosmos, V, Jahrgang (Bd. X). das fünfte Jahr seit Ihrer Entdeckung bald zu Ende und ich glaube, dass es nun an der Zeit ist, durch Mittheilung meiner 42 Jahre umfassenden Beobach- tungen sowohl die Ihrigen als auch meine und Neison’s Schlussfolgerungen im Wesentlichen zu bestätigen.« Weiter theilt Dr. Schmivr mit, dass nach sei- nen, von dem attischen Himmel be- günstigten Beobachtungen das von Dr. Kueın entdeckte kraterförmige Gebilde in der letzten Zeit sich merklich an- ders zeigt, wie 1877. Wo früher die schwarze, kraterförmige Oeffnung er- schien, liegen jetzt einige flache Hügel. Diese vermuthlichen, noch wirksamen Aenderungen, sagt ScHumipr, können temporäre, dampfförmige Bedeckungen sein, oder Erhebungen des Bodens am Orte des Kraters, oder zeitweilige Auf- füllung des Bodens. Durch solche Wir- kungen kann bei aufgehender Sonne Gestalt und Deutlichkeit, besonders die Dunkelheit des Schattens modifizirt wer- den. Diese von Dr. Schummwr bemerk- ten weiteren Umänderungen sind auch dem Beobachter in Köln nicht ent- gangen. Durch die Veröffentlichung des athenischen Astronomen veranlasst, gibt Dr. Krem folgende kurze Uebersicht seiner Wahrnehmungen: »Meine frühe- sten Beobachtungen zeigten das Gebilde Hyginus N. als sehr nahe kreisförmig, dunkelgrau, imCentrum mit einem kreis- runden, schattenschwarzen Krater. Das 24 370 Ganze erschien als schwarzer Trichter mit centralem Schlunde. Ein Wall nach aussen fehlte vollständig. Am 19. Mai 1877 wurde der runde Fleck Hyginus N. allein nur gesehen; am 18. Juni zeigte sich der südliche runde Fleck, aber im Ganzen schwach. Am 9. April 1878 ward zuerst erkannt, dass beide Flecke durch eine graue, breite Bodenmulde mit einander in Verbindung standen. Der südliche, kleine, runde Fleck hatte im Centrum einen kleinen, schatten- schwarzen Kraterschlund. Die Luft war damals ausgezeichnet klar, denn süd- lich von N. in der Ebene erschienen zahlreiche kleinste Kraterchen, die ich weder früher noch später jemals wieder- sah, und westlich neben N. zeigten sich zwei überaus feine Rillen (Bodenspalten). Wäre die südliche Verbindungsmulde am 19. Mai vorhanden gewesen, so hätte sie mir nicht entgehen können. Später sah ich sie stets. Am 28. April 1879 zeigte das neue grosse Fernrohr die zungenförmige Bodenmulde unge- mein lang, so dass mich diese ganz ungewohnte Länge frappirte. Der kleine Krater am südlichen Ende war nicht zu sehen. Seitdem hat sich diese Ver- längerung stets sehr lang gezeigt, und zwar mit den verschiedensten Fern- rohren. Hyginus N. ist seit 1880 da- gegen durchschnittlich nicht mehr so dunkel und kraterartig erschienen, wie in den Jahren 1877 und 1878, auch ist seine äussere Begrenzung unbestimm- ter. Am 7. März 1881, bei einem Sonnenstande, unter welchem N. mir früher mit schwarzem Centralkrater er- schien, stellte er sich muldenförmig dar und im Beobachtungsjournale befindet sich die Bemerkung: Eine Vertiefung, kein Krater. — In sehr hoher Beleuch- tung erblickt man von N. nichts; ich war daher nicht wenig überrascht, am 5. Oktober am Orte desselben eine matthelle Stelle zu sehen, die sich von ihrer Umgebung sehr deutlich abhob.« Kleinere Mittheilungen und Journalschau. (letscherspuren im Harz. In der am 3. Dezember 1881 statt- gefundenen Sitzung der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin erwähnte Dr. Kayser vom landesgeologischen Institut zunächst des merkwürdigen Umstandes, dass man sowohl in Thüringen, wie auch im Harze bisher vergeblich nach Spuren der Eis- oder Gletscherperiode gesucht hat, wäh- rend bekanntlich im norddeutschen Flachlande namentlich durch die Be- mühungen TorrELL’s in neuerer Zeit verschiedene Stellen ermittelt wurden, welche für ehemalige Vergletscherung sprechen (Rüdersdorf, Halle, Taucha, Völpcke). Zwar traf TorRELL im vori- gen Jahre auf einer Wanderung von Ilsenburg nach dem Brocken eigenthüm- liche, an Moränenbildungen erinnernde Blockanhäufungen, wagte jedoch nicht, bestimmte Combinationen an dieses Vor- kommen zu knüpfen. Nunmehr hat Dr. Kayser im Oderthale (südlich vom Brocken) zwischen dem Oderteiche und dem Oderstollen Blockwalle vorgefunden, die er für Seitenmoränen alter Gletscher hält. Dieselben beginnen am Andreas- berger Rinderstalle und reichen etwa eine halbe Stunde weit thalaufwärts, wo das Thal eine andere Figuration an- nimmt und Gletscherspuren allenfalls nur unter dem auf der engen Sohle ange- häuften Schutte gefunden werden könn- ten. Die gedachten Gesteinsrücken lau- fen in der Richtung des Thales, sind unter sich parallel und durch Senkungen von einander getrennt; diese Senkungen hinwieder erleiden Unterbrechungen, so dass sie Mulden (ohne Abfluss) .dar- stellen; in der tiefsten hat sich denn auch ein Teich gebildet. Das Material der Blöcke, aus denen die Wälle be- stehen, zeigt alle Gesteinsarten des oberen Thales in buntem Gemisch, die einzelnen Stücke sind regellos und wild übereinander gehäuft, sind kantig, eckig, also augenscheinlich nicht durch Wasser transportirt und zeigen vielfache Spuren Kleinere Mittheilungen und Journalschau. von Einkritzelung, Schrammung , von Schliff, zuweilen sogar Politur. Von den den Seitenwänden des Thales ent- stammenden Schutthalden unterscheiden sie sich nicht nur durch ihre Lagerung, sondern auch durch die Verschieden- heit des Materials, so liegen z. B. unter der Hornfelswand des Hahnenklees Gra- nitblöcke, sowie alle möglichen, von der des Hahnenklees abweichenden Horn- felsarten. Gegen den Wassertransport spricht auch der Umstand, dass weiter unten im Thale keinerlei Schotteran- schwemmungen sich finden. Während nun hier alle Anzeichen für Moränen- charakter sprechen, hat Vortragender Spuren einer Endmoräne, sowie Schram- mungen an anstehendem Gesteine nicht finden können; das letztere erklärt er aus der auffallend rapiden Verwitterung der Harzgesteine. Dass die von ihm in’s Auge gefassten Blockrücken bei ihrer eigenartigen Öberflächengestaltung, ihrer pp. 20—25 M. über der Oder sich erhebenden Höhe nicht schon mehr Be- achtung gefunden haban, mag nach ihm daher rühren, dass die Touristen diese Thalstrecke selten passiren, da sie den Weg am Rehberger Graben entlang vor- ziehen. Den Ursprung jenes Gletschers sucht Dr. Kayser in der zwischen Brocken und Bruchberg befindlichen, jetzt gröss- tentheils mit Mooren bedeckten Senke. Helophvton Williamsonis. Bei der letzten Versammlung der Britischen Naturforscher in York legten W. Casr und Tr. Hıck die Beschreibung _ eines aus dem Steinkohlensystem (Ha- lifax-Schiehten) stammenden Pflanzen- stengels vor, welchen sie nach dem Tausendblatt unserer Sümpfe Myrio- phylloides Williamsonis getauft hatten. Die betreffende Pflanze ist von einem ungewöhnlichem Interesse, da ihre Rin- denschicht die weiten, offnen, durch Auseinanderweichen derZellen entstehen- den Längslücken zeigt, welche bei Wasser- 371 pflanzen so allgemein auftreten. Die Scheidewände zwischen den Luftlücken bestehen aus einer einzigen Zellenlage, und das ganze Gewebe stellt ein Netz- werk mit vertikal verlängerten Maschen dar. C. Wiırrıamson von Manchester macht nun in einer Zuschrift an die Nature (Nr. 632, Dezember 1881) dar- auf aufmerksam, dass dieser gesammte Rindenbau sich eng demjenigen bei den lebenden Marsiliaceen anschliesst, ob- wohl der Bau des centralen Gefäss- bündels und der es zusammensetzenden Gefässe wiederum von dem bei unseren lebenden Marsiliaceen abweicht. Aber er weicht ebenso von Myriophyllum ab, weshalb der dem Ueberrest gegebene generische Name durch einen andern ersetzt zu werden verdient, um so mehr, da wir bisher keine phanerogame Pflanze aus der Steinkohlenzeit kennen, und- ausserdem bereits eine fossile Tertiär- pflanze von UnGER Myriophyllites getauft worden ist. Wınvıamson schlägt des- halb vor, die Pflanze Helophyton zu nen- nen. Sie erweckt darum ein beson- deres Interesse, weil sie nach Wiır- LIAMSON das erste sichere Beispiel einer aus den paläozoischen Schichten stam- menden Sumpf- oder Schwimmpflanze ist, wie dies der Bau ihres Stengels zweifellos erkennen lässt. Zwar sind viele sogenannte Wasserwurzeln aus jener Periode beschrieben, aber ihre Wasserpflanzennatur ist keineswegs in dem Maasse über allen Zweifel erhaben, wie bei Helophyton. (Genauere, durch detaillirte Figuren erläuterte Beschrei- bung wird im nächsten (12.) Theil des grossen Werkes von ©. WILLIAMSON: »On the Organisation of the Plants of the Coal-Measuress erscheinen. Hvgroskopische Hüllblätter als Schutzmittel von Blüthen und Samen. In einem Aufsatze »über Austrock- nungs- und Imbibitions-Erscheinungen « (Bd. 83 der Sitzungsberichte der k.k. 24* 372 Akademie der Wissenschaften zu Wien, 1. Abtheil. Mai 1881. Mit einer Tafel) theilt Herr Emerıch Raruay folgende interessante Beobachtungen mit. Die inneren Involukralblätter der Carlina- Arten zeigen die bekannte Erscheinung, dass sie sich während und nach der Blüthezeit bei trockenem Wetter aus- breiten, bei nassem Wetter über die Blüthen zusammenlegen. Die von Herrn RAruaY vorgenommene Untersuchung des histologischen Baues der Blätter ergab nun, dass die Involukralblätter in ihrem mittleren Theile auf ihrer Rückseite ein unter deren Epidermis gelegenes 2—4-schichtiges Lager stark verdickter Sclerenchymzellen haben und hat Herr Raruay durch Experimente bewiesen, dass es die hygroskopischen Eigenschaften dieses Sclerenchyms sind, worauf das Einbiegen und Ausbreiten der inneren Involukralblätter beruht. Bei nassem Wetter dehnt sich das Sclerenchym aus, wodurch das Involu- kralblatt nach der Vorderseite zu, d.h. nach den Köpfen eingebogen wird; bei trockenem Wetter zieht sich das Scle- renchym wieder zusammen, wodurch sich die inneren Hüllblätter wieder nach aussen zurückschlagen und also sich ausbreiten. Diese ganze Einrichtung ist ein Schutzmittel der jungen Blüthen und Früchte gegen nasse Witterung. Auch an anderen Cynareen beob- achtete der Verf. hygroskopische In- volukren, deren Hygroskopicität eben- falls auf einem unter der Epidermis der Rückseite gelegenen mehrschichtigen starken Sclerenchymstreifen beruht. Er beobachtete es bei Centaurea scabiosa, C. cyanus, C. paniculata, Echinops sphae- rocephalus, Cirsium lanceolatum, O. canum, C. oleraceum, CO. arvense, Carduwus nu- tans, C. acanthoides, Onopordum Acan- Ihium und Lappa communis. Nur ge- ringe Hygroskopieität zeigt hingegen das Involukrum von Centaurea Jacea. Die Involukren dieser Arten breiten sich bei trockenem sonnigen Wetter Kleinere Mittheilungen und Journalschau. aus, und schliessen sich bei nasser Witterung zusammen, was wieder auf die bei trockenem Wetter eintretende Verkürzung, bei nassem Wetter eintre- tende Verlängerung des unter der Epi- dermis der Rückseite gelegenen mehr- schichtigen Sclerenchymstreifens beruht. Unter den genannten Arten haben die einen einen wohl ausgebildeten Pappus, die anderen einen mehr oder minder rudimentären Pappus. - Wenn sich bei den mit Pappus ver- sehenen Arten bei trockener Witterung die Involukralblätter ausbreiten, fangen auch bald die trocken werdenden Pap- pusstrahlen der eingeschlossenen Achä- nien an sich auszubreiten und an den auseinander klaffenden Involukralblät- tern die Früchtchen emporzuheben. Tritt so ein leiser Wind auf, so wer- den die trockenen emporgehobenen Früchte mittelst des ausgebreiteten Pappus weit weggeführt. Bei nassem Wetter hingegen verkleben sich durch die Wassertropfen die Haare des Pap- pus wie die Haare eines Pinsels mit einander, und kann der Pappus dann nicht als Flugapparat fungiren. Wenn sich dann die Involukralblätter durch die hygroskopische Verlängerung des dor- salen Sclerenchymstreifens nicht schlies- sen würden, würden die Früchte vom Regen herausgespült werden, in den Blattwinkeln und am Stengel hängen bleiben oder nur in der Nähe der Mutterpflanze zur Erde gelangen, wo das Terrain schon von der Art occu- pirt ist. Bei den Arten mit reducirtem Pap- pus hingegen kann ein leiser Wind die Früchte aus den ausgebreiteten Invo- lukren nicht wegführen. Bei diesen Arten (Centaurea scabiosa, Ü. cyanus, C. paniculata) stehen die Köpfchen auf elastischen biegsamen Stielen. Durch einen starken Windstoss gerathen diese in eine stark schwankende Bewegung, und werden die Früchtchen in schiefer Richtung aus dem Köpfchen heraus- Kleinere Mittheilungen und Journalschan. geschleudert, wobei noch der kurze Pappus dem starken Windstoss zum Segel dient. Auch hier würde das bei nassem Wetter vereitelt werden. So werden die Samen von den sich hygro- skopisch zusammenlegenden Hüllblättern vor unzweckmässigem Austreten ge- schützt. Im Anschlusse daran weist der Verf. noch darauf hin, dass sich die aufge- sprungenen Kapseln von Caryophylleen, Primulaceen und Scrophularineen bei Regenwetter schliessen, bei trockenem wieder öffnen, was ebenfalls auf Hy- groskopicität der Klappen beruht. Hin- gegen fehlt letztere bei Papaver, wo schon die geöffneten Kapseln durch den übergreifenden Rand der schildförmigen Narbe gegen das Eindringen des Regen- wassers geschützt sind. Auch an den Zapfenschuppen der Coniferen und Erlen beobachtete der Verf. hygroskopische Eigenschaften, die zu demselben Zwecke, wie bei den Involukralblättern der Cy- nareen, dienen möchten. P. Macnus. Die Relikten-Seen und ihre Fauna bildeten den Gegenstand eines Vor- trages, welchen Dr. CREDNER aus Greifs- wald am 5. November 1881 in der Berliner Gesellschaft für Erdkunde hielt. Man hat bisher meist, besonders nach dem Vorgange Oskar PescHev's die Binnenseen klassifieirt in »echte«, d.h. solche, die sich unabhängig vom Meere im Binnenlande durch Wasserergüsse in Einstürze, Krater, Mulden etc. ge- bildet haben und »Relikten-Seen«, das sind Ueberbleibsel ehemaliger Meeres- theile, die meist der allmäligen Aus- süssung anheimgefallen sind und nur noch an den »Relikten«, den Resten der Meeresfauna erkannt werden, bezw. ‚sich durch diese Fauna von den ech- ten Binnenseen unterscheiden. Eine ältere Anschauungsweise, welche den Salzgehalt mancher Binnengewässer zum 313 Ausgangspunkt nahm und auf Grund desselben die salzigen Seen für Reste von Meeresbecken ansah, musste der Erwägung weichen, dass unter geeig- neten Verhältnissen auch Süsswasser- zufluss Salzseen bilden kann, insofern die geringen Salzmengen dieser Zuflüsse ‚doch schliesslich in Folge der Wasser- ' verdünstung zur Entstehung concen- trirter Salzwasser Anlass geben. Bes- sere Begründung gewähren die Relikten, da sich nachweisen lässt, dass manche Meeresbewohner, und zwar selbst solche, welche bei plötzlicher Uebersiedelung 'in Süsswasser sofort zu Grunde gehen, den Uebergang ohne Schaden ertragen, wenn er successive erfolgt, also bei unmerklicher Verdünnung .des Salzwas- sers mit süssem. Das liesse also glaub- haft erscheinen, wie in manchen Meeres- theilen, nachdem diese durch Hebung des Landes oder Anschwemmung von Barren vom Meere getrennt, trotz ihrer allmäligen Aussüssung durch die Zu- flüsse doch einzelne der ursprünglichen Bewohner sich fortpflanzungsfähig con- servirt haben, und man hat, auf diese Theorie gestützt, eine ausserordentliche Anzahl besonders der grösseren Seen in die Klasse der Reliktenseen registrirt, so das kaspische Meer, den Aral- und Baikalsee, die grossen canadischen Seen, die oberitalischen, schwedischen, finni- schen und russischen (Ladoga, Onega) Seen, den Nicaragua-, den Genfer See. Ja selbst den Titicaca hat seine ausser- ordentlich hohe Lage nicht vor dem Schicksale bewahrt, den Reliktenseen beigezählt zu werden. Dem gegenüber scheint es doch angezeigt, zu prüfen, ob nicht andere Ursachen für das Vor- kommen der sogen. Relikten anzuneh- men sind, um in denjenigen Fällen, ‘ wo nicht wirklich ein ehemaliger Zu- sammenhang mit dem Meere nachweis- bar und die geographische Lage des Sees die Erbringung solchen Beweises unwahrscheinlich macht, eine zwang- losere Deutung jener faunistischen Ver» 374 hältnisse zu besitzen. In der That dürfte solche Ursache zu suchen sein in der mehrfach beobachteten, auch gegenwärtig stattfindenden Einwander- ung echter Meeresbewohner in Flüsse und von diesen weiter in Seen. So erschien ein Hydroidpolyp in den Fluss- mündungen Frankreichs, Englands und Belgiens, um später bis zur Elbe zu gelangen, diese aufwärts zu wandern, so dass er sogar die Wasserröhren Hamburgs erfüllte, weiter aber den obe- ren Lauf des Stromes aufzusuchen und die Nebenflüsse und benachbarten Ge- wässer, z. B. den salzigen See bei Eisleben zu bevölkern. So kann ein Manatus, der Gilo, welcher im Tsad- See gefunden wurde, den Nigar-Binne hinauf über die bei Regenzeit über- schwemmte Wasserscheide in den See gelangt sein. So erklärt sich das Vor- kommen von Krebsen und Fischen (u. A. Haifischen), von Seehunden etc. einfacher, als durch die Annahme ehe- maliger Meereszugehörigkeit, wenn für letztere nicht andere gewichtige An- zeichen vorliegen, wie dies z. B. für Weenern- und Wetter-See der Fall, nicht aber für die grossen russischen und sibirischen, für die canadischen Seen u. s. w., deren Region keine Spur mariner Ablagerungen aufweist. Eine neue Fundstätte für die britische Paläontologie. * Die Welt ist heutzutage nur selten durch die Entdeckung ganzer Gruppen neuer Organismen aus den Felsen Bri- tanniens überrascht worden; es ist immer nur der ferne Westen, aus dem » solche Ueberraschungen kommen. Zwei oder drei Generationen thätiger Sammler haben unsere Schichten so gründlich durchwühlt, dass nur hin und wieder * Von Prof. ARCHIB. GEIKIE. Nature No. 627. November 1881, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. durch einen glücklichen Zufall eine neue Ader für die Forschung eröffnet wird, deren Finder mehr wegen seines guten Glücks, als wegen seiner speziel- len Beobachtungsschärfe beglückwünscht werden muss. Solch eine Ader ist neuer- dings durch die geologische Landes- Aufnahme der unteren, Steinkohlen füh- renden Felsschichten von Südschottland geschlagen worden. Ein Bericht über die wichtigsten Charaktere dieses »Fun- des« wird auch für den Nichtfachmann von Interesse sein. Reisende, welche von Süden in Schottland eintreten, bemerken, dass nachdem sie die Ebenen des Tweed auf der Ostseite oder die des Solway im Westen verlassen haben, sie sich in einer Reihe von Hügeln oder Hoch- landstrichen befinden, die allerdings nicht hoch und malerisch, aber von ausreichender Höhe und Charakter- .eigenthümlichkeit sind, um eine be- merkliche Scheidewand zwischen den Thälern der Grenze auf der einen Seite und des schottischen Unterlandes auf der andern zu bilden. Dieser mit dem Schimmer der Poesie und Romantik überglänzte Gürtel hoher Weidegründe besitzt ein spezielles Interesse für den Geologen. Er kann ihn zurückverfolgen bis zu seinem Ursprunge am Schlusse der silurischen Periode, als er zuerst begann aus der See emporzusteigen, und durch seine Erhebung dazu führte, ein oder mehrere der grossen Binnen- landsbecken abzugrenzen, in denen der alte rothe Sandstein abgesetzt wurde. Von jener alten Zeit an bis zur Gegen- wart scheint die Bergkette eine Bar- riere zwischen den Becken auf seinem nördlichen und südlichen Rande gebil- det zu haben. Ohne Zweifel ist sie bei der grossen Abwitterung des Landes enorm abgetragen worden, tiefe Thäler sind durch dieselbe gefurcht, viele da- von wieder und wieder überfluthet und mit Massen von sedimentärem Material bedeckt worden. Nichtsdestoweniger hat Ei Kleinere Mittheilungen und Journalschau. sie ausgedauert. Längs einer Linie von irdischer Unbeständigkeit liegend, sind ihre ursprünglich horizontalen, und meh- rere tausend Fuss übereinander gehäuf- ten Schichten von Schlamm und Sand bis zu einer weiten Ausdehnung ge- krümmt und gerunzelt worden. Die Bewegungen, durch welche diese Krüm- mungen hervorgerufen wurden, sind zweifellos in mehreren Zwischenräumen wiedergekehrt, so dass sie in gewissem Maassstabe durch gelegentliche Erheb- ungen ihre Erniedrigung durch die be- ständige Abwitterung einigermaassen, wenn nicht gänzlich ausgeglichen haben mögen. Während des ersteren Theiles der Steinkohlenperiode bildeten diese süd- lichen silurischen Hochlande Schottlands eine Barriere zwischen den Lagunen der Unterlande und den mehr offenen Wassern des Südens, welche über das nördliche und mittlere England fluthe- ten. Dass die Bergkette nicht zusam- menhängend war, oder wenigstens dass es eine Wasserstrasse zwischen oder um ihre Enden herum gab, wird durch die Aehnlichkeit der beiderseitigen Fos- silien angedeutet. Dass sie jedoch im allgemeinen einen einigermaassen wirk- samen Damm bildete, wird theils durch die deutliche Verschiedenheit zwischen den korrespondirenden Schichten an ‘ihren nördlichen und südlichen Abhängen und theils durch die merkwürdigen Reihen organischer Ueberreste, auf wel- che hier aufmerksam gemacht werden soll, bezeugt. Seit einigen Jahren war die geo- logische Landes-Aufnahme von Schott- land mit der speziellen Untersuchung der Steinkohlen führenden Felsschichten zwischen den silurischen Hochlanden und der englischen Grenze beschäftigt. Die ganze Region ist nunmehr gezeich- net, die Karten sind theilweis publicirt, und theilweis noch in den Händen der Kupferstecher für baldige Publikation. Die Gesteinsarten sind gesammelt wor- 375 den und ihre chemische und mikro- skopische Analyse ist im Gange. Ihre Fossilien sind aus allen Schichten ge- sammelt, und bereits in weitem Maass- stabe benannt und beschrieben, so dass jetzt Materialien für eine einigermaassen vollständige Uebersicht und Vergleich- ung für Stratigraphie, Petrographie und Paläontologie der Steinkohlenfelsen an der schottischen Grenze vorhanden sind. Im Laufe der Arbeit ist eine eigen- thümliche Zone von Schieferthon an den Bänken des Esk-Flusses von ausser- ordentlichem paläontologischen Werth aufgefunden worden. Äus dieser Schicht wurden, wo sie am Gestade des Flusses freiliegt, von dem Raume einiger we- nigen Quadratellen eine grössere Zahl neuer Organismen durch die Geologen ausgegraben, als sie seit Jahren aus dem gesammten Kohlensystem Schott- lands erhalten worden waren, und im. Ganzen sind die Ueberreste in einem ausgezeichneten Zustande der Erhal- tung. In einigen Fällen haben sie sich thatsächlich so wunderbar in ihrer Ma- trix von feinem Thon eingehüllt, dass Strukturen erhalten sind, die niemals vorher im fossilen Zustande erkannt werden konnten. Die wichtigsten Schätze der Schiefer- thone von Eskdale und Liddesdale sind Fische, Krebse und Spinnenthiere. Die Fische wurden allzumal den Händen von Dr. R. H. Traquaır übergeben, den seine Hingabe für die fossile Ichthyo- logie zu unserm Hauptkenner auf die- sem paläontologischen Gebiete gemacht hat. Der erste den Ganoiden gewid- mete Theil seines Berichtes über sie ist vollendet und durch die kgl. Gesell- schaft von Edinburg publieirt (Transact. Roy. Soc. Edinb. XXX [1881], p. 15). Er erörtert das ausserordentliche In- teresse der Sammlung, die uns sowohl eine gänzlich neue Fischfauna eröffnet, als auch merkwürdige Eigenthümlich- keiten des Baues bei vielen der neuen Arten entschleiert, Von 28 Ganoiden- 376 Species sind nicht weniger als minde- stens 20 Arten neu. Von den sechs- zehn Gattungen, unter welchen diese Arten einbegriffen werden, wurden fünf zum ersten Male der Wissenschaft zu- gänglich (Phanerosteon, Holurus, Cano- bius, Cheirodopsis und Tarrasius), von denen eine (Tarrasius) zugleich so eigen- thümlich ist, dass in keiner irgend be- kannten Familie ein Platz für sie ge- funden werden kann. Der Familie der Palaeoniscidae werden 15 neue Arten und 3 neue Gattungen hinzugefügt. Die am massenhaftesten vorkommende Art ist eine Form von Rhadinichthys, welche sich auch auf der nördlichen Seite des silurischen Dammes findet. Ein anderer Fisch von häufigem Vor- kommen in der letzteren Region ist Eurynotus crenatus, von welchem nur eine einzelne Schuppe in der Eskdale- und Liddesdale-Region aufgefunden wor- den ist. Eine dritte beiden Seiten der Barriere gemeinsame Art ist vermuth- lich Wardichthys cyclosoma. Aber von diesen und möglicherweise ein oder zwei weiteren Ausnahmen abgesehen, sind alle Fische der beiden Seiten verschie- den und auf ihr südliches oder nörd- liches Gebiet beschränkt. Diese That- sachen regen interessante Probleme der Geographie und zoologischen Verthei- lung zur Steinkohlenzeit an. Ohne uns hier auf strukturelle De- tails einzulassen, können wir auf ein oder zwei von Dr. TrAquAır beschrie- bene Eigenthümlichkeiten der neuen Formen eingehen. Er schlägt den Na- men Phanerosteon für eine zu den Pa- läoseiniden gehörige Fischgattung vor, die einen spindelförmigen, anscheinend grösstentheils schuppenlosen Körper mit einereigenthümlichabgerundetenRücken- fosse ohne Stachelschindeln (fulera) be- sitzt. Wenn die Nacktheit des Körpers nicht der Nichterhaltung der Schuppen, sondern, wie es fast sicher erscheint, ihrem ursprünglichen Fehlen zuzuschrei- ben ist, so haben wir da einen zu den Kleinere Mittheilungen und Journalschan. Paläonisciden gehörenden Fisch vor uns, der einen mit demjenigen der Be- schuppung von Polyodon fast identi- schen Zustand zeigte. Nur Eine Spe- cies, aber in einer Anzahl von Exem- plaren, ist von ihm gefunden worden. Die neue Gattung Holurus bietet, ob- gleich sie von ihrem Urheber unter die Palaeoniscidae gestellt wurde, in ihrer nicht gegabelten Schwanzflosse und in ihrer abgerundeten, mit breiter Basis aufsitzenden Brustflosse einen Wider- spruch zu seiner Definition der Familie dar; aber der Knochenbau des Schä- dels ist in der Hauptsache so entschie- den der eines Paläonisciden, dass er vorzieht, ihn als am passendsten da untergebracht zu betrachten, wo er ihn hingestellt hat. Es werden zwei Arten von ihm beschrieben. Noch weiter von den typischen Palaeoniscidae abweichend ist die Gattung Canobius, welche mit der allgemeinen Bildung der Familie eine Anordnung des Suspensorial- und Opercular-Apparates verbindet, die fast identisch ist mit derjenigen bei Bury- notus, einem zu den Platysomiden ge- hörigen Fische. Vier Arten werden da- von beschrieben. Aber der merkwür- digste aller Fische dieser eigenthüm- lichen Gruppe ist von Dr. TrAquAIıR zum Typus einer besonderen Familie erhoben worden, welcher er, da das Charakteristischste der beiden Exem- plare am Fuss (? foot) des Tarras- Wassers gefunden wurde, den Namen der Tarrasiidae beilegte. Tarrasius, die typische und allein bekannte Gattung besitzt sehr kleine, rhombische, chagrin- artige Schuppen, eine persistirende Rückensaite, wohlverknöcherte Nerven- und Ader-Bogen und Dornen, wobei die schlanken Interspinal-Knochen zwischen die Spitzen der Wirbeldornen eindrin- gen, wie bei echten Knochenfischen, und eine lange, aus eng zusammengedräng- ten Strahlen zusammengesetzte Rücken- flosse. Einzig zwei Exemplare, von denen vermuthet wird, dass sie zu der- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 377 selben Art gehören, sind bisher gefun- den worden. Ihr Erhaltungszustand ist derartig, dass er einige wichtige Punkte hinsichtlich des Baus dieses merkwür- digen Fisches in Zweifel lässt. Man darf jedoch hoffen, dass künftige Unter- suchungen an derselben ergiebigen Lo- kalität Dr. TRAQUAIR mit weiteren Exem- plaren versehen und ihn befähigen wer- den, sein Werk zu vollenden. In Gesellschaft der Fischskelette fan- den sich die Ueberreste einiger neuen, zu den Phyllopoden und Dekapoden ge- hörigen Kruster, welche durch B.N. PracnH, den amtlichen Paläontologen der schottischen geologischen Landes-Auf- nahme bearbeitet und in demselben (XXX.) Bande der Transactionen der königl. Edinburger Gesellschaft beschrie- ben worden sind. Die Phyllopoden be- stehen aus zwei neuen Arten von Cera- tiocaris, welche von den silurischen Ar- ten dieser Gattung dadurch abweichen, dass der Körper verhältnissmässig viel grösser ist als der Cephalothorax. Die zahlreichen Exemplare befinden sich in gutem Erhaltungszustande und bei dem einen Individuum zeigte sich der Ein- geweidekanal von aufgenommener Nah- rung aufgetrieben. Von langschwän- zigen Dekapoden kommen einige Arten vor, die in keiner wesentlichen Rich- tung von ihren lebenden Vertretern ab- weichen. Sie gehören zu den Gattungen Anthrapalaemon, Palaeocrangon und Pa- laeocaris. Von Anthrapalaemon sind mehr als vierzig Exemplare einer Art gefun- den worden. B. N. Prach hat ihren Bau mit grosser Geschicklichkeit unter- sucht. Unter seinen Beobachtungen ist das Vorkommen von massenhaften sehr kleinen kalkigen Steinchen in den Füh- lern (? tests) dieser Kruster, genau wie diejenigen der gemeinen Garneele, er- wähnenswerth. Eine der seltsamsten Eigenthümlich- keiten unserer neuen Erwerbungen für die Paläontologie der Steinkohlen- schichten an der schottischen Grenze ist die Massenhaftigkeit, in welcher die Ueberreste von Skorpionen entdeckt worden sind. Das Vorkommen dieser Spinnenthiere (Zoscorpius) in schotti- schen Schichten dieser Periode war be- reits seit einigen Jahren durch Dr. H. WoopwArD bekannt gemacht. Aber wir sind nunmehr im Besitze, von nicht blos vereinzelten und unvollständigen Frag- menten, sondern von zahlreichen und oft wundervoll erhaltenen Exemplaren, welche Mr. PracnH in den Stand setzten, den Bau dieser Insekten in weitgehen- dem Detail zu bearbeiten. Aus seiner demnächst erscheinenden Publikation mögen die hier folgenden Bemerkungen vorweggenommen werden. Er findet, dass diese paläozoischen Formen in kei- ner wesentlichen Beziehung von dem lebenden Skorpion abweichen, sofern es äussere Organe betrifft. Er hat bei ihnen jede Körperstruktur der recenten Form bis hinunter zu den Haaren und Haken der Füsse erkennen können. Blos der Stachel ist noch nicht mit Sicherheit wahrgenommen worden, aber dass er vorhanden war, kann mit Sicher- heit aus dem Vorhandensein der Gift- blase geschlossen werden, welche PEAc# in dem fossilen Zustande entdeckt hat. Die Hauptdifferenz zwischen dem leben- den Skorpion und seinen alten Urzeu- gern liegt in der Thatsache, dass bei den fossilen Arten die mittleren Augen im Verhältniss zu den seitlichen und auch zur Grösse des ganzen Thieres viel grösser sind, als bei den neueren. Die beiden mittleren Augen stehen auf einer Hervorragung nahe dem vorderen Rande des Cephalothorax, die durch zwei convergirende und so vorgerichtete Röhren gebildet wird, dass das Thier mit denselben aufwärts, auswärts und vorwärts schauen konnte. Es sind auf jeder Seite wenigstens vier Seitenaugen vorhanden. Die Mandibeln, Fühler und vier Paar Gehfüsse sind bei manchen Exemplaren sehr schön erkennbar. Die Kämme sind denen der modernen Skor- ‚ bracht. 378 pione sehr ähnlich, aber mit einer sehr bemerkenswerthen Skulptur, welche sofort an die bei den Riesenkrebsen (Eurypterida) vorkommende erinnert. Die Geschlechtsöffnung, die Kämme, und die acht Athemöffnungen nehmen ähnliche Stellungen wie bei den leben- den Skorpionen ein. In Bezug auf die Descendenztheorie liefern diese Fossilien nicht mehr Hülfe, um den Stammbaum der Skorpione zu zeichnen, als die lebenden Arten, denn es ist klar, dass der Skorpion fast ohne Veränderung seit den Steinkohlenzeiten ausgedauert hat. Es kann kein Zweifel darüber sein, dass er der älteste Typus der Spinnenthiere ist, von welchem die an- dern sich ableiten. Seitdem die ersten Exemplare von Skorpionen bei der geologischen Landes- aufnahme in den untern Steinkohlen- schichten der Grenze gefunden wurden, haben fernere Untersuchungen noch viel mehr derselben aus andern und entfern- ten Theilen des Landes an’s Licht ge- Nicht weniger als fünf ver- schiedene Arten, welche alle zu der alleinigen Gattung Eoscorpius gehören, sind durch PsracH anerkannt worden, von denen einige Arten Individuen von 8—10 Zoll in der Länge enthalten haben müssen. Die meisten dieser Exem- plare und auch die oben erwähnten Kruster und Fische sind durch den Fossiliensammler der Landesaufnahme A. MaAcconocHIE gesammelt worden. Noch eine fernere interessante That- sache verdient hier erwähnt zu werden. Als die Landesgeologen zuerst ihre Ar- beit in Schottland begannen, und da- bei beschäftigt waren, den Osten von Berwickshire und Haddingtonshire zu zeichnen, wurde ein merkwürdiges und bisher einziges Fossil gefunden, welches durch Sauter unter dem Namen (y- cadites caledonicus als die älteste bis Jetzt bekannte Cykadee beschrieben wurde. Unter den neuerdings durch A. MacconocHie eingesammelten Stücken Kleinere Mittheilungen und Journalschan. von dem Grenzdistrikt sind einige Fos- silien von anscheinend derselben Form so wohl erhalten, um zu zeigen, dass sie überhaupt keine Pflanzen sind. Sie kommen mit Kurypterus-Arten zusam- men vor und stellen fast sicher ein bis- her noch unbeschriebenes, diesen so- genannten Riesenkrebsen angehöriges kammartiges Organ vor. Diese That- sache dient, zusammengehalten mit der sonderbaren, an Eurypterus erinnernden Skulptur auf den Kämmen der fossilen Skorpione der bereits früher gemachten Annahme, dass die Eurypteriden als im Wasser lebende Ahnen der Spinnen zu betrachten seien, zur Stütze. Ueber Färbung, Farbenwechsel und Farben- Nachäffung der Thiere findet man in der auch an biologischen Bemerkungen überaus reichhaltigen Dar- stellung, welche Professor Dr. F. LeypıG in Bonn kürzlich über die » Verbreitung der Thiere im Rhöngebirge und Main- thal mit Hinblick auf Eifel- und Rhein- thal« gegeben hat*, eine Reihe von Be- obachtungen, die für die in diesen Blättern vielfach behandelte Farbenfrage von bedeutendem Interesse sind. Der Verfasser knüpft dabei an die Farben- Varietäten der Hainschnecke (Helix ne- moralis) an und sagt: »Das prächtige Citrongelb, welches die Schale dieser Schnecke bei Mainz und an sonnigen Weinbergslagen des Mainthals darbietet, vermisst man am Niederrhein, trotzdem dass das Thier in Grösse und Dicke der Schale sich hier sehr entwickelt zeigt. Hingegen ist interessant, wie in der Gegend von Bonn und weiter rheinabwärts das Roth dieser Schnecke sich in Cakaobraun vertieft und eine schöne (fast in’s Violettbraune ziehende) Varietät, welche jedem Sammler auf- * Verhandl. des naturh. Vereins der preuss. Rheinlande u. Westfalen. 38. Jahrg. Kleinere 'Mittheilungen und Journalschau. fallen muss, hervorruft. Hierbei lässt sich wohl nicht blos im Allgemeinen sagen, die Feuchtigkeit der nieder- rheinischen Ebene ist bedingend für diese Farbenabänderung, sondern ich möchte die Vorstellung hegen, dass - vielleicht die heraufdringende Meeres- feuchtigkeit der Luft, welche ja hier bei Bonn auf das Pflanzenleben auch deutlich wirkt, mit im Spiele ist. Dies führt mich zurück zu einer von mir schon mehrfach vertheidigten Ansicht, der zufolge das Dunkelwerden mancher Thiere mit grosser Feuchtigkeit des Aufenthaltsortes in Verbindung stehen möge. Von zustimmenden Beobacht- ungen erwähne ich jene, welche Frrss (Zoolog. Anzeiger 1879. No. 24. S. 155) veröffentlicht hat. Und gleichwie ich schon früher die schwarzen Abänder- ungen einheimischer Reptilien, wie Vipera berus var. prester, Lacerta vivi- para var. nigra, Angwis fragilis in schwarzer Färbung, aus der gleichtn Ursache ableitete, so möchte ich auch die schwarzen Varietäten, wie sie unter- dessen an Zacerta muralis durch Eımer, von BEDRIAGA und Braun bekannt ge- worden sind, und zwar immer nur an Thieren der kleinen Inseln des Mittel- meeres, ebenfalls mit der Einwirkung der feuchten Meeresluft in Verbindung bringen. Es spricht doch jedenfalls für diese Auffassung, dass Beobachter, wel- che von meinen Wahrnehmungen und Schlüssen keine Kenntniss genommen haben, denn doch bezüglich anderer Thiergruppen zu gleicher Annahme sich hingezogen fühlen. So hebt in der Stettiner entomologischen Zeitung ein Sammler von Schmetterlingen bei Bil- bao hervor, dass eine entschiedene Neigung zur Verdüsterung und Schwärz- * Anmerk. des Ref. Wem wäre nicht in den Alpen die starke ins Schwärzliche ziehende Verdüsterung der Farben bei Bläu- lingen, Bräunlingen und Feuerfaltern aufge- fallen? Sie schien mir am stärksten in den nach Süden offenen Alpenthälern zu sein, 319 ung der Farbentöne, ähnlich wie im Norden und auf den Alpen, dort sich zeige und er spricht aus, es scheine die Nähe des Meeres — also die feuchte Luft — diese Veränderung zu bewir- ken.* Ein anderer Lepidopterologe be- richtet (ebend. 1879), dass ein feuchter Lehmboden bei manchen Arten eine dunklere Färbung hervorzurufen scheine. Den Reihen von Beobachtungen über das Dunkelwerden des Arion empirico- rum an sehr feuchten Plätzen, welche ich schon früher veröffentlicht, könnte ich jetzt noch manche andere bestäti- gende anfügen. Dabei hätte ich aber auch als Ergebniss zu bemerken, dass ausser der Feuchtigkeit schlechthin dochauchdiebesondere Bodenbeschaffen- heit ihren Einfluss üben mag.... Das tiefe Schwarz z. B. des Limax cinereo niger auf vulkanischem Boden (Laacher See) denke ich mir als mit dem letz- teren in Beziehung stehend. Sucht man sich über jeden einzelnen Fall, der uns draussen aufstösst, Rechenschaft zu geben, so gerathen wir freilich oft- mals in Verlegenheit. So z. B., was bedingt das prächtige Feuerroth des Arion empiricorum in vielen rheinischen Gegenden, das mir am Main und der Tauber niemals zu Gesicht gekommen ist, und womit sich dann wieder eine bedeutende Grösse des Thieres ver- gesellschaftet? Und nicht allzu fern davon, oder gleich daneben lebt die kaffeebraune Form, ohne dass Boden und Luft dem gewöhnlichen Sinn und Gefühl nach verschieden wären. ** Wie verwickelt übrigens die Fragen noch sind, geht z. B. auch daraus hervor, dass, wie ich aus eigener Erfahrung weiss, Helix candidissima der Insel Sar- dinien eine dicke, kreideweisse Schale in welchen die feuchtwarmen Luftströmungen vom Mittelmeere merkbar sind. ** Vgl. die Beobachtungen Eımer’s über die Farbenänderungen der grossen Wege- schnecke, Kosmos Bd. VI, S. 61. 380 besitzt, das Thier selber aber ganz schwarz ist.« An einer andern Stelle dieser Ab- handlung spricht Professor LeypıG auch über die plötzlichen, durch Chromato- phoren bewirkten Farbenveränderungen des in der Rhön ziemlich verbreiteten Alpenmolchs (Triton alpestris): »An einem sehr warmen Apriltage hellte sich z. B. die vorher ganz dunkle, fast schwarze Grundfarbe des weiblichen Thieres in’s Hellflaschengrüne auf, von dem sich jetzt auf's schönste braune Flecke abhoben. Das Männchen wurde hellwasserblau ; geziert mit bräunlichen Flecken. — An dem französischen grün- gefärbten Triton marmoratus, den ich schon einige Jahre in Gefangenschaft halte, liess sich ebenfalls beobachten, dass er an kühlen Tagen im Mai ganz dunkel, fast schwarz wurde, und sich wieder aufhellte bei warmer Witterung. Auch wiederholte sich an diesem Thier dieselbe Erscheinung, welche ich seiner- zeit über den Einfluss frischen Pflanzen- grüns auf die Farbe der Haut an Hyla arborea mitzutheilen hatte. Während der Winterzeit waren nämlich die sonst grünen Thiere schwärzlich grau gewor- den; eine Partie von frischer Callitriche in das Gefäss gesetzt, rief auch in den sich darauf niederlassenden Tritonen das »freudigste« Grün der Haut her- vor.«< Eine ähnliche Beobachtung über die plötzlichen Farbenänderungen des Dorn- schwanzes (Uromastix acanthinurus) hat auch Prof. Carı Vocr kürzlich auf sei- ner Reise durch Algerien gemacht. Wir wollen aber seine an mehreren Stellen veröffentlichten Bemerkungen über die »Farben der Wüstenthiere« lieber im Zusammenhange mittheilen, da sich in denselben, obwohl die Mehrzahl der Thatsachen längst bekannt ist, doch einige originelle Einzelnheiten finden. In seinen unter andern in der »Natur« (10. September 1881) veröffentlichten »Reisenotizen aus Algerien« erörtert | Kleinere Mittheilungen und Journalschan. er zunächst die bekannten Verhältnisse der Allgemeinfärbung der Wüstenthiere, welche mit der des umgebenden, stellen- weis steinigen Sandes übereinstimmen. »Ueberblickt man,« sagt er, »die mageren Listen der Fauna in der Sä- hara und stellt man die einzelnen, darin aufgeführten Arten zusammen, um sie mit einem Blicke zu überschauen, so wird man durch eine Thatsache ge- fesselt: mit Ausnahme der Käfer und der Wandervögel, welche die Wüste nur durchstreifen, um anderwärts blei- benden Aufenthalt zu nehmen, ist alles in die Sandfarbe des‘ Wüstenbodens gekleidet. Gelb, gelbgrau, grau, gelb- braun, braungrau und grau sind die verschiedenen Abstufungen eines allge- meinen gelben Grundtones, der die weite Fläche überzieht. Bald mehr ein- förmig, wo Sand und Lehm vorherr- schen, bald unbestimmt getüpfelt, wo Gerölle und Kiesel sich anhäufen, sind diese Farbentöne über unabsehbare Weiten ausgedehnt, und da die Luft- perspektive nur äusserst gering ist, kaum abschwächend gegen den Hori- zont hin sich fühlbar macht, so ist, wie die Maler sich auszudrücken pflegen, der Lokalton vorherrschend. Diesem Tone sind nun, mit der erwähnten Aus- nahme der Käfer und Wandervögel, alle Thiere angepasst, die Schutz oder Deckung zur Vertheidigung oder beim Angriffe suchen. Es giebt in der Wüste überhaupt gar kein Thier mit hellen, kontrastirenden Farben, wie Roth, Grün oder Blau, und nur wenige Thiere könnte man als mit Herausforderungsfarben geschmückt bezeichnen, wie manche männliche Vögel, z. B. den Strauss, wo das von der Erdfarbe des Weib- chens abstechende grelle Weiss und Schwarz offenbar zur Folge hat, den Feind von der Niststätte abzuziehen. Alle diese, meist leicht erklärlichen Ausnahmen abgerechnet, bleibt aber ein Heer vonThieren, deren Farben in auf- fallendster Weise zu dem Boden passen. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. In der Küstenzone flattern und springen grosse, lebhaft grau gefärbte Heuschrecken ; in der Sähara sind alle Heuschrecken grau oder graugelb. Der an den gelben Lehmwänden der Häuser umherschleichende Skorpion ist gelb, — seine braune Schwanzspitze mit dem tödtlichen Giftstachel sieht wie ein vor- stehendes Holzstöckchen aus; sämmt- liche Fische in den seichten Gewässern haben dieselbe braun- oder graugelbe Farbe des Rückens, wie der Sand, über welchem sie schwimmen ; alle Eidechsen, die Geckos so gut wie die Agamen, Skinke und Varane, sind graugelb mit wenig helleren oder dunkleren Flecken oder Binden; die Hornviper gleicht einem kleinen, etwas verwitterten Zweige; die weit grössere Brillenschlange einer dickeren, etwasdunkleren Wurzel; Raub-, Sing- und Hühnervögel sind alle, we- nigstens Junge und Weibchen grau, gelb und braun gesprenkelt, so dass das schärfste Auge sie nicht von einem Steine oder Sandhäufchen zu unter- scheiden vermag, wenn sie sich einmal geduckt haben; die Springmäuse sind grau wie der Sand, über den sie schat- tenhaft wegspringen ; Schakal und Mäh- nenmufflon gelb wie die Felsen, in denen sie hausen; ja der Löwe, obgleich er kein eigentliches Wüstenthier ist, trägt die Wüstenfarbe und ein ruhendes Ka- meel, das den Kopf und Hals lang ausgestreckt hat, wird derjenige, der es zum ersten Male aus einiger Ent- fernung sieht, für einen runden Stein- block halten. Ein recht auffallendes Beispiel die- ser Farbenanpassung konnte ich seit meiner Rückkehr an einem grossen, lebenden Dornschwanze (Fouette queue der Franzosen ; Debb der Araber; Uro- mastix acanthinurus) beobachten. Das harmlose, hässliche Thier, das seit drei Monaten keine Nahrung zu sich ge- nommen hat, niemals zu beissen sucht, sondern nur mit dem dicken, reihenweis gestellte Stacheln tragenden Schwanze 38l um sich schlägt, hatte, als ich es er- hielt, eine dunkel schiefergraue, schmu- tzige mit unbestimmten Marmorirungen gezeichnete Farbe, die vortrefflich zu seinem Aufenthalte in dunklen Fels- spalten passt. So blieb es während der ganzen kühlen Zeit in Mai und Juni. Als mit dem Juli die heissen Tage kamen, liess ich den Drahtkäfig, in welchem sich die Eidechse befindet, täglich an die Sonne stellen. Während sie sonst sich träge in eine Ecke drückte, wurde sie nun lebendiger und begann an den Seiten in die Höhe zu klettern. Zugleich aber zeigte sich ein merk- würdiger Farbenwechsel. Der Schwanz begann zuerst heller zu werden, der Körper folgte nach, und nach einer Stunde etwa war das ganze Thier schmutzig gelbweiss, mit kleinen, run- den, » schwarzen, kaum linsengrossen Tüpfeln. Jedem, dem ich das Thier in diesem Zustande zeigte, fiel seine Aehnlichkeit mit dem Sande auf dem Boden des Käfigs auf, — heller weisser Sand mit kleinen schwärzlichen Stein- chen darin zerstreut. So wechselt das Thier mit jedem Tage; Abends, wenn es hereingebracht ist, wird es dunkel- schiefergrau und bleibt so den ganzen Morgen hindurch, auch wenn der Käfig im Freien steht; es befindet sich dann im Schatten; Nachmittags, wenn die Sonne kommt, hellt es sich auf und bleibt in der angegebenen Weise ge- färbt, so lange es von der Sonne be- schienen wird. An trüben Tagen, wenn Wolken die Sonne verdunkeln, bleibt es trotz der Hitze schiefergrau. An einem etwa einen halben Meter langen, zornigen und bissigen Varan (Varanus arenarius seu Psammosaurus griseus), der mit dem Debb den gleichen Käfig theilt, und eine sandgelbe, mit gesättigteren Querbinden gezeichnete Haut trägt, habe ich solchen Farbenwechsel nicht wahrnehmen können, auch bei den Geckonen und Agamen nicht, doch habe ich letztere nicht lange genug beob- 382 achten können, da sie innerhalb we- niger Tage wegstarben. An dieser so auffallenden und so allgemeinen Anpassung der Thierwelt an die Bodenfarbe, nehmen, wie schon erwähnt, die Käfer keinen Antheil. Sie sind fast alle schwarz; nur einige Arten, wie Mylabris sanguwinolenta, voth, oder mit einigen gefärbten Flecken geziert; wie die leicht und schnell fliegenden Cicindelen. Der grosse Haufen der Wüstenkäfer gehört zu den Schwarz- käfern, den Melasomen, deren wesent- lichster Repräsentant bei uns der Mehl- käfer (Tenebrio) ist, aber auch die räuberischen Laufkäfer (Carabiden), die Dung- und Mistkäfer .(Skarabaeiden) sind schwarz, und selbst die in un- mittelbarer Nähe so schön metallisch schillernden Prachtkäfer (Buprestiden), deren dicke, fusslose Larven in den Palmstämmen bohren, erscheinen in geringer Entfernung schwarz. Woher dieser auffallende Unterschied? Viel- leicht dürften folgende Verhältnisse einer Lösung des Räthsels näherführen. Alle diese Käfer stinken sehr, und viele von ihnen schwitzen sichtlich aus den Gelenken einen scharfen, stinken- den Saft aus. Die harten, bald glat- ten, bald gerippten, oder gekörnten Flügeldecken sind bei allen hochge- wölbt, Halsschild und Kopf dagegen, nach vorn hin abgebogen. Alle, welche ich beobachten konnte, kugelten sich bei drohender Gefahr ein, und stellten sich todt.* Man findet die meisten in und um die überall zahlreich zerstreu- ten bohnenförmigen Exkremente der Ziegen und Schafe, die in dem trocke- nen, heissen Klima überaus lange aus- dauern. Nun, ich habe manchen dieser sich todt stellenden Käfer drei und viermal mit einem Stocke umgewendet, * Veber das „Todtstellen“ der Thiere, an welches Prof. VOGT noch unbedingt zu glauben scheint, wolle man die Ansichten von PREYER und CHARLES Darwın (Kos- mos Bd. IIl, S. 533 und Bd. VII, 8. 73) vergleichen, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. bevor ich durch ein leises Zucken der angezogenen Beine oder durch einen Fluchtversuch überzeugt wurde, dass ich nicht eine Schafbohne, sondern einen lebenden Käfer vor mir hatte. Der ekelhafte Geruch, das ganze An- sehen des Thieres, das bald einer fri- schen, bald einer vertrockneten Mist- bohne ähnlich ist, dient ihm also zum Schutze gegen übermächtige Feinde, zu einem weit bessern Schutze als die Sandfarbe. Aber Ziegen und Schafe sind keine ursprünglichen Bewohner der Wüste, sie sind als Hausthiere in die- selbe eingeführt! Schon recht! Ich habe mir den Mist der Gazellen ange- sehen, was ich um so leichter konnte, als mein freundlicher Wirth in Algier, Dr. Landowsky, drei dieser zierlichen Geschöpfe, ein Männchen und zwei Weibchen in seinem Gehöft pflegte. Der Mist dieser Antilopen, wie so vieler anderer gleicht vollkommen dem Schaf- oder Ziegenmiste. Die Gazelle aber ist ein echtes Wüstenthier und früher durch- zog sie die Sahara in grossen Heerden, während sie jetzt in Folge der unaus- gesetzten Verfolgung in der Nähe von Bilkra fast ausgerottet und auch im Innern der Sähara weit seltener ge- worden ist. So bestätigt denn die scheinbare Ausnahme nur die Regel. Die Anpassung zum Schutze gegen Feinde ist evident; sie ist nur auf an- derem Wege zu Stande gekommen als bei der grossem Mehrzahl der übrigen Thiere.< Eine ähnliche Anpassung an die Form des Schafkoth im Gebirge beschrieb Dr. H. Müruer im Kosmos Bd. VE.8: 7221. Die Klassifikation der Dinosaurier. ** In dem Maiheft des American Jour- nal of Science (p. 423) *** gab ich eine *# Gelesen von Prof. O. ©. MARSH vor der National Academy of Sciences am 14. November 1881 auf der Versammlung zu Philadelphia, und mit Be vom Verfasser. #** Kosmos Bd. I . 465. Kleinere Mittheilungen und Journalschan. Skizze zu einer Klassifikation der ju- rassischen Dinosaurier Amerika’s, welche ich persönlich untersucht hatte. Die damals untersuchten Serien sind im Museum des Yale College aufgestellt, und bestehen aus mehreren hundert Individuen, von denen viele wohlerhal- ten sind, und zahlreiche Gattungen und Arten repräsentiren. Um festzustellen, in wie weit die vorgeschlagene Ein- theilung sich auf das von weiteren Ge- bieten gesammelte Material anwenden lassen würde, habe ich seitdem ver- schiedene Dinosaurier-Ueberreste von andern Formationen dieses Landes unter- sucht, und habe ausserdem während des letzten Sommers die meisten der europäischen Museen, welche wichtige Ueberreste dieser Gruppe enthalten, untersucht. Obwohl die Untersuchung noch nicht beendet ist, habe ich ge- meint, dass die bereits erlangten Re- sultate von einem hinreichenden Inter- esse seien, um sie der Akademie zu diesem Zeitpunkte mitzutheilen. In‘früheren Klassifikationen, welche im Vergleiche zu dem jetzt Verwerth- baren, auf einem sehr beschränkten Material begründet waren, wurden die Dinosaurier sehr allgemein als eine Ordnung angesehen. Verschiedene Cha- raktere der Gruppe wurden durch H. voN MEyer erörtert, der ihr den Namen Pachypoda beilegte; durch Owen, wel- cher ihr in der Folge den jetzt im allgemeinen Gebrauch befindlichen Na- men Dinosauria gab und auch durch Huxtey, welcher in jüngerer Zeit den Namen Ornithoscelida vorschlug und zu- erst die grosse Wichtigkeit der Gruppe und ihre nahe Verwandtschaft mit den Vögeln würdigte. Die Untersuchungen von CorE und Leıpy in Amerika, und von HuLKkE, Srerey und Andern in Europa haben gleichfalls viel zur Kennt- niss der Sache beigetragen. Eine Untersuchung von irgend einem beträchtlicheren Theile der jetzt be- kannten Dinosaurier-Ueberreste wird es 383 jedem einigermaassen mit den lebenden oder ausgestorbenen Reptilien vertrau- ten Forscher offenbar machen, dass diese Gruppe nicht als eine Ordnung, sondern als eine Unterklasse betrachtet werden sollte, und dieser Rang ist ihr in der vorliegenden Mittheilung beige- legt worden. Die grosse Zahl der die- ser Gruppe eingeordneten Abtheilungen und die merkwürdige Verschiedenheit unter jenen bereits entdeckten deutet an, dass noch viele neue Formen ge- funden werden dürften. Sogar unter den schon bekannten ist eine viel grös- sere Verschiedenheit in der Gestalt und im Knochenbau vorhanden, als in irgend einer andern Unterklasse der Wirbel- thiere, mit einziger Ausnahme der pla- centalen Säugethiere. Mit den leben- den und ausgestorbenen Beutelthieren verglichen zeigen die Dinosaurier eine gleiche Mannigfaltigkeit des Baus und Grössenvariationen von bei weiten den grössten aller bekannten Landthiere (50—60 Fuss in der Länge) bis zu den allerkleinsten herunter, die nur einige Zoll Länge besitzen. Den gegenwärtigen Beweisen zufolge waren die Dinosaurier gänzlich auf die mesozoische Epoche begrenzt. Sie waren massenhaft in der Triaszeit vorhanden, erreichten ihren Kulminationspunkt in der Jurazeit und fuhren in der Ab- nahme ihrer Zahl fort bis zum Ende der Kreideperiode, wo sie ausstarben. Die grosse Verschiedenheit der Formen, welche in der Triaszeit blühten, macht es mehr als wahrscheinlich, dass einige Glieder der Gruppe schon in der per- mischen Periode existirt haben werden, und dass ihre Ueberreste zu irgend einer Zeit an’s Licht gebracht werden dürften. Die Trias-Dinosaurier sind bisher, obwohl so sehr zahlreich, heutzutage hauptsächlich nur aus ihren Fussein- drücken und fragmentaren Knochen- überresten bekannt. Nicht mehr als ein halbes Dutzend vollständiger Ske- 384 lette sind bisher aus Absatzschichten dieser Periode in Sicherheit gebracht worden, daher können viele der be- schriebenen Ueberreste für jetzt nicht den Abtheilungen der Gruppe, denen sie angehören mögen, zugetheilt werden. Aus der Juraperiode jedoch, wäh- rend welcher die Dinosaurier nach Grösse und Menge ihren Zenith erreichten, sind Vertreter von nicht weniger als vier wohl markirten Ordnungen jetzt so wohl bekannt, dass sehr genau ver- schiedene Gattungen und Familien un- terschieden werden können und fast der gesammte Knochenbau wenigstens der typischen Vertreter mit Sicherheit festgestellt werden kann. Für jetzt liegt die Hauptschwierigkeit, was die Jura-Dinosaurier betrifft, in der Ver- gewisserung der Verwandtschaften, wel- che die kleinen Formen den Vögeln so eng anzunähern scheinen. Diese Formen waren nicht selten, aber ihre bisher gefundenen Ueberreste sind meist frag- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. mentarisch und können nur mit Schwie- rigkeit von denen der Vögel, die sich in denselben Schichten finden, unter- schieden werden. Ohne Zweifel werden zukünftige Entdeckungen vieles Licht auf diesen Punkt werfen. Vergleichsweise wenig ist bisher über Kreidezeit - Dinosaurier bekannt, obwohl viele derselben nach unvoll- ständigen Exemplaren beschrieben wor- den sind. Alle von ihnen scheinen von bedeutender Grösse gewesen zu sein, obwohl sie in dieser Beziehung um vieles den gigantischen Formen der vorherigen Periode nachstanden. Die best erhaltenen Ueberreste zeigen, dass vor dem Aussterben einige Mitglieder der Gruppe in besonders hohem Grade spezialisirt wurden. Indem wir die Dinosaurier als eine Unterklasse der Reptilien betrachten, können die für jetzt bestbekannten Formen wie folgt klassifizirt werden: v Unterklasse Dinosauria. Prämaxillar-Knochen getrennt; obere und untere Schläfenbögen ; Zweige der unteren Kinnlade vorn blos durch Knorpel vereinigt; keine Zähne auf dem Gaumen. Neuralbogen der Wirbel mit den Gentren durch Nähte vereinigt; Hals- wirbel zahlreich; Kreuzbeinwirbel verknöchert. Halsrippen mit den Wirbeln durch Naht oder Ankylosis vereinigt; Thorax-Rippen doppelköpfig. Beckenknochen von einander und vom Kreuzbein getrennt; Darmbein vor der Gelenkpfanne verlängert; Gelenkpfanne zum Theil durch das Schambein gebildet; die Sitzbeine begegnen einander an ihren proximalen Enden in der Mittellinie. Vordere und hintere Gliedmaassen vorhanden, die letzteren mit Gehfüssen und grösser als die Vorder- beine; Schenkelbeinkopf in rechtem Winkel zu den Condylen; Schienbein mit procnemialem Kamm; Wadenbein vollständig. Erste Reihe der Tarsalien blos aus dem Astragalus und Calcaneum, welche zusammen den oberen Theil der Gelenk- verbindung bilden, zusammengesetzt. l. Ordnung: Sauropoda (Eidechsenfüssler). Herbivor. Füsse plantigrad und ungulat; fünf Zehen am Vorder- und Hinter- bein, zweite Reihe von Carpalien und Tarsalien unverknöchert. Schambeine nach vorn hervortretend und am vordern Ende durch Knorpel vereinigt. Keine Post- pubes. Präcaudalwirbel hohl. Vordere und hintere Gliedmaassen nahezu gleich; Gliedknochen solid. Brustbeinknochen paarweise. Prämaxillare mit Zähnen. 1. Familie: Atlantosauridae. Vordere Wirbel opisthocöl. Sitzbeine niederwärts gerichtet, und mit ihren Extremitäten in der Mittellinie einander be- rührend. Kleinere Mittheilungen ‚und Journalschau. 385 Gattungen: Atlantosaurus, Apatosaurus, Brontosaurus, Diplodocus, ? Camaro- saurus (Amphicoelias), ? Dystrophaeus. 2. Familie: Morosauridae. Vordere Wirbel opisthocöl. Sitzbeine rück- wärts gerichtet, und einander mit den Seiten in der Mittellinie begegnend. Gattung: Morosaurus. Europäische Formen dieser Ordnung: Bothriospondylus, Cetiosaurus, Chon- drosteosaurus, Eucamerotus, Ornithopsis, Pelorosaurus. 2. Ordnung: Stegosauria (Platten-Eidechsen). Herbivor. Füsse plantigrad, ungulat; fünf Zehen an Vorder- und Hinterbein. Zweite Reihe der Handwurzelknochen unverknöchert. Schambeine vorn frei her- vorspringend ; Postpubis vorhanden. Vorderbeine sehr klein; Lokomotion haupt- sächlich auf den Hinterbeinen. Wirbel und Gliedknochen solid. Ein knöcherner Hautpanzer. 1. Familie: Stegosauridae. Wirbel biconcav. Rückenmarkskanal im Kreuzbein zu einer grossen Kammer erweitert; Sitzbeine rückwärts gerichtet und einander mit den Seiten in der Mittellinie begegnend. Astragalus mit der Tibia verknöchert; Metapodialien sehr kurz. Gattungen: Stegosaurus (Hypsirhophus), Diracodon, und in Europa Omo- saurus OWEN. 2. Familie: Scelidosauridae. Astragalus nicht mit der Tibia verknöchert ; Metatarsalien verlängert; vier funktionirende Zehen am Fusse. Alle bekannten Formen sind Europäer. Gattungen: Scelidosaurus, Acanthopolis, COrataeomus, Hylaeosaurus, Pola- canthus. 3. Ordnung: Ornithopoda (Vogelfüssler). Herbivor. Füsse digitigrad; fünf funktionirende Zehen an dem Vorderfuss und drei am Hinterfuss.. Schambeine vorn frei hervorragend; Postpubis vorhanden. Wirbel solid. Vorderglieder klein; Gliedknochen hohl. Prämaxillaren vorn zahnlos. 1. Familie: Camptonotidae. Schlüsselbeine fehlen; Postpubis voll- ständig. Gattungen: (amptonotus, Laosaurus, Nanosaurus, und in Europa Hypsi- lophodon. 2. Familie: Iguanodontidae. Schlüsselbeine vorhanden; Postpubis unvollständig. Prämaxillaren zahnlos. Alle bekannten Formen europäisch. Gattungen: Iguanodon, Vectisaurus. 3. Familie: Hadrosauridae. Zähne in mehreren Reihen, eine mit Vor- theil zu gebrauchende, gewürfelte Mahlfläche bildend. Vordere Wirbel opisthocöl. Gattungen: Hadrosaurus, ? Agathaumas, Cionodon. 4. Ordnung: Theropoda (Raubthierfüssler). Carnivor. Füsse digitigrad; Zehen mit Greifklauen. Schambeine niederwärts hervorspringend und am Ende miteinander verknöchert. Wirbel mehr oder weniger cavernös. Vorderglieder sehr klein; Gliedknochen hohl. Prämaxillaren mit Zähnen. i Kosmos, V, Jahrgang (Bd. X). 25 386 Kleinere Mittheilungen und Journalschan. 1. Familie: Megalosauridae. Wirbel biconcav. Schambeine schlank und an ihren äusseren Enden miteinander verknöchert. Astragalus mit aufsteigendem Fortsatz. Gattungen: Fünf Zehen am Vorderfuss und vier am Hinterfuss. Megalosaurus (Poikilopleuron) aus Europa. Allosaurus, Coelo- saurus, Creosaurus, Dryptosaurus (Laelaps). 3, Familie: Zanclodontidae. Wirbel biconcav. Schambeine breit ver- längerte Platten mit vereinigten Vorderrändern. Astragalus ohne aufsteigenden Fortsatz. Europäer. Fünf Zehen an Vorder- und Hinterfuss. Die bekannten Formen sind Gattungen: Zanclodon, ? Teratosaurus. 3. Familie: Amphisauridae. Wirbel biconcav. Schambein stabförmig. Fünf Zehen am Vorderfuss und drei am Hinterfuss. Gattungen: Amphisaurus (Megadactylus), ? Bathygnathus, ? Clepsysaurus, und in Europa Palaeosaurus, Thecodontosaurus. Vordere Wirbel stark opisthocöl und mit 4. Familie: Labrosauridae. Höhlen versehen. Mittelfussknochen stark verlängert. Schambein schlank mit ver- einigten Vorderrändern. Gattung: Labrosaurus. Unterordnung: Coeluria (Hohlschwänzer). 5. Familie: Coeluridae. Skeletknochen pneumatisch oder hohl. Vordere Halswirbel opisthocöl, die übrigen biconcav. Mittelfussknochen sehr langund schlank. Gattung: Coelurus. Unterordnung: Compsognatha. 6. Familie: Compsognathidae. Vordere Wirbel opisthocöl, drei funktio- nirende Zehen an Vorder- und Hinterfuss. Sitzbeine mit langer Symphysis in der Mittellinie. Gattung: Compsognathus. Eine einzige bekannte Art in Europa. Zweifelhafte Dinosauria. 5. Ordnung: Hallopoda (Sprungfüssler). Carnivor. Füsse digitigrad, unguiculat; drei Zehen am Fuss; Mittelfuss- knochen stark verlängert; glieder sehr klein. Familie: Hallopodidae. Gattung: Hallopus. Die fünf oben charakterisirten Ord- nungen, welche ich früher für die Ein- ordnung der amerikanischen Jura-Dino- saurier aufgestellt hatte, scheinen sämmt- lich natürliche und im Allgemeinen wohl von einander geschiedene Gruppen zu sein. Die europäischen Dinosaurier aus Schichten von entsprechendem Alter fügen sich leicht in dieselben Abthei- lungen ein und in einigen Fällen er- gänzen sie wundervoll die durch die amerikanischen Formen angedeuteten Calcaneum stark rückwärts ausgebildet. Wirbel und Gliedknochen hohl. Vorder- Wirbel biconcav. Reihen. Die wichtigsten Ueberreste aus andern Formationen Amerika’s wie Eu- ropa’s, können, soweit ihre Charaktere ermittelt sind, gleichfalls mit annehm- barer Sicherheit denselben Ordnungen zugetheilt werden. Die drei Ordnungen pflanzenfressen- der Dinosaurier zeigen, obgleich in ihren typischen Formen weit von einander ge- schieden, wie erwartet werden durfte, Anzeichen von Annäherung in einigen ihrer abirrenden Gattungen. Die in Kleinere Mittheilungen und Journalschan. ihren am meisten charakteristischen Gliedern z.B. in Atlantosaurus und Bronto- saurus einen riesenhaften Wuchs zeigen- den Sauropoda haben in Morosaurus einen zu den Stegosauria leitenden Zweig. Die letztere Ordnung, obwohl ihr Typus in vielen Rücksichten die am strengsten ausgeprägte Dinosaurier-Abtheilung bil- det, besitztin ähnlicher Weise in Scelido- saurus eine Form mit einigen stark gegen die Ornithopoda deutenden Zügen. Die jetzt am besten bekannten fleischfressenden Dinosaurier mögen für Jetzt alle in eine einzige Ordnung ge- stellt werden, und diese ist weit ge- trennt von denjenigen, welche die pflan- zenfressenden Formen einschliessen. Die beiden am Schlusse definirten Unterordnungen schliessen sehr abirrende Formen ein, welche viele Berührungs- punkte mit mesozoischen Vögeln dar- bieten. Unter den mehr fragmentarischen Ueberresten, welche zu dieser Ordnung gehören, aber nicht in die vorliegende Klassifikation aufgenommen sind, scheint diese Aehnlichkeit noch viel weiter aus- geprägt zu sein. Die Ordnung Hallopoda, welche ich hier mit Fragezeichen zu den Dino- sauriern gestellt habe, weicht von allen bekannten Gliedern dieser Gruppe da- durch ab, dass die Hinterfüsse speciell dem Springen angepasst sind, indem die Mittelfussknochen halb so lang als das Schienbein und das Calcaneum stark nach rückwärts ausgedehnt ist. Diese Verschiedenheit in der Bildung der Fuss- wurzel ist indessen nicht grösser als sie in einzelnen Ordnungen der Säugethiere gefunden wird, und also auch in einer Unterklasse der Reptilien erwartet wer- den kann. Unter den in die vorliegende Klassi- fikation eingeschlossenen Familien habe ich drei von Huxrey aufgestellte Na- men (Scelidosauridae,Iguanodon- tidae und Megalosauridae)* bei- behalten, obwohl ihre Grenzen, wie sie hier definirt sind, etwas von den ur- 387 sprünglich gezogenen verschieden sind. Auch die Unterordnung Compsognatha war von jenem Autor in demselben Auf- satze, welcher alle die wichtigsten da- mals über die Dinosaurier bekannten Thatsachen enthält, aufgestellt worden. Die andern oben beschriebenen Familien, mit Ausnahme der von Copz benannten Hadrosauridae wurden durch den Verfasser aufgestellt. Die Amphisauridae und die Zan- celodontidae, die am meisten ver- allgemeinerten Familien der Dinosaurier sind einzig aus triasischen Schichten bekannt. Die Gattung Dystrophaeus, welche provisorisch zu den Sauropoda gezogen wurde, stammt gleichfalls aus Schichten jenes Zeitalters. Die ty- pischen Gattungen aller Ordnungen und Unterordnungen sind jedoch jurassische Formen und auf diesen im Speciellen ist die vorliegende Klassifikation basirt. Die Hadrosauridae sind die einzige auf die Kreideschichten beschränkte Familie. Ueber diese Formation hin- aus scheint bis jetzt kein befriedigen- der Beweis von dem Vorhandensein irgend welcher Dinosaurier vorzuliegen. Die Erblichkeit des Accents bei Taubstummen. In der Sitzung der Pariser Akademie vom 7. November 1881 theilte F. Hrmext einige merkwürdige Beobachtungen mit über die Charaktere, welche die Aus- sprache von Taubstummen, die niemals vorher sprechen gehört haben, darbieten soll. Er stellte seine Untersuchungen in dem von der Familie P£reire gegründeten Taubstummen-Institute an, und fand, dass die Taubstummen mit dem Accent ihrer Heimath sprachen, sobald ihnen das Sprechen gelehrt worden war. Da sie niemals sprechen gehört hatten, so könnte, meint Hsment, dieser Accent nur * Quarterly Journal Geological Society of London Vol. XXVI. p. 34. 1870. 25* 388 von der körperlichen Disposition der Sprachwerkzeuge herrühren, die sie von ihren Eltern ererbt hätten. Es würde das freilich einer der merkwürdigsten aller bisher bekannten Vererbungsfälle sein. Zur Unterstützung dieser Beobach- tung theilt Wıruıam E. A. Axon in Manchester einige Fälle gleicher Art in derenglischen Zeitschrift Nature (No.631, Dezember 1881) mit. Der merkwürdigste davon ist in einer alten Nummer der Philosophical Transactions (No. 312) von BLancHarn mitgetheilt, und betrifft einen taubstumm gebornen jungen Schot- ten aus dem Hochlande, der im Alter von siebzehn Jahren nach einem wieder- holten Fieberanfalleinen heftigen Schmerz im Kopfe bekam, worauf sich das Gehör und allmälig auch das Sprachverständniss einstellte. »Dies befähigte ihn natürlich, « so fährt der Bericht fort, «auch nach- zuahmen, was er hörte, und zu versuchen, selbst zu sprechen ... . Man verstand indessen wochenlang nicht, waser sprach; aber jetzt versteht man ihn ziemlich gut. Sonderbar aber ist es, dass er den Hoch- land-Accent gerade so beibehält, wie Hochländer, welche im Alter vorgerückt sind, bevor sie die englische Sprache zu lernen anfangen. Er kann weder „flörse“ noch „Irish“ sprechen, denn er war im Unterlande, als er zuerst hörte und sprach.« Eine ähnliche Beobachtung machte GEORGE OF THıcknorR, der gelehrte Hi- storiker der spanischen Litteratur, als er die Taubstummenschulen von Madrid besuchte. »Ich erfuhr,« erzählt er, »und lernte persönlich eine Thatsache kennen, welche äusserst merkwürdig ist. Obgleich nicht einer der Zöglinge jemals einen menschlichen Ton gehört haben kann, und alle ihre Kenntniss und Praxis im Sprechen von ihrer Nachahmung der sichtbaren mechanischen Bewegung der Lippen und sonstiger Sprachwerkzeuge ihrer Lehrer, welche alle Castilianer waren, herstammen muss, so spricht doch jeder klar und entschieden und mit dem Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Accent derProvinz, von welcher er kommt, so dass ich augenblicklich die Castilianer und Catalonier und Biskayer unter- scheiden konnte, während andere noch mehr im Spanischen erfahrene Personen die Klänge aus Andalusien und Malaga herausfühlten«e. (Life and Journals of GEORGE OF THIcknoRr. Vol. I, pag. 196, London 1876.) Einenähnlichen FalltheilteJ.J. Auury Herrn Wıuvıam Axon mit, der ihn 1880 in einer Arbeit über die Erziehung der Taubstummen veröffentlichte. Er betraf einen jungen Mann von 17 Jahren, der in einem sehr frühen Alter taubstumm geworden war, und alser durch Mr. ALuey die Artikulation lernte, mit dem heimath- lichen Accent der Grafschaft Stafford zu sprechen begann. Diesen Angaben ist indessen Professor A. GrAHAm Bern in einem Briefe ent- gegengetreten, der in der Sitzung der Pariser Akademie vom 12. December 1881 zur Verlesung gelangte. Er habe die Aussprache von wenigstens 400 Taub- stummen in den letzten Jahren unter- sucht und nie eine ähnliche Tendenz bemerkt. Allerdings kamen ihm einige Fälle vor, in welchen ein bestimmter Dialekt zu hören war, aber dann ergab diegenauere Untersuchung jedesmal, dass sie hatten sprechen können, bevor sie taubstumm geworden waren. »Der Mund der Taubstummen,« sagt BELL, »unter- scheidet sich in nichts von dem unsrigen. Sie sprechen von Natur die Sprache ihres Landes aus demselben Grunde nicht, wie wir nicht chinesisch sprechen .. .« Dieser Vergleich scheint doch nicht zu- treffend, und es fragt sich zunächst, ob in der amerikanischen Sprache, so alt- eingelebte Accente und Dialekte gefunden werden, wie bei uns. Wenn die Be- obachtungen Brrn’s daher in den ame- rikanischen Taubstummen - Instituten, deren Einrichtung er sehr lobt, gemacht wurden, so fragt sich, ob man durch sie die erwähnten europäischen Beobach- tungen für widerlegt halten darf. RL > X * ja LO o oa . Elliptische Philosophie ‚verborgen Wirkenden. Pantano- . Das . Die Einheit .Die Geschichte Litteratur und Kritik. Metaphysische Sehriften. des mische Pentanomie oder das fünf- fache Weltgesetz von Marquis DE SEOANE, Senator. 2 Bde. 157 und 168 S. in 8°. Paris und Frankfurt a. M. (W. Rommel), 1879—1881. Philosophieorganique.L’Homme et la Nature. Par le Dr. HucH Donzrry. 447 8. in 8°. Paris, Librai- rie academique (Didier & Comp.), 1881. . Urentstehung und Leben der Organismen. Von LapvısLaus WE- CKERLE. 104 S. in 8°. . Mit einer Farbentabelle. Leipzig, Bernhard Schlicke (Balthasar Elischer), 1881. Weltleben oder die Me- taphysik. Von RoBERT GRASSMANN. 350 S. in 8°. Stettin, R. Grassmann, 1881. der Naturkräfte und die Deutung ihrer gemein- samen Formel. Von OÖ. ScHMITz- Dumont. 168 S. in 8°. Mit fünf Figuren-Tafeln. Berlin, Carl Duncker’s Verlag (C. Heymons), 1881. des Weltalls mit Folgerungen für die Zukunft. Von CAru BiscHor. 31 S. in 8°. Dresden, R. v. Grumbkow, Hofverlagshand- lung, 1881. »Der Menschheit ganzes Elend packt uns an«, wenn wir das heisse Ringen nach innerer Erkenntniss der Dinge, über die Naturgesetze hinaus, welches uns alljährlich eine solche Fluth meta- physischer Schriften verschafft, mit sei- nem Resultat vergleichen, welches häufig gleich Null ist, noch öfter aber sich tief in die Minus erstreckt. Letzteres gilt von den drei ersten Werken, die wir hier nur aufführen, um unsere Leser vor denselben zu warnen. Der spa- nische Verfasser des ersten Buches, welches zugleich in französischer und deutscher Sprache vorliegt, kehrt zu jenen pythagoräischen Spielereien zu- rück, welche in einer bestimmten Zahl den Schlüssel der Weltgeheimnisse such- ten; er findet in allen Dingen die Fünfzahl regierend, und deducirt dem- nach »fünf Primordialgesetze« für die Menschheitsgeschichte, die er territo- toriale, moralische, maritime, vulkani- sche und saharische Gesetze nennt. Dieselbe Fünfzahl findet er auf allen andern Gebieten und ihr Ursprung wird schliesslich in den fünf Sinnen des Menschen gesucht. Die meisten andern philosophischen Systeme haben nur in soweit einigen Werth, als der Penta- 390 pantanomismus in einigen derselben steckt. Auch im Darwinismus steckt er, denn: »Indem (Darwın) fünf Haupt- protoplasmen (Erstschaffungen) oder Pro- totypen (Urbilder) wählt, scheint er etwas von der Quintuplieität unserer Fünffältigkeit zu ahnen« (Bd. II, S. 97). Interessant ist eine Offenbarung über HÄckeEn, oder wie Verfasser schreibt He=ck£eL. »HEcKEL,« sagt er, »hat be- züglich der Evolutionsdoctrin mit DAr- wın um die Palme gerungen. Man will sogar wissen, dass letzterer nur darum so sehr das Erscheinen seines ersten Werkes beschleunigte (!!), da- mit ihm Jener nicht zuvorkäme« (Bd. II, S. 102). Merkwürdig vernünftig, wenn auch etwas nüchtern, sind die End- resultate der welterlösenden Philosophie des spanischen Senators. »An was glau- ben? — An sich selbst. Was thun? — Arbeiten. Was haben? — Erspar- nisse. Wodurch können? — Durch die Freiheit. Was sein? — Integral, d.h. gänzlich, vollständig, ganz, ganz red- lich, ganz rechtschaffen, ganz ehrlich. Das,«< so schliesst der Verfasser mit Genugthuung sein Werk, »sind die fünf Gebote des fünffältigen und fünfeinigen Weltgesetzes, aufgefunden durch die elliptische Methode« (II. 168). Ein ähnliches Hexeneinmaleins war- tet des Lesers in dem zweiten, mit mehr naturwissenschaftlichem Prunke erfüllten und im Styl Vietor Hugo ge- haltenen Buche, von welchem der Ver- fasser hofft, es werde binnen kurz oder lang als Grundlage des Studiums aller Wissenschaften dienen. Auch dieser Metaphysiker geht von der wohlbegrün- deten Deberzeugung des Psalmisten aus, dass alles in der Welt geordnet sei nach Zahl, Maass und Gewicht, aber seine tiefen Studien haben ihn nicht zur Zahl Fünf, sondern zur heiligen Siebenzahl geführt, die nicht bloss in den Tönen der Tonleiter und im Far- benspektrum , sondern schlechterdings Litteratur und Kritik. in Allem, was ist, zu finden sei. Die Siebenzahl besteht aus der Vierzahl und der Dreizahl, und diese beiden Zahlen zeigen sich nunmehr als das, was die Welt im Innersten zusammen- hält. Namentlich ist die Vier eine Allerweltszahl. Nehmen wir, was wir irgend wollen, es giebt immer vier Sorten, z. B. von physikalischen Kräf- ten: Schwerkraft, Licht, Wärme, Elek- trizität, oder von Lebenskräften: Ho- minales, Animales, Zoophytales, Vege- tales. Oder die Liebe: Vaterlandsliebe, Geschwisterliebe, Gattenliebe, Eltern- liebe. Oder die Haut: Amnios- oder Fötushülle; die Haut der vier Extremi- täten; die Haut der Bauchseite und die Haut der Rückenseite, voilä vier, Sorten und ohne Hexerei oder doppel- ten Boden! Solchen albernen Schema- tismus mit langen Tabellen unterein- ander gesetzter Namen und Worte 400 Seiten hindurch, und dazwischen fort- während Tiraden, als ob dies die Summe der Weisheit wäre! Schliesslich wird das gesammte Thier- und Pflanzen- system in solche drei, vier und sieben- zeilige Abtheilungen gebracht, wie es vor vielen Jahren bei uns OkEn und REICHENBACH — aber doch bei Weitem geistvoller gemacht hatten. Aber auch bei uns im lieben Deutsch- land druckt man solchen blühenden Blödsinn, wie die nachfolgende Nummer zeigen wird. Es ist darnach fast un- glaublich, wie furchtbar einfach die grössten Räthsel der Natur sind, wenn man sie richtig auffasst. So z. B. die Entstehung des Lebens bei WECKERLE (S. 25): »Sind die vier Urstoffe H, O, N, und C, in das richtige Mengenver- hältniss getreten und bis zu dem er- forderlichen Grade — am natürlichsten durch die Sonne selbst — erwärmt, so tritt im gegebenen Moment ein eigen- thümlicher, von dem bisherigen durch andere Energie und somit anderartige 'Verbindungserscheinungen verschiedener Litteratur und Kritik. Chemismus ein, den wir jetzt schon den organischen nennen können, und dessen nothwendiges Resultat das Le- ben in der ursprünglichsten Bedeutung des Wortes ist.< Die Sache ist aber wirklich ganz einfach: wenn man die vier Elemente, wie sie da oben in der Reihe geschrieben stehen, näher betrachtet, so findet man an dem einen Pole den männlichen Wasserstoff in Verbindung mit dem vermittelnden Sauer- stoff, an dem andern die weibliche Kohle mit dem überleitenden Stickstoff. Die Zeugung des Organischen ist also wirk- lich eine Art von unorganischem Zeug- ungsprozess, indem. der männliche HOÖ auf die weibliche NC wirkt, welche im »Moder« enthalten ist. Die Urzeugung geschieht, indem sich die beiden Pole vereinigen, also etwa zu einem Ringe zusammenbiegen, und alle andern Ge- heimnisse werden genau ebenso klar, wenn man auch die beiden Pole des Sonnenspektrums entsprechend zu einem Ringe zusammenbiegt, wozu man aber die Farbentafel anschauen muss, die dem Werke vorgedruckt ist und in welcher alle Geheimnisse der Welt sich konzentriren. In einer ähnlich »lebendigen« Weise fasst auch der Verfasser von No. 4 die entgötterte Natur der physikalischen und chemischen Welt auf, nur dass er alle vier oben genannten Elemente unter die männlichen oder Er-Stoffe rechnet und nur die Metalle als die weiblichen oder Sie-Stoffe betrachtet wissen will. Er findet, dass das Mischleben, worun- ter er die Chemie versteht, ganz dem Geschlechts- oder Blüthenleben ent- spricht, denn es handelt sich in allen chemischen Verbindungen immer wieder um Paarungen von Er- und Sie-Stoffen. In ähnlicher Anschauung ist im Welt- leben das Licht der Nahrungserzeuger, der in den Pflanzen alle Nährstoffe er- zeugt, die im thierischen Körper nur verändert werden, Lichtleben und Nah- 391 rungsleben ist also dasselbe. Ebenso ist Wärmeleben und Arbeitsleben das- selbe, und die Gestaltungskraft der Krystalle (Füllleben) entspricht der Ge- staltung von Pflanzen und Thieren im Embryo (Fruchtleben). Allein Ref. muss Leser und Verfasser um Entschuldigung bitten, wenn sie aus diesen Andeut- ungen schliessen sollten, dass er den Verfasser mit seinen drei Vorgängern auf eine Stufe stellen will. Im Gegen- theil muss durchaus anerkannt werden, dass sich unter der wunderlichen Ver- mummung der GRASsMAnN’schen Sprache viele der tiefsten und anregendsten Ge- danken finden. Aber der Verfasser wird es sich selbst zuschreiben müssen, wenn es ihm geht, wie es seinem Vater und seinem Bruder gegangen ist, deren Werke zu wenig Anerkennung fanden. Warum in aller Welt muss mit der Darlegung neuer und origineller Ideen immer wie- der diese nun einmal nicht von dem Vorwurfe der Lächerlichkeit freizuspre- chende Sucht, neue und urdeutsche Wörter zu bilden, die wie es scheint, bei den Grassmanns erblich ist, ver- knüpft werden? Wer kann ein Buch ernsthaft lesen, in welchem die Atome: Körbe, die Moleküle: Korbbälle, das Produkt: Zeug, die Elektrizität: E; die zunehmende Entfernung Fernerung u. s. w. genannt werden, und beinahe jeder chemische Körper einen neuen Namen bekommen hat? Wir bitten namentlich Physiker und Chemiker, das Buch dennoch zu lesen und sich nicht von diesem GrAssmAnNn’schen Familien- übel abschrecken zu lassen; sie wer- den eine Fülle wirklich genialer und anregender Ideen, namentlich über den Aether, die Elektrizität und die An- ordnung der Körbe in den Korbbällen, d. h. auf undeutsch der Atome in den Molekulen finden, welche wohl beher- zigt zu werden verdienen. ScHhamitz-Dumont sucht »alle Natur- kräfte nach dem Gesetz des umgekehr- 392 ten Quadrats der Entfernung in ab- stossendem Sinne« zu erklären, um darauf eine definitive Antwort auf die Frage nach dem Wesen von Kraft und Stoff zu geben. »Die Theorie der Wärme, der Gase, Reflexion, Interferenz, Pola- risation der Aetherschwingungen bleiben unverändert, wie in den bisherigen Theorien; Gravitation, Kohäsion, Bre- chung und Dispersion des Lichtes er- halten andre Erklärungen. Die Demon- stration ist eine vorwiegend mathema- tische, und mit den Hauptschlüssen des Verf. können wir uns von ganzem Her- zen einverstanden erklären, sofern er uns nämlich beweist, dass Kraft und Stoff für sich gedacht, Nullen sind, die einzig in unserer Einbildungskraft exi- stiren. »Was ist denn die Materie«, so ruft der Verf. mit Recht aus, »die reine Materie, welche vom Körper übrig bleibt, wenn alle seine spezifischen Eigenschaf- ten weggedacht werden; also das aus- gedehnte Atom der Materialisten. Es ist gleicherweise ein Nichts; der Re- präsentant des Loches, um welches Metall gegossen werden muss, damit eine Kanone daraus werde.« (S. 158.) Der Verfasser macht den logischen Fehler, welcher darin liegt, dass man die Eigenschaften eines Körpers, die sich überhaupt nicht von ihm trennen lassen, dennoch in Gedanken loslöst, dadurch noch klarer, dass er ihn in eine Formel fasst. Seine betreffende Darstellung muss Jeden aufklären: »Von dem Golde sagen wir, dass es gelb — a, von dieser spezifischen Dichte — b, dehnbar —= c, schmelzbar bei dieser Temperatur = d, etc... . ...sei. Das Gold ist deshalb eine bestimmte Vereinigung dieser Eigenschaften; also Be enankrerduihlrt co. ), wor- in f eine bestimmte Art und Weise bedeutet, in welcher diese abe.... zu einem Ganzen vereinigt gedacht werden.< In diesem Satze liegt die Falschheit der üblichen Methode offen- bar: Eigenschaften und Verhältniss- Litteratur und Kritik. zahlen werden zu objektiven Grössen erhoben, mit denen gerechnet wird, aber die nächste Frage, ob auch nur eine dieser Eigenschaften sich in Wirklich- keit von dem Dinge trennen lässt, wird nicht aufgeworfen. Der logische Fehler dieser und so vieler ähnlichen philo- sophischen Trugschlüsse ist der, dass der Philosoph sagt, warum soll ich die eine Eigenschaft nicht wegdenken können, warum soll ich dem Golde nicht erst die Farbe, wie den Rock, dann seine Dehnbarkeit gleich der Weste, darauf die Schmelzbarkeit als Hose ausziehen können, zuletzt muss auch noch das Hemd, die spezifische Dichte, herunter, alsdann muss der Stoff ganz nackt vor mir stehen, wenn es überhaupt so was wie einen Stoff gäbe. Denken, meint der Philosoph, könne man alles. Man kann diese Zumuthung mit Ja beantwor- ten, wenn man keinen Unterschied macht, zwischen logisch denken und Unsinn den- ken. Soweit finden wir uns mit dem Herrn Verf. völlig auf gleichem Boden, allein später geht er uns doch ebenfalls auf ein Gebiet über, wohin wir ihm nicht folgen möchten, indem er, von dem rich- tigen Satze ausgehend, dass für uns die Empfindung das Primäre ist, in der Weise gewisser Philosophen zu schliessen scheint, die Welt sei wirklich nur so lange und so weit sie gedacht und em- pfunden wird, vorhanden. »Von dem jetzigen Zustande der Welt,« sagt er, »kann man allerdings kausal auf einen frühern Zustand schliessen; aber es bleibt dabei immer vorausgesetzt, dass ein lebendes Wesen jenem früheren Zu- stande zugesehen habe; oder die Be- schreibung des früheren Zustandes ist die Wirkung, welche die Welt auf ein uns gleich organisirtes Wesen hervor- gebracht haben würde. Wird aber die- ses letztere ausgeschlossen, so ist es falsch, zu sagen, die Erde sei damals glühend gewesen u. s. w. u. s. w.< Wo- zu solche Kunststücke wohl nützen sol- len? Es sind doch eben nur Wortspiele- Litteratur und Kritik. reien und diese gesammte Erkenntniss- kritik, namentlich wenn sie sich auf so überflüssige Gebiete verliert, hat die wirkliche Erkenntniss, soweit sie für uns Werth und Bedeutung hat, auch noch nicht um einen Kinderschritt gefördert. Was müsste ein höherer Geist von uns denken, wenn er sähe, dass die niedern Existenzen sich mit solchen »erkennt- nisskritischen« Kindereien die Zeit ver- treiben, und sich dabei Wunder wie scharfsinnig dünken! Es ist natürlich ein für alle Male gut, wenn wir wissen, dass die Dinge, so wie wir sie auffas- sen, nur in unserem Intellekt exi- stiren, und dass wir nichts darüber aus- sagen können, ob sie wirklich so seien. Allein wir können auch nicht beweisen, dass sie anders sind, als wir sie em- pfinden, und wenn wir das dennoch thun, so gehen wir weit über Kant hin- aus und verfallen einem Hyperkritizis- mus, der das unsinnigste Ding von der Welt ist. Und dieses Gebiet des Hyper- kritizismus scheint uns SCHMmITZ-DUMONT zu betreten, wenn er das beliebte Pa- radoxon SCHOPENHAUER’S weiter ausfüh- rend uns verdenken will, dass wir einen Körper glühend nennen, wenn ihn kein Zeuge glühend gesehen, als ob das Glühen nur soweit vorhanden wäre, so- weit die davon ausgehenden Licht- und Wärmestrahlen auch als solche empfun- den werden. Nugae nugarum! Nach einer andern Richtung schlägt für unsern simpeln Verstand der Ver- fasser des zuletzt erwähnten Buches über die Richtschnur. Gleich den oben an- geführten Philosophen, die dem Golde sein spezifisches Gewicht wegdenken, so möchte er dem vom Körper abgeschieden gedachten Geist mit naturwissenschaft- lichen Gründen zu Hilfe kommen. Wie sich das zur Reife gelangte Kind von der Mutter trenne, um ein vollkomm- neres Leben für sich zu führen, so trenne sich der weiter gereifte Geist vom Flei- sche zu gleicher Bestimmung und wie 395 nach dem Darwinismus in dem Unvoll- kommneren die Keime (?) zu dem Voll- kommneren lägen, so müsse man nach dem körperlichen Leben ein vollkomm- neres geistiges Leben erwarten, in wel- chem dem vom Materiellen entlasteten Geiste vielleicht die würdigere Aufgabe zufallen würde, »die organische Schöpf- ung mit zu überwachen«. Nun, das ist alles schön und gut für Den, welchen solcher Glauben glücklich macht. Der Glauben kann aus darwinistischen An- sichten Analogieen für sich verwerthen, der Darwinismus hat eine solche Frei- heit nicht, da er sich mit der realen Welt beschäftigt, und in dieser noch nie ein Uebergangsglied zwischen den- kenden Körpern und körperlosen Gei- stern beobachtet wurde. Gerade hier fehlt die von dem Darwinismus in allem Lebendigen gesuchte und tausendfach nachgewiesene Continuität der Zu- stände. K. Ch. Lyell und die Descendenztheorie. Life, Lettersand Journals of Sir Charles Lyell.e Author of the Principles of Geology. Edited by his sister in law, Mrs. Lyewz. In two volumes. With Portrait. London, J. Murray, 1881. Mit Recht werden die »Principien der Geologie« und »die Entstehung der Arten« als wahre Pendants in ihrer re- formatorischen Wirkung auf Geologie und Biologie bezeichnet, und in der That bildet ja das Zurückgehen auf die noch jetzt wirksamen Ursachen (Existing causes), die Erkenntniss der grossen Wir- kung, zu welcher die geringe, lang- same Veränderung im Laufe der Zeiten anschwillt, den Grundzug beider Werke, ja Darwın hat sich mehrfach dahin ausgedrückt, als sei er erst durch Lysıv’s Werk über die Veränderungen der Erde zu einer ähnlichen Betrach- tung der lebenden Natur angeregt wor- 394 den. Es ist dies aber nicht so zu ver- stehen, als seien Keime der Darwın’schen Ideen schon in dem Lyzıu'schen Werke, welches 1830—33 erschien, enthalten gewesen, vielmehr ergab sich für den ersten Blick die seltsame Erscheinung, dass derjenige, welcher die Katastrophen und Umwälzungen aus der Geologie ver- bannt und eine ruhige allmälige Ent- wickelung an deren Stelle gelehrt hat, in Bezug auf die Lebewesen Neu- schöpfungen in jeder Periode für an- nehmbar zu halten schien. Das oben angezeigte, überaus reich- haltige und dankenswerthe Werk giebt uns sowohl in seinen biographischen Schilderungen, als in den Briefen Lyeun’s die Schlüssel zu diesem auffallendem Verhalten. Der junge Jurist hatte in Oxford BuckLann gehört, und sich früh gegen dessen Sintfluth-Theorien empört. Allein als er bald darauf nach Paris kam und in einen engeren Verkehr mit BRONGNIART, GUVIER und HuUmBoLpT ge- rieth, so konnte in diesem Kreise natür- lich nur eine festere Ueberzeugung von der Unveränderlichkeit der Arten reifen. Cuvıer und HumBoLpT waren von einem gleichen Abscheu gegen die damals auf- tauchenden und in einem allerdings ab- stossenden, mystischen Gewande vor- getragenen Ideen der französischen und deutschen naturphilosophischen Schule über Evolution der Lebewesen erfüllt, und schon um die ihm näher am Her- zen liegende neue Auffassung der geo- logischen Veränderungen nicht zu ge- fährden, hätte er sich zu keinen, von diesen tonangebenden Geistern geäch- teten Ketzereien bekennen dürfen. Gleich- wohl hatte er damals bereits, wie wir aus den in diesem Werke mitgetheilten Briefen ersehen, Lamarcr’s Ansichten studirt und ihre Bedeutung erkannt. Er schrieb darüber im Jahre 1827 an den ihm befreundeten Geologen und Paläontologen MAantert, den Entdecker des Iguanodon : „Wie Sie SısmonDI, so verschlang ich Litteratur und Kritik. unterwegs LAMARCK und mit gleichem Ver- gnügen. Seine Theorien ergötzten mich mehr als irgend eine Novelle, die ich jemals ge- lesen habe und vielfach in derselben Weise, denn sie wenden sich von selbst an die Ein- bildungskraft, wenigstens derjenigen Geo- logen, welche die gewaltigen Folgerungen kennen, die daraus zu ziehen sein würden, falls sie durch Beobachtungen bestätigt wer- den könnten. Aber obgleich ich sogar seine Flüge bewundere und nichts von dem Odium theologicum empfinde, womit ihn einige Schriftsteller in diesem Lande heimgesucht haben, so bekenne ich, dass ich ihn beinahe las, wie ich einem Advokaten auf der im Unrecht befindlichen Seite zuhöre, um zu lernen, was aus der Sache in guten Händen gemacht werden kann. Ich bin froh, dass er muthig und logisch genug gewesen ist, um zuzugestehen, dass sein Argument, wenn es so weit getrieben wird, als es reichen muss, falls es irgend etwas werth sein soll, bewei- sen würde, dass der Mensch vom Orang-Utang herstammen muss. Aber nach alledem, wel- chen Veränderungen mögen die Arten in Wirklichkeit unterworfen sein! Wie unmög- lich wird es sein, zu unterscheiden und eine Grenzlinie zu ziehen, über welche hinaus so- genannte erloschene Arten niemals in neuere übergegangen sind. Dass die Erde ganz so alt ist, wie er annimmt, ist mein Glauben schon lange gewesen und ehe sechs Monate vorüber sind, will ich versuchen , die Leser der Vierteljahrsschrift zu dieser heterodoxen Meinung zu bekehren.“ Der Jurist war inzwischen ein Jour- nalist und eifriger Mitarbeiter der Re- vuen geworden, und war eine Zeit lang im Zweifel, ob er seine neugewonnenen Ueberzeugungen in einem populären oder in einem gelehrten Werke der Oeffentlichkeit vorlegen sollte. Auch beunruhigte ihn der Gedanke, wie man sein Buch vom moralischen Standpunkte aufnehmen, und was die Anhänger der mosaischen Geologie dazu sagen wür- den, wie dies namentlich aus einem Briefe an den berühmten Vulkanforscher ScroPpE hervorgeht. Es ist daher sehr glaublich, dass er nur aus Opportuni- tätsrücksichten und mit Hinblick auf die Ansichten der herrschenden Schule seine bereits ketzerisch angehauchten Ansichten über die Lebewesen unter- drückt hat, um den Erfolg der ihm ähnliche Schlüsse zu ziehen. Litteratur und Kritik. 395 näher am Herzen liegenden neuen Ge- danken über die Erdentwickelung nicht unnütz zu erschweren. Auch aus seiner späteren schnellen Bekehrung zu den Ansichten Darwın’s ist man genöthigt, Von be- sonderem Interesse in dieser Richtung ist ein Brief, welchen Lyern 1836 an Sir JoHN HERSCHEL schrieb, und aus welchem wir hier eine längere Stelle in Uebersetzung geben: „In Anbetracht des Ursprungs neuer Ar- ten bin ich sehr froh zu finden, dass Sie den- ken, es sei wahrscheinlich, dass er durch die Vermittlung mittelbarer Ursachen herbeige- führt werden kann. Ich liess dies lieber un- gefolgert, weil ich es nicht der Mühe werth erachtete, eine gewisse Klasse von Personen zu beleidigen, indem ich in Worte kleidete, was doch nur eine Spekulation sein könnte. Aber die deutschen Kritiker haben mich kräftig angegriffen, indem sie sagen, dass ich durch die En eye der Lehre von der freiwilligen Entstehung, ohne etwas an deren Stelle zu setzen, ihnen nichts als den direk- ten und wunderbaren Eingriff der ersten Ur- sache übrig gelassen hätte, so oft als eine neue Art aufgetreten sei, und somit hätte ich meine eigene Lehre über die durch ein regelmässiges System von durch sekundäre Ursachen herbeigeführten Umwälzungen über den Haufen geworfen . . Ich habe keine Zeit in irgend welchen Controversen mit ihnen oder andern verschwendet, ausgenommen in- sofern, als ich in den neuen Auflagen einige Meinungen und Ausdrücke modifieirte und andere verstärkte, und durch diese Mittel habe ich einen grossen Theil Dinte gespart und bin über das Ganze sehr nett von den Kritikern behandelt worden. Als ich zuerst zu der Erkenntniss kam, welche ich niemals vorher irgendwo ausgesprochen gefunden, obwohl ich nicht zweifle, dass dies alles auch vorher gedacht worden ist, von einer Auf- einanderfolge von Austilgungen und Neu- schöpfungen von Arten, die noch jetzt be- ständig vor sich geht, und ebenso durch eine unendliche Periode der Vergangenheit und der Zukunft, alles in Anpassung an die Ver- änderungen, welche an der unbelebten und bewohnbaren Erde immerfort vor sich gehen, da. traf mich diese Idee als die grösste, welche ich mir jemals in Betreff der Attribute der regierenden Allvernunft (Presiding Mind) ge- bildet habe. Denn man kann in der Phan- tasie wenigstens einen kleinen Theil der Um- stände aufrufen, welche betrachtet und vor- erwogen werden mussten, bevor entschieden werden konnte, welche Kräfte und Eigen- schaften eine neue Species besitzen musste, um befähigt zu werden, einen gegebenen Zeitraum ausdauern zu können und ihre Rolle in nöthiger Beziehung zu allen andern Wesen spielen zu können, die mit ihr zu leben bestimmt waren, bevor sie ausstarb. Es möchte vielleicht die Fähigkeit nöthig sein, die Zahl zu kennen, durch welche jede Species in einer gegebenen Region zehn- tausend Jahre von nun ab, vertreten sein würde, so gut wie es für BABBAGE nöthig war, auszumitteln, welches die Stellung jedes Rades in seiner neuen Rechenmaschine bei jeder Bewegung sein würde. Es könnte sich herausstellen, dass die Species, wenn nicht irgend eine leichte Ex- tra-Vorsicht ergriffen wäre, in der Zahl die zu einem gewissen Zeitpunkt geboren wer- den müsste, auf ein zu geringes Maass re- dueirt wäre. Da mag es dann tausenderlei Weisen geben, ihre Dauer über jene Zeit hinaus zu sichern; eine davon möchte z. B. sein, sie fruchtbarer zu machen, aber dies würde vielleicht zu einer allzu harten Be- drückung anderer Arten in anderen Zeiten führen. Wenn es sich nun um ein Insekt handelt, mag es bei einigen seiner Umwand- lungen so gestaltet werden, dass es einem todten Zweige, oder einem Blatt, oder einer Flechte, oder einem Stein gleicht, um etwas weniger leicht von seinen Feinden gefunden zu werden, oder wenn dies sie zu stark machen sollte, mag dieser Vorzug nur auf eine gelegentliche Varietät begrenzt sein, und wenn auch dies noch zu viel sein würde, auf das eine Geschlecht einer gewissen Va- rietät. Vermuthlich ist da kaum ein Farben- strich auf dem Flügel oder Körper, dessen Wahl ganz zufällig wäre, oder welcher nicht ihre Dauer für Jahrtausende beeinflussen würde. Mir ist erzählt worden, dass die blattähnliche Ausbreitung des Abdomen und der Schenkel einer gewissen brasilianischen Mantis-Art sich im Anbruch des Herbstes zugleich mit den Blättern der Pflanzen, unter denen sie ihre Beute sucht, aus dem Grünen in’s Gelbe wandele.e Wenn nun Arten auf- einanderfolgen, müssen solche Kunstgriffe und Beziehungen zwischen Arten vorausbe- stimmt sein, wie z. B. zwischen der Mantis und den Pflanzen, die damals noch nicht existirten, aber von welchen vorausgesehen war, dass sie zusammen zu einer gegebenen Zeit in einem besonderen Klima existiren würden. Aber ich kann diesem Gange der Spekulation in einem Briefe nicht gerecht werden, und will nur hinzusetzen, dass mir scheint, als biete er einen schöneren Gegen- stand für die Auseinandersetzung und das Nachdenken, als die Idee grosser Nachschübe 396 von neuen Arten, die auf einmal auftreten und hernach auf einmal untergehen.“ Man ersieht hieraus deutlich, dass ihm die Katastrophen- und Möblirungs- hypothesen nicht mehr genügten, aber freilich war das, was man damals zu ihrem Ersatz bieten konnte, nicht ge- nügend, um damit den Streit der Gegner herauszufordern. Daher diese Zurück- haltung bei Lyrın, die er sofort auf- gab, als ihm das Gebäude der Darwın’- schen Auffassung bekannt wurde. Es ist bekannt, welchen Antheil LyerLz. an der endlichen Publikation der schon lange vorher ausgearbeiteten Ideen Darwın’s hatte, als WALLACE mit ähn- lichen Gesichtspunkten hervortrat. Eine ausführliche Darstellung des Sachver- halts aus der Feder des Prof. PREYER findet der Leser hierüber im vierten Bande dieser Zeitschrift S. 347—48. Wir begnügen uns daher, hier noch zum Schlusse einen aus jener Periode (1859) stammenden Brief Lyeuv’s an Darwın wiederzugeben, der von ausser- ordentlichem Interesse ist: „Mein lieber DARwIN, ich habe soeben Ihren Band ausgelesen, und recht froh bin ich, dass ich mit HOoKER, was in meinen Kräften stand, gethan habe, Sie zu über- zeugen, dass Sie ihn veröffentlichen müssten, ohne auf eine Zeit zu warten, welche wahr- scheinlich niemals gekommen wäre, wenn Sie auch bis zum hundertjährigen Alter vor- gerückt wären, die Zeit nämlich, wo Sie alle Ihre Thatsachen,, auf welche Sie so viele grosse Verallgemeinerungen begründen, prä- parirt hätten. Es ist ein glänzendes Beispiel von strengem Räsonnement und von so viele Seiten hin- durch weitgestütztem Argument, die Zusam- mendrängung ungeheuer, vielleicht zu gross für die Uneingeweiheten, aber eine wirksame und gewaltige vorläufige Grundlegung, wel- che, sogar bevor Ihre in’s Einzelne gehen- den Beweise erscheinen, einige gelegentliche nützliche Exemplifikationen zulässt, wie z.B. an Ihren Tauben und Rankenfüsslern, von denen Sie einen so ausgezeichneten Gebrauch machen. Ich meine, dass Sie, wenn, wie ich sicher erwarte, bald. eine neue Auflage verlangt wird, hier und da einen vorliegenden Fall einfügen können, um mit der ungeheuren Zahl von abstrakten Sätzen abzuwechseln Litteratur und Kritik. und sie damit zu unterstützen. So weit es mich betrifft, bin ich so wohl Bares Ihre Aufstellungen als bewiesene Thatsachen an- zunehmen, dass ich nicht glaube, die Pieces justificatives werden, wenn veröffentlicht, viel Unterschied darin machen, und ich habe längst auf das Klarste eingesehen, dass wenn irgend eine Öoncession gemacht ist, alles wor- auf Sie Anspruch erheben, in Ihren ab- schliessenden Seiten folgen wird. Es ist dasselbe, was mich zu so langem Zögern veranlasst hat, indem ich stets em- pfand, dass der Fall des Menschen und seiner Rassen, und derjenige der andern Thiere, und derjenige der Pflanzen, ein und derselbe ist, und dass, wenn eine vera causa für einen Zeitpunkt angenommen wird, alle Conse- quenzen für ein ganz unbekanntes und ein- gebildetes Etwas, wie das Wort „Schöpfung“ folgen müssen.“ Gar manche Briefe von ähnlichem Interesse wie der letztere, dessen Schluss uns deutlich sagt, dass DArwın mit Absicht den Menschen zunächst von der speciellen Erörterung fern gehalten hat, sind in dem werthvollen Buche enthal- ten, auf welches wir indessen für die nähere Kenntnissnahme die Leser selbst verweisen müssen. Eine Auswahl in Buchform würde gewiss dem deutschen Publikum als sehr willkommene Gabe erscheinen. 5: a Die Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer mit Beobachtung über deren Lebensweise von CHARLES Darwın. Aus dem Eng- lischen übersetzt von J. VICTOR CARUS. 154 S. in 8. Mit 15 Holzschnitten und Zusätzen nach dem fünften Tau- send des Originals. Stuttgart, E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Koch), 1882. Da in diesen Blättern bald nach dem Erscheinen der ersten englischen Aus- gabe ausführlich über den nach den ver- schiedensten Richtungen anziehenden Inhalt dieses Werkes berichtet wurde. (Kosmos Bd. X, S. 149— 158), so könnten wir uns heute mit einem kurzen Hinweis auf die deutsche Ausgabe begnügen. Litteratur und Kritik. Wir wollen indessen die Gelegenheit be- nützen, um einige der in jenem Artikel nur kurz berührten Verhältnisse noch mit einigen Worten auszuführen und durch einige Abbildungen zu illustriren. Zunächst mögen einige Worte über die Verbreitung und den Formenkreis der hierher gehörigen Thiere folgen. In Deutschland leben nach HorrmkıstER Exkrementhaufen aus dem bota- nischen Garten in Oaleutta. Island äusserst zahlreich, ebenso auf den westindischen Inseln, auf St. Helena, Madagaskar, Neukaledonien und Tahiti. Aus den antarktischen Gebieten sind Regenwürmer von Kerguelenland durch Ray LAnk#ster beschrieben worden und DarwiınselbsthatsolcheaufdenFalkland- inseln angetroffen. Auf welche Weise sie ‚397 acht verschiedene Arten, zu denen noch einige scharfgezeichnete Varietäten kom- men, und dieselbe Zahl giebt Eısex für Skandinavien an. Doch scheinen sie das Interesse der Systematiker nicht sonder- lich angeregt zu haben. Verwandte Gattungen sind über die gesammte Welt zerstreut. Sie leben auf den alleriso- lirtest gelegenen Inseln, und sind auf Fie. 2. Exkrementhaufen aus der Nähe von, Nizza. jetzt völligunbekannt. Sie werden leicht durch Salzwasser getödtet, und es scheint, wie Darwın sagt, nicht wahrscheinlich zu sein, dass junge Würmer oder Eierkapseln durch Erde weiter geschafft werden könnten, welche sich den Füssen und Schnäbeln von Landvögeln anhängt. Natürlich werden sie jetzt leicht durch derartige isolirte Inseln erreichen, ist für | Menschen verpflanzt, welche zu Schiffe 398 fremde Pflanzen mit Erdballen und Erde in Töpfen mitnehmen. Dr. Kına hat in der Umgegend von Nizza drei verschie- dene Species gesammelt, die er an den Verfasser gesandt hatte, und welche auf dessen Veranlassung von Dr. PERRIER bestimmt wurden. Es stellte sich heraus, dass die eine Art Perichaela affinis ein Eingeborner von Cochinchina und den Philippinen war, die zweite P. Iuzonica ist zu Luzon und auf den Philippinen zu Hause, die dritte Art P. Houlleti lebt in der Nähe von Calcutta. Ebenso sind verschiedene Arten von Perichaeta nach PERRIER in den Gärten bei Mont- pellier und in Algier naturalisirt gefunden worden, und es lässt sich denken, dass in günstigen Klimaten durch den nie ruhenden Verkehr der Menschen Arten der verschiedensten Zonen zusammen- gebracht werden mögen, und die Fort- pflanzung ist um so gesicherter, als die Arten Zwitter sind, so dass sich unter allen Umständen zwei verpflanzte Indi- viduen fortpflanzen können. Die Perichaeta- Arten haben allge- mein oder doch in einzelnen Fällen die schon erwähnte Eigenthümlichkeit, dass sie ihre Exkremente über der Erde in Form thurmartiger Bauten aufhäufen, die einen seltsamen Anblick gewähren. Fig. 1 stellt einen derartigen Haufen in natürlicher Grösse dar, wie sie im botanischen Garten zu Calcutta muth- maasslich von einer Perichaeta auf- geworfen werden. Ganz ähnliche Thurm- haufen beobachtete Dr. Kma in be- deutender Menge in der Nähe von Nizza, und Fig. 2 stellt einen derselben in natürlicher Grösse nach einer photo- graphischen Aufnahme dar. In der Mitte aller dieser Thürmchen befindet sich ein hohler aufsteigender Gang, in welchem das Thier sich erhob, um diese Exkrement- massen über seiner Ausgangsöffnung auf- zuhäufen. Sie haben ein mittleres Ge- wicht von 35 g, welches aber in einem Falle bis zu 44,8 g stieg und es ist wahr- scheinlich, dass sie in einer oder höch- Litteratur und Kritik. stens zwei Nächten aufgehäuft wurden. Noch viel massigere Aufthürmungen fand Dr. Kıne in einer Höhe von 7000 Fuss auf dem Plateau der Nilgiri-Berge in Südindien und hier stieg das Gewicht einer Aufthürmung in einzelnen Fällen auf mehr als ein Viertelpfund Trocken- substanz! Bei ihnen sind die einzelnen Windungen viel dicker, und in der That sollen die Würmer den Aussagen der Eingebornen nach zwölf bis fünfzehn Zoll lang und so -dick wie ein kleiner Finger sein. Auf Ceylon sah Dr. Kma einen Wurm von etwa 2 Fuss Länge und einem halben Zoll im Durchmesser, und diese Thiere, welche dort sehr häufig sein sollen, werden natürlich sehr beträchtliche Erdmassen in die Höhe bringen, und solche steil aufgerichtete Exkremente werden natürlich noch geeigneter sein, bei ihrem Zerfliessen durch Witterungs- einflüsse in der Nähe befindliche Gegen- stände zu bedecken. Ein anderer Gegenstand von allge- meinem Interesse, der in unserem ersten Referat nur kurz berührt war, nämlich die eigenthümliche Verdauungsart, mag hier noch mit einigen Worten angedeutet werden. Wie erwähnt, werden die frischen oder welken und trockenen Blätter von den Regenwürmern, nachdem sie die- selben in ihre Höhlungen gezogen haben, mit einer eigenthümlichen Flüssigkeit benetzt, durch welche sie aufgeweicht werden und wenn frisch, alsbald die grüne Farbe verlieren. L£on Fr£p£rıcg hatte bereits (1578) bemerkt, dass der Ver- dauungssaft der Würmer von derselben Natur ist, wie das Sekret der Bauch- speicheldrüse der höheren Thiere, welches Fibrin auflöst, Fette emulgirt und Stärke- mehl in Traubenzucker verwandelt. In der That zeigte die mikroskopische Unter- suchung, dass in den mit der Flüssigkeit benetzten Blättern, dienoch vorhandenen Stärkemehlreste schnell verschwanden, indem sie gelöst wurden. Indessen würde ihnen diese Fähigkeit nicht viel nützen, da die abgefallenen und welken Blätter Litteratur und Kritik. im Herbst bekanntlich sehr arm an Stärkemehl und sonstigen Nährstoffen sind, welche grösstentheils von der Pflanze im Herbst aus den Blättern zurückge- zogen werden, so dass die welken Blätter hauptsächlich nur aus Cellulose bestehen, von der man annahm, dass sie unver- daulich sei. Es ist indessen neuerdings (1879) durch Schmunewirsch ermittelt worden, dass Cellulose, obschon der Ma- gensaft der höhern Thiere nur sehr we- nig oder gar nicht auf dieselbe wirkt, vom pankreati- schen Saft ange- griffen wird. Durch das vor- herige Benetzen der Blätter mit dem alkalischen Ver- dauungssaft,, wer- den die Blätter nun aber zum Theil ver- daut, noch ehe sie in den Darmkanal aufgenommen wer- Schlundkopf Speiseröhre Kalkführende Drüsen Speiseröhre den. Diese Verdau- ung ausserhalb des Kropf Magens findet viel- leicht nur noch bei Mockehunsen den sogenannten insektenfressenden Pflanzen eine ge- wisseAnalogie, in- sofern dortanimale Substanz verdaut und in Pepton ver- wandelt wird, nicht Oberer Theil des Darms Fig. 3. Zeichnung des Verdauungskanals ei- nesRegenwurms(Zum- innerhalb einesMa- bricus)nachRAyLAan- gens sondern auf EEBITER. der Oberfläche der Blätter. Den Ver- dauungskanal der Regenwürmer sehen wir in Fig. 3 abgebildet, und es lassen sich hier leicht die in dem ersten Artikel erwähnten Kalkdrüsen und der vor dem mitstarken Muskelnversehenen Magen be- legene Kropf erkennen, in welchem dieauf- | 399 genommene Speisemit Hülfe kleiner Steine feiner zerrieben wird. »Alle die Arten«, sagt Darwin, »welche Erde verschlingen, sind mit Kaumägen versehen, und diese sind mit einer so dicken Chitin-Membran ausgestattet, dass PERRIER von ihr als einer »veritabeln Armatur« spricht.. Der Kaumagen ist von kraftvollen Quermus- keln umgeben, welche nach der Angabe von CLAPAREDE ungefähr zehnmal so dick sind wie die Längsmuskeln, und PERRIER sah sie sich energisch zusammenziehen. Die zu einer Gattung Digaster gehörigen Regenwürmer haben zwei getrennte, aber völlig ähnliche Kaumägen, und in einer andern Gattung Moniligaster besteht der zweite Kaumagen aus vier Taschen, von denen eine auf die andere folgt, so dass man beinahe sagen kann, sie haben fünf Mägen. In derselben Weise wie hühner- artige und straussartige Vögel Steine verschlucken, um sich ihrer bei der Ver- kleinerung ihrer Nahrung zu bedienen, so scheint das bei den in der Erde leben- den Regenwürmern ebenso der Fall zu sein. Es wurden die Kaumägen von achtunddreissig unsrer gemeinen Regen- würmer geöffnet, und in fünfundzwanzig von ihnen fanden sich kleine Steine oder Sandkörner zuweilen in Verbindung mit den harten kalkigen Conkretionen, die innerhalb der vorderen kalkführenden Drüsen gebildet werden, und in zwei andern fanden sich nur Conkretionen.« Absichtlich in die Blumentöpfe zer- streute Glasperlen wurden später in den Mägen der darin gehaltenen Würmer ge- funden. So erscheint der gesammte Organis- mus dieser Thiere auf’s Wunderbarste dem Leben in der Ackererde angepasst, und das Studium ihrer Thätigkeit ergab nach den verschiedensten Seiten die über- raschendsten Aufschlüsse. Darum wird dieses kleine Buch auch Lesern der ver- schiedensten Klassen und Berufsarten einen gleichen Genuss gewähren. Die Ausstattung ist eine durchaus gediegene. 400 Lucretius, deutsch von Max SEYDEL (Max ScHLiersach). 153 8. in 8. München und Leipzig, R. Oldenbourg, 1881. Es war eine verlockende und dankens- werthe Aufgabe, der neuen Generation, deren Weltanschauung so viel mit der- jenigen des Liebenswürdigsten der Epi- kuräer gemein hat, sein Lehrgedicht von der Natur der Dinge in neuer Ge- stalt vorzuführen. Die Uebersetzung von Lupwıe v. KneBEL ist gewiss des Lobes würdig, welches ihr GoETHE ge- spendet, allein immerhin hat die Zeit auch ihre Ansprüche an den Fortschritt der Ausdrucksformen, und schon die Neu-Uebersetzung von Bınper (1869) bewies das Bedürfnis. Auf eine ge- nauere Vergleichung der einzelnen Leistungen einzugehen, ist hier nicht der Ort; wir wollen nur konstatiren, dass uns die neue Uebersetzung fliessend und geschmackvoll erscheint. Sie zeigt indessen einige Auslassungen, nament- lich von Stellen, welche geschlechtliche Verhältnisse berühren. Ob dieses ge- rade für ein naturwissenschaftliches Gedicht, und bei dem Mangel jeder laseiven Wendung in der Schilderung natürlicher Vorgänge so unumgänglich nothwendig war, lassen wir dahin- gestellt, unbedingt tadeln müssen wir dagegen, dass diese Weglassungen weder in einer Vorrede, noch im Text irgendwie angedeutet wurden. Und doch sind dieselben zum Theil sehr ansehnliche; es fehlen z. B. am Ende des vierten Buches die ca. 250 Verse, welche die Fortpflanzung der Thiere schildern, und so manche schöne und scharfsinnige Bemerkung enthalten, wie 2. B. die auf den Atavismus bezüg- lichen Verse: Litteratur und Kritik. „Auch bisweilen geschieht’s, dass Kinder den Eltern der Eltern Aehnlicher werden; ja oft den Vorderahnen noch gleichen.“ Die Ausstattung des Buches ist nach Papier und Druck eine höchst elegante, mit roth gedruckten Initialen und Seiten- einfassungen. Briefwechsel. Hochgeehrter Herr! Zu dem Referate des Herrn CARNERI über mein Buch: »Der Optimismus als Weltanschauung« (Kosmos Bd. X, p. 310) erlaube ich mir folgende berichtigende Bemerkung zu machen und Sie um deren Abdruck höflichst zu ersuchen. Der Referent sagt an einer Stelle: »Sehen wir uns den Satz: »>Das Sehnen nach Welterlösung durch Weltvernichtung ist an sich hochberechtigt, aber es ist aus- sichtslos«e«, genauer an, so reicht er trotz aller im Uebrigen meisterhaften Bekämpfung dem Pessimismus HARrr- MANN’s geradezu die Hand.« Es liegt hier eine Verwechselung vor. An der angezogenen Stelle (S. 132) meiner Schrift spreche ich lediglich von BAHnsEN als dem consequentesten Schüler ScHo- PENHAUER’S im Gegensatze zu HARTMANN und ceitire theils wörtlich, theils dem. Sinne nach, dessen Schrift: »Zur Philo- sophie der Geschichte.« Selbstverständ- lich kann mir von meinem Standpunkt aus nichts ferner liegen, als das Sehnen nach Welterlösung durch Weltvernich- tung hochberechtigt zu nennen. Hochachtungsvoll Dresden, 22. Januar 1882. Jun. Dusoc. Ausgegeben den 5. Februar 1882. Ueber die hylozoistischen Ansichten der neuern Philosophen. Von Dr. Jules Soury. (Schluss.) Gapitel V. $S 1. Wenige haben unter den Zeit- genossen eingehender als W. Pr£yEr die verschiedenen Ansichten sowohl der äl- tern als auch der neuern Forscher über Leben und Gefühl als Eigenschaften der Materie studirt, jedoch wäre es zu weit- läufig nachzuweisen, auf welche Weise jener Forscher zu seiner Theorie ge- kommen ist, und ich muss mich daher darauf beschränken, nur seine Ansicht über den Hylozoismus hier darzustellen. Als vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren die alte materialistische Theorie des Drmocrır bei uns wieder zur Geltung gekommen war, ohne wesentliche Ver- besserungen oder eine gründliche Um- bildung erfahren zu haben, da waren Einige der Meinung, dass man alle thierischen Processe auf physiologische zurückführen könne, und dass das Le- ben im Verein mit Gefühl und Bewusst- sein rein mechanisch erklärt werden müsse. Jedoch hierüber streitet man in der Gegenwart nicht mehr; denn wenn auch W. Pr£eyer wie Du Boıs- Rrymosp und sehr viele Forscher nach * Ueber den Lebensbegriff von Prof. W. PREYER, in Kosmos, 1877, 1. Jahrg., p- 204 et sq. — Ibid., Kritisches über die Kosmos, V. Jahrgang (Bd. X). Leıexız als festgestellt ansah, dass alle Processe in der Welt, alle Ver- änderungen im Pflanzen- und Thierreich auf mechanische Ursachen zurückgeführt werden können, so ist er dennoch der Meinung, dass Etwas in den Dingen unerkennbar sei, nämlich das Leben und das Gefühl *. Wenn wir wirklich künstlich Leben zu erzeugen im Stande wären, hätte nicht dann schon die Mechanik mit Hülfe der organischen Chemie aus den organogenen Elementen lebende Wesen geschaffen ? Jedoch unsere gesammten Erkenntnisse bestätigen den Satz, dass Leben nur aus Leben entsteht; und Keiner vermag einzusehen, wie des Ge- fühls baare Moleküle durch ihre Ein- wirkung auf einander plötzlich zu Ge- fühl und Leben besitzenden werden kön- nen. Wenn zwei Holzstückchen an ein- ander gerieben werden, so erwärmen sie sich, und es wird keine neue Kraft wahrgenommen, weil alle Körper ebenso allgemein Wärme besitzen als Gravi- tation und Ausdehnung. Obwohl aber die Physiker diese Erscheinungen täg- lich besser verstehen lernen, so giebt Urzeugung, p- 376 et sq. — Ueber die Er- forschung des Lebens von W. PREYER (‚Jena, 1873). 26 402 dieses doch keinen Aufschluss über das Wesen des Gefühls (Empfindung), trotz- dem aus diesem Bewegung seinen An- fang nimmt, und es sich hier um jenes allgemein gültige Princip handelt, mit dessen Hülfe wir die Erhaltung der Kraft nachweisen. Wenn aber auch die Gesammtheit der Dinge im Universum nur in unzu- reichender Weise aus mechanischen Principien erklärt werden kann, so be- zweifelt W. Preyzkr dennoch, ob ohne jene Principien überhaupt irgend Etwas erklärt werden könnte. Aus diesem Grunde muss man nicht, wie die meisten es ganz gegen Leısnız’ Ansicht gewollt haben, zu unkörperlichen Spiritus seine Zuflucht nehmen, welche wie auf Flü- geln über den lebenden Wesen schwe- ben und jenen Maschinen von aussen her Bewegung ertheilen. Wiederum aber ist Pr£EvyEr der Ansicht, dass man nach MaAuperruis Vorgange, wenn es sich um die Lösung dieses Problems handelt, der Materie eine neue Eigen- schaft beilegen muss, nämlich die Kraft, zu fühlen (empfinden), welche zwar in allen Gegenständen immer vorhanden ist, aber nur unter bestimmten zeit- lichen und räumlichen Bedingungen aus dem Zustande der Potentialität in den der Actualität übergeht. Wir vermögen also nicht von dem Begehren die chemische Affinität, die Gravitation, die Attraction, die magne- tische und electrische Kraft zu trennen. Wer sieht da nicht ein, wie allgemein verbreitet das Leben in der Natur ist, während man früher nur Pflanzen und Thieren dasselbe zugestand ? Hierzu hat nicht wenig beigetragen die ge- nauere Kenntniss derjenigen Lebewesen, welche man weder zu den Pflanzen noch zu den Thieren rechnen darf, und die daher eine vermittelnde Stellung ein- nehmen und sehr unvollkommen orga- nisirt sind. Denn es ist ja durch die Beobachtungen KLEINENBERG’s und HarcReL’s auf's sicherste festgestellt, Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten dass selbst die kleinsten Theilchen der Moneren, ebenso wie das ganze Körper- chen, sich ernähren, athmen, bewegen, wachsen und sich fortpflanzen, Da aber alle lebenden Wesen aus Protoplasma bestehen, so glauben Viele, dass Leben und Gefühl nur Eigen- schaften des Protoplasma seien. War- um sind dann aber die übrigen Natur- - körper, welche oft aus denselben Ele- menten aufgebaut sind, aus welchen das Protoplasma besteht, leblos? Offen- bar hat das Leben nicht die Materie allein zu seiner Existenzbedingung, sondern Princip und Ursprung desselben sind die Bewegungen der Moleküle und Atome. PRrEYER ist nun der Meinung, dass diese unbekannte Anordnung und Structur der Theilchen immer in der Welt vorhanden gewesen sei. Niemals hat es daher einen Zustand gegeben, in dem die Natur ohne Leben und Gefühl war, noch viel weniger sind jemals, wie man glaubt, lebende Wesen aus leblosen entstanden. Da dieses nun nicht der Fall ist, so forscht PrEyER nach der Weise des RoBInEr, welcher LEıßnız am besten verstand, woher das Leben stamme. Offenbar entsteht das Leben nicht nur durch eine be- stimmte Anordnung der Theilchen, son- dern vor Allem dadurch, dass die lebens- fähige Natur in Wirklichkeit immer Leben besessen hat im potentiellen oder actuellen Zustande. Wie gefrorne Eier, Keime oder auch Frösche und Fische nicht nur einen, wenn auch geringen Grad von Leben besitzen, sondern auch, sobald sich die Existenzbedingungen günstiger gestalten, zum Leben erwachen und wieder aufleben, ebenso sind viel- leicht, bevor Eier, Keime, Pflanzen und Thiere existirten, gewisse lebensfähige Elementarverbindungen vorhanden ge- wesen, welche während einer unermess- lichen Reihe von Jahrhunderten im la- tenten Zustande und gleichsam wie im Schlummer sich befanden, während sie, sobald die Existenzbedingungen in der ge der neuern Philosophen. Natur für lebende Wesen sich günstiger gestaltet hatten, mit einem Male zu thätigem Leben erwachten und das ge- sammte Leben und Empfinden aus sich entwickelten. Die anorganische oder todte Materie ist nur das Residuum des Lebens. Denn bevor unsere Lebewesen, welche zum grössten Theil aus Albuminaten be- stehen, existiren konnten, wegen der masslosen Temperatur, welche damals auf unserem Planeten herrschte, haben demnach andere uns unbekannte Wesen gelebt, weil, wenn dieses nicht der Fall wäre, die verborgenen Anfänge des Lebens auf unserem Planeten beständig in Dunkel gehüllt sein würden. Da die Sachlage nun eine solche ist, so scheint es PREYER gewisser als gewiss zu sein, dass niemals eine Autogonie stattge- funden hat; und er wundert sich nur, dass man immer noch neue Experi- mente zur Vertheidigung der entgegen- gesetzten Theorie anstellt, da doch niemals Leben anders als durch lebende Wesen fortgeführt worden ist; er adop- tirt daher nicht nur jene Worte Vır- cHow’s: Omnis cellula e cellula, sondern er stellt als der Wahrheit noch näher kommende Behauptung den Satz auf: Omne vivum e vivo. Auch Vırcnow tadelt er, weil dieser geschrieben habe, das Leben sei plötz- lich aus den unbelebten Wesen ent- standen in dem Augenblicke, als die mechanischen Bewegungen der Materie sich in vitale verwandelt hätten; auch Dv Boıs-Rrymonp und ZöLLnER be- gehen denselben Fehler. Wie aus dem neutralen Protoplasma die Zellen der Pflanzen und Thiere entstanden sind, so entstand das Protoplasma aus einer andern Substanz derselben Art und so fort sobald die Erdoberfläche sich än- derte. Ich glaubte bemerken zu müs- sen, dass diese Theorie ihren Ursprung genommen hat aus dem ÖContinuitäts- gesetze und der gesammten Philosophie des Lrisnız. Uebrigens glaube ich, 405 dass die Einwürfe gegen die generatio spontanea mit der Lehre Darwın's in Uebereinstimmung sind. Unter den zahlreichen, sehr gelehr- ten Männern, welche mit schwerwiegen- den Argumenten die generatio spon- tanea bekämpfen, erwähnt W. PrEyER als ersten den vor kurzer Zeit (im Jahre 1876) verstorbenen Hermann EBER- HARD RICHTER. Denn er veröffentlichte zuerst eine neue und fast unerhörte Ansicht über die Entstehung der leben- den Wesen auf unserem Planeten; er vermuthete, dass die organischen Cor- puskeln oder Zellen von den Sternen herstammen und durch herabfallende Meteore auf die Erde gelangt seien; aus jenen Kosmozoen wären daher nach seiner Ansicht alle auf der Erde exi- stirenden Pflanzen- und Thierarten ent- standen, nicht aber durch generatio spontanea. $ 2. Diese Hypothese, welche in ver- schiedenen medicinischen Zeitschriften veröffentlicht worden war, war sechs Jahre lang unbeachtet geblieben, bis fast zur selben Zeit im Jahre 1871 Tmuomson und HrLMHoLTZ auf dieselbe aufmerksam machten. »>Wenn eine Insel durch die Fluthen plötzlich entsteht, sagt Tmuomson, der gelehrteste Physiker der Engländer, und nach einigen Jahren mit Pflanzen be- deckt ist, so haben wir die feste Ueber- zeugung, dass durch Wind und Wellen Keime dorthin gelangt sind. Warum sträubt man sich nun diese Erklärung, welche der Wahrheit am nächsten zu kommen scheint, auch auszudehnen in ihrer Gültigkeit auf den Ursprung des Lebens auf unserem Planeten?« In einzelnen Jahren fallen viele Tausend Steine vom Himmel, schwache Spuren grosser Weltkörper. Wenn so durch irgend einen Zusammenstoss die Erde zertrümmert würde, so würden ihre Ruinen, wenn sie nicht dabei verbrannt und in den gasförmigen Aggregatszu- stand übergeführt würden, dann mit 26* 404 vegetabilischen und animalischen Kei- men bedeckt durch den Weltraum sich bewegen, und diese Keime wären im Stande, sobald sie auf andere Welt- körper gelangen, Leben, Gefühl und jewusstsein zu verbreiten. Wenn also keine Spur von Leben bis jetzt auf der Erde wäre, so würde ein solches Fragment hinreichen, um in kürzester Zeit auf der ganzen Erde Pflanzen und Thiere zu verbreiten. W. Tnuomsonx giebt allerdings zu, dass es ungewöhnlich und fast unglaublich scheinen kann, jedenfalls aber nicht mit unseren erlangten Naturerkennt- nissen im Widerspruch steht, zu be- haupten, das Leben auf unserer Erde sei aus jenen moosartigen und gras- artigen siderischen Bruchstücken, wel- che vom Himmel fallen, entstanden. Auf das Entschiedenste aber bekämpft er die schon von Alters her in Geltung stehende Ansicht, dass die unorganische und unbelebte Materie jemals, wenn auch unter den abweichendsten sideri- schen und terrestrischen Bedingungen sich in Keime und organische Zellen umgewandelt habe. Als HrıLmHovtz bemerkt hatte, dass in den genannten Steinen Wasserstoff in Verbindung mit Kohle, diesem orga- nogenen Elemente xar' £50ynV sich vor- finde, warf er sich die Frage auf, ob nicht jene Körper, während sie durch den Weltraum fliegen, auf mehreren Weltkörpern Keime verbreiten*. Zu dieser Ansicht über die kosmischen Keime war HELMHOLTZ gekommen, na- mentlich durch die fast resultatlosen Versuche, welche zur Erzeugung von Leben angestellt worden waren. Jedoch wenn wir auch sicher wüssten, dass unsere Pflanzen und Thiere aus jenen kosmischen Keimen entstanden seien, auch dann würde immer noch die Frage S. dentsche Uebersetzung des Hand- buches der Physik von W. Thomson und E G. Tarr (Braunschweig, 1874), I. Bd. 2 Th. p. XI—-XIU. Ct. auch Populäre Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten bestehen bleiben, ob das Leben jemals einen Anfang genommen habe oder nicht, wenn auch nicht auf unserer Erde, so doch wenigstens im Universum. S 3. Die alte Frage nach dem ersten Ursprung des Lebens hat W. Prryer in umgekehrter Fassung aufgestellt, in- dem er nur darnach forschte, woher die leblosen, nicht aber die belebten Dinge stammen. Diese Auffassung der Sache, welche mit aller Ansicht in Widerspruch steht, hatte schon Tnr. Fechner vielfach angeregt. Am meisten jedoch neigt sich TywpALL dieser Auf- fassung zu; denn er glaubt, dass die lebenden Wesen aus dem Feuer und dem Erdboden ihren Ursprung genom- men haben. Da nun der Uebergang von den Pflanzen zu den Thieren in unmerklicher Weise sich vollzieht, so vermöge der menschliche Geist, wie Tyvvarz öfters bekannt hat, ihres Le- bens sich bewusste und unbewusste Wesen nicht zu unterscheiden, so dass 'wir darüber im Ungewissen bleiben, ob auch die Pflanzen und Steine wie die Thiere Empfindung haben. Er glaubt jedoch, dass die gesammte Natur von einem und demselben Leben beseelt sei; und besonders in jener 1871 ge- haltenen Rede setzte der geniale Mann auf das Ausführlichste auseinander, dass nicht nur Infusorien und Thiere, son- dern auch der menschliche Geist selbst mit allen Eigenschaften der Körper und Thiere im Urnebel im Anfang enthalten gewesen Sei. Es gab eine Zeit, während welcher in dem Sonnenfeuer gleichsam poten- tialiter sich befanden mit den vorzüg- lichsten Genien aller Jahrhunderte so- wohl die Lehren der Philosophen, als auch die Poeme und Gedichte der Sän- gerund die Theorien der schönen Künste. Hierdurch wird die Frage nach dem wissenschaftliche Vorträge von H. HELM- HOLTZ. III. Heft (Braunschweig, 1876), p- 138—139. der neuern Philosophen. Leben nur weiter hinausgeschoben, aber es bleibt immer, wie TynpALz bemerkt hat, die Frage bestehen, woher der Ur- nebel selbst und die in ihm einge- schlossenen Lebenskeime stammen. Denn das Continuitätsprinzip gestattet uns nicht halt zu machen, gleich als ob wir im Besitze aller Wahrheit wären. Weil die generatio spontanea mit dieser Continuität in der Natur in Widerspruch steht, deshalb bekämpft jeder gründliche Gelehrte diese sehr alte Theorie mehr und mehr, da man nicht mehr der Ansicht ist, dass das Leben substantieller Natur sei, sondern dass es eine bis jetzt uns unbekannte mo- lekulare Bewegung sei. Warum sollte denn nicht diese Bewegung schon auf dem feuerflüssigen Erdball vorhanden gewesen sein, lange Zeit bevor Eiweiss- stoffe entstanden? Warum sollte sie nicht ebendenselben Lebensprocessen vorgestanden haben, gleichviel ob sie aus andern Elementen oder auch aus denselben in mehr verdünntem Zustande zusammengesetzt war? Wer übrigens den wahrscheinlichen Ursprung der Ei- weissstoffe kennen zu lernen wünscht, der möge die Abhandlung* Pruüser’s, der in diesem Punkte mit Pre£ver ein- verstanden ist, lesen; denn in ihr findet man dargelegt, dass durch eine feurige Kraft die Elemente des Eiweisses ge- bildet worden sind, sodass, wenn auch nicht im Urnebel, so doch wenigstens auf dem feuerflüssigen Erdball aus Feuer Leben entstanden sei. Da wir nun keine sichere Kenntniss von dem ersten Ursprung des Lebens haben, so kann man dadurch das Pro- blem lösen, dass einfach die Anfangs- losigkeit der Lebensbewegung behauptet wird und mit dem Satze »omne vivum e vivo« die Ansicht aufgestellt wird, dass das Leben immer aus Leben ent- standen sei. Weil der Sachverhalt ein * 5. Archiv für die gesammte Phy- siologie des Menschen und der Thiere. April, 875. | 405 solcher ist, deshalb glaubt W. Preyer, dass dennoch die letzten Theile der Ma- terie ausser all den mechanischen, phy- sikalischen und chemischen Eigenschaf- ten innere Zustände und ein Vermögen zu fühlen und zu streben besitzen müssen, wenn auch durch diese Annahme selbst das Spiel der allgemein gültigen Gesetze des Mechanismus dann von Leben und Gefühl abhängig ist, und wenn auch die Bewegungen der Atome und Mo- leküle, aus welchen die organischen Zel- len bestehen, keine anderen Verbindungs- gesetze befolgen als selbst die entfern- testen Gestirne. Wiederum sind also hier zu Gunsten der monistischen Welt- ansicht die Atome der Physiker in die Monaden der Philosophen umgewandelt worden. S 4. Auch NäÄseur, ein ganz aus- gezeichneter Naturforscher, hat in einer 1877 zu München gehaltenen Rede offen bekannt, dass die Materie eine Fähig- keit zu empfinden besitze, und er hat geläugnet, dass die physikalischen Atome wirklichuntheilbareCorpuskeln seien, und vielmehr behauptet, dass sie unendlich theilbar seien. Er erkannte den klein- sten Theilchen der Materie oder den Atomen sowohl in ihrer Isolirtheit als auch in ihrer Vereinigung zu Molekülen eine Fähigkeit zu fühlen zu. Wie wir die Thiere, weil sie sich bewegen, für fühlende Wesen halten, so glaubt er auch, dass Alles, was in der Natur aus eigenem Antriebe sich zu bewegen scheint, wie die Infusorien, Pflanzen und Steine einen gewissen Grad Gefühl besitzt. Da aber jedes Wesen sich selbst zu erhal- ten sucht und, je nachdem ihm dieses mehr oder weniger gelungen ist, dar- über Schmerz oder Lust empfindet, so ist NÄgerı der Ansicht, dass in jenen letzten Theilchen der Elemente, aus wel- chen alle, sowohl belebten als auch un- belebten Körper bestehen, der Sitz der Schmerz- oder Lustempfindung sei. Warum sollten denn nur die Mole- ‚ küle der Albuminate, nicht aber die der 406 übrigen Substanzen zu empfinden ver- mögen? Zwei Sauerstoff- und Wasser- stoffmoleküle z. B. unterscheiden sich nur einigermaassen von einander, da aber die Atome, aus welchen sie zu- sammengesetzt sind, sich wechselseitig anziehen und abstossen, so muss offen- bar jedes einzelne Molekül die Gegen- wart des andern auf eine gewisse Weise empfinden, und sie müssen durch die Attraction oder Repulsion die innern Kräfte und selbst den Schmerz oder die Lust, welche sie empfinden, zu erkennen geben. Selbst die denkbar einfachsten Organismen daher, wenn es erlaubt ist, mit diesem Namen die Moleküle der chemischen Elemente zu bezeichnen, fühlen, wenn sie sich bewegen, wie alle übrigen Thiere. Aus diesem Grunde scheint auch die gesammte Materie, zu- mal da von den niedrigsten Organismen zu den höchsten ein allmähliger Fort- schritt stattfindet, an einem und dem- selben Geistesleben und an einer und derselben geistigen Kraft mehr oder weniger überall in der Natur theil zu nehmen. Mag man auch alle Processe im Universum auf mechanische Ursachen zurückzuführen vermögen, die Atome oder vielmehr die substantialen Monaden, welche überall auf einander einwirken, und aus welchen die Moleküle und Kör- per bestehen, besitzen dennoch Gefühl, Perception und Begehren. S 5. Auch Tu. Fecuner hatte sich schon lange bemüht nachzuweisen, dass die belebten Dinge in der Natur vor den leblosen existirt haben, weil wohl aus jenen diese entstehen können, wenn »das Princip der zunehmenden Stabilität« irgend welche Wahrheit besitzt, nicht aber umgekehrt, er vermuthet, dass in den organischen Molekülen die Materien- theilchen oder Atome sich anders be- wegen als in den unorganischen Mole- * GUSTAV THEODOR FECHNRR, Nanna, oder über das Seelenleben der Pflanzen. 1848. ** Professor SCHLEIDEN und der Mond, 1856, p. 11. Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten külen. Auf mechanische Gründe stützt sich die ganze Ansicht Frcuner’s über diesen Gegenstand. Die beständigen Bewegungen nämlich, durch welche die Atome der organischen Moleküle, welche weniger stabil sind als die der un- organischen, in einem gewissen labilen Gleichgewicht erhalten werden, leitet er von den innern Kräften der Materie her; je stabiler also das Gleichgewicht der Atome in der Natur gemacht worden ist, um so mehr unorganische Moleküle sind aus den organischen entstanden. Weil aber Alle einer und derselben Natur sind und aus unter einander ähn- lichen Theilchen erzeugt werden, so be- steht nicht im Geringsten ein absoluter Unterschied zwischen organischen und unorganischen Molekülen. In dem Werke »Nanna, oder über das Seelenleben der Pflanzen« * hatte FecHhwer daher auch die Ansicht ausgesprochen, dass die Pflanzen beseelt seien. Die Pflanzenseele ist freilich mitgeringeren Fähigkeiten aus- gestattet, aber sie besitzt dennoch eine gewisse Aehnlichkeit mit der Menschen- seele, denn sie freut sich in derselben Weise, wie ein Säugling. Vernunft, Denken und Gedächtniss besitzt sie aus diesem Grunde nicht, aber sie hat eine an die Gegenwart gebundene Empfin- dung der Freudigkeit oder Erschlaffung, wenn sie mit Licht, Luft und Thau sich reichlich gesättigt hat. FECHNER stellte endlich zuerst die Behauptung auf, dass die wissenschaftliche Psychologie von der Zellentheorie aus ihren Anfang neh- men müsse **, In dem Werke »Zend- Avesta« setzte*** FECHNER die Gründe seiner Ansicht auseinander und behauptete, dass sowohl unser Planet als auch alle Weltkörper lebende Wesen seien. Kaum Einer aller jetzt lebenden Philosophen hat daher in so hohem Grade den Hy- ### Zend-Avesta, oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits vom Standpunkt der Naturbetrachtung (Leipzig, 1851). der neuern Philosophen, lozoismus begünstigt. Endlich muss ich noch jenes Princips Erwähnung thun, in Folge dessen, wie FEcHneEr lehrt, alle Dinge unaufhörlich nach einem sta- bileren Zustande streben. Hierdurch hat auch FEcnner’s Lehre einige Berührungs- punkte mit der ZörLuner’s; denn dieser, der auf das mechanische Prineip der Ersparung der Kraft vertraute, wollte nachweisen, dass die einzelnen Bewe- gungen der Atome beständig nach einem Zustande hinzielen, in dem die Atome einem Minimum von Stosskräften, deren Wirkungen sie schmerzhaft empfinden, ausgesetzt sind, und dass demnach Alles im Universum nach einem stabileren und passenderen Zustand hinstrebt. Wapitel VI. $ 1. Auch Zöuuner ist der Meinung, dass die anorganische und unbelebte Materie sich in lebende und fühlende Körper umgewandelt habe*, ein Fehl- schluss, über den man sich bei diesem Manne sehr wundern kann, da er von | der allgemeinen Gültigkeit des Conti- nuitätsprincipes sehr überzeugt ist, eben- so behauptet er, dass eine generatio spontanea stattgefunden habe. Seiner Ansicht nach ist das Leben in der Na- tur nur an das Pflanzen- und Thierreich gebunden, und die unorganischen Kör- per auf unserer Erde existirten vor der Entstehung des Protoplasma; denn er sagt: »Da im ersten feuerflüssigen Zu- stande der Erde noch keine organischen Keime existiren konnten, so müssen zu irgend einer Zeit die lebenden Wesen aus den leblosen entstanden sein« **, Wenig scheint ZöLLner auf die Mei- nungsverschiedenheiten zu geben, die unter den neuern Forschern in Bezug auf die generatio aequivoca entstanden sind. Die Vernunft selbst führt uns zu der Annahme, wie der gelehrte Pro- fessor der Astronomie und Physik glaubt, ® Ueber die Natur der Kometen, p. 321 sq., 326 sq. — Principien einer electro- dynamischen Theorie der Materie (Leipzig, | 407 dass einst eine generatio spontanea stattgefunden hat, wenn sie auch bis- her experimentell nicht nachgewiesen worden ist. Nicht die Bewegung, wie man all- gemein glaubt, sondern die Empfindung ist nach ZÖLLNER's Ansicht, die Grund- eigenschaft der Materie; alle Processe in ‚den Dingen sind daher von einem gewissen Grad der Lust- oder Unlust- empfindung begleitet. Wie die Thiere, so streben auch die andern Naturdinge, wenn sie auch kein Bewusstsein be- sitzen, die Summe der ‚Unlustempfin- dungen auf ein Minimum zu redueiren. Obwohl es wenig festgestellt und be- stätigt ist, dass die letzten Corpuskeln der Materie‘ beim Bewegen empfinden, so ist ZÖLLNER dennoch der Ansicht, dass alle Dinge eine, wenn auch nur geringe Fähigkeit zu empfinden be- sitzen. Erst mit feineren Sinnesorganen vermöchten die Menschen auch die kleinsten Schwingungen der Krystall- molekel wahrzunehmen; aus welcher Quelle wollen sie unter solchen Um- ständen nun wissen, dass die ausein- andergerissenen Moleküle eines zertrüm- merten Krystalls keinen Schmerz em- finden ? *** Es herrscht darüber kein Zweifel, dass ZÖLLNER Willens war den Atomen, welche er sich als mathematische Punkte oder Kraftcentren vorstellte, Seele und Gefühl zuzuerkennen, damit er um so leichter von der »actio ad distans« (Fernwirkung) eine verständliche Er- klärung geben könne; denn er gesteht ein, dass der menschliche Geist nicht zu begreifen vermöge, wie die letzten Theilchen der Körper auf einander durch das Vacuum einwirken. Wenn man aber angenommen hätte,. dass die Materie fühle, dann könnte man sagen, dass die Körper, sobald sie auf einander ein- wirken, sich in Folge ihrer Liebe zu 1876). Einleitung. #* Deberdie Naturder Kometen,p. XXVLU. *** Tbid., p. 321. 408 einander anziehen und in Folge ihres Hasses gegen einander sich abstossen. Da ZöuLıLser der Meinung ist, dass zwei einander entgegengesetzte electrische Kräfte die wahren Elemente der Ma- terie seien, so führt er die verborgenen Ursachen der wechselseitigen Attraction und Repulsion der Körper auf jenes all- gemein gültige Weszr’sche Gesetz zu- rück. Das grösste Lob ertheilt ZÖLLNER den Physikern, weil sie gegen die Mei- nung der Philosophen die Materie als belebt angesehen hätten, da sie ja ohne Impuls durch den leeren Raum zu wir- ken vermöge. Er hebt es rühmend her- vor, dass die Wissenschaft, nicht aber die Philosophie das Problem des New- ron gelösthabe, und dass sie, die Lehre Erıcur’s, den Materialismus getödtet habe, wie Oedipus seinen eigenen Vater. Jedoch Zörıner’s Lobsprüche sind ver- früht; denn auch in der Gegenwart hat sich CLERK MAxwELL zur Atomtheorie bekannt, indem er, wie Democrtt, Epr- cur und Luckzz geläugnet hat, dass die Körper endlos theilbar sind*. Die- ses jedoch ist der Erwägung würdig, warum wir nämlich diejenigen Eigen- schaften, welche wir den Aggregaten gern zuerkennen, durchaus nicht den Elementen zugestehen wollen. S 2. Da ich schon früher die An- sichten von Ernsr Häcken über die Seelen und psychischen Kräfte der Atome, Plastidülen und Zellen dargestellt habe, so möge es mir erlaubt sein, die Leser * Rede über die Moleküle der Körper, gehalten von der Britischen Naturforscher- gesellschaft. (Rev. scient., 18. Octobre 1873.) ** Essais de psychologie cellulaire, par Ernst HÄCKEL precede d’une preface par JULES Soury (Paris, 1880). Pref., I-XXIX. — Les preuves du transformisme. Reponse A VIRCHOW, par E. Häcker. Traduit de allemand et pr&cede d’une preface, par ). SourY (Paris, 1879). Pref., I--XXXVI — Le regne des Protistes, par E. HÄckEL, Traduit de l’allemand et pree&d& d’une intro- duction, par J. Soury (Paris, 1879). Introd., I—LXIV. Besonders in der Einleitung die- ses Werkes habe ich seine Ansichten über Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten auf meine Vorreden zu verweisen, welche ich den Uebersetzungen dreier Werke Hicken's aus dem Deutschen in un- sere Muttersprache beigefügt habe **. Dieses eine will ich noch hinzufügen : denn man kann hieraus erkennen, dass es leichter ist über die Zellseelen zu spotten als das schwierige Problem des Lebens und Gefühls zu lösen. DonDErs hat nämlich in einer im Jahre 1879 zu Amsterdam gehaltenen Rede die Seelentheorie lächerlich gemacht, aber er hat dennoch nicht gezögert, die generatio spontanea der Organismen als ein wahres und nothwendiges Princip in Anspruch zu nehmen***, und er ver- diente es daher an jenes Sprüchwort erinnert zu werden, dass man bei An- dern den Splitter sieht, an sich selbst aber den Balken nicht bemerkt. Jedoch genug davon. Ich will nur noch einige Notizen hinzufügen über die neuesten auf diesen streitigen Gegen- stand sich beziehenden Werke. S 3. Lazarus GEIGER hat sich die grösste Mühe gegeben, die monistische Weltanschauung zu befestigenf; denn er wies in einer ausserordentlich schar- fen Untersuchung nach, dass die Welt nicht nur aus Corpuskeln und Bewe- gungen, wie DEmocrkIT und Erıcur glau- ben, bestehe, sondern dass alle Ma- terientheilchen auch ein natürliches Füh- len besitzen. Alles, was wir überhaupt wahrnehmen, wie Licht, Schall, Wärme u. s. w., kann allerdings auf Bewegung das Leben, Gefühl und die Bewegung der lebenden Wesen ausführlich erörtert (p. XVII bis XXIV, XXIX, XXXVI—XLI, XLVD, ferner über die Cellular-Psychologie (XXX bis XXXV, XLII-—-XLIV), über die psychi- schen Kräfte des Protoplasma (XLIILV), über das Gedächtniss der organischen Ma- terie (XLVI) und über die falsche Theorie von der generatio spontanea (AXXVIN). *2* Rey,seient, 1879, Nr., 12, + Der Ursprung der Sprache, von L. GEIGER (Stuttgart, 1869, p. 205200). Ur- sprung und Entwickelung: der menschlichen Sprache und Vernunft von GEIGER (Stutt- ' gart, 1860). I. p. 30, 88, 158. der neuern Philosophen. zurückgeführt werden, auf diese Weise leuchten die Sterne, fliesst das Wasser, bewegen sich Menschen und Thiere. Aber woher können wir denn wissen, dass nur Menschen und Thiere, nicht aber auch Sterne und Wasser empfin- den? Jene haben Nerven, wird man einwerfen, diese aber nicht. Jedoch woher wissen wir denn, dass die Nerven fühlen? Wenn wir lediglich mit unseren Sinnen zu einer vollständigen Erkennt- niss der Thiere gelangen könnten, dann könnten wir allerdings behaupten, dass sie reine Automaten seien. Da wir aber mit den Thieren in manchen Hinsichten Aehnlichkeit besitzen, so scheint dieses wenigstens ein Anzeichen dafür zu sein, dass wir mit Recht hinter der Bewe- gung noch eine verborgene Erscheinung vermuthen müssen, welche wir wohl mit dem Geiste, nicht aber mit den Augen wahrzunehmen vermögen, nämlich die Empfindung. Denn die Empfindung allein ist etwas, was nie und nimmer auf Bewegung reducirt werden kann. Wer wird jemals wissen können, ob die fallenden Steine empfinden oder nicht? In der ganzen Natur ist da- her Bewegung und Empfindung ver- breitet, und Lazarus GEIGER ist der Ansicht, dass die Bewegung gleichsam nur die äussere, die Empfindung gleich- sam nur die innere Erscheinung der Dinge sei. S 4. Lupwıs Noik£, ein nicht ganz unbedeutender Philosoph, der sich um die Begründung und Formulirung des Monismus verdient gemacht hat, er- wähnte öfters, eine wie grosse Bedeu- tung GeEiGer’s Lehren für die neue Phi- losophie haben. Diese Weltanschau- ung beruht gleichsam auf dem Princip, ® Der monistische Gedanke. Eine Con- cordanz der Philosophie SCHOPENHAU ER’S, Darwın’s, R. MAvEr’s und L, GEIGER’s von LupwıG Nom& (Leipzig, 1875). III. Grund- linier der monistischen ame. 7.99, 123, 127. *# Aphorismen zur monistischen Philo- | sophie (Leipzig, 1877), p. 19, 21, 77, 81-2, wie schon LEIBnız 409 dass es im Universum keine Bewegung ohne Empfindung und keine Empfindung ohne Bewegung gäbe* Alles Existirende soll daher einen ge- wissen Grad von Bewusstsein besitzen, nicht nur der Mensch; denn zwei Eigen- schaften constituiren das Wesen der Gesammtheit, die innere Kraft des Em- pfindens und die äussere Kraft der Be- wegung”**, und alle Atome oder Monaden sind von Anfang an im Besitz beider gewesen. Dieser Sachverhalt ist durch die Anzeichen so einleuchtend nach des Philosophen Ansicht, dass er voraus sagen zu können glaubt, die ganze Menschheit werde sich noch vor Ablauf dieses Jahrhunderts zu der monistischen Weltansicht bekennen. Selbst wenn man zu den niedrigsten Lebensstufen herab- steigt, macht man die Erfahrung, dass auch die biologischen Einheiten, die Zel- len, noch Leben besitzen, empfinden und aus eigenem Antriebe sich bewegen. Da wir nun durch die chemische Forschung erkannt haben, dass die Elemente, aus welchen jene einfachsten Organismen bestehen , dieselben sind als die übri- gen in der Natur vorhandenen, so müssen in Folge dessen selbst die letzten Theil- chen der Materie gleichsam unvollkom- meneund unentwickelte Lebenskeime be- sitzen und Spuren von jenem Empfinden und Begehren, welches von den orga- nischen Zellen ab überall sich vorfindet. Lupwıs Noırk nimmt daher an, behauptet hatte, dass die individuellen Corpuskeln der Natur oder die wahren Atome Monaden seien; dass alle Elemente sowohl sich bewegen als auch empfinden, so dass man behaupten kann »Kein Geist ohne Stoff, kein Stoff ohne Geist«,*** endlich 120. Einleitung und Begründung einer monistischen Erkenntniss-Theorie (Leipzig, 1877), p. 238—239. ya Die lest der Causalität (Leip- zig, 1875), Kein Geist ohne Stoff, kein Stoff ohne Le ef. p. 58, 42 ‚44, 60, 70, 78, = 410 ist er auch der Meinung, dass die be- wegte und denkende Substanz eine und dieselbe sei * $ 5. Viele Philosophen und Physio- logen sind gegenwärtig der Ansicht, dass nicht nur die Plastidulen, wie Häckzn, meint, sondern die gesammten Theilchen der Materie einen gewissen Grad von @Gedächtniss besitzen. Ich erwähne am liebsten zuerst die Ansicht E. Herıne’s über das Gedächtniss als eine allgemeine Function der organi- sirten Materie, obwohl dieselbe nicht ganz mit meinem Vorhaben überein- stimmt. Nicht nur in den Nerven, son- dern auch in den Muskeln und in allen Theilen des Körpers beobachtet er jene Fähigkeit, so dass diese Theile, wenn auch ihrer selbst unbewusst, sich erin- nern, während sie im Ei in eine be- stimmte Anordnung gebracht werden. Den grössten Theil seiner Intelligenz besitzt daher das neugeborene Kind in Folge der hundertjährigen Arbeit seiner Vorfahren ; denn rohen und neuen Seelen erscheinen die herrlichsten Gedichte und die Kenntniss aller grossen Dinge und Künste nur als leere Worte. Aber aus- ser jenem der organischen Materie zu- kommenden Gedächtniss aller lebenden Wesen, welches die Erwerbungen auf- bewahrt viele Jahrhunderte hindurch und sie an einander häuft, nimmt E. HERING in seiner ausgezeichneten Ar- beit ein natürliches, unauslöschliches und ewiges Gedächtniss an **. Laycock hatte schon gelehrt, dass alles, was in den Keimen der Thiere und Pflanzen vor sich geht, besonders aber die bei den Nachkommen wieder erscheinenden geistigen oder körper- * Ibid. Die bewegte und denkende Substanz ist eine und dieselbe : sie ist ein Monon. ** Ueber das Gedächtniss als eine allge- meine Function der organisirten Materie. Von EwArp HERING. 2. Auflage (Wien, 1879), p. 9, 16-18, 21-9. | *** Die psychische Bedeutung des Lebens im Universum. Resultate einer philosophi- Jules Soury, Ueber die hylozoistischen Ansichten lichen Eigenthümlichkeiten der Eltern oder Grosseltern nur in Folge jener (redächtnisskraft möglich sind. So be- richtet derselbe Autor, dass die Pferde im Stall vor einer Streu, welche vorher Löwen und Tigern zur Unterlage ge- dient hatte, erschrocken die Flucht er- greifen, gleich als wenn sie sich an den Geruch jener wilden Thiere noch nach so vielen Jahrhunderten erinner- ten. Und Trrus VıenouLı weist nach, dass nach Drarer’s Ansicht diejenige Kraft, vermöge welcher die Materie die Erinnerung an die Eindrücke zurück- behält, mehr und mehr durch Wieder- holung erstarke, woraus sich ergiebt, dass auch die leblosen Corpuskeln zur Aufnahme einer bestimmten Gewohnheit geeignet sind, und dass die Gestirne ihre ganz bestimmten Umläufe im Uni- versum vermöge eines gewissen Grades von Gedächtniss zu vollziehen scheinen. 8$ 6. Nun aber will ich nach dieser kleinen Abschweifung zu meinem eigent- lichen Thema wieder zurückkehren und Einiges aus einem neuesten Buche über den Hylozoismus, welches sich in mei- nen Händen befindet, berichten ***., Wie fast alle, deren Ansichten wir bisher kennen gelernt haben, ist W.H. Preuss der Ansicht, dass keine Be- wegung ohne Gefühl in der Natur exi- stire, da diese von Anfang an Leben besessen hat und beseelt war; ferner hat er die originelle, aber wahre (? Red.) Ansicht, dass aus den wunbelebten Dingen niemals die belebten, sei es spontan oder auf eine andere Weise entstehen können, weshalb er biolo- gische Einheiten annimmt, aus welchen de semina EVIODOLOENR, die Men- Sehen Naturforschung über den kosmischen Ursprung des Lebens, die Entstehung des Menschen und der Arten im Thier- und Pflanzenreiche von WILHELM H. PREUSS (Oldenburg, 1879), p. 3, 6, 10, 21-22, 36 —88, 45. — cf. Der Organismus der leblosen Natur. Ein physikalischer Versuch von RıcHARD PRÜSMANN (Hannover, 1879). der neuern Philosophen. schenkeime , zuerst entstanden wären, darauf die Thiere und nachher die Pflanzen. Die Materie bestand also, als sie in ihrem formlosen Anfangszu- stande ihre Entwickelung begann, aus jenen biologischen Einheiten oder Kei- men, den wahren Atomen der Natur. Deshalb ist Prruss auch der Meinung, dass Pflanzen und Thiere in engem Verwandtschaftsverhältnisse mit dem Menschengeschlecht stehen; aber gegen Darwın’s Ansicht und Rosmer nolens volens folgend behauptet er, dass aus dem Menschengeschlecht die Thiere und Pflanzen entstanden seien (!!! Red.). Mit Erschaffung der Welt war daher der Mensch schon im Keime vorhanden. Hieraus stammt auch jene Harmonie zwischen Natur und Vernunft, welche LEıBnız, jener ausgezeichnete Geist, so vollständig verkündet hat. Schluss-Erörterung. Nachdem ich nun kurz die neuere hylozoistische Theorie der Gegenwart dargestellt habe, scheint es mir pas- send auch zu erwähnen, dass der Ur- heber und Begründer dieser Weltan- sicht LEIBNıZz gewesen ist; denn dieser, welcher annahm, dass die Monaden mit vegyei@ begabt seien und immer stre- ben, bildete den alten Atombegriff zu dem neuen um, er sah jede Substanz als Kraft (dvveuıg) an und lehrte auch, dass die Materie aus einfachen Sub- stanzen bestehe. Leisnız behauptete vollständig rich- tig, dass alle Dinge ein Prineip der Thätigkeit und des Empfindens besitzen, nicht aber, dass deren Wesen, wie die Cartesianer glaubten, allein in der Aus- dehnung bestehe. Daher stimmen auch mit ihm die meisten Physiker, Physio- logen und Philosophen der Gegenwart * @. G. LEIBNITO animadversiones circa assertiones aliquas Theoriae medicae verae clar. Srautıu (Dutens II, 131 sq.). — Prin- eipia phil. seu theses, c. 81. ®* Anmerk. d. Red. Aus seinen Ansich- 411 überein, weil sie ebenfalls die alte Lehre von den Atomen verworfen haben und in allen Dingen, in den Pflanzen, Thieren und selbst in den Steinen den Zustän- den unserer Seele Aehnliches wahrzu- nehmen glauben. Lexiısniz, der fast das gesammte Wissen der damaligen Zeit in sich vereinte, war es auch, welcher nachwies, dass aus dem Chaos oder der Fäulniss niemals lebende Wesen entstehen, sondern dass jede Seele, d.h. Gefühl und Bewegung immer, wenn auch in noch so kleinen Keimen, existiren, dass aber trotzdem alle Veränderungen in den Körpern mechanischer Natur sind, eine Ansicht, die heute fast alle ausgezeichneten Forscher als die einzig richtige anerkannt haben. Er lehrte, dass jeder Organismus in Wirklichkeit ein Mechanismus sei, freilich ein sehr künstlicher und, wie er zu sagen pflegte, mehr göttlicher. Niemals aber gestand er zu, dass Etwas in den Organismen sei, welches sich ganz vom Mechanis- mus entferne; denn er war überzeugt von jenem Grundsatze, den die neueren Philosophen adoptirt haben, und durch den es festgestellt worden ist, dass . Nichts in den Körpern geschehe, was nicht auf mechanische, d. h. intelligibele Ursachen zurückgeführt werden könne*. Am meisten aber verdient die Philo- sophie des Leısnız deshalb die Beach- tung der Naturforscher, weil sie die Harmonie zwischen Natur und Vernunft oder das System der prästabilirten Harmonie anerkennt, so dass die Kör- per wirken als wenn keine Seelen wären, und die Seelen, als wenn keine Körper existirten, trotzdem aber beide so, als wenn eine gegenseitige Einwir- kung stattfände. ** Ob Alles dieses auf Wahrheit be- ruht, steht dahin. Ob ferner der mensch- | ten über prästabilirte Harmonie ergiebt sich, wie uns scheint, sehr klar, dass LEIBNIZ weder zu den Hylozoisten im Allgemeinen, noch zu den Monisten im Besondern gerech- net werden darf. 412 liche Geist jemals dergleichen Erkennt- nisse erlangen und die verborgenen Ursachen der Dinge erforschen wird, das ist ungewiss. Jedenfalls aber nicht durch Experiment und Beobachtung, son- dern nur durch den Geist kann man zu der Erkenntniss kommen, dass eine un- begrenzte Kraft existirt, welche Alles durchdringt und durch Alles hindurch- geht. Welchen Gewinn bringt es, ma- terielle Processe in spirituelle zu ver- wandeln, wenn man weder weiss, was Materie, noch was Geist sei. Nur Eines wissen wir genau, dass unser Geist empfindet und durch sich selbst sich bewegt. Alles Uebrige ist für uns in undurchdringliches Dunkel Ww. 0. Focke, Die Schutzmittel der Pflanzen gegen niedere Pilze. gehüllt, so dass fast alle Gelehrten des Alterthums und der Neuzeit ihr Nicht- wissen offen bekannt haben, und in den ältesten Zeiten wie in der Gegenwart klagen sie über die geringe Feinheit unserer Sinne, über die Schwäche un- seres Geistes und die Kürze unseres Daseins. Wenn aber auch Vieles nicht auf Physiologie und mechanische Gründe zurückgeführt werden kann, so mögen die Naturforscher wenigstens daraus erkennen, dass des Menschen Wissen eine Grenze hat, und dass es unver- zeihlich ist, sich in anmassender Weise, wie es die Materialisten thun, zu rüh- men, dass man in das Innere der Natur eingedrungen sei. Die Schutzmittel der Pflanzen gegen niedere Pilze, Von W. ©. Focke. Die Zerstörung und Zersetzung der organischen Substanz, sowohl der ani- malischen wie der vegetabilischen, wird durch niedere Pilze, insbesondere Spalt- pilze und Schimmelpilze, bewirkt, die wir der Kürze wegen mit dem allge- meinen Namen Fäulnisspilze (einschl. Moderpilze) bezeichnen wollen. Wäh- vend des Lebens, d. h. so lange ein lebhafter Stoffwechsel besteht, sind die Pflanzen gegen die Angriffe dieser all- gegenwärtigen Fäulnissorganismen ge- schützt, aber in den Ruheperioden, wenn die Lebensthätigkeit der Pflanze auf ein Minimum reducirt ist, hört der durch den Vegetationsprocess selbst gebotene Schutz auf. Ebenso sind die älteren Theile der Pflanze, in welchen der nor- male Stoffwechsel allmählig sehr gering geworden ist, wenig befähigt, den Fäul- nisspilzen zu widerstehen. Es fragt sich daher, wie es zugeht, dass die aus- dauernden Pflanzen während der Ruhe- perioden so wenig von den niederen Pilzen angegriffen werden. Den besten Schutz verleiht zunächst eine feste Epidermis, zumal wenn sie durch einen Wachsüberzug gegen das längere Anhaften von Feuchtigkeit ge- sichert ist. Die Wichtigkeit dieses Schu- tzes der Epidermis lässt sich leicht an den nordamerikanischen Opuntien beobach- ten, welche unsere mitteleuropäischen Winter ganz gut ertragen. Haben jedoch die Stengelglieder irgend eine Verletzung erlitten, welche die Oberhaut, wenn auch W. 0. Focke, Die Schutzmittel nur an einer ganz kleinen Stelle, zer- stört hat, so beginnt von dieser Ver- wundung ausgehend, die Fäulniss, welche sich immer weiter ausbreitet und das Stengelglied vernichtet, falls nicht schon vorher wärmeres Wetter den Vegetations- process in der kranken Pflanze wieder eingeleitet hat, durch den dann eine Abgrenzung zu Stande kommt. Das gewöhnlichste Schutzmittel der höheren Pflanzen, insbesondere auch der Holzgewächse, ist die Korkbildung in der Rinde. Da die Stämme der Bäume durch Dickenwachsthum an Umfang zu- nehmen, so wird die bisherige Rinde zu eng für sie und reisst auf. Bei Platanus wird sie einfach abgeworfen, bei den meisten Bäumen bleibt aber die trockene nicht mehr von Innen her ernährte Borke dem Stamme aufgelagert. Die Korksubstanz an und für sich ist ausserordentlich widerstandsfähig und wird selbst in abgestorbenem Zustande nur sehr langsam von den Pilzen zer- stört. Es zeigt sich aber, dass die Baum- rinden ziemlich allgemeine chemische Substanzen eingelagert enthalten, welche für die niederen Organismen als Gifte wirken. Am meisten verbreitet sind in den Rinden das Tannin und die dem- ‚selben nahestehenden sonstigen Gerb- stoffe. In sehr vielen Rinden gesellen sich aber noch wirksame Bitterstoffe und Alkaloide hinzu, z. B. Salicin, Pinipikrin, Quereitrin, Aesculin, Chinin, Ariein, Strychnin, Bebirin u. s. w. Auch die ungemein schwer zersetzbaren Wachs- * ERASMUS DARWINn, der, soviel bekannt, zuerst auf, den Nutzen der Giftstoffe und ätherischen Oele als Schutzmittel der Pflanzen gegen die Angriffe der Thiere aufmerksam gemacht hat (vgl. E. Krause, Erasmus Darwin, Leipzig 1880, S. 178), vermuthete einen ähnlichen Nutzen von den physiologisch weniger wirksamen Farb- und Gerbstoffen der finden und Wurzeln. Die Schilderung der Färberröthe in seinem „botanischen Garten“ veranlasste ihn zu der Bemerkung: „Die fär- benden Bestandtheile der Pflanzen, sowie auch diejenigen, deren wir uns zum Gerben, zu Firnissen und zu verschiedenen medizi- der Pflanzen gegen niedere Pilze. 413 arten kommen in den Rinden vor; in einzelnen Fällen sogar ätherische Oele (z. B. bei Lauraceen). Da alle solche wirksamen Stoffe im Holze oder in den einjährigen Blättern verhältnissmässie selten angetroffen werden, ist ihre all- gemeine Verbreitung in den Rinden um so bemerkenswerther. Den gleichen Schutz wie die Stämme bedürfen auch die unterirdischen Pflan- zentheile. Namentlich Sumpfpflanzen, die in einem in steter Zersetzung be- griffenen Boden wachsen, würden im Winter ohne einen besonderen Schutz der Fäulniss anheimfallen. Alle Pflanzen, deren Organisation sie nicht gegen die Einflüsse des Sumpfbodens sichert, gehen in demselben zu Grunde, auch wenn sie nur im Winter, also ausserhalb der Vege- tationsperiode, hineingesetzt werden. Auch bei den Sumpfpflanzen ist es theils die feste Epidermis, die ihre unter- irdischen Theile vor Zersetzung schützt, theils sind es Gerbstoffe (z. B. bei Almus, Comarum, Sanguisorba) oder Bitterstoffe (Menyantlıes) oder ätherische und aro- matische Substanzen (Valeriana, Acorus), oder Alkaloide (Cicuta) oder scharfe Stoffe (Frrangula, Ranunculaceen). Aber auch bei Gewächsen, die nicht im Sumpfe leben, finden sich in den unterirdischen Organen häufig fäulnisswidrige Stoffe, wie Tannin, Saponin, Phloridzin u. s. w. Auch die gegen thierische Parasiten so wirksamen Substanzen der Farnrhizome und Pumnica-Wurzeln gehören dahin.* Ferner sind auch die immergrünen nischen Zwecken bedienen, scheinen dem Leben der Pflanzen nicht wesentlich zu sein, aber sie scheinen ihnen als Vertheidigungsmittel gegen die Angriffe von Insekten und andern Thieren zu dienen, denen diese Stoffe ekel- haft oder widerwärtig sind.“ Seine scharf- sinnige, wenn auch in diesem Falle vielleicht nicht das Richtige treffende Art über den Selbstzweck der chemischen Bestandtheile der Pflanzen zu speculiren, ging so weit, dass er von stachlichen Pflanzen, die sich durch ihre Stacheln schon genugsam schützen, annahm, sie könnten weiter keine schädlichen Bestandtheile enthalten, und in diesem Sinne 414 Blätter in gleicher Weise wie Holz und unterirdische Organe des Schutzes be- dürftie. Es kommt bei ihnen jedoch noch ein anderer Umstand in Betracht. Es würde in den gemässigten Klimaten kein grösserer Strauch seine Blätter im Winter behalten können, wenn diese Blätter für pflanzenfressende Thiere ge- niessbar wären. Die höheren immer- grünen Gewächse bedürfen daher eines Schutzes gegen die Thiere. Ulex und Ruscus bestehen fast ganz aus stachligen Zweigen, Smilax und die immergrünen Arten von Rubus und Rosa haben Stacheln auf den Blattnerven; Juniperus, Ilex, Mahonia, Quercus ilex, Prumus ilieifolia haben feste stachlige Blätter. Das Laub von Taxus, Thuja, Ledum, Rhododendron, Nerium, Laurocerasus ist giftig; die Ge- niessbarkeit der Pinus- und Abies-Nadeln, der Blätter von Zaurus, Hedera und Buxus ist wenigstens eine sehr be- schränkte. Nur die massenhaft auf- tretenden niedrigen Sträucher (Vacei- nium, Calluna, Erica, Arctostaphylos), die vielfach von Laub und Schnee verschüttet werden, bieten in ihren Blättern und Zweigspitzen den Thieren noch Nahrung dar. Die Blätter, welche gegen den Zahn der Thiere in irgend einer Weise ge- schützt sind, bedürfen aber noch eines Schutzes gegen die Pilze. Bei den gif- tigen Arten gewährt der Giftstoff selbst auch diesen Schutz. Bei /lex ist es die feste glänzende Epidermis, welche die Blattsubstanz schützt, muthmasslich wir- ken aber auch chemische Stoffe mit; die Ericeen-Blätter enthalten Gerbstoff. Unter den Früchten der Pflanzen sind die saftigen bestimmt, von Thieren gefressen zu werden, welche als Gegen- schrieb er: „In Zeiten grosser Hungersnoth giebt es noch andere Vegetabilien, welche, wenn sie auch nicht allgemein zum Genuss gebräuchlich sind, doch eine sehr gesunde Nahrung geben könnten, wenn man sie entweder kochte, oder sie trocknete und mahlte, oder durch beide Prozesse, die man auf einander folgen liesse. Von dieser Art sind vielleicht W. 0. Focke, Die Schutzmittel der Pflanzen gegen niedere Pilze. dienst die Ausstreuung der Samenkör- ner vermitteln. Es ist daher zugleich nützlich für die Pflanze, wenn ihre Früchte besonders werthvoll für die Thiere sind. Im Herbste findet sich ein Ueberfluss von Früchten, aber die besten und schmackhaftesten sind dem baldi- gen Verderben ausgesetzt. Es ist da- her ein Vortheil für die Thiere, insbe- sondere für die Vögel, und somit auch für die betreffende Pflanze selbst, wenn einige Früchte, sei es auch auf Kosten des Wohlgeschmacks, recht haltbar, d.h. widerstandsfähig gegen die Fäulnisspilze sind. Es ist dies z. B. der Fall bei den Beeren von Juniperus, Taxus, Ilex, Vibur- num, Vaceinium witis Idaea. Die Halt- barkeit dieser Früchte scheint wiederum theils durch die feste Epidermis, theils durch chemische Substanzen bedingt zu sein, so bei Juniperus durch das äthe- rische Oel, bei Vaccinium vitis JIdaea angeblich durch Benzo&säure. Die He- ddera-Beeren reifen erst während des Winters. Endlich bedürfen auch die Samen, welche grossentheils während des Win- ters in oder auf der Erde ruhen, eines Schutzes gegen die Pilze. Dieser Schutz wird ihnen ebenfalls entweder nur durch die Oberhaut, oder auch durch chemi- sche Substanzen gewährt. Es mag sein, dass die Samengifte zum Theil den Zweck haben, Thiere vom Verzehren ab- zuhalten; es gibt aber auch viele Sa- men, welche nicht giftige, sondern nur fäulnisswidrige Substanzen enthalten, z. B. die aromatischen Samen der Um- belliferen und anderer Gewächse. Auch das fette Oel, welches so häufig in Samen vorkommt, ist vielleicht als Schutzmittel ebenso werthvoll wie als Nährstoff. Das die Sprossen und die Rinde von allen den- jenigen Pflanzen, die mit Dornen bewaffnet sind, z. B. Stachelbeeren, Hülsen (Ilex aqui- Folium), Stachelpfriemen (Ulex europaeus) und vielleicht Hagedorn.“ (Zoonomie, deutsch von BRANDISs, Hannover. 1799, S. 24 des dritten Theils vom 2. Bande.) BE, W. 0. Focke, Die Schutzmittel der Pflanzen gegen niedere Pilze. Oel sowohl als die Samenschale verhin- dern bei niederen Temperaturen die Was- seraufnahme, ohne welche der trockene Same von Fäulnisspilzen nicht ange- griffen werden kann. Ueberblickt man die Pflanzenpro- dukte, welche wirksame chemische Stoffe liefern, so wird man finden, dass es vorzugsweise Rinden, Wurzeln und Sa- men sind. Die Gerbstoffe, Bitterstoffe, Alkaloide und giftigen Substanzen wer- den grösstentheils aus diesen Organen gewonnen. Die Blätter, welche solche wirksame Stoffe liefern, sind meistens immergrün. Allerdings gibt es auch gif- tige Kräuter (Solaneen, Araceen, Per- sonaten) und einzelne giftige Sträucher (Apocyneen, Anacardiaceen), welche durch diese Eigenschaft Schutz gegen den Zahn der Thiere erlangen. Die ätherischen Oele dienen ferner bei vie- len Gewächsen (Labiaten, Rutaceen, Myrtaceen, einigen Geraniaceen u. s. w.) als Schutzmittel gegen Sonnenbrand, in- dem sie bei Wasserarmuth des Bodens durch ihr Verdunsten die Temperatur erniedrigen.* Aber ‚abgesehen von die- sen besonderen Fällen sind die chemisch differenten Substanzen nicht häufig im Laub der sommergrünen Gewächse oder im Holze zu finden. Und doch ist offen- bar auch ein Schutz des Holzes ge- gen Fäulnisspilze keineswegs überflüssig. Durch mechanische Verletzungen, ab- sterbende Aeste u. s. w. entstehen an Bäumen sehr oft Wunden, von welchen aus die Fäulniss in das Innere des Bau- * TyNnDALL hat ausserdem darauf auf- merksam gemacht, dass die ätherischen Oele die Luft, wenn sie derselben auch nur in ge- ringen Mengen beigemischt sind, ihrer Dia- thermansie in ausserordentlichem Grade be- rauben, so dass die Duftwolke, welche sich über eine mit riechenden Pflanzen bestandene dürre Gegend ausbreitet, diese vor dem Aus- gedörrtwerden durch die Sonnenstrahlen eben- so schützt, wie vor der nächtlichen Aus- strablung. Luft, welche durch einfaches Durch- strömen eines mit dem betreffenden ätheri- schen Oele getränkten Pappceylinders mit den 415 mes eindringen kann. Wir sehen dess- halb oft genug das Holz im Innern der lebenden Bäume zerstört werden. Es ist daher auch ein Vortheil, wenn das Holz durch seine ‚feste Textur, oder durch Wachs, oder durch fäulnisswidrige Sub- stanzen (Camphor, Quassiin, Berberin, Columbin) gegen .die Angriffe der Pilze geschützt ist. Die grosse Mannichfaltigkeit der chemischen Verbindungen, welche die Pflanzen offenbar nicht für ihr eigenes Wachsthum verwenden, sondern als Schutzmittel gegen Sonnenbrand, nie- dere Pilze oder Thiere in ihren Geweben aufspeichern, ist gewiss überraschend. Schon bei den Lebermoosen treffen wir auf differente Stoffe, die übrigens weder ihrer chemischen Natur noch ihrer bio- logischen Bedeutung nach näher bekannt sind. Bei den Farn sind nur die unter- irdischen Stämme mit wirksamen Stoffen ausgestattet. Unter den monokotyli- schen Gewächsen sind es nur einige Gruppen, und zwar solche, die auch in ihren Blättern (Araceen) oder Blüthen (Melanthaceen, Liliaceen) eine höhere Organisation zeigen, bei welchen sich scharfe Gifte oder Alkaloide oder aro- matische Substanzen (wie bei Zingiber und Acorus) finden. Unter den Coni- feren und Dikotyledonen sind die diffe- renten Substanzen bei ausdauernden Arten ungemein verbreitet. Auf die Farbstoffe und Geruchstoffe der Blüthen und Früchte ist in obiger Darstellung keine Rücksicht genommen, Dämpfen desselben einigermaassen beladen war, verschluckte sofort das Vielfache der Wärmemenge, welche reine Luft absorbirt. Diese sehr ansehnlichen Zahlen, welche sich sofort in den Ausschlägen der Galvanometer- Nadel markirten, betrugen bei den Dämpfen des Rosenöls das 36fache, des Wermuthöls das 41fache, des Neroli-, Zimmt-, Citronen-, Rosmarin-, Kamillen-, Cassia- und Anisöls, resp. das 47, 53, 65, 74, 87, 109 und 352- fick der Absorption reiner atmosphärischer Luft. 416 da diese Substanzen nicht als Schutz- mittel dienen, sondern nur die Anlock- ung von Thieren bezwecken. Es verdient noch hervorgehoben zu werden, dass Pflanzen, welche differente Substanzen erzeugen, in Gegenden hei- misch werden können, in welchen ihnen jene Substanzen entbehrlich sind. La- biaten und Rutaceen, die ursprünglich wärmeren Klimaten angehören, produ- eiren noch ätherische Oele, wenn sie auch in Nord- und Mitteleuropa wach- sen, wo sie besonderer Schutzmittel ge- Hörnes, Die Entfaltung des Megalodus-Stammes gen den Sonnenbrand nicht mehr be- dürfen. So ist vielleicht auch das Aroma der Myrica-Blätter ein Erbtheil aus einer früheren Epoche. Ein näheres Nachdenken über die hier beleuchteten Thatsachen wird sicher- lich ergeben, dass der wirkliche Sach- verhalt im Grossen und Ganzen richtig dargestellt sein muss. Im Einzelnen in- dess sind noch zahllose Beobachtungen erforderlich, um die wahre Bedeutung jeder besonderen Erscheinung klar zu stellen. Die Entfaltung des Megalodus-Stammes in den jüngeren mesozoischen Formationen. Von Prof. Hörnes in Graz. Hierzu Taf. VII, VII. In den obersten Gliedern der alpi- nen Triasformation, zumal im Dachstein- kalk spielen grosse, dickschalige Bival- ven durch ihr häufiges Auftreten eine so hervorragende Rolle, dass man sie geradezu »Dachsteinbivalven< genannt hat. Seit dem Erscheinen von C. W. Günmsgev's trefflicher Schrift: »Die Dach- steinbivalve (Megalodon triqueter) und ihre alpinen Verwandten« (Sitzungsbe- richte der k. k. Akademie der Wissen- schaften zu Wien (Bd. XLV, pag. 362), weiss man, dass diese Formen auf das engste mit Megalodus eucullatus GOLDF. aus der oberen Abtheilung des mittel- devonischen Eiflerkalkes verwandt sind. Ich habe in meinen im Jahre 1880 ver- öffentlichten >Materialien zu einer Mo- nographie der Gattung Megaloduss ge- zeigt, dass Sroppanı im Rechte war, als er die Verschiedenheit des 1793 von WvuurEen in seiner »Abhandlung vom Kärnten’schen pfauenschweifigen Hel- mintholith oder dem opalisirenden Mu- schelmarmor« abgebildeten Cardium tri- quetrum und des Megalodon triqueter Gümg. behauptete, und dem letzteren den Namen Megalodus Gümbeli beilegte. (Vergleiche diesbezüglich: A. Storrant: »Pal&ontologie Lombarde. Appendice: Sur les grandes bivalves cardiformes aux limites superieures et inferieures de la zone A Avieula contorta.<) In die- ser Arbeit habe ich zunächst eine kri- tische Erörterung der bis nun bekannt gewordenen Megalodus-Formen veröffent- Kosmos Bi Taf VI. Inn PER D BAD ” JE ey Inn A (ngmos Bi X (1881) N # fl “ Ch 4 MH N SS SS PrsS N GUG= SEN zen =__. Megalodus chamaeformis Schloth.ep. ® NZ ’ -—— Megalodius complanatus Gumb, Pachyrisma "grande Morris & Iyeett. Diceras Lucii. Diceras arietina Lamk. TafvM Kosmos Bd.X. (1881) r AZ 2 2, aD N / v Aguilloni- d’Orb. SR IS N ER SS Caprina in den jüngeren mesozoischen Formationen. licht und sodann eine Reihe neuer, aus den Triasbildungen der Südalpen stam- mender Formen beschrieben. Ueber die Verwandtschaftsbeziehun- gen der triadischen Megalodonten be- merkte ich damals, dass ich den Aus- führungen Günmser’s, nach welchen die Dachsteinbivalven der Trias als Ver- wandte des paläozoischen Genus Me- galodus aufzufassen sind, entschieden beipflichte und war bemüht, diese An- sicht auch durch Vergleich des Schloss- apparates der neu geschilderten Arten (Megalodus Tofanae, Damesi etc.) mit jenem des Megalodus cucullatus als rich- tig zu erweisen. Ich werde hierauf noch unten zurückkommen. Ueber die Verwandtschaft der tria- dischen Dachsteinbivalven mit geologisch Jüngeren Formen konnte ich mich nicht eingehend verbreiten, ich musste mich darauf beschränken, ohne nähere Be- gründung folgende Worte auszusprechen: »Meiner Ueberzeugung nach sind die Genera: Megalodus, Dicerocardium, Pachy- risma, Diceras, Caprina, Caprotina, Hip- purites, Radiolites u. s. f. einander nicht nur in der Hinsicht ähnlich, dass sie vorwaltend grosse, dickschalige, mit un- gewöhnlich kräftigem Schloss- und Mus- kel-Apparat ausgestattete Formen um- fassen, welche fast alle durch ihr ge- selliges Auftreten in mächtigen Kalk- massen, die wohl als isopische Bildungen sehr verschiedener Etagen zu betrachten sind, unsere Aufmerksamkeit erregen; sondern es liegt dieser Aehnlichkeit und diesem Auftreten unter analogen Ver- hältnissen wohl auch unmittelbare gene- tische Verwandtschaft zu Grunde. « »QUENSTEDT stellt in seinem Hand- buche der Petrefactenkunde (zweite Auf- lage, pag. 632) folgende Gattungen in die neunte Familie »Chamaceen«: Tri- dacna, Isocardia, Megalodon, Pachyrisma, * In sämmtlichen Figuren erscheinen die gleichen Bezeichnungen angewandt: M — WVorderer Muskeleindruck. Z —= Vorderer Schlosszahn. Kosmos, V. Jahrgang (Bd. X). ‚417 Chama, Diceras, Caprotina, Caprina, Hip- purites, Radiolite.. Ohne bezüglich aller dieser Formen behaupten zu wollen, dass sie wirklich einem und demselben Stamme der Pelecypoden angehören, ist dies doch bei den meisten der angeführten Gat- tungen im höchsten Grade wahrschein- lich, und darf die Qusxstepr’sche Zu- sammenfassung zu einer Familie wohl als eine glückliche bezeichnet werden. « Ich beabsichtige nun, durch Erörte- rung des Schloss- und Muskel-Apparates der einzelnen Formen für diese Behaup- tung Beweise zu bringen, so weit dies die unvollständige paläontologische Ue- berlieferung überhaupt gestattet. Ehe ich jedoch auf die Discussion der jüngeren Formen eingehe, muss ich zu der geologisch ältesten Type des ge- sammten Stammes, zu dem mitteldevo- nischen Megalodus cucullatus (Taf. VII, Fig. 1)* zurückkehren. Diese Skizzen wurden nach Exem- plaren des k. k. Hof - Mineralien - Ka- binets in Wien entworfen, nachdem die meisten Darstellungen des Megalo- dus cucullatus, namentlich hinsichtlich der Schlossdetails, an Ungenauigkeit lei- den. Megalodus cucullatus ist, sowohl was die äussere Gestalt, als auch was die Details des inneren Baues anlangt, manchen Variationen unterworfen, so dass man eine ähnliche Vielgestaltigkeit annehmen darf, wie sie an seinen jün- geren Verwandten im Dachsteinkalk zu beobachten ist. Die Grundzüge des Schlossbaues bleiben jedoch constant. Zunächst fällt uns die starke Isolirung der Wirbel und die überaus kräftig ent- wickelte Schlossplatte auf. Betrachten wir zunächst das Schloss der linken Klappe (Fig. 1a), so bemerken wir rück- wärts eine schmale, ebene Fläche, und davor den durch eine seichte Furche ge- theilten, etwas gekrümmten kräftigen Ay — Vordere Zahngrube. Mı == Hinterer Muskeleindruck. Zı — Hinterer Schlosszahn. @ı — Hintere Zahngrube. 27 418 Hauptzahn (Zı), vor diesem findet sich eine tiefe Grube (Gı), welche bei zu- sammengelegten Klappen den Hauptzahn der rechten Schale aufnimmt. An der Vorderseite steht ein kleinerer Zahn (Z) über einer Grube (G), welche für den vorderen Zahn der rechten Klappe vor- | handen ist. Ganz vorne liegt in der- selben Höhe mit den Schlosszähnen und tief in die Schlossplatte selbst einge- senkt der halbmondförmige vordere Mus- keleindruck (M), während der Ansatz des hinteren Muskels (Mı) auf einer langen, an der Hinterseite des Gehäuses sich erhebenden Leiste Platz findet. — | sichtlich der von mir aus dem Ampez- Wenden wir uns nun zu dem Bau des | Schlosses der rechten Klappe, so be- merken wir, wenn wir gleichfalls die Betrachtung der Schlossplatte von rück- wärts beginnen, zuerst einen schmalen ebenen Theil, vor welchem die tiefe Grube (Gı) liegt, welche den Hauptzahn | der linken Klappe aufzunehmen bestimmt ist. vor diesem, durch eine kleine Furche getrennt, am unteren Theile der Schloss- platte der kleinere Vorderzahn (Z), über welchem die kleine Grube (@) für den Vorderzahn der linken Klappe sich fin- det. Der ganz vorne befindliche, vor- dere Muskeleindruck zeigt gleiche Lage und Gestalt mit jenem der linken Klappe, gleiches gilt von der wenig erhabenen Längsleiste, welche den hinteren Muskel- eindruck trägt. — Das gegenseitige In- einandergreifen der beiden Klappen ist sonach hinreichend klar, und zu be- merken wäre nur, dass die Gestaltung der kleinen vorderen Seitenzähne bei verschiedenen Exemplaren eine ziemlich verschiedene ist, indem kleinere Höcker | und warzenartige Erhebungen den Sei- tenzahn zu compliciren pflegen, während der grosse Schlosszahn in seiner längs- getheilten Gestalt ziemlich constant zu sein scheint. Die Uebereinstimmung dieses inneren Baues des Megalodus cucullatus mit je- Vor dieser Grube liegt der Haupt- schlosszahn der rechten Klappe (Zı) und | Hörnes, Die Entfaltung des Megalodus-Stammes nem der triadischen Megalodonten ist nun zwar keine bis in die kleinsten De- tails genaue, doch ist Gestalt und Lage der Muskeleindrücke, Entwickelung einer gewaltigen Schlossplatte und auch der Typus der Zahnbildung bei beiden in einer Weise analog, dass man wohl der von GÜMBEL vorgenommenen Vereinigung der Dachsteinbivalven mit der Gattung Megalodus beipflichten kann. Es ist je- doch Megalodus Gümbeli Store. (= Mey. triqueter Güme. non Wurr.) in seinem Schlossbau dem M. cueullatus aus dem Mitteldevon unähnlicher, als dies hin- zaner Dachsteinkalk beschriebenen For- men M. Damesi (Taf. VII, Fig. 2) und M. Tofanae der Fall ist. Ich wähle da- her den Schlossbau der erst erwähnten Art zum Ausgangspunkt der Vergleichung. Wir bemerken eine mächtig ent- wickelte Schlossplatte, rückwärts von einer scharfbegrenzten Area, vorn von einer tiefen und breiten, ebenfalls wohl contourirten Lunula umgeben. Der hin- tere Theil der Schlossplatte wird von einer ebenen Fläche gebildet, welche viel breiter ist, als der entsprechende Theil der Schlossplatte des Megalodus cucullatus. Unter dieser flachen Aus- breitung ragt der Zapfen des Steinker- nes weit gegen den Wirbel vor, wäh- rend der vordere Theil der Schlossplatte, der sich bedeutend herabsenkt, durch eine enorme Verdickung der Schale ge- bildet wird. Ueber der Schlossplatte und unter dem herabgekrümmten Wirbel bemerken wir eine dreieckige Fläche (Z), welche dem Ansatz des Schlossbandes entspricht. — In der linken Klappe (Fig. 2a) bemerken wir eine mächtige Entwickelung des vorderen Zahnes (Z), während der hintere (Zı) weitaus schwä- cher entwickelt ist. — Die Grube (Gı) für den Hinterzahn der rechten Klappe ist breit und tief — jene für den vor- deren Zahn (G) liegt oberhalb des eige- nen Zahnes (Z) — also umgekehrt, wie bei Meg. cueullatus, wo in dieser Klappe in den jüngeren mesozoischen Formationen. der vordere Seitenzahn oben, die Grube unten liegt. der rechten Klappe (Fig. 25) ein ziem- lich wickelt. — Der vordere tiefe halbmond- förmige Muskeleindruck (M) stimmt in Gestalt und Lage ganz mit jenem von Meg. cucullatus überein. (wie andere Exemplare lehren) vom hin- teren Muskeleindruck. Bei Ueberein- stimmung in Lage und Gestalt der Schliessmuskel und der Hauptschloss- | zähne kann man wohl von der Beach- | tung der Verschiedenheit in der Lage der vorderen Seitenzähne absehen, oder in ihr wenigstens kein trennendes Merk- mal erblicken; zumal die Gestaltung der | vorderen Seitenzähne bei den triadischen Megalodonten den grössten Variationen unterliegt. Ich habe in den »Materia- lien zu einer Monographie der Gattung Megalodus« ausführlich erörtert, welch’ ausserordentliche Variabilität im Schloss- bau, insbesondere der überaus dick- schaligen Formen des Ampezzaner Dach- steinkalkes zu beobachten ist. Ich beschränke mich darauf, auf die Skizze des Schlosses einer rechten Klappe | des Megalodus Tofanae hinzuweisen (Taf. VII, Fig. 3), um die ganz enorme ver- tikale Ausbreitung der Schlossplatte, die übermässige Entwickelung des Haupt- schlosszahnes (Zı) und die Rückbildung des vorderen Zahnes (Z) ersichtlich zu machen. Jene Megalodus-Formen aus dem Dachsteinkalk des Echernthales bei Hall- statt und von Elbigenalp im Lechthale, welche GümBEL mit WuLrEn’s Cardium triquetrum identifizirte, und als Mega- lodon triqueter beschrieb, besitzen eine | schwächere Schlossplatte als die Formen des Ampezzaner Dachsteinkalkes, die oben besprochen wurden. Aber diese nordalpinen, von Günser ausführlich geschilderten Typen, welchen Srorranı | später den Namen Megalodus Gümbelüi (Taf. VII, Fig. 4) gab, da sie in der Dem entsprechend ist in starker Vorderzahn (Z) vor und über der ersten Zahngrube (G) ent- Gleiches gilt | 419 That von der Wurren’schen Art ver- schieden sind, besitzen noch manche be- merkenswertheModificationenim Schloss- bau. Betrachten wir die linke Klappe je- nes Exemplares, welches GÜMBEL aus dem Bernhardsthale bei Elbigenalp zur Abbildung brachte (Fig. 4a), so sehen wir, dass die Muskeleindrücke dieselbe ı Lage und Gestalt besitzen, wie bei den bisher vorgeführten Megalodus-Formen. Die Ligamentfläche (Z) ist um vieles niedriger und länger, als dies bei M. Damesi oder Tofanae der Fall ist. Der hintere Schlosszahn (Z) ist so sehr re- ducirt, dass er kaum hervortritt, son- dern nur eine schwache, wulstartige Be- grenzung der Grube (@ 1) für den Haupt- schlosszahn der rechten Klappe bildet. Der vordere Zahn Z ist kräftig ent- wickelt und durch eine ziemlich tiefe Grube getheilt. In der rechten Klappe (b) sehen wir die hintere Grube (Gı) sehr schwach angedeutet, der vorliegende Hauptschlosszahn (Zı) ist sehr stark | entwickelt, die vordere Grube (@) zur Aufnahme des getheilten Vorderzahnes der linken Klappe getheilt durch eine ı Leiste, welche wir als vorderen Zahn | ansprechen können. | In ganz ähnlicher Weise ist das Schloss des Megalodus Gümbelii aus dem Echernthal ausgebildet — es sind nur ganz untergeordnete Unterschiede, die etwa namhaft gemacht werden könnten. Die Schlossplatte scheint bei den vom Dachsteingebirge stammenden Klappen noch etwas schwächer, die Theilung des vorderen Zahnes der linken Klappe noch vollständiger zu sein, als an den Scha- len von Elbigenalp. Noch weiter von den Verhältnissen, die wir an den Ampezzaner Formen be- trachteten, entfernt sich Megalodus com- planatus Güms. (Taf. VII, Fig. 5); eine Form, welche durch flache Gestalt, sehr schwache Schlossplatte und wenig ver- ‚ tieften, runden vorderen Muskeleindruck von den bisher vorgeführten Megalodus- 27* 420 Formen wesentlich abweicht. Ein Blick | auf die Skizze des Schlosses der linken Klappe dieses aus dem Hauptdolomit von Clusone in den lombardischen Al- pen stammenden Megalodus zeigt diese Verhältnisse. Die Ligamentfläche ist hier sehr nie- drig und lang gestreckt, die hintere, ebene Fläche der Schlossplatte lang und schmal, die Hervorragung des hinteren Schlosszahnes (Zı) kaum durch die da- vor liegende Grube (Gı) für den Haupt- schlosszahn der rechten Klappe markirt. Die Theilung des vorderen Schlosszahnes (Z) ist wohl ausgeprägt, die vor dem- selben liegende Grube (G@) deutet auf einen entsprechenden, ziemlich stark entwickelten vorderen Seitenzahn. Der vordere Muskeleindruck (M) ist, wie be- reits bemerkt, seicht und breit, von rundlichem Umriss. Die geschilderten, weitgehenden Ver- schiedenheiten im Schlossbau werden uns jedoch kaum veranlassen, die betreffen- den Formen verschiedenen Gattungen zuzuweisen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Mannigfaltigkeit der triadischen Megalodonten eine noch um vieles be- deutendere ist. Wir kennen derzeit eine ziemliche Zahl derselben, die theilweise einen recht eigenthümlichen Umriss be- sitzen, nur hinsichtlich der Aussenseite der Schale (so Megalodus columbellaM. Hoxrn., M. Buchi Kuıpsr. sp., M. minutus Kuıpst. Sp., M. rimosus Msır. sp., M. rostratus Msır. sp., M. cassianus R. Hourn., M. scu- tatus SCHAFH., M. Stoppaniü R. HoERNn.); andere wieder sind uns nur in schlecht- erhaltenen Steinkernen bekannt, die keine sichere Deutung zulassen (so Me- galodus trigueter Wuur. sp. und Megalodus Haueri R. Hoxrn.). Von Oonchodon infra- liassicus Store. kennt man bis nun nur sehr problematische Ergänzungen, welche lediglich zu dem Schluss berechtigen, dass diese Form zu Megalodus zu stellen sei, aber keine sichere Vorstellung des gewiss ziemlich eigenthümlichen Schloss- baues gewinnen lassen. So ungenügend Hörnes, Die Entfaltung des Megalodus-Stammes aber die Kenntniss aller dieser Formen derzeit noch ist, über ihre Zusammen- gehörigkeitim Grossen und Ganzen kann kein Zweifel bestehen. Höchstens hin- sichtlich der oben angeführten kleinen Formen von St. Cassian, welche Krır- STEIN und Münster als Isocardien be- schrieben haben, wird vielleicht der noch unbekannte Schlossbau dahin aufklären, dass sie zu anderen Gattungen zu stellen sind, ihr äusserer Umriss zwingt uns, sie vorläufig zu Megalodus zu stellen. GüngEL hat in seiner Monographie der Dachstein-Bivalve für die triadischen Formen der Gattung Megalodus die Bil- dung einer Untergattung vorgeschlagen, welche er Neomegalodon nannte, während er die devonische Stammform M. cucul- latus dem Subgenus Erumegalodon und eine später zu erörternde Form, welche v. SCHLOTHEIM als Buccardites chamae- formis vom Podpetsch bei Laibach be- schrieb, dem Subgenus Pachymegalodon zuwies. Diese Zusammenfassung ist nicht unzweckmässig, doch sei gleich an dieser Stelle bemerkt, dass die letzterwähnte, wohl aus liasischen Schichten stammende Form so sehr an Pachyrisma Morris et Lycerr erinnert, dass man sich versucht fühlt, diese Gattung anstatt des Subgenus Pachymegalodon zu substituiren. Doch auf diese Verhältnisse komme ich unten ausführlicher zurück... Ich habe nur noch hinsichtlich der triadischen Entwickelung des Megalodus-Stammes zu erwähnen, dass in der oberen Trias der Alpen neben den regulär gestalteten Megalodonten mit wenig ungleichen Schalen und mässig eingekrümmten Wirbeln unregelmässig gestaltete Formen, mit sehr ungleichen Klappen und stark gedrehten Wirbeln auftreten, für welche die Gattung Dicero- cardium errichtet wurde (Dicerocardium Wulfeni Hav., Dic. Jani Stopr., Dice. Ragazzonii Srorr., Die. Ourionii Storr.). Diese Formen, welche theilweise durch die abenteuerliche Windung ihrer Wirbel gewisse jurassische Diceraten (vergl. Diceras arietina) vorbilden, sind andrer- in den jüngeren mesozoischen Formationen, seits durch Uebergangsformen so innig | mit den typischen Megalodus-Formen verbunden, dass man mit einiger Sicher- heit die oben namhaft gemachten Di- cerocardien als einen triadischen Seiten- zweig des Megalodus-Stammes bezeich- nen darf. Eine direkte Verwandtschaft der Dicerocardien mit den aberranten Formen der Jura- und Kreide-Periode dürfte kaum anzunehmen sein. In der Juraformation treten eine Reihe dickschaliger Bivalven in ver- schiedenen Horizonten auf, welche mit Sicherheit als von den triadischen Me- galodonten abstammend betrachtet, wer- den können. Da ist zunächst Mega- lodus pumilus aus dem Lias zu erwähnen, eine Form, welche sich den triadischen Megalodonten so nahe anschliesst, dass GümgBEL sie geradezu als eine Varietät seines Meyalodus triqueter betrachtete. Eine noch interessantere Type ist Me- galodus chamaeformis (Taf. VII, Fig. 6) SCHLOTH. SP., von SCHLOTHEIM zuerst als Buccardites beschrieben, von GÜMBEL als Type seiner Untergattung Pachyme- galodon den triadischen Megalodonten angereiht. Betrachten wir die linke Klappe dieser Form, wie sie Fig. 6 darstellt, so bemerken wir im Schloss die auf- fallend starke Entwickelung des vorderen Zahnes(Z), während der rückwärtige(Zı) nur wenig hervortritt. Der vordere Mus- keleindruck (M) ist nicht sehr tief, rund- lich. Der rückwärtige wird hingegen von einer weit in’s Innere der Schale hineinragenden Leiste getragen (Mı), _ welche in ihrer Lage ganz der Muskel- leiste der triadischen Megalodonten ent- spricht, nur stärker hervortritt, und so an die Einrichtung jener Formen ge- mahnt , welche Morkıs und Lycerr Pachyrisma genannt haben, und auf welche wir gleich zu sprechen kom- men. Megalodus chamaeformis SCHLOTH. sp. stammt aus rothstreifigen Kalken vom Podpetsch bei Laibach, welche Güngen als Raiblerschichten (?) be- 421 zeichnet, die indess wahrscheinlich . dem Lias angehören. Aus dem englischen Grossoolithhaben Morris und Lycerr 1850 (Quart. Journ. Geol. Soc. pag. 401) eine grosse dick- schalige Bivalve beschrieben und ihr den Namen Pachyrisma grande (Taf. VII, Fig. 7) gegeben. An dieser Form fällt vor allem die eigenartige Entwickelung des hinteren Muskelansatzes auf. Der- selbe wird von einer starken, ohrförmigen weit ins Innere der Schale hineinragenden Kalkmasse getragen, wie uns ein Blick auf die Figur lehrt. Dieser starke, frei in die Schale ra- gende Muskelträger ist hervorgegangen aus der schon beim devonischen Mega- lodus eucullatus vorhandenen Muskelleiste, welche bereits bei den triadischen Me- galodonten viel stärker entwickelt auf- tritt, und bei Megalodus chamaeformis eine Entwickelung aufweist, welche nicht sehr weit gegen jene zurückbleibt, die wir eben bei Pachyrisma kennen gelernt hahen. Morrıs und Lyckrr verweisen auch geradezu auf die Verwandtschaft der von ihnen geschilderten Form und der Megalodonten, und bringen für die- selben eine Familie in Vorschlag, welche sie (allerdings sprachlich nicht ganz rich- tig) als Megalonidae bezeichnen wollen. Diese allmälige Entwickelung frei in’s Innere der Schale hineinreichender kalki- ger Stützen zur Anheftung der Muskel ist von grosser Bedeutung. Bei den Rudisten der Kreide, den aberrantesten Formen des ganzen Megalodus-Stammes finden wir die Ausbildung solcher Mus- kelträger am weitesten gediehen. Frei- lich ist es nicht blos der hintere Muskel, der in dieser Weise ausgerüstet wird, auch der vordere setzt sich an weit in das Innere der Schale reichende Fort- sätze. Ueberhaupt ist die innere Ein- richtung durch die abnorme Entwicke- lung und durch die Umgestaltung des ganzen Schlossbaues so verzerrt, dass der Irrthum namhafter Paläontologen, welche in den Rudisten Brachiopoden 422 erkennen zu müssen glaubten, verzeih- lich erscheint, zumal auch die Schalen- structur eine höchst eigenthümliche ist und an manche Verhältnisse der Bra- chiopodenschale erinnert. Doch wir haben uns vorerst mit den noch wenig vom Megalodus-Typus ab- weichenden Formen der oberen jurassi- schen Schichten zu befreunden. An dem Zusammenhang derselben mit dem Me- galodus-Stamm kann kein Zweifel herr- schen. In den oberen Schichten der Juraformation spielt eine Anzahl dick- | schaliger, zumeist mit stark eingerollten Wirbeln versehener Bivalven eine ganz ähnliche Rolle wie die Dachsteinbivalven in den obersten Triasablagerungen der Alpen. Weit verbreitet und in grossem Formenreichthum treten im oberen Jura die Formen der Gattung Diceras auf. Bei näherer Betrachtung erkennen wir ohne Schwierigkeit, dass es sich hier nicht nur um ähnliche, sondern sicher auch um stammverwandte Formen han- delt. Betrachten wir zunächst Diceras Laeii, dessen rechte Klappe (Taf. VII, Fig. 8) darstellt, so sehen wir eine Form, bei welcher die Umgestaltung durch die Einrollung noch nicht sehr weit gediehen ist. Schlossbau und Ein- richtung des Muskelapparates erinnern noch ganz an jene der triadischen Me- galodonten. Wir nehmen zwei starke Schlosszähne: Z und Zı in derselben Stellung wie bei Megalodus wahr, und die Leiste für den Ansatz des hinteren Muskel stimmt ganz und gar mit jener überein, welche wir bei Megalodus kennen gelernt haben, nur dass sie stärker ent- wickelt ist. Bei den Formen mit stark eingerollten Wirbeln (wie z. B. Diceras arietinum Lam.) (Taf. VII, Fig. 9) wird der Vergleich schon etwas schwieriger, und wir müssen, um denselben mit Er- folg durchführen zu können, Jugend- exemplare dieses Diceras, wie sie A. FAYRE glücklicherweise in seinen »Observations sur les Diceras« Geneve 1843 auf Taf. V zur Darstellung bringt, mit den triadi- Hörnes, Die Entfaltung des Megalodus-Stammes schen Megalodonten vergleichen. Fig. 9a stellt die rechte Klappe eines Jugend- exemplares von Diceras arietinum nach Favre dar. Wir sehen einen Schalen- umriss, der jenem einer triadischen Me- galodus- Form vollständig gleicht und auch die Einrichtung des Schlosses und der Muskeleindrücke ist ganz analog. Der hintere Schliessmuskel haftet an einer Leiste, die ganz ähnlich gestaltet ist der- jenigen, welche bei Megalodus triqueter und seinen Verwandten dieselbe Rolle spielt. Die Schlosszähne haben gleich- falls ähnliche Gestalt, nur ist der hintere Schlosszahn (Zı) weitaus stärker ent- wickelt. Betrachten wir die Klappen älterer Individuen, wie sie uns die gleich- falls aus Favere’s Tafeln copirten Figuren b und c darstellen, so bemerken wir zunächst eine gewaltige Umgestaltung des Umrisses durch die weitgehende Einrollung der Wirbel. Der Zahnbau der rechten Klappe wurde bereits oben erörtert — jener der linken veranlasst jedoch zu einigen Bemerkungen. Der hintere Schlosszahn (Zı) ist in der linken Klappe sehr schwach entwickelt, er tritt an der rückseitigen Begrenzung der tiefen Grube (G1) für den ungemein kräftigen hinteren Schlosszahn der rechten Klappe nur ganz unbedeutend hervor. Dafür ist der vordere Zahn (Z) in der linken Klappe sehr stark ausgebildet, er ist durch eine Grube getheilt, welche den vorderen Zahn der rechten Klappe aufzunehmen be- stimmt ist. Es macht sich also im Schlossbau eine bedeutende Asymmetrie zwischen den beiden Klappen geltend, welche auch in der äusseren Gestaltung derselben hervortritt. Schon bei den Megalodonten des Dachsteinkalkes sieht man bei genauerer Beobachtung, dass sie nicht ganz gleichklappig sind. Stets ist eine Klappe ein wenig stärker gewölbt und grösser als die andere. Bei den oberjurassischen Diceraten wird der Un- terschied aber oft sehr beträchtlich und durch die Anheftung der einen Klappe tritt eine hochgradige Umwandlung der in den jüngeren mesozoischen Formationen. Form ein. F. Teıter's folgend, eine solche, stark veränderte Diceras-Form ausden obersten Jura-Bildungen betrachten, um mit ihr die eretacischen Rudisten vergleichen zu können. Die Fig. 10a Tafel VIII zeigt uns die linke angewachsene, die Fig. 105 die rechte freie, deckelartig gebildete Klappe eines Stramberger Diceras nach Tevver’s Abbildung und Schilderung. Die rechte, freie Klappe hat einen wenig hervortretenden Wirbel, im Schloss ist der hintere Zahn (Zı) ausserordentlich kräftig entwickelt, der vordere (Z) da- gegen weitaus schwächer. Der hintere Muskel inserirt sich auf einer breiten, aber ähnlich gestalteten Platte, derrechte in einer dreieckigen Grube vor dem vor- deren Schlosszahn. Die linke, ange- heftete Klappe trägt einen weit ausge- bogenen Wirbel, an welchem die Liga- mentfurche in ähnlicher Weise verläuft, wie dies bei Diceras arietinum der Fall ist. Im Schloss sehen wir nur einen Schlosszahn _(Z) überaus kräftig ent- wickelt — er liegt bei geschlossenen Klappen zwischen den beiden Zähnen der rechten oder Deckelklappe. Rück- wärts ist dann noch deutlich die empor- ragende Leiste wahrzunehmen, an welcher der hintere Muskel sich anheftet (Mı). Solche Diceras-Formen sind in der That in der hochgradigen Umgestalt- ung ihrer Organisation nicht mehr we- sentlich von jenen Bivalven verschieden, welche man in der Kreideformation als ‚Caprotinen und Caprinen kennt und welche meiner Ueberzeugung nach das Bindeglied zwischen dem Megalodus-Di- ceras-Stamm und den Rudisten der Kreideformation darstellen, welche so aberrant gestaltet sind, dass man sie gar nicht als Pelecypoden anerkennen wollte. Wenn wir jedoch eine Caprina mit einem Diceras aus der Gruppe von D. sinistrum vergleichen, müssen wir in Rechnung ziehen, dass bei ersterer die | 423 Wir wollen, dem Beispiele rechte, bei letzterem die linke Klappe angeheftet erscheint. Wir „wählen zur Erörterung der inneren Einrichtung der Caprinen jene Form der alpinen Gosau - Bildungen, welche Zrrren so trefflich geschildert hat. Wir bemerken zunächst, dass Ca- prina, wie dies bereits von TELLER treffend hervorgehoben wurde, in ihrem Schlossbau wie in der Gesammtgestalt des Gehäuses gewissermaassen ein Spie- gelbild der Organisation jenes Diceras darstellt, der durch Anheftung seiner linken Schale hochgradig umgestaltet wurde, während bei Caprina durch An- heftung der rechten Klappe ähnliche Veränderungen bedingt erscheinen. Bekanntlich hat bereits F. v. HAuER in jener Abhandlung, in welcher er die Organisation der Gattung Caprina dar- legte (»Ueber COaprina Partschü«. — Naturwissenschaftliche Abhandlungen, herausgegeben von HAıpınGer, 1. Band, Wien 1847), den Schlossapparat von Caprina mit jenem von Diceras ver- glichen und müssen wir zugeben, dass über die Stellung der Gattung Caprina im zoologischen Systeme heute kein Zweifel mehr besteht, und allgemein die verwandtschaftlichen Beziehungen zu Diceras und Chama anerkannt wer- den. Den ausführlichen Vergleich der Schalenbildung von Diceras und Caprina welchen Fr. TELLER in seiner Arbeit »über neue Rudisten aus der böhmi- schen Kreideformation« (75. Bd. d. Sitzungsber. d. k. k. Akad. d. Wissensch. in Wien, I. Abth., Jahrg. 1877) als er- sten sicheren Nachweis der Ueberein- stimmung der einzelnen, den verwand- ten Gattungen eigenthümlichen Schloss- elemente unternommen hat, können wir nicht als ganz glücklich bezeichnen. Da wir auf denselben erst nach Be- trachtung des Details des Schlossappa- rates der Caprina Aguilloni(Plagioptychus)- (Taf. VIIL, Fig.11)zurückkommen können, wenden wir uns zunächst zu dieser Form. In der rechten angehefteten Klappe be- 424 merken wir eine kräftige Entwickelungdes gestreckten und gedrehten Wirbels, an welchem die Ligamentrinne in ähnlicher Weise hinaufläuft, wie es am Wirbel der linken angehefteten Klappe eines Diceras der Fall ist. Der hintere Hauptzahn (Zı) ist zu einem enorm massigen Gebilde geworden, während der vordere Zahn (Z) nur mehr als Umgrenzung der grossen Grube (@) für den Vorderzahn der linken Klappe dient. Die hintere Grube (Gı1) ist eng und dient zur Aufnahme des kleineren Hin- terzahnes der linken Klappe. satzlamelle des hinterenMuskeleindruckes hat sich unmittelbar an den Zahn (Zı) angeschlossen, noch inniger als dies schon bei manchen Diceras-Formen der Fall war. In der linken freien oder Deckelklappe bemerken wir eine ziem- lich schwache Entwickelung des Hinter- zahnes (Zı), der ja auch bei manchen Megalodus- und Diceras-Formen schwach entwickelt ist und oft noch mehr zu- rücktritt als dies bei Caprina der Fall ist. Der vordere Zahn (Z) ist kräftig ausgebildet, er verbreitert sich zu einem mächtigen Apparat, der nach vorn auch den Ansatz der vorderen Schlussmuskels trägt. Rückwärts schliesst sich an diesen Zahn eine hoch aufragende Lamelle, in welcher wir wohl keinen anderen Apparat zu suchen haben, als jene Leiste, welche bei dem ganzen Megalodonten- Stamme den hinteren Muskeleindruck trägt und schon bei Pachymegaladus und Pachyrisma frei in die Schale hinein- ragt. Bei Caprina trennt diese Kalk- wand, welche eine kräftige Stütze für den Schlosszahn abgibt, eine breite und tiefe Grube von dem übrigen Inneren der Schale. Diese Grube ist sowohl Zahngrube, da in sie der mächtige Zahn (Zı) der rechten Klappe zu liegen kommt, als auch Muskelraum, denn in ihr findet sich auch der Ansatz für den hinteren Schliessmuskel. Wir sehen sonach, dass der Bau des Diceras-Schlosses in jenem einer Caprina wieder zu erkennen ist, Die An- | Hörnes, Die Entfaltung des Megalodus-Stammes obwohl, wie bereits erwähnt, der Um- stand, dass bei Diceraten aus der Gruppe des Diceras sinistrum die linke, bei Caprina die rechte Klappe angeheftet zu sein pflegt, eine Umgestaltung in der Weise bedingt, dass die verschie- denen Klappen beider Formen sich mehr ähneln als die gleich liegenden. TELLER hat, wie oben bereits bemerkt wurde, dies ganz richtig erkannt, doch scheint mir, als ob er sich hiedurch zu allen weitgehenden Folgerungen habe verleiten lassen. Er sagt bei Vergleich- ung des oben erörterten Diceras von Stramberg mit Caprina Haueri folgen- des: »Der Schlossapparat der beiden Öberschalen besteht aus je zwei Zähnen und zwei Muskeleindrücken, welche bei Diceras an einem stark gekrümmten Schlossrand liegen, bei Caprina in einem viel flacheren Bogen angeordnet sind. Von den beiden Schlosszähnen über- wiegt der hintere Zahn bei Diceras stets bedeutend den vorderen, der nur als eine Aufwulstung an dem Vorderrande der Alveole erscheint, bei Caprina sind beide Zähne in der Regel gleichmässig entwickelt und nur bei grossen, dick- schaligen Exemplaren wird der hintere Zahn stärker und breiter und nähert sich etwas der Form des entsprechen- den Zahnes von Diceras. Der Haupt- unterschied der beiden Klappen liegt in der Bildung der Alveolen des unteren Schlosszahnes. Der seichten Vertiefung zwischen Vorder- und Hinterzahn in der Oberschale von Diceras entspricht bei Caprina eine geräumige Kammer, die,, von dem Wohnraum durch ein Septum abgetrennt, mehr als ein Drittel des gesammten Innenraums des Deckels ein- nimmt, und neben dem massigen Schloss- zahn noch den vorderen Muskel beher- bergt. Nichtsdestoweniger lässt sich eine zwischen den beiden Alveolen bestehende Analogie nicht verkennen. Eine allmälige Vergrösserung des unteren Schloss- zahnes musste nicht nur eine Vertiefung der Alveole, sondern auch ein Vorrücken es in den jüngeren mesozoischen Formationen. des oberen Zahnes gegen den vorderen Rand zur Folge haben; durch diese Ver- änderung und die fortschreitende Ver- tiefung der Alveole musste sich der zwischen diesem Zahn und dem hinteren Muskel liegende Alveolarrand allmälig zu einem Septum umbilden, das Zahn- grube und Wohnkammer scheidet und der hintere Muskel wurde in den Alve- olarraum einbezogen. Der Schlossrand wurde durch die Vereinigung mit dem vorderen Zahn verstärkt, und zu dem massigsten Schlosstheil, dem Träger des vorderen Muskels, umgestaltet. Mir scheint diese Darstellung ziem- lich bedenklich. Teuver stellt die Ver- hältnisse der Schlossbildung bei Diceras und Caprina gerade so dar, als ob that- sächlich die beiden Deckelklappen -ein- ander auch genetisch entsprechen wür- den, obwohl er selbst angibt, dass die freie Klappe des von ihm zur Vergleich- ung herangezogenen Diceras die rechte, jene der Caprina aber die linke ist. Es ist jedoch klar, dass man auf diese Weise keine vollständige Analogie der beiden Klappen herauszubringen vermag. Auf die von TELLER angegebene Weise ist die freie Klappe des Diceras gewiss nicht zu jener der Caprina geworden. TELLER führt jedoch auch für die Unter- schale der beiden Gattungen den Ver- gleich durch, und meint: »In den un- teren Klappen sind die Analogieen viel klarer und überzeugender. Der grosse konische Schlosszahn, das auffallendste Merkmal dieser Klappe, ist beiden Gat- tungen gemeinsam, erreicht aber bei | Caprina eine noch viel mächtigere Ent- wickelung. Die mehr oder minder starke Aushöhlung, welche dieser Zahn in der Gattung Diceras zur Aufnahme des vor- deren Zahnes der Oberschale trägt, fin- det sich auch bei Caprina wieder, wird aber hier, der grösseren Selbstständig- keit des Zahnes entsprechend, in ihrer Function durch einen tiefen, scharfbe- gränzten Alveolus unterstützt. dem Zahn liegt bei Diceras eine ge- Hinter | 425 räumige, von der Wohnkammer durch eine schmale Leiste abgetrennte, halb- mondförmige Vertiefung, welche vom (hinteren) Zahn (der Oberklappe) und dem hinteren Muskel ausgefüllt wird. Bei Caprina finden wir an derselben Stelle eine kleine Alveole für den hinteren Zahn der Oberschale und eine breite, über die Wohnkammer vorgeschobene Scheide- wand, auf welcher der kräftige hintere Muskeleindruck liegt. Auch diese auf den ersten Blick so abweichende Bil- dung erklärt sich einfach aus einer Ver- änderung des Zahnapparates.. Nimmt man an, dass sich der mächtige hintere Zahn der rechten Klappe von Diceras allmälig reducirt und auf das Maass des correspondirenden Zahnes von Caprina herabsinkt, so muss sich die geräumige Kammer verkleinern, ihr Boden hebt sich, der hintere Muskeleindruck rückt in demselben Maasse aus der Ebene der Schalenwand in die Mündungsebene und kommt schliesslich wie bei Caprina auf einer Brücke zu liegen, deren Vorder- rand aus der Vereinigung der früher er- wähnten Leiste und der vom Zahn ge- gen den hinteren Muskel laufenden Kante hervorgegangen ist. Der vordere Muskel- eindruck liegt bei beiden Gattungen in der Ebene der Schalenwand.« Mir scheint diese Vergleichung der Unterschalen von Diceras und Caprina noch gezwungener, als jene der Ober- schalen und ich glaube kaum, dass man sich durch die Darstellung TELLERr’s ver- anlasst sehen wird, dem von ihm ab- geleiteten Schlusse zuzustimmen: »Die einzelnen Theile des Schlosses von Di- ceras und Caprina lassen sich aber in der angegebenen Weise ganz ungezwun- gen parallelisiren, und wir können auf Grund dieser Analogie mit einiger Wahr- scheinlichkeit annehmen, dass die Gat- tung Caprina zu den geologisch-älteren Diceraten im Verhältniss der Descendenz stehe.< Ich halte nur den Schluss die- ses Satzes für richtig und glaube, dass ' er auch dann gerechtfertigt erscheint, 426 wenn man direct, wie ich es gethan habe, die betreffenden Klappen von Ca- prina mit jenen von Diceras und Mega- lodus vergleicht, nicht aber sich durch die Modification der angehefteten Scha- len verleiten lässt, die rechte Schale des Diceras mit der linken von Caprina und umgekehrt zu parallelisiren. Der Haupt- schlosszahn in der linken angehefteten Klappe eines Diceras sinistrum entspricht meiner Auffassung nach dem vorderen Schlosszahn der linken Megalodus-Klappe der Hauptschlosszahn der rechten angehefteten Klappe einer Caprina aber dem hinteren Schlosszahn eines Mega- lodus. Man kann diese Theile demnach nicht unmittelbar mit einander ver- gleichen, wie dies TELLER gethan hat. Ich glaube, dass der Schlossbau einer Caprina sich viel ungezwungener er- klären lässt, wenn man ihn eben nicht | mit jenem eines Diceraten aus der Gruppe des Diceras sinistrum zusammenstellt, sondern zur Vergleichung eine Form aus der Gruppe des Diceras arietinum heran- zieht, wo stets die rechte als die fest- sitzende Klappe erscheint. Man wird sonach eher zu einem Resultate ge- langen, wenn man die Favre’schen Ab- hildungen von Diceras arietinum (vgl. Fig. 9) unmittelbar mit den von Zrrreu veröffentlichten der Caprina Aguilloni (vgl. Fig. 11) zusammenhält, als wenn man wie TELLER es gethan hat, eine Form aus der Gruppe des Diceras sini- strum als Spiegelbild einer Caprina hin- stellt. dann so klar, dass weitere Worte mir überflüssig erscheinen — nur darauf | möchte ich noch hinweisen, dass durch diese Vergleichung der kleine hintere Schlosszahn der Deckelklappe der Ca- prina seine ungezwungene Erklärung findet, während er nach TELLER aus dem mächtigen Hinterzahn der rechten freien Klappe des verglichenen Diceras hervorgegangen sein müsste. Ueber die Ungereimtheit, die darin liegt, aus der rechten Klappe des Di- Die Analogie aller Theile ist | | Hörnes, Die Entfaltung des Megalodus-Stammes ceras die linke der Caprina und umge- kehrt hervorgehen zu lassen, hilft sich Terver leicht hinweg. Er sagt: »Die Schalenhälften, welche oben zum Ver- gleich nebeneinander gestellt wurden, befinden sich in entgegengesetzter Lage, so zwar, dass die linke freie Klappe von Caprina mit der rechten freien von Di- ceras und umgekehrt die rechte ange- heftete von Caprina mit der linken angehefteten von Diceras parallelisirt wurden. Nur für diesen Fall gelten unsere Analogieen. Die gleichbezeich- neten Schlosstheile folgen deshalb in den verglichenen Schalenpaaren einander in umgekehrter Richtung, so dass die Schalenhälften von Caprina hinsichtlich der Lage der Schlosselemente das Spie- gelbild der correspondirenden von Di- ceras darstellen, mit anderen Worten: Die analogen Schalen von Diceras und Caprina sind in entgegengesetzter Rich- tung eingerollt. Im Bereiche einer For- mengruppe, wo die Anheftung und die Richtung der Einrollung, somit die re- ı lative Lage der Schlosstheile nicht durch- aus als constante Merkmale gelten, kann diese Thatsache nicht sehr überraschen, oder gar unsere Analogieen stören.« Derartige Annahmen scheinen mir eben- sowohl sehr gewagt, als ganz überflüssig, da sich ja der Bau einer Oaprina auch dann erklären lässt, wenn man einen Diceras aus der Gruppe des D. arietinum zur Vergleichung heranzieht, man braucht dann gar nicht von Spiegelbildern aus- zugehen und kann direct rechts und links, vorne und hinten mit einander vergleichen. Es ist mir unerfindlich, ı wie Teruer behaupten kann, die Scha- len von Caprina und Diceras seien in anderer Richtung eingerollt — und ganz eigenthümlich erscheint diese Aeusserung im Munde eines Autors, der doch aus- drücklich behauptet, dass die beiden Gruppen der Gattung Diceras nicht, wie gewöhnlich angegeben wird, durch ent- gegengesetzte Einrollung verschieden seien. TELLER sagt wörtlich: »In der in den jüngeren mesozoischen Formationen. 427 Gattung Diceras lassen sich schon nach | nalsystem bei Monopleura und Reqwienia, Art der Anheftung zwei wohl getrennte Gruppen unterscheiden, die Gruppe des Diceras arietinum, welche sich stets mit der rechten Schale anheftet, und jene des Diceras sinistrum, wo die linke als festsitzende Klappe erscheint. Die Rich- tung der Schaleneinrollung ist jedoch bei beiden Gruppen dieselbe. Die rechte Schale des Diceras sinistrum unterschei- det sich nur durch den Mangel der An- heftfläche an dem Wirbel von der rechten Schale des Diceras arietinum.« Dies ist ganz richtig, — aber auch bei Caprina findet keine andere Einrollung statt, und die Anheftung folgt eben demselben Typus wie die Gruppe des Diceras arie- | tinum. — Die Uebereinstimmung des Schloss-- und Muskelapparates dieser Diceras-Formen und der Gattung Caprina bedarf keiner weiteren Erörterung, doch muss angegeben werden, dass noch einige Charaktere der letzteren Gattung, und zwar insbesondere die eigenthümliche Lamellenstructur ihrer Deckelklappe sehr eigenthümlich und ganz unvermit- telt dastehen. diese Structurverhältnisse kein sehr hohes Gewicht legen, da sie bei den Caprinen (im weiteren Sinne) bald auftreten, bald fehlen. Acceptiren wir die Gattung Pla- gioptychus MATH., welche von Caprina ab- getrennt wurde, und zu welcher auch Caprina Aguilloni D’OrRB. gehört, jene vielgestaltige Form, die auch die Namen ©. Coguandi und CÜ. Partschi erhalten hat, und deren Schlossbau oben erörtert wurde, — so sehen wir, dass diese Gat- | tung sich von Caprina selbst nur durch geringe Grösse der linken Schale und hauptsächlich durch das eigenthümliche Röhrensystem in derselben unterschei- | det. Bei Caprina im engeren Sinne, in welchem diese Gattung nur die beiden Arten Caprina adversa D’ORB. und (. com- munis GEMM. umfasst, bemerken wir nur ein grobes Canalsystem in der inneren Schalenschicht der grösseren Klappe. ‘Noch weniger entwickelt ist dieses Oa- Wir können jedoch auf | bei welchen Gattungen dasselbe nur durch eine feine radiale Streifung auf der Oberfläche der Innenschicht ange- deutet ist. s Die Gattungen Regwienia, Monopleura und Caprotina, welche in der unteren Kreide erscheinen (und von welchen man noch so manche Gattungen abgetrennt hat, wie Toucasia, Matheronia, Valettia und Ethra, die freilich von MATHERON und MUNIER-CHALMAS so ungenügend als möglich charakterisirt worden sind), schliessen sich eng an Diceras an, und zwar kann man hier füglich zwei Gruppen unterscheiden, deren erste ausser der aberranten Gattung Requwienia Marn. noch die Gattung Chama umfasst, welche von der unteren Kreide bis in die Ge- genwart reicht. Regwienia lässt sich von Diceras leicht durch die überaus grosse Ungleichheit der Klappen, deren grössere linke, angeheftete, oft in einer mehrfachen Schneckenspirale gewunden ist, durch die schwächere Entwickelung der Schlossplatte und insbesondere dureh das Mangeln eigentlicher Schlosszähne unterscheiden. Auch bei Chama ist die Schlossplatte sehr schwach entwickelt und rudimentär im Vergleich zu der kräftigen Platte, welche bei Diceras und Megalodus die Zähne trägt. Von Re- quienia ist Chama hauptsächlich durch die lamellöse Oberfläche, durch die Ent- wickelung der Schlosszähne und durch das Fehlen jener Leiste, welche bei Megalodus, Diceras und noch bei Requie- nia den hinteren Muskelansatz trägt, verschieden. Demungeachtet kann zu dem genetischen Zusammenhang zwischen den Chamiden und Diceraten kein Zwei- fel sein, und wir haben die ersteren einfach als umgestaltete Diceraten mit reducirtem Schlossbau zu betrachten. Die zweite Gruppe umfasst Monopleura und Caprotina sowie Caprina und Plagio- ptychus, an welche sich wohl auch Ich- thyosarcolithes Desm. anschliesst. Diese zweite Gruppe zeichnet sich durch über- 428 aus massige und kräftige Entwickelung | der Schlosszähne, sowie auch durch Aus- bildung eigenthümlicher Structurverhält- nisse (lamellöser und röhriger Bau ge- wisser Schalenschichten) aus. An diese Gruppe schliessen sich aller Wahrschein- lichkeit die Rudisten im engeren Sinne, wenn wir dem Beispiele Zrrreu's folgend, die Rudistae lediglich die Gattungen Hippurites, Radiolitess und Sphaerulites umfassen lassen. * — Zrrreu zerlegt den Pelecypoden-Stamm, welcher aus den devonischen Megalodonten seinen Ur- sprung ableitet, in drei Familien: 1. Megalodontidae Zrrr. (Megalodon, Neo- megalodon, Pachymegalodon, Pachyrisma, Dicerocardium). — 2. Chamidae LAmk. (Diceras, Reqwienia, Chama, Monopleura, Caprotina, Caprina, Plagioptychus und Ichthyosareolithes). — 3. Rudistae (Hip- purites, Radiolites und Sphaerulites). — Ausdrücklich erwähnt er (in dem die zeitliche Verbreitung der Lamellibran- chiaten schildernden Abschnitte seines Handbuches der Paläontologie, dass wahrscheinlich die Chamiden aus den Megalodontiden, die Rudisten aus den Chamiden hervorgegangen seien, und äussert sich über die Descendenzver- hältnisse innerhalb der Gruppe der Cha- miden an anderer Stelle dieses Hand- buches** folgendermaassen: »Von deräl- testen Gattung Diceras, die sich am nächsten an Dicerocardium anschliesst, gehen zwei divergirende Reihen aus; die eine führt durch Regwienia zu Chama, die andere durch Monopleura und Ca- protina zu Caprina, Plagioptychus und Caprinella: Formen, welche sich durch ihre höchst merkwürdige röhrige Scha- lenstructur von allen übrigen typischen Lamellibranchiaten so sehr unterschei- den, dass sie von D’ORBIGNY und an- deren Autoren den Rudisten beigesellt und in die Nachbarschaft der Brachio- poden versetzt wurden.« * Vgl. Zrrrei’s Handbuch der Paläon- tologie, 1. Bd., 2. Abth., p. 80 u. folg. ** Band I, 2. Abtheilung, pag. 72. Hörnes, Die Entfaltung des Megalodus-Stammes Gegen die Feststellung dieser Des- cendenzverhältnisse wird sich kaum ge- rechtfertigter Zweifel geltend machen lassen — höchstens könnte man Re- qwienia nicht als Bindeglied zwischen Diceras und Chama gelten lassen, son- dern als einen aberranten Seitenzweig des Chamiden-Stammes betrachten, eine Auffassung, welche auch der nachstehen- den graphischen Darstellung des Mega- lodus-Stammes zu Grunde gelegt wurde, da Reqwienia in der Reduction des Schlosses noch über Chama hinausgeht. Den genetischen Zusammenhang von Megalodus, Diceras und Chama hat schon Altmeister QuEnstepTt in klarster Weise hervorgehoben. Eine grosse Schwierigkeit liegt nur noch in der Klarstellung des genetischen Zusammenhanges der Familie der Ru- disten mit den Chamiden. Dass die Rudisten in dieser Richtung einige Schwierigkeiten bereiten, lässt ihre ei- genthümliche Organisation erklärlich er- scheinen. Wenige Reste ausgestorbener Gruppen sind von den Paläontologen in so mannigfacher Weise gedeutet wor- den, als die Rudisten-Schalen. »Zuerst von Pıcor DE LAPEIROUSE aus den Kreide- schichten der Corbieres beschrieben und theils zu den Cephalopoden, theils zu den Austern gerechnet, vereinigte La- MARCK die Gattungen Sphaerulites, Biro- strites, Calceola, Orania und Diseina zu einer Familie, welche er »Rudistes« nannte, und stellte dieselbe an das Ende der Lamellibranchiaten. DeshAayEs ge- staltete die Familie der »Rudistes« voll- ständig um, entfernte daraus Crania, Discina und Calceola, fügte ihr die Gat- tung Hippurites bei und stellte dieselben neben Aetheria zu den typischen Lamelli- branchiaten. Desmourıss hielt (1827) die Rudisten für eine besondere Klasse, welche zwischen Tunicaten und .Cirrhi- peden ihren Platz finden sollte; eine ähnliche Ansicht vertritt auch CARPENTER; SHARPE stellt sie geradezu zu den Ba- laniden. Während Goupruss und D’OR- in den jüngeren mesozoischen Formationen. BIGNy die Rudisten wegen einer ver- meintlichen Aehnlichkeit der Schalen- structur mit Crania für eine Abtheilung | der Brachiopoden halten und letzterer dieselben unter Hinzufügung mehrerer neuer Gattungen in zwei Familien zer- legt, erklärt sie Leor. v. Buch für Korallen, Steenstrur (1850) für Anne- liden. Im Anschlusse an LamArck stel- len BrAaınviLLE und RanG die Rudisten als besondere Ordnung zwischen die Brachiopoden und Lamellibranchiaten ; CUVIER, Owen und DesHuayes betrachten sie nur als eine Familie der letzteren. QUENSTEDT war der Erste, welcher auf die Beziehungen zu Chama und Di- 429 ceras aufmerksam machte und die Fa- milie der Hippuriden, wozu er Caprotina, Caprina, Ichthyosarcolithes, Hippurites und Radiolites (Sphaerulites) rechnet, unmit- telbar an die Chamiden anschliesst.« Diese Worte Zrrmen’s* schildern wohl am kürzesten und besten die wechsel- volle Rolle, welche die Rudisten in der paläontologischen Literatur bis in die neueste Zeit gespielt haben, bis ihnen durch QuEnstent, WoO0oDwWARD, BAYLE ı und Zırren ihre definitive Stellung im zoologischen Systeme angewiesen wurde. * Handbuch der Paläontologie, I. 2, pag. 81 und 82. Die Entfaltung des Megalodus-Stammes in der geologischen Zeit. Chama Recent | = — =——Z - z 1 Tertiär | = w AnEr A ee — nt Fer ur 2 S Caprina . a | | . 0 m N ® > S Hippu des, ) 3 'Sphaerulites| Kreide | und 6 {reide tequienia \ | Radiolites | Z Ei kai Capr\obina | RS | Monopleura Ben. lei . R Pachyrisma\ / Diceras Jura Pachymegalodus a N Dicerocardium Trias o|/ Ss |Neomegalodus = \ BEBER imaleı 0 7 eR. 7 NS Carbon ne ©: EEE N E = 3 D > r) o q a — |Megalodus = 430 Die Rudisten bieten eben in dem inneren Bau ihrer Klappen, sowie in der Structur ihrer Schalen so viel Eigen- thümliches, dass die angeführten irrigen | Insbe- | Deutungen erklärlich werden. sondere die Structur der äusseren Scha- lenschicht, welche von jener gewöhn- licher Lamellibranchiaten gänzlich ver- schieden ist, musste zulrrungen und Miss- Wenn | deutungen Veranlassung geben. jedoch Hippurites in seiner Deckelschale Radialcanäle aufweist, welche zahlreiche, gegen aussen sich theilende Seitenäste entsenden, so finden wir in der Gruppe der Chamiden bei Caprina, Plagioptychus und anderen Formen ähnliche Erschein- ungen. sich die Rudisten auch hinsichtlich der Schlossbildung und der äusseren Gestalt | der Schale noch am meisten an Mono- Mit Recht betont Zırten, dass | Hörnes, Die Entfaltung des Megalodus-Stammes etc. ' pleura und Caprotina unter den Chami- den anschliessen. Mit Sicherheit steht zu erwarten, dass die weitere Untersuchung der be- treffenden Formen der unteren Kreide- formation uns nach und nach alle jene ' Bindeglieder liefern wird, die uns heute noch fehlen, um den genetischen Zu- sammenhang zwischen den (aprotina- und Monopleura-Formen der unteren, und den Rudisten der mittleren und oberen Kreide unmittelbar nachweisen ' zu können. Soviel aber kann man heute schon aus den bis nun bekannten Thatsachen ersehen, dass es gerechtfertigt erscheint, zu behaupten, dass die vorstehende ‚, schematische Darstellung des Megalodus- Stammes nicht er von der Wahr- | heit entfernt ist. Tafelerklärung. Tafel VII. Fig. 1. Megalodus cucullatus Sow. (Vergl. R. HÖRNnEs Materialien zu einer Mo- Tat.) Wie: 1.) IX l..c. -La£ III; Fig. 2) . Megalodus Tofanae R. Hörn. (Vergl. le. Tat. IT, Pig 45) 4. Megalodus Gümbelii Stopp. (— Me- galodon triqueter GÜMB.). Vergl. GÜM- BEL: Die Dachsteinbivalve, Taf. II, Fig. 4, 5. a} Megalodus complanatus GÜMB. (Vgl. Materialien etc. Taf. I, Fig. 8.) b. Megalodus chamaefor: mis SCHLOTH. sp. (Vergl. 1. c. Taf. I, Fig. 12.) . Pachyrisma grande MORRIS and 2. Megalodus Damesi R. Hörn. (Vergl. | Lycert. (Nach einem Exemplare | des k.k. Hof-Min.-Kab. in Wien.) nographie der Gattung Megalodus | Fig. 8. Diceras Luci QUENST. (non DEFR.) (Vergl. QuEnSTEDT’s Handbuch der Petrefacten-Kunde, Taf. 55, Fig. 35.) u Abbildung entspricht nach BÖHM, dessen "Arbeit über die Bivalven "des Kelheimer Diceras- Kalkes mir leider erst während des Druckes dieser Mittheilung bekannt wurde, der von ZITTEL als Diceras bavaricum in die Sammlung des Mün- chener paläontologischen Museums eingereihten Form. 9. Diceras arietinum Lamk. (Vergl. A. FAVRE, observations sur les Di- ceras, Pl. V., Fig. 46, 7.) Tafel VII. ig. 10. Diceras sp. non Stramberg. (Vgl. F. TELLER, über neue Rudisten a. der böhmischen Kreideformation, Taf. II, Fig. 3, 4.) Capri ina (Plagioptychus) Aguilloni D’ORB. (Vergl. ZiTTEL, Bivalven der Gosaugebilde, Taf. XXVII ‚Fig.6u.7.) at. M = Vorderer Muskeleindruck. Z = Vorderer Schlosszahn. @ = Vordere Zahngrube. Mı= Hinterer Muskeleindruck. Zı — Hinterer Schlosszahn. rı — Hintere Zahngrube. L = Ansatz d. Bandes u. Ligamentfurche. In sämmtlichen Figuren erscheinen die gleichen Bezeichnungen angewandt. Die prähistorischen Beziehungen der Indoeuropäer zur finnisch- ugrischen Völkerfamilie von Dr. Fligier. Die Frage nach den ursprünglichen Sitzen der Arier oder Indoeuropäer kann aus ihren Sprachen allein nicht | beantwortet werden. Versuche, die arischen Sprachen an den semitischen Sprachzweig anzuknüpfen, haben sich als durchaus verfehlt er- wiesen.* Die, Die verschiedenen wenn auch entferntere Verwandtschaft der semitischen Sprachen mit den hamitischen** weist den Se- | miten als Ursitz bei Weitem südlichere licher Zeit, Armenischen und Össetischen Gebiete an, als den Indoeuropäern. Nördlich von den Semiten haben sich in den Alpenlandschaften des Kaukasus und des nordöstlichen Kleinasiens die zahlreichen kaukasischen Stämme fest- | gesetzt, östlich von den Semiten brei- teten sich die mächtigen Reiche der zu Krk Akkadier oder Sumerier aus, denen nach den Forschungen OPrErT's ursprünglich auch die Bewohner Su- sianias (die Kuschiten) und die spä- | gehörten. sind ter nur iranisirtten Meder Die Arier, selbst die Iranier * FR. MÜLLER. ** BENFEY. *** OPPERT, Le peuple et la langue des | Paris 1879, vergl. meinen Aufsatz ı 1880, II. Bd., Medes. die Sprache der Etrusker, | 1881. den älteren Keilinschriften gänzlich un- bekannt und werden von den assyrischen Keilinschriften erst im 9. Jahrhundert genannt. ein hinlänglicher Beweis, dass die Iranier erst spät das Plateau von Iran betreten haben. Die Sprachen der den Keilinschriften genau bekann- ten kaukasischen Völker enthalten keine Entlehnungen aus älteren indoeuropä- ischen Sprachen f (spätere Entlehnungen aus dem Griechischen in bereits christ- kommen selbstverständlich hier nicht in Betracht), woraus man mit Bestimmt- heit den Schluss ziehen kann, dass die Indoeuropäer in vorgeschichtlicher Zeit durch weitere Räume von den Kau- kasiern getrennt gewohnt haben. Die Sprachen der uralten Völker Westeuropas, das Ibero-Baskische, als deren Verwandte noch die Rhätier und Eu- ganeer angesehen werden können, haben sich als total verschieden von „Die Urzeit Vorderasiens“ in der „Gaea“ 5. Heft. + DierEnBACcH, Völkerkunde Osteuropas, p: 36839. den indoeuropäischen erwiesen. Iberer, Rhäto-Etrusker und wahrscheinlich auch die Ligurer müssen sich somit schon als »homines alali« von den ihnen anthropologisch zunächst stehenden eu- ropäischen Völkern, zu denen besonders die Indoeuropäer gezählt werden müssen, getrennt haben. — Hatten dem- nach die Indoeuropäer ihre Ur- sprache ausgebildet, ohne mit Völkern anderen Stammes in Contact zu kom- men? Sollen wir annehmen, dass diese Arier der Urzeit vielleicht durch Wäl- der und Sümpfe, Steppen und Gebirge von den übrigen Racen und Völkerfami- lien getrennt gelebt haben? Diejenigen Sprachforscher der neue- sten Zeit, welche die Sprachen der fin- nischen Stämme einer methodischen und eingehenden Untersuchung unterzogen haben, weisen auf auffallende Ueberein- stimmungen zwischen dem ugro-finni- schen und indoeuropäischen Sprachkreise hin. Die meisten Sprachforscher , wie Munck und LinDsTRÖöM, DIEFENBACH und MıKtosicH, LöNROTH und AHLQUIST, Thuomsen, Bupenz und Hunräuvy hal- ten die Entlehnungen aus dem arischen Sprachkreise in den finnisch-ugrischen Sprachen als kulturhistorische Entlehn- ungen der meist rohen Ugro-Finnen von den auf höherer Kulturstufe stehen- den Ariern. NıcouAr AnDERSoN,* der neueste Sprecher in dieser ebenso wich- tigen wie schwierigen Frage, will nun zeigen, dass die Annahme alle Ueber- einstimmungen zwischen indoeuropä- ischen und ugro-finnischen Sprachen seien entweder durch Entlehnung ent- standen oder beruhen auf einem blossen Spiele des Zufalls, keinen höheren wis- senschaftlichen Werth beanspruchen darf, als die so oft perhorrescirte Hypothese von der Urverwandtschaft beider. Auch hält er die Uebereinstimmung des gröss- * NICOLAI ANDERSON, Studien zur Ver- gleichung der indo-germanischen und fin- nisch -ugrischen Sprachen. Dorpat 1879. Abgedruckt aus den Verhandlungen der esth- Fligier, Die prähistorischen Beziehungen ten Theiles des gesammten Wortschatzes für so frappant, dass die sprachliche Verwandtschaft der Ugro-Finnen und Indoeuropäer sich mit der Zeit vollkommen sicher werde erweisen lassen. Bevor ich diese Annahme von eth- nologischer Seite einer kurzen Prüfung unterziehe, muss ich etwas weiter zu- rückgreifen. | Gerade vor dreissig Jahren hat der hochverdiente LORENZ DIEFENBACH mei- nes Wissens zuerst in seinem trefflichen gotischen Wörterbuche das Finnische und Esthnische zur Vergleichung heran- gezogen und auf eine Vorzeit aufmerk- sam gemacht, in welcher germanische und finnische Völker in weit grösseren und ungetheilteren Massen, als in hi- storischer Zeit an einander gegrenzt, mit einander verkehrt und namentlich sprachlichen Tauschhandel mit einander getrieben haben müssen. In seinen nicht minder trefflichen » Origines Europaeae«, welche zehn Jahre nach dem gotischen Wörterbuch erschienen sind, macht Di£rEnBAcH auf lituslavische und iran- ische (wohl altskythische) Worte im Finnischen aufmerksam und bemerkt schon damals, dass Entlehnungen und Urverwandtschaft oft schwer zu unter- scheiden sei. In einer ausgezeichneten Schrift hat der dänische Professor Wır- HELM THoMmsEn”* zu erweisen gesucht, dass der finnische Stamm, d. h. die heutigen Bewohner Finnlands (Ka- relier, eigentliche Finnen und Ta- vaster), die Vepsen, Voten, Esten und Liven vor wenigstens anderthalb oder zwei Jahrtausenden dem Einflusse verschiedener, wenn auch einander nahe stehender germanischer Sprachgestalt- ungen ausgesetzt gewesen sei und zwar theils einer gotischen, die aber auf einer älteren Stufe gestanden haben nischen Gesellschaft in Dorpat. ** THOMSEN, Einfluss der germanischen Sprachen auf die finnisch-lappischen. Aus dem Dänischen von Smevers. Halle 1870. der Indoeuropäer zur finnisch-ugrischen Völkerfamilie. muss, als die, welche wir aus VULFILA kennen, theils einer nordischen, theils vielleicht einer viel älteren gemeinsamen gotisch-nordischen. Ferner betrachtet Tuomsen für die gemeinsamen Entlehn- ungen im Lappischen als ausschliess- liche Quelle das Nordische, und zwar letzteres auf einer bedeutend älteren Stufe, als das sogenannte Altnordische ; ja vielleicht in einer auch ursprüng- licheren Gestaltung, als die, welche uns in den ältesten Runendenkmälern er- halten ist. Ueberhaupt datirt TuomsEn die Berührung der Lappen und Scan- dinavier bis in die fernste Urzeit zu- rück. Es sei hier gleich zu bemerken, dass AnDERSOoN, welcher die Resultate THonsen’s genau und eingehend geprüft hat, in allen erwähnten Punkten ihm vollständig Recht gibt. Aus diesen sprachlichen Untersuchungen hat sich ergeben, dass Finnen und Germanen seit den frühesten Zeiten neben einan- der gewohnt haben. Ein solches Re- sultat darf nicht unsere Verwunderung erregen, da Osteuropa nachweislich die Heimath der Germanen ist, diese vor der Völkerwanderung noch in die- sen Gegenden gehaust und finnische, lettische und slavische Völker beherrscht haben. Aus denselben Gründen sind die Entlehnungen aus dem Lettischen und Slavischen in den finnischen Sprachen erklärlich. Ferner macht Ax- DERSON darauf aufmerksam, dass das Iinnische Gebiet aller Wahrscheinlichkeit nach im Süden an das der Skythen grenzte und dass dieses eranische Volk, wie schon Vıcror Hr#ux bemerkte, auf europäischem Boden in Kultur und Re- ligion grösseren Einfluss geübt und in den Sprachen mehr Spuren hinterlassen, als bisher beachtet worden ist. So er- innert z. B. finn. sata, Hundert an alt- bactr. cata, npers. sad, ossetisch sade * DIEFENBACH, Völkerkunde Osteuro- pas, II. 219— 234. *#* DIEFENBACH, |. ce. I. pag. 237 und Urigenes Europaeae Nr. 309. Kosmos, V. Jahrgang (Bd. X) 433 (ANDERSON p. 68). Die Osseten gel- ten aber als Nachkommen der Alanen und diese als ein Zweig der Skytho- Sarmaten. Alle diese Entlehnungen finden wir als bei Nachbarvölkern ganz begreiflich; weit auffallender sind ge- wisse Berührungen der finnischen Sprache mit dem Griechischen und Lateini- schen, ja vielleicht auch dem Kelti- schen und Albanesischen. Ich will aus DiEFENBACH’s* neuestem Werke einige herausgreifen: finn. kapris »Bock«, lat. caper; — perm. »pors«, veps. porzas »Schwein«, lat. porcus; — finn. paimen »Hirt«, gr. orumv; — finn. kampura »ge- krümmt«, gr. zaursviog; — finn. lukea »lesen, zählen, rechnen«, gr. Aeyeır, lat. legere; — finn. tuoni, lapp. tuona »Tod«, gr. $avarog? u. a. m., finn. tarwas (mythisches Thier), esthn. tarwo »Ochse«, kelt. »tarw«”* mit finnisch »welli< vergleicht Dierexsgach”** alba- nesisch välam, vläm >Bruder«. — BotLter hat in ceremissisch sra >»das Bier« eine Entlehnung aus sanskrit »sura« berauschendes Getränke ver- muthet und Prof. TomascHek, j einer der gründlichsten Kenner solcher Forsch- ungen, erklärt in der Recension von Por- scheE’s Ariern: Ich getraue mich aus der Sprache der Mordwa’s an der mitt- leren Wolga den Nachweis zu liefern, dass unmittelbar an den südlichen Grenz- marken dieser finnischen Völkerschaft die reinsten Arier, zumal die Li- tauer und der Sanskrit sprechende Stamm ihre Heimath gehabt haben müssen. Es entsteht nun die Frage, ob die Uebereinstimmungen in den ugro- finnischen und indoeuropäischen Spra- chen auf Entlehnungen beruhen, wie es die meisten Sprachforscher behaupten, oder ob sie nach AnDERsSon auf eine Urverwandtschaft beider Sprachkreise zurückgeführt werden müssen. Thomsex ea je LD..6D; + Zeitschrift für österreichische Gym- nasien 1878, p. 862, 434 will die Möglichkeit einer Urverwandt- schaft von vorn herein nicht ganz läug- nen und führt einige Beispiele an, die auf eine solche hinweisen könnten, z. B. finn. kuulen ich höre, lat. cluo, gr. xAvw. finn. wesi »Wasser« (Stamm ved) ssk. udam, slav. voda oder finnisch mesi (Stamm med-) Honig, sskr madhu, gr. u£9v, poln. miöd, doch meint er, dass die Verschiedenheit im ganzen Sprach- bau so überwiegend sei, dass eine nä- here Verbindung auf dieser Seite wenig wahrscheinlich sein dürfte u. s. w. Nico- LAI ANDERSON bemerkt dann, dass er in Bezug auf Morphologie durchaus nichts hat finden können, was mit der Annahme einer Urverwandtschaft prin- zipiell unvereinbar wäre. Er macht darauf aufmerksam, dass die Pronomi- nalstämme zu den alterthümlichsten sprachlichen Bildungen gehören und dass gerade diese oft in beiden Gruppen auf- fallend übereinstimmen und zwar nicht nur die persönlichen Fürwörter, sondern ganz besonders die demonstrativen, in- terrogativen und relativen. Was die Aehnlichkeit in der Wortbildung anbe- trifft, so ist im Ugro-Finnischen die Zahl derjenigen Suffixe, welche nach Form und Bedeutung nicht mit den entsprechenden indogermanischen über- einzustimmen scheinen, im Verhältniss zu den identischen eine ganz verschwin- dend kleine. ANDERSON zeigt weiter im Anschluss an BöHTLInG, WIEDEMANN und Hunräßvy, dass die Unterscheidung zwischen den agglutinirenden finnischen und flectirenden indoeuropäischen Spra- chen unrichtig sei, da in den finnischen Sprachen grösstentheils die Flexion ganz denselben Charakter trägt, wie in den flectirenden. Es ergibt sich ferner, dass STEINTHAL eigentlich nichts vorgebracht hat, was gegen die Annahme einer Ver- wandtschaft zwischen den ugro-finni- schen und indoeuropäischen Sprachen zeugen dürfte, und dass überhaupt von einer prinzipiellen oder auch nur über- wiegenden Verschiedenheit im ganzen Fligier, Die prähistorischen Beziehungen Sprachbau, wie sie THomsEn voraus- setzt, nicht wohl die Rede sein kann. Auffallend sind die Beziehungen der finnischen Conjugationssuffixe zu den indoeuropäischen, wobei der Einfluss der indoeuropäischen Sprachen auf den Bau der ugro-finnischen recht schlagend ist. Die Declinationssuffixe der finnischen Sprachen entsprechen den Präpositionen der indoeuropäischen Sprachen, deren einige nach DIEFENBACH |. c. Il. p. 215 sich auch im Finnischen gebildet haben; doch bemerkt DiErENBACH, dass die meisten Declinationssuffixe den indo- germanischen weit ferner stehen als die der Conjugation. Bemerkenswerth ist das ebenso besonnene wie vorsichtige Urtheil Dierengac#’s ]. c.U.p. 209: Die Verneinung dieser Urverwandtschaft ge- rade in dem ältesten Sprachstoffe ist noch schwieriger als die Bejahung. Mag die Frage nach der Urverwandt- schaft der Ugro-Finnen mit den Indoeuropäern in diesem oder je- nem Sinne entschieden werden, so viel scheint uns doch mit Bestimmtheit aus dem Werke Anperson’s hervorzugehen, dass die Beziehungen beider Sprach- stämme uralt sind und unserer Ansicht nach nur in dem Umstande ihre Er- "klärung finden, dass Ugro-Finnen und Indoeuropäer in einer sehr frühen Periode der Sprachbildung bereits neben einander gewohnt haben. Auch glauben wir, durch ethnologische Gründe veran- lasst, dass der Einfluss der gewiss be- gabteren Arier in dieser Urzeit auf die Ausbildung der Sprachen ihrer nörd- lich wohnenden und weniger begabten Nachbarn von grossem Einflusse gewesen sei, wodurch also die Urverwandtschaft ausgeschlossen wäre, wobei wir auch mit ANDERSON gegen AHLQUIST annehmen, dass die Ugro-Finnen nicht allein der entlehnende Theil gewesen sind, und dass somit in den arischen Sprachen sich kulturhistorische Entlehnungen vor- finden, welche ursprünglich das Eigen- thum des finnischen Volkes gewesen sind. der Indoeuropäer zur finnisch-ugrischen Völkerfamilie. Die gemeinsame Heimath beider Sprach- stämme kann nur im östlichen Europa und in den angrenzenden Theilen Asiens gesucht werden (vergl. meinen früheren Aufsatz »Europa, die Heimath der Arier« im Kosmos IX. Bd. 1881, p. 216— 220). Gegen die Annahme der Urverwandt- schaft könnte der Umstand sprechen, dass die Ugro-Finnen allgemein zur mongolischen Race gezählt werden und daher mit den Indoeuropäern nicht verwandt sein können. Wo sind die Beweise? Man sagt: Die Ugro-Finnen sind sprachlich mit den Türken ver- wandt und die Türken gehören doch bestimmt zur mongolischen Race. Nun sagt aber HunräLvy in seinem neuesten Werke*: Wir finden nur den Stamm des dem deutschen »tödten« entspre- chenden türkischen Wortes gleichlautend mit dem ugrischen und vogulischen (ugr. öl, vog. öl, türk. öl-dür) und schliesst daraus, dass die türkischen Sprachen einen anderen Ursprung haben, als die finnisch-ugrischen. Türken und Ugro- Finnen müssen aber nicht nur aus sprach- lichen, sondern auch aus anthropolo- gischen Gründen als Völker zweier ganz verschiedenen Racen bezeichnet werden. Der Streit des Herrn VırcHnow mit Herrn Dr QUATREFAGES über die »race prussienne« hat nämlich das Gute zur Folge gehabt, dass wir über den so- matischen Typus der Finnen genau unterrichtet worden sind. Nach Vır- cHow’s an Ort und Stelle gemachten Beobachtungen wird Südfinnland vor- zugsweise von blonden, blauäugigen Finnen bewohnt.** Auch die Liven*** weisen einen starken lichtblonden Haar- wuchs auf, ja selbst bei den Lappen, f welche bis jetzt als exquisit dunkel * HunräLvy. Die Ungarn, 1881, Teschen, pag. 30. ** Zeitschrift für Ethnologie, 1878, pag. 185—189. *** ], c. 1877, pag. 383. +1. c. 1876, pag. 54. ++ Bulletin de la Soeciete d’Anthropo- logie de Paris, 1869, pag. 52. 435 galten, bemerkt man alle Nuancen des Lichtblonden bis zum Braunen und Schwarzen. Nach Pauras haben die Ostjaken meist blonde oder röthliche Haare und die Votjaken (bei Vjatka, Kasan und Orenburg) fast durchgehends rothe Bärte. Nach Berrıuvon Tf zeigen die Lappen keine Verwandtschaft mit mongolischen Völkern. Der Lappe ist viel kleiner als der Mongole, ist noch mehr brachykephal und hat eine breitere Nase.jff Wenn die Ungarn heut- zutage im Ganzen einen viel dunkleren Typus zeigen als die Finnen, so muss ich darauf hinweisen, dass die Ungarn ' sich unzweifelhaft mit türkischen Völ- kern vermischt haben. Koxsrantın Por- PHYROGENNETOS erzählt, dass dieUngarn die Sprache der türkischen Chazaren erlernten.*f Dass die Ungarn in ihrer osteuropäischen Heimath einen lichten Typus zeigten, bezeugt Isv Fossuan **7: »Chasari Tureis similes non sunt, nigrum capillum habent.« Die Chazaren hatten also schwarze Haare, während die Un- garn (von Isv FossLan und KonstAanTın PorPHYRoc. irrthümlich Türken genannt), wie man aus dieser Stelle schliessen muss, blond gewesen sein müssen. In späterer Zeit haben die Ungarn Theile der türkischen Petschenegen (ihr Volksname hat sich nach HuxräLvy in dem ungarischen Orte Besenyö erhalten) und Kumanen aufgenommen, welche ihren Typus bedeutend verändert haben müssen. Besonders mächtig war der Ein- fluss der in der Cultur bereits weiter vor- geschrittenen Chazaren auf die Sprache der Ungarn. Auch andere finnische Stämme sind ethnisch von türkischen Völkern vielfach beeinflusst worden. Fr. MÜLLER vermuthet in den türkisch irr TOPmARD, Anthropologie, pag. 490. *+ Dafür spricht das ungarische Wort er Meer, türkisch dengiz. Das türkische z geht im &uvassischen in r über und Hun- räLvy schliesst aus dieser Entlehnung, dass die Cuvassen Nachkommen der Chazaren sind. *#+ bei DIEFENBACH |. c. II, pag. 128. 28 * 436 sprechenden Baschkiren nur türkisirte oder tartarisirte Finnen. Unter den Votjaken finden sich Individuen, welche den Kalmücken ähneln, * desgleichen nach CAsTREN die am Ural wohnenden Vogulen. Die Ozuden** zeigen im Gegensatz zu den Finnen eine dunkle Complexion, was ich dem Einflusse türkischer Stämme zuschreibe. Ugro-Finnen und Türken (Mongolen) sind demnach Völker zweier verschie- denen Racen. Wer die Finnen zu den Mongolen stellt — sagt A. Hovr- LACQUE *** in einem vortrefflichen Auf- satze — der hat weder die einen noch die anderen studirt. Wir haben diesen Worten nichts hinzuzufügen. Wir zählen die Ugro-Finnen zu den Völkern der europäischen Race, nicht mittelländi- * KLAPROTH, Melanges asiatiques, 1825. ##* KOPERNICKI im Bulletin de la Societe d’Anthropologie de Paris 1869, pag. 628. **#* Le type mongolique. Revue inter- nationale des sciences. Paris 1878, pag. 230. Fligier, Die prähistorischen Beziehungen der Indoeuropäer etc. scher Race, weil wir an der Existenz einer mittelländischen Race überhaupt (zu der auch die Hamito-Semiten zu zählen wären) berechtigte Zweifel erheben müssen, wie wir denn mit PA- oLO MANTEGAZZA T annehmen, dass die Anzahl menschlicher Racen einst eine bedeutendere gewesen ist, als man jetzt gewöhnlich anzunehmen pflegt. Professor ECKER, einer der gründ- lichsten Anthropologen sagt: Man darf nur, um sich von der Unmöglichkeit, eine mittelländische Race nach ihren physischen Merkmalenzu characterisiren, zu überzeugen, die Versuche hievon in ethnographischen Lehrbüchern lesen; die nothwendig einzuräumenden Schwan- kungen sind der Art, dass kaum noch etwas Festes übrig bleibt. ff Dieser Aufsatz zerstört gründlich den Glauben an eine mongolische Race. + MAnTEGAzZZA, Lettera etnologica al Giglioli. Archivio per an soproluene, 1876. ++ Archiv für Anthropologie. XI. Bd. p.366. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die periodischen Variationen der Gletscher. Für das Verständniss des grossen | Räthsels der Eiszeit können möglicher- weise auch die kleinen »Eiszeiten« etwas beitragen, die in der zeitweisen Ver- grösserung unserer heutigen Gletscher merkbar werden, und in dieser Richtung | mag es für Erdgeschichtsforscher von Interesse sein, einen Blick auf die Unter- suchungen von F. A. Forzu über diesen Gegenstand zu werfen, deren Resul- tate er kürzlich in den Genfer »Ar- chives des Sciences physiques et natu- relles« (Juli 1881) veröffentlicht hat und wovon wir hier einen kurzen Aus- | zug geben wollen. Seine Nachforsch- ungen erstrecken sich über grössere Perioden giebt, deren Gesetze der Aufhellung harren. Seit einigen Jahren zeigen die schweizerischen Glet- scher bekanntlich einen auffallenden Rückgang, derRosenlaui-Gletscher bietet am Fusse kaum noch einen Schatten seiner früheren Herrlichkeit und ähn- liche Rückgänge zeigen die meisten Schweizer Gletscher. Aus dem Jahre 1540 besitzen wir Nachrichten von einem auffallenden Zurückweichen der Grindel- waldgletscher, dem bis zum Jahre 1590 wieder ein sehr bemerkenswerthes Maxi- mum der Verlängerung folgte, ebenso zeigte Glacier des Bossons 1817 und der | Gorner Gletscher 1857 ein auffallendes mehrere | Jahrhunderte und zeigen, dass es hier Vorwärtsdringen. Die Länge eines Glet- schers hängt ohne Zweifel namentlich mit der Menge des Schneefalls im Win- ter und mit dem Abschmelzen in der warmen Jahreszeit zusammen. Reich- liche Schneefälle verlängern ihn, Hitze vermindert seine Dicke und Länge. Be- obachtungen zeigen indessen, dass auch kühle Sommer allein, ohne entspre- chende Vermehrung der niedergegan- genen Schneemassen, eine bedeutende ' Verlängerung zur Folge haben können. Was zunächst das Gesetz der lan- gen Perioden betrifft, so zeigt die Be- obachtung, dass die Gletscher nicht das eine Jahr vorwärtsgehen und das nächste Jahr wieder zurück, sondern sie gehen meistens 5, 10, 20 Jahre oder längere Zeit hindurch immerfort vorwärts oder rückwärts. Das Pfarrbuch von Grindel- wald verzeichnet vom Jahre 1575 bis 1602 eine continuirliche Verlängerung der Gletscher; von 1602 bis 1620 wa- ren sie stationär, von 1665 bis 1680 nahmen sie ab; 1703 erreichten sie wieder ein Maximum der Verlängerung; 1720 ein Maximum der Verkürzung; 1743 und 1748 bezeichnen dann wie- der Maxima der Länge und Kürze; von ' 1770—78 wuchsen sie, nahmen dann ab und erreichten 1819 eine neue starke Verlängerung; 1840 waren sie wieder gross, aber die Jahre 1855—1880 be- ı zeichnen eine lange Rückzugsperiode. Dieser Rückzug geht aber nicht in glei- 438 chen Schritten vor sich. Als Durour und Foren 1870—1871 am Rhoneglet- scher Beobachtungen über die Verdich- tung der Luftfeuchtigkeit auf dem Eise und über die Verdampfung des Eises anstellten, waren sie erstaunt über den sehr auffallenden Rückgang dieses gros- sen Gletschers. Aus früher gemachten Beobachtungen Pr. Gosser’s und seiner Mitarbeiter ergab sich, dass der Rhone- gletscher von 1857—1870 im Durch- schnitt jährlich um 23 Meter zurück- gegangen war; von 1870— 1874 betrug der Rückgang 71 Meter im Jahre und von 1874—-1880 jährlich 41 Meter. So dauerte der Rückgang seit 24 Jahren, ohne dass ein Jahr mit Vorwärtsschrei- ten dazwischen zu verzeichnen wäre. Ebenso waren die beiden Hauptgletscher des Chamouny-Thales (Glacier des Bois und des Bossons) von 1854—1875 im beständigen Rückschreiten begriffen und der obere Grindelwaldgletscher ist es ebenfalls seit 1855. Die verschiedenen Thatsachen er- geben dem Verfasser, dass die Ursache der Längen-Variationen weniger in dem mehr oder weniger starken Abschmel- zen, als in der mehr oder weniger star- ken Bewegung des Eisstromes liegt. Das Fliessen des Gletschers ist zwar mit dem Abschmelzen eng verbunden, aber als jährlicher Faktor von vorüber- gehender Wirkung kann es nicht die langen Perioden erklären, deren Ur- sachen vielmehr in langen meteorolo- gischen Perioden von Hitze, Luftfeuch- tigkeit und Luftbewegung bestehen müs- sen. In den 24 Jahren von 1857 — 1880 bewegte sich die mittlere Sommertem- peratur in 15 Jahren über der normalen und in 9 unter der normalen; das Jah- resmittel war 16 mal über und 8 mal unter dem normalen. Als eine Hauptursache des schnel- leren Fliessens sieht FOREL, wie gesagt, die starke Vermehrung der Schneemas- sen im obern Theile, also eine Erhöh- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Ursprunge, an; mit der zunehmenden Dicke wird zugleich der Betrag der innern Abschmelzung auch in den un- tern Theilen verringert. Nun scheint die Menge des Schneefalls in der That ebenfalls in langen Perioden zu wech- seln; die Niederschläge waren von 1835 bis 1841 unter der normalen Höhe (88159 mm für Genf), 1842—1857 darüber; der normalen Höhe nahe kom- mend in den Jahren 1858— 1861; wie- der darunter von 1862—1877, und seitdem darüber. Man kann einen an- nähernden Parallelismus zwischen die- sen Beträgen der Niederschläge und den Veränderungen der Gletscher erkennen. Die Wirkungen sind nicht unmittelbar, sondern folgen mehr oder weniger schnell den meteorologischen Bewegungen nach. Es ist übrigens selten, dass alle Gletscher der Alpen ohne Ausnahme miteinander ab- oder zunehmen. In diesem Jahrhundert fand der einzige Fall gleichzeitiger Verlängerung 1817 bis 1818 und der einzige Fall eines allgemeinen Rückzuges 1872 — 1874 statt. Die grosse Periode der Glet- scherabnahme, welche wir soeben erlebt haben, begann am Montblanc 1854, am obern Grindelwaldgletscher 1855, am Getroz-Gletscher 1855, am Rhoneglet- scher 1857, am Aletschgletscher 1860, am Gornergletscher 1870, am Viescher- gletscher 1870, am Unteraargletscher 1871. Sie endete am Glacier des Bos- sons gegen 1875, am Glacier des Bois 1879, am Getroz-Gletscher 1880. Diese Thatsachen scheinen anzudeuten, dass die Periode trotz dieser scheinbaren Verschiedenheiten gleich ist, sofern die Gletscher, deren Abnahme am frühesten merklich wird, auch zuerst eine Zu- nahme zeigen, was in lokalen Beding- ungen der Schneeanhäufung liegen mag. Was nun die allgemeinen Beding- ungen für den Eintritt der Gletscher- periode in den Alpen betrifft, so schreibt Forer also die Hauptwirksamkeit einer ung der Dicke des Gletschers an seinem | allmäligen, wenn auch schwachen Zu- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. nahme in dem jährlichen Schneefall, die von leichten Aenderungen in den hy- grometrischen Verhältnissen herrühren kann, namentlich wenn damit eine Folge von feuchten und milden Wintern, so- wie feuchten und kalten Sommern sich verbindet, wie diese Bedingungen auch “ durch Professor Guyor schon früher her- vorgehoben wurden. Durch die Schnee- zunahme vermehrt sich die Dicke des Eises und die Schnelligkeit seiner Ab- wärtsbewegung, das Eisgebiet erweitert sich, vorher getrennte Gletscher fliessen zusammen und schreiten in Folge der verminderten Reibung schneller vor- wärts, die Ausbreitung des Eises bewirkt | ihrerseits vermehrte Abkühlung und Zu- nahme des Schneefalls. Zur Vergletscherung der Vogesen, Cevennen, schottischen Gebirge u. s. w. würde zu den erwähnten allgemeinen meteorologischen Verhältnissen noch eine Erniedrigung der mittleren Temperatur um einige Grade hinzukommen müssen. Untersuchungen über die Rigenschaft fester Körper sich unter starkem Druck zu vereinigen hat WALTHER Spring in den Bulletins der belgischen Akademie der Wissen- schaften (2. Serie Bd. 49) veröffentlicht, und da dieselben für das Verständniss der Entstehung unserer Felsbildungen und für andere geologische Fragen eine bedeutende Tragweite haben, wollen wir hier einen kurzen Auszug der Resultate geben. Spring benutzte einen Apparat, mit welchem er einen mechanischen Druck bis zu 10000 Atmosphären aus- üben konnte. Feilspähne von weicheren Metallen und auch das Pulver einzelner der spröderen liessen sich bei 14° C. leicht zu einem Block vereinigen, der von geschmolzener Masse kaum zu un- terscheiden war. Bleifeile verschmolzen schon bei 2000 Atm., und bei 5000 quoll das Blei aus allen Fugen, als ob 439 es geschmolzen wäre. Ebenso Zinn bei 5000 Atm. Feingepulvertes Antimon, Wismuth, Kupferspähne verwandelten sich bei einem Druck von wenig über 6000 Atm. in feste Massen, die auf dem Querschnitt aussahen, als seien sie vorher geschmolzen, die ersteren beiden mit krystallinischem Bruche. Während amorphe Zuckerkohle noch bei dem höchsten ausführbaren Druck negative Resultate ergab, vereinigte sich Graphit- pulver schon bei einem Drucke von 5500 Atm. zu einem dem natürlichen Graphit ähnlichen Körper, ebenso Braun- steinpulver bei 5000 Atm. Durch Fäll- ung dargestellte Thonerde gab bei dem- selben Druck eine kompakte durch- scheinende Masse und verhielt sich fast wie ein Fluidum. Pulver von magerer oder fester Kohle wird bei einem Druck von 6000 Atm. in einen festen glän- zenden Block verwandelt, der sich bei diesem Druck geradezu kneten liess, und Torf verschiedener Herkunft von brauner Farbe und mit vieler Pflanzenfaser ver- wandelte sich bei demselben Druck in einen schwarzen glänzenden Block durch- aus vom Ansehen der Steinkohle und mit der blättrigen Struktur derselben. Die organische Textur war vollkommen verschwunden und auch der Torf war bei dem erwähnten Druck völlig pla- stisch. Stücke des gepressten Torfes- liessen sich verkoken wie Steinkohle. Verhielten sich die festen Körper schon in obiger Beziehung dem Eise ähnlich, als ob sie nämlich geschmol- zen würden, so trat dies noch mehr hervor bei Gemengen, deren Bestand- theile eine chemische Reaktion aufein- ander ausüben. CAILLETET und PFAFF haben schon früher gezeigt, dass che- mische Reaktionen, bei denen das Vo- lumen der Massen sich vermehrt, wie z. B. wenn man Schwefelsäure auf Kreide giesst, bei einem stärkeren Drucke nicht mehr eintreten, dagegen werden Ver- einigungen, deren Produkte einen ge- ringeren Raum einnehmen, durch den 440 mechanischen Druck ebenso befördert, als ob die Körper geschmolzen wären. Auf diese Weise verhanden sich Kupfer und Schwefel bei 5000 Atm. zu kry- stallisirttem Kupferglanz, Quecksilber- chlorid und Kupferspähne erzeugten ein Conglomerat von Kupferchlorid und Quecksilbertröpfehen. Das weisse Ge- misch von trockenem Chlorquecksilber mittrockenemJodkalium verwandelt sich schon bei 2000 Atm. in einen kompak- ten Block von gleichmässig rother Farbe, der aus Jodquecksilber und Chlorkalium besteht, indem sie die Bestandtheile aus- tauschen, als wäre die Masse verflüs- sigt worden. Ohne Zweifel haben diese Versuche ein grosses Interesse sowohl für die Er- klärung gewisser plastischer Erschein- ungen in den Sedimentschichten, wie für metamorphische Erscheinungen un- ter Entstehung mikroskopischer Kry- stallbildungen in dichter Masse, wofür man sonst nach ganz verschiedenen Er- klärungen gesucht hat. Die Stammbildung der Calamarien. In einer grösseren Arbeit über die Morphologie der Calamarien hat D. Sur (Sitzungsber. der Wiener Akademie der Wissensch. Bd. 83, 1881) eine Anzahl sehr wichtiger Daten über den Aufbau dieser baumartigen Schafthalme der Primär- und Sekundärzeit beigebracht. Von besonderem Interesse ist, was er in einem Resume über die Bildung des Stammes sagt, dessen Holzkörper im Wesentlichen zu allen Zeiten gleich und dem innern Bau des Equisetenstengels analog geblieben ist. So hat Verf. auch bei solchen hierhergehörigen Pflanzen, die äusserlich im fossilen Zustande die Quergliederung nicht erkennen lassen, wie Calamites bistriatus Corna durch Längsschnitte dieselbe nachweisen kön- nen. Die älteren englischen Calamiten zeigen eine geringere Dicke des Holz- Kleinere Mittheilungen und Journalschan. körpers als die französischen, sächsi- schen und böhmischen Arten, welche jünger sind. Ueberhaupt fällt das Maxi- mum der Entwicklung des Holzringes in die Zeit des Rothliegenden und der obersten Steinkohlenschichten. Stur ver- gleicht beispielsweise den Holzkörper von drei demselben Typus angehörigen Galamiten und findet ihn bei (©, ostra- viensis STUR aus den untern Steinkohlen- schichten 3—5 mm mächtig, bei €. Schützei Stur in den mittleren Stein- kohlenschichten 100 mm und bei €. al- ternans GERM. der obersten Schichten 200 mm dick. Verfolgt man die Cala- marien bis zur Trias und darüber hin- aus, so bemerkt man eine beträchtliche Abnahme ihrer Holzentwicklung, und bald sehen wir sie die Stammentwick- lung betreffend, auf der pygmäenhaften Degenerationsstufe, die sie noch heute zeigen. Schon bei den alten Arten ist der Bau des Stammes nach WILLIAMSON dem der heutigen Equiseten um so ähn- licher, je geringer die Entwicklung des Holzkörpers bei ihnen auftritt. Mit der stärkeren Entwicklung des Holzkörpers hat sich auch die Complikation der üb- rigen Strukturverhältnisse vermehrt. Als die auffälligste Thatsache im Leben der Calamarien wird von Stur der Umstand bezeichnet, dass die Calamarien trotz der grossartigsten Veränderungen, denen sie im Laufe der Zeiten unterlegen sind, doch in ihren kleinsten und wesentlich- sten Eigenthümlichkeiten immer ihren Typus getreu bewahrt haben, ohne Nei- gung in andere, mehr oder weniger nahestehende Gruppen überzugehen. Was den anatomischen Bau betrifft, so sind die Gefässbündelstränge ge-. schlossen, bleiben in der gesammten Höhe des Internodiums getrennt und vereinigen sich erst in der Internodial- linie. Die Primärmarkstrahlen sind nach WILLIAMSON und UNGER nicht gleich- geordnet, wie die der Gymnospermen, sondern stehen nur mit den Längsachsen ihrer Zellen radial, aber diese selbst Kleinere Mittheilungen und Journalschan. vertikal und sind nicht niedrig wie jene, sondern haben die Höhe des ganzen Internodiums, weshalb sie im tangen- tialen Schnitt den Gefässbündelsträngen oft sehr ähnlich erscheinen. Ebenfalls vertikal gestellt sind die Sekundär-Mark- strahlen, aber niedriger und denen der Gymnospermen ähnlicher, aus Prosen- chymzellen zusammengesetzt. Hierzu kommen nun noch die der Internodial- Knospenquirle (Blatt, Wurzel, Zweige), welche den Gymnospermen fehlen, da- gegen auch bei den dickwandigen Cala- miten vorhanden sind. Bedenklicher erscheinen einige Fol- gerungen, welche STUR aus einer ge- wissen Verschiedenheit der Zweige zieht. Die Aeste der lebenden Equiseten sind nach MıLpeE mit dem Stamme verglichen, entweder gleich gestaltet (homomorph), d. h. rundlich oder glatt, oder ungleich gestaltet (heteromorph), d. h. kantig. Eine gleiche Verschiedenheit der Zweige glaubt nun Stur bei den fossilen Arten nachweisen zu können, und er stellt in dieser Beziehung die rundlichen Zweige der Annularia und Asterophyllites ge- tauften Arten, welche einnervige Blätter wie Oalamites besitzen, den Zweigen von Sphenophyllum, die kantig sind oder we- nigstens zum Unterschiede von jenen mehrnervige Blätter tragen, als hetero- morphe entgegen. Da bei den lebenden Equiseten die homomorphen Zweige häufig Endährchen tragen, die hetero- morphen nie, oder monströse Bildungen, so glaubt Stur, dass jene für Verzweig- ungen verschiedener Gattungen gehal- tenen Zweige oft zu einer und dersel- ben Art gehört haben mögen, und die verschiedenwerthigen Sporangien-Aeh- ren getragen haben, deren Sporen ent- weder männliche oder weibliche Vor- keime erzeugten. Die homomorphen Aeste der Calamiten (Asterophyllites und Annularia) trügen sogenannte Brug- mannia-Aehren (Oalamostachys), welche nach Renaust’s Beobachtungen Mikro- sporen enthielten, die heteromorphen 441 (Sphenophyllum-) Aeste sogenannte Volk- mannia-Aehren mit Makrosporen. Dieser gewagten Theorie muss man gegenüber- halten, dass unsere lebenden Equiseten nicht zweierlei Aehren besitzen und dass WILLIAMSON in einer und derselben Aehre (von Calamostachys Binneyana) Makro- und Mikrosporen gefunden hat. Jeden- falls sind daher weitere Bestätigungen für diese Annahme nöthig, wie dies Weiss in einer Kritik dieser Arbeit mit Recht betont hat. Ueber das Zusammenleben von Algen und Thieren hielt K. Branpr einen Vortrag in der Berliner physiologischen Gesellschaft, in welchem mehrere höchst merkwürdige biologische Thatsachen mitgetheilt wur- den, woraus wir nach dem eigenen Re- ferate des Beobachters im > Biologischen Centralblatt< (No. 17, 1881) einige Einzelnheiten mittheilen wollen. Das Vorhandensein oder Fehlen des Chloro- phylis bedingt eine Grundverschieden- heit in der Ernährung bei Pflanzen und Thieren. Die grünen Pflanzen sind ver- möge ihrer Chlorophylikörper im Stande, anorganische Stoffe zu assimiliren, wäh- rend die Thiere zu ihrer Ernährung organischer Substanzen bedürfen. Wäre dieser Unterschied ein durchgreifender, so würde er unstreitig als der bedeut- samste von allen anzusehen sein. Einer- seits aber giebt es Pflanzen, die kein Chlorophyll besitzen, die Pilze; andererseits sind schon seit langer Zeit Thiere bekannt, welche Chlorophyll enthalten, z. B. der Süsswasserschwamm (Spongilla), der Armpolyp (Hydra), ver- schiedene Strudelwürmer (Vortex u. A.), zahlreiche Infusorien (Stentor, Paramoe- eium, Vorticellinen) und endlich auch Rhizopoden (Monothalamien, Heliozoen 8 W.): Die Pilze ernähren sich wie die chlorophylifreien Thiere durch Aufnahme 442 organischer Stoffe, dagegen ist es noch nicht zur Genüge festgestellt, ob die genannten chlorophyliführenden Thiere sich nach Art echter Pflanzen allein durch Verarbeitung anorganischer Stoffe zu ernähren vermögen, — ob sie mit andern Worten bei reichlicher Luftzu- fuhr und gehöriger Belichtung in fil- trirtem Wasser leben können. Ehe aber dieser Frage näher getreten werden konnte, musste erst die andere, zunächst wichtigere entschieden werden, ob die bei den Thieren vorkommenden Chloro- phylikörper wirklich von den Thieren selbsterzeugte, dem pflanzlichen Chloro- phyll morphologisch entsprechende Ele- mentartheile seien, oder ob man es mit einzelligen pflanzlichen Organismen zu thun habe, die in den Thieren schmarotzen? Es galt mit andern Wor- ten zu entscheiden, ob die grünen Körper der Thiere Theile von Zellen oder selbst Zellen sind, ob sie morpho- logisch und physiologisch von dem Ge- webe, in dem sie vorkommen, abhängig oder unabhängig sind. Die morphologische Untersuchung wurde an Hydren, Spongillen, einer Planarie und zahlreichen Infusorien (Stentor, Paramoecium, Stylonychia und verschiedenen Vorticellinen) vorgenom- men und zwar in der Weise, dass die grünen Körper durch Quetschen aus den Thieren isolirt, und dann mit star- ken Vergrösserungen untersucht wur- den. Alle an den verschiedensten Ob- jekten angestellten Untersuchungen er- gaben hierbei nun das übereinstimmende Resultat, dass die grünen Körper der Thiere nicht wie die Chlorophylikörper der Pflanzen gleichmässig grün sind, sondern neben der grün gefärbten Masse auch farbstofffreies Protoplasma und mindestens einen Zellkern enthalten, welcher durch die Behandlung mit Hä- matoxylin sicher nachgewiesen werden konnte. Mitunter waren sogar mehrere Zellkerne als Zeichen beginnender Theil- ung vorhanden, während Chlorophyll- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. körper natürlich niemals einen Zellkern enthalten. Die grünen Körper der Thiere ent- sprechen also nicht den Chlorophyll- körpern der Algen, sondern selbststän- digen Organismen; es sind selbst ein- zellige Algen, welche Branprt Zoochlo- rella nennt. In Aktinien und Radiolarien kommen unter ähnlichen Verhältnissen lebende gelbe Zellen vor, die von Branpr als Zooxanthella unterschieden wurden. Um nun neben der morphologischen auch die physiologische Unabhängigkeit dieser grünen Zellen zu beweisen, wur- den sie von verschiedenen Thieren isolirt, und lebten im freien Zustande tage- und wochenlang weiter, indem sie im Sonnenlicht Stärkemehl bildeten. Vollkommen chlorophyllfreie Infusorien und Hydren wurden mit denselben in- fieirt, und sie erhielten sich auch in den neuen Körpern lebendig. Aus diesen Untersuchungen scheint somit hervorzugehen, dass selbstgebilde- tes Chlorophyll bei echten Thieren fehlt, und dass es, wenn in ihrem Körper vorhanden, von eingewanderten Pflanzen herrührt. Das interessanteste Ergeb- niss dieser Untersuchungen bestand aber in der Beantwortung der Frage nach der Bedeutung der grünen und gelben Algen für die Thiere, in denen sie vor- kommen. Um dieser Frage näherzu- treten, wurden zunächst Radiolarien- kolonien, welche zahlreiche gelbe Zellen enthielten, in filtrirtes Meerwasser ge- setzt. Sie lebten darin nicht allein fort, sondern blieben noch weit länger am Leben, als die Exemplare, die mit andern Organismen zusammenbelassen' waren. Da nun die Radiolarien als echte Thiere vollkommen ausser Stande sind, sich anders als von organischen Stoffen zu ernähren, da aber anderer- seits nur Luft und Wasser ihnen zur Verfügung standen, so können sie nur dadurch am Leben erhalten worden sein, dass die in ihnen lebenden gelben Kleinere Mittheilungen und J ournalschau. Zellen die dargebotenen anorganischen Stoffe bei Gegenwart des Lichts zu organischen verarbeiteten. Weitere Ver- . suche ergaben, dass auch die grünen Süsswasserschwämme am besten in fil- trirtem Wasser zu züchten sind. Hier- mit ist bewiesen, dass dieZooxanthellen und Zoochlorellen die Thiere, in wel- chen sie leben, vollkommen am Leben erhalten. So lange die Thiere wenig oder gar keine grünen oder gelben Algen enthalten, ernähren sie sich wie echte Thiere durch Aufnahme fester organischer Stoffe; sobald sie aber ge- nügende Mengen von Algen enthalten, ernähren sie sich wie echte Pflanzen durch Assimilation von anorganischen Stoffen. In dem letzteren Falle funk- tioniren die in den Thieren lebenden Algen völlig wie die Chlorophylikörper der Pflanzen. Der Fall dieses Zusammenlebens ist also ähnlich der von SCHWENDENER und Borner entdeckten Vergesellschaf- tung von Algen und Pilzen in den so- genannten Flechten. Wie bei den Flech- ten der Pilz, so schmarotzt bei den Phytozoen* das Thier auf der Alge. Bei den Flechten sind aber die Pilze sowohl in morphologischer als auch in physiologischer Hinsicht die Parasiten, während bei den Phytozoen in mor- phologischer Hinsicht die Algen, in physiologischer die Thiere die Schma- rotzer sind. Es ist dies der denkbar eigenthümlichste Fall des Zusammen- lebens zweier Organismen. Nach einem Berichte von Prof. Dr. GezzA Enz in Klausenburg (Biologisches Centralblatt I. No. 21. 1882) hatte derselbe über das Zusammenleben ein- zelliger Algen im Körper niederer Thiere schon 1876 einen eingehenden Bericht in ungarischer Sprache veröffentlicht. Besonders hervorzuheben daraus ist die Beobachtung, dass »einzelne der sich * K. BrAnDT bezeichnet die hier in Rede stehenden Thiere als Phytozoen oder Pflanzenthiere, eine Bezeichnung, die aber 445 im Thierkörper rapide vermehrenden grünen Kügelchen aus dem Ektoplasma in das Innere des Infusorienkörpers gedrängt werden, um hier wie eine von aussen aufgenommene Nahrung einfach verdaut zu werden, und somit ihre Miethe dem Miethsherrn mit Naturalien zubezahlen. Zwischen den Infusionsthier- chen und ihren grünen Körperchen exi- stirt also ein ganz eigenartiges Ver- hältniss: Jene bieten sichere Wohnung, diese aber liefern eine unerschöpfliche Nahrungsquelle ; nebenbei versieht das Infusionsthier seine Gäste unzweifelhaft mit Kohlensäure, diese aber erzeugen für dasselbe Sauerstoff. Die Zoochlo- rellen Branpr’s hält Entz für einen Zustand, welchen die verschiedensten Algen im Ektoplasma niederer Thiere annehmen können. Die Rolle des Tetronervihrins im Thier- körper. In der nackten Haut vieler Vögel, namentlich bei den Tetraoniden, z. B. in der Rose des Auerhahns, wurde vor längerer Zeit ein besonderer rother Farbstoff entdeckt, der sich in Alkohol, Chloroform, Aether und Schwefelkohlen- stoff ausziehen lässt, und im Lichte ausbleicht. Spätere Untersuchungen er- wiesen, dass dieser selbe Farbstoff, welcher nach seiner ersten Entdeckung bei den Tetraoniden den Namen Te- tronerythrin erhalten hatte, auch in den rothen Flecken der Forelle, in den Oberhautgebilden „des Krebses und end- lich in den Oberhautgebilden sehr vieler grün, braun, blau und schwarz gefärbter Wirbelthiere und Wirbellosen vorkommt, indem der rothe Farbstoff, wie in der Schale des Krebses durch dunkle Pig- mente maskirt wird, die (in diesem Falle durch kochendes Wasser) ent- wegen der Verwirrung, die sie anrichten würde, keinenfalls beibehalten zu werden verdient. 444 fernt werden müssen, ehe der rothe Farbstoff hervortritt. In der Sitzung der Pariser Akademie vom 12. Dezember 1881 wurde nun eine Arbeit von C. DE MEREJKOWSKY vorgelegt, in welchem er die Gegenwart dieses Farbstoffs bei nicht weniger als 109 Thierarten aller Klassen nachgewiesen hat, so dass sich von selbst die Frage erhebt, ob der- selbe, dessen optische Wirkung ohne- hin so häufig durch dunklere Pigmente verdeckt ist, vielleicht eine besondere physiologische Rolle im Leben der betreffenden Thiere spiele. MEREJKOWSKY glaubt nun beweisen zu können, dass dieser namentlich bei den niederen Thieren weitverbreitete Farbstoff eine ähnliche Rolle spiele wie der Blutfarb- stoff (Hämoglobin) der höheren Thiere, dass er nämlich kraft seiner grossen Verwandtschaft zum Sauerstoff energischen Hautathmung diene. Wenn man seine Vertheilung in den Organen betrachtet, so findet man, dass er im- mer in solchen vorhanden ist, wo ein kräftiger Sauerstoff-Austausch stattfin- den kann, sei es in den Hautgeweben, oder in den Kiemen gewisser festwach- sender Ringelwürmer,, oder in dem Muskelfuss von Blattkiemern, Organen, die sämmtlich unmittelbar und bestän- dig mit dem sauerstoffhaltigen Wasser in Berührung sind. Was seine Ver- theilung im Thierreiche anbetrifft, so springt der Umstand in die Augen, dass festsitzende Thiere häufiger Tetronery- thrin enthalten als umherziehende, die letzteren sind durch beständigen Orts- wechsel in der Lage, leichter sauer- stoffreiches Wasser aufzusuchen, als die an bestimmte Plätze gebundenen, wel- che vielleicht deshalb ein kräftigeres Bindungsmittel bedürfen. Da das Te- tronerythrin vorzugsweise bei wirbel- losen Thieren vorkommt, welche kein Hämoglobin besitzen, und nur ausnahms- weise bei Wirbelthieren, so deutet die- ser Umstand bereits auf eine Aehnlich- keit in der Funktion beider Stoffe hin. einer Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Es ist ferner bemerkenswerth, dass die in dem vorhergehenden Artikelierwähnten Thiere, welche mit grünen oder gelben Zellen (parasitischen Algen) versehen sind, welche freien Sauerstoff in ihren Ge- weben produciren, entweder gänzlich des Erythronerythrins ermangeln, oder doch nur Spuren desselben enthalten. (Comp- tes rendus du 12. Decembre 1881.) Focäne Vögel. Im Jahre 1878 hatte RichArD OwEn den Humerus eines grossen Vogels aus dem eocänen Lehm von Sheppey bei London erhalten und nannte den Vogel, dem er angehört hatte, Argillornis longi- pennis, wobei er den anatomischen Eigenthümlichkeiten nach vermuthete, dass das Thier zu den Porcellariiden gehört habe und den Albatross-Arten ähnlich gewesen sei. Wie nunmehr Owen im Journal of the Geological Society (t. XXXVI. p. 25) berichtet, ist neuerdings in derselben Schicht ein Schädelfragment gefunden worden, wel- ches aller Wahrscheinlichkeit nach der- selben Art angehört, und erkennen lässt, dass dieser Vogel noch Zähne im Schna- beltrug, wie die amerikanischen Kreide- vögel und zwar scheint dieses Thier zu der Unterabtheilung der Odontotor- mae Marsı * zu gehören und seinen Platz unmittelbar neben Ichthyornis und Apatornis einzunehmen. Es ist dieser Argillornis mithin der dritte aus euro- päischen Schichten bekannt gewordene Zahnvogel, wenn man nächst dem Archae- opteryx den ebenfalls von Owen beschrie- benen Odontopteryx derselben Schichten hierher rechnen will, obwohl bei diesem Vogel nur der Hornschnabel gezähnt ge- wesen zu sein scheint. In der Sitzung der Pariser Aka- demie vom 26. Dezember 1881 legte Vıcror LEMOINE eine Arbeit über zwei neue Vögel des unteren Eocäns in der * Vgl. Kosmos Bd. IX, S. 159. ee Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Nähe von Rheims vor, welche er @Ga- stornis Edwarsii und Remiornis Heberti genannt hat. Der Erstere nähert sich in manchen Beziehungen den Lauf- und Schwimmvögeln, aber bietet so viele Abweichungen und namentlich so viele reptilischen Charaktere dar, dass er einen von allen lebenden und fossilen Vögeln, welche wir kennen, verschiede- nen Typus repräsentirt, und somit zum Vertreter einer eigenen Abtheilung er- hoben werden muss. Der zweite, viel kleinere Vogel weicht in seinem Gesammtbau weniger von den heute lebenden Vögeln ab, indessen sind immerhin bedeutende Ver- schiedenheiten vorhanden. Ueber den Ursprung der eigenthümlichen Fussbildungen der Hufthiere hat kürzlich der unermüdliche ameri- kanische Paläontologe E. D. Corn zwei Arbeiten veröffentlicht *, in denen er im Allgemeinen den von RypEr aufge- stellten Gesichtspunkten ** folgt, aber doch einige neue Bemerkungen hinzu- fügt, weshalb wir hier einen kurzen Auszug daraus geben wollen. Ganz wie Ryper leitet er die Reduktion der Zehenzahl in den beiden Linien der Artiodaktylen und Perissodaktylen, wel- che bei den Pferden und einigen Wie- derkäuern am weitesten gegangen ist, von der Wirkung der Anstrengungen dieser Thiere, um auf einem mehr oder weniger unebenen Boden sicher zu lau- fen, her. Man weiss, dass solche An- strengungen und Stösse zu einer vor- theilhaften Entwickelung des Gliedes in der Richtung führen, in welcher die Kraft wirkt, dergestalt, dass daraus eine direkte Beziehung zwischen der Länge und Kraft der Beine und der Geschwindigkeit des Laufes, sowie der * The American Naturalist 1881, p. 269 u. 542. 445 besonders in Gebrauch genommenen Zehen folgt, und zwar soll nach Cop ein frühes Aufgeben des ursprünglichen sumpfigen Wohnterrains die Entstehung der Unpaarhufer, ein längeres Verweilen auf demselben die Entstehung des Paar- hufer-Typus begünstigt haben. Die älte- sten eocänen Hufthiere, welche die Ordnung der Amblypoden Core’s (Co- ryphodontiden Mars#) bilden, wobei die Gattung (oryphodon*** als typisch betrachtet wird, besassen sämmtlich an den Vorder- und Hinterfüssen fünf Zehen und traten mit der vollen Sohle auf. Man betrachtet sie, wie an letzteitirter Stelle ausführlich dargelegt wurde, als die gemeinsamen Ahnen der Paarhufer und Unpaarhufer, deren Fuss, weil er ausschliesslich als Lokomotionsorgan zu dienen hatte, sich durch Vereinfach- ung der besondern Natur des Bodens besser angepasst hat. Die Amblypoden lebten allem Anscheine nach auf einem feuchten und sumpfigen Terrain; ihre Abkömmlinge haben auf den grossen Ebenen unserer modernen CGontinente einen mehr trockenen und harten Boden gefunden, wo die Nothwendigkeit einer schnellen Bewegung und Flucht vor den Raubthieren ihnen längere und straffer gebaute Beine verschaffte. An dem Beine des Pferdes können wir alle Stufen dieses Vereinfachungsprozesses bis zu dem Ideal des Einhufers ver- folgen. Andererseits sieht man bei jedem auf einem durchweichten Boden wandelnden vielzehigen Thier, dass der mechanische Effekt des Körpergewichtes dahin führt, die Zehen gleichmässig von der Mittellinie nach beiden Seiten hinwegzudrücken. Darnach kann man annehmen, dass alle diejenigen Ab- kömmlinge des fünfzehigen Urtypus, welche aus irgend einem Grunde (z. B. wegen einer ausgesprochenen Vorliebe für eine gemischte Nahrung) vorgezogen ** Kosmos Bd. II, p. 515-517. *** Kosmos Bd. II, p. 419—424, 446 hatten, in den Sümpfen zu bleiben, die Ahnen des artiodaktylen Typus gewor- den sind, z. B. die schweineartigen Thiere, welche vier Zehen an jedem Fusse besitzen. Nach und nach habe die Nothwendigkeit, die Seitenzehen gegen die Stösse zu schützen, dazu geführt, sie hinter den beiden Mittel- zehen zurückzuziehen, und so sei der gespaltene Fuss der modernen Wieder- käuer entstanden.“ Zur Stütze seiner Hypothese macht Copz darauf aufmerk- sam, dass bei mehreren omnivoren Perissodaktylen mit mehr oder weniger Neigung zum Sumpfleben, wie bei den Tapiren, noch immer vier Zehen vorn verblieben sind. An den Hinterfüssen haben sie nur drei Zehen, was sich durch die vorwiegende Inanspruchnahme der Hinterfüsse beim Laufen und Sprin- | gen erklärt. Im Gegentheile ist bei einem monströsen Hirsch aus Mendo- cino County (Kalifornien) anscheinend nur eine einzige Zehe an jedem Fusse entwickelt, eine genauere Untersuchung zeigt indessen, dass die Hinterfüsse in Wirklichkeit gespalten sind, obwohl die Phalangen mit einander verwuchsen, aber das Vorderglied ist deutlich pe- rissodaktyl, da alle Zehen mit Aus- nahme der dritten rudimentär geblieben sind. Die fossile Gattung Eurytherium des französischen Eocäns bietet die- selbe Eigenthümlichkeit, sie gehört nach den Hinterbeinen zu den Paarhufern, nach den Vorderbeinen zu den Unpaar- hufern, und diese häufigen Zwischen- stufen liefern einen Beweis mehr von dem gemeinsamen Ursprung der beiden heute so wohl getrennten Reihen. CorE zeigt ferner unter Zuhülfenahme zahl- reicher Figuren, dass die Bildung des Tarsus und Carpus ebenso wie die äussere Bildung obigen Theorien ent- spricht. Hinsichtlich der künftigen Weiter- vereinfachung des Fusses der Pferde hat Forsyrm MAsorR in einer neuerlich veröffentlichten Arbeit über fossile Pferde Kleinere Mittheilungen und Journalschau. (Abhandl. der schweizerischen paläon- tologischen Gesellschaft, Bd. VII. 1880) eine von den früheren Ansichten ab- weichende Meinung aufgestellt. KowA- LEWSKY betrachtet als Endziel der Ex- tremitäten-Reduktion beim Pferde den absoluten Einhufer, also gänzliches Verlorengehen der Griffelbeine in der Zukunft, so dass das ganze Cuneiforme II dereinst für den Medius in Anspruch genommen werden wird. ForsytH kon- struirt sich, indem er von der im Alter merklich werdenden Tendenz unserer Pferde, die Griffelbeine mit den Meta- podien verwachsen zu lassen, ausgeht, das Zukunftspferd in der Weise, dass allein die Diaphysen der Griffelbeine verloren gehen, ihre Gelenkköpfe jedoch mit dem Medius gänzlich verschmelzen und auf diese Weise erhalten bleiben. Der Stammbaum der Rhinoceronten. In einer Arbeit über die ausgestor- benenRhinoceronten Nordamerika’s(Bull. of the U. St. Geol. and Geogr. Survey Vol. V, Nr. 2), in welcher auch die sonstbekannten ausgestorbenen und le- benden Arten der andern Erdtheile be- rücksichtigt werden, stellt D. E. Cork folgenden Stammbaum für diese Gruppe auf: Coelodonta KRhinoceros Atelodus Re Ceratorhinus Zalabis Aphelops | Acerathersum 7 p* Die von Kaup aufgestellte Gattung Aceratherium, derensieben bekannteArten im unteren und mittleren Miocän Ameri- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. ka’s und den mittleren Miocän Euro- pa’s gefunden worden sind, zeichnet sich dadurch aus, dass sie an den Vorder- füssen noch vier Zehen besass und da- durch in dieser Beziehung der fünf- zehigen Ahnenform am nächsten stand. Gleichzeitig war sie hornlos, wie denn auch alle späteren amerikanischen Ge- schlechter hornlos geblieben sind *. Ihre Zahnformel war noch eine ziem- 20.9; E 1 hier bemerkt werden, dass alle bis jetzt bekannten Rhinoceronten oben und un- ten sieben Backenzähne besassen und dass allen, auch schon den ältesten hier aufgeführten Angehörigen die oberen Eckzähne fehlten. Eine noch reichere Zahnformel, näm- lich auf jeder Seite oben drei und un- ten zwei Schneidezähne besass die im indischen Pliocän gefundene Gattung Zalabis Copr’s, welche also in dieser Beziehung der gemeinsamen Stammform näher stand. Es ist davon nur eine Art bekannt, die zu der hörnertragenden altweltlichen Reihe gehört. Am Vorder- fuss sind wie bei allen übrigen Formen nur drei Zehen vorhanden. Nach LyDERKER (in seinen neuen Veröffent- lichungen über die Siwalik- und Ner- budda-Funde) existirt diese CorE’sche Gattung nicht, und ist fälschlich auf Milchgebisse der Arten ohne Schneide- zähne begründet. Auch bei den leben- den Arten, die gar keine Schneidezähne mehr besitzen, treten nämlich als Er- innerung an die zahnreicheren Ahnen- formen vier Schneidezähne in beiden Kiefern auf, fallen aber sehr früh aus, ohne ersetzt zu werden. Die mit 3—4 Arten lich reiche, nämlich — im obern * Es muss hier erwähnt werden, dass MARSH aus dem mittleren und oberen Kocän zwei Gattungen (Colonoceras und Dicera- therium) beschrieben hat, welche er für die ältesten Nashörner ansieht, und welche auf dem Nasenbein zwei Hornansätze trugen, die aber nicht hintereinander, wie bei den späte- 447 Miocän Amerika’s vertretene Gattung Aphelops Corps ist ebenfalls hornlos und hatte einen oder zwei Schneidezähne weniger als Aceratherium. Von ihr hat CorE neuerdings die im obern Miocän Nebraska’s vertretene Gattung Peraceras, welche sich wie die lebenden afrikani- schen Nashörner (Atelodus) durch gänz- lichen Mangel der Schneidezähne aus- zeichnet und als deren Ahn sie gelten könnte, getrennt. Sie war indessen, wie alle amerikanischen Arten ohne Nashorn. Die Gattung Oeratorhinus Gray, welche mit je einer Art im mittleren und obe- ren Miocän Europa’s vertreten ist, und noch jetzt auf Sumatra und Malacca in je einer Art weiterlebt, gehört zu den ältesten mit ein oder zwei Hörnern auf der Nase versehenen Arten, besass wie die Gattung Rhinoceros oben und unten jederseits einen Schneidezahn und unten einen Eckzahn, unterscheidet sich aber von diesen durch das freie Post- tympanicum. Die Gattung Khinoceros trat zuerst im oberen Miocän Indiens mit zwei Arten auf und ist in der Jetztzeit durch je eine Art in Indien und auf Java vertreten. Die von Pomzrn aufgestellte Gattung Atelodus, welche gleich den folgenden oben und unten derSchneide-und Eckzähne er- mangelt, war durch jene eine Art im obern Miocän und Pliocän Europa’s vertreten, von denen die letztere das vielgenannte wollhaarige Nashorn (Atelodus leptorhinus) darstellt. Sie lebt in zwei afrikanischen Arten noch heut fort. Die letzte der aufgeführtenGattungen, Bronn’s Coelodonta unterscheidet sich von der vorigen durch die knöcherne Nasenscheidewand, welche den vorher- ren Nashörnern, sondern nebeneinander, wie bei den Dinoceraten standen. Dieselbe Eigen- thümlichkeit wird auch von einem miocänen europäischen Nashorn (Rhinoceros pleuroceros DUVERNOY) berichtet. Vgl. Kosmos Bd. II, S. 428. 448 venannten Gattungen fehlt, sie war durch drei Arten im Pliocän und Postpliocän Europa’s und Sibiriens vertreten, ist aber völlig ausgestorben. Kin merkwürdiger Heilinstinkt beim Hunde. Die Schriftsteller des klassischen Al- terthums, und namentlich diejenigen, welche die Thiergeschichte anekdoten- haft behandelt haben, wie AELIAN, Puivivs u. A. sind mit Berichten er- füllt, welche uns erzählen, dass kranke Thiere die ihnen dienlichen Heilmittel aus der Thier- oder Pflanzenwelt sehr wohl zu finden wüssten und dass sie in dieser Hinsicht, wie in so vielen an- dern, die Lehrmeister der Menschen ge- wesen seien. Statt aller der zahlreichen Beispiele, die sich bei den erwähnten Schriftstellern finden, und wie wir mit Er- staunen bemerken, meist dem ARISTOTELES nacherzählt wurden, mag hier der zu- sammenfassende Bericht wiedergegeben werden, welchen PuurAkrcH in seiner lesenswerthen Abhandlung: „Ob die Land- oder Wasserthiere klüger sind“, diesen Heilinstinkten der Thiere gegeben hat. von „DEMOKRIT“, sagt er, „lehrt, dass wir selbst in den wichtigsten Dingen Schüler der Thiere gewesen sind, zum Beispiel von der Spinne im Weben und Nähen, von der Schwalbe im Bauen, von den Singvögeln im Singen unterrichtet worden sind. Sogar von den drei Gattungen der Arzneikunst (Medi- ziu, Diätetik und Chirurgie) finden wir bei ihnen die deutlichsten Spuren. Sie kennen ‘erstens die Heilung der inneren Krankheiten durch Medikamente. So bedienen sich die Schildkröten sogleich des Dostenkrautes und die Wiesel der Raute, wenn sie etwas von einer Schlange gefressen haben. Die Hunde heilen sich von der Gallensucht durch ein gewisses purgirendes Kraut. Die Schlange reibt ihre blöde gewordenen Augen am Fen- chelkraut und macht sie dadurch wieder hell. Der Bär frisst, wenn er aus seiner Höhle hervorgeht, zu allererst wildes Arum, dessen * Bei ARISTOTELES und vielen andern Schriftstellern sind statt der Ziegen die Hirsche Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Speise die zusammengeschrumpftenEingeweide eröffnet. Verspürt er Uebelkeit, so geht er zu einem Ameisenhaufen, wühlt ihn um und setzt sich dabei hin, indem er seine von einem süssen Safte klebrige Zunge weit her- ausstreckt, bis sie voller Ameisen ist; denn das Verschlucken derselben ist ihm sehr heil- sam. Auch sollen die Aegypter dem Vogel Ibis, der sich durch Einspritzungen von Seewasser purgirt, das Klystiergeben abge- lernt haben, und die Priester derselben brau- chen zu ihrem Weihwasser kein anderes, als solches, wovon ein Ibis getrunken hat, weil dieser Vogel kein verdorbenes oder un- gesundes Wasser anrührt. Auch heilen sich einige durch Enthaltung von aller Nahrung, wie z. B. die Wölfe und Löwen, die, wenn sie des Fleisches satt und überdrüssig sind, ruhig und stille liegen und sich nur zu er- wärmen suchen. Man erzählt von einem Tiger, der, als ihm ein Bock übergeben worden war, zwei Tage lang Diät hielt und ihn nicht anrührte, am dritten Tage, als der Hunger mächtig wurde, verlangte er nach anderer Nahrung und drohte seinen Käfig zu zerbrechen, ohne den Bock anzurühren.... Selbst von der Chirurgie sollen die Elephan- ten Gebrauch machen. Sie nähern sich, wie man erzählt, den Verwundeten und ziehen ihnen die Spiesse, Lanzen nnd Pfeile ohne Schaden und Verletzung sehr geschickt aus den Wunden. Die Ziegen in Kreta, die durch den Genuss des Diptams * die Pfeile ausihrem Körper hheraustreiben, haben schwan- geren Weibern die abtreibende Kraft dieses Krautes angezeigt. Denn sobald sie ver- wundet werden, suchen sie mit grösster Be- sierde das Diptamkraut auf.“ Offenbar ist in diesen Erzählungen Wahrheit und Dichtung stark gemischt. Einzelnes indessen, wie z. B. der Be- richt über die strenge Diät, der sich kranke Thiere unterwerfen, wird jeder Thierbeobachter bestätigen. Dagegen werden die meisten Personen die Be- richte über die Kenntniss und den Gebrauch gewisser Heilpflanzen für Mär- chen halten, und der Schreiber dieser Zeilen hat es früher gleichfalls gethan. Auffallend musste es allerdings sein, dass ARISTOTELES, der als ein so genauer Be- obachter der Thiere bekannt ist, diese Erzählungen in seiner Naturgeschichte der nicht Dietamnus albus L. sondern Origanum Dictamnus L. sein. Es sind übrigens beide genannt. Der hiergemeinte Diptam soll aber | scharf vewirzhafte Kräuter. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Thiere mit besonderem Nachdruck erzählt und sich dabei auf die Erfahrung beruft *. Nun habe ich vor nicht langer Zeit selbst einen Fall beobachtet, welcher mir als ein Beweis von einem so merk- würdigen Heilinstinkt erschienen ist, dass ich ihn hier mittheilen will. In meiner Wirthschaft waren zum Küchengebrauch die mit Knospen ver- sehenen Blüthenäste einergrössern Quan- tität Beifuss abgepflückt worden, um sie zum Trocknen auszubreiten. Dabei wa- ren eine Anzahl dieser Blüthenästchen auf den Fussboden gefallen, und ich sah mit Erstaunen, dass sie von mei- nem kleinen Hunde mit Begierde auf- gesucht und gefressen wurden. Bald hernach schien das Thier Unbehagen zu empfinden und entleerte wiederholt einen sehr übelriechenden dünnflüssigen Koth, in welchem zahlreiche Bandwurm- glieder enthalten waren. Es war mir bekannt, dass dieser Hund, wie die meisten Hunde, an dem nicht auf Men- schen übergehenden, gesägten Band- wurm (Taenia serrata) laborirte, aber es war mir nicht bekannt, dass Beifuss ein Mittel dagegen sei, und noch dazu eins, was der Hund zu kennen schien. Ich mengte ihm nun am nächsten Tage eine grössere Quantität der Blüthen- knöspchen unter sein Futter, welches er trotz des starken Geruches mit Be- gierde frass und von Neuem ganze Stücke des Bandwurms, leider aber nicht den Kopf ausleerte. Ich zweifle demnach kaum, dass diese oder andere Beifussarten, die bei ARISTOTELES, AELIAN und PuurArchH erwähnte, aber nicht ge- nauer von ihnen bezeichnete Pflanze dar- stellen mögen, mit welcher sich die Hunde purgiren, und da die meisten Artemisia- Arten wurmtreibend sind, so mögen diese Thiere sich durch gelegentliches * Vgl. besonders ARISTOTELES, Natur- geschichte der Thiere. 9. 6. #= Das Wildschwein soll sich durch Krebs- mahlzeiten die Kopfschmerzen vertreiben, wie PrurarcH im Eingang des betreffenden Ka- Kosmos, V. Jahrgang (Bd. X). 449 Fressen von jenen an allen Wegrändern und Schuttplätzen wachsenden Pflanzen ihr habituelles Leiden erleichtern. »Welches ist die Ursache, dass die von einer Krankheit befallenen Thiere, die ihnen heilsamen Mittel begierig aufsuchen und auch oft durch deren Gebrauch geheilt werden ?« so hat der alte PrurarcH ein Kapitel in seinen Fragen über Gegenstände der Natur- wissenschaft überschrieben und er be- antwortet diese Frage wie folgt: .... Alle diese Mittel sind den Thieren weder durch Erfahrung noch durch Zufall bekannt geworden. Sollten vielleicht, wie die Biene vom Honig und der Geier vom Aase durch den Geruch herbeigezogen wird, auch die Krebse das Schwein **, das Dosten- kraut die Schildkröte und die Ameisenhaufen den Bären durch Gerüche und Ausdünstungen anlocken, welche ihrem augenblicklichen Zu- stande angemessen sind und ohne dass die Vorstellung von einem davon zu erwartenden Nutzen etwas dazu beiträgt? Oder wird etwa bei den Thieren der Appetit durch die jedes- malige Mischung der Körpersäfte beeinflusst, welche die mancherlei Arten von Schärfe und Süssigkeit, und viele andere ungewöhn- liche, schädliche Eigenschaften hervorbringt und so durch Veränderung der Säfte die Krankheiten erzeugt? Derartiges sieht man wenigstens bei Frauen, die in der Schwanger- schaft sogar Gelüste nach Erde und Steinen bekommen und sie zu sich nehmen.“ PuurarcH entscheidet sich für die letztere Annahme, und es ist mir nicht bekannt, dass neuere Autoren etwas Besseres zur Erklärung anzuführen ge- wusst hätten. Dasjenige wenigstens, was G. JÄser über Nahrungsinstinkte, Lüsternheits- und Ekelstoffe gesagt hat (vgl. Kosmos Bd. I, $S. 22—25), läuft meines Erachtens ganz auf dasselbe hinaus. Wer einmal die Hast gesehen hat, mit welcher sich eine Thierheerde in den Alpen zum »Salzen« drängt, und sich dabei erinnert, wie wenig ihm selbst ungesalzene Speisen munden, wird pitels erwähnt. Nach AELIAN, var, hist. 1. 7 soll das Wildschwein die Krebse vielmehr als Gegengift gegen die giftigen Arten der Schweinsbohne (Ayoscyamus) aufsuchen und fressen. 29 450 sich ähnlichen Erklärungen der Nah- rungsbedürfnisse kaum verschliessen kön- nen. Und warum sollte es neben dem gewöhnlichen Hunger und Durst nicht auch physiologische Nuancen eines Appe- tites nach alkalischen, sauren, salzigen, gewürzhaften, narkotischen u. s. w. Ge- nussmitteln geben? Allein komplicirter scheint doch der Fall zu liegen, wenn man sagen soll, eine bestimmte Krank- heit, oder in unserm Fall, die Band- würmer erregten einen besondern Appe- tit zur Aufsuchung heilsamer Mittel. Hier scheint mir jedenfalls eine andre, darwinistische Erklärung des Instinktes plausibler. Wir müssen, um bei unserm Fall zu bleiben, annehmen, dass Raub- thiere, die sich fast nur von rohem Fleisch nähren, irgend eine Gewohnheit haben, durch welche sie die Einwande- rung im Fleische lebender Schmarotzer unschädlich machen oder doch in Schran- ken halten. Man könnte sich demnach denken, dass solche Abarten, welche die Gewohnheit angenommen hätten, sich gelegentlich durch bestimmte Kräu- ter zu purgiren, widerstandsfähiger ge- worden seien, als andre und diese überlebt hätten, und dass somit die bei meinem Hunde erprobte Vorliebe für Beifuss, eine der Race eigenthüm- liche, ererbte Gewohnheit wäre. Die Frage erscheint von gewissen Gesichts- punkten wohl angreifhar, und es wäre in dieser Beziehung z. B. sehr inter- essant zu erfahren, ob Raubthiere in zoologischen Gärten, die ihre Nahrung nicht frei wählen können, stärker von der Wurmplage heimgesucht werden, ' als Hunde und von diesen wieder Ket- tenhunde stärker als frei umherlaufende ? E. K. Die Regierungsform und Rechtspflege der Kalfern bildete den Gegenstand eines Vortrages, | welchen der Missionär NeuHAus in der Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Sitzung der Berliner anthropologischen Gesellschaft vom 12. November 1881 hielt. Der verbreitete Glaube, dass bei den Kaffern einfacher Despotismus herr- sche, sei insofern irrig, als die Will- kürherrschaft der Häuptlinge wesentlich eingeschränkt werde durch den Ein- fluss eines Beirathes, ferner durch die Sorge um Erhaltung des Stammes. Was letztere betrifft, so ist zu bemerken, dass jeder Stamm Flüchtlinge anderer Stämme gern aufnimmt, um sich zu ver- stärken; der Häuptling muss sich also hüten, gegen seine Unterthanen derart vorzugehen, dass sie sich entschliessen, zu einem anderen Stamme überzugehen; die etwaige Forderung der Wiederaus- lieferung bleibt fast stets resultatlos, gewaltsame Zurückführung gäbe einen casus belli. Der Einfluss der Rath- geber, welche eine Art Ministerium bil- den, ist besonders in der Jugend des Häuptlings sehr bedeutend und erklärt sich durch die eigenthümliche Art des Heirathens, bezw. der Erbfolgebestim- mung. Der Häuptling wählt sich die Frauen nämlich nicht selbst, vielmehr werden ihm dieselben zugeführt und zwar mit seinem zunehmenden Alter aus immer vornehmeren Familien, weil sein Vermögen mit der Regierungsdauer sich mehrt und er somit immer höhere Kaufsummen für die Frauen erlegen kann. Zurückweisung eines Angebotes wäre gefährlich, sie würde die Familie des Verschmähten auf’s Aeusserste' be- leidigen. Diese Sitte hat die Folge, dass bei der stets erst :im Alter er- folgenden Proclamirung der »grossen Frau«, d.h. derjenigen, auf deren Nach- kommenschaft die Erbfolge übergehen soll, meist die letztgeheirathete, weil vornehmste, auserwählt wird, und dem- gemäss ist der Thronfolger gewöhnlich noch im zartesten Alter beim Antritte seiner Regierung. Die Rathgeberschaft des verstorbenen Vaters bleibt nun natürlich im Amte und führt die Regent- schaft, beherrscht dabei den jungen Kleinere Mittheilungen und Journalschan. Fürsten vollständig, was sich erst suc- cessive ändert, wenn die alten Rath- geber sterben und, durch neue nach des Häuptlings eigener Wahl ersetzt werden. Diesen Uebergang beschleunigt der Re- gent allerdings zuweilen, indem er die Lästigen der Zauberei anklagt, zum Tode verurtheilt und ihr Vermögen ein- zieht. Vier bis sechs Rathgeber befin- den sich gemeinhin in der Residenz, dort in einem besonderen Hause am »Häupt- lings-Platze« wohnend ; eine grössere An- zahl ist im Lande zerstreut und jeder übt die Herrschaft in seinem Bezirke. Bei wichtigen Gelegenheiten werden sie zusammenberufen und halten dann ihre Sitzungen auf dem Häuptlings- platze ab. Das Vermögen eines Häuptlings, wie das der Kaffern überhaupt, macht der Besitz an Rindern aus; seine Diener bezahlt er mit Rindern, und seine Ein- nahmen bestehen aus Rindern. Neuer- dings beginnt allerdings auch das Geld sich einzubürgern. Von vornherein be- sitzt der Häuptling nur denjenigen Theil der väterlichen Hinterlassenschaft, der auf das »grosse Haus«, also seine eigene Mutter gefallen ist, befindet sich dem- entsprechend in beschränkten Verhält- nissen; allmählich aber mehrt sich sein Vermögen. Zunächst giebt die Be- schneidung Anlass zu Geschenken von allen Seiten; fernerhin kommen Ge- schenke besonders bei Gelegenheit von auftretenden Schwierigkeiten, um die fürstliche Intervention herbeizuführen, ferner bringen Processe und Confisca- tionen viel ein und endlich werden regel- mässig bei den Besuchen, die der Lan- desfürst seinen getreuen Unterthanen macht, Geschenke erpresst; diese Be- suche sind darum auch allgemein ge- fürchtet. Auch diese Zustände, inso- fern sie den Fürsten von dem guten Willen der Unterthanen abhängigmachen, bedingen eine Vermeidung schreiender 451 Ungerechtigkeiten; allerdings kommen Fälle vor, in denen Häuptling und Rath- geber gemeinsam operiren, um mittelst eines Zauberprocesses einen Wohlhaben- den zum Zwecke der Confiscation seines Eigenthums zu beseitigen. Die Rechts- pflege, bei welcher der Beirath gleich- falls eine wichtige Rolle spielt, kennt keinen Codex, stützt sich aber häufig auf traditionell bekannte ältere Ent- scheidungen. Appellation gegen den Spruch des Beiraths existirt nicht, der Spruch selbst wird oft durch Geschenke beeinflusst; die Strafen indessen schei- tern wiederum leicht an der Möglich- keit der Flucht. Sie bestehen in Geld- strafen (Rinder), die bis zur völligen Beraubung gehen, und in der Todes- strafe; dagegen sind Verbannung, Züch- tigung und Gefängniss unbekannt. Will Jemand ein Stammesmitglied verklagen, so zieht er bewaffnet mit Freunden und Verwandten in das Dorf des Gegners und ruft die Anklage aus, sofort sam- melt sich die Sippe des Beklagten ; beide Parteien setzen sich gegenüber und es erhebt sich ein tagelanges, zu- weilen Wochen dauerndes leidenschaft- liches Hinundherdisputiren, welches ent- weder mit einem Vergleich endet oder zur Anbringung der Klage bei dem Rath- geber des Bezirkes führt. Hier dieselbe Scene, und wenn auch hier keine Ent- scheidung folgt, so geht es zum Häupt- linge, wo erst ein zeitraubendes Examen der einzelnen Rathgeber, dann die Ver- handlung vor ganzem Collegium unter Beisein des Häuptlings stattfindet. So- bald das Urtheil gesprochen, wird es auch vollstreckt. Kann der Verurtheilte nicht zahlen, so hält man sich an sei- nen Vater oder an Verwandte; ist auch auf diesem Wege nichts zu machen, so wird Credit bewilligt. Noch nach Jahr- zehnten treibt man derartige rückstän- dige Bussen ein, vergessen oder ge- schenkt werden sie nie. 29* Litteratur und Kritik. Die Pflanzenwelt vor dem Er- scheinen des Menschen vom Grafen G. v. SAPORTA, correspondiren- dem Mitgliede der Akademie der Wis- senschaften zu Paris. Uebersetzt von CArı Voer. 397 S. in ®. in den Text eingedruckten Holz- schnitten, wovon fünf in Farbendruck. Braunschweig, Vieweg & Sohn, 1881. Der Verfasser dieses Werkes ge- niesst eines wohlbegründeten Ansehens als unermüdlicher Erforscher des Pflan- zenschmucks, der vor unserer Zeit in wechselnder Gestaltung den alternden Erdball bedeckt hat, und es be- durfte kaum des empfehlenden Vor- wortes, mit welchem der Uebersetzer das Buch bei uns eingeführt hat, um dasselbe in deutscher Uebersetzung will- kommen zu heissen. Es bleibt ja immer im hohen Grade verdienstlich, wenn ein durch eigene Forschungen auf einem Gebiete bewährter Forscher sich be- müht, der grossen Menge, welche auf einen Ueberblick der gewonnenen Re- sultate begierig ist, denselben zu erleich- | tern, zumal wenn es sich um ein so anziehendes Gebiet handelt, wie das vorliegende. Ausserdem hat dieser Ge- genstand in neuerer Zeit und vor Allem durch die Arbeiten von Oswaupn Hkxr über die Polarflora der vergangenen Perioden ein vollkommen neues Gepräge Mit 118 | erhalten, und wir besitzen, da HErEr’s Urwelt der Schweiz sich auf ein so enges Areal beschränkt, kein anderes Werk, welches uns auf knappem Raum ein getreues Bild der neu erworbenen An- schauungen lieferte. Das Buch ist aus einzelnen Publikationen hervorgegangen, die vorher. in verschiedenen Revuen, insbesondere in der »Revue des deux mondes« erschienen waren, und dadurch ist ausnahmsweise kein Nachtheil für die Leser erwachsen, da die einzelnen Essays offenbar mit Rücksicht auf ein- ander und ohne unnöthige Wiederhol- ungen verfasst wurden. Dadurch erklärt sich zugleich die allgemein verständliche und im besten Sinne elegante und ein- nehmende Sprache des Verfassers, die nur sehr selten, dem französischen Cha- rakter gemäss, ins Phrasenhafte verfällt, und selbst dann noch sich ein ange- nehmes Maass zu wahren weiss. Was die Anordnung des Stoffes be- trifft, so hat ihn der Verfasser in zwei Theile getheilt, deren erster (S. 1—150) mehrere einführende Kapitel enthält, worauf erst der zweite den eigentlichen Gegenstand des Buches behandelt. Das erste Kapitel ist in der deutschen Ueber- setzung: »Der Ursprung des Lebens und die ersten Landorganismen« überschrie- ben, was nicht ganz dem Originaltitel entspricht, welcher richtiger »La nais- sance de la vie et l’origine des pre- Litteratur und Kritik. miers organismes terrestres« lautet, denn der Verfasser streift die Frage nach dem Ursprunge des Lebens kaum, und be- schäftigt sich vielmehr nur mit dem Beginn des Lebens, d. h. mit den ältesten im Wasser lebenden Formen und ihrer, wie sich BRonn ausdrückte, terripetalen Tendenz, d. h. ihrer mehr oder minder allgemeinen Uebersiedlung und weiteren Fortbildung auf dem Lande. Das zweite Kapitel giebt eine für einen französischen Autor sehr bemerkens- werthe Darstellung der Evolutionstheo- rie, zu welcher sich Graf SArorTA ziem- lich unumwunden, natürlich im Sinne der fortschreitenden Welt GEOoFFRoY’s bekennt. Trefflich und im hohen Grade anziehend ist das Kapitel über die alten Klimate, in welchem. uns die Forsch- ungen Heerr’s und einiger andern Vor- zeit-Klimatologen, sowie die hauptsäch- lichsten Hypothesen der Neuzeit, die Gleichmässigkeit dieser Klimas bis zu den Polen betreffend, vorgeführt werden. Dieser klimatologische Charakter bleibt auch den Schilderungen des zwei- ten Theiles, welcher die einzelnen Vege- tationsperioden nach ihrer Aufeinander- folge schildert, getreu, und verleiht ihnen in Verbindung mit den geogra- phischen Darlegungen der jeweiligen Vertheilung von Land und Wasser in Mitteleuropa und den allgemeinen Be- merkungen über den malerischen Cha- rakter der Landschaft ein besonderes Leben. Wie es bereits HrrR in seiner Urwelt der Schweiz gethan, so knüpft SAPORTA in seinen Landschaftsschilder- ungen meist an ganz bestimmte Lokali- täten an, und konstruirt aus den von einer inkrustirenden Quelle, oder einem vulkanischen Aschenschlamm sicher er- haltenen Resten von Stammstückchen, Blättern und Früchten, wozu sich in ein- zelnen Fällen sogar Blüthen gesellt ha- ben, farbige Bilder des Lebens, wie es ehemals an Ort und Stelle pulsirte, wo- bei das Thierleben als Staffage der ehe- maligen tropischen Wälder unsererZonen, 453 der Palmen, Lorbeer- und Cypressen- wälder nicht vergessen wurde. Er hat dazu einzelne anmuthige, leicht ausge- führte Landschafts-Skizzen entworfen, welche den Vorzug der Originalität vor vielen ähnlichen mehr schematisch ge- haltenen besitzen, aber leider im Texte nicht genügend berücksichtigt wurden. Je mehr sich diese Schilderungen der jetzigen Welt nähern, um so mehr Bekannte treten hervor, deren Nach- bilder wir heute noch, zum Theil an denselben Orten, zum grösseren Theil in wärmeren Gegenden Europas, Asiens, Nordafrikas und Nordamerikas treffen, wohin sie durch die andringende Kälte der Eiszeit zurückgedrängt wurden. Be- sonders anziehend wird die Darstellung, wenn sie sich zu der Auffrischung ein- zelner ausgestorbener oder für die Gegend durchaus fremdartiger Typen wendet. Um eine Probe von diesen Schilderungen zu geben, wollen wir eine Detailmalerei aus der Oligocän- oder tongrischen Periode wählen, welche den Beginn der Miocän-Periode bezeichnet. Hatte Mitteleuropa während der Eocän- periode vorwiegend den Charakter eines trockenen Continentalklimas mit star- kem Wechsel von Hitze und Kühle dar- geboten, in welchem die Pflanzen mit trockenen „ lederartigen Blättern vor- herrschend waren, so haben wir im Oligocän im Gegensatz auf ein feuchtes Klima mit häufigen Regengüssen und zahlreichen Wasseransammlungen zu schliessen, in denen also auch die Was- sergewächse neben der üppigen Uferflora häufigere Reste zurückliessen. „Eine Menge von Pflanzen,“ sagt der Verfasser von diesen Wasseransammlungen sprechend, „drängten sich in ihnen zusammen, schwammen darin, oder breiteten sich an ihrer Oberfläche aus. Das genauere Studium dieser Pflanzen hätte viel Anziehendes, aber es würde uns zu weit führen. Wir müssen uns daher begnügen, eine Skizze der Physio- gnomie zu geben, welche die auffallendsten unter ihnen zeigen. Wir lassen also die Rohre, die Riedgräser (Carex und Cyperus), die Rohrkolben und die schwimmenden Laich- 454 kräuter (Potamogeton) bei Seite, welche da- mals wie heute die ruhigen oder langsam fliessenden Gewässer bevölkerten. Aber wir können einen höchst eigenthümlichen Typus (nicht seltenen, wie die deutsche Ueber- setzung fälschlich sagt) nicht übergehen, der aus früheren Perioden stammt und von dem man schon Reste in den Süsswasserschichten der oberen Kreide des Beckens von Fuveau, sowie in den Gypsen von Aix selbst findet. Es ist dies eine Sumpfpflanze, welche der Familie der Rhizocauleen angehört, die in den meisten oligocänen Seen und Lagunen der Provence wuchs und die hier einen Platz verdient. Diese Pflanzen haben überall im südlichen Frankreich zerstreuete Spuren ihrer Stämme, ihrer Blätter und ihrer Luftwurzeln hinterlassen. Was aber hauptsächlich erlaubt hat, sie zu restauriren und ihnen ihren Platz in der Nähe der Restiaceen und Rhizocauleen anzuweisen, die heute mit Ausnahme einer einzigen in den irländischen Sümpfen ver- lorenen Art alle exotisch sind, das sind einer- seits die Beobachtungen ihrer Blüthenstände, dierispige Aehren bilden, welche austrockenen, enggeschindelten Schuppen gebildet sind und ni die seltsame Eigenthümlichkeit, dass ganze Haufen dieser noch aufrecht ste- henden oder umgeworfenen Pflanzen am Grunde der Gewässer in eine kieselige Masse ver- wandelt worden sind, welche die Organisation der innern Theile so wunderbar vollständig erhalten hat, dass man sie unter dem Mikro- skope studiren kann. Die Gattung Rhizocaulon, welche zuerst von BRONGNIART entdeckt wurde, wuchs in wenig tiefen Gewässern, in deren Grund- schlamm die ungemein vervielfältigten Stämme eingewurzelt waren. Diese Pflanzen bildeten den alten Ufern nach grosse Colonieen zu- sammengedrängterIndividuen, diesich mehrere Meter hoch über das Niveau des Wassers er- hoben. Ihre äusserlich festen, innerlich mit einem grosszelligen Mark erfüllten Stämme waren viel zu hoch für ihre relative immerhin schwache Festigkeit und mit breiten, band- artigen, aufrecht stehenden Blättern oder zer- rissenen Lappen dieser Blätter besetzt. Diese Stämme hatten das Vermögen, längs der Zwischenknoten (d. h.längs der Stengelglieder zwischen den Knoten. Ref.) eine Menge von Luftwurzeln zu erzeugen, die allseitig nach ' unten wuchsen, und durch die getrockneten Blattüberreste hindurch sich einen Weg bahn- ten, um den Grund der Gewässer zu erreichen. Diese Luftwurzeln bildeten also durch ihre Anordnung ebensoviele Stützen für den Stamm, von welchem sie heruntergingen, ähnlich wie es bei den Pandanus-Arten der Fall ist. Sie hatten indessen nur eine beschränkte Dauer, fielen nach einiger Zeit ab, und hinterliessen Litteratur und Kritik. eine Narbe an dem Orte, wo sie hervorge- wachsen waren. Aber sie verliessen die Pflanzen nur, um durch neue Würzelchen er- setzt zu werden, die sich so folgten, bis der Stamm seine definitive Höhe erreicht und den Cyclus seines Wachsthums vollendet hatte. Dann erst blühete die Pflanze, indem sie an ihrem obern Ende eine ästige Rispe bildete, deren letzte Stielchen ein oder zwei Aestchen trugen. Unsere erste Figur giebt die Ansicht einer ganzen Pflanze, welche nach dem Studium der einzelnen Theile wieder hergestellt wurde. Aber um den Anblick dieser seit so langer Zeit verschwundenen Bewohner unserer süd- licher Seeen sich vorzustellen, müsste man in Gedanken die Stämme und Individuen ver- vielfältigen. Man müsste sich die ungeheure Menge dieser Individuen, die zugleich elegant und einförmig waren, vorstellen, wie sie dicht gedrängt die überschwemmten Ufer bedecken, welche die Seen der damaligen Epoche ein- schlossen. Vielleicht erwarteten diese Pflan- zen während langer Monate, während welcher ihre Luftwurzeln halb zerstört, ihre Wurzel- stöcke in dem ausgetrockneten Schlamm ein- waren, unter einer glühenden Sonne en Augenblick, wo die Regenzeit das Wasser brachte, dieses für ihr Wachsthum so noth- wendige Element, das ihre augenblicklich unterbrochenen Funktionen aufs Neue belebte. Noch heute führen andere Pflanzen am Saume der afrikanischen Seen ein ähnliches Leben. Es ist gewiss, dass die Rhizocauleen nicht lange nach dem Oligocän fortlebten., In der folgenden Epoche findet man nur schwache and seltene Spuren von ihnen, und in der Molassezeit verschwanden sie für immer zu- gleich mit den Umständen, welche bis dahin ihre Existenz begründet und begünstigt hatten. Vielleicht waren diese Pflanzen aber auch auf einzelne bestimmte Punkte beschränkt. Es ist in der That auffallend, dass ausserhalb des südlichen Frankreich, wo sie von der Kreide bis zum Aquitan in Menge wuchsen, die Rhizo- cauleen noch nirgends anders beobachtet worden sind. Die Seelilien und Lotosblumen waren damals wie heute die hauptsächlichsten Pflan- zen (vornehmsten, les plus souveraines. Ref.) der ruhigen Gewässer, aber freilich in Pro- portionen, welche heute in unserer Zone un- bekannt sind. Man mussnach Egypten, Nubien, an die Gewässer von Senegambien und die überschwemmten Savannen von Guyana oder an die Lagunen von Indien und China gehen, um auch dann noch abgeschwächte Beispiele von dem zu finden, was in Europa in der oligocänen Zeit die Seelilien waren. Nicht allein Nelumbium Buchü Ert. vom Monte Promina, und die Wurzelstöcke, welche HEER auf der Insel Wight beobachtete, Litteratur und Kritik, bezeugen die Gegenwart von europäischen oligocänen Lotosblumen. Die eigentlichen Nymphäen (Nymphaea parvula SAP., N. Char- pentieri HEER) beweisen nicht “allein die Existenz von Pflanzen, doppelt so gross als unsere weisse Seelilie (N. alba); es gab auch in dem damaligen Europa Gattungen oder Sectionen von Gattungen, die heute ausge- storben sind, deren Charaktere wir nur in sehr unvollkommner Weise analysiren können, die sich aber hinlänglich von unsern heutigen Arten unterscheiden, um uns glauben zu lassen, | dass ihre Blumen uns überraschen und unsre Bewunderung erregen würden, wenn es uns möglich wäre, sie zu betrachten. Der erste dieser tertiären Typen ist in den Gypsen von Aix vertreten (Nymphaea Gypsorum SAP.), ein anderer in Saint-Zacharie (N. polyrhiza SAPp.), ein dritter, wie es scheint, in dem Aquitan von Manosque (N. calophylla SAap.); ein Bruchstück seiner Früchte mit Lappen von Blumenblättern umgeben, beweist, dass er gefüllte Blumen hatte, die wenigstens doppelt so gross als diejenigen unsrer heutigen Seelilien und nach einem ganz andern Plan construirt waren. Aber die schönsten Hand- stücke dieses Typussind von LOMBARD-DUMAS im Sommieres (Gard) bei Alais gefunden worden. Es sind wunderbar erhaltene Blätter, die einer den Vorigen verwandten, aber doch davon verschiedenen Artanzugehören scheinen. Diese breiten kreisförmigen Blätter mit ganzem, leichtgewelltem Rande breiteten auf der Ober- fläche der Gewässer ihre von der Basis her bis zum Mittelpunkte gespaltenen Scheiben aus, die von zahlreichen, strahlenförmig ge- ordneten Rippen durchzogen waren, welche sich in dem obern Theil in dünne zweitheilige Aeste (rameaux dichotomes. Ref.) auflösten, die durch einige Anastomosen verbunden waren. Das Aussehen der Blätter, Blüthen, Früchte und Samen dieser Seelilien, soweit sie bekannt sind, scheint darauf hinzudeuten, dass sie eine Gruppe bilden, welche wenig von den heutigen Nymphäen verschieden war, von welchen sie sich eher durch Besondern- heiten der organischen Structur als durch ihr äusseres Ansehen unterschieden. Der zweite Typus, aus welchem wir eine Gattung Anaectomeria gebildet haben, entfernt sich weit mehr von den heutigen Seelilien, weniger durch seine Blätter als durch seine Wurzelstöcke und namentlich durch die sonder- bare Structur seiner Frucht, deren Narben (der Uebersetzer hat stigmates mit „Luft- öffnungen“ übersetzt!!! Ref.) nicht an der Oberfläche der Scheibe festhingen und deren Wände statt wie bei unsern Seelilien sich durch unregelmässige Spalten zu öffnen, sich bei der Reife in quer verlängerte Kammern 455 der Blumenblätter entsprachen, deren An- ordnung sie besassen. Diese Gattung, deren Blumen, wie man aus mehreren Bruchstücken schliessen kann, sehr gross und schön gewesen sein müssen, bildete ohne Zweifel den wunder- barsten Schmuck der klaren.und ruhigen See- becken von Armissan und Saint-Jean de Garguier.“ Schilderungen dieser Art sprechen für sich selber. In einem die Resultate zusammenfassenden Schlusskapitel hat der Verfasser auch die langsame Um- wandlung einzelner Arten in den Peri- oden und ihr Uebergehen in die jetzt lebenden Formen behandelt und durch Bilder veranschaulicht, welche z. B. die successiven Umänderungen des Lorbeers, Epheus und Oleanders zum Theil von der Kreide an bis heute zeigen. Solche blos aus den Blattformen gezogene Schlüsse haben indessen ihr Missliches und sind in ihrer überzeugenden Kraft gar nicht in Vergleich zu stellen mit den Reihen ausgestorbener Thierformen, z. B. der Pferde. Einem Gegner dieser Auffassung würde es kaum eine nennens- werthe Schwierigkeit bereiten, die sämmtlichen hier abgebildeten Formen der Lorbeerblätter z. B. bei unsern le- benden Arten aufzufinden. Zu bedauern bleibt, dass der Verfasser die allgemeinen Resultate der neueren Untersuchung über die Entstehung der Blumen und den Antheil der Insekten an ihrer Vervoll- kommnung gar nicht berücksichtigt hat, woraus sich doch so viele bemerkens- werthe Gesichtspunkte für die Entwicke- lung der Pflanzenwelt ergeben. Er würde dann auch vermieden haben, in Hinblick auf den Mangel eines auffälligeren Blu- men- und Farbenschmuckes der Pflanzen in der Primärzeit, jene bedenklichen Be- merkungen (S. 182 der deutschen Aus- gabe) zu machen, nach welchen »die nach und nach reichgewordene Natur über ihre Nacktheit erröthet sei, und sich Hochzeitskleider angeschafft habe«, u. s. w. Es ist dies übrigens die einzige Stelle des Buches, in welcher der Ver- theilten, welche der Einlenkung (Insertion) |, fasser ein wenig in der Weise der fran- 456 zösischen Phraseologen extravagirt; das Buch macht sonst im Allgemeinen durch- weg den Eindruck einer tüchtigen, jeder Empfehlung würdigen Leistung. Nicht das Gleiche können wir von der Uebersetzung rühmen, welche die Spuren grösster Flüchtigkeit aufweist, wovon schon in dem Vorstehenden mannigfache Proben angedeutet wurden, die sich leicht verzehnfachen liessen, wenn man in ähnlicher Weise das ganze Buch durchgehen wollte. Noch schlimmer sind eine Reihe von Verwechslungen, die nur zu deutlich zeigen, dass der Uebersetzer seiner Aufgabe schlechter- dings nicht gewachsen war. So ist z. B. wohl an zehn Stellen Viburnum fälschlich mit Mehlbeerbaum übersetzt worden, während der Namen Mehlbeer- baum in ganz Deutschland Crataegus- (Sorbus-) Arten, nirgends aber einer Vi- burnum-Art beigelegt wird. Da das Wort Mehlbeerbaum ohne Beifügung des lateinischen Namen vielfach im Text wie- derkehrt, so müssen daraus die schlimm- sten Verwechslungen entstehen. Ebenso verkehrt ist es, wenn das französische gommier an einer Reihe von Stellen ein- fach mit »Gummibaum« übersetzt wird, Unter Gummibaum versteht man in Deutschland allgemein entweder Ficus elastica oder die australischen Kucalyptus- Arten (gumtrees der Engländer), niemals aber die hier gemeinten echten Akazien, um so weniger als die Gummi liefernden Arten zum Theil Sträucher sind. Gleich- falls keinenfalls zu billigen ist der Name »Tabakspfeifen« für Aristolochien, da dieser Name, wenn überhaupt, doch nur auf eine kleine Gruppe der artenreichen Gattung passen würde. Von falschen Schreibweisen (Coelastrus statt Celastrus, Doemonorops statt Daemonorops) und ähnlichen Kleinigkeiten wollen wir ganz absehen und hoffen, dass die Fehler der Uebersetzung, da die Leser ja meist Botaniker sein dürften, nicht allzustörend und irreführend wirken werden. Die Ausstattung des Buches seitens der Ver- Litteratur und Kritik. lagshandlung darf als eine ganz vor- zügliche bezeichnet werden. K. Die Pflanzenmischlinge. Ein Bei- trag zur Biologie der Gewächse von WILHELM ÖLBERS FOckE. 560 8. in 8. Berlin 1881. Gebrüder Bornträger (Ed. Eggers). »Die Erscheinung der Hybridisation empfiehlt sich dem Beobachter nicht allein wegen der Unermesslichkeit der physiologischen Schlussfolgerungen, wel- che sie anregt, sondern auch wegen der Merkwürdigkeit ihrer Wirkungen selbst. Es liegt in der Hand des Menschen, sich derselben wie eines mächtigen Werk- zeuges zu bedienen, welches geeignet ist, die in der Natur herrschende Ord- nung ineinem weiten Maassstabe zu ver- ändern.« Mit diesen Worten der franzö- sischen Botaniker SaporTA und MARION leitet der. Verfasser sein Buch ein, welches den in seinem Titel genannten Gegenstand in einer ebenso umfassenden, wie mustergültigen Weise behandelt. Der Gegenstand hat für die Darwın’sche Theorie ein bedeutendes Interesse, nicht allein weil man in älteren Zeiten alle Mannigfaltigkeit der lebenden Wesen von Hybridisation ableitete (vgl. Kos- mos Bd. VII, S. 191), sondern auch weil wirklich eine gewisse Anzahl von dauernd lebenden Formen zu allen Zei- ten auf diese Weise entstanden sein mögen. Es rechtfertigt sich dadurch wohl auch für uns ein etwas näheres Eingehen auf den Inhalt dieses Buches. Was zunächst den Titel betrifft, so hat der Verf. gewiss mit Recht den all- gemeineren Ausdruck Mischling, den ver- breiteteren Bezeichnungen: Bastard oder Blendling vorgezogen, zumal er ganz abgesehen von der natürlichen oder künstlichen Entstehungsweise, nur die Thatsache der Mischung zweier oder mehrerer Lebensformen hervorhebt. Un- ter Bastard versteht man in der Na- Litteratur und Kritik. turbeschreibung einen auf geschlecht- lichem Wege erzeugten Mischling aus zwei specifisch verschiedenen Typen (so- gen. Arten), während man unter Blend- ling in der Regel Mischlinge aus ver- schiedenen Unterarten, Racen oder Varietäten, also jedenfalls einander näher verwandter Formen versteht. Für das Studium der vielen hierbei in Betracht kommenden biologischen und physiolo- gischen Erscheinungen bieten nun aber die Pflanzen-Mischlinge ein unstreitig viel geeigneteres Material, als die Thier- mischlinge, nicht allein weil sie sich leichter durch künstliche Befruchtung in grösserer Anzahl erzeugen lassen, sondern auch weil hier analoge und viel- fach ein werthvolles Vergleichsmaterial bietende Mischungen auf ungeschlecht- lichem Wege (Propfung u. s. w.) erhal- ten werden können. Den Haupttheil des Werkes nimmt das »systematische Verzeichniss der be- kannteren Pflanzenmischlinge« ein. Es umgrenzt den Erfahrungsschatz, aus welchem die allgemeinen Schlüsse und Anlässe zu weiteren Untersuchungen zu ziehen sind. Mit bewunderungswürdiger Umsicht und Unermüdlichkeit hat der Verfasser die in sehr zahlreichen Werken zerstreuten Fälle aller ihm bekannt ge- wordenen, aufgeschlechtlichemW ege ent- standenen Pflanzenmischlinge gesammelt und einer sorgfältigen Kritik unterwor- fen, wobei dann manche der in der Literatur aufgeführten Fälle als unzu- verlässig ausgeschieden wurden. Diese Sammlung erstreckt sich auch auf Ge- fässkryptogamen und Moose, ja sie führt sogar einen muthmasslichen Algen-Ba- stard auf. Der zweite Abschnitt enthält die Geschichte der Bastardkunde vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zur Neuzeit, wobei insbesondere die Ansichten und Arbeiten von Lıinn&, KÖLREUTER, KNIGHT, HERBERT, GÄRTNER, NÄGELI, GODRON und Naupın, WıcHnura und Darwın erörtert werden. Fast wie ein Vorspiel des be- 457 rühmten Streites zwischen CuviEer und GEOFFROY-SAINT-HILAIRE im Schoosse der französischen Akademie tritt uns hier der Streit zwischen Knıcnr und HeErBERT in den Versammlungen und Schriften der Londoner Gartenbau-Ge- sellschaft entgegen. KsıcHr behauptete, fruchtbare Hybride seien stets aus Va- rietäten-Kreuzung hervorgegangen und könnten demnach als Beweise für die Artgemeinschaft derEltern dienen. >HEr- BERT dagegen hatte gefunden, dass Ba- starde zwischen offenbar verschiedenen Arten nicht selten fruchtbar sind. Er stimmte jedoch Knıe#r darin bei, dass er zugab, die Möglichkeit der Erzeug- ung eines fruchtbaren Bastards, ja über- haupt einer fruchtbaren Kreuzung zwi- schen zwei Pflanzen deute auf deren ursprünglichen genetischen Zusammen- hang hin. Er nahm an, dass es einst nur Gattungs- oder Familientypen ge- geben habe, die freilich nicht gerade genau den gegenwärtigen Abtheilungen des botanischen Systems entsprochen haben möchten. Aus diesen Urtypen leitet er die modernen Arten nicht wie Liss& durch Hybridisation, sondern wie Lamarck und G. R. Trevıranus durch Differenzirung ab.« Die Artfrage tauchte deutlich erkennbar im Hintergrunde die- ses Meinungsaustausches auf. Im dritten Abschnitt (S. 446—468) diskutirt der Verf. »die Entstehung der Mischlinge« und zeigt zuerst, dass nicht immer Aehnlichkeit der Form und des physiologischen Verhaltens sich decken, so dass nicht immer ähnlichere Formen leichter Mischlinge geben als unähn- lichere, was auch schon daraus gewisser- maassen folgt, dass bei derselben Art Kreuzbefruchtung meist kräftigeren Sa- men liefert als Selbstbefruchtung. Eine gewisse Differenz ist ja überhaupt Grund- lage der geschlechtlichen Befruchtung. Im Uebrigen verhalten sich die Pflanzen sehr verschieden. In manchen Gattun- gen liefern die meisten Arten unterein- ander Mischlinge, in andern, wie z. B. 458 in der Gattung Cxeurbita, ist dies nicht der Fall. Focks hat den Eindruck ge- wonnen, dass Gattungen mit mehr oder minder zygomorphen Blüthen, die zu Familien gehören, in denen die aktino- morphe Blüthenform vorherrscht, eine ganz besondere Neigung zur Bastard- bildung zeigen. Als Beispiele können Pelargonium unter den Geraniaceen, Nieotiana unter den Solanaceen, Gladiolus unter den Irideen, Delphinium unter den Ranunculaceen, Rhododendron unter den Erieaceen dienen. Ueberhaupt scheint die Hybridisation besonders leicht in sol- chen Gattungen und Familien vor sich zu gehen, wo die Blüthen eine grosse Formenmannigfaltigkeit zeigen, wie z.B. bei den Orchideen, bei denen man so- gar schon in der freien Natur Bastarde zwischen .den Arten verschiedener Gat- tungen antrifft. Jedenfalls erscheint die verschiedene Blüthenform nicht als Hin- derniss. Dagegen erscheint es schwie- rig, Pflanzen miteinander zu kreuzen, welche sehr verschiedene Zonen oder sehr verschiedene Standorte (Wasser und trockene Plätze) bewohnen. Wenn es gelingt, so sind die Bastarde steril. Diese schon von HERBERT gewonnene und seitdem vielfach bestätigte Erfahr- ung scheint dafür zu sprechen, dass Aehnlichkeit der physiologischen Lebens- verhältnisse eine wichtige Bedingung nächst der natürlichen Verwandtschaft bildet. In manchen Fällen befruchtet der Pollen der einen Art leicht eine an- dere, aber nicht umgekehrt. Nicht immer ist die Ursache dieses Verhaltens so naheliegend und erkennbar wie bei Mi- rabilis jalapa, welche leicht durch Pollen von M.longiflora befruchtet werden kann, während die umgekehrte Kreuzung nicht gelingt, wahrscheinlich weil der Pollen von M. jalapa nicht hinreichend lange Schläuche treibt, um durch den viel längeren Griffel von M. longiflora bis zum Eichen hinabzusteigen. Die Entstehungsbedingungen der wildwachsenden Bastarde sind nicht so Litteratur und Kritik. vollkommen erkannt, als man wünschen sollte. Auf den ersten Blick möchte es scheinen, dass sich ein Bastard am leichtesten an Orten bilden könne, wo die Stammarten in grosser Menge durch- einander wachsen. Dies ist aber keines- wegs der Fall, denn an solchen Orten werden die Narben jeder Art reichlich ı mit Blüthenstaub der eigenen Art ver- sorgt werden, der jede Wirksamkeit des fremden Pollens unmöglich macht. Ganz anders gestalten sich die Chancen, wenn nur wenige Exemplare der einen Art zwischen zahlreichen der andern einge- streut sind. In Anbetracht des Um- standes, dass durch hybride Befruchtung erzeugte Samen häufig schwächlichere oder doch weniger widerstandsfähige Keimlinge liefern, dürfte ein besonders fruchtbarer Boden für das Aufkommen derselben nöthig sein und in der That glaubt Focks den Eindruck erhalten zu haben, dass sie sich vorzugsweise an fruchtbaren Orten finden. Im vierten Abschnitt (S. 469—491) behandelt der Verf. die »Eigenschaften der Mischlinge« und stellt dabei fol- gende fünf Sätze auf, die als Regeln, genommen werden können, von denen aber keine ausnahmslos giltig ist. I. Sämmtliche aus der Kreuzung zweier reinen Arten oder Rassen her- vorgegangene Individuen sind, wenn sie unter gleichen Umständen erzeugt und herangewachsen sind, einander in der Regel völlig gleich oder sind doch kaum mehr von einander verschieden, als es Exemplare einer und derselben reinen Art zu sein pflegen. II. Die Eigenschaften der Misch- linge sind aus den Eigenschaften der Stammarten abgeleitet. Nur in der Grösse und Ueppigkeit, sowie in der geschlechtlichen Leistungsfähigkeit un- terscheiden sie sich meistens von beiden Stammarten. III. Mischlinge zwischen verschie- denen Rassen und Arten unterscheiden sich in der Regel durch ihre Vegeta- ES np. Litteratur und Kritik. tionskraft von den Exemplaren reiner Rassen. Bastarde zwischen beträchtlich verschiedenen Arten sind häufig sehr zart, insbesondere in der Jugend, so dass die Aufzucht der Sämlinge schwer gelingt. Bastarde zwischen näher ver- wandten Arten und Rassen sind dagegen in der Regel ungemein üppig und kräf- tig; sie zeichnen sich meistens durch Grösse, Schnellwüchsigkeit, frühe Blüh- reife, Blüthenreichthum, längere Lebens- dauer, starke Vermehrungsfähigkeit, un- gewöhnliche Grösse einzelner Organe und ähnliche Eigenschaften aus. IV. Bastarde aus verschiedenen Ar- ten bilden in ihren Antheren eine ge- ringere Anzahl normaler Pollenkörner und in ihren Früchten eine geringere Zahl normaler Samen aus als die Pflan- zen reiner Abkunft; häufig bringen sie weder Pollen noch Samen hervor. Bei Mischlingen aus nahe verwandten Ras- sen ist diese Schwächung der sexuellen Reproduktionsfähigkeit in der Regel nicht vorhanden. Die Blüthen der un- fruchtbaren oder wenig fruchtbaren Ba- starde pflegen lange frisch zu bleiben. V. Missbildungen und Bildungs-Ab- weichungen sind namentlich an den Blüthentheilen hybrider Pflanzen weit häufiger als bei Exemplaren reiner Ab- kunft. Der fünfte Abschnitt (S. 491—500) behandelt die Nomenklatur der Misch- linge und hier geisselt der Verf. mit Recht die Eitelkeit der Systematiker, die sogar über die Priorität von Bastard- beobachtungen Streitigkeiten erheben. In dem sechsten Abschnitt (S. 501 bis 509) wird die Bedeutung der »Pflan- zenmischlinge im Haushalte der Natur und der Menschen« erörtert. Die Ueppig- keit des Wachsthums hat einige Misch- linge für land- und forstwirthschaftliche Zwecke empfohlen. Von Wichtigkeit würde es sein, wenn sich O. Kuntze’s Ansicht bestätigen sollte, dass die Rin- den der Chinabastarde viel reicher an Chinin sein sollen, als die reinen Arten. 459 Für Obst- und Gemüsebau sind die Mischlinge von grossem Werth, am mei- sten aber für die Blumenzüchterei. Ueppiger Wuchs, Blüthenfülle, lange Blüthendauer, Neigung zu Füllungen und Abänderungen sind alles Eigen- schaften, welche die Hybriden den Blu- menzüchtern bei guter Ernährung als ein bildsames Material werth und theuer machen, wie beispielsweise die Hybriden der Gattungen Clematis, Pelargonium, Rosa, Fuchsia, Begonia, Rhododendron und Gladiolus beweisen. Am Schlusse dieses Kapitels untersucht der Verfasser die Frage, ob sich aus den Bastarden im Laufe der Generationen wirkliche Arten entwickeln können, eine Ansicht, welche, wenn wir von Linx&’s und GmE- uın'’s phantastischen Spekulationen ab- sehen, vorzüglich von L. REICHENBACH und A. Kerner vertreten wurde. LEcoQ und namentlich Gopronx haben auf ex- perimentalem Wege die Entstehung Sa- men-beständiger Rassen aus Bastarden nachgewiesen, ebenso wenn auch weni- ger klar, schon früher Hrreerr und viele Gärtner. In der Neuzeit sind die Bo- taniker meistens der Meinung gewesen, dass die Bastardirung in der freien Natur wenigstens, nicht zur Vermehrung der Arten beigetragen habe. Sie meinten, die Bastarde entstünden und vergingen ohne eine dauernde Spur ihres Daseins zu hinterlassen; ihre spärliche Nach- kommenschaft gehe, wenn sie überhaupt aufkomme, nach kurzer Zeit im Kampfe um’s Dasein zu Grunde. Diese Meinung ist nach dem Verfasser für die Misch- linge zwischen beträchtlich verschiedenen Arten gewiss richtig, obwohl es auch da Ausnahmen gäbe. Er will sogenannte Mittel- und Uebergangsformen, welche die Darwinisten oft für erlöschende Stammformen halten, häufig von Ba- starden ableiten und meint, der Misch- ling könne unter veränderten Lebens- umständen sich oftmals besser akkommo- diren, als die Stammformen und. so dieselben überleben und das bildsame 460 Material für die Umprägung und Ent- stehung neuer Arten liefern. »Diese Anschauungen,< so schliesst der Ver- fasser diesen Theil seiner Auseinander- setzung, »entsprechen den Vorstellungen, welche NAupiın sich bereits vor drei Jahrzehnten über die Entwickelung der Arten gebildet hatte. Wenn man in Erwägung zieht, dass die Variation, welcher man mit Recht eine so grosse Rolle in der Artenbildung zuschreibt, nirgends so wirksam ist, wie unter der Nachkommenschaft von Mischlingen; wenn man ferner bedenkt, dass die Arten nach allen Anzeichen gesellig entstehen und in den geologischen Ablagerungen »sprungweise« auftreten, so wird man sich überzeugen, dass die Anschauung, nach welcher ein grosser Theil der neuen Arten zwar nicht plötzlich, aber doch mittelbar aus Rassenkreuzungen hervor- geht, dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse am Besten entspricht. « Man darf diese Ansicht natürlich nicht mit den von Fuchs wiederaufge- wärmten linne’schen und vorlinn&’schen Ansichten verwechseln, nach denen nur Gattungstypen erschaffen seien und alle Arten aus Hybridisation hervorgegangen sein sollten, welche Ref. früher (Kos- mos Bd. VII, S. 200 ff.) eingehend kri- tisirt hat, aber schon die Verwandtschaft mit derselben muss uns stutzig machen und zur äussersten Vorsicht derartigen Schlüssen gegenüber herausfordern. Alle unsre bisherige Erfahrung spricht gegen den Schluss, dass entferntere Art- oder Gattungstypen unter einander frucht- bare Nachkommenschaft liefern könn- ten; wir bleiben also immer darauf angewiesen, die kreuzbaren einander nähern Formen aus Variationen der rei- nen Formen abzuleiten, die Hybriden- bildung könnte also nur dazu führen, die Lücken auszufüllen, das Formennetz zu ergänzen. Gerade das leistet sie aber doch in Wirklichkeit nicht, wir finden überall Lücken in den Formen- kreisen, sogar zwischen den Arten, deren Litteratur und Kritik. Anerkennung nur auf dem Vorhanden- sein dieser Lücken beruht. In dem siebenten und letzten Ab- schnitte (S. 510—526) behandelt der Verf. »die der Artenkreuzung ähnlichen Erscheinungen«, unter denen er Xenien, Propfmischlinge und Pseudogamie un- terscheidet. Xenien d.h. gleichsam Gast- geschenke der Pollen spendenden Pflanze an die pollenempfangende nennt der Verfasser die Veränderungen, welche eine mit fremden Pollen befruchtete Pflanze in gewissen Fällen erleidet. So z. B. besitzt der Pollenstaub gewisser dunkelbeeriger Rebensorten, von denen die vorzüglichste geradezu Teinturier genannt wird, die Eigenschaft, wenn er auf die Narben hellbeeriger Sorten ge- bracht wird, die daraus hervorgehenden - Früchte dunkel zu färben. Aehnliches hat man an weissblühenden Calceolarien, Fuchsien und andern Gartenpflanzen be- obachtet, sofern der Pollen einer roth- blühenden Art nicht nur die Blüthe, auf welche er gebracht worden war, sondern auch die übrigen, und selbst ° die später erscheinenden Blüthen röthete. Es ist sehr fraglich, ob diese seltsame noch durch mancherlei ähnliche Beob- achtungen unterstützten Thatsachen mit der eigentlichen Hybridisation in unmit- telbarem Zusammenhange stehen. Die angeblich auch beim Menschen bewahr- heitete Erscheinung, dass die erste Befruchtung bei den Thieren alle spä- teren Befruchtungen beeinflussen soll, wäre eine analoge aber ebenso räthsel- hafte Erscheinung in der Thierwelt. — Unter den Propfmischlingen bespricht der Verfasser besonders den Cytisus Adami ausführlicher und als Pseudo- gamie bezeichnet er die Erzeugung ge- wisser Formen, die der Mutterpflanze auffallend gleichen, aber zum Theil in ihrer geschlechtlichen Potenz auffallend geschwächt erscheinen. Er vermuthet, dass in diesen Fällen der fremde Blüthen- staub keine wirkliche Befruchtung voll- zogen, sondern nur die Anregung zur Litteratur und Kritik. Ausbildung der äusseren Fruchttheile | schreiben; sie eirkumnutiren. gegeben habe. Die Samen, welche sich in der Frucht vorgefunden haben, sind nach seiner Auffassung in solchen Fällen nicht durch geschlechtliche Zeugung her- vorgebracht, sondern parthenogenetisch entstanden. Mit einigen Nachträgen und einem ausführlichen Register schliesst dasWerk, welches wir nicht nur als eine überaus werthvolle und reichhaltige, sondern schlechthin als die beste und vollstän- digste Darstellung dieses W issensgebietes betrachten müssen. K. Das Bewegungsvermögen der Pflanzen. Eine kritische Studie über das gleichnamige Werk von CHARLES Darwın. Nebst neuen Untersuch- ungen, von Dr. JuLıus WIESNER. 212 S. n 8. Mit 3 Holzschnitten. Wien, Alfred Hölder, 1881. In dem vorliegenden Werke legt auf pflanzenphysiologischem Ge- biete rühmlichst bekannte Verfasser seine auf Grund sehr subtiler Unter- suchungen gewonnene Ueberzeugung dar, dass die allgemeinen Schlüsse, welche DArwın aus seinen Untersuchungen über das Bewegungsvermögen der Pflan- zen gezogen hat, der Mehrzahl nach nicht ‚haltbar seien. Wir dürfen diese Untersuchungen Darwın’s, deren Bedeu- tung Prof. Wırsser rückhaltlos aner- kennt, bei unsern Lesern um so mehr als bekannt voraussetzen, als Dr. H. MÜLLER im »Kosmos«, Bd. VIII. S. 258 ein ausführliches Referat darüber gege- ben hat, und können uns daher so- gleich zu den Resultaten des Verfassers wenden, die wir kurz wiedergeben wollen. Nach Darwın’s Ansicht bewegen sich alle wachsenden Pflanzentheile und der namentlich deren Enden kontinuirlich, | wobei sie schraubige oder unregelmäs- | sige hin- und hergehende Bahnen be- 461 Dieser Bewegungsart kommt aber, wie W.’s Untersuchungen zu beweisen scheinen, keine allgemeine Verbreitung zu. Er beobachtete Stengel und Blätter, welche sich ganz geradlinig weiter entwickelten, und ebenso Wurzeln, welche lange Zeit- räume hindurch völlig gerade wuchsen. Die Zickzackspuren, welche Darwın von Wurzeln auf berussten, schräg gestellten Glasplatten zurückgelassen sah, erklärt Wiesner als durch ein abwechselndes Abwenden der Wurzel von dem mit brenzlichen Oelen durch- tränkten Russ hervorgebracht; dasselbe trete nicht ein, wenn man die Platte mit dem indifferenten Lycopodium ein- pudere. Ebenso wiesen die von Wırs- NER untersuchten einzelligen Pilze einen vollkommen geraden Wuchs auf. Die Cirkumnutation sei mithin selbst unter den wachsenden Organen nicht allge- mein verbreitet, sie könne deshalb auch nicht als jene fast allen lebenden Pflan- zentheilen- eigenthümliche Urbewegung angesehen werden, als welche sie von Darwın hingestellt wird. WiIESxER findet, dass eine eigentliche Cirkumnutation im Sinne Darwın’s nur bei den Schlinggewächsen und in we- nigen andern Fällen vorkomme, und dass, abgesehen von Bewegungen, die durch zufällige unregelmässige Wachsthums- störungen hervorgebracht werden, bei Ausschluss von Licht und bei vertikaler Aufstellung, gewöhnlich nur eine schwa- che Bewegung in einer Ebene vorhan- den sei. Kreuze aber das Licht und die Lothlinie die Nutationsebene, so erfolge eine durch spontane Nutation, Heliotropismus und Geotropismus her- vorgerufene Bewegung meist sehr com- plieirter Art, welche durch die schon | erwähnten Wachsthumsstörungen noch ı verwickelter werde. Die Cirkumnuta- tion sei also nicht eine einfache, son- dern eine combinirte Bewegung, deren örtliche Veranlassung eine sehr ver- schiedene sei, und die sich nach des 462 Verf. Darstellung vielfach dem Schwan- ken des Züngleins einer Wage ver- gleichen lässt, auf welche von der einen Seite die Schwerkraft, von der andern das Licht wirkt. Da also die Cirkumnutation sich aus den verschiedenen Wirkungen der Zugkräfte zusammensetze, die wir als Heliotropismus, Geotropismus u. 8. w. kennen, so seien die von diesen Kräf- ten hervorgebrachten Bewegungen die primären, und die Cirkumnutation die abgeleitete Bewegung, nicht umgekehrt, wie Darwın wolle. Gegen diese Auf- fassung Wırsser’s lässt sich indessen einwenden, dass wenn wirklich der He- liotropismus ein Faktor der gewöhn- lichen Cirkumnutation wäre, es dann um so räthselhafter würde, dass die ausgeprägteste Form derselben, die wir bei den Schlingpflanzen finden, ganz unbeeinflusst von Heliotropismus und wie es scheint, auch von Geotropismus — den die Pflanzen schlingen auf- und abwärts — vor sich geht. Als letzten Grund der Nutationen sieht WIESNER wie Darwın die Erscheinungen eines ungleichen Wachsthums an, welches von einer Seite auf die andere fort- schreitet, wobei auch, wie Ersterer zu- giebt, in einzelnen Fällen, wie bei den Keimlingen mancher nichtwindenden Pflanzen (z. B. von Vicia Faba und Helianthus annuus) deutliche Cirkum- nutationen vorkommen. Aber WıEssEr will hierbei nicht, wie Darwıs, den Turgor der wachsen- den Zellen als die eigentliche erste Ur- sache der ungleichen Ausdehnung und Nutation anerkennen, ohne indessen da- gegen wirklich schlagende Gründe bei- bringen zu können. Er vermeidet hierbei von den Blattpolstern derjenigen Pflan- zen zu sprechen, deren Blätter Schlaf- bewegungen ausführen, bei denen nach der bisherigen Annahme ein Turgor ohne Wachsthum die Bewegungen hervorbringt. Es ist klar, dass gerade dieses Verhältniss Darwın in seiner Auf- Litteratur und Kritik. fassung bestärkte, und da es sich hier- bei um sehr subtile und in den mit Wachsthum verbundenen Fällen um kaum trennbare Vorgänge handelt, so erhält der unbefangene Leser den Ein- druck, als sei trotz aller Wendungen Wiıesner’s Darwın’s Ansicht die besser begründete. Ferner wendet sich der Verf. ganz besonders gegen jene Auffassungen DAr- wın's, als seien die Endpole der wach- senden Pflanze gegen Licht und Schwere empfindlicher als die älteren Theile, und als könnten sich Reize von ihnen weiter im Gewebe fortpflanzen und in benach- barten Theilen Bewegungen erzeugen. Die heliotropischen Nutationen von Blät- tern und Achsenorganen, deren Spitzen allein vom Lichte getroffen werden, leitet er von einem einfachen Herabziehen, durch das Gewicht der nach der Licht- quelle gewendeten Spitze ab und weist auf ein ähnliches Ueberhängen der Trieb- spitzen von Ulmen, Haselsträuchern und andern Gewächsen nach der Lichtseite hin. Aber auch das Vermögen der Wurzel, sich nach dem Mittelpunkt der Erde zu wenden, habe nicht in der Wurzelspitze ihren Sitz. Dass die ent- hauptete Wurzel sich, wenn wagerecht gelegt, nicht zum Erdmittelpunkt wende, komme einfach daher, dass. die Wurzel in Folge der Verletzung aufhöre, leb- haft zu wachsen, während doch nur wachsende Pflanzentheile solche Bieg- ungen schneller ausführen könnten. Einen ähnlichen falschen Schluss habe Darwın aus der Abwendung der Wurzel von einer seitlich gegen ihre Spitze wir- kenden Störung (einem angeklebten Kartonblatt, Aetzung, Schnitt) gezogen. Diese Eingriffe wirkten nicht als Druck, sondern als einseitige Wachsthums- störungen und veranlassten zunächst ein Stärkerwachsen der entgegengesetzten Spitzenseite und eine Krümmung gegen das Hinderniss, worauf etwas höher herauf ein stärkeres Wachsthum auf der verletzten Seite erfolge und die Ab- Litteratur und Kritik. wendung der Spitze bewirke. Was uns hier Wıesn&r über das Zustandekommen der Bewegung, welche er vorschlägt, nach ihrem Entdecker als dieDarwın’sche Bewegung zu bezeichnen, sagt, ist nicht viel mehr als die Umschreibung der Thatsache. Im ersten Falle soll die Verletzung der Spitze das Wachsthum im benachbarten Theil hemmen, im zweiten befördern, und der Verf. scheint diesen Widerspruch kaum der Erwähnung werth zu halten. Seine Versuche mit einem schwachen, seitlich durch eine Wage angebrachten Druck wollen uns sehr wenig beweisend erscheinen. Denn die Wurzelspitze mag leicht einen seit- lichen Druck überwinden, der so gering ist, während sie einen grösseren Stein im Boden nicht so leicht bei Seite ;chieben kann. Aber man wird doch Jiesen selbst ausgeführten Druck, dem sie ausweicht, schwerlich als eine Ver- letzung auffassen können, wie WIESNER möchte. Kurz, wir halten diese und manche andere Streitfrage keineswegs für so einfach erledigt, als der Verfasser vielfach zu glauben scheint, und müssen darüber weitere Untersuchungen ab- warten. Es verdient rühmend hervorgehoben zu werden, dass der Verfasser, obwohl er sich beinahe gegen jeden einzelnen Satz Darwın’s wendet und fast nichts von seinen Ansichten bestehen lassen möchte, seine Polemik in den gewinnend- sten Formen gehalten, und an den ver- schiedensten Stellen seiner ausserordent- lichen Verehrung des Gegners Ausdruck gegeben hat. K. Handbuch der vergleichenden Embryologie von Francıs M. BaAurour, M. A., F.R.S. Aus dem Englischen von Dr. B. Verter. 2ter Band. X und 7Al S..in-8... Jena, Gustav Fischer, 1881. Der zweite Band dieses von uns schon früher besprochenen hochwichti- 463 gen Werkes bringt zunächst die Ent- wickelungsgeschichte der Chordaten, welche naturgemäss die früheste und vielseitigste Bearbeitung unter allen Thierklassen erfahren hat. Es galt hier mithin ein noch weit grösseres Material zu beherrschen, als bei den früheren Kapiteln, aber in Folge der eigenen ausgebreiteten Thätigkeit auf diesem Gebiete gelingt es dem Ver- fasser in bewunderungswürdigem Maasse, den Studirenden sicher durch dieses Labyrinth zu geleiten. Die Darstellung beginnt mit der Entwickelungsgeschichte des Amphioxus, den der Verfasser als Vertreter der Oephalochorda bestimmter, als es hier und da geschieht, von den Wirbelthieren abzusondern für nöthig er- achtet, und geht dann zu den Tunikaten über, die er als stark degenerirte Ver- treter des Urochordaten-Stammes_ an- sieht, wobei er ausführlich den Gene- rationswechsel (Metagenesis) derselben behandelt und ihn als eine Compli- kation desFortpflanzungsprozesses durch Knospungsprozesse auffasst. Bei der Behandlung der Fische sind — wohl nur der besseren Orientirung wegen — die Selachier und Knochenfische den Rundmäulern vorangestellt, denn ob- wohl Baurour die letztere Gruppe für eine stark degenerirte und vielleicht nur durch ihre halbparasitische Lebens- weise erhaltene ansieht, theilt er doch nicht die Ansicht Dorrn’s, dass sie von verhältnissmässig hochentwickelten Fischen abstammen könnten, hält es vielmehr für nahezu gewiss, dass auch ihre Vorfahren weder wirkliche Kiemen- bögen, noch Kiefern besessen haben. Bei der Darstellung der Ganoiden im sechsten Kapitel geht der Verfasser etwas näher auf die eigenthümliche Saugscheibe des jungen Knochenhechts (vel. Kosmos Bd. IV, S. 312) ein und knüpft die Bemerkung daran, dass auch beim jungen Stör und vielleicht bei manchen Knochenfischen Spuren dieses primitiven Organs zu finden sein möch- 464 ten, welchem wahrscheinlich eine allge- meinere Bedeutung zukomme, als bis- her angenommen wurde. Da der Ver- fasser die Doppelathmer nicht von den Ganoiden trennt, so behandelt das nächste Kapitel die Amphibien, das achte die Entwickelungsgeschichte der Vögel, welche ihrer genaueren Durch- forschung wegen zweckmässig derjenigen der Reptilien vorangestellt wurde, das neunte und zehnte die Reptilien und Säugethiere mit Einschluss des Menschen. Aus dem letzteren Kapitel möchten wir besonders die lichtvolle Behandlung der Placenta-Bildungen hervorheben, denen der Verfasser nicht jene einschneidende systematische Bedeutung zuerkennt, welche ihr andere Zoologen beimessen. Die gürtelförmige Placenta des Ele- phanten beweise z. B. keine Verwandt- schaft desselben mit den Raubthieren, sondern könne leicht aus einer diffusen Placenta abgeleitet werden, und ebenso seien die Aehnlichkeiten zwischen den Placentalverhältnissen des Menschen und der Nager Beweise für die Un- brauchbarkeit derselben als absoluter Eintheilungscharaktere. Die nachfolgenden Kapitel behandeln allgemeine Fragen und zwar gibt das nächste (XI.) eine Vergleichung der Keimblätterbildung und der ersten »Ent- wickelungsstadien der Wirbelthiere«. Es fehlt auch hier nicht an lehrreichen Apercus und allgemeineren Schlüssen, obwohl der Verfasser dabei mit grosser Behutsamkeit vorgeht. In Bezug auf die Frage, wie das Längenwachsthum des Embryo’s vor sich gehe, werden die Ansichten von Hıs und RAUBER mit Entschiedenheit verworfen. Wir wollen kurz anführen, was der Verfasser über die Entstehung der beiden merkwürdi- gen fötalen Organe der Allantois und des Amnion folgert: „Die Beziehungen der Allantois zu den benachbarten Organen und die Umwand- lung ihres Sireles in die Harnblase bezeugen hinlänglich, dass sie ihre Entstehung aus einer Harnblase, wie man sie bei den Am- Litteratur und Kritik. phibien antrifft, genommen hat. Wir haben es, wenn wir auf den Ursprung der Allantois zurückgehen, mit einem Beispiel jener Er- scheinung zu thun, welche DoHRN „Funktions- wechsel“ nennen würde. Die Allantois ist in der That nichts weiter als eine Harnblase, die im Embryo vorzeitig entwickelt, und ungeheuer ausgedehnt, respiratorische (Sauro- psiden) und ernährende Hunktonan (Säuge- thiere) übernommen hat. Es ist aber unseres Wissens keine Form erhalten geblieben, bei der die Allantois im Uebergangszustand zwischen einer gewöhnlichen Blase und einem grossen gefässreichen Sack zu finden wäre. Der Vortheil des Besitzes von sekundären Athmungsorganen während des fötalen Lebens ausser dem Dottersack wird schon dadurch bezeugt, dass solche Organe auch bei den Ichthyopsiden weit verbreitet sind. So haben wir bei den Elasmobranchiern die äusseren Kiemen, unter den Amphibien sehen wir bei Pipa americana den Schwanz in ein respira- torisches Organ umgewandelt und bei Noto- delphys, Alytes und Coecilia compressicauda haben sich die äusseren Kiemen. innerhalb des Eies zum Zwecke der Athmung umge- staltet und vergrössert.* „Die Entstehung des Amnion ist wohl nicht so leicht zu erklären, wie die der Allantois, und vor Allem scheint es unmög- lich, dasselbe von irgend einem bereits vor- handenen Organe abzuleiten. Es ist mir jedoch sehr wahrscheinlich, dass es sich gleichen Schrittes mit der Allantois als ein- fache Falte der Somatopleura rings um den Embryo entwickelt hat, in welche hinein die Allantois sich ausdehnte, als sie an Grösse zunahm und Athmungsorgan wurde. Es musste offenbar von Vortheil sein, wenn eine solche Falte, nachdem sie einmal angelegt war, immer grösser wurde, um der Allantois mehr und mehr Raum zur Ausbreitung zu gewähren. Die fortdauernde Vergrösserung dieser Falte musste endlich dazu führen, dass ihre Ränder auf der Dorsalseite des Embryos zusammenstiessen, und man vermag sich leicht vorzustellen, dass sie dann mit einander verwachsen konnten.“ Das zwölfte Kapitel bringt Bemerk- ungen über die Vorfahrenform der Chor- daten. Der Verfasser vermag sich den von Dourv und SEmpERr aufgestellten Ansichten, dass die Wirbelthiere von Chaetopoden-ähnlichen Wurmthieren ab- stammen sollen, bei denen die Bauch- seite zur Rückenseite geworden sei, nicht anzuschliessen. Diese Frage ist eng verflochten mit derjenigen nach Litteratur und Kritik. der Entstehung des Mundes. DoHrN meint bekanntlich, dass der Darmkanal ursprünglich das Nervensystem in der Gegend eines früheren Schlundnerven- ringes auch bei den Vorfahren der Chordaten durchbohrt habe und dass daher ursprünglich ein dorsaler Mund (entsprechend dem ventralen Munde der Chaetopoden) bei ihnen existirt habe. Der jetzige Wirbelthiermund sei sekun- där und leite sich von zwei auf der Bauchseite mit einander verschmolzenen Visceralspalten ab. Aus dem ursprüng- lichen oder bleibenden Vorhandensein eines Saugmundes bei Tunikatenlarven, Myxinoiden, jungen Ganoiden (Lepido- steus) und Amphibien (Fröschen) schliesst der Verfasser indessen, dass dieser ven- trale Saugmund sich erst allmälig in einen Beissmund umgewandelt habe und an das Vorderende des Kopfes gerückt sei. Die Rundmäuler, welche man wohl als verkümmerte Ueberbleibsel der Ur- wirbelthiere betrachten muss, behalten noch im erwachsenen Zustande den Saug- mund, während er bei den Selachiern wahrscheinlich in Folge der abgekürzten Entwickelung im Ei verloren gegangen ist. Allein diese, die Vertreter der ersten Kiefermündigen (Protognathosto- mata), haben noch den ventralen Mund, und bei ihren muthmaasslichen Nach- kommen, den Protoganoiden, welche nicht diese abgekürzte Entwickelung erworben haben, tritt nicht allein der Saugmund, sondern (bei der Larve des Störs) sogar noch einmal eine analoge vorübergehende Zahnbildung wie beim Neunauge auf. Aus den Protoganoiden gingen einerseits die Knochenfische, andererseits Doppelathmer und Amphi- bien, aus diesen aber die höheren Wirbelthiere hervor. Das dreizehnte Kapitel enthält allge- meine Betrachtungen namentlich über die Entstehung der Keimblätter und der Gastrula.. So vorsichtig sich der Verfasser auch über diese vielumstritte- | nen Fragen äussert, so fällt doch das Kosmos, V. Jahrgang (Bd. X). 465 Ergebniss der allgemeinen Vergleichung stark zu Gunsten der Häckezv’schen Anschauungen aus. Ob die Gastrula in der Entwickelungsgeschichte jetzt lebender Thiere durch Einstülpung (Invaginatio) oder Abspaltung (Delami- natio) entstehe, sei ohne Belang, denn dieser Vorgang sei wohl in den meisten Fällen nachträglich verändert, auch lässt sich die letztere Entstehungsweise aus der ersteren, welche gerade bei den niedersten Thieren (Pflanzenthieren) am häufigsten vorkommt, ohne beson- dere Schwierigkeit ableiten. Dass aber die Gastraea, auf welchem Wege sie auch ursprünglich entstanden sein möge, wirklich die primitive Form der Metazoen darstellt, lässt sich kaum bezweifeln, denn diese Ansicht gründet sich auf das thatsächliche Vorkommen von Gastrula- Formen im ausgewachsenen Zustande, . unabhängig von ihrem Auftreten in der Entwickelungsgeschichte. — Hinsicht- lich der Entstehung des dritten Keim- blattes hält der Verfasser die Akten für noch nicht geschlossen, obwohl er dem neuen Werke der Gebrüder Hrrrwıc über die Cölomtheorie alle Anerkennung zollt. Den letzten Abschnitt dieses Kapitels über die Larvenformen und ihre Ent- stehung konnten wir Dank der Freund- lichkeit des Verfassers vor längerer Zeit im »Kosmos« (Bd. IX, S. 183 ff.) wieder- geben. Der zweite Theil des Schlussbandes (S. 347— 702) bringt die Organogenie im Besondern der Chordaten, obwohl hinsichtlich einzelner Organe, wie z. B. Nervensystem, Sinnesorgane u. S. w. fortlaufend Rücksicht auf die Wirbel- losen genommen ist. Ein besonderes Interesse erwecken hier die Kapitel über die Entwickelung von Organen, hin- sichtlich deren der Verfasser neue An- schauungen aufgestellt hat, wie z. B. der Seitenglieder der Wirbelthiere, für welche er das Urbild nicht mit GeEGEN- BAUR und Huxtrey in der paarigen Seitenflosse sucht, die wir bei einigen _ 30 466 Doppelathmern finden, sondern in der unpaarigen Flosse der Selachier. Ein sehr reichhaltiges Literaturverzeichniss und ein ausführliches Register machen den Beschluss des Werkes, dessen Ausnützung sie wesentlich erleichtern. Wie kaum hinzugefügt zu werden braucht, zeichnet sich auch dieser abschliessende Theil gleich dem vor- | hergegangenen nicht nur durch eine treue Darstellung der Thatsachen, son- dern auch durch die geistreiche Ver- knüpfung derselben zu werthvollen und wohlgestützten Folgerungen aus. Was die durch die abweichende Nomenklatur der Engländer und durch die Complicirt- heit des Gegenstandes sehr erschwerte Uebersetzung betrifft, so ruhte sie in den bewährten Händen des Prof. VETTER in Dresden und lässt nichts zu wünschen übrig. Ebenso ist die typographische Ausstattung des Werkes als eine ganz vollendete zu bezeichnen. K. Ueber die Zeit des Mammuth im Allgemeinen und über einige Lager- plätze von Mammuthjägern im Be- sondern von Dr. M. Muca. 120 S. in 8. Wien 1881, Selbstverlag des Verfassers. + Das vorliegende kleine Buch, wel- ches einen Wiederabdruck aus dem elften Bande der »Mittheilungen der Wiener anthropologischen Gesellschaft « darstellt, verdient als eine sehr klar und überzeugend geschriebene Schilder- ung der faunistischen, floristischen und klimatologischen Verhältnisse zur Zeit des ersten Auftretens des Menschen im mittleren Europa die Aufmerksamkeit der weitesten Kreise. Der Verfasser geht dabei von einigen österreichischen Fund -Plätzen von Mammuthknochen, Kohlen und Steinwaffen aus, die sämmt- lich die Eigenthümlichkeit besassen, dass sie nicht wie andere Funde der paläolithischen Zeit, innerhalb oder auf Litteratur und Kritik. dem Vorplatze von Felshöhlen gemacht wurden, sondern sich im losen, freien Löss in einer Weise eingeschlossen fanden, die da zeigt, dass die Fund- stücke sich einst auf der freien Erd- oberfläche befunden haben, und nach- mals vom Löss bedeckt wurden. Be- sonders lehrreich hierfür war die 1879 aufgedeckte Fundstätte zu Stillfried an der March, woselbst eine 17 m hohe Lössschicht, in ihrem untersten Theile sehr zahlreiche Knochen, meist vom Mammuth, Feuersteinwerkzeuge,, rohe, aber unzweifelhafte Artefakte, zerkrü- melte Kohle und Asche enthielt. Es war eine ca. 2m dicke Schicht, welche sich an der gelben, senkrecht abfal- lenden Wand deutlich durch die Kno- chen und die Kohlenstückchen, welche nur selten die Haselnussgrösse über- schritten, abzeichnete, und ebenso wie ' mehrere andere ähnliche Vorkommnisse von dem Verfasser mit vieler Wahr- scheinlichkeit als Lagerplatz von Mam- muthjägern gedeutet wurde. Wann lebten diese ältesten aller be- kanntenmenschlichenBewohnerDeutsch- lands, wie kamen ihre Ueberreste in die tiefe Lössmasse, was ist der Löss? Bei der Beantwortung muss man bei der letzteren Frage anfangen, und hier zeigt der Verfasser, dass unter. den verschiedenen Meinungen, die über die Bildung des Löss aufgestellt seien, doch immer noch diejenige die wahrschein- lichste bleibt, welche ihn für ein Pro- dukt der Gletscherwasser ansieht. Dem- nach hätten diese Mammuthjäger schon vor, oder mitten in der Eiszeit in Deutschland gelebt, und in der That lässt sich die Vertheilung der Spuren des vorhistorischen Menschen in der ältesten, paläolithischen Epoche in Eu- ropa am besten aus der damaligen Ver- theilung der Gletscher erklären. Denn sie finden sich nur in solchen Ländern, die von der Vergletscherung nicht er- reicht wurden, nämlich in Süddeutsch- land, Frankreich, England, während Litteratur und Kritik. man in den damals gänzlich verglet- scherten Schweizerbergen oder in Nord- deutschland, Dänemark, Schweden und Norwegen trotz der genauen Durch- forschung dieser Länder niemals Spuren der Mammuthjäger, oder von Menschen, die noch früher gelebt hätten, entdeckt hat. Diese Thatsache erklärt sich eben daraus, dass diese Länder grösstentheils unter einer gewaltigen Eislast begraben lagen. Damals führten die Ströme, welche aus den Gletschern kamen, also namentlich der Donau im Sommer gewaltige Massen von Gletscherschlamm in die Ebene und überflutheten dabei auch namentlich die Lagerplätze der Mammuthjäger, über welche sie Lössmassen aufgehäuft haben, die stellenweise eine Dicke von 25 bis 30 m betragen. Aehnliche Beobacht- ungen hat J. GEIKIE in England machen können, wo nur solche Gegenden, wel- che von den Gletschern nicht unmittel- bar erreicht wurden, Spuren- des paläo- lithischen Menschen bergen. Dr. MucH nennt diese Menschen Mammuthjäger, weil die Mammuth- knochen auf ihren Lager- und Ablager- ungsplätzen das grösste Contingent stellen, neben diesen finden sich die Knochen des wollhaarigen Rhinozeros und des Flusspferdes, aber auch vieler noch jetzt in Europa lebenden Thiere, wie des Edelhirsches u. A. Da sich gar keine Spuren vollkommenerer Waf- fen und Geräthe an diesen Lagerplätzen zeigen, so wird man wohl denken müs- sen, dass die Jäger diese mächtigen Thiere in Erdgruben fingen, (oder sie, wie | Referent anderwärts wahrscheinlich ge- macht hat, mittelst vergifteter Stein- waffen erlegten).. Von besonderem In- teresse sind hierauf die Betrachtungen, die MucH aus den Thierresten auf Klima und Flora des Landes zur Zeit des diluvialen Menschen ableitete. Wir sind natürlich längst darüber hinaus, dem mittleren Europa zur Eiszeit ein grön- ländisches oder sibirisches Klima zu- Rhein und auch die | 467 schreiben zu wollen, und es ist be- kanntlich ausgerechnet worden, dass eine Erniedrigung des heutigen Tem- peraturmittels um ca. vier Grad bereits genügen würde, um in Verbindung mit einer grösseren Luftfeuchtigkeit den Zustand der Eiszeit wiederherzustellen. Damit ist ein üppiger Baumwuchs sehr wohl verträglich und ebensowohl, wie viele Gletscher unserer Alpen von üp- pigen Wäldern an ihrem Fusse um- kränzt, und an vielen Orten sogar hoch überragt werden, wie auf Neuseeland die Gletscher sogar in eine Region hinabsteigen, in welcher baumartige Farne und ähnliche, sonst den Tropen eigenthümliche Gewächse gedeihen, so kann man sich in Europa zur Eiszeit sehr wohl die gletscherfreien Orte mit Laub- und immergrünem Nadelwald be- setzt denken, und Braunkohlenbildungen aus der Eiszeit berechtigen keineswegs zu Schlüssen auf eine Interglacialepoche, wenn sie auch auf und unter Gletscher- bildungen angetroffen werden. Grünende Wälder im eiszeitlichen Europa sind eine unabweisbare Forder- ung, um das Gedeihen des Mammuth und der verschiedenen Rhinozeronten in demselben zu erklären. Diese Thiere bedürfen ungeheurer Laubmassen zu ihrer Ernährung und die ganze Organisation der Elephanten deutet darauf hin, dass sie auf das Baumlaub angewiesen sind ; sie brechen mit ihrem Rüssel die Aeste ab, zerbrechen sie oberflächlich mit ihren gewaltigen Zähnen und schlingen selbst armdicke Aststücke mit hinunter. Wiederholt hat man sowohl den Magen des im sibirischen Eise eingehüllten Mammuths als das Gerippe der ameri- kanischen Mastodon-Arten mit dem Laube von Cypressen und Lebensbäu- men gefüllt gefunden. Ausgedehnte Wäl- der und Wasser waren daher erste Er- fordernisse für das Gedeihen dieser Thiere in Europa während der Eiszeit. Dr. Muc# wendet sich mit diesen Er- örterungen, welche überzeugend sind, 468 besonders gegen den von Dr. NEHRING aus seinen Funden der Reste zahl- reicher Steppenthiere gezogenen Schluss, dass Mittel- und Nordeuropa nach Be- endigung der Eiszeit lange Jahrzehnte oder Jahrhunderte hindurch als Steppe dagelegen hätten. Er sucht zu zeigen, dass die Steppenthiere meist nicht aus- schliesslich ein waldfreies Terrain gebunden seien, dass 2. B. der Schnee- hase und das Renthier an vielen Orten im Winter den Wald aufsuchen, und dass selbst Thiere, die heute ausschliess- lich die Steppen bewohnen, wie die Saiga-Antilope und der grosse Pferde- springer (Alactaga jaculus), deren Reste man häufig in postglacialen Schichten findet, ihre Lebensweise inzwischen et- was abgeändert haben könnten. Indessen geht hier die Beweisführ- ung, wie dem Referenten erscheinen will, etwas über das Ziel hinaus; weite Gebiete, die früher, sei es mit Glet- schern oder mit dem Driftmeere bedeckt waren, mussten wohl eine lange Zeit hindurch nothwendig als Steppen da- liegen, ehe der Wald wieder von ihnen Besitz ergreifen konnte. Unsere nor- dischen Wälder rücken meist nur in geschlossenen Beständen vor, und wenn auch die Wasserläufe der sich sanft nach dem Meere abdachenden nord- deutschen Ebene sich bald mit einem Saume von Feuchtigkeit liebenden Wei- den, Pappeln, Erlen u. s. w. umgeben haben werden, so dringen diese Bäume doch in der Regel nicht weit über ihren Bezirk hinaus, und wir dürfen uns nur eine allmälige Umwandlung der Steppe, die ja auf einzelnen norddeutschen Ge- bieten noch heute ausdauert, in ein so- genanntes Parkland mit auf den Gras- Huren oder Heideflächen zerstreuten Baumgruppen und dann erst in ein Waldland mit einander Platz machen- den geschlossenen Beständen vorstellen. Mit Recht verwirft dagegen der Ver- fasser” die Ansicht, dass jene seltsame Mischung heute streng klimatisch ge- an ER Litteratur und Kritik. schiedener Thiere, wie der tropischen Elephanten und Rhinozeronten mit po- laren Renthieren und Moschusochsen auf Sommer- und Winterwanderungen deute, bei denen die südlichen Thiere im Sommer polarwärts und die nörd- lichen im Winter südlich gegangen seien. Solche Wanderungen werden ge- wiss, ebenso wie auch heute noch statt- gefunden haben, aber im Allgemeinen muss man dienordischen Elephanten und Nashörner der Eiszeit sicher als in Europa und Nordasien einheimische Thiere betrachten; das beweist ihr Wollhaar sowohl, als ihr Vorkommen in sibirischem Eise, welches nicht wohl anders erklärlich ist, als dadurch, dass diese Thiere in grossen Schneeansamm- lungen, die sich später in Eis verwan- delten, umgekommen sind. Von den Hyänen und den grossen Raubkatzen der Eiszeit lässt sich - vielleicht eher annehmen, dass es sich bei ihnen um sommerliche Exkursionen in das Ge- biet der nordischen Bären gehandelt habe, wie sie die Tiger in Asien auch heute ausführen sollen, indessen kom- menihre Knochen mit denen der eigent- lichen nordischen Thiere an zahlreichen Stellen dermassen gemischt vor, dass auch diese Ansicht bestritten werden kann. Die meisten der hier berührten Fragen hat der Verfasser in seinem Buche einer ebenso umsichtigen, als angenehm lesbaren Diskussion unter- zogen, so dass dasselbe einer Beach- tung in weiteren Kreisen wohl empfoh- len zu werden verdient. K. Um die Erde. Reiseberichte eines Naturforschers von Dr. Orro Kuntz#. 514 S. in 8. Leipzig, Paul Froh- berg, 1881. Die hier veröffentlichten Tagebuchs- berichte über eine botanische Reise um die Erde waren ursprünglich nur für An- verwandte und Freunde bestimmt, welcher Litteratur und Kritik. Umstand ihren etwas vernachlässigten Styl und das Eingehen auf Reiseerleb- nisse und Verhältnisse, die eben nur dem Verfasser persönlich nahestehende Leser interessiren können, wenn auch nicht entschuldigt, so doch wenigstens erklärt. Das Buch hat indessen vor vielen ähnlichen, elegant und spannend geschriebenen Reiseberichten den Vor- zug, nur Selbstgesehenes als wirklich zu berichten, und den Reisemärchen lebhaft zu Leibe zu gehen. Freilich scheint der Verfasser mit seiner Zweifel- sucht mitunter auch in das andere Extrem zu verfallen und Dinge nur darum abzuleugnen, weil er sie nicht selbst gesehen hat. Ueberhaupt ist es mit dem Kritisiren anderer Reisender eine eigene Sache, und wir sind im Zweifel, ob nicht die Hypothesen, wel- che Dr. Kuntze allerwärts einzustreuen liebt, z. B. über die ursprüngliche Schwärze aller Menschen, über das Weisswaschen der Chinesen mit Seife u.s. w. nicht fast ebenso schlimm sind, als kleine Jagdgeschichten und Ueber- treibungen Anderer. Ich werde als Beispiel einige solcher Auslassungen hier wiedergeben. „- » „ Zwischen Probolingo nnd Pan- talon sieht man sehr viele weisse Javaner, echte Stülpnasen, keine Mischlinge, Bleich- gesichter wie wir, aber alle mit schwarzem langem Haar. Die Sonne kann mithin kaum die einzige Ursache der braunen Gesichts- farbe tropischer Völker sein, wie auch die in den Tropen lebenden weissgesichtigen Anamiten zeigen, während umgekehrt Es- kimos einen bräunlichen Teint besitzen, Die Sonne bräunt zwar die Haut ober- flächlich, aber durch das Waschen, Seifen und Abreiben verschwindet das baldigst. Bei unreinlicheren Völkern aber sehen wir meist dunklere Hautfarbe, ebenso bei unseren pol- nischen Juden und vielen Bauern, die das Wasser scheuen, während modernisirte rein- lichere Juden und Städter heller sind. Die Javaner waschen sich zwar viel und baden oft und gerne, aber sie trocknen sich nie ab, reiben sich nicht ab, brauchen keine Seife, sondern befeuchten sich nur und überlassen * Der Verfasser meint jedenfalls das Gegentheil dessen was er hier sagt, nämlich: 469 es der Luft und Sonne, sie abzutrocknen. Unreinlichkeit und die Sonne in combinirter Wirkung aber verändern jedenfalls die Haut, und wenn man solche bräunliche Haut con- servirt, indem man sie durch Abreiben und Seife weder zerstört noch erneuert*, so scheint diese als braune Haut erblich zu werden. Die Japaner, die im Allgemeinen etwas dunk- ler als die Chinesen sind, scheinen durch das tägliche zu heisse Abwaschen eine Conser- virung der braunen Haut erwirkt zu haben. Und wie braune Gesichtsfarbe gewisser- maassen meist erbliche Unreinigkeit ist, so scheinen auch krause Haare aus ursprüng- licher Nichtpflege der Haare hervorgegangen zu sein. Denn dass trockene Hitze, wie manche von Negern dies annehmen, dies allein be- wirke, ist nicht möglich, da andere Tropen- bewohner das Gegentheil zeigen. Auch woh- nen die Neger im Allgemeinen nicht in dür- ren Gegenden. Bei Maduresen, Osterlingen, welche brau- nere Haut als die Javaner besitzen, ist das lange Haar auch meist wellig; ein Anfang zum krausen Haar. Fernerhin scheint das Ex- poniren des Kopfhaars in der Sonne auch nicht ohne Einfluss auf die Kräuselung zu sein. Indier erhalten ihr langes Haar jeden- falls desshalb besser, weil sie es immer im Tuch eingebunden halten und es oft baden, auch wohl, weil sie es den Kindern regel- mässig und sich auch im Alter noch manch- mal rasiren lassen. Ist nun durch Nichtpflege der Haare oder zu starker Sonneneinwirkung vielleicht ein kurzes, krauses Haar entstanden, so kann dasselbe, wenn es zum Schönheitsideal ge- worden, durch Pflege noch constanter wer- den, und bei vielen Negerstämmen finden wir in der That eine grosse Pflege des krau- sen Haares. Andrerseits ist nicht zu vergessen, dass krauses Haar auch vereinzelt spontan ent- steht. Doch dürfte diese Entstehung als Ausnahme kaum die Ursache der bei Völker- rassen sich findenden Kraushaare sein. (S. 415 bis 417.) Den weiterhin auf S. 428 fortge- setzten Vermuthungen über den Einfluss der Seife auf die Hellerfärbung der Chinesen und ohne Zweifel auch andrer Völker lässt Verfasser eine Erörterung der schon von PrICHARD aufgestellten Hy- pothese folgen, dass die Menschen ur- sprünglich alle schwarz gewesen seien. Er geht dabei von dunkelbraunen fast indem man sie weder durch Abreiben noch durch Seife zerstört. 470 schwarzen Hindus aus, die er zu Singa- pur in grosser Zahl sah, und welche »Negerfarbe und Europäergesicht« ver- einigten. Er sagt darüber: „Unsere Verwandtschaft mit den Hin- dus ist ja allgemein anerkannt, wir rechnen uns ja allgemein zu Indogermanen; aber dass wir so schwarze und doch sonst so ähnliche, nur zum Theil schönere Vettern haben, scheint doch weniger bekannt und vielfach geflis- sentlich verschwiegen zu sein. Draviden nennt man diesen Menschenschlag,* von denen wir abnorme aber in vielen Hinsichten bes- ser entwickelte Nachkommen sein dürften. Uebrigens giebt es alle Uebergänge in den Gesichtsfarben bei diesen Dravidas, aber dunkle Farben herrschen vor, Ob bei den schwarzen Hindu und den Negern die Oeleinreibung der Haut von Ein- fluss auf die längere Vererbung der schwar- zen Haut gewesen ist, bleibt dahingestellt; es lässt sich diess allenfalls vermuthen, da ursprünglich alle Menschen schwarz gewesen zu sein scheinen, und bei den heller gewor- denen diese Sitte sich nicht findet.** Es dürfte Manchem die Behauptung kühn er- scheinen, dass ursprünglich alle Menschen schwarz waren; indessen die Hauptgruppen, Afrikaner, Indogermanen, Polynesier zeigen Jetzt noch, wenigstens in ihren primitivsten Rassen, schwarze Menschen, zum Theil mit Uebergängen zu helleren, und auch die letzte grösste Menschengruppe, die der Mongolen, zeigt ebenfalls, wie die Dravidas nahe dem wahrscheinlichen Vaterlande der Menschen, dem versunkenen Erdtheil Lemurien, noch vereinzelte schwarze Reste, z. B. in den schwarzen Laos in Hinterindien und sonst in einigen weniger bekannten, kleineren chinesischen Oasen schwarzer Mongolen. Die Entfärbung selbst scheint durch Lebensweise in höheren Gebirgen oder in kälteren Kli- maten und dadurch verursachte pathologische Zustände, die durch geschlechtliche Auswahl zu normalen wurden, stattgefunden zu haben und in letzter Instanz erst durch Reinlich- keitsprinzipien befördert worden zu sein. Kann man auch keinen Neger weisswaschen, so ist doch im Verlaufe von mehreren hun- derttausend Jahren eine Entfärbung, wie oben angedeutet, erklärlich. Die tropischen Sumpfmenschen, welche sich allenthalben ” Anm. d. Ref. Die Dravidas werden aber ziemlich allgemein von den Ethnogra- phen und zwar sowohl nach anthropologischen wie nach linguistischen Merkmalen als Nicht- arier betrachtet. ** Die alten Griechen und Römer rieben sich bekanntlich ebenfalls mit Oel ein, neig- Litteratur und Kritik. durch schlankeren Wuchs auszeichnen, sind am längsten schwarz geblieben, die Gebirgs- menschen mit gedrungenem Wuchs, z. B. Mongolen im Himalaya und in den südchi- nesischen und indochinesischen Gebirgen, die Lemurien nahelagen, zeigen die geringsten schwarzen Reste.“ Es liegt ja in solchen Bemerkungen offenbar ein wahrer Kern, sofern freie Insolation in der Regel die Hautfarbe verdunkelt und diese Verdunkelung am leichtesten intensive Grade annehmen wird, je weniger die Hauterneuerung durch Waschen u. s. w. befördert wird. Wirsehenjaauch, dass dieinnere Handflä- che, deren Haut einer stärkeren Abnütz- ungunterworfen ist, wenigstensbeiden bei uns lebenden Negern, leicht eine hellere Nüance gewinnt, aber im übrigen zeigt sich die Hautfarbe bei ihnen trotz alles Seifengebrauches äusserst constant. Es handelt sich hier offenbar um viel tiefer gehende constitutionelle Abweichungen, wie dies auch hellere Rassen und Fa- milien inmitten der dunkleren, um nicht von den Albinos im besonderen zu re- den, fast überall beweisen. Noch be- denklicher erscheint die »Unreinlich- keitshypothese« dem Kraushaar gegen- über, wie die schlichthaarigen Eskimos und viele andere Völker aufs Klarste darthun. Im Uebrigen ist die rein naturhi- storische Ausbeute des Buches für den Leser, da die Tagebuchs - Berichte vorzugsweise für Laien bestimmt ge- wesen zu sein scheinen, nicht eben &r- heblich; die botanischen Ergebnisse fin- den sich sogar besser in dem Buche des Verf. über die Schutzmittel der Pflanzen verwerthet. Am meisten wird das Buch dennoch Botaniker inter- essiren, da der Verf. vorzugsweise den ten aber trotzdem, wenn sie ihren Körper nicht, wie die Athleten und Ringkämpfer, viel der Sonne aussetzten, so sehr zur hellen Leibesfarbe, dass sich junge Leute des Krau- tes Päderos und anderer Färbemittel bedien- ten, um ihrer Haut die geschätzte dunkle Färbung zu ertheilen. Ref, ö Litteratur und Kritik. Zweck verfolgte, in den Tropen beider Erdtheile Pflanzen zu sammeln und deshalb vielfach lebendige Exkursions- berichte mittheilt. Auf ein sehr aus- giebiges Register folgt am Schlusse noch eine Polemik gegen wissenschaft- liche Andersgläubige, deren Zusammen- hang mit dem Haupttext ein sehr loser ist, und den Beschluss macht ein Ver- zeichniss der bisher veröffentlichten Schriften des Verfassers. Als leichte naturwissenschaftliche Lektüre wird das Buch vielen Personen einen angeneh- men Zeitvertreib, und durch die da- zwischengestreuten Bemerkungen auch mancherlei Anregung, sei es auch zum Widerspruch, bieten. K. Jus primae noctis. Eine geschicht- liche Untersuchung von Dr. Karu SCHMIDT, Oberlandsgerichtsrath zu Colmar im E. XLII. und 397 8. in 8. Freiburg im Breisgau, Herder’- sche Verlagsbuchhandlung, 1881. Ein in Poesie und Sage vielfach behandeltes angebliches Recht weltlicher und geistlicher Machthaber, das soge- nannte Droit de seigneur, welches darin bestanden haben soll, dass dieselben die erste Nacht bei den Frauen ihrer Untergebenen zubringen durften, hat in neuerer Zeit vielfach auch solche Schriftsteller beschäftigt, welche von darwinistischen Grundsätzen ausgehend, eine Entwickelung der geschlechtlichen Verhältnisse des Menschen aus rohe- ren Zuständen herleiteten, von denen auch das »Recht der ersten Nacht« ein Ueberbleibsel sein sollte. Verschie- dene Forscher der Neuzeit, unter denen in erster Reihe BACHOFEN, LUBBOCK, MAC LEnnan, MoRrGAn und GIRAUD-TEULON zu nennen wären, sind durch ihre Forsch- ungen bekanntlich zur Annahme eines schrankenlosen Mischlebens der Urvölker geführt worden, welches man als He- tärismus oder Gemeinschaftsehe 471 bezeichnet hat und in welchem jede | Frau jedem Manne gehört haben soll. ı Aus diesem Zustande soll sich nach der Meinung Einiger die Einzelehe, wie eine Art Raub andas gemeinsame Eigen- thum entwickelt haben, und zwar zu- nächst durch das Vorgehen der Stam- meshäuptlinge, welche alle Frauen als ihr Eigenthum beansprucht und behan- delt hätten, um sie ihren Untergebenen nur deflorirt abzutreten. Später habe dieses Recht noch als Gewohnheitsrecht lange fortgedauert, namentlich in den Zeiten der Priesterherrlichkeit und des feudalen Ritterthums und sei dann nach und nach gegen gewisse Heirathsab- gaben der Unterthanen an ihre Grund- herren, wie sie hier und da bis in neuere Zeiten bestanden haben, abge- löst worden. Natürlich hat dieses an- gebliche Recht den Text zu vielfachen heftigen Ausfällen gegen Feudalismus und Mittelalter geliefert, woraus sich in neuerer Zeit eine gelehrte Fehde entwickelt hatte, an welcher namhafte Gelehrte, namentlich Frankreichs, Ita- liens und Deutschlands, sich betheiligt haben. Der Verfasser des vorliegenden Buches hat sich nun das grosse Verdienst er- worben, den Nachrichten über das an- gebliche Herrenrecht bis an die Quellen zu folgen; er hat zu diesem Zwecke die gesammte einschlägige Literatur (mehr als 600 Druckwerke) durchge- arbeitet, und ist zu dem Schlusse ge- kommen, dass ein solches Recht im europäischen Mittelalter nie und nir- gends existirt habe, und einzig der kulturhistorischen Sage angehöre. Er sagt darüber am Schlusse seines Buches: „Nach den bisherigen Ermittelungen ist anzunehmen, dass die Sage von einem jus rimae noctis in der heute bekannten Be- Men dieses Ausdrucks sich gegen Aus- gang des fünftzehnten oder Anfang des sechs- zehnten Jahrhunderts ausgebildet hat. Zur Entwickelung dieser modernen Sage kann gedient haben: erstens, die Verbreitung älte- rer Sagen über einige Tyrannen des Alter- thums, die ihre Gewaltthätigkeiten bis zu 472 einer gewohnheitsmässigen Schändung der Bräute ausde hnten, dafür jedoch die gerechte Strafe fanden; zweitens die Verbreitung der Reiseberichte über einzelne Völkerschaften verschiedener Welttheile, von denen man erzählte, dass ihre Jungfrauen vor oder bei der Heirath einem Priester zur Defloration übergeben oder dem Häuptling zur vorgängi- gen Gesc :hlechtsgemeinschaft angeboten wur- den, drittens die Unkenntniss über die ge- schichtliche Entwickelung derjenigen Hörig- keitsverhältnisse, aus denen das Recht der Grundherren auf derartige Heirathsabgaben der Hörigen entstanden war. Die seit dem sechszehnten Jahrhundert verbreitete Vorstellung, das jus primae noc- tis habe in alten heidnischen Zeiten bestan- den, und sei in christlicher Zeit abgelöst worden, verwandelte sich allmälig in die Lehre, dass jenes empöre ende Recht im christ- lichen Mittelalter in den meisten oder in allen europäischen Ländern geherrscht habe. Insofern als diese Lehre, ohne eine ernst- liche Prüfung der Beweisgründe von mo- dernen Gelehrten festgehalten oder verbrei- tet wird, kennzeichnet sich dieselbe als ein gelehrter Aberglaube.“ Wer das vorliegende Buch mit sei- nen vorurtheilsfreien Darlegungen auf- merksam durchgelesen hat, wird diesem Endurtheil beipflichten, wenn er auch in Einzelheiten abweichender Meinung bleiben mag. Referent muss gestehen, dass er niemals an ein derartiges Feu- dalrecht geglaubt hat, weil es ihm ein- fach unsinnig erschienen ist. Denn ge- setzt, ein solches Gewohnheitsrecht hätte irgendwo bestanden, so würde doch nie ein Mann, dem dieses Recht drückend erschienen wäre, seinem Herrn wirklich den Vortritt gelassen haben, das Gewohnheitsrecht wäre einfach an seiner Unausführbarkeit zu Grunde ge- gangen. In den ländlichen Kreisen, um die es sich hier in erster Linie handelt, ist wohl früher noch seltener als heute die offizielle Hochzeitsnacht die wirkliche gewesen, und bei den sich allmälig entwickelnden Verhältnis- sen zwischen jungen Leuten dürfte es dem Grundherrn stets ganz unmöglich gewesen sein, dies sogenannte Recht zur rechten Zeit auszuüben. Ausserdem wäre ein solches Recht schon dadurch Litteratur und Kritik. unmöglich gewesen, dass es den Grund- herın gegenüber den eifersüchtigen jungen Leuten in eine beständige Le- bensgefahr gebracht haben würde; es würde vielmehr schon der Gefährlich- keit halber Niemanden in den Sinn gekommen sein, eine Klasse von Unter- gebenen in ihrem thatkräftigsten Alter und über einen Punkt zu reizen, hin- sichtlich dessen sie meist keinen Spass verstehen. Dass man von seinen Unter- gebenen eine Abgabe für das Recht, sich zu verheirathen, verlangt hät, und dass man dieser Abgabe allerlei scherz- hafte und zu Missverständnissen füh- rende Namen im Volksmunde beigelegt hat, entspricht schon eher den Gewohn- heiten jener Zeiten. Ganz anders liegt die Frage bei solchen dem Naturzustande nähern Völ- kern, welche die defloratio als eine lästige oder nach religiösen Vorstel- lungen gefährliche Aufgabe betrachteten, bei denen sich kurz gesagt, der Aber- glaube hineinmengte. Man müsste den Werth der gesammten ethnographischen Literatur anzweifeln, wenn man die zahlreichen Angaben des Alterthums und der Neuzeit über die Prostitution der Bräute vor der Hochzeit, oder die hier und da stattgefundene, bezahlte Entjungferung der Bräute durch Götzen- bilder oder deren lebendige Stellver- treter für unhaltbar erklären wollte. Es mag hier an die Berichte des Hr- ropor und zahlreicher anderer klassi- scher Schriftsteller, namentlich auch an die wortreiche Entrüstung des hei- ‚ligen Augustin über den Gott Pertun- dus (Priap), der den jungen Ehemän- nern zuvorkomme , erinnert werden, eine etwas sonderbare Kultushandlung, die gleichwohl durch antike Bildwerke bezeugt ist. In diesen Fällen handelt es sich aber nicht um ein jus, sondern eher um ein onus primae noctis und es erscheint nicht statthaft, dieselben derartineinentwickelungsgeschichtliches Verhältniss setzen zu wollen, dass man Litteratur und Kritik. sagt, aus dem onus sei ein jus ge- worden. Man hat Spuren solcher ehe- maligen Sitten oder Unsitten auch in jener hier und da auftretenden Eigen- thümlichkeit des Erbrechts, nach wel- cher nicht ‘der älteste Sohn, sondern nur der zweite oder der jüngste Sohn Vatererbe sein soll, erkennen wollen, indem man annahm, dass darin ein Anerkenntniss der Thatsache liege, dass das älteste Kind zweifelhaften Ursprungs zu sein pflegte, aber auch hier dürften, wie der Verfasser andeutet, ganz andere Erwägungen massgebend gewesen sein. Ebenso müssen wir dem Verfasser natürlich beistimmen, wenn er nach dem Nachweise, dass der Heirathszins keine Ablösung für das Recht der er- sten Nacht war, sich dagegen verwahrt, dass dieses angebliche Recht der einen | Nacht als Ablösung für ein ehemaliges Recht auf alle Nächte betrachtet wird, um so von einem Missverständniss durch eine Kette gewagter Rückschlüsse zu dem hypothetischen Hetärismus der Ur- zeit zu gelangen, oder durch diese an- thropologische Hypothese das durch kein geschriebenes Rechtsbuch bezeugte jus primae noctis zu stützen. Wir glauben aber, dass Verfasser zu weit geht, wenn er (S. 41) behauptet, dass die Hypothese BAcHorzn’s von der Ge- meinschaftsehe der Urvölker an innerer Unwahrscheinlichkeit leide. Denn dass das von BAcHorEn zur Grundlage sei- ner Hypothese gemachte Mutterrecht, nach welchem die Kinder Namen, Rang und Besitz nur von der Mutter erbten, in ausserordentlich vielen Ländern ge- herrscht hat und noch heute herrscht, wird durch so viele alte und neue Au- toren bezeugt, und deutet so entschie- den auf eine ‘Vorstufe der ehelichen Verhältnisse, in welcher nur die Mutter das Familienoberhaupt war und sein konnte, dass man die ohnehin durch eine Menge anderer Verhältnisse ge- stützte Hypothese im Gegentheil nur als eine höchst wahrscheinliche bezeich- 473 nen kann. Die Thatsache, dass in vielen Ländern noch heute der Schwe- stersohn und nicht der eigene Sohn dem Vater in der Königs- und Häupt- ' lingswürde folgt, und die eigenthüm- | lichen Verwandtschaftsverhältnisse vieler Naturvölker sind kaum aus einer an- dern Hypothese zu erklären. Der Ver- fasser hat leider, wie es scheint, die Arbeiten von Mac Lennan über die primitiven Eheformen und von MoRGAN über die Verwandtschaftsverhältnisse bei Naturvölkern nicht in den Kreis seiner Studien gezogen; er würde sonst ver- muthlich weniger absprechend über die anthropologische Hypothese von der Gemeinschaftsehe, die vorläufig ganz unentbehrlich erscheint, geurtheilt haben. Er selbst findet sich, nebenbei bemerkt, gedrungen (S. 35), die Bevorzugung des Schwestersohnes bei der Vererbung von Besitz und Rang bei vielen Völ- kern durch die verbreitete Gewohnheit der Polyandrie zu erklären, welche mehrere Schriftsteller als 'ein Ueber- gangsglied vom Hetärismus zu der Monogamie ansehen. Mag dem nun sein, wie ihm wolle, jedenfalls besitzt die Polyandrie den intensivsten Charak- ter der Gemeinschaftsehe und das Mut- terrecht erscheint in ihr in seiner herr- schendsten Gestalt und mit dieser Her- leitung sucht somit der Verfasser selbst die Erklärung jener Rechtsformen in Verhältnissen, deren allgemeinere Be- deutung er gleich darauf bestreitet. Im Gegentheile werden die Anhänger der Theorie von der Gemeinschaftsehe im vorliegenden Buche noch mancherlei Stützen für ihre Ansichten finden, z. B. entsprechen die hier urkundlich behan- delten Heirathsabgaben des Bräutigams an seine unverheiratheten Kameraden (S. 140— 146) ganz jenen Abfindungen, welche, nach Ansicht der bekämpften Gegner der Einzelne seinen Mitbewer- bern schuldet, indem er ihnen (oft durch einen fingirten Raub) gemein- schaftliches Gut entführte. Da dieser 30 * 474 Gegenstand demnächst in vorliegender Zeitschrift ausführlich behandelt wer- den soll, beschränken wir uns einst- weilen auf diese Andeutungen, um so lieber, als die Verbindung, in welche jene Hypothese von der Gemeinschafts- ehe mit dem jus primae noctis, und zumal demjenigen der Feudalzeiten ge- bracht worden ist, sich als eine so lockere und gesuchte darstellt, dass der eine Theil bewiesen oder widerlegt werden kann, ohne dass für den an- dern das Geringste daraus folgte. Des- halb berührt auch diese Meinungsab- weichung den sonstigen Inhalt des Buches kaum, und nach dieser Seite | können wir dem Verfasser nur unsere höchste Anerkennung für die Gründ- lichkeit und Unparteilichkeit ausspre- chen, mit welcher er diese vielbespro- chene Frage untersucht hat. und religiöse Gebräuche, Rechtsfragen und Verbindlichkeiten und besonders das grosse Kapitel der Heirathsabgaben behandelt, so wird es Lesern der ver- schiedensten Klassen, die ein tieferes Eindringen in kultur- und rechtsge- schichtliche Fragen nicht scheuen, viel- seitige Anregung und Belehrung ge- währen, und kann in diesem Sinne bestens empfohlen werden. K. Nephrit und Jadeit, nach ihren mineralogischen Eigenschaften sowie nach ihrer urgeschichtlichen und eth- nographischen Bedeutung. Einfüh- rung der Mineralogie in das Studium der Archäologie. Von Hrımrıcn FiıscHEr, 411 S. in 8. Mit 131 Holzschnitten und 2 chromolithographischen Tafeln. Zweite durch Zusätze und ein alpha- betisches Sachregister vermehrte Aus- gabe. Stuttgart, E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Koch). Es ist erfreulich, dass die vorlie- gende wichtige Monographie hinreichen- Da das | Buch sehr viele interessante Volkssitten | Litteratur und Kritik. des Interesse erweckt hat, um eine neue Ausgabe zu ermöglichen, denn von der Kenntnissnahme dieses Werkes in den weitesten Kreisen der Archäolo- gen hängt die Lösung einiger der in- teressantesten ethnologischen Fragen über vorgeschichtliche Wanderungen des Menschen u. s. w. ab. Der besondere Charakterzug dieses Werkes ist eine Verbindung mineralogischer, ethnologi- scher und archäologischer Fragen, die Benutzung der Mineralogie zur Auf- hellung der Urgeschichte des Menschen. A. von Humsoupr hat an verschiedenen Stellen seiner Werke hervorgehoben, wie wichtig es für den Reisenden sei, Mineralogie studirt zu haben, denn während ihm überall neue Pflanzen und Thiere entgegenträten, seien die Fels- arten und Gesteine in allen Welttheilen dieselben. Von dem Nephrit und Ja- deit, sowie einigen verwandten Magne- sia haltigen Gesteinen, die sich vermöge ihrer Zähigkeit und Färbung dem Ur- menschen ganz besonders zur Anfertig- keit von Werkzeugen und Schmuck- stücken, Amuletten und Bildwerken empfahlen, gilt dies indessen nicht, denn in Amerika und sogar in dem minera- logisch so genau durchforschten Europa kennt man nicht eine einzige, sicher be- glaubigte Fundstätte, an welcher dieses Gestein anstehend oder in grösseren Massen gefunden würde. Gleichwohl ist die Zahl aus denselben gefertigter Ge- genstände sowohl in Amerika als an alten Wohnplätzen Europa’s ziemlich erheblich, und es tritt für jetzt als wahr- scheinlich hervor, dass das Material jener Gegenstände durchweg aus Asien stamme. Ein Hauptfundort des Jade wurde vor 20—30 Jahren bei Mogung in Bürmah (114°,2 östl. L., v. Ferro 25°4 n. Breite) ausgekundschaftet. Es ist ein Thal, dessen Wände aus einem röthlichgelben Thon (Laterit) gebildet werden, und in diesem werden seit un- vordenklichen Zeiten in Gruben, ohne ı planmässigen Abbau die geschätzten Litteratur und Kritik. Steine, die sich auch als Rollsteine in den Nebenflüssen des Irawaddy finden, gegraben (Neues Jahrbuch für Minera- logie, Geologie und Paläontologie 1881, Bd. II, S. 200). Daran knüpfen sich von selbst Fragen über vorgeschicht- liche Völkerwanderungen und Handels- wege, sowie Parallelen über eine gleiche Vorliebe amerikanischer, australischer und anderer Naturvölker für dieselben Steine. So gruppiren sich eine Menge interessanter Fragen um diese bildsamen Materialien, die in den meisten prä- historischen, archäologischen und ethno- logischen Sammlungen vertreten sind, weshalb das Buch für Forscher und Sammler auf diesen Gebieten eine viel- seitige Anregung darbietet. Die vielen Holzschnitte und die wahrhaft künst- lerisch ausgeführten Farbendrucktafeln bieten überdem ein sehr ausgiebiges Anschauungsmaterial. Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart von FRIEDRICH ALBERT Lange. Wohlfeile Ausgabe. In der Reihe der Auflagen die vierte. Be- sorgt und mit biographischem Vor- wort versehen von Professor HERMANN CoHrn. 845 Seiten in gr. 8. Iser- lohn, J. Baedecker, 1882. Das vorliegende Werk ist von den verschiedensten Standpunkten als ein epochemachendes anerkannt worden, und mit vollem Rechte, denn so ent- schieden es den Werth des Materialis- mus als methodologischen Forschungs- prinzipes betont, so sicher treffend versetzte es ihm den Gnadenstoss, mit welchem seine Herrschaft als philoso- phisches System niedergeworfen ward. Die Art, wie dies geschieht, wie auf beiden Seiten das Selbstgefühl gestärkt, der philosophische Hochmuth aber un- erbittlich niedergedrückt wird, und über- haupt die ganze Darstellung mit ihrer 475 in philosophischen Werken so seltenen Anschaulichkeit und Lebensfrische ge- währt dem gebildeten Leser einen Ge- nuss, welcher den seltenen Erfolg des Werkes in unserer doch der Philosophie möglichst abgewandten und den Resul- taten der Naturforschung mit fast un- getheilter Aufmerksamkeit lauschenden Zeitströmung sattsam erklärt. Der Ge- danke des Verlegers, von diesem Werke eine billige, den weitesten Kreisen zu- gängliche Volksausgabe zu veranstalten, muss daher mit aller Anerkennung be- grüsst werden, und wir müssen hervor- heben, dass trotz des billigen Preises die Ausstattung eine durchaus anstän- dige, fast elegante ist. Die biographisch- kritische Einleitung des Herausgebers, welche uns ein Bild von dem Ringen, Dulden und Unterliegen des tapferen Kämpfers für materielle und geistige Befreiung. unseres Geschlechts liefert, wird allen Lesern eine angenehme Zu- gabe sein. Enceyelopädie der Naturwissen- schaften. Erste Abtheilung. Lief. 25—28. Breslau, Eduard Trewendt, 1881—82. Mit den Lieferungen 26 und 27 ist bereits eine Abtheilung dieses gross- angelegten Werkes, das Handbuch der Mathematik, herausgegeben von Dr. Schnömiuch, vollständig zu Ende ge- führt, so dass auf ein um so schnelleres Fortschreiten der andern Abtheilungen gerechnet werden kann. Auch das Hand- buch der Botanik ist bereits bis zu seiner neunten Lieferung vorgeschritten und erweist sich immer mehr als eine Sammlung meist ausgezeichneter Dar- stellungen der einzelnen Abtheilungen des grossen Reiches. Dies gilt sowohl von der vortrefflichen Darstellung der »Algen im weitesten Sinne« von Dr. P. FALKENBERG, welche in der 28. Lie- ferung zu Ende geführt ist, wie von der 476 Behandlung der Muscineen, welche Prof. Dr. Kar GögBEL in derselben Lieferung | (Bd. II, S. 315—401) gegeben hat. Einer der ausgezeichnetsten Kenner der Diatomaceen, E. PritzEer, beginnt darauf folgend seine Bearbeitung die- ser in neuerer Zeit vielbesprochenen interessanten Gruppe. Das Handwörter- buch der Zoologie, Anthropologie und Ethnologie ist in der fünfundzwanzigsten Lieferung bis zu dem Artikel Distoma gefördert worden. Gleichzeitig mit den restirenden Lieferungen der ersten Ab- theilungen sollen nunmehr die Disciplinen | der zweiten Abtheilung in Angriff ge- nommen werden, nämlich I. das Hand- wörterbuch der Mineralogie, Petrographie, Geognosie, Geo- logie und Paläontologie heraus- gegeben von Prof. A. Kennsorr; II. das Handwörterbuch der Pharma- kognosie des Pflanzenreichs von Prof. Dr. Wırtstein, und das Hand- wörterbuch der Chemie, heraus- gegeben von Prof. Dr. LAnEnBuRG. Auch hier versprechen die leitenden Kräfte ausgezeichnete Leistungen und die Vor- arbeiten sind nach Mittheilung der Ver- lagshandlung so gefördert, dass monatlich wenigstens eine Lieferung zur Ausgabe gelangen kann. Das Weltall und seine Entwick- lung. Darlegung der neuesten Er- gebnisse der kosmologischen Forsch- ung von. F. Tu&opDor MOLDENHAUER, Litteratur und Kritik. Lief. 1 und 2. Köln, Eduard Hein- rich Mayer, 1882. Das vorliegende auf 18 Lieferungen ä 3—4 Bogen berechnete Werk ver- spricht in gemeinverständlicher Fassung die auf die Kosmologie bezüglichen Forschungsergebnisse zusammenzustel- len, was, wenn es mit Nüchternheit und Strenge durchgeführt wird, eine werth- volle Arbeit werden kann. Es wider- strebt unsern Gepflogenheiten, über Lie- ferungswerke gleich nach dem Erscheinen der ersten Lieferungen ein günstiges oder ungünstiges Urtheil zu fällen, dazu wird sich nach dem Erscheinen einer grösseren Anzahl von Lieferungen oder nach der Vollendung Gelegenheit bieten. Einen näheren Einblick in die Einthei- lung des Stoffes gewährt der Prospekt, welcher folgende Kapitel aufzählt: 1. Das All, 2. Das Sonnensystem, 3. Die Erde, 4. Die Sonne, 5. Der Mond, 6. Die Pla- neten, 7. Feuerkugeln, Meteorite, Stern- schnuppen, Kometen, 8. Der Einheits- gedanke im Sonnensystem, 9. Der Stoff und die Kraft, 10. Ballung und Um- lauf, 11. Die Drehung, 12. Verdichtung und Ringbildung, 13. Die Entfaltung unserer Planetenwelt, 14. Der »kritische Punkt« in der Weltkörperentwicklung, 15. Der Gestaltungs-Prozess des Mon- des, 16. Die Konstituirung der Erde, 17. Der Erdvulkanismus der Vorzeit, 18. Der Sonnenvulkanismus, 19. Die Eiszeit der Erde, 20. Der Erdvulkanis- mus der Jetztzeit, 21. Der Ursprung der Meteoritenschwärme, 22. Perspek- tiven. Ausgegeben den 10. März 1882. B3angaL u Br. vn ’ e | 3 9088 00876 3898