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MAXIMILIAN HARDEN
PROZESSE
DRITTER TEIL DER KÖPFE
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MAXIMILIAN HÄRDEN
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ERSTES BIS DREIZEHNTES TAUSEND
VERLAG/ERICH REISS/ BERLIN
1913
MAXIMILIAN HARDEN
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ERSTES BIS DREIZEHNTES TAUSEND
VERLAG/ERICH REISS/BERLIN
1913
UMSCHLAG UND EINBANDZEICHNUNG VON PROFESSOR WALTER TIEMANN
VON DER ERSTEN AUFLAGE DIESES BUCHES KAMEN ZWANZIG EXEMPLARE AUF ECHT VAN GELDER BÜTTEN GEDRUCKT, IN GANZLEDER GEBUNDEN UND HAND* SCHRIFTLICH NUMERIERT, ZUR AUSGABE
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DAS OBERSETZUNGSRECHT COPYRIGHT 1913 BY ERICH REISS VERLAG
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INHALTSVERZEICHNIS
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Sdte
Richter Pontius 11
Therese Humbert 29
Per Hauslehrer 51
Das Blumenmedium 81
Gräfin KwÜecka 93
Moritz Levy 157
Fürst Eulenburg 169
Hau 287
Schoenebecks 345
Moltke wider Hardcn 409
Stemickel 509
RICHTER PONTIUS.
Freitag, der vierzehnte Nisan 33; der Tag, da jeder Haus^ vater in Israel das einjährige Lamm zum Passahmahle be^ reitet* Wo heute der Mutesarrif von Jerusalem gjaurischen Gaffern seinen Harem verbirgt, steht, dicht neben dem auf den Namen des Marcus Antonius getauften Thurm, der alte Palast des Herodes. Hier, im Prätorium, gebietet Rom, spricht, im Namen des Kaisers Tiberius, der Prokurator von Judaea das Recht. Pontius heißt er und trägt, zur Erinnerung an einen dem Ahnen verliehenen Ehrenspeer, den Beinamen des Pilatus. Ein vornehmer Römer, der sich unter dem rück^ ständigen Judenvolk unbehaglich (uhlt und von diesem Volke gehaßt wird, als sei er der Urheber fortwirkenden Unheils. Sein Mühen, die Verwaltung der Provinz zu mo^ demisiren, bessere Verkehrsmittel und eine dem neuen Be^ dür&iß angepaßte Vertheilung der öffentlichen Arbeiten zu schaffen, scheitert am starren Felsgestein des mosaischen Ge^ setzes und bringt ihm, statt Dankes, nur noch stärkeren Widerhall der Volkswuth ins Haus. Der kühle, im Dienst nüchterner Vernunft erzogene Praktiker muß überhitzten Schwärmern ein Gräuel sein. Er will ihnen ein helles, luf^
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tiges Wohngebäude in gutem Römerstil errichten; sie wollen in ihrer dumpfen, luftlosen, unfrohen Gespensterwelt weitere hausen, wo Schatten nur, talmudische Schemen herrschen und jede natürliche Regung, heute wie gestern, als Todsünde gilt
Rom und Judaea verstanden einander niemals. Wenn der Prokurator einen nützlichen Neubau befiehlt, schreien die Juden empört auf; wenn er vor dem Prätorium zwei Votiv^ tafeln anbringen läßt, kreischen sie, der Römerschmuck schände die Nachbarschaft der Heiligen Mauer. Seine Strenge scheint ihnen grausamste Härte, seine lächelnde Ruhe der Ausdruck hochmüthiger Verachtung. Daß er gerecht zu sein sucht, wollen sie nicht sehen; meiden ihn, wo sies können, und beschuldigen ihn insgeheim der schimpflichsten Laster. Am Ende giebt er sich drein. Mit diesen wunderlichen Leuten, deren schriller Wesenston» deren grellbunte, ewig überreizte Phantastik den römischen Rationalisten an das Zerrbild Irrsinniger mahnt, ist nichts zu machen. Das Ver^ nünftigste ist, sie laufen zu lassen, bis sie sich die Köpfe einrennen, und nur dafür zu sorgen, daß sie dem Imperium gehorsam bleiben und ihre Steuer zahlen. Mit ihren Haar^ spaltereicn und Sektenfehden mochten sie selbst fertig wer^ den; ein Glück, wenn ein kultivirter Mensch sich mit dem spekulativen Wust solchen rachsüchtigen Gesindek nicht ab^ zugeben braucht und, gelassen, den Wel^eist schlürfen kann.
Jetzt, seit ein paar Monaten, haben die Ruhlosen schon wieder Etwas; irgendwo eine neue Sekte, die den Orthodoxen zu schaffen macht. Ein armer Teufel giebt sich für den König
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der Juden aus (Manche behaupten sogar: fiir den Sohn Jahwes), gaukek dem in schmutzigem Elend hinsiechen^ den Volk Wunder vor, vermißt sich, den heiligen Tempel des Herrn niederzureißen und in drei Tagen wiederaufzubauen, und sein Anhang wächst mit jedem Mond. Der Unfug endet nicht. Dieses Volk kommt eben nie in Ruhe. Zwei Dutzend Sekten: und immer wieder kltingelts sich irgendwo zusamt men; gestern in Samaria, morgen in Galilaea. An jeder Straßenecke stößt man auf ein streitendes Grüppchen. Das fuchtelt mit verrenkten Armen durch die Luft, spricht mit Händen, Schultern, mit allen Gliedern und rauft, wenn der Schimpfredestrom stockt, dem Gegner die Barthaare aus. Lallt in Hungerparoxysmen gar Einer Worte prophetischen Wahns, dann zerreißen Zwei, Drei ihre schmierigen Kleider, schlagen die Brust, wälzen sich auf dem Boden, verwünschen sich selbst, ihre Kinder und ihrer Kinder Samen. So fand sie Coponius, Caesars Statthalter; und ganz so sind sie unter Tiberius geblieben. Ohne Ekstasen geht es im Wortvolk nicht. Dabei eine Ueberhebung, der die Gestirne kaum eine Grenze setzen. Alles wollen sie besser wissen als andere Menschen, deren Nähe schon in Festzeiten ihre Reinheit be^ fleckt; und die Römericultur, die sich den Erdkreis untere warf, soll sich in Demuth nun asiatischem Aberglauben an^ passen. Die aus Caesarea nach Jerusalem, ins Winterquartier, heimkehrenden Truppen durften auf dem Adlerspeer nicht das Bild des Kaisers tragen: denn Moses hat allen Bildern kuk verpönt. Der Prokurator, der aus einer zweihundert
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Stadien entfernten Quelle der Hauptstadt reines Wasser zu^ fuhren wollte, mußte die Arbeit einstellen, die Röhren wie^ der aus der Erde nehmen lassen: denn sein Beginnen ward als Sakrilegium verschrien und Vitellius, der träge, genu& süchtige Ptokonsul in Syrien, befsJil, das Aergemiß schnell wegzuräumen. Was war mit diesen Leuten auch anzufangen, die dem Schwerte den bloßen Hals boten und schworen, tausendmal lieber sei ihnen der qualvollste Tod als des Sinais gesetzes Verletzung? Ihr Gesetzl Es ist ihnen, seit Sit aus Egypten geflohen sind, Vaterland, Imperator, Gott; und seiner Herrlichkeit darf sich keine Satzung der Gojim ver^ gleichen. Die Hybris, das üppige, furchtbare Weib, vor dem einst Hellas erbebte, schien den goldenen, von phoinikischem Purpur strotzenden Prunkwagen durchs Judäerland gelenkt und an den rosigen Saugwärzchen die ganze Judenheit ge^ stillt zu haben. Wir sind berufen, nur wir auserwählt; und ist das Gesetz erfüllt, das heiligste, uns nur gespendete, dann naht der Maschiach, der Sproß Davids und Erbe des großen Eliahu, und setzt Israel zum Herrn über die Welt. Und solchen Kinderglauben sollten Hysteriker und Be^ trüger nicht nützen? In kurzen Zwischenräumen versuchten Abenteurer sich in der Thaumaturgenrolle, kündeten Jahr^ marktzauberer neue Lehre, gaben Cerebrastheniker sich fiir den Maschiach aus. Meist versickerte ihr Wirken bald; £m# den sie aber bei der Masse Gehör, so schritt der Sanhedrin rächend ein und klagte die Lästigen des Verbrechens wider die reine Religion Israek an. Im Haus des Hohenpriesters
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wurden zwei Kerzen angezündet, in einem Verschlag horche ten zwei Zeugen: und der mesith, der Verführer, mußte nun seine Lästerrede wiederholen. Wenn er sich willig zum Widerruf zeigte, kam er glimpflich davon; blieb er aber starr in seinem ketzerischen Wollen, so zerrten die beiden Zeugen ihn vors Tribunal und die Strafe der Steinigung war ihm gewiß. Der Sanhedrin hatte, seit Rom in Syrien gebot, nicht mehr das Recht, Todesurtheile vollstrecken zu lassen; erst durch die Bestätigung des Prokonsuls oder, wenn der Vcr^ urtheilte nicht im römischen Biirgerrecht saß, des Prokurators erhielten sie Rechtskraft. Die Menge, Priester und Pharisäer an ihrer Spitze, lief also vors Prätorium und briillte, bettelte, heulte, bis dem Vertreter des Caesar Augustus die abgetrotzt, abgeschmeichelt war. So wars immer; zw« hatte Pontius das alte Schauspiel erlebt. Freitag, am vier^ zehnten Nisan des Jahres 33, sollte ers wieder erleben.
Heute wenigstens hatte er sich ungestörte Ruhestunden erhofft. Der dritte Apriltag des julianischen Kalenders; der Tag, an dem die Juden das Passahlamm essen und durch jeden Schritt ins unreine Römerhaus sich besudeln, vom Fest ausschließen wtirden. Auch der wüsteste Aberglaube, mochte Pontius denken, hat also seine guten Seiten. Einerlei: ein hartes Schicksal bleibts, unter dieser dunklen Sippschaft ver» sauem zu miissen. Wit behaglich könnte man jetzt in Bajae leben I Im April ist dort Hochsaison; die ganze reiche, ele^ gante Gesellschaft der Urbs labt sich in dieser Zeit an den Aquae Cumanae. Man träfe alte Freunde, könnte am Aver^
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ner See bis in die Nacht hinein plaudern» mit schönen Frauen am Strand oder in der Sibyllengrotte schäkern, bis bei Misenum die Sonne aufsteigt, morgens endlich wieder einmal frische Austern schlürfen und leichten Landwein trinken; und der alkalische Säuerling nebst ein paar Schwer feidampf bädem thäte dem erschlafften, im Orientklima ge^ dunsenen Leib sicher gut. Hier hat man gar nichts. Kaum einen Menschen, mit dem ein philosophisch gebildeter Geist ein Gespräch (Uhren kann. Soll man etwa über Mischna und Babylonischen Talmud schwatzen? Nur, um sich mit den Leuten leidlich zu stellen, nur, damit sie Einen am Hof des Tiberius nicht länger als Tyrannen und Feind ihres Volkes anschwärzen? Zu solcher Sklavengesinnung emiedert ein Pilatus sich nicht. Was also bleibt? Ein paar gute Bücher; doch man kann nicht den ganzen Tag lesen und wird unter dieser Sonne so matt, daß man mählich sogar die Mühe scheut, seinen Piaton oder Epikur aufzurollen. Bei Tisch muß man sich, wenn man nicht, wie der Prokonsul, für schweres Geld Leckerbissen aus der Feme verschreibt, fast schon in die hebräische Speisesitte bequemen. Was sonst? Claudia Ptocula, die liebe Hausfrau; sehr zärtlich, ungemein wohlerzogen und dekorativ, aber der lebemännisch ver^ wohnte Sinn langt nach Abwechselung. Und was hier an Weibern zu haben ist, riecht nach Schminke, Myrrhen und Salben; ist fUr einen müden Herrn auch gar zu hitzig. Dicke Lippen, feuchte, runde Augen, geöltes Haar und eine Ueber^ fülle gelblichen Fleisches: Barbarenkost, mit der im Felde
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der darbende Krieger vorliebnimmt, die den an feiner zuge^ richtete Mahlzeit gewöhnten Gaumen aber nicht reizt. Eher können die Syrerknaben sich sehen lassen. Doch man paßt den Römern hier lauernd stets auf den Weg und wiirde jauchzen, wenn man den Landpfleger als Kinaeden den rö^ mischen Hofdamen denunziren könnte. Vor neidischer Weiblichkeit darf nur der Höchste blanke Knaben um^^ armen. Nichts. Als einzige Würze Aerger von früh bis spät. Keine Möglichkeit, vernünftige Kolonialpolitik zu trtu ben; denn die Bräuche und Sitten der ehrenwerthen Judäer sollen ja sorgsam gewahrt werden. Doch was hilft alles Stöhnen? Ein angenehmerer Posten ist von hier aus nicht zu erhaschen; jeden noch nicht völlig entfleischten Knochen schnappt die Palastmeute weg. Also hübsch die Zähne zu» sammenbeißen und froh sein, daß man heute wenigstens, am Tage des Passahlammes, vor der Judenhorde Ruhe hat.
Ein Getümmel, dessen Hall allzu oft schon in sein Ohr drang, reißt den Römer aus tröstenden Nachmittagsträumen. Nicht mal am Feiertag Rubel Was giebts denn wieder?
Die Juden bringen einen Verbrecher. Da sie, nach ihrem Gesetz, heute nicht ins Prätorium dürfen, bleiben sie draußen und bitten den Prokurator, zu ihnen auf die Gabbatha zu treten. Auch dieser Tag ako vergällt! Und welcher Misse«* that ist der Mann angeklagt, den sie vor meinen Stuhl schleppen? Er ist schon überführt und verurtheilt. Kajaphas, der Hohepriester, und Hanan, dessen Schwiegervater, haben
2. III 17
ihn selbst verhört; und er hat nicht geleugnet. Ein Volks* Verführer. Hier, in Jerusalem, hat er mit seiner Predigt nur geringen Erfolg gehabt, immerhin aber ein paar wohlhabende Bürger, Joseph von Arimathia, Nikodemus, vielleicht noch Den oder Jenen, fiir seine Sache gewonnen. Doch auf dem Lande, unten in Galilaea, soll das Volk ihm in hellen Haufen nach* gerannt sein. Läßt sich den König der Juden nennen und prahlt, er könne den Tempel Jahwes zerstören und in drei Tagen wieder aufbauen. Derists? Dem ging der Ruf ja voran. Der neue Ab* gott aller Elenden. Den haben sie auch schon in der Schlinge? Ja ; zweier Zeugen Mund sprach gegen ihn und er hat die Aus* sage verweigert. Pontius hebt die Achseln. Ich bin nicht Legat noch Prokonsul, habe nicht Gewalt über Leben und Tod; die Pfaffen mögen ihr Opfer vor das Antlitz des Vitellius führen. Das sei nicht nöthig, sagen sie; denn da Jesus (so heißt der Verbrecher) nicht römischer Bürger sei, brauche das Urtheil nur vom Landpfleger bestätigt zu werden. So wolle es in Judaea der überUeferte Brauch; und des Kaisers Majestät habe be* fohlen, das kanonische Recht, das der Talmud vorschreibt, mit der Macht des Reiches zu schützen. Pontius wendet sich weg; der Centurio soll ihm den Aerger nicht vom Gesicht ab* lesen, soll den hohen Vorgesetzten nicht knirschen hören. Schlau ist die Sippe. Sie weiß, welche Tonart sie pfeifen muß, damit alle Puppen tanzen. Des Kaisers Majestät! Die leise Drohung vrürde selbst den faulen Prokonsul vom Trikli* nium scheuchen. Schnell die Toga her; die Riemen der Sandalen fester gezogen, träger Bursch: und hinaus. Weils
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doch nun einmal sein muß. Auf den Steinplatten des Vor^ hofes steht die Bima, der Elphenbeinstuhl des Richters.
Schon sitzt er und thront. Was habt Ihr vorzubringen?
Pontius hätte mit der elenden Denunziantengeschichte am Liebsten nichts zu thun gehabt. Und während er auf dem Richter«: sitz sinnt, wie er sich der Amtsbiirde noch jetzt entziehen könne, während aus dem wirren Menschengeknäuel zwanzig, vierzig Stimmen die verabredete Anklage in sein Ohr kreischen, kommt aus seinem eigenen Haus eine Warnung. Claudia Procula läßt ihn durch einen verschwiegenen Boten beschwören, den Ange^ klagten zu schonen ; ein Traum habe sie gelehrt, daß dem Gatten das Blut dieses Gerechten Unheil bringen werde. Merkwürdig. Hatte nicht Calpumia ihren Gajus Julius mit ähnlicher Rede ge^ warnt? Der blinden Sektenwuth ist Alles zuzutrauen. Und wenn der zu schmählichem Tod Verurtheilte wirklich ein Ge^ rechter wäre. . . Des Richters Auge sucht ihn. Ein schöner, sanft blickender Kopf; nichts von irrer Schwärmerekstase; und die Gestalt fast noch eines Jünglings. Ruhig schaut er, mit der Zuversicht getroster Unschuld; und in dem milden Leuchte ten, das von diesem Haupt über den fromm zeternden Pöbel hin strahlt, ist eine Hoheit, daß der Fremdling nicht staunen würde, wenn er vernähme: Dieser ist wahrlich der König der Juden I Doch er ists ja nicht; und weil ers zu sein vor«* gab, steht er vor Gericht. Pontius steigt von der Bima herab. Diese Sache darf ein redlicher Römer nicht nach der Alltags^ schnür messen; dem Seelenkenncr gebührt hier das Wort. Auf den Wink seines Richters folgt Jesus ihm ins Prätorium,
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Der Prokurator will allein mit ihm sprechen; unter vier Augen. Bist Du, fragt er, der Judenkönig? Der Galiläer, dessen Zunge doch immer noch das zweischneidige Schwert ist, biegt zuerst, mit alexandrinischer Dialektik, der heiklen Frage aus; antwortet, als echter Sohn Israek, mit einer Gegen^ frage: Kam Dir selbst solcher Glaube oder haben Andere Dir ihn eingeträuft? Dann aber spricht er gelassen das größte Wort: Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wäre es, meine Diener würden drum kämpfen. So bist Du, Jesus von Nazareth, dennoch ein König? Bin ein König, auf die Erde gesandt, die Wahrheit zu zeugen; und den Wahrha& tigen ist meine Stimme nicht leerer Schall. Diese Antwort gefallt dem Pilatus nicht. Stolze Rede kleidet gekränkte Un^ schuld gut; doch die Skepsis des Römers wehrt sich gegen den Irrwahn, Wahrheit, eine, die Allen und überall wahr ist, lasse sich vom Weisen nicht erstreben nur, nein: auch als Privilegium besitzen. Er lächelt, blickt zur aufsteigenden Sonne empor und fragt, mit kaum vernehmbarem Spott in der Stimme: Was ist Wahrheit? Danach aber besinnt er das rasche Wort. Wie wäre ein gläubiger palästinischer Israelit in die Schule des Pyrrhon und Timon aus Phlius gelangt? Seiner Jugend, die in der Welt Etwas wirken will, wirds sicher zum Segen sein, daß er sich nicht auf die kahle Fek«« klippe verstieg, wo die Skeptiker brutlos hausen. Lange be^ trachtet der Römer den Galiläer. Beim Mahl möchte er ihn nicht als nächsten Tischgenossen; auch beim Tanz heiterer Mädchen, wenn nach der Tafel das Gespräch der Ruhenden
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von den höchsten zu den niedersten Dingen flattert, in frechem Sprung von der Gottheit zur Thierheit hüpft, sähe er ihn nicht gern neben sich auf dem Pfühl. Roms Kultur fehlt ihm; und fragte man ihn nach dem Werth alter und neuer Philosophensysteme, er bliebe die Antwort wohl schuldig. Reinen Sinnes aber ist er gewiß, bis auf den Grund der Seele ohne Fleck; und nicht gewöhnlichen Schlages. Kein Marktwundermann; Keiner von Denen, die Anderen nachloben, nachschimpfen, nachplärren. Pontius geht hinaus und spricht zu den Priestern und Pharisäern: Ich finde keine Schuld an dem Manne. (Lukas selbst, der zu den kritischen Evangelisten gehört, hat den Spruch mit den unzweideutigen Worten aufgezeichnet: oidkv eigtaxo) ahiov ev xq> äv^Q(&7up tovtq>.) So sprach der Richter zum Volk. Und dennoch war der Prozeß nicht zu Ende; wurde das Verfahren nicht schnell eingestellt. Keine Schuld an ihm? heulten die Juden. Der dem Imperium die Steuer weigert? Sich einen König nennt, des Kaisers Machtbereich also klei<* nert? Keine Schuld an Einem, der sich erdreistet, Gott seines Fleisches Vater zu heißen? Wer Diesen der Strafe entzieht, sundigt nicht nur gegen unser Gesetz, sondern frevelt auch gegen den Kaiser I ^eder sollte die Majestät den Landpfle^ ger schrecken; und wieder wirkte die Drohung. Hinter den sanften Zügen des Mannes aus Nazareth tauchte der düstere Gewitterkopf des Tiberius auf. Das wäre ein Fressen für die Feinde des Pilatus! Nein. Noch einmal versucht ers in Güte. Nach altem Brauch, ruft er vom Beinstuhl ins Gewimmel,
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wird vor Passah stets ein Verbrecher begnadigt; wollt Ihr, so gebe ich auf der Stelle den König der Juden frei. Zwei, drei Sekunden lang schweigt Alles, schwankt selbst das här^ teste Herz; schon aber hat ein schlauer Priester einen anderen Namen getuschelt, der von Mund nun zu Munde fliegt, und wie ein einziger Schrei dröhnt es jetzt aus allen Kehlen: Jesus Barrabas sei der Feiertagsgnade theilhaft, doch Dieser hier büße am Kreuz 1 Jesus Barrabas saß wegen politischen Meuchelmordes im Gefangniß, war aber während einer lAtUf terei verhaftet worden und in Jerusalem ein Liebling der Pöbelinstinktc geblieben. Ihn wollten sie wiederhaben; und der Galiläer, der ärgere Jesus, sollte am Kreuz verröcheln.
Am Kreuz? Er hatte, sie wolltens beweisen, das Kirchenit dogma angegriffen, die Glaubenssatzung zu brechen getrach« tet. Das war, als Siinde wider das mosaische Gesetz, mit der Steinigung zu ahnden. Die Kreuzigung war eine Römerstrafe. Aber Judaea wollte Rom die Verantwortung der That auflas den: als Feind des Kaisers sollte der Galiläer verurtheilt, gerichtet werden; wer konnte auch wissen, ob Pontius sich sonst zur Vollstreckung des Urtheiles herbeigelassen hätte? Nun muß er nachgeben. Zu oft schon war er in Rom vtu klatscht worden. Er zaudert noch. Vielleicht, denkt er, ge^ nügt der Rachsucht ein kleines Zugeständniß. Er befiehlt, den Gefangenen auszupeitschen, und duldet, daß die aufge^ lesenen Kolonialkriegsknechte (rechtschaffene Legionäre hätn ten sich niemals in so rüde Ungebühr emiedert) dem Armen eine Domenkrone aufs Haupt stiilpen, ihn in Purpurfetzen
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wickeln, anspeien» umtanzen, umhöhnen. Er duldets; und hofit, die Wuth werde nun gesättigt sein. Umsonst. Der Priesterfeind, der Volksverfuhrer muß sterben. Nur mit Wa& fengewak hätte der Prokurator die Tobenden zu bändigen vermocht; und durfte er wagen, um eines jüdischen Sektirers willen den Römerfrieden der Provinz zu stören? Vergebens sucht er den Herodes Antipas als zuständigen Richter des Galiläers vorzuschieben. Er muß, nur er kann entscheiden. Da erst fühlt er zu Häupten ein großes Schicksal. Vor allem Volk wäscht er die Hände, hebt sie und spricht: Nicht an meinen Fingern klebt das Blut dieses Gerechten! Dann giebt er Barrabam frei; und der andere Jesus keucht mit seinem Kreuz nach Golgatha, dem Schädelberg, die Höhe hinan.
Auf seine Weise hat Pontius sich, als Ironiker, an dem konservativen Klüngel gerächt, der ihm die Sanktion des frommen Mordes abzwang. Immer wieder gab er, ihren Ohren zum Aerger, dem vom Sanhedrin Verurtheilten den Titel des Judenkönigs. Er ließ ihn emiedem, zum Spottbild ausputzen: und wies ihn dem Volk und sagte: Sehet her: welch ein Mensch I Zweimal fragte er überlaut: Soll ich Euren König kreuzigen? Schrieb mit eigener Hand über das Kreuz: »Jesus von Nazareth, der Juden König«; griechisch, lateinisch, hebräisch. Und da die Priester ihn drängten, die Inschrift zu ändern, denn Jener sei nicht ihr König, gaukle ihn nur, ward ihnen zur Antwort: Was ich schrieb, schrieb ich. Er wollte ihnen nicht hehlen, wie er sie, wie den sittlichen Werth ihres Feindes schätze. Der schwindende Tag fand ihn wohl
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in unfrohem Sinnen. Und als Joseph, der Rathsherr, abends die Botschaft ins Prätorium brachte, Jesus sei am Kreuz ge^ storben, wollte der Prokurator sie kaum glauben. Hatte der Römer etwa dem diirftigen Galiläer Götterkraft zugetraut?
Er ist hart behandelt worden. Von Denen zuerst, die ihm Dank schuldig waren. Drei Jahre nach Christi Tod entstani> den im Judäergebiet neue Unruhen. Die Männer von Sama» fla, die schon den Coponius geärgert und seitdem das Wühlen nie verlernt hatten, empörten sich wieder einmal gegen die thronende Gewalt; und nun ging es nicht ohne Blut ab. Was Pontius befürchtet hatte, geschah: als ein launischer, bald brutaler, bald schwächlicher Herr ward er dem kaiser^ liehen Zorn empfohlen, von Vitellius ohne ein Wort der Ver^ theidigung preisgegeben und ungnädig, zu persönlicher Rechtfertigung, nach Rom geladen. Tiberius, hoffte er, würde dem treuen Diener nicht lange grollen; doch in der Stunde, da der Prokurator vom Schiff auf die Italerküste stieg, holte Tiberius in Misenum den letzten Seufzer aus siecher Brust. Und Caligula, der neue Herr, war fiir den Knecht aus der Ostmark nicht zu sprechen. Der Wunsch des Pilatus, aus Judaea erlöst zu sein, war jetzt erfüllt, — doch anders, als ers ersehnt hatte. Niemand hielt ihn mehr; in Rom konnte er, konnte in Bajae leben, über die Welträthsel mit Freunden der Weisheit plaudern und im Arm graziler Europäerinnen nachts entschlummern. Aber ein abgesetzter, in Ungnade weggejagter Beamter findet nicht leicht Gefährten, mit denen
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zu wandeln ihn freut; und ohne den Landpflegersold wird, wenn man sich nach alter Gewöhnung rührt, die Decke bald zu kurz. Pontius mag als ein Mißvergnügter, Einsamer ge^ storben sein. Und (and noch im Grab keine Ruhe. Frau Fama, die Tausendzüngige, nahm sich seiner allzu liebevoll an. In Zerknirschung, raunte sie, gab der Reuige selbst sich den Tod; der Leichnam ward in den Tiber geworfen, doch das Element spie ihn wüthend aus und man mußte die aufs geblähte, faulende Menschenhülle in einen Schweizersee ver^ senken. Da brodelts nun über ihm; und der Sturm, der vor anderen Wassern stets den See des Pilatus aufpeitscht, singt das Schreckenslied von dem schlechten Gerichtsherm, der den Heiland der Christenheit unschuldig fand und den^ noch ans Kreuz schlagen ließ. Durch das ganze Mittelalter tönt die grausige Legende vom Richter; und mit dem Na^ men Pontius Pilatus scheucht die Magd fromme Kinder ins Bett.
Dann kamen die Rationalisten über den Lebemann der reinen Vernunft. Straußens Unduldsamkeit versagte ihm jeden mildernden Umstand; dem pfaffischsten aller Pfaffenfresser war Pontius ein glatter Streber, der, um seine Pfründe nicht einzubüßen, wider besseres Wissen das Recht gebeugt hat. Renan, der sanftmüthige Finder der piiti sans la foi, war auch diesem Angeschuldigten ein milderer Richter; für den eleganten, auf seine besondere Weise gutmüthigen Schwäche ling erbittet er lächelnd möglichst gelinden Strafvollzug. Claudia Procula, die unter den Heiligen der Griechenkirche
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längst in der Glorie wohnt, kündete dennoch Wahrheit: das Blut des Gerechten hat Unheil über Pontius gebracht.
War der Mann wirklich so schlimm? Er that, was die Staatsraison heischte. Nicht er: der al^üdische Rächerdrang einer um jeden Preis konservativen Partei schlug den Gali«* läer ans Kreuz. Sein Fehler war, daß er auch im Asiatenland Römer blieb und sich doch hindern ließ, die Römerwaffen zu brauchen. Dieser Sünde hat sich, bis in unsere Tage hinein, mancher Landpfleger schuldig gemacht. Aber Pontius war ein Kopf, nicht nur eine Faust noch eine Schreiberseele; war vielleicht der einzige Römer der tiberianischen Zeit, der Ju^ daea erkannte, der einzige sicher, der den Rabbi von Naza^ reth richtig sah. Er hat, als Erster unter den Philosophen^ Schülern der guten Gesellschaft, in dem Volksverfuhrer den König geahnt, der das Genie Israels aus dem gilbenden Buch Mosis befreien, dem jüdischen Spiritualismus, dem Auszug seiner geläuterten Kraft die Erde erobern würde. Als Erster im Bezirk der Christenerfahrung freilich auch das Schreckbild des Richters gelebt, der sich von außen her in die Entscheid: düng, die aus seinem Hirn zu gebärende, stoßen läßt und, wenn er sie in Rechtskraft gekündet hat, die Hände wäscht.
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THERESE HUMBERT
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Zwölf Tage lang ist vor dem pariser Schwurgericht in Sachen wider Friedrich Humbert, seine Ehefrau Therese, seine Schwäger Emil und Romain Daurignac verhandelt worden. Ob Therese Daurignac im Ehebett geboren oder ein »natiirliches« Kind ist, ob ihr Schwiegervater Humbert, der Justizminister, ein Gauner war und ob ein ihm fol^ gender Justizminister, Herr Valle, von dem Wucherer Cattaui an einer goldenen Kette gehalten ward: das Alles braucht uns nicht zu bekiimmem. Wir haben nur zu fragen, was wir aus der tausendmal beschnii£Felten und beschwatzten Ge^ schichte lernen können. Der Tatbestand ist ein£ich; er schien nur kompliziert, weil die Taktik der Hauptangeklagten und ihres Verteidigers ihn in dichte Schleier zu hüllen suchte.
Zwanzig Jahre lang hat das Ehepaar Humbert mit seiner Tochter Eva und den Geschwistern der Frau, Emil, Romain, Marie Daurignac, auf größtem Fuße gelebt. Ihre jährlichen Ausgaben betrugen ungefähr vierhunderttausend Francs. Sie waren im £lysee willkommene Gäste, der Präsident der Republik kam mit seiner Frau zu ihnen, Minister, Gene^ rale, Künstler, Gelehrte, Parlamentarier, Würdenträger aller
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Grade, drängten sich an ihren Tisch, und wo Tout^ Paris Feste feierte, war Frau Therese Humbert im dichtesten Haufen zu finden. Sie ließ die berühmtesten Weltschnei^ derfirmen, Worth, Paquin, Doucet, für sich arbeiten, trug die theuersten Pelze, kaufite Landgüter, Weinberge, umworbene Bilder, Bibelots, Poterien und galt als eine der reichsten Frauen der üppigen Lutetia. Dabei verbarg sie den Freunden nicht, daß sie ofit in Geldverlegenheit war. So gehts Einem, wenn man allzu gewissenhaft ist. Ein Erb«« schafitprozeß um hundert Millionen. Die Prozeßgegner, zwei angelsächsische Brüder Crawford, sind echte Gentlemen, verkehren intim mit den Humberts und schlagen einen durchs aus annehmbaren Vergleich vor. Aber sie verbinden damit Heirathpläne, für die Eva zu jung ist und gegen die Maries Mädchenempfinden sich lange sträubt. Schließlich mag man ja auch nichts geschenkt nehmen. Das Verständige und An^ ständige ist, dem Recht seinen Lauf zu lassen. Wenn das Tempo dieses Laufes nur nicht gar so langsam wärel Seit Jahrzehnten schleppt die Sache sich durch die Gerichts^ instanzen: und noch ist kein Ende abzusehen. Therese muß den Prozeß gewinnen; hat ihn eigentlich schon gewonnen. Der beste Beweis dafiir ist, daß die hundert Millionen in ihrem Geldschrank liegen. Doch sie sind ihr noch nicht in letzter Instanz zugesprochen; und das Vermögen vorher an# zugreifen, würde eine Dame von so strenger Rechtlichkeit Frevel dünken. Lieber entleiht sie einstweilen das zum Leben nöthige Geld. Dantur opes null! nunc nisi divitibus, sagt
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Martial; und sein nunc reicht bis in unsere Tage. Warum soll man den Humberts nicht borgen? Das Geld ist da. Jeder kanns sehen: gute Staatsrentenbriefe ruhen in Thet* reses Eisenspind. Die ersten Anwälte Frankreichs vertreten die Prozeßparteien und bestätigen, daß die Sache för die Crawfords schlecht steht und im schlimmsten (kaum denk^ baren Fall) der Familie Humbert ein fetter Vergleich sicher ist. Die beste Gesellschaft von Paris verkehrt bei den Leuten, ihr politischer und gesellschaftlicher Einfluß wirkt weithin, sie sind im größten Stil wohlthätig, haben, um dem kleinen Mann durchs schwere Leben zu helfen, die Rente Magire, das von jeder Gewinnabsicht freie Leibrenteninstitut, ge:« schaflFen und kein Verdacht wagt sich auf ihre reine Höhe. Auch war Friedrichs Vater Justizminister und als das Muster eines sauberen, der Pflicht getreuen Staatsdieners bekannt. Wer trotzdem noch zaudert, wird durch Thereses Reden ge^ reizt, durch Thereses Zinsangebote bezwungen. Die knickert und feilscht nicht erst lange: jeder Prozentsatz wird dem Darleiher bewilligt. Die Schuldscheine werden so ausgestellt, daß der Gläubiger noch auf seine Kosten kommt, selbst wenn er einen Teil des vorgestreckten Geldes in den Rauche fang schreiben muß. Kleine und große Wucherer langen nach der profitlichen Ehre, mit Madame Humbert Geschäfte machen zu dürfen. So werden in zwei Jahrzehnten nach und nach ungefähr ftinfzig Millionen zusammengeborgt; dringt Einer auf Rückzahlung des Geliehenen, dann ist schnell immer ein Anderer bereit, das Loch zu stopfen. Die Ent^
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Scheidung, der Triumph der guten Sache naht ja. Die Craw^ fords sind schon recht mürb: und wenn Mariechen, das gute Kind, sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, die Frau des Kammerpräsidenten Deschanel zu werden, der sie allerdings auch zärtlich umwirbt . . . Spät erst erwacht das Mißtrauen. Herr Waldeck ^Rousseau, damals noch der Kempner von Paris, der juristische Berather der stärksten Kapitalisten, nennt die Sache Crawford contra Humbert in einem Plaidoyer den größten Schwindel des Jahrhunderts. Der geistreiche Anti<» semit Drumont erö&et in seiner »Libre Parole« einen Feldzug gegen Therese und deren Sippschaft. Und endlich setzt der levantinische Wucherer Cattaui, den Herr Valli (später Justiz^ minister) vertritt, einen Gerichtsbeschluß durch, wonach der Geldschrank von Amtes wegen zu öffiien und der Inhalt zu prüfen ist. Der Schrank ist leer. Sämmtliche Humberts und Daurignacs sind am Abend vor der Ausführung des Gerichts«» beschlusses entflohen. Nach Monaten werden sie in Madrid gefaßt und ins pariser Untersuchungsgefängnis eingeliefert. Wahrend der langwierigen Voruntersuchung schweigt The«^ rese, die längst als der allein leitende Kopf, der Nenner vor den Nullen erkannt ist, hartnäckig und erwidert auf alle Fragen des Richters nur, erst vor den Geschworenen werde sie sprechen. Dann aber so ausführlich und rückhaltlos offen, daß die Schaar ihrer Feinde vernichtet sein und sie, unter dem Jubel der Menge, als Siegerin aus dem Schwurgerichtssaal schreiten werde. Die Hauptverhandlung beginnt. Von allen Gläubigem hat nur einer, Cattaui, sich dem Verfahren der
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Staatsanwaltschaft angeschlossen; die anderen (der Wucherer hat nie gern mit den Gerichten zu tun) erklären im Verhör, daß sie keine Ansprüche an Frau Humbert haben, und einzelne geben ihr sogar Ehrenatteste. Auch die Leibrentner zeigen si^h befriedigt und Therese kann triumphirend fragen, wem sie, außer einem abgefeimten Hallunken, denn eigentlich klagbaren Schaden zugefügt habe. Sie ist sehr redselig, stellt sich, wie eine Henne vor die bedrohten Küchlein, als Schützerin vor die drei Jammermanner, nimmt alle Verant^ wortlichkeit auf sich, gibt sich, je nach dem Bedürfhiß der Stunde, sentimental oder patzig, beschuldigt den Vorsitzenden schnöder Parteilichkeit, schmeichelt den Geschworenen, leug# net, entstellt, verdreht Alles, auch das unzweideutig Bewiesene, biegt allen heiklen Fragen gewandt aus, sucht unangenehme Aussagen mit Wortschwallen wegzuschwemmen und ver^ kündet immer wieder, hundertmal mit der selben Emphase: wenn der letzte Zeuge vernommen, die letzte Plaidoirie be«s endet sei, werde sie Alles sagen. Wo die Crawfords, wo die Millionen sind. »Je dirai tout. Et tout sera payi.« Dann werde man staunen. Ein Familiengeheimniß. Auch ihr gei> liebter Friedrich ahne nichts. Aber die Freisprechung sei sicher wie das Amen in der Kirche . , . Als es so weit ist, vernehmen die athemlos Aufhorchenden ein wirres Gefasel. Kindische Phrasen über das den allerehrlichsten Menschen Frankreichs angethane Unrecht. Ein endloses Gestöhn über das Weh einer der Pflicht stets treuen Frau, die durch nieder^ trächtige Zettelungen um ihre Habe gebracht und in den
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Straßenkoth geschleift worden sei. Und schließlich, nach langem Zögern, der bluff: Crawford heiße R^gnier und sei der Vetter des in der französischen Legendengeschichte be^ rüchtigten Schuftes, der, in Bismarcks Auftrag, Bazaine in Metz zum Verrath lockte. Und weil die hundert Millionen aus so schmutziger Quelle kamen, habe sie, die zuverlässigste Patriotin, geschwiegen, geleugnet, die Tatsachen anders dar^ gestellt, als sie sind. »Maintenant je dirai tout. Et tout sera paye.« Wo die hundert Millionen sind? Crawford^Rignier wird sie schon bringen. Ein sinnloses Märchen. Eine von den Geschichten, die der Franzose contes ä dormir debout nennt. Starr sehen Richter, Geschworene, Zuschauer einander an. Das ist die große, lange verheißene Enthüllung? Ein Kichern geht durch die Reihen. Doch Therese ist nicht zu beirren. »Sie werden uns freisprechen. Sie müssen. Ich werde heute nachts bei meiner Schwiegermutter schlafen. Die Qual ist beendet. Schnell, meine Herren Geschworenen! Wir haben volles Vertrauen zu Ihnen, denn Sie sind unabhängige und gewissenhafte Bürger. Schütteln Sie das Gewicht der ungeheuren Verantwortlichkeit ab, das seit zwölf Tagen auf Ihrem Herzen lastet 1« Schluß der Debatte. Zweihundert^ achtundftinfzig Schuldfragen werden verlesen. Die Jury zieht sich ins Berathungzimmer zurück. Nach sieben Stunden ver>« kündet der Schwurgerichtspräsident: Fünf Jahre Zuchthaus für das Ehepaar Friedrich und Therese Humbert, zwei und drei Jahre Gefängnis für Emil und Romain Daurignac. So ungefähr sieht das Skelett der Sache aus. Ungefähr;
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ich habe die Verhandlungstenogramme im »Journal« mit heißem Bemühen gelesen, trotz dieser unersprießlichen Arbeit Man# ches aber vielleicht nicht ganz genau wiedergegeben. Un« erwähnt blieb, zum Beispiel, daß Friedrich Humbert Abge^ ordneter yrar und im Palais^Bourbon, wie überall, den träu^ merischen Künstler, das weltfremde Kindergemüth mimte und daß der entscheidende Gerichtsbeschluß und die Flucht der ehrenwerten Familie Folgen der Kanonade waren, die Herr WaldecluRousseau in der Zeitung »Le Matin« gegen sie be^ ginnen ließ. Hundert allerliebste Einzelheiten; deutsche Leser würden schon mit heiterem Staunen vernehmen, welche Summen Mama Therese jährlich für Hüte ausgab. Die bnge genährte Ho&ung auf eine politische Sensation wurde ge^ täuscht. Staatsanwaltschaft und Vertheidigung hatten sich von vom herein geeinigt, das Aktenbündel nicht aufzuschnüren, das die Bettelbriefe und Dankschreiben bekannter Politiker enthielt; und da auch die Geschworenen sich nicht neugierig zeigten, erfuhr man nichts von der schmierigen Schacher^ machei, die Jahrzehnte hindurch Amter, Pfründen, Titel, Bändchen und Palmenabzeichen vergab. Kein Mensch küm^ merte sich diesmal um den dossier secret, dessen Entsiegelung anno Dreyfus so stürmisch begehrt worden war (natürlich: damals sollte der Große Generalstab, jetzt konnte die regi^ rende Bourgeoisie bloßgestellt werden). Und doch stand an der Barre der selbe Vertheidiger, der in den Fällen Zola und Dreyfus so wundervoll gegen Geheimnißkrämerei und Ver^ tuschung gewettert hatte: Herr Fernand Gustave Gaston La^
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bori. Herr Henri Robert, der berühmteste Kriminalanwalt von Paris, hatte, als er die Akten kannte, das Mandat zurück«« gegeben; mit dieser Sache und dieser Hauptklientin schien ihm nichts zu machen. Herrn Labori plagte kein Skrupel. Ein starkes Temperament, volksthümliche, von einer klingen^ den Stimme unterstützte Beredsamkeit, schlauste Berechnung aller der Rabulistenkunst erreichbaren Wirkungen und eine cränerie, die Händel mit dem Gerichtshof sucht, nicht meidet. Als Anwalt der Humberts hatte der Mann, dem selbst De^ roulide einst »Bravo, pour le talenti« zurief, eine unbegrei& lieh thörichte Taktik gewählt. Die Jury, sagte er, müsse frtu sprechen, weil nicht unzweideutig bewiesen sei, daß die Crawfords mit ihren Millionen nicht doch irgendwo im Versteck leben. Ein tollkühner Witz, mit dem selbst das Gewissen wohlwollender Laienrichter nicht zu ködern war. Und schließe lieh half er Frau Humbert gar noch bei ihrer blitzdummen Enthüllung, bereitete den Fehlschlag mit Siegermiene rheto^ risch vor und stellte sich, als ob er fest an die läppische Mär glaube. Dazu hätten Berryer, Lachaud und die anderen großen französischen Barreauredner sich nicht hergegeben. Den geächteten dreyfiisard aber mochte gerade dieser Schluß^ eflFekt reizen. Bazaine, R6gnier, in doppelter Gestalt also der gallischer Phantasie unentbehrliche traitre, im Hintergrund Bismarck als Versucher und Satanas: da kann der Patriot sich im Bengallicht zeigen. »Der Name, den Sie hören wer^ den, weckt in jedem Franzosenherzen wehes Erinnern und heiße Empörung. Das furchtbare Geheimnis, das meine
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Klientin Ihnen entschleiern will, wiegt eben so schwer wie die ganze Anklage. Die Crawfords leben. Die hundert Maß lionen sind vorhanden.« Die Klientin aber kam über dunkle Andeutungen nicht hinaus; wahrscheinlich wollte es der Vertheidiger^so. Waren die Millionen der Sündensold für den metzer Verrath? Ist Therese, deren Heimathpapiere nicht in Ordnung sind, Regniers Tochter, ein »Kind der Liebe«, und er£md sie den Crawford^Roman nur, weil sie sich schämte, Leben und Vermögen einem Landesverräther zu danken? So ruhrende Zweifel sollte die Jury ins Berathungzimmer mit« nehmen . » . Der Obmann der Geschworenen hat einem Interviewer, nach dem Schluß der Verhandlung, gebeichtet, dieser letzte Streich habe dem Faß den Boden ausgeschlagen. Das Ge&bel war allzu dumm. Friedrich und Therese wurden der Fälschung und des Betruges schuldig gesprochen.
Klaglicher konnte eine Sache nicht enden, die durch die Großartigkeit des Schwindels selbst redlichen Leuten impo:f nirt hatte. Das Gerüst der Tragikomoedie ist aus alten Brei» tem zusammengefügt. Und wer den Stoff auf die Bühne bringen will, sollte vorher die Volpone von Ben Jonson, den Turcaret von Le Sage, Balzacs Mercadet, Becques Raben und Zolas Htötiers Rabourdin durchstudiren. Neu ist nur der Umfand des Betruges. Der junge Schiller ließ seinen Fiesko rufen : »Den Betrüger adelt der Preis. Es ist schimpf lieh, eine Börse zu leeren; es ist frech, eine Million zu ver# untreuen; aber es ist namenlos groß, eine Krone zu stehlen. Die Schande ninunt ab mit der wachsenden Sünde.« So
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dachten auch die Pariser, da sie Frau Humbert mit dem Ehren^ namen der Grande Thertee schmückten. Auf blauen Dunst fünfzig Millionen zusammenzupumpen, ohne einen Heller eigenen Vermögens den asinus aureus fUr sich arbeiten zu lassen, mit Wuchergeld politische Macht zu erwerben, Vlu nister, Abgeordnete, die Häupter der Gelehrtenrepublik am Fädchen zu lenken: Das dünkte sie groß. Den Betrüger adelt der Preis. Und statt eines starken Schlußakkordes nun das Leierkastenlied vom Patriotenschmerz und von Judas, dem argen Verräther, und seinen durch Zins und Zinseszins gemehrten Silberlingen. Statt eines wuchtig niedersausenden Streiches das Gestammel einer Dutzendhochstaplerin. Die Große Therese ist so uninteressant geworden wie irgendein raseur, dessen undämmbarer Redestrom empfindliche Leute nach der ersten Qual aus seiner Nähe scheucht.
Was wir aus der Geschichte lernen können? Nicht viel Neues für unsere Erkenntnis des Menschen als politischen Thieres. Seit Apulejus die Metamorphosen schrieb, hat das Wesen des aufrechten \^erfußers sich wenig geändert; auch der in einen Esel verwandelte Held des Numiders £md Gauner als thronende Herrscher, Böcke als Gärtner, Schafe als Staatsschützer, am Altar geile Affen, auf dem Richtersitz würdevoll glotzendes Rindvieh. Und unter den Dächern, die der Hinkende Teufel abdeckte, sah es nicht wesentlich anders aus als in den Stuben der Humberts und Daurignacs. Der alte Adam hat sich nicht so völlig gewandelt, wie unsere Wissenschaftstutzer vor der Homunkelphiole wähnen, ohne
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des weisen Wortes zu achten, daß ein abgesetzter Gott den goethischen Teufel gelehrt haben könnte: »Wer lange lebt, iiat viel er&hren; nichts Neues kann fiir ihn auf dieser Welt geschehn.« Der Herkunft gleißenden Besitzes und fühlbarer Macht wurde nie ängstlich nachgefragt; stets schwieg die Moral, wenn Gewinngier in Brünsten schrie; und das wich:« tigste aller Sittengesetze heißt, seit den Tagen des listen^ reichen Odysseus: Laß Dich niemals auf Schmugglerpfaden ertappen I Neu war nur die Größe der erschwindelten Summe (aber mußte man nach Bontoux, Lesseps, Herz, Arton das Handwerk nicht ins Große treiben, um Kunden zu £mgen?); neu besonders die Technik des Betruges. Ein Jahrzehnte lang mit Aufbietung höchsten Juristenschar&innes geführter Civil^ prozeß, der an Gebühren und Sportein mehr als eine Million verschlingt, alle Gerichtsinstanzen beschäftigt und in dem Alles erfunden ist: das Objekt und die Gegenpartei. Das, hat man uns oft erzählt, wäre in Deutschland nicht möglich; deutsche Richter und Anwälte hätten die Crawfords mit den hundert Millionen zu sehen verlangt und den Schwindels versuch schnell durchschaut. Wirklich? Auch in unserem Civilprozeß erscheinen die Parteien nicht persönlich vor der Kammer; ein richtig ausgefülltes Vollmachtformular berech^ tigt zur Vertretung: und mit der Laterne mag man den An^ walt suchen, der, wenn er hunderttausend Mark Vorschuß bekommen hat, an der Leibhaftigkeit eines so solventen Wesens zweifelt. Solcher Klient lebt, weil er zahlt. Rechts«« lehrer sollten ihren Seminaristen die Aufgabe stellen: Wäre
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der Prozeß Humbert c/a Crawford im Bereich des Bürgern liehen Gesetzbuches möglich? Die Antworten könnten un:« serer Civilprozeßordnung eben so großen Nutzen bringen wie Dostojewskijs Verbrecherroman einst der russischen Straf«» rechtspflege. Statt uns wieder einmal in der Herrlichkeit deutscher Zustände zu sonnen, sollten wir unsere Richter dringend bitten, sich ein Beispiel an der Behandlung zu nehmen, der in Paris Angeklagte und Vertheidiger sich freuen durften. Kein barsches Wort, kein Bemühen, dem Ange^ klagten die Fein seiner Lage zu schärfen; joviale Milde, an den heikelsten Stellen leise Ironie und immer eine nicht zu erschöpfende Geduld. Damit sie sich so sicher und frei fühle wie früher, durfte Therese auf der Sünderbank Spitzen^ Schleier und weiße Handschuhe tragen. Sie wurde nicht ein:» geschüchtert, nie angefahren, wenn sie nervös aufkreischte; sogar derbe Grobheiten nahm der Vorsitzende mit lächelnder Ruhe hin, weil er sich sagte : Hier kämpft gegen übermächtige Menschen ein entwa&etes, im Kerker zermorschtes Geschöpf um sein Bischen Leben und solcher Kampf heischt stets ehr^ fiirchtiges Mitleid, — mag der Kämpfer auch zur Ausschuß^ waare der Schöpfring gehören. Man muß vor berliner Rich^ tem gestanden, muß die niederziehende Schmach einer Lage empfimden haben, in der jedes leidenschaftliche, jedes den groben Ankläger mit den guten Waffen stolzer Satire be^ fehdende Wort wie die Frechheit eines Strolches geahndet wird, um den Werth so humaner Behandlungform schätzen zu können. Auch wer nicht einer ehrlosen Handlung be«
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zichtigt ist, kann sich bei uns nicht frei seiner Haut wehren. Jedes Zufallswörtchen erzürnt die Richter, jagt den Proku^ rator von seinem Stuhl, trägt dem Angeschuldigten am Ende gar eine Ordnungstrafe ein. Nicht wie ein Gebildeter zu Gebildeten darf er reden, komisches Mißverständniß nicht witzig lösen; die Wimper darf ihm nicht zucken, wenn er von einer dicken Null in der Sammetstreifenrobe, ein Wehr^ loser, wie ein Spitzbube gescholten, wie ein lästiger Landf Streicher beschimpft wird. Dann schweigt der Vertheidiger; der Ankläger nimmt ja nur seine berechtigten Interessen wahr, spricht, vde des Landes der Brauch ist, und ein Pro^ test des Anwaltes könnte die Stimmung des Gerichtshofes verderben; man macht sich also grün, um nicht von den Ziegen gefressen zu werden. Dabei sinnt Niemand Böses: so war es immer; imd wer als Gentleman behandelt werden will, soll sich vor Anklagen hüten. Doch Niemand bedenkt auch, wie furchtbar der Mensch, der da im Käfig hockt, vielleicht schon während des aufreibenden Vorverfahrens ge^ litten hat, wie das Bewußtsein, hier als ein Wesen zweiter Klasse zu gelten, seine Vertheidigung lähmt; daß er erreg« barer und erregter ist als seine Richter, die in ihm den zwei« undzwanzigsten Fall ihres Wochenpensums sehen; daß er, fast schon verzweifelnd, um Freiheit und Lebenslufr ringt; und daß Menschenwürde zur Schonung des Unbewehrten verpflichtet. Die Moabiter könnten aus der pariser Prozedur Manches lernen; den Willen, Menschliches menschlich zusehen. Einen Mangel aber hatte diese Prozedur; einen, der nur
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ungerügt bleiben konnte, weil er die Möglichkeit zu Laboris billigem Patriotentrumpf schuf : kein psychiatrisch Sachverstän» diger wurde vernommen. Ist die Frage nach Thereses strafe rechtlicher Zurechnungfahigkeit gar nicht aufgetaucht? Sie hat zwanzig Jahre lang eine Rolle gespielt, die nur eine an;: nähernd genialische Intelligenz ausfüllen konnte, und an den letzten Tagen der Hauptverhandlung dann wie ein dummes Waschweib geschwatzt. Die albernsten Lügen; ein kindisches, ganz unnöthiges Ableugnen klar bewiesener Thatsachen. Vielleicht saß Misogynie zu Gericht; vielleicht dachten Ju:» risten und Laien: So sind alle Weibsen. Sie könnten sich auf Schopenhauer berufen, der gesagt hat: »Die Natur hat dem Weibe nur ein Mittel gegeben, sich zu vertheidigen und zu schützen: die Verstellung; es ist für eine Frau so selbstis verständlich, zu lügen, wie für ein Thier, sich seiner natür* liehen Wa£Fen zu bedienen.« Lombroso, der in Frankreich jetzt mehr Anhänger hat als bei uns, citirt in seinem schwäch«» sten Buch (»Das Weib als Verbrecherin und Frostituirte«) noch stärkere Ausprüche der Weiberverachtung. Das Gesetze buch des Manu entzieht dem Frauenzeugniß jede Beweis«» kraft. In Birma dürfen Frauen nur auf der Schwelle des Gerichtssaales ihre Zeugenaussage machen, die denn auch nicht für voll genommen wird. »In vielen Sprachen hängt das Wort ,Eid' und ,Zeugniß' (5^xog, testis) mit dem zu>s sammen, das die Hoden des Mannes bezeichnet«; danach wäre also nur der Zeuger zeugnißfahig. Im Türkenreich gilt eines Mannes Rede gleich der zweier Weiber. Zola: »Frauen
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sind nickt im Stande, präzis auszusagen ; sie belügen Jeden : den Richter, den Geliebten» die Zofe, sich selbst.« Als Eid^ genossen werden noch Seneca, Möllere, Balzac, Flaubert, Stendhal angeführt. Auch hartnäckiges Leugnen soll bei Weibern viel öfter als bei Männern vorkommen; so habe eine des Giftmordes Angeklagte steif und fest behauptet, die schädliche Vl^rkung des Arsens sei ihr unbekannt ge^ wesen. Man denke . . . Mit so kirchenväterlicher Asiaten« Weisheit ist im Kulturkreis des Weltwestens nichts anzu« £mgen; und im Lande der galanten Gallier ist selbst den verstaubtesten Aktenwälzem solches Vorurtheil nicht zuzu« trauen. Warum aber hat man die Humbert nicht untersucht und beobachtet? Nicht \^gnys schwächliches, zwölfinal im Jahr unreines Kind war, mit seinen spezifischen Weibeigen« Schäften, zu erforschen: den besonderen, viel&ch determinir« ten Menschen, der da tobte und greinte, fluchte und säuselte, mußte ein Sachverständiger, einer aus der Schule Bemheims oder SuUys, bis in des Wesens Kern prüfen. Dann aber kam Fernand Gustave Gaston Labori um seinen Redner« triumph. Und der löhnt den robin reicher als jeder Mandant. Ich mußte, während das Auge sich durch die Riesenspalten der Stenogramme quälte, immer wieder an ein kleines Buch denken, das ich vor zwei Jahren gelesen hatte. Es heißt: »Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler; eine Untersuchung des allmählichen Ueber« ganges eines normalen psychologischen Vorganges in ein pathologisches Symptom«; der Verfasser ist Herr Dr. Anton
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E>elbrück, einst Foreis Assistent, dann sein selbständigster Schüler. Ein Anfang erst; doch einer, der weit in dunkle Pro:^ vinzen der Psyche hineinleuchtet Auf der dritten Seite schon stehen Sätze, die im Katechismus des Kriminalisten nicht fehlen dürften: »Daß es zwischen der vollständig normalen Geistes:^ Beschaffenheit und geistiger Krankheit überall keine scharfen Grenzen giebt, ist eine Thatsache, die zwar oft hervorge« hoben, jedoch durchaus noch nicht allgemein anerkannt ist. Und doch ist die richtige Beurtheilung gerade dieser Zu^ stände praktisch, namentlich in forensiscner Beziehung, von der allergröfiten Wichtigkeit« Aus dieser Betrachtung er^ giebt sich die Nothwendigkeit, den Begriff verminderter Zu^ rechnungfahigkeit in die Rechtspraxis einzuführen. Doch ich will nicht mit erborgter ^ssenschaft prunken, die Laien^ irrthum vielleicht um den stärksten Theil ihrer Wirkung brächte, sondern einfach berichten, was ich in dem schmalen Buch gefunden habe. Zunächst einen »Fall« aus der schweif zerischen Irrenheilanstalt Burghölzli. Ein Dienstmädchen. In Oesterreich geboren. Findelkind; nach anderer Angabe die Tochter armer Winzerl^ Ein Geisdicher empfiehlt die knapp Zwanzigjährige einem Grafen als Kindermädchen. Sie liest Romane, vernachlässigt die ihrer Obhut anvertrauten Kleinen und erzählt Jedem, ders hören will, sie sei Prinzessin von Spanien und werde nächstens einen Palast und ein großes Vermj^en erben. Gewöhnliche Au&chndderei? Doch nicht. Sie wird nach einem Starrkrampf ins Spital geschafft und als bleichsüchtig und hysterisch erkannt. Aus dem Krankenhaus
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kommt sie in die Schulschwestemanstalt. Der Graf entläßt sie aus dem Dienst, weil sie unbrauchbar ist und das Blau vom Himmel lügt Als sie von Spanien genug hat, redet sie einem ihr befreundeten Hausmadehen vor, sie sei die außer« eheliche Tochter des Königs von Rumänien und ihr Onkel der KardinakPrimas von Ungarn. Dieser Kirchenfurst schreibt an die Freundin seiner Nichte oft Briefe; Briefe mit groben grammatischen Fehlem zwar: aber ein ungarischer Kardinal braucht doch nicht gutes Deutsch zu schreiben. Die Briefe kommen nie mit der Post vom Magyarenglobus; die Nichte selbst bringt sie der Freundin: sonst könnte einer unter« schlagen werden und den Aufenthalt der gehaßten Thron« prätendentin verrathen. Deshalb schickt sie der Kardinal durch Boten, die mit ihrem Leben fiir die richtige Bestellung haften. Forel und Delbrück haben die Briefe gelesen. Viel pastoraler Schwulst, geringe Schulbildung. Die Schrift von Frauenhand, aber nicht von der des Kindermädchens. Nach einigem Zögern leiht die Freundin der Pseudoprinzessin eine ftir ihre Verhältnisse beträchtliche Summe. Als sie sich dann wieder ungläubig zeigt, wird sie mit Dolch und Revolver bedroht und muß auf den von zwei Kerzen beleuchteten Km« zifix schwören, nie zu verrathen, daß die Nichte des Kardi« nah ihr Geld schulde. Die Suggestivkraft der Kranken ist so groß, daß der Arzt, zu dem sie ins Haus kommt, all ihre Märchen, Krafft«Ebing später noch einzelne glaubt. Neue Wahngebilde folgen; aber auch neue Abenteuer. Ein unga« rischer Grundbesitzer nimmt die Darbende auf; auch er hält
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sie fitr eine Königstochter. Um nicht entdeckt zu werden, trägt sie Männerkleider, manchmal die Uniform eines Jägern offiziers, und trinkt und raucht wie ein im Kasino Erwachs sener. Mit dem Dienstbuch eines Knechtes flieht sie in Dienerlivree nach der Schweiz, giebt sich dort zuerst ftir einen armen Studenten, später (ur einen reichen Erben aus, entlockt einem P&rrer neunhundert Franken, wird verhaftet, als Weib rekognoszirt, zu vier Monaten Gefangniß veruri» theilt, nach Burghölzli gebracht, dann an Oesterreich ausge^ liefert und von KraffuEbing in Graz untersucht. Seine Dia«t gnose lautet: »Typischer Fall von originärer Paranoia.« In Burghölzli hatten Forel und Delbrück, neben konträrer Sexualempfindung, festgestellt: »überschwängliche, das klare Denken störende Phantasie, als Folge davon instinktiver Hang zu Lüge und Täuschung.« Sie war unerschöpflich im Erfinden wüster Wundergeschichten; dabei überall beliebt und im Besitz einer besonders von Frauen kaum abzuwehren^ den Gewalt über den Menschenwillen. Vor Gericht, als ihr hundert Schwindeleien nachgewiesen sind, nennt sie sich das Opfer schnöden Truges, verwahrt sich gegen die Annahme einer Psychose und jammert, daß man ihr, die stets im besten Glauben gehandelt habe, jetzt die Ehre rauben wolle.
Paranoia oder strafbarer Betrug? Dr. Delbrück antwortet: Ein Grenzfall; das Wahnsystem knüpft sich an einen bewußt ausgeführten Betrug und aus dem ersten wirren Gesträhn wird, weil dem Phantasieleben alle Hemmungen fehlen, schnell pathologische Lügensucht. Der Arzt schildert auch
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leichtere Fälle, Menschen mit normaler vita sexualis» die den^ noch zu psychisch abnormen Schwindlern werden, erinnert an die »retroaktiven Halluzinationen«, die Gottfried Keller, nach eigener Knabenerfahrung, seinen Grünen Heinrich tu leiden ließ, und an das Wort, das Goethe über seinen Jugend^ hang zum Renommiren und Fabuliren sprach: »Wenn ich nicht nach und nach, meinem Naturell gemäß, die Luf^e«» stalten und V(^dbeuteleien zu kunstmäßigen Darstellungen hätte verarbeiten lernen, so wären solche aufschneiderischen Anfange gewiß nicht ohne schlimme Folgen für mich ge« blieben. Betrachtet man diesen Trieb (erfundene Märchen als Erlebnisse zu erzählen) recht genau, so möchte man in ihm diejenige Anmaßung erkennen, womit der Dichter selbst das Unwahrscheinlichste gebieterisch ausspricht und von einem Jeden fordert, er solle Dasjenige für wirklich erkennen, was ihm, dem Erfinder, auf irgendeine Weise als wahr er^ scheinen konnte.« Das gut äquilibrirte Gehirn, sagt Delbrück, scheidet hier den Dichter vom »abnormen Schwindler«. Von schwerer Allgemeinerkrankung bis zu verminderter Zurech^ nungfahigkeit und hypertrophischer, alle anderen Him^ funktionen überwuchernder Phantasie geleitet der Psychiater und schlägt schließlich vor, die Fälle, wo Fälschung des Eu innems sich bewußter Lüge mischt, unter dem (das wichtigste Symptom des Seelenstandes klar bezeichnenden) Kennwort Pseudologia phantastica zusammenzufassen.
In diese morbide Reihe gehört Frau Therese Humbert. Alle Symptome, die Forel und Delbrück aufzählen, sind an
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ihr sichtbar. Sie müßte ein Genie sein, wenn sie bewußten Sinnes zwei Jahrzehnte lang das Lügengeknäuel au£f und abgewickelt hätte, und eine unheilbare Paranoika, wenn sie wirklich dem Wahn verfallen wäre, ihre Schwurgerichtstaktik könne zur Freisprechung führen. Eine Schwerkranke wäre hundertmal aus der Rolle gefallen; eine Normalschwindlerin hätte pariser Geschworenen nicht täglich zugemuthet, die Humberts und Daurignacs für die ehrUchsten Leute Ftsmk^ reichs zu halten. Staunend lauschten Hunderttausende dem wirren, sinnlosen Gedröhn und fragten, fast ärgerlich, dann: Das ist die Große Therese, die den geriebensten Wucherern fünfzig Millionen abgelockt hat? ... Sie war nie groß, war, mit all der suggestiven Gewalt, die man so oft an Hyste^ rischen sieht, ein kränkelndes Hirn, das Wahrheit und Lüge kaum noch zu unterscheiden vermochte, und wurde zur blöden Schwätzerin, als in der Gefangnißzelle die Nacht:» Wandlersicherheit von ihr wich. Die Große Therese, das den skeptischen Parisem durch weiterwirkende Autosuggestion aufgezwungene Wahngebild, hat nie gelebt. Die psychisch abnorme Schwindlerin Therese Humbert wird, als ein Muster^ schulfall, aus den Lehrbüchern der Psychiater, die muthig aus Erlebtem zu lernen trachten, nie wieder verschwinden.
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DER HAUSLEHRER.
Die Verkäuferin eines Waarenhauses ist Mutter geworden. Trotzdem Emil ihr hundertmal lachend geschworen hatte, bei ihm habe sie nichts zu fürchten; er kenne den Rummel und sei nicht von gestern. Als keine Selbsttäuschung dann mehr half, als sie ihm das süße Geheimnis, wies im Romanstil heißt, ins Ohr flüstern mußte, ward der Obermüthige blaß; ein stiller Abend und eine frühe Trennung. Daß sein Vater in solchen Sachen keinen Spaß verstand und einstweilen des^ halb nichts zu machen war, wußte sie ja. »Also Kopf hoch, Brust *raus . . . und so weiter I Faule Kiste; aber wir werdens schon fingern.« Alles war auch glimpflich abgegangen. Im Mai hatten die Mädel im Rayon die Köpfe zusammengesteckt. Enger ließ sich das Korset nicht schnüren; und eines Tages, bei starkem Fremdenandrang, gabs eine kleine Ohnmacht. »Die is dranl« Doch sie erholte sich schnell, that bis zum Geschäftsschluß stramm ihren Dienst und gestand, sie habe sich, zum ersten Mal, verleiten lassen, in Haiensee bis nach Eins zu tanzen. Nach und nach kamen die bösen Zünglein zu Ruhe. Und Enül hatte einen famosen Einfall. »Wozu sind denn die blödsinnigen Reformkleider da? M.W. Fafon
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Regentonne.« So gings; Und Ende August lag der vier# zehntägige Urlaub gerade günstig. Fünf Tage Verspätung: der gemüthllche alte Doktor hatte die Verstauchung des linken Fußes gern bestätigt. Fräulein war emsig und die Kund^ Schaft hatte nicht zu klagen. Das Kind war in dem Land^ Städtchen geblieben; bei der würdigen Dame, die es (»Dis^ kretion Ehrensache«!) dem Schoß der Mutter entbunden hatte. Auf Emils Rath. >Sonst rennste jeden zweiten Tag hin, die Bande riecht Lunte und Du fliegst aufs Pflaster.« Die Halten frau verpflichtete sich, jeden Monat mindestens einmal Be<s rieht zu erstatten. »Sie sind doch an keine Engelmacherin nich gekommen.« Der Doktor verspricht, von Zeit zu Zeit nach dem Rechten zu sehen. Auch lebt eine Freundin im Ort. Die meldet im Oktober, das Kleine sehe nicht besonders aus; sie wolle gewiß nicht hetzen, aber das ewige V(lmmem könne Einem das Herz abdrücken und mit der Sauberkeit sei es auch nicht allzu weit her. Am selben Abend noch muß Emil sich hinsetzen und an den Doktor schreiben. »Damit die liebe Seele Ruhe hat: Eingeschrieben.« Antwort: Unsinn; mit dem Würmchen sei ja noch nicht viel Staat zumachen, aber wir haben schon kümmerlichere durchgebracht, und wer von Vernachlässigung rede, lüge in seinen Hals; die Freundin habe sichmitder Kost&au verzanktundfinde seitdem plötzlich keinen guten Faden mehr an ihr. »Na alsol Wieder mal unnütz alar^ mirt. Sei friedlich und komm ins Apollo.« Der November» bericht lautet günstig. »Mein Oskar holt jeden Morgen die beste Milch ; und überhaupt . . .« Zwischen Weihnacht und
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Neujahr kommt die Todesnachricht; auf einer Postkarte: »Soeben sanft im Herrn entschlafen. Näheres brieflich. Bitten Anweisung für Begräbnißkosten; auch wegen dem Sarge. ^Wir sind Alle untröstlich.« Der junge Arzt, der wäh^ rend der Festwochen den alten vertritt, macht mit dem Toten«» schein Schwierigkeiten. Die Obduktion ergiebt: völlig unge^ nfigende Ernährung, Mangel an nothdürfdgster Reinlichkeit, Anwendung von Schlafpulvem; unmittelbare Todesursache: Zuführung verdorbener Milch und als Folge Brechdurchfall, den der geschwächte Organismus nicht mehr überstand.
Die Staatsanwaltschaft erhebt die Anklage auf Grund des § 222 St G B : »Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Gefangniß bis zu drei Jahren bestraft. Wenn der Thäter zu der Aufmerksamkeit, welche er aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes, Berufes oder Gewerbes besonders verpflichtet war, so kann die Strafe bis auf ftinf Jahre Gefangniß erhöht werden.« Die Haltefrau wird veri« haftet Sensation im Städtchen. Unter zweihundert Klatschen reien wird der Behörde auch die Geschichte von dem Alarme brief der Freundin zugetragen. »Sie haben die unvereheUchte Runge also gewarnt?« »Jawohl, Herr Richter.« »Eindringe lieh?« »Jawohl, Herr Richter.« »Mit dem Hinweis auf die fiir Leib und Leben des Kindes drohende Gefahr?« »Jait wohl, Herr Richter.« «Und trotzdem hat die Mutter nicht Veranlassung genommen, ihr Kind in Sicherheit zu bringen?« »Nein, Herr Richter, sie hat mir 'nen pikirten Brief gei* schrieben.« »Worauf fithren Sie dieses unmenschliche Veri«
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Eahren zurück?« »Gott, Herr Richter, Die ging cait Einem und da hatte sie wohl mehr ihr Vergnügen im Kopf; schon als Kind war sie mehr für Theater und so was.« »Da Sie Ihre Pflicht in vollstem Maß erfüllt haben, brauche ich Sie auf die Heilig«» keit des Eides nicht ausdrücklich hinzuweisen. Es wird Ihnen, wie ich sehe, schwer genug, eine Jugendfreundin zu belasten. Gerichtsschreiber, nehmen Sie zu Frotokol: ,Ich kenne die unverehelichte Runge von Kindesbeinen an und wir sind bis zu dieser Stunde befreundet. Doch muß ich der Wahri* heit die Ehre geben und, nachdrücklich auf die Heiligkeit des Zeugeneides hingewiesen, aussagen, daß sie schon in der Schulzeit durch bodenlosen Leichtsinn oft Aergemiß er«» regte und ich mich nicht wunderte, als sie sich in Berlin später einem lüderlichen Lebenswandel ergab. Als ihre Un«» Zucht Folgen hatte, kam sie hierher und fand bei der Mohr Aufhahme,einerlangstderEngelmachereiverdächtigenFrauens^ person, die sie, ohne nähere Erkundigung einzuziehen, ledige lieh auf Grund eines Zeitunginserates, als Kostkinder:« pflegerin wählte. Ich muß hier noch betonen, daß die Runge sich nicht schämte, sich in unserer Stadt öffentlich im Zu>« Stande höchster Schwangerschaft mit dem Genossen ihrer Unzucht zu zeigen. Ihre Kleidung war so, wie man sie bei Lustdimen finden soll. Sie wäre also in der Lage gewesen, auskömmlich fiir ihr Kind zu sorgen. Auf meinen Brief, der ihr meldete, das Kind sei in höchster Gefahr und werde nicht am Leben bleiben, wenn es nicht schleunig von der Mohr weggenommen werde, hat sie mir frech geantwortet:
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ich wolle nur wieder Stänkereien machen und ihr Angst ein« jagen; das Kind könne gar nicht besser aufgehoben sein. Da kh die Briefe der Runge meinem Bräutigam verheim^* liehen mußte, wurden sie gleich verbrannt und kann ich sie deshalb nicht an Gerichtsstelle schaffen. Ich muß aber ver# sichern, daß sie auf mich den denkbar schlechtesten Eindruck machten und ich mir schon damals sagte, die Runge müsse nicht das geringste Muttergefuhl haben. Namentlich ist mir peinlich au%e£sillen, daß sie in der Antwort auf meine War« nung weitschweifig von einem mißvergnügten Abend tu zählte, den sie mit ihrem Unzuchtgefahrten in einem söge« nannten Tingeltangel verlebt und in einer Kneipe beschlossen habe. Ich habe davon auch meiner Tante Mittheilung ge« macht, der Wachtmeisterswitwe Päpke, die es beschwören kann. Mein Brief hat, obwohl er in den stärksten Aus« drücken sAygtbßt war und an das Gewissen appellirte, nicht die VClrkung gehabt, die Runge zu der Aufmerksamkeit an« zuhalten, zu welcher sie vermöge ihres Mutterberufes be« sonders verpflichtet war. Vielmehr hat sie mir in cynisch roher Weise geantwortet, ihre Pflicht auch femer vemach« lässigt und damit, wie ich (est überzeugt bin, aus bloßer Vergnügungsucht den Tod ihres Kindes verursacht' . . . Ein« Wendungen haben Sie natürlich nicht? Schön. Das Protokol ist also gemäß § 186 St PO vorgelesen und von der Zeugin unterzeichnet worden. Sie können gehen.« Der Assessor bringt dem Staatsanwalt selbst die Akte. »Habe *ne feine Nummer abgezogen und hoffe, im nächsten Bericht Einen
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'raufzukommen. Kegeln Sie abends?« Und erzählt beim Frühschoppen schmunzelnd, in der Sache Mohr werde es noch Überraschungen geben. Am nächsten Tag wird auch die Runge verhaftet; vom Ladentisch weg. Da die Hausordnung ftir solche Fälle sofortige Entlassung vorsieht» weiß sie, daß sie nicht zurückkehren und der Grund der Entlassung im Abgangszeugniß vermerkt werden wird. Sie ist dringend der fahrlässigen Tötung, begangen am eigenen Kinde, verdacht tig; und aus aktenkundig gemachten Thatsachen (ihrem un^ züchtigen Verhältnis zu dem Buchhalter Emil Schirmer) ist zu schließen, daß sie Spuren derThat vernichten und Zeugen zu einer falschen Aussage verleiten werde ; auch ist Fluchte verdacht vorhanden. Gemäß § 1 12 St F O war also ein Haft« befehl zu erlassen; die Runge darf nicht auf freiem Fuß bleiben. Hauptverhandlung in der Strafsache wider Mohr und Runge . . . »Selbst dieses verthierte Weibsbild aber, Hoher Gerichtshof, kann als strafmildernd noch für sich anfuhren, daß es in drückender Armuth lebte und von der Sorge um sein eigenes Fleisch und Blut, von der schweren Arbeit für Mann und Kinder in Anspruch genommen war. "Wir haben gehört, daß die Schlafpulver gegeben wurden, weil der Ehemann Mohr, der Ernährer des Hauses, sonst um seine Nachtruhe gekommen und nicht im Stande gewesen wäre, das fiir den Haushalt Unerläßliche zu verdienen ; und femer ist thatsäch^ lieh fes^estellt, daß der jüngste Knabe der Angeschuldigten Mohr ohne dauernde Schädigung mit der selben Milch ge^ nährt worden ist wie das Kostkind. Das entschuldigt nichts,
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erklärt aber Manches. Doch wie soll ich Worte finden, um den Leichtsinn, die Gewissenlosigkeit, die himmelschreiend niedrige Gesinnung der Runge zu schildern, die, um ihr Lasterleben ungestört fortsetzen zu können, zur Rettung ihres Kindes nicht einen Finger rührte? Ihres eigenen Kindes« Das ist der wesentlichste Unterschied. Wtr haben gelernt, daß zu den elementarsten Empfindungen des Weibes das Muttergefuhl gehört. Mehr noch: wir wissen, daß sogar im Thierreich die Mutter Blut und Leben freudig (iir ihr Junges opfert. Das Geschöpf, das hier vor Ihnen sitzt und (auch darauf bitte ich zu achten 1) im Verlauf dieser Verhandlung noch keine Thräne vergossen hat, ist unter die Stufe derXhier^ heit hinabgesunken. Entsetzten Blickes sehen wir das Bild ihres Lebens sich vor uns entrollen. Ich erinnere an die Aus^ sage des Fräuleins Eppler, einer Jugendfreundin der Ange# klagten Runge, und der Witwe Päpke, einer echten, kernigen Soldatenfrau. Diese Zeuginnen, die ja offenbar bemüht waren, so weit es die Eidespflicht irgend gestattet, aus christ^ lieber Nächstenliebe die Runge zu entlasten, haben im ganzen Gerichtsaal ohne Zweifel den Eindruck der Treue, ehrenwerther Zuverlässigkeit und strengster Wahrhaftigkeit gemacht. Und dennoch ergab auch ihr Zeugniß, daß die Runge geradezu frevelhaft gehandelt hat. Sie war gewarnt und schlug die Warnung in den V(^nd. Sie wurde für leichte Arbeit über# reichlich bezahlt, hatte (die Ziffern, die der durchaus glaube wtirdige Zeuge Schirmer uns vortrug, sind nicht einmal von der Vertheidigung bestritten worden) von ihrer Unzucht einen
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Ertrag, der ihr einen weit über ihre Verhältnisse gehenden Luxus ermöglichtei und ließ ihr Kind, die Frucht ihrer Lüste, in Schmutz und Elend verkommen. Aufgedonnert wie eine öflFentliche Dirne, schritt sie, am Arm ihres Buhlen, als habe sie kein Auge zu scheuen, am hellen Tag mit den sichtbaren Zeichen der Mutterschaft durch die Straßen eines vom Spü^ licht der Großstadt, Gott sei Dank, noch verschonten Ortes. Und während ihr Kind sich in Krämpfen wand, saß sie unter anderen Freudenmädchen und lachte über die plumpen Spaße der Clowns, über die Zoten bemalter Frauenzimmer. Das geschah, nachdem sie eben erst von der Freundin dringend gewarnt und die Lebensgefahr ihres Kindes ihr zur Kennte niß gebracht worden war. Ich vermuthe wohl nicht ohne Grund, daß sie schamlos in den Armen der Wollust lag, als der Todesengel dem kleinen Bett nahte. Wenn jemals, so hat hier Fahrlässigkeit unter erschwerenden Umständen den Tod eines menschlichen Wesens verursacht. Fahrlässigkeit ist die pflichtwidrige Nichtkenntnis der verursachenden Be« deutungdes Thuns oder Unterlassens. Daß die geistigen Fähig«« keiten der Angeklagten hinreichten, um den Erfolg als V(^r<( kung des Unterlassens vorauszusehen, kann nicht bezweifelt werden. Wir haben nicht ein stumpfsinniges Dienstmädchen vor uns, sondern eine gebildete, ja, rafiBnirte Person, deren Scharfblick einen Mangel an Kausalitätvorstellung ausschließt. Trotzdem ich felsenfest überzeugt bin, daß sie gleich nach der Geburt den Vorsatz hatte, ihr uneheliches Kind, als ein Hemmnis ihres lüderlichen Treibens, aus dem Wege zu
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räumen, erlaubt der Buchstabe des Gesetzes leider nicht, hier § 217 StG B anzuwenden. Um so mehr aber sind wir ytu pflichtet, die volle Strenge des Gesetzes gegen diese unsitti» liehe Person walten zu lassen. Giebt es einen ernsteren Be^ ruf, ein heiligeres Amt als das einer Mutter? In meiner langen Praxis ist mir kein Fall vorgekommen, der so alle Kriterien des § 222 StG B, Abs. 2, deckt wie dieser; keiner, der die mattherzige Unzulänglichkeit unserer von bischer Humanität eingegebenen Strafgesetze so deutlich zeigt. Hu^ manitätl Gottes Ebenbildern wollen wir sie, auch wenn sie irrten, niemals verweigern. Dieses entmenschte, jeder natura liehen Regung bare Wesen aber . . . .« »Die Strafkammer hat, entsprechend dem Antrag des Herrn Staatsanwaltes, gegen die Angeklagte Runge auf das höchste Strafinaß von fönf Jahren Gefangniß erkannt.« Von Rechtes wegen.
Der Herr Kommerzienrath Rudolf Koch, Direktor der Deutschen Bank in Berlin, sucht für seine Söhne Heinrich und Joachim, Knaben von dreizehn und elf Jahren, einen Hauslehrer. Auf dem nicht mehr ungewöhnlichen Wege des Inserates. Er würde einem nicht Jahre lang vorher erprobten Manne nicht för eine Viertelstunde den Kassenschlüssel soi^ vertrauen, würde in die EflFektenabtheilung der Bank selbst zu untergeordneter Arbeit nie einen Menschen aufiiehmen, der nicht klipp und klar bewiesen hätte, daß er zuverlässig und in seinem Beruf tüchtig ist. Wenn er seinen Kindern einen Erzieher sucht, begnügt er sich mit einem Inserat. Er könnte,
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mit einem Jahreseinkommen von durchschnittlich zwei^ hunderttausend Mark, einen reifen Mann engagiren, einen Doktor oder Professor gar: er fahndet nach einem Studenten. \^erzig Offerten laufen ein. Waren in der Annonce etwa »glänzende Bedingungen« verheißen worden, dann hatten sich, statt der vierzig, vierhundert Bewerber gemeldet. Die Wahl fallt auf den Studiosus Dippold, »weil er die besten Empfehlungen hat«. Woher? Danach wird nicht ängstlich ge# fragt. Dippold hat im ersten Semester wüst gebummelt, die Nächte mit Prostituirten verbracht, sich einer Lehrerstochter verlobt, den Vater der Braut um zweitausendsechshundert Mark angepumpt und das Geld mit gemietheten Weibern verludert. Als der Darleiher davon hörte, hob er die Verlobung auf. Dippold ließ sich dann in Berlin immatrikuliren, arbeitete aber auch hier wenig und war unter den Kommilitonen als ein roher, jähzorniger, fast größenwahnsinniger Lümmel verrufen. Nicht fähig, einen lateinischen Satz ohne grobe Fehler zu bilden. Verlumpt und verlogen. Dabei ein Frömmler. Des Morgens bei dem Branntewein, des Mittags bei dem Bier, des Abends bei den Mädchen im Nachtquartier; in der Zwischenzeit schrieb er Briefe über den gottseligen Wandel des Christenmenschen. Einzige Leistung: ein paar Nachhilfen stunden, die ihm nicht einmal die Fortsetzung des Studiums ermöglichten; also ohne Doktorhut Kehrt. Aber er hatte »die besten Empfehlungen« und bekam, als er knapp ein halbes Jahr in der Reichshauptstadt war, die Stelle, für die Hunderte redlicher Jiinglinge, Hunderte gereifter Pädagogen zu haben
gewesen wären. Nach kurzer Zeit sckon wird dem Unbe# währten, fast noch Fremden gestattet, mit den Zöglingen nach Ziegenberg bei Ballenstedt überzusiedehi. Das ist ein Gut des Herrn Bankdirektors und Kommerzienrathes. Da haust er ohne jede Kontrole mit den Knaben. Papa ist von Ge# Schäften zu sehr in Anspruch genommen und kann sich um die Erziehung der Kinder nicht kiimmem. Mama hat nicht das geringste Verständniß für die Kinderpsyche, nicht die dunkelste Ahnung von den Grundsätzen modemer, halb# wegs modemer Pädagogie und glaubt ein&ch blind, was der Hauslehrer sagt Ihre Jungen sollen lernen, vorwärts^ kommen, Renommirsöhne sein. Gehts ohne Prügel nicht, so muß eben geprügelt werden. Dieses Eltempaar, das einen Thiergartenpalast bewohnt und ein statthches Landgut hat, sorgt nicht einmal dafiir, daß Heinz und Jojo (Kosenamen gehören auch in solcher zärtlichen Familie zum Thiergarten^ Stil) so gut genährt werden wie der Sohn ihres Hausdieners oder Pfortners. Die Knaben hungern und frieren; eine mit Mus beschmierte Semmel ist für sie ein Leckerbissen und sie werden auf Reisen in die \^erte Wagenklasse gepfercht. Wie sollten Papa und Mama daran denken, in Ziegenberg jeden Monat mindestens revidiren oder sich etwa gar jede Woche den Küchenzettel vorlegen zu lassen? Wozu hat man denn schließlich einen Hauslehrer? Und Mama hatte sich ja an^ fangs wirklich selbst nach Ziegenberg bemüht, Dippold be^ richtet Fürchterliches. Beide Knaben treiben Tag und Nacht Manustupration und sind durch keine Ermahnung von diesem
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Laster abzubringen. Sie sind ungeberdig, faul, frech» ohne die leiseste Spur sittlichen Gefühles. Der Aelteste hat ge# stöhlen; zuerst im Elternhaus, wo er die Kasse des Vaters erbrach und Edelsteine bei Seite brachte, dann in Restau^ rationen und Laden. Er hat mit Falschmiinzen Automaten geplündert, in Kreditvereinen allerlei Waaren gekauft, ohne zu zahlen, und das erschwindelte und erstohlene Geld be# nutzt, um (ein Dreizehnjähriger) heimlich mit Prostituirten zu verkehren. Denen hat er Goldringe geschenkt und das Luderleben erst aufgegeben, als er von den Frauenzimmern syphilitischangestecktwar. Das Alles gesteht er selbst. Zweifel? Hier ist seine Namensunterschrift. Fapa ist von Geschäften in Anspruch genommen. Und Mama glaubt, »tief er# schüttert«, Alles, was Herr Dippold berichtet. Sie kennt ihre Kinder so gut, daß sies glauben kann. Sie erkennt, mit dem Falkenblick wachsamer Mutterliebe, den Lehrer so genau, daß sie ihm schreibt: »Ich bedaure nur, daß Gott Sie nicht zwei Jahre früher in unser Haus geführt hat; manches Herzeleid wäre uns dann erspart worden.« Eines Tages wird ihr gemeldet, Dippold habe die Knaben grausam geschlagen. Er leugnet auch nicht. Die Züchtigung sei unbedingt nothe wendig gewesen, er werde sie aber nicht wiederholen, denn sie reiche aus, um den Jungen das ewige Masturbiren end^ lieh abzugewöhnen. Wenn der Schimmel sich an einer Glases Scherbe verletzt hätte, wäre »eine Autorität« gerufen worden. Doch Kinder muß man streng halten. Und Fapa, der jetzt gerade Bilanzsitzungen hat, darf nicht beunruhigt werden.
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Ich dachte, sagt die Frau Kommerzienrath, »einen Augenblick daran, die Knaben nach der harten Züchtigung von einem Arzt untersuchen zu lassen, that es aber nicht, weil Herr Dipi« pold davon abrieth. Ich wollte auch wegen der »geheimen Siinden' einen Arzt zu Rath ziehen, unterheß es aber, weil Herr Dippold sagte, er habe selbst Medizin studirt, sei viel in Krankenhäusern gewesen und verstehe die Sache eben so gut wie ein anderer Arzt.« Ob diese Angabe wahr ist, wird nicht gepriiit. In einem Haushalt, der sich für Zeit und Ewigkeit geschändet fühlen würde, wenn ein Kutscher ein^ mal bei Tisch mitserviren müßte, wird die Erziehung, Eu nährung, Körperpflege, ärzthche Behandlung der Kinder einem verbummelten Studenten anvertraut. Dippold miß^ handelt die Knaben. Dippold wird vernommen und erklärt, die Mißhandlung sei nöthig gewesen, eine ärztliche Untere suchung Heinzens und Jojos würde ein Fehler sein und auf Therapie, Hygiene und Prophylaxis verstehe er sich wie irgendein Doktor. Dippolds Wort entscheidet und Mama reist, beruhigt, getröstet, entzückt, nach Berlin zurück. Durch Gottes Fügung ward ein Juwel ihrem Hause gewonnen.
Weihnachten sind die Knaben bei den Eltern in Berlin. Fapa ist offenbar auch während der Feiertage von den Ge^ schälten ganz in Anspruch genommen. Und Mama weiß zwar, daß Dippold ihre Kinder lahmgeprügelt hat, kommt aber nicht auf den Einfall, sie jetzt wenigstens vom Haus^ arzt untersuchen zu lassen; sieht sich nicht einmal selbst die kleinen Körperchen an. Ihre mütterliche Sorge beschränkt
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sich auf die Nachforschung, ob die Kinder wirklich onanireü. Wenn sie Dippoids Angabe glaubte» war sie zehnfach ver# pflichtet, eine »Kapazität« um Rath zu fragen; denn daß Knaben von elf und dreizehn Jahren täglich zwölfinal, £iin& zehnmal oder noch öfter thun, was Judas Sohn Onan (1. Mose 38, 9, 10) mit dem Leben büßt, ist am Ende kein gleichgiltiger Alltagsvorgang. Frau Rosalie Koch ist anderer Meinung. Wahrscheinlich hält sie sich selbst für eine Kapa^ zität; und sie bringt dem gewählten Beruf Opfer, die fast über die Menschenkraft gehen. In einer Nacht, spricht sie stolz, »bin ich wohl fünfmal in das Schlafzimmer der Knaben gegangen, bin dicht an ihre Betten herangetreten und habe zu ihnen gesprochen; ich gewann die Ueberzeugung, daß Beide fest schliefen. Nachher sagte mir Heinz, sie hätten sich blos verstellt.« Das komplizirte den Fall. Entweder log der Hauslehrer frech oder die Jungen betrogen die Mutter mit GaunerkniflFen. Frau Kommerzienrath Koch fand sich nicht bewogen, die Sache zu untersuchen, und ließ, le coeur I6ger, die Kinder mit dem Lehrer wieder gen Ziegenberg ziehen. Warum nicht? »Unser Gut ist sehr idyllisch ge# legen.« Neue Warnungen kommen. Ein Brief: »Dippold ist ein Schweinekerl, denn er frißt das Fleisch mit den Hän^ den vom Teller herunter; er ist ein Saukerl, denn er hat sich besoffen; er ist ein gemeiner Kerl, denn er hat unsitt» liehen Verkehr mit vielen Frauenzimmern. Dippold ist ein Schuft, ein Spitzbube, ein Schurke. Dich, Mama, nennt er eine hochmüthige Trine, Karl (Kochs Sohn aus erster Ehe)
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nennt er einen Kochnäsigen Kerl, der Vaters Geld verpras^ö. Heinz Koch. Gelesen: Jojo Koch.« Wahr oder unwahr: aus diesem Kinderbrief spricht so wilder Haß, so leidenschafe liehe Rachsucht» daß kein Vater, keine Mutter, in deren Herzen auch nur ein Funke ernster, vorsorgender Elternliebe glomm, fünf Minuten vor dem Entschluß zaudern durfte, die Kleinen aufzusuchen und dem unhaltbar gewordenen Zustand ein Ende zu machen. Selbst wenn Alles erlogen war, was die Knaben schrieben, war der Erzieher nicht langer zu brauchen, der so wenig verstanden hatte, ihr Kindergefiihl an sich zu ketten. Eine Proletarierin hätte nach solcher Kunde den Nothpfennig genommen und sich in der nächsten Frei# stunde auf die Eisenbahn gesetzt. Frau Rosahe Koch schreibt einen Brief. Von Berlin sind fünf, sechs Stunden Fahrt; auch die Kosten eines Extrazuges wären in dem Budget des Bank«: direktors kaum wahrnehmbar. Frau Koch schreibt einen Brief. Antwort, vde zu erwarten war: Alles erfunden. Heinz sei überhaupt nicht mehr zurechnungfahig; doch hoflFe der Lehrer, cand. jur. Dippold, ihn zu heilen, »V(^ wollen Alles in die Hand des Allmächtigen legen, der es sicher zum Guten lenken wird.« Dann folgen Briefe, die melden, daß die Knaben an Schwindelanfallen leiden, Folgen der Mastur# bation. Traurig, denkt Mama; thut aber nichts. Unter ihrem Zeugeneid hat sie später ausgesagt, als sie von der Selbste befleckung der Knaben gehört habe, sei ihr erster Gedanke gewesen, nur der Lehrer könne Heinz und Jojo zu solchem Laster verleitet haben. Nur ihr erster Gedräke. Ihr letzter
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scheint gewesen zu sein: Was Dippold thut, ist wohl«» gethan; drum herrsche auch hinfiiro sein Wille.
Im Januar 1903 war Mama ein Weilchen in Ziegenberg. Sah nichts und hörte nichts. Auch Papa kam; erfuhr, Dipi» pold sei (gerade an diesem Tag) mit den Jungen auf den Brocken geklettert, und reiste, ohne sie gesehen zu haben, vergnügt wieder ab. »Wenn sie solche Tour machen können, miissen sie ja kerngesund sein.« Ungefähr drei Wochen danach klopft im Morgengrau auf dem »idyllisch gelegenen« Gut eine zitternde Kinderhand an das Fenster der Gärtner:^ Wohnung. Heinz. Fünf Uhr früh. Eiskälte. Der Knabe halb angezogen. Wimmert um Hilfe. Der Lehrer habe ihn und seinen kleinen Bruder aus tiefem Schlafe geweckt und einen dicken Stock an ihren Leibern zerschlagen; er werde sie gewiß noch umbringen. Heinz hat auf dem Rücken, den Armen große blutige Wunden; Wangen, Augen und Hände sind angeschwollen. Das Würmchen bettelt um Hilfe, um einen Bissen Brot; denn es ist von Hunger entkräftet. Bald darauf holt Dippold seinen Schüler zurück. Der Gärtner fahrt nach Ballenstedt und erzählt dem Bürgermeister das grasse Erlebniß. Der telegraphirt an den Herrn Bankdirektor und Kommerzienrath RudolfKoch,Berlin,Thiergartenstraße 7^ . Und nun ists aus mit der Qual. Nun wird dem Hallunken das Handwerk, das schmähliche Handwerk gelegt und noch am selben Tage sitzen die Kinder sicher im prunkenden Elternhaus und werden mit Liebe gepäppelt. Nicht wahr?
Nein. Herr Rudolf Koch hats nicht so eilig. Neununde
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zwanzigster Januar. Mitten in der Hochsaison. Vielleicht Gäste zu Tisch. Vielleicht zu Gwinners Majestät geladen. Au&ichtrathssitzung. Irgendein neuer Concem zu bilden. Schließlich ists ja kein Fall, der Eltern zu schleuniger Reise drängen müßte. Herr Rudolf bespricht die Sache mit Frau Rosalie. Das Beste wird sein, den Schwiegersohn hinzu# schicken. Rittmeister a. D. Hat also immer Zeit. Famoser Einfall. Und Frau Rosalie thut noch ein Uebriges. Sie bittet Herrn Dr. Vogt, einen Gehimanatomen, Schüler Foreis und Günstling Krupps, nach Ziegenberg zu &hren. Sagt ihm aber nichts von der rohen Mißhandlung. Mehr kann doch wirklich kein Gerechter verlangen. Der Schwiegersohn hats eiliger als der Schwiegerpapa. Er muß schnell nach Berlin zurück, sieht den verspätet eintreffenden Himschnittmacher nur noch zwei Minuten und benutzt die Frist, um ihm zu^ zurufen: 3»Der Dippold ist entweder ein Schuft oder ein Idealmenschi« Diese wundersame 'Alternative des Reiters^ mannes hätte manchen Kontroleur wohl zum Mißtrauen ge^ stimmt. Herrn Dr. Vogt nicht. Ein Doktor vom Lande hätte den Jungen befohlen, sich auszuziehen, und dann die Spur der Mißhandlung, die Wunden und Eiterbeulen, am Leib der Geschundenen entdeckt. Mit solchen Rückständigkeiten giebt der moderne Direktor einer Himschnittmustersammlung sich nicht ab. Untersuchung? Veralteter Blödsinn. Herrn Dr. Vogt genügt ein Gespräch mit dem Kandidaten Dippold. Der sagt, eine ärztliche Untersuchung würde seine Autorität bei den Schülern mindern. Alles komme von der ewigen
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Masturbation. QWas dtn Arzt nicht etwa veranlaßt, sich wenigstens mal die Genitalien der Kinder anzusehen.) Züch^ tigung sei nöthig, doch werde nus der dafür geeignetste Körpertheil manchmal mit einer dünnen Gerte bearbeitet. Der Arzt antwortet, sehr vernünftig, Prügeln nütze nicht und die üble Folge der Onanie werde von Laien beträchtlich über^ schätzt. Läßt sich Dippolds Erziehungmethode schildern, verschreibt ein Schlafpulver, räth, Heinz und Jojo jeden Mo# nat einem Neurologen vorzufuhren, und dampft ab. Gemein^ same Meldung des Ritt» und des Schnittmeisters: Alles in schönster Ordnung. Der Lehrer hält mit den Schillern sogar weihevolle Andachtübungen und ihr Wohl, er sagt es ja selbst, liegt ihm Tag und Nacht am Herzen. Herr Dr. Vogt schließt seinen Bericht (in dem weder von Kontrole noch von Neurologie mit einer Silbe die Rede ist) mit der Frage: ToWit sind Sie, Frau Kommerzienrath, nur zu diesem idealen Menschen gekommen?« Frau Rosalie ist selig. Wenn ihr Dippold, der neulich den Wunsch aussprach, vde Christus am Oelberg zu ruhen, nur erhalten bleibt I Er drohte, den Dienst zu kündigen. Mama sendet ihm »tausend Dank und fünfhundert Mark Extrahonorar als Anerkennung Ihrer großen Aufopferung«. Um dieses Resultat zu erreichen, war Heinz früh um Fünf, blutend, halb nackt, halb verhungert, dem Haus entlaufen, der Gärtner nach Ballenstedt gefahren, vom Bürgermeister an die Eltern telegraphirt worden.
Noch mehr vdrd erreicht. Dippold erklärt, nur bleiben zu wollen, wenn er mit den Knaben nach Drosendorf, in seine
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Heimath» übersiedeln dürfe. In Ziegenbeig, wo Gärtner und Dienstboten ein Erziehungsystem beschwatzen, das sie nicht verstehen, sei nichts Rechtes zu machen; namentlich nicht mit Heinz, der moralisch ganz verkommen sei. Der Lehrer brauche volle Ruhe; »die Kontrole durch Herrn Dr. Vogt wolle er sich gern ge£sdlen lassen« (was man ihm nachfühlen kann). Frau Kommerzienrath willigt ein. HerrKommerzienrath schreibt an seine Söhne, er billige Alles, was Dippold anordne, der sie zu tüchtigen Menschen erziehen werde, wenn sie ihm au& Wort gehorchten. Also auf nach Drosendorf, das auch »idyllisch liegt«. Am siebenzehnten Februar 1903wird die Reise angetreten. Von Ballenstedtbis Hof X^erter, von Hof bis Nümi^ berg Dritter Klasse. Acht Tage danach schreibt Frau Rosalie an den »idealen Lehrer«: »Nun ist Alles geschehen, um Ihren V^en zu erfiillen. In Drosendorf wird Niemand Sie stören, am Wenigsten Jemand aus unserer Familie«. Worauf Kom^ merzienraths fröhlich nach Nizza reisen; denn auch ein unter der Last der Geschäfte fast zusammenbrechender Bankdirek^ tor, der »die Sorge für die Kinder seiner Frau überlassen muß«, hat die Pflicht, den März an der Riviera zu verrepräsentiren. Das kann die Bank, kann die GeseUschaft von ihm fordern. Am zehnten März liegt Heinz Koch tot im Bett. Der Lehrer hatte den Sterbenden, der flehentlich bat, liegen blei# ben zu dürfen, mit Fußtritten in Bewegung gebracht, zu Turnübungen und in ein eiskaltes Bad gezwungen. Als Heinz schlecht turnte, mußte Joachim ihn mit einem Stock prügeln. Als er zweimal ohnmächtig wurde, brüllte Dippold: »Das
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Luder verstellt sich blosl« Dem Verröchelnden wird ein Knebel in den Mund gestopft. Beim Entkleiden und Säubern der Leiche muß Jojo helfen. Dann wird der Bezirksarzt ge^ rufen; »zu einem Schwerkranken«. Dippold schildert ihm zwei Stunden lang die Vemichtheit der Famihe Koch. Der Arzt will den Kranken sehen. Ist schon tot Ergebniß der Leichenschau: der ganze Körper zerschlagen; überall blutige Striemen und eiternde Wunden; von Syphilis oder ona^ nistischer Ausschweifung keine Spur. Auch Joachim wird nun endlich untersucht. Gesicht, Brust, Rücken, Beine, Arme mit Blut unterlaufen. Das Kind, das vom Scharlach her ein Ohrenleiden hat, ist durch Schläge am Kopf arg verletzt, konnte gerettet werden, stand aber vor der selben Gefahr, der sein Bruder erlag. Das war der Befund am zehnten März. Zwölf, dreizehn Tage vorher hatte Mama an den Hauslehrer geschrieben: »In Drosendorf wird Niemand Sie stören, am Wenigsten Jemand aus unserer Familie.«
Unter dem dringenden Verdacht, durch »Körperverletzung mittels eines gefihrlichen Werkzeuges« den Tod Heinzens herbeigeführt zu haben, wird Dippold verhaftet. § 226 StGB: Zuchthaus oder Gefangniß nicht unter drei Jahren. Der Erste Staatsanwalt des bayreuther Landgerichtes versichert, die Seki» tion habe den entsetzlichsten Anblick geboten, den er sich vorstellen könne. Schwurgerichtssache. Voruntersuchung und Hauptverhandlung bringen Thatsachen ans Licht, die in einem Pfennigkriminalroman vde alberne Übertreibungen vrirken müßten« In mancher Nacht hat der Lehrer sechs dicke Stöcke
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an den Schülern zerprügelt. Die Knaben mußten die Schläge laut zählen; bis zu fünfzig. Dazu kamen Fußtritte und Fauste schlage auf Gesicht, Schädel» Genitalien. Nachts mit Stricken auf den Tisch oder die Matratze gebunden. Oft mußten die Jungen im kalten Zimmer Stunden lang nackt vor dem Bett stehen; barfuß» mit Frostbeulen» durch den Schnee laufen; einem im raschestem Tempo fahrenden Wagen nachrennen, bis sie athemlos zusammenbrachen; mit entblößtem Untere körper turnen oder Herrn Dippold» der sich auf dem Sofa räkelte» Küßchen geben; in ihren Betten wurden fast täglich breite Blutflecke gefunden. Der Lehrer legte sich splittere nackt zwischen die Schüler» mißhandelte sie und redete ihnen so lange ein» sie hätten Manustupration getrieben» daß sies endlich zugaben. Alles gaben sie zu. Onanie, Diebstahl» Betrug; um nur ein Bischen Ruhe zu haben. Einmal be^ drohte Dippold den älteren Knaben mit offenem Messer; mehr als einmal schlug er den jüngeren mit einer Eisenstange. Zwei Schuldfragen: vorsätzliche Körperverletzung mittels ge# fahrlichen Werkzeuges (Joachim), das Selbe mit tötlichem Ausgang (Heinrich Koch); beide Fragen werden von den Geschworenen bejaht» mildernde Umstände nicht als vorhan^ den angenommen. Sämmtliche Sachverständige (zu ihnen ge# hört» trotz der ziegenberger Leistung» auch Herr Dr. Vogt) erklären» »die freie WUlensbestimmung des Angeklagten sei nicht ausgeschlossen gewesen«. Keine Phantasie vermag einen gräßlicheren Fall zu erträumen. Der Gerichtsspruch aber bleibt um sieben Jahre unter dem höchsten zulässigen Stra&.
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maß. Herrn und Frau Kommerzienrath Koch werden vor, während und nach ihrer Zeugenaussage Mitleidsovationen bereitet und Trauerkränze gewunden. Kein noch so sanft mahnendes, vorwerfendes Wort. Und der Vertreter der Staatsanwaltschaft beginnt seinen Schlußvortrag mit den Sätzen: »Im groikn Publikimi war der Glaube entstanden, das Ehepaar Koch sei an dem Tode des Kindes mindestens moralisch mitschuldig. Die ö£Fentliche Verhandlung hat diesen Glauben griindlich zerstört Der Angeklagte hatte die Frechheit, zu behaupten, die Eltern kümmerten sich nicht um ihre Kinder. Die Verhandlung hat ergeben, daß die Eltern nicht die ge« ringste Schuld tri£Et.« Das war eines Frokurators Glaube.
Der Fall Runge ist erfunden, kann aber morgen in jedem Landgerichtsbezirk Wirklichkeit werden. Der Fall Koch:^ Dippold hat sich in der ersten Oktoberdekade des Jahres 1903 am Rothen Main vor Alldeutschlands entsetztem Auge abgespielt. Alldeutschland hat seitdem wieder einen Oger. Einen wirklichen, der in der Geschichte der Sexualpsycho^ pathie fortleben wird. Bald ist ein Halbjahrtausend ver^ strichen, seit Gilles de Rays hingerichtet wurde, der Mar« schall von Frankreich, der achthundert Kinder, hundert in jedem Jahr, geschändet, unter wollüstigen Schauem getötet und die hübschesten Köpfchen zum Andenken aufbewahrt hatte. Genau hundert Jahre, seit Donatien Alphonse Fran; ois Marquis de Sade auf Bonapartes Befehl nach Charenton ge^ schleppt und bis an sein Lebensende in die Irrenzelle ge«
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sperrt wurde. Gilles de Rays hatte sich an suetonischer Gräuelmalerei berauscht Der cilibre Marquis gab den Par:^ ästheten des Geschlechtsempfindens die Histoire de Justine ou les malheurs de la vertu und die Histoire de Justine ou les prospMtes du vice, die berühmtesten, berüchtigtsten Teufelsbibeln sexueller Perversion. De Sade, der SchaflFende, war interessanter als De Rays, der Anempfinder. Revolui^ tionär bis ins Mark der Knochen; überzeugtes Mitglied des Pikenklubs, wo er dem Angedenken des unermeßlichen Tribut nen Marat eine Weiherede hielt; Tod den Tyrannen und Haß dem Herrgott seine Losung; seine Weltanschauung sieht ein amoralisches, von bösartigen Molekeln bewegtes Menschen^ maschinenreich; sein Hauptvergnügen war, während der Paarung Frauen die Adern zu öffiien oder stark blutende Fleischwunden beizubringen; war solche Lust nicht zu haben, so begnügte er sich, seine Tischgäste mit Kanthariden zu vergiften. Wo Grausamkeit sich der Wollust gesellte, sprach die französische Literatur schon seit dem Jahr 1810 von Sadismus; und nicht den Namen zwar, doch die Anomalie hat, von indischen Mythologen bis auf Novalis, Görres, Kleist, Blumröder, Feuerbach, Lombroso, mancher Künstler und Gelehrte gekannt Richard von KrafibEbing gab 1886 die erste um£issende Kasuistik und schränkte zugleich den Begriff des Sadismus ein, zu dessen Erklärung er zwei kon# stitutive Elemente anführt: in überreizbaren Wesen entsteht im sexuellen Affekt der Drang, dem Gegenstande der Be^ gierde Schmerz zu bereiten, um so die Macht der Einwirkung
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zu deutlichstem Bewußtsein zu bringen; die Erobererlust des Mannes wird unter pathologischen Bedingungen zum Vcr^ langen nach schrankenloser Unterwerfung und mitleidloser Peinigung des Weibes. Im zweiten Bande von Feuerbachs Sammlung »Merkwiirdiget Kriminalrechtsfalle« steht die grause Geschichte von Andreas Bichel, dem Mädchenschlächs* ter; und der »Königlich Bayerische VC^rkliche Frequentirende Geheime Rath«, der den Bichel nicht gerädert, sondern ent:« hauptet sehen wollte, leitet sie mit den Sätzen ein: »Eine menschliche Seele ohne alles menschliche Gefühl, Verbrechen, die an Grausamkeit, Tücke, Kaltblütigkeit das Höchste er^ reicht haben, was des Menschen Wille zu erreichen vermag: Diese sind der Gegenstand dieses Vortrages. Ich bedarf aller Kräfte der Selbstüberwindung, um bei dem empörten jGefiihl schwer beleidigter Menschheit jene Ruhe zu bewahren, welche die Pflicht des Amtes von mir fordert.« Fast besser Jioch als auf den von Lombroso mitgetheilten Fall des Verzeni, auf den Frauenmörder von Whitechapel und auf Krafffc^ Ebings Knabengeißler passen diese Worte auf Dippold, den Bauemsohn und Priesterzögling, der nach verfrühter, wüster und langer Ausschweifung konträre Sexualempfindung sa^ discher Neigung vereint. Ein Lehrer, der seine Schüler schändet und sie dabei noch, um sein Lustgefühl zu steigern, langsam zu Tode martert: Priapos selbst hat Gräßlicheres am Hellespont niemals erschaut. Penthesilea und Messalina erröthen schamhaft in solchem Anblick; und Katharina von Medici, die das Auge an den gepeitschten Gliedern ihrer
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Hofdamen weidete, steht wie ein harmlos lüsternes Jungfer« chen neben dem Bayern aus Drosendorf, der vornan in die Gräuelreihe der De Rays und De Sade gehört.
Und dennoch . . . Trotz dem Ersten Staatsanwalt am bay« reuther Landgericht will die Frage noch nicht verstummen, ob Dippold allein schuldig ist. »Wer eine wegen Jugend« liehen Alters hilflose Person, die unter seiner Obhut steht, in hilfloser Lage vorsätzlich verläßt, wird mit Gefangniß nicht unter drei Monaten bestraft. Wird die Handlung von leiblichen Eltern gegen ihr Kind begangen, so tritt Ge« fangnifistrafe nicht unter drei Monaten ein. Wenn durch die Handlung der Tod verursacht worden ist, tritt Zuchthaus« strafe nicht unter drei Jahren ein.« Unzählige Mütter hat dieser § 221 schon ins Zuchthaus gebracht; und nicht immer wards mit dem »Vorsatz« gar so genau genommen. Von einem Vorsatz kann in unserem Fall nicht die Rede sein; doch der nächste Paragraph, der nicht nur im fingirten Fall Runge angewandt wurde, bedroht Eltern, deren Fahrlässig« keit den Tod eines Kindes herbeifuhrt, mit der Maximal« strafe von fiinf Jahren Gefangniß; und auch die Eüirlässige Körperverletzung wird besonders streng an Denen geahndet, die »vermöge ihres Amtes« Berufes oder Gewerbes besonders zu der Aufinerksamkeit verpflichtet waren, welche sie aus den Augen setzten«. Die Nichtanspannung der Aufinerksamkeit, sagt Geheimrath von Liszt, erscheint als Willensschuld ; und er fügt hinzu, der Mangel an Voraussicht erscheine auch als Verstandesschuld, wenn die Frage nach dem geistigen Können
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des Thäters bejaht werden müsse. »Fahrlässigkeit ist die pflichtwidrige Nichtkenntniß der verursachenden Bedeutung des Thuns oder Unterlassens; pflichtmdrig ist die Nichts kenntniß, wenn der Thäter sie hätte erlangen sollen und können.« Nach dieser Norm werden Leute eingesperrt, die nicht bedacht hatten, daß in der Tasche des Ueberrockes, den sie in der Theateigarderobe abgaben, eine Schußwa£Fe stecke, die sich entladen und einen Menschen verletzen könne. Sollte und konnte das reiche Ehepaar Koch, nach Allem, was warnend vorausgegangen war, Kenntniß davon erlangen, daß ihrer Kinder Leben unter der unumschränkten, unkontrolirten Herrschaft eines durch Lüderlichkeit aus dem Gleis geworfenen Burschen gefiUirdet sei? Sollte und konnte das kluge Paar Kenntniß vom Vorleben Dippolds erlangen? Einem frömmelnden Rechtskandidaten die ärztliche Behand^ lung zweier Kinder anvertrauen, deren psychische und phy^ sische Gesundheit es zerrüttet wähnte? Sollte, konnte, mußte festgestellt werden, allerspätestens nach der Depesche des Bürgermeisters von Ballenstedt, wie in Ziegenbeig und im nicht minder idyllisch gelegenen Drosendorf das große Wort Hippels gedeutet wurde: »Erziehen heißt: wecken, was schläft, kühlen, was brennt, mit Schnee reiben, was erfroren ist«? . . Unsere Rechtspflege kann in guten Stunden auch mild sein. Wir haben, nur wir, noch Staatsanwälte und Richter, die an die altmodische Mär von den bis zu völliger Erschlaffung überbürdeten Bankdirektoren inniglich glauben und von Hupka und Kaiserhof, von den Logengästen der
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Luxustkeater, von Spielchen und anderer Klublust, von den kleinen und großen Diners nicht mehr gehört haben als der neue Pharao einst von Joseph. Und wir haben kein Fem^ gericht, das solche spottbillige Ausrede mit Friedlosigkeit straft und den Sündern wider die ein&chste, kaum schon als Menschenprivileg zu betrachtende Eltempflicht das Gastrecht auf Wasser und Feuer abspricht Aqua et igne interdictus. Lang ists her. Nicht einmal das sanftere Recht des Bürger«* liehen Gesetzbuches fiir das Deutsche Reich tritt unbamu herzig stets, ohne Ansehen der Person, in Kraft. Da steht im § 1666: »Wird das geistige oder leibliche Wohl des Km* des dadurch gefiihrdet, daß der Vater das Recht der Sorge für die Person des Kindes mißbraucht oder das Kind ven: nachlassigt, so hat das Vormundschaftgericht die zur Ab« wendtmg der GeEdir erforderlichen Maßregeln zu tre£Fen.« Das gilt, nach § 1686, auch für die elterliche Gewalt der Mutter. Wo aber wäre Jojo besser aufgehoben sSs unter der Obhut von Papa, der die Söhne aus erster Ehe zu »erst^ klassigen Menschen« erzogen, und vo^ Mama, die dem Schinder »für seine Aufopferung ein Extrahonorar von fünf» htmdert Mark« geschickt hat? Jetzt wird sich im Hause Thiergartenstraße 7^ für den zufallig überlebenden Knaben ja vielleicht sogar ein Unterrichtszimmer freimachen lassen. Und am Ende entbürdet die Deutsche Bank den allzu ge^ plagten Papa bald beträchtlich . . . Wir sind human. Wohin nun das Auge blickt: Mitleid, Theilnahme, judenchristliche Menschenliebe. Und das Leitmotiv: Furchtbar, daß eine so
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Yomehtne Familie ohne die Spur eigenen Verschuldens so grausam heimgesucht ward. Es ist eine Lust, zu leben.
In einer Mußestunde sollten die Mitleidigen einen Gt^ lehrten fragen, ob der unverehelichten Runge die Muttern gewalt nicht geschmälert worden wäre» wenn ihr Kleines den Brechdurchfall überstanden und die Anklage wegen fahr^ lässiger Körperverletzung dennoch Erfolg gehabt hätte. In^ zwischen wollen wir Ungelehrten uns ausmalen, wie es in Bayreuth gekommen wäre, wenn ein rauherer Gerichtshof Herrn oder Frau Koch oder Beide der Fahrlässigkeit drin«' gend verdächtig gefunden und (wegen Ge£üir der Kollusion mit Jojo und anderen kommerzienräthlicher Macht unter«: stellten Zeugen) in Untersuchunghaft genommen hätte. Dann wurden sie nicht beeidet, warenalsoauchnicht »durchaus glaube würdig«, hätten gegen allerlei beschworenen Dienstboten^ klatsch zu kämpfen und vielleicht manches unzärtliche Wort herunterzuschlucken gehabt. Und der Vertreter der Anklage hätte dann im Schlußvortrag von der gewaltigen sozialen Lehre dieses Prozesses gesprochen, der in blutrothen Schrift^ zeichen die alte Wahrheit erneue, daß sorgende Elternliebe allein reichen wie armen Kindern sichere Häuser baut.
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DAS BLUMENMEDIUM.
Hoher Gerichtshof (so spricht vor der Ersten Strafkammer des Landgerichtes Berlin II ein Anwalt des Rechtes): fem ist mir die Absicht, das Ergebniß der langwierigen Beweis:^ aufnähme umständlich zu kritisiren, fem sogar der Wunsch, mit Worten das Gewicht einzelner Zeugenaussagen zu min^ dem, durch das Gegengewicht meiner Rede die Wagschalen auf annähernd gleiche Höhe zu bringen und so zu bewirken, daß Ihnen ein den Schuldspruch hemmender Zweifel bleibe. Auch will ich Sie nicht ins dunkle Gebiet supranaturaler Bedürfnisse und supranormaler Fähigkeiten fuhren, nicht fragen, welchen Werth der preußische Staatsbürger dem Spiritismus, der Theosophie, allen wechselnden Formen okkult tistischen Dranges beizumessen habe. Die Frage schon wäre Vermessenheit; und den Versuch, ihr in foro die Antwort zu finden, überlasse ich gern dem Höhenwahn der Juristen, die sich als Allverwalter ftihlen. Nein: Anna Auguste Rothe, die Frau eines Kesselschmiedes, die hier vor Ihnen kauert, hat keinerlei mediale Gaben. Mit ihrer Zunge sprachen nie Luther, Zwingli, Flemming, die Kaiser Wilhelm und Friedrich. Keines Verstorbenen Geist hat sich je in ihr offen«»
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hart. Die Blumen» Früchte, Zweige, Christusbilder und an* deren Gegenstände, die Geister ihr apportirt haben sollten, holte sie aus dem Unterrock. Daran ist nicht zu zweifeln: denn beeidete Aussagen haben festgestellt, daß die Ange^ klagte die in den Sitzungen verwendeten Blumen selbst ein^ gekauft hat. Eben so wenig dürfen wir daran zweifeln, daß ihr Manager, der frühere Cognachändler und Reporter Max Jentsch (der das bessere Theil erwählte und dem nicht immer langen Arm der Gerechtigkeit entlieQ die Sache ak einträgt liches Geschäft betrieb. Er fand eine hysterische Frau von leicht geschmälertem Bewußtsein, eine kränklich aussehende Frau, deren große, glühende Augen auf schwache Sinne wir^ ken; und diese Frau war in der Welt der Okkultisten schon berühmt. Aus ihrem Mund sprechen, mit ihrer Hand schrei« ben erlauchte Geister; aus dem Schattenreich ruft sie Ge« stalten, in denen die Zuschauer theure Tote erkennen; auf ihr Haupt regnen Blüthen herab und ihr hagerer Finger greift Früchte, Blumen, Zweige aus leerer Luft. Das ist viel, ist mehr, als die berühmtesten Medien vermochten; Eusepia Fabdino selbst scheint übertro£Fen. Die Nachfrage steigt: überall wünscht man, die Geheimkunst der neuen Seherin kennen zu lernen. Max Jentsch aus Zittau und Anna Rothe, geborene Zahl, aus Altenburg verbünden sich. Von den Spirituosen zum Spiritismus ist, so mögen Witzbolde denken, nur ein Schritt. Jentsch treibt das Handwerk ins Große und wird der Ausbeuter der Frau, die hier eine Ausbeuterin menschlicher Dummheit genannt worden ist. Reichthümer
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erwirbt sie nicht; aber ich will annehmen, daß sie sammt ihrem Ehemann ein bequemes Auskommen hatte. Kann man dem Ankläger mehr konzediren? Ich könnte mich auf die Gutachten der Sachverständigen stützen und das Moment der verminderten Zurechnungfahigkeit, da unser Gesetz es leider nicht kennt, wenigstens für das Strafinaß, vielleicht auch fiir die Strafart geltend machen. Auch diesen letzten Nothausgang bedrängter Vertheidiger wähle ich nicht. Vom Boden der Anklage aus, auf den ich mich furchtlos stelle, fordere ich die Freisprechung der Angeklagten Anna Rothe; fordere sie im Namen des Rechtes und reinster Vernunft.
Ein Jahr lang und länger schon spricht man von dieser Sache. Seit dem Beginn der Hauptverhandlung hört man in vielen Gegenden unserer Intelligenzstadt überhaupt kaum noch von Anderem reden. In ganzen Stößen werden die Prozeßberichte verkauft. Nie, heißt es, habe sich ein »sensationellerer« Prozeß m den rodien Mauern von Altmoabit abgespielt. Ich muß pnlshen, daß mir für die verheißene Sensation jedes Emp^ finden fehlt; daß ich nicht einmal zu erkennen vermag, wo sie eigentlich zu suchen sei. Sind die Thatsachen, die uns hier voris gefuhrt wurden, etwa neu, sind sie nicht vielmehr so typisch, so oft gesehen, daß der Kriminalist Mühe hat, ihnen noch gesammelte Aufmerksamkeit zuzuwenden? Mußten wir lange Lenztage hier verbringen, um zu erfahren, was wir erfuhren ? Daß es Schlauköpfe giebt, die neben der graden Heerstraße ihre Ge« schäftchen machen? Daß übersinnlicher Drang manchmal in
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harte Tkaler gemünzt wird? Selbst das »Kulturbild«, von dem Reportereifer so viel zu schwatzen weiß, dünkt mich nicht neu, verweilender Betrachtung nicht werth. Ja: unter uns leben Leute, denen die ratio, denen das vom Verstand Meß^ bare längst nicht mehr genügt und die jeden Spukglauben dem Positivismus vorziehen. In der Eisregion reinen Den^ kens er&öre ihr schlecht genährter Geist; im Fuselrausch ent» schlummert er wohlig. Das hätten wir gestern noch nicht gewußt? Typisch sind die Vorgänge, ohne die Spur indivi^ dueller Di£Ferenzirung die Gestalten des Mediums, des Mana^ gers und ihrer Kundengemeinde; und typisch ist auch die Entschleierung des Schwindels. Das hysterische Weib wird von den lauten Erfolgen den Geboten der Vorsicht cnU fremdet und die Kriminalkommissare, die sich in die Sitztm^ gen einschlichen, können den Blumenspuk leicht entlarven. So ungefiihr war es immer; wirds immer sein. Neu ist nur Eins: der Versuch, die gelungene Spekulation auf die Er^ tragsfahigkeit blinden Glaubens als Betrug zu strafen. Neu und doch nicht in diesem Frühling erst ersonnen. Auch im Ja^ nuar gabs eine »Sensation«; eine wirkliche sogar. Da saß in diesem Haus ein Kurpfuscher auf der Anklagebank. Wenn mir die Aufgabe zuge£fdlen wäre, ihn zu vertheidigen, dann hätte ich meine ganze Kraft daftir eingesetzt, daß dieser Nardenkötter nur verurtheilt werde, weil er »ohne polizei« liehe Erlaubniß Gifte oder Arzeneien, so weit der Handel mit ihnen nicht freigegeben ist, zubereitet, feilgehalten, ver« kauft« hatte. Paragraph 367 ^ Geldstrafe bis zu einhunderts>
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fiin&ig Mark oder Haft Der Mann wurde des unlauteren Wettbewerbes und des Betruges schuldig gesprochen und aufJahre insGefangniß gewiesen. Er habe mehrversprochen, als er leisten konnte. Das thut ein Wahlkandidat» ein Zeitung« Verleger, ein approbirter Arzt oder Bazarinhaber sicher nie; und nie hat einer meiner Kollegen einem Angeklagten gesagt: Wenn Sie mir Ihre Sache übertragen und den nöthigen Vor« Schuß geben, ist Ihre Freisprechung so gewiß wie das Amen in der Kirche. Nardenkötter sollte betrogen haben, weil er ohne ärztliche Kenntniß, meist, ohne die Kranken auch nur zu sehen, Rezepte verschrieb; und er konnte doch nach« weisen, daß der Prozentsatz der von ihm erzielten Heilungen mindestens eben so groß war wie bei Durchschnittsdoktoren, konnte sich darauf berufen, daß er, wie ein richtiger Doktor . . . Der Herr Vorsitzende will mich unterbrechen. Und ich brauche über den Fall Nardenkötter auch nicht mehr zu sagen; ich erwähnte ihn nur, um zu zeigen, wohin die Reise gehen soll. Damals forderten Aerzte (nicht alle; so gering schätze ich den Stand nicht), jetzt fordern Vertreter okkulter Wissenschaft die strengste Strafe. In beiden Fällen regt sich die gekränkte Konkurrenz in heller Wuth. In beiden Fällen soll der Strafrichter leisten, was die Männer der VC^ssenschaft, die doch ein Monopol fiir sich heischen, nicht zu leisten ver« mochten: er soll des Aberglaubens altes Bett wegscha£Fen. Das aber kann niemals die Aufgabe des Strafrechtes sein; und würde ihm diese Aufgabe gestellt, es müßte, noch bei grau« samster Härte, ohnmächtig versagen. Wer die Anklageschrift
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liest, mag sich nach Utopia träumen oder ins Zukunftland der Kommunisten, die sonst als Umsturzertrachter am Pranger stehen. Seit wann verbietet unsere Rechtsordnung die Aus# nützung der Leichtgläubigkeit? Das Ziel der anerkannten sozialen Ordnung ist, Rechtsgüter zu schützen. Rechtsgüter, sagt Liszt, sind Lebensinteressen, Interessen des Einzelnen oder der Gemeinschaft. Ist Blindheit, Dummheit (nennen Sies, wie Sie wollen) ein Rechtsgut, ein Lebensinteresse des Einzelnen oder der Gemeinschaft? Wer einen Blinden zu Fall bringt, beschädigt, im Gebrauch der Glieder, in seiner Erwerbsfiihigkeit verkürzt, tastet ein Rechtsgut an. Welches Rechtsgut aber ist verletzt, wenn der Blinde in den Glauben überredet wird, er habe sein Augenlicht wiedererlangt? Wenn eine Witwe, eine Waise aufathmend in die Zwangsvorstellung kriecht, sie stehe mit ihrem Mann, mit dem Vater, der Mutter in engem Rapport, höre die lange entbehrten Stimmen, emp^ fange aus lieber Hand duftenden Gruß? Vielleicht fand des Priesters Wort taube Ohren. Vielleicht war der Glaube ans Himmelreich früh entwurzelt, die Hoffnung auf ein VC^eder« sehen am Thron des Herrn schon in der Kinderstube ver^s blüht. Glaube ist persönlichster Besitz; und der Wahn, der uns thöricht dünkt, kann dem Nächsten ein starker Trost sein; der einzige, der ihn auf schwankem Grunde hält.
Gelehrten Richtern brauche ich, so lange nach Charcot, nicht noch von der Bedeutung der Suggestion und Auto« Suggestion zu sprechen; und ich bin entschlossen, Alles zu
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meidtn, was meine Rede mit dem Bleigewicht Wissenschaft^ licher und scheinwissenschaftlicher Argumente befrachten, dem Ruf nach Gerechtigkeit die Resonanz hemmen könnte. Nur warnen will ich, vor dem ersten, dem entscheidenden Schritt auf einem Wege warnen, dessen Ende Sie, gerade Sie mit Entsetzen sähen. Hinter dem Richter, der im Namen Gottes, im Namen des Königs Recht spricht, stehen Andere, denen der Glaube an Gott und König Wahn ist, eitler, längst veralteter Wahn, der nur in lichtlosen Hirnzellen noch nistet. Die horchen auf Ihren Spruch. Weiß der Prediger, daß es ein Auferstehen im Jenseits giebt, weiß nicht mancher Talar^ träger, daß seine Verheißung sich nie erftillen kann? Und wenn die Gottlosen mit derber Faust nun einen Prediger packten, ihm bewiesen, aus Reden, aus Briefen meinetwegen, daß er die Seligkeit, die seine Lippe preist, nicht glaubt, daß er die Oblate, die er als den Leib des Heilands dem Gläubigen reicht, beim Bäcker bestellt und gekauft hat, in Massen, ums billiger zu haben: ist der »Entlarvte« dann ein Betrüger? Denken Sie an den grolkn Glaubenskomplex unserer katholischen Mitbürger, an die Wunderkraft der Gnadenbilder, Reliquien, Heiligen Röcke, an Alles, was der akatholische Sinn Aberwitz schilt. Ist hier Betrug? Man könnte einwenden, in diesen Fällen fehle der »rechtswidrige Vermögensvortheil«, den das Gesetz als Thatbestandsmerk^ mal verlangt. Fehlt er aber wirklich? Ohne die alte Glau« bensschatzkammer keine Kirche; ohne Kirche keine Pfiilnde. Der Vermögensvortheil, den die Vorspiegelung falscher
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Thatsachen gewährt, ließe sich in jedem der angedeuteten Fälle leicht nachweisen. Nur eben: rechtswidrig wäre er nicht; denn mit unserer Gesellschaftordnung wurde das Recht geboren» das transszendente Sehnen menschlicher Schwache heit zu stillen, dem überlebenden Glauben an supranaturale Kräfte Nahrung zu bieten, — auch gegen Entgelt.
Von diesem Recht hat die Angeklagte auf ihre Weise Ge^^ brauch gemacht. Ob sie im Trance^Zustand selbst glaubte, was ihr Mund sprach, ob sie immer bewußt log: ich frage nicht danach, frage hier auch den Minister nicht, ob er stets Wahrheit kiindet, nicht den Heerführer, ob er in vollem Bewußtsein nicht oft mit fdschen Thatsachen Vorstellungen erregt, die ihm selbst oder der von ihm vertretenen Sache nützlich werden können. Frau Anna Rothe hat kein Rechts^ gut verletzt, das Vermögen keines Anderen beschädigt. Was sie gab, war die zwei oder drei Mark reichlich werth, für die der Einlaß ins Sitzungzimmer zu kaufen war; wie viele Illusionen haben wir Alle schon wesentlich theurer bezahlt! Was ists denn, das wir in Domen, in Wahlversammlungen und Schauspielhäusern suchen? Die Wenigsten glauben dem P£urrer au£s Wort, lauschen der tönenden Kandidatenrede wie Heil bringender Botschaft, halten die geschminkte Dame da oben für Maria Stuart. Und doch weht von der Kanzel, von der Tribüne und Bühne tröstend ein frommer Schauder herab und dennoch schluchzt im Saal die Menge gebildeter Bürget, wenn Maria au£5 Schaffot gefuhrt wird. Die schwache Möglichkeit holder oder kräftig aufrüttelnder Illusion wiegt
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unsere Bedrängniß gern mit Gold auf; diese Möglichkeit ist ihr so theuer» daß der höchste Preis nicht zu hoch schien: wir schufen, wir stützen mit aller Kraft den Glauben an ein Recht» das uns mehr sein solle als der Ausdruck willkürlich herrschender Gewalt. Und genau die selbe Möglichkeit suchte und fand die Gemeinde bei Frau Anna Rothe. Vor Ihnen sitzt eine Frau» die ihre Kunden »reell« mit Illusionen bedient hat; keine Betrügerin: eine Gestalt, wie sie im trüben Zwiehcht unserer Heuchelkultur in hundertfacher Differenz zirung zu finden sind. Am hellen Tag erst schwindet der letzte Spuk. Noch nicht . . . Ich bitte um Ihren Spruch.
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GRÄFIN KWILECKA.
Vor dem Großen Schwurgerichtssaal sitzt, dicht neben der Eingangsthür, auf dem Holzstuhl des Gerichtsdieners ein fast sieben Jahre alter Knabe. Ganz in Weiß gekleidet. Der weiße Klerikerhut hangt auf dem Rücken; der Blondkopf ist sorgsam frisirt, der Vorderschopf zierlich gekräuselt Ein hübscher Junge, der auf der Straße jedem Vorüber^ gehenden auffallen würde. Stämmig und doch fein; schwarze Augen» sehr lange Wimpern und die milchfarbige Haut eines von der ersten Lebensstunde an zärtlich gehegten, gepflegten Kindes. Ein paar Damen bewachen ihn, nehmen ihn auf den Schoß, streicheln ihn; und hinter den Hüterinnen drängt sich die Menge. Geputzte Polinnen, auf Sensationen birschende Schreiber, Rechtsanwälte in der Robe, im Land^ gericht heimische Kriminalstudentinnen, Freiherren, Kut^ scher, Taglöhnerfrauen: Jeder will. Jede den Kleinen sehen; recht lange, recht nah. Den Hüterinnen scheint der Drang nicht unbequem, scheint die Möglichkeit, ihr weißes Schätze chen zur Schau zu stellen, sogar willkotomen. Sie haben sich schnell akklimatisirt und fragen von selbst schon den Be^ trachter, aus dessen Miene besonderes Interesse spricht, von
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welcher Zeitung er sei; sie zeigen Zuversicht und sind zu Auskünften immer bereit. Auch dem Knaben macht, seit er sich entschüchtert hat, das Gedräng offenbar Spaß. Die Kindereiteikeit ist erwacht; zu nett, von so vielen Leuten bewundert zu werden. Aus lustigen Augen blickt er in das bunte, endlos wechselnde Bilderbuch. Das Naschen merkt nicht, wie schlecht die Luft ist; noch schlechter als sonst. Theure und billige Parfüms, verschwitzte Kleider, Tabak, Ali» kohol, Säuglinggerüche (denn manche Zeugin trägt ihr in verdächtige Decken gewickeltes Kind mit sich herum), die Ausdünstung armer Leute, Kossäten, Wildwärter, Stallmägde, ■Knechte, die sich den Luxus der Sauberkeit nicht leisten können: der Gerichtsdiener sogar, ein rothblonder Riese, klagt über Kop&chmerz. Die Neugier drängt weiter. Noch ein zweiter Knabe ist sehenswerth. In einem Zeugenzimmer sitzt er neben einer einfachen Frau. Seit gestern ist er genau wie der andere gekleidet und frisirt. Er steht im neunten Lebensjahr, ist aber viel kleiner als der Siebenjährige. Die Urtheile schwanken. Bis einem Schlauen der Einfall kam, auch den Kleineren zu kräuseln und in Elfenbeinfarbe zu kleiden, gabs wenig Zweifel. »Keine Spur von Aehnlichkeit. Der Kleine ein stumpfsinniges, unschönes Proletarieriund, der größere ein echter Adelssproß mit allen Merkmalen alter Familienkultur.« Jetzt regen sich Bedenken. »Beide haben schwarze Augen und lange Wimpern, beide die selbe Apfelkopfform und das selbe Kinn, das vorgebogen scheint; auch die Haarfarbe ist beinahe gleich. Der ganze Untere
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schied besteht darin, daß der eine gut, der andere schlecht gehalten ist.« »Unsinn! Die Beiden können gar nicht den selben Vater und die selbe Mutter haben. Warum wäre der ältere dann im Wachsthum so zurückgeblieben? Ueberhaupt macht die bessere oder schlechtere Pflege bei Kindern nicht so viel aus. Seht Euch die Kadetten und die Militärwaisen^ hausschiiler anl Nein: der Junge im Zeugenzimmer bliebe auch im Brokatgewande der Sohn einer Magd, die selig sein mußte, als ein Weichensteller sie zur Ehe nahm; und den feinen Knaben, der im Korridor mit angeborener Würde Cercle hält, müßte auch im Bahnwärterhaus das kundige Auge als Kind eines Grafen erkennen.« Solches Gerede be^ weist nichts. Mit Klassenphysiognomik käme man, selbst wenn sie mehr wäre als Spielerei, hier schon deshalb nicht aus, weil auch der Neunjährige von einem adeligen Offizier gezeugt ist, die Spermatozoen, die ihn entstehen ließen, also nicht aus dem niederen Menschenreich stammen. Trotzdem sieht der rachitische Junge wie ein aufgeputztes Elendskind aus. Er hat auch weniger Zulauf und guckt trüber als das weiße Herrchen im Korridor. Das lacht, giebt Bekannten gnädig eine Patschhand und räkelt sich kokett auf dem Holzstuhl. Hinter der Tür wird inzwischen die Frage ver^ handelt, ob seine Ehern ins Zuchthaus kommen sollen.
Zweiter Theil, zwölfter Abschnitt des Reichsstra%esetz^ buches: »Verbrechen und Vergehen in Beziehung auf den Personenstand.« Paragraph 169: »Wer ein Kind unterschiebt oder vorsätzlich verwechselt oder wer auf andere Weise den
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Personenstand eines Anderen vorsätzlich verändert oder unterdrückt» wird mit Gefangniß bis zu drei Jahren und, wenn die Handlung in gewinnsüchtiger Absicht begangen wurde, mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft.« Graf Zbigniew Wesierski^Kwilecki und seine Ehefrau Isabella, ge« borene Gräfin Bninska, sollen ein fremdes Kind fiir ihr eigenes ausgegeben haben. Den weilten Knaben, der auf dem Holzstuhl im Korridor Cercle hält. Den habe ein armes Polenmädchen ihrem Liebsten, einem österreichischen Hauptmann, geboren. Dem Sexualverkehr dieses Paares ent^ stammen zwei Knaben; der eine, der im Zeugenzimmer sitzt, ist nah bei der Mutter aufgewachsen, der andere bald nach seiner Geburt, in der letzten Januarwoche des Jahres 1897, an eine vornehme Dame verkauft worden. Am zwei«: undzwanzigsten Dezember 1896 hatte ihn Fräulein Parcza ins Weltlicht gebracht; sie heirathete später den Weichensteller Meyer, der das ältere der beiden vor der Ehe von seiner Caecihe geborenen Kinder adoptirte und sich bereit erklärte, auch das jüngere zu sich zu nehmen. Wohl nicht ganz frei^ willig. Ein Bahnwärter, der sich danach sehnt, vom ersten Tag der Ehe an sein Budget mit den Unterhaltskosten für zwei (von dem Ersten gezeugte) Kinder zu belasten, wäre keine Alltagserscheinung; und selbst der edelste Sinn brauchte den kleinen Bastard nicht aus dem warmen Schloß in die Weichenstellerhütte zu holen. Doch die Recherchen in Sachen wider Kwilecki und Genossen hatten begonnen und ein gutes Stück Geld mochte dem Paar sicher scheinen,
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dessen Zeugniß den kleinen Grafen aus dem Majoratsrecht der Herrschaft Wroblewo drängen würde. Wroblewo ist ein vom Grafen Joseph Kwilecki als Familienfideikommiß unver^ äußerlich fes^elegtes Rittergut in der wronker Gegend, das nach den Grundsätzen der Majoratsordnung vererbt wird; zur Erbfolge berechtigt sind, wenn ein direkter männlicher Erbe fehlt, die Agnaten des ersten Besitzers, von der Erb^ folge ausgeschlossen uneheliche und Adoptivsöhne. Der Stifter des Fideikommisses setzte den Sohn seiner Tochter, Zbigniew von Wesierski, zum Erben ein und bestimmte, der erste Majoratsherr solle sich Wesierski^Kwilecki nennen, jeder folgende nur Namen und Titel der Grafen Kwilecki tragen. Leise murrten wohl die Agnaten schon damals; denn das Haupt des Hauses war nun ja kein echter Kwilecki, hatte einen Vater aus einfachem Adel und konnte ihnen die Rasse verderben. Allmählich aber fanden sie Trost. Der Knabe, den Gräfin Isa ihrem Zbigniew gebar, starb früh, und als, nach standesgemäßen Pausen, ihrem Schoß drei Töchter entbunden waren, schien, an der Schwelle des Jahres 1890, neue Nachkommenschaft nicht mehr zu hofien, zu fürchten. Zwar dachte der Graf noch als Fünfziger nicht an Resignation. Er strebte dem großen Muster weiland Augusts des Starken nach, bUckte stolz auf anderthalb Dutzend illegitimer Sprossen und krähte, wie ein von brünstigen Hofdamen umschmeichelter Hahn, wenn in Monte Carlo die theuren Seidenmädchen von ihm sagten: »Un gaillard infati^ gable; un male; fait pour la reine Isabelle . . .« Doch die ihm
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angetraute Isabella war nicht das Ziel seiner erotischen Wünsche: mit der schönen Ungenirtheit der Slachta pflegte er zu erzählen, die dralle Wade einer Kuhmagd reize ihn mehr als die hüllenlose Wohlgestalt der hochgeborenen G^U tin. Jeder Schürze schnüffelte er nach, auf den heimischen Gefilden und unter dem wärmeren Himmel der Azurküste, fand, außer den vom Gesetz privilegirten, alle Genüsse schmackhaft und seinem Vermögen erreichbar und (iihlte sich wider Recht und Sitte gekränkt, wenn die Ehegefahrtin vor Gästen und Dienerschaft ihn ein Schwein, einen Bumm^ 1er und Lumpensack hieß. Vielleicht folgte so unsanften Re« den manchmal ein Schäferstündchen, das der Graf nicht ein^ gestand, weils ihn interessanter dünkte, von Freunden und Buhlen sich als starren Weigerer der Geschlechtspflicht an^ staunen zu lassen. Sicher ist, daß die Ehe für zerrüttet galt; und als Isas fünfzigster Geburtstag nahte, durften die Agna^ ten aufathmen. Bald würde über Wroblewo nun wieder ein echter Kwilecki herrschen: Graf Hektor, Miecislaws Sohn, der bei den Zweiten Garde ^Ulanen Lieutenant gewesen. Reichstagsabgeordneter und Geheimkämmerer des Papstes geworden war. Eine hübsche Aussicht. Das Gut ist zwar arg verwahrlost, bringt aber noch einen Jahresertrag von siebenzigtausend Mark und wird sich unter einem guten Haushalter, der Kapital hineinstecken kano, schnell heben. Für die persönlichen Schulden des Vorbesitzers haftet die Familie als AUodialerbin. Stirbt Zbigniew Wesierski, dann muß Isa mit ihren Töchtern den Hof verlassen und Hektor,
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der Besitzer des Gutes Kwilcz, wird Herr von Wroblewo. Allzu zärtlich scheinen die Beziehungen der beiden Häuser nie ge« wesen zu sein; nun mußte der Gedanke an den Besitzwech^ sei sie noch mehr verbittern. Der Majoratsherr konnte firei^ lieh noch zehn, zwanzig Jahre leben; erstens aber liebt wohl selten Einer den fremden Erben, der die Hausbrut vom Futtemapf drängen will, und zweitens stockt der Kredit, wenn die Leute wissen, daß der nächste Tag den Darlehns^ Sucher aus der Rechtswohnung werfen kann. Und auf Wroblewo brauchte man immer Geld. Der GetichtsvolU zieher kam so oft, daß Herrschaft und Gesinde ihn traulich ab Onkel begriißten, und Inspektoren sogar, Rendanten, Wanderkrämer wurden von dem Grafenpaar um kleine Beträge angepumpt. Alter Brauch. Chacun k son goüt.
Da kommt, im Lenz 1896, vom Genfer See die Kunde, Frau Isa sei in a funily way. In Posen, in Wronke, in Kwilcz und Wroblewo erregt die Botschaft zunächst nur Heiterkeit. »Die? Seit 1879 hat sie nicht geboren. Der Graf riihrt sie längst nicht mehr an. Woher also? Und vor drei Monaten ist sie Fünfzig geworden.« Ein guter Witz. Am Ende, meint Herr Stephan Kwielecki, hat sie das Kind in der Ohrmuschel; jedenfdls nicht da, wo andere Men^ schenweiber die Frucht tragen. Doch Isa kehrt heim und bestätigt, von Wonne strahlend, das holde Wunder. In Montreux ists geschehen; die Sonne lockte frische Triebe hervor, ich sehnte mich nach einem Sohn, der Graf war char^ mant, — und unsere Betten standen im Hotelzimmer dicht
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neben einander. Nach und nach wuchs ihres Schoßes Um^ fang; und im Kreis der Agnaten verstummte das Lachen. Die Gräfin war stets excentrisch gewesen; die Rolle der vernachlässigten» von Mägden und Cocotten aus der Ge# schlechtsgunst vertriebenen Frau konnte der herrisch Stolzen nicht behagen und ihre ungezügelte Phantasie scheute vor dem abenteuerlichsten Unterfangen gewiß nicht zurück. Sie wird, hieß es, den alten Schwachkopf zu einem Schwindel überredet haben und wir können erleben, daß sie uns irgend^ einen aufgelesenen Bankert ins Majorat schmuggelt. Ver^ wandte, Dienstboten, Detektives, Beobachter aller Sorten werden nach Wroblewo geschickt. Nichts zu erspähen. Isa? Sie sieht aus wie alle schwangeren Frauen. Wahrschein^ lieh stopft sie sich ein Kissen unter den Rock; in Paris, hat Einer gehört, werden nach Maß Gummibäuche gemacht, die solchen Trug erleichtem. Eine Depesche schürt den Ver^ dacht; sie ist in Paris aufgegeben, ins posener Slachtahotel an Zbigniew oder Isabella adressirt und wird (ists Zufall?) dem Grafen Miecislaw überreicht. Inhalt: »Femme trouvie, mais demande trop chire.« Da hätten wir also die Schmug^ gelfahrte. Isa sitzt in Paris, sucht ein für die Unterschiebung brauchbares Kind und telegraphirt an den Gatten, die Ver^ käuferin sei gefunden, fordere aber zu hohen Preis. Re^ cherchen in Paris. Die Hotellisten haben keine Gräfin Kwi^ lecka gemeldet. Doppelt verdächtig; sie hat, um hinter sich keine Spur zu lassen, ihren Namen verschwiegen. Und leugnet, mit munterem Lächeln, daß sie jetzt überhaupt an
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der Seine gewesen sei. Früher war sie dort, — ja; um eine gute Hebanune zu suchen; darauf beziehe sich auch das Telegramm, das für sie bestimmt war und ihr anzeigen sollte, die empfohlene sage#femme verlange zu viel Geld. Die Er^ klärung wird höflich angehört, doch nicht geglaubt; Heb^ ammen braucht man ja nicht aus Frankreich zu holen. Als dann gar erzählt wird, die Gräfin wolle nach Italien gehen und erst zurückkehren, wenn sie aus dem Wochenbett ent# lassen sei, schreibt Herr Miedslaw einen feierlichen Wam^ brief an Herrn Zbigniew. Der Verdacht, die Schwangere Schaft sei simulirt, könne dem Herrn Vetter nicht unbekannt geblieben sein; die Absicht, das erhoffte Kind der Frau Base im Ausland zu entbinden, müsse den Verdacht zur Ge^ wißheit wandeln, denn solche Absicht könne nur aus dem Wunsch stammen, die Geburt der Kontrole zu entziehen. Isabella lacht. Die zärtlichen Verwandten mögen um das Erbe zittern, sie aber, eine Bninska, mit Vorschriften gefall ligst verschonen. Sie lacht auch des Sippengetuschels: eigent^ lieh müsse ihr Wochenbett auf dem posener V^helmsplatz stehen; sonst könne man Keinem zumuthen, das Kind als legitim anzuerkennen. Sich untersuchen, die Mutterschaft be^ scheinigen lassen? Das fehlte noch. Ihr durfte kein Doktor je an den Leib; und sie sollte jetzt eine Ausnahme machen, um den Neid zu entwaflEnen? Der freut sie ja. Den möchte sie um keinen Preis missen. Vielleicht war der Plan der ita# lienischen Reise in den Klatschbezirken ausgeheckt worden; vielleicht rieth Klugheit, ihn aufzugeben, nachdem sein Zweck,
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die Agnaten zu ärgern, erreicht war. Eines Tages sagte die Gräfin zu ihrem Hausarzt, Herrn Dr. Rosinski: »Ich reise zur Entbindung nach Berlin und rechne darauf, daß Sie kommen, wenn ich Ihre Hilfe brauche und Sie rufe.«
Berlin W. 10, Kaiserin Augusta^Straße 74. Da, wird dem zuständigen Standesamt gemeldet, habe die Gräfin Wesierska# Kwilecka am siebenundzwanzigsten Januar 1897 morgens um Fünf einen Knaben geboren. Leichte Entbindung. Die Hebamme sollte eine Polin sein und doch nicht zur Einfluß^ Sphäre der Miecislaw und Hektor gehören. Eine in Rußland begüterte Freundin Isas hatte sich, weil die Entbinderin ihrer Tochter verhindert war, nach Warschau gewandt und, durch Vermittlung einer Hotelwirthin, Frau Cwell gemiethet, deren Charakterbild, von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, in der Prozeßgeschichte schwankt. Am Vorabend, als die Schmerzen begannen, war Dr. Rosinski telegraphisch gebeten worden, nach Berlin zu kommen; nach der Geburt wurde die Bitte dringend wiederholt. Die erste Depesche muß in Wronke über Nacht liegen geblieben sein; beide erreichten den Arzt erst, als er von den Morgenbesuchen heimkam. Um Mittemacht war er in Berlin. Die Gräfin sah aus wie alle Wöchnerinnen. Temperatur und Puls normal. Noch immer der alte Widerwille gegen ärztliche Untersuchung. Wozu? Alles war ja glatt gegangen und eine Komplikation einstweilen nicht zu furchten. Die Hebamme mißfiel dem Doktor; schmutzige Nägel und Cigarettengeruch im Säug^ lingzimmer. Das Kind selbst kräftig und auffallend hübsch.
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Nackt sah es der Arzt nicht. Es sei eben erst frisch gewik"* kelt worden. Rosinski fand weiteres Drängen nicht nöthig. Er mahnte die Cwell auch nicht zu größerer Sauberkeit, (ragte nicht nach Urin, Bettwäsche, Nachgeburt. Und war doch, weil er an die Schwangerschaft nie recht geglaubt hatte, mit starkem Mißtrauen gekommen, das Isas Weigerung, sich untersuchen zu lassen, natiirlich noch mehrte. Jetzt schämte er sich fast seines Zweifels. Nicht nur, weil Frau von Moszczewska, Isas Freundin, eine Dame aus vornehmem Haus, ihm sagte, sie selbst habe die Entbindung mitange^« sehen. Auch sonst schien Alles in Ordnung. Der Hausarzt, der die Gräfin seit Jahrzehnten kannte, hielt sie für eifle Wöchnerin, den Knaben, den er im Steckkissen sah, fiir ihr Kind. Nur Kopf und Hände sah er freilich; und im Schwur«» gerichtssaal wurde von Sachverständigen behauptet (und von Juristen in frommem Ernst geglaubt), am Gesicht könne man nicht erkennen, ob ein Kind gestern oder vor fiinf Wochen geboren sei. Mütter, die von dieser Sache auch Etwas ver^ stehen sollten, hoben darob die Augen entsetzt gen Him>« mel. Einem Wärmchen, das man in Muße begucken darf, nicht anmerken, ob es am zweiundzwanzigsten Dezember 18% oder gestern, am siebenundswanzigsten Januar, geboren ward? . . Der Hausarzt schied in froher Zuversicht von sei^ ner Patientin. Vorher hatte er dem Kind noch das Zungen^ bändchen gelöst. Nachher meldete er den unruhigen Agnaten, er habe keinen Zweifel, daß dem Grafen Zbigniew von seiner Ehefrau ein legitimer Erbe geboren worden sei.
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Auch Andere zweifelten nicht mehr. Das Gräflein wuchs heran und wurde der Mutter von Monat zu Monat ähn^ hcher. Ein echtes Bninskl^Gesicht, hieß es in Wroblewo, in Wronke und Posen; und: Die Leute hatten wir in falschem Verdacht. Im Agnateneckchen ergab man sich nicht so schnell. Das Eingeständniß des Irrthums hätte bewiesen» daß man allzu leicht bereit gewesen war, Verwandte um des lieben Geldes willen eines Verbrechens zu zeihen. Und na^ türlich fehlten auch die Tüchtigen nicht, die brav schürten, um an dem Feuer ihr Süppchen zu wärmen. Fideikommiß«! streit, großes Objekt: was parasitisch zu leben gewöhnt ist, drängt zum Mitschmaus, — und, versteht sich, auf die Seite der Potenten, nicht dahin, wo Onkel Gerichtsvollzieher seine \^sitenkärtchen anklebt und irgendein Subalterner aushelfen muß, wenn zwei Bläulinge fehlen. Der Kwilczer ist hoch eingeschätzt und sein Vater Miecislaw, dessen Verhältnisse von Weitem vielleicht mehr als in der Nähe glänzen, hat in Ga^ lizien reiche Kunkelmagen. Gilt auch nicht als vieux mar^^ cheur und Bruder Sausewind, wie Zbigniew. Würdiger; vom Scheitel zur Sohle korrekt. Herrenhausmitglied; sehr statte lieh und feudal ^preußisch soignirt; Altwilhelmsbart und treuer Blick unter hofBihiger Toryfrisur. Wahrscheinlich wurde an diesem ältesten Agnaten von allen Seiten herum^ gekratzt. Familienehre auf dem Spiel; ein falscher Dmitrij im Haus der Kwileckis, die seit fünfhundert Jahren .... Jedenfsdls kam der Peer von Preußen bald wieder in Be# wegung. Er bat Seine Hochgeboren auf Wroblewo um eine
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Unterredung »unter vier Augen«. Rundweg abgelehnt. Zweiter Brief. Miecislaw traue dem Majoratsrummel nicht» wolle aber, wenn Zbigniew ihm das Verbrechen der Kindes^ unterschlebtmg offen gestehe, schweigen, bis Verjährung ein# getreten sei. Das heißt: um des Erbes sicher zu sein, also eigenen Vortheils wegen, den Verbrecher der Bestrafung ent^ ziehen. Ein recht gewagter Vorschlag; wäre er angenommen worden, so hätte der Erbieter sich der Begiinstigung schuld dig gemacht. Allerdings einer straflosen; denn die von einem Angehörigen dem Thäter gewährte Begünstigung ist von der Stra&orm des § 257 StGB ausgenommen. Immerhin sollte ein Mitglied des Herrenhauses solchen Vorschlag nicht ein# mal als Köder verwenden. Wesierskis gingen nicht in die Falle. Um den Schrecken zu enden, klagen sie gegen den Grafen Miecislaw auf Anerkennung ihres Sohnes. Termin in Posen. Isa mit dem Knaben vor Gericht: der Augenschein zeigt die Aehnlichkeit. Frau von Moszczewska beschwört, sie sei während der Entbindung im Wohnzimmer gewesen. Nach dieser Aussage beantragt Miecislaws Anwalt Vertagung und schreibt seinem Mandanten, die Sache scheine ihm, einst^ weilen wenigstens, aussichtlos. Im nächsten Termin ist der Beklagte nicht vertreten noch selbst anwesend. Versäunmi& urtheil zu Gunsten des Klägers. Die Agnaten haben den kleinen Joseph Stanislaus Adolf fortan unweigerlich als Grafen Kwilecki anzuerkennen. Von Rechtes wegen.
Inzwischen sind vier Jahre vergangen. Die gerichtlich zum Anerkenntniß Gezwungenen erzählen Jedem, ders hören will
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daß sie den Knirps in Wrobiewo nach wie vor (ur ein ge^ Icauftcs Kind halten. Wesierskis sitzen so tief in der Kreide, daß sie gezwungen sind, eine Bank zu suchen, die ihnen, gegen das Recht, das Gut zu bewirthschaften, eine halbwegs aus^ kömmliche Rente zahlt. Auch unter ihren Leuten mag in solcher Kalamität Mancher wohl denken, daß es schließlich am Besten wäre, wenn der Kwilczer ins Schloß einzöge. Eine lange Vormundschaft Isabellens, die stets bunte Pläne machen, doch niemals rechnen konnte: Das hätte just noch gefehlt. Die Legende war nie ganz verstummt. Eine Kindesunter^ Schiebung ist auf allen Hintertreppen ein ungemein beliebter Stoff. Jetzt war die Zeit erfüllt: die Mirakel konnten beginn nen. Von der Sorte, die der skeptische Blick nicht für uner^ klärliche Wunder nimmt. Sie kamen, wuchsen im Wandern und häuften sich. Im Civilprozeß hatte die Hebamme Ka# tharina Ossowska beschworen, sie habe die Gräfin in den Anfangen der Schwangerschaft massirt und sich dabei selbst überzeugt, daß ein Kind zu erwarten war; die Frau hatte diese Wahrnehmung auch schriftlich bescheinigt. Bald mel^ dete sich in Kwilcz Irgendwer, der ganz, aber ganz genau wußte, die Ossowska habe in einer schwachen Stunde aus« geschwatzt, Zeugeneid und Attest seien falsch. Dann trat Herr Hechelski auf den Kampfplatz. Kaufmann, Agent, De« tektive; in alle Sättel gerecht. Der wußte mehr; so ziemlich die Hauptsache: woher Isas Spätfrucht geholt, wem der Ba« stard abgekauft sei. Zu Mirakeltagen gehören vor allen Dingen aber Hysterische. Für sie ists Festzeit. Endlich darf ihr Drang,
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sich wichtig zu machen und höchst interessant zu scheinen, sich fessellos bethatigen. Eine wenigstens war im wronker Amtsbezirk schon gefunden. Fräulein JadwigaAndruszewska» Tochter einer Frau» die in Wroblewo Jahre lang Wirtschaft terin und Familienfaktotum gewesen war. Ansehnliche Sym# ptome. Hager, nervös, reizbar; die Rede bald wie ein Gie& bach, bald stockend und scheu, als verblasse das Gedächtni& bild während des Sprechens. Mit spitzen Ellbogen drängt sie sich in den Mittelpunkt des Grafenzwistes. Sacht fing es an. Unglaublich, wie sie in Wroblewo behandelt werde I Zurückgesetzt, eingesperrt, angefahren, geprügelt, an den Ohren gezaust. Warum? Die Gräfin sei doch sonst nicht so schlimm; stolz zwar, doch gut zu den Leuten und gerade der alten Andruszewska bis zum letzten Tag die gnädigste Herrin. Ja, warum I Weil ich eben mehr weiß als Andere. Was denn? Na, von dem Kind. Nach und nach kams heraus. Mutter Andruszewska war im Auftrag der Gräfin, deren Leib keine Frucht trug, in Krakau gewesen, um einen passenden Kna# ben zu kaufen. Hatte ihn auch bei einer Hebamme gefiim den und, sammt Nachgeburt und Nabelschnur, nach Berlin gebracht, wo er ihr von zwei Dienerinnen auf dem Bahnhof abgenommen und in die Kaiserin Augusta^Straße befordert wurde. Die Mutter hats der Tochter anvertraut, sie aber, um nicht wegen geleisteter Beihilfe strafbar zu werden, verpflich«* tet, den Mund zu halten, so lange die Alte lebe. Alles hat Mutter erzählt. Die Gräfin war 1897 nicht schwanger. Kein Gedanke! Sie wickelte sich Tücher um den Leib, hing Schrote
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beutel um den Taillengurt, war auch in Paris, um einen Gummibauch zu kaufen. Und ehe sie zu der Wochenko^ moedie nach Berlin fuhr, ließ sie Schweine schlachten und nahm sechs mit Schweineblut gefüllte Rothweinflaschen mit auf die Reise. Damit Bettzeug und Unterlagen hübsch röth^ lieh seien. Bei Alledem hat Frau Andruszewska emsig miU gewirkt Und Alles der Tochter erzählt; sogar, daß die Nachgeburt in einem Steintopf von Krakau nach Berlin ge^ schafft wurde. Und auf dem Totenbett (das durfte hier nicht fehlen) ermahnte die edle Mutter noch ihre Jadwiga, dem Grafen Hektor Kwilecki auf Kwilcz das furchtbare Geheime niß zu enthüllen. Dann starb sie; und weil die Tochter im Verdacht stand, das Verbrechen zu kennen, wurde sie in Wroblewo natürlich schlecht behandelt und weggeärgert. Natürlich? Noch natürlicher, wird Mancher meinen, wäre der Versuch gewesen, ein Mädchen, das Einen ins Zuchthaus bringen kann, durch Wohlthat an sich zu ketten und um keinen Preis aus den Händen zu lassen. Vielleicht aber dachte Isa, mit der Aussage einer Toten sei nichts Rechtes anzufan^ gen. Einerlei. Die alte Andruszewska muß jedenfalls eine wunderliche Heilige gewesen sein. Sie konnte ein Vermögen einheimsen (denn die Aussage der Lebenden hätte den Streit ja fiir den Kwilczer entschieden): und hauste und starb in Kümmerlichkeit. Nur aus Furcht vor Strafe? Erstens mußten Wesierskis ihr geben, was sie verlangte. Und wenn da nicht viel zu erpressen war: dem Grafen Hektor hätte eine notariell beglaubigte Aussage genügt, die er erst nach dem Tode der
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Alten zu verwenden brauchte. Noch Wunderlicheres. Bis an ihr Ende schilt Frau Andruszewslca Jeden, der Isas MuU terschafi zu bekritteln wagt, einen Narren und schlechten Kerl: und stiftet dann ihre Tochter, deren Zer£direnheit sie doch kennt und mit der sie manchen Tanz hatte, an, das Ge^ heimniß nach Kwilcz zu tragen. Offenbar aus reinstem Rechts^ gefiihl. Jadwiga schreibt Alles auf; was sehr nützlich ist, denn ihr Gedächtniß vermag nicht einmal Erlebnisse festzuhalten, die (man darf es wohl, ohne zu übertreiben, sagen) nicht ganz alltäglich sind. Schwarz auf Weiß kommt die Geschichte in Hechelskis bewährte Hände. Der recherchirt, kombinirt, eruirt: und hat schnell alle Kettenglieder am blanken Schnür» chen. Das Pseudogräflein heißt Leo Parcza; es wiutle von einem österreichischen Hauptmann im Schoß der jetzt dem Bahnwärter Meyer angetrauten Caecilie gezeugt und die wirldiche geheime Mutter hat den Jungen, den sie fünf Wochen nach der Geburt ftir hundert Gulden weggab, nach dem Bilde als ihr Kind rekognoszirt. Die Stimme des Blutes! Auch die krakauer Zwischenhändlerin hat Hechelski ermit» telt. Leider ist sie schon tot. Wie die Cwell und die Andru» szewska. Doch Hechelskis Genie hat Leichenscheu nie gelernt und weiß, daß Tote sehr beredt sein können. Hechelski forscht, verspricht, droht, ist nirgends und überall und läßt sich, ein Ritter der Wahrheit und Legitimität, von Hektor nicht viel mehr als seine Auslagen ersetzen. Andere Helfer melden sich, gewiß vom Beispiel selbstloser Bürgertugend angelockt, und neue Spur taucht aus dem Dunkel. In Paris
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hat eine Dame» die mit ausländischem Accent sprach, »that^ sächlich« 1896 einen Gummibauch bestellt und gekauft. In Paris hat ungefähr um die selbe Zeit eine Dame bei einer Hebamme ein Kind zu kaufen gesucht. Solche Gesuche sind dort nicht selten und dem polizeilichen Aufruf antworteten denn auch prompt etwa zwanzig Entbinderinnen, von denen Säuglinge zur Adoption verlangt worden waren. Doch eine Sucherin hatte un accent allemand (und daß die pariser Un^ schuld Deutsche, Russen, Polen nie an der Sprache erkennt, ist über jeden Zweifel erhaben): warum also solls nicht die Selbe gewesen sein, die sich die Mutterkonturen aus Gummi anmessen ließ? Nach der Hebamme die Waschfrau. Die bezeugt, daß sie vom im Hemde der Gräfin während der angebe liehen Schwangerschaft einen Blutfleck gefunden habe, der nur von der Menstruation kommen konnte. Katamenien; also nicht in derHoffaung. Auch Dienstboten wollen Menstrualblutspuren gesehen haben, Mirakel über Mirakel. Frau Ossowska, die früher selbst schon in Gemüthsruhe eine Kindesunterschie* bung arrangirt hat, erliegt der Gewissensfolter und bekennt, daß sie der Gräfin ein falsches Attest ausgestellt und in Posen, ohne angestiftet zu sein, einen Meineid geleistet habe. Jad# wiga Andruszewslca und Katharina Ossowska: Das ist viel. Mindestens zwei neue Thatsachen, die zur Wiederau&ahme des Ver£ihrens helfen können. Dazu Krakau, Caecilie Meyer, die Stimme des Blutes (auch des in Nachthemden gefunden nen), die pariser Polin mit dem deutschen Accent: über Wroblewo zieht sichs dräuend zusammen. Und schließlich
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meldet sich auch noch ein Droschkenkutscher, der 1903 ganz genau weiß, daß er am sechsundzwanzigsten Januar 1897 zwei Frauen, die er nach der Sprache (iir Polinnen hielt, von der Kaiserin Augusta^Straße nach dem Schlesischen Bahnhof und, nach langer Wartezeit, wieder zurückgefahren hat. Die eine hielt die Arme unterm Mantel und schien Etwas su ver«» bergen. An dem selben Tag also, wo das in Krakau gekaufte Kind nach Berlin gebracht worden war. Nun fehlte kein Glied mehr in der Kette, Frau Andruszewska war mit der Amme, die den Knaben unterwegs säugen mußte, auf dem Schlesischen Bahnhof angekommen und von zwei Dienerin^ nen Isas empfangen worden, denen sie Kind und Steintopf übergab. Den Topf in den dazu mitgebrachten Handkoffer, das Kleine in einem Körbchen unter den Mantel: nach Hausei Endlich also: ein lückenloser Beweis. Graf Miecislaw Kwilecki, Mitglied des Herrenhauses, hatte die Staatsanwaltschaft au& gefordert, in Sachen c/a Wesierski^Kwilecki und Genossen energisch und ohne Ansehen der Person vorzugehen. Das geschah. Hinreichender, bald danach dringender Verdacht. Voruntersuchung mit langem Verhören unzähliger Zeugen. Die Anklage wurde erhoben, das Hauptverfahren eröffiiet. Zuerst war die Gräfin, dann auch Zbigniew verhaftet worden.
Da sitzen sie. Beinahe schon heimisch auf der engen Mar^ terbank der Angeklagten. Seine Hochgeboren nicht gerade überwältigend elegant. Grauer Sakkoanzug und gelbe Schuhe. Für den Schwurgerichtssaal konnte er mehr leisten. Schlote terige Haltung. Die Sprache fast unverständlich. Zahnlücken
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oder schwere Zunge. Aber er föllt seinen Typus aus, wie die Franzosen sagen. In Schönheit verludert. Manchen Sturm erlebt; manche Demüthigung hingenommen. Doch der Ton des Wesens klingt nicht schlecht. Und wenn er nachdenke lieh die grauen Cotelettes streicht, ists, mit dem müden, aber klugen Auge, ein vornehm verwitterter Herr, der sich an vielerlei Kulturen gerieben hat. Wenns auch oft nur Cour^ tisanenkultur war: besser als keine. Die Riviera hat ihre eigene mimicry. Der Herr von Wroblewo sieht gar nicht polnisch aus; könnte, so, wie er ist, durch einen Schwank von Bisson, eine sanfte Satire von Donnay schreiten. Obs wahr sei, wird er gefragt, daß er Verhältnisse gehabt habe. In Gegenwart der Gattin, in einem überfüllten Gerichtssaal, als Angeklagter. Ganz leise hebt er den Kopf. Ganz erstaunt. Man fühlt, wie die Brauen sich hochziehen. »Warum soll ich keine Verhältnisse haben?« Ancien regime. Wird heutzutage natürlich ausgelacht; mit der Nuance tiefister Verachtung. Solche Sittenlosigkeitl Nicht mal der Heucheltribut, den das Laster der Tugend schuldet. Zbigniew aber denkt wohl: Was fallt den Leuten ein? Daß sie mich eingesperrt haben und mich eines Verbrechens anklagen, muß ich dulden. Was aber gehen denn meine Amouren sie an? Bilden sie sich gar ein, ich würde vor ihnen kriechen, Keuschheit oder Reue mimen? . . . Keine Spur von Pose. Nichts von der Sugge^ stion, die in solchem Käfig so leicht den Willen lähmt, die Würde duckt. Meist sitzt er weit über die Brüstung gebeugt, beide Hände als lange Schalltrichter an den halb schon verp
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sagenden Ohren, und lauscht. Lauscht einer höchst merk«^ würdigen, verworrenen, abenteuerlichen, an Boulevardmelo^ dramen erinnernden Geschichte, der man zuhört, weil man nun einmal da ist, die Einen aber nicht näher berührt. Fan belhaft, was solchen Lieferanten des Ambigu heute noch einfallen Icannl Gräfinnen, Hebammen, Schweinemädchen, Blut in Medocflaschen, angeklebte Nabelschnurstückchen. Nicht zu glauben . . . Manchmal ists dann, als zerrisse vor dem inneren Auge ein Wölkchen und der Lauscher besonne sich: Du spielst ja mit, hast die sehr undankbare Haupther^s renrolle und das Stück kann bös enden! Das dauert nie lange. Ancien regime. Wie in Goncourts »Patrie en danger«: I man spielt im Gefangniß Karten, bis man auf den Henkers«»
I karren gerufen wird, macht den letzten Stich, verabschiedet
sich artig von den Standesgenossen und geht unters Fallbeil. »Schade, daß ich nicht länger den Vorzug hatte. Bitte, mich angelegentlich zu empfehlen.« Das Gewimmel da unten kann Einem den Kopf, aber nicht das Gefühl inniger Geringschätn zung nehmen. Auch diese Menschensorte hat Reiz und Ras^ senwerth; und Graf Wesierskii^Kwilecki scheint nicht ihr übelstes Exemplar. Ich glaube nicht, daß er den Richtern so ! leicht was vorweinen würde wie der Fommer Wilhelm von
Hammerstein, den seine Leute doch »starknervig« nannten. Mitwirken mag das Bewußtsein, nicht vor Volksgenossen zu stehen, sondern vor dem firemden Eroberer, dem man, so lange es irgend geht, nur die Fassade zeigt. Dieses Bewußt« sein, dieser Instinkt des Besiegten hat dem ganzen Prozeß
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die besondere Farbe gegeben. . . Seinen größten Moment hat der Graf stets nach Schluß der Verhandlung. Ehe die Au& Seher die Angeklagten abfuhren, steht er auf, bückt den langen Oberleib galant herab, faßt und küßt die Hand seiner Frau. Mit der er beinahe ein Jahr nun kein Wort wechseln durfte. Deren excentrisches, verbrecherisches oder krank« haftes Wesen ihn hierher gebracht hat und mit deren Schimpft* reden er auch hier noch gepeitscht und zum lächerlichen Pantoffelhelden gemacht wird. Und die er trotzdem bewun« dert. Wenige achten drauf: und das Schauspiel lohnt doch. Vor einem Stanislaus könnte, in Warschau, der Abschied nicht graziöser und ceremoniöser sein. Man weiß eben, was sich gehört, und hat vor dem Feind Polens Würde zu wahren. »So sind wir; Respekt, Ihr plumpen Borussenl«
Bequem ist der Handkuß nicht. Denn zwischen Isa und ihrem Eheherm sitzt, auf daß die Hauptbeschuldigten nicht durch Zeichensprache oder gehauchte Silben mit einander verkehren, Frau Katharina Ossowska. Recht behaglich, seine Todfeinde halbe Tage lang neben sich zu haben. Und welche Larve I Halb Fromme Helene in hohen Semestern, halb Wolf» schluchtvision. Ein Gesicht, das dem Schöpfer nicht fertig ge» worden zu sein scheint. Die Nase nur angedeutet. In den Augen» höhlen etwas Glimmerndes, das gleich zu erlöschen droht. Dünne, ausgeblichene CleooHaartressen. Dürr und harteckig. Nichts von den Malen der Weiblichkeit. Niemand würde dem Spukgebilde das zarte Gewissen zutrauen, das freiwillig Kreuz und Zuchthaus auf sich nimmt. Frau Ossowska hats
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Lieber das Aergste leiden, als die Meineidsschuld noch weiter schleppen. Der Schwurgerichtspräsident glaubts ihr und läßt Milde walten, wenn sie einen ihrer Anfalle bekommt. Denn diese Märtyrerin ist nicht von der sanften Art; Satanas ist noch betrübend mächtig in ihr. Sie nennt Zeugen Lügner und Säufer, pfaucht eine fast Achtzigjährige an, die hinter ihr im Sünderwinkel sitzt, und wird dann glimpflich ver^ mahnt. »Vorbeil Vorbeil« Mephisto selbst vrürde in diesem £üilen Gehäuse nicht lange weilen und schickt wohl die Kleinsten von den Seinen. Dann hockt noch die Alte da, mit dem Alleweltgesicht einer freundlichen SchaflEnerin, die Pene^ lopen und Dorotheen gedient haben könnte; und ihre Toch^ ter: stumm, stumpf, eine Slavin und Sklavin ohne eigene Physiognomie. Und ganz vom, dicht neben dem jüngeren Staatsanwalt, dem hübschen, modisch gekleideten Dr. Müller, Gräfin Isa Wesierska^Kwilecka, geborene Bninska.
Hat man draußen vorher den Kleinen gesehen, so ist der erste Trieb, lachend aufzuschreien: Was wollt Ihr denn Alle? Das ist die Mutterl Wer zu amtlichem Gutachten berufen ward, mag zaudern und klausuliren: von seinem Spruch hängt ja das Urtheil in einer Sache ab, die schon Unsummen verschlungen hat und an deren Ende eine Familiengruft dräut. Der Unbefangene wird finden, daß er selten noch einer alten Frau ein Kind so ähnlich sah. Einer alten Frau. Isa ist schneeweiß. Und jetzt auch schon müde. Der zehnte Haft^ monat, die dritte Verhandlungwoche. Sie regt sich kaum noch. Am ersten Tag wars anders. Da hatte sie Charme, Leben,
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die Grazie der Herzoginnen aus Rokokobüchem; auch, wie diese nie Welkenden, nie Abriistenden, den Muth und den Humor, sich selbst ironisch zu nehmen. Trotzdem ihr Deutsch mangelhaft ist, war beinahe jedes Wort gut, das sie sprach; gut, weil menschen verständig und aus einer gewissen Distanz gesprochen. Sinn für Akustik. Ein Herr, der behauptet, Französisch zu können, und deshalb als Dolmetscher bestallt ist, quält sich mit dem pariser Detektive am Zeugentisch ab. Paris: also Kindersuche und Gummibauch. Die mittelgroße Unbekannte, wir Wissens schon, hatte einen deutschen Accent. Langwierige Erörterung, wie der sich vom polnischen wohl fiir den Franzmann unterscheide. Endlich steht Isabella auf; wie ein Soubrettenschmunzeln gehts über ihr Gesicht; sie fuhrt die Lorgnette vors Auge und fragt, französisch, den Seinespitzel, der in Moabit ungemein respektirt und ernst genommen wird: »Spreche ich ungefähr so reines Französisch wie der Herr, der Ihre Aussage übersetzt?« Mit einem Hohn in der Stimme, der durch Guirlanden sticht; und der denn auch unbemerkt bleibt. Sie redet fast nie, läßt Freunde und Feinde erzählen, was ihnen beliebt: und verzieht keine Miene. Thut auch nicht prüde, nicht damenhaft empört und markirt beim Anblick des Knaben nicht ihr Muttergefiihl. Das überläßt sie der Frau Meyer. Mauvais genre. Nur als schon eine Stunde lang von ihren blutigen Hemden geredet worden ist (wo die Flecke waren, ob auch sicher von Menstrualblut oder viel^ leicht von Hämorrhoiden), wirds ihr zu . . bunt: sie rückt den Stuhl und hält die Hand vor die Augen, bis auf die
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Wascherei endlich der nächste Hebammenklaisch folgt. Und gleich danach lacht sie wieder wie ein Mädchen beim ersten Walzer. Die hochnothpeinliche Frage: Schwangerschaft oder Schrotbeutel? Ein paar feine Damen» Mütter, Großmütter, haben mit größter Entschiedenheit bekundet: Die Gräfin war »in anderen Umständen«. Das kennt Unsereins doch. Als ein Symptom wird Anschwellung der Hände erwähnt. Die Gräfin, sagt der Zeuge Rosinski, litt an Gicht und hatte oft geschwollene Hände. Das beweist also wieder nichts, meint der Präsident, will das »gute« Zeugniß noch heller beleuchten und fordert Rosinski auf, mal zu sehen, ob die Schwellung nicht am Ende auchjetzt da ist. DerArzt zögert eine Sekunde. Er hatseiner Patientin eben so ziemlich das Schlimmste nachgesagt. Dann geht er hin. Und Isa, als sei ein besserer ^tz ihr nie zu Ohren gekommen, streckt ihm, mit übermüthigstem Lachen, die Hände entgegen. Nein; sie sind nicht geschwollen . . . Die Frau ist nicht gewöhnlich. Sie muß sehr schön gewesen sein und hat noch heute einen persönlichen Zauber, der ihr mehr nützen konnte als der beredteste Advokatenmund. Als die Verhandlung begann, war, außer den Bninskis, im Zu^ schauerraum fast Alles überzeugt: eine Verbrecherin. Am Ende der ersten Woche hatte Isa die Mehrheit gewonnen. Ohne viel zu reden. Sie hat Stil. Die Gevatterin nebenan ist (ur sie Luft. Und wenn sie gegen Abend abgeführt wird, glaubt man, eine verblühte Marie Antoinette in den Kerker schreiten zu sehen. Das ists: ihr Stil ist Rokoko. Ihrer und und ihres Mannes; so verschieden die Beiden in Blüthe und
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Kern sind. Wahrscheinlich wurde Das ihr Verderben. So lebte, so tändelte, zankte, koste man, als der Adel allein Menscheni« rechte besaß; und Herrenrechte. »Warum soll ich keine Ver:« hältnisse haben?« Warum soll ich rechnen, soll, ein Grafen^ kind, dem Krämer, der Hausmagd ins Handwerk pfuschen? Nobel Geld ausgeben, die besten Manieren und geniale Ein« (alle haben, die auszuführen Sache der Roture ist; Musik, Geselligkeit, hübsche Frauen. Rokoko. Und obendrein mit der sarmatischen Neigung ins wildeste Barock. Vorbeil Vor« beil So läßt sich bei Wronke nicht mehr Landwirthschaft treiben. Der jähe Klimawechsel verscheucht auch empfind« liehe Freunde leicht. Nur soll man nicht glauben, Das sei Polen. »Polnische Wirthschaft« ist ein billiges Schlagwort; paßt aber längst nicht mehr, blendet nur und drängt in Ueberhebung, mit der die »Hebung des Ostens« nicht zu leisten ist. So war die Slachta, als Mickiewicz ihr sang. Heute baut sie Fabriken, meliorirt, kultivirt, spekulirt, folgt dem Beispiel des englischen Adels, hält Ordnung, schickt sich in die Zeit, — und ist deshalb dem deutschen Nachbar und Konkurrenten gefahrlich; nur deshalb. In Warschau und Lodz, in Lemberg und Krakau sollten die Germanisatoren polnische Wirthschaft studiren. Kwileckis sind Rokoko.
Drüben, auf den Zeugenstühlen, sitzt schon moderneres Polen. Zbigniew und Isabella hätten um keinen Preis ver« mocht, in einem preußischen Gerichtssaal Tage lang, Wochen lang zuzusehen, wie man ihren Verwandten den Prozeß macht; einen Prozeß, der ins Zuchthaus fuhren soll. Graf Miecislaw
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und seine Gattin bringens fertig; und scheinen nicht darunter zu leiden. Und Graf Hektor» Ulan, Papstkämmerer, Reichs^ tagsabgeordneter, strenggläubiger Junker, geschmeidiger Fro^ zeßregisseur und ein Geschäftsmann, der auf den Pfennig berechnet, was er dem Anwalt, Agenten, Ausspäher zu zah^ len hat: so viel, doch nicht mehr . . . Ein Mann, der in die Welt paßt. Typus von morgen. Wer dieses Verfahren in Gang bringen und über alle Hindemisse wegführen konnte, muß Nerven haben. Und dieser Hektor weiß, daß ganz Polen ihn heute schon haßt, ihm ein finsteres Achilleushaupt zeigt, wenn er diesmal nicht siegt. Dennoch scheint er heiter.
Vier Momente haben sich während der Hauptverhandlung in mein Gedächtniß gedrückt. Der siebenjährige Streit ging von der Frage aus, ob der am dreißigsten Januar 1897 auf dem berliner Standesamt als Joseph Stanislaus Adolf Graf Kwilecki angemeldete und später von dem Päpstlichen Haus^ prälaten und Stiftspropst Ludwig von Jazdzewski getaufte Knabe das eheliche Kind des Grafen und der Gräfin Wesierski«» Kwilecki ist oder von Caecilie Parcza in außerehelichem Ge«» schlechtsverkehr ihrem Liebsten, einem österreichischen Hauptmann, geboren wurde. Der Hauptmann war aus Krakau als Zeuge geladen worden; er sollte aussagen, ob er in dem Kinde sein Fleisch und Blut erkenne. Zwischen den zwei Knaben stand er vor dem Schwurgericht; rechts der kleine Graf, links der rachitische Junge, den der edle Bahn# Wärter Meyer, als er Caecilie Parcza geheirathet hatte, an
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Kindes Statt annahm. Prüfend haftet das Auge des Zeugen auf dem Kümmerling und schweift dann, ein Bischen scheu, nach der rechten Seite hinüber. Spannung im Saal. Wird die Stimme des Herzens jetzt sprechen? Kurze Pause. Leis hebt der Zeuge die Achseln, schüttelt sacht den Kopf: un^ möglich; er kann nichts sagen. Caecilie war sein Liebchen und hat zwei Knaben geboren; fiir den ersten hat er Ali«: mente geliefert, für den zweiten nicht. Den hat das Mädchen bald nach der Geburt an vornehme Leute weggegeben und der Vater hatte keinen Grund, dreinzureden. Niemals hat der Herr Compagniechef die Kinder gesehen; woher soll er also wissen, ob der hübsche Knirps zur Rechten sein Sohn ist? Die Spannung löst sich. Ein Schaudern huscht durch die Reihen; »der Menschheit bester Theil«. Ein Getuschel. Das ^avjüidCeiv, in dem Plato den Anfang aller Weisheit sah. Ohne Tünche, ohne den Isochromfimiß, den die soziale Heuchelei als Glanzdecke über alle menschlichen Beziehungen des Europäerkulturkreises bereitet, zeigt sich, in grausamster Natürlichkeit, dem Blick hier das Leben. So ists. Jahre lang hat dieser Mann diese Frau in heißen Stunden an sich ge^ preßt, mit brünstigem Gestöhn sie umschlungen, mit gieriger Lippe ihren Athem geschlürft: die Frucht so zärtlicher Ver«s einung sah er nie. Das älteste Bübchen leidet an der Eng^ lischen Krankheit? Da sind zehn Gulden, mein Schäfchen; für Doktor und Apotheker. Der Zweite (hattest ihn ja wohl Leo genannt?) ist von einer feinen Dame adoptirt worden? Recht hast Dus gemacht ; ihm wird nichts abgehen und Du hast
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die Arme frei. Ein Haupttre£Fer. Servus, Tschaperll . . . Nach österreichischem Gesetz hat das außereheliche Kind Anspruch auf eine dem Vermögen des Vaters angemessene Erziehung und Versorgung. Wenn Caecilie auch ein artiges, bequemes Mädel war: fiir alle Fälle ists angenehm, wenigstens den einen Jungen loszusein. Doppelt angenehm, daß die süße Kleine auch noch unters Ehedach kommt. Die Folgen sol«« ches Verhältnisses mag man doch nicht sein Leben lang mit^ schleppen. Wahrscheinlich hat das schöne Stück Geld, das Glichen für den sauberen Kleinen erhielt, den Freier heran^ gelockt. Ein Weichensteller! Die Leute kennens nicht anders; sind am Ende noch stolz darauf, daß ihre Frau einem Kava^ lier genügte. Nun ist Allen geholfen. Und wessen Verdienst ists denn, daß der Leo so sauber ¥rurde und Blaublütigen keine Schande macht? Von wem hat er das Adelige? He? Geh, sei nicht fadi Aus is; und aus mußte es einmal sein. Kriegst einen feschen Mann und wirst mich vergessen. Ser^ vus, Katzerl; ich muß zum Tarock . . . Der Vater, der seine »natürlichen« Kinder nicht kennt, nicht kennen will, im Ge«» richtssaal zum ersten Male sieht: ein Sto£F für Tolstoi. Doch Nechljudow war aus anderem Holz als der krakauer Com^ pagniechef. Der reist sorgenlos nach Galizien heim und schreibt, als er noch einmal vorgeladen wird, an das Gericht, er sei bei der ersten Fahrt nicht auf die Kosten gekommen, habe aus seiner Tasche zugelegt und verzichte, da mit der Zeugengebühr so geknausert werde, auf die Wiederholung des theuren Spaßes. Ein paar Tage in Berlin sind ganz nett ;
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eine Hauptmannsgage aber reicht nicht sehr weit. Der Brief ist der Mann. Auf der Biihne würde er nicht nur die Frauen ein arger Bösewicht dünken. Im Schwurgerichtssaal, wo Aku^ stik und Optik stets an Schauspielhäuser erinnern, gehts ihm wie Gretchen im Dom : »Die Hände Dir zu reichen, schauerts den Reinen.« Und doch ist der 0£Bzier gewiß ein guter Mann und ein frommer Christ; und wie ers mit Caecilie hielt, haltens abertausend Kavaliere (und Bürgerliche aller Stände und Proletarier sogar) mit ihren Mädchen. Der Menschheit bester Theil ist nichts fiir skrupellose Gemüther. Schnell wieder die Glanzdecke herl Gott sei Dank: die hauptmännUche Episode ist abgethan. Schon wird am Tisch der Ankläger und Richter wieder von der »zerrütteten« Ehe der Gräfin Isabella gesprochen. Zerrüttet ist sie, weil die Frau manchmal schalt, der Mann sich manchmal an fremdem Reiz wärmte. Andere Männer bleiben standhaft auf dem schmalen Tugendp£fide der Monogamie; andere Frauen lassen nie ein zänkisches Wort über die Lippe: also ist die Ehe zerrüttet und diesem Ehepaar ein Kind, die Frucht zeugen«* der und empfangender Liebe, nicht zuzutrauen. Iudex ergo cum sedebit, quidquid latet, adparebit. Das Schaudern ist der Andacht gewichen. Ganz hinten nur höhnt Einer: Wo«« her, Ihr Herren, nähme der König seine Rekruten, wenn alle ä la Kwilecki zerrütteten Ehen kinderlos blieben? Und weil er schon einmal beim Nörgeln ist, fragt er weiter: Warum riefet Ihr den Hauptmann fernher, da Ihr doch wußtet, daß sein Knabe in der fünften Lebenswoche von der Mutter verkauft
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ward» vom Vater also, selbst wenn er ihn je gesehen hätte, nicht wiedererkannt werden konnte? Zeitverlust und Kosten seien Euch verziehen. Aber mußtet Ihr nicht die Folgen so zwecklosen Thuns bedenken? Der armen Frau Meyer wird kiinftig keine Gevatterin den Rückblick auf das Militärs verhältniß ersparen; und der Hauptmann kann froh sein, wenn er sich im dunkelsten bosnischen Winkel vor der Klatschsucht verstecken darf, firoh, wenn der Widerhall der Gerichtsverhandlung ihm nicht eine Braut, eine Mi^ft, eine Erbhofihung raubt. Das habt Ihr erreicht. Ists nicht schon schlimm genug, daß die Angeklagten während des Prozesses oft Rechtsgüter verlieren, die der Freispruch ihnen nicht zu«« rückbringen kann? Müssen auch noch Zeugen, die zur Auf;> hellung des Thatbestandes gar nichts beizutragen vermochten, mit ihrem guten Ruf, ihrer Existenz die Gerichtszeche zahlen? Zweite Impression. Siebenzehnter Tag der Hauptverhand«« lung. Noch immer ist nichts bewiesen, noch nicht das Allere geringste, und im Saal, in der Stadt wächst die Gewißheit, daß die Jury nach all dem Wortauf«^and sämmtliche Schulde fragen verneinen wird. Da tritt Graf Hektor Kwilecki an den Zeugentisch. Das Gesumm hört auf, die Zuschauer drängen an die Holzschranke, die den Gerichtsraum ab^ schließt, von der Vertheidigerbank richten sechs Augenpaare sich auf den Kämmerer Seiner Heiligkeit. Der ist nervöser als vor drei Wochen; von Weitem schien der Sieg leichter als nun auf der Walstatt. Die Slachta verzeiht nicht, daß die schmutz zige Wasche aus Wroblewo vor ein Freußentribunal ge#
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schleppt worden ist, und wird dem Gutsherrn von Kwilez die schädliche Ausstellung eintränken. Die Stimme des alten Garde^Ulanen klingt heute nicht hell. Er will Etwas »tu klären«. Die Hälse recken sich höher. Wenn Einer hier Et^ was erklären kann, ists dieser harte Agnat mit den ge^ schmeidigen Verkehrsformen. \^elleicht will er sagen, die Hauptverhandlung habe ihn überzeugt, daß seine Anschul^ digung nicht zu beweisen sei; solche Chamade könnte ihm die Gunst des Standesgenossen zurückgewinnen. Nein. Er will sich gegen Verdächtigung wehren. Nicht unsere Schuld ists, meines Vaters und meine, daß die Sache vor den Richter kam; wir wären still geblieben, wenn Graf Zbigniew die Kindesunterschiebung eingestanden hätte. Staunend blicken die Nachbarn einander an. Was erzählt denn der Mann da? Was soll jetzt die Rednerei von einem Geständniß, da fast ein Jahr doch schon das Verfahren schwebt und nicht einen einzigen haltbaren Beweis ans Licht zu bringen vermocht hat? Wenn erste Drohung schon die Beschuldigten ins Mausloch triebe, käme es freilich nie zu langwierigen Ge«« richtsverhandlungen. Gerade in diesem Fall aber tragen die Grafen Miecislaw und Hektor die Hauptschuld; statt einen neuen Civilprozeß anzufangen, haben sie die Staatsanwaltschaft aufgefordert, »energisch und ohne Ansehen der Person ein^ zuschreiten« . . , PstI Die Erklärung geht weiter. Wird jetzt sogar »feierlich«; Graf Hektor sagt es selbst. Er verzichtet »fiir seine Person« auf die Herrschaft Wroblewo. Die er noch nicht hat Die ihm erst zufiele, wenn Zbigniew ge^
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sterben und dem kleinen Joseph das Erbfolgerecht abge^ sprochen wäre. Möglich, daß die Fideikommißbestimmung solchen Verzicht gestattet. Dann käme das Majorat an Herrn Hektors Sohn, bis zu dessen Mündigkeit der Vater es zu verwalten hätte. Ein ungeheures Opfer also und der »klarste Beweis, daß nicht das Streben nach pektmiärem Vortheil mein Handeln geleitet hat.« Saure Trauben, brummt ein Pole in den Assyrerbart. Das müde Auge Zbigniews sucht unter den Entlastungzeugen, bei Herren und Mägden, Leidens^ geführten: das Schauerdrama, dem er beiwohnen muß, hat manche starke Szene gebracht: diese letzte aber war schwach, überflüssig, ohne jeden Effekt. Um Isas Mundwinkel zuckt es mehr schelmisch als boshaft; dürfte sie reden, sie riefe wohl in den Saal: Da habt Ihr Euren Hektor, votre gar^on tr^s forti Und ganz hinten fragt der Nörgler: Was hat die Feierlichkeit mit dem Gegenstande dieser Verhandlung zu tun? Liegt ein Verbrechen vor, dann braucht der Kwilczer sich der Anzeige nicht zu schämen. Ob er, ob sein Sohn oder Neffe ins Schloß von Wroblewo einzieht, ist fiir den Wahrspruch der Geschworenen gleichgiltig. Welche Rolle spielt der Herr eigentlich hier? Den Frivatbetheiligten, der in Oesterreich dem Untersuchungrichter und dem Staats:« anwalt das Material liefert, kennt unser Strafprozeß nicht. Ein Nebenkläger hat sich nicht gemeldet. Warum also muß Hektor sich ewig zu uns wenden? Warum steht sein Stuhl so nah bei der Jury? Mit welchem Recht ergreift dieser Graf das Wort zu Erklärungen, die gar nicht zur Sache ge^
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hören? Täglich hat der Vorsitzende gesagt, die Verhandlung daure zu lange und müsse in schnellerem Tempo vorwärts^ gefuhrt werden. Jetzt aber läßt er den kwilczer Zeugen be^ langlose Privatgeschichten erzählen. Dem Laiengericht.
Nummer Drei. Herr Dr. Rosinski aus Wronke als Zeuge und Sachverständiger. Ein finsteres, barsches Gesicht. Der gelbgraue Schnurrbart kantig wie ein Balken. Unter starrem Busch das Auge; hat es je lächeln gelernt? Aus diesen dicken Thränensäcken kam wohl nie eine Mitleidszähre. Straffe Haltung. Fließendes, um keine Ausdrucksnuance verlegenes Deutsch. Ein Mann, der zu Kaisergeburtstags«« feiern geht. Einer von Denen, die Bismarck ralliirte Polen nannte. Und der beste Redner im Saal. Jede Wirkung ist vorgewogen, jedes Wort steht, ohne Phrasenbehang, an der richtigen Stelle. Als formale Leistung ist die Aussage mustere haft. Der erste Theil ist der Anklage nicht günstig. Die Gräfin, deren Hausarzt Rosinski Jahre lang war, hatte immer, nicht nur bei Frauenleiden, eine unüberwindliche Scheu vor jeder Betastung der schmerzenden Körpertheile; daß sie sich während der Schwangerschaft nicht untersuchen ließ, konnte also dem Doktor nicht auffallen. In der Wochenstube wich ihm der letzte Zweifel. Der Knabe sah aus wie ein neuge«« borenes Kind, die Mutter wie jede Wöchnerin; kein Grund zum Verdacht. Auch die Angaben, die der Zeuge über die ehelichen und wirthschaftlichen Verhältnisse des Grafenpaares macht, bieten der Staatsanwaltschaft keine Stütze. In dieser Ehe gabs Regen und Sonnenschein; schlimmem Gezänk
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folgten Tage inniger Eintracht. Die Gräfin hat keinen unge^ bührlichen Luxus getrieben, sondern ihre Mitgift ftir die Gutswirthschaft verbraucht; und die Geburt des Majoratsi» erben hat auf Wroblewo die Geldknappheit nicht gemindert. Sehr günstig: denn die Anklage behauptet ja, der Mangel an Geld und Kredit habe Isa in den Plan der Kindesunter» Schiebung gedrängt. Alles war ruhig, knapp, konzinn vor» getragen worden. Nur ein Zug verrieth die Nervosität des Zeugen: während er mit kurzen Schritten vor den Geschwo» renen auf und ab spazirte, ließ er einen Haus» oder Stuben» Schlüssel um den rechten Zeigefinger kreisen; vom ersten bis zum letzten Wort. Wie bei einem Alltagsgespräch über Wetter» Prognose und Skatverlust. Vielleicht glaubt der Sanitätrath so fest an die Unschuld seiner Patientin, daß die Verband» lung ihn nicht erregt? Nein: er traut der Gräfin Wesierska» Kwilecka die That zu, trotzdem auch er kein einziges sicheres Thatbestandsmerkmal anzuführen vermag: nur nach der Kenntnis ihres Charakters. Der Sachverständige Rosinski hat mehr zu sagen als der Zeuge; und der Schlüssel kreist jetzt schneller. Eine sehr leidenschaftliche Frau. Künstlertempera» ment. Als Sängerin hoch über dem Dilettantendurchschnitt. Schön, verwöhnt, stolz. Ueberwuchemde Phantasie. Keinen Sinn für Ordnung, für Korrektheit im Reden. Den besten Willen zwar, doch nicht die geringste Fähigkeit zu sparsamer Wirthschaft. Im steten Kampf ums standesgemäße Dasein ist ihr ethisches Empfinden nach und nach morsch geworden. Was zum Erfolg fuhrt, scheint ihr erlaubt. Der Gedanke,
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Wroblewo verlassen und von fremder Gnade abhängen zu sollen, mußte ihr unerträglich sein. Was sie sagt» ist nicht gelogen, aber objektiv unglaubwürdig, denn ihre Gedächtniß:« bilder sind oft im Wesentlichen falsch. Keine Verbrecherin aus Gewinnsucht (diese Wendung soll, statt der Zuchthauses Schmach, wohl die mildere Strafart oder ein Irrenhäuschen empfehlen), sondern »eine psychische Abnormität«. Das Günstigste für die Kwilczer. Leichte Verbeugung. Schluß. Das klang nicht sehr wissenschafdich; in Traktätchen fiirs gläubige Herze mag so von Geisteskrankheit geredet werden. Woran soll Frau Isabella denn leiden? Paranoia? Folie ciri^ culaire? Und was soll der Laienrichter mit dieser Aussage an^ fangen? Als Leumundszeugnis bietet sie wenig Wagbares; und als psychiatrisches Gutachten ist sie erst recht nicht zu brauchen. Wenn alle Frauen, die schlecht rechnen und wirthschaften, deren Gedächtniß trügt, deren Phantasie ohne Hemmungen arbeitet und deren Zunge im A£Fekt nicht zu zügeln ist, in den dunklen Bezirk der Anomalien verwiesen würden, stünden bald viele Normalhäuser leer. Ueber Psychosen weiß man heute doch schon ein Bischen mehr, als Herr Dr. Rosinski zu ahnen scheint. Merkwürdig: schon spotten verständige Aerzte selbst über den modischen Aberglauben an Spezialistenweisheit, über deren Wahn, der Nasendoktor habe die Finger von Mund und Ohren zu lassen; und in diesem Riesenprozeß, zu dem, ohne Furcht vor den Kosten, aus drei Reichen die Zeugen herbeigeschleppt werden, tritt als psychiatrisch Sachverständiger ein Praktischer Arzt aus
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Wronke auf. Ein oflFenbar kluger Herr, der aber, als Isabella noch unbehelligt im Schloß befahl, seine Diagnose sorglich in des Busens Tiefe verbarg. Am ersten Verhandlungtag hatte die Gräfin gerufen: »Dr. Rosinski war immer von meine besten Freunde I« Diese Frau hat wirklich mehr Phantasie als Sinn für die Realitäten des Lebens. Der Freund fand sie sittUch und seelisch morbid und eines gemeinen Verbrechens fähig. Oder sind auch seine Gedächtnißbilder nicht ganz zuver«: lässig? Sah er die Hochgeborene erst, seit sie angeklagt ward, in der Schreckenskammer der Abnormitäten? Ehe er wieder Spazirgänge als Sachverständiger unternimmt, sollte er den Räthselfragen der retroaktiven Suggestion nachdenken. In Mußestunden daneben einlältiglich erwägen, was dem Haus«: arzt vom Imperativ der Sittlichkeit erlaubt, was verboten ist. Die vierte Erinnerung führt, noch einmal, in den trüben Tag zurück, dessen kurzer Lichtschein Hektors persönliches Majoi» ratsrecht im Lethe versinken sah. Donars Tag, des Gewitter«« gottes. Der Himmel pechschwarz bewölkt. Die Geschwo«« renen sehen schon gar nichts mehr. Plötzlich wirds hell. Coup de foudre. Herr Steinbrecht, der den Titel (nicht das Amt) eines Ersten Staatsanwaltes mit niedersächsischer Würde trägt, hat die Schlußsensation, die längst erharrte, aus den Falten der Robe geschüttelt. Das Licht kam, natürlich, von Osten. Aus Warschau. Dort (denkst Du auch noch dran, lieber Leser?) lebte und starb die Hebamme Cwell, die dem Schoß der Gräfin den streitigen Knaben entband. Wirklich entband? Bis heute mußte mans glauben. Nun aber . . . Der Staatsan^
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walt hat Herrn Hans von Trcsckow, den elegantesten, welt^ männischsten der berliner Kriminalkommissare, heimlich nach Warschau geschickt, auf daß er den Sohn der Madame Cwell vernehme : und dieser Sohn hat Wunderdinge enthüllt. Seine Mutter sei im Januar 1897 in BerUn gewesen, bald aber krank und ohne das erho£Ete hohe Honorar heimgekehrt; sie habe der Gräfin das Kind nicht entbunden, auch nicht gewußt, ob und welcher Ersatz in die Kaiserin Augusta:: Straße 74 geholt ward, und auf dem Sterbebett noch, leider zu spät, den Wunsch ausgesprochen, ihre Seele von einem Geheimniß zu entlasten. Alles horcht auf. Der Glaube an die Finalüberraschung, die kommen werde, kommen müsse, hat also nicht getrogen. Ist die warschauer Botschaft erweis«: lieh wahr, dann ist die Angeklagte im wichtigsten Funkt auf einer Lüge ertappt; dann gabs, ohne Entbinderin und ohne Arzt, keine Entbindung. Isabella blickt zur Saaldecke empor; mit dem Ausdruck spöttischer Resignation, wie in einem Fflichtkonzert, während Stümper ihr Wesen treiben. Wieder was Neues also; vor dem Jüngsten Tag wird die Sache wohl nicht mehr enden. Herr Zbigniew hat in seinen Schalltrichter oflFenbar nur einen Theil der neuen Mär au& gefangen; blinzelnd schaut er nach rechts, nach links und scheint fragen zu wollen, ob in diesem merkwürdig altmodi«: sehen Melodrama gar noch zwei Sterbebetten auf die Bühne gebracht werden. Rechts und links aber, vom und hinten ist Alles in froher, in banger Bewegung. Die Cwell wars also nicht! Jetzt geht die Geschichte schief. Habt Ihr auch
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gehört, wie der feine Tresckow erzählte, dem Sohn der Hebamme sei für seine Aussage Geld angeboten worden, dttu tausend Rubel und noch mehr? Die Vertheidiger fordern in unsicherem Ton eine Pause, um über die neue Wendung zu berathen. Ein Geschworener verlangt die Feststellung der Person, die das Geld geboten habe; wenn sie den Ange«» klagten befreundet war, müsse Etwas zu vertuschen gewesen sein. Nach der Ansicht des Herrn Steinbrecht ist der Vers^ Sucher nicht fem: Herr von Koczorowski wars, ein Intimer von Wroblewo; ruhigen Blutes spricht der Staatsanwalt den Verdacht aus, dessen Bestätigung einen unbescholtenen Edel? mann ins Zuchthaus bringen könnte. Auf jeden Fall muß der Sohn der Hebamme schnell nach Berlin. Der Gerichtshof beschließt, den Mechaniker Thomas Cwell und dessen Ehe«: frau Magdalena für Montag vorzuladen und bis dahin die Verhandlung auszusetzen. Montag also wirds endlich tagen. Auf der Treppe, die, an den Schöffenniederungen vorüber, ins Freie fuhrt, summt der unbekehrbare Nörgler: »In einem Omnibus saß ein Mechanikus . . . Der Mann will entweder aus einer der beiden Grafenfamilien rasch noch ein Bischen was Blankes herauskitzeln oder nur gratis mal die Reichshaupt^ Stadt deutscher Intelligenz besehen; vielleicht auch das An^ denken der lieben Mama von Schmutzspritzem säubern und sich vor Verwandtschaft und Kundschaft wichtig machen; bequeme Reklame: auf preußische Staatskosten. Ganz aus^ geschlossen, daß er jetzt noch Entscheidendes zu sagen hat. Aber auf drei Retourbillets Warschaui^Berlin nebst Gebühr für
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£Wei neue ausländische Zeugen kommts nun auch schon nicht mehr an. Und welche Wendung durch Tresckows Fügung I Bis heute früh gehörte in diesem Haus die Cwell zum Abschaum der Menschheit. Ein wüstes Weib; berüchtigte Bordellwirthin; für ein paar Rubel zum Schändlichsten, zu jedem verbrechen rischen Schwindel bereit. Das war Monate lang ein Eckstein der Anklage. Diese bescholtene Person, dieses allerliebste Schmutzpflänzchen importirt die Gräfin aus Russisch^Folen, um eine zuverlässige Hehlerin ihres Truges zu haben. Der Eckstein lockerte sich auch nicht, als von der warschauer Polizei gemeldet wurde, die Cwell sei eine ordentliche Frau gewesen, gegen die nichts vorgelegen habe. Folakenflausen. Das kennt man schon. Fünf Rubel: und solcher Tshinownik giebt jedes gewünschte Attest. Und nun Verwandlung bei oflFener Szene. Die selbe Cwell wird zur Ehrenfrau, deren Aus# sage lauteres Gold ist. Wahrscheinlich hat sie die Krankheit damals nur simulirt, um nicht an einem Verbrechen miU wirken zu müssen. Die ein Bordell halten? Lächerlich. Sie bekommt ein Sterbebett und ein ganz besonders zartes Gen wissen und die Königliche Staatsanwaltschaft ist entschlossen, ihr den Himmel zu öffiien. Montag kanns lustig werden I« . . Es wurde nicht lustig. Das Ehepaar Cwell war pünktlich zur Stelle, hatte aber nichts Beträchtliches zu erzählen. Mama hat den Kindern aus Berlin nichts mitgebracht und, um nicht knickerig zu scheinen, behauptet, sie sei vor der Entbindung erkrankt und mit knapper Entschädigtmg heimgeschickt worden. Sohn und Schwiegertochter hieltens gleich für eine
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Ausrede. Auch mit dem Sterbebett ist nichts anzu&ngen. Die Frau wollte ihren Thomas noch einmal sehen; doch von einem Geheimniß und von Gewissensbissen war niemals die Rede. Die dreitausend Rubel hat Herr Hechelski, Hektors Vertrauensmann, dem Mecha^iker angeboten; er wollte sogar bis zu zehntausend gehen. Herr von Koczorowski hat alle Annäherungversuche abgelehnt. Niemand fragt Fan He# chelski, wer ihm gestattet habe, über solche Summen zu ver# fugen. Niemand scheint für möglich zu halten, daß ein Frivatspitzel, der fiir eine Aussage zehntausend Rubel an«« bietet, den Zeugen flink zum Meineid verleiten will und, als eines im § 159 StGB mit Zuchthaus bedrohten Verbrechens dringend verdächtig, in Haft genommen werden könne. Niemand. Der Fall Cwell ist erledigt. Die schamlose Kupp# lerin verschwindet; nur die »der Gräfin gänzlich unbekannte Hebamme« bleibt und genügt am Ende auch für Flaidoyer^ bedürfiiisse. Das Licht aus Osten hat nicht lange geleuchtet. Immerhin sieht jetzt auch ein myopisches Auge, aufweichen Tragbalken die Anklage ruht. So unerschütterlich waren die »Feststellungen« der Staatsanwaltschaft, daß schon das wirre Echo eines Kleinleuteklatsches ausreichte, um die Feststeller selbst ins Wanken zu bringen. Zwei Frokuratoren waren be# reit, die verblichene Nabelentbinderin auf feurigen Armen, eine reuige Sünderin, in den Glorienhimmel zu heben.
Drei Viertel aller Zeugen, aller Kosten, allen Zeitaufwandes waren zwecklos, konnten unter keinen Umständen die Ent^
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Scheidung der Richter determiniren. Tage lang wurde ver^ hört und verhandelt, um festzustellen, ob eine Frau von fünfzig Jahren noch gebären könne und ob im vierten, fünften Monat der angeblichen Schwangerschaft in den Hemden der Gräfin Menstrualblutflecke ge^nden worden seien. Jedes Handbuch der Gynäkologie konnte schon im Vorverfiiliren die nöthige Auskunft geben, Und wer das juristische Staats^ examen bestanden hat, sollte, ehe er sich an den Richtertisch setzt, eigentlich auch so viel Medizin gelernt haben, daß er weiß: bis zum Eintritt der Menopause kann, während der ganzen Zeitdauer der Menstrualftinktion, im befruchteten Schoß einer sonst gebärtüchtigen Frau ein Kind wachsen. Die Katamenialblutungen sprächen also nicht gegen, sondern sehr laut für die Möglichkeit der Schwangerschaft; laut soi« gar noch, wenn sie wirklich bis in den ftinften Monat ge^ dauert hätten. Spiegelberg rechnet in seinem Lehrbuch der Geburthilfe das Aufhören der Menses nicht zu den sicheren Zeichen der Schwangerschaft; dieses Zeichen, sagt er, ist zwar werthvoU, kann aber fehlen oder so undeutlich sein, daß es nicht zur Diagnose zu benutzen ist. 3i>In seltenen Fällen erscheint eine Blutung noch nach der Konzeption einmal oder mehrere Male; gewöhnlich in schwachem Grade und un«: regelmäßig; doch liegen auch Berichte von Weibern vor, die nur während der Schwangerschaft menstruirt gewesen sein sollen . . . Die Mehrzahl solcher Abgänge ist nur patholo^ gischer Natur und häufig stammt das Blut nicht aus dem cavum uteri, sondern aus Erosionen und Gefaßektasien des
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Collum.« Laienirrthum also leicht möglich. Haben die am Pros» zeß Kwilecka betheiligten Herren nie von den Launen der regles sumumeraires gehört, von den Hämorrhagien, die als Folge von Uterusmyom auftreten, von all den Genitalblutungen, die mit der Menstruation nichts zu thun haben? In ihrer eigenen Familie nie von Frauen, deren Menses noch kamen, als der Leibesumfang schon unzweideutig die Schwangere verrieth? Daß eine Frau über Fünfzig Mutter wird, ist nicht alltäglich; doch auch nicht unerhört. »Frauen von fünfzig, ja, von sechzig Jahren haben noch Kinder geboren«, sagt der berliner Gynäkologe Professor Gebhard in Veits HancU buch. Barker hat von einer Achtundfünzigjährigen berichtet, der ein Kind entbunden wurde. Depasse hat 1891 den Fall einer grossesse ä cinquantemeuf ans beschrieben. In Eulen:« burgs Realencyklopädie der Heilkunde giebt der prager Professor Kisch das Resultat der Untersuchungen, die er an fünfhundert Frauen verschiedener Nationalität vorgenommen hat; davon kamen hundertundsechs erst nach Vollendung des fünfzigsten Lebensjahres ins klimakterische Alter; in neun:: undachtzig Fällen trat die Menopause zwischen dem fünfzigsten und dem fiinfundfünfzigsten Jahrein; 3»in den nördlichen Län:« dern im Allgemeinen später als in den südlichen.« Als wichtig gilt: Rasse, Vererbung, Klima, Beginn der Pubertät, äußere Lebensverhältnisse : lange mit schwerer Arbeit bepackte Frauen pflegen früher ins Klimakterium zu kommen als reiche, müßige Damen. Graf Wesierski^Kwilecki war 1896 zweifellos zeugungfiihig, ists (er könnte seine theuer bezahlte Repu<s
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tation gefährdet glauben I) vielleicht noch am Tag des Ge# richtes. Die Gräfin hatte die Menstrua, konnte also gebären. Dagegen war mit Waschweibergeschwätz nichts auszurichten. Freilich : »Die Angeklagte hat keinen Arzt zugezogen. »Höchst verdächtig. Warum denn verdächtig? Braucht eine Frau, deren Schwangerschaft normal verläuft, durchaus einen Arzt und ist die Untersuchung des Uterus ein solches Vergnügen, giebt sie auch nur solche Beruhigung, daß die nach dem goethischen Wort doppelt Schöne, in der zwei Leben wohnen, sich danach sehnen sollte? Die Anklage fand einen ohne die Annahme bösen Trachtens unerklärlichen Widerspruch darin, daß Isa gesagt hatte, sie reise nach Berlin, weil dort gute Frauenärzte zu haben seien, und dann doch den Professor Renvers, den ihr Herr von Jazdzewski emp&hl, nicht rufen ließ. Der Schwur^ gerichtspräsident kam über diesen ungeheuerlichen Widern Spruch (ohne das immer parate Wort »^9^derspruch« gäbe es für unsere Alltagskriminalisten überhaupt keine Beweise aufnähme) gar nicht hinweg. Merkwürdig. Eine Frau kann wünschen, in ihrer schweren Stunde für den Nothfall ht^ rühmte Spezialisten in der Nähe zu haben, und braucht sie, wenn in der Wochenstube Alles glatt geht, dennoch nicht rufen zu lassen. Vom NoUendorfplatz, wo Professor Renvers wohnt, dauert der Weg in die Kaiserin Augusta«»Straße knapp fünf Minuten. Gynäkologen jeglichen Ranges sind durchs Telephon rasch herbeizuklingeln. Ganz so bequem hat mans in Wroblewo nicht. Darbende Doktoren ersehnen vielleicht eine Bestimmung, die jede Schwangere verpflichtet, beim Bei*
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ginn der Wehen einen Arzt »zuzuziehen« (auch ein hüb# sches Wort; Sprachgebrauch: Er hat sich eine Krankheit und dann einen Arzt zugezogen). Noch aber ist solche Pflicht von keinem Gesetz vorgeschrieben; noch gebären selbst in civilisirten Ländern gewiß neun Zehntel aller Frauen ohne ärztlichen Beistand; noch hält man das Reifen und die Ex^ pulsion des Kindes fiir einen natürlichen Prozeß, der den gelehrten Helfer erst fordert, wenn die Fuerperalvorgänge von der Norm abweichen. In Wroblewo waren erwachsene Töchter, vor deren neugierigem Auge eine fünfzigjährige Mutter sich nicht gern ins Wochenbett legt; war ein krankes Faktotum, eine Hausfranzösin, deren Gebresten die Gräfin nie recht zur Ruhe kommen ließen ; war, wenn Komplikationer eintraten, ein namhafter Spezialarzt nicht ohne gefährlichen Zeitverlust herbeizuschaflFen; und eine nervöse Dame, deren hitziger Phantasie während der Schwangerschaft alle Hemi^ mungen fehlen, konnte wohl zu der Zwangsvorstellung ge^ langen, die feindliche kwilczer Linie werde die Möglichkeit finden, in Wroblewo dem Kind oder der Mutter ein Leid anzuthun. Gründe genug, nicht zu Hause zu bleiben; zuk mal für die launische, excentrische, reiselustige Isabella. Ein Wochenschwindel war, unter Assistenz der in solchem Ge«« schäft erfahrenen Hebamme Ossowska, auf einem entlegenen polnischen Gut leichter durchzufuhren als im berliner Westen. Die Gräfin nahm eine andere, als tüchtig empfohlene Heb# amme und bat ihren Hausarzt telegraphisch, zu kommen; nur ihren Hausarzt: denn die »Zuziehung einer Autorität«
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war eben nicht nötig. Das Alles konnte in der Vorunter:» suchung festgestellt werden und bot» als vollkommen normal, nicht das geringste Verdachtsmoment. In der Vorunter^ suchung hat auch die Amme, gegen deren Zeugniß kein Bedenken sprach, ausgesagt, das Kind, das ihrer Brust ans» vertraut war, sei ohne Zweifel ein neugeborenes gewesen; sie selbst habe das Wünnchen von dem meconium, dem Kindspech der ersten Lebensstunden, gesäubert und es habe erst ordentlich getrunken, als ihm von Rosinski das Zungen«« band gelöst war. Der Abgeordnete Propst von Jazdzewski, der Hunderte von Kindern getauft hat, erklärte mit äußerster Bestimmtheit, der Knabe, dessen Leib er als Täufer betastete, könne nur ein paar Tage vorher geboren worden sein. Wahrend des Geburtaktes war Isas Tochter neben, Isas Freundin auf der Schwelle der Wochenstube gewesen. Wenn diese Aussagen nicht durch neue Gravantien erschüttert schienen, konnte der ganze Fragenkomplex für die Haupte Verhandlung nicht mehr erheblich sein. Und, nur nebenbei : ist Humanität, Ritterlichkeit, Germanenkeuschheit (und wie die schönen Zierwörter noch heißen mögen) in Gerichtssälen denn ein leerer Wahn geworden? Ists nöthig, vor den Kini« dem, den Feinden, der lungernden Sensationsucht das Ge# schlechtsleben einer Angeklagten, Gräfin oder Taglöhnerin, zu entschleiern, wenn diese Exhibition für die rechtliche Be^ urtheilung des Thatbestandes doch werthlos bleiben muß, dem Erkenntnis suchenden Richter nicht den Weg weisen kann? Wozu Menschenleid, das der Sache nicht nützt?
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Eben so unerheblich war der aus Paris eingeschleppte Flunder. Eine Dame hat 1896 bei einer lutetischen Hebamme ein Kind zu kaufen gesucht; kein irgendwie ernst zu neh^ mendes Indizium spricht dafiir, daß Isabella Kwilecka diese Dame war; höchst unwahrscheinlich, daß eine Polin einen Gallierbastard in ihre Sippe schmuggeln will. Thut nichts: die Hebamme wird auf Staatskosten nach Berlin spedirt. Sieht die Gräfin und sagt: Die wars nicht. Wird der Quark nun wenigstens weggeräumt? Nein: er wird in^er Haupt« Verhandlung noch einmal aufgetischt, würde vielleicht als ein besonders feiner Leckerbissen empfohlen, wenn die sagest femme nicht so weise gewesen wäre, für die zweite Fahrt nach Berlin eine Entschädigung zu fordern, deren Höhe ein preußischer Staatsanwalt nicht zu verantworten wagt. Nsuf türlich wird nicht das winzigste Butterkügelchen gefunden. In der selben guten Stadt Paris hat im selben Jahr eine Auss» länderin einen Gummibauch gekauft. Auch hier ist jede Möglichkeit, die Identität festzustellen, von vom herein auss» geschlossen, trotzdem ein Freund Hektors, des Allumfassers, Maler von Metier, an der Seine als Amateurdetektive in der Sache eifrig gearbeitet hat. Zur Hauptverhandlung aber wird auch für dieses Beweisthema aus Paris ein nicht klassischer, doch romantischer Zeuge geholt, das Gerede spinnt sich über Stunden hin, halbe Tage, und das Ergebniß ist, wie zu tu warten war: Null. Was bleibt noch? Eine Depesche, deren Wortlaut neben der harmlosesten auch eine üblere Deutung zuließe. Aber die Angeklagte kann nicht klipp und klar an#
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geben» warum sie 1896 überhaupt nach Paris gereist ist. Un# gemein verdächtig, Einer pohlischen Gräfin» die den Werth des Geldes nie wägen lernte und von der rage du chiflFon besessen ist, darf man gewiß nicht zutrauen, sie sei so weit gereist, nur um die Boulevards und die Läden der Rue de la Faix wiederzusehen, sich zu amusiren und die neusten Errungenschaften der Kosmetiker heimzubringen. Noch ver^ dächtiger: sie weiß 1903 nicht mehr, wo sie 1896 in Paris gewohnt 1^. »Aber, Frau Gräfin, wollen Sie uns im Ernst . . .?« Bald danach erzählt der Zeuge Rosinski, er habe Namen und Straße des berliner Hotels vergessen, in dem er 1897 abge^ stiegen sei. Niemand horcht erstaunt auf; ein Zeuge, kein Angeklagter! Und wenn die Gräfin nun wirklich in Paris Etwas zu verbergen gehabt, sich unter falschem Namen ein# guartirt hätte und jetzt Gedächtnißschwäche heuchelte, weil sie ihrer Familie gern verschweigen möchte, was damals ge# schah? Ware damit das Geringste für eine Kindesunter# Schiebung bewiesen? Kann selbst der Sauberste jedem Schritt, den er einmal that, von Millionen Augen nachspüren lassen? Und wissen unsere Kriminalisten nicht, nach Pitaval, Richer, Feuerbach noch immer nicht, wie oft das einzelne Verdachtsmoment den Betrachter narrt? So lange nach Jean Paul nicht, daß seltsamere Zufalle, als die reichste Phantasie der Romanschreiber auszusinnen vermag, in Helle und Dimkel des Alltages das pausenlos dichtende Leben erfindet?
Sie wissen, wenn sie im schwarzen Talar auf dem Richter^ stuhl sitzen, von diesem Leben nicht viel. Im Prozeß Sterne
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berg hielt der Vorsitzende für ganz unglaublich, daß eine Prostituirte den Namen eines Kunden nicht kenne, der mehr als einmal zu ihr gekommen sei; der alte Herr glaubte wohl, auch solchen Damen schicke man vorher die Visitenkarte ins Zimmer. Im Prozeß Kwilecka erlebten wir noch höhere Wunder. Das Unzulängliche ward Ereigniß; Unmöghches fand schnell willigen Glauben. Die Gräfin hat Tücher um den Leib gewickelt, Schrotbeutel, einen Gummibauch (Alles zusammen oder der Reihe nach?) und neun J^nate lang durch geheuchelte Schwangerschaft die Erfahrenen, Mütter und Großmütter, getäuscht. Sie hataus Wroblewo inBordeaux^ Haschen Schweineblut, aus Krakau eine Nabelschnur nebst Nachgeburt nach Berlin geschafft, mit schrillem Gekreisch fünfstündige Wehen markirt, vor zwei verheiratheten Frauen, vor Amme und Hausarzt mit vollem Erfolg die müde Wöchne# rin gemimt. Am Kneiptisch, beim Ballskat würde der Richter solche Erzählung ins Fabelreich weisen. ^»Seit sieben Jahren schleicht das Geraun über ein Hintertreppendelikt durch die Leutekammem zweier polnischen Rittergüter: kein Wunder, wenn der Klatsch ins Riesenmaß wuchs. Laßt mich in Frie^ denl Einer Frau, die man genau kennt, sieht man, auch ohne den Bauchumfang zu messen und den Foetalpuls zu fiihlen, an, ob sie in anderen Umständen ist; meist ein ganz verän^ dertes Gesicht. Die Ausstopfung allein thut es also nicht. Wer diese Pantomimik so lange, ohne sich je zu vergessen, vor mißtrauischen Blicken durchfuhrt, könnte sich für Geld sehen lassen. Und nun gar die Puerperalkomoedie vor Amme
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und Arzt, das Schweineblut, der krakauer Import, — nein: lieber noch her mit dem Blumenmedium. Die nächste Runde!« In foro ists anders. Da schweigt der schlichte Menschenss verstand, das Unterscheidungvermögen schwindet und aus dem Dunkel taucht, nur von irren Hämmchen uralten Aber«» glaubens noch umzuckt, die Kolportagewelt mit all ihren Wonnen und Schrecken, ihren rosigen Engelchen und pech^ schwarzen Teufeln. Alles Menschliche wird fremd.
Kann tm Engel das Kind eines Teufels sein? Sicher; Hugo, Sue, D*Ennery haben mit solchen Kontrasten gern die Nerven gerüttelt und in den Groschenheften wachsen aus Misthaufen immer die weißesten Lilien. Auch dieses Schauspieles durften wir uns in Moabit freuen. Aniela An^ druszewska: eine Bestie; Jadwiga, ihr Töchterlein: die Zier jeder Menschengemeinschaft. Aniela hat das Kind nebst Zu«: j behör in Krakau eingehandelt, nach Berlin gebracht und auf dem Sterbebette die Tochter verpflichtet, dem Grafen Hektor das Furchtbare zu melden. Trotz dem Gelöbniß hat Jadwiga zwei Jahre gewartet und, nach erfüllter Kindespflicht, viel von dem großen Stück Geld geredet, das sie bekommen werde, bekommen müsse. Sie ist mit Hechelski, Hektors Spürhund, verwandt, hat mit seiner Hilfe ihr Beichtsprüch^ lein zu Papier gebracht; und brauchte, mit ihrem halb ein# gedrillten, halb wirren Geschwätz, ernsten Männern nicht die Zeit zu stehlen. Im Schwurgerichtssaal hat sie die Haupte rolle. Ungefähr Johannes vor Herodias und dem Tetrarchen. Was sie sagt, ist unzweifelhaft wahr, wer ihr frevelnd widere
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spricht, des Meineides dringend verdächtig. Kann gar noch festgestellt werden, daß Mutter Aniela im Januar 1897 vier, fünf Tage lang nicht in Wroblewo war, dann sind Kwileckis und Genossen verloren. Ein Schock Zeugen zu dieser hoch, nothpeinlichen Frage. »Die Alte war da.« »Die Alte kann weggewesen sein.« »Ich erinnere mich nicht.« Und wenn sie nun verreist gewesen wäre? Das hätte. Hoher Gerichtshof, auch noch nichts bewiesen. Das gab nicht einmal hinreichen^ den Grund zur Eröffiiung des Hauptverfahrens. Zu beweisen war, daß die Gräfin Wesierska^Kwilecka nicht geboren, in gewinnsüchtiger Absicht ein Kind unterschoben hatte. Wenn andere haltbare Indizien fehlten, bewies eine Reise der ^fTirth^ schafterin gar nichts. Und doch hätten die Geschworenen die Schuldfragen wahrscheinlich bejaht, wenn diese Reise ihnen glaubhaft gemacht worden wäre. »Gott, Gott, auf welchen Fundamenten ruht die menschliche Gerechtigkeit^ pflege I« Hebbels Wehruf soll nie verhallen. . . In der akui? stischen und optischen Wolke, die in heißen, von keuchen«« der, schwitzender Menschheit überfüllten Schwurgerichtssälen entsteht, wird jede Schalliming, jede Luftspiegelung möglich. Wie Alkoholdunst legt sichs um das Hirn. Als ich, schon in der ersten Woche, über den Inbegriff dieser Verhandlung leise zu lachen wagte, starrten die Nachbarn mich beinahe entsetzt an. Sie waren im Rausch; von Isabellens Schuld brünstig überzeugt. Später haben sie auch gelacht. Zu spät. Drei Viertel der Beweisaufnahme waren zwecklos, mindestens drei Viertel des Kostenaufv\randes nutzlos verthan. Als Isa
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sich fürs letzte Wochenbett vorbereitete, ließen die Verbünd deten Regirungen eine Strafprozeßnovelle scheitern, weil der Reichstag die Berufiinginstanz mit fünf, nicht, wie sie vorschlugen, mit drei Richtern besetzen wollte. Fünf: Das würde zu theuer, Ich glaube, daß die ergebnißlosen Prozesse gegen die Direktoren der Pommembank und gegen Kwileckis den preußischen Fiskus größere Summen gekostet haben, als der 1896 verweigerte Mehraufwand im ganzen Reich für zwei Haushaltsjahre verschlungen hätte. Und der Servilste selbst wird nicht sagen, dieses Geld habe den Ruhmesglanz deutscher Rechtspflege vor dem Blick Naher, Femer gemehrt. Un£süBbar, unbegreiflich wie ein Räthselbild aus weiten^ fernen Kulturen war mir der Eifer, den zwei Königlich Preußische Staatsanwälte hier aufboten, um vier Menschen ins Zuchthaus zu bringen. Zwei Männer, die als Private personen gewiß eines Spätzchens Flügellähmung mitleiden, ihrem Dienstmädchen nicht ohne zwingenden Grund einen Sonntagsausgang verbieten würden. Ich muß annehmen, daß sie von der Schuld der Angeklagten überzeugt waren. Doch konnte sich, mußte nicht in diese Ueberzeugung manchmal wenigstens ein Zweifel drängen? Berryer, nur ein Advokat, dessen Hilfe aber von Louis Napoleon und Ney, von Lamens« nais und Chateaubriand gesucht ward, und. Alles in Allem, ein Mann, hat gesagt: »U vaut mieux laisser dix coupables en liberte que de frapper un innocent.« Schien den Staats^ anwälten nicht einen Augenblick möglich, daß die Gräfin, der Graf, die Dienerinnen unschuldig seien? Niemals, beim
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Kaliber dieser ZeugenscKaar? Welche Prangerstrafe hatte sie schimpflich genug gedünkt, wenn, etwa in einem Meineids^ prozeß, diese Völker zur Entlastung Beschuldigter vorges< schickt worden wären? Caecilie Parcza. Jahre lang die Lusti« dime (so reden Staatsanwälte sonst oft von solchen Mädchen) eines Offiziers, der ihre Zärtlichkeiten bezahlt. Ein entmensche tes Geschöpf, das sein Kind (hier macht sich der Hinweis auf die Löwin und ihr Junges gut) fiir schnödes Geld ver» schachert, sich nie mehr drum kümmert und das Mutter:« gefuhl erst entdeckt, als wieder Geld zu verdienen scheint. Würde eine rechte Mutter, meine Herren Geschworenen, nicht hundertmal lieber auf alles Glück verzichten, als ihr Fleisch und Blut aus dem Glanz einer Grafenherrschaft in die dumpfe Bahnwärterhütte holen? (Die Barbara in Hebbels »Demetrius« ist wirklich aus edlerem StoflF als diese unheilige Caecilie.) Frau Ossowska. Eine Person, die, weil die Sache verjährt ist, schamlos gesteht, daß sie an einer Kindesunter<< Schiebung mitgewirkt hat, die auf Kassibern von den Sumi« men spricht, die ihre Aussage ihr eintragen wird, und der Gottes Finger das Schandmal auf die Stirn gebrannt hat. Jadwiga Andruszewska. Eine Hysterische, die nicht weitere kann, wenn ihre Textwalze abgeleiert ist; die von der eigenen Schwester des Meineides bezichtigt vrurde; eine Kreatur Hech# elskis, die auf das zu erwartende Sündengeld schon Schulden gemacht hat. Hechelski selbst, der als gewerbmäßiger Verleiter zumMeineid längstins Zuchthaus gehört. Und dieser Graf HekK tor, der, statt die Ermittlungen der zuständigen Stelle zu über»
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lassen» seine Agenten mit voller fiörse durch Europa ketzt und mit den feinen und groben Mitteln der Korruption für einen Vermögensvortheil ficht I Solche Zeugnisse, nebst Wasche fraubasereien und Hebammenklatsch, sollen den blanken Ehrenschild einer uralten Adels&milie, für die Standesge^ nossen, Prälaten und treue Diener die Hand zum Schwur heben, auch nur mit dem kleinsten Fleck beschmutzen? Nein, meine Herren, noch . . . Ungefähr so wäre es gekommen. Und nun kein Zweifel, nicht das leiseste Bedenken, wo vier Menschenleben auf dem Spiel stehen und das Schicksal eines Geschlechtes entschieden werden soll? Unsere Staatsanwälte sind nicht mehr im alten Wortsinn procureurs, deren Haupte sorge sein mußte, der Staatskasse möglichst viele Vermögens^ konfiskationen und hohe Geldstrafen zu bescheren. Auch Kläger in der Bedeutung, wie noch die Karolina und der ganze Parteiprozeß sie kannte, sind sie heutzutage nicht mehr, sondern auf dem Strafirechtsgebiet Vertreter der Staats^ hoheit und verpflichtet, die entlastenden Thatbestandsmerk^ male mit nicht geringerem Eifer als die belastenden ans Licht zu fördern. Warum sehen wirs so selten und müssen doch glauben, daß jeder Staatsanwalt seine Pflicht zu erfüllen sucht? Suggestion der Gewohnheit, die nur noch Nummern, nicht Menschen kennt und den Verdacht zur Gewißheit au& bläst? Beru&krankheit, wie die Bäckerbeine und die Phos^ phomekrose? In der »Rothen Robe« sagt der Schwurt gerichtspräsident zum Staatsanwalt: »Sie sind aufgeregt; ver# stehe; vor dem ersten Todesurtheill Das giebt sich mit der
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Zeit,« Mag sein. Aber im Fall Kwileclca, nach dieser Be^ weisaufhahme, nicht einen Blick auf die Fiüle des Entlastung^ materials, nicht ein armes Wörtchen, das die Unschuld der Angeklagten immerhin möglich erscheinen läßt? Statt ruhiger Abwägung der Ergebnisse in schrofEstem Ton die Behauptimg, jedem Juristen, jedem vemiinftigen Menschen sogar müsse sol^ eher Beweis zum Schuldspruch vollauf genügen? Den Verthei^ digem wird oft vorgeworfen, sie dienten der honorirenden Far^ tei, nicht der Wahrheit, deren Bettlerblöße zurHonorantenroUe nicht taugt. Die Geschmähten sollten in einer Jahresstatistik feststellen lassen, wie oft Staatsanwälte in der Hauptverhand:» lung die Anklage zurückgezogen oder mindestens im Schluß^ Vortrag die entlastenden Umstände nachdrücklich betont haben. Der höchste preußische Orden trägt das Motto: Suum cuique; und patriotische Schreiber betheuem, dieses Wort sei stets Preußens Wahlspruch geblieben. Bei Cicero, der es, wirklich, dreist noch vor Friedrich dem Ersten sprach, hieß es: Justitia in suo cuique tribuendo cemitur. Der Ur# Sprung scheint vergessen. Markus TuUius und Ulpian wer^ den nicht mehr gelesen. Noch heute aber ist das sichtbarste Wesenszeichen der Gerechtigkeit, daß sie Jedem das Seine giebt. Dröhnt Altmoabit nicht vom Wehgeschrei der Steine? Doch um nicht selbst in den eben gerügten Fehler zu fallen, muß ich auch hier die mildernden Umstände anfuhren. Als Instigator, als treibende Kraft, war Graf Hektor Kwilecki thätig. Ein ungemein gewandter Herr, der ohne Verletzung der Eidespflicht sagen konnte, er glaube, daß die Ermitt^
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iungen (die nach ^ranlcreich, Rußland, öesterreick nikrten und gierige Geschäftsleute Monate lang in Athem hielten) ihn nicht mehr als siebeni» bis achttausend Mark gekostet haben. Ein Mann, der mit Ansehen und klingendem Brustton selbst Staatsanwälten zu imponiren vermochte. Am siebenzehnten Verhandlungtag war er, nach siebenjähriger Spiirarbeit, sei^ ner Sache noch ganz sicher; am neunzehnten bat er der Gräfin die Verdächtigung ab, sorgte aber dafür, daß den Geschworenen die Abbitte erst nach dem Wahrspruch be^ kannt werde. Herzig, nicht wahr? Er hatte sich, recht plötzn lieh, von der Unschuld seiner Verwandten überzeugt und wußte, daß an eine Verurtheilung nicht zu denken war, wenn er die neue Ueberzeugung so offen wie zuvor die alte aus:» sprach. Das wäre ja aber ein Versuch zur Beeinflussung der Richter gewesen; und so was thut man doch nicht. Wurde die Schuldfrage von der Jury bejaht: dann konnte Hektor zu Isa sprechen: »Theures Weib, gebiete Deinen Thränenl Ich bat Dir gestern schon Alles ab«. Und zu den zürnen^ den Landsleuten: »An mir liegts nicht; ich habe Sehnen und Groll in des Lethe stillen Strom versenkt; aber so sind diese Preußen.« Glissez, poite, n'appuyez pas . . . Noch wichtiger war, daß nach den Ergebnissen der Voruntersuchung ge« lehrte Richter den Verdacht »hinreichend« gefunden und die Erö&ung des Hauptverfahrens beschlossen hatten. (Hoffent» lieh ändert die Strafprozeßreform die Bestimmung, wonach die »Nichteröffiiung« mit thatsächlichen und rechtlichen Gründen, die Eröffiiung nur mit der Feststellung hinreichen^
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den Verdachtes zu motiviren ist. Denn diese Bestimmung kann selbst gewissenhafte Richter auf den Gedanken bringen: »Ganz klar ist die Sache nicht; lehnen wir, mit ausfuhr«« liehen» also leichter anfechtbaren Motiven, die Eröffnung ab, dann geht der Staatsanwalt ans Beschwerdegericht und unser Beschluß wird am Ende noch aufgehoben; mag sich die Spruchkammer selbst Klarheit suchen.« Auf die ericennenden Richter drückt dann aber schon wieder die Thatsache des Er^ öftnungbeschlusses, gegen den es übrigens nicht, wie gegen die Ablehnung, ein Beschwerderechtsmittel giebt.) Und nun kamen noch die Sachverständigen. Herr Dr. Rosinski hält die Gräfin der That für fidiig. Herr Dr. Störmer glaubt nicht an die Entbindung. Der Titularprofessor Dr. Dührs^ sen, der, in der Stadt Olshausens und Gusserows, von StaatS)^ anwälten und höheren Reportern als »gynäkologische Autorin tat ersten Ranges« angestrahlt werden kann, ist beinahe sicher, daß Isa, die er 1903 kennen lernte, 18% nicht schwanger war. Beinahe sicher. Eine Leistung. Nur der greise Pro^ fessor Freund, der seit Jahrzehnten im Elsaß der belieb« teste Frauenarzt ist, sagt: Hier fehlt jede Grundlage für ein Gutachten, denn wir haben nur gehört, nicht gesehen, was vor sieben Jahren geschah; das Gehörte aber liefert jeden« üüs nicht den geringsten positiven Beweis gegen die Schwangerschaft und Geburt; und den Bereich der Ver« muthungen überlasse ich neidlos dem Kollegen Dührssen. Doch der alte Praktikus Freund ist ja von der Vertheidigung geladen. »Meikwürdig, daß die vom Vertheidiger geladenen
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Sachverständigen während der Hauptverhandlung nie anderen Sinnes werden.« (Merkwürdig: die von der Staatsanwalt» Schaft geladenen auch nicht; trotzdem Aktenkenntniß das mündliche Verfahren niemals ersetzen kann.) Die Vertreter der Anklage hatten also starke Stützen. Die stärkste in dem Schwurgerichtspräsidenten, Herrn Landgerichtsdirektor Leuschner. Der hätte auf Isas Schuld geschworen; £md des# halb jeden Entlastungzeugen des Meineides und der Begün^ stigung verdächtig; ganz imglaublich, daß Gutsinsassen, für die ein Ortswechsel ein Ereigniß, die Eisenbahnfahrt eine Lebenserinnerung ist und die in engen Raum zusammenge^ pfercht sind, heute noch wissen wollen, die 'VC^rthschafterin Andruszewska sei im Jahre 1897 vier, fiinf Tage weggewesen; durchaus glaublich dagegen, daß ein berliner Droschken^ kutscher heute beschwören kann, mit welcher Geberde ihm vor sieben Jahren eine Frau das Fahrgeld gegeben habe. Die aufinarschirende Edelmannschaft, der Propst, die Amme, Frauen, denen die Schwangere sich im Hemd gezeigt hatte: Alles unglaubwürdig oder bethört. »Wenn Sie nun aber hörten, unter dem Hemd sei ein Gummileib gewesen? Sie werden nachher einen Eid zu leisten haben I« Ueber allen Zweifel erhaben scheint aber, was Herr Hechelski und die Damen Andruszewska und Ossowska aussagen. Der Vor# sitzende fragt nach der Schnur die Anklage ab, sieht in jeder von diesem ehrwürdigen Schriftstück abweichenden Dar# Stellung die Absicht, zu »leugnen«, verbirgt seine Auffassung der Sache keinen Augenblick und beanstandet schließlich
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sogar noch in den Schlußvorträgen der Vertheidiger Sätze, die ihm nicht gefallen. »Das können Sie in dieser Allgemeine heit doch nicht behaupten.« »Ich muß bitten, die Sache nicht satirisch zu behandeln.« Und so weiter. Das Plaidoyer wenigstens pflegte bisher, so lange der Redner nicht den Anstand gröblich verletzte, vor Unterbrechung geschützt zu sein. Herr Direktor Leuschner ist vielleicht ein vortrefflicher Jurist. Sicher kein Psychologe; und zur Leitung solchen Exzesses ganz ungeeignet. Die Aufgabe, die der Vorsitzende nach der Strafprozeßordnung in der Hauptverhandlung zu bee wältigen hat, geht ja fast über Menschenkraft. Kein euro^ päischer Monarch hat ähnliche Macht. Der Präsident ist im Saal der Herrgott. Das läßt sich nicht aus Aktenbündeln lernen. Götter werden geboren . . . Leise, -* nein, doch lieber ganz laut muß es gesagt werden: Wir haben keine Richtertalente mehr; nicht die Männer, die mit modemer BiU düng und einer aus freier Anschauung erworbenen Kennte niß des Menschen und seines Erlebens das stolze Bewußte sein ihres majestätischen Berufes vereinen. Die nur Richter sein wollen und sich eher tothetzen ließen, als daß sie dem Nächsten, dem Belastetsten auch nur um Haaresbreite sein Recht verkürzten. V(^ haben arbeitsame Gerichtsbeamte, die »mit der Sache vorwärts kommen möchten«. Darum kennt das Volk auch keinen von ihnen, ist ihr Name ihm Schall und Rauch. Einst zog man auf der Straße den Hut vor Einem, der über Leben und Ehre des gefährdeten Bürgers allmächtig verfugt.
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Auf dem Holzstuhl des Gerichtsdieners sitzt, dicht neben der Thür, die den Großen Schwurgerichtssaal öfihet, fröh^^ lieh der weiße Knabe. Das Gedräng macht ihm inuner noch Spaß. Hinter der Thür wird inzwischen die Frage verhäng delt, ob seine Eltern ins Zuchthaus kommen sollen. Er lacht, räkelt sich kokett und giebt Bekannten gnädig eine Fatscb« hand. Weder Zweifel noch Sorgen. Und hat in drei Wo^ chen doch mehr gesehen, gehört, gewittert, als er in dreißig Jahren vergessen kann. Und wenn drinnen die Männer wollen (die rechts sitzen und ihn jedesmal so genau mustere ten, als er hereingeführt wurde), dann sieht er Wroblewo nie wieder und kommt zu Meyers ins Bahnwärterhüttchen, wo ein rachitisches Brüderlein nebst einem Brustkind seiner warten, und kann, da anderer Zeitvertreib fehlt, durch die schmale Fensterscheibe zugucken, wie Mutter, während Vater schläft, in starker Hand draußen die Signal&hne schwingt.
Als der Freispnich verkiindet war, jauchzte im Saal, jubelte vor dem Gerichtshaus die Menge. Begeisterung für die (schließlich nicht allzu saubere) Sache der polnischen Gräfin? Nein. Triebhaft sprach in Hunderttausenden das Gefühl: Hier war, in diesem Prozeß, Alles beisammen, was in unserem Rechtswesen greisenhaft ist, völlig unbrauch^ bar ftir die Formen modernen Europäerlebens; und diesen Prozeß hat der Staat verloren. Hurra 1 »Der Staat.« Wenn im rothen moabiter Palast ein Fenster geö&et war, muß doch mindestens ein Robenträger vernommen haben, daß
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des seltsamen Jubelrufes Sinn nicht war, den Sieg der Gräfin Isabella Kwilecka zu feiern.
Mischte Caeciliens Stimme sich in den Jubelchor? Durfte eine rechte Mutter daran denken» ihr Fleisch und Blut aus dem Glanz einer Grafenherrschaft in die dumpfe Bahn^ Wärterhütte zu holen? Hätte sie nicht hundertmal lieber für ihren Lebensrest auf jede Freude verzichtet? Diese Mutter that anders. Caecilie Farcza hat ihr Kind verkauft. Caecilie Meyer heischt es fiir sich. Im Bund mit den kwilczer Agna«« ten, die für das Majorat streiten, fuhrt sie gegen den Grafen Zbigniew Kwilecki einen Civilprozeß. Wird vom posener Landgericht abgewiesen; setzt beim Oberlandesgericht aber die Anerkennung ihrer Mutterrechte durch. Der am dreißig^ sten Januar 1897 auf dem berliner Standesamt als Joseph Stanislaus Adolf Graf Kwilecki angemeldete Knabe ist, nach dem Urtheil des Oberlandesgerichtes, das Kind, das Fräulein Farcza einem österreichischen Hauptmann geboren hat. Gräfin Isabella ist tot. Bleibts bei dieser Entscheidimg? Nein. Das Reichsgericht (dessen Fräsident dem Civilsenat vorsaß) hat das Urtheil aufgehoben und die Klage der Frau Meyer (mit einem Spruch von unbrechbarer Rechtskraft) abge^ wiesen. Der höchst merkwürdigen Frau Caecilie Meyer^Parcza, die dem Psychologen die wichtigste Gestalt dieser Tragik komoedie ist; in Ewigkeit bleibt. Sie will »weiterkämpfen«. Wofiir? Im Schwurgerichtssaal hat sie, im Advent 1903, nicht gewagt, zusagen: »Derals Joseph Kwilecki ins Personenstands« register geschmuggelte Knabe ist mein Sohn.« Nur Etwas
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von Glauben gestammelt. Ist seitdem aber unermüdlich. Sie hat das Kind» das sie ihrem Buhlen gebar, verkauft, sich me mehr darum gekümmert und das Muttergefuhl erst entdeckt, als wieder Geld zu verdienen war. Spricht und handelt sie wider besseres 'Wissen? Dann ist sie nicht unholder als manche Heldin des Pitaval. Glaubt sie selbst an ihre Muttern Schaft und will wirklich ihr Fleisch und Blut aus dem Glanz eines Grafenschlosses in die häßliche Bahnwärterhütte holen? Dann dürfte der Volksmund sie ein Ungeheuer nennen. Damit ers gut habe, hat sie den Kleinen verkauft. Nun hat ers gut; ist Grafensproß, Majoratserbe und kann, durch Fleiß und sparsame Wirthschaft, zum steinreichen Mann werden. Aber die Mutter gönnts ihm nicht. Unterschreibt Voll^ machten und läßt in ihrem Namen Prozesse fiihren, um den Jtmgen aus dem Wohlstand, der Adelsherrlichkeit zu drängen. Wo der Quell des natürlichen Gefiihles vergiftet ist, sickert kein reiner Tropfen ans Licht; und in keinem Land ver^ bürgter Rechtsnormen dürfte aus solchem Born ein Richter das Urtheil schöpfen. Kein durch Pflicht und Recht zu öffentlicher Wagung des Thatbestandes Berufener durfte dul^ den, daß der Toten, wie erwiesene Schuld, nachgesagt werde, was gegen die Lebende in zwei Lustren nicht zu erweisen war. Keiner übersehen, mit welchen Mitteln dieser Kampf geführt worden war; noch die Frage vergessen, ob die Gier, die ihn weiterfuhrt, nicht, auch wenn sie ungesättigt bleibt, das Leben eines Menschen, eines schuldlosen, zerrütten könne. Und ob ein Rechtszustand gut ist, der Solches erlaubt.
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MORITZ LEVY.
Konitz, die annsälige westpreußische Kreisstadt, hat im Jahr 1901, am sechzehnten Februarabend, ein die Gemüther der Mehrheit froh stimmendes Volksfest erlebt. Ein Mensch war Venirtheilt worden, vier Jahre lang im Zuchthaus zu faulen und, wenn er lebendig herauskommt, danach vier Jahre der biirgerlichen Ehrenrechte beraubt zu sein; ein jimger, noch nicht dreißigjähriger, bisher unbescholtener Mensch. Und seine Mitmenschen jubelten. Als der Verurthedte heulend zusammensank, lachten sie laut; als er abgeführt wurde, riefen sie ihm zu, man sei noch zu mild mit ihm verfahren, viel zu mild, denn eigentlich habe er zwanzig Jahre 21ucht^ haus verdient. Die so thaten, waren Christen und gewiß nicht weniger fromm als der Vorsitzende und der Staats^ anwalt, die den Lieben Gott recht oft in ihren Schwurt gerichtssaal bemühten. Doch stärker als das mitleidige Re# gung heischende Christengefiihl war in ihnen wohl der Haß gegen den Missethäter. Der war früher zwar im Städtchen beliebt gewesen. Eines jüdischen Schlächtermeisters Sohn, der dem Vater als Geselle half, beim Bierskat seinen Mann stand, durch gesellige Talente in der Kneipe und am Familien^«
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tisch sich hervorthat und von den Mädchen, auch den rein arischen, recht gern gesehen ward. Diese behagliche Stellung verlor er erst nach der Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter. Auf die Schlächterfamihe Levy wurde seitdem mit anklagendem Finger gewiesen; sie habe, hieß es, Ernst Winter in ihren Fleischkeller gelockt und, um sich Christenblut zu verschaffen, nach allen Regeln des Ritus geschachtet. Und als nun in einem der konitzer Prozesse Moritz Levy als Zeuge vernommen und gefragt wurde, ob er Winter gekannt habe, da schwor er: Nein, ich habe ihn nicht gekannt. Noch zweimal wurde er unter dem Eide danach gefragt; immer wiederholte er: Nein; es ist nicht unmöglich, daß ich mit ihm, wie mit vielen Gymnasiasten, einmal gesprochen habe, bewußt aber habe ich ihn nicht gekannt. Der Schlächter^ geselle wurde verhaftet, des dreifachen Meineides angeklagt und von den Geschworenen nach ganz kurzer Berathung schuldig gesprochen. Am Liebsten hätten die Konitzer illu^ minirt. Vielleicht thaten sies nur nicht, weil der Gerichtshof nicht auf das höchste zulässige Strafinaß erkannt hatte.
Die Berichte über die Hauptverhandlung waren lesens^ werth. Ein Kulturbild und ein Bild deutscher forensischer Sitten am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. In Konitz scheint den Gymnasiasten der Studentenrang eingeräumt worden zu sein. Da werden diese Knaben in Wirthshäuser mit^ genommen, zum Bier und zum Kartenspiel, da bändeln sie mit tmbescholtenen und bescholtenen Mädchen an und Niemand
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wundert sich, wenn er kört, daß Tertianer oder Untersekun^ daner in dichten Grüppchen allabendlich die Thür eines Näh:^ maschinengeschäites belagern, wo ein auflEeillend hübsches Ladenfräulein angestellt ist. Dieser Heldenschaar Flügelmann war Ernst Winter. Der körperlich sehr entwickelte, geistig zurückgebliebene Schüler soll mit Christen^ und Juden^ mädchen geschlechtlich verkehrt haben und den paar Winkel« prostituirten der Kreisstadt ein guter Kunde gewesen sein; sicher ist, daß er die Gewohnheit hatte, ein sittenpolizeiUch kontrolirtes Frauenzinuner auf der Straße zuerst zu grüßen. Ware er lebend je irgendeines Vergehens beschuldigt worden, dann hätte der Ankläger ihn wahrscheinUch einen &ulen, lüderlichen, moraUsch verkommenen Burschen genannt, der auf seines ehrbaren Vaters greises Haupt Schmach und Schande häufe. Nun ist er tot; und nun tauchte im Flaidoyer sein Schatten als der eines »unschuldigen Jünglings« auf. Dieses Flaidoyer war überhaupt merkwürdig. Die Freußen« feier imd der Hohe Orden vom Schwarzen Adler wurde darin erwähnt; Lord Roberts, der Hofgast, zwar nicht, aber um so öfter der Herrgott. Auch von sich selbst sprach der Erste Staatsanwalt ungewöhnlich viel. »Was in meinen beschei« denen Kräften steht, will ich versuchen, um dieses Verbrechen aufzuklären.« »Ich bin ein völlig tmparteiischer Mann und decke diese Dinge auf, gleichviel, ob sie von jüdischer oder von der entgegengesetzten Seite kommen.« »Ich führe eine kühne Sprache und weiß genau, daß ich alle möglichen An^ griflFe zu gewärtigen habe.« »Ich führe den Kampf mit re«
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gulären Waiffen, nicht gemeinsam mit jenen Schlachten^ bummlem.« »Die gegen mich und die Behörde gerichteten Angriffe, von welcher Seite sie auch kommen mögen, weise ich zurück.« ^»Ein Königlich Preußischer Staatsanwalt kennt keine Furcht.« Und so weiter. Kein Wort streift die dem Angeklagten günstigen Ergebnisse der Beweisaufiiahme; der Staatsanwalt muß sie also für unerheblich halten. Auch der Vorsitzende verbirgt nicht, daß er in Levy einen Schuldigen, schon Ueberfuhrten sieht. Es ist der selbe Landgerichts« direktor, der den jetzt Angeklagten als Zeugen verhaften ließ. Er hält die Vertheidiger fest im Zügel. Von ihrem Frage« recht dürfen sie nur den allerbescheidensten Gebrauch machen und jedes auf Wahrnehmungen, Eindrücke und Kritik deutende Wort wird ihnen als »nicht hierher gehörige Deduktion» abgeschnitten. Der Vorsitzende aber läßt die vor ihm sitzenden Laienrichter seine Eindrücke deutlich sehen. Dreier Zeuginnen Aussagen sind nicht zu vereinen. Zwei Judenfräulein beschwören, sie seien nie mit Winter und Levy zusammengewesen; ein christliches Dienstmädchen beschwört, es habe Winter und Levy in der Gesellschaft dieser beiden Jüdinnen gesehen. Alle Drei bleiben unerschütterlich bei ihren Aussagen. Nach langem Hin und Her fragt der Vorsitzende die Christin (nur sie), ob sie unter Anrufung des allmächtigen und allwissenden Gottes noch immer behaupten könne, die Wahrheit gesagt zu haben. Antwort: Ja. Wirkung auf die Geschworenen: der im Saal höchste Richter hält die Aus^ sagen der Jüdinnen für unglaubhaft. Winters bester Freund,
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der Gymnasiast Hans Boeck, wird vernommen und bekun^ det, er habe nie irgendeinen Verkehr zwischen Winter und Levy gesehen; Winter habe ihm, trotzdem sie Levy sehr oft trafen, auch nie angedeutet, daß er den Schlächtergesellen kenne. Dieses Zeugniß eines christlichen Schülers, einer der »unbefangenen kindlichen Seelen ohne Falsch«, auf deren Bekundungen der Staatsanwalt das Hauptgewicht legen möchte, ist der Anklage ungünstig. Der Staatsanwalt erhebt sich und fragt: »Können Sie bestimmt behaupten, daß Sie Winter und den Angeklagten niemals zusammen gesehen haben, oder wollen Sie sagen, daß Sie sich nicht daran er^ innem?« Der Schüler, der eben ganz bestimmt ausgesagt hatte, wird schon ein Bischen ängstlich, antwortet aber noch, er halte für ausgeschlossen, daß er jemals Winter mit den^ Angeklagten zusammen gesehen habe. Wieder fordert der Staatsanwalt eine ganz bestimmte Antwort; diesmal in schäri« ferem Ton. Durch das Hirn des verschüchterten Schülers zuckt der Gedanke, was aus ihm werden solle, wenn morgen vielleicht zehn, zwanzig Zeugen beschwören, daß sie ihn im Verkehr mit Winter und Levy gesehen haben. Er sagt nun: »Ich erinnere mich nicht mehr.« Das ist bequemer; ist un«» gefahrlich. Und nun resumirt der Vorsitzende: »Sie sagen also, Sie haben einen Verkehr zwischen Winter und Levy nicht wahrgenommen, geben aber die Möglichkeit eines sol^ chen Verkehrs zu?« Antwort: »Jawohl«. Jeder gewissen^ hafte Mensch müßte diese Möglichkeit zugeben. Die wich:^ tige, dem Angeklagten anfangs höchst günstige Aussage des
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dem Ermordeten befreundetsten Zeugen ist aber für den Entlastungbeweis nicht mehr zu brauchen. Als ein großer Theil der Belastungzeugen aufinarschirt ist, fragt der Vor# sitzende den Angeklagten, ob er unter dem Eindruck so vieler einwandfreien Zeugenaussagen nicht lieber ein oflFenes Geständniß ablegen wolle. Wirkung auf die Geschworenen: der Vorsitzende sieht den Schuldbeweis als geführt an.
Friedrich Hebbel schrieb einmal in sein Tagebuch: »In^ dem ich eben im Neuen Pitaval die Gräuelgeschichte vom Magister Tinius lese, drängt sich mir eine Betrachtung auf, die der Kriminalist, wie mir scheint, kaum genug beherzigen kann, '^e viel hängt bei solchen Prozessen von den Zeu« genaussagen ab, — imd bei den Zeugenaussagen wie viel von genauer Ermittelung und Feststellung solcher Dinge, über die vielleicht kein Mensch in Wahrheit etwas Bestimme tes anzugeben vermagl Wenn ich nun, zum Beispiel, über eine einzige der vielen Personen, mit denen ich auf meiner letzten Reise zusammenkam, ja, über einen meiner intimsten Freunde angeben solllte, zu welcher Zeit an einem gewissen Tage ich ihn gesehen habe, wie er bekleidet gewesen sei, und Aehnliches mehr: ich würde unfiihig sein, es zu thun.« Ein Spürergenie spricht. Solche Skrupel und Zweifel plagen die guten Konitzer nicht; weder Richter noch Laien. Ein Eid ist ihnen ein Eid und ihr Gedächtniß leistet mehr als das des Dichters der Nibelungen. Ernst Winter war fist ein Jahr schon tot. Noch am Tag der Verhandlung gegen Levy aber
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können einunddreißig Zeugen, Schüler, Lehrlinge, Hand« werker, Nachtwächter, »Höhere Töchter«, Dienstmädchen und Dirnen, beschwören, daß sie an dem und dem Tage um die und die Stunde den Gymnasiasten, der damals doch sicher nicht eine interessirende Persönlichkeit war, im Gespräch mit dem Schlächtergesellen gesehen haben. Kein Freund und kein Lehrer Unters weiß von solchem Verkehr, keiner hat je nur davon gehört, doch jeder muß die »Möglichkeit« zugeben. Und die Zeugen sind standhaft. Zwar haben sie anfangs, als sie von Kriminalkommissaren vernommen wurden, nichts von dem Verkehr gewußt; jetzt aber erinnern sie sich. Zwar giebt es in Konitz drei junge Leute, die Winter ähneln; aber die Zeugen sind doch nicht blind und ein Irrthum ist bei ihnen ganz ausgeschlossen. Zwar hat ein Gymnasialprofessor mit eigenen Ohren gehört, wie die Hauptzeugin auf oflFener Straße zu einem Bekannten sagte: »Wir müssen Moritz Levy meineidig machen.« Das war aber gewiß nur Mädchenge« schwätz. Ein Eid ist ein Eid; und wenn zwei Menschen über die selbe Thatsache unter dem Eid nicht genau das Selbe ausi» sagen, muß Einer einen Meineid geschworen haben. Das sei nicht nöthig? Jeder von Beiden könne seine Aussage in gutem Glauben beschworen haben? Und man müsse auch die Macht der Suggestion und das Walten der Phantasie wägen, besonders sorgsam in einer Stadt, wo zwei Fanatismen au& einanderstießen und nur Wenige sich die ruhige Klarheit des Auges bewahrten? Unsinn I Mit solchen modernen Schrullen haben wir nichts zu thun. Es giebt nur eine Wahrheit und nur
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einen allvdssenden, allmächtigen, aÜgütigen Gott. Zu Dem beten wir. Dem müssen wit helfen, damit der Verbrecher endlich gefaßt und bestraft wird. Wir sind überzeugt, daß Moritz Levy, wenn er nicht selbst der Mörder war, dem Mörder Beihilfe geleistet hat. Und diese Ueberzeugung hat unser Gedächtniß so gestärkt, daß wir uns jetzt ganz genau erinnern, Winters Verkehr mit Levy gesehen zu haben . . . Möglich bleibt, daß der Schlächtergeselle dreimal einen Meineid geschworen hat. Er und sein Vater war von den konitzer Judenfeinden des Mordes beschuldigt worden. Moritz konnte sich sagen: Gebe ich überhaupt zu, daß ich Winter kannte, dann bin ich, ist mein Vater verloren; dann schlagen die zornigen Christen uns auf oflFener Straße tot; oder, im besseren Fall, wird vor Gericht von uns der Beweis verlangt, daß wir Winter nicht gemordet haben. So schwor er ziun ersten Male. Trieb ihn zur strafbaren Handlung dann nicht »eine unwiderstehliche Gewalt oder eine Drohung, die mit einer gegenwärtigen, auf andere Weise nicht abwendbaren Gefahr fiir Leib und Leben seiner selbst oder eines Angei^ hörigen verbunden war«, und mußte er deshalb, nach dem zweiundfiinfzigsten Paragraphen des Reichsstrafgesetzbuches, nicht straflos bleiben? Als er zum zweiten und dritten Mal schwor, war er durch den ersten Eid gebunden. So kann es gewesen sein; daß es so gewesen ist: dafür geben die AuSf^ sagen der einunddreißig Zeugen dem modernen Kriminalisten nicht die geringste Gewähr. Wo aber sind diese modernen Kriminalisten? Sie schreiben dicke Lehrbücher, deuten den
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Studenten das geltende Recht und merken gar nicht» daß die Stra&echtspflege jeden Zusammenhang mit der ^ssenschaft und der Weltanschauung unserer Tage verloren hat. Wenn sie, statt am Schreibtisch zu sitzen, in die Gerichtssäle gingen imd hörten, wie »thatsächlich festgestellt«, argumentirt und judizirt wird, dann würden sie ihres Lebens Ziel nur in der Erfüllung der einen Forderung noch sehen: die Gerechtig^ keitpflege möge auf völlig neue Fundamente gestellt werden. Möge nicht femer »festzustellen« streben, daß die Thatbe^ Standsmerkmale allenfalls »zur Verurtheilung ausreichen«, sondern ein anderes Ziel, mit der Seele, suchen: die Fest» Stellung der Umstände, unter deren Einwirkung ein Mensch geworden ist und bisher gehandelt hat und deren unbefangene Deutung (nicht die Gewißheit zwar, doch) den guten Glauben festmörteln kann, daß dieser bestimmte Mensch in diese That schreiten, gleiten, straucheln mußte.
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FÜRST EULENBURG.
Genesis.
Vor zwei Jahrzehnten hörte ich aus Bismarcks Munde die ersten Urtheile über den Grafen Philipp zu Eulenbiurg, der 1891, als Nachfolger des Grafen Kuno Rantzau, zum Preußischen Gesandten in München ernannt worden war. Im Lauf der nächsten Jahre sprach Bismarck oft über den Mann, der am Tag der Entlassung des ersten Kanzlers dem Kaiser Stunden lang seine amusischen Balladen vorgelesen hatte und der dem Entlassenen der gefahrlichste Berather eines jungen, nach Bethätigungmöglichkeiten ausspähenden Herrn schien »Als Politiker nicht ernst zu nehmen. Als Diplomat auf wichtigem Posten nicht verwendbar. Aber sehr schicke lieh, belesen, liebenswürdig. Etwas wie ein preußischer Gag^ liostro. Augen, die mir das beste Frühstück verderben könn^ ten. Werden will er nichts ; weder Staatssekretär noch Kanz^ 1er. Die Zeitungen wissen da nicht Bescheid. Er denkt: L*amitie d'un grand homme est un bienfait des dieux (wie es ja wohl in dem Stück Voltaires heißt, das Napoleon in ErÄut vor dem Parquet von Königen auffuhren ließ). Mehr verlangt er nicht. Schwärmer, Spiritist, romantisirender
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Schönredner im Stil von Radowitz (Vater), der so geschickt den Garderobier der mittelalterlichen Phantasie des Königs machte. Für das dramatische Temperament unseres Kaisers ist die Sorte ganz besonders gfefährlich. Wenn er in der Nähe des hohen Herrn ist, nimmt Eulenburg Adoranten^ Stellungen ein. Meinetwegen ganz aufrichtig. Nützlich ist Anbetung Unsereinem aber nie. Sobald der Kaiser aufblickt, ist er sicher, dieses Auge schwärmerisch auf sich geheftet zu sehen. »Pater ecstaticus, aufr und abschwebend' : Faust letzter Akt Hier ists kein pater, sondern ein filius. Nicht Phili, sondern: fili. Einer von Denen, die mir das Geschäft stör^ ten, aber nie zu fasstn waren. Mit allerlei Mystizismus und Spuk hat er sich wohl mehr beschäftigt als mit Politik; im diplomatischen Examen hats gehapert« Auch auf das norm^ widrige Sexualempfinden des Mannes hat, zur Erklärung der besonderen Wesensart, Bismarck damals schon hingewiesen. Nicht wüthend, sondern ironisch; von ganz oben herab. Doch ungemein deutlich. Geheimrath Schweninger hat unter seinem Eid darüber gesagt: »Fürst Otto von Bismarck und sein Sohn Herbert haben das "^^rken Eulenburgs, namentlich auf dem Gebiete der Personalien und in der Rolle eines be^ freundeten unverantwortlichen Rathgebers, für unheilvoll ge^ halten und wiederholt auch von einer geschlechtlich abnorm men Veranlagung Eulenburgs gesprochen, die, verbunden mit einer Neigung ins Mystische, nebelhaft Schwärmerische, ihn nicht zum Vertrauten eines regirenden Fürsten qualifizire.« Eine höchst drastische Redensart, die Schweninger im Haus
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Bismarcks oft über Eulenburg gehört und vor dem ihm ver# nehmenden Richter, dem Staatsanwalt und dem Justizrath Bernstein bekundet hat, ist in das Protokol nicht au%enom^ men worden. (Hier ist zu erwähnen, daß Bismarcks Arzt nicht den geringsten Grund hatte, dem Grafen Philipp per^ sönlich zu grollen. Die Kunst dieses Arztes hatte in Eulen^ bürg (liih einen begeisterten Lobredner gefunden. Schon 1884 schrieb er an seinen homosexuellen Freund Fritz von Farenheid^ Beynuhnen: »Eine Anleitung für diätarisches Verhalten w&de Dir Keiner besser geben können als Dr. Schweninger, der dem Fürsten Bismarck im Lauf eines Jahres sechzig Pfund Körpergewicht entzog und ihn zu einem gesunden Mann machte. Ich bin mit Schweninger gut bekannt und wünsche sehr, daß Du seinen Rath hörtest Gern übernehme ich die Vermittlung dieser wichtigen Sache.« Er übernahm sie, nach^ dem der »geliebte Fritz« dem »geliebten, theuren Freund« gedankt und ihn »aufs Innigste umarmt« hatte. »Mit Pro# fessor Schweninger sprach ich lange Deinetwegen in Berlin. Er wird sich freuen. Dir seinen Rath zu geben, und hofit, Dir helfen zu können, wenn Du seine vorgeschriebene Diät befolgst. An dem Kanzler habe ich einen staunenswerthen Erfolg seiner Kur gesehen.« Farenheid antwortet: »Also Schweninger für immer I« Und Beide rühmen nun gemeine sam die Heilkunst des Professors. Mit diesem Arzt, der Philipp Eulenburg und dessen Freunde genau kennt und dem Grafen Kuno Moltke durch Heiyath verwandt ist, habe ich die ganze Angelegenheit mit all ihren Symptomen und
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Vdrkungen oft bis ins Kleinste durchgesprochen. Das ist durch beeidete Aussage erwiesen. Die Vierte Strafkammer hatte sich um diese Aussage, die ihr in protokolirtem Wort^ laut vorlag, nicht gekiunmert und mir in ihrem ersten Spruch, vorgeworfen, ich habe in strafbarer Leichtfertigkeit versäumt, Rath und Urtheil eines Arztes zu erbitten. Des juges . . .) Besonders bitter wurde Bismarcks Kritik, seit (1894) Eulen^ bürg als Botschafter nach V(len geschickt worden war. Auf diesen schwierigen, nach dem Verzicht auf den russischen Assekuranzvertrag doppelt wichtigen Posten passe er gar nicht; überhaupt nicht auf einen Platz ersten Ranges. Solche Plätze seien nicht nach persönlicher Gunst und Liebhaberei zu besetzen. Nach Wien gehöre ein erfahrener, nüchterner. Mann, der das zu reichlicher Repräsentation nöthige Geld und eine dem österreichischen Hochadel imponirende Frau habe, den dem alten Kaiser bequemen trockenen Ton treffe, sich vor phantastischen Sprüngen hüte und jedes TechteU mechtel mit Alldeutschen oder Tschechen, Polen oder Ma^ gyaren, mit allen Förderern einer deutschen Expansion ins Böhmische oder Türkische ängstlich meide. Mit seiner ttte de linotte, seiner komoediantischen Sucht, durch »Einfalle« an der maßgebenden Stelle Applaus zu finden, sei Philipp Eulenburg dort eine stete Gefahr. Geringes Vermögen; eine Frau ohne Salontalente; keine Ausdauer zu einförmiger Ar^ beit, der aller Reiz der Emotion und Sensation fehlt; und, als dem Kreis des Mystikers Rudolf Liechtenstein Angehp^ riger, Katholiken und Nationalisten ein Aergenuß. Man müsse
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sciion froii sein, wenns nickt wieder üble Nachrede von der Art der aus Oldenburg, München, Stuttgart gehörten gebe. »Unter den Kinaeden sollen ja ganz gute Feldherren gewesen sein; gute Diplomaten habe ich in der Sorte noch nicht ge^ (imden. Und ich kenne sie schon aus der Zeit, wo ich unter Brauchitsch als Auskultator beim Kriminalgericht gegen solche Leute eine Untersuchung zu fuhren hatte.« (»Die Verzweis« gungen dieser Gesellschaft reichten bis in hohe Kreise hin^ auf. Es wurde dem Einfluß des Fürsten Wittgenstein zuge^ schrieben, daß die Akten von dem Justizministerium tin^ gefordert und, wenigstens während meiner Thätigkeit an dem Kriminalgericht, nicht zurückgegeben wurden.« ,Gedanken und Erinnerungen/ Ob der Wunsch Wittgensteins hierbei wirksamer war als die Furcht, den Prinzen Heinrich von Preußen, den Sohn Friedrich Wilhelms des Zweiten, zu kom«« promittiren, oder ob Wittgenstein den Prinzen, den er vom Krieg her kannte, schützen wollte, ist heute nicht mehr festzu^^ stellen.) Gegen Philipps Ernennung zum Generalintendanten der Königlichen Schauspiele, die vor und während der Amts;: thätigkeit des Grafen Hochberg in Frage kam, hätte Bismarck nichts einzuwenden gehabt; für eine Botschaft fand er ihn unzulänglich. Und ich war so leichtfertig, dem vor meinem Ohr oft in kühlem Ton wiederholten Urtheil zu glauben. Ich las Einiges von den Skaldensängen, Märchen, Erzählungen des Graten; auch ein Drama. Durchschnittsdilettantenwaare. Ein peinlicher Gedanke, daß diese Kost dem regen Geist des jungen Kaisers kredenzt werde; daß er bei ihr in der
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Schicksalsstunde, die ihn von dem Reichsschöpfer trennte, Trost gesucht habe ; daß die KunstaufFassung des Farenheidr Zöglings, den ein nachgemachtes Medicäerflorenz das Ziel artistischer Kulturwiinsche dünkte, dem mächtigsten Deutschen das starke SchaflFen mit ihm Lebender verleide. Restaurirte Burgen, Puppenalleen, deren Glanzpunkte den schlechten Beministil geistlos wiederholen, Prunkceremonien, Aegir^ musik, politisch^religiöse Allegorien, ^^kinger mi^den Ge^ stalten eines Hadrian und Antinous nachgestiimpertem Emis pfindungleben, bunter Opemplunder auf Marktplätzen und Schaugerüsten : Das ist philischer Geschmack ; der Geschmack Eines, der vom Scheitel bis zur Sohle ein Theatermensch ist und oft der Hofschauspieler genannt ward. Mußte so auch der Geschmack des gekrönten Soldaten und Seemannes bleii« ben, der auf anderem Gebiet begierig nach dem Modernsten griff? Philipp Eulenburg war der erste nach Artistenstunss mung langende Mensch, der dem im Heim der Makartbou«: quets, der Talmirenaissance, der Kunstverkündungen der Werner, Hertel, Seckendorff erwachsenen Prinzen Wdhelm näher trat: und die frühsten Eindrücke sind aus einer empfanglichen Seele niemals leicht weg zu harken.
In das Jahr 1894 fiel der Feldzug des Hannoveraners Pol« storff (Redakteurs am Kladderadatsch) gegen die Trias Eulen«« burg^Holstein^Kiderlen, der den Namen des unschuldigen Ceremonienmeisters Lebrecht von Kotze umzüngelnde Ho& Skandal und die Entlassung des zweiten Kanzlers. Herr von Holstein wollte schießen, fand in Herbert und Henckel aber
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nicht die gesuchten Instigatoren; Herr von Kiderlen schoß; Graf Philipp Eulenburg, der Hauptangeklagte, rührte sich nicht: er wurde von der berliner Sittenpolizei schon damals den Männerfreunden zugezählt und mußte das Licht scheuen. Die an dem Briefskandal Schuldigen sind öflFentlich nie ge«« nannt worden; die Thatsache, daß die Niedertracht sich gegen die schöne Frau eines homosexuellen Hofherm richtete, konnte auf die Spur helfen. Am Sturz Caprivis hat Phili, wie Jeder weiß, mitgewirkt. Daß er ein paar Monate vorher über die Möglichkeit dieses Sturzes laut gestöhnt und den General von Hahnke als Caprivis tückischen Totfeind ver^ dächtigt hatte, sieht ihm ganz ähnlich. Blieb das Auswärtige Amt. Herr von Marschall, der in den Personalien der will^ £ihrige Erfiiller liebenberger Wiinsche gewesen war, schien ein Bischen verbraucht und schon durch seine Vorbildung und die immer präsente Zungenfertigkeit für das Innere (wo Boetticher nun doch locker wurde) besser geeignet als für das Internationale. Wer sollte dahin? Herr von Holstein dachte an Eulenburg (welches Unheil dieses Planes Gelingen herauibeschworen hätte, hat er bald eingesehen). Der wollte nicht. Wollte lieber der unsichtbare, unfaßbare Freund des höchsten Herrn bleiben; und bat in Karlsruhe Chlodvrig Hohenlohe, Holstein von diesem Gedanken abzubringen. Seitdem hatte Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein schlechte Zeit. Er wähnte sich von heimlich durchs Dunkel schleichenden Feinden bedroht, von Polizeiagenten umlauert; und die ihm ergebene Presse warnte täglich vor einer in der
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iFinsterniß thronenden »Nebenregirung«, die den Verantt? wortlichen den Weg in starke Erfolge sperre. Wo die Häupter dieser unheiligen**. Schaar zu suchen seien, Idbrte der Ertrag der landgerichtlichen Hauptverhandlungen gegen den Jour^ nalisten Leckert, den Polizeiagenten von Lützow, den Knu minalkommissar von Tausch. Der Kommissar sagte als be^ eideter Zeuge, er sei in der Sache PolstorflF dem Grafen Vhu lipp Eulenburg behilflich gewesen, der ihm, zum Dank dafür, in Wien den Orden der Eisernen Krone erwirkt, aber auch gebeten habe. Alles, was den Botschafter interessiren könne, brieflich zu melden. Als Angeklagter hat er hinzugefügt, ein Schutzmann seiner Abtheilung habe den Grafen Philipp oft besucht und Mittheilungen hin und her getragen. (Diesen Schutzmann hatte Graf Eulenburg als Matrosen auf der »Hohenzollem« kennen gelernt und als Diener an einen ihm aus der münchener Zeit als homosexuell bekannten Freiherm empfohlen.) Der Polizeiagent Lützow sagte aus, Tausch habe bei ihm Berichte bestellt, die an Eulenburg gingen und deren Inhalt der Botschafter dann in persönlichen Briefen dem Kaiser übermittelte. Graf Philipp wurde in beiden Prozessen beeidet und gehört; seine Aussagen lauteten:
Im Dezember 1896: Im Mai 1897:
»Ich habe absolut keine Be« Ich halte es durchaus nicht
Ziehungen zu Herrn von Tausch für unwahrscheinlich, daß ich
gehabt als ganz äußerliche, ge« Herrn von Tausch aufgefordert
sellschaftliche bei der Begegnung habe, mir zu schreiben; denn
im dienstlichen Leben. Ich habe ich habe mit ihm vertraulich
ihm nur einmal geschrieben; in verkehrt. Für den Laien hat ein
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freundlicher Weise für eine Auf» merksamkeit gedankt und gesagt, daß er mich vielleicht in Berlin sprechen könne. Schon damals hatte ich nicht die Absicht, Herrn von Tausch zu empfangen, trotzdem er mir »interessante Mit« theilungen* versprach; weil inter« essante Mittheilungen eines Po« lizeikommissars für mich unin« teressant sind, wenn sie mich nicht angehen.«
Kriminalkommissar ja ein ge# wisses Interesse. Man denkt sich, daß er alle Geheimnisse der Erde kennt. Deshalb ist es mir nicht unwahrscheinlich, daß ich ihm einmal gesagt habe: Wenn Sie Interessantes haben, theilen Sie es mir miti Das kann sich aber wohl nur auf das Interessante bezogen haben, was damals unser Leben mit sich brachte; die Reise Seiner Majestät des Kaisers und so weiter.«
Vor deutschen Gerichten lautet die Eidesformel: »Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde. So wahr mir Gott helfe I« Welche Aus^ sage Eulenburgs war objektiv richtig? Die zweite hörte der Kriminalkommissar vom Sitz des Angeklagten aus; er hatte nichts Amtliches mehr zu verlieren und konnte in der Ver^ zweiflung nach gefahrlichen Mitteln greifen. Im Dezember 1896 hatte der bedrängte, gebrochene Mann mich aufgesucht, weinend seiner Unschuld versichert und den Ursprung des ihn ump&uchenden Verdachtes erzählt. Ein Mächtiger mochte ihn verpflichtet haben, Herrn von Marschall auf den Preß^ dienst zu passen; der Agentenbericht, der dem Staatssekrei» tär eine den Oberhofmarschall Grafen August Eulenburg beleidigende Notiz zuschrieb, mußte den Gönner interessiren. Zwei Tage nach seinem Besuch wurde Tausch verhaftet und
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des Meineids beschuldigt. Nach seiner Freisprechung kam er wieder zu mir. Er hat mir Briefe von der Hand Wäldern sees und Philis gezeigt; der Botschafter spendete ihm darin die Anrede: »Mein lieber Herr von Tauschi« Den Erzähl lungen entnahm ich, daß es zwischen den beiden Brie& Schreibern Beziehungen gab (wie Bismarck immer vermuthet hatte); daß der Kommissar auch von dem Flügeladjutanten Grafen Kuno Moltke empfangen worden war; und daß Eulen# bürg mit Madais homosexuellem Nachfolger gut gestanden habe; unter dem nächsten Polizeipräsidenten sei er schon beobachtet, seien über ihn umlaufende Gerüchte notirt, Thatsachen, die zu einem (der Polizei recht unbequemen) Einschreiten zwingen mußten, aber nicht festgestellt worden. Das war im Sommer 1897. Nach dem Prozeß hatte der Botschafter über Gicht und Neuralgie geklagt und den Freunden von der Absicht gesprochen, den Widrigkeiten des politischen Lebens bald zu entfliehen. Er erholte sich aber und blieb. Im Herbst mußte Herr von Marschall, der ihm so lästige Zeugenpflicht aufgebürdet hatte, Herrn von Bülow weichen, der unter Hohenlohe mit ihm in Paris Sekretär ge^ wesen war. Um die selbe Zeit bewies Wilhelms Magyaren^ Verherrlichung (die den Kroaten Zriny zu Arpads Söhnen zählte, in der Hofburg verstimmte und die Schwierigkeit austro^ungarischen Reichsausgleiches mehrte), wie ungenügend der Botschafter den Kaiser informire. Das schadete ihm nicht. Auch nicht, daß er mit Kasimir Badeni zu weit gegangen war und bei mancherlei Anlässen in übles Gerede kam:
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durch die Rolle, die er im moltkischen Ehezwist spielte, und durch seine Neigung ins Okkultistische; durch den aufFal^ lend freundschaftlichen Verkehr mit seinem Sekretär Kistler; durch das Legat, das ihm, dem Vertreter einer fremden Großi* macht, Nathi Rothschild hinterließ. Nichts. (Der währet ewiglich, meinte Bismarck, der nicht immer fromm sprach, noch im letzten Lebensjahr, und nannte ihn den von Schillers Weisem gesuchten ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht). Am ersten Januar 1900 wurde er Fürst, am siebenundzwan^ zigsten Erbliches Mitglied des Herrenhauses. Als noch nicht Dreiundfiinfzigjähriger; ohne je politisch Nützliches geleistet zu haben. Der erste Kanzler ist nach drei Kriegen, drei Siegen (1871) Fürst und als Einundsechziger (im Sommer 1876) Erbliches Mitglied des Herrenhauses geworden. Altes und neues Preußen. Das war die Gipfelhöhe philischen Glückes. Im neuen Jahrhundert ging es bergab. Verfeindung mit den Herren von Holstein und von Kiderlen. Im Lenz 1901 muß der Bruder des Fürsten, Graf Triedrich Botho, aus der Armee scheiden, weil seine Homosexualität ihn in arge Händel gebracht hat; zugleich mit ihm gehen, der sel^ ben Noth gehorchend, Graf Fritz Hohenau, ein Sohn des Prinzen Albrecht aus dessen zweiter, morganatischer Ehe mit Rosalie von Rauch, und der Prinz eines herzoglichen Hauses. Schon wird auf die Brüder der Geächteten als auf nicht minder Belastete gewiesen. Im letzten Monat schreibt Richard Dohna^Schlobitten (der am selben Tag wie Philipp in den Fürstenstand erhoben und auf einer Hofjagd in Lieben^
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berg von dem ungeschickten Günstling Kistler verwundet worden war) als Rächer Hochbergs und seines Intendanz^ rathes Piersons den Brief, der mit der Anrede »Geehrter Filii« beginnt, ohne die winzigste Höflichkeitfloskel schließt und die Sätze enthält: »Du bist ganz einfach so verlogen daß es mir schwer auf das Gewissen fallen muß, einen sol^ chen Kerl in die Gesellschaft unseres geliebten AUergnädig^ sten Kaisers, Königs und Herrn gebracht zu haben« Vde Soll denn dieser groß und vornehm, vor Allem aber durchaus gerecht denkende Monarch von uns denken, wenn das Alles einmal bekannt wird? Und daß Dies geschieht, wenn Bolko mit seinem Pierson die Generalintendantur auf Seiner Majestät Befehl verlassen müssen, dafür garantire ich Dir. Es sind nur Deine innigen Beziehungen zu Eberhard und die alte, bis jetzt ungetrübte Freundschaft unserer Fami^ lien, welche mich vermocht haben, in dieser traurigen Sache noch einmal an Dich zu schreiben. HoflFentlich bist Du mir für diesen Entschluß dankbar. Ich kann nun einmal aus meinem Herzen keine Mördergrube machen.« In dem selben Brief wird festgestellt, daß Graf Hülsen#Haesler, der wegen seiner urberlinischen Derbheit von Fhili seit den wiener Militärattachetagen so oft bespöttelt ward, eine Angabe des Botschafters als Lüge erwiesen habe. Es ist nicht der einzige Brief dieser Art, den Eulenburg bekommen hat; nicht der schlimmste. Nach dem Empfang wurde er stets pünktlich krank. Diesmal half das Mittelchen nicht: er mußte, da ihm mit Strafmtrag und Immediatbericht an den Kaiser gedroht
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ward, dem Geheimrath Pierson demfithig abbitten. MeU leicht sickerte Etwas durch und gab ihm den Rest. Vielleicht schienen seine Berichte, die einem Kenner das Wort »Ope^ rettenpoUtik« in die Feder drängten, mit ihren hastig wech# selnden Romantikerplänen nachgerade doch gar zu abenteuere lieh. Er stöhnte zum Erbarmen über Arterienverkalkung, mimte den Sterbenden und schlich nach Liebenberg.
A. D. Zu rechter Zeit. Den Kruppskandal, der bald dae nach begann, hätte er im Bannkreis der wiener Spottsucht nicht überlebt. Damals sagte ich: »Der Urning ist nach moe demer AufFassung nicht ein Ehrloser, sondern ein Kranker; wäre es anders, dann müßten viele Diplomaten, Höflinge, gekrönte Herren -sogar ihre Häupter in Schande betten.« Sagte auch: »Im , Vorwärts' wurde die Legende der Grotta Azzurra (die widernatürlichen Geschlechtsakte, deren sich Krupp auf Capri schuldig gemacht haben sollte) ausführlich erzählt. Warum? Krupp war ein Großkapitalist, aber das 'Muster eines guten Arbeitgebers; und angeborene oder ere worbene Homosexualität hätte seinen persönlichen Werth nicht gemindert. Wäre er beschuldigt worden, seine Untere nehmermacht geschlechtlich mißbraucht zu haben, oder hätte er je den Chor der Keuschen gefuhrt, dann wäre die Ver# öffentlichung in einem Proletarierblatt leicht zu begreifen gewesen; dann mußte der Katze die Schelle angehängt wer# den. $o aber wars im schlimmsten Fall nach heute noch herrschendem Sittendogma eine «Familienschande, die der politische Gegner nicht auf den Markt zerren durfte. Doch
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der Redakteur des »Vorwärts* ist angeklagt. Der gute Gbube wird ihm, der an einen Wahrheitbeweis gewiß nicht mehr denkt, nicht zu bestreiten sein ; und es ist unanständig, einen An< geklagten zu schelten. Das Vernünftigste wäre, nach einer oflFenen, reuigen Erklärung das Verfahren einzustellen.» (Das zu bewirken, wurde ich damals von vier Prominenten der Sozialdemokratischen Partei mit dringendem Eifer gebeten; habe es, ohne daß die reuige Erklärung nöthig ward, erreicht, von den Meren überschwingende Dankreden gehört; und werde seitdem in der rothen Presse noch unfläthiger ge«t schimpft als zuvor.) Diese Sätze, die allerlei Gentlemen nach ihrem Augenblicksbedürfhiß flott umlogen, sollten meinen Thaten aus späterer Zeit schroflF widersprechen. Hundertmal ists gedruckt worden. Ist es darum auch wahr? Nein; wider besseres Wissen erfunden oder leichtfertig nach«: geschwatzt, ohne die Artikel, um die es sich handelt, vorher wenigstens zu lesen. Ich hätte das gute Recht jedes Meni* sehen, sogar jedes Marxisten, gehabt, in fünf Jahren eine Meinung zu ändern. Habe es im Urtheil über die Homoi* Sexualität aber nicht gethan. Niemals freiwillig die Ge^ schlechtshandlung eines Menschen ans Licht gebracht. Erst im Jahr 1908 habe ich die fürchterliche Verbreitung des Kii» naedenthumes kennen gelernt und, wie d«r Referendar Bis# marck, »die gleichmachende Wirkung des gemeinschaftlichen Betreibens des Verbotenen durch alle Stände hindurch« deut^ lieh empfunden: vor den Haufen der Drohbriefe aus nahen und fernen Städten; vor den Zeichen einer Kameradschaft
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die stärker ist als die der Ordensbrüder und Maurer, fester hält und über alle Walle des Glaubens, der Staaten und Klassen hinweg ein Band schlingt, die einander Fernsten, Fremdesten zu Schutz und Trutz in Brüderlichkeit vereint. Ueberall sitzen Männer aus dieser Sippe: an Höfen, in Armee und Marine auf hohen Posten, in Ateliers, in den Redaktionen großer Zeitungen, auf den Stühlen der Händler und Lehrer, der Richter sogar. Alle verbünden sich gegen den gemeinsamen Feind. Viele blicken auf den Normalen schon wie auf ein niederes Wesen von unzulänglicher »DiStp renzirtheit« herab. Tausende fühlen es wie Schmach und Rassengefahr; dürfen sich aber nicht regen, weil sie Einen in der Familie haben und »Rücksicht nehmen müssen«. Das hatte ich nicht gewußt. Seit ichs weiß, bin ich nicht mehr so duldsam gegen das endemisch gewordene Uebel, das die Pariser schon vor zehn Jahren le vice allemand zu nennen wagten. Habe es als eine Landplage erkannt. Noch aber kann ich die Sätze wiederholen, die ich 1907 schrieb: »Kranke soll man nicht strafen (die romanischen Gesetze thun es nur, wenn outrage public ä la pudeur festgestellt ist) ; aber dafür sorgen, daß die Dienstgewalt nicht zu Sexual«* zwecken mißbraucht, Knaben, Jünglingen, zu Gehorsam vers» pflichteten Männein nicht zugemuthet werden darf, von Ge^ schlechtsgenossenbeischlafahnlicheHandlungenhinzunehmen. Die Sache ist ernst. Mein Gefühl sträubt sich gegen die Vorstellung der ,Umingliebe'. Mein Verstand muß zugeben, daß Menschen von starkem Sittlichkeitgefuhl zu dieser Vas*
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rietät gehörten. (Manche freilich auch, die, weil sie von Juk gend auf Etwas zu verbergen hatten, von Jahr zu Jahr un^ wahrhaftiger wurden und schließlich, neben anderen Weiber«* merkmalen, auch die hysterischer Verlogenheit annahmen.) Soll man diese Menschen ächten? Das wäre unvernünftig und grausam. Darf man ihre öfiFentliche Propaganda dulden? Das wäre dumm und antisozial. Sie sind untüchtiger, doch nicht weniger ehrenhaft als wir Normalen. Die Geschlechts^ handlung ist der privateste Akt. Nur wenn sie ein natio^ nales oder soziales Recht antastet, darf der Fremde sie ent# Schleiern. War sie das Ergebniß freier Uebereinkunft, die wohlthätig wirkende Rechtsgüter respektirt, so ist sie öflFentir lieh hörbarem Urtheil entrückt. Ists auch das Geschlechtss» empfinden, das alles menschliche Wollen (arbt? Ich glaube: Nein. Wenn uns ein großer misogyner Künstler lebte, dessen Bildwerk den Leib des Weibes ausschlösse: wäre eine ausi« schöpfende Charakteristik seines Schaffens ohne Erwähnung seines sexualpsychischen Zustandes möglich? Wer ohne Fug eine Geschlechtshandlung ans Licht zerrt, ist ein Schwein oder ein Denunziant. Wer ohne Sittenrichterhochmuth, ohne den Schutzmann oder die Heuchelgendarmen herbeizuwinken, als Politiker oder als docteur es sciences naturelles, auf das normwidrige Geschlechtsempfinden einet mächtigen Gruppe hinweist, kann nützlich wirken. Frankreich hätte, unter dem letzten Valois, die Schrecken des rigne des mignons nicht erlebt, wenn es zu rechter Zeit gewarnt worden wäre. Und Heinrich der Dritte kannte den Kitt, der seine Freunde zu^
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sammenhielt. Dem Herrscher, der von solcher Gefiihlsperver^ sion nichts ahnen, die Blutfarbe des eng um ihn gezogenen Kreises nicht sehen kann, schuldet Jeder, der zußUlig dan von weiß, warnende Wahrheit." Da ist mein Standpunkt.
"Wir sind in der Kinaedenkultur schon so weit gekommen, daß die infamste Jünglingschändung mit dem Sexualabenteuer eines freien Paares auf eine Stufe gestellt werden darf. Auf abertausend Bogen ist gedruckt worden, ich habe politischen Gegnern durch die EnthiUlungen ihrer Geschlechtsakte den Sturz bereitet. Ein dummer Schwindel. Erstens hockten in dem Grüppchen keine »politischen Gegner«; überhaupt keine Politiker. Auch der HäuptUng war keiner. Er hat nie eine Sache gewollt; immer nur Glanz und Gloria für sich und seine Kreaturen. Gab sich vor den Nachbarn für einen Agrarier, in Privatbriefen für einen Liberalen aus; spielte in "Wien den katholisirenden Polenfreund und in Moabit den lutherischen Kulturkämpfer. Der mein politischer Gegner I Welche Politik vertrat er denn je ernsthaft? Vier Kanzler kannten und verachteten ihn als einen Geberdenspäher, Ge^ schichtenträger und Hofkomoedianten. Zweitens habe ich niemals irgendeine Geschlechtshandlung dieser Leute ent- schleiert, bis ich durch ihre dreisten Gerichtsprozeduren dazu gezwungen wurde. Vorher hatte ich ganz behutsam auf ihren Salonmystizimus, ihre Gesundbeterei, ihr in harter Zeit ge^ fahrliches Gewinsel und Geflöte hingewiesen; auch erst, als in den Bund der Vertreter einer fremden Großmacht aufge^ nommen worden war. Ein nationales Rechtsgut war ange^
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tastet. Wenn der Botschafter eines in Riistung lauernden Staates durch sein Verhältniß zu einer Königin, Maitresse, Ministerfrau die Möglichkeit zu ungebührlicher Einwirkung auf die Landest geschäfte fände, würde nur ein feiger Tropf dazu schweigen. Und bei uns sollten zwei alte homosexuelle Freunde in gefahr^ liebster Stunde den Verantwortlichen den Strom aus der Leitung schalten? Eine deutsche Schande ists, daß solche Frage nur ge^ stellt werden kann. Daß eine Bubenschaar sich er&echen durfte, Monate lang öflFentlich zu greinen, weil der Hohenzollemhof von fünf Männern befreit ist, die unter Ausnützung ihrer dienst«« liehen, geldlichen, gesellschaftlichen Macht Jahre lang den ekel«; sten Geschlechtsunfug getrieben hatten. Da war Anderes als der nach freier Selbstbestimmung vereinbarte Geschlechtsverj« kehr abnorm empfindender Männer: die listige Verführung argloser, dienstlich oder ökonomisch abhängiger Jünglinge. Gräuel, dessen Schilderung alten Soldaten, grauen Folizeiratten selbst das Blut in die Schläfen jagte. Was da ans Licht kam, kannte ich längst. Hatte den Thätem eine leise Warnung zuk gedacht, nicht den Schrecken persönlicher Infamirung; aus dem hellsten Bezirk sollten sie weichen, nicht in den Abgrund stürzen. Daß es dahin kam, ist nicht meine Schuld: die ihres Uebermuthes. Nur für das bis zum dritten Mai 1907 Geschehene trage ich aus freiem Entschluß die Verantwortung ; trage sie gem.
Qualis artifexl
»Ich war weder Soldat noch Folitiker, trotzdem ich im Regiment Garde du Corps gedient und hohe diplomatische
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Posten erlangt habe; im Grund meines Herzens war ich im^ mer nur Künsder und kann mich heute noch rühmen, der beste Führer durch die Kunstschätze von Rom und Florenz zu sein.« So (ungefähr) sprach Fürst Eulenburg als Ange# klagter vor dem Schvoirgericht. Daß er die römische Herr^ lichkeit, UfHzien, Fitti, Bargello genau kennt, ist nicht zu bestreiten; eher schon die Sicherheit seiner Werthung, an der das Farenheidbuch (»Fünf Jahre der Freundschaft«; Eulens» bürg hats im Jahr 1907 aus dem Buchhandel beseitigt) den Leser zweifeln lehrt, auch wenn die stete Antinoosschwärmei* rei ihn nicht auf schlimme Gedanken bringt. (Ein Beispiel. »Wie konnten Sie nur, mein lieber, theurer Ereund, errathen, daß es mein langjähriger Wunsch, ein sehr hoAiungloser Wunsch, war, diesen Antionuskopf zu besitzen? Diesen Kopf wunderbarsten Zaubers, von einem Liebreiz ohnegleichen, den der zarte, tadellos weiße Marmor mit tausendfachen Reizen schmückt!« Und Fahrenheid, der den Gedanken, mit Philipp zu reisen, »traumhaft schön« nennt, schreibt: »Möge auf uns der ganze Griechenhimmel lächeln und die anmuthig^ sie Göttin ihre schönsten Gaben spenden I Von Herzen um^ arme ich Siel Sie haben mich mit einem Sonnenschein von Liebe und Freude überschüttet; mein ganzes Sein schlägt Ihnen voll entgegen im Zusammentönen unserer wahren und tiefen Lebensakkorde I Wie hat mich Das beglückt, was Sie mir, theurer, lieber Freund, über den Antinous sagen! Ein Mysterium sehnsuchtreicher Liebe. Sie lieben ihn so innig, daß er Ihnen reiche Gewährung zollen wird.«) Den Künste
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1er dürfte gewissenhafte Kritik nur gelten lassen, wenn er nie laut gesprochen hätte. Er thats. Ich will zwei £tist un^ bekannnte Gedichte anfuhren, die in Stamberg entstanden und, als Gelegenheitpoesie im goethischen Sinn, das Per^ sönlichste aus den Hüllen der Konvenienz schälen müßten. Ein Freund Philipps hat sich erschossen: Konstantin von Dziembowski, Hauptmann in der sächsischen Armee. »Ein dunkles, grausames Geschick endet gewaltsam das Leben eines Freundes, den ich unendlich lieb gehabt habe und mit dem ich drei Jahre meines Lebens unzertrennlich ver^ bunden war.« Der Ueberlebende versucht, den Entwicke^ lungsgang des Freundes zu schildern, und schreibt an Fahren^ heid: »In einigen Tagen ist die Arbeit vollendet. Ich theile Dir daraus ein paar Verse mit; Dir, der Du so namens lose Qiialen durch den Verlust Deines Herzensfreundes littest, der dem gleichen dunklen Verhängniß zum Opfer fiel. Du wirst den Gedanken dieser Verse inniger erfassen als Andere! Möchten sie Deinem verwundeten Herzen wohlthuni
Wenn heilige Ströme der Liebe Im Herzen quellen und gehn, Was wollen die dunklen Gestalten, Die an ihrem Ufer stehn?
Sie neigen sich über das Wasser Und senken tief in die Fluth Der neidischen Zauberblicke Dämonische Sehnsuchtgluth.
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Sie wachen im schwarzen Gewände 'Wie Wächter im Totenhaus Und breiten wehende Schleier Still über die Wellen aus.
Doch leise schimmern die Wasser Tief unter der Schleier Nacht, Sie schimmern und flimmern und blinken In süßester Liebesmacht
Und richten die schwarzen Gestalten Auch dunkle, grausige Wehr: Die heiligen Ströme der Liebe, Sie rauschen ins ewige Meerl«
Die Verse lassen freilich das »dunkle Verhängniß« ahnen, dem der Freund »zum Opfer fiel«. Ist dieses Gefiige tönen^ der Worte aber Poesie? Ich habe» spricht Goethe, »in meiner Poesie nie aflFektirt. Was ich nicht lebte und was mir nicht auf die Nägel brannte und zu schaffen machte, habe ich auch nicht gedichtet und ausgesprochen«; Philipp schreibt: »Die Mittheilung so schmerzlicher Eindrücke ist mir unüberwind# lieh peinlich. Ich kann ^^^se stilisirte Wiedergabe von Her^ zenskummer kaum ertragen!« Stilisirt und versifizirt ihn dann aber con amore schluchzend weiter. Das zweite Gedicht trägt die Widmung:
Seinem lieben, theuren Fritz zugeeignet. Kennst Du es wohl, das wunderbare Zwingen, Das gleiche Menschen zu einander führt? Das weihevoll, geheimnißvolle Klingen, Wenn unser Herz sich seinen Freund erkürt?
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Das ist wie Sehnen tief im Waldessckatten Und wie Verstummen vor der Sterne Licht. Als wenn aus Abendtönen, gluthensatten, Ein Flammengruß der ewigen Heimath bricht
Dem ewig Schönen und dem ewig Guten Gehören Herzen, die sich treu erkannt — Denn in uns flammen goldne Sonnengluthen Aus einem ewig hellen Vaterland!
Die Reime werden gewaltsam herbeigezvoingen und auch Etwas wie ein Rhythmus stellt sich ein. Nur kitzelt den Leser das Epigramm Grillparzers (der, Ihr Prüden, von Pktens Kehri^ und Rückseite gesprochen und Wagner den Lolo Moni* tez des neuen München genannt hat): »Ob Längen sich und Kürzen in rechtem Maße mengen, kann ich entscheiden nicht: für mich sinds lauter Längen.« Und so schreiben sie Alle; in Vers und Prosa. Alle, denen nicht, wie Platen und Vdlde, ein Gott gab, in eigenen Lauten ihr Leid auszusprechen. Farenheids Antwort: »Dein Grüßen tönte mir wie wundere bare, mystische Musik herüber und ich empfand ein inniges Zusanmienstimmen der Geister. Ich lenkte meinen Lebens^ nachen zu dem Deinen, der mir entgegenglitt; und begeg«* neten wir auch wohl mancher dunklen Wolke, mancher dunklen Klippe, die drohend vor uns lag, so mußten sie doch schnell dem lichtenHimmelsbogen weichen, derseinenheiterenSonnenglanz bald durch das weite Firmament entgegenstrahlen ließ. So trei^ ben neben einander unsere Lebensnachen. Vor uns das wunder^ bare Leuchten der Sonnengluthen, das ferne Grüßen jenes
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Vaterlandes, wo die Sehnsucht getröstet wird und ein heiliger Friede die geängstete und gequälte Brust durchzieht. Du sollst mir fiir den Rest meines Lebensganges die Lebensblume sein, die ich um so lieber, um so treuer pflegen werde, je inniger und reicher die Vertiefung ist, welche unser Freunde schaftverhältniß in meiner Seele so hofihungreich entzündet. ,Denn in uns flammen goldne Sonnengluthen aus einem ewig hellen Vaterland!'« Ueber diesem Vaterland wölbt sich der Griechenhimmel; es ist das Hellas der klassischen Zeit, das, nach Nietzsches Wort, »eine Kultur der Männer« hatte. »Die erotische Beziehung der Männer zu den Jünglingen war in einem unserem Verständniß unzugänglichen Grade die noth^ wendige, einzige Voraussetzung aller männlichen Erziehung (ungefähr wie lange Zeit alle höhere Erziehung der Frauen bei uns erst durch die Liebschaft und Ehe herbeigeführt wurde). Aller Idealismus der Kraft der griechischen Natur warf sich auf jenes Verhältniß; und wahrscheinlich sind junge Leute niemals wieder so aufmerksam, so liebevoll, so durchs aus in Hinsicht auf ihr Bestes (virtus) behandelt worden wie im sechsten und fünften Jahrhundert. Je höher dieses Ver«:. hältniß genommen voirde, um so tiefer sank der Verkehr mit der Frau. Die Weiber hatten weiter keine Aufgabe, als schöne, machtvolle Leiber hervorzubringen, in denen der Charakter des Vaters möglichst ungebrochen weiterlebte, und damit der überhandnehmenden Nervenüberreizung einer so hochent«; wickelten Kultur entgegenzuwirken.« Wollte die Natur einst (daran zu zweifeln, muß erlaubt sein) diesen GefUhlsstand,
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so will sie ihn heute, unter unserem Himmel, gewiß nicht mehr. Ein Grieche hätte nicht über das »dunkle Verhänge niß« gestöhnt, das ihn zum »gleichen Menschen« trieb; wäre auch nicht dieses Verhängnisses Opfer geworden. Von den Varietäten des Geschlechtsempfindens wissen wir noch immer nicht viel. Glauben aber, zu wissen, daß in beiden Geschlechts tem Bau und Leben des Charakters durch einen Hauptzweck determinirt ist: durch die Pflicht, die Gattung zu fördern. Wo dieses Telos fehlt und, wie in urchristlicher Zeit, ein frommer Wahn das Hindämmern, Hinsterben der müden Menschheit ersehnt, kann Keuschheit das Ideal sein. Wo das Gedeihen der Gattung das höchste Ziel ist, muß die Sexuai^ lität als die unter allen Koordinaten wichtigste gelten. Bei^ greift endlich (wenn Ihr nicht taub sein wollt), daß Einer, der von Sexualität spricht, nicht an Handlung noch gar an Verfehlung zu denken braucht; daß Sexualität die stärkste Wurzel des Wesens ist und jeder Lebensregung, dem Thun und dem Sinnen, dem Willen und der Vorstellung, Form und Farbe giebt. Daß eine Menschengruppe von normwii^ drigem Geschlechtsempfinden sich auf dem Gipfel des Staatsi^ gebirges nicht festnisten darf Und daß der Mann, dem, in dem krankhaften Streben, ungestehbares Leid wenigstens den Schicksalsgenossen anzudeuten, eine gebildete Sprache zu leidlichen Versen verhilft, noch kein Dichter ist.
Hier ist ein Wort über die Freundschaft zu sagen, die Fürst Eulenburg vor drei Gerichtshöfen als den herrlichsten Besitz der Germanenwelt gepriesen hat. Der Superlativ mag
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hingehen (obwohl er die Frau nicht freuen wird). Ist das Gefühl, das in Eulenburgs Briefen und Reimereien keucht und schreit, schwatzt und kost, aber das gesunder, männli# eher, gar das germanischer Freundschaft? Seit wann will die Sitte, daß deutsche Männer einander anhimmeln, ihre Ruf# namen ins Zärtlichi^Niedliche kürzen, den fernen Freund »meine Seele«, »mein Alles« nennen, einen Thronenden, dem sie sich befreundet fiihlen, als »Liebchen« bezeichnen, sich in ein Antinoosglück träumen und die Feder in die Verheißung »warmer Umarmung« abirren lassen? Das ist der Ton der Liebe; und in allen Formen schlüpft denn auch das Wort durch den Briefivechsel und das Gedichte dieses Kreises. »Mein Guter«, »mein Theuerster«: auch der alte Goethe hat an die paar Menschen, die er sich nah komimen ließ, manchi^ mal so geschrieben; Zelter, als dessen Stiefsohn sich getötet hatte, sogar als den »geliebten Freund« angesprochen. (Nur achte man auf die Tonfarbe des ganzen Briefes. »Du hast Dich auf dem schwarzen Probirstein des Todes als ein echtes, geläutertes Gold aufgestrichen. Wie herrlich ist ein Charaki^ ter, wenn er so von Geist und Seele durchdrungen ist, und wie schön muß ein Talent sein, das auf einem solchen Grunde ruhtl« Selbst der »Geliebteste« könnte da nicht aufiEallen. Wer den Unterschied nicht merkt, ist mindestens halb taub.) Einen ruhigen Freund wünschte sich Iphigeniens Schöpfer; und hat in langem Erleben nicht oft einen gefunden. Der Herr von Liebenberg fand ihrer Dutzende, in allen Zonen internationaler Geselligkeit; und jeden, Grafen und Fischer,
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Mimen und Matrosen, hat sein Mund geduzt, sein Gruß zarti^ lieh gestreichelt. Nur an Jiingferchen kannten wir solche Freundschaft; nur sie sahen wir, wie Shakespeares athenische Mädchen, zu einer Doppelkirsche zusammenwachsen (seeming parted, but yet a union in partition); »dem Scheine nach zwei Körper, doch ein Herz«. Die Freundschaft reifer Männer glaubten wir durch ein unübersteigliches, fest verschlossenes Gitter von den Bezirken der Liebe getrennt. »Welch ein Untere schied zwischen Freundschaft und Liebe! Die eine ein schöner milder Herbstabend von gesättigtem Kolorit, die andere ein schaurig entzückendes Frühlingsgewitter; die eine die Idare und reine Harmonie, die andere das geisterhafte Klingen und Rauschen der Aeolsharfe, das ewig Un£»ßbare, Unaussprech^ liehe; die eine ein lichter Tempel, die andere ein ewig veri^ hüUtes Mysteriimi.« So stehts in Hartmanns »Philosophie des Unbewußten«; und ungefähr so hats jeder gesunde Mann empfunden. Erst wenn die Sinne mitsprechen, wenn eine erotische Wallung den Blutlauf beschleunigt, wird die Schwäri^ mergemeinschaft, die Brautstandsekstase, das Sehnen nach Hingabe, Hinspreitung möglich, die wir in der philippischen Literatur finden. Im Dorerlande des Wahnes, die Stammes^ tugend werde von dem liebenden Mann in der Umarmung auf den geliebten Jüngling übertragen, mochte mans Freunde Schaft nennen. Wers in Deutschland heute so nennt, schän# det in einem Athemzug zwei blühende Provinzen im Reich männlichen Gefühls. Freundschaft fordert Wahrheit; der Lie# bende langt gern nach holdem Trug. Ein Unwahrhaftiger
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kann bis zur SelbstvergessenKeit lieben ; niemals wird er ein Freund» der in ^^rbelstiirmen die Nothprobe besteht.
Eulenburgs Briefe sind nicht schlecht. Ein Bischen schwül« stig; im Stil pretiöser Damen, die im Hotel Rambouillet in der hintersten Reihe saßen« Manche Bilder sind abgeguckt; manche gehen nicht zusammen, wie die Maler sagen. Und die Intern punktion ist merkwürdig mangelhaft. Immerhin: mehr Talent fUrs Schreiben als &a Politik. Da hats schon im Examen gehapert; und später fehlt es an Sitzfleisch und Ernst. Auch an Kenntniß der geschichtlichen Entwickelung, an Erkennt» niß des aus dem Kreis der Möglichkeiten vom nächsten Be# dürfiiiß Empfohlenen; des just Nothwendigen. Poesie, Musik, Spirits, Antinouskult, Indermagie, Germanenmythos, Gesundi» beterei, Edda und Eddy: Das irrlichtelirt und stümpert durch alle Künste hin, alle Kulturen, holt sich die Reichskleinodien der Mythenheimath zum Spielzeug und pfuscht, wenn die Glocke zum Dienst ruft, zwischen einer Seance und dem Besuch eines schlanken Buhlen, auch in die Politik hinein. In Müni» chen, als junger Dachs unter Werthem, mags genügt haben. Doch er hat, leider, nicht zugelernt. Als Gesandter schuf er sich, in Oldenburg und im geliebten München, selbst Schwierigkeit. In beiden Städten umspann ihn auch schon das Sexualklatsch« gewebe. Als Botschafter in Wien : unmöglich. Taktfehler, Miß« griffe, abenteuerliche Pläne, die von Wedel und Lichnowsky mit sprachlosem Staunen aufgenommen wurden und den zu romantischer Politik gar nicht gestimmten Holstein zwangen, mit schroffer Wendung sich von dem Skalden zu lösen.
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V.
In dem Brief, den er am siebenzehnten Juli 1886 an Faren# heid schrieb, ist ein beträchtliches Stück seines Wesens zu wittern. Nach König Ludwigs Tod hat er in Liebenberg Ruhe ge# sucht, statt den »geliebten, theuren Fritz« in Beynuhnen ans Herz zu drücken. Halsentzündung. »Ich mußte entsetzlich leiden«: der übliche Superlativ. Er kehrt nach Stamberg zurück, wo seine Frau im Wochenbett liegt. Das Königs^ drama hat ihm »unerhörte Aufregungen« gebracht. Fritzens Schwester aber einen »herrlichen Brief« über sein Gobineau^ büchlein geschrieben. Unerhörte Aufregungen; die Frau, die stets gütig verzeihende Familienmutter aus dem schwer dischen Haus der Grafen von Sandeis, vier Tage nach der Entbindung. Doch in dem Brief an den geliebten, theuren Freund wird der Fischer Jakob Ernst nicht vergessen. »Mein Fischer.« Der hat ihn an Ludwigs Todesstätte gerudert (just an die Stätte, wo dieser unselige König erstickt war). Rudert ihn täglich hinaus. Und vom Strandfenster eines Prinzen^ palais sieht durchs Femrohr Einer, was die Beiden im Boote treiben. Allzu deutlich. Ein Mann ohne Nerven; trotz der Wehleidigkeit. Das Gewissen hat dieser Enkel Samuels von Hertefeld sich früh weggedrillt. Sonst fände er sich zwischen der Frau, den Freunden und seinem Fischer nicht so leicht zurecht. Schritte er nicht gerade aus Jakobs Kahn ans Lager dieser Königsleiche. Rüstigen Fußes. »Ich fühle mich uni^ gleich wohler, körperlich und geistig, als im vergangenen Jahr«: elf Tage nach den »entsetzlichen Leiden«, drei Wochen nach den »unerhörten Aufregungen« schreibt ers. Worte;
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immer Worte nur. Mit seiner dienstlichen Leistung ist er »nicht unzufrieden«. Wars nie; auch wenn der Gnädigste derb den Kopf geschüttelt hatte. Und den Politiker, der »die unglaublichste aller Katastrophen der Neuzeit« erlebt, den Gatten, den verfriihte Wehen in eine fast zu enge Wochen^ Stube gerufen haben, unterbricht geschwätzig stets wieder der homme de lettres. Daß der Bayemkönig nicht warten konnte, bis das Drama »Seestem« vollendet ward! »Ich war bei bester Stimmung und Disposition.« Nun kommt der letzte Akt dran. Und eine Novelle. »Eine Aufzeichnung meiner Erlebnisse bin ich im Begriff zusammenzustellen.« »Ein neues Balladenheft bin ich im Begriff zusammenzustellen.« Ist Dieser noch echter Empfindung fähig? Hat er nicht nur entlehnte Gedanken, Gefühle? L*esprit d*autrui, das Mimenvermächt^ niß? Ein ungemein begabter Schauspieler; Tragoede, Ko# moede: je nach Bedarf. Keine Persönlichkeit (auch nicht in seiner nordischem und südlichem Muster nachgeahmten Literatur und Komposition, die gedruckt und gekauft wurde, weil ein alter Preußenname sie deckte). Keine Eigenwärme. Noch die überschwingende, übersprudelnde Rede fiihlt sich eiskalt an; funkelt manchmal wohl (von geliehenem Glanz), wärmt aber me. Das Auge will eines Schwärmers scheinen und erinnert doch ans unheimliche Glotzen stächet^ liger Raubfische; »Augen, die Einem das beste Frühstück ver# derben könnten«, sprach der Feinschmecker in Friedrichsruh. Und meinte Diesen, als er das Wort vom Hyänenauge über den Tisch warf. Der hat nie eine Sache um ihrer selbst
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willen betrieben. Nie eine Sache» ins Allgemeine fortwir^ kende That gewollt. Immer nur sich ; seinen Vortheil.
Den fand er im dichtesten Nebel. Den erspähte er über Ozeans Weite hin. Juli 1886. Noch lebt der alte Kaiser mit seinen Soldaten. Der Kronprinz strotzt von männlicher Kraft. I3t Graf Philipp, der überall Fädchen anknüpft» oben und unten, auch hier schon im Esoterikergeheimniß? Verrieths ihm ein Magiermenetekel? Er heftet sich an den Herrn der Zukunft: imd ist, mit seinen Amuseurkünsten und Amateure Wissenschaften, mit seinen mannichfachen Hofinannstalenten, der Weisheitallure und Schwärmerekstase, dem darbenden Thatendrang willkommen. Ein Idealist. Draußen fröstelt man in all der Realpolitik. Im Elternhaus gehts gar zu englisch nüchtern zu. Rationalismus und kein Endel Auch einmal die Probe von dem Gegentheil. Von Farenheids Skulptureni^ Sammlung, Gobineaus Rassentheorie, Baligands Wagnerver^ einssektion, Dömbergs Erlebniß in Japan, Liechtensteins Geistercitirungen wird erzählt; Dziembowskis »unbeschreib^ lieh liebenswürdiges« Wesen als Polenerbe erklärt; eine Wikin^ gerballade, ein Rosenhed vorgetragen; über Architektur ge^ plaudert; ein Schatten beschworen. Wit ein zwischen Briten« fräuleinromane geschleuderter Band Hugo oder Dumas wirkt es hier: der Wunderhof thut sich auf; Monte Christo steigt aus der Gruft in den Nachen. Graf Philipp war in Afrika. Hat von den Heiligen Stätten eine Reliquie in die hertefek dische Kunstherberge heimgebracht. Ueberreichlicher Stolt ftir dienstfreie Stunden. In Schlobitten oder Pröckelwitz hat
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Eberhard Dohna ihn dem Prinzen Wilhelm eril^Tohlen. Der
lädt ihn nun nach Reichenhall. »Der Prinz zeichnet mich
durch Vertrauen aus und es macht mich stolz und glücklich,
daß dieser herrliche Mensch Ge£allen an mir findeti Ich hoffe
für Preußens Zukunft unendlich viel von ihm. Seine Klarheit,
seine Energie und der Reiz seines unbeschreiblich eigenartigen
Wesens machen ihn zu einer ganz außergewöhnlichen Er
scheinung. Er hat enthusiastische Freude an meinen nordischen
Balladen und mir die Ueberraschung bereitet, eine meiner
Balladen, »Atlantis', zu illustrirenl Er hat ein schönes Talent
für die Malerei.« Schnell muß der geliebte Fritz Alles hören.
Der Psychiater spricht:
»Eine eigenartige Umwandlung der geschlechtlichen Neigungen hat Westphal, nach ihrem wichtigsten Zeichen, als »konträre Sexualempfin« düng' bezeichnet. Es handelt sich hier um eine meist in früher Jugend bereits hervortretende geschlechtliche Zuneigung zu Personen des selben Geschlechtes, während das andere Geschlecht den Kranken in dieser Hinsicht gleichgiltig bleibt oder sogar Abscheu und Ekel einflößt. Fast immer ist angeborene, häufig ererbte psychopathische Veranlagung vor« banden. In manchen Fällen bestehen zunächst gesunde, »heterosexuelle* Neigungen, die erst später durch den stärker anwachsenden Trieb überwältigt werden. Meist aber beziehen sich die wollüstigen Begleit« bilder der geschlechtlichen Erregung im Wachen und Träumen von vom herein auf das gleiche Geschlecht und alle Versuche natür« liehen Geschlechtsverkehrs mißglücken vollständig oder gewähren doch wenigstens keine Befiriedigung. Entscheidend ist für die wei« tere Entwickelung die Bekanntschaft mit irgendeiner Person gleichen Geschlechtes, die entweder einfach durch ihre körperlichen und geistigen Vorzüge die Sinnlichkeit des Kranken mächtig erregt oder geradezu <üe gleichen Neigungen hat und ihn verführt oder
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sich von ihm verführen läßt Es kommt zu einem leidenschaft« liehen »Freundschafitbündniß' mit allen Ueberschwanglichkeiten eines Liebespiels: schwärmerischen Briefen, Blumensendungen, Gesehen« ken, Eifersuchtausbrüchen und Händedrücken. Meist schreitet es zu wollüstigen Umarmungen, gegenseitiger Masturbation und allen möglichen anderen ,beischla£ahnlichen Handlungen', seltener zu wirklicher Päderastie vor. Ganz wie bei den Beziehungen verschie« dener Geschlechter bestehen solche ,Verhältnisse* bisweilen längere Zeit, selbst viele Jahre hindurch, fort Weit häufiger ist jedoch ein Wechsel der Neigungen oder sogar große Unbeständigkeit Meist sind beide Theile homosexual; doch giebt es manche Kranke, die gerade nur mit gesund fühlenden Personen zu verkehren lieben. Standesunterschiede scheinen, genau wie im gewöhnlichen Geschlechts« leben, hier eine weit geringere Rolle zu spielen als etwa beim rein gesellschafdiehen Verkehr. Einzelne Kranke der besseren Stände fühlen sich sogar am Meisten zu Fabrikarbeitern, Kutschern, Lastträgem und ähnlichen Männern hingezogen. Einer besonderen Beliebtheit er« freuen sich auch hier die Soldaten. Aus allen diesen Umständen er« klärt es sich, daß in größeren Städten gewöhnlieh auch eine mann« liehe Prostitution mit allem Zubehör zu bestehen pflegt, die sich nicht nur aus homosexualen, sondern auch aus geschlechtlieh normalen Personen zusammensetzt. Neben den körperlichen Reizen werden aber meist auch zusagende Eigenschaften des Gemüthes und des Ver« Standes gefordert, mit denen freilich die Einbildungskraft des Homo« sexualen den Gegenstand seiner Liebe eben so freigiebig ausstattet wie der gewöhnliche Liebesrausch. Der Unbefangene begegnet in seinem ganzen Leben nicht einer solchen Schaar von ,hochgebildeten', ,edel denkenden', ,charaktervollen' Männern, wie wir sie in der Schil« derung eines einzigen Freundekreises solcher Kranken anzutreffen pflegen. Den Homosexualen gelingt es sogar, Nachkommenschaft zu erzeugen; allerdings nur, wenn sie sich während des Geschlechtsaktes mit Aufbietung ihrer Einbildungskraft in die Arme einer jungen und schönen Person gleichen Geschlechtes zu versetzen vermögen. Daneben
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unterhalten sie vielfach noch gelegentlichen oder regelmäßigen homo« sexualen Verkehr. Ihr Verstand ist meist normal entwickelt; doch macht sich oft neben guter Auffassungsgabe große Ermüdbarkeit, ge« ringe Ausdauer bei geistiger Arbeit und Neigung zu Träumereien geltend. Die Einbildungsloraft pflegt stark über die Fähigkeit zu rein verstandesmäßiger Thätigkeif zu überwiegen. Besonders au£Eallend ist gewöhnlich die erhöhte Erregbarkeit im Gemüthsleben. Die Kran« ken sind empfindlich, von Stimmungen und Eindrücken in beson« derem Maße abhängig, schöngeistig und künstlerisch, namentlich musi« kaiisch veranlagt, zu Schwärmerei und Gefuhlsausbrüchen geneigt, manchmal auch auffallend schüchtern und unsicher. Ihr Charakter ist meist weich, lenksam, unselbständig, oft sogar schlaff und haltlos Ihre Lebensführung weist daher häufig eine gewisse Zerfahrenheit und Abenteuerlichkeit auf. Unzuverlässigkeit, Mangel an Wahrheitliebe, Neigung zum Prahlen und kleinliche Eitelkeit sind gewöhnliche Un« tugenden. Die geschlechtlichen Beziehungen spielen vielfach eine namentlich für Männer ganz merkwürdig wichtige imd entscheidende Rolle in ihrem Leben und können ihre Schicksale in durchaus maß« gebender Weise beeinflussen. Bei ausgeprägter Homosexualität zeigt sich häufig eine Veränderung der ganzen Lebensfühnmg im Sinn des anderen Geschlechtes. Der Mann wird weibisch in seinen Bewegun« gen, seinem Gang, seiner Haltung, seiner Geschmacksrichtung. Er zeigt ein süßliches, geziertes Wesen, wird eitel, gefallsüchtig, legt großen Wert auf Aeußeres, kleidet sich mit besonderer Sorgfalt, nach der Mode, trägt Blumen im Knopfloch, parfumirt, schminkt sich, läßt sich firisiren, schreibt zierliche Briefe auf duftendem Papier, schmückt sein Zimmer nach Art der weiblichen Boudoirs aus. \itU fach besteht die Neigung, sich mit weiblichen Handarbeiten zu be« schäfdgen, weibliche Kleidung (Korset) zu tragen, Busen und Hüften auszustopfen, in Fistelstimme zu sprechen, kurz, sich in allen Stücken auch äußerlich möglichst der erwünschten geschlechtlichen Stellung zu nähern. Es kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß die kon^ träre Sexualempfindung auf dem Boden einer krankhaft entarteten Per«
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sÖnlichkeit erwächst. Die überwiegende Mehrzahl der Homosexualen besitzt aber vollständig alle körperlichen Eigenschaften ihres Ge« schlechtes. Möglich wäre» daß bestimmte Charaktereigenschaften wegen der gesammten Stellung, die sie dem Einzelnen in seiner Um« gebung anweisen, von vom herein die Entstehung homosexualer Neigungen begünstigen. Die Erfahrung hat im Lauf der letzten Zeit gezeigt, daß bei nicht wenigen Kranken eine sehr weit gehende Besse» rung und sogar Heilung möglich ist. Das Endergebniß wird natürlich auch nach dem allmählichen Schwinden der homosexualen Neigun« gen eine krankhaft entartete Persönlichkeit sein.«
So urtheilt, in seinem Lehrbuch der Psychiatrie, Professor Kraepelin. Ihn können die »edel denkenden«, »charakter^ vollen« Männer nicht täuschen; nicht in den Glauben an die feinste Blüthe gennanischer Freundschaft schwatzen. Kranke sind sie ihm, krankhaft Entartete; und die Frage, ob sie als Gruppe sich auf dem Gipfel des Staatsgebirges ftsU nisten dürfen, müßte er schroff verneinen. Nicht Eulen« burgs Handeln nur: schon sein Schreiben verräth ihn dem Kenner als zu dieser Varietät Gehörigen. (Nur dem Kenner? Als Eulenburgs Drama »Der Seestem« im berliner Ho& Schauspielhaus aufgeführt worden war, schrieb Herr Karl Frenzel, der sich wohl nie mit Sexualpsychopathie beschäl tigt hatte: »Man kann sich kaum zu der Annahme ent* schließen, daß ein Mann diese unmöglichen Männer gezeich:« net hat«; der Satz steht in dem Theaterbericht, den die Deutsche Rundschau im Februar 1888 brachte. Graf Philipp selbst, der damals vier Tage lang beim Prinzen Wilhelm in Potsdam gewohnt hatte, schrieb über sein Stück: »Es wurde
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tüchtig applaudirt und der Erfolg war unleugbar. Darum will ich mich über die Kritiken nicht ärgern, die mich abo scheulich mitnehmen. Romantischer Stoff, blumenreiche Sprache und ein moralischer Hintergrund: Das sind unserer modernen Welt zu viele unerträgliche Zumuthungen. Der Beifall aber hat mir bewiesen, daß ich Recht hatte, wenn ich in dem Publikum trotz Alledem einen Rest von Romantik vermuthet habe. \l(lr sind eben Deutsche!« Semper idem vultus. Der Kiinder deutscher Romantik kam aus der mün# ebener Intimität mit den Gesandschafbekretären Raymond Lecomte und Johann Grafen von Lonyay, deren Homosexuah^ tat an der Isar und an der Spree polizeikundig war. Der Ungar wurde, weil seine Vorliebe für Soldaten allzu unliebe sames Au&ehen machte, früh aus dem Diplomatendienst entfernt; der Franzos, dessen Wandel schon in München zum Aergemiß geworden war, nach dem Lärm von Clement ceaus witziger Laune zuerst in die dorische Heimath der Knabenliebe, dann nach Teheran versetzt, wo an jeder Ecke Männer aller Sorten sich dem Mann anbieten und der Schah den Jünglingen die prächtigsten Räume im Harem reservirt.) Heute, mit ergreisendem Bart und ins Barytonale hinabge# zwimgener Stimme, die den süßen Klang der viola d'amour kaum noch erkennen läßt, wirkt Philipp, der auf einem liebenberger Jugendportrait einem ins Kürassierkoller ver^ mummten Mädchen gleicht, durchaus nicht unmännlich. Sein Geist aber hat die Wesenszüge der Weiblichkeit bewahrt; sogar Etwas von ihrer Anmuth, die dem Urning fsist immer
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fehlt. Er assoziirt und spekulirt wie eine Frau (nicht eine freilich, die sich dem Herd verlobt hat: wie eine der gran^ des amoureuses); hat ihre Hyperaesthesie, als Nothwehr# mittel ihre jeder Anpassung fähige Trugkunst und ihren tollkühnen Muth zur Unwahrhafitigkeit, ihren bequemen Fatalismus und, in ärgster Fähmiß noch, den unausrodbaren Glauben an die Wirksamkeit persönUchen Reizes. (Gegeni^ bilder sind Christine von Schweden und Emma Hamilton, die Freundin der Königin Maria Karolina von Neapel; auch sie äugelten, Jede auf ihre Art, mit der Kunst, waren in Wollen und Handeln von einem kranken Geschlechtstrieb determinirt und strebten auf den seltsamsten Schleichpfaden nach verantwortungloser Macht.) ^»Im individuellen und im sozialen Dasein,« sagt KrafibEbing, »ist das Geschlechtsleben der gewaltigste Faktor, der mächtigste Impuls zur Bethäti^ gung der Kräfte. In den geschlechtlichen Empfindungen wurzelt, in letzter Linie, alle Ethik; zum guten Theil vieU leicht auch Aesthetik und Religion.« Die ihres Reizes sichere, mit ihrem Reiz nicht kargende Frau erbebt nie vor der Ge^ fahr; läuft ihr im Uebermuth gar noch entgegen. Sie ward auf einem Spelunkenfest gesehen? Verwechselung. Mit der Hoheit einer Heiligen streift sie, wie staubige Herbstfaden, den Verdacht von ihrem Feiertagskleid. Ein Mann, an dem ihre Brunst Jahre lang hing, tritt auf den Weg, den sie nun als tugendhafte Ehegefahrtin wandelt. Ihm ists Verlegenheit. Ihr? Sie ruht nicht, bis er dem Legitimen vorgestellt ist, an dessen Tisch sitzt und von der fernen Zeit ihrer harmlosen,
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nur von Lästermäulern begeiferten Freundschaft erzählt; und küßt ihn, dem Angstschweiß die Haarwurzeln feuchtet, mit heißer Lippe rasch, wie einst, au& Ohr, während der £he# herr Cigarren aus dem Rauchzimmer holt. »Schmeckts noch?« Der Wiederkehrende kann nicht ahnen, daß der Gast, den sie mit so gelassener Herzlichkeit behandelt, ihr je mehr war als ein angenehmer Ballkamerad. Neben dem Bett ihres Kindes umfinge sie den Geliebten. Sorge würzt ihrer Gier nur das Mahl. Sie kann kichern und schluchzen, die Grillen weglachen und nach verzücktem Aufblick zwischen den Wimpern ein Tröpf lein zerdrücken, in Zorn erlodem und in Ohnmacht fallen; und hat stets das dreimal glühende Licht eines Leidens bereit, das ihrer Kunst eine ganze Fakultät nicht abzustreiten vermöchte. Unwiderstehlich. Sie weiß es und vertraut blind ihrem Glück. Wenn die Rede des Hy# pereides versagt: die dem Auge der Richter enthüllte Brust sichert, vor dem strengsten Tribunal, Phrynen den Freispruch. Auch Fürst Eulenburg ist der Gefahr muthwillig entgegen^ gelaufen. Er konnte behaglich in Liebenberg oder Territet, auf Capri oder bei Albert Honorius von Monaco sitzen; wenn er nur den Verantwortlichen nicht mehr das Geschäft erschwerte. Brauchte die Freunde dann, die ihn vergötterten, nur um stille Beilegung des Handels zu bitten oder aus der Fremde Krankheitatteste zu schicken. Niemand hat ihn zum Schwur gezwungen. Der Fürst meinte, Eidespflicht und Meineidsgefahr gebe es nur fUr das Gehudel der Kleinen da unten; ein Großer brauche sich nicht ins Joch der Massen^
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gesetze zu krümmen. Und verließ sich auf seinen von glatten Zungen so oft gepriesenen »Charme«. Zweimal hob er die Hand; beschwor, wider besseres Wissen, zweimal Falsches; und erbot sich, es zum dritten Mal zu thun, um die Venire theilung zweier von ihm Angeschuldigten herbeizuführen. Zum berliner Oberstaatsanwalt sprach er: »Ich bin rein, völlig, und ein Jahrzehnt schon verfolgt mich auf allen We# gen der häßliche Verdacht. Was soll ich thun? Helfen Sie mir! Ich habe geschworen. Rufen Sie Jeden auf, der meinen Eid anzweifeln zu dürfen wähnt, und stellen Sie mir ihn im Gerichtssaal gegenüber!« Durchlaucht, Botschafter, Ritter des Schwarzen Adlers: das Hauftt der Anklagebehörde ver^ gißt, daß der Mann, der die Konfrontirung herbeizusehnen scheint, vor drei Tagen dem Antrag, die Haltbarkeit seines Eides durch Zeugenbeweis nachzuprüfen, ausgewichen ist, und wird selbst ihm zum Bürgen der Reinheit Ein Kriminale kommissar bringt aus der Ukermark das Ehrenwort des Fürsten mit : Verleumdersinn erfand und verbreitete die bösen Gerüchte. Philipp ist mit seinem Bruder, auch mit einem Erzherzog veri^ wechselt worden. Daß er mit seinem Haushofmeister das Hotelzimmer getheilt habe, könne nicht auffallen; er war krank, der alte, treue Diener wegen eines Nierenleidens nicht reise« fähig: da mußte der junge Haushofineister ihn, als geschickter Mann, ersetzen. In das anrüchige wiener Badhaus ist der Botschafter zufallig gerathen; weil er ein vom Arzt vorge^ schriebenes Bad zu Haus nicht haben konnte. Erpressungi^ versuche? Nicht einer. »Ich habe nichts zu furchten als
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Hardens falsche Zeugen.« Die Zeugen Ernst und Riedel, deren Vernehmung Justizrath Bernstein vier Wochen vorher beantragt und Eulenburg nicht gewünscht hat. Das klingt dem Kommissar nicht verdachtig. Den Müller oder Levi« der Angst vor »falschen Zeugen« merken ließe» würde er au£Fordem, keine Flausen zu machen. Hier aber hat er das Ehrenwort eines Fürsten. Der dritte Erfolg. Gericht, Staats^ anwalt, Polizei. Noch wirkt der Charme ; wird auch weiter» wirken. »Die Wahrhaftigkeit des Fürsten Eulenburg ist außer Zweifel«: Das steht im Urtheil der Vierten Strafkammer; und in der Deutschen Tageszeitung: »Wie ein Schwan aus schmutzigem Schlamm tauchte Eulenburgs Ehre schneeweiß und silberblank aus allen Anwürfen empor. Weder politisch noch sittlich blieb ein Stäubchen des Verdachtes an ihm hängen. Ein Reinigungeid in des Wortes heiligstem und edelstem Sinn und eine Erquickung für aUe deutschen Her» zenl Ein Zeugniß (ur das Schönste und Herrlichste, was wir Deutsche unser Eigen nennen: fiir die Freundschaft!« So viel ward erreicht; constantia et virtute. Wer bebt noch? Hell strahlt der Stern. Die Zeugen mögen nur kommen.
Der Richter.
Königliches Amtsgericht München I. Mariahilfstraße; weit draußen an der Au. Ein nüchternes Haus. Thierschs Justiz» palast hat mehr Physiognomie. Doch an Raum, Luft, Licht fehlts hier nicht. Grundriß und Anlage scheinen dem Be» dür&iß ftirs Erste zu genügen. Saal 5. Hell, groß, einfich.
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Auf dem Gerichtstisch der Kruzifixus; drüber der Bayerns könig. Kein Stuck noch Putzgeräth. (Kleiderhalter. Könnte Preußens Justizetat die nicht auch endlich leisten?) Schon sind die meisten Plätze besetzt. Richter, Anwälte« Schrift^ steller; auch Nichtalsneugierige, die kamen, »um das Rhinol zeros zu sehen«. Vorstellung, Händedrücke, nervöses Ge# plauder. »Wirds lange dauern?« Keine Ahnung. »Mehr als einen Tag?« Nur wenn Fürst Eulenburg sich als Zeugen meldet; sonst nicht. Die Bedeutung dieses Gerichtstages kennt er; hat auch einen Anwalt bestellt, der ihm ausfuhrt lieh berichten soll und (der kleine Herr da drüben ists) schon sein Schreibzeug in Ordnung bringt. Ganz fem klingt mir das Gesumm; wie das sinnlose Rauschen aus einer Muschel. Wieder in einem Gerichtssaal. Im Laufe von sechs Monaten der dritte Strafprozeß. In den Pulsen pocht, in jedem Nerv zuckt noch die Erinnerung an das grotesk Un^ geheuerliche, das die Vierte Strafkanuner des berliner Land# gerichtes mich erleben ließ. Halte Dich in Zucht, rufts drinnen ; was Du sprächest, klänge gewiß viel zu schrill und verriethe das Leiden der Physis. Was nöthig ist, wird Dein Anwalt sagen. Zwinge Dich zur Zurückhaltung Eines, der nur kam, zu hören. Neun Uhr. • Der Gerichtshof tritt ein und das Sununen verhallt. Die Schöffen werden beeidet. Bankoberinspektor Martin Lindinger und Chemiker Dr. Karl Heim. Gebildete Männer: ein gutes Omen. Ein Molkereibesitzer ist Ersatz^ Schöffe. Der Richter rechnet also mit der Möglichkeit langer Verhandlung. Der Richter: Oberlandesgerichtsrath "Alheim
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Mayer, der dem mänckener Scköffengerickt vorgesetzt ist. Endlich sehe ich ihn also, von dem ich so viel gehört habe und den die Zunge skeptischer Anwälte mir oft pries; sol^ eher sogar, deren Klienten er hart verurtheilt hatte. Groß, schlank, sehnig; ein ernstes Antlitz (eines Niederdeutschen eher als eines Bayern), doch mit milden Augen und einem Munde, der das Allzumenschliche belächeln gelernt hat. Pflichtbewußtsein leuchtet, der stolze Glanz einer Persönliche keit aus dem über die Schöffen herragenden Haupt; und der Schauer empfindet: Dieser sucht und besinnt nur das Recht. Nach dem Prozeß Karl Peters nannte ich ihn, vor dem ich nie als Prozeßpartei stehen zu müssen glaubte, den bon juge von München, ^rd er auch heute der gute Richter der Legende sein? Schon mahnt er die Zeugen zur Wahrhaftige keit. Die Sache ist besonders ernst und an ihren Grenzen allzu viel beschwatzt worden; nichts von Allem, was Sie darüber gehört und gelesen haben, darf Sie jetzt beirren. Den falschen Eid ahndet der Herrgott; und hienieden straft ihn der Staat. Kurze Sätze; männlich schlicht. Magnaud, der pariser bon juge, hat nicht diese Wucht der Persönliche keit, diese germanische virtus, nicht den stillen Ernst zur Sache; schielt mehr nach der Effektmöglichkeit und freut sich zu laut, wenn sein billiger Salonsozialismus den Kleine bourgeois verblüfft. Die Personalien des angeklagten Redake teurs Anton Städele aus Amberg sind rasch festgestellt. Er ist für den Inhalt der Neuen Freien Volkszeitung verantworte lieh, eines Bauembundorganes, in dem das Gerücht erwähnt
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Woiden war, Harden habe eine Million Mark als Schweigen geld erhalten und deshalb die Eulenburg und Genossen ge^ schont. Diese Sätze hatten den Anlaß zu der vom Justizrath Max Bernstein (in meinem Namen) eingebrachten Klage gt* geben. Wahrend die beanstandeten Artikel verlesen werden, kann ich den Gegner betrachten. Wohlgenährt, jung, mit dem klugen Gesicht eines Redlichen, der gern was Gutes schmaust und mit manchem kräftigen Tropfen die Kehle tränkte. Er trägt eine Sammetweste. Wer löst die Räthsel vdllkürlicher Assoziation? In dieser wichtigen Stunde, vor der Entscheidung eines Kampfes, dem seit einem Jahr all meine Kraft hingegeben ist, klammert der überreizte Sinn sich an dieses gleichgiltige Kleidungstück; muß ich, wider Willen, denken: Solche Weste habe ich auch; und, ohne Wehmuth, der Abende mich erinnern, da ich sie, auf noch gesimder Brust, trug. Unbegreiflich dumm. Zolas Saccard fallt mir ein, der, während ein Börsenorkan ihn aus Besitz und Ansehen fegt, der in seinem Hof erfrorenen Kamelie nachjammert. (Ein gar so schlechter Psychologe war der allzu eitle Spätroman^ tiker von Medan doch nicht.) Nun spricht Herr Städele; und zwingt mich, au&uhorchen. Daß ich Eulenburg und dessen Leute geschont habe, will ihm nicht in den Kopf. (Nicht, daß man zaudert, Menschen zu vernichten und Einen, der dem im Reich höchsten Mann Jahrzehnte lang der Nächste war, als meineidigen Jünglingschänder zu erweisen? Thus conscience dpes make cowards of us all, Herr Anton Städele; und ich dürfte Ihnen ein robusteres Gewissen gar nicht
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einmal neiden.) Wenn Marden Material dazu hat, soll er den Meineid des Fürsten Philipp zu Eulenburg^Hertefeld rächen. Der Ton des Sprechers ist energisch, doch nicht von Haß ge^ färbt; und manchmal ists, als wtinsche der Mann aus Am# berg, dem Gegner, dessen gerichtliche Aechtung er wie eine dem ganzen Schreiberstand angethane Schmach empfindet, in einem von Vorurtheilsdunst freien Klima zu seinem Recht zu helfen. Bernstein antwortet. Wiederholt die Aussagen, die Fiirst Eulenburg als beeideter Zeuge zwei Gerichtshöfen zu bieten gewagt hat. Erwähnt, daß die Vierte Strafkanuner uns die Frotokolirung dieser (dennoch, dank dem Ober^ Staatsanwalt Isenbiel, klar erweislichen) Aussage weigerte und den zur Entkräftung dieses Eides gestellten Beweisantrag Tage lang nicht beschied. Und bittet, die in Berlin nicht vernommenen Zeugen (Riedel, Ernst und andere Stamberger) hier zu hören, damit das Gericht über Hardens Handeln sich selbst ein Urtheil bilden könne. Die Worte sickern; als furchte der Redner, seinem Empfinden die Schleußen zu ö&en. In dem rothwangigen Weißkopf zitterts von ver» haltener Erregung; und ich muß bedenken, wie erbärmliche Niedertracht auch diesen gewissenhaften, tüchtigen, gründe gescheiten und reinlichen Menschen besudelt hat, seit ge^ rechte Empörung ihn auf einen Schelmen anderthalb setzen ließ. Daß Vernunft nicht mehr galt, die Verurtheilung in der ersten Stunde sicher schien und der kranke Klient von ihm forderte, in einer Rechtssache sich politischer Erwägung zu fugen, nahm ihm vor dem Landgericht dann den Athem.
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(£r hatte nickt zum ersten Mal in Berlin plaidirt und weiß, daß auch wir, Gott sei Dank dafür, nicht nur Richter vom Schlage der Herren Lehmann, Gohr und Genossen haben.) Heute lähmt die Last der Verantwortung, die Ungewißheit des Kommenden noch die Kraft des Antaios, der wieder auf heimischem Boden ringt. Jetzt muß ich sprechen. Laß Dich nicht hinreißen, mahnts mich; gedenke der Schwierigkeit, die Du selbst Dir schaffst, wenn Du um Haaresbreite über den engen Bereich dieses Prozesses hinausgehst. »Der Herr Beklagte hat ein Gerücht verbreiten zu müssen geglaubt, das meine Ehre in der schlimmsten Weise verdächtigt; die Ehre eines Menschen, der in einer bitter ernsten Sache an^ geklagt, einstweilen verurtheilt, mit Verleumdungen jeder Art überhäuft worden ist. Der Gerichtshof wird in der Lage sein, zu prüfen, ob ich in dieser Sache frivol oder an^ ständig, feig oder menschlich gehandelt habe. Diese Prüfung glaube ich als mein Recht vom Gericht erbitten zu dürfen und unterstütze deshalb inbrünstig den Antrag meines Ver^ theidigers, wenigstens den kleinen Theil des Beweises, der uns in diesem Saal möglich ist, zuzulassen.« Ueberstanden. Keine Replik. Der Gerichtshof wird berathen.
Beräth lange. Der Ungeduld schleichen die Minuten. Vielleicht wünschen die Schöffen noch Auskunft über die Vorgeschichte des Streites; um mit hellerem Verständniß folgen zu können. Vielleicht meint Einer, der Verbreiter des kränkenden Gerüchtes, ich habe eine Million als Schweigen geld bekommen, müsse den Beweis der Wahrheit, nicht
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der Gekränkte den Beweis der Unwahrheit fuhren. Schon sind zwanzig Minuten verstrichen. Ists möglich» daß unser Antrag abgelehnt wird? Dann sind wir auf dem alten Fleck; immer noch vor der Frage, ob ich die Staatsanwalts Schaft zur Verfolgung der Meineide aufrufen oder die Entscheidung des Reichsgerichtes abwarten solle. Um keinen Schritt weiter. Da ö&et sich, endlich, die Thür des Be^ rathungzimmers. Noch stiller als vorher wirds: denn nun muß sich zeigen, ob die Neugier auf ihre Kosten kommt. Die Richter sitzen; und der Präsident kündet:
»Auf Antrag des Frivatklägers wird Beweiserhebung durch die von ihm benannten und vom Gericht geladenen Zeugen angeordnet darüber, ob die Behauptimg des beanstandeten Artikels, Harden habe von seinem Gegner Fürsten Philipp Eulenburg eine Million erhalten, damit er schweige und nichts Weiteres aufdecke, unwahr ist oder ob Harden Beweise mittel, die ihm zum Nachweis der homosexuellen Bethätigung des Fürsten Eulenburg geeignet erscheinen konnten, besaß und davon nach Möglichkeit Gebrauch gemacht hat.«
Ein Satz: und Alles, was gesagt werden mußte, steht drin. Da die Sittlichkeit gefährdet werden kann, wird bis zur Urs theilsverkündung die Oeffentlichkeit ausgeschlossen. Justiz^ rath Bernstein bittet, im Interesse des Klägers, der öffentlich beleidigt worden sei, und des Beklagten, der sich öffendich rechtfertigen wolle, die Berichterstatter, deren Takt und Ge^ schicklichkeit man vertrauen dürfe, im Saal zu lassen. Be^ Schluß: Dem Gericht Angehörige, Rechtsanwälte und In#
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haber von Pressekarten dürfen bleiben. Noch einmal ver«« liest Bernstein die beiden beeideten Aussagen Eulenburgs, (ur deren Unwahrheit er der Vierten Strafkammer mit lauter Stimme (vetgebens) Beweis angeboten hat. Die im frühsten Prozeß gemachte lautet nach dem Sitzungprotokol:
»Ich habe mir niemals Handlungen, die gegen den Para^ graphen 175 verstoßen, zu Schulden kommen lassen. Zwar bin ich in meiner Jugend ein enthusiastischer Freund meiner Freunde gewesen, zwar habe ich Briefe geschrieben in über« schwänglich freundschaftlicher Empfindung. Etwas Böses, etwas Schlechtes, etwas Schmutziges hat aber nie dahinter gelegen.«
Leugnet also jede schmutzige Geschlechtshandlung; und daß der Fürst die Mutualbefriedigung zweier Manner zu den »Schmutzereien« rechnet, lehrt sein gegen mich geleisteter Eid. Daß er solche Schmutzereien getrieben hat, werden die geladenen Zeugen beweisen. Werden sies? Zeugen und Kredit, spricht der weise Humorist Karl Fürstenberg, sind meist nur werthvoU, so lange man sie nicht braucht. Gar in dieser eklen Sache. Zu Homosexualakten werden nicht Schaugäste geladen. Nur vier Augen sahen sie. Und bei« nahe Jeder scheut die Entschleierung verirrten oder über« rumpelten Sinnentrieblebens. Darauf hat die Sippe gebaut . . . »Ich bitte, mich beim Zeugenverhör nicht mit Zwischenfragen zu unterbrechen. Die Parteien kommen nachher zu ihrem Fragerecht. Zuerst aber will ich mit dem Zeugen von Mann zu Mann verhandeln. Dabei wird Keiner benachtheiligt. Rufen Sie den Zeugen Georg Riedel in den Saal.«
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Kaum mittelgroß; ein verwettertes Gesicht unter ergraue endem Haar; das Gesicht eines gutmüthigen Oberbayem, der Zunge und Faust nicht gern feiern laßt, wenn ihm ein Lauslein über die Leber gelaufen ist Sechsundvierzig Jahre Katholisch. Verheirathet Vater von fünf Kindern. Milche händler in Miinchen. Er wird eindringlich ermahnt, kein vor Gott und Menschengericht unverantwortbares Wort zu sagen; und soll, bevor er auf das Beweisthema kommt, seinen Lebensgang schildern. (So lernt der Richter ihn zunächst auf neutralem Gebiet kennen, gewöhnt sich in seines Wesens besondere Ausdrucksweise und läßt ihm Zeit, in der be^ klemmenden Gerichtssaalluft heimisch zu werden. Jeden Zeugen, der zur Sache Wesentliches zu sagen hat, sollte man so behandeln.) Der Vater war Fischer und Landwirth in Feldafing und hatte ein schönes Anwesen am Stamberger See. Der siebenzehnjährige Georg wird nach Tutzing in die Lehre geschickt, kommt aber schnell wieder heim, weil des Meisters Frau findet, er tauge nicht zum Fischen (»daß ich nicht das Kraut auf dem Hafendeckel verdiene«, sagt Riedel). Der Neimzehnjährige fiihrt »Herrschaften« gegen den im Tarif bestimmten Entgelt. Militärzeit beim Vierten Chevau^ legersregiment in Augsburg. Schon als Knabe hat er den Vater verloren; auf dem feldafinger Anwesen haust, als der vom Militär Freie heimkehrt, der Stiefvater. Heirath. Aus# tausch des erheiratheten überschuldeten Hofes (»meine Braut hatte mich angelogen«) gegen einen kleineren. Entschluß, in München ein Milchgeschäft aufzumachen. »Hier in der Au.
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Da geht mirs nicht schlecht.« Ein Vergnügen, dem Mann zu lauschen. Hold wuchs ihm der Schnabel nicht; aber er ziert sich auch nicht und jedes Wort hat den Schmack des Erlebten. Fürchterlich, wenn dieses urwüchsige Gebirgs^ deutsch in den Staub der Aktensprache geschleift würde. Unser Richter thuts nicht. Sucht bei der Uebertragung ins Hochdeutsche dem Wort seinen Wesensruch zu wahren. Und schon jetzt fallt mir auf, wie präzis er, ohne das Kleinste zu übergehen, jede Aussage zusammen£sißt. Dazu eine Sprache technik, die noch im raschsten Redefluß das winzigste Satz# theilchen zu plastischer Klarheit gelangen läßt. Kein Konso^ nant geht verloren. Dieser Richter hat nicht nur Stra&echt und Prozeßordnung studirt. So meistert die (in Deutsche land noch allzu seltene) Rednerkunst nur Einer, der im Ho& Schauspielhaus von Possart und Kainz zu lernen verstand. Riedel ist bei den Hörern schon in Gunst. Der lügt nicht, denkt man; und harrt der Dinge, die er bekunden will. Nun aber droht ihm Gefahr. Seine Strafliste wird (auf Bernsteins Antrag) verlesen. UngefiUir dreißigmal haben Polizei und Gerichte ihn gepönt. (Was hätte der Lehmann aus dieser Liste gemacht! Und was beweist sie gegen die Glaubwürdigkeit eines vom Schicksal herumgestoßenen Menschen?) Nicht für schlimm mäkelnde That. Eine Ge^ fangnißstrafe von fünfeinhalb Monaten ist dabei. Vor vier^ zehn Jahren ist am See geraunt worden, einem Bauernhofs^ besitzer lächle vor Gericht stets das Glück, weil seine Frau den Oberamtsrichter mit Eiern und Schmalz fiir ihn stimme
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(»abschmiere«). Riedel hats weitererzählt, ist, weil die Zeugen ihn im Stich ließen, als Beamtenbeleidiger verurtheilt worden und hat, weil er, nach lieber Gewohnheit, den tretdosesten Zeugen weidlich verprügelt hatte, eine Zusatzstrafe erhalten. Das ist der ärgste Posten; aUes Andere Läpperei. Der Mann hebt die Schultern. »In unserer Familie sind Alle immer gleich ,narret', wenn sie was ärgert.« Hitzköpfiger Schlag. Eines reuigen Siinders kann die Gottheit sich hier nicht freuen. Riedel würde drauf schwören, daß er stets für das Recht gerauft und nie einem Unschuldigen die Jacke voU^ gehauen hat. Gesteht auch, noch gar nicht so sicher zu sein, daß die Abschmierung nicht versucht worden ist. Und schweigt erst, als der Richter ihn warnt, durch so dumme Rede sich neuer Verfolgung auszusetzen. »Dafiir, daß der Oberamtsrichter von Stamberg sich nicht abschmieren läßt, brauchen wir keinen Beweis.« Ein tüchtiger Kerl bekennt sich auch zu den Kindern seiner Wuth. Riedel hehlt nicht, daß er mit zärthchem Wehmuth auf sie zurückblickt. Und den Vielbestraften lieben noch immer alle Männer im Saal. Nun erzählt er, wie dem Neunzehnjährigen auf dem See der Versucher nahte. Ein feiner Herr, der sich von dem strammen Fischerknecht hinausrudem läßt. Fragt, woher er sei; obs ihm nicht an Biergeld fehle; ob er auch schon ein Mädel habe. Mit dem Geld haperts (der Stiefvater hält ihn I^i^PP); ^^^ sein Mädel hat er. Auch schon mit Liebchen geschlafen? Einmal, Herr. (So treibt man sacht die Scham aus der jungen Seele und stellt zugleich fest, daß des Sexuak
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triebes Befriedigung sie schon gekitzelt hat.) Der Feine zahlt den dreifachen Fahrpreis, zwingt den redlichen Burschen, den Ueberschuß zu behalten, und kommt am nächsten Mit^ tag wieder ms Boot. Er war bei den Kürassieren, plaudert er, konnte die Soldatenschinderei (die Gardes du Corps mögen sich (ur den Schimpf bei dem fursdichen Kameraden bedanken) aber nicht mitansehen und ging drum ins Civile. Wenn Riedel heran miisse, wolle er ihn nach Breslau zu den Leibkiirassieren bringen, wo sein Freund Ofifizier sei. (Die^ sen Freund, den Grafen Kuno Moltke, hat er dem Fischer« knecht später gezeigt und als seinen »Spezi« bezeichnet.) Da werde ers gut haben. Dem Feldafinger ists zu weit weg. "^eder wird vom Mädel geredet Wieder überreichliches Trinkgeld gegeben. Auf der vierten Fahrt tastet der Feine sich ein Streckchen weiter. Ein ganz Feiner. War schon bei den Schwarzen und sagt, der Anblick der nackten Körper sei wunderschön. Ist jetzt Rath bei der Preußischen Ge« sandtschaft in München. Aber nicht hochmüthig. Nach kurzer Bekanntschaft mit Riedel auf Du und Du. Ob Georg schon einmal versucht habe, die Geschlechtsgier aus eigenem Vermögen zu stillen. Nein. Ob er mal Wein trinken wolle. Ja. Am nächsten Tag liegt eine Flasche im Boot. »Ich heiße Graf Philipp zu Eulenburg; nenne mich nur Philipp, lieber Georg.« Hinaus nach Leutstetten. Hinter dem Galgensee, wo das Holz haushoch steht, wird gelandet. Auf den Wald^ boden gelagert und Wein getrunken. Jetzt ist der Rüpel wohl zugerichtet. Läßt sich befühlen, streicheln und duldet
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schließlich den vom Gesetz straflos gelassenen Geschlechts^ akt. Warum? »Weil er ein so feiner Herr war und es ihm Vergnfigen zu machen schien; mir hats keins gemacht.« Und die Willfährigkeit ward nicht bezahlt. »Was dachten Sie sich danach?« »Nichts Gutes. Er hatte ja Frau und Kinder da^ heim; und nun mit einem Mannl Aber es kam so.« Von der Leutsaligkeit, den blanken Markstücken, vom Wein. Mayers milder Baryton tönt sich härter. »Hüten Sie sich vor jedem Wort, das Sie nicht auf Ihren Eid nehmen könntenl Seit diesen Vorgängen ist viel Wasser durchs Wurmbett ge^ laufen. Wenn Sie etwa aus trüber Gedächtnißquelle schöpfen, verspielen Sie Ihr Leben und bringen Weib und Kinder ins Unglück. Noch ists Zeit zu ehrlicher Vorsicht.«
Weiß eh schon, sagt Riedel ruhig; aber was ich erzähle, ist wahr; weshalb sollte ich lügen? Etwa achtmal habe ich den Grafen dann noch gefahren. Drei Wochen nach dem Herbstnachmittag im Galgenseewald bin ich wieder heimge^ gangen. Weil ich auch die Ordonnanzen an das Schloß un^ seres Königs Ludwig hinübergerudert und gute Biergelder bekommen habe, brachte ich ungefähr hundertachtzig Mark mit. Der Graf hatte mich in seine münchener Wohnung ein« geladen und suchte mich, da ich ihn zu lange warten ließ, um Mariae Lichtmeß auf Stiefvaters Hof, dann in der Bier^ wirthschaft, wo ich den Feiertag versaß. Der Fischer Jakob Ernst war bei ihm. Fischerjackl hieß er am ganzen See. Der Graf bat mich, zu Fuß mit ihm nach Stambetg zu gehen, gab mir bei der Sandgrube jenseits vom Bahndamm ein Zwei^
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markstück (das Geld nahm er stets aus der Hosentasche; einen Beutel hatte er nie) und schickte mich von dort weg, weil er mit dem Jakob bleiben wollte. Bald danach wurde ich zum Militär ausgehoben. Vor der Musterung, hatte der Graf gesagt, solle ich ihn besuchen; Promenadeplatz 21, im Zwei^ ten Stock. Zwei Stadtrekruten führten mich hin; denn ich kannte Miinchen noch nicht. In dem Haus (neben dem Hotel Bayerischer Hof) wars fein. Der Graf zeigte mir Alles, auch, nicht weit davon, ein Atelier mit gemalten Menschen, sagte, daß er nebenbei Schriftsteller sei, und schenkte mir zehn Mark. Bei der zweiten Musterung meldete ich mich, auf seinen Wunsch, zur Kavallerie, kam auch, trotzdem ich mit Pferden noch nicht umgegangen war, zu den Alerten Chevaulegers und erhielt von dem Grafen wieder ein Zehn^ markstück. Noch mehr Geld in Stamberg, wo ich ihn wieder besuchen mußte. Einmal bestellte er mich an den Bahnhof, gab am Schalter einen Zettel hinein und bekam einen Haufen Geld heraus, von dem er mir dreißig Mark gab. »Wars denn anständig, so viel Geld zu nehmen?« »Nein. Ich wußte auch, daß es nicht recht war, und habe den Grafen angelogen: ihm gesagt, ich brauche das Geld, um mein Mädel beim Tanz zu bewirthen; aber der Stie& vater ließ mir die Tasche leer: und leichtsinnig ist man. Erpreßt habe ich nicht. Nie an eine Anzeige gedacht. Nie ihm gedroht noch überhaupt von der Waldgeschichte ge^ sprochen. Nur um ein paar Mark gebeten, wenns wieder mal knapp war. Und nie vergebens. Im Ganzen werde ich
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so ungefaklr fuii£telitiliünclert Mark erwiscKt Kaben. Als ick aus Augsbutg zum dritten Mal schrieb, antwortete er, ich solle mirs holen. Jch möchte Dich in der Uniform sehen, lieber Georg/ Ich hatte eine schöne Uniform. Bekam, während des Schwadronexerzirens, als Rekrut aber keinen Urlaub, obwohl ich meinem Rittmeister den Brief des Grafen gezeigt hatte. Nach dem Rapport habe ich mein Sattelzeug geputzt und studirt, was zu thun sei. Ein Kamerad iiber^ redete mich, durchzubrennen. Los; nach München. Auf dem Bahnhofe wartet der Graf mit einem feinen, weißgesich^ tigen Herrn in den Vierzigern. Ich mußte erzählen, yet^ schwieg aber, daß ich schwarz gefahren sei. In der Woh^ nung am Fromenadeplatz war der Tisch gedeckt. Wir Drei aßen und tranken. Schinken, Obst, Kuchen, Wein; nur kalte Speisen gabs. Dann meinte der Graf, er miisse nun fort. Ich wollte meinen Säbel von der Wand nehmen, umschnallen und mitgehen; aber der Graf wollte, daß ich bei seinem Freund bleibe, und gab mir zehn Mark. Der Herr sei mir doch fremd; auch werde auf mich der Verdacht fallen, wenn aus der Wohnung was wegkomme. Da lachte der Graf. Das sei nicht zu furchten; und der Herr werde schon freunde lieh zu mir sein. Das wurde er auch, als wir allein waren. Nahm mich um den Hals, zog mich an sich, wenn ich fort^ rückte, gab mir viel zu trinken und forderte endlich . . . (die gröbste Art aktiver Sexualleistung zwischen Männern). Er suchte mirs auf alle Weise bequem zu machen (unwieder^ holbare Details) und schenkte mir ein Zehnmarkstück.
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Sckon zwanzig heute, dachte ich; hatte beim Militär aber oft von der Strafbarkeit solcher Dinge gehört und war auch sonst nicht recht in Ordnung. Der Herr wurde bös, weil er glaubte, ich möge ihn nicht. Da nahm ich den Säbel vom Wandhaken und lief aus der Stube. Der Graf, meine ich, hat die ganze Geschichte angerichtet. Geschwind nach Augs^ bürg zurück. Da setzte es fiinf Tage Kasernenarrest, trotze dem ich nicht sagte, daß ich in Miinchen gewesen sei; sonst hätte es wohl zehn Tage strengen Arrest gegeben. Danach habe ich noch dreimal an den Grafen geschrieben, aber nie eine Antwort erhalten; auch kein Geld mehr. Alles war aus. Das mit dem Freund hat er mir übelgenommen.«
Wie einen Kontraktbruch, die Weigerung, nach hohem Vorschuß die Waare zu liefern? . . . Ein Schaudern war durch den Saal gegangen; durch abgehartete Männerherzen ein Beben vor solchem Gräuel. Hier war, erst wenige Wochen ists her, der Brief eines Grafen verlesen worden, der unter den Standesgenossen einen Bund vornehmer Urninge sti& ten, dem Eros Platens und Farenheids einen Tempel schaffen wollte. Schulenburgs Brief:
Haus Oeft, Post Kettwig, Rheinland. 14. 2. 1901. Sehr verehrter Graf 1
Euer Hochgeboren bitte ich, einem in gleicher Weise veranlagten Standesgenossen zu gestatten, seine Ideen über einen Zusammen« Schluß 'der adeligen Urninge in Folgendem zu entwickeln.
Zur Erklärung jedoch, daß ich so mit der Thür ins Haus falle, bemerke ich, daß der Doktor Hirschfeld in Charlottenburg, der inteU
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ligente Vorsitzende des ^XlsseiiscliaMicli»Muiiianiiaren Komitees, mit dem ich mich, nachdem ich eist lange Zeit gebraucht hatte, um meine durch und durch homosexuelle Natur zu erkennen, und dann auch noch lange Zeit abwartend, zögernd und mißtrauisdi. Letzteres ins# besondere als gläubiger Katholik, der befürchtete, daß die Homosexua^ lität nur zu anderen, antikirchlichen Zwecken ausgeschlachtet werden könnte, bei Seite gestanden, dann endlich in Verbindung gesetzt und der Doktor mir dann auf Befragen nach anderen adeligen Urningen auch Ihren Namen nannte.
Ich möchte nunmehr meine früheren Versäumnisse gut machen und das Meinige dazu beitragen, eine größere Einigung der Urninge her^ beizuführen. ^9Clr sind ja so zahlreich, wissen gar nicht unsere Kraft 1 Wenn alle die furchtsamen, verkappten, sich selbst nicht recht ausken^ nenden Urninge geschlossen daständen, ¥rürde die Welt mit Staunen wahrnehmen, daß fast jeder zehnte Mann ein Urning ist und kaum eine größere Familie ezistirt, die nicht mindestens einen Urning unter den Ihren zählt
Durch hervorragende Vertreter der medizinischen ^Wissenschaft, durch die Propaganda des Wissenschaftlich«Humanitären Komitees und last not least durch so manche »Falle« ist nun schon seit zehn Jahren ein großer Umschwung in den Ansichten erzielt worden. Es liegt nun an uns» weiter zu arbeiten, so weit in des Einzelnen Kräften steht Dem Centralkomitee zu helfen suchen müssen wir; aber, meine ich, uns auch mehr zusammenschließen. Ich denke hierbei vorzü^ch an die homosexuellen Edelleute, welche in Folge der strengen Ehrbe# gri£Fe im Adel am Ungünstigsten oft gestellt sind; und wenn so ein armer Urning wegen eines Unfalles, vieUeicht nur die Erfindung eines von politischem Haß oder Neid geschwollenen Revolverjoumalisten, von den Standesgenossen in die Acht erklärt worden ist, so muß er geistig und körperlich oft verkümmern ; oder er zieht halt in eine Groß« Stadt und geht dort im Sumpf jenes männlichen Dimenthums, faute de mieux, unter. Diese meistens ja heterosexuellen Blutsauger sind es, auf welche man mit Recht den oft falsch citirten Spruch des Heiligen
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Paulus atkweüden kaün, daß »sie Mann niit Mann Unzüclit treibeii, den natürlichen Gebrauch ihres Leibes in den verkehrten verwandelnd« und so weiter. Was aber hier Unnatur, ist doch beim geborenen Ho^ mosexuellen seine ureigenste Natur.
Um nun uns adelige Urninge aus der Vereinzelung undThatenlosig« keit herauszureißen, andere zum Bekenntniß ihrer Natur zu bringen und uns einen geselligen und schaffenden Mittelpunkt zu verschaffen, habe ich den Plan gefaßt, einen »Adebbund« ins Leben zu rufen, welcher unter diesem ganz unverfänglichen Namen Homosexuelle des ganzen deutschen Sprachgebietes, deshalb einschließlich Oesterreichs, der Schweiz und Luxemburgs, umfaßt mit eben so harmlosen Statuten und einem Jahresbeitrag von vierzig Mark, welcher zum Bezug eines Jahresheftes und kostenfreier Korrespondenz aller das Vereinsleben beriihrenden Fragen berechtigt. Jedes Jahr fände abwechselnd, zum Beispiel: einmal ^en, dann München, Berlin, Frankfurt a. M., eine Generalbesprechung mit anschließendem Diner statt. Die Mitglieder zerfallen in eigentliche Mi^lieder und Freunde; Letzterer Namen wür» den aus Rücksicht auf ihre Stellung (zum Beispiel: Offiziere) nie ge« nannt werden. Der gebildete Urning fände dergestalt überall, wohin er käme, Adressen seiner gleichfuhlenden Standesgenossen. Ich habe schon mehrere Herren für diesen Bund gewonnen; juristische Be« denken liegen nach Rücksprache mit einem homosexuellen Juristen nicht vor. Ich persönlich bin geborener und angesessener Rhein« länder, der Abstammung nach Hannoveraner, auch in Tirol seßhaft, habe Familienbeziehungen nach Flandern, Hessen, Sachsen, Alt« preußen und komme daher viel herum, womit ich hoffentlich unserer Sache dienen kann. Ohne die Unterstützung edelgesinnter Urninge vermag ich aber nichts zu erreichen. WoUen Sie, verehrter Graf, daher mich nicht auch durch Ihren Rath, Erfahrung und Beitritt unterstützen? Ich komme den zwanzigsten Februar nach ^en. Ware es nicht möglich, Sie etwa in Graz oder sonst, wenns nicht zu weit ist, sehen zu können? Mündlich kommt man immer noch weiter. Ich möchte Ihnen in keiner Weise lästig fallen und meiner
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Verschwiegenheit dürfen Sie vollständig versichert sein; es liegt ja im eigensten Interesse!
Darf ich im Anschluß hieran noch fragen, ob Sie folgende mir von Herrn (im Original des Briefes folgt eine Adresse) als wahrscheinlich homosexuell genannte Herren vielleicht kennen? (Im Original des Briefes folgen sieben Namen adeliger Herren mit genauen Adressen.) Ich schließe, sehr verehrter Graf, mit der Bitte, mir mein langes Schrei« ben mit dem Interesse an der Sache zu Gut halten zu wollen und mir Ihre Ansichten zu übermitteln.
Genehmigen Sie den Ausdruck meiner besonderen Verehrung, mit
der ich bin Ihr ergebener
Günther Graf von der Schulenburg.
Für jeden noch nicht in hadrianisches Fühlen Gereiften wars schon genug. Doch sollte es immerhin bei der Verab^ redung Gleichgesinnter bleiben. Jetzt sieht der selbe Saal einen Menschen, der zur Unzucht von Mann zu Mann verleitet v^ard, zu widernatürlichem Leibesgebrauch verkuppelt werden sollte. Verleitet und verkuppelt gegen blankes Geld von dem lieb^ lieh säuselnden Skalden, dem Sänger der süßen Rosenlieder, die der »Spezi« komponirt hat. Das liegt hinter dem Klinge klang der Wald^ und Seemärchen? So sieht das Lieb aus, das in der Fischerhütte am Seestrand des Buhlen harrt? In der Zeit des Verkehrs mit Riedel schrieb Eulenburg an Farenheid: »Plötzlich steigt der Gedanke in mir auf, Sie könnten mich (ur einen ,Charakter' halten. Ich bin nur ein Gefühlsmensch, der wohl unbeschreiblich lieben, aber kaum hassen kann und dem selbst das Verachten schwer wird: und Das sind Eigen«: Schäften, die mit einem Charakter nicht in Einklang zu brin« gen sind! So sehr fiihle ich mich als Gefühlsmensch, daß ich
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mich instinktiv Charakteren gegenüber in innere Opposition gedrängt sehe. Auf der Bühne sind Charaktere notwendig, in der Geschichte machen sie mir Freude I Im Verkehr sind sie unbequem, ja, unerträglich, speziell, wenn sie in Nord# deutschland zu Hause sindl Das, was die Welt einen Cha^ rakter nennt, ist mir im Verkehr und Alltagsleben zuwider. Charaktervolle Menschen beriihren mich unsympathisch«« (Graf Kuno Moltke, der »alte General«, mag sich mit diesem Bekenntniß Philis, des durch vierzigjährige Freundschaft ihm Verbundenen, abfinden; mag betonen, daß er nicht aus Nord^ deutschland, sondern aus der württembergischen Nebenlinie stammt und mit dem großen Marschall, der ein unbequemer Charakter war, kaum mehr als den Namen gemein hat.) Als Riedel den Reiterrock auszog, schrieb Philipp Eulenburg, »unter dem Eindruck erregender Zigeunermusik«, am Ufer des Stamberger Sees aus süßem Traum diese Verse:
Liebe.
Ihr Schmerzenswogen, die in brausender Gewalt Mein Herz umfluthet, haltet nicht einl Laßt Eurer Schmerzenswonne taumelndes Entzücken Für ewig mein sein — für ewig meini
Des wilden Schäumens zitterndes Gekose,
Das Beben Eurer Wogenwucht
Und Eurer Schmerzensfluthen trunkenes Gebrause,
Es ist mein Lebensodem, ist mein Seinl
In tiefe Nacht muß ich versinken, wenn Ihr schweigt, Denn meine Liebe lebt in Euch allein.
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In tiefe Nacht muß ich versinken, wenn Ihr schweigt,
In eine Totenstarre ohne Tod,
Bevrußt bewußtlos, ein verzerrter Schatten
Bin mehr ich als ein Nichts — und weniger
Ohne mein Leid, ohne mein sitßes Leidl
O Schmerzenswogenl Euren Liebeskuß, Brennt ihn auf meine Lippen tausendmall
Laßt mich vergehen, in Euch versinkenl
O sprengt dies Herz entzwei, das leben nicht
Und — wehe, wehel — sterben nicht kanni
Am Gestade femer Welten SoUen ewig widerhallen Meiner Liebe Schmerzensklagen, Meiner Schmerzen süße Peini
Farenheid nennts den »lieben Gruß aus Stamberg«. Und das ungleichalterige Paar schwärmt von Antinous und von hellenisch^germanischer Männerfreundschaft. Inzwischen wur# den dralle Fischer in den Onanskult eingeweiht. Hier steht Einer, dem Ekleres zugemuthet ward. Wenn er in den »Sumpf des männlichen Dimenthums versank« und, der verzärtelte Bursche, zum Erpresser wurde? Achtung, Ihr Herren, vor Einem, der solcher Versuchung widerstand, nie mühsälige Arbeit verlernte und heute die Frau und fünf Kinder anstand dig ernährt. Achtung: und wenn er, statt der dreißig, sechzig Strafen auf der Liste hätte. Neunzehnjährig war er, unschuU dig, als die Hand dieses Grafen ihn schändete. Und ist den# noch ein ganzer Kerl geworden. Achtung auch vor einem
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Rechtsgeföhl, das ihn trieb, unter Opfern ftir die Wahrheit zu zeugen. Im November 1907 arbeitet er am Neubau der Vereinsbank mit (das Milchgeschäft kann die Frau ziemlich allein besorgen), hört von der »Kamarilla« reden (»Das ist nichts Gescheites!«), sieht in einer illustrirten Zeitung den Kopf Eulenburgs und sagt: »Von Dem könnte ich auch was erzählen!« Nun setzen die Arbeitgenossen ihm zu: er müsse sein Erlebniß dem Justizrath Bernstein melden; dürfe nicht dulden, daß durch den Eulenburg ein Unschuldiger ins Get» fangniß komme. Einer nur räth, sich lieber heimlich an den Fürsten zu wenden, der ftir Riedels Schweigen gewiß ftm£( hundert Mark (die gute Seele konnte getrost noch zwei Nul« len anhängen) zahlen werde. Nix da. Zum Bernstein geht er. »\^e kann der Fürst beschwören, daß er mit der Kramilla nie was zu schaffen gehabt habe? Mit mir hat er ja die Kra^ milla gemacht!« (Kamarilla, denkt er, ist der technische Aus«: druck, mit dem die feinen Herren ihre »Schmutzereien» be^ zeichnen.) Wenn er vor Strafe sicher sei, wolle er als Zeuge vors Gericht treten. Die Vierte Strafkammer hält schon den Versuch, einen eulenburgischen Eid anzufechten, ftir schnöden Frevel und langt nicht erst nach Riedek Zeugniß. Die Kö# nigliche Staatsanwaltschaft am berliner Landgericht I aber ist ihrer Sache nicht ganz so sicher. Zuerst wird, ein paar Wochen nach meiner Verurtheilung, der Kriminalkommissar Hans von Tresckow (dessen diskrete Aussage genügt hätte, um jedem kleinen Beamten den Hals zu brechen, der Durchi? laucht aber nicht schaden konnte) nach Liebenberg geschickt,
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um zu ermitteln, ob der »Gottbegnadete, den man beben
muß, wenn man ihn sieht« (dixit Hugo Isenbiel), nicht am
Ende doch Etwas auf dem Kerbholz habe. »In dienstlicher
Angelegenheit« weilt Herr von Tresckow von Sonnabend
bis Montag auf dem Schloß; und bringt neue Wintermärchen
heim. Dann erinnert der in der Thurmstraße Gebietende
sich des münchener Milchhandlers und läßt ihn vernehmen.
Vom Ersuchten Richter? Nein. Von der Polizei. ViermaL
Sogar am Sonntag muß Riedel au£s Bureau. Ein Zettel, auf
dem der Vermerk »Meldesache« dturchstrichen ist, ruft ihn
zu einer Vernehmung, die erweisen soll, ob ein Ritter des
Hohen Ordens vom Schwarzen Adler, ein durch kaiserliches
Vertrauen über alle Standesgenossen hinausgehobener preu^
ßischer Fürst Zuchthausstrafe verdient hat Riedel steht Rede.
Mag aber wohl finden, daß Einem hienieden das Zeugniß
fär die Wahrheit nicht gerade bequem gemacht wird. (»Was
gings Dich an, Tropf, damischer?« fragt Frau Riedel.) Und
gilt in Moabit drei Wochen lang als ein Mann, auf den nichts
zu geben sei. Weil er so viele »Vorstrafen« hat? Hier, nah
der Heimath, kennt man den Typus und glaubt dem Ober^
bayem, trotz Raufhändeln und Grobem Unfiig. Ich will
schon jetzt die Hauptsätze aus dem Urtheil citiren:
In der Hauptverhandlung gegen Hardcn brachte Fürst Philipp zu Eulenburg und Hertefeld, den die Ausführungen der Zukunft' in nahe Verbindung mit dem Graifen Moltke gesetzt hatten, unter dem Zeugen« eid zum Ausdruck, er habe nie mit Männern geschlechtlichen Verkehr gehabt, überhaupt nie zu Männern geschlechtliche Neigung empfun« den. Fürst Eulenburg bekundete, er habe sich nie gegen § 175 StGB
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verfehlt; er habe niemals Schmutzereien getrieben. Zur ^derlegung dieser Bekundungen bot Harden Beweis an; insbesondere auch durch das Zeugniß des Milchmannes Georg Riedel in München. Die Erhe^ bung dieses Beweises fand nicht Statt
. . . Die Aussagen der 2^ugen Georg Riedel und Jakob Ernst erschien nen dem Gericht vollkommen glaubwürdig. Georg Riedel ist ein Mensch mit einer sehr rauhen Außenseite. Er hat eine große Anzahl von Vor» strafen wegen Körperverletzung, Groben Unfugs, auch wegen Beleidig gung erlitten, weil er seinem Temperament und seinem jähzornigen Naturel ofifenbar niemals Zügel anlegen gelernt hat und gegen jede vermeintliche oder wirkliche Unbill, die ihm widerfahrt, in rücksichb loser Weise aufbraust und vorgeht Daraus erklärt es sich, daß er bei den Sicherheitorganen seines Bezirkes in keinem guten Ruf steht; und so kam es denn auch, daß Bezirkskommissar SeufiFert eine anscheinend für Riedel sehr nachtheilige Zeugenaussage abgab. Er bezeichnete ihn als rach# und streitsüchtig und zur Denunziation geneigt . . . Seuffert erklärte hierzu, er selbst habe Riedel noch nie vernommen, er habe keine eidlichen oder unbeeideten unwahren Angaben Riedds mitan^ gehört; seine Annahme von Riedels Charakter und dessen Unglaub« Würdigkeit stütze sich nur auf die Mittheilungen der Nachbarschaft und der Schutzleute. Die Folgerungen, die Seuffert aus den ihm ge« wordenen Mittheilungen zog, mußten gegenüber der mehrstündigen unmittelbaren Beobaditung an Riedel durchaus zurücktreten; sie stelle ten sich als nicht begründet dar. Riedels ganze Erzählung, mit einer Unmenge von Einzelheiten, wie sie der rafiSnirteste Lügner kaum er» sinnen und der gewandteste Betrüger nicht mit solcher Fertigkeit, Sicherheit und ^derspruchlosigkeit zum Vortrag bringen könnte, machte den Eindruck unbedingter Glaubwürdigkeit Rücksichtlos gegen sich und Andere schilderte Riedel sein ganzes Vorleben und alle die Vorgänge mit Eulenburg. Keine an ihn gestellte Frage ließ ein 2Iögem, Schwanken oder Suchen nach Ausflüchten erkennen. Mit der urwüchsigen Naiveiät, die den Grundzug seines Charakters bildet, gab er über Alles, auch das für ihn selbst Pdnlichste, Auskunft. Und die»
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ser Eindruck der unbedingten Glaubwürdigkeit seiner Angaben wurde noch dadurch bestärkt, daß für ihn jedes Motiv zu einer unwahren Angabe (wie etwa Geldgier, Haß, Rachsucht, Streben nach Anerkenn nungj fehlte. Zudem £and die Aussage Riedels eine mächtige Stütze und Bestätigung in den Angaben Emsts.
Die Art und Weise, wie die Bekundungen des Zeugen Ernst zu Stande kamen, schließt jeden Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit aus. Der 2^uge, der sich als junger Bursche zu den von ihm bekundeten Unsittllchkeiten verleiten ließ, ist seitdem zu einem vermöglichen und angesehenen Bürger Stambergs geworden. Der Kampf um dieses An^ sehen ließ ihn in der heutigen Hauptverhandlung Stunden lang, trotz eindringlichen Ermahnungen, dabei beharren, zwischen ihm und Eulen^ bürg sei nie das Geringste vorgekommen. Erst der vielmalige und nachdrückliche Vorhalt des auffallend intimen Verkehrs des hochge# stellten Mannes mit dem schlichten Schiffer jungen, ihrer gemeinsamen Reisen, der großen Vortheile, die Ernst zugewendet wurden, brachen den VC^derstand, den Scham und Furcht vor Entdeckung der Wahr« hdtliebe und dem Pflichtgefühl in dem Zeugen entgegensetzten, und plötzlich schafften sich die thatsächlichen Geschehnisse in den Aeuße« rungen Emsts in einer Weise Durchbruch, die zugleich ergreifend und überzeugend wirkte. »Dann muß ich es sagen. Es ist so, vrie die Leute sagen«: so begann Ernst sein Geständniß; und auch hier noch kostete es ihn Schritt vor Schritt schwere Ueberwindung, die Thatsachen an« zugeben, um die es sich handelte, und bis zum Schluß machten die Aussagen des Zeugen noch den Eindruck, daß sie (wenigstens in Be« zug auf Einzelheiten) zurückhaltend seien.
Auf Grund der vorgeschilderten Beweiserhebung gelangte das Ge« rieht zu der Ueberzeugung, daß der Privatkläger Maximilian Harden Beweismittel besessen und nach der ihm gebotenen Möglichkeit gel« tend gemacht habe, die nach ihrem schwerwiegenden und ernsten Inhalt die Annahme, als habe Harden trotz ihrer Geltendmachung schweigen wollen und als sei er auf eine Entschädigung von dem Fürsten Eulenburg ausgegangen oder thatsächlich bestochen worden,
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vollkommen ausschlössen. Das Gericht erachtete somit die in der Neuen Freien Volkszeitung gerüchtweise aufgestellte Behauptung als unwahr erwiesen.
So weit sind wir noch nicht. Riedel steht noch im Kreuze feuer. Kein Irrthum möglich? Keiner. Ein Eulenburg mags gewesen sein; der vielleicht, den die Homosexualität einst den Dragonerkragen und das Eheband gekostet hat: Philipps Bruder. (Daß nur diese Verwechselung an seinem üblen Ruf schuld sei, hat der Fürst, der zärtliche Bruder und Altruist, ia dem Kriminalkommissar, der bei ihm zu Gast war, erzählt.) Ich kenne nur den einen, Herr Richter. Und dieser Eine hieß sicher Philipp von Eulenburg? Nicht »von«: »zu«; Philipp Graf zu Eulenburg; ich habe ja oft genug den Na^ men auf Briefumschläge geschrieben. Ist die Wohnung rich^ tlg angegeben? Vom Meldeamt kommt die Auskunft, Graf Philipp zu Eulenburg habe von 1882 bis 1884 am Prome# nadeplatz 21, im Zweiten Stock, gewohnt. Stimmt Lebt der Kamerad noch, der Ihnen damals aus Augsburg durchs brennen half? Ja; er ist Blumenhändler und wohnt hier am Viktualienmarkt. Wird geladen und erzählt: »Riedel war in meiner Schwadron. Ein guter Kamerad, der nur oft abends zu spät einpassirte und ohne Urlaub nach München ftthr. Sonst hielt er sich ordentlich (wir lagen in einem Zinmier), stand im Dienst seinen Mann und war bei den Vorgesetzten nicht schlecht angeschrieben. Verlogenheit habe ich an ihm nicht bemerkt. Uns fiel auf, daß er inuner Geld aus Mün^ chen mitbrachte. Das, sagte er, schenke ihm dort ein Baron.
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(Aelteren Freunden hat Riedel schon damals den Namen Eulenburgs als des Geldgebers genannt.) Das Billet zu der unerlaubten Fahrt habe ich ihm gekauft und erinnere mich noch genau der Vorgänge auf dem Exerzirplatz und am Bahnhof.« (Ein Beweis, daß auch Kleinigkeiten manchmal fest im Gedachtniß haften. Und ein feldafinger Fischer sollte nicht mehr wissen, wie ein Graf ihn verfuhrt und verkuppelt hat? Schildern nicht Greise noch bis ins Kleinste ihr erstes Geschlechtserlebniß?) Was zu prüfen war, ist geprüft, der Zeuge zehnmal streng und mit Vaterssanftmuth vor jeder Abweichung von lauterer Wahrheit gewarnt worden. Er darf niedersitzen und verschnaufen. Der nächste Zeuge I
»Jakob EmstI« Der Fischerjackl. Seit Jahren hatte ich von ihm gehört. In zwanzig Briefen, dreißig, war er als Zeuge empfohlen worden. Adelige und Künstler, die am Stamber« ger See übersommert oder ihn als Eulenburgs Reisebegleiter betroffen hatten, riethen: Da brenntsl Wunderlicherer Ver« kehr läßt sich nicht denken. Die Kühlsten schrieben: Der schwatzt nicht; mit Schraubenziehern holt Ihr aus Dem nichts heraus; wie auf Granit kann Fhili auf ihn bauen. Dennoch haben wir sein Zeugniß der Merten Strafkammer angeboten. Da hätte man ihn, wie andere Fhiliner, kurz gefragt, ob er von Seiner Durchlaucht je Unziemliches gehört und erfahren, in Seiner Durchlaucht nicht stets vielmehr den gütigen Brot^ herm verehrt habe. Den Vertheidiger gehindert, heikle Frai> gen zu stellen. »Der Zeuge hat uns ja gesagt, was er weiß, und ich kann nicht zulassen, daß er bedrängt wird.« (Be#
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drängt aber, geschmäht, zehnmal mit Zuchthaus geängstet und von der Skrupellosigkeit eines X'dchtes mit Entschleie^ rungen der Scham bedroht wurden die der Anklage unbe^ quemen Zeugen.) Und re bene gesta ans stamberger Gestade heimgeschickt. Dann hatte er nach der Schnur geschworen und war kaum je noch in die Wahrheit zu fähren. An welche Fädchen hast Du, Themis, Deine Wagschalen gehängtl
Ein Hagerer schiebt sich vor. Ein Defreggerkopf lächelt schlau, lächelt bang. Scheint entschlossen, fiir die Stunde der Inquisition dieses Lächeln nicht von der Lippe zu schicken. Auch während die Zunge die Eidesformel nachstammelt, nistet es unter den Nasenflügeln. »Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde. So wahr mir Gott helfe I« Die Stimme klingt dünner als Riedels; unsicherer. Jakob Ernst; dreiund vierzig Jahre alt; katholisch; \'(ltwer. Von Jugend auf in Stamberg Fischer und Oekonom (Bauer, würde der Norddeutsche sagen). Zum Militär brauchte ich nicht, weil ich allein war, auf dem Anwesen Alles sonst ausgestorben, und weil ich mit dem Gehör nicht so recht in Ordnung bin. Taub? Nicht ganz. Aber schwerhörig. Also müssen wir laut sprechen. »Den Fürsten Philipp zu Eulenburg kenne ich seit ungetShi sechst undzwanzig Jahren. Als ich ihn kennen lernte, war er Rath bei der Preußischen Gesandtschaft in München und verlebte fiinf oder sechs Sommer in Stamberg. Da habe ich ihn täg# lieh auf den See hinaus gefahren. Ob ich mit ihm 1882, um
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Mariae Lichtmeß, bei Riedel war, weiß ich nicht mehr. Ist zu lange her. (Ist aber wahr, ruft der Milchhandler; wird dem jimgeren Mann gegenübergestellt und spricht: Der ists; ganz bestimmt Der Fischerjackl kam mit dem Grafen zu Eulenburg auf meines Stiefvaters Hof, suchte mich dann in der Bierwirthschaft und blieb bei dem Grafen, als Der mich mit einem Zweimarkstück weggeschickt hatte.) »Was hier gemeint ist, weiß ich. Kann aber nichts aussagen. Nix is geschehn. Mit mir hat der Fürst nichts Unrechtes gemacht. Gar nichts. Auch keine Andeutung, ich solle ihm was zu Liebe thun. Nie hat er mich auf schlechte Art angefaßt. Nie gestreichelt, geküßt, um den Hals genommen. Nie von Schmutzereien geredet. Audi, meines Wissens, mit Anderen nicht. Das nehme ich auf meinen Eid. Freilich. Warum denn nicht? Nein: ich halte nicht zurück; bleibe streng bei der Wahrheit. Geschwatzt ist ja über uns worden. Aber ohne Grund. Wie die Leute so sind: weil der Graf gut zu mir war, sollte Schlechtes dahinter stecken. Was Besonderes habe ich von dem Fürsten nicht gehabt. Meine Kinder? Ja, die bekamen zu Weihnachten Spielzeug, auch wohl Geld. Das verdroß die Nachbarn. Und so wurde geredet. Aber mit mir hat der Graf nichts vorgehabt. Nix ist geschehn. Nix.« Die Rede strömt nicht; fließt auch nicht ruhig dahin. Tröpfelt jetzt und überstürzt sich nun in ängstlicher Hast Aengstlicher? Ein Bauer, vor Gericht, in solcher Sache: kein Wunder, daß er nicht so sicher und ruhig redet wie auf seinem Hof, in seinem Kahn. Daß er sich Alles abfragen,
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jedes Erinnern aus dem Fuchsbau seines Mißtrauens aus« graben läßt, ist hier noch kein Verdachtsgrund. Nur mit dem Gericht nichts zu thun haben: denkt auch der Unschuldige. Oberlandesgerichtsrath Mayer faßt den Fischermeister sanft an. Spricht zu ihm wie ein gütig mahnender Vater. »Nicht wahr: Sie verschweigen uns nichts? So unangenehm es Ihnen sein mag: die Wahrheit muß heraus; wir haben das Recht» sie zu fordern.« Glaubt er dem Zeugen? Kein Zug in dem stillen Antlitz, nicht die winzigste Tonschwingung verräths. Nun darf Justizrath Bernstein des Fragerechtes walten. Und sogleich ists, als spiire der Zeuge das Nahen, auf leiser Sohle, des Feindes und setze des Wesens Festung in Vertheidigungzustand. Die linke Hand bohrt sich in die Joppentasche (die Bewegung des Tuches läßt mich erkennen, daß die Finger nicht ruhig liegen); die rechte ist auf dem Rücken geballt (und ich sehe sie zucken, sehe, wie der braune Daumen die Innenhaut des Zeigfingers ruhelos reibt). Soll, nach uraltem Bauemaberglauben, der Eid »kalt«, un^ wirksam gemacht, aus der hohlen Hand in des Teufels Küche gewiesen werden? Der Kopf, graugelb unter dünnem Haar, neigt sich vor, als wolle er früh des Nahenden Absicht tu spähen. Manchmal entballt sich die sichtbare Faust und die Finger umspannen die Ohrmuschelwand. Schwerhörig: Das dürfen die Herren vom Gericht ja nicht vergessen. »Herr Ernst, wissen Sie, wo Fürst Eulenburg sein Gut hat?« »Freii* lieh. Liebenberg heißts. Zweimal war ich dort; oder dreimal. Zuerst 1888. Der Graf hatte mich eingeladen. Ich sollte (ur
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ihn fischen.« »Hatte er denn dort keinen Fischer?« »Frei« hch. Er meinte nur, ich verstehe mich besser drauf und könne seinen Mann noch Etwas lehren.« (Unwahrscheinlich. Im Stambergersee wird die Fischerei anders betrieben als in der ukermärkischen Großen Lanke. Jeder Sachverständige weiß es. Der Punkt wird aber nicht berührt.) »Die Reisen hat Graf Eulenburg bezahlt?« »Freilich. Auch extra noch ftir die Fischerei. Ich hatte ja all meine Netze mit und arbeitete (tir ihn.« »Haben Sie sich mit dem Grafen, dem Fürsten geduzt?« »Das war* noch schöner 1 Er sagte zu mir Du, aber ich nicht zu ihm.« »Sie waren doch sehr vertraut mit einander. Hat er nicht, zum Beispiel, mit Ihnen am selben Tisch Kaffee getrunken?« »Ih wo denni Das heißt: auf der Terrasse des Hotels Bayerischer Hof ists vorgekommen; aber nicht im Zimmer des Fürsten. Da giebts nix.« »Sie haben heute ein Haus. Das zum Kauf oder Bau nöthige Geld hat Ihnen der Fürst gegeben?« »Nein. Die zwölftausend Mark, die ich brauchte, hat mir die Mutter des Fürsten geliehen; nicht geschenkt. Als der Fürst dann die Villa in Stamberg kaufte, wurde mir das Geld gekündigt und ich mußte es zurückzahlen. Erst dachte ich, er solle es mir geben; doch meinte er, ich solle mich an seine Mutter wenden. Da habe ichs halt probirt; er hat fiir mich gebeten und sie hat es mir gegeben. Nach der Kündigung habe ichs dann zturückgezahlt; ich hatte zehntausend Mark erheirathet und zweitausend er« spart.« (So wars nicht. Als ein Stamberger, der mit Getreide handelt, die auf Emsts Anwesen lastende Hypothek gekün«
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digt hatte, wandte der Fischerjackl sich an den Grafen Eulen# bürg, der, angeblich von seiner Mutter, ihm das Geld ver» schaffte; ohne jede Sicherung; gegen drei Prozent Zinsen, deren Zahlung noch nicht nachgewiesen ist. Die Mitgift seiner Frau, einer Waise aus Wengen, gab Jakob Ernst in die Bank. Antwortete auf die Frage, ob ers nicht zur Rüclu Zahlung des Darlehns benutzen wolle: »Nein; der Zins, den die Bank mir zahlt, ist um ein halbes Prozent höher als der, den ich dem Grafen zu zahlen habe: also verdiene ich, wenn ich das Darlehn behalte.«) Wunderlich. Ein Fischer trinkt mit einem Grafen von der Preußischen Gesandtschaft Ka£fee, wird aus Oberbayem von ihm mehrmals in die Ukermark geladen, erhält von ihm oder doch unter gräflicher Bürgin Schaft ohne jede Sicherheit zwölftausend Mark. Alles in Ehren. »Sie haben mit dem Fürsten auch Reisen gemacht?« »Freilich. Wann er ins Gebirg ist, bin ich mit ihm. Machte ihm, so zu sagen, den Diener. Putzte seine Kleider und sorgte ftir ihn.« »Damals lebte Ihr Vater noch. Sie waren Fischerknecht. Hatten Sie denn Zeit und Schick zu solchem Dienst?« »Mein Vater kam bei der Fischerei auch ohne mich aus. Das war nicht schlimm. Der Fiirst konnte mich brauchen. Deshalb ging ich mit ihm. Das Bischen Kleidern putzen lernt sich schnell. Bezahlt? Na, mit dem Bezahlen wars nicht gar so gefahrlich. Aber ich habe ein Stück von der Welt gesehen.« »Welches Stück?« »Wir waren in Gar# misch, in Meran . . . Auf Anderes kann ich mich nicht be# sinnen.« »Haben Sie den Fürsten auf der Reise auch aus«
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und angekleidet?« »Freilich. Ick machte kalt den Kammern dienet.« »Hatte er keinen?« »Doch. Der wurde nach Haus geschickt. Der Fürst fand mich brauchbarer.« »Den Fischer^ knecht? Schön. Hat er Sie gekitßt? Ist er zärtlich mit Ihnen gewesen? Wollte er Sie zu geschlechtlichen Sachen ver^ fuhren?« »Woher denni« »Ich bitte Sie um eine bestimmte Antwort: Ja oder Nein?« »Nein . . . Die stamberger Villa des Fürsten ist noch unter meiner Au&icht; ich bin der Ver# Walter. Ihn selbst habe ich in den letzten Jahren nicht mehr gesehen. Nein: ich halte nicht zurück. Nein. Dagiebtsnix. Was die Leute auch reden: der Fürst kann mir nichts nach^ sagen und ich kann dem Fürsten nichts nachsagen«.
Das ists. »Der Fürst kann mir nichts nachsagen und ich kann dem Fürsten nichts nachsagen.« Bei jeder gefahrlichen Wendung des Verhörs schlangelt der Satz sich von der Lippe. Niemand hats gesehen. Nicht Einer wenigstens, der nicht, als zugehörig, Grund genug hat, seine Zunge zu hüten. Wenn wir einander nicht belasten, giebts keine Ge&hr der Entdeckung. Er sagt nichts, ich sage nichts; und wer meinen Eid etwa anzweifelt, wird doch dem eines Fürsten und Adlern ritters trauen. So arbeitet dieses Gehirn; assozürt es im Gan# gliondunkel die Möglichkeiten. Der Rumpf bebt nicht. Der braune Daumen reibt die Innenhaut des Zeigfingers, dessen Nachbarn sich in den Handteller graben. Ein Alltagsmittel, um die Nerven in Ruhe zu zwingen. Im Examen macht mans so; beim Zahnarzt; auf dem Strohstuhl des angeklagten Sünders. Jakob Ernst will gelassen scheinen. Gelingts? Das
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Lächeln hält noch und die Augen mühen sich, spöttisch zu blicken und dem Ausfrager zu sagen, was die Zunge ver^ schweigen muß: »Redst damisch daher, Tropf Du, eiskalter.« Wer scharf hinschaut, ahnt in dem ganglion ciliare aber die Furcht, hinter dem pupilbrischen Spottversuch die ängstliche Frage, was die nächste Minute wohl bringen könne. Aus der Unterlippe scheint jeder Blutstropfen gewichen. Blaß hängt sie und zittert. Zittert nur stärker noch, sobald der Zeuge sein Gemurmel unterbricht Und drüber das erzwungene Lächeln. Wie über einem welk sich bräunenden Blatt ein fröstelnder Strahl der Herbstabendsonne. Mich dauert der Mann. Ich weiß, daß ein Herzleiden ihn quält. Was mag sein Innerstes heute ausstehen? Jetzt darf er sich neben Riedel setzen. Fertig I Aus der Brusttiefe holt er Luft.
Der dritte Zeuge. Baumeister Joseph Fischhaber aus Stams« berg. Ueber Eulenburgs Intimität mit Ernst ist schon vor einem Vierteljahrhundert am See Allerlei gemunkelt worden. Noch mehr, als im vorigen Jahr die Prozesse gegen Harden anfingen. Bestimmtes weiß der Baumeister nicht. Einmal, als ein Stamberger Arges andeutete, zog der Fischerjackl sein Messer, stieß es in die Wirthshaustischplatte und schrie aus rothem Kopf, den Nächsten, der ihm so komme, werde er vor den Richter schleppen. Ernst ist ein angesehener Mann, dem der Zeuge nichts Böses zutraut. Solchen Verkehr imter Männern kann er sich überhaupt nicht vorstellen. Als er nach siebenjähriger Abwesenheit aus München heimkam, hörte er, daß Eulenburgs Garten das »Spinatgärtl« genannt werde.
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(Das Wort erinnert an den bayeriscken Ekelnamen der Herteü, die vom Manne heischen, was dem Normalen das Weib gewährt.) Dabei wurde auch wieder von Ernst gesprochen. Herr Joseph Fischhaber nahms für einen Witz. Kann also nichts Erhebliches bekunden. Die Nerven der Hörer ent^ spannen sich. Redakteur Städele ordnet Ausschnitte, die er auf gelbes Papier geklebt hat. Eulenburgs Anwalt stützt milde das Haupt und deckt mit der anderen Hand ein Gähnen. Ich bedenke, wie sinnvoll, wie expressiv diese Bauemnamen sind. Fischhaber: uralte Geschlechter fleißiger Fischer winken von solcher Wesensfirma her. So lange man Fische hatte und die Fangarbeit nicht scheute, heß sich leben. Nun steht ein stamberger Fischhaber hier und muß, vor Gericht, die Spinats gartenschande ausspreiten. Dahin hat sein Fürst ihn gebracht. Pause. Vor der Einlaßthür in der Mariahilf straße knäuelt sichs. Cigaretten werden angesteckt; Meinungen ausgetauscht. »Was sagen Sie zu unserem Mayer?« »Mit all seinen Vor^ strafen ist dieser Riedel ein Prachtkerl. Der Prototypus des ungebändigten oberbayerischen Bauern von unausrodbarem Rechtsgefiihl.« »Bernstein war anfangs matt. Wenn er so durch die Zähne murmelt, will er nicht recht.« »Oder thut, als ob er nicht wolle.« »In Riedels Aussage ist jedes Wort wahr; jedes im Saal von Jedem geglaubt worden. Und was von Emsts Vorwänden haltbar ist, fühlt ein Blinder doch mit dem Krückstock. Aus is.« Darin stimmen alle Urtheile überein. Wirklich aus? Ich sehe schon die berliner Berichte. »Ein Fall. Ein Vierteljahrhundert her. Der Zeuge ein viek
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lach vorbestraftes Subjekt. Der andere, ein angesehener Mann, hat allen Advokatenkniffen Stand gehalten und mit der größten Sicherheit fiir den Fürsten ausgesagt. Das Manö«> ver ist also mißlungen.« Die Sippe kennt Ihr Bajuvaren nicht. Auch nicht die Verästelung der Kinaedenintemationale, die in allen Winkeln ihre Geschäftsführer hat. Noch ists nicht aus. Wenn wir auf diesem Fleck bleiben, muß die Leporelloliste, die meine Zeugen aufzählt, morgen ans Licht. Staatsanwaltschaft und Untersuchungrichter werden ihre Pflicht thun. Gehen aber von dem Vorurtheil aus, daß ein Fürst nicht £alsch schwören könne; zu klug sei, um sich in solche Gefahr zu begeben. Ueber diesen Wall kommt man nicht leicht. Und dann steht der Zeuge im stillen Zimmer vor dem Richter oder Kriminalbeamten, der am selben Tag vielleicht noch ein Dutzend anderer Sachen erledigen muß und firoh ist, wenn er den Namen des Vernommenen unter dem Protokol hat. Wird nicht in die Enge getneben noch vom wachsamen Ohr guter Freunde und getreuer Nachbarn kontrolirt und kann der weithin ruchbaren Falle ausbiegen. Schließlich muß es gelingen. Der Schuldbeweis ist zu dick und kann nicht verkrümeln. Noch aber liegt schwere Arbeit vor uns . . . Drei Stunden Pause. In die Stadt zurück. Wie durch Nebekchleier blickt das brennende Auge. Lautlos, wie über wattirte Schienen hin, scheint die Straßenbahn zu gleiten; das Ohr lauscht ins Innerste hinein und läßt von außen her keine Schallwelle durch das ovale Fenster ins knöcherne Labyrinth. Nun hält der Wagen. In die Odeon^
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Bar. Um diese Stunde ists überall leer. »Geröstete Nieren.4c Aus dem Gerichtshaus kommen wir, von der Zuriistung eines Scharfrichterwerkes: und schmausen. Geröstete Nieren. Hastig und still. Die Magennerven langen nach Futter. Lebhaft wird das Gespräch erst beim Ka£Fee. Noch neun Zeugen. Trotzdem werden wir heute fertig. Ich zweifle. Ohne triftigen Grund hatte der Vorsitzende nicht eine so lange Pause verfugt. Gewiß hat Eidenburgs Anwalt darum gebeten. Um Zwölf muß die Aussage Riedels in Liebenberg gewesen sein. Wenn wir in die Au zurückkommen, ist des Fiarsten Antwort wohl längst eingetroflfen. Vertagung; weil er vernommen werden, das Zeugniß des Milchhändlers ent# kräften will. Krank? Ist er, schon seit den Tagen des Tausche Prozesses, immer, wenns an irgendeiner Ecke brenzUch riecht. Doch wenns die letzte Reise wäre: in solchem Fall macht selbst der Siechste sich auf die Beine. Auch kann er Gericht und Parteien ja zur Vernehmung nach Liebenberg rufen. Ein schöner Gedanke, sagt Bernstein; aber es kommt anders. Den vor Mayer als Zeugen: Besseres könnten Sie sich nicht wünschen. Der hütet sich aber. Ich wette, daß er nichts sagt und firoh ist, wenn er nicht gefragt wird. Daß unser Oberlandesgerichtsrath daran gedacht hat, ihm Zeit zur Ver^ theidigung zu lassen, glaube ich. Der denkt an Alles. Da könnten wir lange warten. Dennoch: Reinekes Fuß steckt in der Klemme des Fuchseisens. Das Tollste, meint der Dritte am Tisch, ist die Kuppelei am Promenadeplatz; mir das Un^ verständlichste. Sind diese Leute auf ihre bärtigen Liebsten
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denn gar nicdt eifersüclitig, wie Unsereins auf sein Mädel? Selten, muß ich antworten. Fiir diese Zunft gilt vielfach noch die Sittensatzung polyandrischer Zeit, ^^e an der Sohle des Himalaja bei manchen Volkssplittem, gehört das Lustobjekt der ganzen Bruderschaft. Sobald eins eingefangen ist, wird geschrieben oder die Telephonkurbel gedreht: Neue Jagd! Warum soU der Bruder dem Bruder die allzu rare Freude nicht gönnen? Das Gefäß, dem ein Kindlein entbunden werden kann, mag Eifersucht bewachen. Der Urning ist auch unter der Erotenfuchtel nicht (nach Schopenhauers Schlagwort) Dupe der Gattung. Von dem danziger Welt^ weisen, dessen Metaphysik der Geschlechtsliebe ohne die Nachwirkung der Lues vielleicht nicht entstanden wäre, darf man über Evas Töchter kein unbefuigeneres Urtheil erwarten als von einem anderen Verwundeten über den Feind, der ihm Arglosen den Lebensquell abdämmte. Ueber kinaidi# sches Wesen hat er ein paar gute Worte gesagt Ich könnte Ihnen Briefe zeigen, in denen ein Freund dem Winkelanti^ nous fiir die dem fernen Freund gespendete 2^rtlichkeit dankt und den Kuß des Jünglings ersehnt, der ihn auf dem Pfiihl des Geliebten ersetzt; Briefe hochgeborener Herren. Eine andere Welt als unsere; mit anderem Moralgesetz, an^ deren dominirenden Vorstellungen. Deshalb so oft auch die Neigung zu okkulter Wunderkunst, Magierthum, Spiritismus. Der Gott, der Schwefel und Feuer auf Sodom herabregnen ließ, der Heiland, dessen Apostel wider die Männerpaarung als wider die schwärzeste Geschlechtsschande wetterten,
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taugen nicht (&r den Kult dieser Gemeinde. Die zu Heu# chelei, zur Bergung der Gefuhlsdominante auf Schritt und Tritt Genöthigten stellen sich manchmal fromm. Lüge ist ihre Ehe, die fremdem Blick als Spektakel und Weide ge# botene Liebe zu ihren Kindern, der im Pflichtbett lieblos gezeugten Brut; warum nicht der himmelan schwellende Glaube? Alles ist, Wort, Geberde, Handlung, nur dem einen Zweck unterthan: die weit von der Norm abbiegende Wesenskurve zu vcrhiiUen. Hier Der von heldischem Wuchs im Generalsrock nahm ein Weib und schuf ächzend im Schoß der Ungeliebten die Frucht, auf daß Keiner ahne, an welchen mißdufrigen StaUreizen die Excellenz sich ergötze. Da er# niedert Einer die erwachsenden Söhne zu Schaugeräth, auf daß der Abglanz des Familienglückes den dämmernden Ver# dacht überstrahle. Der dort mit dem hohen Titel, aus altem Dynastenhaus, ist der Erste im Kirchengestühl und scheint ganz in Andacht versunken; abends schleicht er im Reit» knechtskittel um die Nothdurfrstätten der Manner und lockt sich Kunden herbei: denn seinen kranken Trieb kitzelt wol# lüstig die Vorstellung, die heimliche Huld sich bezahlen zu lassen, einmal doch im Wettbewerb gemeiner Menschheit den Preis zu erringen. Jedes unzarte Wort verletzt sie. Auf ihrer Lippe lebt nur das Ideal. Aus ihrem Auge leuchtet das Sehnen, auch den Nächsten auf die von ihnen erkletterte Stufe der Kalokagathie zu heben. Dicht unterm Auge aber saugen die Nüstern den Schweißgeruch eines wollenen Fischerhemdes oder Kommißrockes wie ambrosischen Balsam
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ein. (»Das herbige Hemd, das ich trug, hat am Promenaden platz den feinen Herrn so gut ge&llen,« sagte Riedel.) Das laute Bekenntniß zu Venus Urania würde Verdacht wecken. Lieber bleibt man drum im alten Glauben; klebt das Be# kenntniß zu ihm an alle Zäune und Mauerecken. Hinter den Plakaten ist Raum (ur tolerantere Götter. Der kränkelnde, in der schweren Schule der Verstellung scheu gewordene Sinn schweift über das seiner Brunst widerstrebende Diesn seits hinaus; mag sich in einer Welt nicht bescheiden, die ihn als unfruchtbar und deshalb feindlich ablehnt, und sucht eine Vorsehung, die ihm gnädiger ist als das harte Gesetz der westlichen Sittenzone. Geister werden beschworen, In# diens und Griechenlands Götter herbeigefleht. Herr Edmund Jaroljmek, einst »Seiner Durchlaucht des Fürsten Philipp zu Eulenburg^Hertefeld Privatsekretär« (so Stands auf der Karte), jetzt sein (ungern anerkannter) Eidam, las aus Büchern vor, die er nicht kannte, mit dem Hinterkopf berührte, und war in den Fußtapfen der Frau Blawatsky ziemlich weit ins Nebeln land des Esoterischen Buddhismus vorgeschritten. Ein Magus aus Rumänien oder der Bukowina. Schon vor zwanzig Jahren schrieb Philipp an den »gehebten Freund« Fritz von Faren# heid, wie selig er sei, seit Fürst Rudolf Liechtenstein ihm die Gnadenpforte in den Okkultismus geö&et habe. »Dieser selten begabte und hochinteressante Mann, an dessen Physis sich räthselhafte Erscheinungen ketten, bietet mir durch seine Glaubensgewißheit einer individuellen Fortdauer nach dem Tode so unendhch viel auf dem Gebiete der Rehgion, der
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Philosophie und der Mystik, daß ich nicht satt werde, mit ihm von seinen Er£sdinmgen zu reden. Räthselhafte Erschein nungen umgeben uns, Schriften entstehen, die so weit über der Anwesenden Können und Denken hinausgehen, daß das Einwirken einer höheren Intelligenz zur zwingenden Gewiß« heit werden muß; denn im täglichen, vertrauten Freundes« verkehr ist jede Täuschung vollkommen ausgeschlossen.« Flink ists darm weitergegangen. »Das Geheimniß des Geistes Emanuel.« Spiritisten, Theosophen, Magier aller Sorten miissen herbei. Große Preußenherrscher werden citirt und ge« währen politischen Rath. Anno 1906. In Fritzens hellem Staat. Adoranten knien im Halbkreis; und sieben aus dem Staub noch die Botschaft, der Angebetete, von dem so »unendlich viel« zu ho£fen ist, habe zu dem »unbeschreiblich eigenartigen Wesen« auch das Zweite Gesicht der Stuarts ererbt.
Aus dem Seitenp&d zurück auf die Hauptstraße. Eifer« süchtig sind diese Herren meist nur auf Frauen gewährte, von Frauen erlangte Gunst. Männliche theilen sie gem. Riedels Kuppelgeschichte hat nichts besonders AufiEalliges. Riedel war, während der Gesandtschaftsekretär sich an dem achtzehnjährigen Jakob Ernst letzte, nur eine Episode. Wenn ein Anderer an dem stämmigen Feldafinger Gefallen £md: unter Brüdern wird nicht geknickert. Der Zunft gebührt Mitleid? Sicher. Nur soll sie im Schatten bleiben. Nicht den jungen Trieb Gesunder vergiften. Nicht als Trägerin höherer Kultur auf uns herabsehen. Ihre Organisation mei« netwegen zum Interessenschutz, nicht zum Angriflf nutzen.
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Mit ihrer angeborenen oder anerzogenen Unwahrhaftigkeit und Verhetzungsucht, mit all dem süßlich parfiimirten Wun^ derkram, der die stärkste Instinktregung in Mysterien schleiem soll, nicht dahin drängen, wo sie gefiihrlich werden und ein tapferes, seiner Tapferkeit noch auf lange hinaus bedürftiges Herrenvolk sacht, ehe das Auge der Nation Etwas merkt, entmannen müßte. Dann heißt die Losung: Kampf; auf Le^ ben und Tod. Schon ist ein Theilchen der Kriegerkaste, das sichtbarste, zu weibischer Putzsucht verfuhrt. Schmückt Man^ eher die Hand und den Arm, die in Schlachtgewittem das Schwert schwingen sollen, allzu üppig mit Goldreifen und glitzerndem Gestein. Schenken Männer in festlicher Stunde einander Blumen. Tauschen Kosenamen und Küsse, die von Gethsemane her unter Männern doch in Verruf sind. Schnür ren den Leib über der Hüftengegend und umschlingen so e£Feminirtes Mannsvolk zum Kasinoreigen. Das säuselt, klim^ / pert, girrt, poetelt, tätschelt, hat im Hagestolzenheim, das \^ dem Tarifeden einer Luxusdime ähnelt, neben dem breiten Himmelbett das neuste Buch des just in die Mode gelotsten Sexualmystagogen und strömt auf zwanzig Schritte die Wohl# gerüche Arabiens aus. Müssen wir einen Kriegssturm ersehe nen, der diesen schwülen Spuk mit eisigem Athem wegfegt? Soll der starke Schoß deutscher Frauen aus edel gezüchtetem, unerschöpftem Stamm verdorren, weil dem Herrn Gemahl Ephebenfleisch besser schmeckt? Empfindet Jeder denn nicht die Verleitung auch nur eines Soldaten oder anderswo firo^ nenden Burschen zu solchem Gräuel als eine Nationalschande?
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Halb Drei. Und was wird aus Jakob Ernst? Der Justiz^ rath fidtelt die Wangen. Viel Hoffiiung scheint ihm da nicht. Der Fischermeister ficht um seine Existenz, um Alles, was er durch Fleiß, Redlichkeit, äußeren Anstand in Jahrzehnten erworben hat. Drum muß man ihn, sage ich, lehren, daß er in diesem Spiel noch höheren Einsatz verlieren kann. Bisher hat er die Wahrheit gehehlt. Sind wir darüber einig? Gut. Und ein Zeuge, der vor einem unbefangen das Recht suchen^ den Tribunal, vor einem Musterrichter gar unter seinem Eid auszusagen hat, soU nicht zu o£Fenem Eingeständniß zu brin^ gen sein? »Schon recht; gerade der Musterrichter wilrde aber eine lange Schinderei des Zeugen nicht dulden; übrigens bin ich mit mir selbst noch nicht schlüssig.« Und ich nicht so anmaßend, Ihrer Er£Jirung Rath aufdringen zu wollen. Schinderei wäre mir selbst widrig. Doch vormittags haben Sie, dünkt mich, den Mann nur mit sanfter Hand angefaßt. Das war vernünftig. Jetzt wankt er. Ein Stoß: und er fallt. »Der Fürst kann mir nichts nachsagen und ich kann dem Fürsten nichts nachsagen«: noch glaubt er sich von dieser Gewißheit bis ans Ende seiner Tage geschirmt. Sobald er zu fbrchten anfangt, daß ihm dennoch Etwas nachgesagt werden könne (weils Einer gesehen hat oder ein Brief zum Verräther ward), stürzt die zurückgestaute Wahrheit über die Beinpfo# sten der Mundschleuße. Im Eid ist ungeheure Wucht akku^ mulirt. Den Ruch der Männerminne wird Ernst doch nie wieder los. Die Last eines Meineides trüge sein morsches Gewissen nicht; die würde ihn früh in die Gruft drücken.
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Noch einen Versuch, Herr Justizrath. Nach Riedels Aussage kann er gehngen. Ein Zeuge stützt den anderen; stählt ihm den ^VClllen zur Wahrhaftigkeit, wie zur Lüge. Auch müßte ich mich auf die Physiognomie spottschlecht verstehen, wenn die Stamberger ihrem Gevatter nicht während der Pause in unserem Sinn zugesetzt hätten. Das mühsam in die Backen geknitterte Lächeln barg ja kaum noch die schwarze Sorge. . . »Lassen Sie mich nur machen. Was möghch ist, geschieht. Ich wiU nur erst sehen, wie nachher die Luft ist. Versäumt wird nichts.« So trennten wir uns. Für eine halbe Stunde.
Im Hotelzimmer fiillt der Bhck auf den Schreibtische kalender. Einundzwanzigster April: Huttens Geburtstag. »Da laß* ich Jeden reden und lügen, was er will; hätt* Wahrheit ich geschwiegen, mir wären Hulder viel.«
Die vierte Tagesstunde ruft zurück in die Au. Bernstein hätte seine Wette gewonnen: kein Wörtchen aus Liebenberg. Wozu? Wer so mächtig ist, läßt die Dinge an sich kommen. Den Milchhändler kriegen sie in Berhn schon klein. Und wenn der Herr Harden mehr wüßte, wäre er vor dem Lande gericht damit angerückt. Der wird eingesperrt und von vere schleimten Preßpäderasten bespien; sein Vertheidiger folgt ihm hinters Eisengitter: und die liebe Seele des letzten Idealie sten hat wieder Ruhe. Mein Fischer? Der plaudert nicht. Dem könnten sie das Hirn entschälen, bis ins Spinalsystem hinein leuchten: und fanden nichts, was gegen mich je zu brauchen wäre. Ich habe geschworen. Dr. juris Fürst Philipp zu Eulenburg und Hertefeld, Graf von Sandeis, Erbliches
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Mitglied des Preußischen Herrenhauses» Kaiserlicher Bot schafter, Wirklicher Geheimer Rath, Ritter des Hohen Ordens vom Schwarzen Adler. Wer wagt, Rittersmann oder Knappe, mit schnödem Zweifel meinen Schwiur anzutasten? Den Wappenspruch Constantia et virtute zu höhnen? Standhaft und tugendsam war ich immer. Auch vorsichtig. Und Eurem Gerichtskram nicht fremd. Ein Doctor juris schwor den Eid.
Friedel, der Blumenhändler, der bei den Chevaulegers ge# dient hat, bestätigt, Punkt vor Punkt, Riedels Durchbrennern geschichte. Auch den stumpfen Vorstoß eines Bezirkskom# missars, den der Vorsitzende, um nichts zu versäumen, ge^ laden hat, wehrt der aufrechte Milchmann ohne besondere Mühe ab. Er hat die Behörde behelligt, doch nichts Uebles gethan. Der beamtete Leumundzeuge trägt keine Mehrung des Ansehens heim. Die Stimmung will schon ins manchem nerisch Lustige umschlagen. Ein abgestochener Kommissar: eine Hetz! Da bittet der Justizrath Bernstein, mit höfhcher Stimme, in ders von fem her aber schon gewittert, an den Zeugen Jakob Ernst noch ein paar Fragen richten zu dürfen. »Bittel« (Im Ton liegt: »Sie verschwenden Ihre Kraft; aber ich will Sie nicht hindern.«) Scharren. Räuspern. Stuhle rücken. Dann wirds im Saal feierlich still.
»Wollen Sie noch einmal hervortreten, Herr Ernst 1« Da ist er. Scheint noch immer gelassen. Die Haltung wie zuvor. Genau; als wäre sie vor dem Spiegel eingeübt. Auch das Lächeln und der ^Ue zu spöttischer Ueberlegenheit ist ihm nicht geschwunden. Doch die Gesichtsfarbe ist noch
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fahler; und die Unterlippe hangt blaulich und zittert von schnellerem Pub. Der Eid? Freilich: auf den nimmt er auch, was er jetzt sagen wird. Ist ja die Wahrheit. Der Justizrath möchte wissen, wie es mit den zwölftausend Mark gewesen ist. Ist das Darlehn wirklich, in barem Geld, zurückgezahlt worden? Ein gedeckter Laut, der ein Ja sein könnte; hastig ges Nicken giebt ihn daför aus. An die Mutter des Fürsten? Freilich. In barem Gelde, Herr Ernst? Fr... Das heißt: in Papieren. Gut. Mit der Aufzählung der Papiersorten will ich Sie nicht quälen. Ein anderer Punkt. Sie sind mit dem Fürsten gereist, ^e oft? Ja, meiner Seel*, so genau weiß ichs, nach zwanzig Jahren, nicht mehr; sechsmal, denke ich, oder achtmal; kann aber irren. (Unsicherer als vorher also; draufJen haben sie gewiß von der Fähmiß beeideter Aus^ sage gesprochen.) Ein stamberger Fischer, der mit einem preußischen Grafen, dann gar mit einer Durchlaucht reist, sollte sich solcher Erlebnisse rascher erinnern. Wo waren Sie mit dem Fürsten? Die Hand tastet nach der Schnecken^ höhle des Ohres. Schwerhörig; bitte, zu bedenken. (Die un# richtig beantwortete Frage war eben falsch verstanden worden. Bauemschlauheit oder Rathschluß von der Höhe?) Wo Sie waren, möchte ich wissen. In Gamisch; in Meran. Habs eh schon gesagt. In Liebenberg. Weiter. Ja, auf der Durchreise in Berlin. Fünf Tage lang. Ich sah mir die Stadt ordentlich an; und der Fürst hat natürlich gezahlt. Ich sollte ja für ihn fischen und seinen Fischer unterrichten. Sonst nirgends? Zürich fallt mir noch ein. Nun ists wohl völlig; aber ich
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kann clen einen ocler anderen Ort vergessen haben. (Un# vorsichtig. Ernst hat lebenden Nachbarn von der Riviera, von Rom, besonders oft und anschaulich von Egypten er^ zählt. Wenn die Leute vorträten und es bezeugten, stünde es um den Glauben an seine Wahrhaftigkeit schlecht. Der Justizrath bedrängt ihn aber nicht; läßt ihn ruhig gehen und müht sich um sanfte Tonart.) Sie sagten, der Fürst habe Sie als Kammerdiener mitgenommen? Freilich. Hat er seine Diener heimgeschickt? Nicht doch. Die blieben in Stam^ berg. Warum zog er Sie vor? Weiß nicht. Werde ihm wohl gefallen haben. Das, konnte ich mir denken, ist seine Sache und geht mich nicht an. Ganz richtig. Nur (ich will Ihnen nicht wehthun und Ihre Tüchtigkeit nicht bezweifeln) ists immerhin aujffiillig, daß ein verwöhnter Herr einen Fischer» knecht dem erprobten Kammerdiener vorzieht. Mag schon sein. »Hat er, bevor er Sie engagirte, denn gefragt, ob Sie sich drauf verstehen?« »Das weiß ich heute nicht mehr. Möglich, daß er gefragt hat; möglich, daß ers nicht that.» »Aufgefallen ist Ihnen nichts dabei?« »Was sollte mir denn aufEsdlen? Er konnte mich brauchen und ich wollte die Welt sehen.« »Sie leben lange in Stamberg; kennen Sie einen ähnlichen Fall? Ich meine, ob Ihres Wissens schon einmal ein Fischerknecht als Kammerdiener mit einem Grafen oder Fürsten auf die Reise gegangen ist.« »So vom Fleck weg kann ich da weder Ja noch Nein sagen; ich habe geschworen.« (Wieder das Angstsymptom.) »Denken Sie nur in aller Ruhe nach. Wn haben Zeit.« »Nein. Einen anderen Fall, einen, wo
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es auch so lag, weiß ich nicht anzuführen. Aber der Fürst kann mir nichts nachsagen und ich kann dem Fürsten nichts nachsagen; und auch die Leute können nichts beweisen.« (Da ists heraus. Beweisen: so hat er vormittags nicht geredet. Aber beweisen können nur wir Zwei einander was. Keiner sonst. Was die Leute tratschen, gilt nicht gegen unsere Eide.) Der Mann ist noch immer, un£aißbar, in sein Gehäus verkrochen. »Ich glaube nicht, Herr Justizrath, daß wir viel weiter kommen.« Diesmal sprichts der Oberlandesgerichtsrath aus. Dann, zu dem Zeugen: »Herr Ernst, Sie sind ein verständiger Mann, der seine Pflicht kennt. Sie dürfen nichts, was zur Sache gehört, zurückhalten. Die Folgen wären sehr arg für Sie. Wollen Sie noch Etwas sagen?« Ich hab* nix mehr zu sagen. Was ich zu sagen hatte, hab* ich gesagt. »Herr Justizrath, geben Sies auf?« »Ich möchte von dem Zeugen nur erklärt hören, warum gerade ihn, einen nur an grobe Arbeit gewöhnten Fischerknecht, der Fürst zu persönlicher Dienstleistung nahm, die doch gelernt sein will.« Die Finger der rechten Hand, die Schwurfinger, krümmen und steifen sich hastig. Die Sucht, unbefangen zu scheinen, hat auch in den Rumpf nun Bewegung gebracht. Der windet sich wie in wirrem Traum. Der Kopf wippt nach vom; neigt sich auf die Seite. Die Schultern heben sich. Jetzt ists, als recke der Mann sich auf die Zehen. Nur einer Fettspur gleicht noch, was vorher ein Lächeln war. Bernstein tritt dicht neben ihn. »Herr Ernst, ich will Ihnen Etwas sagen. Der Herr, der hier sitzt, ist mein Klient. Der soll, auch mit wegen des Fürsten
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£ulenbiirg, eingesperrt werden. Wenn Sie jetzt die Unwalirlieit sprechen: früli oder spät kommts doch heraus; und, so leid mirs thut, ich miißte Sie dann ins Zuchthaus bringen,« Auge in Auge. Ganz ruhig; £sist zärtlich. Dennoch: der Blick des Fischermeisters wird stier; irrt nun von den Richtern zu diesem Ankläger, von ihm zu den Richtern zurück; möchte aus der Höhle ins Erdreich fliehen: und muß den Augen^ paaren, die ihn suchen, Stand halten. »Warum?« »Warum er gerade mich mitgenommen hat? ... Ja . . . Das sind so Sachen . . .« »Von den Sachen wollen wir reden, Herr Emstl« Der Richter ist aufgestanden. Ragt mit dem Barrett bis ans Gebälk. Der Größte im Saal. Auch der Weiseste. Der sicherste Menschenbehandler. Ein Richter. Er winkt den Fischermeister dicht vor den Gerichtstisch. Will er ihn hüten? Will strafen? Wie ein Kindchen ist der Stamberger nun in der Hand dieses Starken. »Ernst I Der Herr Justiz^ rath hat da vom Zuchthaus gesprochen. Das war nicht so gemeint Nicht als Drohung. Sollte nur heißen, daß er selbst eine schwere Pflichterfüllung nicht scheuen würde. Das diirfen wir Alle nicht. Sie auch nicht, Ernst. Niemand bedroht Sie hier. Niemand will aus Ihnen herausholen, was nicht in Ihnen ist. Niemand kann und darf es. Hier kommt Jeder zu seinem Recht. Jeder auch zu seiner Pflicht. Ich verstehe ja, daß es Ihnen nicht leicht werden könnte, die Wahrheit zu sagen, wenn diese Wahrheit so wäre, wie Mancher in diesem Saal glaubt. Sie sind ein geachteter Mann, haben Kinder: und müßten nun unsaubere Geschichten ausgraben. Das Leben tu
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spart uns so schwere Stunden nicht immer, £mst. Es mufi sein. Sie haben uns 'schon viel Geduld und Lungenkraft gekostet. Ueberlegen Sie. Wollen Sie eine Pause? Jetzt sind Sie erregt* Man soll nicht sagen, hier sei in Sie hineingepulvert worden. Das kommt auch vor. Viel kommt vor. Beruhigen Sie sich zuerst einmal. Wenn Sie als anständiger Mann handeln, kann Ihnen nichts geschehen. Wollen Sie fiir eine \^ertel# stunde hinaus?« Langsam gurgelts hervor: »Ich brauch' keine Pause.« Still steht der Richter. (Eines Holbein Hal^ tung und Haupt.) Unter flammendem Auge tönt es ntm gütig, fest, zum Bittersten entschlossen: »Ich muß jetzt Ihre Vernehmung abschließen. Zum letzten Mal bitte ich Sie, wahrhaftig zu sein. Haben Sie wirklich weiter nichts zu sagen, so that unser wiederholtes Mahnen Ihnen Unrecht. Wii sind Menschen und irren menschlich. Allwissend ist Einer nur. Der sieht, was Ihres Herzens Falte dem Licht birgt. Den^ ken Sie daran, Ernst. Den letzten Richter betrügt Keiner. Noch Anderes müssen Sie bedenken. Wenn Sie als junger Bursche von einem vornehmen Herrn zu häßüchen Sachen ver» leitet worden sind : kein Rechtscha&er kann Sie darum schelten. Keiner, der je in Ge£ahr stand und sich selbst erkannt hat, wirds thun. Und die Anderen zählen nicht. Das offene Ein^ geständniß macht Sie der Achtung nur würdiger. Wenn Sie aber, geschähe es auch aus Scham, triebe Sie auch der an sich lobenswerthe Wunsch, einen Anderen, dem Sie viel^ leicht Dank schulden und der um sein Leben ringt, zu schonen, wenn Sie hier Falsches beschwüren: Ernst» Sie
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waren fiir all die Jahre, die Ilinen noch bleiben, ein unglüclu lieber, friedloser Mann, der vor jedem Zufall zittern müßte; denn jeder Zu£dl könnte Sie in die Gefahr furchtbar strenger Strafe bringen. Noch ist es Zeit. Antworten Sie, ganz ruhig, wie Ihr Gewissen befiehlt. Ich frage Sie nur dieses eine Mal noch: Ist zwischen dem Fürsten zu Eulenburg und Ihnen niemals etwas Unsittliches vorgekommen?« Man hört den Athem. Des Fischermeisters Rechte krallt sich, über dem Herzen, in die Brust, ^le in Wehen schüttelt er sich. Die Zunge strauchelt im trockenen Schlund; sucht sich an der Lippenwand einzuspeicheln; und stammelt nun: »Jetzt . . . Gar nie . . . Das kann ich nicht sagen.« Wie durch feuchte Schleier sehe ich den Fischermeister. Sehe den bleichen, hohen Mann vor seinem Richterstuhl. Jedem Hörer fliegt der Puls. Kein überlautes Wort ist ge# sprochen. Keiner majestätisch angewettert worden: und Jeder hat Unvergeßliches erlebt. Der Richter setzt sich. Noch bebt auch in ihm die Erregung nach. Die Mahnung, die inniges Pflichtbewußtsein ihm abzwang, hat einen Menschen getötet. Einen Mächtigen. Einem Kleinen wohl die Alterspfründe geschmälert. Er dämpft die Stimme; als sei eine Leiche im Haus. »Sprechen Sie, Ernst. Was also ist vorgekommen.« Noch einmal bäumt sich die Kreatur. »Ich weiß gar nichts.« Mancher Richter wäre nun wild geworden. Dieser hebt nur den Blick. Misereor supra turbam. »Zu spät, Ernst. Sie können Keinen mehr retten. Der Stein ist im Rollen. Trachten Sie, daß er nicht auch Ihr Glück noch begräbt!« Nun
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tröpfelts wieder; wie vor der Mittagsstunde. ^Wenn ichs dann sagen muß: wie die Leute reden, so wars. Wie mans nennt, weiß ich nicht. Er hat michs gelehrt. Die Gaudi. Die Lumperei. Ja, keinen richtigen Namen weiß ich nicht. Wenn wir so hinge&hren sind, haben wirs im Kahn ge^ macht. Er hat angefangen. Wie hätte ichs wohl gewagtl Einem so feinen Herrn I Und ich wußte ja nichts davon. Zuerst fragte er, ob ich ein Mädel habe. Da gings dann weiter.« Zweimal, dreimal noch der Versuch einer Retizenz. Nicht lange. Allmählich wirds klar: Einleitung und Verlauf ganz wie bei Riedel. Nur: Jahre lang; bis in die neuste Zeit. Ekel würgt das Mitleid. Ekel vor dem Schänder thr^ lieh reifender Mannheit. Auch der Richter ist wieder ruhig. »Sie sehen, Herr Justizrath, man [lernt nicht ausi« Die Stimme klingt hell und ein liebenswürdiges Lächeln deutet die Worte: Zweimal wollte ich Sie hindern, das Verhör fort^ zusetzen; zweimal Ihnen wehren, der Wahrheit ans Licht zu helfen. Ich hatte zu hoffen aufgehört. Man lernt nicht aus.
Jakob Ernst taumelt. Wie Einer, unter dem der eben noch feste Grund wankt. Die Herzensangst greift nach der Kante des Richtertisches. »Ich möcht' wohl hinaus. Jetzt . . Ein Wasser war* gut . . .« Wilhelm Mayer fiillts ihm in sein Glas. Dem Menschen der Mensch. Wartet, bis die kleinen Schlucke chen durch den klebrigen Kehlraum sind. »Nimm Dich nur vorm Meineid in Acht, Dul« hat Ernst morgens zu dem poltersüchtigen Riedel gesagt. Jetzt ist Abend geworden.
Verzicht auf alle weiteren Beweismittel. Kurze Schluß^
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vortrage. Wk sahen einen Menschen bis in die tie&te Wesens^ Wurzel erzittern, sahen einer Wahrheit schwere Entbindung: wie wirkte da noch ein Wort? Das Allemöthigste nur. Be^ rathung. Urtheil. »Ich schließe die Sitzung.« Der Richter.
SatyrspieL
Den Grafen, den Fürsten Philipp zu Eulenburg habe ich seit dem Jahr 1894 oft heftig angegriffen; nicht als politischen Gegner (wußte doch Keiner je, woran Der glaube), sondern ak den unwahrhafidgsten, skrupellosesten, gefahrlichsten Hö& ling im Reich. Von seinen persönlichsten Verhaltnissen hörte ich aus dem Mund seiner Freunde und Feinde nur allzu viel: von den ostpreußischen, bayerischen, oldenburgischen Ge# schichten; vom Unglück des Bruders, von der Flucht zweier Kinder, die im schrillsten Ton über den Vater sprachen. Nicht ein Wort davon wiurde hier erwähnt; nicht eins über seine weitere Verwandtschaft gesprochen. Erst als er im Marokkojahr den alten Freund Raymond Lecomte wieder herangewinkt und bald danach die Perversität eines dritten Albrechtsenkels Zungen und Federn in Bewegung gesetzt hatte, fragte ich, ob für den neuen Ritter des Schwarzen Adlers mildere Satzung gelte als fiir den preußischen Prinzen, der wegen geringeren Fehls der Johannitermeisterschaft un^ würdig sein sollte. Der Kluge war klug genug, nicht klug zu sein. Zwar schickte er (nicht zum ersten Mal) Friedens^ boten; brach dann aber den von ihm erbetenen und schrift^ lieh bestätigten Waffenstillstand. Zwar klagte er, der allein,
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nach dem letzten Angriff, Grund dazu hatte, nicht, sondern begnügte sich mit dem Spuk einer Selbstanzeige; schickte aber den Freund vor, der gar nicht beleidigt, nur als Philis Vertrauensmann und kritiklos williger Hof berichtcrstatter ge^ nannt worden war. Was ich wünsche, ist seit dem Maimond erreicht. Noch immer will ich die Herren schonen; und ver^ ziehte vor dem Landgericht am ersten Tag auf alle aggressiven Beweise. Eulenburg schwört. In einem anderen Verfahren hatte er mit schlau gefugten Worten und plumpen Schimpf» reden gegen mich seine Richter und Landsleute zu täuschen versucht und vermocht. Ein Eid, der das Wesentlichste ver^ schwieg: ein Meineid. Jetzt trieb Tollkühnheit den von den alten Feinden aus der Holzpapierwelt plötzlich Gehätschelten ins Verderben. Einen unter Anerkennung der reinen Motive verurtheilenden Gerichtsspruch hätte ich hingenommen. Nun gings nicht. Eine Arbeit, die leicht wiegen mag, aber müh^ sam und sauber geleistet wurde, war zu vertheidigen. Ich habe den Meineidigen nicht angezeigt. Das Ergebniß des münchener Prozesses zwang zur Verhaftung des Fürsten. Und als beeideter Zeuge durfte ich nichts mehr verschweigen.
Fürst Philipp zu Eulenburg und Hertefeld hat a) in dem Strafverfahren gegen den Schriftsteller Adolf Brand, b) in dem zweiten erstinstanzlichen Verfahren gegen mich wissent# lieh ein falsches Zeugniß mit einem Eide bekräftigt; in dem Fall sub b wissentlich zum Nachtheil des Angeschuldigten, dessen Verurtheilung er herbeiführen wollte und herbeige^ fuhrt hat. Beweise: in dem Fall sub a das Sitzungprotokol,
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das Zeugniß der Prozeßbethdligten und der Kriminalkom^ missare von Tresckow und Dr. Kopp (die erweisen werden, daß der Fiirst wissentlich das Wesentlichste verschwiegen und dadurch den Glauben zu schaffen und durch einen Eid dem Gericht zu suggeriren versucht hat, seine vita sexualis sei vollkommen normal); in dem Fall sub b das in meiner Sache von der Vierten Strafkammer verkündete Urtheil und das Zeugniß der Prozeßbetheiligten (die erweisen werden, daß der Fürst jede Geschlechtsneigung zu mannlichen Per» sonen, jede mit solchen Personen jemals begangene »Schmutzes rei« [insbesondere mutuelle Onanie] abgeschworen, sich als durchaus normal hingestellt, also wieder wissentlich einen £dschen Eid geleistet hat). Den stärksten Beweis fiir Art, Um« fang und Wirkung der eulenburgischen Aussage liefert die »namens des Fürsten« abgegebene Erklärung des Herrn Oberstaatsanwaltes Dr. Isenbiel, der in öflfenthcher Gerichts« Sitzung gesagt hat, wer nach dieser Aussage auch nur noch den allergeringsten Zweifel an der Normalität des eulen« burgischen Sexuallebens äußere, beschuldige den Fürsten direkt des Meineides. Durch zwei wissentlich falsche Eide hat Fürst Eulenburg den Glauben (zu meinem Nachtheil) geschaffen, er habe sich nicht nur niemals gegen § 175 StGB vergangen, sondern auch nie irgendwelche Neigung ziun Sexualverkehr mit männlichen Personen gehabt. Daß diese beiden Aussagen wider besseres Wissen dem Gericht vor« getragen wurden, mußte bewiesen werden.
Ist bewiesen worden; trotzdem die Hauptverhandlung nach
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dchtzehntägiger Dauer abgebrochen und ein Halbdutzend der wichtigsten Zeugen gar nicht verhört worden ist. Be# wiesen, daß der Angeklagte den Diener Franz Dandl an die Waden gefaßt, ihm später den Arm um die Schulter ge^ legt und seine schlanke Schönheit gepriesen hat Als Gast des Kaisers auf der »Hohenzollem« im Sommer 1898 den Matrosen Trost in eins der Gespräche zu ziehen versuchte, mit denen Homosexuale ifire Anbändelungen einzuleiten pflegen, und sich dem jungen Mann mit einer Frage näherte, deren imfläthiger Wordaut die öffentliche Wiedergabe nach unserem Strafgesetz unmöglich macht. Den Fischer Georg Riedel zu widernatürlichem Geschlechtsverkehr verführt und in der gräflichen Wohntmg einem Freund zum gröbsten päde^ rastischen Akt zu verkuppeln versucht hat. Mit dem auf die selbe Weise umgarnten Fischer Jakob Ernst Jahre lang (ungefähr zweihundertmal) homosexuell verkehrte und oft, in verschieb denen Städten, unter einer Decke schlief. Das sind die Haupte ergebnisse der Beweisaufnahme. Festgestellt ist femer, daß Fürst Eulenbuig dreimal versucht hat, Jakob Ernst zum Meineid zu verleiten: durch einen Brief, den der Untersuchungrichter in Stamberg fmd; durch einen zweiten Brief, den Hofrath Kistler dem Fischer bringen mußte, aber nicht zurücklassen durfte ; und durch eine Botschaft, die der von Fhilis Gnaden mit zwölf Orden geschmückte Hofrath auf seiner Lippe ins Fischerhaus trug. Die Geschworenen kamen nicht zum Spruch. Untersuchungrichter und Oberstaatsanwalt haben erklärt, daß sie an der doppelten Schuld des Angeklagten nicht den geringsten Zweifel hegen.
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Weil Eulenburg die Welt seines Empfindens, in der andere Sitdichkeit, Schönheit, Tugend gilt, andere Gottheit wirkt als in unserer, den auf die Höhen und die Tiefen der Ura^ niermystik nicht zugelassenen Richtern nicht schildern konnte und doch trachten mußte, die Seltsamkeit seines Wesens irgendwie zu erklaren, gab er sich für einen Künstler, einen allzu gutmfithigen und allzu enthusiastischen Freund aus (vor Geschworenen, wie pfiffige Schlauheit empfehlen mußte, auch f^ einen Mann des Volkes, der einem Dorfbewohner im schlichten Rock nie einen geschniegelten Hof herm vor» gezogen habe). Ob er sich Güte und Enthusiasmus mit Recht zusprach, braucht nicht geprüft zu werden. Der Kranz, den er sich in foro gewunden hatte, welkte schnell. Als Land» gerichtsdirektor Kanzow, der dem Schwurgericht voisaß, den Angeklagten aufforderte, der ausfuhrlichen Darstellung seiner Vorzüge nun auch ein offenes Wort über seine Fehler folgen zu lassen, wurde ihm, zwischen Seufzern, nur das Uebermaß an Gutmüthigkeit und Enthusiasmus bekannt. »Diese Eigen» Schäften«, sprach er, »meinte ich nicht; würde sie auch kaum zu den Fehlem rechnen. Ich dachte, Sie würden selbst das Bedür&iß haben, über die Mangel Ihrer Wahrhaftigkeit uns Etwas zu sagen.« Das härteste Wort, das der des Meineides und der Verleitung zum Meineid Angeklagte in achtzehn Verhandlungtagen hörte. Er hatte es verdient Von dem un» entreißbaren Recht des Angeklagten, Unwahres auszusagen, gar zu reichlichen Gebrauch gemacht Schon als Zeuge, der doch schwor, die reine Wahrheit zu sagen, nichts zu ver»
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schweigen und nichts hinzuzusetzen, hatte er eine FüUe wissendich falscher Angaben aufgetischt. »Der Reichskanzler ist bekanntlich mein Freund. Mit Herbert Bismarck war ich eben so befreundet wie mit dem Grafen Kuno Moltke. Zu männlichen Personen habe ich in meinem Leben nie auch nur die geringste Geschlechtsneigung gehabt. Seit ich nicht mehr Botschafter bin, beschäftige ich mich absolut nicht mehr mit Politik. Mit Herrn Lecomte (der im Lauf eines Jahres zehnmal in Liebenberg war und den Ftirsten auch in Berlin sah) habe ich über den Marokkostreit und über deutschte französische Friktionen nur ein einziges Mal, bei flüchtiger Begegnung auf der Straße, gesprochen. Herrn Harden hätte ich verklagt, wenn nicht alle Juristen, die ich fragte, mir g^p sagt hätten, diese Angriffe seien gerichtlich nicht faßbar.« Das wurde in der Hauptverhandlung gesagt, in der ich mich gegen die Anklage, den (im Kampfe wider den Lieberberger nur gestreiften) Grafen Moltke beleidigt zu haben, zu wehren hatte; und vom Gericht als ein unantastbares Zeugniß hin# genommen. »Die Behauptung, mein Geschlechtsleben sei abnorm, hat der erste Reichskanzler aufgebracht und ver« breitet, um sich daftlr zu rächen, daß ich in der Zeit des Konfliktes nicht zu ihm gehalten hatte, sondern zu Seiner Majestät. Das war der Partherpfeil.« Der in Gift getauchte Pfeil, hörts, den der fliehende Bismarck gegen den tugend^ samen Helden Philipp Eulenburg von der Sehne schickte. Und so weiter. Alles wider besseres Wissen. Alles beschwor ren. (Shakespeares Wintermärchenszene zwischen dem alten
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und dem jungen Schäfer. Der Alte: »Sagen magst Dus; darfst aber nicht schwören.« Der Rüpel: »Nicht schwören, da ich jetzt ein Edelmann bin? Bauer oder Bürger mögens sagen; ich wills beschwören.« Der Alte: »Wenn es nun aber £dsch ist. Junge?« Der Rüpel: »Und wenns noch so falsch wäre, dürfte ein echter Edelmann es, ziun Besten seines Freundes, beschwören.« Das hörte Englands hoher und höchster Adel lächelnd; der brave Bill, der dem Haufen nie eine bittere Wahrheit ersparte, war ja kein Demokrat. Heute weiß jeder Unbefangene, daß der Edelmann nicht mit leicht tcrem Herzen schwört als der Bauer tmd Bürger. Daß der Adel noch die Kraft und den Willen zur Ausscheidung un^ würdiger Standesgenossen hat.) Von dem Angeklagten, den keine Schwurpflicht schreckt, war also Manches zu erwarten. Und er hat nicht enttäuscht; hat die Erwartung übertroffen. Gegen die Thatzeugen Geoig Riedel und Jakob Ernst schien nicht viel zu machen. Sie waren in Mtinchen, Berlin, Liebenberg, Stambeig und abermals in München bis ins Winzigste vernommen und ihre nachprüfbaren Angaben beim Augenschein als richtig befunden worden. Der Untersuchung« richter, Landgerichtsrath Schmidt, ein gescheiter, energischer und durchaus nicht weltfremder Herr, erklärte unter seinem Eid, er habe nicht den allergeringsten Grund, nach den aus« fuhrlichen und oft wiederholten Verhören die Glaubwürdig« keit dieser Zeugen anzuzweifeln. Die Verhaftung des Fürsten habe er, trotz dem Drängen des Oberstaatsanwaltes, erst be« schlössen, als die Zeugen bei der Konfrontirung in Lieben«
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berg aufrecht geblieben waren. »Das Resultat bestärkte mich so in meiner Ueberzeugung, daß ich sofort die Verhaftung anordnete.« Im Fürstenschloß liegt der Herr im Bett; der preußische Richter kommt mit zwei einfachen Männern aus Bayern : und das Ergebniß ist, daß die Durchlaucht verhaf« tet wird. Was war vor dem berliner Schwurgericht danach zu thun? Riedel hat viele Vorstrafen; nicht mehr freilich als mancher grobe, rauflustige Landsmann, dem die Kirchweih^ abenteuer bei den Mitbürgern die Achtung nicht schmälern, und nur eine, die seine Zeugnißfahigkeit herabsetzen könnte. Der funfrindsechzigjährige Oberlandesgerichtsrath Jehle, der den wilden Georg oft vor seinem Richterstuhl sah, oft stra^ fen mußte und durch üble Nachrede von ihm gekränkt wor« den ist, tritt vor das Gericht und spricht ako: »Riedel ist streitsüchtig, kann Zunge und Faust nicht zügeln; was man so ein Rauhbein nennt Er sagt ein&ch heraus, was er denkt, ohne zu fragen, ob es ihm Nutzen oder Schaden bringe. Gegen seine Ehrlichkeit liegt kein Verdacht vor. Die schwerste Strafe bekam er, weil er mich beleidigt hatte. Man glaubte ihm damals nicht, daß er das dumme Gerede Anderen nach^ gesprochen habe, sondern nahm an, er habe es erfunden und wider besseres Wissen verbreitet. Wenn ich der Verbands lung beigewohnt hätte, wäre es anders gekommen; denn ich traue dem Riedel nicht zu, daß er etwas Verleiunderisches erfindet« So spricht ein alter Richter über den Mann, den er oft verurtheilt und der ihm Bestechlichkeit nachgeschwatzt hat Das Urtheil zweier anderen Richter, Mayers und Schmidts,
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lautet eben so günstig. Nord und Süd sind einig. Einen so stark gestützten Zeugen umzuwerfen, hofit wohl nur der Verzweifelnde. Riedel hat, weil er durch Eulenburgs Eid einen Unschuldigen geschadigt glaubte, die Wahrheit gesagt und sich selbst dadurch Geschäftsverlust, Unbequemlichkeit und Aerger aller Art zugezogen. Für die Richtigkeit seiner Aussage zeugen innere Gründe mit überwältigender Kraft: was er bekundet, kann nicht falsch sein, weil nur Einer, ders erlebt hat, diese Einzelheiten anzugeben vermochte. Und der trotzige Grobian läßt nicht ein Wort mehr, als das Gewissen erlaubt, von der sonst so flinken Zunge und scheut vor dem Aergemiß der Selbstbelastung nicht zurück. Er ist von dem Grafen Philipp verfuhrt, mit einem ansehnlichen Häuflein Geld beschenkt worden und, trotz naher Aussicht auf noch höheren Gewinn, weggelaufen, als ihm zugemuthet ward, in Eulenburgs Wohnung mit dessen feinem, weißhäutigem Freund wie mit dem Weibe der Mann zu verkehren. Daß er den Mann kenne, muß Eulenburg, dessen Aussagen einander vor« her widersprochen hatten, jetzt ja selbst zugeben. Nur: »Mein Leben war so reich, so bewegt; da war dieser Riedel nur eine vorüberhuschende Figur, an die ich mich kaum noch erinnere.« Natürlich ist nichts Schmutziges vorgekommen. Und der Fürst faßt nicht, warum der Mann ihn belastet.
Auch nicht, wie Jakob Ernst zu seiner Aussage gelangt sein könne. Oder doch? Der getreue, dem hohen Herrn fast knechtisch ergebene Fischermeister ist ihm nicht nur durchs reiche Leben gehuscht; hat ein Vierteljahrhundert lang mit
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ihm verkehrt, viele Reisen gemacht, oft das Lager getheilt und galt schon in Jehles stamberger Richterzeit als »Eulen^ burgs Verhältniß«. Gegen Den ist auch kein Kriminalver^ dacht vorzuflunkern. Trotz dem Gerede über das Verhaltniß hat ers zu besonderem Ansehen gebracht; und auf dieses Mannes Verschwiegenheit hätte der Fürst (diesmal nicht wider besseres "Wissen) geschworen. Der schien ihm der Treuste der Treuen. Erstens hat Durchlaucht dem Fischerjackl Jahrzehnte lang Wohlthat erwiesen. (Wohlthat darf mans vor einem deutschen Gerichtshof heißen, wenn ein Höfling Einem, den er listig zur Mutualbefriedigung verleitet und in sein Bett genommen hat, mit Sümmchen, deren Verlust ihn nicht drückt, vorwärtshilft. Wer dem verführten Mädchen aus voller Kasse des Lebens Nothdurft bezahlt, ward bisher nicht als Wohlthäter gefeiert.) Zweitens hat er ihn in einem herzlichen Brief gebeten, nichts zu sagen, da »doch Alles verjährt ist«; in einem Brief, der nach der landgerichtlichen Hauptverhandlung in Sachen wider Harden (also nach dem Antrag, Riedel und Ernst zu vernehmen) geschrieben war. Drittens hat er ihm den Hofrath Kistler geschickt, der ein^ mal einen Brief des Fürsten brachte (und, als Jakob ihn ge^ lesen hatte, in einem vorbereiteten Umschlag dem Schreiber zurückschickte) und bei dem anderen Besuch mahnte: »Wenn Du nach Berlin kommst, sagst nichts von den Sachen« (mit einer Handbewegung, die keinem Zweifel ließ). All dieser Liebe Mühen war nun als nutzlos erwiesen? Das münchener Amtsgericht hat Emsts Geständniß »zugleich ergreifend und
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überzeugend« genannt und Oberlandesgerichtsrath VTilhelm Mayer (der erwähnte, das Urtheil sei einstimmig beschlossen und die Stimme des Vorsitzenden zuletzt abgegeben worden) hat vor dem berliner Schwurgericht als beeideter Zeuge ge^ sagt, der Augenblick, da Ernst im Kampf gegen Scham und Furcht den Muth zur Wahrhaftigkeit fand, habe ihn plötz^ lieh an die Minute erinnert, in der ein Mörder sich, nach hartnäckigem Leugnen, vor ihm endlich zum Schuldbekennt» niß entschloß; in Emsts Augen und Antlitz seien die selben Vorgänge sichtbar geworden. Zu solcher Bestimmtheit wagt nur ein völlig überzeugter Richter sich vor. Fiirst Eulenburg aber sagt, Ernst sei in der münchener Verhandlung das Opfer »geistiger Nothzucht« geworden; Justizrath Bernstein habe ihm so zugesetzt, daß der Zeuge die Wahrheit widerrief. Also, weil der Anwalt ihn dringend vor den Folgen des Mein» eides warnte, rasch einen Meineid leistete und Unwahres be» schwor, das ihn schwer belastete und schädigte? Das ist ein vollkommener Unsinn. Schon die innere Wahrheit dieser Zeugenaussage mußte jeden Zweifel verscheuchen. Wie das Bekenntniß einer Ehefrau wars, die nach langem Sträuben, langem Tasten von einem ins andere Versteck zugeben muß, daß der geliebte Mann Schuld auf sich geladen hat. Emsts Aussage muß wahr sein, weil sie, nach der Art Ihrer Ent» stehung und mit der kunstlosen Fülle ihrer Details, nicht unwahr sein kann. Den Anwalt (dem Ernst nach freimüthiger Bekundung fröhlich ins Gesicht lachen durfte) soll der vom Richter geschirmte Zeuge mehr gefurchtet haben als
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seinen Fürsten? Wenn er dabei blieb, daß nichts Schmutziges geschehen sei, mußten die Stamberger schweigen und er konnte fürstlichen Lohn von der Gnade des Herrn heischen* Er soll Vermögensverlust, Schande, Meineidsgefahr vorge^ zogen haben? Und die zärtlichen Briefe von Eulenburgs Hand, die bei der Haussuchung gefunden wurden? Das verleitliche Schreiben von den verjährten Sachen? (»Der Ausdruck hat sich nur, ich weiß selbst nicht, wie, hinein^ geschlichen«, sagte der Angeklagte; und wähnt, damit das gröbste Verleittmgmerkmal weggewischt zu haben.) Kistlers Missionen? Ist es nicht Wahnsinn, gegen einen so stark ge^ panzerten Zeugen anzurennen? Doch Philipp kennt seinen Jakob. Den kranken, schwerhörigen, scheuen Menschen, dem die Zeugenpflicht ein Martyrium ist, der immer noch der so lange angestaunten Macht des Herrn zu erliegen furchtet. Den kann ein schlauer Dialektiker am Ende ver^ wirren, in Wortfallen locken, als einen allzu schweigsamen, zu viel zurückhaltenden Zeugen verdächtig machen. Nicht dem Richter von inneren Berufes Gnade; dem kriminale psychologisch unerfahrenen Laien vielleicht, der den Schwurt gerichtsspruch bestimmt. Auf solche Möglichkeit baut der angeklagte Fürst vor der Zuchthauspforte seine Hoffnung.
Skrupel plagen ihn nicht. In Liebenberg wurde ein Häu& lein vergilbter Homosexualliteratur gefunden; auf dem Ein^ Packpapier stand, von Philipps Hand geschrieben, der Name »Graf Edgar Wedel«. Ist der Graf, den die Enthüllung des in den Isaranlagen und auf der Sendlingerthorwache Erlebten
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das Kammerhermamt und die Dienstwohnung im berühmten Prinzessinnenpalais gekostet hat, der Besitzer so verdächtiger Waare? Vor dem Untersuchungrichter bestreitet ers wüthend (und erzählt im Zorn, Eulenburg habe ihm aus China stam^ mende Bilder, die päderastische Akte darstellen, gezeigt und verheißen). Der Angeklagte wird gefragt. »Ja, die Bücher gehören mir; da es aber leicht zu Mißdeutungen gekommen wäre, wenn man sie in meinem Nachlaß gefunden hätte (ich bin ja schon sehr lange krank und kann jeden Tag sterben), habe ich den Namen meines alten Freundes Edgar Wedel draufgeschrieben.« »Halten Sie solchen Versuch, von sich den Verdacht auf einen Anderen abzulenken, der davon nichts ahnt, denn fiir anständig?« »Ja. . Ich muß zugeben, daß es nicht schön von mir war; aber Wedel ist Junggeselle: Dem hätte es nicht so geschadet wie mir.« Dem Fürsten zu Dohna^Schlobitten, der ihn einen verlogenen Kerl genannt hat, sagt er nach : »Dieser Fürst ist das Aergste an Neid und Mißgunst, was mir auf der Erde je vorgekommen ist, und außerdem in seinen Urtheilen ganz unzuverlässig.« Als er den Diener Dandl ans Bein faßte, trieb ihn nicht etwa sinn^ liches Wohlgefallen, sondern der Wunsch, den schlecht rie^ chenden Mann wegzuschieben; als er ihm später den Arm um die Schultern legte und Dandls schönen Wuchs rühmte, war der Geruch wohl verflogen. Auf der »HohenzoUem« will er, bei der zotigen Annäherung an den Matrosen Trost, morgens um zehn Uhr bezecht gewesen sein. »Auf Befehl Seiner Majestät gab es schon morgens an Bord eine kräftige
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Mahlzeit mit starken Getränken; da mein Magen mir Mäßige ung im Essen gebot, hielt ich mich manchmal an die Ge# tränke.« Oberhof marschall Graf August Eulenburg beschwört, daß es morgens zwar, wie auf allen Schiffen, Fleisch und Fisch, an Getränken aber nur Thee und Kaffee gebe, und er# klärt es (nachdem sein Vetter Etwas von Seekrankheit und Portwein gemurmelt hat) für »absolut ausgeschlossen«, daß ein vom Kaiser eingeladener Herr der engsten Tafelrunde um zehn Uhr früh nicht mehr nüchtern gewesen sein könne. Der verirrte Geschlechtstrieb scheut so ängstlich das Licht, daß selbst in Polizeiakten meist nur Gerüchte sickern. (Daß über Eulenburg seit Jahren solche Gerüchte umliefen, hatte Herr von Tresckow schon vor der \^erten Strafkammer be^ zeugt; sie im Einzelnen wiederzugeben, war ihm verboten. Wenn polizeilich notirte Gerüchte, die ja nicht unter den Biertischen aufgelesen sind, einen Bureauschreiber oder Commis unnatürlichen Geschlechtsverkehres beschuldigten, würde der Mann leise gebeten, sich einen anderen Platz zu suchen. »Ich bedaure Sie und bin von Ihrer Schuld nicht etwa überzeugt; doch Sie verstehen, daß der Ruf des Hauses nicht leiden darf.« Dem Fürsten und Adlerritter hats, Jahre lang, nicht geschadet.) Stellt sich ein Thatzeuge ein, so ists fast immer ein Erpresser aus der Lustknabenzunft. Hier sind anständige Männer, die nicht Eigennutz zur Aussage drängt; denen die Zeugenpflicht nur Verlust bringt. Sind Briefe, die lauter zeugen als Menschenmund, und erwiesene Verleitung zum Meineid. Ein so lückenloser Schuldbeweis, wie er bei
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nicht eingestandenen Kapitalverbrechen fast nie möglich ist, von Gerichtshof und Jury kaum je verlangt wird. Ein Mann, gar einer von hohem Rang, miede vielleicht den Kampf, den emiedemden Versuch, Unbestreitbares mit Wortgespinnst zu umschleiem und das Geständniß einer Verführung und Ge^ schlechtsverkehrsart listig zu widerlegen, die diesen Menschen zu unvergeßlichen Erlebnissen geworden sind. Der Fürst wagt den Versuch. Er leugnet Alles. Das unterscheidet ihn nicht von manchen anderen Angeklagten. Davon hofft er auch nichts Rechtes. Nichts von dem schwachen Widerhall seines Leugnens, der die dröhnende Stimme der Wahrheit nicht übertönen kann: nur von dem besonderen Reiz seiner Per^ sönlichkeit. Ein Mann, der aus solcher Höhe stürzt, so reich begabt ward, der so angenehm plaudert, von Hochmuth so fem und dem dunklen Grab jetzt so nah ist . . •
Frauentaktik. »Ich bin vornehm, graziös, liebenswürdig, leidend; wo ist der Entmenschte, der ein so interessantes Wesen verurtheilt?« Ein Buchstabenrichter thäte es vielleicht; niemals ein Laie, dem des Mitleids holde Stimme ins Ohr drang. Die schönste Frau hat mit schlauster Kopfkissens koketterie nicht mehr erreicht als dieser Kürassier a. D. mit seinen Krankheitkünsten. Aus jeder Lebensgefahr rettete er sich ins Siechenbett. Auch diesmal hats ihm geholfen. Ein des Meineides oder eines anderen mit Zuchthausstrafe be«» drohten Verbrechens dringend Verdächtiger kommt nach bei uns geltender Vorschrift in eine Sträflingszelle, in der er, oft Monate lang, von der Außenwelt abgesperrt ist und mit ihr
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nur durch die Organe der Gefangnißverwaltung verkehren darf. Besuche, auch der nächsten Angehörigen, werden sth ten gestattet. Jede Möglichkeit zu unbewachten Gesprächen zu irgendeiner Kollusion wird mit dem Aufwand äußerster Sorgfalt vereitelt. Zwar bestimmt § 116 der Strafprozeßordi« nung: »Dem Verhafteten dürfen nur solche Beschränkungen auferlegt werden, welche zur Sicherung des Zwecks der Haft oder zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gefangniß noth^ wendig sind. Bequemlichkeiten und Beschäftigungen, die dem Stand und den Vermögensverhältnissen des Verhafteten entsprechen darf er sich auf seine Kosten verschaffen, so weit sie mit dem Zweck der Haft vereinbar sind und weder die Ordnung im Gefangniß stören noch die Sicherheit gefahr^ den.« Doch solche Erleichterungen werden nicht oft gewährt. Löwe sagt: »Ohne Genehmigung des Richters darf der Ver^ haftete weder Unterredungen haben noch Briefe oder sonstige schriftliche Mittheilungen empfangen oder absenden noch auch sich im Besitz von Schreibmaterialien befinden.« Hier handelt sichs um einen Mann, der nicht nur der Thatbe^ Standsverdunkelung verdächtig und dessen Enthaftung des^ halb, trotz dem Angebot ungewöhnlich hoher Kaution, von drei Instanzen verweigert worden, sondern der auch einer schon unternommenen Kollusion (Verleitung zum Meineid) beschuldigt ist. Da würde jeder Wunsch nach Vergiinstigungen wohl zehnmal geprüft. Doch der Untersuchungrichter, der schon den Transport des Verhafteten gegen das Sträuben der Aerzte beschließen mußte, will noch schwerere Verantwortung^
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last nicht auf sich nehmen. Schickt seinen Häftling drum» statt ins Gefangniß, in die Charit^, wo sichs gewiß nicht un^ bequemer haust als in dem Gastzimmer eines Gebirgsdorfes, und erlaubt ihm, einen Diener zu halten und die Seinen, so oft ers will, zu sehen. Freilich: zwei Kriminalschutzleute wachen; sind aber so lange beim Fiirsten, daß seine bewährte Umgangskunst sie wohl vertraulich gemacht hat; und die Annahme, daß sie fremde Sprachen nicht meistern, kann die braven Männer nicht kränken. Zwei Monate gehts so; drei Aerzte, ein Diener, Krankenhauszucht und Verkehrs&eiheit. Konnte irgendwo noch verdunkelt werden, so ists inzwischen geschehen: und der Schwurgerichtspräsident hat deshalb keinen Grund, für die kurze Zeit seiner Machtvollkommen^ heit die Privilegien abzuschaffen. Ihm liegt nur daran, die Verhandlungfahigkeit des Angeklagten zu sichern. Der wird täglich nun in einem Automobil vors Gerichtshaus gefahren, auf einer Bahre in den Saal geschleppt, in weiche Kissen ge# bettet, vor und nach der Verhandlung und während der Pausen von seiner Familie umringt; von Familienmitgliedern, die in der selben Strafsache noch als Zeugen gehört werden sollten. Ein Angeklagter, der unter einer Tag und Nacht bespähten Glasglocke sitzt, von draußen nur erfahrt, was der Schließer hereinläßt, zur Hauptverhandlung von Ge^ richtsdienem vorgeführt wird und auf dem Sünderstuhl sitzen muß, darf die Durchlaucht beneiden. Dieser Angeklagte gab sich als einen Schwerkranken, der um keinen Preis aber die Verhandlung aufgeschoben sehen, viel lieber mit dem Au£i
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gebot letzter Kraft für seine Ehre fechten wollte: und die Aerzte glauben ihm. Ein alternder Mann, der üppig gelebt, vor Jahrzehnten schon über allerlei Gesundheitstörungen ge^ klagt hat, von damenhafter Empfindsamkeit und an Mor^ phium gewöhnt ist, Physis und Psyche meisterlich beherrscht und, nach dem Spruch dreier Instanzen fast überfuhrt, dicht vor dem Zuchthausthor steht, hat immer Grund, über Neu^ ralgie, Hitze, Kachexie zu stöhnen. Und die Welt der psy« chophysischen Möglichkeiten ist den meisten Aerzten heute noch mit vernagelten Brettern gesperrt. Jeder Tag brachte also Bulletins, die manchmal, wenn sie den Heldenmuth des Angeklagten rühmten, Plaidoyers ähnelten; ab der Tränst port gefährlich schien, wurde im Charitesaal verhandelt; und schließlich den Geschworenen ein Lichtbild des geschwol^ lenen Beines (als Beweismittel) vorgelegt. Warum? Weil der Angeklagte im Juli verhandeln und auf die Krankenrolle doch nicht verzichten wollte. In Amfortaspose auf einer Trag« bahre oder gar im Bett, aus dem man sich an einer Leine aufrichten muß und in das der entkräftete Leib, wenns ihm bequem ist, zurücksinken kann: der Stärkste könnte sich in Schwurgerichtsnoth nichts Wirksameres wünschen. Jede Au& regung, spricht der Arzt, bringt hier vielleicht Lebensgefahr. Und welche Aufregung, fragt sich der Laienrichter, wäre wohl heftiger und ginge tiefer als die durch unsere Bejahung der Schuldfragen bewirkte? Soll der Wahrspruch, der Freiheit und bürgerliches Ehrenrecht nimmt, den feinen Herrn noch das Leben kosten? Als die Verhandlung, deren vorbedacht
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ter Plan dem Druck ärztlicher Befehle weichen mußte, zum zerflattemden Zerrbild geworden war, kams noch zu einem Schlußeffekt. Die Vertheidiger empfahlen die Vertagung, der Klient wehrte sich ungesttäm gegen jeden Aufschub; und von seiner Stimme Gewalt bebte das Gebälk. Hält ein Schwerkranker, selbst mit der größten VTillenskraft, achtzehn Verhandlungtage aus, in denen es um die ganze Existenz geht? Weiß ein Doktor der Rechte, der mit drei Anwälten den winzigsten Schritt besprochen, auch die Vertagungmög^ lichkeit erörtert hat, nicht, was ein Angeklagter heischen darf? Nein, flüstert der Fürst. »Ich kenne die Rechte des Angeklagten nicht.« Zwei Stunden zuvor hat sein Verthei^ diger ihm die Wahrscheinlichkeit des Abbruches angezeigt; und hätte auf die Frage, ob es dagegen kein Mittel gebe, er^ widert: »Euer Durchlaucht brauchen nur ruhig zu sagen, daß Sie sich zur Fortsetzung fähig fühlen; alle Betheiligten wer^ den solche Versicherung dankbar hinnehmen.« Statt ruhiger Rede kommt ein wilder Ausbruch (dessen erstes Brodeln der besorgte Arzt von Pflicht wegen ersticken müßte): »Das Grab kann sich über mir schließen, ehe meine Unschuld erwiesen ist!« Jede Aufregung bringt hier vielleicht Lebensgefahr. Die in achtzehn heißen Tagen aufgewandte Mühe ist verthan.
Ist sies? Der Mann, der, als Verführer geschlechtlich gesund empfindender Jünglinge, auch redlichen Homosexualen ein Gräuel sein müßte, hat sich Mitleid erworben. Er wollte zwei Gegner, die ihn, gegen ihr Interesse, doch lange geschont hatten, mit seinen Meineiden ins Gefangniß schwören, zwei
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Zeugen, deren Aussage ihn gefährdete, ins Zuchthaus brin^ gen: und galt nun als Totkranker, den in der nächsten Stunde die Sichel aus der Zeitlichkeit mähen wird. Erster Vortheil. Der Gesunde wäre am dritten Tag verloren gewesen; der Kranke konnte sich immer darauf berufen, daß Siechthum seine Selbstvertheidigung lähme, und das Gefecht vor der letzten Entscheidung abbrechen. Wer packt einen martyrisch Leidenden rauh an? Den Zeugen, nicht dem Angeklagten wurde Meineid vorgeworfen; die Glaubwürdigkeit der Zeugen, nicht des Angeklagten wurde mit kränkendem Wort angezwei^ feit. Zweiter Vortheil. Dritter: Die Möglichkeit, ohne ernste Gei» fahrdungsich an die Schwurgerichtsluft zu akklimatisiren. Vier^ ter: Die Gewißheit, fortan die Entwickelung der Sache mitbe^ stimmen zu dürfen. Nur als leidlich Gesunder wird Eulenburg wieder vor die Jury gerufen; nur, wenn er nach ärztlichem Er^ messen die Hauptverhandlung erträgt. Dann war die erste eine nützliche Generalprobe. Dann kennt der Angeklagte die Zeui^ gen, hat im Krankenbett Antworten und Ausflüchte ersonnen und weiß genau, womit er zu wirken vermag. Nein: nicht ohne Nutzen für ihn ward der große Aufwand verthan.
Vom Genius hat er nichts; doch in einem bewegten Dop^ pelleben, dessen Schauplätze Kaiserpaläste und Fischerhütten waren, die Geschicklichkeit des Mannes von vielen Graden erworben. (Richtiger hieße es : der amoureuse, die mit Szep^ tern gespielt und sich in geiler Wonne aufs verschwitzte Laken des Kutschers geworfen hat.) Kein Schöpfer: ein Mächler.
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Höfling, Magus, Artifex und Lagergenosse von Knechten. In alle Sättel gerecht. Stets auf sichtbaren Effekt und heinn» liches Glück bedacht und in allen Künsten der Verstellung zur Meisterschaft gereift. Nun sitzt er (oder liegt) vor Leuten, die ihn nie sahen, in deren Sinnen Name, Rang, Gunst ihm einen Nimbus dichtet und die nicht ahnen, wie oft er, seit Dezennien, im Kreis der Standesgenossen mit ärgerem Schimpf gezüchtigt ward als in Dohnas und Hochbergs Briefen. Was kann er ihnen sagen? Nichts, was die Last der Zeugenaus^ sagen zu mindern vermöchte. Was wollen sie von ihm hören? Wie sein Erleben war (von dem sie dann träumen dürfen). Ein leidender Künstler, der sich in Kasemendrill, Diplomat tenarbeit, Hofdiensi schicken mußte. Der gütigste Herr, der, um den gemietheten Mann nicht zu demüthigen, das Schlaf Zimmer mit ihm theilt; das Bild eines treuen Dieners in seine Schreibstube hängt und aus feuchtem Auge betrachtet. Der Enthusiast, dessen heiligstes Gefühl in den Koth gezerrt wird, (»Jetzt kann ich Jedem nur rathen, keine Freundschaft zu schließen und bis in die Knochen Egoist zu seini«) Das Opfer dunkler Ränke. Daß er in den Ruf der Homosexualität kam, hat erstens Bismarcks Haß, zweitens die Rachsucht der Kle«i rikalen bewirkt. »Ich hatte in München Preußen nicht nur politisch, sondern auch kirchlich zu vertreten. Mein Leben lang bin ich ein Verfechter des protestantischen, in Nord^ deutschland wurzelnden Kaiserthumes gewesen. Das hat mir namentlich im Süden viele Feinde gemacht. Wir haben nicht in Berlin, sondern in München den Nunzius des Papstes; dort
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sind also wichtige Verhandlungen zu fuhren und ich habe sie im Sinn der protestantischen, der norddeutschen Kaiser^ reichsidee geführt. Dadurch bin ich dem Klerikalismus eben so wie dem bayerischen Partikularismus verhaßt geworden. Vielleicht bin ich jetzt eins der Opfer dieser großen Idee. Ich will nichts Bestimmtes behaupten; aber aus diesem Milieu heraus könnten so infame Verdächtigungen entstanden sein.« Der Vorsitzende unterbricht den Redner mit der Frage, ob er glaube, daß solche Strömung den frommen Katholiken Jakob Ernst in den Meineid getrieben habe. »Nein. Das nicht. Aber der Klerikalismus hat mir nie verziehen, daß ich ihn mit der ganzen Energie eines norddeutschen Protestanten bekämpfte.« Neue Unterbrechung. »Wollen Sie etwa die Behauptung aufstellen, der Klerikalismus habe die Briefe ver^ anlaßt, die Sie selbst an Ernst geschrieben haben und aus denen die Art Ihrer Beziehungen zu diesem Mann hervorif geht?« Schweigen. Bayerns Ministerpräsident sagte, dem An^ geklagten sei solche Diversion zu verzeihen; Graf Eulenburg habe in München kirchliche Geschäfte von irgendwelcher Bedeutung nicht zu führen gehabt und hätte sich durch koni« fessionelle Parteinahme eines Dienstvergehens schuldig ge^ macht; was er als Gesandter mit dem Nunzius zu erledigen hatte, war so unbeträchtlich, daß ers einem seiner Räthe über^ ließ. Und als er, in seiner ersten münchener Zeit, Werthems Sekretär war, hat er wohl auch nicht für lutherische Kultur gegen Roms Macht gekämpft. Er lebte in einem Kreis »hoch^ gebildeter,« »edel denkender,« »charaktervoller,« »seltener«
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Männer, denen »innige Sympathie« ihn verband, und trach# tete eher nach literarischem als nach politischem Erfolg. Was ihn beschäftigte und wer ihn in München hielt, zeigt ein Brief aus dem Sommer 1887. »Die Frage der mir angebotenen Theaterintendantur zu Weimar hat mich eine Zeit lang schwane kend bewegt. Wahrend des Besuches, den Prinz Wilhelm in Liebenberg machte, fand eine Klärung Statt. Das drohende Gespenst meiner Versetzung auf einen andern diplomatischen Posten, der ich unter den obwaltenden materiellen Verhält^ nissen nicht hätte folgen können, hat der Prinz, ohne mein Zuthun und durchdrungen davon, daß ich in München nütz^ lieh sei, von mir abgewendet. So bleibe ich denn in Gottes Namen, wo ich bini« Sonst wäre er Weimarer Theaterinten^ dant geworden (und säße heute dann wohl in Hülsens Loge). So sehen die Fanatiker des Glaubenskampfes nicht aus. Und wollte der Prinz, der ihn nützlich fand, am Hof des Prinz^ regenten etwa einen Katholikenfeind und Stockpreußen haben? Hätte er Einen dieses Kalibers später nach Wien geschickt? Thut nichts: die Augenblickswirkung ward erreicht. Daß ein perversen Verkehres, ein des Meineids und der Verleitung zum Meineid Angeschuldigter sich für das Opfer des pro^ testantischen Reichsgedankens ausgiebt, ist immerhin neu.
Neu (und nicht gerade würdig) auch, daß ein in solche Lebensnoth Gerathener täglich den Kaiser in die Erörterung zieht. »Seine Majestät baten mich, kräftige Nahrung zu mir zu nehmen.« »Ich stand Seiner Majestät sehr nah.« »Vor Seiner Majestät hatte ich nie ein Geheimniß; auch nicht als
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Privatmann.« »Herr Kistler war auf allen Nordlandreisen, die ich im Gefolge Seiner Majestät mitmachte, bei mir an Bord.« Und so weiter. Das ist der Takt des Günstlings, der einst schrieb, noch sein letzter Athemzug sei ein Gruß an Seine Majestät. In einen Brief, der ein Testament sein sollte, Herrn Kistler zur Uebergabe an den Kaiser anvertraut war und auf dessen Schutzhülle der junge Sekretär geschrieben hatte: »Nach Philipps Tod zu öffiien.« In einen Brief aus dem Jahr 1888. Damals wußte Phili, daß, wann er auch sterbe, sein letzter Athemzug ein Gruß an den Kaiser sein werde. Comediante, tragediante : wie es die Noth der Stunde heischt.
Nach achtzehn Sitzungtagen mußte, im August 1908, die Verhandlung abgebrochen werden. Im nächsten Jahr wurde der Versuch erneut, die Sache zu Ende zu fuhren. Auf Isen# biels Prokuratorstuhl saß nun Oberstaatsanwalt Dr. Preuß. Der hatte neue Verleitung zum Meineid festgestellt; schien entschlossen, sich weder durch Rang noch durch Mimenkunst hemmen zu lassen, und forderte die Wiederverhaftung des Angeklagten. Da kam der »große Anfall«. Als Fürst Eulen^ bürg aus dem Schwurgerichtssaal getragen wurde, glaubten die Zuschauer, eines Sterbenden Antlitz zu sehen. Die dem Krankenwagen nachgeschickten Beamten konnten beobachten, daß Philipp in leidlicher Haltung ausstieg und fast ohne Stütze die Stufen seiner Haustreppe erkletterte. Vier Jahre lebt er seitdem; nicht in der Krankenabtheilung des Untersuchungs^
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gefangnisses, sondern in Liebenberg, wo von Zeit zu Zeit eine Aerztekommission bescheinigen muß, daß er nicht ver^ handlungfähig ist. Mit Besuchern und in sein Schloß ein^ quartirten Offizieren plaudert er über Politik, Kunst, Tages« Vorgänge. Wenns nach meinem VC^en gegangen wäre, hätte er die Fähmiß des Angeklagten nie kennen gelernt. Niemals habe ich der Forderung zugestimmt, ihn noch einmal vors Gericht zu zerren. Unter Salomos Weisheitsprüchen ist dieser: »Freue Dich nicht, wenn Dein Feind fallt, und lasse nicht über sein Unglück Dein Herz jauchzen.« Auch die strengere Warnung aber, die Fürst Philipp zu Eulenburg im Ueber« muth des, trotz innerer Schwachheit, sich allmächtig und un« verwundbar Dünkenden vergaß, sprach des Predigers Mund: 3»Sei nicht ohne festen Grund Zeuge wider Deinen Nächsten und betrüge nicht mit Deiner Lippe. Die Untreuen werden aus^ gerodet und nur die Gerechten dürfen im Lande wohnen.«
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HAU.
Die Aesthetik des Gerichtssaales.
Schwurgerichtssaal in der Haupti» und Residenzstadt Karls^ ruhe. Im Mittelpunkt des Bildes die drei Richter. Rechts der Staatsanwalt. Links der Gerichtsschreiber. Vor ihm die zwölf Geschworenen. Gegenüber, hinter dem Vertheidiger, der Angeklagte im offenen Käfig. Zwischen den Bänken der Jury und der Vertheidigung der Raum für die Zeugen. Elegante Damen, Offiziere, Postbeamte, Kutscher, Diener; Menschheit aller Sorten und Lebensalter. Psychiater, die den Angeklagt ten beobachtet haben und sachverständig nun beurtheilen sollen, ob er, »zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willens« bestimmung ausgeschlossen war.« Jedes Zuschauerplätzchen ist besetzt: die beste Gesellschaft der Fächerstraßenstadt langt nach dem Spektakel. In den Gängen, vor dem Justizgebäude drängt sich, wie in Hungersnoth um Brot an Bäckerthüren, seit frühem Morgen schon die Menge. »Dies Wunder wirkt auf so verschiedne Leute der Dichter nur«, spricht Goethes Schauspieldirektor. Wirkt öfter noch die Hoffiiung, ein
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Drama zu sehen, dessen Spieler nicht, wenn der Vorhang zum letzten Mal gefallen ist, die Schminke mit Kakaobutter aus dem Gesicht reiben, nicht das geborgte Kleid, des Königs oder Bettlers, der Buhlerin oder keuschen Braut, ablegen und hastig ins Alltagsgewand schlüpfen. Ein Drama, in dem nicht zum Spaß nur verwundet, getötet wird. Das ist der Hardtwaldstadt beschert. Mit ihr genießen es zwei Welten, denen alles in foro Geschehende ausfuhrlich geschildert wird. Doch der Bericht wirkt nicht wie Erlebniß. Was Protagon nisten und Nebenspieler sprechen, ist mit leidlicher Zuver^ lässigkeit wiederzugeben; nicht ihr Ton, der Gestus, der die Rede begleitet, noch der Wesensrhythmus der zur Aussage, zu Frage und Antwort Berufenen. Das gedruckte Wort giebt von der Persönlichkeit nicht einmal, lange nicht so viel wie das Grammophon; und wer ein Drama durch Platte und Schalltrichter kennen lernte, hats nicht erlebt. Nur ein Sinneswerkzeug arbeitet; die besondere Färbung der Indivi^ duen, ihre leibliche und seelische Haltung, die zwischen ihnen schwebende Atmosphäre (yair ambiant) muß einbilde nerische Kraft, so gut sies in der Eile vermag, sich zu er# ganzen suchen. Das ist kaum möglich, wenn auch die Leit^ ung durchs Ohr nichts vermittelt und wir nur die steifen, dürren Buchstaben des Prozeßberichts vor uns haben. Drum ist der Drang ins Gerichtshaus begreiflich; ist er nicht nur, als Symptom ungesunder Neugier, zu tadeln, wie bei uns allzu oft geschieht. »Wieder bestand die Mehrheit der Zuschauer aus Damen der besten Kreise.« Wundem sich die Gehirne
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chen darüber? Müssen sie daraus flink auf eine Perversion des Frauengefuhles schließen? Diese feinen Damen erleben ja nichts; werden in süßer Unwissenheit gehalten; sehen von dem Gehäus der Menschheit nur die Fassade, die zuf Re^ Präsentation bestimmten Räume, Küche und Kleiderkammer; lernen den Mann, den Einen, der ihnen erlaubt ist, oft nur im Schlafzimmer kennen. Hören aber (oder ahnen doch), daß es ganz andere Welten und Willenssphären giebt: und grei«: fen gierig deshalb nach Allem, was sie Menschen menschlich sehen zu lehren vermag. Als Wanderer die Heimstätten und Höhlen im Menschenland zu betrachten. Große zu belauern, auf Kleine zu achten, ist ihnen nicht gestattet; nicht, bis an (und in) die letzten Häuser hinauszugehen. Und Ihr staunt zornig, weil sie vom Roman, vom Theater, vom Gerichtssaal Ersatz hoffen? Da öffiiet sich das enge Verließ ihres Erlebens; frei darf der Blick ins Weite schweifen und, oben und unten, entdecken, was irdische Vorsehung ihnen mit Nacht und mit Grauen bedeckt hat. Da hebt der Vorhang sich von blutrünstigen Bildern, von den ängstlich der Sonne ver«: borgenen Kämpfen ums Sein. Da wird offenbar, wie das Handeln sich dem Mutterschoß des Wollens entbindet; was der Wille vermag und wo er splitternd zerbricht. Staunt nicht noch scheltet die feinen Damen, die nach einem Stücke chen Leben dürstet. Die gerühmte Oeffentlichkeit unseres Gerichtsverfahrens ist eng genug beschränkt. Keine Agora, kein Forum, auf dem, unter hellem, offenem Himmel, ein Volk athmen kann. Wenn das Reporterheer sein Lager bezogen
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hat, bleiben in unseren Gerichtssälen nur ein paar Plätze. Klagt nicht darüber, daß sie von Denen gesucht werden, die vom Leben abgesperrt, vor seinen Pfeilen und Schleudern durch Eure schwachgemuthe Muhmenweisheit bewahrt sind. Sucht nach Sensationen, sagt Ihr; und hättet Recht, wenn zu dem täglich thöricht mißbrauchten Ekelwort sich ein klarer Begriff einstellte. Sucht nach ungewöhnlichem Er^ lebniß, das den Blutumlauf schleunigt und an den Nerven«: strängen rüttelt. Was blieb denn der turba, dem wimmeln^ den Haufen der Mühsäligen, die nicht die Geschäfte des Staates und der großen Organisation leiten? Ein Tag schleicht wie der andere hin. An der Maschine, am Kochherd, am Kinderbett stehen; ein GerätHstheilchen fertigen, immer eins von der selben Form, oder nach dem selben Schema Knaben und Mädchen lehren; Schmutz wegfegen oder Akten schrei« ben; das Land bestellen; Waaren einhandeln und verkaufen; Werdende und Erwachsene in entgötterte Heiligthümer ein« fuhren. Von Abstraktionen wird auch der Magen der Masse nicht satt; er läßt sie sich vielleicht, wenn sie von einer »Autorität« vorgeschrieben sind, gefallen, weiß aber eben so wenig damit anzufangen wie mit den Schwarzküchenpräpa« raten, die ihm natürliche Nahrung ersetzen sollen und für die Saftbildung und Darmanregung doch nichts leisten. Was bleibt? Bunt gewebte Romane und die Zeitung mit ihrem Lärm ; Szene und Tribunal; Sport und Spiel. Gladiatorenkämpfe und Stiergefechte sind in unserem Norden nicht erlaubt; nicht einmal das Lotto ists, von dessen Gewinn die Gier sich
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im dunklen VC^nkel künftige Herrlichkeit erträumen könnte. Ringkämpfe, Pferderennen, Gipfelskandale und Mordprozesse bieten immerhin noch den besten Ersatz. Sind die piacula der Christenheit. Auch in Rom stellten die Damen zu den Sühnfesten das stärkste Kontingent. Wenn der pollex des Imperators über Leben und Tod eines niedergerungenen Sklaven entschied, gings, wie ein vielstimmiger Brunstschrei, im schrillsten Sopran durch den Cirkus. Als Nero, um einen Juliabend zu wärmen, die Stadt der großen Julier an^ gesteckt und im Schutt ein neues Volksvergnügen gefunden hatte, scheuten die vornehmsten Frauen nicht das Gedräng der Martyrspiele. Im Haus sahen und hörten sie wenig. Draußen loderten Lebende Fackeln; wurden Menschenleiber von der Pranke wilder Thiere zerfetzt; erfuhr die geputzte, gesalbte domina, wie weit der Wille die Grenze der Kraft vorrücken kann. Alle drängten sich zum ludus matutinus und waren abends pünktlich wieder bereit, wenn die in Fett getränkten Körper der Verbrecher angezündet wurden und die Gluth den Obelisken von Heliopolis bestrahlte (»Warum nicht? Es sind ja Ketzer, die man brennen sieht,« sagt noch Schillers sanfte Mondecar in skrupelloser Freude auf das versprochene Auto da F6.) Daß Nero den actus fidei zur Theatervorstellung machte, den auf dem Oeta in Flammen verröchelnden Herakles, den vom Bären zerstückten Orpheus, die vom geilen Stier besudelte Pasiphae darstellen und die Spieler in ihrer MimusroUe sterben ließ, steigerte die Attrak^ tion. An ders aber auch sonst nicht gefehlt hätte. Hier sah
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man Menschen im furchtbarsten Drang. Das Aufbäumen und das Verglimmen der Lebenskraft. Nackte Christen^ madchen, die mit den Haarsträhnen an die Homer wüthen^ der Stiere gefesselt waren und durch den sonnigen Cirkus der Kaligula und Klaudius geschleift, auf den Fliesen ge^ schändet, entfleischt, zu blutigem Brei zerstampft wiurden. Zwischen Vestalinnen und hohen Beamten thronte, auf dem Podium, der kurzsichtige Kaiser und betrachtete durch den konkav geschliffenen Smaragd, der ihm als Opernglas diente, das von seiner Kunst inszenirte piaculum. »Ein feiger Kerl, der so winseltl« »Die Schlanke da hält sich wackerl« »Brüste chen wie Niobes Jüngste I« Richter und Gutachter in einer Person. Auch Henker. Im Fell eines Tigers oder Bären (Sueton erzählts) hat er den Kitzel am Leib reiner Jungfrauen und Jünglinge gestillt, die dann am Pfahl verkohlten. Der letzte Schleier riß und am zuckenden Körper des Menschen^ gethieres wurden die grausigsten Wundmale sichtbar. Wenn Blandina am Kreuz mit verzücktem Blick das Haupt himmelan hob, wenn Perpetua, um sich den heidnischen Gaffern stände haft zu zeigen, in der Arena das von den Bestien gezauste Haar mit ruhiger Hand entwirrte und knotete, empfmd Jeder, welche Widerstandsgewalt starker Glaube dem zer» brechlichsten Gefäß zu leihen vermag. Jeder, wie klein in Lebensnoth der Mensch wird, wenn ein stämmiger Christ beim ersten Laut des ThiergebrüUes schneebleich an seinem Pfahl schrumpfte, wie eine Schnecke unter der tastenden Ruthe. Der Reiz der Schamhaftigkeit ward entdeckt; nicht an üppig
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prangender, fröhlich stets zur Hingabe bereiter Schönheit wei^ dete nun sich das Auge : auch an keuscher Kargheit, die vom Strahl aus dem Gesichtsbom sich schon entweiht fühlt. Zum ersten Mal drohte Aphroditens lichtem Altar die Vereinsamung. Und nur eine Würze fehlte dem Mahl. Die Menschen, die man martern, zerfleischen, verbrennen, zertreten sah, kamen aus der Unterschicht römischen Lebens; waren der noblen Gesellschaft so fremd wie der londoner society die Ostend«: armen, die man vom Roß oder Wagen aus wohl an den Straßenecken betteln sieht, deren Hand kein Sauberer aber je gedrückt hat. »Humiliores bestiis objiciuntur vel vivi exu^ runtur; honestiores capite puniuntur.« So wollte es der Brauch. Was da verreckt und verprasselt, ist nicht unser Fleisch und Blut. Erst wenn man den Nächsten, das Ebenbild eigenen Wesens, in Martern erblickt, wird das Gefühl wach, das an der delphischen Pforte dem Waller rieth, sich selbst zu schauen, in Andacht des Wesens Kern zu erkennen.
So empfanden, in der Welt westlicher Herrenvölker, die Alten nicht oft; deutlich vielleicht nur, weim eines Tragikers Stimme zur Reinigimg gerufen hatte. Zwar walteten über Allen die selben Götter. Die ließen aber mit sich reden. Wenn die großen Diebe wie die kleinen behandelt worden waren, hätte Demosthenes die athenischen Männer nicht so fiberlaut vor der Schmach gewissenlosser Rechtsbeugung ge^ warnt. Pflicht zur Gerechtigkeit? Kinderei. Der vornehme Hellene und Römer brauchte die Wahrheit, daß Recht ein Kraftbegriff ist, nicht hinter die Prunkperioden heuchelnder
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Rede zu bergen. »L amour de la justice n*est en la plupart des hommes que la crainte de souSrir Tinjustice«, schrieb La Rochefoucauld in sein Notizbuch. Wer sich stark (uhlt und die Rache der Rechtsgenossen nicht furchtet, giebt die Gerechtigkeit billig in Kauf. Ihm kann nichts geschehen; und dafür, daß unten kein Bruch des Besitzrechtes unge^ sühnt bleibe, sorgt schon das Sicherungbedürfhiß der herr« sehenden Klasse. Die ins Dickicht der Rechtshändel ge^: rathen und vom Schwert der Dike bedroht werden, sind aus anderem Stoffe; sind eben humiliores. Leise nur regt beim Anblick ihrer Bedrängniß sich Mitleid und Furcht. Den Sinn des Vedenwortes Tat Twam Asi hätte im alten Athen und Rom kein Mächtiger verstanden. Dieses bist Du? Dieser Wurm, der im Staub kriecht und sich vor jedem Fuß, jedem Wurzelknubben furchtsam wegkrümmen muß, soll ich sein? Heute noch, auf unserem mit Weisheit des Ostens gedüngten Boden, will die Formel des Veda nicht gedeihen. »Wer sie mit klarer Erkenntniß über jedes Wesen, mit dem er in Be^ rührung kommt, zu sich selber auszusprechen vermag. Der ist eben damit aller Tugend und Seligkeit gewiß und auf dem graden Wege zur Erlösung.« Schopenhauer schwärmt so. Doch nur Wenige wagten, den Weg zu beschreiten (und der Führer selbst bog jäh ab, wenn er rechts oder links einen Fhilosophieprofessor sah). Selten schlägt beim Anblick leidender, verrirrter Kreatur Einer an seine Brust und spricht zu sich: Dieses bist Du; so konntest auch Du Dich verstricken und straucheln. Der Prozeßbericht lehrts ihn. Wenn Einer
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aus seiner Schicht auf die Bank der Angeklagten kommt, lernt der sonst Kühlste zittern und bangen. Rinaldo und Schinderhannes: spannende Räubergeschichten. Die Haupte Verhandlung gegen einen leidlich gebildeten, im Wohlstand aufgewachsenen Mann, eine im Salon heimische Dame: Er^ lebniß. Wie sieht er aus, dem Monate lang schon alle Kul^ turgüter entzogen sind, die winzigsten selbst? Wie trug er die Einsamkeit und den Schandruf? Lahmt sein Muth oder nimmt ein Unbeugsamer den Kampf auf? Mit welchen Waffen ficht er? Mit welcher Finte weicht er dem Angriff aus? Sieh ihn genau an, horche auf ihn und präge Dir seine Taktik ein. Für alle Fälle. Er lebt in Deiner Luft. Was ihm dräut, kann auch Dir eines Tages Verhängniß werden.
In Neros Cirkus wurde der Reiz der Schamhafitigkeit tnU deckt; aus blutigen Wehen die Christenästhetik geboren. In den Arenen unserer Gerichtshäuser blickt der Kruzifixus auf die Rückkehr zur Menschenwerthschätzung der Heidenheit herab. Schnell entchristlicht sich da das Gefühl; wie im Krieg und auf der Jagd, wie überall, wo mit evangelischer Tugend nichts zu erreichen ist. Ein reuiger, auf der Sünderbank schluchzender Angeklagter rührt die Herzen wohl ein kleines Weilchen; hat aber bald verspielt. Ein Schacher. Warum blieb er nicht auf der Heerstraße, da in der Einsamkeit, noch hinter den Kotterstäben, vor der rächenden Macht der Gesellschaft ihm nun bang wird, deren Rechtstafel er fre^ velnd brach? Wer nicht bereit ist, ohne Wank seine Thaten auf der Wage der Themis gewogen zu sehen, soll sich ins
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Mittelmaß ducken und dankbar die Glücksbrosamen him nehmen, die ihm die Uranostochter aus ihrem Füllhorn spendet. Wer den gesetzlich erlaubten Pfad verlassen hat, soll kräftig und listig sein; oder solls bis ans bittere Ende wenigstens scheinen. Ein guter Kerl? Sein Platz war im Bürgerwinkel; die Prangergefahr mußte der Schwächling meiden. »Fair is foul and foul is &ir« : vor und nach jedem Ver«: brechen summts die Hexenzunft durch den Nebel. Alles, was an offizieller Frommheit sonst gepriesen wird, verliert dann die Geltung. Sei an Listen reich, Mann; verrathe Dich nicht noch lasse Dich je erwischen; und zwinge die Nerven zu Ruhe: so nur wollen wir Dich. Lächle oder tobe, verstelle Dein Wesen oder zeige dreist die zottige Brust des wilden Affensprossen, falte die Hände oder brülle den Richtern die Wuth Eines, dem ihre Rechtsordnung nie Anderes als eine ins reife Aehrenfeld gestellte Spatzenscheuche schien, ins ver«: dutzte Gesicht: nur hüte Dich, aus der Rolle zu fallen. Edle Züge sind Dir nicht verboten. Werden sogar verlangt. Du sollst Mitschuldige schonen, darfst den Begünstiger Deiner That, Deiner Flucht nicht verrathen, mußt alles Mögliche thun, um für die Deinen vorzusorgen. (Der Verurtheilte, der, um seiner Frau eine Rente zu sichern, den letzten Hauch von einer Reklameagentur miethen ließ und auf der Richte Stätte, fast schon unterm Beil, der hundertköpfigen Menge zurief: »Die beste Chokolade giebts bei SandersonI«: Der war auf seine Weise ein Held.) Ins Unmännliche darf Dein Edebinn nicht abgleiten; der Seilläufer, der die Banlancir^
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Stange auf seinem Handteller tanzen ließ, nicht plötlich zur Memme werden. Schuld oder Unschuld? Schemen aus dem Wolkenreich blutloser Begriffe. Manche Schuld wird hie^ nieden nicht gesiihnt; wir Wissens und sind zufrieden, wenn der hurtige Kopf sich der Schlinge entwindet. Nicht jedes Sühnfest freut uns: nur eins, bei dem das Opfer erst mit dem Athem die Fassung verliert. Der bußfertig schlotternde Angeklagte wirkt schäbig: ein Eber, der, statt die Hauer zu wetzen und den Feind anzunehmen, sich aufr Flennen legt. Rechtsanwalt Karl Hau aus Gro&Littgen, den das karls^ ruher Schwurgericht, als den Mörder seiner Schwiegermutter, zum Tode verurtheilt hat, war in einer anständigen Bürgern Stube aufgewachsen, hatte Mancherlei gelernt und an der Schwelle des Mannesalters schon Etwas aus sich gemacht. Auf dem harten Sitz des Angeklagten hatte er das Gewand und die gelassene Ruhe des Gentleman. Große Augen in einem blassen, bartlosen, beinahe noch knabenhaften Gesicht. Der langbeinige, schlanke Rumpf geschmeidig wie eines Renn^ pferdes vor dem Entscheidunglauf. Tage lang stand er am Ffüil. Wurde mit Fragen bestürmt. Sollte sein Thun er^ klären, Räthsel lösen, fiir sein junges Leben fechten. Gab sich aber nicht dazu her. Blieb ruhig, höflich, taktvoll; im ärgsten Gedräng. Wog die Tragweite jedes Wortes und war weder durch Furcht noch durch Hoffiiung aus der bedachte sam gewählten strategischen Stellung zu locken. Bis in die letzte Stunde hinein der klügste Mann im Saal. Einer, der sich mit seiner Klugheit nicht brüstet. Nicht posirt. Sich
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nicht vordrängt. Die Bruchstellen in den Grundmauern der Anklage nicht aufdeckt. Nur redet, wenn er gefragt ward; und den meisten Fragen die Antwort weigert. Ein Muster der Selbstzucht. Ob die Zeugen ihn ein Genie oder einen Hochstapler nennen, als Märtyrer oder Mörder behandeln: keine Schwachheit wandelt ihn an. Nie versucht er, auf das Gefühl seiner Richter zu wirken, um ihr Mitleid zu werben. Wenn er spricht, über die Krisis seines Schicksals, über die Absolution, die er vom Priester im Untersuchungsgefimgniß empfing, über den Selbstmord seiner Frau: immer ists, als habe er vorher jede Silbe in Eis gekühlt. Er klagt nicht; trotzdem Staatsanwalt und Gerichtspräsident ihm Grund ge^ nug bieten. Wozu? »Ich habe nicht auf meine Schwieger^ mutter geschossen, sehe aber ein, daß der Schein wider mich zeugt.« Das war ihm fast schon zu viel. Nicht ein Laut, der einer Bitte ähnelt. Der ganze Mensch aus einem Stück. Drum wird er bewundert. Drum drängen Tausende in den Saal: zu sehen, ob auch die nächsten Speerstöße vom Erz dieser Wesensrüstung abprallen werden. In Friedrichs stiller Residenzstadt kommts zu Straßentumulten, weil die kühle Ueberlegenheit des Angeklagten den Kleinbürgersinn in hero^ worship getrieben hat. Und Millionen harren, am Meer, im Gebirg, an der Heilung verheißenden Quelle, des Urtheils, als gölte es einem geliebten Haupt. Schuldig oder Unschuld» dig? Kaum taucht die Frage noch aus der Weißgluth der Ungeduld. Wit im Diesseits von Gut und Böse, wünscht Alles dem Starken den Sieg. Zeus ist erstanden.
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Indicia. So wars am ersten Tag nicht gewesen. Auf dem Gerichts^ tisch stand ein Glas, in dessen heller Flüssigkeit ein dunkles Knäuel zu schwimmen schien. Aller Augen haften an der diaphanen Wand des Gefäßes; und wenn die Hand eines Arztes oder Richters das Glas streift, gehts wie frommes Schaudern durch die Reihen. Als hebe auf dem waldigen Berg der Templeisen unsichtbare Kraft den Gral hoch ins Gewölb. Doch der dunkle Fleck ist nicht ein Gerinnsel vom sanguis realis des Galiläers, das Glas kein Kultgeräth: in Spiritus bewahrt es das Herz, das Karl Hau durchschossen haben soll. Das Herz der Frau, deren Tochter er entfuhrt und zur Ehe genommen hat. Blutet es nicht, da der Mörder so nah ist? Zuckt nicht, wie in Krämpfen, noch einmal der Muskel? »Der Mensch weiß niemals, wie anthropomor^ phistisch er ist«, spricht Goethe. Das Klümpchen wird zum beseelten Wesen, zum unsterblichen Mutterherzen der Le^ gende; und wie grasse Anklage dröhnts aus dem blinkenden Behälter. »Mein Kind hast Du bethört, nahmst es mir, woll# test mit ihm in den Tod, hattest aber, als Du den jungen Frauenleib bluten sähest, nicht den Muth, gegen die eigene Brust die Waffe zu kehren. Leichtfertig also mit fremdem Leben und obendrein feig. Leichtfertig auch in Deinen Geschlechts^ Sitten. Ein Schürzenjäger. Ein Freund feiler Weiber. Ein Prahlhans. Und ein siecher, im Brennpunkt der Zeugen« kraft vergifteter Mann. Was gabst Du Deiner Frau? Elend und Lebensgefahr lauerte auf der Schwelle ihrer Braute
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kammer. Dann, als Dein scharfer Verstand und Deine Ge^ schmeidigkeit in der Neuen Welt Dir zu reichlichem Ein^ kommen verholfen hatte» gabst Du ihr Luxus, Edelsteine, den erkauften Tand eines Ordens. Glück? Eifersucht zehrte an ihr: und Du warst schuld. Auf die heißen Freuden der Weibheit und neuer Mutterschaft mußte sie früh verzichten : und Du warst schuld. Ihr Kind sah sie als hageren Schwäche ling hinkümmem: und Du warst schuld. Hast sie mit Dei# nem Flatterdrang, Deinem Trug, Deinem Mordgeruch ins Wasser getrieben. Nachdem sie durch Dich zur Waise ge^ worden war. Wenn das Opfer Dir den Mord verziehe: kann die Mutter verzeihen, was Du an Kind und Kindeskind ihr gethan hast?« Präsident, Staatsanwalt, Geschworene brauche ten den Mund nicht zu öffiien. Das durchschossene Herz vertrat die Anklage mit so ungeheurer. Wucht, daß kein Entlastungbeweis dagegen aufkommen konnte. Dramatis personae schienen nur dieser Ankläger und der des Mordes Verdachtige. Und jeder Blick, der sich feucht von dem fun^ kelnden Glas löste, sprach den Angeklagten schuldig.
Am sechsten November 1906 ist Frau Molitor, die reiche Witwe eines Medizinalrathes, in Baden-Baden getötet wor- den. Auf offener Straße, als sie, bei sinkender Nacht, mit ihrer unverheiratheten Tochter Olga nach dem Postamt ging. Zu diesem Gang war sie genöthigt worden. Ein paar Tage vorher hatte ein Telegramm sie in ungewohnter Hast nach Paris gerufen, wo Karl Hau sich mit seiner Frau und seiner Schwägerin Olga aufhielt. Da die Drei nichts von dem
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Telegramm wußten, wurde die Postbehörde aufgefordert» dem Absender nachzuforschen; und am sechsten November ersuchte der zuständige Beamte Frau Molitor telephonisch, zu ihm zu kommen, damit er ihr über das Ergebniß der Re^ cherchen berichten könne. Ob es durchaus noch heute sein müsse. Heute noch. Die Witwe macht sich auf, holt ihre Olga von einem Vesperthee: und kehrt nicht mehr heim. Nie hat Feindschaft der stillen Frau nach dem Leben getrachtet. Beute war von diesem Leichnam nicht zu er^ raffen. Cui bono? Die Frage des Lucius Cassius Longinus Ravilla klingt auf jeder Mordstatte dem Kriminalisten ins Ohr. Wem nützt dieser Tod? Wer hat ein Interesse daran, das natürliche Ende dieses Lebens nicht abzuwarten? Einer, der seinen Erbtheil gerade jetzt brauchte. Doch in der guten Gesellschaft treibt solches Motiv nicht zum Mord. Und die Hinterbliebenen sind hier rangirte Leute von bestem Ruf. Alle? Um Linas Mann ist ein Duft von Abenteuerlichkeit. Rheinlander, aus der trierer Gegend, aber drüben völlig amerikanisirt. Ein höllisch geriebener Herr soll er sein. Und steinreich. Manchmal, sagt Einer; dann wieder ohne das für die nächste Mahlzeit nödiige Geld; wie es im Yankeeland solchen Spekulanten eben geht. Was treibt er da eigentlich? Geschäfte aller Sorten. Bitte: er ist Professor 1 Nein: Advo^ kat. Auch nicht: Agent. Jedenfalls hat er im Lauf der Zeit viel Geld zusammengeschlagen. Und ausgegeben. Tolle Ver< schwendungsucht. Die Frau mit Brillanten behängt. Er selbst wie ein Nabob; die theuersten Hotels. Stünde bei uns längst
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unter Kuratel. Und pendelt immer zwischen Sandy Hook und dem Bosporus hin und her. Soll der Lina ja vom Tür^ kensultan einen hohen Orden mitgebracht haben. Wers glaubt, wird selig. Das glitzernde Ding hat ihm irgendein bestochener Pascha zugeschmuggelt. Ging nicht auch einmal von heimlicher Entfuhrung die Rede? Richtig: die alte Molitor hat dem Paar erst ihren Segen gegeben, als sie nicht anders konnte. Und im Engeren wurde damals sogar von Selbstmordversuchen gewispert. Dieser falsche Amerikaner ist ein höchst unsicherer Kantonist, dem man nicht über den Weg trauen darf. Freilich: ein Mord! Wie groß ist denn sein Erbtheil? Lina hat funfundsechzigtausend Mark Mitgift bekommen; blieben jetzt noch ungefähr siebenzigtausend. Darum soll Einer gemordet haben, der mit so breiter Kelle schöpft und dems so rasch aus der Schüssel rinnt? Das bringt drüben ein einziges Acquisiteurgeschäft ein. Die Hauptsache: Hau war am Sechsten ja gar nicht in Badens Baden. Folgt also, Leute, statt ins Blaue zu birschen, lieber der sichtbaren Spur. In der Stunde und auf der Straße des Mordes ist ein schwarzer Mann gesehen worden. Feine Damen, die ganz klar im Kopf sind, behaupten steif und fest, er habe einen angeklebten Bart gehabt. Der muß es sein. Vor dem Karneval vermummt nur ein Lichtscheuer sich. Den sucht! Gewiß; nur ist sein Motiv uns ein Räthsel... Der Mord ist ruchbar geworden und der Schwarze mit dem Klebebart schlurft nun schon um alle Stammtische. Auf dem frank«« fiirter Bahnhof hat ein Reisender ihn dem Portier gezeigt.
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Schlank, blaß, mit langen Beinen und großen Augen. Im Trauerhaus haben Drei Linas Mann im Verdacht. Der war, wie sich nun herausstellt, am fünften November in Franko fürt. Wiirde mit angeklebtem Bart ungefähr aussehen wie, nach der Schilderung der Zeugen, der unheimlich Schwarze. Und ist und bleibt der Einzige, der an dem Tode der Frau Molitor, an rascher Erbtheilung ein Interesse haben konnte. Karl Hau hat die Depesche geschrieben, die seine Schwie«« germutter erschrecken und zu hastiger Abreise nach Paris drängen mußte. Karl Hau war am sechsten November heim:* lieh in Baden-Baden, hat sich am Telephon für einen Post- beamten ausgegeben und Frau Molitor zu dem Wege ge- nöthigt, von dem sie nicht wiederkam. Als er von London abfuhr, verbarg er Lina das Ziel seiner Reise und verpflich- tete sie, keinem Menschen zu sagen, daß er auf dem Konti- nent sei. Von einem londoner, zum zweiten Mal von einem frankfurter Friseur ließ er sich Barthaar ins Gesicht kleben. Wurde in dieser Vermummung bei der Stätte und in der Stunde des Mordes gesehen. Riß den Bart dann ab; fuhr, ohne Mohtors Haus zu betreten, mit dem nächsten Zug nach Frankfurt; warf Hut und Mantel, die er in Baden- Baden getragen hatte, in den Aermelkanal. Und war just damals in arger Geldklemme. Hatte hinter dem Rücken der Frau auch deren Vermögensrest schon aufgezehrt. Das hat er, Alles, Monate lang stramm und ohne Erregungzeichen geleugnet. Nach und nach nur zugegeben, was unwiderleg- bar erwiesen war. Schließlich das ganze Gewicht der be-
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lastenden Umstände auf sich genommen und mit kalter Ent^ schiedenheit nur bestritten, daß er je einen Mord geplant oder gar ausgeführt habe. Darf man ihm glauben? Sein Ver^ theidiger meinte, aus Anklage und Beweisaufiiahme sei nur ein jämmerliches Kartenhaus entstanden, das ein leis aus der "^rklichkeit herwehender Wind umstürzen müsse . . . Ein verwöhnter, der wärmenden Gelddecke beraubter Mann, der zu einträglichen Geschäften Barmittel braucht. Falsche Dt^ pesche, falscher Bart, bischer Telephonruf. Heimliche Reise, heimlicher Aufenthalt im Wohnort der Schwiegermutter. Die wird zuerst nach Paris, dann au£5 Postamt gelockt und auf diesem Weg (den Karl Hau wies und in der selben Stunde, verkleidet, unkenntlich gemacht, geht) von einer Kugel gt^ tötet. Cui bono? Nur dem Erben, der, wenn sein Plan gtp lingt, in zwei, drei Wochen wieder siebenzigtausend Mark haben wird. Der Vermummte flieht aus der Schwarzwaldi« Stadt, ändert, so schnell ers vermag, sein Signalement, stellt sich wahnsinnig, leugnet und läßt sich Schritt vor Schritt von der Nothwendigkeit zu halbem Geständniß drängen. Ein Kartenhaus? Selten sind Indizienbeweise so fest gezim^ mert. Auch der Gewissenhafte durfte auf diese Brücke treten; und sicher sein, daß er auf haltbarem Grunde stand.
Dennoch war Karl Hau Tage lang ein populärer Held. Trotz Bankkontoschwindel und Türkenschacher; trotzdem er seinem Kind Syphilis vererbt und seine Frau in den PfafHker See getrieben hat. Millionen harrten des Spruches, als gölte er einem geliebten Haupt. Schön ist Wüst und Wust ist
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Sckön. Der Kluge mit dem welkenden Knabengesiclit katte mit starker Hand, die das Zittern nie lernte, die Fähmiß gt^ meistert. Stumm stand das Glasgefaß; wurde kaum auf Sekunden noch von den Blicken gestreift. Gott weiß, wer die gute alte Dame getötet hat! Vielleicht der Angeklagte; vielleicht ein Anderer. In dem gefurchten, ausgespülten Beutelchen regt sich nichts mehr. Kinder mag man mit sol^ chem Zeug schrecken. Was solls denn auf dem Tisch? Hier kämpft ein Hirn um sein Recht; ums Recht seiner Kraft. Karl Hau, gegen den stumpfe Waffen fochten, wäre ein be^ wunderter Held geblieben, auch wenn er die That gestanden und, wie Wedekinds Mörder, gesprochen hätte:
Ich hab' meine Tante geschlachtet, Meine Tante war alt und schwach; Ihr aber, o Richter, Ihr trachtet Meiner blühenden Jugend nach.
Kriminalpsychologie.
Um lumpige siebenzigtausend Mark? Die er am Ende doch nicht ganz, vor dem mißtrauischen Auge der Schwäger, ins Geschäft stecken konnte. Darum Meuchelmörder? Ein Pappenstiel für Einen, der am Goldenen Hom mit einem Redakteur recht wie ein Kavalier gekneipt und überall Bak^ schisch amerikanischen Formates gegeben hat. Er kann Ver^ wandte anpumpen. Die strecken bis zu Fünfzigtausend gern vor (habens in Karlsruhe beschworen). Erstens aber ist ge# liehenes nicht ererbtes Geld. Zweitens wäre er vor diesen
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Verwandten um seinen Nimbus, weiih er als bettler käme. Denen hat er wilde Sachen erzählt: von seinem Reichthum, seiner sozialen Stellung, seinen Triumphen als Gelehrter und Unterhändler. Nun den leeren Klingelbeutel hinhalten? Dann platzt die Blase. Wer vom Rhein zu den Stembanner^ leuten gegangen ist, kann sich daheim nur noch als Dollarn onkel zeigen; sonst ist er Hans Habenichts oder, wenn er sich in feinem Kammgamanzug aufplustert, ein Hochstapler, den deutsche Treue meidet. Lieber ein Ende mit Schrecken als den Verlust der heimischen Claque, die den großen Mann aus Atlantis anstaunt und, seit er Linchens Hals mit echten Steinen pflastert, in einer Gedächtniߣüte die That^ Sache gefunden hat, daß er als Junge schon ganz sicher ein Genie war und eben drum blöden Augen als ein Thunicht^ gut galt. Grund genug, das peinliche Bekenntniß, die Leih^ gebiihr und die Dankpflicht zu sparen. Welcher Pedant hieß Euch denn logisch faßbare Erklärung des Verbrechens suchen? Wenn der Rath ruhiger Vernunft immer befolgt ¥rärde, blie^ ben die meisten Sünderbänke leer. Feuerbach, der Ritter der Bayerischen Krone, Wirklicher Geheimer Rath und Appelle ho&präsident war, hat vor bald hundert Jahren »Merkwiir^ dige Kriminalrechtsfalle« aus seiner Praxis zusammengetragen. In dieser Sammlung ist auch die Geschichte Eines zu finden, der uns als »Brudermörder aus Enthusiasmus fiir eine Hand^ lungspekulation« vorgeführt wird. Er wollte in Nürnberg ein Geschäft übernehmen, von dem er sich viel versprach, brauchte dazu seinen Bruder, der aber allerlei Bedenken
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liatte, und schoß den nicht zu Ueberredenden nieder. Irr^ sinn? Dieser Ludwig Christian von O. gab sich selbst nicht fiir einen psychisch Kranken. Im Verhör sagte er (der Her^ ausgeber schreibt das Protokol ab): »Stelle man sich nur vor, wenn man es so weit gebracht hat als ich, wenn man eine beträchtliche Handlung überkommt» durch die man sein und seiner Familie Glück gründen kann, und daß unsere Firma auf unseren Handlungplätzen zu Frankfurt, Bamberg und Würzburg schon annoncirt war, daß wir in jeder Stunde das Waarenlager wirklich übernehmen sollten: und nun kommt ein Bruder, der gegen alles Erwarten nichts als Bedenklichi» keiten hat, nichts als elende Einwendungen vorbringt: ob man da nicht toll werden und in Verzweiflung kommen mußl Ich hätte besser gethan, wenn ich meinen Bruder ganz hätte gehen lassen; allein in der Hitze überlegt man Solches nicht gleich!« Weil der Bruder nicht mit nach Nürnberg will, muß er ins Gras beißen. Triftigeren Grund hätte Karl Hau immerhin gehabt, die reiche Schwiegermutter, der seine Eitelkeit den Schiffbruch stolzer Hoffiiungen so lange wie möglich hehlen wollte, heimlich um die Ecke zu bringen.
Um die Indizienbrücke noch mit einem Nothpfeiler zu stützen, hatte der Ankläger sich schwitzend bemiiht, alle Sünden des Knaben Karl sorgsam zu registriren. Der Bengel hat gestern die Johanne, vorgestern die Susanne geliebt, ging von Branntewein und Bier zu den Mädeln ins Nachtquartier (manchmal, o Graus, bis ins Bordell), holte sich eine tüch^ tige Lues, warf das Geld zum Fenster hinaus, leistete an
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Aufschneiderei das Unglaublichste und soll schließUch gar versucht haben, ein wiener Bankhaus mit einem Kreditbrief zu prellen. Höchst schaudervoll. Auf solchem Lasterp&d wird man zum Mörder? Frokuratorenwahn, den das helle Leben verlacht. Auf mancher Sella thront Einer, ders mit Frauenzimmern nicht glimpflicher getrieben hat. Wenn kein trunkener Studiose ins Lupanar schliche, müßten die Kuppeln mütter verhungern. Luetiker sind Excellenzen von fromm« stem Wandel, Schwatzmäuler Wirkliche Geheime Obermann darinen geworden. Und die wiener Sache war im schlimm« sten Fall ein Versuch am untauglichen Objekt. Solche Streiche sollen den Mordinstinkt erklären? Tausende laufen in Ehren herum, Abertausende, die Aergeres auf dem Kerb# holz haben. Die Akustik imd Optik des Gerichtssaales stärkt den Schall und vergrößert das Volumen. Habt Ihr nicht längst gemerkt, wie ungeheuer da oft das Alltäglichste wirkt? Ein Sandkorn, das man drauiJen nicht spürte, kann hier be« lasten. Unser Urtheil, Aller, über Menschen und Dinge schwankt mit dem Wetter unserer Seele, wechselt wie die Gezeiten unserer Stimmung. Kommt die Schwankung, die Unstetheit an den Gerichtstag, so sind wir halb schon um unseren guten Namen. (»Wenn Wissmann wirklich heute so und morgen anders über Peters geurtheilt hat, bleibt auf dem blanken Schild seiner Ehre doch ein Fleck.« Ohe, les psychologuesl) Erspart uns künftig die »zur Illustration be^ stimmte« Sündenliste. Sie kann nichts erklären. Auch vor diesem Irrweg hat Feuerbach schon gewarnt. Er citirt Racines
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Wort» daß den großen immer kleine Verbrechen voraus« gingen (»Un seul jour ne faxt point d*un mortel vertueux un perfide assassin, un liehe incestueux«) und sagt dann: »Nichts trüglicher als solche Gemeinplatze bei Beurtheilung menschlicher Handlungen! Nichts irriger als die Meinung, nur ein Bösewicht sei eines großen Verbrechens an der Menschheit fähig, niu: in einem schändlichen Gemfith könne eine Schandthat keimen, nur durch das Gebiet des Lasters gehe der Weg zu solchen Verbrechen! Was der Mensch ist, Das ist er durch seinen Instinkt, durch die natürliche Guti» müthigkeit seiner Neigungen, die ihn, unschuldigen Ge« müthes, friedlich, rechlich den graden Weg fortleiten. Aber irgendeine hervorstechende Neigung werde an einem Gegen« stand, den Zeit und Umstände darbieten, zur Leidenschaft entziindet, irgendeine Lieblingmeinung, irgendeine einseitige Richtung des Gemüthes treffe auf einen besonderen Zweck des Begehrens und hefte sich an ihn mit innigem, heiiJem Verlangen: plötzlich, unvermuthet und unvorbereitet, ist dann das innere Gleichgewicht zerrüttet und Alles stürzt, aus seinen Fugen getriel>en, der Stützen beraubt, dahin, wohin die Uebermacht es drückt. So tritt oft unerwartet selbst der Bessere in die Reihe der Verbrecher, so ist oft eines Menschen absichtliche That abscheulicher als er selbst. Unter Himderten, die wir kennen, ist vielleicht nicht Einer, fitr den wir sichere Bürgschaft leisten dürften: er, der heute noch als Mann der RechtUchkeit vor unseren Augen steht, werde nicht vielleicht morgen ein Verbrecher sein. Fast Jeder
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hat seine schwache Seite, die ihm den Fall bereiten kann, sobald ihn dabei die Gelegenheit mit hinreichender Stärke faßt.« So sprach der kundige Präsident eines Appellhofes. Aus dem Buch des Alten ist noch mehr zu lernen; auch fitr unseren Fall. Der karlsruher Schwurgerichtspräsident konnte, wie er sich mühte, nicht £sissen, daß Hau (»ein so kluger Mann«) so unvernünftig gehandelt haben sollte. Das dünkte ihn ganz unglaublich. Den Ritter von Feuerbach nicht. Der sagt: »Der Stern der Vernunft leuchtet nur, so lange ihn nicht der Sturm der Leidenschaften mit seinen Wolken bedeckt. Die Logik der Leidenschaft erkennt keine Syllogismen des Verstandes; sie hat zum Grundsatz, über alle Syllogismen hinaus graden Weges auf ihre Befriedigung loszugehen; sie sieht in ihrer Blindheit nichts als sich selbst und ihren Gegenstand, wirft Alles nieder, was ihr in den Weg kommt, und thut in ihrer Thorheit nicht selten, was ihrem eigenen Zweck entgegen ist. Die Leidenschaft nach den Gesetzen des Verstandes beurtheilen, ist so viel wie: einem Trunkenen zumuthen, so zu thun, als wenn er nüch^ tem wäre, oder auf sicherem Ufer einem Ertrinkenden zu^ rufen nur hübsch fest und grade auf den Boden zu treten, und uns dann verwundem, daß ers nicht gemacht hat wie wir. Es ist allgemein ein sehr verwegener Schluß: Was wir nicht begreifen. Das ist nicht; was wir nicht erklären können, hat auch keinen Grund der Erklärung. Am Vermessensten ist er bei Erscheinimgen des menschlichen Gemüthes, die an so feinen Fäden fortlaufen, daß ihr Ursprung oft in den
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dunkelsten Kammern des Geistes sich verliert.« Das wurde vor hundert Jahren geschrieben. In Deutschland. Dieser Richter wäre nicht in Wuth gerathen, wenn er das Handeln des Angeklagten unlogisch und zweckwidrig gefunden hätte. Bayern und Baden. Wir habens im deutschen Säkulum mit unserer Kriminalpsychologie herrlich weit gebracht.
In der gallischen Heimath feiner Seelenkenner ist die Prozedur menschlicher. Wird von dem Angeklagten nicht Kadavergehorsam, nicht blinde Unterwürfigkeit geheischt. Er darf seinem Temperament freien Lauf lassen. Solls: denn der Richter will ihn ja kennen lernen. Brüllt er einmal auf: der Kampf geht um Freiheit, Ehre, Leben vielleicht; und der A£Fekt sprengt die Pforten des Seelengehäuses. Zola schrie: »Ich kenne Ihre Gesetze nicht, will sie nicht kennen I« Und wurde nicht mit Ungebührstrafe bedroht. Schrie, die Nachi* weit werde seinen Namen noch nennen, wenn der eines Generalissimus längst verschollen sei. Und wurde nicht väter^ lieh vor Größenwahnsanwandlung gewarnt Jupiters Recht ist drüben auch das Recht der Oechslein. Nie £ahrt ein Robenärmel dem Angeklagten rauh übers Maul. Eine Hei^ rathvermittlerin stand in Versailles neulich vor Gericht. Der Vorsitzende ließ sie reden, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Merkte dabei ja, was er von ihr zu halten, wessen sich zu versehen habe. »Meine Kunden sind so anständig, wie Leute sein können, die einer Mitgift nachjagen.« Sie soll Papiere aus einer verschlossenen Truhe genommen haben. »Na, die Diplomaten thun doch von friih bis spät weiter
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nichts I« Sie hört, daß der Strafprozeß sich mit Indizien be# gnügen und auf die schlüssigen Beweise des Civilprozesses verzichten kann. »Famos I In einem Sechsdreierstreit fordert man also mehr Beweise als in einem Verfahren, wos um lange Kittchenjahre geht!« Und so weiter. Als Hau, ein einziges Mal, um etwas höflichere Kritik seines Handelns bitten wollte, hagelte es grobe Worte vom Präsidentenstuhl. Darf ein Mann heftig werden, dem die Ehre ward, einem Gericht vorzusitzen? Herrisch und wild gegen den Wehr^ losen, der ganz in der Hand des unumschränkt Mächtigen ist? Darf er ihn, der zum Kampf um unentbehrliche Güter tüchtig sein soll, des Wollens Ohnmacht fiiihlen lassen?
Halali.
Sonnabend durfte Hau, als die Nacht sank, leise auf Frei# Spruch hoffen. Als die Montagssonne den höchsten Funkt erreicht hatte, war er verloren. Ein Zeuge (der späte Zeuge, der fast in jedem laut umschwatzten Frozeß ein Sondern rühmchen sucht) hatte den Schweigsamen endlich zum Reden gezwungen. Zum Rückzug aus der strategischen Stellung. Bisher war Alles stark, eigensinnig, klug. Nicht ein sentit mentales Wörtchen. »Ich habe nichts zu sagen.« »Ich kann nur meine firühere Erklärung wiederholen.« »Was hier be# wiesen ist, gebe ich zu; aber nicht mehr.« »Ueber die Tragweite meines Handelns habe ich keinen Zweifel.« Wur^ dig. Amor fati in Haltung und Ton. Jetzt ward er roman# haft. Karl hat seine hübsche Schwägerin Olga geliebt.
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Nicht nur, wie Lina witterte, lebemannisch mit ihr getändelt (die Verse machte, pikante Bücher las und von kurstädtischen Philistern deshalb eine »Emanzipirte« genannt wurde). Lei# denschafitlich geliebt. Mit allen Wesensfasem sich an sie ge# klammert. Und kein Aederchen seines Gefühles ihr doch enthüllt Um die Gefahr zu bannen, rief er Frau Molitor nach Paris. Sie sollte Olga mit nach Haus nehmen; sah aber nichts, hörte auch nichts und die Damen fuhren gemächlich heim: zwölf Stunden vor dem Anbruch des ftir die Abreise des Fräuleins von je her festgesetzten Tages. Um Olga noch einmal zu sehen, vor der Rückkehr an die Atlantisküste ein# mal noch, kam er heimlich nach Baden-Baden. Verkleidet. Mit fremdem Haupt- und Barthaar. Nöthigte er die Schwie- germutter, trotz ihrem Schnupfen, aus dem Haus. Ging sie, dann blieb Olga allein und er konnte zu ihr sprechen. Nur sprechen. Abschied nehmen. (Die große, keusche Passion.) Das mißlang: denn Mutter und Tochter gingen gemeinsam zum Postdirektor. Nun mußte Alles herauskommen. So schnell wie möglich also aus der Mumme und fort. Den Schuß hat er nicht gehört. Von dem Mord erst in London erfahren, wo Lina ihn mit dem Kind zur Fahrt nach New York erwartete. Verdacht? Nicht den geringsten. Und mehr sagt er nicht . . . Dem Präsidenten gefiel der roman romanesque. Der hatte die Akten durchaus studirt, dem Angeklagten und jedem Zeugen das im Vorverfahren Ausgesagte noch einmal abge- fragt und ganz und gar nicht begriffen, daß sein Werk nun nicht mit einem Geständniß Haus gekrönt werden solle.
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Jetzt hatte ers: ein Geständniß der Unschuld zwar, das immerhin aber der ungehörigen Verstocktheit vorzuziehen war. (Daß der Angeklagte sich nicht reuig ans Messer liefert, bleibt jedem zum Beisitzen Geborenen stets ein empörendes Räthsel.) Der Herr Präsident geruhte denn auch gnädig, fortan die Sonnenseite zu zeigen. Das Mysterium mag noch Anderen gefdlen haben. Dabei ließ sich was ahnen. Am Ende war der Pöbelinstinkt, der draußen gegen die MoUtors heulte, auf richtiger Fährte. Ein Unschuldiger, weil er aus tieferer Schicht kam, frech des Mordes verdächtigt. Zwischen Olga und Karl doch Intimeres, als keusche Herzen zugeben konnten. Literaturerinnerungen an Rosmers Frau, die ihren Johannes mit seiner Rebekka in den Mithlbach nachzieht. Wenns Sonnabend zum Spruch gekommen wäre, hätten ein paar Geschworene den Beweis vielleicht unzureichend ge# fimden. Drum wollte Hau, nach dem Effekt seiner Beichte, auf alle weiteren Konstatirungen imd Aussagen verzichten; drängte er hastig dem Ende zu. Nun ward Sonntag. Ueber# legte mans recht, so stimmte die Geschichte eigentlich nir^ gends. Um so Harmloses im Dunkel zu lassen, wagt Keiner den Kopf. Und just so dicht bei dem vermummt girrenden Eidam muß Frau Molitor verbluten? Kein Thäter auch nur im Verdacht? Doch: der verschwundene Diener Karl Wie# land, den der Vertheidiger recht laut schon der That zieh (weil er, verhängnißvoU unklug, ihn unauffindbar glaubte). Montag kommt er. Ein gutes Kerlchen, dessen Anblick die Spannung in Lachen löst. Und Frau Hau hat ihr Kind
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Olgas Obhut vermacht. Und hat ihren Mann besser als Einer im Saal hier gekannt. Der Roman zerrinnt. Hau ist verloren. »Nieder mit der rothen Olga!« johlt es draußen. Der Angeldagte ist zum Tode verurtheilt worden; wird, als ein nicht unzweideutig Ueberfuhrter, den Kopf aber nicht imters Richtbeil legen. »Sentimentalität kleidet ihn nicht gut«, sagt Einer in der Thiir. PoUice versol Der Ringkampfer hat mit beiden Schultern die Erde berührt imd ist abgethan. Die letzte Zi£Fer noch in die Kostenrechnung. »Im Erdgeschoß ist die Kasse.« Die Requisiten, die (är das Schwurgerichtsti theater aufgebaut worden waren, werden flink weggeräumt. Der Gerichtsbote greift nach dem Glas, in dem das durch« schossene Herz schwimmt. Und das Sühnfest ist aus.
Motive.
In der ersten Morgenstunde des dreiundzwanzigsten Juli« tages sind den karlsruher Geschworenen zwei Fragen vorge« legt worden. Die erste: Ist der sechsundzwanzigjährige An« geklagte, Rechtsanwalt Karl Hau aus Gro&Lit^en, schuldig, am sechsten November 1906 seine Schwiegermutter, Frau Josephine Molitor, vorsätzlich getötet zu haben? Die zweite: Hat der Schuldige die That mit Ueberlegung ausgeführt? Beide Fragen wurden, nach einstündiger Berathung, mit mehr als sieben Stinmien bejaht. Damit war der Thatbestand des Paragraphen 211 gegeben und der Angeklagte mußte, nach dem Gesetz, zum Tod verurtheilt werden. Dennoch haben wir hundertmal gelesen, der Thatbestand sei nicht aufgeklärt,
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Hau offenbar unschuldig und kein Zweifel möglich, daß der leipziger Strafsenat das unhaltbare Urtheil aufheben werde. Schwurgerichtsurtheile werden selten aufgehoben; sie geben ja keine Entscheidungsgründe, die das Reichsgericht nach«» prüfen, in denen es die fehlende oder fdsche Anwendung einer Rechtsnorm rügen könnte, sondern nur den Ausdruck einer dem Ergebniß der Hauptverhandlung entnommenen, auf Ehre und Gewissen gestützten Ueberzeugung. Das Ur# theil eines Schwurgerichtes kann von der revidirenden Instanz nur aufgehoben werden, wenn das Verhandlungprotokol eine Verletzung des Gesetzes ergiebt. Nicht ein einziger Grund, der in der Strafsache wider Karl Hau die Aufhebung tu wirken mußte, kam ans Licht; kam nach Leipzig. Und das Reichsgericht fsind keinen Grund, das Urtheil zu entkräften. In der Hauptverhandlung hatte der Vertheidiger zunächst versucht, einen Diener der Frau Molitor mit dem Schuldver^ dacht zu belasten. Dieser Karl VTieland sollte mit der Witwe des Geheimen Medizinalrathes Molitor Streit gehabt haben und galt als unauffindbar. Ein alter Fehler schwacher Kri^ minalpolitik: statt den unzweideutigen Beweis zu fordern, daß sein Klient schuldig sei, müht sich mancher Anwalt, einen Zeugen, den er verschwunden wähnt, mit dem Gewicht der That zu bebürden: und ist mit seiner Forensenkunst dann zu Ende, sobald das Echo des Frozeßlärmens den lange ver# gebens Gesuchten in den Gerichtssaal gerufen hat. Nach VRelands Aussage war der künstlich gezeugte Verdacht ab^ gethan. Noch auf einen anderen taktischen Kniff hatte man
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aber geKotft. Herr Hau weigerte die Antwort auf jede Frage nach den Beziehungen zu seiner Schwägerin Olga Molitor; lehnte mit besonderem Nachdruck die Beantwortung der Frage ab, ob er wisse oder ahne, wer seine Schwiegermutter getötet habe. Warum? Da er, ohne sich zu ge&hrden. Nein sagen konnte? Weil er nicht lügen will, wisperts schon im Schwurgerichtssaal; weil er weiß oder ahnt, ein ihm theures Leben aber nicht in Gefahr bringen will. Ein Gentleman also. Einer, der für seine Liebe den Kopf unters Peil legt. Der ein Mörder? Unsinn. Hau hatte Geld wie Heu. Konnte in Amerika, wo er (man denke I) Außerordentlicher Hoch^ schuUehrer und Advokat war, bequem viel mehr verdienen, als er brauchte. Und soll, um lumpige siebenzigtausend Mark zu erben, gemordet haben? Das glaubt kein Erwachsener. Dahinter steckt sicher ganz Anderes. Schon Juvenal hat ge^ sagt: »Nulla fere causa est, in qua non femina litem moverit«; und das Folizeigenie des alten Dumas, der sich auf solche Dinge nicht schlechter als Sherlock Holmes selbst verstand, rieth, in jedem Rechtsstreit nach der Frau, als der Thäterin oder Anstifterin, auszuspähen. Cherchez la femmel Auf der Zeugenbank ward sie gefunden. Fräulein Olga Molitor. Schon sechsundzwanzig; aber hübsch, elegant, röthliches Haar und ein Gedichtbändchen auf dem Kerbholz; also sehr ver^ dächtig. Neben ihr ist die Mutter getötet worden. Auf Olga war Frau Lina Hau eifersüchtig. Und der Angeklagte will um keinen Preis gestatten, daß sie in die Sache hineingezo^ gen werde. Wenn sie gar nichts zu furchten hätte, wäre er
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klickt so ängstlich. Mit solckem Vorurtheil laßt sich operireü. Hat Olga geschossen? War sie im Kompiot? Wollte sie den Schwager, der Schwager sie töten und traf die Kugel in irreni« dem Lauf die Mutter? Schweigt Hau, um Olga zu schonen? Schwört Olga, um ihren Karl nicht allzu schwer zu belasten, sie habe den Mörder, der doch dicht hinter ihr war, nicht deutlich gesehen? Die Mitschuld des Fräuleins wird kaum noch bezweifelt Dann entschließt Hau sich zum Geständniß der Unschuld. Er hat Olga geliebt; mit allen Wesensfasem sich an sie geklammert, doch kein Aederchen seines Gefühles ihr je enthiült Nur um sie vor seiner Rückkehr in die Neue Welt noch einmal zu sehen, kam er heimlich, vermummt, mit fremdem Haupte und Barthaar, nach Baden-Baden. Da der Plan mißlang, ist er hastig auf den Bahnhof gelaufen und nach London abgereist. Da habt IhrsI Liebe; von der salomonischen Sorte, die stark wie der Tod ist. Hau unschuldig oder Olga mitschuldig : alles Andere ist Prokuratorenblech. Kein Wun# der, daß Frau Lina im Pfaffiker See Ruhe suchte. Die Schwester hatte ihr den Mann abgespannt. Eine nette Pflanze. Eine, die Verse macht, pikante Bücher liest, in pariser Tingeltangel stiefelt; was der Bürger so eine Emanzipirte nennt Der ist Mancherlei zuzutrauen. Schon während der Verhandlimg wurde das Fräulein täglich von Insulten verfolgt. Als das Urtheil gesprochen war, heulte die Menge: »Nieder mit der rothen Olga!« Zwei Compagnien des badischen LeibgrenaK dierregimentes mußten, da die Polizeimannschaft nicht s^ASP reichte, die Straßen räumen und kehrten erst gegen drei Uhr
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nackts in die Kaserne keim. Das katte, in der sonst rukigsteh Residenz, die Allweisheit Oeffentlicher Meinung gewirkt.
Sie vermochte noch mehr. Interviews, lange Depeschen, Gutachten, Ergebnisse der Lokalinspektion, kriminalpsycho>» logische Untersuchungen. Dumme Schwarzwaldbauem, hieß es zuerst, haben das Urtheil gesprochen; Leute, deren Hirn die Feinheit dieses Falles gar nicht ermessen konnte. Die gewöhnt sind, um Neun die Decke über den Kopf zu ziehen, und um ein Uhr nachts nun judiziren sollten. Wollt Ihr Geschworene? Ja. Dann dürft Ihr die Manner nicht mäkeln, die von Staatsanwaltschaft imd Vertheidigung nicht abgelehnt worden sind. Daß ihre Berathung nach Mittemacht begann, war der Wille des Angeklagten, der den Vorsitzenden bat, die Sitzung nicht noch einmal zu vertagen. \^elleicht (ich weiß es nicht) hat eine Bauemmehrheit ihn verurtheilt. Von Rechtes wegen. Eine Mehrheit, gegen die der Vertheidiger nichts einzuwenden hatte. Und die ihren Tadlem laut sagen könnte: »Wir haben den Angeldagten und die Zeugen vier Tage lang gesehen und gehört; Ihr habt nur Zeitungberichte gelesen und seid mit aU Eurer Stadtweisheit hier deshalb schlechter dran ak wir ungebildeten Schollenkleber.« Zweiter AngrijBF. Aus welcher Entfernung hat der Thater geschossen? Nicht einmal diese Kardinalfi*age hat das Schwurgericht ernste lieh erörtert; solche Lücken hat dieses VerEdiren. Wir (pStnU lieh Meinende) behaupten, daß schon die Prüfting des Ge^ schoßkegels die Unschuld Haus beweisen würde. (Wobei angedeutet wird, daß nur Jemand, der neben Frau Molitor
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ging, geschossen kaben könne.) Antwort: Das Cerickt Kat über diese Frage zwei Sachverständige gehört; einen Geheim men Medizinakath, der die Leiche obduzirt hatte, und einen zur Untersuchung herangezogenen Büchsenmacher. Beide haben ausgesagt, die Waffe müsse dem Leib der Frau Moli^ tor sehr nah gewesen sein; der Abstand sei auf höchstens zehn Centimeter zu schätzen. Blieb hier, trotz Leichenschau^ protokoi und Gutachten, eine Lücke, so ist der Vertheidiger, der sie klaffen ließ, grober Pflichtversäumniß schuldig; der Gerichtshof braucht den Angeklagten nicht sorgsamer zu schützen als der von ihm bestellte Wächter. Mit Alledem war nichts Rechtes anzufmgen. Auch nicht mit einem btu herrlichen Zeugen, der gesehen haben wollte, daß Olga ihre Mutter erschossen hat, aber zu schweigen bereit war, wenn das Fräulein sich entschlösse, seine Baronin zu werden. (Die^ ses Gefasel eines Erpressers oder Verrückten, dem die Mit^ gilt selbst eine Mörderin heiligt, wurde Tage lang mit eifemi» dem Ernst beschwatzt.) Blieb immer nur der noble Versuch, Haus hübsche Schwägerin anzuschwärzen. Diel Daß sie gern mit Schußwaffen hantirte und stets einen Revolver bei sich trug, weiß in Baden-Baden jedes Kind. Mancher Mannbare, daß ihre Sexualität sie ins Gerede gebracht hat. Und ihr unkindliches Benehmen gegen die Mutter 1 Und Linas Eifer- sucht] Und zwei Zeugen, deren Aussagen Hau entlastet hätten, sind nicht vernommen worden: ein Friseur und eine Ladenbesitzerin. Alles wurde prompt depeschirt und in Sperr- druck veröffentlicht. Alles erwies sich als unwahr. Das Frau-
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lein hat nie eine ScKußwatfe in der Hand gehabt, nie einen Revolver besessen. Olgas Wandel ist unbescholten. Nach dem Zeugniß ihrer Geschwister und Schwäger war sie eine gute, zartUche Tochter; kam mit der Mutter nie in schlimmen Streit. Alle vor Gericht festgestellten Thatsachen sprechen gegen den Verdacht, Lina sei auf die Schwester ernstlich eifersüchtig gewesen. Was als Aussage der nicht vernommen nen Zeugen verbreitet wird, ist belanglos. Thut nichts. \^er Wochen lang steht ein wehrloses Mädchen am Schandp&hl. Haus Vertheidiger hat gesagt, wenn sein Klient den Mord unter den von Anklager und Gericht angenommenen Umstän^ den ausgeführt hätte, müßte er ein Dummkopf sein, der sicher durchs »Raubmördervorexamen« gefdlen wäre. ^Wit wollen uns nicht bei der Frage aufhalten, ob je ein Verbrechen ans Licht käme, wenn der Verbrecher nicht irgendwo von dem Pfad, pien kluge Voraussicht ihm weisen mußte, gewichen wäre. WClr wollen nur fragen, wie die Intelligenz Olgas, wenn sie wirklich ak Mörderin erkannt würde, eingeschätzt werden müßte. Könnte sie dann auch nur noch als zurechnung&hig gelten? Sie lebt mit der Mutter zusammen; Monate lang allein im Haus. Jeder mag sich ausmalen, was sie thun könnte, um eine alte Frau, die ihr im Weg wäre, sacht oder schnell aus der Zeitlichkeit zu spediren. Wir aber sollen glauben, sie habe die Mutter auf offener Straße niedergeschossen; sich also, als der That Nächste, verdächtig gemacht. Die Mög# lichkeit nicht erwogen, daß der Tod nicht sofort eintreten, die Sterbende mit Wort oder Geberde die Thäterin bezeich#
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nen werde. Ein Laut noch, ein Gestus, ein Blick nur: Alles verloren. '^Sdr sollen glauben» daß sie die grausige That, einen Muttermord, endgiltig beschlossen und ausgeführt habe, als Mamachen sie, wider Erwarten, aus einem Theekränzchen abgeholt hatte. Motive? Nicht das winzigste ist sichtbar. Haß? Mutter und Tochter lebten einträchtig mit einander. Liebe? Fräulein Molitor duzte den Schwager nicht einmal; verkehrte mit ihm in der Zone kithler Konvenienz. Nichts, was einen Roman ahnen, auch nur den kleinsten Verdachts^ schatten aufkommen läßt; nichts (außer dem Gewink des Angeklagten). Trotzdem: ein Mädchen am Pranger.
Sind die Stützen des Schuldbeweises etwa so schwach, daß man an einen Fehlspruch glauben muß? Karl Hau war im November 1906 in enger Geldklemme. Hatte Linas Mitgift verdian, ein wiener Bankhaus um vierhundert Pfund zjx prel^ len getrachtet und besaß nur noch ungefähr neuntausend Mark. Nicht viel fiir Einen, der mit Frau und Kind über den Ozean will und gewohnt ist, wie ein Dollarmillionär zu leben. Der die Frau mit Diamanten behängt, von feilen Paschas Osmanenorden erhandelt und den Leuten vorlügt, er werde als Delegirter der Vereinigten Staaten mit Coates auf die haager Friedenskonferenz gehen. Im Land raschen Gewinnes säckelt er wohl wieder was ein. Immerhin nicht so schnell, wie der deutsche Spießbürger glaubt, dem von Professur und Advokatur, von Riesengeschäften mit der russischen, perui» anischen, türkischen Regirung die Ohren sausen. Ein Solide
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ior und Agent, wie es zwischen Pacific^ und Atlantiskiiste Hunderte giebt. Eine Acquisition» Parteivertretung oder Agentenleistung bringt ein schönes Stück Geld; von zehn Schiffen» die gierige Hoflhung ausschickt» scheitern acht aber stets vor dem Hafen. Ein Pralilhans, der den Nabob spielt» ein Mädchen aus gutem Haus entfuhrt, in den romantischen Plan eines Doppelselbstmordes geschwatzt, angeschossen, erst unter dem Zwang harter Drohung geheirathet imd dem Kind dieser Ehe Syphilis vererbt hat. Der nur noch zweitausend Dollars besaß und dem ein Checkschwindel mißlungen war. Panzert des Wesens hehre Reinheit solchen Mann gegen jeden Verdacht? Er konnte das Vermögen der Schwiegermutter, den Erbtheil der Frau überschätzen; konnte hoffen, die sorglose Schwägerin werde ihm, Lina zu Liebe, das Ererbte ins rentable Geschäft geben. Oft haben minder starke Motive zu Mord und Totschlag getrieben. Weiter. Am sechsten November ist Frau Molitor in Baden-Baden getötet worden. Am sechsten Novem- ber war Karl Hau in Baden-Baden. Heimlich. Seiner Frau hatte er das Ziel der Reise verborgen; sie verpflichtet, keinem Men- schen zu sagen, daß er auf dem Kontinent sei. Für die Fahrt Kopf und Wangen mit fdschem Haar bedeckt. In dieser Ver- mummung wurde er bei der Stätte und in der Stunde des Mordes gesehen. Er hat sich am Telephon fiir einen Postbeamten aus- gegeben und die kränkelnde Frau Molitor, gegen ihren Willen, zu dem Wege genöthigt, von dem sie nicht wiederkam. Gleich nach dem Mord ist er mit dem nächsten Zug weggefahren; hat den Klebebart abgerissen, Perrücke, Hut und Mantel in den
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Aennelkanai geworfen. (Ein paar Tage vorKer hatte er die alte Dame, deren krankem Herzen jähe Aufregung verhänge nißvoli werden konnte, mit einer gefälschten Alarmnachricht bei Nacht und Nebel nach Paris gelockt.) Als er verhaftet wird, stellt er sich wahnsinnig, leugnet dann Alles und läßt sich erst von der Nothwendigkeit zu halbem Geständniß drängen. Das Alles ist erwiesen. Motiv? Liebe. Ein mit allen Yankeesalben geschmierter Agent &hrt von London maskirt in den Schwarzwald, um von der heimlich Angebeteten Ab^ schied zu nehmen. Er könnte ihr auf lauem, sie getrost auf dem Weg zum Vesperthee ansprechen. Nein. Er scheucht ihre Mutter aus dem Haus. Will er etwa hinein? Der Diener würde ihn erkennen; mindestens die Maskerade merken. Und Olga wäre in der Wohnung nicht zu finden. Aber neh^ men wir an, er fände sie. Sein Plan gelänge. Er spräche mit Olga, während Frau Molitor im Postbureau ist. Dort erführe sie, daß kein Beamter sie gerufen habe; auch, wie der Mann aussah, der sich ihr am Telephon für einen Beamten gab. Mit dieser Kunde käme sie zurück: und miißte von Olga hören, daß der Vermummte ihr lieber Schwiegersohn war. Das Fräulein hätte nicht den geringsten Grund, die fr«che Täuschung der Mutter zu verschweigen. (Zwiefache Täuschung: denn der Telephonfalscher war nun ja auch als Depeschen^ fiUscher entlarvt.) Die Postdirektion würde den Vorgang der Staatsanwaltschaft anzeigen. Paragraphen 132 und 360^^ des Strafgesetzbuches. Anmaßung eines Amtes und Grober Un^ fug. Vernehmung der Damen Molitor. Skandal, der das
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säße Geheimniß in Aller Mund und den verliebten Fant ins Gefingniß oder Haftlokal brächte. So konnte es kommen, wenn der Plan gelang; mußte. Dazu Perrücke und Mastix^ hart? Das sollen wir glauben? Dem Luetiker, der am fun£^ ten Novemberabend, wenige Stunden vor dem ersehnten Vdedersehen, den Hotelportier nach Lustmädchen firagt, zu^ trauen, keusche Herzenswallung habe ihn über den Kanal gejagt? Dieses läppische Märchen einer Gouvemantenseele soll uns bethören? Kinder und welke Jungfern. Ein Indizien^ beweis kann kaum stärker sein als der in Karlsruhe erbrachte. Monate lang hat er Allen genfigt Drei der Familie Moli^ tor Angehörige hielten, in verschiedenen Städten, ohne die Möglichkeit einer Verständigung, Hau von vom herein für den Thäter. Das allein gäbe zu denken. Ueberlegt, wie das Wesen eines Schwagers auf Euch gewirkt haben müßte, deip Ihr, ehe noch irgendwelche .Indizien gegen ihn zeugen, die Ermordung seiner Schwiegermutter zutraut. Frau Lina war von Haus Schuld überzeugt und drängte den angeklagten Mann zum Selbstmord. Weil er getändelt hatte? Deshalb wollte diese Frau, deren Umsicht und Wesenstüchtigkeit von jedem Wort ihrer Briefe und ihres Testamentes erwiesen wird, nur deshalb ihn in eine That treiben, die den letzten Zweifel an seiner Mörderschuld beseitigen und ihrem. Kind, einem kranken Mädchen, den Vater, nehmen mußte? Lina bat die Schwester, vor Gericht nicht auszusagen. Warum, wenn sie den Mann nicht für schuldig hielt? In dem selben Brief der Frau steht der Angstruf: »Wenn er nur um Gottes
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willen nicht den Schuß gesteht!« Sie weiß: er hat geschossen; ho£Et aber noch, der Beweis werde nicht zu fuhren sein. Drei Monate nach der That; als sie Karl im Gefangniß ge# sehen und gesprochen hat Eifersüchtig auf Olga? So eifere süchtig wie manche mit krankem Uterus alternde Frau auf die jüngere Schwester, deren Leib frischer, deren Geist be^ weglicher ist. Da fallt wohl einmal ein spitzes Wort (Ueber# legt, liebe Damen, ob Ihr nie zu Eurem Männchen gesagt habt: »Die gefallt Dir wohl besser ab ich? Mit Der lasse ich Dich nicht allein. Der machst Du ja ganz höllisch den Hof.« Ueberlegt, obs furchtbar ernst gemeint war imd wie in der Akustik eines Schwurgerichtssaales die Wiedergabe wirken würde.) Von leidenschaftlicher Eifersucht kann nicht die Rede sein. Der Rivalin, vor der sie aus dem Leben flieht, würde eine Frau nie ihr Kind vermachen. Linas letzter Wille bestinmit: Olga soll des Kindes Mutter sein; das Kind soll den Namen des Vaters ablegen, nie in der Familie Hau leben, aber den Verurtheilten, wenn er nach fUnfzehn Jahren aus dem Gefangniß komme, mit kleinen Beträgen untere stützen. (Daß Hau sich mit dem Rest seiner Kraft gegen die Verlesung dieses Testamentes wehrte, ist leicht zu wtu stehen.) Linas letztes Wort sprach der Schwester Olga herz^ liehen Dank aus. Genügts? Lina hat sich vergiftet und tu tränkt, weil sie in ihrem Mann den Mörder ihrer Mutter sah und nicht den Muth fand, »die Schmach zu überstehen, die über mich und mein Kind gebracht worden ist«. Das ist bewiesen. So fest ist das Gebälk, das den Spruch trägt.
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Noch mehr ward erwiesen. Fünf Monate nach dem Mord hielten zwei zum Gutachten berufene Psychiater, hielt auch der Vertheidiger den Angeklagten für schuldig. Als im Ge^ richtssaal behauptet wurde, der Vertheidiger habe am zwölfi« ten April Haus Sache für aussichtlos erklärt, weil das Gut» achten des Professors Hoche die Ho&ung enttäuscht habe, kam der Rechtsanwalt aus dem Häuschen. Unerhört 1 Dieses Gutachten habe er ja erst am siebenzehnten Mai erhalten; konnte also am zwölften April noch nicht Schlüsse daraus ziehen. Wirklich nicht? Am zwölften April hat er an Frau Lina geschrieben: »Das Gutachten des Geheimrathes Hoche wird, wie er mir bereits mittheilte, dahin ausfallen, daß er Karl Hau fiir vollständig zurechnungfahig halte; und ich kann nur hoffen, daß die von uns zusammengetragenen Mo^ mente in der Verhandlung so viel ergeben, daß eine vermini« derte Zurechnungfahi^eit angenommen werden kann, wo^ bei ich auf Professor Aschaffenburg rechne, und daß dann entweder die Geschworenen die Ueberlegung verneinen, so daß nicht eine Verurtheilung zum Tode, sondern nur zu einer Freiheitstrafe erfolgen kann, oder doch wenigstens der sichere Boden für eine Begnadigung geschaffen wird.« Am letzten Verhandlungtag sagte der Vertheidiger, sein Klient habe auf jeden Erbanspruch verzichtet und diirfe schon des^ halb nicht als ein geldgieriger Mörder verurtheilt werden. Wann hat Hau verzichtet? Sechs Monate nach dem Mord; als er im Untersuchungsge£mgniß saß und seine Sache für verloren hielt. Am selben Tag erzählte der Vertheidiger,
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Professor Ascha£Fenburg habe niemals, nicht eine Minute lang, an Haus Unschuld gezweifelt. Professor Aschaffenburg hat am zwölften April, also im fünften Monat der Untere suchunghaft, an Frau Lina geschrieben: »Es würde für Sie zweifellos eine außerordentliche Erleichterung sein, wenn Sie an Ihren Mann mit dem Bewußtsein zurückdenken könn^ ten, daß er die furchtbare That in Folge seiner geistigen Erkranktmg begangen hat« AJs er diesen Brief schrieb, hatte Professor Aschaffenburg an Haus Schuld also keinen Zweifel. Am zweiundzwanzigsten Juli nannte der Verthei^ diger die Anklage ein jämmerliches Kartenhaus, das der schwächste Windstoß umwerfen müsse. »So kläglich, so traurig war noch nie ein Indizienbeweis wie der vom Staats^ anwalt hier versuchte. Wenn Sie, meine Herren Geschwo^ renen, auf Grund dieses Indizienbeweises als Schöffen meinen Klienten wegen unerlaubten Schießens zu drei Mark Geld^ strafe verurtheilen sollten: Sie würden dem Amtsanwalt ins Gesicht lachen, Sie müssen den Mann fireisprechen. Mit dem Leben eines Menschen darf man nicht so spielen. Wie es hier geschehen ist« Am zwölften April hat der selbe Verthei^ diger, der den Angeklagten oft gesehen und seit (unf Wochen auch die Zeugenprotokole durchstudirt hatte, an Frau Lina geschrieben: »An eine Freisprechung ist nach der heutigen Sachlage nicht zu denken. Ihr Mann giebt sich natürlich über den Ernst der Situation keiner Illusion hin. Das Gefühl, daß seine Angehörigen und Freunde, trotz Allem, was ge^ schehen ist, ihn nicht im Stich lassen, £kngt allmählich an,
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einen günstigen Einfluß zu üben« Man kann damit rechnen, daß ihm nach Ablauf einiger Jahre die Freiheit wiedergegeben wird; und bei seiner Jugend und seinen Fähigkeiten wird er dann doch wieder in der Lage sein, sich eine Existenz zu schaffen.« Nicht der leiseste Zweifel an Haus Schuld. Nur die Ho&ung, die Verurtheilung zum Tod hindern und nach ein paar Jahren vom Großherzog Begnadigung erwirken zu können. Das ist das jämmerliche Kartenhaus der Anklage. So sieht der Vertheidiger die Sache. Genügts endlich?
Nein, sagt der Herr Anwalt des Rechtes. Was ich damals schrieb^ beweist gar nichts; denn damals kannte ich eben Haus Beziehungen zu Olga noch nicht. Gut, Herr Rechts^ anwalt Aus Ihren Aprilbriefen muß der Unbefangene hero auslesen, der Angeklagte habe Ihnen seine Schuld nicht ge^ hehlt Kein Wort deutet an, daß er sie leugne. Er giebt sich keiner Illusion hin. Ist seiner Frau »fiir die Güte und Liebe, gegen die er sich so schwer vergangen hat, von Herzen dankbar.« Ruhiger, seit er weiß, daß Verwandte und Freunde, »trotz Allem, was geschehen ist«, ihn nicht im Stich lassen. Sie selbst sagen, an Freisprechung sei nicht zu denken; hoffen nur auf die Hilfe der Psychiater, die das Urtheil mildem imd nach nicht zu langer Frist die Begnadigung ermöglichen werde. Die werde der Staatsanwalt freilich wohl erst empfehlen, wenn »ein glattes Geständniß vorliegt«. Hofften Sie auch darauf? So scheints. Sie wissen ja, daß gegen den Widero Spruch der Staatsanwaltschaft die Anwendung des Gnaden^ rechtes kaum je zu erwirken ist. Sie schreiben: »Darüber,
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wie das Verhalten Ihres Mannes in der Hauptverhandlung einzurichten sein wird, sind wir noch nicht im Reinen.« Seltsam. Das Verhalten eines unschuldig des Mordes Ange^ klagten kann doch keinen Tag lang zweifelhaft sein. Sind sie nachher ins Reine gekommen? Waren die Rollen etwa so ver^ theilt, daß der Mandant den verschwiegenen Amoroso zu mimen, der Mandatar mit keckem Winkwort au& Ganze zu gehen hatte? Das diirfen wir nicht annehmen. Auch nicht, daß Sie ein »glattes Geständniß« gehört haben. Das ist selten. Schweigen kann sehr beredt sein; und schließt doch keine Thür, die ins Freie fuhren könnte. »Sie haben mein Schweigen, meine Seufzer und Thränen f)ir ein Schuldbekennt^ niß genommen? Das war ein Irrthum. Ich habe mit dem Ver^ brechen nichts zu thun.« Dann citirt der Herr Vertheidiger leise seinen Ulpian: »Cogitationis poenam nemo patftur«; und freut sich der Zollfreiheit seiner Gedanken. Wenn der Klient, der schlaue Kollege aus Washington, unter vier Augen auf Ehre und Gewissen aber seine Unschuld betheuert hätte: wäre Ihnen dann im fünften Monat des Vorverfahrens die Sache so hoflEaunglos erschienen? Hätten Sie dann der Frau des Angeklagten gesagt, an Freisprechung sei nicht zu denken? Doch ich habe nicht das Recht, einen Indizien^ beweis gegen Sie zu fuhren ; weder Beruf noch Lust. Zurück zu den Hammeln des Kollegen Patelin. Voilä. Sie kannten Haus Beziehungen zu Olga im April noch nicht. Kennen sie aber jetzt. Was ist damit? Einstweilen wissen wir nur, daß Frau Lina auf die Schwester nicht immer gut zu sprechen
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war; sich neben der sechs Jahre jüngeren Olga verwittert fand; dem Mann, dem sie ihren kranken Leib langst versagen mußte, Flirtgelüsten zutraute; und einmal geschrieben hat: »Olga ist ein netter Käfer. Sie ist hübsch und kann sehr interessant sein. Ich habe ein Bischen Angst vor ihr.« Das ist nicht viel. Nicht mehr, als täglich in den besten Familien vorkommt. Sie müssen ganz Anderes wissen. Sonst dürften Sie nicht auf das Fräulein als auf eine des Mordes Schuldige oder Mitschuldige deuten. Worauf stützt sich Ihr Verdacht? Sicher nicht auf die morsche Laienmeinung, Olgas (zweimal beeidete) Aussage, sie habe den Schützen nicht deutlich ge^ sehen, müsse falsch sein. Sechs Uhr abends im November. Die Damen plaudern. Der Mörder schleicht oder springt heran. Ein Schuß: die Mutter stürzt. Ists nicht natürlich, daß die Tochter zuerst auf die Verwundete, Sterbende bUckt? Und kann nach diesem Augenblick der fliehende Mörder nicht schon so weit weg sein, daß nur der Kontur im Dun^ kel noch zu erkennen ist? Könnte die unklügste Haltung, das wirrste Wort Olgas in der Minute solchen Erlebens auf^ Edlen? Ein Mädchen, das neben sich die Mutter verbluten sieht: und man fordert Ueberlegung, heischt bedachtsames Handeini Ihr Glaube, Herr Rechtsanwalt, ruht gewiß auf festerem Grund. Um die Prozeßsensation zu verlängern und, nach der im Schwurgerichtssaal erlittenen Schlappe, Ihrem Namen geschwind ein Weltrühmchen zu haschen, können Sie an dieser Schändtmg ja nicht mitgewirkt haben. Kennen Sie D'Aguesseau? Reformator des französischen Rechtes; hat
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die Bulle Unigenltus und Laws Aktienschwindel bekämpft; als Antipapist und Antikapitalist also Ihr Mann. Der hat gesagt: »Die Advokatur ist so alt wie das Richteramt, so rein wie die Tugend, so nothwendig wie die Gerechtigkeit.« Kennen Sie Beaumarchais? Der ließ, zwanzig Jahre nach dem Tode des Kanzlers D'Aguesseau, seinen Figaro einem Rabulisten vor Gericht zurufen: »Continuez i diraisonner, mais cessez d'injurierl Lorsque, craignant l'emportement des plaideurs, les tribunaux ont tolire qu*on appellt des tiers, ils n*ont pas entendu que ces difenseurs modires deviendraient impuniment des insolents privilegies. C'est digrader le plus noble Institut.« Wie denken Sie über die Advokatur im zwanzigsten Jahrhundert, gefeierter Herr Rechtsanwalt?
Schnell wieder ins SachUche. Wollt Ihr, daß Morde ge^ sühnt werden? Ja. Laden die Herren Mörder Zaungäste an den Ort der That? Nein. Soll der Grundsatz der freien Beweiswürdigung weitergelten, das Gericht, Gelehrte und Laien, über das Ergebniß der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Ueber^ Zeugung entscheiden? Ja. Oder wollt Ihr wieder Beweis^ regeln schaffen. Normen, die bündig bestimmen, unter welchen Voraussetzungen eine Thatsache als erwiesen anzusehen sei? Den Paragraphen 260 der deutschen Strafprozeßordnung etwa durch die Vorschrift der Karolina ersetzen, die den nicht geständigen Angeklagten durch den Augenschein oder durch »zwei oder drei glaubhaftige gute Zeugen, die von
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einem wakren ^X^en sagend, überfuhrt sehen will? Nein. Habt Ihr erfahren, daß der direkte Beweis (durch das Zeugniß fehlbarer Menschen) eben so große Mängel hat, eben so leicht trügen kann wie der Indizienbeweis? Ja. Bleibt also auf dem Boden unseres Kriminalrechtes? Dann sind wir einig. Keiner von uns kann beschwören, daß Karl Hau seine Schwiegermutter gemordet hat. Doch ungemein starke Indizien weisen auf seine Schuld. Geldmangel, Prahlsucht, Hang zur Lüge und zu üppii« gem Leben; heimliche Reise, falsche Depesche, £dscher Bart, falscher Telephonruf; er ist an der Stätte und in der Stunde des Mordes gesehen worden; war vermummt und hat Frau Molitor auf den Weg gelockt, wo die Kugel sie traf; hat dann simulirt und geleugnet. Die Frau hielt ihn für schuldig, ging aus der Schmach in den Tod und sorgte mit letzter Kraft für die Tilgung jeder Gemeinschaft zwischen diesem Vater und seinem Kind. Schwägern und Schwägerinnen gilt nur er als der Mörder. Daß ers ist, dünkt selbst seinen Vertheidiger fast ein halbes Jahr lang völlig gewiß. Was er zur Erklärung seines Handelns vorbringt, ist ein schlechter Toggenburg^ roman; zu schlecht und kindisch fbr solchen Schlaukopf. Ware aber als ein feines Gespinnst zu loben, wenns das Haupt eines Schuldigen schützen sollte. Denkt Euch für fiinf Minuten in dessen Lage. Eitelkeit hat ihn (der sich der Ehefrau fiir den Sohn eines Millionärs ausgab) über den eigenen Reiz, die eigene Geltung im neuen Familienkreis getäuscht. Ihn, dünkelts in seinem Hirn, wird Keiner verdacht tigen. Die Alte hat ein schweres Herzleiden ; vielleicht vrirft
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sckon die Sckreckdepesche (»Olga erkrankt; schnell nach Paris kommen«) sie um. Noch nicht? Dann muß man derber nachhelfen. Kein Mitwisser. Kein ernstlich zu fürchtender Belastungzeuge. Die Familie sucht sicher auf anderer Spur; und Linas Liebe kämpft tapfer wohl wider jeden Zweifel. Gelingts, dann hat Karl wieder Betriebskapital und kann in Pennsylvania Avenue weiterprotzen. Und muß es nicht ge^ lingen? Olga ist zum Thee geladen. Die Alte geht also allein. Warten, bis die Luft rein ist; nach vollbrachter That durch den Novembemebel rasch in den frankfurter Zug. Undenkbar, daß es ans Licht kommt. Kommt aber. Alle Ho&ungen schmelzen im ersten Schnee. Was bleibt? Nur der Versuch, sich in ein Erotenmysterium zu retten. Klarheit ist Tod; nur im Dunkel der Kopf zu bergen. Ein verliebter Narr, den, da er die Traute beschleichen wollte, das Schick« sal mit grausamer Tatze in blutrothe \(lrbel stieß. Was blieb sonst? Geständniß? Dann endet er auf dem Block oder, mit verseuchtem Leib, friih im Zuchthaus. Starres Leugnen? Wirkt nicht. Noch muß er auch furchten, daß Olga, die wider Erwarten mitging, ihn erkannt hat. Der schmeichelts wohl ein Bischen, wenn sie als keusch angeschwärmtes Idol so vor der Nachbarschaft stolziren darf: und sie zeigt sich an der Barre freundlich. Und er hat ja keine Wahl. Wtt* steht Ihr ihn? Jetzt stinmit Alles. Wird auch der Wunsch begreiflich, die Nacht vor der Blutarbeit im Arm eines ge« mietheten Mädchens zu verbuhlen. Der beau geste des disß kreten Ehrenmannes. Die ganze Taktik vor und nach dem
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Geständnifi der Unschuld. Er war »über seine Haltung im Reinen«. Ist Euch dieser Indizienbeweis zu schwach, dann bescheidet Euch, von zehn Morden neun ungesühnt zu lassen. Das Motiv zum Mord scheint dem Betrachter nicht stark. Schien oft» bei manchem überführten Verbrecher, noch viel diinner. Beispiele bei Feuerbach, im Pitaval und in den Zeitungen. Beginnt mit diesem Fall eine neue Aera der Kri^ minalistik? \(lrd fortan ein Motiv verlangt, das ruhig wägen^ der Vernunft genügt? Dann muß es Freisprüche regnen. Vor der erbrochenen Ladenkasse eines Grünkramhändlers wird ein Mann gefunden; in seiner Tasche ein Stemmeisen. Festgestellt wird, daß er zwei Stunden vor dem Einbruch den Bart abgeschnitten und das Haar gefiirbt hat Einbrecher? »Ich bin Chauffeur, verdiene hundert Mark im Monat: und sollte Freiheit und Ehre auf dieses Nickelhäuflein gesetzt haben?« Sprecht den Mann frei. Oder entschließt Euch, wie bisher die indicia auch ohne zureichendes Thatmoüv gelten zu lassen. Ein Blinder, meinten allerlei Zaunkrimina^ listen, müsse ja merken, daß Hau ein Geheimniß verberge. Daß er den Schein schuf, ist gewiß. Ob er wirklich eins verbarg, kann ich niemals errathen. Muß ichs denn, um mir ein Ur# theil zu bilden? Nein... Jal Wer ruft mir? Eine Stentori« stinune. Des Vertheidigers. Der hebt nun wieder an. »Mit diesem Klienten war es eben nicht wie mit den alltäglichen. Der wollte nicht sich retten, sondern einen Anderen decken. Der verbot mir die besten Entlastungbeweise. Verbot, die wichtigsten Sachverständigen noch einmal vernehmen zu
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lassen. Und da er die Tragweite seiner Beschlüsse und Ver^ böte klar erkannte und wußte, daß es um seinen Kopf ging, ließ ich ihn gewähren.» Mit Recht. Denn: Alles spricht gegen den Mann. Sein Handeln am sechsten November und nach der Verhaftung. Das Zeugniß der Lebenden und Toten. Und er will nicht entlastet sein. Aber auch nicht verurtheilt. Man soll seinem ehrhchen Gesicht glauben, daß er am sechsten November ein fast beispielloses Pech gehabt hat, unschuldig ist und einen Anderen deckt. Den nennt er aber nicht. Läßt Alles im schwärzesten Dunkel. Diskretion Ehren^ Sache. Das kann ungeheuer edel sein. Aber auch ungeheuer bequem. Der ungeheuer Edle mußte sich auf ein Todes^ urtheil gefaßt gemacht haben. Ihr Klient findet das Urtheil unbegreiflich. Und beantragt die Revision. Ist die Ge^ schichte nicht zu dumm? Man opfert sich oder wehrt sich seiner Haut. Hier ist Einer, der sich opfern will, aber staunt, da man ihm, dem des Mordes Beschuldigten, mehr zumuthet als neunmonatige Untersuchunghaft. »Todesurtheil? Ich bin ja unschuldig. Mein Geheimniß nehme ich mit ins Grab. Gebe Euch aber nicht das Recht, mich ins Grab zu stoßen. Ich will leben, in Freiheit, versteht sich, will schweigen und frage den Teufel nach Eurer verschimmelten Jurisprudenz und Eurem altmodischen Siihnbedürfhiß.« Ecce Hau. Ein Merschrötiger geht mit einer Frau in einsamen Wald und kehrt allein zurück. Der Leichnam der Frau wird gefunden. Der Vierschrötige verhaftet. Er hat Blutflecke an den Hosen und im Portemonnaie den Trauring der Frau. Mörder? Wo
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denkt Ihr hin? »Ich gebe zu, daß ich verdächtig scheine» bin aber unschuldig. Ich habe der Frau kein Haar gekrümmt. Hatte nicht den geringsten Grund, sie aus der Welt zu schaffen. Mehr sage ich nicht.« Würde nicht jeder Gerichts^ hof den Mann verurtheilen? Seine Diskretion fiir eine Noth^ ausflucht halten? Noch in der Marxistengesellschaft; jeder.
Hexenhammer.
Herr Karl Hau soll mit anderem Maß gemessen werden. Ist Solicitor, heißt Professor gar und kommt aus der Weißen Stadt Washingtons und Roosevelts. Davon kann man träu^ men. Und dann war Liebe im Spiel. Ein süßes, schmerze lieh süßes Geheimnis. Meinetwegen. Ich bin nicht neugierig. Ich sehe, daß hier judizirt worden ist, wie im Deutschen Reich täglich judizirt wird. Sehe einen ungewöhnlich starken Schuldbeweis, der nur entkräftet werden könnte, wenn ein Mädchen des Mordes schuldig befunden würde. Hau ein ritterlicher Held, Fräulein Olga Molitor Mörderin, Anstifterin, Helferin: vor diese Wahl stellt man uns. Bis hierher war die Geschichte dumm; hier wird sie gemein. Hundert Indizien deuten auf Hau. Gegen das Fräulein ist nirgends ein halu barer Verdacht vorgebracht worden. Von Keinem. Noch am letzten Morgen der Hauptverhandlung mußte Jeder glauben, Haus Vertheidiger wittere in dem Diener Karl Wieland den Mörder. Hatte sein Mandant ihm seitdem Neues anvertraut, so mochte es fiir die Wiederaufitiahme des Verfahrens verwerthet werden. Wars nur für den Busen des Beichtigers bestimmt,
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dann mußte der Herr Rechtsanwalt es da lassen. Das Gewink und Gemurmel ist eine Schmach. Erspart uns die Haubio^ graphien und Hauhymnen, makulirt ohne Säumen Eure Psycho^ logen versuche: und sorgt dafür, daß ein Mädchen nicht mißhandelt, bis aufs Hemd entkleidet und von schmutzigen Mäulem bespeichelt werde. Das Geheimniß des Herrn Hau konnte mich erst kümmern, wenn er die Gnade hatte, es zu entschleiern; bis dahin mußte ich vermuthen, daß es eine Flunkerfinte sei. Die Mädchenschändung aber ist fiir Jeden, der eine Frau oder Mutter, Schwester oder Tochter liebt, eine verdammt ernste Sache. Sind wir wirklich, wie Fromme oft zetern, bis zur Verthierung herabgekommen? Tiefer? (Im Thierreich werden die Weibchen ja beschützt.) Im Prozeß Peters ist, auf Anordnung eines Hohen Gerichtshofes, eine Dame gezwungen worden, die intimsten Herzensangelegen^ heiten ihrer ersten Jugend dem lieben Götzen »Oeffentlichi« keit« preiszugeben; unter ihrem Eid über Gefiihle und Be^ Ziehungen auszusagen, die nicht das loseste Fädchen an den Prozeßstoff band. Von Rechtes wegen. Niemand hat die unnützliche Härte solches Verfahrens gerügt. In und nach dem Prozeß Hau wird eine Dame, die beschworen hat, nichts für die Thatfrage Erhebliches verschwiegen zu haben, be^ schnüffelt, bespien, eines Kapitalverbrechens verdächtigt. Ein Brite hat in einem Buch über Deutschland neulich gesagt, in diesem Reich behandle man die Frau schlechter als anders«: wo ; die noble Empfindung der Ritterzeit sei nur im Offizier«? Corps und in einem Teil der Studentenschaft zu spüren.
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Fräulein Olga Molitor hat Arges erlebt. An ilirer Seite ist die Mutter gemordet worden. Die Schwester hat sich tu tränkt. Der Vater des siechen Mädchens, das Lina der Schwester hinterlassen hat, soll geköpft oder auf Lebenszeit ins Zuchthaus gesperrt werden. Eine Katastrophe, die nur ein kräftiger Körper und ein starkes Herz ttberstehen kann. Das Fräulein hat geschworen: Ich habe mit all diesen fiircht^ baren und traurigen Dingen nichts zu thun^ War mit Schwj^er Karl nie irgendwie intim. Nannte ihn Mr. Hau. Sah in ihm stets den Mann meiner Schwester. Wußte nichts von seiner heimlichen Reise. Weiß nichts von dem Mord« plan. Zweimal hat sies beschworen. War ihre Aussage fahr« lässig oder gar wider besseres Wissen unwahr? Der Beweis ist nicht einmal versucht worden. Aber der Pöbel johlt: »Nieder mit der rothen Olgal» Droht ihr mit Knüppeln ins Wagenfenster und ängstet sie hinter eine Polizistenhecke. Die Gebildeten treibens sanfter; doch auch gefahrlicher. Auf allen Lippen, in allen Blättern : Olga Molitor. Ob sie noch hübsch ist. Schlank oder rund? Hüften? Roth oder blond? Sinnlich oder jungfemhaft kühl? Was man unter Pastorstöchtem so »frei« nennt? Schlimme Bücher hat sie ja gelesen; mindestens also gern mit dem Feuer gespielt. Und ihre Gedichtet Gar nicht druckbar. Ob sie selbst ge« Schossen oder den Schwj^r angestiftet hat? War er ihr erster Flirt? Ist ihr die That oder Mitwisserschaft zuzu^ trauen? Jedes Zufallswörtchen, das im Wohnzimmer oder in der Gesindestube je über sie gesprochen wurde, wird jetzt
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weitergetragen; meist wohl vergröbert Wohin sie geht: ihr Name ist bekannt; ist gevehmt. Jeder kennt die Bilanz ihres Vermögens, ihres Erlebens. Weiß sogar, daß sie erst seit dem Tod ihrer Mutter seidene Unterröcke trägt. Wer fuhrt ein so weltbekanntes Bürgerfräulein (das höchstens sechstausend Mark Rente hat) zur Ehe ins Haus? Auf die Gefahr, überall, im Salon und im Theater, hinter seinem Rücken zischeln zu hören: »Ach, die Molitor?« .. . Ists noch nicht genug? Ein Verbrechen wäre mit dem Schicksal eines unter giftigem Anhauch alternden Mädchens fast schon gesühnt. Dem Pöbel ist Olga das Scheusal von den Linden^ staffeln. Der guten Gesellschaft eine vielleicht recht intern essante, doch mitVorsicht zu geniefknde Dame. Warum? Weil sechs, acht große Meinungdresseurs dem geilen Hundstags^ hunger einen Jungfrauenleib in den Käfig geworfen haben.
Herodot erzählt: »Wenn der Skythenkönig erkrankt, läßt er die angesehensten Wahrsager ins Schloß kommen und fragt sie nach der Ursache seines Leidens. Die nennen dann Einen, der beim Herde des Königs (alsch geschworen und so die Krankheit herbeigerufen habe. Dieser Mensch wird allsogleich verhaftet. Leugnet er den Meineid, so läßt der König neue Wahrsager kommen. Spricht die Mehrheit den Angeklagten schuldig, so wird er geköpft. Zeugt die Mehr^ heit fiir ihn, so werden die Wahrsager hingerichtet, die zu^ erst zum Urtheil berufen waren.« Graues Alterthum roher Skythen. Karl der Große sah die Welt schon aus hellerem
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Auge. Er hat den Beschluß der Synode bestätigt, die Bxc Recht erkannt hatte: »Wer, vom Teufel verblendet, ein Weibsbild für eine Hexe und Menschenfresserin hält und deshalb verbrennet, soll des Todes sein.« 785. Nach tausend Jahren sind wir viel weiter. Der Hexenhammer gilt nicht mehr. Hexenbad und Hexenwage sind des Landes nicht mehr der Brauch. Höchstens noch die Thränen^ und die Nadelprobe. Eine, der auf der Folter das Auge trocken bleibt und deren Haut nicht blutet, wenn die Male und Narben ihres nackten Leibes mit spitzen Nadeln durch« stochen werden: Die ist gewiß eine Hexe. Wir sind modern. Die Kirche ist machtlos. Der König hinter goldenem Gitter. Die Folter abgeschaiSt. Der Henker ein Popanz. Ueber uns waltet, allmächtig, doch mild, nur die Oeffentliche Meinung. Und morgens und abends labt uns ihr Segen den Sinn.
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SCHOENEBECKS.
Allenstein, das Olsztyn der masurischen Polen , liegt an einem Nebenfluß des Pregel, der Alle, wo Marschall Soult 1807, vier Tage vor der Schlacht bei Eylau, den russo^reußi^ sehen Nachtrab schlug. Ungefähr dreißigtausend Einwohner. Kreisstadt im preußischen Regirungbezirk Königsberg; (un& zig Kilometer von der russischen Grenze. Hochmeistern schloß; restaurirte Katholikenkirche; nah beim Städtchen die Provinzialirrenanstalt Kortau. SchneidemCihlen, Brauereien, Maschinenfabriken; Handel mit Holz, Leinwand, Hopfen. Dragoner, Feldartillerie, zwei Infanterieregimenter in Garn nison. Dahin wurde im Dezember 1906 der fast siebenundn dreißigjährige Hauptmann von Goeben als Batteriechef vem setzt Sohn aus der zweiten Ehe eines Gutsbesitzers, der als Sechzigjähriger an Leberkrebs starb. Die Mutter, in deren Familie Psychosen nachweisbar sein sollen und die als eine in hemmunglosen Ueberschwang neigende, dem Sohn in blinder Zärtlichkeit anhangende Frau geschildert wird, war (unfunddreißig Jahre alt, als das Kind ihrem Schoß entn bunden wurde. Schwere 2Iangengeburt. Die rechte Seite des Knabenkörpers bleibt in der Entwickelung hinter der linken
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zurück. Ann und Bein sind rechts um einen Centimeter kürzer als links. Der Jüngling, der Mann schleift das rechte Bein schwerfallig nach und benutzt zum Schreiben und Schießen den linken Arm. Als Kind hat er an Masern, Scharlach, Keuchhusten, Skrofulöse gelitten und sich einen Leistenbruch zugezogen. Als Neunjähriger den Vater ver^f loren und seitdem den strengen Ernst eines Erziehers nie kennen gelernt. Ein leidlicher Schüler, der im Sprachen« Unterricht schlecht, in Mathematik und Geschichte besser vorwärts kommt, neben Durchschnittsverstand ungemeinen Hang ins Einbildnerische zeigt und oft auf der Neigung er« tappt wird. Erträumtes für Erlebtes auszugeben. Er tnU schmeichelt der Mutter die Erlaubniß, Seekadett zu werden, scheidet aber bald wieder aus diesem Corps und besteht im zwanzigsten Lebensjahr die Abiturientenprüfung. Dann tritt er, der sich durch Leibesübung gekräftigt hat, ins Heer, wird 1891 Lieutenant in einem nordwestdeutschen Feld« artillerieregiment, nimmt 1899, als Oberlieutenant, den Ab« schied und ficht in Südafrika im Burenheer gegen die Briten. Dort wird er viermal verwundet (an Armen und Händen, an der Hüfte und dem fünften Metakarpalknochen) und von seinem auf ihn stürzenden Pferd an Darm und Niere ge« quetscht. Erkrankt an Malaria und Schwarzwasserfieber und kehrt mit geschwächtem Körper nach Europa zurück. In einer Brochure, die von den Sachverständigen beachtet wird, schil« dert er die Burentaktik. Beantragt seine Reaktivirung, wird in den Großen Generalstab versetzt, geht 1903, im Auf«
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standsfrühiing, nach Makedonien (wo er an heftigen Ma« lariarückßUlen leidet), arbeitet dann wieder im Geneiaktab und wird, nach einer langwierigen Furunkulose, im Advent 1906 als Batteriechef ins Masurische Feldartillerieregiment Nr. 73 versetzt. Kein Mustersoldat; doch einer, der seinen Beruf liebt. In der Moltkestraße genagt seine Leistung nicht und auf der Generalstabsreise fallt sein Unvermögen» seine Zerfahrenheit geradezu auf. Er ist unpünktlich, im Bureau^ dienst lässig, verträumt und macht sich durch hochfahrendes wie durch wiirdelos unterwürfiges Wesen manchem Vorge« setzten verhaßt. Den Kameraden ist er ein Sonderling, hinter dessen fest verschlossener Fassade vielleicht auch besondere Fähigkeit zu suchen ist Einer, der schon Blut gerochen, Menschen getötet, Kerls gegen den Feind geführt hat: Das unterscheidet ihn von den Offizieren des Heeres, das seit fast sechsunddreißig Jahren im Frieden exerzirt. Dazu die Romantikerpose Eines, der sich in Martyrien sehnt; nur nach der Möglichkeit zu lechzen scheint, fiar den Nächsten, den Fernsten sein Leben zu opfern. »Ich würde mich ohne Zaudern töten, wenn ich mit diesem Opfer einem bedrängten Menschen helfen könnte; dann hatte mein Leben wenigstens einen Nutzen gehabt.« So spricht er; und findet Glaubige. Trotzdem Keiner ihn je ein Opfer bringen sah, traut mans ihm zu. Die Legende umspinnt die Gestalt des schlanken, mittelgroßen Mannes mit dem nach englischer Sitte gestutzten Schnurrbart in dem breiten, gelbbraunen Gesicht, über dem das Haar früh zu ergrauen beginnt Wegen einer Frau sott
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er, in einem Duell ohne Zeugen, einen Kameraden getötet haben. Einen anderen wollte er, als Vertheidiger der Frauen^ ehre, würgen. Interessant. In BerUn hat er, auf demMc^ toria^Luise^Platz, einen häßlichen, grinsenden Mann beim Schnurrbart gepackt und ihm mit so wildem Blick in die über den Lippenrand ragenden Zähne gelacht, daß der Er^ schreckte einen Tollen vor sich zu sehen glaubte und hastig davonlief. Unheimlich. Nicht Einer, wie man ihn in jeder Garnison auf der Straße trifft. Er wiU auffallen: und er^ reichts. Die Männer achten auf ihn; den Preußenmädchen ist er ein lockendes Räthsel. Doch die Weiber, denen der melancholische Held des Burenkrieges leicht einen lächelnden Blick abstöhle, scheint der Herr Hauptmann nicht zu sehen. Eine Weile auch nicht die eleganteste Dame der Kleinstadt: Antonie von Schoenebeck (die sich lieber Antoinette nennen läßt); die Frau eines Majors, der als Soldat bei Vorgesetzten und Untergebenen einen guten Ruf hat. Sonst? Die Frau hak er nicht so fest im Zaum wie seinen Gaul. Könnte von ihr wohl bessere Manieren und korrekteres Wesen fordern. Eine gut aussehende, aber schlecht disziplinirte Dame, deren Schrullen in allen Ecken beschwatzt werden. Daß sie einen ihr noch nicht vorgestellten Rittmeister unter freiem Himmel um eine Cigarette bittet und ihm, hinter dem Rauchwölkchen, dann ins Gesicht lacht, zeigt einen Mangel an schüchterner Zurückhaltung, der dem Kavalleristen das Blut in die Stirn treibt. Scheint aber harmlos, wenn mans Anderem vergleicht, was das Gerücht ausplaudert. Schlimme Erotika. Obs wahr
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ist? Die Tochter, die Frau eines OflBziersI Kaum glaublich. Und wer will sich die Finger verbrennen? Der Ehemann erfiihrts ja immer zuletzt. Dieser kümmert sich nur um das Bataillon (kaum um seine zwei Kinder) und um dasWaid^ werk. Fast jede dienstfreie Stunde verbringt er auf dem ge^ pachteten Jagdgrund. Läßt die Frau thun, was ihr beliebt, Miißte aber natürlich losknallen, wenn ihm ein der Satisfalu tion Fähiger die Frau verdächtigte. Solcher GeEahr will Kei^ ner sich aussetzen. »Laßts laufen und seid &oh, wenn nicht auch in unserer kleinen Grenzgamison ein Riesenskandal zum Himmel stinkt.« Gustav von Schoenebeck» der selbst nur achtzigtausend Mark, also kaum mehr als dreitausend Mark Zinsen im Jahr außer dem Sold zu verzehren hat, kann mit dem Gelde der Frau behaglich leben und seine Gäste besser bewirthen als mancher Brigadier. Warum soll man sich den derben, aber bequemen Fassagier verfeinden? Hauptmann von Goeben hat gehört, daß über die Majors^ &au Uebles getuschelt wird; dem Gerede aber nicht nach^ gedacht. Im Februar 1907 sieht sie ihn auf einem Kostüme ball. Er ist in Matrosentracht, mit offenem Hals und Brust» ansatz; und mag, mit der dunkelgelben Haut und dem schleppenden Gang, recht in den Anzug passen. Frau von Schoenebeck hat beim Anblick des seltsam fremdartigen Ballgesellen durch ein jähes Zucken ihr Interesse verrathen, seinen Namen erfragt und ihn dann doch wie einen ihr Un# bekannten angesprochen. »Wer bist Du?« Maskenfreiheit denkt sie, ist auch ohne Maske möglich (und fuhrt schnellet
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als konventionelle Damensitte ans Ziel). Goeben erschauert bei so unzarter Berührung und kriecht rasch in seine Schale zurück« Die» ward ihm gesagt, will jeden Neuen in ihr Arachnenetz ziehen. Er sträubt sich. Giebt ihren drängenden Fragen nur karge Antwort und entzieht sich der Einladung, auf dem nächsten Regimentsball ihr Kavalier und Haupte tanzer zu sein, mit der Begründung, Familientrauer hindere ihn, sich unter die Tanzpaare zu mischen. Doch einen Be«» such schuldet er der beängstigend freundlichen Dame. Er gdit hin, folgt auch der Einladung zum Abendessen »in kleinem Kreis«, will aber weder in der Bahn mit Antonie reiten noch ihr seine Pferde leihen. Immerhin: er kommt nun manchmal ins Haus des Majors und gewöhnt sich in den Vericehr mit der Frau. Der in der gemäßigten Zone der Gamisongeselligkeit bleibt, bis die Erfahrene den Wildling so weit zu haben glaubt, daß sie, endlich, die stärkste ihrer Künste an ihm erproben kan^. Als Mitleidigen, nach Martyrien Lüsternen stellt er sich zur Schau: an dieser Stelle ist der Stichfeste verwimdbar. Sie schreibt ihm; bittet artig um seinen Besuch, seinen Rath, den die Schätzung seines Charakters ihr werthvoll mache. Er kommt. Findet sie zum ersten Mal allein. Und so jammervoll unglücklich I Die Arme ist ver«» leumdet worden, grundlos, versteht sich, und hat, all in ihrer Unschuld, auf diesem weiten Rund der Erde nicht einen Menschen, der (iir sie eintritt. Ihren Mann? Als ob Der mehr von ihr wollte als ihren Leib, ihr seelisches Er# leben auch nur ahntet Der würde sie gar nicht verstehen;
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hat sie niemals verstanden. Ueber Den dtirfe sie» um nicht allzu bitter zu werden und die eheliche Diskretion zu ver^ letzen, überhaupt nicht sprechen. Einen Freund I Aber giebts denn in dieser haßlichen Welt der Konvenienz, Heuchelei und Streberei noch aufrechte, zuverlässige, selbstlose Manner, die mit einem Frauenherzen zu fühlen wissen? Von Allen, Goeben, die ich je sah, sind Sie der Einzige, dem ichs zu^ trauen könnte; ob gerade ich Ihnen aber nicht unangenehm oder gleichgiltig bin? Das alte Spiel; das älteste. Dem Hauptmann ists neu. Und der Reiz dieser schlanken, lang^ beinigen Frau wirkt noch aus stattlichen Resten. Goeben tröstet, räth, kommt wieder, wird als Retter gepriesen, als Schützer und furchtloser Held ; und drückt, selig schon zunächst in dem Bewußtsein, lange genährtem Heilandwahn so brün# stigen Glauben geweckt zu haben, seine Lippen auf den Mund der Frau, die sich, in der Ohnmacht überquellenden Dankesbedürfiiisses, er&östelnd in seine Arme gleiten ließ. Sie hat ihn. Er wird ihr Ritter. Vor den Kameraden ihr eifernder Anwalt. Und (so will sies) der hitzige Ankläger ihres Mannes. Der? Ein roher, nach Geld und Fleisch dieser herrlichen Dulderin nur gieriger Patron. Wenn man reden dürfte I Aber die Unvergleichliche will keinen Lärm; trägt mit der Geduld eines Engels, was kein Sterblicher zu tragen vermöchte. Die Kameraden heben lächelnd die Achseln. V(^eder Einer I Das Remontensystem dieser Kavalleristin ver^ sagt wirklich nie. Na, schließlich ist der gute Goeben kein Milchbart. Siebenunddreißig. Allerlei Wind hat ihm um die
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Nase geweht. Der wird sich, mit ein paar Schrammen vieU leicht, schon allein aus der Chose herauswickeln. Wie vor ihm so Mancher. Leichter wohl und rascher als die Meisten. Am zweiten Tag nach der Weihnacht findet, morgens vor Sechs, der Dragoner, der des Majors Burschen vertritt, Herrn von Schoenebeck tot in seinem Schlafzimmer. Die Leiche liegt auf dem Rücken, ist nur mit Nachthemd und Pantoffeln bekleidet; aus einer Stimwunde rinnt noch Blut. Zwischen den Beinen liegt ein Revolver. Im Schlafzimmer brennt das Elektrische Licht. Die in das kleine, dem Hof benachbarte Speisezimmer fuhrende Thür ist offen. Der Dragoner sagt, was er gesehen hat, dem Pferdeburschen. Den Hausmädchen und dem Kinder&äulein wirds erzählt. Dieses Fräulein Eue bringt der Witwe die Schreckensbotschaft. Frau von Schoene«^ beck schreit, heult, tobt; bleibt aber im Bett. Rennt nicht das Treppchen hinunter, um den Leib des Mannes zu sehen, in dessen Umarmung sie zwei Kinder empfangen hat. Ein paar Kameraden Schoenebecks sind geweckt worden und eilen herbei. Raubmord nach einem Einbruch? Im Haus^ halt fehlt nichts; Geld, Silberzeug, Uhr, Tischgeräth: Alles in Ordnung, Selbstmord? Bei diesem ruhigen, gleichmüthigen Mann in geordneten Verhältnissen schwer glaublich. Auch wird, als die Räthe des Kriegsgerichtes angelangt sind, fest* gestellt, daß der Revolver, der zwischen den Beinen der Leiche lag, noch mit allen sechs scharfen Patronen geladen ist und, mit seinem Kaliber, nicht zu der EinschußöflGtiung auf Schoenebecks Stimhaut paßt. Nach Sieben kommt Cotp
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ben, um den Hausherrn zu einem (angeblich vereinbarten) Jagdausflug abzuholen. Der Bursche meldet, der Herr Major habe sich erschossen. Undenkbar, sagt Goeben; weilt nur eine Minute neben der Leiche und stürmt dann hinauf: die \)(ltwe zu trösten. Ob sie ihm (wie sie behauptet) ihr Schlaf Zimmer sperrte oder ihn (wie er behauptet hat) einließ? Nach seiner Angabe hat sie, als er eintrat, geschrien: »Mein Gustell« Bei seinem Anblick sich nicht beruhigt; gefragt: »War er gleich tot? Ich weiß von nichts. Ich bin verrückt. Sags Allen I« Als Goeben wieder unten ist, scheint er ganz ruhig. Spricht, wie schon lange, schlecht über Schoenebeck; meint, Frau Antoinette könne sich der Thatsache freuen, daß sie von diesem rohen, herzlosen Wicht nun befreit sei; ruft, als der Hühnerhund vor der Schlafzimmerthür anschlägt: »Hirschmann verbellt ihn jetzt« Kaut bald danach gemacht lieh an einem Kuchenstück. Und fordert die Offiziere auf, mehr als an den Toten, für den ja nichts mehr zu thun sei, an »die Lebenden da oben« zu denken. Schon an diesem Morgen weckt sein lautes, protziges, dann wieder scheues Wesen leisen Verdacht. Er gilt als Antoniens Liebster. Hat längst im Ton grimmigen Hasses über den Major geredet. War am Tag vor der Mordnacht Stunden lang in Schoene^ becks Haus. Cui bono? Der alten Kriminalistenfrage findet man nur eine zureichende Antwort. Nur Goeben bekannte sich als Schoenebecks Feind; nur er hatte ein Interesse daran, die Frau (die ihm eine unverstandene, mißhandelte, ge^ schändete Heilige war) freizumachen. Er wird vernommen.
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In seiner Wohnung eine Mensurpistole gefunden, deren Kaliber genau zu der Einschußöffiiung am Kopf des Toten paßt. Nach der Vernehmung beeilt er sich, der Witwe den Inhalt seiner Aussage mitzutheilen. Der Brief wird aufgei« fangen und bewirkt, mit anderen beträchtlichen Verdachts^ momenten, die Verhaftung des Hauptmannes. Da Zweifel an seiner Zurechnungfahigkeit entstehen, wird er zuerst in Kortau beobachtet, dann, im Militärgefangniß, von dem münchener Psychiater Freiherm von Schrencki^Notzing untere sucht und befragt. Unter der Wucht des Belastungmaterials hat er sich inzwischen zu der That bekannt. Zur Tötung; nicht zu überlegtem Mord. Am zweiten März 1908 hat er sich mit einem stumpfen Tischmesser die Halsadern durchs sägt. Er wollte sterben. Den qualvollsten Tod.
Goeben hat zuerst die ganze Schuldlast auf sich genom* men und hitzig bestritten, daß Frau von Schoenebeck als Anstifterin oder Beihelferin mitschuldig sei. Später hat er die Frau schwer belastet. Um sich selbst der Strafe zu ent^ ziehen? Als ein durch krankhafte Geistesstörung der freien Willensbestimmung Beraubter sich in die Rechtswohlthat einzuschmuggeln, die der einundfiinfzigste Paragraph des Strafgesetzbuches gewährt? Die konnte ihn aus der Unteres suchunghaft nur ins Irrenhaus führen. Das wußte er. Hörte auch von dem Sachverständigen, daß dessen Gutachten nicht Ausschluß, sondern nur Einschränkung der freien Willens^ bestimmung feststellen werde und daß unser Stra%esetz den
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verminderter ZurechnungfiLhigkeit nicht kenne (und nicht kennen darf, so lange es in dem Wahn von objektiver Freiheit des Menschenwillens befangen bleibt). Da war für den Hauptmann also nichts zu hoffen. Seine Verurtheilung zum Tod sicher. Und im Kreis der Rechtsgenossen fiel auf ihn ein ungünstigeres Licht, wenn er als Werkzeug eines kranken Frauenhimes, nicht als ein in männischer Leiden^« Schaft Strauchelnder ins Verbrechen geglitten war. Doch er wußte nun, in welche Pfütze er sein armes Herz geworfen hatte; und fühlte sich von jeder Schonimg entpflichtet. Sollte in solchem Tümpel sich noch einmal das Himmelslicht spie:« geln? Der hamletische Todesstundenwunsch, sich und seine That erklären zu lassen, oder der Exhibitionistendrang, vor Menscheiiblicken die Scham zu entblößen: Goeben löste vom Geheimniß seines Erlebens das letzte Siegel. Er wollte ster^ ben. Den qualvollsten Tod. Den hatte er nie furchten gelernt. Doch die Ueberlebenden sollten ihn kennen.
Den Knaben treibts in enthusiastische Freundschaft, die ihm aber kein Lustgefühl schafft« Erst den Siebenzehnjährigen überfallt das Fubertätfieber. Im Traum fühlt er, den die Mutter, im Scherzspiel, einst auf ihrem Rücken reiten ließ, unter seinen von zarten Armen umklammerten Schenkeln einen Frauenrücken, fühlt in der engen Schlinge seiner Arme einen feinhäutigen Hals: und erwacht in der müden Wonne, die des Geschlechtshungers Stillung wirkt. Der Jüngling tr^ sehnt und beschleunigt die Wiederkehr solcher Träume; sucht sie, als er reiten gelernt hat, auch als Wacher herbei«*
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zuzwingen und gewöhnt sich, im Sattel den Akkumulator seines Geschlechtstriebes zu entladen. Liebt sein Roß wie ein Weib, tätschelt es mit sanftem Finger, kraut ihm schSif kemd die Mähne, kitzelt es zärtlich mit der Fußspitze, dem Sporn; und läßt von wollüstiger Vorstellung den Frauenleib formen, der ihn, in seligerer Stunde, tragen soll. Keiner hat ihm jemals von Sexualbedürfniß und Sexualgefahr gesprochen. Keiner ihn je vor schädlichem Mißbrauch des Zeugung^ organes gewarnt. Den dumpfen Sinn schreckt das Geschlechts^ wesen der Frau, von der er doch das höchste, heißeste Wohl^ gefiihl hofft. Wer sie spornen, bis zur äußersten Ermattung antreiben und die Keuchende nach Belieben dann zügeln könnte I Der Lieblingtraum wird zur unentbehrlichen, zwin^ genden Vorstellung und der Artillerielieutenant thut wie Onan, Judas zweiter Sohn von Sua, den des Herrn Zorn traf, weil er, statt bei des Bruders Witib zu liegen, seinen Keimsaft in die Erde sickern ließ. In so unkeuscher Enthaltung vom Weib lebt er Jahre lang; und das Nervensystem des aus kränkelndem Stamm Ersproßten wird im Wirbel solcher ge^ waltsam erkünstelten Wonnen früh morsch. Ob ihn je ein Mannesleib reizte? Er hats geleugnet. Die seltsame Art seiner Lustvorstellung ließe leicht darauf schließen. Einerlei. Ringsum riechts, in Kaserne und Kasino, nach Weiberge^ schichten: und dieser Lieutenant hat nie eine Liebste gehabt, nie nur sich an einem Dimchen gekühlt. Hält sich drum für Einen von ganz besonderem Schlag; vereinsamt im In^ nersten; darf, ein vom Fluch der Lächerlichkeit Bedrohter, sein
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schmähliches Geheimniß aber nicht entschleiern; und sinkt, ums noch fester einzuhüllen, in die Gewohnheit, jedem Auge sich anders zu zeigen, als er ist. In einen Sumpf, dessen Festbezirk Wahrhaftigkeit nicht gedeihen läßt.
Herr von Goeben spielt den interessanten Sonderling. Das Leben? Ein Quark. Fiir eines Bettlers, eines Krüppels Glück würfe ers hin. Der Dienst? Im Frieden ein freud# loses Handwerk, das dem Ernst hoher Weltauflassung nicht zu genügen vermag. Und wer darf zweifeln, daß solche Auffassung in einem Offizier lebt, der sich aller galanten Kurzweil fem hält, zu dem Weib vrie zur reinsten Priesterin aufschaut, in seinem Fühlen Kindern und Thieren innig ge^ seilt ist, der Schwachen, Mißhandelten, Bedrohten Verthei^ diger wird und vom Schicksal nur die Möglichkeit schmerze hafter Selbstaufopferung heischt? Goeben findet Freunde; findet jüngere Kameraden, die an die rauhe Tugend dieses fast heilig scheinenden Kriegers glauben. Friert aber in den mühsam gespeisten Weihflammen dieses Kultes und möchte ihm, möchte sich selbst gern entlaufen. Wenn er sich ins Rollen der Begebenheit stürzt, dem Körper, dem Kopf die letzte Leistung abverlangt, die der Kraft eines Menschen er# reichbar ist, wird der Bann vielleicht gebrochen; lindert sich wenigstens wohl der Zwang und ermöglicht ein helleres Leben im sicheren Gehege der Norm. Solche Hofihung treibt ihn in den Burenkrieg (wo er emsig nach dem Ruhm toüß kühner Todesverachtung trachtet) und in die blutige Wirr# niß des Makcdoncnaufstandes. Doch die Hofihung trügt.
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Schwere Malariarückfalle zerrütten den Körper. Als ein Alternder, dem sich an der Schläfe schon das Haar bleicht, kehrt er heim; und kann die Leistungföhigkeit der Lieute^ nantszeit nicht wiedergewinnen. Schlaflosigkeit und häufige Schweißausbrüche schwächen ihn. Er ist düsteren Sinnes, oft mürrisch, mitten im Dienstbetrieb manchmal zerstreut; und erzählt in lebhafteren Stunden aus seiner Kriegszeit Ge^ schichten, die jede gründliche Nachprüfung als erfunden oder gefirbt erkennen muß. Sein Geschlechtsleben hat sich nicht geändert. Nur haben sich, unter heißerer Sonne, in fremdartigen, seelisch erregenden und ganze Tage lang in den Sattel zwingenden Verhältnissen, die Exzesse von Mond zu Mond gemehrt; ist tägliche Masturbation zur Gewohnheit geworden, deren Zwang dann auch in Berlin weiterwirkt. Die spärlichen Versuche, im Arm einer Frau Stillung, Hei^ lung zu finden, sind fruchtlos geblieben. Der fast Sieben^ unddreißigjährige, der als Batteriechef nach Allenstein ver^ setzt wird, hat als ein Glücklicher, ein bis zur Sattheit Seliger niemals noch den Leib eines Weibes umschlungen. Im März hat er die von überströmendem Dankgefuhl hin^ gerissene Antonie geküßt; dem Drängen ihrer nach körper^ lieber Vereinung lechzenden Hypererosie aber, im Bewußtsein des Unvermögens, niemals nachgegeben. Er läßt sich lieben; doch durch die ungestümste Zärtlichkeit nicht aus dem vor# sichtig gewählten Triebgewahrsam locken. Auch nicht, als der Major dem Haus ein paar Wochen lang fem bleibt. Der Lenz kommt endlich ins Pregelland. Die Luft erwärmt sich
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und unter dem letzten Schnee steigt sacht, in Wald und Garten, aus der Wurzel der Saft ins Gesträuch. Wühlt und wirkt auch in des Hauptmanns Sinnen die Zeugerkraft dieses Frühlings? In schwüler Mittagsstunde bebrütet, während des Heimrittes vom Uebungplatz, die Sonne in Goebens Hirn die Hoffnung, jetzt, so spät noch, das volle Glück der Mann^ heit zu erlangen. Wer weiß? Melleicht hat ihm bisher nur der seine scheue, verschüchterte Geschlechtsart ergänzende Weibtypus gefehlt; der besondere Wesensduft, dessen Wehen auch ihn in den großen Orgasmus lenzlicher Natur taucht. In unbewußter Bewegung sinkt die fiebernde Hand vom Zügel und streichelt den Rücken des Thieres. Das den Reiter so willig trägt . . . Aus heißen Dunstschleiern schält sich die Jiinglingsvorstellung : ein feinhäutiger Hals, den seine Arme einklammem; unter seinen Schenkeln, in die sich rosige Fingernägel oder Ellbogen bohren, ein Frauenrücken. Kann dieser Traum nie Wirklichkeit werden? Schon ist er mit der im Lustverlangen Bedenkenlosen weit genug, um den Vera» such wagen zu können. Setzt sie, wie ein Kind zum Hucke^ packspiel, auf seine Schultern; beugt dann lachend den Rumpfund läßt sie auf seinen Rücken gleiten; und endet das Jauchzduo mit dem Ruf, der von übermüthiger Minuten^ laune auf die Lippe getrieben scheint: »Nun soll mal der Reiter das Fferdchen sein; sollst Du Deinen Braunen tragen!« Zum ersten Mal erlebt ers mit wachem Auge; fiihlt sich von beseligendem Wollustspasma geschüttelt; ist zum ersten Mal in eines Weibes warmer Nähe seiner Mannheit ftoh ge^
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worden. Doch in der selben Sekunde auch der willenlose Sklave dieser Beglückerin. Milans Sohn hat einer Hofhure, weil Sit den Scheinbann seiner Impotenz brach, die Serben« kröne aufs Haupt gesetzt. Was vermöchte Goeben der Frau zu weigern, die als Erste ihn, als Einzige, die Wonne einer der Natur nahen Geschlechtsbefriedigung erleben ließ? Die nistet nun in der Herzkammer seines Geheimnisses. Weiß, jetzt erst, was diesem Zagen die schlaffen Adern in Schwel« lung bringt, welcher Genitalreiz diesem Weibscheuen den Genuß natürlicher Paarung ersetzt. Den kann sie gewähren und kann ihn versagen; dem der Norm nicht mehr ganz Femen auch völlige Heilung verheißen. Aus sicherem Herr« schaftsitz spinnt sie dünne Fädchen, knotet eins behutsam ins andere: und hat mit engmaschigem Netz bald Kopf und Sinne des Mannes umstrickt. Noch spürt er den Druck nicht. Ist mit der Seligen selig, die mit ihren Buhlkünsten nicht geizt und, in Bereitschaft immer, mit ihrem langenden Blick, ihrem Lächeln, zu sprechen scheint wie zu Mahadöh der Mund der in Demuth geschäftigen Bajadere: »Was Du willst. Das sollst Du haben I« Im Stillen aber entschlossen ist, nur, was ihr beliebt, ihm zu spenden. Der Weibinstinkt wittert Einen, den nicht die Wirklichkeit, den nur die Vor« Stellung zur höchsten Willensleistung, auch zur mannischen des Körpers, spornt; und ahnt rasch, daß die Vorstellung« weit dieses Willens früh abwelken müßte, wenn ihr nicht jeder Tag einen neuen tränkenden, belebenden Quell er« schlösse. Heute muß Eifersucht, morgen Scham die Sinne
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des Hauptmanns düngen; heute darf er aus voller Schale schlurr fen und morgen nicht einmal die Lippe netzen. In Antoniens Erzählung verthiert Gustav zum unersättlichen Bullen, der sich Tag vor Tag auf die Kalbe stürzt; zum geilsten Bock, dessen Gier zwischen zwei Sonnen mindestens einen Geschlechtsakt erzwingt. Doppelt brennt vor dem Schreckbild solcher roh prassenden Uebermännlichkeit die Schmach eigenen Unver^ mögens. Das wiche am Ende in der mittheilsamen Wärme steten Zusammenseins. Immer in Angst vor dem Tritt auf dem Gang, vor dem Morgengrau, das den Schlüpfveg über die Hausflur sperrt: nur ein selbst schon in Thierheit Gesunkener hätte da Ruhe zu stillendem Genuß. Von dem Lakentyrannen die Frau, von Eifersucht, Kraftlähmung, Schwachheitschmach den Mann zu befreien, giebt es ein einziges Mittel. Goeben beschwört An^ tonie, ihre Ehe scheiden zu lassen und ihm ganz zu gehören. Die Frau fallt in Ohnmacht. (Das kann sie nach freier Willkür; kann, wie mancher brahmanische Yogi und ein ukermärkischer Fürst, durch die Gewalt ihrer Vorstellimg und Selbstsug^ gestion Krampf und Ohnmacht, Fulsstockung und Fulsbe^ schleunigung, abnorme Vorgänge verschiedener Art in ihrem Körper erwirken.) Flüstert mit blasser Lippe dann, daß nicht der schönste Traum ihr je so hehres Glück gekündet und der Rausch der Verheißung drum jetzt das Bewußtseinsthor überschwemmt habe. Ists denn auch faßbar? Für ein kleines Weiberherz nicht allzu viel stolzer Entzückung? Mein Mann wirst Du sein? Dein richtiger Mann; und werde (leise spricht ers, wie ein Flehen um Verzeihung) dann völlig gesunden.
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Sie wollte ihn ganz. Sie hat ihn.
Die Zeit wilder Ekstasen beginnt. Zwar hat der in Un^ vermögensangst Erschauernde die Frau überredet, die Hoch« Zeitdämmerung in keuscher Zärtlichkeit heranzuwarten. Aber Arachne ruht nicht; will ihr Sekret in der Luft zu neuen Fäden härten und den Kiefertaster des Männchens zu neuem Thatversuch wachkitzeln. Sonst lockern sich am Ende die Maschen; entschlummert, ohne aufrüttelnde Versuchung, wie^ der der mühsam geweckte Wille zur Mannheit. Weil in dem Liebenden des Mannes zu wenig ist, soll die Geliebte darben? Nur verhaßte Umarmung dulden? Erträgt er denn, ein Edel^ mann und Soldat, den Gedanken, daß ihr Leib, dessen Sehnen er niemals noch stillte, eines Anderen alltägliche Weide ist? Bebt nicht vor der Möglichkeit, ihre nie nach Lust getränkt ten Sinne könnten, wie dürstende Hunde an besudeltem Rinnsal, sich an unsauberem Born kühlen? Grauen, Ekel, alle Wächter schamhafter Liebe überrennen, rings um die Seelenfeste die Leuchtfeuer löschen und im Dunkel des Ehe# bettes von dem über dicht verhängten Pupillen Röchelnden in stummer Wonne nehmen, was der Mann zu geben ver^ mag und der Liebste versagen muß? Mit solchem Wort, solchem Gräuelspuk reizt sie den Ruhelosen; reizt auch sei^ nen Körper mit den in der Schule der Ferversion und des Tribadismus erlernten Künsten. Und bleibt ihre Feitscher>( arbeit, all das von reicher Erfahrung geleitete Mühen den«» noch unbelohnt, so hagelts Hohn in die beim Reitspiel tnU bundene Wunde. Tage lang konunt dann kein Laut aus
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Antoniens Kehle. Trieft der hagere Rumpf des Mannes vom Schweiß der Anstrengung, ihr ein Kosewörtchen, ein Lächeln nur abzulisten. Umsonst. Er soll sehen, wie unfroh sie neben ihm haust; soll vor der Gefahr zittern, daß in der trockenen Gluth das Gefäß ihrer Sinne undicht werde und ihre Liebe ihm so entrinne. Dann, plötzlich, schäumt ihre Zärtlichkeit wieder auf, umgischtet das Sandriff weggespülten Zornes und brandet an des Mannes aufathmender Brust. Ein Taumel ists nun, in dessen Strudeln und Gurgeln die ins Kindhafte verniedlichten Vornamen (»To« und 3»Pfausi«) fast verhallen. In jäher Folge gehts so; aus den Tropen im Flug wieder ins Nordpolarmeer. In der schlimmsten Stunde ihrer Geschlechts^ wuth entwickelt To sich der letzten Schamhülle und blößt einen Aussatz, den die Winkeldime noch vor Jedem, den sie nicht wegscheuchen will, bürge: preist vor Ffausis Ohr den Buhlen vergangener Zeit, von dessen Manneskraft sie, wann ihr Schoß begehrte, beglückt ward. Goeben hörts an. Weicht nicht von dieser aus dem Bereich der Weibheit Ge^ schiedenen. Kommt, in Aengsten und Fiebern, kaum über die langen Stunden hinweg, die er nicht in ihrer Athemnähe verbocken darf. Seine Schande empfindet er, die unabwasch^ bare Schmach so schnöder Entwürdung; und wühlt sich selbst doch tiefer stets in den warmen Schlamm. Auf dem Schießplatz stiert das Auge blicklos in den Sandboden. Auf dem Rücken des Pferdes stöhnt er den Namen der Frau ins Weite, fühlt sich auf dem bewegten Leib endlich wieder der »süßen To« näher und jagt unter einem Thränenstrom in
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ihren Dunstkreis zurück. Im Kasino ist er, in jedem Salon der Kleinstadt ein frommer, vor Frauen ehrfürchtiger, von der Heiligkeit der Ehe durchdrungener Christ, dessen strenge Sittlichkeit und spröde Mannestugend Alt und Jung bewun^ dem. Hinter der Maske wohnt nur ein Wunsch: in neue, durch alte Gewöhnung verbürgte Lust rasch nun zurück! Bäumt sich nur eine Frage: Wie erwirke ich auch ihr so un^ ersetzlichen Genuß, übermanne die Schwachheit meines Ge^ schlechtswillens und sättige endlich die Sinne Einer, die des Hungems, in gefahrhcher Gluth, längst müde ward?
Der Herbst bringt Antwort; über alles Ahnen beglückende. Nach der langen Manövertrennung gelingt, was nie noch gelang: die Mann und Weib zum Gattungdienst nach der Norm der Natur einende Paarung. Von der Seele des Haupte manns sinken die trüben Nebel und ringsum fangt, unter herbstlicher Sonne, Hoffnung zu blühen an. Muß To ihn, die Löserin aus zwanzigjährigem Geschlechtsbann, nicht allen Anderen unvergleichlich dünken? Darf Einer staunen, weil sie im Gestammel seiner Briefe das Süßeste und Wonnigste heißt, ein reines Heiligthum und ein Engel der Liebe? Nicht verständnißloser als vor der Wahmehmimg, daß auch den geheilt Scheinenden die Schlaue nicht vom Halfter läßt. Wenn er aus seiner Vorstellungwelt ins Land heller 'Wiikß lichkeit entliefe, wäre er ihr leicht verloren. Nur die Vor» stelltmg spornt Diesen zur höchsten Willensleistung. Wie sicher, Ffausi, saß sichs auf Deinem Rücken I Willst unser Fferdchenspiel doch nicht ganz verlernen? Die Gewohnheit
lebt wieder auf. Wer weiß denn, ob er immer bar zahlen kann? Der Vorsorgliche hält Surrogate im Haus: besonders in einem, dessen Herrin Tag und Nacht durch unerrechen^ bare Wünsche einhertost Heftiger als je vorher fordert To jetzt Sklavendienste. In jeder Minute muß der Hauptmann ihres Winkes gewärtig sein. Ists; und möchte jauchzen, wenn er so recht sich emiedert sieht. Zieht der Wonnigsten die Stiefel aus, die von der Hitze des Rittes noch dünstenden Strümpfe und küßt knieend die feuchte Sohle des Fußes; wartet Stunden lang beim Stelldichein, das To absichtlich versäumt, und wagt nachher nicht den sanftesten Vorwurf; kniet vier Nächte lang an ihrem Bett, weil sie gesagt hat, nur seines Handtellers Warme könne aufliegend den Schmerz lindem, der ihren Leib zusammenkrampfe; holt aus der Küche, der Besenkammer, was ihre Laune just heischt. Pfausi würde, vde in Nanas Schlafstube der in kraftloser, ehrloser Gier klappernde Graf MuSat, auf allen Vieren krie^ chen, mit den Pfoten wedeln und zwischen den Zähnen eine Klosetbürste apportiren. Warum nicht, da sie einander so rasend heben, so unsinnig glücklich sind? Brautstandsspäse. Derbe, wie sie nach der Vermählung der Leiber möglich wurden. Alles ist ja besprochen. Die äußere Vereinung der Gepaarten nur noch eine Frage kurzer Frist. Sogar Goebens alte Mutter weiß schon, was sich im Allestädtchen vorbei reitet, und zwischen ihr und To fliegen zärdüche, ehrerbietige Briefe hin und her wie zwischen Schwieger und Braut. Bis auf den Glücksgipfel ist nicht mehr weit. Das zwei Jahr#
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zehnte lang unter Folterqual und Spottfiircht entbehrte Recht auf männischen Sexualstolz erworben; und mit ihm die Ge^ wißheit, die Spenderin des nicht mehr erhofften Hochge# (iihles bald vor jedem Ohr sein nennen zu diirfen. Aktiv könnte Goeben nach dem Gamisongerede freilich nicht bleiben. Was liegt dran? Leise ertrachtet er die Betheiligung an einem Ueberseegeschäft. Für den Anfang sorgt Tos Geld, für den gedeihlichen Fortgang, Ffausi, sicher Dein kluger Kopf. Das Interesse am Dienstbetrieb schrumpft dem Haupte mann nun schnell. Lebhaft wird er unter Kameraden fast nur noch, wenn Schoenebecks den Gesprächsstoff liefern. Auf Hymnen folgt dann ein Gepfauch. Die Frau eine Heilige, der Mann eine Bestie. Madonna im Tigerkäfig.
Ein einziges Mittel giebts, hat Goeben im Sommer gesagt. Wenn Gustav von Schoenebeck aber die Wahl dieses Mittels hindert? Erzwingen läßt sich die Scheidung nicht; der Major, den Pfausis Wahn sich einbildet, würde Mißhand^ lung und Schlimmeres abschwören, um im Genuß des Geldes, des immer noch herbstlich schönen Leibes zu bleiben. Dann? Dulden, daß der Engel im Raubthierhaus weiterschmachtet? Auf Tos Geheiß hat er im Baumschutz des Gartens er* lauscht, was im Ersten Stock einst im Dunkel geschah. Ein Klopfen. Die Stimme der Frau: »NeinI Du darfst nicht hinein; ich riegle die Thür nicht auf.« Stärkeres Klopfen. »Nie wieder! Mir graut vor der Zudringlichkeit Deiner Begierde.« Eine endlos scheinende Weile gehts so. Dem Hauptmann schlägt das Herz bis in den Hals. Die Stimme
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des Majors hat er nicht gehört; glaubt aber, daß der ewig Brünstige hinter der verriegelten Thür ächzte und tobte. »Da hast Du ein Bild meines Elends.« Gustav verpulvere ihr Geld und knickere, wenn sie Etwas für ihre Erholung fordere. Da sie sich der Brutalität seiner Schändungversuche entwinden wollte, hat der Wüthende ihr den Leib zerfetzt und mit Stößen und Hieben (^»Sieh selbst I«) die Haut gei» pardelt. Nach dem Manöver zeigte sie dem Buhlen einen Bettbezug, in den, unter Gustavs roher Pranke, aus ihren geschundenen Hüften das Blut troff. Das soll ein Mann gtf duldig noch länger tragen? Ein Liebender? To ist zu mil^ den Herzens, um sich selbst befreien zu können. Aus zu zartem Stoff, um einen Skandal zu überstehen. Herausfor^ derung, Duell, Kriegsgericht? Die Folge wäre ein dem Major günstiges Scheidungurtheil, die Verarmung tmd De^ klassirung der Frau, ein im Leben der Kinder fortwirkender Makel. »Lieber bis ans nahe Ende meines Lebens die Qual dieser grausigen Ehe.« Kein Mittel . . Eins. Das letzte aller entehrten Kreatur. Schon flüstern die Beiden davon. Arseif nik? Die schafft er herbei. Doch wieder spricht ihres Mit:» leids Stimme lauter als der Drang nach Vergeltung. Sie ver^ mag es nicht. Im Wald den einsamen Waidmann stellen und mit dem Revolver die Lösung des Ehebandes erzwingen? Weigert er sie: auch ohne Zeugen giebts unter Männern ehrif liehen Zweikampf. Fällt der Hauptmann, so sprach ihm das Schicksal; trifft der sichere Menschenvisirer den Major, so ahnt Keiner den Schützen, der sich rasch ins Dickicht rettet
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und seine Waffe bei der Leiche läßt. Dann wird Selbstmord oder Jagdunfall angenommen. Doch die Hunde wixrden die fremde Spur erwittem. Antonie giebt dem Hauptmann ein Paar von Gustav getragener Strümpfe: daß er sie über die Stiefel streife und so die Spürnasen täusche. Immer vereitelt wieder ein neuer Zufall die Ausfuhrung des bedachten Planes. Zu£dl nur? Nicht auch Feigheit Eines, der mit dem prah^ lerisch ausgereckten Geäst seines Wesens doch keinen Bezirk der Mannheit ganz zu decken vermag? Das Jahr neigt zum Ende: und der Jammer währt noch und scheint unausrod# bar. Wit am Vaal einst der Stacheldraht, drückt der Hohn des Weibes sich dem Soldaten in die Brustwehrhaut. So oder so: er wirds vollenden. Hier kann er ohne Helferin, ohne determinirende Vorstellung sich als Mann erweisen. Unter dem Christbaum schwört er, der in der Weihnacht vier Stunden lang im Arm der Liebsten lag, nicht mehr zu säumen. In der nächsten Nacht steigt er durchs Hoffenster ein, tappt sich ans Schlafzimmer und tötet den Feind.
. . . Hätte dem Königlich Preußischen Major Gustav von Schoenebeck in der Weihnacht ein Kamerad oder Waid^ genösse ins Ohr geraunt, dicht über des Mannes hartem Soldatenlager wärme, unter dem Pftihl, an dem noch seines Schweißes Ruch haftet, jetzt die Brust 'seines Weibes den zuckenden Leib Hugos von Goeben und aus dem oft unter Saugküssen erstickten Gewisper der Beiden webe sich die letzte Masche eines Mordplangespinnstes, das in der nächsten Nacht den Hausherrn drosseln solle, — er hätte aus ruhig
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athmender Brust eile Antwort gehört: »Dummes WeibeiT^ zeugl Daß Einer oben ist, mag sein. Mancher hat da schon geschwelgt; und nach dem Geschlechtsnerv auch von meinen Tellern den Gaumen gefuttert. Mannsvolk genug, um einer Brigade zu befehlen. Ich weiß Alles. Wie sies gar, mit dem Erstbesten, in Berlin getrieben hat, wenn sie Wochen lang dort saß, ,um fiir Wirthschaft und Kinder billiger einzu^ kaufen'. Das Thierchen hat ja jedes Lendenerlebniß ins Tagebuch gekritzelt. Kenne aus Briefen das Hengstgewieher der Angekörten. Alles. Sie läßts nicht. Kann nicht. Der Doktor sagt: Hysterische Hypererosie; ich habe ein kurzes Wort: Thierchen. Giebts auch im Wald. Was soll ich machen? Habe drei Dinge im Leben ernsthaft geliebt: mei^ nen bunten Rock, meine Kinder, meine Jagd. Den Rock müßte ich an dem Tag, wo ich Toni mit dem Fuß wegstieß, ausziehen; mochte ich ihn noch so sauber gehalten haben. So ists mal bei uns. Unverschuldete Spritzer schänden. Ein wettiner Kronprinz wollte ja Seine drum noch nach der Flucht mit dem Hauslehrer wiedemehmen. Die elf und die sieben Jahre der Kleinen wären verwaist; standgemäße Laufbahn und Ehe ihnen gesperrt; Kinder einer Lüderlichen und eines Stabsknackers a. D., der knappe Dreitausend der Pension zuschustern kann. Für honoriges Waidwerk würde es nicht langen. Und sie? Versänke, wenn das Geld, das ich doch nicht behalten dürfte, verknallt ist, im Dreck. Muß ichs nicht gehen lassen und mich begnügen, das Aergste zu hindern? Ich rackere tmd birsche mich müde und schlafe
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£est wie ein Grimbart im Winterkessel. Kann» wenn ick will, mein Lustthierchen haben. Mord? Unsinn. Sie lügt Jedem den Buckel voll. Wenn sie abgebrunftet ist, hat sie Alles vergessen. Könnte sies irgendwo besser haben? Mit dem graugelben Bombenhugo ist nicht gut kramen. Aber »interessant* sind Die oben; höllisch. Der Märtyrer in spe mit dem rothen Kragen noch mehr als das Ewig^Laufische. Mit Martyrien könnte ich dienen. Habe das Bitterste, Ekelste still geschluckt. Bin aber nicht »interessant.*«
Der Versuch, zu ergründen, wie in dem Artilleriehaupt^ mann Hugo von Goeben der Drang nach Martyrien, dann der Mordplan entstand und wie der Major von Schoenebeck, in dem die Kameraden doch einen Mann von Ehrgefühl sahen, das Treiben seiner Ehefrau dulden konnte, dieser in so ernstem Fall nicht zu umgehende Versuch mußte ins dunkle Land der Sexualpathologie fuhren. Um neben dem lauten Prahlerdrängen in Märtyrerruhm das stille Martyrium Eines zu zeigen, der seines Rockes und seiner Kinder wegen das Bewußtsein der Geschlechtsschmach und die ihm wohl noch schwerere Last der stumm lächelnden Verachtung trug, war eine Darstellung tmvermeidlich, die sich nicht von prü^ den Aengsten noch vom cant der Heuchlergewohnheit ein^ schüchtern ließ. (»Eine traurige Wahrnehmung,« sagt der Freußenmagister Treitschke, »lehrt, daß die sogenannte Oe& fentliche Meinung immer viel moralischer ist als die Thaten der einzelnen Menschen. Der Durchschnittsmensch schämt
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sick, tausend Dinge» die er wirklick tkut» öffentlicli auszui^ sprechen und zu billigen. Was der gewöhnliche Mensch» wenn er unbetheiligt ist, im Tugendkosakenthum leisten kann, ist unglaublich.«) Wit aus der psychischen Impotenz und der ihrer Minderung folgenden Hysterikererosie in Goeben der Wille zur That erwuchs, mußte dargestellt werden. Das zu solcher Darstellung nothwendige Thatsachenmaterial £md ich in den Berichten über die allensteiner Kriegst und Schwurt gerichtsverhandlungen und in dem Gutachten, das der mün^ ebener Psychiater Dr. Albert Freiherr von Schrenck^Notzing in der Strafsache wider Goeben 1908 erstattet und »auf den ausgesprochenen Wunsch des Angeklagten der Oeffenthch# keit übergeben hat«. Alle von mir aus der vita sexualis Goebens und seiner To angefiihrten oder angedeuteten Vor# gänge waren aus den Gerichtsberichten und aus diesem GuU achten bekannt; neu war nur die psychologische Deutung und der Versuch, ohne den Gerichtsapparat Das zu geben, was die französische Kriminalistik die Rekonstruktion des Verbrechens nennt SchrencluNotzing hat den angeklagten Hauptmann Tage lang im Gefangniß beobachtet, mehrmals gründlich untersucht, Schrifb und Gedachtnißproben mit ihm gemacht und aus seinem Munde die ausfuhrlichste Beichte gehört Er sagt; »Mein Gutachten stützt sich auf das Studium der kriegsgerichtlichen Akten und auf eine mehrtägige eigene Beobachtung des Angeklagten im allensteiner Militargefang^ niß. Das Geständniß, die eigenen Angaben des Angeklagten über seinen Lebenslauf und über die Beziehungen zur Frau.
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Von Schoenebeck sind hier mitverwerthet worden, da, abge^ sehen von ihrer Uebereinstimmung mit klinischen Kranke heitbildem und Erfahrungen, kein Anlaß besteht, ihnen die Glaubhaftigkeit abzusprechen. Nach anfanglichem Leug^ nen hat Goeben ein vollständig in sich geschlossenes und mit dem auf andere Weise erlangten Beweismaterial lücken^ los übereinstimmendes Bild der ganzen Strafhandlung dem Untersuchungrichter und dem Sachverständigen gegeben. Diese Schilderung enthält den Angekbgten schwer belastende Einzelheiten, die vielleicht auf andere Weise überhaupt nicht zur Kenntniß des Gerichtes gelangt wären. Dazu kommt das vollständige Fehlen von Thatzeugen. Aber auch wenn Goebens Darstellung nicht völlig dem wirklichen Ablauf dieses fürchterlichen Dramas entspräche, so würde an der Größe seiner Schuld katun Etwas geändert. Demnach scheint es berechtigt, auch in Bezug auf die Thatumstände die MiU theilungen des Angekbgten gelten zu lassen. Goeben war gut orientirt über allgemeine Lebensverhältnisse, geschieht^ liehe, geographische Daten; wußte auch ziemlich genau alle Fragen über seinen Lebenslaufund über die Einzelheiten der Strafthat zu beantworten. Dagegen war sein Namensgedächt^ niß schlecht. Er konnte weder den Namen seines letzten Burschen noch die der Unteroffiziere seiner Batterie nennen. Er besaß keine besonderen sprachlichen Kenntnisse. Aufge# fordert, las er aus einem ihm gehörigen Buch (über die Fran# zösische Revolution) eine halbe Seite laut vor und war dann nicht im Stande, den Inhalt des Gelesenen annähernd genau
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wiederzugeben. Die Art der Reproduktion machte einen direkt scliülerhaften Eindruck. So weit es sicli um eigene Interessen und die Produkte seiner überaus regen Phantasie handelte, war seine kombinatorische Fähigkeit außergewöhn^ lieh gut. Dagegen waren Kritik und Hemmung der sich ihm je nach der momentanen Gefiihlslage aufdrängenden Vor^ Stellungverbindungen mangelhaft; das geordnete Systematik sehe Denken fehlte. Die mit Frau von Schoenebeck zusamt menhängenden Vorstellungskomplexe waren über die Norm vom Gefühl betont, überwerthig und beherrschten seinen Gedankengang. Trotz allen Aufklärungen über ihren mindere werthigen Charakter, ihre hysterische Lügenhaftigkeit drängte sich ihm immer wieder die Meinung auf, er könne ihr durch seine Aussagen ein Unrecht zugefugt haben. Seine Willens» äußerung war leicht zu beeinflussen; er war von einer bis zu den höchsten Graden psychischer Abhängigkeit reichen^ den Suggestibilität. Was er aus Mittheilungen der Frau von Schoenebeck wiedergab, klang glaubhaft. Für den Kenner des hysterischen Charakters qualifizirten sich die Einzelheiten dieser Darstellung als Produkte der zum Dramatisiren ge# neigten hysterischen Einbildungskraft. Die ganze ihrem Lieb# haber gegenüber verfolgte und von ihm geschilderte Politik ist zu stilecht im Sinne der Hysterie, als daß Goeben sie hätte erfinden können. Zweifellos glaubte er den Uebertreibungen der Frau und ließ sich gegen den Ehemann einnelimen, ob^ wohl ihm persönlich Schoenebeck nicht unsympatliisch war und er auch niemals eheliche Streitigkeiten mit angesehen
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hatte. Selbständig wäre er überhaupt nicht auf die Idee ge# kommen, den Ehemann fiir einen Barbaren zu halten, wenn er nicht auch nach dieser Richtung geistig von der Frau vollständig beherrscht gewesen wäre. Goeben war, ak erb# lieh belasteter Psychopath, ohne seelisches Gleichgewicht Er war in einem Zustand suggestiver Abhängigkeit von der Geliebten, den man als sexuelle Hörigkeit mit masochisti« schem Einschlag qualifiziren mußte. Deshalb war seine Zu« rechnungfahigkeit vermindert. Die Verantwortlichkeit war durch krankhafte Störung der Geistesthätigkeit erheblich ein« geschränkt; doch nicht in solchem Grade, daß die freie Wil« lensbestimmung als ausgeschlossen erachtet werden konnte.« Kein Grund, der ihn straffrei machte. So hat der einzige namhafte Psychiater geurtheilt, von dem der des Mordes an« geklagte Hauptmann untersucht worden ist.
Für dieses Urtheil zeugen die Briefe, die Goeben nach der That schrieb. An den Kriegsgerichtsrath, der die Unter« suchung fiihrte: »Die Liebe zu der unglücklichen Frau hat mich wieder so übermannt, daß ich Alles bereue, was ich gegen sie ausgesagt habe. Bitte, bitte, schaffen Sie mir Beweise, daß sie mich während der Zeit, wo ich mit ihr zusammen war, betrogen hati Bitte, erlösen Sie mich von der Leiden« Schaft, wenn Sie können I Ich bin wohl verrückt; ich kann den Gedanken nicht ertragen, ich hätte die Frau verrathen und es wäre am Ende gar nicht nöthig gewesen.« An einen Freund: »Ich bin von einer Frau, die vielleicht wegen ihres hysterischen Zustandes gar nicht oder doch nur zum Theil
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verantwortlich gemacht werden kann, durch dauerndes An# reizen, Klagen und Lieben in einen Zustand versetzt worden, der wohl nicht mehr als normal bezeichnet werden kann. Wenigstens begreife ich heute meine wahnsinnigen Ideen und Gefühle nicht mehr. Ich habe in diesem Zustand jene Frau (iir ein reines Heiligthum gehalten und ihr Alles, Alles ge« glaubt. Wenn ich heute zurückdenke, so begreife ich nicht, wie ich habe glauben können. Die ^dersprüche waren so in die Augen £dlend, daß ein einigermaßen vernünftiger Mensch sie merken mußte. Die Frau muß eine Art Suggestion auf mich ausgeübt haben. Ich habe ohne Bedenken, ohne alles innere ^derstreben die größten Verbrechen ausgeführt, die sie von mir haben wollte, und fiihlte mich sogar glücke lieh dabei. Ich wußte aus ihrem eigenen Munde, daß sie ein leichtsinniges Vorleben gefiihrt hatte. Das Alles hat mich nicht abgehalten, sie bis zum Wahnsinn zu lieben und ge^ radezu abgöttisch zu verehren. So hat sich in mir auch die Idee fes^esetzt, ich müsse diese Frau von ihrem Mann be# freien, den sie nicht aufhörte mir in den widerlichsten Farben zu schildern. So ist es denn gekommen, das Gräßliche. Meine Absicht, den unglücklichen, ahnunglosen Mann im Wald zu stellen, mißlang. Da habe ich es in seiner Schlafstube gethan. Sein Revolver hat leider versagt. Warum ich mich nicht selbst daneben gelegt habe? Ich begreife es heute nicht mehr. Ich habe mir noch Tage lang eingebildet, eine gute That gethan zu haben; und die wahnsinnige Sehnsucht und Idee, die Frau doch noch einmal meine Frau nennen zu können, hat mich
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davon abstehen lassen. Ich war so in ihrer Gewalt, daß ich Alles, aber auch Alles darüber vergessen habe. Ich hätte Vaterland, Mutter, Freunde, Alles, Alles lachend im Stich gelassen, wenn ich dafiir diese Frau hätte eintauschen können. V(le ich ja auch meine eigene Ehre lachend in den Dreck getreten habe. Ich stehe schaudernd vor all diesen Gemein^ heiten (wenn man dieses milde Wort darauf anwenden darf) und kann mir überhaupt noch gar nicht zur Vorstellung bringen, daß ich selbst das Alles war. Man neigt ja wohl dazu, sich selbst zu entschuldigen; und so kann ich nicht sagen, ob in mir die Keime zu derartigem Verbrecherthum liegen. Ich meine, wenn ich offen sein soll, die unglückselige Frau hat einen hypnotischen Einfluß auf mich gehabt, der mich zu ihrem willenlosen Werkzeug gemacht hat. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich solche Dinge aus freien Stücken hätte vollbringen können.« Einer, der sterben will, sprichts. Das Gutachten des berliner Gerichtsarztes Dr. Strauch scheint dem Schrenck^Notzings ähnlich. Psychisch, sagt er, sei Goeben durch Frau von Schoenebeck infizirt worden. »Sie verschaffte sich Eingang durch zwei Pforten: durch seine Ritterlichkeit und durch seine sexuelle Eigenart. Sie erfüllte Goeben mit Haß gegen ihren Gatten, um ihn so sicher in ihrem Bann zu haben. Und mit der feinen Witterung einer erotisch Kranken merkte sie bald, daß Goeben sexuell stlu sam veranlagt war. In ihm entstand der Wunsch, die Frau zu erlösen und zu besitzen. Sie sah in ihm ihren Retter. Nach psychopathologischer Prüfung muß ich glauben, daß
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ihre Klagen erheuchelt waren. Die Beiden haben sich an dem Gedanken berauscht, von dem Mann loszukommen. Sie haben gewiß auch allerlei Befireiungpläne erörtert; vielleicht sogar einen Mordplan. Diese Gedanken und Pläne haben die Frau sexuell erregt. Noch heute (an einem der letzten Tage der gegen Frau von Schoenebeck geführten Hauptverhandlung) aber bin ich nicht sicher, daß sie ernstlich von ihrem Mann befreit sein wollte. Sie hat mit dem Gedanken wohl nur gespielt und getändelt.« (Schrenck^Notzing: »Wahrscheinlich hat die Frau niemals ernsthaft an die Tötung ihres Gatten gedacht. Es könnte sich entweder um ein Spiel ihrer hysteri^ sehen Einbildungskraft mit Vorstellungen des Mordens, des Schrecklichen überhaupt gehandelt haben, mit dem Zweck, ihren Geliebten zu reizen, ihn in konstante Aufregung zu versetzen, ihn eifersüchtig zu machen und ihren Wünschen gefallig zu erhalten; oder um Vorboten der nach der Ver« haftung ausgebrochenen geistigen Erkrankung, um Verfolgung« ideen, die Goeben als solche nicht zu erkennen vermochte und, in mißverständlicher Au£Eässung ihres ganzen patholo« gischen Charakterbildes, ernst nahm.« Hier ist zu erwähnen, daß der münchener Arzt nur den Mann, der berliner nur die Frau gesehen hat.) Herr Dr. Strauch meint, der Hauptmann sei in den Tagen, die den Mordplan reifen und ausfuhren sahen, in einem Zustand krankhafter Geistesstörung gewesen, der seine freie WLllensbestimmung ausschloß und ihn, nach dem Paragraphen 51 des Strafgesetzbuches, der Strafverfol« gung entzog. »Sein Wahnsinn war dadurch bewirkt, daß er
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mit dieser Frau zusammenkam. Sie berauschte sich an seinen Plänen und an seiner vasallischen Ergebenheit. Er nahm die Idee der Befreiung ernst und sie wurde ihm zur Fixen Idee.« Der Inhalt der beiden Gutachten und der Gefimgnißbriefe klingt zu einer Symphonie zusammen» die alle anderen Au& Fassungen fibertönt. Die Meinung einzelner Aerzte, nicht die Frau habe den Mann» sondern der Mann die Frau unter» jocht, mit Geist und Sinnen in seine Willenssphare gez¥run» gen, muß dem Betrachter des Thatbestandes unhaltbar schein nen. Nicht ein einziger für das Urtheil wesentlicher Punkt ist gefunden worden, von dem aus zu sehen wäre, daß die Frau im Pferch dieses Manneswillens lebte. Ihr Sexualver» langen war nicht wählerisch; und er (dessen Geschlechts» empfinden» wie Rousseaus unter dem Schlag der Tante» er» wacht war» als die Mutter» im Scherzspiel» den Knaben einst auf ihrem Rücken reiten ließ) reagirte nur auf eine bestimmte Reizesart. Ihr ist er ein Männchen wie andere Männchen; ihm ist sie die einzige Frau» die ihn ein der Natur nahes Sexualglück erleben ließ. Kann ein im Bezirk der Psycho» Pathologie nicht ganz Fremder zweifeln» wer in diesem Vei» hältniß das Herrschaftrecht übte» wer freudig die Knechts» pflicht auf sich nahm? Die suggestive Macht Hysterischer und ihrer Pseudologia phantastica ist eine Thatsache» mit der die Aetiologie längst rechnen gelernt hat« Und auf wen wirkte diese hysterica? Auf welches seltsam gefärbte Wesen? Eine in Alienstein nicht gestreifte Frage taucht auf. Was ist Hysterie? In einer kleinen Schrift hat» vor fünf
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Jahren, Steyerthal darauf geantwortet: »Eine selbständige, einige und untheilbare Krankheit, ,die Hysterie', giebt es nicht; nur hysterische Stigmata, einen hysterischen Symptomen^ komplex. Diese Symptome sind Ermüdung« und Erschöpfung« zeichen.« (Krampf, Lähmung, Einengung des Gesichtsfeldes.) Damit ist noch nicht viel gesagt Ob es überhaupt »einige und untheilbare Krankheiten« giebt? Der Praktiker zweifelt; sieht bei der Diagnose in jedem Fall das Bild individuell ge£arbt und muß bei der Therapie dem Grundsatz Schwe« ningers folgen: »Des Arztes Au%abe ist nicht, Krankheiten zu heilen, sondern, unter erkennbaren und veränderlichen Bedingungen ihres Wesens und Daseins erkrankte Menschen nach den Möglichkeiten seiner Kunst und ihres Kraftbesitzes zu behandeln.« Immerhin zeigt das klinische Bild Hyste« rischer bestimmte Konturen; nicht so klare wie das Tuber« kulöser und Syphilitischer, doch kaum undeutlichere als jede Art der Psychose. In seinem Lehrbuch der Psychiatrie zählt Kraepelin die Hysterie zu den psychogenen Neurosen; er sagt: »Als einigermaßen kennzeichnend fiir alle hysterischen Erkrankungen dürfen wir vielleicht die außerordentliche Leichtigkeit und Schnelligkeit ansehen, mit welchen sich psychische Zustände in mannichfachen körperUchen Störungen wirksam zeigen. Verstand und Gedächtniß der Hysterischen pflegen keine auf£dlenderen Störungen darzubieten. Die Er« innerung ist bei ihnen im Allgemeinen treu, aber nicht selten ungemein einseitig. Wahrnehmung und Deutung werden nicht immer scharf auseinandergehalten. In einzelnen Eillen
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besteht geradezu ein Hang zu freier Ausschmückung der Vergangenheit, ja, zur Vermischung der Erinnerungen mit vollkommen erfundenen Zügen. Besonders oft begegnet uns die Erdichtung von gefahrlichen Angriffen, meist mit ge^ schlechtlicher Färbung; die Kranken bringen sich auch wohl selbst Verletzungen bei und knebeln sich, um das Abenteuer glaubhafter zu machen. Ich kannte Hysterische, die in ver^ bluffender Weise verstanden, den Hörer ohne das geringste Besinnen mit den abenteuerlichsten Erfindungen über ihre Vergangenheit zu überschütten und jedem Einwand mit der größten Seelenruhe durch immer kühnere Ausflüchte zu be# gegnen. Einzelne Kranke können sich so in ihre Einbildung gen hineinleben, daß sie dadurch in ihrem Denken und Handeln vollkommen beeinflußt werden, obgleich es sich nicht tun eigentliche Wahnvorstellungen, sondern nur um Gedankenspielereien handelt, die mit Liebe und Leidenschaft^ lichkeit ausgesponnen werden. Die Kranken sind ungemein erregbar; ihnen fehlt die Dämpfung, die beim gesunden Menschen allmählich die raschen und starken Gefuhlsschwan^ kungen der Kinderjahre abschwächt. In einzelnen Fällen, aber keineswegs besonders oft, zeigt sich eine erhöhte ge# schlechtliche Erregbarkeit, welche die Kranken zu Ausschwei# fungen verfuhrt; nicht so selten besteht geschlechtliche Kälte oder völlige Unempfindlichkeit.« (Daß die Erkrankung nicht, wie Flaton annahm, von der iatiga ausgeht noch als ein Sonderleiden des weiblichen Uterus zu betrachten ist, wird schon durch diese Thatsache bewiesen.) »Oft äußern sie den
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Wunsch, zu sterben, sich das Leben zu nehmen ; auch einige einleitende Schritte werden vielleicht gethan: ein Band um den Hals geschnürt, eine Nadel verschluckt, eine verdachtige Fliissigkeit getrunken; in der Regel ist keine große Ge&hr dabei, wenn nicht ein unglücklicher Zufall mitspielt. Meist ist das Bestreben erkennbar, interessant zu erscheinen, sich in ein besonderes Licht zu stellen, von sich reden zu machen. Ueberall tritt die eigene Persönlichkeit in den Vordergrund. Viele Hysterische berauschen sich, mit dem stillen Anspruch auf besondere Anerkennung ihrer manchmal geradezu thö# richten Aufopferung, an dem Gedanken, Alles ftir die Armen hinzugeben, in selbst gewählter Erniedrigung den Kranken und Elenden zu dienen. Sie möchten Großes leisten, eine Thatigkeit haben, der Menschheit nützen. Freilich bleibts in der Regel bei solchen großen Gedanken oder bei einigen unzweckmäßig einleitenden Schritten. Auf dem Gebiet des ^^(lUens ist vor Allem die erhöhte Beeinflußbarkeit zu be^ merken, die mit der oft stark hervortretenden launenhaften Eigenwilligkeit nur in scheinbarem Widerspruch steht. Wenn sie unbefmgen sind und sich unbeachtet glauben, zeigen die Kranken oft eine große LeistungfiLhigkeit, die sofort der alten, Mitleid heischenden Hinfälligkeit weicht und von ihnen vollständig verleugnet wird, sobald sie auf ihre Kranke heit hingewiesen werden oder sich dem Arzt gegenüber sehen. Ohne Zweifel werden einzelne Krankheitzeichen (Geschwüre, Fieber, Blutspeien und Aehnliches) von Hyste^ rischen willkürlich und zweckbewußt vorgetäuscht, um ihnen
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die Theilnahme des Arztes zu sickern und ilun eine möglidisf schlimme Vorstellung von der Größe ihres Leidens beizu# bringen. Aus dem Nachweis einer absichtlichen Täuschung darf man aber nicht auf das Fehlen einer psychischen Er* krankung schließen. Wie schon der Name (Gebärmuttern sucht) andeutet, ist die Hysterie so sehr eine Krankheit des weiblichen Geschlechtes, daß man sogar zweifelhaft war, ob man überhaupt das Recht habe, ähnliche Erkrankungen bei Männern mit der selben Bezeichnung zu belegen. Doch die männliche Hysterie ist heute, wie wir der Pariser Schule ohne Weiteres zugeben miissen, keine seltene Krankheit mehr. Unter den von mir beobachteten Hysterischen waren die Männer mit dreißig Prozent betheiligt. Schwerlich läßt sich zwischen den Neurosen der beiden Geschlechter eine scharfe Trennunglinie ziehen. Die Hysterie ist ein angebon rener abnormer Seelenzustand, dessen Eigentümlichkeit ist, daß (wie Moebius es ausdrückt) krankhafte Veränderungen des Körpers ,durch Vorstellungen' hervorgerufen werden.^
Das hatte, lange vor Moebius, schon Charcot gesagt. Ihm war die Hysterie eine Psychose, in deren Opfern durch Vom Stellungen abnorme körperliche Vorgänge bewirkt werden; war sie dem Zustand Hypnotisirter nah, die er künstlich in Hysterie Versetzte nennen mochte. Was er (und seine Schule der pariser Salp€triire) für die Neuropathologie geleistet hat, ist auch Laien bekannt; er schuf die Grundmauer, auf der Janet (»L'tot mental des hysteriques«), Kraepelin und Binswanger,
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Moebius und Vogt, Freud und Breuer weiterbauen konnten. Mit Recht hat ihn deshalb der karlsruher Privatdozent Dr. Hellpach in seinem Buch »Grundlinien einer Psychologie der Hysterie« ak den Meister gepriesen, dem die Stellung und klassische Lösung des Problems zu danken sei. Im Lauf der letzten Jahre haben die von den wiener Aerzten Freud und Breuer veröffentlichten »Studien über Hysterie« sich in den Blickpunkt gedrängt. Hier kann ich heute nur wieder^ holen, was Kraepelin über sie sagt: »Nach den Versiehe^ rangen der wiener Aerzte soll die Hysterie durch ganz be# stimmte passive sexuelle Erlebnisse in der frühsten Kindheit erzeugt werden, die dann in der Form unbewußter Erinne^ rangen durch das ganze spätere Leben hindurch fortspuken und in mannichfacher Umformung zur hysterischen ,Ab« wehmeurose' fuhren. Man erfiihrt diese Dinge, indem man die Kranken in der Hypnose ausfragt. \!Clr dürfen nicht be# zweifeln, daß man auf diesem Weg noch ganz andere Dinge herausbringen könnte. Wenn aber unsere vielgeplagte Seele durch langst vergessene unliebsame sexuelle Erfahrangen fiir alle Zeiten ihr Gleichgewicht verlöre, so dürften wir am An# fang vom Ende unseres Geschlechtes angekommen sein; die Natur hätte ein grausames Spiel mit uns getrieben. Freilich sollen all diese Erinnerungen unschädlich werden, wenn dem kundigen Arzt gelingt, sie mit Hilfe des ,kathartischen' Verfahrens, der fortgesetzten hypnotischen Beichte, ans Licht zu ziehen und zu bewußten zu machen.« Das klingt sehr skeptisch; das über die Schreckneurose, die krankhafte Ueber^
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treibungsucht vieler nach reichlicher Unfallrente Trachtenden, die Erwartungneurose (der auch manche Fälle psychischer Impotenz zuzurechnen sind) und über den Erfolg hypno^ tischer Einwirkung Gesagte zeigt aber, daß Kraepelin den Wienern nicht ganz so fem ist, wie er selbst wohl geglaubt hat. Einerlei. Goebens Sexualerlebniß mußte beleuchtet wer# den: sonst war der Beweis nicht zu fuhren, daß auch er (nicht die Frau nur, die er begehrte und von der er be^ sessen war) im Wahnland der Hysterie wohnte. In der Kindheit ein Geschlechtserlebniß, das durchs ganze Leben hin fortspukt; Ermüdungzustände und Gleichgewichtsstö« rungen; Lahmheit einzelner Glieder, die das Stehen auf dem rechten Fuß fast völlig hindert und an die Symptome der Astasie« Abasie erinnert; die kombinatorische Fähigkeit un« gewöhnlich stark und die Gefiihlsschwankungseit den Kinder» Jahren nicht gemindert; Vorstellungen erwirken im Körper jähe, abnorme Vorgänge; falsche (oder gefälschte) Gedächt» nißbilder (Burenkriegsberichte); das prahlerische Betonen steter Opferbereitschaft und der sichtbare Drang, sich, als eine ganz besonders geprägte Persönlichkeit, den Nächsten interessant zu machen; heftige Untemehmunglust und, unter dem Zwang eines einzigen Gedankens, die beinah^ läppische Verkennung des für die Sicherung der Person und ihres Planes Nothwendigen (Giftkauf in der allensteiner Apotheke ; Nichtachtung des Kaliberunterschiedes, der doch beweisen mußte, daß Schoenebeck nicht von einer Kugel aus seiner eigenenen Pistole gefiillt worden war) ; Eigensinn einer fast
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sckrankenlosen Suggestibilitat gepaart; und, nach der Tra« goedie, die Katharsis durch die Beichte, das Erschaudern beim Rückblick auf die unheimliche Verdoppelung der Persönliche keit und der Entschluß zum qualvollen Opfertod, mit dem er so lange, sich selbst und Andere zu rütteln, nur spielte. Nach allen Analysen und Deutungen: ein Hysterischer.
Wie zwei Hysteriker auf einander wirken, einander beein# Aussen und infiziren, hat der Laie niemals, hat kaum der Arzt je so deutlich wie auf diesem Diptychon gesehen. Das giebt, vor dem furchtlosen Auge des Seelenforschers, dem Schreckbilde den Werth. In dem Majorshaus ging Alles leidlich, so lange die Frau sich an gesunden Männern ers götzte, die dem wirr hinstürmenden Gerede schon an der Hausthür nicht mehr ernsthaft nachdachten. Zur Katastrophe kam es erst, als Antonie einen Hysteriker gesättigt und sei^ nen Willen in den Bann ihres Wahnspieles gezwungen hatte.
Die Pflicht zum Gesellschaftschutz muß Grund und Zweck aller Strai^ustiz bleiben. Als Lombroso (halb genialer For» scher, halb flüchtig pftischender Charlatan: und deshalb zu rascher Popularisirung eines selbst ersonnenen Gedankens besonders geeignet) den Begriff des delinquente nato ans Licht brachte und mit seiner Anthropologenschule die Kiiß minalisten wieder daran erinnerte, daß sie Menschen, meist kranke Menschen, zu richten haben, mußten ungebundene Geister sich seines Auftretens freuen. Das alte Lehrgebäude der klassischen Strafrechtsschule war morsch und brüchi
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geworden. Daß Einer zu behutsamerer Indiviclualisinmg mahnte, des Handekis Bestimmbarkeit durch körperliche Zu# stände, Vorgänge, Retroaktion zeigte, den Abgrund, der den Richter vom Arzt trennte, mit schmalem Steg überbrückte und mit grellfarbigen Bildern die Schädlichkeit des Mühens erwies, das Wesen des Menschen, seiner Schuld, seines Ver^ brechens aus den Paragraphen eines gilbenden Stra%esetz^ buches zu abstrahiren: das Alles konnte nur nützen. Denn es lehrte dürre Juristen erkennen, daß sie von dem ins Verbrechen langenden Menschenleid, von Ferversionen und Psychosen noch nicht genug wußten, wenn sie sich stöhnend mit Prichards Lehre von der moral insanity vertraut gemacht hatten. Was dran gefiUurlich schien, wurde von deutschen Kriminalisten und, besonders wirksam, von Lombrosos Lands# mann Enrico Ferri, dem Gründer der Dritten Schule, früh bekämpft. Ferris Kriminalsoziologie und mancher Vorschlag der Internationalen Kriminalisten» Vereinigung wies den Weg in die Klarheit. Doch die Praxis scheint diesen Wegweiser noch nicht erreicht zu haben; scheint, mit stolzem Gehumpel, jetzt erst in den Bannkreis des Lombrosismus gelangt zu sein. Wer in unsere Gerichtssäle blickt, sieht ringsum die Herr« Schaft der Aerzte. Die bestimmen, ob ein Angeklagter ver# handlung&hig ist, während der That bewußtlos, unter dem Zwang unwiderstehlicher Gewalt, nicht im Besitz seiner Willensfreiheit war (dieser gottähnlichen, schon von Schopen« hauer verspotteten Willensfreiheit, an die zwar die Wissen« Schaft nicht mehr glaubt, die in der Praxis aber noch heute
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gespenstisch fortlebt). Der Richter sinkt zum Exekutivorgan ihres Willens herab. Er muß sie fragen und ihrer Antwort seinen Spruch anpassen. Darf nicht, wie Hertz emp&hl, sagen: »Zurechnimgfahig nenne ich Jeden, in dessen Intellekt die Idee des Rechtes Eingang gefunden hat und zu dessen geistigen Besitzthfimem die Kenntniß des rechtlich Statthaften imd Verbotenen gehört.« Darf die Prüfung des Intellekte Standes und des Rechtsbewußtseins nicht auf eigene Faust wagen. So will es die allen Bequemen willkommene Mode. Sie zeugt zwei Gefahren. Der Baugrund, auf dem die Straf» rechtspflege ruht, wird mählich so, bis in seine tiefste Schicht, aufgeweicht, daß er ein fest gefugtes, den GeseUschaftschutz sicherndes Haus nicht mehr tragen kann. Der Halbirre, Perverse, in den Grenzbezirken der Psychose Lebende bee droht, nach kurzer Einsperrung in ein Gefängnis oder Irren* haus (dem er, wenn sein Zustand strenge Bewachung heischt, eine aUzu theure Last ist), wieder die Nächsten und Fem* sten. Zweite Gefahr: Straflosigkeit wird zum Privilegitmi der Reichen. Die können sich Sachverständige von Rang imd Namen miethen; und daß deren Gutachten, auch wenn sie den Angeklagten erst im Gerichtssaal kennen lernten, kaum jemab dem Interesse des Miethers widerspricht, ist wohl nicht mir nur oft aufgefsdlen. Der Arme muß sich an den zuständigen Gerichtsarzt halten, der sich selten als einen wehleidigen Helfer erweist; fiir den Wohlhabenden zeugt die »Autorität«. Nur ein plumper Sinn wird solche Aerzte greifbarer Bestechlichkeit zeihen. Das hohe Honorar (bis
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tu fisnihunclert Mark für den Tag liat mans, bei funfi» wöchiger Dauer der Hauptverhandlung» in Berlin schon ge^ bracht), das sie über den Zeitverlust hinaus entschädigt» und die wirksame Reklame durch die täglichen Prozeßberichte ermöglicht ihnen und verpflichtet sie» dieser einen Au%abe sich ganz hinzugeben. Sie sehen ein Handeln» das unbe^ greiflich wäre, wenn es nicht durch normwidriges Empfing den oder durch krankhafte Störungen des psychischen Gleiche gewichtes erklärt werden könnte: und ihrem Scharfsinn, ihrer emsigen Spürkunst gelingt oft, solche Erklärung glaubhaft zu machen. Ein Beispiel soll andeuten, was hier gemeint ist. Eine junge Dienstmagd, die nie vermählt war, aber ein Kind hat und mit zwei kräftigen Burschen in Geschlechtsverkehr steht, erregt dadurch Aergemiß, daß sie sich vor kleinen Schulknaben auf oflFenem Feld schamlos entblößt und sie mit zotiger Rede zu unzüchtigem Thun auffordert. Sie wird an^ geklagt und, da der Gerichtsarzt keinen Geistesdefekt an ihr findet, ins Gefangniß geschickt. Trotzdem ihr Handeln, als ein nicht etwa von Geschlechtshunger bewirktes, aus ge# sundem Triebleben nicht zu erklären war. Eine Dame hätte, durch das Gutachten namhafter Psychiater, dem Gericht die Ueberzeugung verschafft, daß hier, bei einer so reichlich Ge# stillten, nur von psychogener Neurose die Rede sein könne. Und doch wären schwächliche Luxuskinder durch die scham# lose Exhibition schlimmer geschädigt worden als dralle Dor£> bengel, die der Magd ins Gesicht lachten. Das Gassenvor^ urtheil, das in ^em Sachverständigen den zu jedem Dienst
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bereiten Retter des reichen Angeklagten sieht, wird durch die Thatsache genährt, daß man gegen den Reichen schüdu temer, vorsichtiger, langsamer prozedirt als gegen den Armen und daß schon die Dauer und Art solcher Verhandlimg dem beobachtenden Arzt viel weiter reichende Erkenntnißmöglich^ keiten giebt als der kurze, schroflF geführte Alltagsprozeß. Herrschaft des Arztes, den nur der Reiche bezahlen kann: dabei zerbröckelt die Grundmauer der Kriminalsoziologie und die StraQustiz geräth vor dem Massenohr in Verruf.
Auch in Allenstein haben die Aerzte souverain geherrscht, lieber Lebende und Tote. Festgestellt, ob und wann Goeben geistig krank und unzurechnungfiihig war und wann die Hysterie (oder Hysteroepilepsie) der Angeklagten sich in eine die freie Willensbestimmung ausschließende Psychose ge^ \b wandelt hat. »Festgestellt«: obwohl gerade dieser Prozeß lehren mußte, wie oft auch ein glaubig bestauntes Sach# verstandniß auf schwanken Moorgrund baut. Ist Hysterie die Folge eines angeborenen und imveränderlichen Seelen^ zustandes, dann befreit sie nicht von der Strafe; ist sie, in einer der Epilepsie ähnlichen Form, durch eine schnell oder langsam vorschreitende Erkrankung der Hirnrinde bewirkt, dann sichert sie Straflosigkeit. Wer löst den Zweifel mit un^ fehlbarem Spruch? Frau von Schoenebeck ist, von einzelnen Aerzten und von Kollegien, für irr erklärt, in den Bereich absoluter Willensfreiheit zurückgerufen und wieder zu den geistig Kranken gewiesen worden. Wer schafft uns die Ge^ wißheit, daß die Leiden, von denen sie wählend der Haupte
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Verhandlung gepeinigt schien (Dutzende von Ohnmächten, Schreikrämpfe, Fieberpuls, Anaesthesie), nicht von dem zähen Willen der hysterica, durch die Kraft ihrer Vorstellungen, erwirkt waren? Was Charcot, über den »großen An&ll«, Janet und Moebius über die Unempfindlichkeit der Hyster^ ischen gesagt haben, schien völlig vergessen; nur die Frage nach der Möglichkeit einer Simulation wurde von imermüd# lichem Eifer gestellt und, von neidenswerthem Selbstvertrauen, immer wieder verneint. Schrenck^Notzing sagt: »Die Hy^ sterische beherrscht das Repertoire der willkürlich hervor» gerufenen AnfiUle und Ohnmächten vollkommen.» Kraepelin erzählt von Hysterischen, die Chylurie und Abszesse vor» täuschten, sich heimlich verwundeten und die Wunden, so lange es ihnen nöthig schien, durch die Einfuhrung von Draht» und Streichholzstückchen offen hielten. Delbrück be» richtet über einen noch lehrreicheren Fall. Eine Frau wird, nach achtjähriger Verbrecherlaufbahn, die nie auch nur den Gedanken an eine Geisteskrankheit aufkommen ließ, von sämmtlichen berliner Gerichtsärzten, Psychiatern, Chariti» ärzten, auch von den Aerzten in Dalldorf, Moabit, Hildes» heim fiir gemeingefährlich geisteskrank erklärt und ins Irren» haus gesperrt. Fünf Jahre lang gilt sie Allen als unzu» rechnungfiihig. Da lehnt der zuständige Amtsrichter den Antrag ab, der die Entmündigung fordert, und die Staats» anwaltschaft erhebt die Anklage wegen widerrechtlicher Freiheitberaubimg. Nun wird die Frau in Hamburg, Göt» tingen, Berlin für zurechnungfahig erklärt und dem Straf»
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richter zugeführt. Spater wird sie, in der Charit^» noch eini> mal beobachtet; das Urtheil lautet: Unheilbare Psychose. Die Gerichtsarzte widersprechen; und die Frau wird wieder ins Untersuchungsgefiingnis geholt. Hatte sie Krämpfe, Dei> lirien, Gedächtnißschwäche etwa simtdirt ? Daß Hysterische solche Erscheinungen, auch Neuralgien, Blutungen, Ge« schwüre, Fiebertemperatur, nach Willkür erwirken können, ist seit den Dienstagsdemonstrationen der Salpltrüre imbe^ streitbare Gewißheit Vor den allensteiner Geschworenen stand eine Hysterische, deren erste Triebhandlung nach Goebens That war, den Glauben an ihre »Verrücktheit« überall zu verbreiten; die dann, ehe die Leiber der beiden durch ihre Schuld getöteten Männer noch völlig entfleischt waren, sich einem zweiten Gatten vermählte imd in den Tagen unangefochtener Freiheit recht lustig lebte; die, als ihre Hoffiiung auf einen Freispruch sank, von Tag zu Tag kränker wurde; vor keiner Ge£üir so angstvoll zu beben schien wie vor der einer Irrseinserklärung und alle ihr Nahen beschwor, sie nur nicht in die Provinzialirrenanstalt Kortau zu bringen, die sie an den hellen Zwischentagen doch frei* willig aufgesucht hatte, also nicht wie die Hölle mied; die endlich, vor dem Schlußvortrag des Anklägers, mit einem Messerchen an ihrer Pulsader herumkratzte und dann einen ihr befreundeten Herrn herbeirief, um sich die für den Selbst* mord geeignete Stelle zeigen zu lassen; in einem Hotel* Zimmer, wo sie sich henken, aus dem Fenster stürzen, aus einer mit dem Federmesser, der Hutnadel, der Nagelscheere
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geöffiieten Ader verbluten konnte. Das Unisono der Sach^ verständigen mußte den Laien verblüffen. »Und wenn Ihr Euch nur selbst vertraut, vertrauen Euch die anderen Seelen.« Des Geist der Medizin ist auch heute noch leicht zu fassen. Die Liste der in diesem Prozeß gemachten Fehler würde Bande füllen. Daß er gefuhrt wurde» war der erste; der schlimmste. Die Staatsanwaltschaft wollte das Ver£diren gegen Frau von Schoenebeck, auch als das Kollegialgutachten der Angeschuldigten die Willensfreiheit zugesprochen hatte, zum zweiten Mal einstellen: weil es ihr rechtlich unhaltbar schien. Anstiftung zum Mord? Daß Goeben gemordet, die vorbedachte That wirklich gethan, nicht auf den Plan des zeugenlosen Duells zurückgegriffen, nicht, im Affekt, ganz anders, als er wollte, gehandelt hatte, war nicht erwiesen; war, nach dem Tode der beiden einzigen Thatzeugen, nie^ mals bündig zu erweisen. (Goeben hat sich zur Tötung bekannt, den Mord aber hitzig geleugnet.) Anstiftung zum Totschlag? Das Delikt des Totschlages schließt die Ueber^ legung aus; das der Anstiftung bedingt die Absicht auf eine deutlich bestimmte strafbare Handlung. Wer kann heute be# weisen, daß Goeben gerade die konkrete That gethan hat, zu der ihn die Frau angestiftet hatte? Ist eine Anstiftung ohne Ueberlegung denkbar? Anstiftung mit unbestimmtem Dolus? Darf man einen Fall konstruiren, in dem der An^ Stifter mit Ueberlegung, der Thater ohne Ueberlegung ge^ handelt hätte? Auch die Beihilfe zum Totschlag ist, dreißig Monate nach der That, ohne Zeugen schwer zu erweisen.
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Bleibt Paragraph 139: Wer seine glaubhafte Kenntniß von dem Vorhaben eines gemeingefährlichen Verbrechens nicht zur rechten Zeit der Behörde oder der bedrohten Person mittheilt, wird, wenn das Verbrechen oder ein strafbarer Versuch dazu ausgeführt worden ist, mit Gefängnis bestraft. Glaubhafte Kenntniß? Die Angeklagte würde betheuem, sie sei überzeugt gewesen, daß ihr Liebster mit Mordgedanken und Totschlagsplan nur spiele. Und immer nur der tote Hauptmann als Zeuge. Darum den eklen Skandal heraufbe^ schwören? Jede kriminalpolitische Erwägung verbot den Prozeß. Doch im Landtag und in der Presse entstand ein Stürmchen. Und flink mußte nun das Schwert der Themis wieder aus der Scheide. Der Justizminister nahm die Gefahr auf seine Kappe. Der Staatsanwalt mußte dem Befehl ge^ horchen; blieb aber, weil er die Anklagebegründung selbst zu dünn £md, in der Hauptverhandlung fist völlig passiv. In diesem ganzen Handel erscheint dieser Erste Staatsanwalt Schweitzer als der Klügste; als der Einzige, der nie tun nüchterne Ruhe und richtiges Augenmaß kam. Er hatte die Weisung, die Wiedereröffiiung des Ver£üirens zu beantragen, aber für die Wahrung der heiligsten Güter zu sorgen. »Ver» handeln; doch nichts politisch Aergerliches durchsickern lassen.« Zweiter Fehler; ein unverzeihlicher. Zum ersten Mal blieb eine der Anschuldigung zum Mord Angeklagte, also mit Todesstrafe Bedrohte, auf freiem Fuß ; wurde, trotz einem Vorleben, dessen Anblick (nach der Darstellimg der Anklager) die Weiber der Justinian und Klaudius, die Steine
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heil und die Tamawskaja in die Glorie keuscher Heiligen erhöht, mit galantester Schonung behandelt. Damit sie hübsch artig bleibe. Der Volksaberglaube, der wähnt, in Allenstein sei Fürchterliches »vertuscht« worden, ist thöricht; entstammt aber dem unausrodbaren Gefühl, daß an der Alle in aller Stille paktirt worden war. »Wir wollen keine Namen nen^ nenl« »Hat der Herr Vertheidiger vergessen, daß alle Proi> zeßbetheiligten übereingekommen waren, dieses zeugenlose Duell Goebens als nicht geschehen zu betrachten?« »Wir wollen doch nicht noch mehr Existenzen vernichten!« Das geht nicht Jeder Deutsche, der weiß, welche Summe von Tüchtigkeit, Intelligenz und Ehrenpflichtbewußtsein im Heer seines Vaterlandes vereint ist, will dieses Heer vor Schimpf und Makel bewahrt sehen. Jeder hatte die 0£Bziere, die durch die Entschleierung ihres Geschlechtsverkehrs mit der Majorsfrau zum Abschied von der Armee gezwungen worden wären, aufrichtig bedauert Jeder freut sich, daß ihnen, die schließlich nur ein bequem erreichbares Buhlglück nicht verschmäht haben, dieses Schicksal erspart worden ist. Aber Strafprozesse darf man so nicht fuhren. In Stra£> Prozessen darf man die Hoffnung nicht an die Diskretion der Angeklagten klammem. Muß jedes Mittel angewandt werden, das den Weg ins Herz der Wahrheit zu weisen ver» heißt; auch wenn es »Existenzen« bedroht Die Taktik der Vertheidiger konnte in Allenstein nur danach trachten, die Glaubwürdigkeit Goebens, des einzigen gefiihrlichen Be* lastungzeugen, zu erschüttern, bis ins Fundament zu zer^
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stören. Diesen Versuch mußten die Ankläger mit wuchtigem Stoß abwehren. Wenn sie erwiesen» daß Frau von Schoene^ beck auch anderen Bettgenossen von ihrer Ehequal vorge^ jammert, ihren Gustav als ein rohes Scheusal geschildert, die Ueberzeugung vorgetauscht hatte, daß ihr nur die Wahl zwischen gewaltsamer Sprengung der Ehefessel und Selbste mord bleibe, dann war Goebens Glaubwürdigkeit im Haupte punkt unantastbar. Fünf Dutzend Zeugen waren zu haben; sechs vielleicht. Nicht einer wurde geladen. »Wir wollen doch nicht noch mehr Existenzen vernichten I« Und wenn die Geschworenen nach dem Vertheidigeransturm noch den Artilleristen fiir glaubwürdig hielten und, in dem bestimmten Gefiihl, daß die Frau an der That des Hauptmannes mit^ schuldig sei, auch ohne zwingenden Beweis auf die erste Schuldfrage eine Antwort gaben, der ein Todesurtheil folgen mußte? Nein: so darf man Strafprozesse nicht fuhren. Die^ sen Prozeß verbot juristische imd kriminalpolitische Er^ wägung. Wurde er dennoch gefiihrt, dann durfte ihn nur das Streben leiten, muthig die Wahrheit zu finden.
Im Urtheil über den Vorsitzenden, der die Beweisaufnahme Tage lang ins Unerweisbare verschleppte, sich in Kriegs^ erinnerungen sonnte und vor seinem »hohen Vorgesetzten« (Richtern von Unabhängigkeitbewußtsein drehte sich der Magen um) die Objektivität seiner Prozeßordnung pries, stimmen alle Sachverständigen überein. Von der Mitschuld an dem angerichteten Schaden kommt dieser Geheime Justiz^ rath, bei all seinem redlichen Eifer, nicht los. Sein Name
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sei vergessen . . . Aber ist ein »großer« Prozeß denn in Preußen überhaupt nicht mehr möglich ? Unsummen werden (Eulenburg, Werftprozeß, Allenstein) nutzlos verthan; täg^ lieh auch, durch kurzsichtige Terminsansetzung, an unnöthige Zeugengebühren vergeudet. Und an den Tagen der Haupte aktionen siehts aus, als werde nur noch fiir die Oeffentliche Meinimg judizirt. Die muß »aufgeklärt« und vor »Mi& Verständnissen« behütet werden. Mit dem geräuschvollsten Eifer da, wo ihr Instinkt verstanden hat, daß ihr jede Mög# lichkeit des Verständnisses gesperrt werden soll.
Vor den ostpreußischen Geschworenen stand eine der An^ Stiftung zum Mord Beschuldigte, Paragraph 48 des Reichs^ Strafgesetzbuches sagt: »Als Anstifter wird bestraft, wer einen Anderen zu der von Diesem begangenen strafbaren Handlung durch Geschenke oder Versprechen, durch Droh^ ung, durch Mißbrauch des Ansehens oder der Gewalt, durch absichtliche Herbeifiihrung oder Beförderung eines Irrthums oder durch andere Mittel vorsätzlich bestimmt hat. Die Strafe des Anstifters ist nach demjenigen Gesetz festzusetzen, welches auf die Handlung, zu welcher er wissentlich ange^ stiftet hat, Anwendung hat.« Frau von Schoenebeck mußte also zum Tod verurtheilt werden, wenn ihr die Anstiftung zum Mord nachgewiesen ward. Konnte sie ihr aber nachgewiesen werden? Ist solcher Nachweis, so bündig und lückenlos, wie strenger Rechtssinn ihn fordert, je denkbar, so lange der Anstifter dem Theilnehmer gleichgestellt, sein Thun nicht
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als selbständige V^enshandlung gewogen wird? Goeben hat die Ueberlegung geleugnet; sich nur der Tötung schuldig bekannt. Die Ueberlegung, sagt Karl Binding, der feinste und tapferste Kopf im Reich deutscher Strafrechtslehre, »be^ zieht sich nicht wesentlich auf die Mittel zur Tötung (die berechnet auch der Totschlager oft mit großer Genauigkeit), sondern auf das Gewicht der Abhaltungsgründe. Sie werden erkannt, gewogen imd zu leicht befunden. Dies setzt die Fähigkeit ungetrübter Verstandesfunktionen voraus, deshalb die Abwesenheit (zwar nicht jeder Gemüthsbewegung, aber) jeder Erregung, deren Heftigkeit die Fähigkeit und Ab^ wägung beeinträchtigt« Im Zustand solcher geistigen Be^ schaflFenheit war Hugo von Goeben gewiß nicht, als er in das Haus des Majors schlich; selbst wenn er, nach der An^ nähme des einzigen namhaften Psychiaters, der ihn untere sucht hat, nicht durch Geisteszerrüttung des freien Willens beraubt war. In einer Hauptverhandlung konnte er betonen, daß Wesentliches anders gewesen war, als ers erwartet hatte. Die Fenster, die er oflfen glaubte, waren geschlossen und der Major trat ihm wach und bewaffnet entgegen. Da war der Nachweis der Ueberlegung kaum denkbar. Ob er auch den Willen zum Mord in sein Bewußtsein aufgenommen hatte? Manche Jury hätte es dem Mann zugetraut, der seinem Lieb^ chen fiir das Mahl des Majors Gift verschafft hatte und nachts, nach viermaliger Umkehr, im Bürgerrock und mit einer Mensurpistole ins Schlafzimmer Schoenebecks geklettert war, dem er die Ehefrau, die Mutter zweier diesem Gustav
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geborenen Kinder, abtrotzen wollte. Immerhin blieben Zweifel möglich. Und der Versuch, jetzt noch, sechsimdzwanzig Monate nach Goebens Tod, zu erweisen, daß er mit lieber^ legung gehandelt habe, zeugt von betrübender Thorheit Die hätte sich nicht ins Unerweisbare vorgewagt, wenn Theorie und Praxis die Anstiftung als selbständiges Delikt (das des intellektuellen Thatbewirkers) gelten ließen. Dann hätte der Richter nur das Thim der Angeklagten zu prüfen gehabt, nicht das Eines, der irdischer Gerichtsbarkeit längst entzogen imd von dessen Schuldum£mg das Schicksal der überlebenden Frau doch abhängig war; dann konnte man einen Fall konstruiren, in dem der Anstifter mit Ueberlegung, der Thäter, im Drang überraschender Umstände, ohne Ueberlegung gehandelt hatte. Jetzt? Die conviction intime der Geschwo^ renen ist an keine Paragraphenvorschrift geknotet; ihr Spruch ist, nach der evangelischen Lehre, Ja oder Nein und braucht nicht begründet zu werden. Ein nur auf das Sentit ment gestütztes Urtheil hätte aber nicht viele Ernste befriedigt. Ein Freispruch gar das hitzige Volksempfinden in Empörung getrieben. Weil die im höchsten Grad wahrscheinliche Schuld nicht haarscharf nachzuweisen war, sollte die Frau straflos bleiben, ohne deren Mitwissen. Mitschuld Goebens That un^ denkbar blieb und die der Beschuldigte nach der ersten Vernehmung sofort von Umfang und Einzelheiten seiner Aussage imterrichtet hatte? In jedem wegen des Deliktes der Anstiftung eröffiieten Verfahren kann der allensteiner Fall sich wiederholen; auch da, wo neben dem Anstifter
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der Tliater auf der Sünderbank sitzt. Intellektualurheber^ Schaft ist nicht mehr so selten wie in der Zeit derberen Fiihlens; Mancher, der selbst die Hemmung nicht zu über^ winden vermag, sucht und findet ein zur That taugliches Werkzeug. Justizbehörden und Reichstag dürfen sich an dem achtundvierzigsten Paragraphen nicht scheu vorüber^ drücken, wenn sie ein neues Stra%esetzbuch vorbereiten.
Ihre beste Leistung wäre die Erlösung von dem Akten^ alben, der unserem Gerichtswesen Luft und Athem raubt. Mündliches Verfahren: heißt die Losung; doch dem münd# liehen geht das schriftliche, dem öflFentlichen das geheime Verfahren voran. Und ehe der Richter zur ersten Frage den Mund aufthut, hat er einen Aktenberg erklettert, Protokole und Schriftsätze verschluckt und »sich eine Meinung über die Sache gebildet«. Wer je genöthigt war, seinen Namen unter ein Gerichtsprotokol zu setzen, vergißts nicht so bald. Seine Aussage mag noch so einfich, mag völlig negativ sein: auf eine beträchtliche Zeitspanne muß er sich gefaßt machen. Was er in lebendiger Rede rasch vorbringt, wird in den alt^ fränkischen Pomp der Gerichtssprache gekleidet. »Derselbe«; »Letzterer«; »einerseits«, »andererseits«: ohne solche abgei> griflFene Spielmarken gehts selten; auch darf die Inversion nach »und« ja nicht fehlen. »Beklagter erklärte sich bereit, dem Kläger den Betrag zu zahlen, und schien Letzterer nicht die Absicht zu haben, denselben zu übervortheilen.« Das Proton kol muß alles Erdenkliche »berücksichtigen«; sonst wird es dem Amtsrichter oder Assessor zur Ergänzung zurückge^
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geben und die Schererei hat kein Ende. Ausnahmen kommen vor (das junge Richtergeschlecht sucht sich aus dem Wust zu heben); meist aber kostet das Mühen, die wohlüberlegte Nuance der Aussage aufs gelbe Aktenpapier zu bringen, einen harten Kampf. Und in neun von zehn Fällen bleibt der Vernehmende Sieger. Er meints so gut, quält sich so redlich, die Laienrede in sein geliebtes Juristendeutsch zu übertragen, und kennt schließlich den Zweck der Untere suchung am Besten. Soll man dem Geplagten, vor dessen Thür ein Bäckerdutzend Beschuldigter oder Zeugnißpflich^ tiger wartet, das Amtsleben noch mehr bittem? Man läßts laufen, unterschreibt: und ist fiir Zeit und Ewigkeit fest# gelegt. Weh Jedem, der in der Hauptverhandlung um eines Haares Breite von der protokolirten Aussage abweicht 1 Der Präsident hat die Akten vorm Auge, vergleicht und findet in der winzigsten Abbiegung Grund zu ernstem Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Zeugen. Der ist von dem Bewußtsein, »mit dem Gencht zu thim zu haben«, arg eingeschüchtert; wagt vielleicht in Demuth aber die Antwort, seit den Tagen der Voruntersuchung habe er Allerlei erfahren, das ihm die Dinge, die Menschen in etwas anderem Licht zeigen mußte. »Ja, wenn Sie so wetterwendig sindl Dann können Sie über^ morgen ja wieder eine andere Meinung haben I Hier haben Sie über Thatsachen auszusagen; welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, werden wir schon allein wissen. Unbestimmte Aussagen sind nicht zu brauchen. Ich muß Sie dringend err mahnen, tmter Ihrem Eid hier bei der Wahrheit zu bleiben.«
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Manchem ist aufgefallen, daß in Allenstein die Aussage ein# zelner Offiziere wie eine Verherrlichung Goebens klang. Sind wir in unserem Heer so weit, daß ein Mann, der mit der Frau eines Kameraden und Gastfreundes in Geschlechtsverkehr stand, diesen Kameraden ein Jahr lang schmählich betrogen und dann tückisch, nach einem Einbruch ins verschlossene Haus, getötet hat, von preußischen Offizieren wie das Ideal eines Mannes gei> priesen werden kann? So wurde gefragt; und vergessen, daß diese Offiziere schon im ersten Quartal des Jahres 1908 ver# nonunen worden waren. Damals wußten sie nur, daß ein stiller, tüchtiger, beliebter Kamerad durch ein schlimmes Weib um Ehre und Leben gekommen war; sie glaubten, daß ihn nicht Mord^ absieht, sondern der tolle Drang nach einem ungestörten und zeugenlosen Duell ins Majorshaus getrieben habe ; und das Mit^ leid mit dem Unglücklichen mußte ihr Urtheil über Goebens Charakter fiirben. An diese Aussage waren sie fortan gekettet; wenn der bürgerliche Richter ihnen »Widersprüche« vorhielt, hatten sie morgen einen Fettfleck in der Conduite. Vielleicht hatten sie auf eine dienstliche Frage auch einmal geantwortet, ihnen sei von unziemlichem Verkehr Goebens mit Frau von Schoenebeck nichts bekannt (haltbare Beweise sind in solchem Fall nicht leicht zu erlangen und zwei Duellen setzt der Tapferste sich nur aus, wenns nicht anders geht) : dann waren sie zwiefach gebunden. Nur solche Umstände könnten er^ klären, daß fast alle Zeugen behaupteten, von dem Treiben fler Majorsfrau nichts gewußt zu haben. In einem Grenze nest, wo die Garnison ein ummauertes Städtchen bildet, hat
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Keiner gemerkt, daß die Frau des Majors vom Stabe mit dem Taschentuch ihren Buhlen Fensterflaggensignale gab, im Schlafzimmer ihnen Mahlzeiten servirte, mit ihnen in Königs^ berg und in Haffbädem zusammenwohnte, an der AUe in Kattunkleid und Kopftuch schwüle Abenteuer suchte. In Berlin hatte die Christgeschenkeinkäuferin vor einzelnen Zufalls^ geführten sogar die Namensmaske gelüftet. In Allenstein: keine Ahnung. Das sind unvermeidliche Folgen des Vor^ Untersuchungsystems. Muß es so bleiben? Müssen unsere Richter unter der Schreiblast, der Lesepflicht erlahmen, die Zeugen an den Rahmen des Gedächtnißbildes genagelt wer# den, das freilich frisch ist, oft aber nur die Mängel des allzu flüchtig hinwischenden Impressionismus erkennen läßt? Warum bleibt der Papierstoß, der um kein entbehrliches Wörtchen und Blättchen zu mehren, in den nur der knappste Verhörseindruck des Untersuchungrichters aufzunehmen wäre, nicht im Bereich der Staatsanwaltschaft und wird von ihr nur der Kammer vorgelegt, die das Hauptverfahren zu er^ offnen hat? Dann wäre der Vorsitzende und der Referent in der Hauptverhandlung unbefangen; könnte jeder Zeuge bei von der Leber reden; stünde die Rechtsgarantie des mündlichen Verfahrens nicht nur im Buch der Gerichtsord^ nung; hätten wir kürzere Prozesse und Richter, die nicht unter der Schreibfron welk, unter dem steten Gewirbel grauen Aktenstaubes mürrisch geworden sind. Heute? »Das ist ja ganz neul« Wie zorniges Staunen kams von der Lippe des allensteiner Schwurgerichtspräsidenten, wenn etwas noch nicht
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^Aktenkundiges« vorgebracht wurde. Ganz Neues in die Hauptverhandlung tragen: unerhört. Da droht dem müh^ sam gebildeten Vorurtheil ja Gefahr. Daß er versuchen müsse, just er, an jedem Gerichtstag Alles wie ein ganz Neues zu sehen, hatte der biedere Geheimrath nicht begriffen. Dieser Vorsitzende ähnelte nicht dem ersten Kaiser Ferdit« dinand, von dem Julius Wilhelm Zincgref in seinen »Apoph^ thegmata« erzählt hat: »Es wäre jhm diese Red sehr gemein: Dz Recht muß sein gang haben, und solt die Welt drüber zu grund gehen 1« Der allensteiner Allmächtige wollte, in löblicher Menschenliebe, »nicht noch mehr Existenzen ver# nichten«; wollte, als guter Bürger, »die Oeffentlichkeit au& klären und vor Mißverständniß bewahren«. Er verlas und erörterte Schmähbriefe, die er empfangen hatte. Ließ sich täglich langwierige Vorträge über den Gesundheitzustand und die Nachterlebnisse der Angeklagten (deren Hotels Zimmer er auch selbst für unzulänglich erklärte) halten, statt solche Expektorationen mit der Frage abzuschneiden, ob die Frau verhandlung£ihig sei oder nicht. Erlaubte StabsofiS« zieren Vorträge und Glaubensbekenntnisse, die mit dem Frozeßstoff zwar nichts zu thun hatten, nach seiner Meinung aber »aus warmem Herzen kamen«. Gewährte, trotz dem Ausschluß der Oeffentlichkeit, einem Petenten Einlaß, weil ihm »der Wunsch, so berühmte Vertheidiger zu hören, hc^ greiflich« sei. Verschwieg nicht geizend, was er im Fran^ zosenkrieg erlebt und an Kopfschußwunden beobachtet habe. Heischte mit Wort und Wink Anerkennung seiner Objekt
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tivität (die sich, wie alles Moralische, von selbst verstehen müßte). Und schien keine höhere Pflicht zu kennen als die, der Nation und allem auf der Erdfeste Kribbelnden zu kün^ den, warum er Dies thue und Das unterlasse. Unser Gt^ richtssystem bürdet dem Vorsitzenden eine Last auf, die der stärkste Mann nicht lange zu tragen vermag. Völliger Zu# sammenbruch könnte immerhin aber vermieden werden. Daß ein Richter von dem Mann, dessen Mordplan die Voraus^ Setzung der Anklage und des Hauptverfahrens war, der den Kameraden und Vorgesetzten heuchelnd betrogen und von der erstrebten Ehe offenbar auch Vermögenszuwachs gehofft hatte. Tage lang wie von dem hehrsten der Artushelden sprach, war am Ende nicht nöthig. (Tage lang; allmählich verdüsterte sich auf dem Goebenbildniß der Grundton so, daß selbst des Schwärmers frommer Glaube von Skepsis an^ genagt ward. Glauben und Taktik haben in diesem Prozeß ja auch die Vertheidiger gewechselt: ihre Mandantin, deren Wahrhaftigkeit in den ersten Wochen das Nothlügengespinnst des Hauptmannes zerfetzen sollte, als eine seit Jahren geistig Schwerkranke zärtlich ins Irrenasyl befördert. Nur der Ankläger hat in allen Phasen die nüchterne Ruhe und das richtige Augenmaß bewahrt.) Um die Oeffentlichkeit, der, mit seiner Zustimmung, der Saal gesperrt, deren punkte liehe Belehrung durch Reporterkunst aber gesichert war, hatte der Präsident sich nicht eine Minute lang zu kümmern; und die Bekämpfung des Mißverstandes anderen Instanzen zu überlassen. Seine Pflicht war nur, die Wahrheit zu suchen.
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Die konnte nicht durch den Nachweis gefunden werden, daß Goeben in den Erzählungen aus seiner Kriegszeit ein Bischen geflunkert habe (Das thut mancher Soldat, der im Wesent^ liehen dennoch wahrhaftig ist); noch gar durch die Weisung, im Juni 1910 Kleider und Strümpfe zu untersuchen, die der Hauptmann im Dezember 1907 getragen hat. An Theaterein^ drücke wird der Betrachter in jedem Schwurgerichtssaal er^ innert. Alle an dem Prozeß Mitwirkenden spielen ein Stück, das der Präsident für den Tag der Aufführung (Hauptverhand^ lung) mit ungeschmälertem Regierecht vorbereitet hat; und miihen sich, es so zu spielen, die Effekte so anzubringen, daß ihr zwölfköpfiges Publikum zufrieden ist. Das nur hat ja zu entscheiden; ohne Begründung: wie vor dem Schaugerüst die größere Schaar. »Wir sind hier nicht im Theater 1« So ruft, rief oft schon ein wüthender Schwurgerichtspräsident; und verbietet streng die Verwendung von Operngläsern. Warum? Aus solchen Gläsern, deren Zufallsname längst nicht mehr den Gebrauchszweck begrenzt, blickt man auf einziehende Fürsten, Thronredner, manöverirende Truppen und Schiffe, Priester und Flieger, Minister und Generale, Rennpferde und Schwätzer. Und gerade dem ernsten Psychologen ists wichtig, die Affektspiegelung auf der Antlitzfläche des Beschuldigten zu sehen. Wir sind im Theater; das ja nicht immer unemste Aufgaben zu bewältigen hat. Möchten gerade hier aber nicht merken, daß der Regisseur eitel nach Beifall lechzt und sich in seinem Wahn fiir den Nabel des Weltalls hält.
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Kein König ist, kein Kaiser noch in Europa heute so mächtig wie der Richter in seinem Bereich. (Auch im Schwur^ gerichtssaal. Wer weiß denn, ob die zwölf Ostpreußen an Psychose und Selbstmordabsicht glaubten oder entschlossen waren, die Schuldfrage zu bejahen? Ehe ihr Stichwort fiel, war ihrer Willenssphäre die Angeklagte entrückt; und sie durften die Ueberzeugung, daß diese Frau, mit und ohne Gutachterschein, gemeingefährlich sei, nicht zu lautem Aus# druck bringen.) Da Ihr den Richter gottähnlich wollt, als souverainen Herrn über Ehre, Freiheit, Leben seiner Mit^ bürger: beugt ihn niemals unter die Tyrannis der von WohLt habenden gemietheten Aerzte; und gewährt ihm den Rang und den Sold, der an solche Amtshöhe heranreicht. Das muß auch in armen Staaten möglich sein. Wenn der preu^ ßische Finanzminister den Haushaltsetat seines Justizkollegen sorgsam prüfte und die Anwaltkammer um ein ehrliches Gutachten bäte, würde er schnell erkennen, wie viel da zu sparen ist. An Schreiberlohn und durch kurzsichtige Ter# minsansetzung gehäufter Zeugengebühr. Laßt einmal nach^ rechnen, welche Versäumnißgelder während eines Jahres in Preußen an nicht vernommene Zeugen gezahlt werden. HörtI Vor einem detachirten Amtsgericht soll in einer Strafisache verhandelt werden. Dreißig Zeugen; zwanzig aus Berlin. Der Angeklagte lehnt den Amtsrichter »wegen Besorgniß der Befangenheit« ab. Ueber das Ablehnungsgesuch hat (§ 27' StPO) das Landgericht zu entscheiden. Dessen Sitz ist von dem Amtsgerichtsort durch eine halbe Eisenbahn^
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stunde getrennt; doch der nächste Zug geht erst mittags. Das würde zu spät. Telephonische Erledigung (das thöricht begründete Gesuch würde sicher rasch abgewiesen) ist nicht gestattet. Ein Automobil kommen und die Zeugen zwei Stunden warten lassen? Wer bürgt fiir die Erstattung der wider alle Norm hohen Fahrtkosten? Lieber zahlt man den Zeugen die Gebühr, schickt sie nach Haus und ruft sie in der nächsten Woche wieder ins Städtchen. Mindestens fun& hundert Mark sind verthan. Und solcher Fall ist nicht etwa selten. Fragt in Alt^Moabit die Gerichtsdiener, wie viele Zeugen täglich pro nihilo bestellt werden und Stunden lang dünstend die Korridorbänke drücken. Ein starker Finanz^ minister würde Richter und Staatsanwälte besser bezahlen und dennoch mit geringerem Aufwand auskommen.
Sparsucht und kriminalpolitische Klugheit müßten oft in den selben Willensstrom münden. Fast alle Skandalprozesse der letzten Jahrzehnte waren unnöthig; gerade die dem Reichsansehen und der Reichskasse schädlichsten. Leckert^ Lützow, Tausch, Forbach, Kwilecka, Hohenau, Eulenburg, Hammann, Kiel, Schoenebeck: Alles theuer und nutzlos; fünfmal Freisprechung; zweimal Einstellung, zweimal gelinde Strafen. Und darum Diplomatie, Offiziercorps, Hofgesell^ Schaft, Reichswerfitleiter, Polizei, Adel durch die Spießruthen^ gasse gejagt I So unklug ist die Nachbarschaft nicht. Die Wiener sind mit ihrem Hofrichter im Stillen fertig geworden; auf die Armee ist kein Makel gefallen, die Gerechtigkeit des Schuldspruches wird nirgends bezweifelt und die Thatsache,
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daß Oberlieutenants und junge Hauptleute gierig nach einem Apkrodisiakum griffen, hat kaum hörbare Heiterkeit erwirkt. Wir nur entgürten auf offenem Markte die Scham und zeigen die Flecke am Reichskörper, daß der Neid sich dran freue. Wars nöthig, dem Feind zu erzählen, daß unser Großer Generalstab Kriegsgeschichten herausgiebt, deren Darstellung sich auf unbeglaubigte Zeugnisse stützt? Daß er Zeugen traut, die, wie er leicht feststellen könnte, am Tag der Bürens Schlacht, über die sie aussagen, noch in Europa waren? Nöthig, die Gewißheit zu schaffen, daß auch im deutschen Heer unter Tausenden hier und da ein Offizier ist, der, weil er, mit leerem Beutel, feine Fleischwaare nicht kaufen kann, im Ehebruch sein Nothrecht sieht, sich vom Mann der brünstigen Liebsten abfüttern läßt und vor dem in seiner Geschlechtsehre gekränkten Kameraden Honneur macht? Unnöthig; und schädlich: wie dieser ganze Prozeß.
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MOLTKE WIDER HARDEN.
Graf Moltke, Adjutant des Kaisers und Stadtkommandant von Berlin, hatte, als er zur Einreichung seines Abschiedgesuches ge^ nöthigt worden war, gegen Harden, durch dessen in der »Zukunft« veröffentlichte Aufsätze er sich nun beleidigt fand, einen Straf« antrag gestellt. Oberstaatsanwalt Isenbiel wies den Antrag ab, weil kein öffentliches Interesse zur Verfolgung dränge. Im Privatklage* verfahren wurde Harden vom Schöffengericht freigesprochen. Dieses Verfahren dann aber, auf Antrag der Staatsanwaltschaft, eingestellt und noch im selben Herbst, wieder auf Antrag der Staatsanwaltschaft, vor der Vierten Strafkammer des Königlichen Landgerichtes I in Berlin, als Erster Instanz, ein neues Verfahren eröffnet; ein nach der Meinung der bekanntesten Strafrechtslehrer ungiltiges. Die Straf» kammer verurtheilte am dritten Januar 1908 Harden zu vier Monaten Gefangniß. Am dreiundzwanzigsten Mai 1908 wurde, auf Antrag des Oberreichsanwaltes, dieses Urtheil, wegen rechtlicher und prozessualer Unzulänglichkeit, vom Zweiten Strafsenat des Reichsgerichtes »in vollem Umfang und nebst den ihm zu Grunde liegenden Feststel« lungen« aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen.
Verhandlung vor der Vierten Strafkammer des Königlichen Land*
gerichtes I Berlin.
Vorsitzender Landgerichtsdirektor Lehmann: Wir können immer eintreten in die Verhandlung. Als Zeugen sind ge# laden Herr Graf Kuno von Moltke, Herr Graf Otto von Moltke, Herr Baron von Berger, Herr Graf Reventlow. Ich bitte die Zeugen, vorzutreten. Ich mache die Zeugen auf die Bedeutung des Eides aufmerksam. Sie werden eidlich ver^ nommen werden und Sie wissen ja, daß Sie nur die reine und volle Wahrheit zu sagen haben, da Sie vereidigt werden und es eine außerordentlich schwere Sünde wäre, wenn Sie irgendetwas sagten, was nicht mit der Wahrheit überein# stimmt. Ich bitte Sie dann, mit Ausnahme des Nebenklägers, der ja zugleich Zeuge ist, den Saal zu verlassen. Ich denke (Das wird ja nun schwer zu sagen sein), Sie werden heute noch vernommen werden. Die verantwortliche Vernehmung wird doch wohl, ich schätze, drei Stunden dauern und viel# leicht ginge es so zu machen, damit Sie nicht unnöthig hier auf dem Flur warten, daß Sie irgendwie per Telephon zu citiren sind? (Wird bejaht. Die Zeugen verlassen den Saal;
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auch der Nebenkläger will hinausgehen.) Wollen Sie nicht hierbleiben, Herr Graf?
Justizrath Sello (Vertreter des Grafen Moltke): Nein; mit Rücksicht auf seinen Gesundheitzustand. (Graf Moltke war sechs Tage vor der Hauptverhandlung von Berlin nach Meran gereist, hatte ein ärztliches Zeugnis eingereicht und war erst auf Wunsch des Gerichtshofes, der seine Anwesens heit forderte, zurückgekehrt.)
Lehmann: Dann würde ich Sie bitten, Ihre Telephone nummer draußen anzugeben. Gerichsdiener, die Akten sind nicht alle hier. Ich kann die Personalien ja aber auch ohne Akten feststellen. Sie heißen mit Vornamen?
Angeklagter Harden: Ich heiße Maximilian Felix Ernst, bin evangelisch, Schriftsteller, Verfasser der Artikel, fiir die ich die Verantwortung übernehme.
Vertheidiger Justizrath Max Bernstein: Ich bitte um das Wort vor Verlesung des Eröfihungbeschlusses.
Lehmann: Bitte sehrl
Bernstein: Meine verehrten Herren! Ich habe das Wort erbeten vor Verlesung des Eröfihungbeschlusses weil der Einwand der Unzuständigkeit des Gerichtes nach gesetzlicher Vorschrift vor dieser Verlesung vorgebracht werden muß und ich den Einwand der Unzuständigkeit des Gerichts und der Unzulässigkeit des Verfahrens hiermit formlich und aus^ drücklich erhoben haben will, mit dem daran geknüpften Antrag, wegen dieser Umstände das Ver&hren einzustellen. Die juristische Frage, von deren Beantwortung das Schicke
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sal dieses Antrages abhängt, ist so vielfach erörtert worden, daß ich glaube, mit den Einzelheiten dieser juristischen Dis^ kussion Ihre Zeit nicht in Anspruch nehmen zu sollen. Sie wissen eben so gut wie ich, daß der § 417 der Reichsstra& Prozeßordnung jetzt von den höchsten Gerichtshöfen Deutsche lands, von dem Reichsgericht in Leipzig, von dem Kammern gericht in Berlin, von dem Obersten Landesgericht in Mün« chen, anders ausgelegt wird, als er früher ausgelegt worden ist. Sie wissen eben so, daß die Theoretiker fast ausnahmen los diese jetzt geltende Deutung des § 417 billigen, die frühere mißbilligen. Nach der Auffassung des § 417, welche von den höchsten Gerichtshöfen und von der Theorie vertreten wird, ist ganz unbestreitbar das Ver&hren, in dem wir uns jetzt befinden, die Verhandlung, die jetzt begonnen hat, gesetzt widrig. Man darf, ohne Widerspruch furchten zu müssen, sa^ gen: Wenn die Anschauung, die jetzt als die allein richtige gilt und die allein richtige ist, die Anschauung, daß eine Ueberlei# tung des Privatklagever&hrens in das öffentliche Verfahren so, wie hier geschehen ist, unzulässig ist, früher gegolten hätte, so würde diese heutige Verhandlung nicht vor Ihnen, meine sehr geehrten Herren, stattfinden ; auch die frühere Verbands lung würde nicht vor Ihnen stattgefunden haben. Nun bin ich der Meinung, daß der Bürger ein Recht auf das gesetzt liehe Recht und der Richter eine Pflicht zum gesetzlichen Recht hat; ich bin der Meinung, daß es unmöglich den In^ tentionen eines sittlichen und vernünftigen Gesetzgebers ent# sprechen kann, daß Jemand (ich will mal den Fall, den ich
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allerdings hier fiir ausgeschlossen halte, einen Augenblick supponiren) verurtheilt wird auf Grund eines Verfahrens von dem die Richter selbst sich sagen müssen: Wir sind nur drin, weil wir hineingedrängt worden sind; das Ver- fahren hat keine gesetzliche Basis. Wenn bewiesen ist, daß der erste Schritt falsch war, so darf man den falschen Weg nicht zu Ende gehen mit der Motivirung : er ist nun einmal beschritten. Herr Harden hat einfach ein Recht, zu verlangen, daß hier nicht verhandelt werde auf Grund eines Verfahrens, über das alle Maßgebenden heute sagen: Es hätte nun und nimmer stattfinden dürfen. Ich gbube, daß der Richter, der in jedem Augenblick die Berechtigung seines richterlichen Handelns ganz selbständig zu prüfen hat, seine Mitwirkung an einem solchen Verfahren versagen und aussprechen muß : Da thue ich nicht mit. Mag der Fehler gemacht sein, von wem, wo und wann er will: einerlei; ich bin der Meinung, daß in einem Rechtsstaat ein solcher Fehler in dem selben Augenblick korrigirt werden muß, in dem er erkannt ist. Ich bin der lAcu nung, daß in einem Rechtsstaat nicht prozedirt werden darf mit dem Argument: Das haben wir nicht zu entscheiden ; wir sind nun mal in der Sache drin, wir haben das Garn nun zu Ende so abzuspinnen, wie es auf den Wocken gekommen ist. Das halte ich für falsch. Denn wenn dieser Grundsatz gilt, dann ist eigentlich für Jeden von uns Ehre und Freiheit, Vermox gen, vielleicht das Leben fortwährend gefährdet. Wenn es er^ kannte behördliche, beamtliche, richterliche Fehler giebt, die nicht mehr korrigirt werden können, dann kann man nicht
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in jedem Sinn sagen, daß wir in einem Rechtsstaat leben. In diesem einzelnen Fall zeigt sich die Folge des Unrechtes deutlich. Die Dinge, die im Lauf dieser Prozesse erörtert worden sind, jetzt noch einmal erörtert zu hören, hat Nie^ mand einen Wunsch, Niemand ein Interesse. Die Parteien haben eine Form gefunden, die Sache zu Ende zu bringen, eine Form, in der die Sache, ich glaube, auf eine durchaus angemessene Weise, erledigt worden ist. Dem Gericht liegt ein Schriftstück vor, das lautet:
Herr Harden wiederholt die in seiner Zeitschrift, vor dem Schöffengericht und vor dem Landgericht ab^ gegebene Erklärung, daß er in seiner Wochenschrift Seine Excellenz den Herrn Grafen Kuno Moltke nicht der Homosexualität beschuldigt hat. Seine Excellenz Generallieutenant z. D. Graf Moltke acceptirt diese Eu klärung. Beide Herren sind der Ueberzeugung, daß sich nach diesen Erklärungen jede Beweisau&ahme er^ übrigt.
Berlin, den neunzehnten März 1909.
Graf Kuno Moltke. Maximilian Harden.
Das ist der Königlichen Staatsanwaltschaft überreicht wor^
den in einem gleich&lls von den beiden Herren unterzeich^
neten Schriftstück vom zweiundzwanzigsten März, das lautet :
In der Strafsache gegen Harden beehren sich die
unterzeichneten Parteien die anliegende Erklärung in
der Anahme zu überreichen, daß dadurch eine Untere
läge fiir eine rasche und einfache Erledigung des Ver#
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fahrens gegeben ist, gegen dessen Einstellung sie nichts einzuwenden haben.
Die Prozeßparteien haben sich (wenn ich den Ausdruck auf diese Erklärungen anwenden darf) verglichen. Befanden wir uns in dem Verfahren, das allein dem Sinn des Gesetzes entspricht, befanden wir uns nicht vor der mit fünf Richtern besetzten Strafkammer, dann wäre damit die Sache erledigt Das Gesetz gewährt dem Beleidigten das Recht, den Beleih» diger zu verklagen, das Gesetz gewährt dem Beleidiger das Recht, sich gegen die Klage zu wehren, das Gesetz gewährt beiden Parteien das Recht, die Sache durch Vergleich zu beendigen. "Waren wir in dem gesetzlich allein zulässigen Verfahren, so würde aus diesem Vergleich ganz von selbst sich ergeben, daß, da die beiden Herren ausdrücklich er^ klären, jede Beweisaufnahme sei überflüssig, der jetzige Herr Nebenkläger den Strafantrag zurückziehen würde gemäß den von ihm und dem jetzigen Herrn Angeklagten ausgedrückten Intentionen. Um dieses Recht sind beide Parteien gebracht worden. Geht Das? Wenn man in dem Verfahren fortfiihrt, so heißt Das nichts Anderes als: Unrecht kann zu Recht verjähren. Das giebts nicht, meine verehrten Herren. Das Verfahren ist unzulässig, es ruht auf unzulässiger Basis ; und wenn Sie die billigenswerthe Ansicht der Praxis und der Theorie billigen, so bleibt nur noch die Einstellung des Verfahrens, die ich hiermit beantrage.
Oberstaatsanwalt Dr. Preuß: So sympathisch mir an und fiir sich, nachdem ein Vergleich zwischen dem Herrn Angea»
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klagten und dem Herrn Nebenkläger zu Stande gekommen ist, die Ausfuhrungen sind, die der Herr Rechtsanwalt gemacht hat, so sind sie doch nicht zwingender Natur. Ich kann sie nicht als berechtigt anerkennen. Zunächst muß davon ausgegangen werden, daß das Reichsgericht in seinem hier angeführten Ur^ theil ausdrücklich erklärt hat, daß der einmal hier beschlossene Weg, nachdem er begangen war, auch begangen werden durfte. Es hat ausdrücklich anerkannt, daß das Gericht zu^ ständig zur Urtheilsfallung war, und hat, von diesem Ge^ Sichtspunkt ausgehend, bei Aufhebung des Urtheils die Sache an die selbe Strafkammer zurückverwiesen. Durch diesen Umstand allein ist die Behauptung des Herrn Ver# theidigers des Angeklagten, daß der Weg der Urtheils^ fallung durch die jetzige Strafkammer ein gesetzwidriger wäre, als haltlos nachgewiesen. Im Gegentheil: das Gericht ist nunmehr durch die Bestimmung des § 398 StPO sogar gezwungen, ein Urtheil zu fällen und sich an die Rechts^ ausfuhrungen, welche das Reichsgericht gemacht hat, zu hal* ten. Verhandelt und entschieden muß von der hiesigen Strafe kammer werden. Die einzige Frage, ob davon abgesehen werden konnte, lag nach meiner Meinung nicht ganz zweifele los klar in dem Reichsgerichtsurtheil ausgesprochen, wenn es sagte, daß das alte Verfahren immer noch nicht definitiv entschieden sei, indem immer noch eine nicht befristete Be^ schwerde gegen den Einstellungbeschluß des Privatklagever» fahrens zulässig wäre. Aber auch aus diesem Umstände, meine Herren, glaube ich nicht, daß der Gerichtshof dazu
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kommen kann, den Beschluß über die EröflBiung des Haupt<> Verfahrens, über den hier zu entscheiden ist, etwa durch einen Einstellungbeschluß zu beseitigen, und zwar wiederum, weil ich den Ausführungen des Reichsgerichts in dem letzten Urtheil folge, wo es ausdrücklich ausfuhrt, daß eine derart tige Anfechtung vor Eröffiiung des Hauptver&hrens hätte stattfinden müssen, so daß also, auch selbst wenn jetzt nach^ träglich Beschwerde eingelegt werden sollte oder eingelegt worden wäre, thatsächlich nichts daran geändert worden wäre, daß die jetzige Strafkammer ein Urtheil zu i^en hat. Eine andere Frage ist ja (die bleibt ja stets offen), wie weit man auf die Vergleichsverhandlungen Rücksicht zu nehmen haben wird, erstens schon bei der Beweisaufnahme und dann vor allen Dingen nachher bei Abmessung der Strafe; und ich darf vielleicht auch hier gleich betonen, daß meiner Meinung nach von einer Beweisaufnahme vielleicht wird ganz abge# sehen werden können, falls der Herr Angeklagte und der Herr Nebenkläger uns ausreichende Erklärungen noch weitere hin über einzelne Punkte, die von \(lchtigkeit sein können, abgiebt. Ich würde jedenfalls einem solchen Antrag durchs aus sympathisch gegenüberstehen und würde den nach allen Richtungen hin befürworten.
Sello: Es läßt sich nicht verkennen, daß wir uns in einer (entschuldigen Sie, wenn ich mich populär ausdrücke) pro^ zessualen Zwickmühle befinden, wo ganz außerordentlich schwer sein wird, herauszukommen, in einer komplizirten Situation, die dadurch geschaffen ist, daß in dem Urtheil
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das Reichsgericht über die grundlegende Auslegung des § 417 seine bis dahin konstant festgehaltene Ansicht geän# dert hat und daß diese neue Auslegung des Reichsgerichts nach der schon von der Oberstaatsanwaltschaft angezogenen Bestimmung des § 398 StPO ftir die jetzt zu Gericht sitzende Strafkammer maßgebend ist. Nach dem Urtheil des Reichs^f gerichts muß nach meinem Dafürhalten unbedingt anerkannt werden, daß, theoretisch genommen, die Strafkammer zur Aburtheilung der Sache in diesem Verfahren nicht zuständig ist; theoretisch, sage ich. Nach meiner Ueberzeugung be# steht die Gefahr nach wie vor, daß das Reichsgericht das Urtheil der nach meiner Meinung nicht zuständigen Straf» kammer nicht wird bestehen lassen können und daß über dem gegenwärtigen Verfahren vom ersten Augenblick bis zum letzten das Damoklesschwert der Revision schwebt. Ich glaube, es ist erfolgreiche Revision nicht ausgeschlossen, und ich muß mich dem Argument des Herrn Justizraths Bernstein unbe^ dingt anschließen, daß es unmöglich Aufgabe des Richters sein kann, an einem gegen das klare Recht eingeleiteten Ver^ fsdiren mitzuwirken. Ich bin deshalb der Meinung, daß die vom Herrn Kollegen Bernstein angeregte Unzuständigkeit» frage der ernstesten Beachtung werth ist, und muß seine Ein# Wendungen unterstützen. Da kein Zweifel bestehen kann, daß bei richtiger, zutreffender Auslegung des § 417 die Straf» kammer als Erste Instanz zur Aburtheilung dieser Sache nicht berufen sein kann, wäre eine Fortsetzung des Verfahrens mit dem Keim einer unheilbaren Nichtigkeit behaftet.
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Harden: Ich bin nicht Jurist, aber ich bin das Objekt Dessen, was hier geschieht, und darum nehme ich das Recht in Anspruch, darüber zu sprechen. Das Privatklageverfahren ist durch einen gesetzwidrigen Beschluß eingestellt worden; es konnte überhaupt, nach dem Wortlaut der Strafprozeß^ Ordnung, nur durch ein Urtheil eingestellt werden, und es glebt keinen Gerichtshof, der sich über diesen Wortlaut hin# wegsetzen darf. Deshalb ist Alles, was danach kam, nach meiner Ueberzeugung allerdings gesetzwidrig. Ich bin mei^ nem ordentlichen Richter (aus Gründen, die ich hier nicht zu erörtern habe) entzogen worden. Dieses Unrecht kann niemals zu Recht werden. Man könnte sich aber in die Seele von Richtern versetzen, die sich sagen: Wir haben es nicht verschuldet, die Sache ist nun einmal so und schließe lieh ist es keine schlimme Benachtheiligung des Angeklagten; wenn wir jetzt hier einstellen, dann bringen wir den Kläger um sein Recht; Das können wir nicht, denn der Klager ist für uns immer Nummer Eins, der Angeklagte erst Nummer Zwei. Doch selbst dieser einzige Grund, der gewissenhafte Richter nach meiner Ueberzeugung auch nur zum Zögern vor der Beantwortung der ihnen gestellten Frage bringen könnte, selbst dieser Grund existirt hier nicht; denn dem Gerichtshof liegt eine von der Hand des Herrn Grafen Moltke unterschriebene Erklärung vor, worin steht: Ich, Graf Moltke, und Herr Harden haben gegen die Einstellung des Verfahrens nichts einzuwenden. Das war die einzige Möglichkeit, wie Graf Moltke und sein Vertreter zum Aus^
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druck bringen konnten: In diesem Moment würden wir den Stra£mtrag zurücknehmen, wenn das Gesetz uns dazu die Möglichkeit böte. \^ haben hier also ein VerEsJiren, das Theorie und Praxis, von Binding bis zu Liszt, vom Reichs^ gericht bis zum Kammergericht, für gesetzwidrig halten, und in diesem Verfahren erklärt der angeblich Verletzte: Ich habe gegen die Einstellung nichts einzuwenden; der Ange# klagte sagt: Dieses Verfahren thut mir Unrecht; das Deutsche Reich und dessen maßgebende Faktoren haben den dringen^ den Wunsch (und ich bedaure, daß der Herr Vertreter der Anklage diese Reichsinteressen bisher noch nicht betont hat), diese Angelegenheit zum Abschluß zu bringen. Die Vierte Strafkammer des Königlichen Landgerichtes wird diese That> Sachen zu erwägen haben, bevor sie entscheidet, ob sie solches gesetzwidrige Verfahren fortführen will.
Bernstein: Darf ich noch ein Wort hinzufügen? Das Argument, gegen den Einstellungbeschluß sei nicht Be# schwerde erhoben, kann Das, was ich zur Begründung mei^ nes Antrages vorgebracht habe, nicht widerlegen. Es kann und darf nicht möglich sein, daß aus Unrecht Recht wird. Ist das Verfahren, in dem wir uns befinden, gesetzwidrig, so kann diese Gesetzwidrigkeit nicht damit sanirt werden, daß man den Angeklagten fragt: Warum hast Du nicht die oder die Beschwerde erhoben? Herr Harden hat bis jetzt gegen den Einstellungbeschluß nicht Beschwerde erhoben. Gut. Folgen für den Richter? Folgen für Herrn Harden? Der Einstellungbeschluß existirt noch. Schön. Was hat denn
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Das mit der Frage zu thun, ob Herr Harden hier vor Ihr Forum gehört? Wenn Herr Harden hier vor Ihr Forum ge« hört, so kann er sich dem Forum unmöglich dadurch ent^ ziehen, daß er gegen irgendeinen Beschluß eine Beschwerde erhebt; und wenn er nicht vor Ihr Forum gehört, so kann die Zugehörigkeit vor Ihr Forum doch nicht dadurch ge^ schaffen werden, daß er eine Beschwerde nicht erhebt. Liegt denn Das in der Hand des Angeklagten? Hat denn der Angeklagte das Gesetz zu wahren? Der Angeklagte hat ein Recht auf das Gesetz. Der Sinn des Gesetzes ist, daß die Sache vor ein anderes Forum gehört. Die Zulässigkeit und Gesetzmäßigkeit eines Verfahrens, an dem er betheiligt ist, hat der Richter nur nach dem Sinn des Gesetzes zu prüfen; auch nicht nach einem ReichsgerichtsurtheU. Ich bin der Meinung, daß der Richter, der nach seiner eigenen Ueber^ Zeugung zu urtheilen hat, verpflichtet ist, seine Mitwirkung an einem Verfahren, das gesetzwidrig ist, absolut zu ver^ sagen. Gewiß müssen Sie die Verhandlung abschließen mit irgendeiner Erklärung Ihrer Willensmeinung. Die kann aber meines Erachtens hier nur lauten: Wir stellen das Verfahren ein, denn wir sind mit dem Reichsgericht und mit Theorie und Praxis der Ansicht, daß das Verfahren ungesetzlich ist. Im anderen Fall geschieht Herrn Harden Unrecht.
Freuß: Der Herr Angeklagte irrt sich, wenn er annimmt, daß ich nicht gleichfalls den dringenden Wunsch habe, diese Angelegenheit auf eine irgendwie zulässige Art zu erledigen; im Gegentheil. Wenn er ordentlich aufgepaßt hätte, würde
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er gehört haben, daß meine Ausführungen damit anfingen, daß die Rechtsausfuhrungen, welche sein Herr Vertheidiger vorgetragen hat, meine volle Sympathie finden. Aber ich kann nicht so weit gehen, wie der Angeklagte Herr Harden von mir anscheinend verlangt, daß ich nun auch die Folgen rungen ziehen soll, die meiner Meinung nach gegen das Ge^ setz gehen. Die Bestimmung des § 398 StPO ist so unzwei^ deutig und klar, daß eine Möglichkeit ftir mich nicht ge^ geben ist, mich den Ausführungen anzuschließen, obwohl ich zugebe, daß, wenn von Haus aus entsprechend der Au& £assung, die das Reichsgericht mit der Theorie und auch mit den übrigen hohen Gerichtshöfen jetzt theilt, gehandelt wor# den wäre, das Verfahren niemals in das Stadium gekommen wäre, in dem es sich augenblicklich befindet. Das Reichst gerichtsurtheil aber, an das wir uns jetzt hier zu halten haben, hat die Sache hierher zurückverwiesen und damit den Ge^ richtshof gezwungen, an die darin aufgestellten Rechtsgrund^ Sätze sich zu halten.
Harden: Ich möchte zunächst bemerken, daß die Lektion, ich hätte nicht ordentlich aufgepaßt, durchaus unberechtigt war. Ich habe gesagt: Ich bin erstaunt darüber, daß die Interessen des Staates in diesem Stadium von dem Herrn Anwalt des Staates nicht betont worden sind. Das ist nicht geschehen; und etwas Anderes habe ich nicht gesagt. Folg# lieh bedurfte es keiner Belehrung darüber, wie ich den Worten des Herrn Oberstaatsanwaltes zu folgen habe. Diese Worte interessiren mich sehr; und Lektionen muß ich hö&
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lieh ablehnen. Zur Sache selbst erlaube ich mir, laienhaft auf das uns eben Gesagte zu erwidern, daß ich erstaunt war, hier die Behauptung zu hören: Dies ist der einzig richtige Weg. Man könnte höchstens sagen: Aus Gründen der Oppor^ tunität wollen wir auf diesem Weg bleiben. Bei aller Hoch# Schätzung des Herrn Chefs der Königlichen Staatsanwalt» Schaft weiß ich doch, daß die ersten Männer der Theorie und der Praxis meiner Meinung sind, glaube also nicht, daß man sehr wirksam operirt, wenn man sagt, nur dieser Weg sei richtig. Das ist mindestens diskutabel. Das Reichsgericht hat auch nach meiner Ueberzeugung (und da muß jch natür«> lieh ganz bescheiden sagen: Ich bin dem Irrthum auf diesem Gebiet viel eher zugänglich als der Herr Oberstaatsanwalt) nicht gesagt, so müsse weiter verhandelt werden, sondern das Reichsgericht hat die Frage offen gelassen. Nun habe ich nicht die Absicht, hier irgendwelche Art von Diplomatie zu treiben, und sage darum: Die Beschwerde, die berühmte Beschwerde, die ja nach den letzten Urtheilssprüchen des Kammergerichtes eigentlich sicheren Erfolg haben müßte, habe ich bisher nicht eingelegt auf den Rath befreundeter Juristen, die mir sagten: Wozu wollen Sie das Beschwerde» recht schon aus der Hand geben? Die \^erte Strafkammer kann ja noch einmal urtheilen, dann haben Sie Beides, Reichsgericht und Kammergericht; warum wollen Sie so dumm sein, auf diese Chance zu verzichten? Das war, wie ich Ihnen nicht verhehle, der Grund, der mich zurückhielt. Preuß: Ich muß mir schon das Recht vorbehalten, selbst
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zu ermessen, wie weit ich die Staatsinteressen von meinem Standpunkte aus vertreten muß und vertrete. Für den hier vorgeschlagenen Weg der nachträglichen Beschwerde ist gar kein Raum mehr gegeben, weil das Reichsgericht ausdrücke lieh den Grundsatz aufstellt, daß die Erhebung der Be^ schwerde vor Eröffiiung dieses HauptverEsdirens hätte statte finden sollen. Das scheint mir in einem Satz des Urtheils deutlich gesagt.
Bernstein: Also wenn ich angeklagt bin und nicht will, daß eine Gesetzwidrigkeit geschieht, die ich gar nicht vor^ aussehen kann, dann muß ich gegen einen Beschluß mich eines Rechtsmittels bedienen, das mit der von mir nicht voraaszusehenden Gesetzwidrigkeit gar nichts zu thun hat. Kann man Das wirklich billig und vemiinftig nennen? Ist dem Angeklagten wirklich zuzumuthen, daß er ein Rechts« mittel gegen eine nicht vorausgesehene, noch gar nicht ge^ schehene Gesetzwidrigkeit anwenden muß? Wenn ein Bauer wegen Vergehens gegen die Straßenpolizei vor das Schwiu:# gericht gestellt wird: muß er protestiren? Muß ich gegen irgendeine Gesetzesverletzung protestiren, damit sie nicht wirksam wird? Und darf dabei der Richter mitwirken? Kann (ur den Richter irgendein Moment kommen, wo er sich sagt: Was ich hier thue, diirfte ich eigentlich nicht thun, thue es aber doch, weil der Angeklagte irgendwann irgend« was übersehen hat? Meine Herren, Sie haben Recht zu sprechen und das Recht zu schützen, und wenn Sie die rieh« tige Auslegung des § 417 kennen, müssen Sie sich sagen,
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daß dem Angeklagten hier Unrecht geschieht. Deshalb wiederhole ich meinen Antrag, das Verfahren einzustellen.
Sello: Der kurze Satz des Reichsgerichtsurtheils, auf den sich der Herr Oberstaatsanwalt bezog, beschäftigt sich nicht mit der Frage, welches Gericht, nachdem in der BeruAinginstanz der Einstellungbeschluß ergangen war, nun materiell zu# ständig ist, sondern richtet sich, so viel mir bekannt, ledige lieh gegen die von dem Herrn Angeklagten erhobene Be^ schwerde der Rechtshängigkeit. Diese Beschwerde, sagt das Reichsgericht, ist nicht begründet, denn der nicht angefoch# tene Einstellungbeschluß der Berufimgskammer bestand und deshalb war dieses Verfahren, da der Beschluß nicht ange«> fochten war, beendet. Dieser Beschluß stand nach dem Grundsatz »Ne bis in idem« der Rechtshängigkeit des neuen Verfahrens nicht im Wege. Ueber die hiervon völlig ver# schiedene Frage, ob das Hauptverfahren in der Ersten In^ stanz von der Strafkammer eröffiiet werden, ob die \^erte Strafkammer auf Grund eines materiell unrichtigen £röff# nungbeschlusses (nach der jetzigen Judikatur des Reichst gerichts war dieser Beschluß ungesetzlich) materiell verhan«> dein und entscheiden durfte, hat sich das Reichsgericht, wie mir scheint, dahin ausgesprochen, daß die Vierte Strafe kammer nicht zuständig sei.
Freuß: Ich möchte nur kurz darauf hinweisen, daß mei^ ner Meinung nach das Reichsgericht verpflichtet gewesen wäre, die richterliche Einstellung nach § 394 StPO selbst aufzuheben oder einzustellen oder freizusprechen, wenn es
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angenommen hätte, daß das Ver&hren vor der Strafkammer unzulässig gewesen ist und daß das Verfahren vor das Amts# gericht hätte gelenkt werden können und sollen. Die Be«> Stimmung des § 394 sagt ausdrücklich, daß das Revision^ gericht in solchen Fällen dazu verpflichtet ist. Da das Reichs«> gericht Das nicht gethan hat, muß ich annehmen, daß meine Auf&ssung zutreffend ist.
Lehmann: Wir werden berathen.
(Der Gerichtshof zieht sich zurück. Pause.)
Lehmann: Das Gericht hat beschlossen: Der Antrag des Angeklagten auf Einstellung des Verfahrens wird abgelehnt; es soll in die Verhandlung der Sache selbst eingetreten werden. Es kann zweifelhaft bleiben, ob der Einstellung^ beschluß in dem Privatklagever&hren mit Rechf oder Un# recht ergangen ist. Selbst wenn er zu Unrecht ergangen wäre, fehlt zur Entscheidung in dem gegenwärtigen Ver# fahren dieser Strafkammer jede Möglichkeit, darauf zurück^ zugreifen und den dort ergangenen und noch heute zu Recht bestehenden Einstellungbeschluß abzuändern. Das gegen^ wärtige Ver&hren ist ohne Rücksicht auf das Privatklage# verfahren zu erledigen. Im Uebrigen stehen dem Antrag auch §§ 393 und 394 der Strafprozeßordnung entgegen.
Der Eröfihungbeschluß wird verlesen.
Preuß: Ich halte mich fiir verpflichtet, den Antrag auf Ausschluß der Oeffentlichkeit zu stellen. Kurz begründen will ich ihn damit, daß nach Behauptung der Anklage in den angegriffenen Artikeln der Vorwurf der Homosexualität
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gegen den Beleidigten gerichtet sein soll und daß die Er^ örtening dabei auf Themata kommen kann, die eine Gefahr^ düng der öffentlichen Sittlichkeit erwarten lassen.
Lehmahn: Ich möchte den Herrn Vertheidiger fragen.
Bernstein: Ich will dem Antrag nicht grundsätzlich ent^ gegentreten; aber ich sehe keine rechte Veranlassung, in dem Augenblick, wo es sich um die Verlesung der Artikel der »Zukunft« und um deren Interpretation, so weit sie von dem Angeklagten verlangt wird und so weit er sie geben will, handelt, die Oeffentlichkeit auszuschließen, da ich nicht glaube, daß man wirklich wird sagen können, daß durch die Verlesung dieser Artikel und durch Das, was etwa darr über gesagt werden wird, die Sittlichkeit irgendwie verletzt werden könnte. Wenn die Oeffentlichkeit ausgeschlossen wird, was, wie gesagt, im Moment mir noch nicht noth# wendig erscheint, so wird zu erwägen sein, ob die Herren von der Presse auch mit ausgeschlossen werden sollen. In einem Schwurgerichtsprozeß, der im vorigen Jahr hier statte fand und bei dem auch die Oeffentlichkeit ausgeschlossen war, hat man die Erfahrung gemacht, daß damit nicht ver^ hindert werden kann, bei Prozessen, die die öffentliche Auf^ merksamkeit in so hohem Grade erregen, daß doch Dinge aus der Verhandlung dem Publikum bekannt werden, und damit Das nicht einseitig und unkontrolirbar geschieht, hat damalsder Gerichtshof beschlossen, einem vertrauenswiirdigen Herrn der Presse (später mehreren) die Anwesenheit zu ge^ statten. Ich möchte empfehlen, ähnlich zu ver&hren.
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S ello : Ich habe keinen Grund, mich zu der Frage zu äußern.
Lehmann: V(lr werden berathen.
(Der Gerichtshof zieht sich zurück.) Vor Verkündung des Gerichtsbeschlusses:
Bernstein: Die Herren Dr. Neupert und Dr. Witt, die für Herrn Harden die Verhandlung stenographisch au& nehmen, haben mich ersucht, Ihnen die Bitte vorzutragen, Sie möchten auch den beiden Herren die Anwesenheit ge^ statten ftir den Fall, daß die Oeffentlichkeit ausgeschlossen wird. Der Angeklagte hat aus verschiedenen Gründen ein Interesse daran, die Verhandlung Stenographiren zu lassen.
Lehmann: Es ist ein Stenograph anwesend von der Staatsanwaltschaft.
Bernstein: Ich meine, gerade der Umstand, daß die Staatsanwaltschaft fiir sich die Verhandlungen Stenographiren läßt, gibt dem Angeklagten eine Art von Recht, die An^ Wesenheit der von ihm beauftragten Herren zu verlangen.
Freuß: Ich möchte auch betonen, daß es wohl richtig ist, wenn dem Herrn Angeklagten das selbe Recht gewährt wird wie der Anklagebehörde. Ich glaube nicht, daß das von meinem Stenographen aufgenommene Protokol dem Herrn Angeklagten nachher zur Verfügung gestellt wird.
Lehmann: Der Gerichtshof hat beschlossen, während der Verlesung der Artikel die Oeffentlichkeit noch nicht auszu^ schließen, von da ab aber die Oeffentlichkeit ganz auszu# schließen. Es soll dann nur gestattet werden, daß einem Stenographen des Angeklagten die Anwesenheit gestattet
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wird und dem der Staatsanwaltschaft. Ich bitte, nun die Artikel zu verlesen.
Harden: Ich glaube, der Angeklagte ist berechtigt, zu verlangen, daß die Artikel ganz verlesen werden, damit ein Bild Dessen, was hiermit erstrebt ward, gewollt wurde und ausgeführt ist, gegeben wird. Nun würde diese Verlesung der gesammten Artikel aber viele Stunden uns Alle in An^ Spruch nehmen. Ich weiß nicht, welche Beschlüsse später in diesem Verfahren gefaßt werden; einstweilen wäre ich, unter Vorbehalt aller meiner Rechte, damit einverstanden, wenn zunächst nichts Anderes verlesen würde als die inkri# minirten Worte.
(Nach der Verlesung) Lehmann: Wir kommen jetzt zu der verantwortlichen Vernehmung, die wohl drei Stunden dauern wird. Die Zeugen können . . .
Harden: Die Vernehmung des Angeklagten?
Lehmann: Ja.
Harden: Die wird nur drei Minuten dauern. Ich möchte Das nur erwähnen, damit die Herren disponiren können.
Lehmann: Es wird nunmehr, dem vorhin ergangenen Beschluß gemäß, die Oeffentlichkeit vollständig ausgeschloss» sen. (Der Zuhörerraum wird geräumt.)
Lehmann: Herr Angeklagter, es wird Ihnen der Vor# wurt gemacht, daß Sie durch die verlesenen Artikel den Nebenkläger der Perversität bezichtigt haben; und nicht blos der Perversität, sondern Sie sollen sich auch bewußt ge# wesen sein, daß aus diesen Artikeln herausgelesen werden
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könne, es habe sich der Nebenkläger homosexuell bethätigt. Ich bitte, sich darüber auszulassen und gleich nachher über die Motive, aus denen heraus Sie die Artikel schrieben.
Harden: Ich bedaure, diesen Wunsch nicht erfüllen zu können. Ich werde mich auf die Anklage einstweilen nicht äußern. Die Anklage ist zum größten Theil durch Ereig^ nisse erledigt, die darzustellen oder auch nur zu streifen ich so lange vermeiden werde, wie es mir irgend möglich ge macht ist. Zum anderen Theil ist die Anklage dadurch tx^ ledigt, daß ich ersucht worden bin, unter eine Erklärung, die den Namen des Grafen Kuno Moltke trug, auch meinen Namen zu setzen. In dem Augenblick, wo ich Das gethan habe (warum ich es gethan habe, darüber brauche ich hier noch nicht zu sprechen), habe ich auch die Verpflichtung übernommen. Alles zu vermeiden, was nun noch zu einer Vergiftung der Angelegenheit führen kann; so lange es zu vermeiden, wie mein Pflichtgefühl und mein Selbstachtung^ bedürfiiiß mirs gestattet. Ich bleibe deshalb, so lange es mir irgend möglich ist, auf dem Boden der ausgetauschten und dem Gerichtshof urschriftlich vorliegenden Erklärungen. So lange mir die Möglichkeit zur Reserve gegeben scheint, habe ich über die Sache Moltke in diesem Saal nichts zu sagen. Graf Moltke hat erklärt, daß er in den inkriminirten Artikeln keine Beleidigung mehr findet. Er wünscht keine Beweis^ aufnähme. Ich bin und bleibe auch als Angeklagter ein Mann von leidlicher Lebensart und werde den Versuch machen, auf dem Boden dieser Erklärung mich zu halten
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Das kann aber nur geschehen, wenn von keiner Seite der alte Streit, der geschlichtet worden ist, aufgenommen wird. Ich äußere mich also einstweilen auf die Anklage nicht und antworte auf keine Frage.
Lehmann: So wird Das nicht gehen. Wir werden doch klarstellen miissen, was Sie damit haben sagen wollen.
Harden: Ich überlasse Das den Herren. Sie können sagen, was Sie wollen. Ich werde mich nicht zwingen lassen, so lange mir die Möglichkeit zur Reserve gegeben ist. Ich habe mich nicht leicht entschlossen, meinen Namen unter die Erklärungen zu setzen. Nun habe ich es gethan; und will nicht Der sein, der die Vereinbarung bricht. Ich habe unterschrieben, ich rede über die Sache nicht mehr, so lange es irgend möglich ist, und Sie haben kein Mittel, mich zum Sprechen zu zwingen.
Lehmann: Ein Angeklagter kann nicht gezwungen wer« den. Sie wollen sich also auch nicht darüber äußern, was Sie haben mit den Artikeln sagen wollen?
Harden: Nein, vorläufig nicht. Dazu bleibt ja noch Zeit.
Lehmann: Dann bleibt uns aber gar nichts übrig, dann müssen wir in die Beweisaufiiahme eintreten. VTir hatten geglaubt, es würde so möglich sein, daß Sie uns sagen. Das und Das habe ich mit den Artikeln sagen wollen. Ich nehme an, daß Sie sagen wollen, was Sie früher schon gesagt haben, und es würde sich da fragen, ob nicht doch vielleicht etwas mehr herauszulesen ist, als Sie früher schon gesagt haben, und es wird dann noch einzugehen sein auf die Motive, aus denen heraus Sie gehandelt haben.
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Harden: tcK habe einstweilen nichts hinzuzufogen.
Lehmann: Ich muß aber doch fragen: Läßt sich schließen, daß Sie in verhüllter Form sagen wollten, Graf Moltke habe sich homosexuell verdächtig gemacht? Sie haben voriges Mal gesagt: So weit bin ich nicht gegangen, homosexueller Handlungen habe ich ihn nicht bezichtigt. Es fragt sich aber: Haben Sie nicht gedacht, daß die Artikel so ausgelegt wer^ den würden? Ich glaube. Das wäre doch klarzustellen.
Harden: Auf alle diese Dinge kann ich jetzt nicht ein^ gehen, kann unmöglich, wenn ich im Nebenzimmer mit einem Gentleman mich verglichen habe, vor einem Gerichts^ hof sagen: Etwas möchte ich ihm doch anhängen. Und eben so wenig kann ich, nachdem ich von den Pflichten des Patri^ oten gesprochen habe, nun sagen: Die bekümmern mich hier nicht, denn ich könnte wieder zu vier Monaten verurtheilt werden. Nein, meine Herren, mir wäre Das völlig belanglos; ob Sie mich verurtheilen oder nicht: Das spielt gar keine Rolle. So lange es irgend geht, erkläre ich nichts mehr in dieser Sache; nichts. Man mag machen, was man will.
Lehmann: Wir könnten vielleicht aber die Beweisaufiiahme vermeiden, wenitSie uns Erklärungen gäben; und es wäre viel^ leicht praktisch, wenn die Beweisaufiiahme vermieden würde.
Harden: Ich werde beantragen, keinen Zeugen zu ver^ nehmen.
Lehmann: Dann müssen Sie sich wenigstens äußern. Wir wollen die Wahrheit, weiter wollen wir nichts, und das Recht. Deshalb wäre das Praktischste, Sie sagen: So habe
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icli es gemeint» aus den und den Motiven habe ich gehandelt. Und dann kann man darüber reden: Ist vielleicht nicht doch etwas Anderes hineingelegt worden? Das läßt sich machen, wenn Sie sich äußern, was Sie haben sagen wollen. Ich halte es doch für praktisch.
Harden: Ich kann mir nur zwei Möglichkeiten denken. Entweder beginnt hier jetzt eine Prozedur, die mich durch Zeugenaussagen der Beleidigung überfuhren soll; dann sage ich: Ich kann mich nicht betheiligen, denn ich will nicht Der sein, der die Vergiftung der Sache und der Diskussion herbeiftihrt. Werden keine Zeugen vernommen, dann kann ich im Schlußvortrag den Herren Alles sagen, was ich über meine Artikel sagen will.
Lehmann: Nehmen Sie Das doch lieber vorweg, dann werden wir sehen, ob noch Etwas zu ergänzen ist.
Harden: Ich bin selbstverständlich in jedem Moment bereit, mich einem praktischen Rath zu ftigen. Ich habe mir vorgenommen (und ich glaube, da im Einverständniß mit allen Prozeßbetheiligten zu sein), eine neue Vergiftung der Sache zu meiden, so lange ich es irgend kann. Wenn ich aber aufgefordert werde, jetzt die Gründe anzuführen, die nach* meiner Ueberzeugung gegen jede Beweisaufiiahine sprechen, so kann ich dieser Auffordei^ng folgen.
Lehmann: Bitte, wollen Sie Das thun.
Harden: Ich habe in diesen Artikeln einen Kreis von Menschen zunächst leise gewarnt und dann angegriffen, die höchst unheilvoll im Deutschen Reich gewirkt haben, deren
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Treiberei mir seit vielen Jaliren bekannt und deren Haupt Philipp Eulenburg war. Ich habe sehr lange gezögert, auch die Seite der Perversität zu beleuchten. Ich bin aber endlich dazu gezwungen worden, auch Das zu thun; denn man hat in diesen Kreis abnorm empfindender Menschen auch Ver^ treter des Auslandes aufgenommen; ich nenne nur den Bot^ schaftrath Lecomte, der in Berlin der König der . . . hieß. Diesen Herrn Lecomte hat man in die Nähe des Deutschen Kaisers gebracht; hat überhaupt auf allerlei Gipfel und Gipfele chen homosexuelle Menschen hingesetzt. Dadurch ist eine sehr ge&hrliche Situation geschaffen worden. Der Kaiser konnte nicht wissen, durch welchen Kitt diese Menschen zu^ sammengehalten wurden. Ich mache eine Parenthese: Mir liegt nichts femer als eine fsmatische Bekämpfung der Homo^ sexuellen. Unter anderen Lügen, die über mich verbreitet worden sind, ist auch die, ich habe eine Petition gegen den § 175 unterschrieben. Ich habe es nicht gethan, habe mich geweigert, es zu thun; erstens schien mir die Sache aussieht^ los und zweitens bin ich der Meinung, daß im Deutschen Reich heute für andere Freiheit gekämpft werden muß als für die Freiheit perverser Triebe. Aber ich bin weit von dem Wahn entfernt, dieser Paragraph sei ein wirksames Heilmittel, und weit von dem Wunsch, drakonische Maßregeln gegen Homosexuelle zu erreichen. Kein vernünftiger Mensch kann aber daran zweifeln, daß es gefahrlich ist, ganze Gruppen solcher Menschen an irgendeiner Stelle zu versammeln; mag es nun in einem Polizei^ oder Landgerichtspräsidium ge^
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schellen. Die Cefakr ist aber natürlich viel, viel gröl^r, wenn es sich um die höchste Stelle im Staat handelt, und sie ist unermeßlich bei einer Persönlichkeit, die von Schmeichi» lern sogar impulsiv und impressionabel genannt wird. Ich habe behauptet und behaupte heute, daß an allen Konflikten, die der Deutsche Kaiser von der ersten Stunde an mit seinen Landsleuten und mit Anderen gehabt hat, Philipp Eulenburg und seine Leute mitschuldig gewesen sind; daß sie höchst unheilvoll auf diese fiir das Reich wichtige Seele eingewirkt haben, ^e weit es gegangen ist: ich konmie hoffentlich nie in die Nothwendigkeit, es zu sagen. Aber ich glaube, Sie werden heute meine Worte anders beurtheilen als vor änderte halb Jahren, wo hier von der »hardenschen Mär« gesprochen und gethan wurde, als sei das von mir Gesagte als falsch erwiesen. In dem Prozeß Eulenburg ist nicht ein irgendwie wichtiger Zeuge aufgetreten, der nicht von mir dem Untere suchungrichter genannt worden war; auch in dem Ver£üiren gegen den Grafen Hohenau war ich durch den Eid ge^ zwungen, alle Hauptzeugen zu nennen. Leider. Ich rühme mich Dessen nicht. Aber Sie dürfen nicht mehr annehmen, daß ich unhaltbare Geschichten verbreite. Was ist geschehen? Ein HohenzoUemprinz, zwei Eulenburg, zwei Hohenau, Graf Lynar, Graf Edgar Wedel, Baron Wendelstadt, Lecomte : Alles erledigt. Ich glaube, es ist genug; und man wird, auch wenn wir, wie ich hoffe, nicht noch Neues von der Sorte erleben, nicht mehr sagen können, mein Handeln sei gründe los und zwecklos gewesen.
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Ich möchte aber nicht gezwungen sein, in die Einzelheiten einzudringen. Das Pflichtgefühl hat mich in diesen schweren Kampf gedrängt. Ich habe sieben Jahre mit mir gerungen. Seit sieben Jahren weiß ich all diese Dinge. Ich habe immer wieder überlegt und gezaudert; aber der Casus Lecomte zwang mich zum Reden. Als die Botschafter des liebenberger Herrn kamen, habe ich gesagt: Ich schweige gern, wenn er sich zurückzieht und den Kaiser (und damit das Reich) in Ruhe läßt. Er hats versprochen, aber nicht gehalten. Mein Motiv? Von Lust an der Sensation kann doch kein Ver^ nünftiger sprechen, der die »Zukunft« und diese Artikel auch nur halbwegs kennt. Das sind nicht Artikel, die ge^ schrieben sind, um homosexuelle Gräuel zu enthüllen, um dem Mob Etwas zu bieten, um Geld zu machen. Es sind hochpolitische Artikel, die Sie so gut oder schlecht finden mögen, wie Sie wollen; ich habe während der Verlesung zu meiner Freude gemerkt, wie viel politisch Richtiges darin steckt. Sensation zu machen? Eigentlich sollte meine Stel^ lung, mein Ansehen in der Welt mich vor solchen Anwürfen bewahren. Oder sind die Artikel geschrieben, um durch »Enthüllungen« Geld zu machen? Auch Das kann unter erwachsenen Menschen nicht in Frage kommen. Sie können es ja thatsächlich feststellen: in jeder Phase dieser Angelegen^ heit, wo sie, ohne mein Verschulden, zu einer zugkräftigen Skandalgeschichte zu werden drohte, habe ich Wochen lang nichts veröffentlicht. Warum? Weil ich wußte: wenn ich jetzt darüber schreibe, verkaufe ich drei^ oder sechsmal mehr als
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sonst, und weil mir das Gefiihl unerträglich war, mit dieser ernsten Sache finanziellen Profit zu machen.
Das habe ich über die Motive zu sagen. Muß man ihre Berechtigung denn heute noch umständlich erweisen? Nein. Alles, was wir politisch seitdem in Deutschland erlebt haben, ist die unmittelbare oder mittelbare Folge dieser Aktion. Ich sage Das nicht prahlerisch. Ich bilde mir nicht ein, daß ich die deutsche Geschichte mache. Aber kein ernster und ge^ wissenhafter Politiker, der die Zusammenhänge kennt, wird bestreiten, daß mein Handeln nothwendig und nützUch war. Ist es etwa ein Zufall, daß wir seit zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder Frieden zwischen Kaiser und Volk haben und politisch leidliche Geschäfte machen? Daß eine stetige und einheitlich geleitete Politik möglich ist, seit wir die Philitis los sind? Beweisen kann (und will) ich Ihnen das Alles nicht. 'Wie sollte ich? Mir scheint aber auch, daß ichs nicht zu beweisen brauche. Der Herr Vertreter der An^ klage muß mir beweisen: Du hast schlechte Motive gehabt; Du hast beleidigt, hast Thatsachen behauptet, die nicht er^ weislich wahr sind. Nun wird der Versuch gemacht, mich über Das hinauszudrängen, was ich gesagt habe.
Lehmann: Sagen Sie zunächst, was Sie gesagt haben.
Harden: Ich habe so ziemlich Das gesagt, was an einer Stelle der Anklageschrift steht: ein Kreis pervers veranlagter Menschen hat sich um den Thron gebildet; ich fuge hinzu: Diese Leute trieben Dinge, die nachgerade das Deutsche Reich ungeheuerlich schädigten. Einzelheiten möchte ich
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nicht gern anfuhren. Wir brauchen jetzt ja nur über den Grafen Moltke zu reden. Ueber Den habe ich zuerst ge^ sagt, er sei ein Aesthet von einer Sinnenrichtung, die von der des Prinzen Joachim Albrecht sehr verschieden ist. Beide Herren sind Musiker, Komponisten, Belletristen, auf ihre be^ sondere Art Aestheten. Der Prinz liebte galante Abenteuer, der Graf nicht. Ich bestreite, daß der Gegensatz eines Mannes, der den Frauen nachläuft, einer ist, der den Männern nachläuft. Wenn man liest, zwei Menschen seien Aestheten von verschiedener Sinnenrichtung, so kann man im schlimme sten Fall vielleicht denken, der Aeltere sei zu Aktionen im Bereich der Liebe nicht mehr recht fähig. Das kann man herauslesen; und lächeln. Daß der Gegensatz eines Schürzen^ Jägers ein Päderast sein soll, kann ich aber nicht zugeben; die Nothwendigkeit dieser Deutung muß bewiesen werden.
Lehmann: Herr von Berger soll aber herausgelesen haben, hier werde Moltke Homosexualität vorgeworfen.
Harden: Baron Berger könnte als Zeuge dafiir gar nicht in Betracht kommen. Mit dem Baron Berger habe ich seit sieben Jahren verkehrt. Er war ein Freund von Eulenburg und Moltke und hat mich in deren Interesse damals aufgesucht. Mit ihm habe ich diese Dinge oft, politisch und menschlich, durchgesprochen und er kennt mein Denken und Wollen in dieser Sache so genau, daß er selbst gesagt hat: Wenn es einen Menschen gab, der sich bemiiht hat, den Herren das Bitterste zu ersparen, so ist es Harden. Wie Berger die eine oder die andere Stelle aufgefaßt hat oder haben könnte: Das
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ist nicht die Norm. Er wußte, was ich dachte und wollte. Er war eingeweiht. Aber ich muß an diesem Funkt der Ver^ handlung etwas Prinzipielles sagen. Ich soll angeblich pri^ vatim geäußert haben, ich halte den Grafen Moltke (ur per^ vers. Das soll ich zu dem Grafen Otto Moltke gesagt haben, als er mich besuchte. Ich bestreite es. Ich finde es nicht ganz nett, daß man zu Jemand in die Wohnung geht, sich ungemein artig zeigt und daß man unbeglaubigte Aufzeich^ nungen über eine Unterredung, die man unter vier Augen hatte, dann dem Ankläger einreicht. Wenn der Graf etwas Schriftliches haben wollte, mußte er mirs sagen ; dann konn^ ten wir das Gespräch gemeinsam fixiren. Er hat kein Wort davon gesagt. Ich erkläre seine Angaben fiir unrichtig. Aber er kann sie jetzt beschwören und ich konmie nicht zum Schwur. Wenn dieser Brauch sich einwurzelt, kann Einen jeder Besucher nachher ans Messer liefern. Kann er, in gu^ tem Glauben an ein trügerisches Gedächtniß, behaupten, der arglose Wirth habe den Kaiser, den Kanzler oder sonstwen beleidigt. Mir scheint, auch prinzipiell ist es nicht möglich, eine Frivatäußerung, selbst wenn sie richtig wiedergegeben ist, zur Interpretation vorher geschriebener und gedruckter Artikel zu benutzen. Ich weiß und denke über viele Menschen sehr Vieles, was ich nicht schreibe und drucken lasse. Den Ver^ such solcher Interpretation hätte der mir befreundete Reichst gerichtsrath Otto Mittelstaedt als »abwegig« bezeichnet. Nehmen Sie an, ich hätte von einem Minister im Privat« gespräch einmal gesagt, er sei der gewissenloseste V(^^hf
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unter der Sonne. Nacher schriebe ich, er sei ein fabelhaft geschickter Jongleur. Meine Privatäußerung würde der Staats^ anwaltschaft übermittelt und die sagte nun: Was Du damals ausgesprochen hast, verbirgt sich feig hinter dem geschrieben nen Satz. Möchten Sie Das mitmachen? Ein Bischen müssen Sie das Metier des Schriftstellers und des Politikers doch kennen. Der denkt und weiß Manches, spricht aber nur aus, . was er im Augenblick auszusprechen für nöthig hält.
Lehmann: Nun wollten Sie aber gerade. Das war wohl die Idee, auf diese Leute einen Makel werfen, um auf diese Weise sie wegzubekommen.
Harden: Ich bitte, zu bedenken, daß in diesen Artikeln eine ganze Reihe von Personen vorgeführt wird. Wenn man Alle zusammenpackt, dann kann jeder Einzelne irgendwie bemakelt scheinen. So ist es aber nicht. Da gab es die ver^ schiedensten Nuancen. Ich habe von dem Mächtigsten, als er die leise Warnung überhört hatte, offen gesagt: Dieser Mann ist ein Homosexueller und dieser Mann ist ein Unheil fiir Kaiser und Reich. Von dem Grafen Moltke aber habe ich nichts gesagt, als daß er ein Bischen süßlich ist und daß er am Ewig^Weiblichen weniger Geschmack hat als der ga^ lanteste Preußenprinz.
Lehmann: Lobend haben Sie sich über ihn nicht aus^ gesprochen.
Harden: Dazu hatte ich auch keinen Grund. Graf Kuno Moltke (ich bitte seinen Herrn Vertreter, Das nicht als KrJinkyng zu nehmen; wenn ers aber thut, kann ichs nicht
ändern) hatte die Aufgabe, seinen Freund Eulenburg stets über das am Hof Vorgehende zu unterrichten; diese Be^f richte, in denen allerlei Intimitäten standen, haben ja auch an dem Sturz Moltkes mitgewirkt. Er hat seinem Freund fast täglich geschrieben. Die Briefe sind vorhanden. Ich will darüber keine Details geben; auch nicht erwähnen, mit welchem Decknamen der Deutsche Kaiser darin bezeichnet wurde. Eulenburg und Moltke waren vierzig Jahre lang in einer Weise befreundet, wie man sie, Gott sei Dank, unter deutschen Männern noch abnorm nennen darf. Und wenn man meinen Artikeln den mir hier ungünstigsten Sinn giebt, der überhaupt noch denkbar ist, dann steht darin: Graf Moltke ist dem Fürsten Eulenburg so blind ergeben wie sonst nur eine Frau einem Mann. Alle Hemmungen, die in anderen Freundschaften bestehen bleiben, fehlten hier. Moltke war völlig kritiklos, völlig unter dem Bann des großen Ko^ moedianten, der uns vor anderthalb Jahren hier die Kranken^ Prozession vorgaukelte und abends dann seine Freunde durch lustige Parodien des Vorsitzenden, des Staatsanwaltes und der anderen Frozeßbetheiligten erheiterte. Ein Frachtexemplar. Dafür sitzt er auch, mit allen Orden und Ehren, unange^ fochten in seinem Schloß; dichtet neue Sänge, läßt sich malen und zeigt den Gerichtsärzten die Estcies hippocratica. Dieser Zauberer hat den armen Grafen Moltke mißbraucht. Jahre lang ihn als seinen Briefträger, seinen Zuträger benutzt; und der Graf war vollkommen machtlos gegen die Suggestion. Das nenne ich (Herr Isenbiel wird mirs heute nicht mehr
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übelnehmen) eine »erotisch betonte Freundschaft«. Von da bis zur Homosexualität und von da bis zu homosexueller Bethätigung ist es noch recht weit.
Lehmann: Das will ich mal zugeben. Aber haben Sie sich nicht gesagt, daß die gewöhnlichen Menschenkinder doch diese feinen Unterschiede, wie Sie sie kennen seit lange, nicht machen würden und daß für die Leute, die diese Artikel lesen, unter Homosexuell immer verstanden wird Einer, der sich homosexuell bethätigt, und daß da nicht solche feine Nuancen bestehen, wie Sie sie schildern? Geht nicht ge^ rade aus den Artikeln, in denen Sie sich selbst gegen diese Auffassung wehren, hervor, daß jedenfalls Das die Au& fassung war? Und haben Sie sich nicht als kluger Mann ge^ sagt, daß Das so aufgefaßt werden kann? Und haben Sie sich nicht gesagt, ich habe die Pflicht, sie mit einem Makel zu be^ werfen aus politischen Gründen, und für mich sind politische Gründe so werthvoll, daß ich Das doch auch eventuell will?
Harden: Diese Erörterungen sind fiir mich höchst widrig. Ich mag nicht den Verdacht erregen, ich wolle mich zurück^ ziehen oder herausreden. Die Sache ist für mich längst historisch geworden und ich wünsche sehnlich, daß sie es mir bleibe. Und ich meine: Diese Sache schwebt wirklich nicht zwischen der Vierten Strafkammer und Herrn Harden ; sie hat ihr Forum längst gefunden. Ich habe weder den Wunsch noch die Absicht, irgendetwas hier zu beschönigen oder Sie zu bitten, mich nicht zu verurtheilen. Ob Sie mich freisprechen oder ins Gefangniß schicken : Das interessirt mich gar nicht.
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Lehmann: Aber uns interessirt es: wir wollen die Wahr^ heit finden. Wir müssen klar sehen.
Harden: Ich begreife das Empfinden der Herren ja. In solchen Prozessen steht ja fast immer Jemand vor Ihnen, der sagt: So habe ichs nicht gemeint. Das macht Jeder. Und ich könnte Ihr Mißtrauen begreifen. Bei mir ists aber einmal anders. Ich sage nur, was ich für richtig halte, und frage nicht eine Sekunde nach der Wirkung, die es auf Sie macht Die ist ja gleichgiltig. Ich sage heute, was ich stets gesagt habe. Auf der Höhe des »Triumphes«, vor dem Schöffen^ gericht, habe ich in meinem Schlußvortrag das Selbe gesagt. In den Artikeln steht nichts ernstlich Belastendes über den armen Mann; er wird nur ein Bischen ironisirt. Nun will ich dem Herrn Präsidenten antworten. Ich habe mit einem Publikum, das diese Dinge nicht kennt, gar nicht zu rechnen. Diese Artikel richten sich überhaupt nur an ein Publikum, das eine gewisse Kultur und eine Summe von Kenntnissen hat. Das macht einen Unterschied, scheint mir. Gewiß: man muß mit seinem Publikum rechnen. Wenn ich die Ehre hätte, die »Berliner Morgenpost« zu redigiren oder die »Woche« herauszugeben, so müßte ich mich als gewissen« hafter Mann fragen: Können Das nicht wenigstens die Taxa^ meterkutscher falsch verstehen? Ich habe solches Publikum nicht und brauche die Möglichkeit solcher Mißverständnisse deshalb nicht in mein Bewußtsein aufzunehmen. Aber ich gehe weiter: Was ich geschrieben habe, ist nicht so ver« standen worden, wie der Herr Vprsitzend^ meint; nicht ein^
tnal von Dem, der getroffen sein soll, so versianclen wordeil. Auch Der hat, trotzdem er vom Baron Berger informirt war, es nicht so verstanden; denn er hat nichts dagegen gethan und hatte als Offizier doch Etwas thun müssen. Er hat sich erst gerührt, als er verabschiedet worden war. Und dann entstand der Lärm. Eulenburg, Moltke, Hohenau verbannt; und Moltke hat Harden zum Zweikampf gefordert. Da er^f innerten sich Einzelne, daß mal irgendwas in der »Zukunft« gestanden habe. Die Artikel, die Einzelheiten, hatte Keiner mehr im Kopf. Aber man konstruirte Zusammenhänge. Richtige und falsche. Eine neueXhatsache war hinzugekommen : drei Hofleuchten brannten nicht mehr. Drei Günstlinge waren aus der kaiserlichen Gnade verdrängt. Was nach der Bekanntmachung dieser neuen Thatsache gedeutet und ge^ deutelt wurde: dafür bin ich nicht verantwortlich.
Lehmann: Vorher waren durch den Kronprinzen die Artikel aber dem Kaiser unterbreitet worden.
Harden: Auch darüber möchte ich nicht ausfuhrlich sprechen. Graf Lynar hatte sich an seinem Burschen ver^ gangen und schrie, als er gepackt wurde: Ich werde abge«: sägt und die Anderen machen ungestraft, was sie wollen ; er wies auf die Artikel hin (in denen er nicht genannt worden war). Daß der Herr Sachverständige Lynar auch die leiseste Anspielung verstand, glaube ich gem. Was er über Moltke, der uns hier allein angeht, herausgelesen hat, weiß ich nicht. Bestreite aber mit gutem Gewissen Jedem das Recht, Anderes darin zu finden als den Hinweis auf eine etwas süßliche,
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weichliche Natur und auf die kritiklose Hingebung an Phili. Das sind die einzigen Thatsachen, die angeführt oder ange^ deutet wurden; und sie sind erweislich wahr. Ich wollte nicht darüber reden; aber Sie haben mich dringend ersucht, es zu thun, damit wir die Allen unerwünschte Beweisaufn nähme vermeiden können. Im Uebrigen habe ich noch zu bemerken, daß zwischen den einzelnen Artikeln (großen politischen Arbeiten, in denen die Gruppe manchmal bei«: läufig erwähnt wird) Wochen und Monate liegen, in denen andere Artikel von mir erschienen, daß ein WaflFenstillstand vereinbart war, als Eulenburg sich mir verpflichtet hatte, nach Territet zu gehen und seine Hand aus dem Reichsspiel zu lassen, und daß von einer »fortgesetzten Handlung« schon deshalb, wegen der Zwischenräume und der Ein«: Stellung des Kampfes, nicht ernstlich die Rede sein kann.
Lehmann: Aber in der »Zukunft« vom fünfzehnten Juni wandten Sie sich gegen die AuflFassung? Die also doch be^ standen haben muß.
Harden: Das war nachher. Da war der große Lärm los^ gegangen. Ueberall standen Artikel über »Hofpäderasten«. Da (es ist vielleicht der einzige Fehler, den ich in der Sache gemacht habe) glaubte ich mich verpflichtet, abzublasen. Im Interesse des Reichs und des Kaisers. Sie wissen wahrscheini* lieh, wie schroff ich oft den Kaiser bekämpft habe. Ich schwärme durchaus nicht fiir ihn. Aber er ist die höchste Person im Reich, der Repräsentant des Volkes, die Fahne, das Symbol des Vaterlandes. Wenn sichs darum handelt,
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auf der Höhe den Wieg reinzulegen, muß der eigene Vo» theil schweigen. Auch war ich von der dummen lieber^ treibung angeekelt. Hinc illae irael Seit ich den Skandal^ machem das Geschäft verdorben habe, bewerfen sie mich besonders hastig mit Kothklümpchen.
Lehmann: Wenn man aber die einzehien Stellen zusamt menhält . . .
Harden: Das sollte man eben nicht thun. Ich kann nicht zugeben, daß man es so macht. Heinrich Heine hat einmal gesagt, Vtldersprüche könne man ihm nicht nachweisen; denn bevor er schreibe, lese er stets seine sämmtlichen Werke durch, um sich ja nicht zu widersprechen. Das thue ich nicht; ich lese nicht meine sämmtlichen Artikel durch, bevor ich einen neuen schreibe. Ob vorher mal Dies gestanden hat und jetzt Jenes steht: solche Zusammenbäckerei kann ich nicht mitmachen. Will mans so oder so deuten: da stehe ich nicht Rede. Die Sache ist einfach. Graf Kuno Moltke dankt seine Karriere dem Grafen Philipp Eulenburg. Der hat ihn, auch als seinen Aufpasser, an den Hof gebracht. Der Graf war das Werkzeug Philis und wurde zu Dingen benutzt, die er selbst vielleicht oft nicht ahnte. Die Verkehrsformen der Herren waren mündlich und brieflich von einer Ueber^ schwänglichkeit, deren Schilderung ich mir vorläufig versage.
Lehmann: Wir werden nachher in die Lage konunen.
Harden: Ich glaube nicht, daß ich in diese Lage kommen werde. Ich lasse mich nicht weiter treiben, als ich gehen will. Das Sexuelle spielt in diesen Artikeln eine ganz winzige Rolle.
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Die beiden Herren wurden von mir genannt, weil der eine höä# sehe Separatpolitik trieb und der andere ihm die dazu noth# wendigen kleinen Mittel lieferte. Wie weit bei den Herren die Hingebung der Seele oder gar des Leibes gegangen ist, interessirt mich nicht, hat mich nie interessirt.
Lehmann: Das würde uns aber interessiren.
Harden: Zu meinem Bedauern kann ich dieses Interesse nicht befriedigen. In den Artikeln handelt sichs um Anderes. Da wird gesagt: "Wir treiben im Deutschen Reich eine viel zu süßliche und weichliche Politik. Wenn wir, im Bewußtsein unserer Kraft, jede unwürdige Zumuthung ablehnten, wenn wir zeigten, daß imNothfall das Schwert gezogen werden kann, ge# zogen werden wird, sobald die Ehre und die Zukunft der Nation es fordert, dann würde unsere Weltstellung besser sein. Daß der Gedanke richtig war, ist ja jetzt erwiesen. Aber darauf kommt es hier nicht an. Eine Ursache dieser weichlichen Politik sah ich (mit Recht oder mit Unrecht) darin, daß My^ stiker, Süßholzraspler, Spiritisten, kränkliche Männer aller Sorten sich um die Person des Monarchen geschaart hatten. Damals gab es zweierlei Politik: die amtliche und die eulen^ burgische. Die zweite, die okkulte, wurde von Herren be^ trieben, die den Kaiser umknieten. Ich bitte, Das nicht nur bildlich zu nehmen. Diese Herren haben den Enkel V(llhelms des Nüchternen in eine ungesunde, ihren Zwecken ersprie& liehe Romantik zu zerren versucht. Sie sind weg: und der Dunst ist zerflattert. Weggekommen sind sie nach meinen Ar^ tikeln. Ich bitte, endlich sich einmal von dem Gedanken
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loszumacken, hier handle sichs um die BekämpAing und Entschleierung Homosexueller. Die Angegriffenen waren Spiritisten, meinetwegen Theosophen, Mystiker, Leute, die kranke Menschen und Thiere durch Gebete heilen wollten und von denen einzelne auch sexuell abnorm waren. Wird etwa geleugnet, daß solche Abnormität auf die Gesammtpsyche wirkt? Lassen Sie sich von der wissenschafUichen Literatur, von KrafftnEbing bis auf Kraepelin, belehren! Daß solche 3>Männer« von Eulenburg an solche Stelle gebracht wurden, war ein nationales Unglück. Dadurch ist die Atmosphäre entstanden, die eine so schwache, eine so weiche Politik, eine so verhängnißvolle Täuschung über die Realitäten ermög^ lichte. Und da einzugreifen, war nach meiner Ueberzeugung meine Pflicht. Daß es dabei zu Enthüllungen kam, die Men# schenleben vernichteten, ist nicht meine Schuld. Ich habe Keinen denunzirt; trotzdem ich mir dadurch Manches erspart hätte. Habe ich nicht hier in diesem Saal gesessen und den biederen Eulenburg ruhig schwören lassen? Ich hätte ihn jeden Moment vernichten können. Heute wissen Sie es. Idi wollte nicht. Ich habe den Justizrath Bernstein gebeten, ruhig zu sein, als er auEspringen und sagen wollte: Sie haben falsch geschworen, Herr Fürst I Ich wollte und konnte Ihr Ur# theil abwarten. Dann, nach den Hymnen, den Barettorgien, dem Urtheil, das mich entehren sollte, mußte ich handeln. Hätte ichs nicht gethan, so wäre Eulenburg, als ein Ge# reinigter, am Ende gar in die Gunst zurückgekehrt. Das durfte nicht sein.
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Der Vorsitzende versucht wieder, einzelne Steilen der in^ kriminirten» zeitlich getrennten Artikel zu verbinden.
Harden: Der Gerichtshof hat, wie mir scheint, doch nur zu prüfen, ob ich den Grafen Moltke beleidigt habe. Graf Moltke hat sich in der ersten Zeit nicht beleidigt gefühlt, trotzdem er die Artikel kannte, und heute stimmt er mit mir darin überein, daß die Artikel den hier behaupteten Vorwurf nicht enthalten. Früher konnte das Gericht in einem Vorur^ theil befangen sein, alles Gesagte, über Eulenburg Gesagte für falsch halten und zweifeln, ob nicht Alles auf Moltke gehe. Heute weiß man, daß alles über Eulenburg Gesagte wahr ist. Nun fragt sich nur noch, was über den Grafen Moltke ge# sagt worden ist.
Lehmann: Das wollen wir auch prüfen; es läßt sich nur nicht Alles von einander trennen. Nun wollen wir zurück zum Artikel vom achten Dezember 1906. Da reden Sie dai> von, daß man Ihnen imputirt habe, geschrieben zu haben, Herr von Tschirschky sei vom Fürsten Eulenburg, mit dem er lange Beziehungen hatte, dem Kaiser empfohlen worden, und Sie weisen Das mit den Worten zurück: Ich würde es mir dreimal überlegen, ehe ich Jemand Beziehungen zum Fürsten Eulenburg nachsage. Hier sagen Sie zunächst, Sie würden es für einen Mann ehrenrührig finden, wenn er seit Langem enge Beziehungen zu dem Fürsten Eulenburg habe, und trotzdem behaupten Sie fort und fort vom Grafen Moltke, daß er in sehr engen Beziehungen zum Fürsten Eulenburg stehe. Das ist das Geschickte von Ihnen gewesen. Das läßt
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sich so und so drehen. Sie sagen, Sie haben es so aufgefaßt. Die Auffassung läßt für ein harmloses Gemüth eine Andeu^ tung zu oder eine Auffassung zu, die auf dieses Homosexu# eile gar nicht zu kommen braucht. Aber andererseits wird es auch wieder Leute gegeben haben, die eben Das finden.
Harden: Es ist nicht möghch. Zvrischen uns ist keine Verständigung möglich. Wir sind auf verschiedenen Planen ten geboren. Ich bin so geschickt! Ja, lieber Gott, warum rede ich denn überhaupt hier so lange? Für mich doch nicht! Glauben Sie, daß ich das Alles nöthig hätte? Daß ich vor Ihrem Urtheil Angst habe? Ich rede für das Land, dem ich die Beweisau&ahme und deren Folgen ersparen will, und muß mir dann sagen lassen, ich sei so geschickt, was heißen soll, ich sei feig. Nein, verurtheilen sie mich doch! So streng, wie Sie wollen. Ich will meine Artikel nicht länger interpre# tiren. Ich habe es sattl Nehmen Sie es auf sich vor dem Lande! Ich furchte mich nicht.
Lehmann: Aber es hat doch keinen Anlaß gegeben.
Harden: Nach diesen Stunden muß ich mir sagen lassen, ich sei so »geschickt«, in diesem Saal, wo ich der Einzige bin, der ohne Reue an das hier Geschehene zurückdenken darfl Nein, meine Herren, ich bin nicht mehr so krank wie damals, wo ich mit mir umspringen ließ, wie es Jedem be^ liebte. Sie können mit mir machen, was Sie wollen; ich gebe mich aber nicht zu weiteren Inquisitionversuchen her. Sie mögen thun, was Sie wollen: Unwürdiges dulde ich nicht.
Lehmann: Unwürdig kann es nicht sein. Wenn ich sage,
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daß Sie ein großer Dialektiker sind, dann kann ich nicht verstehen, was darin für Sie unwiirdig sein soll. Ich muß wirklich sagen, daß mir Ihre Aufregung gar nicht verstände lieh ist. Ich habe eben nur sagen wollen, daß Sie dialek^ tisch . . .
Harden: Nachdem ich mich Stunden lang bemüht habe, AUes zu vergessen, was hier geschehen ist, und ruhig Ihnen Rede zu stehen, sagen Sie mir wieder: »Sie sind so geschickt! Und mit dieser Geschicklichkeit hoffen Sie feiger Kerl sich der Strafe zu entziehen I«
Lehmann: Davon habe ich nichts gesagt.
Harden: Aber es lag hinter den Worten.
Lehmann: Ich muß doch darauf hinweisen, daß die Staats^ anwaltschaft die Artikel so ausgelegt hat.
Harden: HatI Im November 1907. Fragen Sie Herrn Isenbiel heute danach I
Lehmann: Wenn ich Ihnen jetzt Vorhaltungen mache, dann sind es nicht meine persönlichen Vorhaltungen, sondern ich habe die Pflicht als Vorsitzender, sie machen zu müssen, und muß Ihnen vorhalten, was die Anklage angenonmien hat. Ich thue Das gerade deshalb, damit ich von Ihnen höre, was nun Sie darauf zu sagen haben. Ich muß, es bleibt mir nichts übrig, Ihnen auch diejenigen Momente vorhalten, die in der Anklage als gegen Sie sprechend betont worden sind. Das läßt sich nicht vermeiden. Ich verstehe blos gar nicht, daß Sie sagen wollen, ich sei Das und ich bringe Das vor. Es ist als Vorsitzender meine Pflicht, Das zu thun. Ich habe
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die Aufgabe, Das mit Ihnen durchzusprechen, und es ist mir unverständlich, wie Sie jetzt darüber in diese Rage ge^ rathen können.
Harden: Wenn ich lauter geworden bin, als es nöthig ist, so ist Das sehr bedauerlich. Aber hier sitzen doch wohl in# telligente Männer, die einigermaßen ein Gefühl für Das haben müssen, was hier vorgeht. Nach Stunden wird mir gesagt: Das ist es eben, Sie sind so geschickt und machen es schlau. Es gibt keinen Kulturstaat der Welt, wo Das einem Schrift^ steller von dem Range des Herrn Harden gesagt werden könnte; keinen, glauben Sie mirsi Und wenn es geschähe, vrürden gerade wir schreien: Welche Zustände! Denken Sie an Zolas Haltung und Behandlung vor Gericht. Sie haben mich gezwungen, stolz zu reden. Ich habe im Leben Etwas geleistet, ich bin auch als Angeklagter noch eben so viel wie Jeder hier im Saal und lasse mir unwürdige Behandlung nicht bieten.
Lehmann: Von unwürdiger Behandlung kann nicht die Rede sein, wenn ich weiter nichts thue, als Ihnen Dasjenige vorhalten, was als beanstandet in der Klageschrift hervorge^ hoben worden ist.
Harden: Man hat immer die Kraft und Geduld, das Lei# den Anderer zu ertragen. Aber ich habe nicht mehr den Völlen, hier mitzuwirken. Ich habe mich, um entgegenzu^ kommen, den wiederholten Aufforderungen des Herrn Frä# sidenten gefugt. Ich habe die Erklärung gegeben; das Resul^ tat ist, daß ich nach Stunden der Rednerei von Ihnen einer
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unwürdigen Gesinnung bezichtigt werde. Wir können uns nicht verständigen. Nie wird mir gelingen, mich mit Ihnen zu verständigen. Niemals. Also verurtheilen Sie mich gleicht
Lehmann: Aber es ist meine Pflicht, Ihnen Das vorzu«* halten, was die Anklage nun mal sagt, und die Anklage hat gesagt: Hier liegt ein Doppelsinn darin. Bleibt mir gar nichts Anderes übrig. Ich würde meine Pflicht nicht erfüllen, wenn ich das Ihnen nicht vorhalten würde.
Harden: Darüber darf ich mir kein Urtheil erlauben. Wenn die Pflicht Sie zwingt, einen Mann, der sich bemüht, die Sache mit Schonung aller . . .
Lehmann: Wir wollen nicht schonen, wir wollen die Wahrheit hören.
Harden: Aber ich will es. Ich treibe nicht Juristerei; sondern Politik. Und das Reichsinteresse ist für mich kein Justizbegriff. Darum habe ich gesagt und wiederhole es: Verurtheilen Sie mich wieder; ich kann es ertragen. Wozu noch kostbare Zeit verlieren und so intelligente, so beschäl tigte Herren länger bemühen? Wenn ich, nach AUem, was geschehen ist, nach Allem, was Sie bedauern müßten, nach so vielen Urtheilskorrekturen durch die Ereignisse hier noch in der Rolle des armen Sünders stehen muß, dem gesagt wird: Das ist es ja bei Ihnen, Sie sind so geschicktl . . Nein, meine Herren: von Ihnen zu mir fuhrt keine Brücke. Sie können mich verurtheilen. Sie können mich niemals richten.
Lehmann: Ich muß aber die ganzen Artikel mit Ihnen durchgehen. Es bleibt mir nichts übrig; ich muß es thun.
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Harden: Ich kann nicht gezwungen werden, noch zu antworten; meine Nervenkraft ist auch nachgerade verbraucht.
Lehmann: Es war meines Erachtens unnöthig, daß Sie so aufgeregt waren.
Harden: Ich bitte jeden der fünf Herren, sich in meine Lage zu versetzen. Ich habe eine ziemlich geachtete Stellung in der Welt; denken Sie sich, Sie ständen hier und ich säße da, und nach AUem, was geschehen ist, und nach allen die^ sen Stunden müßten Sie sich sagen lassen: Ja, Das ists, Sie sind so geschickt, Sie versuchen, zu entschlüpfen. Was würden Sie wohl empfinden? WürdenSie es ertragen oder aufschreien? Ich lasse mir von Ihnen nicht die Haut schinden. Ich habe gesagt, was ist. Glauben Sie mir nicht, so verurtheilen Sie mich zu der höchsten Strafe, die Ihnen erreichbar ist. Das können Sie; sofort. Ich habe nichts dagegen. Aber Sie köni» nen nicht verlangen, daß ich meine Seelenhaut zu weiteren Experimenten hergebe, die man einem Menschen von Repu^ tation und Lebensleistung nicht zumuthen dürfte. Es giebt eine Kulturstufe, auf der man Schriftsteller eines gewissen Ranges, so lange sie nicht als Schweine erwiesen sind, be^ handelt wie Kavaliere. Will man nicht: gut; dann habe ich dieses Symptom unseres Kulturstandes zu verzeichnen.
Lehmann: Ich verstehe nicht, was ich gesagt haben soll. Ich habe gesagt: Aeußem Sie sich auf die Anklage, die Ihnen vorwirft, zweideutig gewesen zu sein; daß es hier herausge^ lesen werden kann.
Harden: Ich habe von dem Mächtigsten dieser Gruppe
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das Härteste offen gesagt. Der Wortlaut liegt vor Ihnen. Ich habe es auch in der Kritik anderer im Reich Mächtigen an schroffster Deutlichkeit nie fehlen lassen. Soll ich gerade vor dem guten Grafen Kuno Moltke zittern? Ich habe über ihn gesagt, was mir nöthig schien, habe ihm, wie er selbst zu^ giebt, nicht Homosexualität vorgeworfen; und wenn Sie mich für einen Mann halten, der zu Haus sitzt und überlegt, wie er durch die Maschen des Strafgesetzbuches kommen kann, dann, verzeihen Sie, können Sie nicht lesen und haben kein Ohr für Persönlichkeit.
(Nach Detailerörterungen wird eine Pause beschlossen.) Lehmann: Wir müssen annehmen, daß hier dem Grafen Moltke Homosexualität und homosexuelle Handlungen vor^ geworfen werden. Es würde sich darum handeln: Ist Das, was Sie ihm vorgeworfen haben, wahr oder nicht? Es fragt sich, welchen Standpunkt man einnimmt. Der Angeklagte hat keine Beweislast und er kann nur dann fiir schuldig er# klärt werden, wenn Das, was er behauptet hat, nicht wahr ist, und der Gerichtshof hat sich davon eine Ueberzeugung zu verschaffen. Er hat Das auch zu beweisen. Aber es liegt ja natürlich im Interesse des Angeklagten, dem Gerichtshof Momente an die Hand zu geben, aus denen Der nun schöpf fen kann, daß Das, was er behauptet hat, wahr ist. Der Gtp richtshof würde nur dann zu einer Schuld Ihrerseits kommen, wenn angenommen wird, Graf Moltke habe sich nicht horno^ sexuell bethätigt. Die Ueberzeugung muß der Gerichtshof haben. Er muß sie sich verschaffen. Der Angeklagte braucht
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sie nicht zu verschaffen, er hat keine Beweislast. Aber ich habe vorhin schon betont, das es Etwas ist, das für den An^ geklagten günstig ist; so liegt es in seinem Interesse, zu sagen : Ich habe Das und Das anzugeben nach der Richtung.
Harden: Herr Präsident, die Stunden, in denen ich die Ehre hatte, hier sprechen zu dürfen, habe ich benutzt, um Ihnen zu sagen: Ich habe in meiner Zeitschrift den Grafen Moltke nicht der Homosexualität beschuldigt. Es wäre inkon^ sequent, wäre thöricht, wenn ich mich jetzt hinstellen und sagen würde: Weil Sie annehmen könnten, ich habe den Vorwurf gemacht, will ich seine Berechtigung hier beweisen. Dazu kommt das Schriftstück, auf dem Graf Moltke anert^ kennt, daß ich ihm diesen Vorwurf in meiner Zeitschrift nicht gemacht habe. In diesem Stadium der Sache liegt für mich nicht der mindeste Grund vor, Beweise gegen den Grafen Moltke zu produziren. Und meine Empfindung? Ich sage Ihnen offen: Wenn ich zu wählen hätte, ob ich den Grafen Moltke dahin, wo sein bester Freund heute ist, bringen oder in Peterwitz oder Breslau ruhig sitzen lassen wolle, so würde ich unbedingt die zweite Möglichkeit vorziehen; ich würde ihn in Ruhe lassen. Ich konnte genöthigt sein, furchtbar traurige Mißstände ohne Erbarmen zu entschleiern, so lange ich glaubte, diese Entschleierung sei nöthig, damit die Miß^ stände beseitigt werden. Auch da habe ich, wie Sie alle wis«* sen oder wenigstens wissen könnten, mich Schritt vor Schritt erst drängen lassen. Von Gerichten. In dem Augenblick aber, der jetzt gekommen ist, lautet die Frage so: Vtlllst Du,
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Harden, nur um Dich einer etwa möglichen Strafe zu tnU ziehen, Dich zu neuen Entschleierungen entschließen, deren Folgen noch gar nicht zu übersehen sind? Diese Frage würde ich mir gar nicht erst stellen; und sie, wenn ein Anderer sie stellte, rundweg verneinen. Meine Artikel liegen vor Ihnen. Das, was ich darüber zu sagen hatte, habe ich gesagt. Ich kann, wenn es gewünscht wird oder wenn es mir im Verlauf der Sache irgendwie nöthig erscheint, noch besser und klarer es zu sagen versuchen. Wenn der Gerichtshof mich dann verurtheilt: vortrefflich; dann ist ein vorläufiger oder defini^ ver Abschluß der Sache erreicht (und ich werde die Konse^ quenzen zu tragen wissen, wenn es ein definitiver ist). Irgendi« eine weitere Unterlage zu »Feststellungen« zu liefern, habe ich in diesem Moment gar keine Veranlassung. Was sollte mich bestimmen? Die Furcht vor einer neuen irrigen Deu^ tung? Die Furcht vor einer Strafe? Niemals.
Lehmann: Dann bleibt nur übrig, daß wir den Grafen Moltke fi'agen, ob er homosexuell sich bethätigt hat.
Preuß: Ich würde vorschlagen, den Herrn Vertreter des Nebenklägers darüber zu hören, wie er sich zu der Beweis^ aufnähme, überhaupt zu den Auslassungen des Herrn An^ geklagten stellt.
Sello: Ich stehe auf dem Standpunkt und habe von An^ fang an darauf gestanden, daß nach den Erklärungen vom neunzehnten und zweiundzwanzigsten März, die von dem Herrn Nebenkläger aus eigener Initiative abgegeben wurden, nicht nothwendig sein wird, die Frage an ihn zu stellen. Die
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Behauptung ist nicht aufgestellt; Graf Moltke hat erklärt, er finde in den Artikeln des Herrn Harden nicht den Vorwurf der Homosexualität.
Lehmann: Weiter haben Sie nichts zu erklären?
Sello: Ich wüßte nicht, was ich weiter erklären sollte. Ich werde voraussichtlich keine Anträge stellen.
Bernstein: Auch ich werde keine Beweisaufnahme bean^ tragen. Ich bin der Meinung, daß es nicht dem Sinn und der Intention des Gesetzes entspräche, wenn eine Beweise aufiiahme stattfände über einen nach der übereinstimmenden Angabe des Klägers und des Angeklagten nicht gemachten Vorwurf. Hat das Gericht überhaupt das Recht, eine von keiner Seite aufgestellte Behauptung auf ihre Wahrheit hin zu prüfen? Ich glaube, nicht einmal das Recht; um wie viel weniger die Pflicht I Das Gericht fragt: Herr Angeklagter, für den Fall, daß das Gericht diesen Vorwurf aus Ihren Aeußerungen entnimmt, wie gedenken Sie ihn zu beweisen? Aus irgendwelchen Gründen (und es sind die alleredelsten Gründe, die Herrn Harden zur Reserve bestimmen) sagt der Angeklagte: Ich wünsche gar nicht, hier Etwas zu beweisen. Dann hat der Gerichtshof zu antworten: Schön, Herr An^ geklagter, dann müssen Sie die Konsequenzen tragen.
Lehmann: Ja, wenn der Gerichtshof von der Unwahre heit der Behauptung überzeugt ist.
Bernstein: Nehmen Sie an, wir hatten jetzt eine Ver^ handlung und das Gericht würde sagen: Ich bin nicht über^ zeugt von der Unwahrheit der Behauptung, die der Ange#
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klagte bestreitet. Nach meiner Auffassung dürfte ohne Untere läge das Gericht Das gar nicht äußern. Der Nebenkläger könnte dem Gericht das Recht bestreiten. Uebrigens erklärt sich der Herr Nebenkläger ja fiir befriedigt.
Lehmann: Wenn der Herr Nebenkläger Das von An^ fang an gesagt hätte, wäre es schön.
Bernstein: Inzwischen ist doch sehr Vieles geschehen. Giebt es ein Hindemiß, durch die Ereignisse sich belehren zu lassen? Ich beantrage ausdrücklich, von jeder Beweisau^ nähme abzusehen.
Preuß: Ich schließe mich dem Antrag an.
Sello: Ich schließe mich ebenfalls an. Mein Klient ist nach allen vorliegenden ärztlichen Zeugnissen ein Todeskandidat, der den Wunsch hat, den Rest seines Lebens unangefochten in ländlicher Zurückgezogenheit zu verbringen. Er ist mit dem Wunsch an das Gericht gekommen, ausgestattet mit einem Zeugniß von seinem Arzt, welches lautet: »Herr Kuno Graf von Moltke leidet an einer chronischen Erkran^ kung des Nervensystems«, von körperlichen Anstrengungen und seelischen Aufregungen befreit zu bleiben. Er untere nahm die Rückreise von Meran nach Berlin gegen den ärzt^ liehen Rath. Herr Harden hat auf Zuspruch die Erklärung abgegeben, daß in den Artikeln der Vorwurf der Homo^ Sexualität nicht erhoben sei, und Graf Moltke hat sich davon überzeugt, daß der Vorwurf in den Artikeln gegen ihn nicht ausgesprochen sei. Ich brauche nicht zu erklären, daß in der Zwischenzeit sich Mancherlei zugetragen hat, was auf die
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Au££sissung der Artikel durch den Herrn Nebenkläger von Einfluß sein konnte, so daß er sich hat überzeugen können, daß die Spitze gerade nach dieser Richtung hin sich gegen einen ganz Anderen richtet als gegen ihn, und wohl aus dieser Ueberzeugung (ich kann ja in der Seele eines Anderen nicht stecken) hat der Herr Nebenkläger sich gesagt: Durch die vorige Verhandlung ist objektiv nachgewiesen, daß der Vor^ wurf der Homosexualität mich nicht trifft, ich habe^ deshalb auch keine Veranlassung, mich in diesem Verfahren zu ver^ antworten gegen einen Vorwurf, der gar nicht erhoben ist. Von diesem Standpunkt aus bin ich der Meinung, daß wir weder in objektiver noch in subjektiver Beziehung einer Beweisaufiiahme bedürfen.
Preuß: Ich darf wohl noch eine Frage an den Herrn Justizrath richten. Ich verstehe doch richtig, daß die Absicht des Grafen Moltke dahin gegangen ist, den Stra&ntrag zurückzuziehen, und daß es ihm außerordentlich erwünscht wäre, wenn die Wirkung des Stra&ntrages vereitelt vrürde.
Sello: Ich habe keinen Zweifel darüber, diese Erklärung abgeben zu dürfen.
Harden: Die Beleidigung wird nur auf Antrag verfolgt. Dieser Satz kann im Vemunftbereich, zu dem auch das Offizialverfahren immer gehören müßte, nur bedeuten: Die Beleidigung wird nur verfolgt, so lange der Beleidigte die Ver# folgung wünscht. Wünscht er sie nicht mehr, fühlt er sich nicht mehr beleidigt, so ist die Verfolgung zwecklos; es soll nicht unhöflich klingen, wenn ich sage: sinnlos. Die Mei#
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nung über Worte, durch die man sich verletzt fühlte, kann sich ändern. Es ist wohl nicht allzu geschmacklos, wenn ich an Das erinnere, was sich hier vorhin abspielte. Ich habe mich aufs Tie&te beleidigt gefühlt und bin dann durch Er^ klärungen, die den Herrn Vorsitzenden ehren, zu der Ueber^ Zeugung gekommen, daß er in diesem Augenblick nicht die Absicht hatte, mich zu beleidigen. Wenn es keinen Beleih digten mehr giebt, sollte man auch nicht mehr nach einem Beleidiger birschen. Wie liegt denn hier nun die Sache? Graf Moltke hat sich zunächst durch die Artikel gar nicht beleidigt gefühlt. Die Anderen aber, die nichts gegen mich zu unternehmen wagten, haben ihn gehetzt und vorgeschickt; vielleicht, weil sie meinten, er könne es noch eher als sie riskiren. Oder weil sie ihn fiir naiv und leichtgläubig hielten und ihn skrupellos ins Ungemach stoßen wollten. Darüber mögen die Meinungen auseinandergehen. Nun muß der Vorgehetzte wohl eingesehen haben: Du hast wirklich einen großen Theil Deines Lebens zwischen solchen Leuten ver^ bracht und hast sie nicht erkannt. Auf der Basis dieser neuen Erkenntniß mag der Graf die Artikel noch einmal gelesen und sich gesagt haben: Im Grund ist das wirklich Harte nicht gegen Dich gerichtet, sondern gegen Andere, und zwar (was (ur Den, der es geschrieben hat, erhebhch ins Gewicht fiillt) mit vollem Recht. Graf Moltke, den ich fiir einen Patrioten halten muß, wird sich gesagt haben: Was da ein Privatmann mit Gefährdung seines Lebens (nicht nur seiner Freiheit: die Kinaedenzunft hat mir ganz direkt nach
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dem Leben getrachtet und ein junger Lieutenant aus sehr noblem Haus hat geschworen, er werde mich abschießen) unternommen hat, war nothwendig und hat sich als nützlich erwiesen; deshalb werde ich als Christ und deutscher EdeU mann nicht daran mitwirken, daß er verurtheilt wird und entweder einen noch größeren Vermögensverlust hat oder gar mit seinen ramponirten Gesundheitverhältnissen ins Ge^ fangniß kommt; deshalb unterzeichne ich die Erklärung und lasse Herrn Harden fragen, ob er sie auch unterzeichnen wolle. Dann haben wir die Möglichkeit, die Sache aus der Welt zu schaflFen. Was soll nun geschehen? Meine Artikel sind da und ich habe gesagt, was meine Artikel bedeuten. Ich meine, kein Gericht hätte je das Recht, einfach aus der Tiefe des Gemüthes die Behauptung zu schöpfen, meine Interpretation sei falsch. Dafür müßte ein Beweis erbracht werden. Das einfach »thatsächlich festzustellen«, mag ein Brauch sein; doch ists einer, von dem der Bruch mehr ehrt als die Befolgung. Ein Beweis gegen meine Erklärung des von mir Geschriebenen, Gedruckten ist von keiner Seite er^ bracht oder auch nur versucht worden; und um meine Artikel handelt es sich doch. Die haben nützlich gewirkt, durch die fiihlt Graf Moltke sich nicht beleidigt und gegen ihre Nuancirung ist dadurch nichts erwiesen, daß ein Herr in der Robe sie bestreitet.
Weiter. Ich habe diese Sache von An&ng an als Politiker geführt und werde sie stets so fuhren; auf jede Gefahr. Sie sind Richter, meine Herren. Wenn gesagt wird, Gerichte
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sollen keine Politik treiben, ist aber nicht gemeint, der Rich^ ter solle vergessen, daß er in der Welt der Wirklichkeit lebt und das Wohl seiner Heimath zu wahren hat. Nach inneren und äußeren Kämpfen geht es unserem Reich endlich etwas besser. Vor Ihnen steht ein Mann, den Sie vielleicht nicht leiden mögen, dessen Stil, dessen Art Ihnen nicht sympathisch ist, der in seinem schweren Leben aber nichts gethan hat, was irgendwie seine Ehre mindern, seinen Muth in Frage stellen kann. Dieser Mann sagt Ihnen, in Uebereinstimmung mit dem Kläger: Die Beschuldigung, die Sie herauslesen wollen, steht nicht in diesen Artikeln. Dürfen Sie ihm, weils Ihnen so gefallt, den Glauben weigern? Ich habe in jedem Stadium der leidigen Sache, ohne Rücksicht auf meinen Vor^ theil, vor einer Beweisaufnahme gewarnt. Weil ich waffenlos war? Heute glauben Sie Das nicht mehr. Jedesmal hat sich die Berechtigung meines Wamens nachher ergeben. Hören Sie diesmal endlich darauf! Thun Sie, was Sie wollen; ver^ urtheilen Sie mich: Das interessirt mich wirklich nicht. Aber ersparen Sie dem Reich neuen Lärm von weithin hörbarem Widerhall. Heute, wo es uns endlich ein Bischen besser geht. Jedes Urtheil kann ich hinnehmen; nicht jede »Fest^ Stellung«. Niemand verlangt, daß Sie Zeugen hören. Der Herr Oberstaatsanwalt, der Herr Vertreter des Nebenklägers sind gegen die Vernehmung des Grafen; gegen dessen beei^ dete Aussage. Sie haben meine Artikel und können in sie hinein, aus ihnen heraus lesen, was Ihnen beliebt. Wenn Ihr Gewissen dazu stark genug ist, verurtheilen Sie mich; aber
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stellen Sie nicht »fest«, was ich dann wieder umstürzen muß. Muß» meine Herren! Ich habe nur eine einzige Bitte: Keine Beweisau&ahme I
Lehmann: Falls nun das Gericht aber doch annimmt, die Homosexualität sei behauptet worden?
H a r d e n : Das muß ich dem Gerichtshof anheimstellen. Hier sind drei Parteien, wenn ich so sagen darf: Ankläger, Neben^ kläger, Angeklagter; alle drei einig in dem Bewußtsein, daß es Situationen giebt, in denen man den Muth haben muß, höher zu fühlen als am Alltag. Alle Drei bringen gewisse Opfer, Jeder in seiner Weise, und sagen: Wir lehnen die Verantis wortung dafür ab, daß Herrn Harden ein Beweis aufgezwun^ gen wird, den er in diesem Augenblick unter keinen Um^» ständen fuhren will. Gründe? Unter anderen der, daß Herr Harden ja nicht aufMoltke beschränkt werden könnte; daß er natürlich die ganze Gruppe beleuchten dürfte und müßte. Ich habe gar kein Bedürfiüß, hier die Prozesse gegen Eulenburg und Genossen zu fuhren. Will die Vierte Strafkammer die Ver^ antwortung auf sich nehmen, die wir Drei ablehnen ? Dann mag sies thun. Ich kann nur noch einmal dringend bitten : Zwingen Sie mich nicht, den eigennutzlos gewählten Standpunkt aufzu^ ^ebenl Hier ist die Gelegenheit, zu Aller Nutzen und Keinem zum Leid eine traurige Sache, die aber unvermeidlich war, end^ giltig zu bestatten. Erfüllen Sie meinen Wunsch, dann wird weder kriminalistische noch publizistische Behandlung mehr nöthig sein; selbst wenn Sie den Muth haben, eine Strafe zu verhängen. Die ist in diesem Fall winzige Nebensache.
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Lehmann: Aber das Recht?
Harden: Das Recht» Herr Präsident, ist nicht eine Sache die man sich in einem Reagensglas aufbewahrt denken darf. Das Recht war, ist und wird immer sein: das Resultat von Kraftverhältnissen, die sich durchzusetzen versucht haben. Das Recht bleibt stets mit politischen und sozialen Erwä^ gungen aller Art durchtränkt. Wenn die Herren nun zurück^ kommen und verkünden: Du hast uns zwar eine Interpreta^ tion gegeben, gegen die wir nichts Haltbares vorbringen können; aber wir, die nicht unbefangen, sondern unter einer Suggestion an die Lecture gingen, finden Anderes darin; wittern im April 1909 Anderes, als im Winter 1906 gesagt war: Ist Das dann »Recht«? War Ihr voriges Urtheil, das mit all seinen thatsächlichen Feststellungen vernichtet ist, etwa »Recht«? Sind Sie jetzt auf dem Weg zu sicherer Wahr^ heit? Sie stehen vor ernster Entscheidung. Und werden ge^ wiß den Satz nicht vei*gessen: Summum jus summa injuria.
Das Gericht beschließt, dem Grafen Moltke nur die eine Frage vorzulegen, ob er sich homosexuell bethätigt habe.
Lehmann: An den Herrn Grafen soll nur die Frage ge^ richtet werden: Haben Sie sich homosexuell bethätigt? Wei^ ter wollen wir nichts. Aber die Frage brauchen wir; sonst können wir nicht zu einer Verurtheilung kommen.
Harden: Darauf bestehe ich ja nicht. Ein anderer Ausi^ gang als die Verurtheilung wäre immerhin denkbar.
Lehmann: Ich wollte sagen: zu einem Urtheil.
Harden: Und wenn die Basis, die der Gerichtshof für
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nöthig hält, geschaffen ist, dann, vermuthe ich, wird der Be«» weis dafür kommen, daß ich behauptet habe, der Graf habe sich homosexuell bethätigt.
Lehmann: Ja.
Harden: Danke.
Pause.
Lehmann: Herr Graf von Moltke, wir wollen nur die Frage an Sie richten, ob Sie homosexuell sich bethätigt haben. Das ist unsere Hauptfrage, die wir haben. Selbstverständlich braucht Jemand auf Fragen, durch deren Beantwortung er sich einer strafbaren Handlung schuldig bekennt, keine Ant^ wort zu geben. Die Aussage muß der Wahrheit entsprechen. (Der Zeuge wird beeidet.) Mit Vornamen heißen Sie?
Zeuge Graf von Moltke: Kuno.
Lehmann: Sie sind wie alt?
Moltke: Einundsechzig Jahre. Evangelisch.
Lehmann: Ich bitte, die Frage zu beantworten.
Moltke: Ich bin meiner festen Ueberzeugung nach nicht homosexuell veranlagt, habe nie zu männlichen Personen eine sinnliche Leidenschaft empfunden und nie mit mann«» liehen Personen geschlechtlichen Umgang gehabt.
Lehmann: Das wollte der Gerichtshof wissen. Auf weitere Fragen will ich keinen Werth legen. Haben die Pro^ zeßparteien Fragen an den Herrn Zeugen?
Harden: Ich bleibe so lange, wie es mir möglich ist, auf dem Boden der auf Wunsch des Grafen Moltke von mir unterzeichneten Erklärung und werde abwarten, wie diese
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Aussage verwerthet wird. Davon muß ich meinen Entschluß abhängig machen. Ich habe im Augenblick also keine Frage zu stellen.
Sello: Ich möchte beantragen, den Herrn Zeugen zu ent^ lassen auf Grund des letzten ärztlichen Zeugnisses, dessen Inhalt ich schon mitgetheilt habe.
Lehmann: Steht Etwas entgegen?
Harden: Ja; ich könnte, zu meinem Bedauern, nicht ein^ willigen.
Lehmann: Dann bitte ich, Platz zu nehmen, Herr Graf. Der Gerichtshof würde dann wohl kein weiteres Interesse mehr haben. Es würde ja vielleicht ganz wünschenswerth für den guten Glauben sein, wenn Sie, Herr Angeklagter, uns sagten, was Sie gehört haben, so einige kleine Züge aus dem Eheleben, die Sie auch dazu gebracht haben, anzunelu men, daß Graf Moltke homosexuell sei. Ich habe ja die Pflicht, auch Das hervorzuheben, was für den Angeklagten spricht, und muß Das auch als Vorsitzender herausholen und deshalb möchte ich Sie bitten, diese Hauptmomente uns zu sagen nach der Richtung.
Harden: Ich darf die freundliche Absicht nicht veri« kennen; aber ich kann, aus oft wiederholten Gründen, zur Ausführung nicht mitwirken. Ich habe in diesem Augenblick nichts weiter zu sagen.
Lehmann: Sie machen es uns schwer, wirklich; wir wollen möglichst objektiv ein Urtheil fallen und auch Das wür^ digen, was für den Angeklagten spricht, und es ist doch
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Pflicht. . . Nein. Das kann ich nicht sagen. Der Angeklagte kann thun und lassen» was er will ; aber ich meine, er sollte uns doch auch Das unterbreiten, was für ihn spricht.
Harden: Herr Präsident, wenn ich an der subjektiven Unbe&ngenheit des Hohen Gerichtshofes Zweifel hätte, so diirfte ich sie nicht aussprechen. Ich habe aber die allerstärk^ sten Zweifel an der objektiven Unbefangenheit des Gerichts^ hofes, die berechtigtsten Zweifel; denn er ist an die Sache mit einer Meinung herangetreten, die zu finden erst Aufgabe der Verhandlung gewesen wäre. Mit der Meinung, daß in den Artikeln stehe, Graf Moltke habe sich homosexuell bethätigt. Das hat selbst der Staatsanwalt, der die Anklage erhoben hat, nicht behauptet. Dieser Gerichtshof hält es ein^ fach für erwiesen. Das ist die Folge einer Massensuggestion. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Sie stellen fest, trotz dem Widerspruch beider Parteien, was ich gesagt habe, und zwin# gen dann, abermals gegen unseren eigenen Protest, den Herrn Grafen, in eigener Sache zu schwören. Da ist für mich die Möglichkeit einer Mitwirkung nicht gegeben. Ich kann in dieser Verhandlung nicht eine sehen, die auch nur irgend^ wie dem Interesse des Angeklagten gerecht wird. Ich sage Das nur, weil ich dazu provozirt worden bin.
Lehmann: Sie sollten aber jetzt dem Gerichtshof doch Angaben machen. Sagen Sie uns doch nur die Momente, die Sie uns in der früheren Verhandlung auch mitgetheilt haben.
Harden: Hier giebts doch nur zwei Möglichkeiten. Entweder den unbarmherzigen Kampf, gegen den das in
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der vorigen Verhandlung Vorgebrachte (an der ich, als Schwerkranker, gar nicht mitwirken konnte) ein sanftes Geplänkel wäre, oder das loyale Beharren auf dem Stande punkt, auf den ich mich auf Anregung des Herrn Grafen und seiner Freunde gestellt habe. Ein Drittes giebt es nicht Mein guter Glaube? Darüber soll ich reden? Wenn Sie den, nach allem Geschehenen, noch diskutiren wollen: ich kann Sie nicht hindern. Aber mitreden? Ich danke. Wie die Dinge jetzt stehen, bleibt nichts übrig, als die Plaidoyers zu hören.
Lehmann: Es bleibt dann wirklich nichts übrig. Ich hatte geho£ft, daß Sie uns die Momente, die Sie aus dem Eheleben gehört haben, darstellen würden.
Harden: Herr Präsident, ich vermag offenbar nicht so, wie ich es wünschte, mich verständlich zu machen. Ich würde doch der äußersten Inkonsequenz schuldig werden. Ich habe, im Einvernehmen mit dem Herrn Nebenkläger, immer wie^ der gesagt: Der Vorwurf ist in den Artikeln gar nicht ge^ macht worden. Nun soll ich sagen: Ich habe ihn doch ge«s macht und ich hatte die und die Symptome dafür. Das könnte ich weder vor dem Herrn Grafen noch vor mir selbst rechtfertigen* Und deshalb tue ichs nicht.
Lehmann: Nennen Sie uns doch die Thatsachen, die Sie gehört haben.
Harden: Wohin kämen wir dann? Zu Dem, was ich nicht will.
Lehmann: Das, was ich will, ist zu Ihren Gunsten,
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Harden: Das verkenne ich durchaus nicht.
Lehmann: Es wäre gut, wenn Sie sagten: Das und Das war mir auflallig. Da die friiheren Aufstellungen vom Reichst gericht aufgehoben worden sind, müssen wir Etwas haben, das wir fiirs Urtheil verwerthen können.
Harden: Wenn der Gerichtshof der Meinung ist, daß er irgendwelche thatsächlichen Feststellungen noch braucht, für oder gegen den Angeklagten, so hat er ja die Macht, sie sich zu schaffen. Ich muß meine Mitwirkung verweigern. Wir sind, Herr Präsident, eben verschiedener Meinung über Das, was dem Interesse des Angeklagten entspricht. Ich bin der Meinung, der Angeklagte hat in diesem Verfahren nur das Interesse, nachzuweisen, daß in seinen Artikeln (um die allein es sich heute handelt) homosexuelle Bethätigung des Grafen Moltke nicht behauptet worden ist.
Lehmann: Aber wenn der Gerichtshof sich auf einen anderen Standpunkt stellt, muß ich auch in diesem Fall für m^ den Angeklagten sorgen.
Harden: Volenti non fit injuria.
Lehmann: Das geht nicht. Wu: sind nicht im Civilpro^ zeßverfahren. Das wäre für das Civilprozeßverfahren richtig. Im Strafprozeßverfahren geht es nicht.
Harden: Ich glaube nicht, daß der Herr Präsident irgend^ eine Möglichkeit hat, mich zu veranlassen, über Dinge zu sprechen, über die ich nicht sprechen will.
Lehmann: Nein. Wir können den Angeklagten nicht zwingen, zu sagen, was zu seinem Gunsten spricht. Das ist
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richtig. Aber es wäre verständig, wenn er es thäte und so dazu beitrüge, daß das Urtheil der Sachlage entspricht.
Harden: Herr Präsident, wenn der Gerichtshof nach Allem, was er hier gehört und auch gesehen hat, die Grunde läge für ein gerechtes Urtheil noch nicht gefunden hat . . .
Lehmann: Ja, jedes Urtheil muß aber begründet werden, läßt sich nur auf Thatsachen begründen, die in der Verbands lung vorgeführt worden sind. "Wir haben bis jetzt nach der Richtung keine greifbaren Thatsachen.
Harden: Es giebt noch eine Partei in diesem Prozeß: die Anklagebehörde. Der Herr Vertreter der Anklagebehörde muß doch wohTOen Eindruck haben, was hier vorliegt, genüge ; sonst würde er versuchen, durch Zeugenaussagen das ihm nöthig Scheinende feststellen zu lassen. Ueber die Nothwendigkeit kann man offenbar also verschiedener Meinung sein.
Lehmann: Ich wollte eine weitere Beweisaufnahme eben vermeiden und deshalb hören, was Sie uns sagen. Wii könn^ ten Ihnen dann ja Glauben schenken und ein Urtheil auf Grund Ihrer Angaben fallen.
Harden: Das ist ja recht freundlich gemeint. Aber da den Angaben, die ich mit Einsetzung meiner seelischen Kraft hier gemacht habe, nicht geglaubt worden ist: warum sollte mir geglaubt werden, wenn ich erzählte, was die frühere Ehe^ frau und deren Verwandte mir berichtet haben?
Lehmann: Ich meine, Sie könnten es versuchen.
Harden: Welche Rolle soll ich dem anwesenden Herrn Nebenkläger gegenüber spielen? Seit dem neunzehnten März
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ist von uns Beiden der Wunsch ausgesprochen worden, diese Erörterung möge vermieden werden. Der Herr Nebenkläger hat Alles gethan, was er thun zu können glaubte, um sie zu vermeiden. Er hat auch nicht gewünscht, hierher zu kommen und auszusagen. Nun soll ich die Geschichte wieder an^ £ingen? Neben Strafgesetzbuch und Strafprozeßordnung giebt es noch ein Gesetzbuch der Anstandsbegriffe. Wenn ich im Nebenzimmer mich mit einem Gentleman, dem ich mich im Rang gleich fiihle, verglichen habe, ists doch nicht anstandig, hier nun zu tuscheln: Ich habe es in den Artikeln zwar nicht gesagt, aber bedenklich ist die Sache doch, wie Sie gleich hören werden.
Lehmann: Ich begreife nicht, warum Sie die Thatsachen, die Sie schon einmal angeführt haben, nicht noch einmal er^ wähnen wollen, um uns den Beweis zu erleichtem. Sie mibsen bedenken, daß es der selbe Gerichtshof ist, der hier sitzt; wenigstens zum Theil. Sie hätten vielleicht Recht, wenn ein ganz anderer Gerichtshof hier säße. Wu: müssen feststellen, wie weit die Sache jetzt milder liegt als früher, und dazu brauchen wir Handhaben.
Harden: Ich bitte, mir zu glauben, daß meine Ueber^ Zeugung eben so fest begründet ist wie die des Herrn ' Vor^ sitzenden. Ich beharre nicht aus Eigensinn, um Recht zu behalten, auf meinem Standpunkt. Unsere Auf&ssungen sind eben verschieden. Das kommt im Leben nicht selten vor.
Lehmann: Wir möchten aber einige Thatsachen, die Sie ge^ hört haben und die Sie uns geben können, wenn Sie nur wollen.
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Harden: Das wäre viel zu schwach. Sie können einem Mann, der im politischen Leben irgendwelche Bedeutung hat, doch nicht zumuthen, er solle sich vor dem Strafgericht als Angeklagter auf da odpr dort Gehörtes berufen.
Lehmann: Sie haben es uns voriges Jahr gesagt.
Harden: Das war eine ganz andere Situation. Und auch damals (ich habe die Erklärung hier in meiner Mappe) habe ich gesagt: Die Sache ist politisch erledigt, ich mll keine Beweisaufnahme. Frau von Elbe war nicht von mir, sondern von der Staatsanwaltschaft geladen, die sich die Aufgabe gestellt hatte, die Glaubwürdigkeit dieser Dame zu erschüt^ tem. Was damals geschehen mußte, braucht heute nicht zu geschehen.
Lehmann: Aber Sie können mir doch wenigstens be^ stätigen, daß in der münchener Hauptverhandlung die zwei Zeugen Ernst und Riedel beschworen haben, sie hätten mit Eulenburg homosexuell verkehrt.
Harden: Das ist ja gerichtsnotorisch.
Lehmann: Nun konstatire ich aus dem vorigen Prozeß, daß Sie für Das, was Sie gesagt haben, als Grundlage hatten Aeußerungen des Fürsten Bismarck, Erzählungen aus dem ehelichen Leben, die Ihnen von Frau von Elbe mitgetheilt waren, und Thatsachen, die Sie aus den Handakten der an der Ehescheidung mitwirkenden Anwälte kannten. Ich muß aber weiter (ich hole Das wieder zu Ihren Gunsten heraus) konstatiren, daß wir jetzt wissen: Sie hatten außer dieseh Unterlagen noch andere, sehr viel festere. Nach dieser Kon^
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statirung brauchen wir darüber keinen Beweis mehr und es wäre jetzt nur noch wiinschenswerth, daß Sie uns Einiges aus dem Eheleben des Grafen Moltke erzählten. Aber ich glaube, Das, was jetzt erörtert ist und was Sie bestätigt haben, kann genügen.
Preuß: Daß gegen den Fürsten Eulenburg wegen Mei^ neids Anklage erhoben und das Hauptverfahren eröffiiet worden ist, ist ja gerichtsnotorisch.
Harden: Ich bedaure, noch einmal zum Reden gezwungen zu sein. Aber ich habe nichts erzählt und nichts bestätigt. Ich muß bitten, mir keinerlei Erklärung zu unterstellen, aber sich auch nicht auf Dinge zu berufen, die in einem vom höchsten Gerichtshof ausgelöschten Verfahren, wirklich oder angeblich festgestellt worden sind. Ueber die »Unterlagen« meiner Artikel habe ich Ihnen bisher nicht das Allergeringste gesagt und die münchener Gerichtsverhandlung gar nicht erwähnt; trotzdem dort die Zeugen ja nicht nur über den Fürsten Eulenburg ausgesagt haben.
Lehmann: MC^r kommen nun zu den Schlußreden. Herr Oberstaatsanwalt!
Preuß: Wir haben heute unter dem Einfluß und Eindruck der zwischen dem Herrn Angeklagten und dem Herrn Neben:* kläger zu Stande gekommenen Vergleiche verhandeln dürfen. Ich spreche zunächst meine Freude darüber aus, daß ein solcher Vergleich zu Stande gekommen ist, der uns diese verhältnißmäßig ruhige Verhandlung erlaubt hat. Wenn der Wille der beiden Unterzeichner des Vergleiches voll und
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ganz wirksam geworden wäre, dann wäre, wie der Herr Vertreter des Nebenklägers uns hier gesagt hat, der Stra£t antrag zurückgenommen und das Verfahren eingestellt wor» den. Paragraph 64 StGB läßt nun allerdings nicht zu, daß diesem Farteiwillen Folge gegeben werde. Immerhin, glaube ich, wird man, von diesem Vergleich ausgehend, nochmals nachzuprüfen haben, inwieweit es möglich ist, das Gesetz mit diesem zum Ausdruck gebrachten Farteiwillen in Ein^ klang zu bringen. Ich möchte zunächst dem Herrn Ange^ klagten das Zeugniß ausstellen, daß nach meiner persona liehen Ueberzeugung er bei sämmtlichen Artikeln von durchs aus ehrenwerthen, durchaus patriotischen Erwägungen aus gehandelt hat. Ich fiige noch hinzu, daß auch der Verdacht der Sensationlust, der im vorigen Urtheil erhoben ist, meiner Ansicht nach nicht zutrifft, sondern widerlegt wird durch die Artikel selbst. Da aus den Artikeln unzweideutig her^ vorgeht, daß der Herr Angeklagte diese Sensation hat ver^ meiden wollen, daß er die Absicht gehabt hat, nicht Jedem verständlich zu sein, sondern nur Denen, die es anging, um sie zu warnen und zum Fortbleiben von der Folitik, zum Weggehen ins Ausland zu bestimmen. Wenn ich von diesen Erwägungen ausgehe und hinzunehme, daß der Mann, der durch die Drohung des Herrn Angeklagten am Meisten gefährdet war, entfernt worden ist, so muß ich zu der Fol^ gerung kommen, daß die Artikel in der Hauptsache gegen diesen gefahrlichen Mann sich gerichtet haben und daß die übrigen Fersonen, die in den Artikeln erwähnt sind, nur
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nebenher, so weit es zu den Zwecken, die der Herr Ange^ klagte verfolgte, noth wendig war, erwähnt wurden. Und wenn man von diesem Gesichtspunkt aus die einzelnen Ar# tikel ansieht, dann scheint mir doch zweifelhaft, ob das Ge^ rieht bei den friiheren Feststellungen wird bleiben können und ob nicht wenigstens zum größten Theil die Erklärungen, die der Herr Angeklagte heute abgegeben hat, vollen Glau^ ben finden müssen.
(Der Herr Oberstaatsanwalt erörtert nun die einzelnen Sätze und erklärt, daß er in fünf der inkriminirten Artikel eine irgendwie strafbare Beleidigung nicht finde. Bleiben die Artikel vom achten Dezember 1906, vom dreizehnten und vom siebenundzwanzigsten April: »Abfuhr«, »Monte Carlino«, »Roulette«.)
Diese Artikel allein könnten fiir die Frage einer fortge^ setzten Beleidigung in Frage kommen und begriflFlich und rechtlich läßt sich dagegen auch dann nichts sagen, wenn man in Erwägung zieht, daß zwischen dem achten Dezember und dem nächsten Artikel vom dreizehnten April ein Zeit^ räum von vier Monaten liegt. Es firagt sich nun, ob in diesen Artikeln der Vorwurf der Homosexualität erhoben ist und ob man eine fortgesetzte Handlung hierin sehen muß. Diese Frage wird der Gerichtshof zu beantworten haben. Ich glaube, er wird, wie im vorigen Prozeß, sagen, daß zwar der Vorwurf nicht ausdrücklich gemacht ist, daß aber die Möglichkeit vorliegt, einen solchen zu finden, und wird mit dem Eventualdolus, wenn ich so sagen darf, wieder operiren,
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wie im vorigen Prozeß. Und fiir diesen Fall, den ich ja als möglich voraussetzen muß, sehe ich mich genöthigt, auch auf die Frage des Strafmaßes einzugehen, und da, meine ich, kommen für den Herrn Angeklagten gegei\über dem vorigen Urtheil eine Reihe von Thatsachen zur Erwägung, die es mei^ ner Meinung nach ausschließen, daß gegen den Herrn An<( geklagten nochmals auf eine Gefiingnißstrafe erkannt wird. Ich bin, wie ich bereits hervorgehoben habe, überzeugt, daß der Herr Angeklagte von patriotischen Erwägungen ausge^ gangen und daß er auch nicht in irgendeiner Beziehung leichtfertig dabei zu Werke gegangen ist. Das geht klar aus Allem hervor, was inzwischen geschehen ist. Das allein muß zur Evidenz nachweisen, daß der Angeklagte nicht leicht« fertig mit seinen Angriffen vorgegangen ist, daß er sich wohl und reiflich überlegt hat, wie weit er gehen könne, und daß er höchstens eines entschuldbaren Versehens schuld dig wäre, wenn er aus den engen, nahen Beziehungen zwi^ sehen dem Grafen Moltke und dem Fürsten Eulenburg ge# schlössen hätte, daß auch der Herr Nebenkläger sich irgend^ wie homosexuell bethätigt habe. Nur Das wird gegen ihn festzustellen sein; weiter nichts. Dazu kommt, daß der Herr Nebenkläger durch seinen Herrn Vertreter hier erklärt hat, daß er sich befriedigt fiihlt, daß er sich nicht beleidigt (uhlt, daß er am Liebsten den Strafantrag zurückgezogen hätte. Das wäre möglich gewesen, wenn die Staatsanwaltschaft, die damals dem Grafen Moltke beispringen wollte, sich nicht in das Verfahren gemischt hätte. Nur durch den Umstand, daß
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ein öffentliches Verfahren anhängig geworden ist, ist die Absicht der Parteien, den Streit zu beenden, unausfiihr^ bar geworden, und ich glaube, daß der Gerichtshof auch hierauf Rücksicht nehmen muß. Ich beantrage gegen den Angeklagten eine Geldstrafe von sechshundert Mark, die Einziehung der Artikel, die beanstandet werden, nach meii^ ner Ansicht nur die von mir erwähnten drei Artikel, und beantrage die Auferlegung der Kosten, wie es im vorigen Urtheil bereits geschehen ist.
Lehmann: Der Herr Vertreter des Nebenklägers!
Sello: Ich habe nur nochmals zu erklären, daß mein Herr Klient mit dem Herrn Angeklagten in der Anerkennung der Thatsache übereinstimmt, der Vorwurf der Homosexualität sei in den Artikeln dem Grafen Moltke nicht gemacht. Eine andere Erklärung ist in diesem Stadium nicht abzugeben.
Lehmann: Der Herr Vertheidigerl
Bernstein: Ich bitte, mir die Möglichkeit zu einer Btf sprechung mit Herrn Harden zu geben, damit wir be# schließen können, ob wir noch Anträge stellen.
Lehmann: Wir machen also eine kurze Pause.
(Nach der Pause plaidirt Bernstein. Er stellt fest, daß für die Annahme, dem Nebenkläger sei in den Artikeln Homosexualität vorgeworfen worden, nicht der Schatten eines Beweises erbracht worden ist, und betont stark, daß jeder Angeklagte, selbst der obskurste, erst recht aber einer von Ruf und Ansehen , verlangen dürfe , nicht ohne Beweis (br unglaubwürdig gehalten und verurtheilt zu werden.)
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In dubio pro reo. Wie viele verschiedene Ansichten haben wir nun über diese Artikel und ihre Interpretation schon gehört! Zuerst hat die Staatsanwaltschaft das Eingreifen ah* gelehnt, dann hat sie eingegriffen. Jetzt würde sie sicher nicht mehr eingreifen, denn die Ereignisse haben sie gelehrt, daß die früheren Voraussetzungen falsch waren. Der Herr Oberstaatsanwalt findet die Behauptung höchstens in drei Artikeln angedeutet. Und darauf wollen Sie ein verurthei« lendes Erkenntniß bauen? Meine verehrten Herren, es ist absolut nichts Verletzendes für Sie, wenn ich sage: Sie können die Artikel gar nicht mehr objektiv lesen, weil sie Ihnen von Anfang an in einer bestimmten Beleuchtung ge^ zeigt worden sind. Sie haben immer nur auf die paar Sätze geachtet, die inkriminirt worden waren. Wenn Sie die dahin gehörigen Zeilen zusammenzählen, haben Sie aber erst den hundertzwanzigsten Theil dieser Artikel, von denen jeder als ein Ganzes genommen werden müßte. Niemals bin ich an der Herrschaft der gesunden Vernunft so irr geworden wie in den Stunden, wo ich gesehen und gehört habe, wie Herr Harden mit dem Aufgebot all seiner geistigen Mittel, all seiner Ausdruckskunst sich vergebens bemüht hat, eine sonnenklare und unbestreitbare Thatsache festzustellen, die allein die ganze Anklage in Trümmer schlägt. Wenn die Artikel so verstanden wären, wie hier immer wieder behaup^ tet wird: wo sind die Klagen, die Herausforderungen, die Anzeigen ans Ehrengericht, die dann doch kommen mußten? Haben die hohen Herren solche Beleidigung etwa ruhig
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eingesteckt? Und wo sind die Zeitungartikel, die sich in dieser Zeit mit der Sache beschäftigt haben? Sicher nicht unsere ganze Presse, aber ein großer Theil unserer Presse ist auf Sensation erpicht; auf diese Herren paßt das Wort, über dem Herr Harden thurmhoch steht. Glauben Sie, daß Die nicht einen Riesenlärm gemacht hätten, wenn sie in der »Zukunft« die Behauptung gefunden hätten, die bekannt testen Hofherren seien homosexueller Vergehen schuldig? Sie haben sie nicht gefunden; und haben deshalb ge^ schwiegen. Vom Oktober bis in den Mai. Bis die Herren vom Hof entfernt waren und nun Allerlei in die Artikel hineingelesen wurde, was gar nicht drin stand.
Psychologische Thatsachen sind doch auch nicht zu über^ sehen. Ich kann Herrn Harden nachfühlen, wie es ihn er^ bittert, wenn man die offene Deutung seiner Artikel an# zweifelt. Ich meine, von jedem Standpunkt aus sollte man sich darüber freuen, daß die Deutschen einen solchen Schrift^ steller haben, und man soll ihm glauben, wenn er über Dinge spricht, die in die vielleicht schwerste Zeit seines Lebens £dlen. Ich begreife Hardens Empörung. Er hat den Muth zu der patriotischen Pflicht gehabt, den mächtigsten Günstling offen und furchtbar hart anzugreifen, weil er ihn für schädlich hielt, und soll nun seine Worte, ohne Gegeni^ beweis, immer wieder anzweifeln lassen. Lesen Sie die Sätze, in denen er auf Phihpp Eulenburg hinweist 1 Da spüren Sie nicht den Dolch des Briganten, sondern die stählerne Klinge des furchtlosen Ritters. Wir könnten Gott danken, wenn
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wir in Deutschland viele politische Schriftsteller hatten, einer# lei, welcher Richtung, die solche Männerworte in ihrem Kopf und in ihrem Herzen finden. Der Mann, der diese Sätze geschrieben und der heute zu ihnen gesprochen hat, darf fordern, daß seiner Interpretation geglaubt werde. Warum hätte er, der dem starken Eulenburg so offen entgegentrat, den viel schwächeren Moltke furchten sollen? Ich meine, der Mann steht hoch über allen Interpretationkiinsten 1 Zeigen Sie mir doch den Mann in Deutschland, der die Wahrheit so zu rechter Zeit gesagt hat, in einer Zeit, wo Muth dazu gehörte, nicht getragen von der Woge des Bei# falls, sondern in hartem Kampf gegen den Strom. Zeigen Sie mir doch den zweiten MannI Könnten Sie mir ihn nennen, wenn ich Sie privatim danach fragte? Sie könnten es nicht. Das Recht darf sich mit der Moral nicht in Widern Spruch setzen und die Moral gebietet, diesem Manne Ge# rechtigkeit widerfahren zu lassen und zu sagen: Du hast ge« zeigt, daß Du die schlimmste Ge£üir nicht scheust, und wenn Du, Maximilian Harden, uns erklärst: Ich habe Das nicht gesagt, dann sind wir verpflichtet, Dir zu glauben. Geben Sie Herrn Harden ein Urtheil, bei dem er als Ehren^ mann sich beruhigen kann, das ihn nicht nöthigt, den Schleier noch weiter zu lüften, und freuen Sie sich des Rechtes, diese Sache so zu beenden 1 Herr Harden hat mich gebeten, über Strafart und Strafinaß kein Wort zu sagen. Wie Sie auch urtheilen mögen: der Satz, mit dem ich schließen will, wird von keinem Unparteiischen bestritten und
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von der höchsten Instanz, von der Geschichte, bestätigt werden. Der Satz: In der Sache, die ihn heute zum vierten Mal vor ein deutsches Gericht bringt, hat Maximilian Harden sich um das Deutsche Reich und das deutsche Volk unver^ gängliche Verdienste erworben.
Lehmann: Der Herr Angeklagte hat das Schlußwort
Harden: Ich bitte zunächst, noch fiir einen Augenblick in die Beweisaufnahme zurückzukehren. Ich möchte den Grafen Moltke, der hier, gegen seinen und meinen Wunsch, als Zeuge beeidet worden ist, fragen, ob er zugiebt, daß ich meine Artikel richtig interpretire und daß ihm darin der Vor^ wurf der Homosexualität nicht gemacht worden ist
Moltke: Den direkten Vorwurf der Homosexualität aus einem Wort, einem Satz oder aus dem Zusammenhang direkt herauszulesen. Das nicht Die Schwierigkeit (lir mich war ja die, daß ich im Zusammenhang mit anderen Personen, nament^ lieh dem Fürsten Eulenbuj^, in gewisser Weise abfiirbte und das Gefühl hatte, in der Oeffentlichkeit das Terrain zu verlieren.
Harden: Ich bin wohl nicht verstanden worden. Ich frage, ob Graf Moltke jetzt, wie er dturch seine Unterschrift bestätigt hat, überzeugt ist, daß er in diesen Artikeln nicht der Homosexualität beschuldigt wturde.
Moltke: Der direkte Vorwurf der Homosexualität nicht, wie ich gesagt habe.
Lehmann: Ich werde den Vergleich noch einmal verlesen. (Geschieht) Diesen Vergleich, Herr Graf, haben Sie ge^ schlössen?
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Moltke: Ich nahm, ohne zu widersprechen, diese Eu klärung an*), um dann mit Herrn Harden zu dem Punkt zu kommen, daß jede weitere Zeugenvernehmung fiir über# flüssig zu erachten ist, um diesen schweren, langen Streit aus der Welt zu schaffen, nicht nur zur eigenen Ruhe, son^ dem auch zur Ruhe des Landes, das wohl Dessen bedarf. Das ist so mein Gedankengang. Ich hätte überhaupt wohl verzichtet auf ein prozessuales Vorgehen hier, wenn mir möghch gewesen wäre, Kriegsgericht und Ehrengericht gegen mich durchzusetzen, was aber nicht bestimmungsgemäß, nicht gesetzhch möglich war, und ich habe dann den Weg der Privatklage beschritten, um in breiter Oeffentlichkeit meine Unbescholtenheit darzuthun. Das sind die Ideen gewesen. Um aber jetzt, nachdem ich zwei Jahre einer solchen un# glücklichen Ehe gehabt und dann sechs Jahre prozessirt habe, und dann diese zwei schwere Jahre hinter mir habe, wo ich in der Oeffentlichkeit durch die Sensationpresse auch ziemlich schwer mitgenommen wurde, um zu der Ruhe und dem Frieden zu kommen, nach dem man in meinen Jahren sich sehnt, habe ich mich gefreut, bin ich dankbar gewesen, wie ein Vermittler, der mir wohlbekannt aus frühem ren Jahren ist, mir gesagt hat, daß er gern dazu beitragen würde, diejenige Form zu finden, in der dieser Streit, in der dieser Prozeß vielleicht eine kurze, rasche Erledigung fände. In dieser Weise ist die Sache ausgetragen worden.
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^ Graf Moltke hat sie am neunzehnten, Harden erst am einund# awanzigsten März des Jahres 1909 unterschrieben.
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Harden: Das ist Alles, was Graf Moltke über die EnU stehung des Vergleichs hier in seiner Eigenschaft als beeideter Zeuge vorzubringen hat? Das ist Alles?
Moltke: Ja, so ist es mir erinnerlich.
Harden: Danke. Der Herr Zeuge sprach von der Sen^ sationpresse. Sollte damit gesagt sein: »Beleidigt bin ich nicht von Harden, sondern von der Sensationpresse«? Ist Das gemeint?
Moltke: Die Sensationpresse hat mich nach meiner Ver# abschiedung sehr mitgenommen und mich zum Päderasten einer Hofkamarilla gestempelt, wogegen nachher Herr Harden in seiner »Zukunft« protestirt hat. Was habe ich denn gesagt?
Harden: Herr Graf von Moltke, ich bitte, mich nicht wieder mißzuverstehen. Auch dieser Funkt ist wichtig. Liegt nicht eine Aeußerung des Grafen Kuno Moltke vor, worin er sagt: Beleidigt bin ich nicht von Harden, sondern von der Sensationpresse.
Moltke: Ich kann mich nicht erinnern.
Harden: Ich kann mich erinnern. Und frage heute nur noch: Meint Graf Moltke jetzt, daß er von der Sensationpresse beleidigt worden ist?
Moltke: Durch den Schmutz bin ich gezogen worden.
Harden: Von wem?
Moltke: Von der Sensationpresse.
Harden: Danke. Ich habe nun keinen Grund mehr, den Herrn Grafen hier im Saal festzuhalten.
Lehmann: Wünschen Sie wegzugehen, Herr Graf?
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Moltke: Ich könnte es aushalten; aber lieber ist es mir, wenn ich mich ein Bischen hinlegen kann.
(Der Zeuge wird entlassen.)
Harden: Ich werde Ihre Geduld nicht lange in Anspruch nehmen. 'Wahrend der kurzen Pause, die er erbeten hatte, hat Justizrath Bernstein mich daran erinnert, daß jetzt die letzte Gelegenheit zur Einbringung des fiir alle Fälle von ihm vorbereiteten umfangreichen Beweisantrages gekommen sei; wenn ich sie versäume, könne ich mich der Gefahr aus^ setzen, zum zweiten Mal objektiv ungerecht verurtheilt zu werden; gewisse Andeutungen, die wir hier gehört haben, lassen ja darauf schließen. Der Herr Oberstaatsanwalt hat schon vor der Verlesung des Eröffnungbeschlusses von der Strafzumessung, der Herr Vorsitzende nachher von der Ver# urtheilung gesprochen, zu der er eine bestimmte »Feststellung«^ brauche. Bitte : es war mehr als eine Wortverwechselungl Bem# stein meinte, ich könne vielleicht später meine Zurückhaltung bereuen. Ich habe geantwortet: Ich werde den Beweisantrag nicht einbringen, sondern auf der Basis meiner Artikel und der Ausgleichserklärungen bleiben. Was ist bis jetzt ge# schehen? Irgendein Versuch, mir nachzuweisen, in den Artikeln stehe Anderes, als ich angegeben habe, ist nicht gemacht worden. Früher hat man versucht, durch die Heram^ Ziehung von angeblichen oder wirklichen Privatäußerungen sich eine Art von Beweis zu schaffen; weil man einsah, daß die Artikel allein zur Verurtheilun^ nicht ausreichen. Der Versuch ist heute nicht wiederholt worden. Man hat die
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Herren, deren Zeugnifi mich belasten sollte, nicht gehört; hat sie nach Haus geschickt. Also: nicht der Schatten eines Beweises, der meine Angaben widerlegen könnte. Was ist weiter geschehen? Der Herr Vertreter der Anklage hat gei^ sagt, man dürfe und könne nicht bezweifeln, daß nur patrio« tische, also durchaus edle Motive mich zu einem Handeln getrieben haben, das allen niedrigen Regungen fem geblieben sei. In zwei, drei Artikeln, meinte er, könne man allenfalls etwas Beleidigendes finden. Ich muß annehmen, daß er nur auf die Stimme seines Gewissens gehört, nur seiner Pflicht zu genügen geglaubt hat, als er diese Behauptung aussprach, die ich fiir falsch halte, und danach einen Stra£intrag stellte, der mich, wie ich heute schon oft gesagt habe, an der ganzen Sache am Wenigsten interessirt. Und diese Thatsachen sollen mich, lieber Bernstein, bestimmen, heute und hier Das zu entfesseln, was ich entfesseln müßte, um endlich einmal von Grund aus aufzuräumen? Nein, noch habe ich ein Kollegium von fünf Männern vor mir, das nicht gesprochen hat. Das hat jetzt den Thatbestand zu prüfen. Eine Reihe hoch^ politischer Artikel mit kleinen Randbemerkungen über den Grafen Moltke; kleinen Spritzern. Es hat die schriftliche Erklärung dieses Grafen Moltke, daß ihm in diesen Artikeln der berüchtigte Vorwurf nicht gemacht worden ist. Es hat die Erklärung des Herrn Oberstaatsanwaltes : Höchst achtbare Motive; im schlimmsten Fall ein entschuldbares Versehen. Das liegt vor. Ergo: bis zu der Minute, wo das Gericht die Schuldftage bejaht, werde ich eine zweite Verurtheilung
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für unmöglich erklären; und wenn eine Verurtheilung er^ folgt, werde ich ihre Begründung wägen; prüfen, was das Urtheil »festgestellt« zu haben behauptet, und danach meine Entschlüsse fassen. Ich wiederhole: Nie werde ich der Spotte sucht den Weg in die Beletage des Deutschen Reiches bahnen und die Vernichtung von Leuten, die noch im Glänze sitzen, herbeifbhren, wenn sichs um keine andere Gefahr handelt als um die meiner mögUchen Bestrafung. Darum den Boule^ vards Futter auf die Fharisäerkrippe schütten? Da giebts für mich gar kein Schwanken. Ob und wie ich bestraft werde: Das ist mir vollkommen gleichgiltig. Ich sage Ihnen ganz ruhig: Je härter ich bestraft werde, in dieser Sache, in diesem Forum, nach diesem Verfahren, nach diesen Aussagen, um so besser; um so lehrreicher fiir Mitlebende und Nach^ wachsende.
Ich gehe auf Einzelheiten gar nicht mehr ein. Es wäre ein Verbrechen gegen Sie, aber auch gegen mich, wenn ich zum aberhundertsten Mal die Artikel interpretiren wollte. Was darüber zu sagen war, steht in der „Zukunft'* vom neunten November 1907; da ist der Schlußvortrag abgedruckt, den ich vor dem Schöffengericht hielt. Das jetzt wiederkäuen, in dieser Stunde, wo Sie bedrückt sind von der Last und, ich darf sagen, auch von der Hitze dieses Tages? Das wäre eben so frustra wie unfreundlich. Ich will Ihnen also nur einiges Allgemeine sagen.
Der erste politische Eindruck meines Lebens entstand durch die außerordentliche Freundlichkeit, ja, ich darf sagen:
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Freundschaft, die Fürst Bismarck mir gewährte. Ich darf es sagen, denn er hat es ja selbst oft so genannt. Freilich konnte ein so viel jüngerer und so viel kleinerer Mensch nur in begrenztem Sinn als Freund gelten; er hatte ja viel mehr zu empfangen als zu geben. Dieser Mann hat mir immer wieder gesagt: »Ihnen mißfallt der Kaiser als poli^ tische Persönlichkeit in vielen wesentlichen Zügen; mir auch. Aber Sie können mir glauben: alle oder mindestens neun Zehntel dieser nicht erfreulichen Seiten wären nicht sichte bar, wenn Philipp Eulenburg nicht seine Sippschaft an ihn herangebracht hätte. Das sind gräßliche Leute; ganz anders als wir; sentimental, geistergläubig, spukscheu (Eulenburg hat an dem Herrn neben anderen Wunderqualitäten ja das Zweite Gesicht der Stuarts entdeckt); ohne Sinn für die Nüchternheit des politischen Lebens, ohne den Nerv der Tapferkeit, die eine große Nation braucht; und der größte Theil ist auch noch geschlechtlich abnorm und nicht sauber. Da giebts Zusammenhänge und Hautsympathien, die Unsere eins gar nicht versteht.« Das habe ich in Varzin, Friedrichs« ruh und Schönhausen oft gehört und besprochen. Aber nie in meiner Zeitschrift erwähnt. Ich habe den Fürsten Eulen« bürg manchmal politisch, wenn es mir nöthig schien, be« kämpft, aber nie diese Sachen erwähnt.
Einige Jahre danach wandte sich die Frau des Grafen Kuno Moltke an mich. Natürlich nicht, damit ich Etwas über ihre Ehe veröffentliche; ich gebe ja nicht die »Wahr« heit« oder ein ähnliches Organ heraus. Nein. Die Dame
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fand sich in dem Scheidungprozeß von dem Justizrath Seile, dem Vertreter ihres Mannes, ungebiihriich hart behandelt und grundlos bedroht; und da sie von Schweningers wußte, daß Sello und ich, in den wechselvollen Peripetien unseres Verkehrs, damals in einer wärmeren Region angelangt waren, meinte sie, meinem Einfluß könne es gelingen, diesen unge« mein klugen und gewandten, eben darum aber nicht ungefihr^ liehen Mann zu einer etwas freundlicheren Taktik gegen sie zu bringen. "Wir hatten einen Briefwechsel, es gab Verstimm mungen und Vergleiche; ich will auf die Einzelheiten nicht eingehen. Ich habe ihm gesagt: Bitte, behandeln Sie die Sache so tolerant, so menschlich, so anstandig wie möglich; sonst platzt die Blase einmal und wir bekommen den größ# ten politischen Skandal, den Deutschland je erlebt hat. Denn Philipp Eulenburg hatte in für ihn typischer Weise, wie er und wie andere Menschen seiner sexualpsychischen Art zu thun pflegen, in das Eheleben seines Freundes Kuno ein« gegriffen, die Trennung herbeigeführt, die Gräfin gepeinigt, bis sie aufbriUlte, und natürlich auch gleich fiir einen Arzt gesorgt, der sie fiir hysterisch erklärte. Diesmal war der Psychiater de rigueur ein Chirurg; und hatte die Gräfin vor« her, noch während des Scheidungprozesses, als die hehrste der Märtyrerinnen angebetet. Graf Moltke hatte sich dabei mehr passiv verhalten; in jedem Sinn. Das Wesen dieses Herrn zeigt manchen anmuthigen Zug. Er ist sehr artig, ge« fiUlig, liebenswürdig, gebildet (wenigstens fiir die Begriffe der Hofgesellschaft), musikalisch, belesen, sentimental, schwär«
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tnerisch; und was Sie sonst noch aus diesem Packet wollen. Nicht gerade geistig produktiv; ach nein. Aber ein angenehmer Herr. Nicht gerade ein preußischer Kürassier. Etwas zu weich und hold und deshalb wohl leise verspottet. Ich will hier nichts enthüllen; aber ich muß aussprechen, was ist. Vorgesetzte und Kameraden sagten von ihm, er habe seine militärische Karriere am Klavier gemacht. Abtheilungchef im Großen GeneraLstab, Kürassieroberst, Brigadier, Stadtkomman« dant von Berlin, also auf dem Posten, der den ersten Choc der von den Hofleuten stets gefiirchteten Revolution auszu# halten hätte: Das ist viel. Jedenfalls: ein feiner, etwas wun^ derlicher Herr, der nach Moschus und Veilchen duftet, für manche Nase aber mit einem noch unlieblicheren Parfüm behaftet war, weil er vierzig Jahre bng in blind ergebener Freundschaft an Philipp Eulenburg hing. Lassen Sie sich nur nicht erzählen, daß da oben nicht Dutzende seit Jahr^ zehnten wußten, welches Geistes Kind dieser Eulenburg war. Wenn man einen Mann von sechzig Jahren (seit dem letzten Prozeß trägt der Graf ja einen Vollbart) vor sich sieht, kom# men Einem manche Gerüchte ganz lächerlich vor. Sie müssen sich diesen Herrn aber als sehr schönen jungen Mann mit höchst schwärmerischen Augen denken; ich habe solche Bilder hier. Da sieht er aus wie ein verzückter Künstler, der, wie die pariser Friseure sagen, s'est fait une tite. Den, nicht eine würdig geknickte Excellenz müssen Sie sich als insiparable Eulenburgs denken. Vierzig Jahre I Da entstehen Verkehrsformen, die uns Allen völlig fremd sind. Da nennen
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die Männer einander »mein Geliebter«, »mein Alles«. Wenn Einer von der Bahn kommt, ist ein Gefltister: »Bist Du da, ,Tütü'? Gott, wie habe ich mich nach Dir gesehnt I« Da sitzt der Eine am Klavier und träumt schwärmerisch himmele an und säuselt, wenn ihn die Frau stört: »Laß michl Ich dachte an Philil« Das sind Dinge, die für uns völlig norm^ widrig sind, aber noch lange nicht zu der Annahme berech# tigen, da müsse es zu perverser Geschlechtshandlung kom« men. Ich habe mich niemals (iir die Frage interessirt, wie diese Herren ihre Triebe stillten (die, als ich anfing, mich mit ihnen zu beschäftigen, wohl nicht mehr allzu heiß ge^ wesen sein können).
Ich bin nicht nur von Bismarcks, von der Gräfin Moltke (die weder Schweninger noch ich jemals der Hysterie auch nur auf Meilen nah gefunden haben), von deren Sohn und aufgeregten Mutter informirt worden. Ich wußte sehr viel mehr. So viel, daß ich dem Landgerichtsrath Schmidt, als er mich zum Zeugniß in Sachen Eulenburg aufforderte, eine Aussage machen mußte, die ein ziemlich dickes Buch gegeben hätte; sie wird wohl bei Ihren Akten sein. Ich wußte aus tausend Thatsachen und Symptomen: Das ist eine bis ins Mark ungesunde Gesellschaft; diese Männer sind nicht von unserer Art. Und wenn Sie eine normale Frau firagen, wer^ den Sie das Selbe von ihr hören. Die wird Ihnen sagen: Der Mann ist ja höchst nett und artig, aber ich habe solchen Mann noch nie gesehen. Und einen so zartsinnigen preu^ ßischen General hats sicher noch nicht oft gegeben.
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Also eine Menschengruppe, die von aller Realität weiten^ fem ist und durch ihre Mystik, ihre verhimmelnde Schwärz merei eine ernsthafter Politik schädliche Atmosphäre schafft Das mußte den Politiker interessiren. Nicht aber, ob ein^ zelne dieser Herren im Kinaedenbataillon aktiv sind oder jemals waren. Mit der Psyche beschäftigte ich mich, nicht mit dem »noch was« aus Schillers Gedicht. Wollen Sie den Unterschied wirklich nicht anerkennen? Wie unserem tapfere sten Dichter, blutete auch mir die Seele, »sah ich das Eulen^ geschlecht, das zu dem Lichte sich drängt«. Dieses Ge# schlecht, mit seiner Hypersensibilität und Ueberschwänglich^ keit, hatte einen Zustand geschaffen, der nüchterner Förderung ernster Staatsgeschäfte nach dem Urtheil aller Sachverständigen im höchsten Grad schädlich war. Beweise? Soll ich Minister, Botschafter, Generale hierher laden, damit sie es Ihnen bezeugen? Ihnen wiederholen, was sie mir ge# sagt und geschrieben haben? Ueber das ungeheure, zum Himmel schreiende Unheil, das von Eulenburg und seinen Leuten kam? Ich denke nicht daran* Wozu denn? Sie brauchen mir nicht zu glauben. Soll ich das Deutsche Reich aufwühlen, nur damit Sie mir glauben und ich weniger hart oder gar nicht bestraft werde? Das ist nicht nöthig. Ihre Strafe schreckt, bekümmert mich nicht. Was ich erreichen wollte, ist längst erreicht: diese Einflüsse sind beseitigt und Volk und Kaiser dürfen sich Dessen freuen. Im vorigen Jahr konnte man noch zweifeln. Da hat der Fürst seinen letzten großen Coup gewagt. Da fiel irgendwo das Wort:
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»Isenbiel hat sie famos *rausgehauen.« Da galt Phili als makellos und man konnte glauben, dem Verbannten eine Genugthuung schuldig zu sein. Da zitterte Philis klügste Kreatur vor der Rückkehr des Gehaßten. Da war Gefahr im Verzug und ich habe beschlossen, diesen Mann zu vemich# ten wie ein böses Thier. Kaiser und Reich haben Ruhe vor ihm und Beiden gehts seitdem besser als je nach Bismarcks Entlassung. Ein Algesiras haben wir seitdem nicht erlebt. Wenn Eulenburg blieb, konnten wirs im Balkan finden.
Graf Moltke? Der ist sicher froh, wenn er das liebe Leben hat, ein Bischen Athem, seinen Rock und Rang behalt. Der ist ja völlig ausgeschaltet. Der Herzog ist längst gefallen; der Mantel mag meinetwegen bleiben; sich in Schlesien oder sonstwo lüften. Und da sollte ich aus Rachsucht, aus Rechte haberei, oder gar, um forensisch besser dazustehen, ohne äußersten Zwang diese Sache ins Licht rücken? Wozu? Ich sehe keinen Grund. Ich habe niemals (ich sage Das nun zum letzten Mal und sehr, sehr ernsthaft) in irgendeinem der inkriminirten Artikel gesagt: Kuno Moltke treibt Häß^ liches oder ist wenigstens homosexuell. Ich habe mich in meinem innersten Bewußtsein bis zu der Stunde der Anklage niemals mit dieser Frage beschäftigt; auch nicht mit der klassischen Frage, die Fürst Eulenburg auf der »HohenzoUem« einem Matrosen gestellt hat. Der Herr, der hier vorhin un^ ter seinem Eid über den von ihm vorgeschlagenen Vergleich sprach, hat sich immer ftir ein Bischen asexuell ausgegeben. Und ich habe nicht den mindesten Grund, daran zu zwei^
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fein, und ich kann Sie versichern, nie hat damals der Ge^ danke mein Bewußtsein gestreift, daß auch er am Ende auf verbotenen Wegen Sättigung suche. Aber er war der Mann, der den Fürsten Eulenburg mit Hofstimmungberichten be^ diente. Das hat er wahrscheinlich optima fide gethan. In dieser Eigenschaft mußte ich ihn hier und da nennen; und als Eulenburg mich bitten ließ, ihn um Gottes willen zu schonen, er wolle ja fortgehen, da sagte ich: Ich will nichts gegen ihn thun, er soll allerdings jetzt in dieser schvrierigen Marokkozeit, wo Herr Lecomte doch allzu gefahrlich fiir unsere Interessen werden kann, fortgehen; aber die Sache ist damit nicht ganz abgethan, denn er hat jeden Tag die Möglichkeit, zu erfahren, was hier geschieht, und durch den MoltkeifKanal taglich an die oberste Spitze heranzukommen. Die Reise nach Territet sichert also nicht vor neuem Schaden. Das ist leider erväesen worden. Darum mußte ein Ende gemacht werden.
Eine von Anfang an vorbedachte Aktion war es nicht. Die Artikel waren über weite Zeiträume verstreut; es sind sehr umfangreiche historisclupolitische Artikel, und nur wenn sich die Gelegenheit ohne Zwang bot, fiel ein Streich auf Eulenburg und ein Spritzerchen auf Moltke. Auch Das brauchte er sich nicht gefallen zu lassen. Aber wer mit Räus» bem sein Leben lang in einer Höhle haust, kann nicht for>f dem, fitr einen tübinger Theologiekandidaten gehalten zu werden. Den Vonvurf der Homosexualität hat kein Unbe^ fangener herausgelesen. Auch Herr Justizrath Sello nicht,
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der mich damals oft mit seinem Besuch erfreute. Auch er nicht; sonst hätte er mirs ja gesagt und mir den Irrglauben ausgeredet. Kein Unbefangener hats herausgelesen. Die An^ deren? Die allerlei Gefliister und Gewisper gehört hatten? Du lieber Himmel: Die Kollegen eines Richters, der sich in den Pausen gern die Nase reichlich begießt, würden sich auch was dabei denken, wenn irgendwo stände: Nach der Pause war der Herr Vorsitzende merkwtirdig ungeduldig und erregt. Sie würden einander anstoßen und anlächeln. Der Schreiber braucht von den Neigungen des Kritisirten aber gar nichts gewußt zu haben. Kein Unbefangener hats heraus^ gelesen. Die Presse hätte sonst gegen Moltke oder (noch viel lieber) gegen Harden randalirt. Nichts ist geschehen. Nirgends hat man in den Redaktionen auch nur die wirk«: liehen Anspielungen verstanden.
Da geschah das Entscheidende : der Deutsche Kaiser wies diesen Männern die Thür. Warum? Sie werden es hier nie# mals »feststellen«. Fest steht aber die Thatsache, daß Graf Kuno Moltke niemals gehört worden ist, sich niemals irgend^ wie rechtfertigen durfte; daß der „Ewige Plessen" ihm einfich brüsk das Abschiedsgesuch abverlangt hat. Details sind hier nicht nöthig. Ist aber anzunehmen, daß nur die Artikel der »Zukunft« zu diesem Schritt getrieben haben? Leben wir in einem Reich, wo die beliebtesten Herren weggejagt wtu den, weil in einem leidlich angesehenen, aber vom Kaiser durchaus nicht geliebten Blatt ein paar Artikel gegen sie er# schienen sind? Darum werden alte Freunde, die man duzte,
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ein^Eich hinausgeworfen? Darum wird dem Vertreter des beurlaubten Polizeipräsidenten gesagt: »Ueber Eulenburg, Moltke, Hohenau, Lecomte brauchen Sie mir nichts mehr zu erzählen; Die sind erledigt; aber von den Anderen aus Hof und Garde will ich schnell eine Liste«?
Als die Geister ausgeräuchert waren und Graf Moltke in die Presse sickern heß, er habe mich (zu spät) gefordert, kam der Lärm. Und nun wollte jeder Esel natiirlich längst Alles gewußt haben. Meine Artikel waren in der Erinne# rung verblaßt oder auch nie gelesen worden. Hatte da nicht was von Paederasten gestanden? Gewiß. Und das Spek^ takel war fertig. Ich wurde gebeten, der Meute abzupfeifen; und thats vielleicht etwas zu laut. Aber wenn Sie die ganze Weltgeschichte durchgehen: Sie können niemals eine schwie« rigere Aufgabe finden als den Kampf eines Einzelnen gegen eine Hofclique. Der hat kaum jemals zum Siege geführt. Das ist beinahe unmöglich. Und Fehler? Wer hat in dieser Sache denn keine Fehler gemacht? Sie, meine Herren? Die Staatsanwaltschaft? Graf Moltke? Meine Fehler sind noch lange nicht die ärgsten, scheint mir; sind nicht sehr betrachte lieh neben denen der anderen Betheiligten.
Genug. Zu viel schon. Ein Mann, von dem wir Alle gern noch Großes hoffen möchten und der das Reich, das Volk repräsentirt, hatte, ohne es zu ahnen, diesem unheilvollen Einfluß die Schleußen geöffiiet. Vier Kanzler hatten sich vergebens bemiiht, den Eulenphili um seine okkulte Macht zu bringen; und der größte, der einzig große der vier hat
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mir oft gesagt: Manches mag Ihnen noch gelingen, aber nie, Eulenburg zu stürzen. Und doch ists gelungen; und die Folgen waren heilsam für Reich und Kaiser. Das sage nicht etwa ich nur: Das sagen alle Sachverständigen, die wissen, was geschehen war. Darum kann ich verächtlich das Gesin^ del belächeln, das brüllt, ich habe das Reich geschädigt. Recht hohe Leute habens mir anders geschrieben. Ein aktiver Botschafter, zum Beispiel, den der Kaiser öffentlich seinen Freund genannt hat und dem ich vorher den bittersten Hohn nicht erspart hatte, schrieb mir spontan, wie allgemein auch von den besten Männern des Landes, in dem er akkreditirt sei, mein Handeln anerkannt werde. Ich will Ihnen solche Briefe nicht vorlegen. Wozu? Sie, nicht die Politiker, sind ja hier Richter. Nur: glauben Sie den Lügnern nicht, die sagen, durch mich habe das Reich gelitten. Wir konnten und kön^ nen uns sehen lassen. Ich habe lange gezögert. Ich ließ den Rädelsführer zweimal schwören. Doppelt hält besser, sagt der Volksmund. Schließlich hat der Mann selbst den Schlaut^ köpf in die Schlinge gelegt; und die Möglichkeit, sich selbst zu henken, würde ich auch minder kräftigen Schädlingen nicht vereiteln. Seitdem ists bei uns besser geworden und die letzten Vorposten werden wohl auch bald von den Gip^ felchen verschwinden. Heute hegt es anders. Für das Reich wäre nichts zu gewinnen. Und um mich einer Strafe zu ent^ ziehen, werde ich den Sumpf nicht aufrühren. Auch nicht, wenn es mich nur einen Griff in ein Couvert kostete, der Sache eine andere Wendung zu geben. Niemals. Ich hoffe
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noch, auch Ihr Spruch wird mich nicht zwingen, so zu han^ dehi, wie ich nicht handeln wollte.
Wer giebt Ihnen denn das Recht, meinen Angaben nicht zu glauben? Hunderte haben mir geschrieben, daß sie die Artikel genau so au%e&ßt haben, wie ich sie interpretire, und sich zum Zeugniß dafiir erboten. Aber Sie können An^ deres »feststellen«. Weil das Reichsgericht an solche Fest^ Stellungen nicht heran kann. Mein lieber Vertheidiger hat ja viel zu freundlich über mich gesprochen; Eins aber hat er doch vergessen. Ich habe, als es mir unvermeidlich schien, Einen angegriffen, der noch viel mächtiger ist, als Fürst Phi^ lipp zu Eulenburg je war, und zu ihm gesprochen, wie im deutschen Land vielleicht noch niemals zu einem Gewaltigen gesprochen worden war. Das waren doch andere Kampfe als einer gegen den Generallieutenant z. D. Grafen Kuno Moltke. Soll ich Den furchten? Der Herr Präsident hat so^ gar die Güte gehabt, mich zu provoziren. Sie Alle wissen ja mindestens, daß ich eine Fiüle von Details vorbringen könnte, die als Symptome ungemein wichtig sind. Heute steht die Sache doch so, daß eine Flaumfeder genügen würde, um die Wagschale zum Sinken, den unglücklichen Mann in argen Verdacht zu bringen. Habe ichs versucht? Ihnen irgend^ ein Detail in der Beweisaufnahme glaubhaft gemacht? Erst nach der Aussage des Grafen Moltke habe ich mich ent^ schlössen, an Einiges zu erinnern; mit gutem Grund. Ich konnte die ganze Prozedur, wenn ich sie fürchtete, leicht hinausschieben: denn den interessanten Zeugen aus Lieben^
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borg durften Sie mir nicht weigern. Ich habe seine Vemeh^ mung gar nicht erst beantragt; keinen einzigen Zeugen ge^ laden. Trotzdem selbst das Vorurtheil heute die Dinge etwas anders werthen würde als vor anderthalb Jahren. All die beschworenen Aussagen über die Verkehrsformen der beiden Herren, deren einer nun als ein emsig Homosexueller erwiesen ist. Das brauche ich nicht. Ich brauche nur» daß Sie mir glauben. Ich furchte Sie nicht, ich weiche Ihnen nicht aus; ich sage nur, was wirklich in den Artikeln steht. Sie hätten vielleicht den ganzen Eulenburgskandal vermieden, wenn Ihr Mißtrauen sich nicht gegen mich, sondern gegen Andere gerichtet hätte, wenn hier nicht, wider meine Warnung, eine Generalreinigung versucht worden wäre, zu der in Moabit Nie^ mand berufen war. Heute warne ich noch einmal. Ich kann auch in dieser Sache, wenn mirs unbedingt nöthig scheint, stets ein anderes Forum finden. Helfen Sie mir diese Nothwen^ digkeit verhüten. Glauben Sie, trotzdem Sie sich bei Ihren »thatsächlichen Feststellungen« festgelegt haben, meinen An^ gaben. Versuchen Sie nicht, den Rest eines makulirten Fehl^ urtheils zu retten. Sie sind gewissenhafte Männer. Ich habe das Recht, Ihren Glauben zu fordern. Versagen Sie ihn: die \^erte Strafkammer bleibt mit der Verantwortung belastet.
Ich müßte mich schämen, wenn ich an Ihr Menschengefiihl appellirte. Aber so ganz einfach, wie Sie vielleicht denken, war die Sache doch nicht. Alles, was Ihnen hier immer über Nervenfoltem und gräßliches Ungemach vorgejammert wird, vergeht vor dem ernstlich prüfenden Blick ja wie Schaum.
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Wenn mir Jemand nachsagte, ich sei in Männer verliebt, würde ich mich höchstens halbtot lachen und in vergnügter Ruhe vors Gericht gehen, wo es ja nur heiter werden könnte. Darum Nervenfolter und Totkrankheit? Das müßte doch andere Gründe haben. Da hätte ich schon eher Anlaß, zu stöhnen. Ein Privatmann gegen alle Reichsgewalten; und gegen neun Zehntel der Presse, die Oeffentliche Meinung macht. Schimpf, Aechtung, Bedrohung aller Art. Das will erlebt sein ; und kann Einen für den Lebensrest zum finsteren Menschen^ feind wandeln. Und warum das Alles? Weil ich gethan habe, was jetzt Jeder nützlich findet; am Ende sogar der preußische Kriegsminister; der sich mit der Revokation nachgerade allere dings ein Bischen sputen könnte. Darum stehe ich nun zum vierten Mal vor einem deutschen Gericht. So findet man bei uns sein »Recht«, wenn man für eine gute Sache tapfer ge« fochten hat. Doch solche Erinnerungen durften mich nicht aus meiner Reserve scheuchen. Man darf den Patriotismus, den man alltäglich auf der Lippe trägt, nicht in die Rumpele kammer werfen, weil ein privater Quarkvortheil auf dem Spiel steht. Thun Sie, was Sie wollen. Sie haben eine »Be^ weisaufi[iahme« beschlossen, die nur vom Interesse des Grafen Moltke empfohlen war. Sie haben (wenn ich von Anregung gen absehe, denen ich nicht nachgeben durfte) für die Her^ beischafiung entlastender Momente nicht das Geringste gethan. Ich verlange es auch nicht. Aber ehe Sie eine neue Verant» wortung auf sich nehmen, überlegen Sie, bitte: Was habe ich geschrieben? Was ist erwiesen? Wie hat sich der Nebenn
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klaget, wie der Angeklagte Ihnen in dieser Verhandlung ge^ zeigt? Was fordert von Ihnen das Staatsinteresse, was das Rechtsgefuhl?
Wenn Sie mich verurtheilen, üben Sie (ohne es zu wollen, versteht sich) Willkiir, nicht Recht; denn Sie haben mir nicht die kleinste Schuld bewiesen. Thun SiesI Ich habe nichts dagegen. So müssen solche Sachen ja enden; so haben sie in der Geschichte stets geendet Der Eine sitzt unangetastet in seinem schönen Schloß, der Andere wird von Instanz zu Instanz geschleppt, seiner Arbeit entzogen, geschmäht, mit dem Unrath der Preßkloaken beschmutzt, verurtheilt. Das ist die Krönung. So muß es sein. Er hat der schmierigen Katze ja die Schelle angehängt. Thun Sie noch einmal mit, wenn Sie die Verantwortung auf sich nehmen wollen. Wenn es heißen soll, die Merte Strafkammer am Königlichen Land^ gericht I Berlin hat Harden noch einmal mit ihren Feststel^ lungen beworfen, noch einmal in Schande zu bringen ver# sucht, noch einmal verurtheilt. Ich kann nur wönschen, daß die Strafe dann recht hart sei (an eine Geldstrafe können Sie auf Ihrem Standpunkte ja kaum denken; die wäre doch un# verständlich), und bedaure fast, daß Sie über die vier Mo^ nate nicht hinaus können. Einsperren, brandmarken, stäupen: Das ists. Ich sage ruhig: Ihr Urtheil kann mir nicht ernste lieh schaden. Auch Ihnen nicht? Ich glaube, von allen Be# theiligten habe ich Ihr Urtheil am Wenigsten zu furchten. Und deshalb bitte ich Sie, in Ihrem Berathungzimmer viel mehr an sich als an mich zu denken. Daran, daß unter einem
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neuen Fehlspruch wieder Ihr Name stünde. Lange würde er ja nicht gelten. Denn wenn Ihr Urtheil mich unerträglich dünkt : es giebt mehr als ein wirksames Mittel dagegen. Das habe ich Ihnen bewiesen. Auch diesmal würde es vielleicht eine Weile dauern. Aber wir würden uns wiedersehen. Nur: Ihr Name wäre auch von diesem Dokument deutscher Rechts^ pflege nicht wegzukratzen. Ich habe nichts mehr zu sagen. Lehmann: ^Wit werden berathen.
Pause.
Der Angeklagte wird, als Verbreiter nicht erweislich wah«s rer Thatsachen, die einen Anderen in der ö£Fentlichen Ach^ tung herabsetzen, zu einer Geldstrafe von sechshundert Mark und zur Tragung der in allen drei Verfahren entstandenen Kosten verurtheilt; das Gericht hat ihn schuldig gefunden.
Am Tag nach dem Termin ließ Graf Moltke dem Venire theilten sagen, er sei ihm fitr die »Ritterlichkeit seiner Haltung« aufrichtig dankbar. Vorher war an den Herrn Generallieute# nant z. D. Grafen Kuno Moltke der folgende Brief (»einn geschrieben«) abgegangen:
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Grunewald, 21. 4. 09. Eurer Excellenz
theile ich das Folgende mit: Auf Ihren Wunsch und im Vertrauen auf eine loyale Durchs fiihrung des im Lauf der letzten Wochen auf Ihre Anregung Vereinbarten habe ich am einundzwanzigsten März meinen Namen unter die Erklärung gesetzt, die Sie am Neunzehnten unterzeichnet hatten und die wir, mit einem gemeinsamen Begleitschreiben, am zweiundzwanzigsten März der Könige liehen Staatsanwaltschaft eingereicht haben.
Ihr Herr Prozeßvertreter wird Ihnen bestätigen, daß ich in der Hauptverhandlung das dem Menschenmaß Erreichbare geleistet habe, um eine schonende Behandlung der Sache und der Person zu ermöglichen und dadurch Eurer Excellenz Schmerzliches zu ersparen. Durch Ihr Verhalten haben Sie mir die Fortsetzung dieser Taktik unmöglich gemacht und mich zugleich von der Verantwortung für alles Weitere ent^ bürdet. Ich bin an das Vereinbarte nicht mehr gebunden und habe heute an die Königliche Staatsanwaltschaft ge^ schrieben:
«Der Königlichen Staatsanwaltschaft beehre ich mich mitzutheilen, daß ich nach den gestrigen Aussagen des Grafen Kuno von Moltke von den beiden am zwei^ undzwanzigsten März der Königlichen Staatsanwalts Schaft eingereichten Erklärungen meinen Namen zurück^ ziehe und mich von den darin ausgesprochenen Wun^ sehen lossage. Ich ersuche den Herrn Ersten Staatsanwalt,
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diese Mittheilung unverzüglich dem einstweilen zustän# digen Gericht» der \^erten Strafkammer am Königlichen Landgericht I Berlin, zugänglich machen.« In vorzüglicher Hochachtung
Harden. Am selben Tag stellte Harden den Antrag, das Urtheil der Vierten Strafkammer vom Reichsgericht revidiren zu lassen. Er mußte von der Haltung des Grafen Moltke um so mehr überrascht sein, als dessen Vertreter, Justizrath Dr. Sello, ihm,- während der Vergleichsverhandlungen, geschrieben hatte : »Sie, mein lieber Herr Harden, müssen mir nun helfen, die unselige Sache auf dem einmal betretenen Weg zu einem erträglichen Ende zu führen. Ich kann den Rest meiner Tage nicht noch mit der Verantwortung fiir ein Menschenleben belasten. Woher sollte ich das robuste Gewissen nehmen, um zu Allem auch noch Das zu tragen?«
Ueber die Revision sollte in Leipzig am fünften Juli ent^ schieden werden. Am zwölften Juni kam der folgende Brief: »Seiner Hochwohlgeboren Herrn Maximilian Harden. Euer Hochwohlgeboren
theile ich, in Beantwortung Ihres Briefes vom ein^ undzwanzigsten April, Folgendes mit: Sämmtliche von meinem Anwalt, Herrn Justizrath Dr. Sello, vor Gericht abgegebenen Erklärungen entsprechen meinen Intentionen und dem von mir unterzeichneten Vergleich. Auch ich habe in meiner Vernehmung zum Ausdruck bringen wollen, daß in den streitigen Artikeln
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der »Zukunft« der bewußte Vorwurf nicht gemacht worden ist. Wenn meine in der Erregung vor Gericht gemachte Aussage die Auslegung zulassen sollte, als ob ich mich nicht streng an den wohlerwogenen Wort» laut und Sinn des Vergleiches gehalten hätte, wie Dies in der Beweisaufnahme Euer Hochwohlgeboren in loyaler Weise gethan haben, so bedaure ich Dies und kann nur wiederholen, das Dies meiner Absicht nicht entsprach.
Diese Erklärung läßt mich annehmen, daß auch Euer Hochwohlgeboren sich wieder auf den Boden des Ver# gleiches stellen und die Angelegenheit als erledigt an» sehen werden.
Mit vorzüglichster Hochachtung
Graf Moltke.« Mit dieser (zur Verö£Fentlichung bestimmten) Erklärung begnügte sich Harden. Um ihren Wunsch und einen das selbe Ziel suchenden, der, mit unzweideutiger Anerkennung der Motive des Verurtheilten, von der Reichsspitze an ihn kam, zu erfüllen, hat er dem Reichsgericht angezeigt, daß er auf die Revision des Strafkammerurtheils verzichte.
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STERNICKEL.
Das Kapitalverbrechen bringt im hellen Jahrhundert nicht mehr hohen Zins. Die Konjunktur aller das Wesen unserer Zeit bestimmenden Mächte stemmt sich gegen diese Art menschen» thierischer Thätigkeit und eine Gestalt vom Schlag des sobem» heimer Henkersgehilfen Johannes Bückler, der an der Neige des achtzehnten Jahrhunderts, als Schinderhannes, der Schwarz» alb ganzer Bezirke war und den geängsteten Markthandlem Pässe verschleißen konnte, ist heute kaum noch vorstellbar. Schon der Zwang, von der Wiege bis zur Bahre gestempeltes Papier mitzuschleppen, sich in irgendeinem Amtshaus an» und abzumelden, von jeder Schnüffelnase den Heimathschein, Militärpaß, Steuerzettel beriechen zu lassen, erschwert das ins Dunkel trachtende Handwerk; und die Schnelle des mo» demen Erkundungdienstes erlaubt ihm selten, in hohe Jahre zu kommen. Leicht duckt zwar Einer ins Großstadtgewimmel unter und ähnelt sich der Schlammfarbe an, in der er min» destens eine Weile athmen muß. Doch irgendwo ist er ein» mal photographirt worden; nach kurzen Stunden sind Alle, die ihn kennen, aufgescheucht, der zuständigen Stelle vor» gefiihrt, vernommen; Grenzorte und Hafenbehörden zur
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Wachsamkeit gemahnt; Telegraph und Telephon haben ge» wirkt» d4S Bild des Verdächtigen ist verschickt, ist vom Draht übers Weltmeer geblitzt worden und auf dem finstere sten Steg muß der hinkende Schacher beben, von dem Wan^ derer, der ihn gestern im Lichtspiel sah, gehemmt und in Haft gezerrt zu werden. Marconi ward ihm gefahrlicher als der Erinyen bleicher Schwärm. Auf dem Meer durfte einst der Mörder selbst sich in wohlige Ruhe betten ; bis die Anker» kette niederrasselte, konnte ihm nichts geschehen. Jetzt fluthet Nachricht heran, ebbt Nachricht zurück; kann auf dem stampfenden, schlingelnden SchiflF, das kein Draht einem Festland verbindet, in der nächsten Minute ein Fünkchen aufglimmen, das der Besatzung die Spur des Verbrechers hellt. Ungünstige Konjunktur. Findet deshalb der Blick in so schlechtem Geschäft fast nur noch Stümper? Kleine Leute nur, die über Zwirnsfaden stolpern und bald zwischen Netz# maschen zappeln? Bruning, Grippen, Kolbe, Stemickel, die pariser Apachen sogar, denen der Plan glitzerte, die moderne Technik, den Totfeind des Gesetzbrechers, sich zu verbün» den, im Automobil durch die Raubreviere zu rasen: Alle enttäuschen das aus staunendem Grausen ihnen nachstarrende Auge; Alle scheinen, wenn die Halsschlinge der Ordnung» Wächter sie ins Alltageslicht geschleift hat, dem nahen Be» trachter winzig, unbedachtsam, albern; und Aller Herrlich» keit währt nicht lange. Bruning sieht zuerst aus wie ein Kerl von schwerstem Kaliber. Als Kassenbote erspäht er die schwächste Stelle des Kontroibrauches, raubt eine Viertel»
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million und verschwindet spurlos. Der, denkt man, kat witzig mit dem Stinunungtrieb der Masse gerechnet, die den Verlust einer Aktienbank gleichgiltig oder höhnisch hin<> nimmt und deren öffentlich meinendes Maul höchstens fragt, ob die Bank, das über den Hort von zweihundertsechzig Millionen breit und schuppig hingestreckte Ungethüm, die Schramme verbergen, die paar fürs Pflaster nöthigen Läpper«> groschen dem Vorstand oder den Aktionaren vom Jahres^ gewinn abzwicken werde. Kein sichdich arg Geschädigter: also auch keine grollende Empörung. Dem Flüchtling gellt aus allen Ecken Gelächter nach. »Den kriegen sie nicht I« Der hat gewiß, weit vom Thronsitz der Dresdener Bank, längst ein Schlupf löchlein geschaufelt, wo er sich umkleiden, rasiren, umkämmen kann; sitzt, ehe das Polizeiroth des Bei« lohnunganschlages die Meute auf seine Fersen hetzt, schon, bardos und mit der Brille eines Landschulmeisters, im Eisens bahnwagen und zerkaut, um zwischen länger gefirnißten Reisenden nicht durch Lackgeruch aufzufallen, in der Dritten Klasse sein Butterbrot; schlüpft unbemerkt über die Ostern reichische oder holländische Grenze, wird vom Lloyd oder von der Stoomvaart Maatschappij prompt verfrachtet, taucht in Alexandrien oder Batavia ins dichteste Gekribbel, protzt nicht viel mit seinem Geld und wird vom Scheinwerfer der Heimath nie wieder gesichtet. Nein: er schreibt an einen berliner Kameraden und prahlt ihm des neuen Lebens Wonne vor; er bleibt in Briefwechsel mit Verwandten, denen er einen Zipfel vom Schleier seines Geheimnisses gelüpft hat. Die
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Fährte wird ruckbar, der Marder erwisckt und in den Käfig ausgeliefert Grippen ist schlauer. Behutsam meuchelt er die ihm lästige Ehegefahrtin und hüpft, als in seines Hauses Kellergrund Menschenknochen gefunden werden, mit hur^ tiger, doch nicht hastiger Dialektik über das Drahtgeflecht der Verdächtigimg hinweg. Wird dann aber das blinde, dumme Opfer der Theaterwelt, in die sein nach flink zu er^ raffendem Geld und Frauenfleisch geiler Sinnendrang sich ver# laufen hat. Nur im Rampenlicht gedeiht der Wahn, ein ge# schorenes, in Rock und Hose gestecktes Mädchen könne Wachen ein Jüngling scheinen und solche Mummerei, trotz einem ungewollten Strauchelschritt, einem nicht eingedrillten Gestus, unbemerkt bleiben. Weil die leise Theaterwanze niemals bedacht hatte, daß im Mann der müdeste .Eros noch im Bratenrock das Mädel erwittert, weil Grippen sein Lieb# chen (an Bord eines auf der Atlantis schwankenden Schiffes gar) für einen jungen Sekretarius ausgab, ward er verdächtig, ertappt, gegriffen. Kolbe schwadronirt und späßelt vor Kneipkumpanen und Wmkeldimen so lange davon, daß er den Eheherm seines alternden Bettschätzchens erschossen habe, bis die Rattenfalle hinter Ihm zuklappt. Stemickel be# stimmt alles zur Drosselung dreier Menschen und zur Siehe«« rung seiner Flucht Nöthige; läßt aber im Kleid des Leichi« nams, den er in einer abgelegenen Strohmiete verbrennen will, ein Papier, das den Getöteten als nach Ortwig, im Be# zirk Fürstenberg^Wriezen, zuständig erweist und auf die Spur des Thäters hilft. Mit diesem \^ergespann stolzirt die
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Verbrechergilde nickt in neuen Rukmeslenz. Zu Ebren kam die Zunft in den letzten Jahren nur durch den Erzschelm, der dem Louvre am hellen Tag den berühmtesten Leonardo stahl. Und wer weiß, ob nicht auch seine Glorie bleicht, wenn er eines Tages vor den Schirm der Hehler tritt?
Stemickel hat ihn lange überstrahlt. Sein Ruf glich dem Klostermayers, des Bayerischen Hiesl, der, nach ganzen Serien grausamster Blutgräuel, 1771 in Dillingen von Staates wegen erwürgt und dann noch gerädert worden ist. Neben ihm schien dem nachgeborenen Raubmörder im Neuen Pitaval ein Vorderplatz gewiß. Der Norddeutsche tummelte sich nicht auf so glatter Bahn wie der Wilderer aus Kissing, der eine Bande um sich schaaren und, ohne Angst vor der Wamermacht und Meldegewalt stumm scheinender Drähte, Jahre lang eine Witteisbacherprovinz brandschatzen konnte. Stemickel, den das Müllergewerbe ausgebrütet haben sollte, galt als ein Ungeheuer aus dem finstersten Schlund mythi^ scher Vorstellung. Der an Körperkraft stärkste, den Menschen wölfischste Mensch, den Einbildnerwille je träumte; dabei allem Gethier in Güte zugethan und besonders zärtlich dem sanft gurrenden Täubchen. Ein Riese, ein Vieh, ein Kind: Alles, was die im Masterbe der Sue und D'Ennery, Lyttonn Bulwer und Conan Doyle speckig gewordene Romantik für das Bild eines großen Verbrechers braucht. Unzählige, hieß es, hat er geplündert und in Martern geschlachtet; unstillbar ist sein Blutdurst, unausschöpflich der Born seiner List. Durch dicke Mauern und dichte Gitterstäbe tappt er sich ins Freie ;
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wer ihn zu Kalten glaubt, umklammert eines Entlaufenden Schatten. Wohin er sich verkrochen hat und wie schwer die Sündenlast ihn bebürdet, weiß kein Sterblicher. Als ein schmatz zendet Moloch hockt er wohl irgendwo und blinzelt aus nie satter Gier schon nach frischer Menschenfleischspeise. Unter der Mütze eines Bauemknechtes wird er gefunden. Mit drei jungen Strolchen, die der Zufall ihm warb, hat er den Ho& besitzer, dessen Weib und Magd gedrosselt; die Wohnstätte ausgeraubt, den Kindern und Hausthieren aber Labung be^ reitet; und den Leib des getöteten Hofbesitzers durch Feuers^ brunst zu zerstören versucht. Moloch, wie er im Propheten« buch Ezechiels steht: dessen Wink Menschen schlachtet und verbrennt. Die Knechtsgestalt ist sicher nur Larve. Dieses Scheusal braucht nicht von Schmalhans die Atzung zu holen. Das Ermittelungverfahren weitet den blutdunstigen Nim» bus; muß ihn weiten: denn am sausenden Webstuhl der Zeit schaffen emsige Erdgeisterchen und wirken dem Ermittler das Kleid der Gottähnlichkeit, Der Kriminalkommissarius heftet des Namens Zukunft an seinen Kapitalverbrecher; den Reporter klebt erlaubte Geschäftssucht an seinen Kommissar. Der wächst mit der Summe der Unholdsthaten; und müßte mit ihr schrumpfen. Drum wird Stemickel im Regirungi* bezirk Schwarzer Kunst sacht ein abgefeimter Gigant, der Ermittler ein Kriminologengenie, neben dem Dostojewskijs Untersuchungrichter Porphyrius uns kaum ein armer Pfuscher, Sherlock Holmes höchstens ein anstelliges Polizeihündchen dünkt. Nur dieses einen Hirnes Allgewalt vermochte den
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Listenreichen so 2u umzingeln, dafi nirgends eine Lücke, eine Ausbruchsmögiichkeit blieb; ihm alle Masken vom Antlitz zu nöthigen und nur das Gäßlein offen zu lassen, das thak wärts in reumüthiges Geständniß fiihrt. Stemickel wehrt sich wie ein Löwe, in dessen Schädel Fuchsenschlauheit auf der Wacht liegt; doch der triebhaft ahnende, alle Zusammen^ hänge blitzschnell ertastende Geist des Kommissars bändigt ihn, wie des Beschwörers Starrblick die giftige Schlange. Stemickel leugnet zäh; ist aber vorgestern, unter der Rüttele faust des AIlum£issers, ins Wanken gekommen; gestern in ungemein wichtige Bekenntnisse überredet worden; heute völlig niedergebrochen. So (ungefähr) lasen wirs. Wochen lang. Auch, daß der Kommissar Zehnmännerarbeit bewältige ; Tag und Nacht über Akten grüble; bis in den Nordosten Oberschlesiens des Denkens Faden fortspinne; ein Gebirg schurkischer Gräuel entschleiern werde, die, alle, wiurden, weil Stemickel sie gewollt hatte. Dessen Gestalt färbt sich allgemach nun ins HöUenfiirstliche. Und wie ein Mühlen^ werk ächzt des Lauschers angstvoll wogender Athem.
Hofft Herr Omnes, einen vom Wirbel der Leidenschaft auf den Grat des Verbrecherwillens Gepeitschten am lichten Tag, ohne Eintrittsgeldaufwand, begaffen zu dürfen? Unter der Mehlstaubschicht eines Macbeth, hinter des Mist&hrers verjauchtem Schurz eines Raskolnikow Wesenszug wiederzu^ finden? Vor dem Abbild des vom Scheitel bis unter die Zehe mit Blut Getünchten die luftlos welkende Seelenhaut mit dem Prickelreiz frommen Grausens zu beleben? »Der
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Gedanke der Erbsünde ist der natürlicliste, auf den der Mensch verfallen konnte. \K7ie oft thut der Mensch, was er schon bereut, bevor und indem er es thuti \(^e oft ruft er: Pfiii, spuckt ins Glas und leert es dennoch I Alles, was im Lauf der Zeit allgemeiner Glaube, unumstößlich scheinende Satzung wurde, auf das persönliche, individuelle Bedürfniß zurückzuführen, ist von der höchsten Wichtigkeit; nur da# durch gelangt man zu einiger Freiheit der Erkenntniß. Man macht auf diesem Weg die merkwürdigsten Entdeckungen: die, zum Beispiel, daß Gottes Mantel aus dem Schlafrock des Menschen und aus dem Gespensteranzug seines Gewissens zusammengestückt ist. Die Menschheit läßt sich keinen Irr^ thum nehmen, der ihr nützt; sie würde an Unsterblichkeit glauben, auch wenn sie das Gegentheil wüßte. Eine Welt^ Ordnung, die der Mensch begriffe, wäre ihm unerträglicher als diese, die er nicht begreift.« Das hat Friedrich Hebbel gesagt; der Friesenrecke mit den Fiedemerven der schäm« haften Mimosa, der mit gleicher Sicherheit des Empfindung« tones aus Hagens und Rhodopes, Etzels und Mariamnes Herzen sprach. Dieser große Erfiihler und Dichter spätorien« talischer und spätgermanischer Menschheit hat auch, mit ge« duldigerer und feiner behäuteter Hand als irgendein Anderer, die Wurzel zerfasert, aus der Mörderaffekt keimt, und ihren Stoff uns durch die vergröfkmde Linse des Dramatiker« temperamentes sehen gelehrt. Golo : da steht leibhaftig (und erklärt sich selbst leider nur allzu bewußt) der Verbrecher« Wille aus Leidenschaft. Und der ihm beklemmten Odems
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stürmisches Geseu& gab, flüchtet von so grassem Anblick auf eine Bülte, durch deren Schilfbesatz Urmuhmenweise raschelt: »Was Einer werden kann, Das ist er schon ; zum Wenigsten vor Gottl Der Mörder und der Andere, der ihn des Mordes wegen zum Tod verdammt: worin sind sie unterschieden, wenn Gott, der mit der wirklichen zugleich alle möglichen Welten üheu schaut, erkennt, daß, bei anderer Verkettung der Umstände, Jener der Richter und Dieser der Mörder hätte sein können?« Entstrafit, die Ihr von den ortwiger Morden träumt, den Strang Eurer Hoffiiung oder denket, wenn Ihr durchaus ein Vorbild aus dem Kampf zwischen Begierde und Gewissen ersehnt, an Feuerbachs »Raubmörder aus Eitelkeit«, der, um einer durch Prunksucht entstandenen Schuldpflicht ledig zu werden, die Hirnschale des Schulklopfers Joseph Landauer zerschmetterte, eher als an den nach Genovevas Leib brünstigen Golo. Der hat nur, wenn unter der Eiskruste ersten Entsetzens ihm der Blutstrom auskühlt, mit den kalten Dutzendmördem Gemeini« Schaft; in den Sekunden nur, in denen er sich schwichtigen und dem Fegfeuer abbetteln will: »Ein Mordi Was ist ein Mord? Was ist ein Mensch? Ein Nichts^ So ist denn auch ein Mord ein Nichts I« Ist die Kruste geborsten, dann sie«» dets rasch wieder im Lebenssaft und der von Leidenschaft hemmunglos Verwirrte sondert sich, mit allen Kanten und Zacken der Wesensart, deutlich vomhomo delinquens. Schon Gall hat, vor neunzig Jahren, die Verbrecher in die von Affekt und die von Gewerbssinn bestimmten Rotten ge«> schieden. Viel weiter kam Erkenntniß bis heute nicht.
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Stemickel wird sehenswerth, wenn er, mit gefesselten Gliedern, über den Zaun in den minder häßlichen Reigen der Jäheitsünder springen, als von ungerechter Schimpfrede des Bauers, der Bäuerin, der Magd bis ins Blut Gekränkten sich vor das Schwurgericht pflanzen will. Er wird hörens^ werth, wenn er aus der Stoppelrede des wortarmen Land« arbeiters und auf die rohe Ausdrucksform stolzen Stromers in die von Bohnerwachs blankgeriebene Zeitungsprache schlittert. »Meine Frau, die nicht weiß, daß ich auf solchen Wegen gewandelt bin, will ich nicht unglücklich machen.« Nur danach entsteht im Schwurgerichtssaal der Oderstadt Frankfurt »große Bewegung«. Herr Omnes langt gierig nach der Gefühlshülse, der Lebensspielmarke, an die sein Tastsinn gewöhnt ist; und scheint, zum ersten Mal, in die Bereitschaft zu Mitleid geneigt. Weil er den Mörder des Lieferungromans, endlich das von Reuezähren aufgeweichte Ungeheuer zu er« blicken hofit, dessen »Psyche« der Reporter in einen Blätter« stoß durchgepaust hat (damit keine Plantage auf die Dung« zufuhr zu warten brauche). Doch das Strählchen verkohlt rasch und um Stemickel wirds wieder fahlgrau. Weder Ge« witter noch Wolkenbruch. Wo blieb der blutdunstige Nim« bus? Der Kranz aus den Sumpf blumen herbstender Roman« tik? Die UeberfuUe scheusäliger Enthiillung, die den Lun« gemden verheißen worden war? Mußte für diesen Ertrag ein Kriminologe von vielen Graden sich länger noch als der Weltenschöpfer plagen? Nicht nur die Monarchenmörder, von Aegisth, der Agamemnon erschlug, bis auf den irren
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Weltbeglücker, der in Saloniki jetzt einen König der Hellenen erschossen hat, kitzeln das Gedächtnißfell wohliger (denn sie hattens auf einen Nebenbuhler oder Tyrannen, den Throne oder Bettlusträuber, den Wipfel eines gehaßten Stammes ab^ gesehen): noch der Raubmörder aus Eitelkeit letzt den Gaur men reichlicher als dieser verviehte Müller, dem die Knechts» gestalt nicht Larve war und der über Leichen nur in Tag«> löhnerfron geschritten ist. Joseph Lepage, dessen Selbstbe» kenntniß Lombroso abgeschrieben hat, beugt sich über den geknebelten Strolch. Auch ein Wicht ohne besonderes Willensmerkmal. Der als Fünfzehnjähriger dem arbeitsamen Vater, als Dank für ernsthaft milde Ermahnung, das Lebens» motto in den Bart speit: »Wer sich schindet, ist ein Rind» vieh; habe ich erst ein Frauenzimmer, das mir jeden Tag vierzig Sous zinst, dann bin ich geborgen^c. Da er den Koch» topf, dem er Deckel sein dürfte, nicht sogleich findet, will er ein stilles Weibchen, seines Herbergers Gefährtin, töten, um ihr acht Francs zu nehmen. Dieses schäbige Motiv kleidet ihn aber allzu schlecht und er schminkt sich behend den Satyrkopf eines Lustmörders an. »Ich bebte, wenn ihre Haut mich streifte, und mußte ihr helfen, wenn sie die entziindete Brust verband. In solchem Drang hat michs übermannt. Den zuckenden, noch warmen Leib zu genießen: cela doit etre un morceau de gourmeti Der Versuch mißlang. Ich habe ihr nur ein paar Centiliter Blut abgezapft: und soll nun fünfzehn Jahre im Höllenklima schuften. Lächerlich I Ja, wenn ich sie eine \^ertel$tunde lang in meinen Fängen ge»
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kabt hätte, gäbe ich gern meinen Kopf hin. Reue? Die bitterste; doch nur, weil ich so dumm war, beim Stoß falsch zu zielen. Fünf Millimeter tiefer: und sie verröchelte in meinem Arm.^c Der schämt sich des Diebsgewandes, sehnt sich in die Nähe Pranzinis, des in orgiastischen Messen ge# feierten Marquis de Sade und wendet sich verächtlich von dem Raubmörder, den kein Mimenschwung aus stickiger Mulde hoch ins Interesse einer hungernden Menge hebt.
Stemickel bleibt kalt und klar, wie, noch in gefahrlichen Händeln, ein schlauer Bauer. Zwischen ihm und allen wei« eher Gebetteten ist Krieg; gilt seit Jahrzehnten nur das Höhlen^ recht uralten Naturzustandes. Weim es sein mußte, hat er gefront, daß der Fleißigste sich nicht neben ihm brüsten durfte. Vom Frühroth bis in die Nacht. Auf dem Feld und im Stall. Dann flogs ihm nur so von der Hand; und der Dienstherr schmunzelte und maß dem tüchtigen Knecht den Nachttrunk wohl einmal reichlicher zu. Gut. Nur: immer den Rücken krümmen, für Andere schwitzen, dem Fremden die Scheune füllen? Nein. Macht über Menschen erlangen, von ihrer Weide Futter erzwingen: Das wäre Trost und end^ lieh sättigender Lohn. Wie aber erlangt Unsereins denn je, wie nur Macht über Menschen? Durch die von verschlagen ner List bediente Körperkraft. Durch das Geld, das sie ihm in den Beutel liefert. Verbrechen? Unsinn. Zwischen dem waffenlos in den Kampf ums Dasein Geschickten und den stärker Gerüsteten ist nicht Rechtsgemeinschaft, ist niemals von Beiden beschlossene Lebensversicherung; ist immer nur
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Krieg. Der unter der Bewußtseinsschwelle vorbereitet und auf der Tenne, an der Mistgrube, in der Ackerfurche ausge«» fochten wird. Würde der Herr zaudern, ihn wegen Siech:^ thums oder geringen Fehls wegzujagen? Krieg also; der Erdhöhlenzwist um Nahrung, Warme, Gebieterrecht. Und wer zählt im Krieg fallende Blutstropfen? Augenmaß und Wahmehmungfahigkeit sind so blöd, daß sie zur Schätzung des Abstandes von fernem Gewinn und naher Gefahr nicht ausreichen. »Was ist ein Mord? Was ist ein Mensch? Ein Nichts I« Wird man ertappt, so gehts noch lange nicht an den Kragen. Ein Kerl, der zwei Zinken und Hauer hat, beißt oder kratzt sich durch und übertölpelt den Büttel, der für Litzchen und Zulage nicht ins offene Grab schielen mag und zwar alles Wahrscheinliche berechnet, für Unwahrschein^ liches aber nicht vorgesorgt hat. Schwedische Gardinen sind kein Sargdeckel, Mauern von Mannesbreite nicht die Scholz len, die der im Würmerverließ erwachende Arm nicht zu lockern vermag. Im richtig erspähten Augenblick die aller Voraussicht spottenden Gewaltmittel mobil gemacht: und der Sieg ist beinahe gewiß. Handeln im Weiten die großen Herren denn anders? Und ist das Ding schließlich nicht zu drehen, dann ist doch ein buntes Erlebniß, eins, in das Blei# grau des Frönertages geprasselt und ein im Riesenbetrieb der Bürgerwirthschaft unbeachtetes Rädchen für eine kurze Frist wenigstens in den Lichtkreis gerückt. Weshalb aber soll Einem, der stracks auf sein Ziel losgeht und nichts Unkluges, nichts unklug thut, Alles mißlingen? Hier lagert Geld genug
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fiir den Lebensrest. Eine gute Brise treibt Gehilfen herbei. Bauer, Bäuerin, Magd in festen Schlingen gedrosselt. Die Töchter, damit sie nicht heulen und zu unnöthiger Metzelei zwingen, in den Schrank gesperrt. Futter und Trank Bat das \^eh; sonst brüllt es zur Unzeit. Nichts Unnützliches; hübsch nüchtern bleiben und nichts Nothwendiges versau^ men. Der Briefträger? Die Herrschaft ist verreist. Den Ka^ daver in die Strohmiete, die schnell in Brand kommt. Arbeit; wie andere. Dann, mit den bequem am Leib zu bergenden Beutetheilen, in die Nacht hinaus; in buntes Erleben und, endlich, in Genuß. In dem Ding müßten zwölf Teufel und ihre Großmutter sitzen, wenn es nicht zu drehen wäre.
Ist aber nicht. Und Stemickel muß dran glauben. Dies^ mal, weiß er, entwischt er nicht wieder. Seine Schliche sind ruchbar. Wie ein wildes Thier wird er in oen Käfig gepfercht. Keine Klage; so gehts im Krieg. Und daß dieser verloren ist, könnte nur ein Tropf noch weglügen. Einen Vertheidi# ger von Ruf herwinken, einen aus dem berliner Troß, der jeder Lärmrolle nachjagt? Der würde, um in der Zeitung nie zu fehlen, täglich zehnmal das Wort fordern; mit Gericht und Staatsanwalt raufen; seinen Aerger ins Protokol spritzen; das Mandat wie ein verlaustes Trödelstück schwenken; sein Rügerecht mit Puschel durch den Saal tummeln; hinter das Gespenst unvermeidbarer Revision den Entschluß hissen, beim nächsten Unglimpf von dem Oderfort grimm nach Berlin zu weichen und den Angeklagten schutzlos zu lassen; schließe lieh, wenn alle Raketen verknallt sind, in Psychologie plät#
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schem und der Thränendrüse die OflBzialleistung auspressen. (Nach dem berüchtigten Muster: »Daß mein Klient Vater und Mutter gemordet hat, darf und will ich nicht beschönig gen; Ihre Gewissenspflicht aber, meine Herren Geschworenen, ist, ernstlich zu erwägen, daß er zur Waise wurde I«) Solchen Quark beleckt hier doch Keiner. Am Liebsten zerrisse die Volkswuth den Mörder. Der riecht die Stimmung; und wickelt sich stramm in Gleichmuth. Weder Abruzzenpose noch Zu^ sammenbruch in den Titmpel der Reue. Stämmig sitzt er, ist mit jeder taktischen Wendung des Prozeßfiihrers zufrieden und drückt sich an Ja und Nein nie feig vorbei. Die Hem^ mung, die Menschenhime von aller Thierheit trennt, hat er nicht; aber trutzigen Muth bis ans Ende. Auch noch ein Bodensatzchen von dem Korsarenhumor, der ihn einst vor vielen Ohren höhnen ließ: »Die Polizeisippschaft hat keine Augen im Kopf; sonst hätte sie den Sternickel, der (ich bin aus dem selben Dorf) gar nicht zu verkennen ist, längst aufgegriffen«. Die Polizei haßt er wie je ein Frommer den Satan; dem Kommissar ein garstiges Läppchen ans Zeug zu flicken, ist ihm noch in Fesseln Genuß. Auch den Gehilfen ist er nicht hold. Die drei Jämmerlinge haben von dem ver^ hagelten Ding wenigstens Etwas gehabt: sich randvoll ge^ soffen, in Autos gebummelt, den Radrennem zugegröhlt, mit willigen Mädchen geschlafen. Er hatte nichts, gar nichts als die Last der Zurichtung und das Elend der Flucht. Und die grünen Bengel, die vorGroschendimen dieThat ausgeschwatzt, dann ihn verpfiffen haben und jetzt flennen, der Gedanke
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an Mord oder Totschlag sei ihnen nie genaht, diese ruppigen Zuhälter sollen mit blauem Auge davon? Nein. »Alles, was Recht ist.« Stemickels Rechtsgefiihl bäumt sich ; und billigt dann den Spruch, der ihn dreimal, zwei Helfer zweimal zum Tod ver^ urtheilt und nur den jüngsten Gesellen auf fünfzehn Jahre ins Gefiingniß schickt. Auf die letzte Karte, die einzige, die noch auszuspielen war, hat er selbst wohl kaum eine Hoffiiung gesetzt. Er wollte sich als ruhigen, auf seine besondere Weise ehrlichen Mann präsentiren. Unbestreitbares frank zugeben und nur be^ haupten, was bündig nicht als fabch zu erweisen war : daß seiner Absicht Ziel Betäubung und Raub gewesen sei, doch nicht Mord. Diese Nothschanze war von einem Unbescholtenen nicht zu halten. Wer so würgt und das Schädeldach prügelt, hat, allermindestens, die Möglichkeit des Totschlages in sein Be^ wußtsein aufgenommen. Wider Stemickel zeugte obendrein die verjährte Schuld. Und der vom Staatszwang ihm verpflichtete Anwalt sprach fiir den Mörder kein armes Wörtchen. Würdiger war diese steife Absage ab ellenlanges Rabulistengeplärr oder gar der Versuch, den Mörder vom Richtblock weg ins Irrenhaus zu schmuggeln. (Wer sich in Mord gewöhnt, sieht die Relation von Gewinn und Gefahr freilich so falsch, daß ihm die Willens^ schranke verrückt wird und er den Normalen nicht mehr zu^ gehört; ihn sofort und fiir immer unschädlich zu machen, ist dennoch die Pflicht jeder von ihm gestörten Rechtsgenossen« Schaft.) Aber ein gefesselter Mensch, in höchster Lebensgefahr, ein noch so verthierter, ohne den Schild menschlicher Für« spräche: kein Lenzfeierglanz verklärte uns dieses Schreckensbild.
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Als Feclor Michailowitscli Dostojewskij, der grundlos des Trachtens nach Aufruhr verdächtigte Dichter, in der Peters PaukFestung das Todesurtheil hörte, hielt er sich still. Als auf dem Richtplatz, vor dem Galgen, der Wink eines weißen Tuches den Henker zwang, den irren Grigoriew vom Pfahl loszubinden, floh das Blut Fedors Michailowitsch, dem die Halsschlinge schon geknüpft war, in die Herzkammer zurück. Als ihm der Gnadenerlaß des Zaren vorgelesen wurde, über^ strömte die Wangen des zum Tod Bereiten jäh die Purpura welle der Scham: denn diese Begnadigung empCuid er »wie unnöthigen und häßlichen Schimpf.« In Sibirien litt er, als Zuchthaussträfling, unter Entbehrui^, Arbeitzwang, Ketten^ gewicht, Leibes und Geistes Noth nicht so wie unter der Wucht der Verachtung, die sich von ihm wandte, des mit Furcht gesprenkelten Hasses, der aus jedem nicht wegschwei«: fenden Auge ihn und Seinesgleichen anfunkelte. Almosen wurde zum Seelenlabsal; und die Erlaubniß, ein Kupfergeld^ stück ins Kirchenbecken zu legen, leuchtete wie Sonnenau& gang ins Gemüth und weckte aus finsterem Schacht die Zu^ versieht: »Vor Gottes Blick bin auch ich ein Mensch; sind wir, Alle, den nicht in Eisen geschirrten, nicht von der Peit# sehe umdräuten Menschen gleich.« Ostern wird eingeläutet. Die Freien, Reichen, Vornehmen drängen sich auf die be^ quemsten Sitze. Weitab, an der Schwelle, kauern die Elenden; Krüppel, Bettler, das Zuchthausvolk. Aus ihrem demüthigen Gebet lodert Inbrunst, die reine Flammensäule frommer An^ dacht. Und da im Morgengrau nun selbst den vom Staat
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Ceächteten <las Sakrament des Abendmahles gespendet wird und über dem Kelch des Priesters Mund den Herrn anfleht, auch dem ärmsten Schacher in dieser Stunde nicht die Aufit nähme zu weigern, klirren hundert Ketten; liegen hundert Dürstende vor dem Erlöser im Staub; stehen hundert von Trost Gelabte auf und schleifen, neuer Wegzehrung froh, die Fessellast weiter. Und dem Dichter dämmert noch schöner ein Tag. Dem von der Morgenarbeit Heimkeuchenden schreitet eine Frau sammt einem kleinen Mägdlein entgegen. Das schaut den beladenen, vergilbten Mann; und reckt sich ans Ohr der Mutter. Der Sträfling erblinzelt noch, wie die Frau aus ihrem Bündelchen eine Münze nimmt. Nun hört er rasche Füße hinter sich; und schon hat das liebliche Kind ihn überholt. »Hier, armer Mann; um Christi willen I« Hartes drückt sich in die sanft entballte Hand. Und das scheue Vögelchen fliegt wieder der Nestschützerin zu. »Eine Kopeke! Ich habe sie lange aufbe^ wahrt« : erzählt Dostojewski]. Weder das Kind noch die Mutter ahnte, daß ihre Gabe Einem zukam, der sich durch irgendein Wesentliches von den Kettenge£üurten unterschied. Den Un^ glücklichen, in Verbrechen Gestrauchelten wollten sie erquicken ; nicht einen Dichter ehren. Eines jungen Soldaten Witwe und Waise. Der Mann, der Vater war eines Zuchtmangeb verdächtigt, in Untersuchung gezogen worden und im Gefangnißspital ge^ storben. Eigenes Leid hatte sie, Mutter und Kind, Mitleid mit fremdem Elendgelehrt. »Hier, armer Mann; um Christi willen U Noch blühte kein Lenz; in Frost starrte duftlose Erde. Aus der Grabesnacht aber war in Morgendust ein Heiland erstanden.