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Leitfaden

der

Physiologischen Psychologie

in 15 Vorlesungen.

Von

Prof. Dr. Th.. Ziehen ?

in Jena. ^

Mit 21 Abbildungen im Text.

Zweite vermehrte und verbesserte Auflage.

* 9l

Jena,

Verlag von Gustav Fischer. 1893.

19,

Vorwort.

Der vorliegende Leitfaden ist im Anschluss an Vorlesungen entstanden, welche ich an hiesiger Universität seit mehreren Jahren über physiologische Psychologie gehalten habe. Die hier vor- getragenen Lehren weichen von der in Deutschland dominierenden Doctrin Wundt's erheblich ab und schliessen sich eng an die sog. Associationspsychologie der Engländer an. In Deutschland hat nur Münsterberg neuerdings gleichfalls gegen die für die Wundt- sche Schule charakteristische Apperceptionslehre vom Standpunkt der physiologischen Psychologie Einwände erhoben. Indem Wundt eine besondere Hülfsgrösse , die sog. Apperception zur Deutung der psychischen Vorgänge einführt, umgeht er freilich zahlreiche Erklärungsschwierigkeiten : wo ein schwer erklärbarer psychischer Vorgang vorliegt, wird er dieser Apperception zugeschoben. Da- mit ist jedoch zugleich auch auf jede psycho-physiologische Er- klärung verzichtet. Dass diese Hülfsgrösse nun überflüssig ist und dass alle psychologischen Erscheinungen auch ohne sie sich erklären lassen, soll dies Buch zeigen.

Dasselbe war in erster Linie zunächst für den Psychiater be- stimmt, ebenso wie das Studium der krankhaften psychischen Er- scheinungen den ersten Anstoss zu den psychologischen Studien des Verfassers gegeben hat. Doch mit Erweiterung des Kreises der Zuhörenden hat sich der Charakter des Leitfadens geändert: in seiner jetzigen Form ist er für den Naturwissenschaftler ebenso wie für den Arzt bestimmt. Die eingehende Berücksichtigung der psychischen Vorgänge bei Geisteskranken habe ich mit gutem

IV

Grunde beibehalten. Wie eine Carricatur einen einzelnen Cha- rakterzug klarer hervortreten lässt, so zeigt die Geisteskrankheit uns bald diesen , bald jenen Zug des psychischen Lebens in be- sonders instructiver Schärfe gewissermaassen aus dem Wirrsal der übrigen psychischen Erscheinungen herausgelöst.

Bezüg-lich der Citate habe ich zu bemerken, dass dieselben lediglich bezwecken , das weitere Studium auf geeignete Wege zu leiten. Eine Angabe aller Arbeiten, auf welche die Sätze des Textes sich stützen, ist nicht beabsichtigt.

Jena, October 1890.

Tli. Ziehen.

Inhaltsverzeichniss.

Vorwort III

I. Vorlesung. Aufgabe und Inhaltsübersicht 1

II. Vorlesung. Empfindung. Association. Handlung . . 14

III. Vorlesung. Reiz. Empfindung 28

IV. Vorlesung. Geschmacks-, Geruchs- und Gefühlsempfindungen 45 V. Vorlesung. Die Gehörsempfindungen 62

VI. Vorlesung Die Gesichtsempfindungen 73

VII. Vorlesung. Die zeitlichen Eigenschaften und der Gefühlston

der Empfindungen 92

VIII. Vorlesung. Empfindung Erinnerungsbild Begriff . . 108

IX. Vorlesung. Der Gefühlston der Vorstellungen. Affecte . 123

X. Vorlesung. Die Ideenassociation 140

XI. Vorlesung. Schnelligkeit der Ideenassociation. Urtheil und

Schluss 153

XII. Vorlesung. Aufmerksamkeit. Willkürliches Denken.

Das Ich. Gedächtnis 164

XIII. Vorlesung. Krankhaftes Empfinden und Denken. Schlaf.

Hypnose 176

XIV. Vorlesung. Handlung. Ausdrucksbewegungen. Sprache 190 XV. Vorlesung. Wille. Allgemeine Schlussfolgerung . . . 205

Register 214

ERSTE VORLESUNG. Aufgabe und Inhaltsübersicht.

Die Psychologie , welche ich Ihnen vortragen will, ist nicht jene alte Psychologie, welche die psychischen Erscheinungen auf einem mehr oder weniger speculativen Wege zu erforschen ver- suchte. Diese Psychologie fist von denen, die naturwissenschaft- lich zu denken gewohnt sind , längst verlassen. An ihre Stelle ist die empirische Psychologie mit Fug und Recht getreten. Die physiologische Psychologie macht einen Theil der empirischen Psychologie aus. Lassen Sie uns ausgehen von dem auch in der Philosophie herkömmlichen Gegensatz, welchem ja auch die Psychologie als solche ihre Sonderexistenz verdankt, dem Gegen- satz zwischen materiellen und psychischen Erscheinungen oder Vorgängen. Absichtlich vermeide ich die Ausdrücke Materie und Seele, indem beide, statt des uns ursprünglich gegebenen Mannig- faltigen, eine neue, zunächst ganz hypothetische Einheit einführen. Ganz ununtersucht soll hier auch bleiben, ob das Materielle und Psychische uns in gleich ursprünglicher Weise gegeben sind. Es wird erst dem Ausgange unsrer Studien vorbehalten bleiben, zu entscheiden, ob das Materielle und das Psychische ganz unab- hängig von einander bestehen, oder ob, wie der spiritualistische Philosoph annimmt, das Materielle eine Function des Psychischen ist, oder ob endlich, wie umgekehrt der materialistische Philosoph annimmt, dies Psychische lediglich eine Function der Materie ist. Wir acceptieren zunächst den Gegensatz des Materiellen und des Psychischen und behalten uns vor, später auf Grund unsrer ge- samten physiologisch-psychologischen Forschungen eine Einheit für die beiden Gegensätze zu finden. Nur dies eine müssen wir schon hier hervorheben, einen Satz, den wir der Physiologie direct entnehmen können und der als Grundsatz der ganzen physio- logischen Psychologie gelten kann : jedenfalls existiert eine gewisse Anzahl psychischer Erscheinungen oder Vorgänge, welche nicht ganz unabhängig und beziehungslos neben den materiellen Er- scheinungen und Vorgängen ablaufen, sondern zu gewissen mate- riellen Erscheinungen oder Vorgängen in einem offenbaren Paralle- lismus stehen, oder kürzer, für eine Reihe psychischer Vorgänge existieren materielle Parallel Vorgänge, so dass diese nicht ohne jene

Ziehen, Phyttiologluclu Psychologie, ü. Aufl. 1

und jene nicht ohne diese vorkommen. Die Hirnphysiologie lehrt uns z. B., dass Gesichtsempfindungen nur zu Stande kommen, so- lange der sog. Hinterhauptslappen des Gehirns unversehrt ist. Nehmen wir diesen bei einem Hunde mit dem Messer oder dem Glüheisen weg und erhalten das Thier am Leben, so ist dasselbe künftig blind. Umgekehrt zeigt sich, dass, solange gewisse, im Einzelnen uns freilich noch ganz unbekannte materielle Vorgänge im intacten Hinterhauptslappen auftreten , auch Gesichtsempfin- dungen und Gesichtswahrnehmungen sich einstellen. Fragen wir allgemein, für welche materiellen Vorgänge psychische Parallel- vorgänge nachweislich existieren, so ist zunächst zu antworten : für physiologische Vorgänge, d. h. für diejenigen materiellen Vor- gänge, welche speziell der lebenden Materie angehören, und noch enger gesagt , für die materiellen Vorgänge des Central- nervensystems, vor allem des Gehirns. Wir werden später zu er- forschen haben, ob für alle psychischen Erscheinungen solche materielle Parallelvorgänge im Centralnervensystem existieren, und unsere Antwort wird entschieden nein lauten. Die physiologische Psychologie jedoch beschäftigt sich ausschliesslich mit denjenigen psychischen Erscheinungen , welchen solche hirnphysiologische Parallelvorgänge entsprechen. Daher ihr Name. Alle psychischen Processe , für welche correspondierende hirnphysiologische Vor- gänge nicht denkbar sind , ignoriert sie. Wie die psychischen Vorgänge den Gehirnerregungen parallel gehen, geht die physio- logische Psychologie der Hirnphysiologie parallel. Wo die letztere ihr genügende Erkenntniss noch nicht bietet, wird die physio- logische Psychologie die psychischen Erscheinungen wohl pro- visorisch rein als solche erforschen dürfen, jedoch immer geleitet von dem Gedanken, dass auch für diese psychischen Erscheinungen wenigstens die Möglichkeit eines Parallelismus zu cerebralen Vorgängen nachgewiesen werden muss.

Früher bezweifelte man, dass es überhaupt eine exacte natur- wissenschaftliche Psychologie geben könne. Selbst Kant hat diese Zweifel getheilt. Eines seiner Hauptargumente ist, dass das Psychische, da es nicht quantitativ fassbar, also nicht messbar sei, nie einer mathematischen Behandlung zugänglich gemacht werden könne. Wir haben es nicht nöthig, aus dem Begriffe des Psychischen zu deduzieren, dass auch hier Mathematik möglich sei. Denn Kant ist durch die Geschichte der Psychologie bereits widerlegt worden. Weniger als vierzig Jahre , nachdem Kant jenen Ausspruch gethan , hat Herbart in ausgiebigster Weise Mathematik auf Psychologie angewandt. Man mag seinen Resul- taten beistimmen oder nicht, die Möglichkeit einer mathema- tischen Behandlung der Psychologie war jedenfalls schon im Jahre 1822 durch Herbart's Werke dargethan. Aber auch grosse, streng mathematisch ausdrückbare Sätze hat die physiologische Psychologie jetzt gefunden. Dieser Theil der physiologischen Psychologie wird speziell als Psychophysik gemeinhin bezeichnet. Fechner, der kürzlich gestorbene Leipziger Psycholog, ist es, der mit thatsächlichem Erfolg zuerst gewisse Theile der physio- logischen Psychologie mathematisch behandelt hat. Sie werden mit mir eine Reihe solcher psychophysischer Gesetze kennen lernen. Die Psychophysik ist also ein integrierender Theil unsrer

Wissenschaft. Nachfolgendes Schema wird Ihnen die Stellung unsrer Wissenschaft nochmals erläutern. Wir unterscheiden:

i. Speculative Psychologie.

2. Empirische Psychologie.

a) Autonome x) Psychologie: psychische Vorgänge ohne hirnphysiologische Parallelvorgänge.

b) Physiologische Psychologie: psychische Vorgänge mit hirnphysiologischen Parallelvorgängen (integrie- render Theil : messende physiologische Psychologie = Psychophysik).

Indem wir uns nun hineinbegeben in die grosse Welt der psychischen Erscheinungen, wird unsre erste Aufgabe, wie die jeder empirischen Wissenschaft, ein Botanisierengehen sein, d. h. wir müssen erst psychische Einzelerscheinungen empirisch sam- meln, um dann ihre Zusammenhänge zu studieren. Hierbei stösst uns sofort die Frage auf: Woran erkennen wir das Psychische? Was verhilft uns zu einer sicheren Diagnose des Psychischen ? Das Kriterium kann nur lauten : Alles, was unserem Bewusst- s e in gegeben ist, und nur dieses ist psychisch. Materiell ist, was wir hieraus in Raum und Zeit versetzen als Ursache unsrer Empfindungen, materiell ist der Baum, dessen Existenz wir draussen annehmen, wenn wir die Gesichtsempfindung eines Baumes haben. Ps}*chisch ist diese Gesichtsempfindung selbst, insofern sie in unsrem Bewusstsein ist. Psychisch und bewusst sind hier im Be- ginne unsrer Betrachtungen durchaus identisch ; wir können uns gar keine Vorstellung machen von dem, was eine unbewusste Empfindung, Vorstellung etc. wäre ; wir kennen Empfindungen und Vorstellungen nur, insofern sie uns bewusst sind. Wir werden später sehen, dass manche Forscher auch unbewusste Empfin- dungen und Vorstellungen angenommen haben. Wenn wir an einem Freund vorübergehen und ihn in Gedanken versunken nicht sehen, nach einigen weiteren Schritten uns dann aber plötz- lich einfällt: »eben ist dein Freund vorübergegangen«, und wir ihn nun grüssen, so Hegt es ja scheinbar nahe, anzunehmen, dem bewussten Sehen des Freundes sei ein unbewusstes, der bewussten Gesichtsempfindung eine unbewusste vorangegangen. Bei näherer Betrachtung erweist sich jedoch diese Annahme als durchaus will- kürlich. Beim Vorübergehen des Freundes wurde meine Netzhaut, mein Sehnerv erregt, und dieser leitete die Erregung weiter zu dem Hinterhauptslappen des Gehirns, der sogen. Sehsphäre. Diese Erregung ist , wie wir wissen, ein materieller , ein chemischer Vorgang. Zunächst entspricht diesem materiellen Vorgang über- haupt kein psychischer Vorgang. Andere intensivere Vorstellungen, d. h. intensivere Erregungen in anderen Hirntheilen beschäftigen mich, oder, etwas kurz ausgedrückt, kann man sagen, psychische Parallelvorgänge finden momentan nur in anderen Hirntheilen statt. Daher sehe ich den Freund nicht und gehe achtlos vor- über. Nun nach einigen Schritten erwache ich aus meinem Grübeln, und jetzt erst, wo die anderen Vorstellungen abnehmen und zurücktreten , gesellt sich der noch fortbestehenden , nach-

1; Im Hinblick auf spätere Ergebnisse kann diese Psychologie auch als „transcendentale" bezeichnet werden.

1*

wirkenden materiellen Erregung des Occipitallappens ein psychi- scher Parallelvorgang hinzu, jetzt erst fällt mir ein, dass ich den Freund gesehen. Sie bemerken, dass es durchaus unnöthig ist, eine unbewusste Empfindung schon vor der bewussten anzu- nehmen. Ebenso einfach , ja, weil sie nicht einen ganz unver- ständlichen, uns neuen Begriff einführt, entschieden berechtigter ist die Annahme, dass vorher nur eine materielle Erregung be- stand , die erst nachträglich zu psychischen Vorgängen geführt hat, d. h. ins Bewusstsein getreten ist. Ich wiederhole es: psychisch und bewusst sind für uns zunächst iden- tisch1). Das letztere ist, wenn Sie wollen, das Schibolet für das erstere. Unbewusste psychische Vorgänge sind für uns ein zunächst ganz leerer Begriff, dem wir später als Hypothese noch begegnen werden , aber von vornherein ein grosses Misstrauen entgegenbringen.

Lassen Sie uns nun das Psychische aufsuchen, wo wir es an Vorgänge des Nervensystems geknüpft finden, ohne von einer bestimmten Eintheilung in drei Seelenvermögen oder irgend einer anderen Hypothese auszugehen. Die ersten Anfänge eines nervösen Vorgangs haben wir offenbar da zu suchen, wo wir anatomisch zuerst beim Aufsteigen in der Thierreihe einem nervösen Apparat begegnen. Die Anatomie ist hier noch lange nicht mit ihren Untersuchungen zum Abschluss gekommen. Die ersten unzweifel- haften Anfänge eines Nervensystems finden wir bei den Medusen. Hier fand Romanes am freien Rande der schwimmenden Glocke zahlreiche Nervenendigungen und Leitungsfasern , welche die Glocke durchziehen. Reizung an irgend einem Punkt der Glocke bewirkt eine Zusammenziehung des contractilen Schlauchs der- selben und so eine Fortbewegung. Die Contraction scheint local zu beginnen und sich zu verallgemeinern. Auch könnte man mit einem gewissen Rechte schon in den Bewegungsvorgängen der einfachsten Amoeben die Anlage eines nervösen Vorgangs er- kennen. Stellen Sie sich eine Monade vor. Bringen Sie ein Körnchen in Berührung mit derselben, so strecken sich Proto- plasmamassen, die sog. Pseudopodien, aus und umfassen dasselbe und ziehen sich schliesslich mit demselben wieder zur Hauptmasse zurück. Hierin liegt schon das, was wir als wesentlich für nervöse Vorgänge erkennen werden : ein Reiz, später werden wir sagen

1) Ueber die Frage , ob es unbewusste psychische Zustände gebe, haben sich zahllose Controversen entsponnen. Eine gute Uebersicht der- selben finden Sie in der Arbeit von G. Cesca, „Ueber die Existenz von unbewussten psychischen Zuständen." Vierteljahrschr. f. wiss. Philosophie, 1885, Bd. IX. Der Schluss, zu dem C. gelangt, ist allerdings durchaus falsch. Eingehend behandeln unsere Frage namentlich Hamilton, Lectures on metaphysic and logic, 1882 ; J. Mill, Analysis of the phenomena of the human mind, 1878; Lewes, Problems of life and mind, 1879, und Maudslet, Physiology of mind. In dem angeführten Falle von dem vorübergehenden Freund ist der Vorgang übrigens häufig auch der, dass die Erregung der Sehsphäre durch das Bild des Freundes doch von einer Empfindung begleitet ist, die nur in Folge des Ueberwiegens anderer Vorstellungen wenig intensiv ist und daher zunächst keine weiteren Ge- danken, vor allem kein Erkennen des Freundes anregt.

ein sensibler Reiz, und eine Reaction, ein motorischer Effect, der nach einfachen physikalischen Gesetzen zunächst gar nicht ver- ständlich ist. Also überall , wo contractile Substanz, da finden sich bereits die Vorbedingungen des Nervenlebens. Bei den Protisten ist noch ein und dieselbe Zelle als Ganzes Sitz der Auf- nahme des Reizes und der motorischen Re- action. In sehr interessanter Weise ändert Fig. i. sich dieslbei den Coelenteraten. Bei Hydra und angedeutet auch schon bei manchen Flagel- laten (Poteriodendron) finden wir sog. Neuro- muskelzellen oder Epithelmuskelzellen. Der Reiz wird von der Zelle hier nur an der Stelle »* s aufgenommen, die motorische Reaction nur von m und m ausgeführt. Hier also hat be- reits eine Sonderung des sensiblen und mo- torischen Theils stattgefunden. Bei den Me- dusen finden wir bereits einen weiteren Fort- schritt, dessen allmähliches Zustandekommen wir uns folgendermaassen denken müssen. Denken Sie sich, dass von einem beliebigen

Reiz ein aus vielen Zellen zusammengesetzter Thierkörper getroffen wird , so wird derselbe als Erregung im Innern des Thieres die Bahn des geringsten Widerstandes einschlagen und zwar stets diese. So wird es kommen, dass allmählich nur gewisse Bahnen von den Erregungen eingeschlagen werden, die sog. Leitungs- linien. Nach einem biologischen Grundgesetz zieht nun die Aus- führung bestimmter Verrichtungen auch bestimmte Structurver- änderungen nach sich, d. h. also diese Leitungslinien werden sich auch anatomisch von ihrer Umgebung differenzieren. So entstehen die Nerven als eigene anatomische Gewebe. Bei den Medusen finden wir bereits diesen Grad der Entwicklung. Ja, hier ist bereits zwischen die den Reiz aufnehmende oder sensible Leitung und die die Contraction auslösende motorische Leitung ein Schalt- organ, nämlich eine sog. Ganglienzelle eingeschaltet. Was wir in dem ausgebildeten Nervensystem der Medusen finden, ist also nur eine Fortbildung von Anlagen, welche bereits bei den nieder- sten Protisten vorgebildet sind, aber bei diesen anatomisch noch nicht differenziert zu sein scheinen. Wenn bei der Meduse ein Reiz, welcher auf die Nervenendigung 5 wirkt, zu einer Ganglien- zelle gelangt und von dieser auf einer neuen Nervenbahn auf contractile Massen übertragen wird und so eine Bewegung aus- löst, so bezeichnet man dies als Reflex. Der Reflex ist der ein- fachste nervöse Process, welchen wir kennen. Nach dem eben Erwähnten steht nichts im Wege, auch die zahlreichen neuerdings wieder von Verworn geschilderten Bewegungen der Protisten auf mechanische Lichtreize etc., wie z. B. das Einziehen des von einem Stiche getroffenen Pseudopodiums l) bei Actinosphaerium oder das Zurückschnellen der Flagellaten durch Wimperschläge

1) Schon hier bei den einfachsten Reflexen tritt die Zweckmässig- keit deutlich hervor, indem fast alle Reflexbewegungen der Protisten auf mechanische Reizung eine Entfernung des Organismus vom Reiz herbei- führen (negativer Thigmotropismus).

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Fig. 2.

u. a. m., schon als Reflexe zu bezeichnen, obwohl Nervenbahnen für diese Thiere in keiner Weise anatomisch nachweisbar sind.

Lassen Sie uns von den Medusen sofort zu den höchsten Thierklassen überspringen und bei den letzteren solche Reflexe suchen. Es zeigt sich, dass das, was wir bei den Medusen kennen gelernt , uns selbst bei den höchsten Thieren kaum verändert wiederbegegnet. Man versteht unter einem Reflex bei höheren Thieren eine Bewegung, welche durch einen auf eine sensible Fläche wirkenden Reiz ausgelöst wird. Denken Sie an den ge- wöhnlichen Plantar- oder Sohlenreflex. Ein Stich in die Fuss- sohle wird mit einer Zurückziehung des Fusses und einer Flexion, gewissermaassen einem Einziehen der Zehen beantwortet. Das anatomische Substrat des Vorgangs ist hier im Wesentlichen durchaus bekannt. In der Sohle endigen sensible Nerven, diese werden gereizt und leiten diesen Reiz , oder , wie wir den Reiz

nennen, sobald er vom Nerven aufgenom- men worden ist, diese Erregung in das Rückenmark zu einer sensiblen Gan- glienzelle £. Diese sendet die empfangene Erregung auf der intracentralen Bahn SM zur motorischen Ganglienzelle M, welche ihrerseits den erhaltenen Impuls wieder peripherwärts, also centrifugal sendet und die Muskelbewegung auslöst1)- Solcher Reflexe giebt es eine grosse Zahl. Man bezeichnet sie auch als niedere oder ein- fache Reflexe. Entspricht nun diesem nervösen Vorgang, welchen wir soeben als einfachen Reflex kennen lernten, ein psychischer Parallelvorgang? Unser Be- wusstsein, welches zunächst, wie oben er- örtert, allein die Frage zu entscheiden hat , antwortet unzweifelhaft mit Nein. Erst nachträglich bemerken wir, wenn der Stich uns unversehens getroffen hat, dass unser Fuss auf denselben mit einer Bewegung geantwortet hat ; eine neue Empfindung muss uns erst davon unterrichten, dass eine Bewegung stattgefunden hat. Von anderen Reflexen, z. B. von der reflectorischen Verengerung der Pupille auf Belichtung, erhalten wir auch nachträglich durch Empfindung keine Kentniss. Ein weiteres Argument für den nicht psychischen Charakter des Reflexes liefert auch die objective Betrachtung : In- dividuen, deren psychisches Leben total erloschen ist, welche also bewusstlos sind , können noch völlig erhaltene oder sogar ge- steigerte Plantarreflexe haben. Ein ähnlicher Gedankengang lässt sich für alle niederen Reflexe, soweit sie dem obigen Schema subsumiert werden können, durchführen. Er gilt aber auch dann

1) Bei vielen Reflexen ist übrigens eine sensible Zelle S in den Reflexbogen garnicht eingeschaltet. Die sensible Faser theilt sich, sobald sie in das Rückenmark gelangt ist. Einer ihrer Aeste gelangt direct zu der motorischen Ganglienzelle und umspinnt dieselbe mit seinen letzten Verzweigungen, dem sog. Endbaum, und überträgt so die Erregung auf M und die motorische Bahn.

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noch, wenn mehrere sensible Fasern auf mehrere sensible Zellen und diese wieder auf mehrere motorische Zellen wirken. That- sächlich ist dies ja schon bei dem Plantarreflex der Fall : es wird bei der Berühruno- der Sohle nicht eine, sondern es werden viele sensible Nervenendigungen gereizt, daher auch viele sen- sible und motorische Ganglienzellen erregt , und ebenso nicht eine Muskelfaser durch ihre Nervenfaser zur Contraction ge- bracht, sondern die grosse Mehrzahl der Fasern eines Muskels, ja häufig mehrere Muskeln. Aber gemeinsam ist allen diesen niederen Reflexen das Folgende : der sensible Reiz wechselt, Sie können die Sohle streichen , stechen , kitzeln, mit der Flamme sengen, bald an dieser, bald an jener Stelle, der motorische Effect, die Antwort des Reflexes bleibt in starrer Monotonie dieselbe. Die Stärke des Zurückziehens des Fusses und der Zehenbeugung kann wohl wechseln, aber es sind stets dieselben Muskelgruppen, welche innerviert werden, und dieselben Bewegungen, welche sie vollführen. Die Sonderheiten des Reizes haben keinen Einfluss auf die motorische Reaction. Hierbei will ich Sie noch auf ein anderes Merkmal dieser niederen Reflexe aufmerksam machen : trotz ihrer Constanz sind sie im Allgemeinen zweckmässig. Wir müssen uns vor Allem hier vor der naheliegenden Meinung hüten, dass das Zweckmässige eines Nervenvorganges seine psychische Natur beweise. Die Farbe des Vogelgefieders, der Bau der Hand, zahllose Erscheinungen der Pflanzenwelt, in welcher wir dem Zweckmässigen, dem Organischen zuerst begegnen, sind zweck- mässig, und in nicht anderem Sinne ist auch der niedere Reflex zweckmässig. Deshalb ist er ganz ebensowenig psychisch *) als die Farbe einer Feder. Ja, die Zweckmässigkeit dieser Reflexe ist auf ganz ähnlichem Wege entstanden, wie die Zweckmässigkeit der Färbung des Vogelbalges, nämlich durch Vererbung und natürliche Zuchtwahl. Thiere, deren nervöser Mechanismus so gebaut war, dass sie auf einen Stich nicht mit Zurückziehung des gestochenen Theils, sondern etwa gar mit weiterem Vorstrecken antworteten, waren Schädlichkeiten in viel höherem Maasse aus- gesetzt als jene, welche vermöge einer zunächst zufälligen Nerven- anlage mit einem Zurückziehen antworteten. Die ersteren ent- wickelten sich daher weniger kräftig, lebten weniger lange, pflanzten sich weniger fort und vererbten daher ihren unzweck- mässigen Mechanismus auf eine immer kleiner werdende Anzahl von Nachkommen. Fortgesetzte Einwirkung dieser natürlichen Zuchtwahl Hess schliesslich alle Thiere mit unzweckmässigem Reflexmechanismus aussterben, und nur Thiere mit dem zweck- mässigen Mechanismus, wie er jetzt besteht, blieben übrig.

Die Zweckmässigkeit der Reflexe beweist also ganz und gar nicht, dass psychische Parallelvorgänge für sie existieren. Pflüger hat demnach mit Unrecht auf Grund dieser Zweckmässigkeit der Rückenmarksreflexe eine besondere Rückenmarksseele aufgestellt. Der bekannte PFLüGER'sche Versuch , wonach ein enthaupteter Frosch, dessen linkes Bein amputiert ist, eine mit Säure betupfte Stelle der linken Körperhälfte mit dem rechten Bein abwischt,

1) Am extremsten, aber mit ganz unzureichenden Gründen, hat Lewes die Allgegenwart des Bewusstseins auch für Reflexcentren vertreten.

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beweist hierfür nichts, weil erstens dieser Wischreflex auch sonst physiologisch zuweilen gekreuzt stattfindet l), und zweitens selbst höchste Zweckmässigkeit auch ohne psychische Vorgänge denk- bar ist.

Aus dieser Entwicklung wird uns alsbald noch ein anderer Punkt verständlich. Diese niederen Reflexe sind generell zweckmässig, d. h. sie bewähren sich in der grossen Mehrzahl der Fälle, aber es giebt auch Fälle, in welchen sie geradezu un- zweckmässig und schädlich sein können. Die eigentümliche Constanz, wie sie ihnen durch jahrhundertelange Vererbung zu- kommt, steht hier im Wege. Der Sohlenreflex findet auch statt, wenn über dem Fussrücken eine zweite schärfere Nadel angebracht ist, also durch Zurückziehung des Fusses die Haut einer viel schwereren Verletzung ausgesetzt wird. Diese niederen Reflexe sind blind, weil sie absolut constant sind, und daher nur generell zweckmässig.

Ganz gleichgültig ist es für unsre Auffassung, ob diese Re- flexe, für welche psychische Parallelvorgänge nicht nachzuweisen sind, aus ursprünglich psychischen Acten, d. h. also aus Nerven- vorgängen mit psychischem Correlat, also z. B. aus willkürlichen Acten hervorgegangen sind. Wir werden später sehen, welche Wahrscheinlichkeit dieser Annahme zukommt. Vorerst haben wir es nur mit dem niederen Reflex, wie er uns jetzt gegeben ist, zu thun : von einem psychischen Correlat dieses Reflexvor- ganges wissen wir nichts.

Die grosse Reihe der complicierten Reflexvorgänge, wie wir sie heute kennen, unterscheidet sich von diesen einfachsten Re- flexen einmal im motorischen Theil. Der sensible Reiz bleibt wenigstens qualitativ derselbe, aber die motorische Antwort wird complicierter , insofern mit wachsender Reizgrösse eine grössere Anzahl von Muskeln in Bewegung gesetzt wird. Schliesslich wird bei nöthiger Intensität des Nadelstiches nicht nur das eine Bein, sondern auch noch der gleichseitige Arm, dann auch das andere Bein, der andere Arm und die Gesichtsmusculatur in Be- wegung versetzt , aber die Bewegung behält im Uebrigen ihren monotonen Charakter. Auch die Retraction der Saugfüsschen der Seesterne giebt ein gutes Beispiel von der allmählichen Ver- breitung der Reflexbewegung bei Verstärkung des Reizes; des- gleichen die Bewegungen der Crinoiden, welche schliesslich wirk- lich fliehen. Interessant2) ist auch der folgende von Goltz an- gegebene Versuch. Hat man einem Frosch das Grosshirn weg- genommen und berührt nun die Hornhaut des grosshirnlosen Frosches mit einer Staarnadel, so ist die erste Reflexbewegung, dass er sein Augenlid schliesst. Wiederholt oder verstärkt man

1) Auch die Versuche von Auerbach (Zeitschr. f. klin. Med., IV, 4) und Sandebs-Ezn (Arbeiten aus d. physich Anst. z. Leipzig, 1867) be- weisen nur Reflexthätigkeit des Rückenmarks . kaum automatische. Uebrigens lösen zuweilen auch fortgesetze Nadelstiche in die Fusssohle des gelähmten Beines von Rückenmarkskranken schliesslich Abwehr- bewegungen im gesunden Bein aus.

2) Goltz, Beiträge zur Lehre von den Functionen der Nervencentren des Frosches,' Berlin, 1869, S. 59.

die Reizung, so schlägt das Thier die Nadel mit dem Vorderfuss der gleichen Seite fort. Bei weiterer Steigerung des Reizes wird Kopf und Rumpf nach der entgegengesetzten Seite gewandt. Schliesslich bei öfterem und immer intensiverem Reize bewegt sich das Thier vom Platze. Genauer hat Vulpian diese compli- cierteren Reflexe studiert.

Aber auch die Bedingungen der Reflexbewegung, die sensiblen Reize können nicht nur stärker, sondern auch zahlreicher und complicierter werden. Auerbach hat beobachtet, dass ein ent- haupteter Frosch , wenn man seine Brusthaut an irgend einer Stelle ätzt, je nach Lagerung seiner Glieder und Lage der ge- ätzten Stelle bald diese, bald jene Bewegung vollführt. Also auch sog. Coordination kommt den Reflexen bereits in höchstem Maasse zu. Trotzdem haben wir keinerlei Grund, für diese höheren oder complicierteren Reflexe psychische Parallelvorgänge anzu- nehmen.

Lassen Sie uns nun die Reflexe verlassen und eine Stufe weiter gehen. Ein Frosch, welchem Sie das Grosshirn einschliess- lich des Sehhügels exstirpiert haben, hüpft zwar fort, wenn Sie ihn kneifen , aber er stösst überall wider. Beobachten Sie jetzt einen Frosch, dem das Grosshirn ausschliesslich des sog. Sehhügels weggenommen ist, genauer: alle Reflexe sind bei ihm erhalten. Durch einen Stich in die Pfote können Sie ihn ohne Mühe noch zum Forthüpfen bringen ; stellen Sie ihm in seinem Forthüpfen ein Hinderniss in den Weg, so werden Sie sehen, dass er demselben ausweicht1) oder in seltenen Fällen sogar mit einem »gut abgeschätzten« Sprunge über dasselbe hinwegspringt. Das Forthüpfen selbst Hesse sich vielleicht zur Noth noch als ein complicierter Reflex auffassen ; aber die Thatsache , dass er im Forthüpfen einem Hinderniss ausweicht, zeigt sofort, dass es sich doch um einen ganz anderen Vorgang handelt : wir wollen den- selben zergliedern. Ein sensibler Reiz (der Stich) löst eine com- plicierte, aber noch reflectorisch verständliche motorische Reaction (das Forthüpfen) aus; während die letztere abläuft, also inter- current tritt ein andrer Reiz auf, nämlich das die Sehnerven- endigungen reizende Hinderniss, welches wir in den Weg stellen. Ein solcher intercurrenter Reiz beeinfiusst Reflexe garnicht oder höchstens quantitativ. Stechen Sie Jemanden in die Fusssohle und applicieren Sie zugleich irgend welchen anderen Reiz, lassen Sie selbst das stärkste Licht leuchten, den lautesten Lärm zugleich ertönen, so wird die motorische Reaction höchstens etwas schwächer oder stärker ausfallen , aber dieselben Muskeln bleiben ergriffen. Qualitativ ist der Sohlenreflex durchaus constant. Anders jener complicierte Vorgang des Forthüpfens bei dem Frosche ohne Grosshirn: der intercurrierende Gesichtsreiz modificiert das Fort- hüpfen: das Thier weicht aus. Hier handelt es sich also um motorische Reactionen ganz anderer Art. Wir wollen solche mo- torische Reactionen, welche nicht wie die Reflexe unveränderlich auf einen bestimmten Reiz erfolgen, sondern in ihrem Ablauf durch

1) Goltz, Beiträge zur Lehre von den Functionen der Nervencentren des Frosches, Berlin, 1869, S. 65.

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neue, intercurrierende Reize modificiert werden, automatische1) Acte oder Reactionen in engerem Sinne nennen. Solche auto- matische Acte rinden wir zahllose. Denken Sie an einen Klavier- spieler, der ein oft geübtes Stück vorträgt und dessen Gedanken ganz anderswo weilen. Trotz seiner Gedankenabwesenheit gleiten die Finger in richtiger Folge über die richtigen Tasten. Auch hier liegt ein automatischer Act vor. Die optischen Erregungen, welche die Noten, die tactilen Erregungen, welche das Berühren der Tasten auslöst, wirken fortwährend auf den Ablauf der Finger- bewegungen. Oder Sie gehen in Gedanken verloren eine Treppe hinunter. Hierbei ist gewissermaassen wie in dem Froschexperi- ment auch Ihr Grosshirn ausgeschaltet. Trotzdem setzen Sie Fuss für Fuss richtig. Auch hier die Modification einer ablaufen- den Bewegung durch fortwährend intercurrierende Reize. Diese Beispiele zeigen uns zugleich auch, dass auch diese automatischen Vorgänge unbewusste, nicht-psychische sind : unser Bewusstsein weilt ja bei ganz anderen Dingen. Es fehlt uns jeder Anhaltspunkt für die Annahme eines psychischen Parallel Vorgangs2). Die Selbst- beobachtung, welche schliesslich allein die Existenz eines psy- chischen Vorgangs beweisen kann , spricht für das Gegentheil. Also theilen die automatischen Acte mit den Reflexen, dass sie eines psychischen oder bewussten Parallelvorgangs entbehren. Goltz hat die automatischen Bewegungen auch als Antworts- bewegungen bezeichnet und hebt als wesentlich das Anpassungs- vermögen für einen bestimmten Zweck und die Fähigkeit, ent- gegenstehende Hindernisse zu überwinden, hervor, worunter er im Wesentlichen gleichfalls die oben betonte Regulierbarkeit und Modificierbarkeit der Reactionsbewegung durch intercurrente Reize versteht.

Es ist schwer, anzugeben, wo uns in der Thierreihe zuerst automatische Bewegungen begegnen. Jedenfalls finden sich die- selben bei den Echinodermen schon in hohem Maasse ausgebildet. Tiedemann , Romanes u. A. 3) haben beschrieben, dass Seesterne bei ihrem Fortkriechen ihre mit Augen bewaffneten Tentakeln nach vorn und oben strecken und so Hindernissen auszuweichen vermögen. Namentlich die Ophiuren wissen Hindernisse, wie z. B. rings sie umgebende Stecknadeln , rasch zu überwinden. Man kann diese Fähigkeit zu automatischen Bewegungen leicht ausschalten, indem man einen einzelnen Radius von der Central-

1) Leider wird das Wort „automatisch" in den allerverschied ensten Bedeutungen gebraucht, namentlich pflegt man auch oft auf innere Reize erfolgende rhythmische Reflexbewegungen, wie die Pulsation des Herzens, automatische Bewegungen zu nennen. Von dieser zweiten Bedeutung wird hier ganz abgesehen.

2) Mit unzureichenden Gründen hat gegen Lotze Goltz, dem wir die erste Kenntniss dieser motorischen Reactionen verdanken , einen solchen, freilich ohne Bewusstsein, angenommen.

3) Pkeyer, Ueber die Bewegungen der Seesterne. Mittheilungen aus d. Zoolog. St. z. Neapel, VII, 1 u. 2. Tiedemann , Deutsches Archiv f. d. Physiologie, 1815. Vulpian, Compt. rend. Soc. Biolog., 61 62. Romanes u. Ewabt, Observations of the locomotor system of Echinoder- mata, Philosoph. Transact., 1881.

II

Scheibe des Seesterns völlig loslöst: der vom centralen Nerven- ringe getrennte Radius bewegt sich alsdann noch von der Stelle, aber völlig ziellos : er weicht Hindernissen nicht mehr aus. Die Selbstwendung der Seesterne ist noch als ein sehr complicierter Reflex anzusehen, ebenso wie die Rückkehr des auf den Rücken gelegten Frosches in die Bauchlage. Der völlig abgetrennte Radius eines Seesternes bringt eine solche Wendung, allerdings äusserst langsam und nicht regelmässig, noch zu Stande, und ein enthirnter Frosch, der ausser dem Rückenmark nur die Oblongata besitzt, kehrt noch in die Bauchlage zurück. Preyer sah Ophiuren, denen er einen Arm mit einem sehr hinderlichen Kautschuk- schlauch überzogen hatte, den Schlauch mittelst der beiden Nach- bararme ruckweise abschieben. Im Gegensatz zu Preyer muss ich auch dies noch als automatischen Act bezeichnen. Bei den Protisten finden wir keine sicheren automatischen Bewegungen in unsrem Sinne. Hindernissen weichen dieselben nicht aus ; nur eine Beobachtung Engelmann's 1 ) von einer Vorticellenknospe, welche einer grossen Vorticelle begegnete, plötzlich ihre Richtung änderte und ihr nachschwamm, würde, falls sie richtig ist, auf die Existenz von Reactionen deuten.

Jedenfalls haben sich die ersten automatischen Bewegungen in der Thierreihe durch Selection aus Reflexen entwickelt. Wenn wir den Vorgang dieser Selection uns in groben Zügen viel ein- facher, als er thatsächlich stattgefunden hat , veranschaulichen wollen , so können wir sagen : ursprünglich existierten ebenso viel Amphibien, deren Lauf durch ein plötzlich in den Weg ge- legtes Hinderniss nicht modificiert wurde, als solche, bei welchen eine Modification eintrat, in dem Sinne, dass sie dem Hindernisse auswichen. Im Kampf ums Dasein hatten die letzteren Thiere entschieden einen Vortheil , indem bei diesen infracorticale Me- chanismen der Grosshirnrinde eine Arbeit abnahmen, indem also schon tiefere Centren zweckmässig fungierten. Diese zweckmässige Eigenschaft wurde vererbt und durch Vererbung gezüchtet, während die anders angelegten Thiere allmählich ausstarben. Sie werden es daher auch begreifen, wenn automatische Handlungen und Reflexe nicht immer absolut scharf unterschieden sind; es finden sich zahlreiche fliessende Uebergänge zwischen Reflexen und Reactionen.

Aber nicht nur aus Reflexen in aufsteigender Entwicklung entstehen automatische Acte. Auch aus den sog. bewussten oder willkürlichen Handlungen entstehen gewissermaassen in rück- schreitender Entwicklung automatische Acte. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal das oben erwähnte Beispiel des Klavier- spielers, der ein gut eingeübtes Stück spielt und mit seinen Ge- danken, seinem Bewusstsein bei ganz anderen Dingen weilt. Wir bezeichnen dies Spielen als automatisch. Ursprünglich war es dies nicht. Stundenlang musste früher der Spieler mit ganzer Seele und voller Aufmerksamkeit das Stück spielen, es mussten also viele sog. bewusste willkürliche Handlungen vorausgehen, bis er das Stück automatisch vortragen konnte. Also automa- tische Handlungen können auch durch Uebung, durch öftere

1; Pi-'lügek's Archiv, Bd. %

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Wiederholung aus sog. willkürlichen Handlungen hervorgehen. Anfangs m i t psychischem Correlat , unter fortwährendem Mit- wirken von Erinnerungsbildern sich abspielend, verlieren diese Acte dasselbe allmählich, sie werden automatisch, nur der erste Impuls bleibt hier noch ein bewusster. Auch hier fehlt es daher nicht an Uebergängen. Vollständig werden Sie diese Umwand- lung erst verstehen können, wenn wir zusammen das Wesen der sog. bewussten oder willkürlichen Handlungen ergründet haben. Sie sehen, nach ihrer Entwicklung zerfallen die automatischen Acte in zwei Gruppen, erstens in solche, die aus Reflexen im Laufe langer Zeiten und vieler Generationen, also phylogenetisch ent- standen sind, und zweitens solche, die im Laufe des Lebens des einzelnen Individuums, also ontogenetisch aus sog. Willkürhand- lungen hervorgegangen sind. Sehr fraglich ist es, ob je auch Automatismen der zweiten Gruppe direct vererbt werden. Da- durch , dass wir viele Generationen hindurch durch Auswendig- lernen das anfänglich willkürliche Hersagen von Gedichten zu einem automatischen machen, mögen alle anatomischen Substrate der Sprache vielleicht allmählich vervollkommnet werden, aber kein einzelner Act wird je selbst vererbt. Dazu sind diese Auto- matismen der zweiten Gruppe und dies ist ein weiterer Unter- schied — alle viel zu speciell und compliciert 1). Das von Darwin beschriebene Verhalten des jungen Vorstehhundes, der auf der ersten Jagd bei Witterung des Wildes steht, stellt einen der com- pliciertesten vererbten Automatismen dar.

Als sehr complicierte , aber gleichfalls ausserhalb des Vor- stellungslebens sich vollziehende Reflexe sind auch die sog. In- stinkte anzusehen. Der Vogel baut zu einer bestimmten Zeit seines Lebens, indem die sich entwickelnden Genitalorgane die äusseren Reize abgeben, ein Nest. Dieser Act, so compliciert er ist, ist noch als refiectorischer anzusehen. Nicht vererbte Vor- stellungen leiten den Vogel beim Nestbau, sondern ohne Da- zwischenkunft irgend einer Vorstellung rein reflectorisch löst der aus den Genitalorganen stammende Reiz das Spiel eines durch Vererbung erworbenen Reflexmechanismus aus. Der Vogel merkt gewissermaassen erst nachträglich, was er thut, wenn er sein Nest baut. Unzweifelhaft also vollziehen sich diese Instinkthandlungen ausserhalb der Psyche, sie sind keine Willenshandlungen, wie wir sie noch kennen lernen werden. Aber freilich treten manche dieser Instinkthandlungen weit aus dem Charakter der Reflexe heraus und nähern sich den automatischen Acten. Wenn ein Frosch, dem die Pfote gequetscht wird, forthüpft, so ist dies Fort- hüpfen noch event. als blosser Reflex verständlich, man kann sagen: auch ohne dass der forthüpfende Frosch immer neue Tastempfindungen bei jeder Berührung des Bodens und immer neue Lageempfindungen bei jeder Bewegung seiner Beine em- pfängt, wird die Bewegung des Forthüpfens rein reflectorisch sich so abspielen, wie sie thatsächlich sich abspielt. Erst der fort-

1) Meynert überschätzt die Automatismen der 1. Klasse, indem er alle willkürlichen Bewegungen aus ihnen herleitet (Psychiatrie , Wien 1889) ; Münsterberg unterschätzt sie , indem er die Automatismen fast ausschliesslich aus Willenshandlungen hervorgehen lässt.

hüpfende und einem Hinderniss ausweichende Frosch vollzieht eine automatische Handlung. Der Nestbau 4'des Vogels ist nun jedenfalls von intercurrenten Empfindungen nicht unab- hängig. Der erste Bewegungsreiz entspringt aus den Genital- organen , aber wie viel intercurrente Reize bestimmen und modi- licieren nun die ablaufende Bewegung. Der Vogel sieht einen Strohhalm und erhascht ihn und trägt ihn zum Baum. Er erblickt ein Flöckchen Wolle, und dieser intercurrente Gesichtsreiz lässt ihn dies Flöckchen fassen, modificiert und compliciert also die Reihe der Bewegungsvorgänge. Viele Instinkte sind daher als automatische Acte, nicht als Reflexe aufzufassen. Einen Instinkt hingegen, der Willenshandlung wäre, giebt es nicht.

Während der Reflex im Wesentlichen constant ist, zeigt der automatische Act grosse Verschiedenheiten. Je nach dem inter- current einwirkenden Reiz, je nach der Lage des in den Weg gestellten Hindernisses ist die Ausweichebewegung verschieden. Durch diese ihre unendlich viel grössere Variabilität nähern sich die automatischen Acte oder Reactionen den bewussten oder will- kürlichen Handlungen. Durchaus hingegen ähneln die automa- tischen Acte den Reflexen darin, dass sie der psychischen Parallel- vorgänge entbehren. Wir haben oben schon auseinandergesetzt, dass keinerlei Grund zur Annahme psychischer Parallelvorgänge vorliegt, und das Beispiel des Klavierspielers zeigt Ihnen am besten , dass hier psychische , d. h. bewusste Parallelvorgänge fehlen. Reflexe und Automatismen gehören also eigentlich nicht in das Gebiet der physiologischen Psychologie. Dieses betreten wir erst, wenn wir in der nächsten Vorlesung die Willenshand- lungen betrachten. Reflexe und Reactionen sind nur physiologische Vorstufen der Willenshandlung, nicht psychologische.

ZWEITE VORLESUNG. Empfindung. Association. Handlung.

Wir haben als charakteristische Eigenschaft des Reflexes seine Constanz wenigstens in qualitativer Hinsicht kennen gelernt. Als Kriterium der automatischen Acte ergab sich die Modificier- barkeit durch intercurrente äussere Reize. Ich erinnere Sie an den grosshirnlosen Frosch, der Hindernissen ausweicht. Sowohl der Reflex, wie der automatische Act entbehrten des psychischen Correlats, oder, was dasselbe ist, beide vollzogen sich unbewusst. Wenigstens fehlt uns jeder Anhalt für die Annahme psychischer Parallelvorgänge. Lassen Sie uns nun eine einfache Handlung, wie sie auf einen äusseren Reiz erfolgt, zergliedern. Sie sehen einen Freund und grüssen ihn. Der äussere Reiz ist hier die Ge- stalt des Freundes , welche eine Gesichtsempfindung auslöst ; die resultierende Bewegung oder, wie man auch sagt, die Reaction ist die Grussbewegung der Hand. Was hat mitgewirkt bei der Ent- stehung gerade dieser Bewegung, für welche offenbar ein hin- reichender Grund in dem äusseren Reiz zunächst nicht zu finden ist ? Wäre die Person eine andere oder dieselbe Person nicht mein Freund, so wäre die Grussbewegung unterblieben. Offenbar ist die Erinnerung in mir aufgetaucht, dass ich gerade diese Person schon gesehen habe. Ein in irgend einer Weise in meinem Gehirn deponiertes Erinnerungsbild, das Bild des Freundes, wie ich es in der Erinnerung in mir herumtrage, das Residuum einer früheren sensiblen Erregung, hat den Bewegungsvorgang beeinflusst oder modificiert Wäre es mein Feind gewesen , so hätte ich mich vielleicht abgewandt oder weggesehen. Aber es ist mein Freund, wie meine Erinnerung mir sagt, er wird als solcher erkannt, es erfolgt die Grussbewegung. Der Ablauf der Reaction wird also hier beeinflusst durch intercurrente und , wie ich gleich hinzu- setzen kann, durch die Empfindung selbst aus der Latenz wach- gerufene Erinnerungsbilder oder materiell gesprochen durch die Residuen früherer sensibler Erregungen. Wir wollen das Erinnerungsbild mit V bezeichnen und diese Modifi- cierung der Reaction zunächst einfach durch eine Reihe Ver- bindungslinien von V zur Strecke SM andeuten. Der Gegensatz zum automatischen Act springt in die Augen. Für diesen ist die

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Modification der Bewegung durch intercurrente äussere Reize, für die Handlung die Modification der Bewegung durch intercurrie- rende Erinnerungsbilder charakteristisch. Die automatischen Acte sind unbewusst, die Handlung ist bewusst. Wir bezeichnen letztere daher als bewusste, zuweilen auch als willkürliche Handlung, nur Fl&- 3-

müssen wir immer im Auge behalten, y

dass dies nur S}monyma sind für die, r, CD

durch intercurrente Erinnerungsvor- J\\

Stellungen, modificierten Bewegun- O Q M

gen oder Bewegungen mit psychi- schem Correlat.

Rein materiell betrachtet, lassen sich manche automatischen Acte von den Handlungen garnicht unter- scheiden. Bei dem Klavierspieler, den wir oben erwähnten, wird der Ablauf der Fingerbewegungen offen- bar auch durch Residuen früherer sensibler Erregungen bestimmt. **■ Hätte er nie optische Erregungen von den Noten und tactile von den Tasten empfangen, oder wären die Erregungen spurlos ver- schwunden, so könnte die Bewegung nicht so ablaufen, wie sie thatsächlich abläuft. Das materielle Merkmal der Handlung die Beeinflussung der Bewegung durch die Residuen früherer Er- regungen, kommt also auch manchen automatischen Acten zu und zwar denjenigen, welche aus bewussten Handlungen durch Uebung im Leben des Individuums hervorgehen. Man rechnet daher solche automatische Acte, obwohl sie den psychischen Parallelprocess eingebüsst haben, zuweilen noch zu den Hand- lungen. Wir wollen im Folgenden stets von dem psychologischen Merkmal ausgehen und nur die von Bewusstseinsvorgängen be- gleiteten Bewegungen Handlungen nennen.

Obiges Schema ist zugleich das Schema jedes psychischen Geschehens, es gibt keinen psychophysiologischen, d. "h. keinen psychischen Vorgang, für den sich ein physiologisches Correlat denken lässt, der nicht darin enthalten wäre. Indem wir seine einzelnen Glieder betrachten, gewinnen wir zugleich die beste Eintheilung und Uebersicht über unsere Wissenschaft. Der äussere Reiz i?, mit dem wir beginnen wollen, ist durchaus phy- siologisch. Indem er auf die Endigungen der sensiblen und sen- sorischen Nerven trifft, wird aus dem äusseren Reiz eine Nerven- erregung, wiederum ein physiologischer, also in letzter Linie ein physikalischer oder genauer ein chemischer Vorgang, welcher sich nun centripetal der Nervenbahn entlang fortpflanzt und schliesslich in der Hirnrinde in 5 eine Erregung auslöst. Dieser Erregung entspricht das erste psychische Element, die Empfin- dung. Daher behandelt auch der erste Theil der physiologischen Psychologie die Lehre von den Empfindungen. Wir haben als Ausgangspunkt der Handlung im obigen Fall eine Empfindung angenommen. Meist wirken indess viele Empfindungen zugleich Die Handlung tritt -als Resultante mehrerer oder vieler Empfind

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düngen auf. Auch ist es nicht nothwendig, dass diese Empfin- dungen zugleich einwirken, vielmehr können dieselben z. Th. auch intercurrent auftreten, während die Einwirkung der Erinne- rungsbilder bereits stattfindet, also in ähnlicher Weise, wie bei den automatischen Acten. Das Schema der einfachsten Handlung wird sich gestalten, wie Ihnen Fig. 3 zeigt. Der Unterschied gegenüber den automatischen Acten liegt nur darin, dass bei der Handlung ausser intercurrenten die Bewegung modifizieren- den Empfindungen auch Erinnerungsbilder intercurrierend und modificierend auftreten. Wir haben in dieser Darstellung stillschweigend vorausgesetzt, dass die Handlung immer von einem psychischen Process begleitet ist. Thatsächlich lehrt uns dies unsere Selbstbeobachtung, dass jede Handlung von einem psychischen Vorgang begleitet ist, aber nothwendig ist dieser Zusammenhang nicht. An sich können wir uns alle unsere Handlungen bis zu den compliciertesten sehr wohl rein mechanisch oder materiell entstanden denken. Man glaubt gewöhnlich, alle die complicierten Handlungen eines Menschenlebens würden er- klärlicher, indem man eine psychische Action assistieren lässt. Das Gegentheil ist richtig: alles Handeln, selbst das zweck- mässigste und complicierteste, wird uns als eine materielle Leistung des Gehirns verständlich werden. Das Wunder oder das Un- erklärte liegt vielmehr darin, dass ein gewisser Theil dieser Hirn- processe, nämlich nur gewisse Hirnrindenprocesse, die sog. Hand- lungen, von psychischen Parallelvorgängen, also einem ganz anderen Etwas, welches nur der Selbstwahrnehmung zugänglich ist, begleitet sind. Rein materiell betrachtet, ist der Vorgang der Handlung der: ein Reiz löst eine Rindenerregung aus, diese pflanzt sich nicht direct wieder centrifugal zu einem Muskel fort, sondern Residuen früherer, durch andere Reize ausgelöster Rinden- erregungen wirken auf die Rindenerregung ein, so dass eine er- heblich modificierte Erregung der Musculatur zufliesst. Die Rinden- erregung 5 entspricht der Empfindung E, die Residuen früherer Rindenerregungen entsprechen den Erinnerungsbildern V. Durch Selection hat sich dieser Hirnmechanismus so entwickelt, dass die Residuen früherer Erregungen in der compliciertesten Weise verwerthet werden können1). Es ist also jede Handlung rein physikalisch-chemisch verständlich, und nur aus unsrer Selbsterfah- rung wissen wir, dass die Handlungen von psychischen Parallel- vorgängen begleitet werden. Es ist daher auch nur ein Wahr- scheinlichkeitsschluss , wenn auch ein berechtigter, wenn wir solchen Thierhandlungen , welche nur aus der Mitwirkung der Residuen früherer Rindenerregungen im Leben des Individuums erklärt werden können , psychische Parallelvorgänge zusprechen. Ich sagte Ihnen soeben, es sei sehr selten, dass nur eine einfache Empfindung einwirkt. Ich muss Ihnen dies noch weiter begründen. Denken Sie an den bekannten Versuch der physio- logischen Optik : im dunklen Gesichtsfeld trete ein in homogenem rothem Licht leuchtender Punkt auf, welcher vermöge seiner ge- ringen Dimension gerade nur ein empfindendes Element der Netzhaut reizen kann. Hier könnte es scheinen, als wirke that-

1) Münstekbebg, Willenshandlung, S. 55.

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sächlich nur eine einfache Empfindung. Aber denken Sie nur an die unzähligen Berührungsempfindungen, die fortwährend durch unsere Kleider und durch die nie ganz ruhige uns umgebende Luft erzeugt werden. Also auch hier eine Mehrzahl von Empfin- dungen. Erwägt man weiter, welch exceptionellen Fall wir in dem eben erwähnten Experiment angenommen haben, so wird Ihnen einleuchten, dass stets eine Mehrzahl von Empfindungen auf uns einwirkt. Empfindungen, welche wir in unserem Bewusstsein nicht weiter zerlegen können, nennen wir einfache. Ich mache Sie aus- drücklich darauf aufmerksam, dass die äusseren Reize sehr viel- fach und doch die Empfindung einfach sein kann. Denken Sie an einen Klavierton , der angeschlagen wird. Musikalisch sehr begabte Individuen ausgenommen, haben die meisten eine ein- fache Empfindung , während doch 6 und mehr Obertöne ausser dem Grundton von der angeschlagenen Saite erklingen und jeder Ton wiederum aus einer grossen Zahl Einzelschwingungen sich zusammensetzt. Bemerkenswerth ist hierbei auch, dass derselbe äussere Reiz oder dieselbe äussere Reizgruppe von dem Einen anders als von dem Anderen, von Einem als einfache, von Anderen als zusammengesetzte Empfindung empfunden wird. Ja, im Leben des Einzelnen kann eine einfache Empfindung zu einer zusammen- gesetzten und eine zusammengesetzte zu einer einfachen werden. Anfangs höre ich , wenn das eingestrichene C auf dem Klavier angeschlagen wird, nur einen Gesamtton. Meine Empfindung ist ist trotz der mitklingenden Obertöne einfach. Aber durch Uebung kann ich es dahin bringen, dass ich aus dem Gesamttone ausser dem C auch die Obertöne heraushöre : es ist also aus der ein- fachen eine zusammengesetzte Empfindung geworden. Umgekehrt können in anderen Fällen Empfindungen , die oft zusammen in unserem Gehirn auftreten, zu einer einzigen verschmelzen. Der Geschmack einer Aprikose z. B. hat sich aus zahllosen einzelnen Empfindungen zusammengesetzt, und doch haben wir jetzt eine einfache Empfindung beim Essen der Frucht.

Mit dem Augenblick, wo die Empfindung mit den Erinnerungs- bildern in Verbindung tritt, beginnt das Spiel der Motive, die Ueberlegung, oder wie man auch mit Hinblick auf eine spätere Erwägung besser sagt, die Thätigkeit der Association. Mit diesem Namen wollen wir die Summe aller jener psychischen Vorgänge bezeichnen , welche aus der Empfindung schliesslich die Handlung entstehen lassen, also die ganze Summe der inter- centralen Vorgänge zwischen 6* und M. Die Association arbeitet mit den in S aufgenommenen und den später vielleicht noch inter- current hinzugetretenen Empfindungen und den von früheren Empfindungen stammenden Erinnerungsbildern. Die letzteren bezeichnet man auch kurz als Vorstellungen, die Empfin- dungen selbst, insofern sie in das Spiel der Association eintreten, als Wahrnehmungen. Ueber die Begriffe Empfindung, Wahr- nehmung und Vorstellung herrscht in der psychologischen Litte- ratur eine ausserordentliche Verwirrung, um so klarer bitte ich Sie festzuhalten, dass wir unter Wahrnehmung wesentlich dasselbe wie unter einer Empfindung verstehen. Die Empfindung ist ge- missermaassen das brachliegende Rohmaterial, die Wahrnehmung dasselbe, aber in Verarbeitung begriffene Material. Zwischen Er- ziehen. Physiologische Psychologie. U. Aufl. 2

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innerungsbild und Vorstellung machen wir keinen Unterschied. Die Thatsache, dass solche Erinnerungsbilder existieren, ist un- zweifelhaft. Wir haben einmal eine Rose gesehen. Diese Ge- sichtsempfindung geht uns mit dem Verschwinden der Rose nicht total verloren, denn, sehen wir die Rose wieder, so erscheint sie uns nicht mehr als ein völlig Neues und Fremdes, sondern wir erkennen sie wieder, ja, ohne dass sie uns wieder vor Augen kommt, vermögen wir mittelst der Phantasie ihr Bild in Gedanken wieder zu reproducieren. Die Existenz von Erinnerungsbildern ist also fraglos , und man hat sich dieselbe in den Zellen , die ja die fixen Punkte des Fasergewirrs der Hirnrinde darstellen, niedergelegt gedacht. Diese Anschauung ist in dieser Einfachheit jedenfalls nicht richtig, wir wollen also die Frage nach der ma- teriellen Grundlage dieser Erinnerungsbilder, wo und wie sie niedergelegt werden, auf den zweiten Theil unserer Wissenschaft verschieben , welcher speciell von diesen Erinnerungsbildern handelt.

Den 3. Theil bildet die Lehre von der Association, weitaus der wichtigste und interessanteste unserer Gegenstände, den 4. die Lehre von der resultierenden Handlung. Bezüglich der letzteren möchte ich Sie schon jetzt vor einem Irrthum warnen. Die Hand- lung selbst, als die Bewegung des Muskels, ist ohne psychologisches Correlat, also rein physiologisch. Was unserem Bewusstsein ge- geben ist bei einer bewussten oder willkürlichen Bewegung, also bei einer nicht automatischen und nicht reflectorischen Bewegung, z. B. bei einer beabsichtigten, vielleicht auf den Reiz eines vor mir liegenden Gegenstandes erfolgenden Greifbewegung meines rechten Armes, ist lediglich Folgendes :

1) Das Erinnerungsbild dieser Greifbewegung, die ich früher schon oft ausgeführt habe und die mir jetzt als Ziel vorschwebt. Dies Erinnerungsbild wird auch als Bewegungsvorstellung be- zeichnet.

2) Empfindungen, welche mich belehren, dass die Bewegung ausgeführt ist : ich sehe den Arm sich bewegen, ich fühle den ergriffenen Gegenstand , und endlich belehren mich namentlich die sensiblen Nerven im Innern meines rechten Armes, dass der Muskel sich contrahiert hat. Diese letztere wichtigste Empfindung wird als Bewegungsempfindung bezeichnet.

Ich bitte Sie nun , durch Selbstbeobachtung zu bestätigen, dass zwischen das Erinnerungsbild der gewollten Bewegung und die Empfindung der vollzogenen Bewegung sich in unserem Be- wusstsein nichts dazwischenschiebt. Zwischen Bewegungsvor- stellung und Bewegungsempfindung schiebt sich kein psy- chischer Vorgang. Eben schwebt mir noch die Bewegung vor, im nächsten psychischen Moment ist sie bereits als Empfindung da. Sie sehen, wenn wir unsere Handlung analysieren, so zerlegt sich dieselbe psychisch in eine Erinnerungsvorstellung und in eine Empfindung. Sonst ist uns psychisch nichts gegeben. Zu der Empfindung postulieren wir, wie wir stets gewohnt sind, einen äusseren Reiz, d. h. erst aus unserer Bewegungsempfindung, welche von Berührungsempfindungen und Gesichtsempfindungen bestätigt wird, schliessen wir, dass eine Muskelcontraction, eine Bewegung unseres Armes stattgefunden hat.

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Auf der einen Seite hatten wir mit dem äusseren Reiz und der Empfindung begonnen, auf der anderen schliessen wir wiederum mit Empfindung und äusserem Reiz. Der ganze psychophysio- logische Process ist wie eine Nebenschliessung eingeschaltet. Der Gegensatz von sensibel und motorisch verliert bei dieser ps}'cho- logischen Betrachtung viel von seiner Bedeutung. Streng ge- nommen motorische Elemente existieren in unserem psy- chischem Leben nicht, alles ist entweder Empfindung oder Er- innerungsbild , ein Drittes existiert nicht , Sie müssten denn die mit jenen beiden arbeitende Ideenassociation als Drittes rechnen.

Auf die wichtigen allgemeinen z. Th. philosophischen Schlüsse, welche sich hieraus ergeben, hier einzugehen, ist nicht am Platz. Ich möchte Ihnen vielmehr zunächst beweisen, dass jeder psycho- physiologische Process in obigem Schema enthalten ist. Es giebt keinen psychologischen Process, der mit anderen Elementen arbeitet oder diese Elemente nicht mittelst Ideenassociation verarbeitet. Wohl aber sind viele unserer psychischen Processe Abkürzungen des eben geschilderten. Es muss nämlich zunächst das Resultat der durch eine Empfindung ausgelösten Ideenassociation nicht stets eine Bewegung sein. Der modificierende Einfluss der Er- innerungsbilder kann zu einer Hemmung werden. Die inter- central durch die Empfindung erzeugte Erregung weckt in Folge dieser Hemmung gar keine Bewegungsvorstellung oder nicht in genügender Intensität, und die Bewegung unterbleibt. Nehmen Sie das Beispiel einer Rose: Sie sehen in einem fremden Garten eine Rose stehen. Der äussere Reiz ist in der Rose gegeben und löst eine Gesichtsempfindung oder Sehwahrnehmung aus : wir sehen die Rose. Nun wirken zahlreiche Erinnerungs- bilder oder Vorstellungen ein. Der Duft der Rose fällt uns ein , wir stellen uns unser Zimmer geschmückt mit der Rose vor, alles Vorstellungen, die uns zu einer Greif bewegung, der Handlung des Pflückens drängen, die also, wie wir sagen wollen, positiv wirken. Aber auch andere Erinnerungsbilder werden in Ihnen auftauchen : Sie werden sich entsinnen, dass der Garten fremdes Eigenthum ist, Sie werden sich der Strafe entsinnen, welche Sie erwarten kann. Diese negativ wirkenden Erinnerungs- bilder werden Ihre Hand zurückhalten und die Handlung zu hemmen versuchen. Es kann hierbei zu einem völligen Wider- streit der Empfindungen und Erinnerungsbilder und der letzteren untereinander kommen. Das Spiel der Motive wird zum Kampf der Motive, zum Zaudern; die Handlung ist das Product der stärkeren Motive und kann daher zuweilen auch völlig unter- bleiben. Also das letzte Glied des psychischen Processes kann wegfallen, es bleibt bei der Wahrnehmung und Ueberlegung, eine Bewegung erfolgt nicht. Ausdrücklich möchte ich übrigens be- tonen , dass wir oft auch bei unserer Selbstbeobachtung die Be- wegung, weil sie sehr schwach ist, übersehen. So hat z. B. Lange gezeigt, dass, wenn das Wort »Thurm« etc. nur genannt wird, oder auch , wenn wir die Vorstellung eines Thurmes willkürlich in uns erzeugen, zumeist Augenbewegungen eintreten, welche den Contouren des Gegenstandes, also z. B. des Thurmes, entsprechen. Der Schallreiz des gehörten Wortes hat also doch gewisse leise Bewegungen erzeugt. Auch in der relativen Schwäche einer

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Empfindung kann ein Grund liegen, warum sie eine Bewegung nicht auslöst. Jede Empfindung hat zwar eine motorische Tendenz, d. h. Neigung, eine Muskelhandlung auszulösen , aber die ver- schiedenen Empfindungen doch in sehr ungleichem Maass. Die Empfindung muss eine gewisse Stärke haben, um den intercen- tralen Leitungswiderstand zu überwältigen und einen motorischen Effect auszulösen. Die Association vermehrt den vorhandenen Leitungswiderstand oder kann ihn vermindern. Eine ganz be- sondere Stellung nehmen diejenigen Handlungen ein, bei welchen scheinbar überflüssiger Weise die Bewegung sich nicht auf die mir vorschwebende beschränkt, sondern sog. Mitbewegungen ein- treten. Wer einen Schlag ausführt, presst die Kiefer aufeinander, und vor dem Schlag tritt oft eine fast allgemeine Spannung der ganzen Körpermusculatur ein, wie sie für das Lauern, die »ge- spannte« Erwartung charakteristisch ist. Kaum merkliche Span- nungen des M. frontalis begleiten ausserordentlich oft unsere Handlungen. Meist finden sich gleichzeitig starke Affecte. Ganz besonders nun solche Handlungen sind wir geneigt als willkür- liche Handlungen vmt sgo%rp> zu bezeichnen. Dies und die weitere Thatsache, dass wir in unserer Ideenassociation frei zu wirken vermeinen , hat dazu geführt , ein besonderes Willensvermögen aufzustellen. Aber was wir Willen nennen, wird sich bei ge- nauerer Analyse im Wesentlichen auf jene die Association und die Handlung begleitenden Spannungsempfindungen reducieren, und das Gefühl der Freiheit unserer Ideenassociation und unserer Handlungen erklärt sich ungezwungen daraus, dass dieselben zum Unterschiede von den automatischen Akten nicht von äusseren Reizen allein bestimmt werden, sondern auch von Erinnerungs- vorstellungen, deren Gesamtheit wir als unser empirisches Ich be- zeichnen können, beeinflusst werden. Mit Naturnothwendigkeit er- folgt bei gegebenen äusseren Reizen und gegebenen Erinnerungs- vorstellungen eine bestimmte Handlung ganz ebenso nothwendig. wie der von der Unterlage gelöste Stein in einer bestimmten Rich- tung mit bestimmter Geschwindigkeit fällt. Freiheit des Willens in diesem Sinn existiert für die physiologische Psychologie nicht. Unsere grossen Philosophen seit Spinoza sind hierin einig ge- wesen. Aber wir glauben frei zu sein, weil wir mit unserem Be- wusstsein mitten im Getriebe der Ideenassociation stehen1), weil wir das Resultat derselben, das Resultat des Spiels der Motive nicht bestimmt voraussehen, aber doch ahnen, und w?eil die Ent- scheidung schliesslich wiederum von einem Theil unseres Ich, der überwiegenden Erinnerungsvorstellung, gegeben wird.

Wir werden stets nur schlechtweg von Handlungen sprechen ; wir können das Wort »bewusst« hinzufügen und von bewussten Handlungen sprechen, aber wir müssen uns dabei immer klar machen, dass jede Handlung zum Unterschied von den Reflexen und automatischen Acten ein psychisches Correlat hat, also psy- chisch oder bewusst ist. Häufig bezeichnet man die Handlung auch als willkürliche Handlung oder Willenshandlung. Auch dies ist ein Pleonasmus. Jede Handlung ist als solche will-

1) Unser Bewusstsein ist nur ein Abstraction, unsere Ideenassociation mit ihren Empfindungen und Vorstellungen ist das Bewusstsein selbst.

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kürlich, ist eine Willenshandlung. Wir können auch diese Wort- verbindung brauchen, dürfen jedoch nicht die falsche Vorstellung damit verbinden , als gingen die Handlungen aus einem beson- deren Vermögen , dem Willen hervor. Ein solches besonderes Willensvermögen existiert nicht. Die Ausdrücke Willenshandlung, willkürliche Handlung und bewusste Handlung bedeuten für uns also nichts anderes als das einfache Wort Handlung.

Wir haben oben gesehen , dass der von uns verfolgte psy- chische Grundprocess aus drei Hauptgliedern besteht, erstens der Empfindung oder Wahrnehmung, zweitens dem Spiel der Motive oder Erinnerungsbilder und drittens der Hand- lung. Es wurde schon hervorgehoben, dass das Resultat des Spiels der Motive zuweilen ein negatives ist: die von einigen Erinnerungsvorstellungen befürwortete Handlung unterbleibt, weil mächtigere oder zahlreichere andere Erinnerungsbilder hemmend einwirken. Ich will Ihnen hierfür noch ein weiteres , sehr be- zeichnendes Beispiel geben. Sie sehen auf dem Theater ein Schauspiel : zahllose Gesichts- und Gehörsreize wirken auf Sie ein. Fortwährend knüpfen sich an die so entstandenen Wahr- nehmungen zahllose Erinnerungsvorstellungen. Ein Person des Stückes wird getödtet. Mannigfache Erinnerungsvorstellungen treiben Sie dazu, dem Bedrohten beizustehen, aber dieselben treten gegenüber der ungleich stärkeren Erinnerung , dass alles nur Schein ist, dass Sie sich durch einen Rettungsversuch lächerlich machen würden, zurück. Sie sitzen desshalb ruhig : es kommt zu keiner Handlung. Dass thatsächlich oft jedoch nur die motorische Action sehr gering ist, so dass sie übersehen wird, habe ich schon oben erwähnt; und wer hat nicht, wenn er eine solche Scene sah, zuweilen ein leichtes Zucken in den Gliedern an sich selbst be- merkt? Ganz besonders häufig wird das motorische Endglied bei solchen psychischen Processen wegfallen, welche von schwachen Empfindungen oder von Empfindungen mit geringer motorischer Tendenz ausgelöst werden.

In seltenen Fällen, könnte man denken, bleibt vielleicht auch das zweite und dritte Glied, also ausser der Bewegung auch die an die Wahrnehmung sich anschliessende Ideenassociation oder Ueberlegung ganz weg. Wir könnten dann von einer reinen Wahrnehmung oder »Anschauung« sprechen. Wenn wir indess erwägen, dass die Einwirkung von Erinnerungsbildern das Wesen des psychischen Processes ausmacht, so werden wir zweifeln, ob solche reine Wahrnehmungen überhaupt vorkommen.

Aus demselben Grund kann auch das Mittelglied des psy- chischen Processes, die Ideenassociation, nie völlig wegfallen. Sie kann nur sehr abgekürzt werden. Jemand empfängt plötzlich einen Schlag und fast momentan erwidert er ihn: wie wenige und flüchtige Erinnerungsvorstellungen schieben sich zwischen den empfangenen Schlag und die vergeltende Schlagbewegung. Fast automatisch vollzieht sich hier der Gegenangriff, d. h. die Erinnerungsvorstellungen können fast ganz ausgeschaltet werden. Wir kennen eine Geistesstörung, die Manie, bei welcher regel- mässig die Ideenassociation zwischen Wahrnehmung und Handlung pathologischer Weise in ganz oxcessivem Maasse abgekürzt ist.

Das erste Glied des psychischen Processes, die Empfindung,

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kann gleichfalls nie völlig ausfallen. In letzter Linie vermissen wir bei keinem psychischen Process einen äusseren Reiz und eine von ihm ausgelöste Empfindung. Aber Reiz und Empfindung liegen häufig sehr weit zurück und sind oft sehr schwach, so dass das 2. und 3. Glied isoliert zu bestehen scheinen. Sie haben z. B. flüchtig einen Bekannten gesehen, und nun schliessen sich an diese eine Wahrnehmung zahlreiche Erinnerungsvorstellungen, immer neue Gedankenreihen knüpfen sich an, die schliesslich mit jenem Freund gar nicht mehr zusammenhängen. An diese Ge- dankenreihen kann sich nun, wenn sie eine motorische Tendenz haben, eine Handlung anschliessen, ebenso gut kann aber auch, wie wir oben gesehen haben, eine solche unterbleiben. Im ersten Fall scheint die Handlung direct aus Erinnerungsvorstellungen ohne äussere Reize zu erfolgen; sie wird gern als spontan be- zeichnet. Der letztere Fall ist bei dem sog. einfachen Nachdenken oder Denken erfüllt : der primäre Sinnesreiz liegt weit zurück, und zugleich ist die motorische Tendenz gering, eine Handlung liegt also in weiter Ferne.

Schwer ist wiederum zu entscheiden, wo in der Thierreihe die erste Handlung , der erste jedenfalls von einem psychischen Parallelvorgang begleitete Nervenprocess auftaucht. Selbst bei den Echinodermen scheint er mit absoluter Sicherheit noch nicht nachgewiesen.

Lassen Sie uns nun nochmals kurz alles an ein Nerven- leben gebundene Geschehen überblicken. Wir theilten dasselbe ein in :

1) Eeflexe : auf einen oder mehrere Reize erfolgt eine meist zweckmässige, constante Bewegung ohne psychischen Par- allelvorgang.

2) Beactionen (automatische Acte) : auf einen oder mehrere Reize erfolgt eine meist zweckmässige, durch fernere intercurrierende Reize in ihrem Ablau modificierte Bewegung ohne psychischen Parallelvorgang.

3) Actionen oder Handlungen (bewusste, willkürliche oder Wil- lenshandlungen) : auf eine oder mehrere Reize erfolgt eine meist zweckmässige, durch intercurrierende Reize und durch Erinnerungsvorstellungen in ihrem Ablauf modificierte Bewegung m i t psychischem Parallelvorgang.

Die Handlung als Schema des psychischen Processes lehrte uns zugleich die Elemente desselben kennen :

1) Empfindung oder Wahrnehmung ;

2) Erinnerungsbild oder Vorstellung.

Andere Elemente des psychischen Processes anzunehmen, liegt kein Grund vor. Der Process selbst zerfällt in 3 Theile :

1) Empfindung oder Wahrnehmung ;

2) Einwirkung der Erinnerungsvorstellungen oder Ideenasso- ciation (auch Spiel der Motive oder Ueberlegung genannt).

3) Handlung s. str., die resultierende Bewegungsvorstellung, welche die Bewegung auslöst.

Eine besonders wichtige Unterart des psychischen Processes entsteh durch Wegfall des dritten Gliedes und Zurücktreten des ersten : es ist dies das einfache Nachdenken oder Denken.

Wir wollen nun kurz versuchen auch von der anatomischen

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Localisation der drei Acte nervösen Geschehens , also der Re- flexe , Reactionen und Handlungen uns ein Bild zu machen. Das Gehirn der Vertebraten besteht aus grauer und weisser Masse. Der wesentlichste Bestandtheil der grauen Masse sind die Ganglienzellen. Die weisse Masse besteht aus Nervenfasern. Jede Ganglienzelle hat ausser Protoplasmafortsätzen, die uns hier nicht interessieren, einen sog. Axencylinderfortsatz , der

Fig. 4. Schema des Faserverlaufes im Centrain ervensystem. C Hirnrinde. T Thala- mus opticus. R Rückenmark. M Muskel. * periphere Endigung einer sensiblen Faser. f/1 , ,y2 , </„ Rindenganglienzellen, t motorische Zelle des Thalamus opticus. v Vorderhornzelle des Rückenmarks. »»'', m', mV motorische Bahnen, s1, s2, ss sensible Bahnen.

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dichotomisch (oft T-förmig) sich verzweigt oder im Wesentlichen ungetheilt weite Strecken durchwandert. Die vorstehende Figur stellt die wichtigsten Faserverbindungen des Centralnervensystems schematisch dar. 5 stellt die periphere, in der Netzhaut, Schnecke oder äusseren Haut gelegene Endigung einer sensiblen Faser dar. Dieselbe gelangt, centripetal verlaufend, durch die sog. hinteren Wurzeln in das Rückenmark (i?). Hier giebt sie zahlreiche Seiten- äste ab. Am wichtigsten ist für uns der Seitenast s1, welcher mit seinen letzten Verästigungen, dem sog. Endbaum, eine motorische Zelle des Vorderhorns des Rückenmarks umspinnt und so seine Er- regung auf die Zelle durch Contact überträgt. Diese Umspinnung einer Zelle durch den Endbaum einer Nervenfaser ist in der Figur stets durch eine der Zelle zugekehrte Pfeilspitze wiedergegeben. Der Hauptast der sensiblen Faser steigt weiter centralwärts auf und giebt auf diesem Weg noch öfter Seitenäste ab. So z. B, ist in der Fig. 4 ein Seitenast s2 angegeben, welcher in der Gegend des sog. Thalamus opticus sich abzweigt und die motorische Thalamuszelle t umspinnt. Der letzte Endbaum der sensiblen Faser, s3, umspinnt eine sensible Rindenzelle gx. Der Axencylinder- fortsatz der letzteren geht in eine Faser ax über, welche sich in mannigfacher Weise verzweigt und schliesslich in den Ast eines T-förmig getheilten Axencylinderfortsatzes einer anderen Ganglien- zelle g2 übergeht. Ein anderer Ast dieser letzteren geht in die Faser a2 über, welche mit ihrem Endbaum schliesslich die moto- rische Rindenzelle g3 umspinnt. Die Fasern ax und a2, welche Rindenzellen untereinander verbinden, heissen Associationsfasern. Für die physiologische Psychologie haben dieselben eine ganz ausserordentliche Bedeutung. Es ist das grosse Verdienst des unlängst verstorbenen Wiener Psychiaters Meynert1), die Wich- tigkeit dieser Associationsfasern zuerst erkannt zu haben. Die motorischen Zellen der Hirnrinde, wie g"3, nehmen in ihrer Ge- samtheit eine bestimmte Region der Hirnrinde ein, welch auch kurz als motorische Region bezeichnet wird. Aus gh entspringt ein Axencylinderfortsatz , welcher , ohne grössere Seitenäste ab- zugeben, in eine motorische Faser mc übergeht. Die Gesamtheit solcher in der motorischen Region der Hirnrinde entspringenden Fasern wird auch als »Pyramidenbahn« bezeichnet. Die Faser m zieht ununterbrochen bis zu der motorischen Vorderhornzelle v des Rückenmarks , welche sie mit ihrem Endbaum umspinnt. Dieselbe Zelle v wird auch von dem Endbaum der im Thalamus opticus aus der motorischen Zelle t entspringenden Faser ml um- sponnen. Die Vorderhornzellen des Rückenmarks empfangen so- wohl von der Hirnrinde wie von den grossen Ganglien wie auch von s1 motorische Impulse. Aus der Zelle z/, resp. aus ihrem Axencylinderfortsatz geht die periphere motorische Faser m? her- vor, welche das Rückenmark in den vorderen Wurzeln verlässt und schliesslich in dem Muskel M endet.

1) Meynekt, Zur Mechanik des Gehirnbaues. Vortr. auf der Natur- forscherversammlung zu Wiesbaden 1872 (auch in der Sammlung populär- wissenschaftlicher Vorträge Meynekt's, 1892, Wien, W. Braumüller, ab- gedruckt).

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Ausser der Hirnrinde, welche die Grosshirnkugel als dünne Schale umkleidet, dem Thalamus opticus oder Sehhügel und der grauen Substanz des Rückenmarks existieren noch zahlreiche andere graue Massen. Ich nenne Ihnen an dieser Stelle z. B. noch die hinter dem Sehhügel gelegenen Vier- resp. Zweihügel sowie die grauen Massen des Kleinhirns 1).

Sowohl in den grauen Massen des Rückenmarks wie in den höhergelegenen des Sehhügels, des Kleinhirns und der Hirnrinde stehen die sensiblen Fasern direct oder durch Vermittlung von Ganglienzellen und intercentralen Fasern mit motorischen Zellen in Verbindung. Es kann also ein sensibler Reiz an sehr ver- schiedenen Stellen auf motorische Elemente übertragen werden und Bewegungen auslösen. Die eine graue Masse vermittelt vor- wiegend Reflexbewegungen , die andere vorwiegend Reactions- bewegungen, die dritte nur Handlungen.

Die Physiologie lehrt nun, dass die Reflexe bei den Verte- braten im Allgemeinen im Rückenmark entstehen. Bei dem Frosch bergen jedenfalls auch die Zweihügel und das Kleinhirn noch vorwiegend Reflexmechanismen. Die Wischbewegung des Frosches, wenn seine Rückenhaut mit Säure betupft wird, sein Forthüpfen, wenn seine Pfote gekniffen wird, seine Rückkehr in die Bauch- lage, wenn er auf den Rücken gelegt wird, sein Balancieren, wenn die Hand, auf welcher er sitzt, rotiert wird, sind Reflexe, welche nachweislich an das Rückenmark, das Kleinhirn^ das sog. verlängerte Mark und die Zweihügel gebunden sind. Bei höheren Thieren ist es noch nicht gelungen, die Localisationen mit ähn- licher Genauigkeit festzustellen. Das Hauptreflexorgan ist jeden- falls auch hier das Rückenmark.

Reactionen oder automatische Acte zeigt ein Frosch nur dann, wenn ausser Rückenmark, Kleinhirn und Zweihügel min- destens die Sehhügel erhalten sind. Ich sagte Ihnen schon, dass ein solcher Frosch einem seinem Forthüpfen in den Weg ge- stellten Hinderniss ausweicht, also automatisch zu reagieren ver- mag. Auch bei höheren Thieren bis zum Menschen hinauf ist wahrscheinlich der Sehhügel das Hauptcentrum der Reactionen.

Handlungen waren durch das Dazwischentreten von Er- innerungsbildern charakterisiert. Die experimentelle Physiologie

1) Das oben gegebene Schema ist weder vollständig noch in allen Einzelheiten durch die bis jetzt vorliegenden Untersuchungen sicherge- stellt. Es beansprucht lediglich, Ihnen ein ungefähres Bild des ver- wickelten Faser- und Zellenzusammenhangs im Centralnervensystem zu geben. Ich stütze mich dabei namentlich auf die neuesten Arbeiten von G-olgi, Flechsig, v. Kölliker, Ramon y Cajal, Forel u. a. Demjenigen, der sich über die anatomischen Verhältnisse des Gehirns und Rücken- marks genauer unterrichten will, empfehle ich: Wernicke, Lehrbuch der Gehirnkrankheiten, Bd. 1 , Kassel 1881, oder Obersteiner, Anleitung beim Studium des Baues der nervösen Centralorgane , Wien 1892, 2. Aufl., oder Edinger, 12 Vorlesungen über den Bau des Centralnerven- systems. Endlich verweise ich Sie, wenn Sie. über einzelne Kapital der rlirnanatomie oder Hirnphysiologie Genaueres nachlesen wollen, auf meine Artikel in dem Reallexikon der medizinischen Propädeutik, herausgegeben von J. Gau, Wien u. Leipzig, 1893.

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zeigt mit grösster Wahrscheinlichkeit , dass Erinnerungsbilder lediglich in der Hirnrinde deponiert werden, dass also auch nur in dieser Handlungen entstehen können. Nimmt man einem Hund die Rinde des ganzen Hinterhauptslappens weg, so verliert er alle Gesichtsempfindungen und alle Gesichtsvorstellungen, d. h. auch alle Erinnerungsbilder früherer Gesichtsempfindungen1). Das- selbe gilt für alle Sinne. Die Hirnrinde ist also Sitz desjenigen Nervenprocesses , welchem wir allein mit Gewissheit einen psy- chischen Parallelvorgang zuweisen konnten , also Sitz des psy- chischen Processes, der Empfindung oder Wahrnehmung, der Ideenassociation und der Handlung s. str. Damit stimmt denn auch sehr gut die anatomische Thatsache überein, dass die Pyra- midenbahn, auf welcher nachweislich unsere willkürlichen Be- wegungsimpulse den Muskeln zugeleitet werden, von der Gross- hirnrinde ohne Unterbrechung in den tieferen Ganglien bis in das Rückenmark hinabzieht. Wie die Reflexe namentlich an das Rückenmark, die Reactionen namentlich an den Sehhügel, so sind die Handlungen ausschliesslich an die Grosshirnrinde gebunden. Auch eine andere Thatsache stimmt hiermit überein : Thiere, welchen das Grosshirn exstirpiert worden ist ausschliess- lich der Sehhügel, zeigen die grösste Einschränkung der sog. spontanen, d. h. der ohne äussere Reize erfolgenden Bewegungen. Diese spontanen Bewegungen, sind eben vorwiegend Handlungen, welche aus Erinnerungs Vorstellungen hervorgehen und für welche der primäre Reiz sehr weit zurückliegt. Wie alle Handlungen, sind sie also an die Hirnrinde gebunden und müssen mit Exstir- pation derselben verschwinden. Dass überhaupt noch einige spontane Bewegungen z. B. bei der enthirnten Taube, erfolgen, erklärt sich daraus, dass innere Reize (Hunger, Durst etc.) noch reflectorisch Bewegungen auslösen, welche man als spontan zu bezeichnen gewohnt ist2), weil die Reize als innere unsichtbar sind. Der Blutstrom führt hier den die Bewegung auslösenden Reiz dem Centrum zu und vertritt so die centripetale Nerven- erregung.

In der Thierreihe wird im Laufe der phylogenetischen Ent- wicklung manche Function ihren Platz gewechselt haben. Das Froschkleinhirn ohne Vierhügel z. B. vermag noch die Bewegung des Forthüpfens reflectorisch auszulösen, während für das Kanin- chen hierzu noch mindestens die hinteren und vorderen Vier- hügel nothwendig sind. Jedenfalls aber hat die phylogenetische Entwicklung an der Hauptthatsache der eben angegebenen Lo- calisation nichts geändert.

1) Munk wies zuerst nach, dass ein solches Thier weder Gesichts- empfindungen noch Gesichtsvorstellungen mehr hat ; die andere Frage, ob die Bewegungen eines hirnrindenlosen Hundes oder Kaninchens noch durch optische Reize beeinflusst werden, ob also auch bei dem Hund und Kaninchen , wie bei dem Frosch, der Sehhügel für das Zustande- kommen von Reactionen (Ausweichen) genügt, ist experimentell noch nicht ganz sicher entschieden. Vgl. auch Goltz , Der Hund ohne Grosshirn. Pplüger's Archiv, Bd. 51.

2) Pebyee bezeichnet sie als impulsive, Bain als automatische Be- wegungen.

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Für die wirbellosen Thiere ist die Localisation der Reflexe Reactionen und Handlungen ungleich unsicherer; namentlich ist über die Hand ungen der niederen Thiere noch ' so weni^ fest- gestellt, dass Localisationsversuche noch verfrüht sind. Unsere folgenden Untersuchungen werden sich daher gleichfalls auf die \ertebraten, speciell den Menschen beschränken Nur der letztere vermag Auskunft über seine Bewusstseinsvorgänge zu geben und

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selbst bewusst wird.

DRITTE VORLESUNG. Reiz. Empfindung.

Wir beginnen heute die Besprechung der einzelnen Glieder des psychischen Processes mit dem ersten, der Empfindung. Der äussere Reiz löst, wie Sie hörten, zuerst die Empfindung aus. Nur Bewegung im weitesten Sinne wirkt als Reiz auf unsere Sinnesorgane, aber nicht jede Bewegung vermag in der End- ausbreitung unserer Sinnesnerven eine Erregung zu erzeugen, die, centralwärts fortgeleitet, schliesslich in der Hirnrinde eine ähnliche Erregung und als Parallelvorgang derselben eine Em- pfindung auslöst. Lassen Sie uns zunächst kurz die Bewegungen überblicken, welche in der Natur existieren und auf unsere peri- pheren Sinnesflächen wirken können. Es sind dies folgende:

i) Stossbewegungen: unter diesem Sammelnamen fasse ich alle jene Bewegungen zusammen, welche sich als Stoss elastischer und unelastischer Körper auffassen lassen. Hier wird eine bestimmte Bewegung in bestimmter Richtung von einem Körper, also einem ganzen Complex zahlloser Molecüle ausgeführt. Hierher gehören alle Berührungs- und Druckreize. Letztere können wir als Stossbewegungen mit der Geschwindigkeit 0 auf- fassen.

2) Chemische Bewegungen: hier handelt es sich um Bewegungen , welche zu einem Atomaustausch innerhalb der Molecüle und von Molecül zu Molecül führen. Ausser den Ge- schmacks- und Geruchsreizen gehören hierher auch wahrschein- lich viele Eingeweidereize.

3) Aetherbewegungen: die physiologische Psychologie hat die Hypothese der Physik zu acceptieren, dass zwischen den Molecülen der Materie Aethertheilchen sich befinden , deren Schwingungen, je nach ihrer Geschwindigkeit, als Licht, strah- lende Wärme, Magnetismus und Elektricität bezeichnet werden.

Die Schallreize und Wärmereize, die letzteren, soweit es sich um Wärme 1 e i t u n g handelt, sind den Stossbewegungen zuzufügen. Ueber die Eigenartigkeit der Wärmereize wissen wir noch wenig. Die Eigenartigkeit der Schallreize gegenüber anderen Stossbewegungen besteht darin , dass in dem stossen- den Molecülcomplex die Stossbewegungen der einzelnen Mole-

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cüle eine Welle darstellen und auf die Bewegung in einer be- stimmten Richtung alsbald eine rückläufige in entgegengesetzter

Für die physiologisch - psychologische Betrachtung reduciert sich die Zahl der in Betracht kommenden, d. h. der in den Nerven- enden Erregungsvorgänge erzeugenden Bewegungsreize noch weiter. Denn wir wissen, dass die Aetherbewegungen des Lichtes nicht direct auf die Nervenendigungen der Sehnerven wirken, sondern in der Netzhaut chemische Processe, oder wie wir auch sagen dürfen, chemische Bewegungen auslösen; erst diese wirken als Reiz auf die Endigung des Sehnerven.

Es bleiben daher zwei Hauptgruppen von Sinnesreizen, welche wir als chemische und mechanische bezeichnen können ; dazu kommen noch die elektrischen Sinnesreize als dritte Gruppe ; doch ist nicht ausgeschlossen, dass auch die elektrischen Reize zunächst chemische Veränderungen in den die Nervenenden umgebenden Gewebsflüssigkeiten hervorrufen und erst mittelst dieser chemischen Bewegungen auf die Nervenendigungen wirken. Für die strahlende Wärme sind die physikalischen Eigenschaften noch zu wenig be- kannt, als dass wir bestimmen könnten, ob dieselbe direct oder mittelst chemischer Bewegungen auf die Nervenendigungen wirkt. Auch ist es fraglich, ob die strahlende Wärme als solche über- haupt als Reiz auf die Nerven wirkt und nicht vielmehr deren Umsetzung in Leitungswärme erfolgen muss J). Wenigstens ist es wahrscheinlich , dass die Wärmeempfindung in Ihrer Hand in der Nähe des glühenden Ofens so entsteht, dass zunächst durch strahlende Wärme Ihre Handoberfläche erwärmt wird und von dieser aus alsdann durch Wärmeleitung die Wärme in^die Tiefe zu den Nervenendigungen gelangt. Vom Magnetismus endlich ist noch nie eine Reizwirkung auf Nervenendigungen sicher beobachtet worden. Im Gegentheil sprechen die Versuche Her- mann's 2), der Thiere und thierische Theile in das magnetische Feld eines grossen Elektromagneten brachte und keinerlei Wir- kung beobachtete, gegen die Fähigkeit des Magnetismus, als Ner- venreiz zu wirken.

Zwei Bewegungen der Natur also, Magnetismus und strah- lende Wärme, erscheinen nach dem jetzigen Stand unseres Wissens von den Nervenreizen ganz ausgeschlossen, aber auch die anderen Bewegungen wirken nur innerhalb gewisser Grenzen. So scheinen Schallbewegungen von weniger als 16 und mehr als 40000 Schwingungen in der Secunde Erregungsprocesse in den Nerven- endigungen überhaupt nicht anzuregen ; ebendasselbe gilt von den ultrarothen und ultravioletten Lichtstrahlen. Es ist also wahrscheinlich , dass schon der den äusseren Reiz zunächst auf- nehmende nicht nervöse Theil der Sinnesorgane gewisse Quali- täten der Reizbewegungen wie ein Sieb aufhält und nur gewisse andere Qualitäten in den Nervenenden Erregungen erzeugen. Es rindet also gewissermaassen eine Auswahl statt, die unzweifelhaft das Product natürlicher Anpassung unter den Bedingungen des

1) Ist doch die Frage, ob die Oberhaut diatherman ist oder nicht, Doch unentschieden : Mas.ik beantwortet sie; mit ja, (xouisch kider mit nein. 2 l'ri.i öeb's Archiv, B<l. 43.

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Kampfes ums Dasein ist. Diese Auswahl lediglich in die cen- tralsten Hirntheile zu verlegen , liegt gar kein Grund vor. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass die Auswahl, welche in der Ausschaltung des ultrarothen und ultravioletten Lichts und der Schallbewegungen von zu kleiner und von zu grosser Geschwin- digkeit sich zeigt, bereits im peripheren Sinnesapparat stattfindet, dass also gewisse mechanische und chemische Bewegungen eine Nervenerregung gar nicht auslösen. Diese periphere Auswahl be- trifft wesentlich die Qualität der Reizbewegungen, wir werden noch heute von einer anderen centralen Auswahl hören, welche die Intensität betrifft. Oft hat man behauptet, die qualitative Aus- wahl an den Nervenenden gehe noch weiter, und zwar in dem Sinne, dass z. B. die Sehnervenendigungen nur für die aus Aether- schwingungen entsprungenen chemischen Reize, die Endigungen des Gehörnervs nur für Schallreize empfänglich seien. Diese Frage hängt eng mit der Lehre von der sogenannten specifischen Energie der Sinnesnerven zusammen. Letztere ist neuerdings oft bekämpft worden und hat dementsprechend mannigfach modinciert werden müssen. Principiell wichtig sind aus der Lehre von der specifischen Energie für uns folgende Sätze *).

Ob jede beliebige Reizart in den Enden eines jeden beliebigen Nerven eine Erregung auszulösen vermag, also absolute receptive Indifferenz besteht, ist nach Obigem sehr fraglich. Auf die Aus- wahl seitens des nicht nervösen Sinnesapparates erfolgt vielmehr eine weitere an den Nervenenden. Jedem Sinnesnerven kommt ein Reiz zu, welcher für ihn specifisch oder adäquat ist. Für das Auge ist das Licht, für das Ohr der Schall der adäquate Reiz u. s. f. Jedenfalls aber können doch auch ganz disparate oder inadäquate Reize die Nervenendigungen zuweilen in Erregung ver- setzen. Auch Zerrung der Retina bewirkt einen Lichtschimmer. Namentlich der mechanische und elektrische Reiz scheinen nirgends von der Aufnahme in die Nervenendigungen völlig ausgeschlossen2).

Aber, wenn ein disparater Reiz eine Erregung in den Nerven- enden veranlasst hat, welche schliesslich bis zu den centralen Sinneselementen sich fortpflanzt, so läuft die Erregung auf einer Bahn und gelangt in Endstationen, welche durch Vererbung und Uebung auf ganz andere Erregungen abgestimmt sind, welche functionell durchaus nicht indifferent sind. Die anders abge- stimmten Elemente der Bahn und der Endstation werden aller- dings versuchen , der disparaten von der Peripherie kommenden Erregung R gerecht zu werden, sie aufzunehmen und fortzupflan- zen, aber sie werden nur eine kleine Componente von R wirklich zum Ausdruck und zur Fortpflanzung bringen können. Alles, was an R specifisch ist , geht daher verloren ; es bleibt von R nur eine sehr unbestimmte, ganz allgemeine Erregung und auch diese übersetzt in die Sprache der anders abgestimmten Bahn und des anders abgestimmten Centrums übrig. Zerren Sie den

1) Wundt, Physiolog. Psychologie, I, S. 332 u. ff. Munk, Sitzungs- berichte d. Königl. Pr. Ak. d. Wiss., 1889.

2) Goldscheidek nimmt an, dass diese beiden Reize da, wo sie als inadäquate auftreten, nicht auf die Nervenendapparate, sondern auf die Fasern wirken.

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Sehnerven , wie Sie wollen : immer dieselbe einfache Licht- empfindung ! Ob diese Abstimmung vorzugsweise in der Bahn oder im Centrum stattfindet, ist fraglich; wahrscheinlich ist das letztere. Die Hauptsache ist, dass überhaupt eine solche Ab- stimmung stattgefunden hat, sowohl im peripheren nicht-nervösen Apparat, wie in den Nervenenden, wie auf der Nervenbahn und schliesslich namentlich im Centrum. Dies ist der eigentliche Sinn der Lehre von der specifischen Energie. Dieselbe zu leugnen, widerspricht allen entwicklungsgeschichtlichen Grundsätzen. Diese letzteren besagen , dass jede Function ihr Organ verändert, sich gewissermaassen dasselbe erzieht. Wir haben also die WuNDT'sche Annahme zu verwerfen , dass alle Bahnen und Centralstationen functionell indifferent seien und die in den centralen Zellen aus- gelösten Processe nur deshalb verschieden seien, weil die Reize verschieden sind und der Reizvorgang in seiner ganzen Indivi- dualität in die Nervenbahn aufgenommen wird.

Ueber die Natur der im Nerven sich fortpflanzenden Erregung haben wir noch keine sicheren Kenntnisse. Früher neigte man zur Annahme elektrischer Leitungsströme, während die neueren Anschauungen mit grösserem Recht in der Nervenleitung einen chemischen Process sehen. Dabei wird die Lehre von der speci- fischen Energie immer noch annehmen dürfen, dass auch dieser durch den Nerven geleitete Erregungsvorgang je nach dem Reiz verschieden ist. Auch ist es sehr wohl mit dieser Lehre verein- bar, dass jede Nervenbahn mit ihren Endigungen und ihrem Centrum nicht nur auf eine Erregungsqualität, sondern auf eine Reihe ähnlicher Erregungsqualitäten abgestimmt ist. Indem so die wesentliche Bedeutung der Beschaffenheit des Nervenapparats für die Qualitäten der Empfindung sich ergeben hat, wird uns auch der zuerst von Locke widerlegte Irrthum früherer Jahr- hunderte klar, welchen das naive Denken noch heute theilt, und der dahin geht, dass die Gegenstände selbst um uns her bunt, warm, kalt etc. sind. Draussen ist nur eine in Molecularbewe- gungen schwingende , von vibrierenden Aethertheilchen durch- setzte Materie. Unsere Nervenapparate greifen diese oder jene Bewegung der Materie oder ihres Aethers heraus und setzen sie in ihre Sprache, in die ihnen geläufige Nervenerregung um, und nur letztere empfinden wir als roth oder warm oder hart.

Umstehende Tabelle wird Ihnen nochmals in zusammen- fassender Weise eine Uebersicht über die verschiedenen Reiz- formen geben.

Als Hauptresultat für die physiologische Psychologie ergiebt sich aus diesen Erörterungen, dass ein Reiz R schliesslich eine Erregung in der peripheren Endausbreitung des Nerven erzeugt, die wir als R>> bezeichnen wollen. Dies Rp gelangt auf compli- cierten Wegen schliesslich in die Hirnrinde. Rr wird schon von R verschieden sein, und schliesslich wird i?>' während der Leitung wieder gewisse Modifikationen erleiden. Was aus der Erregung Rp geworden ist, wenn sie in der centralen Station in der Hirn- rinde angelangt ist, sei mit R' bezeichnet. R können wir, wenn auch oft mit Schwierigkeit, qualitativ und quantitativ im einzelnen Fall genau bestimmen. Rp und Rc entziehen sich unserer Be- obachtung fast ganz. A" ist nun aber derjenige materielle Vor-

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Reize

Zwischenprocess im periph. Apparat

Organ

Aetherchwingungen Umsetzung in chemische 400 900 Bill. intramoleculare Be- Schwingungen i. d. See. wegung

Auge

Intramoleculare, chemische Bewegungen

fehlt

Zungenschleimhaut Nasenschleimhaut allg. Sensibilität

Mechanische Reize (Stoss, Druck)

fehlt

alle Sinnesorgane

Wärme

fehlt

allg. Sensibilität

Elektricität

vielleicht Umsetzung in chemische Bewegung

alle Sinnesorgane

Schallbewegungen der

Molecule sub Contra-

C— e8, 16—40000

Schwingungen i. d. See.

fehlt

Ohr

gang, dem im Psychischen die Empfindung als Parallelvorgang entspricht ' ). Für diese Empfindung E fehlt uns freilich die Möglichkeit einer exaeten physikalischen oder physio- logischen Messung gleichfalls vollständig, wohl aber ist dies E unserem Bewusstsein gegeben und uns aus diesem bekannt. Welche Eigenschaften nehmen wir nun an unseren Empfindungen wahr, oder in welchen Eigenschaften unterscheiden sich unsere verschiedenen Empfindungen von einander? Solcher Merkmale kennen wir drei; als erstes nenne ich Ihnen die Qualität der Empfindungen. Die Empfindung des Rothen uncT des Grünen, des Tones C und des Geschmacks des Zuckers sind qualitativ verschieden. Ein weiteres Merkmal ist in der Intensität ge- geben : lassen Sie den Ton C immer lauter erschallen oder be- feuchten Sie Ihre Zunge mit einer immer concentrierteren Zucker- lösung etc., so ändert sich die Intensität ihrer Empfindung, ohne dass sich die Qualität ändert. Es wäre durchaus falsch, auch die Intensitätsverschiedenheiten der Empfindung auf qualitative Ver- schiedenheiten zurückzuführen ; für die Intensität einer Empfin- dung besteht die Möglichkeit eines stetigen Uebergangs in Null, für die Qualität einer Empfindung nicht. Ein drittes und letztes Merkmal bezeichen wir als den begleitenden Gefühls ton. Jede Empfindung nämlich, lehrt die Selbstbeobachtung, ist von einem Gefühl der Lust oder Unlust begleitet. Diese Affectbetonung

1) Die ältere Psychologie war fälschlich stets geneigt die Empfin- dungen als „Erkentnisse" zu betrachten. Dies ist durchaus willkürlich: die Empfindung ist die Wirkung von Reizen und kann als Mittel zur Erkenntniss der letzteren dienen, ist aber selbst kein Erkenntuiss. Vgl. Teichmüller, Neue Grundlegung der Psychologie u. Logik, S. 66 ff.

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kann den Nullwerth erreichen, in der Regel ist sie jedoch vor- handen. Wir unterscheiden daher bei jeder Empfindung .die Qualität q, die Intensität i und den Gefühlston a und drücken dies dadurch aus, dass wir q, i und a als Indices zu E setzen : Eiqa. Zwei andere Merkmale der Empfindungen , ihre Locali- sation und ihre zeitliche Dauer, werden wir später in anderem Zusammenhang kennen zu lernen haben.

Wir beschäftigen uns zunächst mit der Intensität der Em- pfindungen. Hier erhebt sich die Hauptfrage : Gegeben sei ein Reiz R, wie gross ist das i der zugehörigen Empfindung E ? Nun fehlt es uns an jedem absoluten Maass für die Intensität unserer Empfindungen. Wenn Sie zwei Lichtquellen auf Ihr Auge wirken lassen, so können Sie wohl die Intensität derselben verglei- chend schätzen, aber diese Schätzung ist eben nur als Vergleich möglich und selbst als solcher in Zahlen nur sehr ungenau aus- drückbar. Wir werden daher unsere Aufgabe zunächst besser so formulieren: Gegeben zwei Reize, Rx und R2, und es sei R2 in einem bestimmten Verhältniss grösser als R1 , z. B. sei R2 doppelt so gross, als Rr : wie verhalten sich alsdann die In- tensitäten der zugehörigen Empfindungen ? Als einfachste Lösung möchte man zunächst vermuthen, dass E2 auch doppelt so intensiv sei als E1: wenn R2 doppelt so gross ist als i2, ; es würde als- dann E einfach R proportional sein. Dies graphisch auszudrücken, hätte man die Reize auf einer Abscissenachse aufzutragen und die Empfindungsintensitäten senkrecht zu dieser Achse als Ordi- naten. Bei einfacher Proportionalität würde alsdann die Reihe der Empfindungsintensitäten eine gerade Linie bilden.

Wenn ab die Grösse des Reizes E1 darstellt und ac die Grösse des Reizes R., darstellt und ac = 2«ö, so wäre auch ec, d. h. die Intensität von E2 doppelt so gross als db, d. h. die Intensität von Ex. Nähere Ueberleg:ung-

Fig. 5-

lässt jedoch schon vor aller experimentellen Prüfung eine solche einfache Pro- portionalität unwahr- scheinlich erscheinen. Sie haben gehört : R wird als ifr' aufgenommen und ge- langt in die Hirnrinde schliesslich als R% R un- terliegt also, bevor es den Parallelvorgang E auslöst, einer grossen Reihe von Modifikationen. Es wäre nun wunderbar, wenn diese

Modificationen bei ver- schieden grossem R genau

so abgemessen wären, dass R1' proportional R und Rc proportional Rr bleibt. Viel wahrscheinlicher würde es zunächst sein, wenn zwar mit wachsendem R im Allgemeinen auch E wüchse, der genauere Zusammenhang zwischen E und R aber ein viel ver- wickelterer wäre. Die definitive Entscheidung kann selbstver-

/. i e h c n . Physiologische Psychologie, ü. Aufl. 3

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ständlich nur das Experiment bringen. Bevor wir jedoch auf die zahlreichen Versuche eingehen , welche seit Fechner zur Er- mittlung des Zusammenhangs von E1 und R angestellt worden sind, muss ich kurz noch auf die Bedeutung des E1 und R ein- gehen. Was Intensität der Empfindung ist, ist uns unmittelbar durch unsere Selbstbeobachtung bekannt; was ist aber unter der Grösse des Reizes zu verstehen? Offenbar die in dem Reiz ent- haltene Menge lebendiger Kraft. Diese zu messen, ist selbstver- ständlich in vielen Fällen gleichfalls schwer oder unmöglich. Wer könnte z. B. die lebendige Kraft einer Lichtquelle sicher bestim- men? Erst die jüngste Zeit hat uns exacte Resultate in dieser Beziehung durch die Forschungen von Thomsen und Tumlirz verschafft. Man wird also auch hier auf Vergleiche zweier Reize recurrieren müssen. Indem wir z. B. dieselbe Lichtquelle erst in einer bestimmten Entfernung a und dann in der Entfernung 2a wirken lassen , haben wir jedenfalls im zweiten Falle eine Lichtintensität, die zu der erstgegebenen in einem leicht zu be- rechnenden Verhältniss steht.

Die Experimentaluntersuchung beginnen wir mit folgendem einfachen Versuch. Wir lassen eine Trompete in 10 m Entfer- nung von uns gleichmässig blasen und entfernen uns dann weiter und weiter von derselben. Dabei kommen wir schliesslich auf einen Punkt, an welchem wir eben die Trompete noch hören und dann an einen, wo wir die Trompete eben nicht mehr hören. Der letztere Punkt sei etwa 120 m von der Trompete entfernt gelegen. In dieser Entfernung erreichen die Schallwellen wohl noch unser Ohr ; ob sie eine Erregung in den Nervenenden, ein Rv erzeugen, ist zweifelhaft, zweifelhafter «noch, ob ein Rc zu Stande kommt, ein E kommt jedenfalls nicht zu Stande. Es giebt also Reize , für welche die Empfindungsintensität = 0 ist. Der Reiz muss erst eine bestimmte Intensität erreicht haben, bis er eine Empfindung auslöst. Wir müssen uns auf 119 m nähern, dann hören wir die Trompete. Diejenige Reizstärke nun, welche eben ausreicht, um eine Empfindung auszulösen, bezeichnen wir als Reizschwelle.

Wir wollen uns nun der Trompete mehr und mehr nähern, der Schallreiz wird demgemäss fortgesetzt wachsen, und auch die Empfindung wird an Intensität zunehmen. Auf 8 m Entfernung wird der Schall schon eine gellende Empfindung auslösen. Wir nähern uns noch mehr und können nun einen weiteren Zuwachs der Empfindung nicht wahrnehmen, oder, was dasselbe ist, der Schall ist so laut, dass wir eine weitere Steigerung gar nicht empfinden. Wir sind an dem Punkte angelangt, wo unsere Em- pfindung einer weiteren Steigerung nicht mehr fähig ist. Diejenige Reizstärke nun, welche eine nicht weiter zu steigernde Empfindung auslöst, bezeichnet man als Reizhöhe. Von der unendlichen Reihe der von 0 bis 00 ansteigenden Reizintensitäten löst also ein erster Abschnitt gar keine Empfindung aus, dann nehmen für einen zweiten Abschnitt die Empfindungen mit dem Reize an Intensität zu; für den dritten und letzten Abschnitt der Reizscala bleibt die Empfindung constant auf einem Intensitätsmaximum stehen, trotz weiterer Steigerung der Reizintensität. Der graphische Ausdruck hierfür wird sein, dass die Curve der Empfindungen erst in einer

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bestimmten Entfernung vom Nullpunkt (in der Reizschwelle) sich über die Abscissenachse der Reize erhebt ; sie würde dann mit wachsenden Reizen allmählich bis zu einer bestimmten Höhe an- steigen und schliesslich wiederum in einer bestimmten Entfer- nung vom Nullpunkt (Reizhöhe) nicht weiter steigen , sondern der

Fig. 6.

Abscissenachse fortan parallel laufen. Rx R2 u. s. w. bis Rx 0 würden zu schwach sein, ein E auszulösen, erst R1 1 u. s. w. würden ein E auslösen. R12 würde ein grösseres E auslösen, R1 3 wieder- um ein grösseres , und so würden die £'s mit den i?'s wachsen bis zu einem £, welches von JB30, der Reizhöhe, ausgelöst wird. Das folgende R.A1 würde nun nicht wiederum ein grösseres E aus- lösen, sondern nur dasselbe E30 wie R-A0, und ebenso würden alle folgende .ß's, wenn auch noch so gross, E nicht über die Intensität von E.A 0 hinaus steigern können. jRx l ist die Reizschwelle, R:)Q die Reizhöhe.

Hierbei haben wir noch vollständig offen gelassen, wie die Empfindungsintensitäten zwischen Ri(l und R.i0 anwachsen, ob proportional dem Wachsen der JB's oder in anderem Verhältniss. Schon ein sehr einfacher Versuch lehrt uns hier, dass die Em- pfindung nicht gleichmässig mit dem Reiz wächst. Wir wollen zusammen ein Licht betrachten, das wir durch langsame gleich- massige Annäherung heller werden lassen. Bei genauer Selbst- beobachtung wird Ihnen auffallen, wie anfangs die Intensität des Lichts sehr rasch zuzunehmen scheint, während sie später schein- bar, d. h. in unserer Empfindung nur sehr langsam wächst. In der graphischen Darstellung werden daher die Empfindungsinten- sitäten eine Curve darstellen , welche sich im Punkte der Reiz- schwelle zunächst rasch und steil über die Abscissenachse erhebt, dann aber immer langsamer ansteigt und schliesslich in dem der Reizhöhe entsprechenden Punkte flach in eine gerade, der Ab- scissenachse parallele Linie ausläuft.

3*

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Sie werden begreifen, wie ausserordentlich zweckmässig diese drei wesentlichen Eigentümlichkeiten unseres Empfindungslebens für uns sind, nämlich das Vorhandensein einer Reizschwelle, das Vorhandensein einer Reizhöhe und endlich dies anfänglich rasche und später langsame Wachsen der Empfindungsintensitäten zwischen Reizschwelle und Reizhöhe. Diese Eigentümlichkeiten haben sich ausgebildet, eben weil sie im Kampf ums Dasein zweckmässig sind ; die natürliche Auswahl gilt für psycho- physio- logische Eigenschaften ganz ebenso wie für rein-physiologische. Durch das Vorhandensein einer Reizschwelle werden wir vor einer Ueberfülle kleiner Reize bewahrt, die unser Bewusstsein eben durch ihre übergrosse Zahl überfluthen und eine Verarbeitung der wichtigeren grösseren Reize hindern würde. Das Vorhanden- sein einer Reizhöhe blendet das Zuviel der überstarken Reize ab und sichert die mittleren Reize und die aus ihnen hervorgegangenen Empfindungen vor Verdunkelung und Uebersehen. Sowohl eine zerstreuende Obmacht und Vielherrschaft vieler kleiner Reize über unser Bewusstsein, wie das einseitige Dominieren eines oder einiger weniger übergrosser Reize wird durch die Einengung des Empfindungslebens zwischen Reizschwelle und Reizhöhe ver- mieden. Aber auch die dritte Eigenthümlichkeit unserer Em- pfindungscurve, ihr anfangs rasches und später langsames Ansteigen ist im Allgemeinen zweckmässig. Denn sie hat zur Folge, dass unsere Empfindung für kleine Reize, die eben ausreichen, um Empfindungen hervorzurufen, ausserordentlich scharf ist, ja die- selben leicht überschätzt, mittlere Reize, da hier die Curve einer geraden Linie sich nähert, objectiv sehr richtig taxiert und erst für der Reizhöhe sich nähernde Reize an Schärfe der Intensitäts- unterscheidung einbüsst.

Vielfach hat man nun versucht, einen genaueren mathe- matischen Ausdruck für das Wachsen der Empfindungsintensität bei wachsendem Reiz zu finden oder, anders gesagt, den Verlauf jener Curve noch genauer zu bestimmen. Zuerst hat Ernst Heinrich Weber Versuche angestellt, welche eine gesetzmässige Beziehung zwischen Reiz und Empfindung herzustellen schienen. Ich strecke meine Hand aus und lasse kleine Gewichtchen, z B. erst i Decimilligr auflegen: ich empfinde gar nichts. Ich lege grössere Gewichte auf bis zu il/s mg und empfinde noch nichts. Diese Reize sind also offenbar zu klein, sie liegen unter der Reiz- schwelle. Erst, wenn ich 2 mg auflege, habe ich eine leise Empfindung. Bei 2 mg liegt also offenbar die Reizschwelle für Druckreize des Handtellers. Weber gab nun folgenden Versuch an : man belaste die Haut mit einem Gewicht von I U., also einem weit über der Reizschwelle gelegenen Gewicht. Füge ich jetzt zu dem einen U. noch 2 mg hinzu, so merke ich nichts, die Empfindung bleibt unverändert. Ich lege mehr und mehr zu, meine Empfindung ändert sich nicht: erst wenn .ich zu dem i U. noch 1/3 U., also ca. 160 g hinzufüge , empfinde ich eine Aenderung, einen Em- pfindungszuwachs. Diesen Reizzuwachs, welcher nothwendig ist, um eine Empfindungsänderung hervorzurufen, wollen wir als absolute Unterschiedsschwelle, die Empfindungsänderung selbst mit dE bezeichnen. Ich empfinde also jetzt erst , wenn zu i iL '/3 tt>- hinzugelegt wird, den Reizzuwachs, während vor-

3/

hin, auf meiner leeren Hand , 2 mg genügten, mich den Reiz- zuwachs empfinden zu lassen. Ich belaste nun meine Hand mit 2 $6. und füge J 3 tt. hinzu. Ich empfinde bei dem Zufügen des 1/3 tt. nichts, und es zeigt sich, dass ich jetzt 2/3 tt. hinzufügen muss, damit überhaupt eine Empfindungsänderung eintritt. Ich nehme 3 tt, und es ergiebt sich, um jetzt eine merkliche Empfin- dungsänderuug hervorzurufen, muss ich 3 3 tt. hinzufügen. Das Zufügen von 3 3 tt. bei vorheriger Belastung mit 3 tt,, das Zu- fügen von '2I .A tt. bei vorheriger Belastung mit 2 tt,, das Zufügen von V 3 tt, bei vorheriger Belastung mit 1 tt, und das Legen von 2 mg auf die vorher unbelastete Hand, alles ruft in gleicher Weise die Empfindung eines Unterschiedes oder , richtiger, eine eben merkliche Empfindungsveränderung dE hervor. Nun erwägen Sie, bitte : waren die Nerven meiner Hand wirklich unbelastet oder ungereizt, als meine Hand leer war, bevor die 2 mg aufgelegt wurden? Gewiss nicht. Haut und Luft, beides lastete schon auf meinen Hautnerven. Der Grund, weshalb beides nicht empfunden wird, ist mit grösster Wahrscheinlichkeit darin zu suchen, dass diese Belastung durch Haut und Luft seit unserer Geburt fort- während bestand, und wir werden später hören, dass wir im All- gemeinen nur Reizänderungen empfinden, lange sich gleichblei- bende Reize hingegen nicht. Dies ist z. B. der Grund, wesshalb wir von unseren Eingeweideorganen trotz ihres Nervenreichthums keine Empfindungen haben. Doch wir halten hier zunächst nur fest, dass dieser constante Reiz noch um fast 2 mg vermehrt werden kann, ohne dass eine Empfindung eintritt. Aber auch weiterhin, lehren unsere Versuche, erregt nicht jede Reizänderung eine Empfindung : vielmehr nur dann, wenn die Reizänderung eine gewisse Grösse erreicht. Für diese Grösse ist nun die absolute Reizänderung ganz gleichgültig, sondern nur die relative maass- gebend. Dies Gesetz bezeichnen wir als das WEBER'sche Ge- setz. Der Reiz musste in obigen Versuchen immer um V3 er- höht werden , damit eine Empfindungsänderung eintritt. Wir sahen, dass bei 2 mg Belastung zuerst eine Empfindungsänderung dE erzeugt wird. Fechner nahm nun, über das WEBER'sche Gesetz hinausgehend, an, genau dieselbe Empfindung dE werde erzeugt , wenn zu 1 tt. V3 tt. oder zu 2 tt. 2/3 tt. gelegt wird, dass also dies dE überall gleich ist, obgleich es sehr verschiede- nen absoluten Reizzuwächsen entspricht. Wir wollen dieser An- nahme Fechner's, des Vaters der Psychophysik, zunächst folgen, obwohl sich später ergeben wird, dass dieselbe einer Correctur bedarf. Danach muss der Reiz immer um ein Drittel zunehmen, also das 4/3-fache seiner ursprünglichen Grösse erreichen, damit dE erzeugt wird. Wenn wir die Zahl '/3, also das Verhältniss des eben merklichen Reizzuwachses zum Anfangsreiz, als relative Unterschiedsschwelle bezeichnen, so sagt das WEBER'sche Gesetz : ,Die relative Unterschiedsschwelle ist constant.« Wir können uns daher, beginnend mit der Reizschwelle 2 mg, eine vollständige Reizscala bilden, in der jeder folgende Reiz das 4/3-fache des vorhergehenden ist und in der die Differenz zweier beliebig auf- einander folgenden Reizglieder stets eine Empfindungsänderung dE, die nach Fechner's Annahme überall gleich ist, erzeugt.

- 38 - Diese Reihe wird also lauten :

DE J)E DE 1)E u' s' '■

Die Reize wachsen also in geometrischer, die Empfindungen in arithmetischer Progression. Jeder beliebige Reiz B wird sich demnach ausdrücken lassen als 2 mal einer Potenz von £. So sei z. B. :

Dann ist die durch Bx erzeugte Empfindung Ex offenbar gleich x . dE und Ey y. dE. Also :

Ex x .dE x Ey== y .dE== y'

Nun kann ich mir x aus obiger Gleichung durch Logarithmierung leicht berechnen. Wenn nämlich :

Bx = 2 . (1)*, so ist: log. Bs = log. 2-\-x\og. 4 log. Bx log. 2

log. f.

log. i^ log. 2

log.

4

Hieraus ergiebt sich

Ex _ log. ik log. 2

JSj,- lOg.-Ey lOg. 2

Beachten Sie nun weiterhin, dass log. 2 (milligr) verschwindend klein ist, also vernachlässigt werden kann , so erhalten Sie kurz :

Ex log. Bx

Ey lüg. By

Es verhalten sich also zwei Empfindungen wie die Logarithmen ihrer Reize, oder die Empfindung ist dem Logarithmus des Reizes proportional. Diesen merkwürdigen Satz hat Fechner2) als psychophysische Fun d amen ta lformel bezeichnet. Er ergiebt sich, wie gesagt, aus dem WEBER'schen Gesetz nur, wenn man die Annahme zulässt, dass dE, d. h. die merkliche Empfindung, überall gleich sei. Wir bezeichnen ihn daher im Gegensatz zum WEBER'schen Gesetz, welches nur die Constanz der relativen Unterschiedsschwelle ausspricht, als Fech- NER'sche Formel. In der That haben Andere die Formel dE =

1) Dass gerade für sehr kleine Reize das WEBER'sche Gresetz nicht genau gilt, wird hier zunächst vernachlässigt.

2) Fechnee, Elemente der Psychophysik und Revision der Haupt- punkte der Psychophysik.

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const. verworfen und statt dessen angenommen : dE prop. E oder

clE

-^r— const., so Plateau und Brentano. Es ergiebt sich als- E

dann keine logarithmische Abhängigkeit, sondern die Formel: E = CRk, wo C und k Constanten bedeuten. Wir werden zunächst vorbehaltlich einer späteren Erörterung die FECHNER'sche Formel festhalten und fragen zunächst: entspricht dieselbe dem, was wir oben von der Empfindungscurve feststellten. Hierauf ist mit Ja zu antworten. Zu den vielen Curven, welche die Eigen- schaft haben, mit wachsender Abscissengrösse erst rasch anzu- steigen, dann immer flacher zu werden und schliesslich in eine Parallele zur Abscissenachse auszulaufen, gehört in der That auch die logarithmische Curve.

Die Versuche, welche dies sogen. WEBER'sche Gesetz selbst oder die FECHNER'sche Formel beweisen sollen, sind seitdem sehr oft wiederholt worden und sind nur zum Theil bestätigend aus- gefallen. Viele fanden es auch mit uns zu wunderbar, dass zwischen dem materiellen Reiz und der psychischen Empfindung ein solch einfaches algebraisches Verhältniss bestehen sollte. Man hat eine Reihe scharfsinniger Methoden erdacht, um dies Ver- hältniss empirisch genau festzustellen. Einzelne derselben werden wir bei Besprechung der einzelnen Sinnesempfindungen kennen lernen. Im Ganzen ergiebt sich aus den zuverlässigsten neueren Untersuchungen, dass das WEBER'sche Gesetz selbst nur inner- halb gewisser Grenzen strenge Gültigkeit hat, für sehr kleine und sehr grosse Reizgrössen hingegen nur annähernde. Ob, selbst die strenge Gültigkeit des WEBER'schen Gesetzes vorausgesetzt, die FECHNER'sche Formel aus ihm mit Nothwendigkeit folgt, be- darf noch einer speziellen Erörterung. Helmholtz u. A. haben die letztere durch compliciertere Formeln zu ersetzen gesucht, um eine grössere Annäherung an die experimentellen Resultate zu erzielen, jedoch ohne Erfolg.

Ein noch lebhafterer Streit hat sich an die interessante Frage geknüpft, was denn dieser Zusammenhang, wie ihn das Weber- sche und FECHNER'sche Gesetz ausdrückt , bedeutet. Es gab Forscher, die eines der grossen Welträthsel mit diesem Gesetz gelöst zu haben glaubten. Zu ihnen gehörte auch derjenige, dem wir die gründlichsten Untersuchungen und Erörterungen auf diesem Gebiete verdanken , der Begründer der Psychophysik Fechner. Derselbe nahm an, dass das Gesetz direct für die Beziehung des Psychischen zum Physischen gelte. Sie entsinnen sich, dass wir den Reiz R zu R? und schliesslich zu Rc werden sahen. Fechner nimmt an, dass die materielle corticale Erregung Rc dem aus- lösenden Reize R selbst proportional bleibt, und erst die in der Hirnrinde zu dem Rc hinzutretende Empfindung E zu Rc und daher auch zu R in jenem eigenthümlichen logarithmischen Ver- hältniss steht. Sie sehen: damit wäre eine Brücke aus dem Physischen in das Psychische geschlagen, es wäre wenigstens der quantitative Zusammenhang beider ermittelt. Leider müssen wir jedoch auf diese kühne Deutung verzichten. Die Annahme, dass R sich in so einfacher Weise verändert, dass R' schliesslich dem R noch proportional ist, ist durchaus willkürlich und unwahr-

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scheinlich. Diese von Fechner selbst gegebene Deutung seines Gesetzes kann man als die psychophysische bezeichnen.

Die physiologische Deutung nimmt umgekehrt an, dass gerade auf der Bahn von der peripheren Sinnesfläche bis zur Centralstation der Reiz in der dem FECHNER'schen Gesetz ent- sprechenden logarithmischen Weise umgebildet wird; R' würde also dem log. von R proportional sein, die Empfindung E aber dem R( selbst proportional. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir noch gar nichts darüber wissen, wie auf dem Wege bis zur Hirnrinde die periphere Erregung verändert wird, wie also diecorticale Erregung mit zunehmendem Reiz wächst. Der Bo- taniker Pfeffer x ) hat zwar durch interessante Versuche nach- gewiesen, dass auf einem ganz anderen Gebiete, wo nur von phy- siologischer Deutung die Rede sein kann, die logarithmische Be- ziehung des WEBER'schen Gesetzes gleichfalls gilt. Bringt man nämlich Farnsamenfäden in Aepfelsäurelösungen, so üben letztere auf erstere eine Anziehung aus, und es zeigt sich, dass die Grösse dieser Reaction dem log. des Reizes, spec. der Concentration der Aepfelsäurelösung proportional ist. Es handelt sich hier um eine, wenn auch entfernte, Analogie zu unseren Beziehungen zwischen Reiz und Empfindung, und Pfeffer hat in der That seine Ver- suche zu Gunsten einer physiologischen Deutung des WEBER'schen Gesetzes in die Wagschale geworfen. Indes empirisches Material zum Beweis für die physiologische Deutung liegt zu wenig vor. Jedenfalls aber bietet sie den Vortheil, ohne neue Hypothese rein naturwissenschaftlich die Thatsache des FECHNER'schen Gesetzes zu erklären. Freilich wird man vom Standpunkt dieser Theorie aus die logarithmische Abhängigkeit nur als angenäherte gelten lassen; denn es ist nicht anzunehmen, dass die so variablen und complicierten Modificationen des Reizes auf seinem langen Wege zur Hirnrinde in allen Fällen und durchaus genau eine so ein- fache Beziehung wie die logarithmische ergeben.

Eine dritte, namentlich von Wundt vertretene Deutung wird als psychologische bezeichnet. Wundt betrachtet das Weber- sche Gesetz nur als den speciellen Fall eines allgemeinen Ge- setzes von der Relativität unserer psychischen Vorgänge über- haupt. Danach besitzt unser Bewusstsein kein absolutes, sondern nur ein relatives Maass für die Intensität der in ihm vorhandenen Zustände. Unsere Apperception misst daher jeden Zustand an einem anderen, und wir constatiren einen bestimmten Unterschied, wenn der Zuwachs einen gewissen constanten Bruchtheil einer vorangehenden oder gleichzeitig wirkenden Empfindung erreicht hat. Diese Deutung führt, wie Sie sehen, ein ganz neues hypo- thetisches Seelenvermögen ein, welches in der WuNDT'schen Psy- chologie eine grosse Rolle spielt, gewissermaassen eine Oberseele, die Apperception, welche die niederen psychischen Vorgänge be- merkt, schätzt, vergleicht und verbindet. Sie werden später aus- führlich hören, dass keinerlei Beweis für die Existenz dieser Apper- ception zu erbringen ist. Die Empfindung ist in einer bestimmten Intensität da, sie braucht nicht erst geschätzt zu werden. Wir

1) Untersuch, a. d. botan. Inst. z. Tübingen. Bd. I, H. 3, 1884.

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verzichten also auf diese willkürliche Annahme und damit auf die psychologische Deutung des WEBER'schen Gesetzes durch Wundt. Wir gehen bei unserer Deutung des WEBER'schen Gesetzes vielmehr von der einfachen Thatsache aus : ein centraler Erregungs- vorgang Rc in der Hirnrinde, welcher von einem Sinnesreiz R stammt, muss, und daher auch R selbst, eine gewisse lebendige Kraft oder Stärke haben, damit ein psychisches Etwas, eine Em- pfindung überhaupt auftaucht. Nun ist unsere Hirnrinde nie völlig tabula rasa, speciell nie ganz ohne von Sinnesreizen her- rührende Erregungen, mit dem ersten Nerven war auch die erste sensorische Erregung da. Ein R( ist also immer da. Das Weber- sche Gesetz sagt nun : Ist noch keine Empfindung vorhanden, so entsteht eine Empfindung nur dann, wenn Rc resp. R eine gewisse Grösse erreicht hat, nämlich die Reizschwelle. Ferner, ist bereits eine Empfindung vorhanden, entsprechend einem über der Reiz- schwelle gelegenen R resp. -R'', so ist, um eine Empfindungsver- änderung zu erzeugen, eine Reizveränderung nöthig, deren absolute Grösse sehr schwankt und zwar immer einen bestimmten Bruchtheil des R ausmacht. Dies gilt jedoch nur für den günstigsten Fall, in welchem die übrigen unser Bewusstsein gerade erfüllenden Em- pfindungen und Vorstellungen auf ein Minimum reduciert sind und nur eine gleichartige Empfindung schon in unserem Be- wusstsein ist. In diesem günstigsten Falle befinden wir uns, wenn wir das WEBER'sche Gesetz in der üblichen Weise prüfen : wir richten dabei unsere ganze Aufmerksamkeit auf die im voraus erwartete Empfindung, d. h. wir haben uns von störenden anderen Vorstellungen möglichst frei gemacht. Erinnern Sie sich : Sie haben Zahnschmerzen: wie oft kann doch ein interessantes Ge- spräch momentan Sie dieselben vergessen machen. Was ist in solch' einem Falle geschehen? Fälschlich sagen wir oft, die Em- pfindung ist uns nicht zum Bewusstsein gekommen. Aber unbe- wusste Empfindungen existieren nicht. Der thatsächliche Sach- verhalt ist der: der Reiz besteht noch fort, aber, obwohl seine Grösse unverändert ist, löst er wegen anderer intensiverer Em- pfindungen und Vorstellungen resp. intensiverer Rc's keine Em- pfindung aus. Hering hat hierfür folgendes Grundgesetz formu- liert: Die Reinheit, Deutlichkeit oder Klarheit irgend einer Em- pfindung oder Vorstellung hängt von dem Verhältniss ab, in welchem das Gewicht derselben d. i. die Grösse des entsprechen- den psychophysischen Processes zum Gesamtgewicht aller gleich- zeitig vorhandenen Empfindungen und Vorstellungen d. i. zur Summe der Grösse aller entsprechenden psychophysischen Pro- cesse steht. Ob also ein Reiz eine Empfindung auslöst und wie stark die ausgelöste Empfindung ist, hängt ab von der Stärke der andern _R''s, die gerade in der Hirnrinde z. Th. lediglich materiell, z. Th. begleitet von Empfindungen und Vorstellungen vorhanden sind 1 ). Das WEBER'sche Gesetz gilt nun für den

J.) Bei Besprechung der Lehre von der Aufmerksamkeit wird darauf zurückzukommen sein, ob die Abnahme der Empfindungsintensität bei Ab- nahme der Reizstärke und die Abnahme der Empfindungsintensität bei Ablenkung der Aufmerksamkeit psychologisch identisch sind.

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speciellen Fall, dass in unserem Bewusstseinsinhalt fast aus- schliesslich eine der neu hinzukommenden Empfindung- gleich- artige vorhanden ist, welche zugleich erheblich grösser ist, als die hinzukommende. Je grösser das schon vorhandene Rc resp. E ist, um so grösser muss das hinzukommende dB'' sein, um ein dE , eine Empfindungsänderung-, auszulösen. Das WEBER'sche Gesetz ist ein associatives Gesetz. Nicht damit eine hypothetische Apperception dE appercipiert, sondern damit ein materielles dB,' überhaupt zu einem dE wird, muss dRc eine gewisse Grösse haben. Was heisst überhaupt zwei i?c's vergleichen? Die beiden 7?c's können entweder in denselben Hirnrindenzellen und dann suc- cessiv auftreten oder in durchaus verschiedenen oder in theilweise verschiedenen, theilweise sich deckenden. Diesen Vorgang der Vergleichung betrachtet man gewöhnlich als einen sehr elemen- taren und häufigen. Genaue Selbstbeobachtung lehrt jedoch das Gegentheil. Meist gehen wir von Empfindung zu Empfindung über, und unsere Empfindungen, die successiven wie die simul- tanen, sind verschieden, ohne dass wir uns dieser Verschiedenheit besonders bewusst werden. In unserem gewöhnlichen Empfin- dungsleben haben wir zu solchem vergleichenden Stehenbleiben keine Zeit. Was geht nun aber vor sich, wenn wir einmal aus irgend einem Grunde wirklich vergleichen? Auch dies Ver- gleichen ist keine angeborene Fähigkeit, kein metaphysisches Vermögen des Menschen, sondern eine mühsam eingeübte Asso- ciation oder Fertigkeit. Als Kinder lernen wir sehr mühsam und langsam die Vorstellung des »Grösser« bilden, und diese Vor- stellung wird wie jedes andere Erinnerungsbild als Sprachvor- stellung in einem bestimmten Rindenbezirk, wie wir zunächst sagen wollen, niedergelegt. Alle unsere intensiven, und exten- siven Empfindungen, wenn sie zu zweien oder mehr auftreten, können bei günstigen Associationsbedingungen auf diese Vor- stellung des »Grösser« einwirken und sie anzuregen versuchen. In unserem kindlichen Hirn wird die Vorstellung des »Grösser« nun speciell so angelegt, dass von zwei ihr zugeleiteten gleichartigen Empfindungen die Vorstellung des »Grösser« jedesmal auf die stärkere Erregung anspricht, d. h. also sich mit der stärkeren Empfindung verbindet. »Diese Empfindung ist grösser« pflegen wir alsdann zu sagen. Sind beide Empfindungen gleich, so heben sich die beiden Empfindungen in ihrer Einwirkung auf die Vor- stellung des Grösser gewissermaassen durch Interferenz auf. Aber auch sehr geringe Grössendifferenzen werden diese Vorstellung nicht so stark anregen, dass die schlummernde Vorstellung des Grösser geweckt wird. Ueberhaupt ist diese Einübung, wie jede andere, eine ungenaue. Neben richtigen Fällen der Vergleichung kommen auch falsche vor. Bei grossen Reizdifferenzen ist we- sentlich der absolute Reizunterschied maassgebend. Hering bemerkt ganz richtig1): Wenn ich ein Gewicht von ioo g in die linke Hand und iooo in die rechte nehme und füge jetzt zu den ioo g noch ioo g und zu den iooo g noch iooo g, so ist trotz der Gleichheit des relativen Reizzuwachses der Empfindungszu-

1) Sitzungsber. d. Wiener Acacl. d. W., 1875, S. 323.

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wachs rechts erheblicher grösser. Nur wenn die Reizdifferenz kleiner ist, ist thatsächlich, wie das WEBER'sche Gesetz angiebt, wesentlich der relative Unterschied maassgebend. Es ist nun sehr wohl möglich, dass, wenn zwei nur sehr wenig verschiedene Rc,s einwirken, unser Gehirn, speciell mit Bezug auf die Vorstellung des Grösser, so eingeübt ist, dass die Erregung dieser Vorstellung der relativen Differenz der Reize entspricht. Wir können uns auch, wie wir oben sahen, zurechtlegen, dass eine derartige Ein- übung zweckmässig war. Jede Schätzung und Vergleichung von Empfindungen ist also schon associative Thätigkeit. Streng ge- nommen dürfen wir daher auch nicht von einer Empfindung des Grösser oder Kleiner, sondern nur von einer Vorstellung des Grösser oder Kleiner sprechen. Gewiss sind die Empfindungen schon an Intensität verschieden, aber erst durch Association er- langen wir eine Vorstellung von dieser Verschiedenheit. Das Kind hat schon verschieden intensive Empfindungen, aber noch keine Vorstellung von ihrer verschiedenen Intensität. Unmittelbar kommt uns letztere gar nicht zum Bewusstsein, erst langsam er- werben wir uns die Fähigkeit des Vergleichens.

So erweist sich also das WEBER'sche Gesetz selbst in der That als in gewissen Grenzen erklärlich. Die Folgerungen, welche Fechner einerseits und Plateau andererseits an diese Thatsache anknüpften, gehen sämtlich von der falschen Voraussetzung aus, dass die intensiven Grössen unserer Empfindungen einer mathe- matischen Behandlung wie materielle Grössen zugänglich seien, dass also auch hier z. B. : E + E=2E sei. Dies ist durchaus unbewiesen. Vielmehr zeigt genaue Selbstbeobachtung, dass dies nicht der Fall ist. Wundt schlug vor1) und Delboeuf und Merkel versuchten es, den Streit über das WEBER'sche Gesetz durch die sog. Methode der mittleren Abstufungen zu entscheiden. Es sollte also z. B. derjenige Reiz ausgewählt werden, dessen Empfindungsintensität gerade die Mitte hält zwischen den Em- pfindungen zweier weit verschiedener Reize, es sollte sein :

-t-j/n

2

Indessen dies Aufsuchen der mittleren Empfindung ist gar nicht möglich, wie man schon an der eigenen Verlegenheit merkt, sobald man den Versuch ausführen will. Erst durch Erfahrung haben wir eine Schätzung erlangt, wo etwa die Mitte zu suchen sei, und auf diese Schätzung wirkt gerade unsere Erfahrung über die Grösse der Reize am meisten ein. Dementsprechend ergaben denn auch Merkel's Versuche, dass der experimentell bestimmte mittlere Reiz meist weder dem arithmetischen Mittel entsprach, wie es die PLATEAtfsche Lehre verlangt, noch dem geometrischen, wie es die FECHNER'sche Lehre verlangt, sondern zwischen beiden lag. Auf psychische Intensitäten ist unsere Mathematik nicht

1) Vor ihm schon J. Plateau, Ueber die Messung psychischer Empfindungen und «las Gesetz, welches die Stärke dieser Empfindungen mit der Stärke der erregenden Ursache verknüpft. (Pogg. Ann., 1873, S. 466.)

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ohne weiteres anwendbar, sowie sie es auf die Intensitäten eines elektrischen Stromes ist.

Ueberblicken wir nun nochmals die Ausbeute unserer Ver- suche und Ueberlegungen, so erhalten wir zwei Hauptgesetze:

i) Die Empfindung wächst erheblich langsamer als der Reiz.

2) Speciell der erforderliche Reizzuwachs, um einen eben merklichen Empfindungszuwachs auszulösen, steht im Allgemeinen in einem annähernd constanten Verhältniss zu der ursprünglichen Reizgrösse.

Einschränkungen der letzteren Regel werden wir im Einzelnen manche kennen lernen. Diese zahlreichen Abweichungen vom WEBER'schen Gesetz beruhen darauf, dass einerseits die Modifi- cation des Reizes auf seinem Weg zur Hirnrinde und in dieser, je nach der Reizgrösse, wahrscheinlich in sehr complicirter Weise variiert, und andererseits auf dem wechselnden Grad associativer Einübung.

VIERTE VORLESUNG. Geschmacks-, Geruchs- und Gefühlsempfindungen.

Wir haben über die Intensität der Empfindungen nament- lich im Verhältniss zum ursächlichen Reiz ausführlich gesprochen. Das zweite Merkmal jeder Empfindung ist ihre Qualität: die Empfindung des Rothen, des Tones C, des Grünen, des Süssen u. s. f. sind sämtlich qualitativ verschieden. Wir wollen diese Qualitäten jetzt im Einzelnen genauer kennen lernen. Hinsicht- lich der Qualität unterscheidet man meist nach dem Organe, welches den Reiz aufnimmt, 5 Hauptgruppen der Empfindungen1): die Geschmacks-, Geruchs-, Gefühls-, Gehörs- und Gesichtsempfin- dungen. Wir werden jedoch bald hören, dass die Empfindungen des Gefühlssinns entschieden eine weitere Eintheilung erheischen, dass also die Hautoberfläche mehrere völlig verschiedene Sinnes- organe birgt und daher auch qualitativ sehr verschiedene Em- pfindungen auslösen kann. Gefühls- und Gehörsempfindungen haben insofern eine nähere Verwandtschaft, als sie durch mecha- nische Reize entstehen, während Geschmacks-, Geruchs- und Ge- sichtsempfindungen aus chemischen Reizen hervorgehen. Anderer- seits haben Gefühls- und Lichtempfindungen gemeinsam, dass sie einer sehr genauen Localisation fähig sind und dadurch in innige Beziehung zu unserer Raumanschauung treten. Wir sehen und fühlen im Raum. Wie ungenau hingegen localisieren wir einen Schall oder Geschmack oder Geruch ! Wir hören, schmecken und riechen meist, ganz ohne zu localisieren, während Gefühl und Gesicht im eminenten Maasse räumliche Sinne sind.

Wir sprechen zunächst von den Geschmacksempfin- dungen. Gesonderte Geschmackswerkzeuge finden wir bei den Echinodermen noch nicht entwickelt, auch bei den Insecten sind sie noch nicht sicher nachgewiesen. Bei einzelnen Coelenteraten, so namentlich bei Actinien, ist hingegen Geschmacksempfindlich- keit nachgewiesen. Bringt man Papierballen, die z. Th. mit aus- gepresstem Fischsaft getränkt sind, z. Th. nicht, mit dem Tentakel- kranz von Adamsia in Berührung, so ergreift die Actinie nur die

1) Helmholtz bezeichnet Qualitätsdifferenzen, die so erheblich sind, dass ein Uebergang zwischen ihnen gar nicht denkbar ist, als Modalitäten.

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mit Fischsaft getränkten Ballen1). Bei den Vertebraten stellen die Geschmackswerkzeuge die sog. Geschmacksknospen dar; sie sind ziemlich unregelmässig über Zunge, Gaumen und Kehldeckel zer- streut und nur m den sog. Papulae circumvallatae und foliatae dichter angesammelt. Nur Flüssigkeiten schmecken, feste Körper und Gase müssen sich erst lösen. In der Gruppe der Geschmacks- qualitäten sind mit Sicherheit nur vier zu unterscheiden: sauer, süss, salzig und bitter. Von Anderen werden ohne zureichenden Grund auch alkalisch und metallisch als besondere Geschmacks- qualitäten angeführt 2 ). Sie werden mir die viel grössere Mannig- faltigkeit des Geschmacks unserer Speisen entgegenhalten, aber mit Unrecht: was wir, abgesehen von jenen 4 Qualitäten, als Ge- schmack bezeichnen, ist Geruch, da im hinteren Theil der Mund- höhle etwas von den Speisen verdampft und von hinten in die Nasenhöhle gelangt, um hier gerochen zu werden. Der Geschmacks- sinn ist also ausserordentlich qualitätenarm. Die unzähligen Säuren der Chemie erregen alle nur eine Geschmacksempfindung, welche nur der Intensität nach wechselt. Ebenso können Lösungen bitterer Substanzen bei Wahl passender Concentrationsgrade nicht von einander unterschieden werden, so z. B. eine ChininlösungS^im Verhältniss 1 : 100 000 nicht von einer Morfiumlösung im Verhältniss 1 : 3000. Die Geschmacksnervenendigungen sind wahrscheinlich nur chemisch reizbar. Die Reizbarkeit durch Druck ist fraglich. Die saure resp. laugenartige Geschmacksempfindung, welche bei Durchleitung eines galvanischen Stromes durch die Zunge auftritt, muss nicht direct auf Reizung der Nervenenden durch den galva- nischen Strom beruhen, sondern könnte auch chemisch entstanden sein, durch die elektrolytischen Zersetzungsproducte, welche der galvanische Strom hervorbringt. Die centralen Endigungen der Geschmacksfasern sind wahrscheinlich im Gyrus hippocampi der Grosshirnrinde zu suchen. Dass alle 4 Geschmacksqualitäten von jeder Nervenfaser in gleichem Maasse aufgenommen und zum Gehirn geleitet werden können, ist nicht wahrscheinlich, da die hinteren Drittel der Zunge vorwiegend das Bittere, die vorderen und seitlichen Theile vorwiegend die anderen Qualitäten zu schmecken vermögen. Auch hat Oehrwall 3) bei isolierter Reizung einzelner Papulae fungiformes gefunden , dass einige Papillen nur auf Säuren reagierten und nicht auf Zucker oder Chinin, und daher specifisch verschiedene Endapparate für die verschiedenen Geschmacksqualitäten angenommen. Wahrschein- lich unterscheidet schon der Neugeborene alle 4 Geschmacks- qualitäten bei genügender Concentration der schmeckenden Lösung ziemlich sicher.

Die Gültigkeit des WEBER'schen Gesetzes für den Geschmacks- sinn versuchte man mehrfach nachzuweisen. Man hat sich hierzu einer Methode bedient, welche zur Prüfung des WEBER'schen Gesetzes vielfach Anwendung gefunden hat. Diese Methode

1) Pollock u. Romanes, Journ. Linn. Soc, Vol. 16. W. Nagel, Zool. Anzeiger, 1892, Sept. Ueber den Geschmacksinn der Mollusken siehe R. Dubois, Comptes rendus, 1890, No. 9.

2) Linne unterschied sogar 10 Geschmacksqualitäten.

3) Skandinav. Arch. f. Physiol., II, 1, 1890.

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wird als Methode der richtiigen und falschen Fälle bezeichnet. Wir werden die Grundzüge derselben später bei Besprechung- der Druckempfindungen kennen lernen. Für die Geschmacksempfin- dungen ergab sich auf diesem Wege eine nur annähernde Gültig- keit des WEBER'schen Gesetzes. Die Reizschwelle liegt für Zucker bei einem Gehalt von i :83, bei Chinin von i : 33000, bei Saccharin 1:200000, bei Strychnin 1:2000000 (Venables). Der Schwellen- werth des galvanischen Stroms, dessen Schliessung eben einen sauren Geschmack hervorruft, ist von L. Hermann als l x 5 ö Milli- Ampere bestimmt worden. Eine Berührungsempfindung soll bei dieser Stromstärke noch nicht auftreten.

Wichtig wird noch stets die Frage für uns sein: wie ändert sich die Empfindung, wenn derselbe Reiz viele neben einander liegende Nervenfasern trifft? Aendert sich ihre Intensität oder Qualität oder was sonst? Für das Sehen und Fühlen ist die Antwort sofort gegeben : die neben einander liegenden Nebenfasern sind im Allgemeinen durchaus identisch ; verbreitet sich der Reiz über eine grössere Zahl von Nervenfasern, so bekommt die Empfindung den räumlichen Charakter einer Fläche. Für den Gehörsinn werden wir erfahren - - existiert eine grössere Zahl völlig iden- tischer Nervenfasern wahrscheinlich gar nicht, sondern fast jede Faser vermittelt eine neue Empfindungsqualität. Bei dem Geschmacks- und Geruchssinn findet weder das eine noch das andere statt. Abgesehen von jenen 4 Geschmacksqualitäten sind die zahllosen Geschmacksfasern alle identisch, und wenn der Reiz sich über eine grössere Zungenfläche ausbreitet, so empfangen wir nicht das Bild einer schmeckenden Fläche, sondern merken lediglich eine Zunahme der Intensität der Geschmacksempfindung. Der Geschmackssinn ist kein Raumsinn wie der Tast- und Ge- sichtssinn: die Empfindung wird mit localer Ausbreitung stärker oder, wie wir auch sagen können, deutlicher, aber sonst ändert sie sich nicht * >. Hiermit hängt zusammen, dass wir Geschmacks- empfindungen sehr schlecht localisieren, wir würden dessen viel- leicht ganz unfähig sein, wenn nicht die Geschmacksempfindungen sich immer mit den von dem schmeckenden Körper ausgelösten Berührungsempfindungen verbinden würden.

Wir gehen zu den Geruchsempfindungen über. Der Geruchssinn scheint sich früher als der Geschmackssinn von der allgemeinen Sinnesoberfläche zu differenzieren. Jedenfalls ist bei den Echinodermen derselbe bereits gut entwickelt: ein geblendeter Seestern wittert eine Krabbe, die ihm zur Nahrung dient, schon von weitem. Wie weit gewisse Apparate an den Fühlern der In- secten als Riechorgane zu betrachten sind, ist zweifelhaft. Für manche Krebse hat May in den äusseren Aesten der Antennulae sichere Geruchsorgane nachgewiesen a). Bei den Vertebraten finden wir die Geruchsorgane in der Regio olfactoria der Nase als sogen. Neuroepithelzellen, welche an der Schleimhautober-

1) Vergl. Camebeb, Xeitschr. f. Biologie, XXI, Tab. 8, S.^580.

2) May, B., Diss. Kiel, 1887. Vergl. auch Dahl, Versuch einer Dar- stellung der psychischen Vorgänge in den Spinnen. Vierteljahrssohr. !'. wiss. Philos., L885. Prouho, Du sens de l'odorat chez les 6toües de mer. < lomptea rendus. Bd. MI.

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fläche in ein Härchenbüschel übergehen. Exner spricht allen Epithelzellen der Regio olfactoria Zusammenhang mit dem N. ol- factorius zu ; in der That hat W. Krause auch an den gewöhn- lichen Epithelzellen sehr feine Haarbüschel gefunden. Auch Lustig bestätigt diese Angaben Exner's.

Die Zahl der Geruchsqualitäten ist ausserordentlich /gross. Wie die Geschmacksempfindungen verbinden sich die Geruchs- empfindungen gern mit diesen und Gefühlsempfindungen : (viele einfache Geruchsqualitäten sind scheinbar aus dem Zusammen- wirken von Gefühls-, Geschmacks- und Geruchsreizen entstanden. Die verschiedenen Geruchsqualitäten zu classificieren oder in eine bestimmte Reihe zu ordnen, wie dies bei den höheren Sinnen des Hörens und Sehens leicht möglich ist, ist hier nicht möglich. Die Reizung der Geruchsnervenendigungen ist jeden- falls eine chemische, und zwar riechen nur Gase; feste Körper und Flüssigkeiten müssen erst verdampfen, um auf die Geruchs- nervenendigungen zu wirken. Ob mechanische Reize wirksam sein können, ist fraglich. Galvanische Reize1) fand man neuer- dings wirksam : man füllte die Nase mit Kochsalzlösung und führte die eine Elektrode in die Nase und setzte die andere auf die Stirn ; alsdann traten bei vielen Personen Geruchsempfindungen auf. Elektrolytische Wirkungen sind jedoch auch hier nicht ausge- schlossen. Die centralen Endigungen der Geruchsfasern sind wahrscheinlich gleichfalls im Gyrus hippocampi des Schläfen - lappens zu suchen 2). Bei den Thieren ist wohl auch der Gyrus marginalis sowie der oft zu einem eigenen Hirnlappen entwickelte Bulbus olfactorius als Rindenfeld der Riechfasern zu bezeichnen.

Ob das WEBER'sche Gesetz für Geruchsempfindungen gültig ist, hat man experimentell noch nicht festzustellen versucht. Die Reizschwelle liegt für viele Stoffe ausserordentlich niedrig; so reicht A6uui0uu» mS Mercaptan aus, um eine Geruchsempfindung zu erzeugen3). Die Localisation unserer Geruchsempfindungen ist fast noch ungenauer als die der Geschmacksempfindungen, indem die Unterstützung durch begleitende Gefühlsempfindungen wegfällt. Die Erfahrung hat uns gelehrt, die Ursache einer Ge- schmacksempfindung in unserer Mundhöhle, die Ursache einer Geruchsempfindung in der in unsere Nase eingedrungenen Luft zu suchen. Zu einer weiteren Localisation kommt es nicht. Alle Geruchsnervenfasern sind wahrscheinlich identisch, jede kann jeden Geruch vermitteln; aber die Empfindungen der benach- barten Nerven ordnen sich nicht zu einer Raumfläche zusammen.

Erheblich länger müssen uns die sog. Gefühlsempfin- dungen der Haut und der Schleimhäute beschäftigen. Die Sensibilität der Haut ist derjenige Sinn, der zuerst auftritt und aus dem sich wahrscheinlich alle anderen Sinne durch zu- nehmende Differenzierung und Anpassung entwickelt haben. Sen- sibilität besteht, soweit thierisches Leben besteht, lange bevor ein nachweisbares gesondertes Nervensystem sich entwickelt hat. Die

1) Aeonsohn, Centralblatt f. d. med. Wiss., 1888.

2) Vergl. Brain, 1889, Oct. , u. Zuckerkandl , Ueber d. Riech- centrum, Stuttgart, 1887.

3) Fischer u. Penzoi/d, Liebig's Annal., Bd. 231.

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Monere, die bei Berührung ihre Form verändert, besitzt in diesem Sinne schon Sensibilität. Die anatomischen Apparate zur Auf- nahme des Reizes sind die sog. Tastkörperchen und Kolben- körperchen, welche ihrerseits in den mannigfaltigsten Formen auftreten ; daneben kommen freie Endigungen der sensiblen Nerven in den Geweben vor. Vorzugsweise mechanische, elektrische und calorische Reize wirken auf den sensiblen Apparat der Haut. Als mechanischer Reiz wirkt vor allem der Stoss ; auch die leiseste Berührung ist ein Stoss. Anscheinend ist aber auch der gleich- massige statische Druck wirksam, doch ist ein solcher viel seltner vorhanden, als man zunächst annehmen möchte. Wenn Sie ein Gewicht auf Ihrer Hand liegen haben, so möchte man glauben, dass jeder Stoss ausgeschlossen sei, und doch ist dem nicht so : Ihre Hand liegt nicht ruhig; unwillkürliche Bewegungen der- selben und die Pulsation des Blutes stossen fortwährend die Haut- oberfläche Ihrer Hand wider das auf ihr ruhende Gewicht. Wir werden also die Druckempfindungen von den Berührungs- oder Stossempfindungen nicht trennen dürfen. Als calorischer Reiz wirkt nicht Kälte oder Wärme an sich, sondern nur Erwärmung oder Erkältung der Haut über ihren sog. physiologischen Null- punkt. Die Zahl der Empfindungsqualitäten der Hautsensibilität ist eine ziemlich beschränkte: wir kennen nur die Wärmeempfin- dung, die Kälteempfindung und die Berührungsempfindung als sicher verschiedene Empfindungsqualitäten des Gefühlssinns ; erst die Verschiedenheit der localen Ausbreitung und die Ver- schiedenheit der Intensität sowie die Verschiedenheit der Dauer dieser Empfindungsqualitäten bedingen wahrscheinlich die feinen Nuancen der Berührungsempfindung, welche wir als : glatt, rauh, schlüpfrig , sammetartig etc. bezeichnen. Doch kommt auch in Betracht, dass Berührungsempfindungen unter einander oder Be- rührungsempfindungen mit Wärmeempfindungen etc. zusammen nach häufigem gemeinschaftlichen Auftreten zu einer Empfin- dungsqualität für das Individuum verschmelzen können.

Dass jede Nervenfaser alle Empfindungsqualitäten, also Berüh- rung resp. Druck, Wärme und Kälte empfinden, resp. im gleichen Maass dem Hirn vermitteln könne, ist seit den Unsersuchungen von Magnus Blix x) sehr zweifelhaft geworden. Letzterer hat vielmehr gezeigt, dass an der einen Hautstelle nur Kälte, an einer anderen nur Wärme, an einer dritten nur Berührung empfunden wird. Sie können sich hiervon selbst überzeugen, wenn Sie eine kalte Stahlspitze bald hier, bald dort auf den Unterarm aufsetzen ; Sie werden dann leicht Hautbezirke von der Ausdehnung eines Quadratcentimeters finden, auf welchen keine Kälteempfindung von der Stahlspitze ausgelöst wird, während Wärmeempfindung oder Berührungsempfindung bei Application entsprechender Reize sofort eintritt. Umgekehrt werden Sie dicht neben der unter- suchten Stelle Punkte finden, die für Kälte intensiv empfindlich sind, hingegen keine Wärme oder Berührungsempfindung erwecken lassen. Es giebt also getrennte Wärme-, Kälte- und Berührungs- punkte ; jede Nervenfaser vermittelt nur eine Empfindung. Jeder

1) Magnus Blix, Exper. Beitr. z. Lösung der Frage über die spec. Energie d. Hautnerven. Ztschr. f. Biologie, 20 u. 21.

Ziehen, Physiologische Psychologie, i. Auii. 4

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Nervenfaserendigung- entspricht ein Wärme-, Kälte- oder Druck- punkt. Stärkere Druckreize lösen allerdings auch ausserhalbTder Druckpunkte leichte Empfindungen aus ; aber wir dürfen hier wohl eine Fortpflanzung des mechanischen Reizes bis izu den nächstbenachbarten Druckpunkten annehmen. Goldscheider x), dem wir gute Untersuchungen auf diesem Gebiet verdanken, nimmt zwischen den Druckpunkten noch einen diffusen 'jallge- meinen Gefühlssinn an, wie mir scheint, ohne Grund. Der elektrische Reiz , speciell der faradische , wirkt auf alle Nerven- punkte, löst jedoch an den Kältepunkten nur Kälteempfindung, an den Wärmepunkten nur Wärmeempfindung, an anderen Punkten nur Berührungsempfindung aus. Nach Goldscheider löst auch ein starker mechanischer Reiz an den Temperaturpunkten das entsprechende Temperaturgefühl aus. Bemerkt muss auch werden, dass über das eigentlich wirksame Moment bei bem calorischen Reiz noch viel Zweifel herrscht: E. H. Weber hält den Act des Steigens oder Sinkens der Hauttemperatur, Vierordt die Rich- tung des die Haut durchfliessenden Wärmestroms, Hering die absolute Abweichung der Eigentemperatur des cutanen Nerven- apparats von einer physiologischen Nullpunktstemperatur, bei welcher weder warm noch kalt empfunden wird, für maassgebend. Wo die centralen Endigungen der sensiblen Fasern zu suchen sind, steht noch nicht fest. Bald hat man die Rinde des Gyr. fornicatus als sensibles Rindencentrum bezeichnet, bald behauptet, das Rindencentrum der Sensibilität decke sich mit der sog. moto- rischen Region , aus welcher die Bahn für die Leitung der will- kürlichen motorischen Impulse entspringt.

Doch nicht allein die Hautoberfläche enthält sensible Nerven- endigungen, sondern wir finden auch solche zerstreut in allen Organen des menschlichen Körpers. Diese sog. Organempfin- dungen zeichnen sich durch ihre grosse Unbestimmtheit und ihre geringe Intensität unter normalen Verhältnissen aus. Nur eine Gruppe der tiefer gelegenen sensiblen Nerven beansprucht noch eine besondere Bedeutung : es sind dies die in den Synovialfalten der Gelenke, den Bändern, Sehnen und Muskeln nachgewiesenen sensiblen Nervenendigungen. Mittelst der sensiblen Sehnen- und Muskelnerven z. B. nehmen wir den Zustand unserer Muskeln wahr : ihre Contraction und ihre Spannung. Die sensiblen Ge- lenknerven führen uns eigenartige Empfindungen zu, welche auf- treten, wenn die Gelenkenden aufeinander gedrückt werden oder bei einer Bewegung die Gelenkfiächen übereinander hinweggleiten. Isoliert haben diese Empfindungen geringe Bedeutung, aber com- biniert bilden sie die zusammengesetzten Empfindungen, welche uns über die Lage unserer Glieder unterrichten und welche wir als »Lageempfindungen« bezeichnen können. Schliessen Sie Ihre Augen und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit z. B. auf die Lage Ihrer rechten geballten Hand, dann werden Gelenknerven Sie davon unterrichten, wie weit die Gelenkflächen sich berühren, Sehnennerven, dass die Strecker der Finger gedehnt, die Beuger contrahiert und verkürzt sind. Auch Berührungsempfindungen

1) Archiv für Physiolog., 1885. Vergl. namentlich auch Dessoir, Ueber den Hautsinn. Archiv f. Physiol., 1892.

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der Haut unterstützen und betheiligen sich an dem Zustande- kommen solcher Lageempfindungen ganz wesentlich, indem im vorliegenden Falle z. ß. sensible Hautnerven Sie davon unter- richten, dass die Fingerbeeren Ihre Hohlhand berühren. Stellen Sie sich nun eine continuierliche Reihe von Lageemplindungen vor, die allmählich in einander übergehen. Die geballte Hand soll sich also mehr und mehr öffnen, so unterrichten die successiv hierbei sich einstellenden Lageemplindungen Sie über die Be- wegung Ihrer Hand: es entstehen Bewegungsempfindungen. Wir unterscheiden passive und active Bewegungsempfindungen, je nachdem ein anderer unsere Finger bewegt oder wir selbst sie bewegen. Neuere Untersuchungen von Goldscheider haben es übrigens wahrscheinlich gemacht , dass die Empfindung der passiven Bewegung weniger auf successiven statischen Lage- empfindungen beruht, sondern dass wir direct von der Bewegung selbst Stoss- resp. Reibeempfindungen in den Gelenken haben. Danach wäre für die passive Bewegungsempfindung fast aus- schliesslich die Gelenksensibilität von Belang, während an der activen Bewegungsempfindung auch Lageempfindungen einen grösseren Antheil nehmen. Ein weiterer Unterschied entsteht für unsere Selbstwahrnehmung, wenn wir von der Berührungs- empfindung der fremden Haut bei passiven Bewegungen absehen, dadurch, dass der activen Bewegungsempfindung in unserem Ge- dankengang Vorstellungen vorausgehen , welche die active Be- wegung veranlassen , während bei der passiven Bewegungs- empfindung solche Vorstellungen nicht vorausgehen. Besondere >Innervationsempfindungen« , welche uns bei einer activen Be- wegung über das Maass der aufgewendeten Innervation unter- richten, anzunehmen, liegt zunächst kein Grund vor1). Die Fähigkeit zu Lage- und Bewegungsempfindungen hat man unter dem Namen »Muskelsinn« zusammengefasst. Besonders glück- lich gewählt ist derselbe nicht, da die Muskelsensibilität die ge- ringste Rolle bei dem Zustandekommen jener Empfindungen spielt. Die Verbindung der Bewegungsempfindungen mit Berührungs- empfindungen von Gegenständen hat noch eine besondere Wich- tigkeit : indem wir unsere Hand an den Flächen eines Gegen- standes entlang bewegen, unterrichten wir uns über seine Form. Diese Succession von vereinigten Berührungs- und Bewegungs- empfindungen wird als Tastempfindung bezeichnet. Die Zahl solcher zusammengesetzter Empfindungen ist ausserordentlich gross ; ich erinnere Sie an die eigenthümlichen Empfindungs- complexe, welche beim Heben von Gewichten oder beim Stossen auf einen Widerstand auftreten. An Wichtigkeit stehen jedoch die geschilderten vier obenan :

i. Lageempfindungen,

2. Empfindungen activer Bewegungen,

1) Namentlich die sinnlich lebhaften Empfindungen, welche Gelähmte in den gelähmten Körpertheilen, wenn sie dieselben zu bewegen ver- suchen, noch zu haben behaupten, gaben Anlass, die Existenz eigener Innervationsempfindungen anzunehmen; wir werden später auf dies.' Fra£T> zurückzukommen haben.

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3. Empfindungen passiver Bewegungen,

4. Tastempfindungen.

Was speciell die centralen Endigungen der Bahnen der Sehnen-, Muskel- und Gelenksensibilität anlangt, so darf man nach neueren pathologischen Erfahrungen vermuthungsweise an die Rinde des oberen Scheitelläppchens denken.

Die in dem WEBER'schen Gesetz ausgesprochene Thatsache ist gerade für die Hautsensibilität zuerst von E. H. Weber ge- funden worden. Seitdem sind diese Untersuchungen oft wieder- holt worden. Für die gewöhnliche Berührungs- oder Druck- empfindlichkeit zeigt sich die Reizschwelle in den einzelnen Hautregionen sehr verschieden : an der Stirn wird schon der Druck eines Gewichtes von 0,002 g, am Bauch erst der eines Gewichtes von 0,005 g empfunden. Dabei zeigen sich weitere Verschiedenheiten, je nachdem dasselbe Gewicht eine grössere oder kleinere Fläche der Haut berührt. Die Unterschiedsempfind- lichkeit für Druckreize ist nach E. H. Weber von Biedermann und Löwit, Dohrn und Merkel 1) untersucht worden. Der eben merkliche Unterschied betrug nach den Untersuchungen Merkel's z. B. bei einer vorherigen Belastung von :

1 g 0,32 g

5 » 096

10 1,40

20 2,04

100 7,4

500 38,9

1000 81

4000 156 g

d. h. also , wenn auf einen Finger meiner Hand , die auf einer Unterlage ruht, ein Gewicht von 4000 g drückt2), so müssen volle 156 g hinzugefügt werden, damit der Unterschied der Be- lastung überhaupt gemerkt wird. Wir wollen nun diese Zahlen genauer prüfen und sehen, ob sie mit dem WEBER'schen Gesetz übereinstimmen. Dieses besagt : nicht die absoluten, sondern die relativen Reizunterschiede sind maassgebend, d. h. der Reizzuwachs, der erforderlich ist, um einen Empfindungsunterschied zu bewirken, ist immer derselbe Bruchtheil des ursprünglichen Reizes. Heisst

dv der ursprüngliche Reiz r, der Reizzuwachs dr, so ist constant,

einerlei, wie gross r ist. Wir wollen diesen Bruch für die obigen Zahlen bilden :

0,32 0,96 1,40 2,04 7,4

38,9

81

156

1 = 0,32

5 = 0,19

10 = 0,14

20 = 0,10

100 = 0,07

500 = 0,08

1000 = 0,08

4000 = 0,04.

1) Philosoph. Stud., V, S. 2.

2) Die Berührungsfläche betrug speciell bei dieser Versuchsreihe

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Sie ersehen hieraus, dass nur, wenn die Anfangsgewichte zwischen ioo und iooo g liegen, der erwähnte Bruch annähernd constant bleibt. Nur innerhalb dieser Grenzen muss der Reiz- zuwachs stets einen und denselben bestimmten Theil des Anfangs- reizes ausmachen, um merklich zu werden. Also nur für mittlere Reizgrössen gilt das WEBER'sche Gesetz, für sehr kleine Reiz- grössen ist unsere relative Unterschiedsempfindlichkeit kleiner, für sehr grosse grösser, als das WEBER'sche es verlangt. Dies ist die sog. »untere und obere Abweichung« des WEBER'schen Gesetzes. Die relative Unterschiedsempfindlichkeit wächst also mit der Grösse des Reizes.

Erheblich grösser erweist sich unsere Unterschiedsempfind- lichkeit, wenn die Gewichte nicht auf unsere ruhende Hand auf- gelegt werden, sondern wir zugleich hebende Bewegungen aus- führen. Freilich ist in letzterem Falle der Empfindungsvorgang viel complicierter: es gesellen sich zu den Druckempfindungen Lage- und Bewegungsempfindungen hinzu; auch kommt uns zu Hilfe, dass wir die Wirkung desselben Reizes auf unser Empfin- dungsvermögen in verschiedenen Lagen vergleichen können. Fechner hat zur Untersuchung der Unterschiedsempfindlichkeit für das Heben von Gewichten eine besondere Methode ange- wandt, welche man als die Methode der richtigen und falschen Fälle bezeichnet. Das Wesen derselben kann ich Ihnen an fol- gendem Beispiel klar machen : Ich habe die Augen geschlossen, und ein Freund legt mir zuerst ein Gewicht von 300 g und dann ein Gewicht von 312 g auf die Hand. Ich habe nun anzugeben, welches Gewicht das grössere ist. Das Zusatzgewicht von 12 g auf 300 g ist so klein, dass der Unterschied nicht stets mit Sicher- heit empfunden wird. Immerhin geben wir öfter den Unterschied richtig zu Gunsten des zweiten Gewichts als falsch zu Gunsten des ersten an, zuweilen werden wir auch unentschieden bleiben. So fand z. B. Fechner, dass im obigen Fall unter 100 Ver- suchen, bei welchen selbstverständlich bald das grössere, bald das kleinere Gewicht zuerst auf die Hand gelegt wurde, die Ant- wort 60 Mal richtig ausfiel. Die Zahl der richtigen Fälle betrug also 60 Proc. Nun wird eine zweite Versuchsserie mit einem Anfangsgewicht von 600 g angestellt ; das Zusatzgewicht bleibt zunächst 12 g. Es stellt sich dann bald heraus, dass die Zahl der falschen Schätzungen stark zunimmt: die Zahl der richtigen Fälle beträgt vielleicht nur 40 Proc. Ich nehme nun das Zusatz- gewicht grösser, vergleiche also z. B. in einer neuen Versuchs- reihe 600 g und 620 g : es zeigt sich, dass die Zahl der richtigen Fälle erheblich wächst, aber die alte Ziffer von 60 Proc. wird noch nicht erreicht. Ich muss das Zusatzgewicht bis auf etwa 24 g steigern, wenn das Anfangsgewicht 600 g betrug, wenn ich wiederum 60 Proc. richtiger Fälle erhalten will, wie bei den Ver- suchen mit 300 und 12 g. Also auch wenn die Zusatzgewichte untermerklich sind, hat doch ihre Grösse einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Empfindungsschätzung, und zwar ist der absolute Unterschied, wie wir eben sahen, nicht

stets 1 qmm. Bei grösserer Berührungsfläche ist die Unterschiedsempfind- lichkeit geringer.

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maassgebend. Maassgebend ist der relative Unterschied. Wird das Anfangsgewicht r doppelt so gross, so muss auch das Zusatz- gewicht dr doppelt so gross werden, damit die Wahrscheinlich- keit einer richtigen Auffassung des Unterschieds gleich gross bleibt. Dies steht nun ganz im Einklang mit dem Geist des WEBER'schen Gesetzes: ein Unterschied zweier Reize wird gleich gross geschätzt und mit gleicher Wahrscheinlichkeit richtig be- urtheilt, wenn das Verhältniss der Reize unverändert bleibt. Dies ist das Wesentliche der interessanten FECHNER'schen Me- thode: in der praktischen Durchführung und in der Verwerthung der Zahlen ergeben sich freilich noch manche Schwierigkeiten und Zweifel, welche das Verfahren sehr complicieren *). Im günstigsten Falle wird noch ein Unterschied von Iji0 erkannt. Auch hier hat sich das WEBER'sche Gesetz nur innerhalb ge- wisser Reizbreiten bewahrheitet.

Auch für die isolierte Empfindung der passiven Bewegung hat Goldscheider neuerdings wenigstens die Schwellenwerthe bestimmt. Es zeigte sich z. B., dass im Schultergelenk erst eine Excursion von 0,22 ° bis 0,42° merklich empfunden wurde. Auch konnte er ein Minimum der Geschwindigkeit feststellen, welches nothwendig vorhanden sein musste, damit eine passive Bewegungs- empfindung entstand. Dieser Schwellenwerth der Geschwindigkeit betrug für das Schultergelenk 0,3—0,35° in der Zeiteinheit. Es ist begreiflich, dass hier auch ein Schwellenwerth der Geschwin- digkeit auftaucht: denn die Empfindung der passiven Bewegung wird nicht durch statische Druckempfindungen, sondern nament- lich durch leichte dynamische Stossempfindungen innerhalb der Gelenke ausgelöst, und bei Stosswirkungen ist natürlich die Ge- schwindigkeit ein wesentlicher Factor des Reizes.

Der Schwellenwerth der Excursion für die Empfindung der activen Bewegung ergab sich bemerkenswerther Weise nur wenig kleiner als jener für die passive Bewegungsempfindung.

Endlich bleiben die Kälte- und Wärmeempfindungen übrig. Für beide ist noch nicht mit Sicherheit festgestellt, wie weit das WEBER'sche Gesetz hier gilt. Die Unterschiedsschwelle scheint unter den günstigsten Umständen 0,2° C zu betragen. Vielleicht2) liegt der Schwellenwerth für die Wärmeempfindung etwas höher als für die Kälteempfindung. Erschwert werden die Versuche durch die wechselnde Eigenwärme der Haut, welcher auch der physiologische Nullpunkt der Haut sich in gewissem Maasse an- zupassen scheint3).

Hier möchte ich Sie noch auf die Thatsache aufmerksam machen, dass gewisse Empfindungen verwechselt werden können. Wenn Sie die Nackenhaut bald mit einem Pinsel leicht berühren, bald durch ein in der Nähe angezündetes Streichhölzchen er- wärmen, so werden Sie zuweilen nicht unterscheiden, ob Wärme oder Berührung auf Ihre Haut wirkt. Die Qualität sehr schwacher

1) Ausser Fechneb (Elemente der Psychophysik u. Revision einiger Hauptpunkte der Psychophysik) vergl. namentlich G. E. Müllek, Zur Grundlegung der Psychophysik.

2) Nach Goldscheideb gegen Eulenbubg.

3) Heeing, Sitzungsber. d. Wiener Ak., LXXV, III. Abth.

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Empfindungen ist eben oft sehr undeutlich und nicht ausge- sprochen genug, um die mit der ausgesprochenen Empfindung associierten Vorstellungen und Wortbegriffe auszulösen. Inter- essant ist auch, dass kalte Gewichte schwerer erscheinen als gleich- grosse warme.

Wir erheben nun wieder die Frage: wie sind die Druck- empfindungen etc. verschieden, je nachdem diese oder jene oder viele Nervenfasern von demselben Reiz betroffen worden sind? Für die Kälte- und Wärmeempfindungen lautet die Antwort z. Th. ähnlich, wie für die Geschmacksempfindungen : trifft derselbe ca- lorische Reiz eine grössere Zahl von Nervenendigungen, breitet also der Reiz sich über eine grössere Hautfläche aus, so ändert sich weder die Qualität der Empfindung, noch nimmt dieselbe einen in erheblicherem Grade ausgesprochenen räumlichen, d. i. flächenhaften Charakter an1), sondern die Intensität der Wärme- resp. Kälteempfindung nimmt zu. Anders bei den Druckempfin- dungen. Lassen Sie zunächst denselben Druckreiz erst auf eine Stelle der Oberschenkelhaut und dann auf eine gleichgrosse Stelle der Wangenhaut wirken, so werden Sie bei genügender Aufmerksamkeit, ganz abgesehen von der Verschiedenheit der Localisation , auch eine leichte qualitative Differenz trotz der Gleichheit des äusseren Reizes bemerken. Es ist kaum anzu- nehmen, dass die den Reiz aufnehmenden Nervenfasern wesentlich verschieden sind in Bauchhaut und Stirnhaut, aber der äussere Reiz trifft ja die Nervenenden nicht direct, er wird mannigfach modificiert durch die Beschaffenheit der Epidermis mit ihren Härchen, welche sich zwischen die Nervenendigung und den einwirkenden Reiz schiebt. Derselbe äussere Reiz wird also auf seinem Wege zu den Nervenendigungen je nach der Hautgegend modificiert und daher überall etwas verschieden ausfallen. Da- durch, sowie durch die sich auf grössere Strecken ändernde Beschaffenheit der den Reiz aufnehmenden Nervenendigungen er- hält die Druckempfindung ihre sog. locale Färbung. Ich will Ihnen eines der auffälligsten gröberen Beispiele nennen. Berühren Sie die Haut auf Ihrer Wange, so hat die Druckempfindung eine ganz eigenthümliche Färbung, welche namentlich durch das Fehlen einer Unterlage, die Schlaffheit der Haut, das Einstrahlen von Muskelfasern in dieselbe etc. bedingt ist. Hierdurch unterscheidet sich die Druckempfindung der Wangenhaut qualitativ von ähn- lichen Druckempfindungen anderer Regionen. Nach dem Vor- gang Lotze's bezeichnet man diese localen Färbungen der Druck- empfindungen auch als „Localzeichen". In der That können diese Localzeichen uns das Localisieren unserer Druckempfin- dungen erheblich erleichtern. Trifft also derselbe Druckreiz ver- schiedene Nervenfasern, so ergiebt sich zunächst eine, wenn auch geringe, qualitative Differenz. Aber auch ganz abgesehen von den durch letztere gegebenen Localzeichen vermögen wir eine beliebige Berührung sofort mit ziemlicher Sicherheit zu localisieren. Wir begehen dabei freilich einen sog. Localisationsfehler, welcher für jede Hautregion einen constanten Werth hat. Für den Unter-

1) Guljjs« iheeidbb hat übrigens auch für den Temperatursinn die Localisationsfähigkeit untersucht und bestimmt. Arch. f. Physiol.. 1885,

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Schenkel und die Zehen ist derselbe z. B. sehr gross; ich habe nicht selten auch nervengesunde, aber in der Selbstbeobachtung ungeübte Individuen die 2. und 3. oder 3. und 4. Zehe hinsichtlich der Localisation verwechseln sehen. Woher stammt nun dieses Localisationsvermögen? Woher wissen wir, obwohl genau der- selbe Reiz auf unseren Fuss und unseren Unterschenkel wirkt und obwohl derselbe qualitativ nur wenig verschiedene Empfin- dungen hervorruft, sofort, dass im ersten Fall der Fuss, im zweiten der Unterschenkel berührt wird? Die Empfindung selbst liefert uns diese Localisation nicht, sie trägt nur durch ihr Localzeichen etwas zu ihr bei. Vielmehr ist diese Localisation bereits eine Leistung der Association. Die Berührungsempfindung des Fusses ist, in später genauer zu erörternder Weise, associativ verknüpft mit zahllosen Erinnerungsbildern unseres Fusses, namentlich Ge- sichts- und Bewegungs- und Sprachvorstellungen. Wird unser Fuss berührt, so werden blitzschnell diese Erinnerungen geweckt: die Form des Fusses, Fussbewegungen und das Wort Fuss fallen uns ein, und diese Erinnerungsbilder leiten auch meine Hand, wenn ich z. B. aufgefordert werde, die berührte Stelle am Fuss zu zeigen. Speciell die Zeigbewegung der berührten Stelle ist z. Th. durch Uebung mit der Berührungsempfindung für jede Hautregion eng verknüpft. Unsere gewöhnliche Localisation der Druckempfindungen besteht gar nicht in der Projection in einen abstracten Raum, sondern in der Verbindung mit bestimmten optischen, motorischen und sprachlichen Vorstellungen. So wird auch am leichtesten verständlich, dass im Allgemeinen die Sicher- heit der Localisation mit der Stärke des Reizes zunimmt ; ferner verstehen wir nur so die sog. excentrische Projection : man versteht unter letzterer die Thatsache, dass, wenn ein Reiz nicht auf die Nervenendigungen wirkt, sondern auf den Nervenstamm, die ausgelöste Empfindung regelmässig in die peripheren Aus- breitungen des Nerven verlegt wird. So können bekanntlich Amputierte sogar noch Schmerzen etc. in ihrem amputierten Fuss empfinden. Hier hat die alteingeübte associative Verbindung noch nicht die genügende, durch die Amputation erforderlich gewordene Correctur erfahren. Bei der Lehre von der sogen. Rauman- schauung wird hierauf zurückzukommen sein.

Hiermit ist der erste Theil unserer Frage erledigt: wie sind die Druckempfindungen verschieden, je nachdem derselbe Reiz einmal diese und dann jene Nervenendigung trifft? Es bleibt der zweite Theil der Frage zu beantworten: derselbe Reiz treffe zu- gleich viele neben einander gelegene Nervenendigungen, er wirke also auf eine grössere Hautfläche. Welches ist die Summe der hierbei ausgelösten Empfindungen? Wir finden im Allgemeinen weder eine intensive Verstärkung oder wirkliche Summierung, noch eine qualitative Abänderung, sondern die vielen Empfin- dungen ordnen sich in einem uns ganz neuen Gebilde, in einer Fläche, oder wie wir sagen wollen, flächenhaft im Raum zu- sammen. Wir stehen hier vor einem der grössten Räthsel der Psychologie. Stellen Sie sich, bitte, die Eigenthümlichkeit des Thatbestandes deutlich vor. In unserer Hirnrinde langen, sagen wir 1000, Erregungen an, herrührend von den 1000 Nervenendi- gungen der berührten Hautfläche, und lösen 1000 Empfindungen

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aus. Woher kommt es nun erstens, dass wir zwei Empfindungen, die benachbarten Nervenendigungen entstammen, auch im Raumbild zusammenfügen , und zweitens woher entnehmen wir überhaupt jene eigenartige Zusammenordnung? Die zweite Frage kann die physiologische Psychologie überhaupt nicht beantworten. Wir stehen hier vor einem jener psychologischen Facten, die für die physiologische Psychologie unverständlich sind und vielleicht auch bleiben werden. Man hat sich oft Mühe gegeben, sei es aus den Localzeichen, sei es aus der Combination von Druck- mit Bewegungsvorstellungen, rein genetisch die Entwicklung der Raumanschauung zu erklären. Ich will Sie mit diesen thatsäch- lich vergeblichen Erklärungsversuchen nicht behelligen. Wir pro- jicieren alle unsere Empfindungen in den Raum , selbst den ge- hörten Ton und den Geschmack unserer Zunge : diese Thatsache muss die physiologische Psychologie hinnehmen, ohne sie physio- logisch verständlich machen zu können. Diese Projection nun ist zunächst ganz unbestimmt: der Gehör-, Geschmack- und Geruch- sinn zeigt uns noch diese erste Stufe der Raumanschauung mit einer ganz unbestimmten Localisation. Die Hautsensibilität zeigt uns die Raumanschauung auf der nächsthöheren Stufe : die Lo- calisation ist bereits bestimmter. Schliessen Sie z. B. die Augen und lassen Sie sich von einem anderen ein kleines Holzbrettchen von unbekannten Umrissen auf die Haut der Hand setzen: so werden Sie ungefähr angeben können, welche Stelle der Hand berührt wird, und auch annähernd, wie die berührte Fläche be- grenzt ist. Vergleichen wir diese Localisationsfähigkeit unseres Tastsinnes mit der des Gesichtsinnes, so zeigt sich deutlich die Mangelhaftigkeit des ersteren, während die Localisation des Ge- sichtsinns uns so unübertrefflich scheint, weil eben ein Vergleich mit einem noch feiner localisatorisch entwickelten Sinne uns fehlt. Betrachten wir den Vorgang dieser fiächenhaften Localisation für die Hautsensibilität etwas genauer:

Fig- 7-

Hund H' stelle den Querschnitt eines Hautstückes z. B. der Hand vor ; ab c d sind Nervenendigungen. Wir wollen dieselben in

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ihrem ganzen Verlauf bis zur Hirnrinde C C verfolgen, wo die Nervenfasern in den Ganglienzellen d b' c und d' enden. Die Ganglienzellen sind wahrscheinlich sämtlich unter einander ver- bunden. Es wäre ferner möglich, ist aber unwahrscheinlich, dass die räumliche Reihenfolge der Nervenfasern in ihren Hautendi- gungen während ihres langen Verlaufs durch Rückenmark und Gehirn trotz vielfacher intermediärer Unterbrechung in Ganglien- zellen ungestört erhalten bleibt und in der Hirnrinde genau ebenso wiederkehrt. In der Zeichnung ist daher angenommen, dass die Reihenfolge sich verschoben hat und d' nunmehr dem b' benach- bart ist und b' die Reihe schliesst. Nun berühre ein linear ge- dachter homogener Gegenstand GG' die Haut und reize die vier Nervenendigungen. Dann werden vier qualitativ fast absolut gleiche Erregungen unserem Gehirn zufliessen und in den vier Ganglienzellen vier gleichartige Erregungen auftreten, welche vier gleichartige Druckempfindungen auslösen. Mehr als diese letz- teren ist zunächst unserem Bewusstsein nicht gegeben, und zwar sind uns diese Empfindungen, wenn überhaupt in irgend einer Reihenfolge, dann in der Reihenfolge a c d b' gegeben. Wir acceptieren weiterhin als Thatsache, dass wir die vier Empfin- dungen in den Raum hinausprojicieren. Was veranlasst uns nun aber dazu, die Reihenfolge gewissermaassen zu corrigieren und die vier Empfindungen d c a b' gerade so in den Raum hinaus- zuprojicieren, dass ihre Reihenfolge d b' c d' wird und so der Reihenfolge der berührten Nervenendigungen und der berührenden Punkte des Gegenstandes entspricht? Die Veranlassung liegt in den Bewegungsvorstellungen, welche mit jeder der Ganglienzellen verknüpft sind. Wenn wir das in der Zeichnung dargestellte Hautstück bewegen, so wird z. B. stets eine kleine Bewegung einen Gegenstand bei x (siehe Zeichnung) mit a in Berührung bringen, eine etwas grössere mit 6, eine noch grössere mit c und die grösste Bewegung erst mit d. Wir hätten auch umgekehrt den Gegenstand an den Punkt x legen können: dann hätte die kleinste Bewegung die Berührung mit <i, die grösste die Be- rührung mit a hervorgebracht. Jedenfalls die Reihenfolge der Nervenendigungen untereinander, sie sei a b c d oder d c b a, bleibt dieselbe bez. der Grösse der Bewegungen, welche erforder- lich sind, um die vier Nervenenden mit einem beliebigen Gegen- stand in Berührung zu bringen1). Dies wiederholt sich im Leben des Individuums unzählige Male, und schliesslich bleibt eine Er- innerung zurück. Mit jedem Nervenende verbindet sich die Er- innerung oder Vorstellung einer bestimmten Bewegungsgrösse : dieselbe sei z. B. für a i m, für b 2 m, für c 3 m, für d 4 m. Berührt nun ein Gegenstand gleichzeitig a, b, c und <i, so ver- bindet sich die Erregung in a und ebenso auch die Erregung in d und die zugehörige Empfindung mit der Bewegungs Vorstellung 1 m, die Empfindung bb' mit der Bewegungsvorstellung 2 m, ■>•> 11 cc 11 11 11 3 •>•>

55 55 ^^ 11 11 11 4 11

1) Die Wichtigkeit der reihenweisen Auffassung der Raumelemente und die Möglichkeit der Umkehr ihrer Richtung hat zuerst Hebbabt hervorgehoben. (Psychologie als Wissenschaft.)

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Damit ist durch die Stufenleiter der Intensitäten der begleitenden Bewegungsvorstellungen die Reihenfolge, in welcher die Empfin- dungen in dem Raum localisiert werden, bestimmt. Die Empfin- dungen ordnen sich nicht nach der Reihenfolge ihrer Lage in der Hirnrinde, sondern nach der Scala der begleitenden Be- wegungsvorstellungen. Was ich Ihnen so für linienhafte Be- rührung demonstrierte, lässt sich etwas umständlicher auch für fiächenhafte Berührung und schliesslich auch für das Betasten dreidimensionaler körperlicher Gebilde ausführen. Auch hier pro- jicieren wir zunächst die Berührungsempfindungen zerstreut in den Raum: erst begleitende Bewegungsvorstellungen bewirken, dass wir die Empfindungen einer einen Gegenstand umschliessen- den Oberfläche gerade in der dreidimensionalen Ordnung in den Raum projicieren, in welcher die Punkte der Oberfläche des Gegenstandes draussen wirklich angeordnet sind. Es leuchtet ferner ein, dass indirect Bewegungsvorstellungen auch erworben werden können, wenn nicht die Hand an dem Gegenstand x ent- lang bewegt wird, sondern der Gegenstand x über unsere Hand unter unseren Augen sich hinbewegt.

So kann sich eine räumliche Anschauung der Welt in uns ganz ohne die Hülfe des Gesichtsinns entwickeln. Freilich bleibt dieselbe unvollkommen. Der berühmte Blindgeborene Chessel- den's x), der später durch eine Operation die Sehfähigkeit wieder- erlangte, entdeckte erst nach der Operation, dass die Dinge körperlich seien, vorher wusste er nur von Flächen. Anderer- seits erzählt Franz 2), dass ein Blindgeborener auch nach der Operation beim Sehen eines Quadrats keine Vorstellung von dem- selben fassen konnte, bis er ein Gefühl von dem, was er sah, in den Fingerspitzen spürte, als ob er wirklich die Objecte berührte ; fortwährend nahm der Pat. seine Zuflucht zum Tasten , ebenso wie der normale Mensch zum Erkennen der Gegenstände seine Zuflucht fortwährend zum Sehen nimmt. Bei der Lehre von den Gesichtsempfindungen werden wir auf diese für die physio- logische Psychologie ausserordentlich wichtigen Fälle und über- haupt auf die ganze Lehre von der Raumanschauung nochmals zurückkommen müssen. Hier ist nur noch einer Folgerung zu ge- denken, welche sich unmittelbar aus dem Vorhergehenden ergiebt. Da die Unterscheidung zweier von benachbarten Nervenendigungen stammenden Empfindungen namentlich auch von begleitenden Be- wegungsvorstellungen abhängig ist, so wird durch Uebung diese Unterscheidung erheblich verfeinert werden können. Wenn Sie auf den Oberschenkel zwei Zirkelspitzen in einer Entfernung von 6 cm von einander aufsetzen, so empfinden Sie im Allgemeinen nur eine Berührung; erst wenn die Entfernung der Zirkelspitzen etwa 7 cm beträgt, empfinden Sie zwei Berührungen. Man be- zeichnet diese kleinste Distanz, in welcher Empfindungen noch ge- trennt aufgefasst werden können, als Raumschwelle und einen Haut- bezirk, innerhalb dessen wir zwei Berührungen als eine empfin- den, nach dem Vorgang von E. H. Weber als Empfindungskreis. Innerhalb eines Empfindungskreises reichen also die Localzeichen

1) Philosoph. Transact. 1728.

2) Philosoph. Transact. R. S. 1841.

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und die associierten Bewegungsvorstellungen nicht zur Unter- scheidung der Empfindungen bei gleichem Reiz aus. Daraus er- klärt es sich auch , dass in Hautregionen , welche sehr wenig Nerven haben und wenig zum Betasten benutzt werden, wie Rumpf, Oberschenkel etc., die Empfindungskreise sehr gross sind. Sehr wichtig ist, dass zwei Berührungen auch dann als eine empfunden werden, wenn beide Berührungen an Druckpunkten stattfinden und zwischen den beiden berührten Druckpunkten ein oder mehrere andere Druckpunkte liegen ! Es geht daraus her- vor, dass die Vertheilung der Druckpunkte durchaus nicht allein maassgebend ist, sondern dass Localzeichen und namentlich be- gleitende Bewegungsvorstellungen die Hauptrolle spielen. Die Sonderung der Hautsensibilität in Druckpunkte ermöglicht nur das getrennte. Auftreten zweier gleicher Rindenerregungen in verschiedenen Rindenelementen, die eigentliche Unterscheidung aber beruht nicht auf dieser einfachen Thatsache der anatomischen Trennung. Man kann den paradoxen Satz aussprechen : wenn alle unsere Hautnerven anatomisch völlig identisch sich verhielten einschliesslich ihrer corticalen Endstationen und nun alle vom gleichen Reiz betroffen würden , dann würde auch nur eine ein- zige Empfindung auftreten. Localzeichen und Bewegungsvor- stellungen ermöglichen erst die Unterscheidung benachbarter Empfindungen. Dass die Empfindungskreise kleiner ausfallen, wenn gerade zwei Druckpunkte berührt werden, erklärt sich z. Th. daraus, dass an den Druckpunkten die Intensität der Empfindung grösser ist, und wenigstens innerhalb gewisser Grenzen mit der Intensität der Empfindung die Unterscheidung leichter wird, z. Th. daraus, dass nur bei Reizung eines Druckpunktes eine einzige iso- lierte Localfärbung und ein einziger isolierter Complex von Be- wegungsvorstellungen auftreten kann ; wird zwischen den Druck- punkten gereizt, so wirkt der Reiz auf mehrere Druckpunkte, die Empfindung verbindet sich daher auch mit mehreren Local- tönen und Complexen von Bewegungsvorstellungen: die Unter- schiede werden also geradezu verwischt. In nervenreichen Ge- bieten sind die Empfindungskreise kleiner : es beruht dies darauf, dass in Folge des grösseren Nervenreichthums auch die Möglich- keit für eine grössere Mannigfaltigkeit und raschere Abänderung der Localzeichen und für eine ausgiebigere Association mit geson- derten Complexen von Bewegungsvorstellungen gegeben ist.

Endlich muss uns eines auffallen : wir haben uns verständ- lich gemacht, dass die Druckempfindungen gesondert in bestimmter Ordnung in den Raum projiciert werden, wir haben damit ein geordnetes Nebeneinander zahlloser discreter Empfindungen gewonnen, aber woher stammt die Continuierlichkeit des Ein- drucks, den ein berührender Körper auf unsere Haut macht. Wir fühlen nicht zahllose Punkte, sondern eine zusammenhängende Fläche. Hierfür ergiebt sich folgende Erklärung : die Druckpunkte sind allerdings discret, aber wir haben weitläufig erörtert, dass sie bei gleichem Reiz, streng genommen , nur eine Empfindung völlig unbestimmter, diffuser Localisation etwa wie bei einem Schall auslösen könnten ; unsere Berührungsempfindungnn werden erst getrennt und räumlich in eine Fläche auseinandergelegt durch das Hinzukommen von Localzeichen und Bewegungsvorstellungen.

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Diese sind aber stetig abgestuft und bilden daher eine con- tinuierliche Reihe. Wir werden es also auch wohl begreifen, dass die Auseinanderlegung der Berührungsempfindungen in eine Fläche einen continuierlichen Charakter hat. Wo die continuier- liche Abstufung der Localzeichen und Bewegungsvorstellungen fehlt, verschmelzen auch die Empfindungen nicht zu einer Fläche : setzen Sie z. B. 3 Nadelspitzen in Entfernungen von 2 cm auf die Hand, so werden die drei Empfindungen nie zu einer Fläche ver- schmelzen.

Wir haben hiermit die Besprechung desjenigen Sinnes, aus dem sich die übrigen wahrscheinlich sämtlich entwickelt haben, der Sensibilität im engeren Sinne, beendet und wenden uns zu den höchsten Sinnen, dem Hören und Sehen.

FÜNFTE VORLESUNG. Die Gehörsempfindungen.

A

M

M

Wir gelangen zur Besprechung der Schallempfindungen. Gerade für diese ist der äussere Reiz uns sehr genau bekannt.

Derselbe besteht ausschliesslich in longi- Fig. 8. tudinalen periodischen Schwingungen

der Luftmolecüle. Wenn also A eine Schallquelle bezeichnet, welche nach _# allen Seiten Schallwellen aussendet, so wird z. B. ein Lufttheilchen in M erst bis zum Punkt N wandern, dann nach M zurückkehren und nach L gelangen und endlich nach M zurückkehren. Den ganzen Weg MNMLM bezeichnet man als eine Schwingung. Dieselbe vollzieht sich in einer einzigen Geraden. In der Figur ist, um den Weg sichtbar zu machen, die Gerade etwas auseinandergelegt, so dass das Lufttheilchen nicht genau an den Ausgangspunkt zu- rückgekehrt zu sein scheint. Am besten legt man die Gerade noch mehr auseinander und stellt den Weg des Theilchens als

Welle dar , und

Fig. 9-

eine

zwar am vorteilhaf- testen so, dass die Ab- scissen die seit Beginn der Bewegung verflos- sene Zeit angeben, während die Ordinaten die stattgefundene Ex-

cursion angeben. Periodisch sind diese Schwingungen , inso- fern sich die Schwing- ung fortwährend wie- holt. In der Secunde findet eine bestimmte Zahl von Schwingungen statt. Die perio- dischen Schwingungen können regelmässig sein, d. h. Schwingungs- form und Schwingungszahl sind überall einander gleich : solche Schwingungen lösen Klangempfindungen aus, und der zugehörige

Jf

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äussere Reiz wird als Klang bezeichnet 1), Oder die periodischen Schwingungen sind unregelmässig , die Schwingungsform und Schwingungsdauer wechselt : alsdann werden Geräuschempfin- dungen ausgelöst, und der zugehörige äussere Reiz wird als Geräusch bezeichnet.

Fig- 9 I giebt die Wellenlinie eines Tones, 9 II die Wellenlinie eines Geräusches.

Eine Welle reicht von a bis b. Diese Länge entspricht der Schwingungsdauer eines Theilchens. Die krummen Strecken ab, bc, cd etc. repräsentieren jede eine Schwingung des Lufttheilchens, ebenso ab', b'c', cd' in der 2. Curve. Die grösste Excursionsweite wird als Amplitude bezeichnet; die geradlinigen Entfernungen ab, ab' , bc, b'c u. s. f. stellen die Dauer jeder Schwingung dar. Sie bemerken sofort, dass in der ersten Curve die Form und auch die Dauer der einzelnen Schwingungen überall gleich ist. Dies ist charakteristisch für den Klang. Umgekehrt wechseln Schwingungs- form und Schwingungsdauer in der zweiten Curve fortwährend: dies kennzeichnet den in der zweiten Curve dargestellten Schall als ein Geräusch. Das Säuseln der Blätter ist ein Ge- räusch; schlagen Sie eine Taste auf dem Ciavier an, so haben Sie einen Klang. Beides sind, wie wir sofort sehen werden, zu- sammengesetzte Gebilde.

Nämlich mathematisch durch Rechnung resp. Construction, wie praktisch durch besondere Instrumente, sogenannte Resona- toren, lassen Klänge ebenso wie Geräusche sich in einfachere Schallgebilde, in Töne zerlegen. Das Geräusch besteht aus einer Reihe von einfachen Tönen und ebenso der Klang. Graphisch drückt sich dies so aus, dass sowohl die Wellenlinie des Ge- räusches wie die des Klanges sich darstellen lässt als das Pro- duct von mehreren Wellenlinien besonderer Einfachheit, nämlich von sogenannten Sinusschwingungen. Oder, rein physikalisch ausgedrückt, sowohl jede regelmässige periodische Bewegung des Klanges wie jede unregelmässige periodische des Geräusches lässt sich in eine gewisse Zahl regelmässiger periodischer Be- wegungen von äusserst einfacher Beschaffenheit auflösen. Diese Theilschwingungen, in welche sowohl ein Klang wie ein Geräusch sich zerlegen lassen, haben alle die gleiche Schwingungsform, nämlich die der Sinusschwingungen, wie sie die folgende Fig. io darstellt.

Fig. io.

1) Vergl. jedoch auch R. König, lieber Klänge mit ungleichförmigen Wellen. Wiedemann's Annahm, Bd. 30.

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Sie unterscheiden sich unter einander, abgesehen von der Amplitude oder Intensität, lediglich durch die Schwingungsdauer resp. die Zahl der Schwingungen pro Secunde. Wir können daher unseren Satz auch so ausdrücken: Jeder Schall, er sei Klang oder Geräusch, lässt sich in eine Reihe einfacher Theil- töne zerlegen, welche sich von einander lediglich abgesehen

von der Intensität durch die Schwingungszahl unterscheiden. Klang und Geräusch zeigen sich darin verschieden, dass die Theiltöne des Geräusches ganz beliebige Schwingungszahlen haben, während die Schwingungszahlen der Theiltöne eines Klanges in einem sehr einfachen Zahlen verhältniss zu einander stehen. Besitzt nämlich derjenige Theilton eines Klanges, welcher die kleinste Schwingungszahl hat, n Schwingungen pro Secunde, so haben alle übrigen Theiltöne desselben Klanges eine Schwin- gungszahl, die ein ganzes Vielfaches von n ausmacht: ihre Schwingungszahl beträgt also 2 n, 3 n oder 4 n etc. Auch wenn der niedrigste Ton die Schwingungszahl 4 n und die folgenden Töne die Schwingungszahlen 5 n und 6 n etc. haben, so bleibt die Schwingungsform noch eine regelmässig periodische. Wesent- lich ist nur, dass die Verhältnisse der Schwingungszahlen der Theiltöne sich durch nicht zu grosse ganze Zahlen ausdrücken lassen. Nur Töne, deren Schwingungszahlen in solch einem ein- fachen Zahlenverhältniss stehen, bilden zusammen einen Klang.

Der specifische physikalische Reiz für unser Gehörorgan be- steht also kurz zusammengefasst in einfachen Tonwellen, die sich bald zu Klangwellen, bald zu Geräuschwellen combinieren.

Das erste Auftreten von Hörorganen in der Thierreihe lässt sich schwer genau angeben. Jedenfalls kommen bei den Arthro- poden schon unzweifelhaft Hörorgane vor1). Namentlich ist oft schwer zu bestimmen, ob die sog. Otolithen der Ctenophoren etc. Organe des Hörens sind oder Organe zur Vermittelung der Er- haltung des Körpergleichgewichts. Bei den Vertebraten, speciell bei dem Menschen hat sich das Gehörorgan zu einem sehr com- plicierten Gebilde entwickelt. Ein peripherer Apparat, zu welchem Gehörgang, Trommelfell und Gehörknöchelchen gehören, dient vorzugsweise dazu, andere Reize als die adäquaten Schallreize von den Nervenendigungen fernzuhalten, die Schallreize hingegen denselben in möglichst geeigneter Form zuzuführen. Die letzten Endigungen des Hörnerven liegen z. Th. in dem CoRTi'schen Organ der Schnecke, z. Th. in den Ampullen der Bogengänge; sie treten hier wie dort mit sog. Haarzellen in Verbindung. Man bezeichnet den Theil des N. acusticus, welcher in der Schnecke endigt, als N. cochlearis, den Theil, welcher in den Ampullen endigt, als N. vestibularis. Im Verlaufe durch das Gehirn trennen sich beide wieder: der N. vestibularis gelangt in das Kleinhirn, während der N. cochlearis, dem jedenfalls hauptsächlich die Hör- function zukommt, in die Rinde des Schläfenlappens des Gross- hirns gelangt, und zwar der linke grösstentheils in die Rinde des

1) Den Ameisen spricht A. Forel (Experiences et remarques sur les sensations des insectes 1887), Gehör ab. Eine leidliche Compilation der morphologischen Thatsachen bez. des Vertebratenohrs finden Sie in Atees, The vertebrate ear. Journ. of Morphology, 1892, May.

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rechten Schläfenlappens, und umgekehrt. Die centralste Stätte des Hörens ist also im Lob. temporalis zu suchen. Ob die Am- pullen und der N. vestibularis überhaupt dem Hören dienen man hat speciell die Empfindung von Geräuschen ihnen zuge- schrieben — oder vielmehr Gleichgewichtsempfindungen ver- mitteln, ist noch nicht entschieden. Im CoRTi'schen Organ liegen die Nervenendigungen in einer ausgespannten Membran, welche in ihren einzelnen Theilen sehr verschieden breit ist. Töne mit grosser Schwingungszahl werden speciell die schmäleren Theile der Membran in Mitschwingungen versetzen, Töne mit kleiner Schwingungszahl die breiteren Theile. Man kann sich die ganze Membran der Quere nach in zahlreiche Saiten von stetig ab- nehmender Länge zerlegt denken, deren jede auf einen bestimmten Ton abgestimmt ist. Trifft ein Klang oder Geräusch das Ohr, so tritt eine Zerlegung in die Theiltöne ein, d. h. die Membran geräth an verschiedenen Stellen, deren jede einem bestimmten Theilton entspricht, in Schwingungen.

Als Reize wirken auf die peripheren Hörnervenendigungen Schallwellen. Sie bilden den adäquaten, specifischen Reiz. Durch elektrische Reizung des N. acusticus kann man gleichfalls Klang- empfindungen erzeugen. Es ist wahrscheinlich, dass hierbei vor- zugsweise der Nervenstamm gereizt wird. Auch mechanische Reize, die auf letzteren wirken, z. B. krankhafte auf den Hörnerv drückende Geschwülste, lösen Gehörsempfindungen aus. Diese durch nicht adäquate Reize entstehenden Gehörsempfindungen sind stets äusserst einfach und monoton.

So viel vermag uns Physiologie und Anatomie als sicher oder wahrscheinlich zu bieten. Lassen Sie uns nun psychologisch die Schallempfindungen analysieren. Suchen wir zunächst die verschiedenen Qualitäten der Schallempfindung auf. Wir dürfen zunächst die grosse Klasse der Geräuschempfindungen als eine besondere Gruppe von Qualitäten, welche einer Untersuchung schwer zugänglich sind, ausscheiden. Wir beschäftigen uns nur mit den einfachen Ton- und den Klangempfindungen. Ich sagte Ihnen schon vorhin, dass die sog. Töne des Claviers nicht einfach, sondern zusammengesetzt sind, also richtiger als Klänge be- zeichnet werden. Einfache Töne erhält man am bequemsten durch Anschlagen von Stimmgabeln ; auch die Flöte giebt relativ einfache Töne. Der einzige Qualitätsunterschied nun aller ein- fachen Töne liegt in der Höhe. Dem entspricht auf dem Ge- biet des Reizes die Schwingungszahl. Wir empfinden einen Ton um so höher, je grösser seine Schwingungszahl ist. Der tiefste hörbare Ton hat 16 Schwingungen1), der höchste ca. 40000 Schwingungen. Zwischen dem Subcontra-c und dem achtge- strichenen e sind nun die Empfindungen der Tonhöhe nicht etwa regellos vertheilt, wie z. B. die verschiedenen Qualitäten der Ge- ruchsempfindung, sondern ebenso wie die Schwingungszahlen der Tonreize continuierlich anwachsen, so bilden auch die Empfin- dungen der Tonhöhe eine continuierliche Reihe. Von dem Sub- contra-c kann ich ohne Sprung durch eine Tonleiter einfacher

1) Wunot will noch Töne von 8 Doppelschwingungen pro Secunde gehört haben.

Z i e h e n , Physiologische Psychologie. 2. Aufl. 5

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Töne bis zu dem achtgestrichenen e gelangen. Es existieren also, streng genommen, zahllose Töne zwischen dem tiefsten und höchsten Ton. Wir haben aus Gründen, die wir erst später völlig verstehen werden, nur eine sehr beschränkte Zahl von Tonhöhen unter- schieden, so z. B. in dem Intervall zwischen dem Ton mit 256 Schwingungen (c,) und dem Ton mit 1024 Schwingungen (c3) nur 14 Töne, wobei der Grenzton cx selbst eingerechnet wird. Vorwiegend waren hierfür in der historischen Entwickelung ästhetische Gründe bestimmend: man suchte zu c^ alle diejenigen Töne, welche direct oder indirect zu cx in harmonischem Ver- hältniss standen, und dabei ergaben sich die obengenannten 14 Töne. Die nähere Entwickelung gehört nicht hierher. Speciell gab ein Ton mit doppelt so viel Schwingungen als c15 also ein Ton mit 512 Schwingungen oder c2 mit c1 einen sehr guten har- monischen Zusammenklang. Ebenso klangen die Töne, welche dreimal, viermal so viel Schwingungen hatten, also g2, c3 mit cx besonders harmonisch zusammen. Zwischen cx und c2, c2 und c3 etc. fanden sich 6 Zwischentöne mit harmonischem Charakter. Man fasste nun cx mit den 6 nachfolgenden Tönen zu einer sog. Octave zusammen, desgleichen c2 mit den 6 nachfolgenden u. s. f. So haben wir für die lange Reihe der Tonempfindungen eine Ein- theilung aus ästhetischen Gründen gewonnen: die Tonreihe zer- fällt in Octaven, jede Octave in 7 Töne. Diese 7 Töne sind, wie Sie wissen werden, z. B. für die eingestrichene Octave clt <il5 <?x, fi-, g\> ai-> h\- Man hat dann die Octave durch eine Reihe Zwischentöne (eis, dis, fis etc.) vervollständigt. Auch hierbei waren ästhetische Gründe maassgebend. So ist aus der zahllosen Reihe der einfachen Töne der Natur die Tonleiter der einfachen musikalischen Töne geworden. Diese Eintheilung der Empfin- dungen der Tonhöhe hat sich erst historisch entwickelt. Daher hat auch die Abgrenzung der Octave und die Zahl der Töne innerhalb der Octave lange geschwankt.

Wenn wir uns die Tonscala vergegenwärtigen, so liegt der Gedanke nahe, unsere Empfindlichkeit für die Unterscheidung von Tönen zu prüfen oder festzustellen: wie wächst oder besser wie verändert sich mit der Zahl der Schwingungen die Empfin- dung der Tonhöhe? Man hat diese Frage häufig als einen Spe- cialfall des WEBER'schen Gesetzes aufgefasst. Dazu fehlt offenbar die Berechtigung: das WEBER'sche Gesetz vergleicht Reizinten- sität mit Empfindungsintensität, und wir werden später das WEBER'sche Gesetz auch auf die Schallempfindungen anwenden und fragen : wie wächst die Intensität der Schallempfindung mit der Intensität des Schallreizes, also mit der Schallstärke? Die uns jetzt beschäftigende Frage lautet jedoch anders: wie ändert sich die Empfindung der Tonhöhe mit der Zahl der Schwin- gungen des Tones? Weder hat die Empfindung der Tonhöhe etwas mit der Intensität der Empfindungen zu thun, sondern ledig- lich mit der Qualität, noch die Zahl der Schwingungen etwas mit der Intensität des Schallreizes ; vielmehr ist die letztere nur von der Schwingungsamplitude abhängig. Das WEBER'sche Gesetz hat also direct mit unserer Frage nichts zu thun. Aber freilich werden wir, wenn wir das Wesen des WEBER'schen Gesetzes in einem associativen Act, speciell in der Anregung der Vorstellung

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des »grösser« oder »kleiner« suchen, erwägen, dass die Ver- gleichung der Tonhöhe, insofern die Vorstellung »höher« oder »tiefer« anregt, sehr viel Analogie besitzt, und es an sich für denkbar halten, dass, wenn dort das WEBER'sche Gesetz in gewissem Umfang galt, so auch hier ähnliche mathematische Be- ziehungen in gewissem Umfange gelten könnten. Dahin gehende Experimentaluntersuchungen sind in grösserer Zahl angestellt worden, die zuverlässigsten stammen von E. Luft1). Das Re- sultat dieser Untersuchungen ist, dass die relative Unterschieds- empfindlichkeit nicht, wie das WEBER'sche Gesetz verlangt, völlig constant ist. Lasse ich einen Ton von 120 Schwingungen er- klingen und danach einen von l201/6 Schwingungen pro Secunde, so kann ich die Tonhöhe der beiden Töne deutlich unterscheiden. Es ist also bei dieser Tonhöhe eine Differenz von x/6 Schwingung erforderlich zur Unterscheidung zweier Töne, oder die eben merk- liche Differenz beträgt lj6 Schwingung pro See. Wähle ich nun als Ausgangston einen Ton mit 4mal grösserer Schwingungszahl, also mit 480 Schwingungen pro Secunde, so müsste nach dem WEBER'schen Gesetz die eben merkliche Differenz auch viermal grösser sein, d. h. erst wenn ich dem zweiten Ton eine um 4 X lie Schwingung, also 2/3 Schwingung grössere Schwingungszahl gebe, dürften die beiden Töne unterscheidbar werden. Dem ist jedoch nicht so: vielmehr ergiebt der Versuch, dass ein Plus von nur l/4 Schwingung für die Unterscheidung der beiden Töne ausreicht. Wähle ich die Tonlage nochmals doppelt so hoch und nehme also einen Ton von 960 Schwingungen, so erweist sich, dass schon ein Ton mit 960 !/5 Schwingung deutlich von dem Aus- gangston mit 960 Schwingungen unterschieden wird, während nach dem WEBER'schen Gesetz eine Differenz von 8 X 1/6, also von mehr als 1 Schwingung in der Secunde, erst eine Unter- scheidung der Tonhöhe ermöglichen sollte. Die relative Unter- schiedsempfindlichkeit2) ist also nicht constant, im Gegentheil scheint die absolute Unterschiedsempfindlichkeit für mittlere Tonlagen sich in ziemlich engen Grenzen um eine constante Durchschnittsgrösse zu bewegen ; schwankt doch die Unterschieds- schwelle nur zwischen x/e und 1U See. Uebung und musikalische Veranlagung sind von wesentlichem Einfluss. Unmusikalische In- dividuen irren sich sogar in der Beurtheilung der Tonhöhe mehr, als man glaubt. So fand Stumpf, dass völlig unmusikalische Per- sonen unter 4 Malen sich einmal irrten, wenn sie angeben sollten, welcher von zwei z. B. um eine Terz auseinanderliegenden Tönen der höhere sei; namentlich für tiefe und sehr hohe3) Töne, über welche das alltägliche Leben keine Erfahrung giebt, ist die Unter- scheidungsfähigkeit sehr gering. Staunenswerth bleibt es jeden- falls, wie ausserordentlich empfindlich unser Hörapparat im All- gemeinen für die Tonhöhe ist. Wir merken es bereits, wenn statt 1000 Schwingungen 1000 und x/s Schwingungen in der Secunde

1) Philosoph. Stud., Bd. IV, S. 4.

*> = ;§' ^

3) jenseits c5.

7? 1

2; = . , während die absolulute = -p= zu setzen ist. dJ\ clK

5*

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stattfinden ; dann ändert sich bereits die Qualität unserer Empfin- dung. Man hat hier gern von einem »unbewussten Zählen« der Schwingungen gesprochen und war erstaunt über die Sicherheit und Schnelligkeit der Seele in diesem Abzählen. Selbstverständ- lich brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen, dass ein solches Zählen nicht stattfindet. Nur die in den Endigungen der Fasern der Hörnerven liegenden chemischen Verbindungen müssen wir uns ausserordentlich compliciert zusammengesetzt denken, damit schon eine so geringe Differenz des mechanischen Reizes so grosse Unterschiede des centralen chemischen Processes hervorruft, dass die Unterscheidung, ob höher oder ob tiefer, gefällt werden kann. Zum ersten Mal begegnet uns hier die Zeit als ein Factor in un- serem Empfindungsleben. Die Empfindungsqualität der Tonhöhe entspricht der Schwingungszahl der Tonwelle pro See. und ist also abhängig von der Dauer der einzelnen Schwingung, und jeder Aenderung dieser Schwingungsdauer folgt sie mit ausser- ordentlicher Genauigkeit.

Mit den einfachen Tönen sind jedoch unsere Qualitäten des Gehörsinns auch wenn wir, wie geschehen, von den Geräuschen absehen nicht erschöpft. Abgesehen von der Tonleiter der an- nähernd einfachen Töne, wie sie die Flöte Ihnen darbietet, unter- scheiden Sie noch eine grosse Anzahl weiterer Qualitäten der Schall- empfindung. Das eingestrichene C des Klaviers klingt trotz gleicher Tonhöhe ganz anders als das reine eingestrichene C der Stimm- gabel oder der Flöte. Das eingestrichene C der Violine unter- scheidet sich wiederum von beiden. Oder lassen Sie eine mensch- liche Stimme einen Vocal in der Höhe des eingestrichenen G singen: so wird sich dieser Schall wiederum von dem C der Stimmgabel, des Claviers und der Violine unterscheiden. Noch mehr, die menschliche Stimme kann auf dieselbe Note die Vocale a, o, e, i u. s. w. singen. Alle diese Unterschiede der Empfindungs- qualität bei gleichbleibender Tonhöhe fasst man unter dem Be- griff der Klangfarbe zusammen. Derselbe Ton hat auf jedem Instrument, jeder Vocal der menschlichen Stimme eine besondere Klangfarbe. Helmholtz1) hat zuerst nachgewiesen, welche Ver- schiedenheit des physikalischen Reizes diese Verschiedenheit der Qualität der Tonempfindung bei gleicher Tonhöhe bedingt. Die sog. Töne des Claviers, der Violine, des Horns, der menschlichen Stimme sind nämlich, wie schon kurz erwähnt, garkeine einfachen Töne; höchstens die der Stimmgabel und der Flöte könnten als solche gelten. Die Töne der übrigen Instrumente und des mensch- lichen Kehlkopfs sind aus mehreren, zuweilen sehr zahlreichen einfachen Tönen zusammengesetzt. Sie sind daher, da die Schwin- gungszahlen der Theiltöne in sehr einfachen Verhältnissen, näm- lich im Allgemeinen in dem der ganzen Zahlen zu einander stehen, richtiger als Klänge zu bezeichnen. So z. B. klingen, wenn Sie das eingestrichene C auf dem Ciavier anschlagen, ausser diesem noch 6 andere Töne, nämlich c2, g%, c3, ez etc. mit. Der Klang des eingestrichenen C auf dem Ciavier setzt sich also aus 7 ein- fachen Theiltönen zusammen oder, wie man auch sagt, einem Grundton und 6 Obertönen. Der Grundton ist am lautesten, die

1) Lehre von den Tonempfindungen.

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Intensität der Obertöne nimmt mit der Tonhöhe ab. Vergleichen Sie nun damit das eingestrichene C der Violine. Auch hier klingen Obertöne mit, und zwar begegnen wir den Obertönen c2,^25 cs> es auch hier wieder, aber es kommen noch 4 5 weitere Obertöne hinzu; auch ist die Intensität der höheren Obertöne bei der Vio- line erheblich grösser als beim Ciavier, wodurch die Töne der Violine die eigentümliche Klangfarbe aller Saiteninstrumente er- halten.

Die Theiltöne der menschlichen Stimme sind neuerdings gleichfalls von Helmholtz, Hermann u. A. bestimmt worden1).

Die physikalische Grundlage der Verschiedenheiten der Klang- farbe beruht also auf der Verschiedenheit der Zahl und der In- tensität der dem Grundton des Klanges beigemischten Qbertöne. Man kann diese Zerlegung des Klanges der Instrumente in ihre Theiltöne mittelst besonderer Resonatoren erreichen ; aber der Musikalische und bei einiger Uebung auch der Unmusikalische vermag auch ohne Resonatoren aus dem eingestrichenen C des Claviers wenigstens die tieferen Obertöne herauszuhören. Für die Musikästhetik ist die Lehre von den Partial- resp. Obertönen von grösster Wichtigkeit.

Unter den verschiedenen Qualitäten der Geräuschempfindungen sind die wichtigsten diejenigen, welche durch die Consonanten der menschlichen Sprache hervorgerufen werden. Unsere Consonanten erweisen sich bei der physikalischen Analyse wesentlich als Ge- räusche, d. h. sie sind aus einfachen Tönen zusammengesetzt, deren Schwingungszahlen nicht in einfachem Zahlenverhältniss zu einander stehen.

Wir haben hiermit die Betrachtung der verschiedenen Qua- litäten der Tonempfindung erschöpft. Die Intensität der Ton- empfindung wächst selbstverständlich mit der Schallstärke. Diese letztere lässt sich physikalisch noch genauer zergliedern. Die Schallstärke hängt nämlich direct von der Amplitude der Schwin- gungen ab, welche der tönende Körper macht. Genauer lautet die hierhergehörige Formel: i prop. a2n'2. Die Schallstärke wächst also proportional dem Quadrat der Amplitude a, wohl verstanden bei gleichbleibender Schwingungszahl oder, was dasselbe ist, bei gleichbleibender Tonhöhe. Ist nun das WEBER'sche Gesetz giltig für die Schallempfindungen, d. h. die absolute Unterschiedswelle um so grösser, je grösser der Anfangsreiz ist? Bei den hierauf gerichteten Untersuchungen ergab sich die grosse Schwierigkeit, Schallstärken in beliebiger Abstufung zu beschaffen. Neuerdings hat man mit grossem Vortheil elfenbeinerne oder Metallkugeln angewandt, welche man auf eine Ebenholz- oder Eisenplatte fallen lässt. Hierbei ändert sich die Klangfarbe mit wechselnder Fall- höhe und wechselndem Gewicht nur ganz unbedeutend2). Hin- gegen ist die Schallstärke innerhalb gewisser Grenzen bei con- stantem Gewicht proportional der Fallhöhe und bei constanter

1) Vergl. Hermann, Pflüger's Archiv, Bd. 45, 47 u. 48. und anderer- seits Pipi'Ing, Zur Klangfarbe der gesungenen Vocale, Zeitschr. f. Biologie, Bd. 27.

2) Starke, Philosoph. Stud., Bd. V, H. 1. Merkel, Philosoph Stud., Bd. V, H. 4.

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Fallhöhe proportional dem Kugelgewicht. Indem man also die Kugeln verschieden schwer wählt oder die Fallhöhe abändert, kann man die objective Schallstärke beliebig variieren. Es ergab sich nun, dass das WEBER'sche Gesetz für die Intensität der Schallempfindungen mit ziemlich grosser Genauigkeit gilt. Eine sog. untere Abweichung vielleicht ist dieselbe durch Neben- geräusche bedingt, welche nie ganz zu vermeiden sind fand sich auch hier; die relative Unterschiedsschwelle beträgt durch- schnittlich etwa 1/3. Die Reizschwelle, d. h. der leichteste Schall- reiz, der überhaupt eine Empfindung auslöst, ist mit genügender Sicherheit noch nicht bestimmt worden 1 ). Interessant ist folgende Versuchsreihe von Merkel : Er Hess die Versuchsperson zwei qua- litativ gleiche, aber verschieden starke Schallreize hören und for- derte sie dann auf, einen Schallreiz zu bestimmen, der eine ge- rade in der Mitte zwischen den beiden ersten Schallempfindungen gelegene Empfindung auslöse. Bei dieser Methode der mittleren Abstufungen ergab sich, dass der zu der Mittelempfindung zuge- hörige Schallreiz annähernd das arithmetische und nicht das geo- metrische Mittel der beiden anfänglichen Schallreize darstellt. Wäre die FECHNER'sche Weiterbildung des WEBER'schen Gesetzes

dl?

richtig, also nicht nur = const. , sondern auch dE = const.

und daher auch E prop. log. i?, so hätte sich das geometrische Mittel ergeben müssen. Für die Schallempfindungen erweist sich also die FECHNER'sche Formel als völlig ungiltig, und die Pla-

dE TEAu'sche Annahme ==r- = const. als richtiger. Indessen wieder- hole ich Ihnen, dass für andere Empfindungen weder das geome- trische noch das arithmetische Mittel sich ergiebt, sondern ein zwischen beiden gelegener Werth, und verweise Sie auf die we- sentlichen Bedenken, welche ich gegen die Methode der mittleren Abstufungen geltend gemacht habe.

Wir wenden uns nunmehr auch bei den Gehörsempfindungen der Frage zu, wie die Empfindung modificiert wird, wenn derselbe Schallreiz auf mehrere Nervenendigungen wirkt. Für die Sensi- bilität der Haut ergab sich, dass abgesehen von den drei Qualitäten der Druck- , Kälte- und Wärmeempfindung alle Nervenendigungen sich im Wesentlichen identisch verhalten, und dass bei Ausbreitung des Reizes auf eine grössere Zahl von Nervenendigungen die zahlreichen unter sich gleichen Empfin- dungen neben einander in eine Raumfläche geordnet werden. Für den Tonsinn ergiebt sich ein anderes Resultat. Die Zahl der Qualitäten ist hier ungleich grösser. Jede Tonhöhe repräsen- tiert je eine besondere Empfindungsqualität. Die Physiologie des Gehörgangs macht es nun, wie erwähnt, sehr wahrscheinlich, dass jede Nervenendigung des N. cochlearis nur durch eine Tonhöhe oder nur durch eine ganz kleine Reihe von Tonhöhen erregt werden kann. Ein und derselbe Schallreiz wird also gar nicht, wie in unserer Frage vorausgesetzt wird , auf viele Nerven- endigungen wirken können, sondern nur auf eine oder höchstens

1) Nöer's "Werth e (Zeitschr. f. Biologie, 1879) scheinen zu hoch.

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einige wenige benachbarte. Die qualitative Abstimmung oder Differenzierung der Hörfasern1) ist soweit ausgebildet, dass über- haupt nie zwei Hörfasern in dieselbe Erregung gerathen können. Dementsprechend kann es nie zu einer ausgeprägten räumlichen Nebeneinanderordnung mehrerer zugleich gehörter Töne kommen. Alle Tonempfindungen sind qualitativ verschieden ; eine begün- stigende Vorbedingung aber zu räumlicher Entwicklung unserer Empfindungen ist die Existenz mehrerer qualitativ gleicher Empfindungen zu gleicher Zeit. Wie jede Empfindung wird auch die Gehörsempflndung in den Raum projiciert, aber diese Pro- tection ist eine äusserst ungenaue, und, was besonders wichtig ist, die Erregung jeder Nervenendigung kann an ein und dieselbe ungefähre Stelle des Raumes projiciert werden. Jemand schlägt z. B. einen Accord auf dem Ciavier an, in dem vielleicht 18 ein- fache Töne enthalten sind. Mindestens 18 Nervenendigungen werden in jedem Ihrer Hörnerven in Erregung versetzt, und doch projicieren Sie diese 18 Erregungen nicht räumlich gesondert, nicht neben einander in den Raum , sondern alle zusammen an die ungefähre Stelle, woher Ihnen der Ton zu kommen scheint. Zur Erklärung hierfür genügt jene hochgradige qualitative Diffe- renzierung und Abstimmung der Hörfasern nicht ; denn man könnte sich eine räumlich gesonderte Projection schliesslich auch bei durchweg qualitativ verschiedenen Empfindungen denken. Hier kommt nun in Betracht, dass jene Association mit Be- wegungsempfindungen und Bewegungsvorstellungen, welche für die Entstehung des Fühlraums so wesentlich war, für den Gehör- sinn fast völlig wegfällt. Wir können unsere Hörnervenendigungen nicht über den tönenden Körper, wie unsere Hand über einen Gegenstand hinweggleiten lassen oder aus der Succession gleicher Eindrücke bei wachsenden Bewegungsempfindungen einen Raum construieren. Wir können allerdings unseren Kopf von dem tönenden Körper abwenden oder ihm zuwenden, wir können uns von ihm entfernen oder uns ihm nähern, aber dadurch werden nicht andere neue Nervenendigungen mit dem Reiz in Berührung gebracht, vielmehr bleiben dieselben Nervenendigungen erregt, und nur die Intensität der Erregung nimmt im ersten Falle ab, im zweiten zu. Ein Mensch mit einem Ohr und ohne Fähigkeit der Ortsbewegung und Kopfdrehung würde alle Töne, woher sie auch kämen, fast ganz unbestimmt in den Raum projicieren. Die Localisation der Tonempfindungen bei dem normalen Menschen ist wenigstens etwas bestimmter, indem wir beobachten können, wie bei Kopfdrehungen und Ortsbewegung die Schallintensität sich ändert, und daraus Schlüsse auf die Schallrichtung machen. Bei ruhiger Kopfstellung verwechseln wir die Richtung vorn und hinten, oben und unten sehr oft2). Begleitende Tastempfindungen

1) Die CoRTi'sche Membran geräth bei einer bestimmten Tonhöhe nur an einer bestimmten Stelle in Schwingung wad gewöhnt daher ge- wissermaassen jede Nervenfaser an eine bestimmte Tonhöhe, macht sie für diese besonders empfänglich.

2) Peeyer (Arch. f. d. ges. Physiol. , Bd. XL) schreibt, wie mir scheint, ohne genügenden Grund neuerdings wieder den Bogengängen die Function der Localisation von Gehörseindrücken zu.

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der Haut, bei dieser Schallrichtung hier, bei jener dort, durch feine Mitschwingungen der Härchen der Ohrmuschel, und viel- leicht auch der Knochen (craniotympanale Leitung) entstanden, ermöglichen öfters wenigstens ein annäherndes Urtheil. Rechts und links wird auch bei ruhiger Kopfhaltung leidlich unterschieden : es kommt uns nämlich bei der Unterscheidung dieser beiden Schallrichtungen zu statten , dass ein von rechts herkommender Schall aus physikalischen Gründen im rechten Ohr eine stärkere Erregung als im linken hervorrufen muss. Daher wird auch in diesem Fall in Anbetracht des vorwiegend gekreuzten Verlaufs der Hörnervenfasern die Rindenerregung im linken Schläfenlappen grösser sein als im rechten. Bei einem von links her kommenden Schall wird umgekehrt die Rindenerregung des rechten Schläfen- lappens vorwiegen. Da es nun ganz plausibel ist, dass die Hör- region der linken Hemisphäre in ganz anderen Associationsver- bindungen steht als die rechte, so ist schon dadurch die Möglich- keit einer Unterscheidung gegeben. Das wichtigste und natür- lichste Mittel der Unterscheidung der Schallrichtung bleibt aber stets leichte Kopfdrehung. Völlig unsicher endlich ist die Locali- sation unserer Gehöreindrücke hinsichtlich der Entfernung, in welche wir die Empfindung projicieren. Die Tastempfindungen der Haut werden auf Grund der Erfahrung, dass nur mechanische Reize durch unmittelbare Berührung Tastempfindung erzeugen, unmittelbar an die Oberfläche der Haut verlegt. Bezüglich der Schallempfindungen lassen wir uns meist gleichfalls von der Er- fahrung leiten: schwächere Schallempfindungen werden in die Ferne , stärkere in die Nähe projiciert. Hierbei kommt uns zu Hülfe, dass wir die Schallstärke vieler Dinge bei einer gewissen von den Augen geschätzten Entfernung aus Erfahrung kennen und daher später auch bei geschlossenen Augen aus der geringeren oder grösseren Schallstärke auf grössere oder geringere Entfernung von uns schliessen.

Sie sehen, dass es im Wesentlichen associative, z. Th. ziemlich complicierte Vorgänge sind, welche die Localisation der Gehörs- empfindungen wenigstens einigermaassen bestimmen. Jene directe räumliche Beziehung, welche wir bei den Tastempfindungen fanden und in höchstem Maasse in unserer nächsten Betrachtung bei den Gesichtsempfindungen finden werden, fehlt. Der Gehörsinn ist eben kein räumlicher Sinn, er ist, wenn Sie es kurz bezeichnen wollen, rein qualitativ, aber gerade vermöge der äusserst feinen qualitativen Abstufung und der äusserst raschen Auffassung l) der Reizqualität geeignet , das aufnehmende Organ des besten Communicationsmittels der Menschen, der gesprochenen Sprache, zu sein.

1) Schon 2 Schwingungen genügen bei geeigneter Versuchsanord- nung, um die Höhe, also die Qualität eines Tones zu erkennen.

SECHSTE VORLESUNG. Die Gesichtsempfindungen.

M. H. ! Der physikalische Reiz , welcher für das Auge als der adäquate bezeichnet werden muss, ist in den Schwingungen des Aethers gegeben. Wir denken uns, dass zwischen den Atomen resp. Molecülen noch imponderable Theilchen, sog. Aethertheilchen in grosser Zahl zerstreut sind. Das Licht lehrt die heutige Physik breitet sich im Raum nach allen Seiten aus , indem die Aethertheilchen in Schwingungen gerathen. Diese Schwing- ungen sind nicht longitudinal, wie die Schwingungen der ponde- rablen Molecüle eines schallleitenden Körpers, sondern transver- sal, d. h. sie finden senkrecht zur Fortpflanzungsrichtung der Lichtstrahlen statt. Auch die Lichtschwingungen stellen wir uns am besten als Wellenlinien vor. Ganz ähnliche Gesetze wie für die Schallwellen gelten auch hier. Die Lichtschwingungen sind ausnahmslos als regelmässige periodische Schwingungen anzu- sehen. Nicht alle Aetherschwingungen lösen eine Lichtempfindung in unserem Auge aus. Es giebt Aetherschwingungen , deren Schwingungszahl zu gross, und solche, deren Schwingungszahl zu klein ist, um eine Lichtempfindung zu erregen. Im Allge- meinen erregen nur solche Aetherschwingungen Gesichtsempfin- dungen, deren Schwingungszahl mehr als 400 Bill, und weniger als 920 Bill, pro Secunde beträgt.

Lassen Sie uns das Organ , welches diesen Reiz aufnimmt, das Auge, betrachten. Schon bei den niedersten Thieren, bei den Protozoen finden Sie lichtempfindliche Stellen im Protoplasma, welche durch Ablagerung besonderer Pigmente ausgezeichnet sind und daher als Pigmentflecke bezeichnet werden. Auch in dem höchstentwickelten Vertebratenauge werden die Lichtstrahlen durch viele brechende Medien hindurch schliesslich auf eine pigmententhaltende Schicht der sog. Netzhaut geleitet. Diese Schicht der Netzhaut, welch letztere die Innenfläche der hinteren Wand des Augapfels auskleidet, wird als Stäbchen- und Zapfen- schicht bezeichnet; denn mosaikartig sind hier zahllose theils stäbchenförmige, theils conische Gebilde aufgestellt, welche ihre Basis dem Augeninnern zukehren. Diese Stäbchen und Zapfen stehen mit den Endigungen des Sehnerven in Verbindung, und

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zwar ist wahrscheinlich nicht gerade jedem Zapfen und jedem Stäbchen je eine Sehnervenfaser zugeordnet. Das bekannteste Pigment der Netzhaut ist der von Boll entdeckte Sehpurpur, welcher bei Belichtung rasch bleicht. Der Sehpurpur kommt jedoch nur den Stäbchen zu. Die Zapfen, welche gerade in dem- jenigen Theil der Netzhaut, welcher dem Fixieren und dem schärfsten Sehen dient, der sog. Macula lutea durchaus überwiegen, enthalten keinen Sehpurpur. Auch fehlt er z. B. dem Auge der Schlange ganz. Ausser dem Sehpurpur käme namentlich das sog. Pigmentepithel der Netzhaut, auf dessen anatomische Anordnung ich hier nicht eingehen kann, in Betracht. Der Vorgang bei dem Sehacte ist nun der, dass die bis zur Netzhaut gelangten Aether- schwingungen die lichtempfindlichen sog. photochemischen Sub- stanzen oder Sehsubstanzen der Netzhaut zersetzen. Für solch eine zersetzende Wirkung des Lichtes besitzen wir zahlreiche Analogien. Durch diese Zersetzung werden die mit den Sehsub- stanzen beladenen Nervenendigungen in Erregung versetzt. Diese Erregung leiten dann die Fasern des Nervus opticus dem Hinter- hauptslappen des Gehirns zu. Die Fasern des Sehnerven verlaufen z. Th. gekreuzt, z. Th. ungekreuzt. Die Folge ist die, dass alle Eindrücke der rechten Hälfte des gesehenen Raumes in die linke Hemisphäre, alle Eindrücke der linken Gesichtsfeldhälfte in die rechte Hemisphäre gelangen.

Es kann gleich hier bemerkt werden, dass ausser dem adäqua- ten Reiz der Aetherschwingungen auch die allgemeinen Nerven- reize, der mechanische und der elektrische, Lichtempfindungen auslösen können. Wenn Sie irgendwo am Rand der Augenhöhle mit der Fingerspitze gegen den Augapfel drücken, so entsteht eine Lichterscheinung, welche als „Phosphen" bezeichnet wird. Offenbar handelt es sich um eine mechanische Reizung. Wenn wegen allgemeiner Erkrankung des Augapfels derselbe exstirpiert und dabei der Sehnerv durchschnitten wird, so sehen die Kranken im Augenblick der Durchschneidung grosse Lichtmassen. Volta constatierte zuerst die elektrische Erregbarkeit der Sehorgane: man beobachtet, dass sowohl bei Schluss, wie bei Oeffhung des gal- vanischen Stroms ein Lichtblitz auftritt. Es genügt hierzu, die Elektroden auf beide Schläfen zu setzen.

Nach diesen Vorbemerkungen können wir mit der psycho- logischen Analyse der Gesichtsempfindungen beginnen. Dabei er- geben sich zunächst zahllose Qualitäten der Gesichtsempfindung, welche wir im weitesten Sinne als Farben bezeichnen. Andere Qualitäten ausser denen der Farben existieren nicht. Lassen Sie uns diese Farbenqualitäten näher betrachten in ihrer Beziehung zu dem physikalischen Reiz. Eine grosse Reihe unserer Farben- empfindungen wird direct durch die sog. Spectralfarben hervor- gerufen ; dahin gehören also : violett, blau, grün, gelb, orange, roth. Diese den Spectralfarben entsprechenden Farbenempfin- dungen bilden ganz ebenso eine Reihe wie die verschiedenen Tonhöheempfindungen. Roth mit der kleinsten Schwingungszahl würde den tiefsten Tönen, violett mit der grössten Schwingungs- zahl den höchsten Tönen entsprechen. Auf der nachstehenden Linie finden Sie die Reihe der Spectralfarben dargestellt. Die

/D

rothen Strahlen haben zugleich die grösste Wellenlänge und sind am wenigsten brechbar.

roth orange gelb grün blau violett

Freilich ergiebt sich auch sofort ein Unterschied zwischen der Reihe der Spectralfarbenempfindungen und der der Tonhöhe- empfindungen. In der letzteren konnten wir auf Grund harmoni- scher Beziehungen, deren Wesen wir noch kennen lernen werden, von einem beliebig gewählten Ton ausgehend, alle in harmonischer Beziehung zu demselben stehenden aufsuchen : so gewannen wir statt der stetigen aus unendlich vielen Tönen zusammengesetzten Ton- reihe eine endliche Tonleiter, deren Töne durch bestimmte Intervalle getrennt waren. Anders in der Reihe der Spectralfarbenempfin- dungen. Hier finden sich solche harmonische Beziehungen nicht. Daher giebt es auch keine Farbentonleiter. Wir können nur ganz willkürlich bestimmte Farben, die uns besonders auffällig sind oder praktisch besonders häufig vorkommen, in willkürlichen Intervallen herausgreifen. Die Farbenbezeichnungen der älteren Völker waren daher sehr unbestimmt. Mit dem Wort ^avd-og scheinen z. B. die Griechen nach Helmholtz x) die ganze Farbenreihe von Goldgelb bis Blaugrün bezeichnet zu haben. Die Farbe des Himmels (coelum) gab Anlass, gerade die Farbe desselben durch ein besonderes Wort »coeruleus« auszuzeichnen. Unser deutsches »blau« wird von dem englischen Wort blow, blasen, also auch von der Farbe der Luft hergeleitet. Das esthnische Wort für grün rohilane bedeutet eigentlich »Gras-lich« u. s. f. Freilich kann man, wie dies Newton und später namentlich Drobisch2) gethan, nach den Verhältnissen der Schwingungszahlen eine der Tonscala ähnliche Farbenscala bilden, und die noch jetzt übliche Aufstellung von 7 Hauptspectralfarben (Violett, Indigo, Blau, Grün, Gelb, Orange, Roth) ist zuerst von Newton nur nach Analogie der Tonleiter gegeben worden 3). Aber dies sind lediglich physikalische oder theoretische Fictionen, die in unserem Empfindungsieben in keiner Weise begründet sind. Für dieses ist die Reihe der Spectralfarben durchaus stetig: sie zerfällt nicht in eine Scala von Farbentönen.

In unserer weiteren Betrachtung werden sich uns noch manche andere Differenzen zwischen den Tonhöhe- und den Farbenem- pfindungen ergeben. Zunächst werfen wir die Frage auf, ob ausser den Spectralfarbenempfindungen noch andere im Spectrum nicht enthaltene Farbenempfindungen existieren. Hierauf ist mit Ja zu antworten: ein Braun4) mit allen seinen Varietäten, ein Purpur, ein Schwarz, ein Grau in allen seinen Abstufungen, ein Weiss existieren im Spectrum nicht. Man könnte zunächst zweifeln, ob Schwarz mit seinen Uebergängen durch Grau in Weiss über-

]; Physiologische Optik.

2) Poggendobf's Annalen, Bd. 88.

3) Dabei wurde die Breite des Spectrums im Verhältniss der musi- kalischen Intervalle eingetheilt.

4) Braun ist hier nur als Paradigma herausgegriffen.

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haupt hierher gehört, und einwenden, dass Weiss keine Farbe, Schwarz überhaupt ein Negativum und endlich Grau lediglich ein an Intensität herabgesetztes Weiss sei. Physikalisch ist dies in der That richtig: physikalisch gesprochen, ist in der That Schwarz die Negation aller Aetherschwingungen, psychologisch aber ist Schwarz eine Empfindung, wie die übrigen Gesichtsem- pfindungen auch. Wenn Sie in einen völlig dunklen Raum sehen und geradeaus blicken, so unterscheiden Sie das schwarze Ge- sichtsfeld vor Ihnen doch immer noch von dem, was hinter Ihrem Rücken liegt und was überhaupt keine Gesichtsempfindungen ver- anlasst x). Ebenso ist es physikalisch ev. richtig, dass Weiss keine Farbe ist, psychologisch hingegen kommt es darauf an, alle Qua- litäten der Gesichtsempfindungen zu sammeln, und von diesem Standpunkt aus ist Weiss eine Qualität oder eine Farbe wie Grün oder Gelb. Was endlich die verschiedenen Abstufungen des Grau, von reinem Weiss bis zum vollen Schwarz, anlangt, so ist es psychologisch durchaus falsch, die Grauempfindung als eine we- niger intensive Weissempfindung zu bezeichnen : nach dieser An- schauung würde Weiss ein intensiveres Grau sein. Auch hier muss man sich hüten, physikalische Sätze direct in das Psycho- logische zu übertragen. Physikalisch mag der Satz richtig sein : der physikalische Reiz, welcher die Grauempfindung hervor- ruft, mag ein weniger intensiver sein als der, welcher die Weiss- empfindung hervorbringt ; denn grau ist ein Körper, der von allem auffallenden Licht nur einen gleichen Bruchtheil reflectiert ; aber psychologisch ist der Unterschied zwischen Weiss und Grau ein qualitativer und kein intensiver.

Wir müssen also Braun, Purpur in allen seinen Varietäten, Grau in allen seinen Abstufungen, Weiss und Schwarz ebenfalls wie die Spectralfarbenempfindungen als besondere Qualitäten der Gesichtsempfindung ansehen. Durch welchen physikalischen Reiz entstehen nun diese Empfindungen?

Wir beginnen mit der Empfindung FiS- u- des Purpur. Die Empfindung des Pur-

purroth in ihren verschiedenen Ab- stufungen entsteht durch Mischung der- jenigen einfachen Farben , welche am Ende des Spectrums stehen, also nament- lich durch Mischung von Roth und Violett und auch durch Mischung von Blau und Orange. Durch passende Wahl des Misch- ungsverhältnisses lässt sich eine con- tinuierliche Reihe von purpurfarbenen Zwischenstufen zwischen Violett und Roth herstellen. Während also die Reihe der physikalischen Spectralfarben eine gerade Linie darstellt , stellt die Reihe der zugehörigen Farbenempfin- dungen bei Hinzufügung der Purpurempfindung einen in sich zurücklaufenden Kreis dar.

1) Sehr beweisend ist in dieser Beziehung auch, dass bei Hemianopsie und langjähriger peripherer Erblindung auch die Empfindung des Dunkels wegfällt. Wilbkand, Seelenblindheit, S. 82.

//

Für die Schwarzempfindung ist die Frage nach dem physikalischen Reiz bereits beantwortet worden : hier fehlen von aussen in das Auge und zu den Sehnervenendigungen gelangende Aetherschwingungen vollständig. Es muss also die Schwarz- empfindung entstehen durch diejenigen chemischen Erregungen, welche den Ruhestand und die Wiedererholung der vorher zer- setzten Sehsubstanz resp. der vorher gereizten Sehnervenendi- gungen begleiten. Dem äusseren Reiz R = O hierin liegt ein weiterer bedeutsamer Unterschied gegen die Tonempfindungen entspricht also auch eine Empfindung auf dem Gebiet des Ge- sichtsinns, welche ebenso positiv ist, wie die Farbenempfindungen selbst.

Die Weissempfindung entsteht stets aus einem Zusammen- wirken mehrerer Spectralfarben, und zwar entsteht sie:

i) durch das Zusammenwirken aller Farbenstrahlen des Spectrums : dies findet z. B. statt, wenn das künstlich zerlegte Farbenspectrum wieder durch ein Prisma vereinigt wird l ) ;

2) durch das Zusammenwirken von zwei bestimmten Spectral- farben : jede Spectralfarbe von bestimmter Wellenlänge giebt zu- sammen mit nur einer bestimmten anderen Spectralfarbe die Weissempfindung, so z. B. Roth mit Grün-blau, Gelb mit Indigo- blau 2) u. s. f. Farben, welche zusammen die Weissempfindung geben, werden als Complementärfarben bezeichnet. Rein physi- kalisch genommen, haben zwei Complementärfarben gar keine be- sonderen Beziehungen zu einander, erst in unserem Nervensystem, in unserer Empfindung erhalten sie die Beziehung der Complemen- tarität zu einander. Nur für reines Grün existiert keine einfache Spectralfarbe, mit der es zusammen Weissempfindung gäbe. Viel- mehr erweist sich Purpur als die Complementärempfindung des Grünen. Man könnte geneigt sein, das Weiss einem zusammen- gesetzten Ton oder einem Accord zu vergleichen. Zwischen beiden besteht jedoch eine wesentliche Verschiedenheit. Aus einem Accord kann ich die einzelnen Töne mehr oder weniger leicht heraushören. Unser Gehörorgan zerlegt denselben. Hingegen enthält die Weiss- empfindung nichts von den Empfindungen der Farben in sich, aus denen der physikalische Reiz des Weissen in einem gegebenen Falle sich zusammensetzt. Der physikalische Reiz der Weissempfindung ist also zusammengesetzt, die Weissempfindung selbst jedoch ein- fach. Wir sind gewohnt, der Weissempfindung eine besondere centrale Rolle zuzuschreiben und sie allen übrigen Farbenempfin- dungen entgegenzustellen. Durch die Thatsache, dass je zwei complementäre Farbenempfindungen zusammen die Weissempfin- dung geben, ist dies gerechtfertigt. Aber wir gehen in der Schätzung der Weissempfindung noch weiter, wir neigen dazu, dieselbe direct mit einer hypothetischen farblosen Lichtempfindung zu identi-

1) Weissgefärbte Gegenstände sind solche, die alle Farbenstrahlen unabsorbiert und unzerlegt reflectieren.

2) Sie werden mir hier den auch von Goethe getbeilten Satz des Malers entgegenhalten, wonach Gelb und Blau, gemischt, Grün geben. Dies ist für die Malerfarben in der That richtig, aber es lässt sich leicht nachweisen, dass bei der Mischung materieller Farben eine Addition farbigen Lichtes, wie wir sie verlangen, gar nicht stattfindet.

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freieren. Wir denken uns : das Licht an sich ist weiss, Weiss also gleichbedeutend mit Helligkeit. Hierin bestärkt uns vor allem auch die Thatsache , dass unsere mächtigste Lichtquelle , die Sonne, uns annähernd weisses Licht spendet. Wir schliessen dann weiter, dass Weiss als Empfindung des Lichts an sich den absoluten und einzigen Gegensatz zu Schwarz als der Empfindung der Abwesenheit alles Lichts bilde. Thatsächlich verhält sich dies Falles i, nicht so. Auch in einer durch gelbes homogenes Natriumlicht erhellten Stube empfinden wir Helligkeit, in einer Stube ohne einen einzigen weissen Gegenstand mit blauem Himmel vor dem Fenster kann es blendend hell sein. Also Weiss und Helligkeit sind nicht identisch. Helligkeit ist das Attribut jeder Lichtempfindung, jeder Spectralfarbenempfindung , ebenso wie der Weiss- oder der Purpurempfindung. Weiss stellt nur ein für uns Menschen besonders wichtiges Spectralfarbengemisch dar. Es kommt hier namentlich Folgendes in Betracht : die Sonne sendet weisses Licht aus ; farbige Körper sind dadurch ausgezeich- net, dass sie einen Theil der im weissen Licht enthaltenen Strahlen absorbieren und nur einen Theil in unser Auge reflectieren. Da- durch sind sie farbig, aber auch lichtschwächer. Weisse Körper, da sie alle Lichtstrahlen reflectieren, sind in der uns umgebenden, von der weissen Sonne beschienenen Natur stets auch die licht- stärksten oder hellsten. So entsteht jener Irrthum, dass Weiss und Helligkeit identisch sei 1). Wenn aber jeder Spectralfarben- empfindung ebenso wie der Weissempfindung eine bestimmte Helligkeits-Intensität zukommt, so ist es auch falsch, die Schwarz- empfindung lediglich als Gegensatz zur Weissempfindung aufzu- fassen. Die Schwarzempfindung steht ebenso auch im Gegensatz zu jeder anderen Spectralfarbenempfindung : die Schwarzempfin- dung hat die Helligkeit 0, oder, was dasselbe ist, die Lichtstärke des ursächlichen Reizes ist = 0. Indem ich die Lichtstärke einer beliebigen Spectralfarbe herabsetze , geht jede Spectralfarben- empfindung in Schwarzempfindung über.

Wir wollen diese Uebergänge etwas näher betrachten. Der physikalische Reiz eines lichtschwachen Roth erweckt die Empfin- dung des Rothbraun , der eines lichtschwachen Gelb die des Braun, der eines lichtschwachen Grün die des Grünbraun oder Olivengrün, der eines lichtschwachen Blau die des Graublau etc. Wird die Lichtstärke noch weiter herabgesetzt, so gehen schliesslich Rothbraun, Bräun, Olivengrün und Graublau sämtlich in Schwarz über. Wir können auch diese Uebergänge graphisch darstellen, indem wir über dem oben gezeichneten Spectralfarben- kreis einen in der Axe gelegenen Punkt, welcher Schwarz darstellt, durch gerade Linien mit den verschiedenen Punkten des Kreises verbinden. Diese Verbindungslinien stellen alsdann die ver- schiedenen Uebergänge der einzelnen Spectralfarben in Schwarz bei Verminderung der Lichtstärke dar. Es ist sehr bemerkens- werth, dass also für den Farbensinn mit der Abnahme der Inten- sität des physikalischen Reizes die Empfindung nicht oder wenig-

1) Derselbe wird durch die später anzuführende Thatsache begünstigt, dass bei allmählicher Steigerung der Lichtstärke des Spectrums schliess- lich alle Farben in Weiss übergehen.

79

Fio:. 12.

stens nicht nur an Intensität abnimmt , sondern auch ihre Qualität ändert. Dies steht im engen Zusammenhang mit der schon erörterten Thatsache, dass die Lichtstärke 0 nicht etwa eine Empfindung von der Intensität 0, also gar keine Empfindung, sondern eine positive Empfindung, nämlich

die Schwarzempfindung auslöst, welch letztere psychologisch ebenso positiv ist, wie die Weissempfindung. Betrachten wir eine rothe Fläche in in immer grösserer Entfernung, also in abnehmender Lichtstärke, so än- dert sich zwar auch die Intensität der Empfindung , namentlich aber die Qualität. Es giebt keine reine

Intensitätsscala der Lichtempfin- dungen in demselben Sinne, wie es eine Intensitätsscala der Tonempfin- dungen giebt. Aber nicht nur für

die Spectralfarben existiert ein solcher Uebergang in Schwarz, son- dern auch für die Gemische, also namentlich für das Weiss. Wir

haben dessen Uebergänge in Schwarz als die Grauempfindung mit ihren Abstufungen schon oben kennen gelernt.

Jedoch auch, wenn wir zu den Spectralempfindungen die Empfin- dungen des Schwarz, Weiss, Purpur,

Grau, Braun, Graublau u. s. f. hinzufügen, so sind noch nicht alle Qualitäten der Farbenempfindung erschöpft. Sie werden für die Farbenempfindungen des Himmelblau , des Wasserblau, des Blassgrün, des Fleischroth, des Rosa vergebens einfache Spectral- farben suchen. Diese letzte Gruppe der Farbenempfindungen unterscheidet sich wesentlich durch das, was wir Farbensätti- gung nennen. Der physikalische Reiz, welcher diese weniger gesättigten Farbenempfindungen hervorbringt , besteht in der Mischung beliebiger Spectralfarben mit Weiss oder in der Mischung zweier geeignet gewählter, nicht complementärer Spectralfarben. Auch durch Steigerung der Lichtstärke wird jede Spectralfarbe ganz wie durch Beimischung von Weiss weisslicher oder, was dasselbe, ist weniger gesättigt. Mischt man immer mehr Weiss zu oder steigert man die Lichtstärke immer mehr, so geht jede Spectralfarbe schliesslich in Weiss über. Die Weissempfindung entsteht also , wie wir jetzt ergänzend hinzufügen können, nicht nur durch Mischung zweier complementärer Farben , sondern auch durch die excessive Steigerung der Lichtstärke jeder belie- bigen einzelnen Spectralfarbe. So geht Roth durch Fleischfarbe, Grün durch Blassgrün, Blau durch Himmelblau, Purpur durch Rosa allmählich in Weiss über. Wollen wir auch diese Farben mitsamt dem Weiss in unserer Figur darstellen, so müssen wir in den Mittelpunkt der Ebene des Farbenkreises Weiss verlegen.

Schwarz

8o

Fig. 13-

Die Radien des Kreises stellen alsdann die Abstufungen der Sätti- gung dar. Erst damit sind die Qualitäten die Lichtempfindung erschöpft. Durch Mischung der so gewonnenen Qualitäten ent- stehen keine neuen mehr, sondern nach bestimmten Gesetzen die alten wieder. Die wichtigsten dieser Mischungsgesetze verdanken wir Newton.

Zusammenfassend können wir sagen, dass die Qualitäten der Licht- empfindungen nicht wie diejenigen der Tonempfindungen eine einfache Linie darstellen , sondern nur in einem Gebilde von drei Dimen- sionen dargestellt werden können. Es erhebt sich für uns nun die Frage: ist bei dem Lichtsinn, so wie bei dem Gehörsinn, jede Nerven- endigung nur auf eine bestimmte Tonhöhe, also auf Schwingungen ganz bestimmter Wellenlänge abge- stimmt? Hieraufist entschieden mit Nein zu antworten. Für die zahl- reichen Fasern der CoRTi'schen Membran des Gehörorgans ist es wohl richtig, dass jede uns im Wesentlichen nur eine Empfin- dungsnüance vermittelt , hingegen zeigt die einfachste Beobachtung, dass im Allgemeinen jede Stelle der Netzhaut uns Farbenempfindungen von allen Nuancen zuführen kann. Nur die peripheren Theile der Netz- haut sind dadurch ausgezeichnet, dass sie für Grün unempfindlich sind, die periphersten, dass sie für Grün und Roth unempfindlich sind. Für die centralen Theile ergiebt sich unabweislich, dass jede Nerven- faserendigung für sehr viele, wenn nicht alle Farbenreize empfänglich sein muss. Die Physiologen nehmen heute meist an , dass an den Sehnervenendigungen nur drei verschiedene photochemische Sehsubstanzen vorhanden sind. Alle Farbenstrahlen wirken nur auf diese drei Substanzen. Die rothen Strahlen zersetzen vielleicht nur die eine Substanz , die gelben vielleicht zur Hälfte die eine, zur Hälfte die andere, die orange- farbenen Strahlen zur Hälfte die erste, zu einem Drittel die zweite und zu einem Sechstel die dritte Sehsubstanz. Kurzum die Wirkung jedes Farbenstrahls ist dadurch eindeutig be- stimmt und von der jedes anderen verschieden , dass er von jeder der drei Sehsubstanzen einen bestimmten, für eine Wellen- länge constanten, relativen Bruchtheil zersetzt. Man kann dann noch weiter gehen und in Anlehnung an die sog. Young-Helm- HOLTz'sche Hypothese und in strengster Durchführung der Lehre

Schwarz

von der specifischen Energie annehmen, dass jeder Sehsubstanz eine besondere Fasergattung im Sehnerven, eine besondere cen- trale Verknüpfung und eine besondere Grundempfindung ent- spricht, dass also jedes Netzhauttheilchen drei specifische Nerven- endigungen enthält. Indess ist gerade diese Hypothese psycho- logisch kaum festzuhalten. Wie weit die der HELMHOi/rz'schen entgegengesetzte HERiNG'sche Theorie den Forderungen der phy- siologischen Psychologie entspricht, ist hier nicht zu erörtern. Es genügt für uns, hervorzuheben, dass sicher nur die Thatsache feststeht, dass ein photochemischer Process die Einwirkung der Lichtstrahlen auf die Sehnervenendigungen vermittelt. Die Zahl der Sehsubstanzen, sowie die Zuordnung der einzelnen zu be- stimmten Farben oder gar besonderen Fasergattungen ist noch ganz unsicher und auch psychologisch weniger wichtig als die oben gegebene Darstellung der Qualitäten in ihrer dreidimen- sionalen Anordnung. In den Schriften von Helmholtz, Hering, Wundt und Kries1) werden Sie eine Darlegung der wichtigsten physiologischen Theorien finden.

Interessant ist es, dass in der Entwickelung des Einzelnen und in der Entwickelung der Völker, sowie endlich in patholo- gischen Fällen die Zahl der Qualitäten der Gesichtsempfindungen variiert. Das Kind lernt im Alter von zwei Jahren allmählich die Farben richtig benennen, und zwar zuerst Gelb, dann Roth, erst später Grün und Blau. Namentlich ,,Blau" wird noch lange als „Grau", oder als „gar nix" bezeichnet (Preyer). Erst zu Anfang des vierten Lebensjahres werden alle Farben richtig benannt ; man wird dies wohl z. Th. darauf zu beziehen haben, dass durch rein physiologische Umstände die Wirkung der blauen und grünen Lichtstrahlen im kindlichen Auge abgeschwächt wird. Vielleicht kommen daneben aber auch Differenzen in der qualitativen Unter- schiedsempfindlichkeit für die einzelnen Farbenempfindungen in Betracht.

Pathologische Lückenhaftigkeit der Qualitäten der Gesichts- empfindungen wird allgemein als Farbenblindheit bezeichnet. Man hat in seltenen Fällen eine totale Farbenblindheit betrachtet: es handelte sich um Individuen, die wohl Helligkeitsdifferenzen, dagegen keine Qualitäts- oder Farbendifferenzen empfanden. Diesen Kranken erscheint also die ganze Natur mit ihrer Farben- mannigfaltigkeit gewissermaassen nur als eine Silhouette mit ver- schiedenen Schattierungen. Etwas häufiger ist die sog. Violett- blindheit. Dieselbe lässt sich durch Santonin auch künstlich vor- übergehend bei jedem Menschen hervorrufen. Von den Violett- blinden und im Santoninrausch wird Violett und Gelb gleich empfunden. Häufiger sind die Roth- und Grünblindheit. Die Rothblinden sehen im Spectrum nur zwei Hauptfarben, welche sie meist als Blau und Gelb benennen, Roth, Orange und Grün erscheint ihnen wie ihr Gelb, Violett wie ihr Blau. Die Grün- blinden unterscheiden ebenfalls zwei Farbenqualitäten, welche sie

I Eelmholtz, Handbuch dar physiolog. Optik, 1. and 2. Aufl. Hbbing, Sitzungsber. d. Wiener Akad. Math.-naturwiss. Klasse, Bd. 66} 68, 69; Pflüoee's Archiv, Bd. 40—42. Wundt, Philos. Studien, Bd. 4. Ki.ik-, Arch. f. Augenheilk., Bd. 17, und Du Bois-Rkvmonij's Arch., 1882.

Ziehen, Physiologische Psychologie. 2. Aufl. ( j

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als Blau und Roth bezeichnen. Man hat behauptet, dass auch in der Culturentwickelung der Völker Farbenblindheit zeitweise bestanden hat und bei gewissen in der Cultur zurückgebliebenen Völkern noch besteht. Andererseits finden wir schon bei Insecten unzweifelhaft Fälle von Farbenunterscheidung. 1858 behauptete der jugendliche Staatsmann Englands Gladstone, die Griechen seien blaublind gewesen. Er stützte sich namentlich darauf, dass Homer eigene Bezeichnungen für blau nicht gehabt habe. Auch wurde zu Gunsten einer partiellen Farbenblindheit alter Völker1) z. B. die Thatsache verwerthet, dass bei Beschreibung der Regen- bogenfarben einige Farben ganz ausgelassen, andere versetzt wurden. Nun hat sich jedoch gezeigt, dass der Rückschluss von der sprachlichen Farbenbezeichnung auf den Farbensinn unsicher ist, und wenn Sie die Werke mancher unserer modernsten Dichter durchblättern, so werden Sie, wie ein Autor zahlenmässig zeigte, nicht selten die widersinnigsten Farbenangaben finden, Angaben, welche die Diagnose der Farbenblindheit gleichfalls nahelegen könnten. Eines jedoch scheint in der That sowohl für die alten Völker, wie für die jetzt lebenden Naturvölker, und, wie wir hin- zufügen können, auch für das neugeborene Kind, richtig zu sein, dass die Empfindlichkeit für die kurzwelligen Farben, also Grün und Blau, auffällig geringer ist. Daher findet sich oft ungenügende sprachliche Bezeichnung und mangelhafte Unterscheidungsfähig- keit gerade für diese Farben. Die Esthen haben nur für Roth, Grün und Gelb eigene Worte, das Wort für Blau ist dem Rus- sischen entlehnt. Die Bongoneger im Innern Afrikas haben sogar, wie es scheint, für alle langwelligen Farben nur das Wort »roth«, für alle kurzwelligen das Wort »schwarz«. Dass unser Farben- sinn allmählich sich entwickelt hat, darüber kann keinesfalls irgend ein Zweifel sein. Uebrigens sind wir alle bezüglich der peripheren Theile der Netzhaut farbenblind, und ebenso verhalten wir uns wie Farbenblinde, wenn die farbigen Objecte sehr weit von uns entfernt sind : dieselben erscheinen uns dann sämtlich entsprechend der Abnahme der Lichtstärke mehr und mehr schwärzlich. Auch höchste Steigerung der Lichtstärke scheint jede Farbenempfindung schliesslich in Weissempfindung übergehen zu lassen, also alle Oualitätenunterscheidung aufzuheben 2).

Wir wollen nun ähnlich, wie wir es in der letzten Vorlesung für die Tonempfindungen gethan haben, auch die qualitative Unterschiedsempfindlichkeit für die Farbenempfindungen bei dem normalen Auge und centraler Fixation bestimmen. Wir be- schränken uns hier auf die Reihe der Spectralfarben. Flier ergiebt sich 3), dass wir kleine Unterschiede des Farbentons am feinsten im Gelb und im Blau des Spectrums empfinden. Eine Aenderung der Wellenlänge um 3/4-m illionstel Millimeter genügt z. B.

1) Vergl. auch z. B. Odyss. Z, 231 u. ip 157 xö(iag vaxiv&iva> civß-ii 6(10 tag.

2) S. jedoch weiter unten. Ueber periphere Farbenblindheit, vergl. Hess, Graeee's Arch. XXXV.

3) König und Dieterich, Ann. d. Phys. u. Chem., 1884. Brodhun, Verh. d. Physiol. Ges. zu Berlin, 1885/86. Uhthoff, Du Bois-Keymond's. Arch., 1889.

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im Blauen (resp. Grünblauen), um die Empfindung- eines Unter- schiedes zu erwecken. Für die anderen Spectralfarben ist die qualitative Unterscheidungsempfindlichkeit erheblich geringer. An den Enden des Spectrums erkennen wir auf weite Strecken Aende- rungen des Farbentons überhaupt nicht, sondern nur solche der Helligkeit.

Wir haben damit die Betrachtung der Qualitäten des Ge- sichtsinns, also der Farbenempfindungen erschöpft und wenden uns zur Lehre von der Intensität der Farbenempfindungen. Diese Intensität oder Helligkeit ist offenbar auch hier wie bei den Tonempfindungen von der Schwingungsamplitude abhängig. Ich sagte Ihnen jedoch oben bereits, dass wir auf dem Gebiet der Lichtempfindungen von einer reinen Intensität nicht sprechen können. Der Lichtstärke 0 entspricht bereits eine deutliche positive Empfindung, nämlich die des Schwarzen. Selbstverständlich fehlt hier nicht jeder Reiz ; es müssen chemische Vorgänge für den Ruhestand der Netzhaut vorausgesetzt werden, welche fortwährend reizend auf die Sehnervenendigungen wirken und dadurch die Empfindung des Schwarzen auslösen. Lassen Sie nun auf diese ruhende Netzhaut ein allmählich an Intensität zunehmendes Spec- tralfarbenlicht , sagen wir z. B. ein rothes , einwirken, so nimmt die Empfindungsintensität zu, zugleich ändert sich aber auch die Qualität der Empfindung. Denn wir empfinden erst ein sehr dunkles, dann ein helleres Rothbraun, und dann erst Roth. Es rührt dies offenbar daher, dass der Rothempfindung der gereizten Netzhaut sich in abnehmendem Grad die Schwarzempfindung der ruhenden Netzhaut beimischt. Wenn ganz schwache rothe Strahlen die Netzhaut treffen, mischt sich der schwachen Rothempfindung die Schwarzempfindung noch in fast voller Stärke bei, und es entsteht die Empfindung des Dunkelrothbraunen. Je mehr die Rothstrahlen sich verstärken, je stärker die Netzhaut gereizt wird, in um so geringerem Maasse mischt sich die Schwarzempfindung bei, und schliesslich erhalten wir die reine gesättigte Rothempfin- dung. Wegen dieser fortgesetzten Beimischung der Schwarz- empfindung lässt sich eine Scala der Rothempfindungen, die mit der Intensität 0 beginnt und ohne qualitative Aenderung zu immer höheren Helligkeitsintensitäten ansteigt, gar nicht aufstellen. Auf dem Gebiet der Lichtempfindungen existiert kein Analogon zu der Scala der Tonstärken auf dem Gebiet der Tonempfindungen, welche z. B. mit dem leisesten eingestrichenen C beginnt und ohne Qualitätsänderung zum lautesten eingestrichenen C fortschreitet. Die Intensitätsscala der Lichtempfindungen ist mit einer Scala von Oualitätsänderungen gemischt. Reine Intensitätsbeobachtungen lassen sich daher auf dem Gebiet der Lichtempfindungen nicht anstellen : wir können uns keine reine Intensitätsscala qualitativ gleicher Lichtempfindungen verschaffen. Denn auch die Weiss- empfindung büsst nicht nur an Intensität ein, wenn die Licht- stärke abnimmt, sondern sie ändert auch die Qualität, indem sie durch Grau in Schwarz übergeht. Annähernd lässt sich höch- stens in derjenigen Gegend der gemischten Intensitätsscala, wo die Roth- resp. Weissempfindung am gesättigsten ist, die Qualität auf eine kurze Strecke als constant ansehen, und diese Strecke wäre zu Messungen der Empfindungsintensität verwerthbar.

6*

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Bevor wir jedoch zu diesen übergehen, lassen Sie uns den obigen Versuch noch weiter fortsetzen. Wir haben durch fort- gesetzte Steigerung der Lichtstärke die Empfindung des gesättigten Roths erzielt. Was geschieht, wenn wir die Lichtstärke noch weiter steigern? Es wurde schon oben erwähnt, dass jede ein- fache Spectralempfindung dann in die Weissempfindung übergeht. Es ist nicht zweckmässig , das Uebergehen der Spectralfarben- empfindungen in Weissempfindung bei fortgesetzter Zunahme der Lichtstärke direct in Parallele zu dem Uebergang in Schwarz- empfindung bei Abnahme der Lichtstärke zu setzen ; denn es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass complicierte Ueberreizungs- und Contrastersch einungen bei dem erstgenannten Vorgang betheiligt sind *). Jedenfalls ergiebt sich hieraus, dass auch nach der oberen Grenze hin eine reine Intensitätsscala nicht existiert : hier ändert sich die Qualität, insofern die Farbentöne allmählich weisslicher werden.

Aus den eben angeführten Gründen wird die Prüfuug des WEBER'schen Gesetzes für die Intensität der Gesichtsempfin- dungen stets eine unsichere sein. Die annähernde Gültigkeit dieses Gesetzes leuchtet freilich sofort ein. Sie wissen, dass das WEBER'sche Gesetz besagt, dass wir eine Differenz der Licht- stärke nicht nach dem absoluten Unterschied, sondern nach dem relativen schätzen. Ein einfacher Nachweis lässt sich hierfür durch die MASSON'schen Scheiben erbringen. Auf einer kreis- runden weissgefärbten Fläche ist , so wie ich es hier anzeichne,

im Verlauf eines Radius der Kreis- Fig. 14. fläche ein unterbrochener schwarzer

Strich von bestimmter Breite ange- bracht. Versetzt man nun die Scheibe

in schnelle Umdrehung, so ver- schmilzt jeder Theilstrich mit dem Weiss des zugehörigen Kreisringes zu einem grauen Ring, und zwar ist der innerste graue Ring am dunkelsten , die äusseren grauen Ringe zunehmend heller , da ein Theilstrich um so weniger von dem ganzen Kreisumfang ausmacht, also auch um so mehr von dem Weiss übertönt wird, je weiter er peripherie- wärts gelegen ist. Nehmen wir an, dass wir unsere Scheibe zu- nächst mit dem Licht einer Kerze beleuchten, und dass bereits der durch den schwarzen Theilstrich 4 hervorgerufene graue Ring so hell ist, dass wir ihn vom weissen Grund nicht mehr unter- scheiden können. Wir wollen nun statt einer Kerze 6 Kerzen anzünden : dann finden wir zu unserem Erstaunen, dass trotz des grossen Wechsels der absoluten Lichtintensität der graue Ring Nr. 4 noch immer derjenige ist, der eben vom weissen Grund

1) So könnte z. B. ein sehr intensives grünes Licht unmittelbar trotz seiner Fortdauer die Contrastempfindung des Rothen hervorgerufen und so eine Verschmelzung der beiden Farbenempfindungen zu einer weiss- lichen zu Stande kommen.

- §5 -

nicht mehr unterschieden werden kann. Bei diesem zweiten Ver- such hatten sich offenbar die absoluten Helligkeitsdifferenzen völlig verschoben, die relativen waren dieselben geblieben, und entsprechend dem WEBER'schen Gesetz blieb auch die Unter- schiedsempfindlichkeit dieselbe.

Auf ein sehr treffendes Beispiel für die annähernde Gültigkeit des WEBER'schen Gesetzes im Gebiet der Lichtempfindungen hat uns Fechner, der Begründer der Psychophysik, aufmerksam ge- macht. Ich habe Ihnen erörtert, dass das WEBER'sche Gesetz auch dahin formuliert werden kann: die Empfindungsintensität nimmt in arithmetischem Verhältniss zu, wenn die Reizstärke in geometrischem Verhältniss zunimmt. Die Astronomen nun haben von Alters her die Sterne in Klassen eingetheilt nach der Inten- sität der Lichtempfindung, welche die Sterne in dem betrachtenden Auge hervorriefen: die Astronomen unterscheiden hiernach Sterne I., 2. Grösse u. s. f. Es ist nun später gelungen, die objectiven Helligkeiten der bez. Sterne photochemisch zu bestimmen, und es ergab sich, dass die scheinbaren Helligkeiten in arithmetischem Verhältniss wachsen, während die objectiven Helligkeiten in geo- metrischem zunahmen. Die letzten eingehenden Versuche über die Intensität der Lichtempfindungen sind von Merkel *) ange- stellt worden, ebenso von König und Brodhun2). Es ergab sich, dass für Lichtreize mittlerer Intensität die relative Unterschieds- empfindlichkeit entsprechend dem WEBER'schen Gesetz nahezu constant ist. Bei sehr schwachen und sehr starken Reizen fand sich auch hier eine Abweichung. Die sog. untere Abweichung hängt z. Th. vielleicht mit dem sog. Eigenlicht der Netzhaut zu- sammen : schwache Lichtempfindungen werden gestört durch leichte, nie ganz zu beseitigende Reizzustände der Netzhaut, welche z. B. bei geschlossenem Auge uns als ein fleckiger Schimmer im Ge- sichtsfeld erscheinen. Dies Eigenlicht macht auch die sichere Bestimmung einer Reizschwelle für die Lichtempfindung fast un- möglich3). Die Unterschiedsschwelle scheint für weisse Lichtreize durchschnittlich V120 zu betragen, für sehr schwache und sehr starke Lichtreize ist sie grösser, besonders gross ist die Unter- schiedsschwelle für schwache rothe Spectrumstrahlen. Allzuviel ich wiederhole es werden wir auf diese „Intensitäts" - Mes- sungen, namentlich bei geringen und bei grossen Lichtstärken, nicht geben dürfen. Für die mittleren Lichtstärken des täglichen Lebens und deren Variationen ist es sehr wohl verständlich, dass durch Zuchtwahl unser Sehen im Lauf der Entwickelung vorzugs- weise die relativen Helligkeitsunterschiede auffassen und die ab- soluten ignorieren lernte. Wenn die absoluten Helligkeitsunter-

1) Philosoph. Studien, IV, H. 4.

2) Sitzungsber. d. Königl. preuss. Akad. d. Wiss., 1888. Neuerdings hat Schiemee die Unterschiedsempfindlichkeit zu !/2o4 bis l/227 bestimmt. (Graefe's Arch., Bd. 36.)

3 Sehr bemerkenswerth sind die neueren Untersuchungen Eberu's, Wiedemann's Annalen, 1888, und Langley, Energy and Vision, Americ. Journ. of Sc. XXXVI. Für die „untere Abweichung" hat Helmhollz neuerdings eine Formel entwickelt, aus welcher sich ein hyperbolischer Verlauf der Kurve ergäbe.

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schiede uns besonders lebhaft zur Empfindung kämen, also das WEBER'sche Gesetz nicht wenigstens annähernd gälte, so würde jedes Aufleuchten der Sonne, jedes Verziehen derselben hinter eine Wolke alle Schattierungen in der uns erscheinenden Um- gebung verzerren und eine sichere deutliche Wahrnehmung der Vorsprünge und der Vertiefungen der Gegenstände aufs höchste erschweren. Die Sicherheit unserer plastischen oder stereome- trischen Auffassung der Welt ist wesentlich an die Constanz der relativen Unterschiedsschwelle bei mittleren Lichtstärken gebunden.

Zum Schluss erheben wir wieder die wichtige Frage: wie ändert sich die Empfindung, wenn nicht eine, sondern mehrere Sehnervenfasern von demselben Lichtreiz getroffen werden? Wir haben schon vorhin gesehen, dass die Sehnervenfasern im Allge- meinen gleichwerthig sind, d. h. jede Sehnervenendigung nimmt Reize von jeder beliebigen Wellenlänge auf. Auch wenn man mit Helmholtz in jedem Netzhautelement drei verschiedene Nervenfaserendigungen annimmt, so wiederholt sich doch diese Trias nun in allen Theilen der Netzhaut gleichmässig. Die Ab- stumpfung der peripheren Netzhauttheile gegen Roth und nament- lich Grün kann hier ignoriert werden. Wir haben also ganz ähn- liche Verhältnisse vor uns wie bei dem Tastsinn : eine Reihe im Wesentlichen identischer Nervenfaserendigungen. In der That verhalten sich auch die gleichzeitig an verschiedenen Stellen der Netzhaut erregten Lichtempfindungen ganz ähnlich wie die gleich- zeitig an verschiedenen Stellen der Haut erregten Tastempfin- dungen : sie verschmelzen weder zu einer qualitativen Einheit, noch steigern sie ihre gegenseitige Energie, sondern sie ordnen sich zu einer räumlichen Fläche zusammen. Auch auf dem Ge- biet der Gesichtsempfindungen müssen wir darauf verzichten, die Grundthatsache zu erklären, dass wir die Gesichtsempfindungen wie jede andere Empfindung hinaus in einen »Raum«, das sog. Gesichtsfeld projicieren. Dass überhaupt ein Nebeneinander un- serer Empfindungen existiert, haben wir einfach hinzunehmen ; nur die Ordnung dieses Nebeneinanders können wir zu er- klären versuchen. Wir müssen uns auch hier auf die Beantwor- tung der Frage beschränken: wie kommt es, dass wir zwei Em- pfindungen, welche benachbarten Opticusfaserendigungen ent- stammen, auch im Gesichtsfeld zusammenfügen? Wir haben zur Beantwortung dieser Frage eine ganz ähnliche Ueberlegung an- zustellen, wie in unserer vorletzten Vorlesung (s. Fig. 15):

RR' sei ein Netzhautquerschnitt, CC der zugehörige Hirn- rindenquerschnitt, M stelle die sog. Macula lutea, den lichtempfind- lichsten Theil der Netzhaut dar, welcher direct auf den fixierten Gegenstand eingestellt wird. Die Sehnervenfasern aa\ bb\ cc\ dd' folgen in der Netzhaut in dieser bestimmten Reihenfolge mit ihren Endigungen aufeinander. In der Hirnrinde bleibt diese Reihen- folge nur zum geringsten Theil erhalten. Im besten Falle können wir eine gewisse Region der Hinterhauptsrinde den oberen Netz- hautregionen, eine andere den unteren zuordnen. Aber durchaus unwahrscheinlich ist es, dass auch für die einzelnen Fasern die Reihenfolge in der Hirnrinde so erhalten bleibt, wie sie in der Netzhaut war. Ja, wir wissen sogar, dass die Sehnervenfasern einer Netzhaut, sagen wir z. B. des linken Auges, z. Th. in der

Rinde der linken Grosshirnhemisphäre, z. Th. in der rechten en- digen. Wie kommt es nun, dass wir trotz dieser Umordnung der Fasern doch die von denselben vermittelten Empfindungen ent- sprechend der Faseranordnung der Netzhaut und daher auch entsprechend der Anordnung der Lichtreize d. h. der Gegenstände,

Fig. 15.

0

welche wir sehen, anordnen? Sehr bequem, aber unhaltbar ist die sog. nativistische Theorie, welche annimmt, dass von Geburt an einem jeden Netzhautpunkt ein bestimmter Raumpunkt zuge- ordnet ist ; auch lässt sich dieselbe nicht einmal mit _ allen Er- fahrungen der physiologischen Optik vereinigen. Wir werden uns daher auf den genetischen Standpunkt stellen und ver- suchen zu erklären, welche Anhaltspunkte für die Anordnung der Raumpunkte, und welche Unterscheidungsmerkmale für die ein- zelnen Raumpunkte unserem Gehirn gegeben sind. Sei O ein annähernd punktförmiges im oberen Theil unseres Gesichtsfeldes gelegenes Object, welches Lichtstrahlen auf die Retina RR' sendet. Diese Strahlen werden vermöge des eigenthümlichen Baues des Auges in einem Punkt der Netzhaut vereinigt: man findet den- selben, indem man O durch eine Grade mit einem bestimmten Punkt des Auges, dem sog. Knotenpunkt, verbindet und die Linie verlängert, bis sie die Netzhaut schneidet. Der Gegenstand O unserer Figur würde also alle seine Strahlen _ nach d senden und die dort gelegenen Nervenfaserendigungen reizen. Nun bewegen wir das Auge z. B. zu dem Zweck, auf das Object O den be- sonders empfindlichen Mittelpunkt unserer Netzhaut a einzustellen und so ein noch deutlicheres Bild von O zu gewinnen. Dabei gleitet das Netzhautbild von d über die Punkte c und b nach a\ bei einer Augenbewegung von bestimmter Grösse wird es c, bei einer grösseren 6, bei einer noch grösseren a erreichen. Indem wir das Auge drehen und das Netzhautbild des Objectes O von d nach a gelangt, haben wir eine continuierliche Reihe von Be- wegungsempfindungen r). Jeder Nervenfaserendigung ist eine Bewegungsempfindung bestimmter Grösse zugeordnet, und diese

1) Die hier vorgetragene Lehre stammt in ihren Eauptzügen von

LOTZE.

Bewegungsempfindungen bilden ihrer Intensität nach eine stetige Reihe. Einem Netzhautpunkt, der zwischen zwei anderen gelegen ist, kommt stets eine Grösse der associierten Bewegungsempfin- dung zu, welche zwischen den Grössen der den beiden anderen Punkten associierten Bewegungsempfindungen liegt. In dieser associierten Bewegungsempfindung besitzt jede Nervenfaserendi- gung gewissermaassen ein erworbenes Localzeichen. Durch /'ein zahllose Male wiederholtes Durchlaufen aller Linien der Netzhaut von a weg und wieder zu a zurück ist jeder Netzhautpunkt einem bestimmten Punkt im System der Bewegungsempfindungen und der von diesen stammenden Bewegungsvorstellungen zugeordnet. Damit ist uns ein Anhaltspunkt für die Localisation unserer Empfindungen gegeben. Wenn ein grösserer Gegenstand 00' die vier Netzhautpunkte a b c d zugleich erregt, so werden in der Hirnrinde vier Erregungen d' a b' c und die denselben entsprechenden Empfindungen auftreten. Wir localisieren nun diese Empfindungen nicht etwa in völliger Unordnung, also in willkürlicher Reihenfolge, in dem Raum, noch weniger in der Reihenfolge der Ganglienzellen, also in der Folge d' d b' c, son- dern wir ordnen die Lichtempfindungen nach der Scala der mit ihnen associierten Bewegungsempfindungen oder Bewegungsvor- stellungen. Damit ist jeder Empfindung ihre bestimmte Stelle angewiesen ; die Reihenfolge der Empfindungen entspricht somit der Reihenfolge der Netzhautpunkte und damit derjenigen der Objectpunkte. Es ist klar, welch' unendlicher Vortheil im Da- seinskampf dem ersten Thier gewonnen war, welches in dieser Weise seine Empfindungen localisierte. Der Protist mit seinen lichtempfindlichen Pigmentflecken wird, wenn er überhaupt räum- liche Empfindungen haben sollte, dieselben fast regellos in dem Raum localisieren; höchstens würde bei denjenigen Protisten, bei welchen die Richtung der Lichtstrahlen die Richtung der Fort- bewegung bestimmt (Phototaxis, Strasburger), durch Association der Lichtempfindung im einen Fall mit der Bewegung des Flie- hens, im anderen mit der des Näherns, ein gewisser Anhalt für die Unterscheidung zweier Richtungen und für die Localisation der Eindrücke in zwei Richtungen gegeben sein. Im Lauf der phylogenetischen Entwickelung der Thierreihe hat sich erst jene Localisation der Gesichtsempfindungen entwickelt, welche unser Auge zu dem Raumsinn v.ax z%oyj]v macht. Sie werden die wunder- bare Schnelligkeit unbegreiflich finden, mit welcher diese Ordnung der Empfindungen sich vollzieht : im Nu ohne jede Denkarbeit steht das Bild wohlgeordnet, ohne je einen Fehler aufzuweisen, vor uns. Gewiss hat eine über unendlich grosse Zeiträume sich erstreckende, auswählende Entwicklung dazu gehört, einen so zweckmässig reagierenden corticalen Sehapparat heranzuzüchten. Das neugeborene Thier und Kind ererbt diesen Apparat1): jedes einzelne Individuum muss ihn nicht mühsam aufs neue erwerben, sondern muss nur lernen ihn zu benutzen. Der Blindgeborene, der erst im späteren Leben sein Augenlicht durch eine Operation

1) Einen gewissen Anhalt für die anatomisch-physiologische Be- schaffenheit desselben geben vielleicht Munk's neuere Untersuchungen. Sitzungsber. d. Königl. preuss. Akad. d. Wiss., 1890.

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erlangt, sieht daher anfangs nur bunte Flecken vor seinem Auge schwimmen, er erkennt einen Kreis und ein Quadrat nur mühsam1). Erst allmählich lernt er seinen corticalen Apparat be- nützen und die Gesichtsempfindungen mit Bewegungs- und Tast- vorstellungen associieren.

Wenn Sie zum Schluss dieser Auseinandersetzungen durch einen Vergleich sich unsere räumliche Localisation noch einmal klar machen wollen, so vergegenwärtigen Sie sich einen Kapell- meister, der zum ersten Male ein Orchester dirigiert und dessen Ohr von zahlreichen Instrumenten in einem Augenblick zahlreiche Töne zuströmen. Anfangs wird der Kapellmeister die Tonmassen nur einfach ungeordnet beliebig nach aussen projicieren, aber all- mählich lernt er, dass dieser Geigenton immer von unten links, jener Flötenton immer von rechts kommt etc. Kurz, er lernt die verschiedenen Instrumentaltöne auf Grund z. T. unmerklicher Unterschiede localisieren ; feine Unterschiede des Klanges und feine Unterschiede der Hautempfindung, welche je nach der Schall- richtung die Töne begleiten, erlauben ihm schliesslich, den Ton der einen Violine sofort hierhin, den der anderen dorthin zu lo- calisieren. Kurzum, schliesslich projiciert unser Kapellmeister auch bei völlig geschlossenen Augen die Töne genau in der Ordnung nach aussen, in welcher die Tonquellen draussen wirklich ange- ordnet sind. Ich weiss von Kapellmeistern, die thatsächlich ein räumliches Tonfeld nach Art eines Gesichtsfeldes sich in dieser Weise construiert haben. Sehr bald schon vollzieht sich diese Projection ohne Ueberlegung, ebenso unmittelbar wie die Pro- jection der Erregungen unserer Sehsphäre, und ebenso richtig, d. h. ebenso übereinstimmend mit der Anordnung der äusseren Reize wie diese.

Eines wird Ihnen noch besonders auffällig sein, namentlich im Vergleich zu der Localisation gleichzeitig gehörter Töne : die Con- tinuierlichkeit unserer Gesichtseindrücke. Nie bleibt eine Lücke zwischen denselben, ja sogar Lücken der Nervenendigungen der Netzhaut, wie die des sog. blinden Flecks, werden unwillkürlich von uns ergänzt : wir sehen das dem blinden Fleck entsprechende Object in der Farbe der Umgebung. Man kann anatomisch zur Erklärung dieser Continuierlichkeit der Anordnung der projicierten Gesichtsempfindungen ev. die Anastomosen der Sehnervenfaser- endigungen in der Netzhaut oder die durchgängige Verbindung der Ganglienzellen der Sehsphäre durch Ausläufer 2) heranziehen. Vor allem wird man aber in der Continuierlichkeit der associierten Bewegungsvorstellungen den Hauptgrund für die Continuierlich- keit der Gesichtsempfindungen suchen müssen.

Bei der Untersuchung im Einzelnen sind noch folgende That- sachen auf dem Gebiet der Gesichtswahrnehmungen speciell zu

1) Vergl. nam. auch Rählmann, Zeitschr. f. Psychologie u. Physiologie der Sinnesorgane, II, 1 u. 2.

2) Und zwar sind es nach neueren Untersuchungen nicht etwa die sog. Protoplasmafortsätze , sondern gerade die Achsencylinderfortsätze, welche diese Verbindungen der Zellen vermitteln. Vergl. Golgi, Sulla fina anatomia degli organi centrali del sistenia nervoso, 1885, und Flechsig, Arch. f. Physiolog. du Bois-Reymond), 1889/

erklären. Erstens ist das Netzhautbild des Wirbelthierauges ein verkehrtes: was rechts und oben im Object ist, liegt links und unten im Netzhautbild und umgekehrt, und doch sehen wir das Object nicht entsprechend unserem Netzhautbild auf den Kopf gestellt, sondern entsprechend dem Object aufrecht. Wie kommen wir zu dieser unbewussten, höchst zweckmässigen Umkehr unseres Netzhautbildes? Hierzu ist zunächst zu bemerken, dass die Reihen- folge in der Projection unserer einzelnen Gesichtsempfindungen hierdurch gar nicht alteriert wird ; es handelt sich nur um die Projection im Ganzen. In Bezug auf diese ist nun entscheidend für unsere Umkehrung des Netzhautbildes die Controle durch die Tastempfindungen geworden : wir projicierten unsere Gesichts- empfindungen im Ganzen so, dass sie den Tastempfindungen con- form blieben; wir richteten uns gewissermaassen nach den letzteren. Auch dies ist kein ontogenetischer, sondern ein phylogenetischer Erwerb. Auch möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass es speciell eine Eigenthümlichkeit des V er teb raten- Auges ist, dass das Bild auf der Netzhaut verkehrt entworfen wird, und daher gewissermaassen eine psychische Wiederumkehrung noth- wendig ist. Das Summationsbild des Facettenauges des Leucht- käferchens ist z. B. kein verkehrtes, sondern ein aufrechtes Netz- hautbild ; das Leuchtkäferchen kann also seine Gesichtsempfin- dungen genau in der Lage projicieren, in welcher die Erregungen in seiner Netzhaut auftreten 1 ).

Eine zweite Frage geht dahin : Wir sehen mit zwei Augen, von der Mehrzahl der Objecte entsteht also ein doppeltes Netz- hautbild. Wie kommt es, dass wir trotzdem den Gegenstand ein- fach sehen und nur in seltenen Fällen z. B. wenn Sie beim Fixieren eines Gegenstandes das eine Auge mit den Fingern ver- schieben — doppelt? Diese Frage hat zu unzähligen physiolo- gischen und psychologischen Forschungen und Discussionen An- lass gegeben. Uns genügt es hier, Folgendes zu erwägen : Schon physiologisch ist die Verschmelzung der beiden Netzhautbilder dadurch vorbereitet, dass die Erregungen, welche auf den linken Hälften beider Netzhäute auftreten, vermöge der eigenthümlichen partiellen Sehnervenkreuzung zusammen in die rechte Gross- hirnhemisphäre gelangen, und umgekehrt. Psychologisch ist die Verschmelzung dadurch vorbereitet, dass gleichgelegenen Netzhautpunkten im Allgemeinen gleiche associierte Bewegungs- vorstellungen zukommen. Wie weit beide Momente im Einzel- falle zur Verschmelzung des Doppelbildes ausreichen oder nicht, gehört in die physiologische Optik.

Eine letzte Frage endlich geht davon aus, dass unsere Netz- hautbilder flächenhaft sind, und fragt, woher unsere Gesichts- empfindungen ihre stereometrischen Eigenschaften haben ; wir sehen Körper und keine Flächen. Auch hier handelt es sich offenbar um Association mit Bewegungs- und mit Tastvorstellungen. Es ist zum mindesten fraglich, ob das vollständig ruhende Doppel- auge jemals einen stereometrischen Raum sich construieren

1) S. Exner, Das Netzhautbild des Insectenauges. Sitzungsber. d. Wien. Akad. d. Wiss., 1889.

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könnte1). Aber unsere Augen bewegen sich, der Accommo- dationsmuskel spielt, der Kopf wird gedreht, der ganze Körper vorwärts bewegt, die Gesichtsempfindungen werden durch Be- tasten controliert und so eine grosse Summe neuer associierter Bewegungs- und Tastvorstellungen erworben. Durch Association mit diesen erhält erst unsere Gesichtswahrnehmung ihren stereo- metrischen Charakter. An sich hat sie, streng genommen, weder planimetrischen, noch stereometrischen Charakter, indem wir zu- nächst lediglich in bestimmten Richtungen projicieren und ganz unbestimmt lassen, wo auf dieser Richtung das Object liegt. Der Blindgeborene z. B. verlegt, wenn ihm später seine Sehkraft ge- geben wird, die Objecte unmittelbar an die äussere Oberfläche des Augapfels; erst allmählich lernt er seine Gesichtsempfindungen auch hinsichtlich der Entfernung, also stereometrisch richtig pro- jicieren.

Selbstverständlich lassen sich Versuche im Sinne des Weber- schen Gesetzes auch für die Sicherheit der Localisation und der räumlichen Unterscheidung der Gesichtseindrücke anstellen. Da- bei hat sich ergeben, dass im Allgemeinen ein Gegenstand auch im directen Sehen nicht mehr erkannt wird, wenn der Gesichts- winkel, unter dem er erscheint, kleiner wird als eine Minute. Für die extensive Grössenschätzung z. B. von Linien hat sich ergeben, dass das WEBER'sche Gesetz auch hier nur für mittlere Distanzen gilt. So z. B. ergiebt sich, dass bei dem Versuch, eine Distanz einer anderen gleichzumachen, der mittlere Fehler annähernd in demselben Verhältniss grösser wird wie die Distanz2). Werden die Distanzen, welche geschätzt werden sollen, sehr gross oder sehr klein, so erweist sich die relative Unterschiedsschwelle nicht mehr als constant. Uebrigens sind die individuellen Schwankungen hier sehr gross.

M. H. ! Wir haben damit das Gebiet der Gesichtsempfindungen im Wesentlichen erschöpft. Der Gehörsinn und der Gesichtsinn stellen die beiden Culminationspunkte unseres Empfindungslebens dar, und wir werden im Folgenden sehen, wie auch die weiteren intellectuellen Vorgänge ganz vorwiegend sich auf den Gesichts- und Gehörsempfindungen aufbauen.

1; Ueber auch hier etwa vorhandene physiologische Vorbedingungen s. Hering, 1. c. ; Helmholtz 1. c. u. A. m.

2 Man bezeichnet dies als die Methode der mittleren Fehler.

SIEBENTE VORLESUNG.

Die zeitlichen Eigenschaften und der Gefühlston der Empfindungen.

M. H. ! Wir unterscheiden bei jeder Empfindung drei Eigen- schaften, die Qualität, die Intensität und den begleitenden Gefühls- ton. Hierzu kommen dann noch die räumlichen und zeitlichen Eigenschaften der Empfindungen. Wir haben die Qualitäten und die Intensität der Empfindungen sowie ihre räumlichen Eigen- schaften in den letzten Vorlesungen eingehend besprochen und wenden uns heute zunächst zu den zeitlichen Eigen- schaften der Empfindungen.

Jeder Empfindung kommt eine bestimmte Dauer zu, welche im Allgemeinen derjenigen des Reizes entspricht. Für die Er- regung Rc in der Hirnrinde müssen wir dies als unbedingt geltend annehmen. Hingegen für den peripheren Reiz Rf ist der Satz, dass die Empfindungsdauer der Reizdauer entspricht, nicht ganz richtig. Ich will Sie hier nur an die sog. gleichfarbigen, sowie die complementären Nachbilder auf dem Gebiet der Gesichtsem- pfindungen erinnern. Wenn Sie eine helle rothe Scheibe be- trachten und dann das Auge schliessen, so sehen Sie oft noch einige Secunden, obwohl der äussere Reiz verschwunden ist, ein rothes, also gleichfarbiges Nachbild der Scheibe, welches sich weiterhin in ein zuweilen sehr intensives complementäres, also blaugrünes Nachbild der Scheibe verwandelt. Dies rührt, wie wir wissen, von Nachwirkungen des Reizes in der Netzhaut her: der äussere Reiz R war also mit dem Schluss der Augen be- seitigt, aber der periphere Netzhautreiz Rp nicht, und desshalb dauerte die Empfindung fort. Es handelt sich hier also lediglich um ein physiologisches Phänomen.

Wir fragen nun zuerst: wie verhält sich die Intensität einer Empfindung, wenn der ursächliche Reiz längere Zeit fortdauert? Sie können leicht selbst einen Versuch anstellen : hören Sie z. B. dem annähernd gleich massigen Rauschen des Wassers aus dem Hahn einer Leitung zu! Bei aufmerksamer Selbstbeobachtung werden Sie bemerken, dass es erst einige Secunden dauert, bis die Empfindung ihre volle Intensität erreicht hat, dass dieselbe

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sich dann unter sehr unbedeutenden Schwankungen lange auf gleicher Intensitätshöhe erhält und dann sehr langsam und auch nicht ganz stetig an Intensität verliert. Das anfängliche An- wachsen in diesem Versuch erklärt sich offenbar aus der ph}^sio- logischen Anpassung, namentlich der peripheren Organe: Sie müssen Ihr Ohr einigermaassen erst auf den Reiz günstig ein- stellen. Die sehr unbedeutenden Schwankungen der Intensität während des Höhestadiums der Empfindung haben deutlich einen annähernd rhythmischen Charakter. Nach den Versuchen von Lange ' ) schwillt die Empfindungsintensität etwa alle 2,5 4 Se- cunden regelmässig einmal an. Die Länge dieser Perioden scheint für die verschiedenen Sinnesempfindungen verschieden zu sein. Sie können die Thatsache selbst am leichtesten wahrnehmen, wenn Sie Ihre Taschenuhr in solcher Entfernung von Ihrem Ohr halten, dass Sie dieselbe eben noch hören : Sie werden dann das periodische An- und Abschwellen der Empfindung am besten ver- folgen können. Es ist am wahrscheinlichsten, dass diese periodi- schen Intensitätsschwankungen von Schwankungen der Erreg- barkeit in der Hörbahn vom Labyrinth bis zur Hörsphäre des Schläfenlappens abhängig sind. Andere leichte Schwankungen werden dadurch bedingt, dass wir anderweitige intercurrierende Empfindungen und Vorstellungen nicht immer in gleichem Maass ausschliessen können. Die spätere definitive Abnahme der Em- pfindungsintensität beruht unzweifelhaft auf der physiologischen Ermüdung, welche sich im ganzen Verlauf der Sinnesbahn bis zur Hirnrinde geltend macht, und dem gleichzeitigen immer in- tensiver werdenden Auftreten anderweitiger Vorstellungen.

Eine weitere Frage geht dahin, wie lange ein Reiz min- destens andauern muss, um eine Empfindung auszulösen. Zu- nächst scheint es, dass im Allgemeinen schon eine unmessbar kleine Dauer genügt, um eine Empfindung auszulösen ; dabei ist jedoch die Intensität des Reizes und bei Lichtreizen auch die Grösse der räumlichen Ausbreitung von Bedeutung. Es zeigt sich ferner, dass sehr kurzdauernde Reize ganz ebenso wie sehr schwache Reize Empfindungen von weniger ausgesprochener Deutlichkeit der Qualität auslösen. Wenigstens wird es uns bei zu rasch vorübergehenden Reizen unmöglich, die Qualität der stattgehabten Empfindung, also Farbe oder Tonhöhe, associativ nachträglich richtig anzugeben. Die Qualität war zu undeutlich, als dass sie die zugehörigen Erinnerungsbilder hätte erwecken können. So sind mindestens 2 Schwingungen nothwendig, um überhaupt eine Tonempfindung zu erzeugen, und eine etwas grössere Zahl, um die Tonhöhe eines bestimmten Tones zu er- kennen * ). Da dies für hohe und tiefe Töne annähernd gleich- massig zu gelten scheint, ist für den Gehörsinn die absolute Zeit- dauer des Reizes weniger maassgebend für die Erkennung der

1) Philosoph, Stud., IV.

2) Pfaundler, Wien. Sitz.-Ber. 1877. Kohlrausch , Wikdemann's Annalen, 1880. Völlige Uebereinstimmung haben übrigens die seitherigen Untersuchungen noch nicht ergeben. Exnbe (PelüGEe's Arch., Bd. XIII) fand 17 Schwingungen nothwendig, um einen Ton in seiner bestimmten Höhe zu erkennen.

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Tonqualität als die absolute Zahl der Schwingungen *). Sehr schwer ist die Frage experimentell zu entscheiden, wie gross unsere Zeitunterschiedsempfindlichkeit z. B. für Gehörseindrücke ist. Doch will ich Ihnen mittheilen, dass Mach2) fand, dass wir bereits den Unterschied merken, wenn ein 1/a Secunde anhaltender Ton um I/120 Secunde verlängert wird. Das WEBER'sche Gesetz scheint sich nach den bis jetzt vorliegenden Versuchen hier nicht als gültig zu erweisen.

Zwei oder mehr Sinnesempfindungen, welche zeitlich in sehr kurzem Zwischenraum aufeinander folgen , verschmelzen zeitlich ganz ähnlich zu einer einzigen Empfindung wie räumlich unmittel- bar nebeneinander gelegene Empfindungen zu einer Linie. Das Zeitintervall, welches erforderlich ist, um zwei Sinnesempfindungen noch als zeitlich getrennt zu empfinden, ist nach der Qualität der Empfindung ausserordentlich verschieden. Für das Auge ist ein Intervall bis 1/2Ö Secunde erforderlich, für das Ohr kann ein Intervall von 1/5„0 Secunde genügen. Diese Verschmelzung sehr nahe aufeinander folgender Sinnesempfindungen beruht wahr- scheinlich auf physiologischen Gründen. Ausdrücklich muss ich hingegen hier wie bei der räumlichen Localisation hervorheben, dass wir die Thatsache, dass wir unsere Empfindungen überhaupt wie in einen Raum so auch in eine Zeit projicieren und einordnen, psycho-physiologisch nicht erklären , sondern einfach hinnehmen müssen. Ganz zum Schluss unserer Vorlesungen werden wir diese Frage noch einmal streifen können. An dieser Stelle acceptieren wir einfach das Factum. Dabei möchte ich Sie hier auf einen wesentlichen Unterschied der räumlichen und der zeit- lichen Anschauung hinweisen: in den dreidimensionalen Raum projicieren wir unsere Empfindungen, in die eindimensionale Zeit nicht nur unsere Empfindungen , sondern auch unsere Er- innerungsbilder derselben, die Vorstellungen.

Sie werden hier noch die Frage einschalten, wie viel Empfin- dungen wir überhaupt zu gleicher Zeit haben können : die Ant- wort hierauf lautet , dass die Zahl der zugleich möglichen Em- pfindungen eines Sinnes fast unbeschränkt ist. Sie haben ge- hört, wie die coexistenten Gesichts- und Gefühlsempfindungen sich räumlich ordnen und die coexistenten Gehörsempfindungen ver- schmelzen. Zweifelhafter schon scheint es, ob wir eine Gesichts- und Gehörsempfindung, also zwei oder mehr Empfindungen ver- schiedener Sinne zugleich haben können. Die schwächere Rinden- erregung , z. B. ein leiser momentaner Schall , bleibt in diesem Falle in Folge des Ueberwiegens einer stärkeren anderweitigen Rindenerregung, z. B. eines gleichzeitigen intensiven Lichtreizes, oft ohne psychischen Parallelvorgang oder, wie wir sagen können, unempfunden. Unter den Empfindungen oder, richtiger, unter den sensorischen Rindenerregungen finden also ähnliche Hem-

1) Götz Maktius hat neuerdings festgestellt, dass die Zahl der zur Entstehung und Erkennung einer Tonempfindung erforderlichen Schwing- ungen mit der Tonhöhe doch langsam wenigstens bis c3 zunimmt Vergl. auch Stumpf, Tonpsychologie.

2) Sitzungsber. d. Wien. Akad., Bd. 51.

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mungen statt, wie wir sie später unter den Vorstellungen wieder- finden werden. Nicht zu verwechseln hiermit ist die Frage, wie viel gleichzeitig auftretende Empfindungen noch erkannt oder gezählt werden können. Cattell hat solche Untersuchungen angestellt ') und z. B. gefunden, dass 3 6 Linien, welche 0,01 See. neben einander sichtbar sind, noch richtig gezählt werden. Hier handelt es sich offenbar nicht allein um Thatsachen der Empfin- dung , sondern um Association von Vorstellungen , speciell von Zahlvorstellungen , und diese ist nur für eine beschränkte Zahl von gleichzeitigen momentanen Empfindungen möglich.

Die letzte Eigenschaft der Empfindung ist der die Empfindung begleitende Gefühls ton. Wir haben denselben oben abgekürzt mit a bezeichnet und schon gehört, dass dieser Gefühlston nichts anderes ist, als das Lust- oder Unlustgefühl, welches in wechseln- dem Grade unsere Empfindungen begleitet. Ich muss jedoch hier sofort vor einer Verwechselung warnen. Wenn Sie einen Freund sehen, so freuen Sie sich : diese Freude jedoch hat mit unserem die Empfindung begleitenden Lustgefühl oder Gefühlston nichts zu thun. Denn es ist nicht die Gesichtsempfindung des Freundes an sich , welche das Lustgefühl hier hervorruft, sondern die an die Gesichtsempfindung associativ angeknüpften Vorstellungen, dass es mein Freund ist, dass ich mit ihm sprechen kann u. s. f., erwecken mir erst das Lustgefühl. Wir müssen also streng schei- den zwischen dem Affectton, welcher die Empfindung als solche, und demjenigen, welcher die nicht sinnlich lebhaften Vorstellungen oder Erinnerungsbilder begleitet. Wir sprechen hier zunächst nur von dem ersteren. Ich will Ihnen einige einfache Beispiele für den die Empfindung begleitenden Affectton geben. Schlagen Sie den Accord c-e-g an, so ist diese Gehörsempfindung von ent- schiedenem Lustgefühl begleitet ; wir nennen den Klang daher einen harmonischen. Schlagen Sie hingegen c und d zugleich an, so ist die Gehörsempfindung von einem lebhaften Unlustgefühl be- gleitet, und wir sprechen von einer Dissonanz. Man bezeichnet nun die Lustgefühle als positive, die Unlustgefühle als negative Gefühlstöne. Diese begleitenden Lust- und Unlustgefühle sind von sehr verschiedener Intensität. Der Accord c-es-g, der sog. Mollaccord, erregt auch noch eine von Lustgefühl begleitete Ge- hörsempfindung, aber das Lustgefühl ist bereits erheblich geringer. Eine Chininlösung schmeckt je nach ihrer Concentration in sehr verschiedenem Grade unangenehm. Schliesslich giebt es eine ganze Reihe von Empfindungen, welche sich bez. des Affecttones gewisser- maassen neutral verhalten, also weder von deutlichem Lustgefühl noch von deutlichem Unlustgefühl begleitet sind. Hierher gehören weitaus die meisten Empfindungen unserer höchsten Sinne. Wie zahllose Gesichtsbilder rauschen täglich vor Ihnen vorüber, wie viel Klänge und Geräusche! Und wie wenige derselben sind mit irgend welchem Affect verbunden ! Und die wenigen, welche sie schmerzen oder erfreuen, haben diese Affectwirkung grösstentheils nicht als Empfindungen an sich , sondern , wie das Sehen des Freundes im obigen Beispiel, vermöge der mit ihnen verknüpften

1; Philosoph. Stud., III. Cattell's Deutung kann ich freilich nicht beipflichten.

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Vorstellungsreihen. Der Affectton ist also keineswegs eine not- wendige Eigenschaft der Empfindung. Zwischen der Scala der Lustgefühle und der Unlustgefühle liegt ein Nullpunkt oder In- differenzpunkt. Nur eine beschränkte Zahl von Empfindungen erhebt sich bez. des Affecttons über denselben oder sinkt unter ihn herab.

Wir fragen nun zunächst, wovon ist der Gefühlston einer Empfindung abhängig? Am klarsten ist die Abhängigkeit des Gefühlstons von der Intensität des Reizes resp. der Empfindung. Ein einfacher Ton, sehr leise angeschlagen, lässt uns meist gleich- gültig. Mit seinem allmählichen Anschwellen treten langsam wachsende Lustgefühle auf. Bei mittlerer Stärke hat der ange- nehme Eindruck des reinen Tons entschieden seinen Höhepunkt erreicht. Bei weiterer Verstärkung des Tons nimmt dieses Lust- gefühl sehr rasch ab und geht in Unlustgefühl über. Hat der Ton die Reizhöhe erreicht, so ist die gellende Gehörsempfindung vom höchsten Unlustgefühl begleitet. Aehnliches gilt auch auf anderen Sinnesgebieten. Das intensive Licht, welches uns blendet, ist uns unangenehm , Licht mittlerer Intensität wird am ange- nehmsten empfunden. Wir können diese Abhängigkeit des Gefühls- tones von der Empfindungsintensität auch graphisch durch eine Curve ausdrücken. Die schwarzen ausgezogenen Linien der folgen- den Zeichnung sind Ihnen schon bekannt. Sie stellen das Verhält-

Fig. 16.

Er

niss der Reizstärke und Empfindungsintensität dar. Auf der Ab- scissenachse sind die Reizstärken eingetragen. Rs bezeichnet die Reizschwelle, Rh die Reizhöhe. Die schwarze ausgezogene Curve giebt den Verlauf der Empfindungsintensität bei zunehmender Reizstärke an. Punktiert ist die Curve der Intensität des Ge- fühlstones der Empfindung eingezeichnet. Was von der punk- tierten Curve über der Abscissenachse liegt, bedeutet positiven Gefühlston, also Lustgefühl, was unter der Achse liegt, nega- tiven, also Unlustgefühl. Sie sehen, dass mit der Reizschwelle, mit dem Auftauchen der schwächsten Empfindung die Gefühlscurve sich über die Abscissenachse erhebt. Ihren Höhepunkt erreicht sie

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bei mittlerer Emprindungsstärke. Dann nimmt das Lustgefühl rasch ab und verwandelt sich in zunehmendes Unlustgefühl : die Curve fällt jäh ab und sinkt unter die Abscissenachse 1).

Bei gewissen Geistesstörungen ändert sich diese Curve in ganz charakteristischer Weise. So ist z. B. die Melancholie da- durch charakterisiert, dass schon bei viel geringeren Empfindungs- intensitäten das Lustgefühl in ein Unlustgefühl umschlägt. Schliess- lich kommt es bei dieser Krankheit dahin, dass die Gefühlscurve sich überhaupt nicht über die Achse erhebt , sondern mit der leisesten Empfindung schon ein Unlustgefühl sich verknüpft : alles wird schmerzlich empfunden.

Complicierter ist die Abhängigkeit des Gefühlstones von der Qualität der Empfindung. Auf dem Gebiet der Geschmacks- empfindungen ist entschieden die Qualität des Süssen enger mit Lustgefühlen, die Qualitäten des Sauren, Salzigen und namentlich des Bitteren enger mit Unlustgefühlen verknüpft. Jedoch schärfere Beobachtung lehrt, dass auch hier die Intensität maassgebend ist. Wir lieben unsere Speisen ein wenig gesalzen, und einen leichten bitteren und sauren Geschmack empfinden wir angenehm , wäh- rend umgekehrt concentrierteste süsse Lösungen uns widerlich werden. Auch hier verbinden sich mit geringeren Empfindungs- intensitäten Lustgefühle, mit grösseren zunehmende Unlustge- fühle. Immerhin bleibt es bemerkenswerth, dass Bitter schon bei relativ geringeren Intensitätsgraden Unlustgefühle erweckt, Süss hingegen erst bei viel höheren. Offenbar ist dies lediglich phylo- genetisch verständlich. Die Frauenmilch stellt, abgesehen von ihrem Fett- und Eiweissgehalt, eine 4-proc. Zuckerlösung dar. Der Säugling, bei welchem besondere Lustgefühle an die Empfindung des Süssen gebunden waren, suchte die Brust der Mutter eifriger auf, ernährte sich besser und hatte damit bessere Chancen, heran- zuwachsen. Jahrtausende haben nun diese Eigenthümlichkeit ge- züchtet, so dass sie heute allgemein ist. Die Geruchsempfindungen verhalten sich durchweg wie die Geschmacksempfindungen. Auch hier ist vor Allem die Intensität der Empfindung maassgebend : der unangenehmste Geruch wird bei geeigneter Verdünnung zum Wohlgeruch.

Eine ganz besondere Wichtigkeit kommt den begleitenden Gefühlstönen auf dem Gebiet der Hautempfindungen zu, und zwar sind hier die begleitenden Lustgefühle erheblich weniger ausgesprochen als die Unlustgefühle. Eine laue Wärme, eine leichte Kälte, eine weiche Berührung lösen nur sehr geringe positive Gefühlstöne aus. Um so ausgesprochener stellt sich bei

1) Horwicz (Psychologische Analysen, LT, 2, S. 26) erhebt mehrere nicht unberechtigte Einwände gegen diese im Wesentlichen an Wundt angelehnte Darstellung; so hebt er auch hervor (mit Beneke), dass gerade sehr schwache Empfindungen nicht selten mit Unlustgefühlen ver- knüpft sind. Es würde also die Atfectcurve, bevor sie sich überhaupt über die Nulllinie erhebt, wenigstens für gewisse Sinnesqualitäten erst für eine kurze Strecke unter dieselbe sinken. Eine leidliche Uebersicht der einschlägigen Literatur finden Sio in Cesca, die Lehre von der Natur der Gefühle, Vierteljschr. f. wiss. Philos., 1880. X. Vergl. auch in der selben Ztschr., XI, 0. Külpe, Zur Theorie der sinnlichen Gefühle.

Ziehen, Physiologische Psychologie. :.'. Aufl. 7

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stark zunehmender Wärme, Kälte und Druckempfindung ein Un- lustgefühl ein, welches wir als Wärmeschmerz, Kälteschmerz und Druckschmerz bezeichnen. Der Schmerz ist also keine besondere Empfindungsqualität, sondern lediglich eine Specialbezeichnung für das Unlustgefühl , welches sehr intensive Hautempfindungen begleitet. Uebrigens sprechen wir gelegentlich auch von einem schmerzhaft gellenden Ton oder einem schmerzhaft blendenden Licht. Bemerkenswerth ist aber für die schmerzhaften Haut- empfindungen, dass in unserem Bewusstsein der negative Gefühls- ton die Empfindungsqualität ganz übertönt: bei sehr heftigen Wärme- und Kälteeinwirkungen oder sehr heftigen mechanischen Reizen, also z. B. Stichen, glauben wir daher schliesslich nur Schmerz, also den Affectton ganz losgelöst von der Empfindung zu fühlen. Oft hat man daher die Schmerzempfindung zu einer besonderen Qualität der Hautempfindungen stempeln wollen1), aber weder haben sich in der Haut besondere Schmerzpunkte nachweisen lassen, noch ein qualitativ besonders beschaffener Reiz als Ursache der Schmerzempfindung. Auch ist es sehr wohl ver- ständlich, dass gerade für die Hautempfindungen bei intensiven Reizen das Unlustgefühl eine solche dominierende Bedeutung er- langt hat.# Sie werden später hören, dass die Handlung, welche auf eine Empfindung erfolgt, ganz wesentlich hinsichtlich der Schnelligkeit ihres Eintritts und hinsichtlich ihrer ganzen Be- schaffenheit von dem die Empfindung begleitenden Gefühlston abhängt. Je unangenehmer eine Empfindung, um so rascher und energischer suchen wir uns derselben zu entledigen : wir fliehen oder wir wehren uns. Nun bilden intensive mechanische und calorische Reize in der Entwicklung der Thierreihe die früheste, häufigste, directeste und grösste Gefahr für den Thierkörper. Dem musste sich der Thierkörper anpassen : er musste auf diese Reize besonders rasch mit Abwehr- oder Fluchtbewegungen antworten. Dies ist nun thatsächlich in zweckmässigster Weise dadurch er- reicht , dass mit intensiveren mechanischen und calorischen Em- pfindungen ein so durchaus dominierendes Unlustgefühl wie das des Schmerzes sich verbindet. Man hat auch behauptet, die Schmerzempfindung entstehe speciell dann, wenn ein Reiz nicht die Nervenendigungen , sondern einen Nervenstamm oder ein Nervenstämmchen in seinem Verlauf treffe. Es erklärt sich dies genügend daraus, dass bei Reizung eines Nervenstämmchens die Zahl der gereizten Fasern naturgemäss eine grössere ist. Weiter hat man geglaubt, eine getrennte Leitung für die Berührungs- und die Schmerzempfindungen im Rückenmark annehmen zu müssen , da erstens Schiff nach Durchschneidung der grauen Substanz des Rückenmarks bei Thieren isolierte Analgesie, d. h. Aufhebung der Schmerzempfindlichkeit ohne Störung der Be- rührungsempfindlichkeit beobachtet hat, und zweitens überhaupt

1) Rechet, Recherches sur la sensibilite; Goldscheidek, du Bois- Reymond's Arch. 1885, S. 90. Die seltsame Angabe des letzteren, dass in- tensive calorische Reizung der Wärme- und Kältepunkte selbst nur relativ geringen Temperaturschmerz erzeugt, jedenfalls erheblich geringeren als die Reizung der zwischen den Temperaturpunkten gelegenen Hautfläche, bedarf noch der Bestätigung und Aufklärung.

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bei gewissen Krankheiten, z. B. Tabes, Analgesie bei erhaltener Berührungsempfindlichkeit, also ohne Anästhesie vorkommt; ja es kommt sogar bei Tabes vor, dass der Pat. bei Application eines Stiches zuerst eine Berührung und erst nach einigen Se- cunden Schmerz zu fühlen angiebt. Schiff's diesbezügliche Ver- suche sind jedoch durchaus nicht einwurfsfrei, und die übrigen hier angeführten Erscheinungen erklären sich eventuell auch ohne die Annahme getrennter Leitungsbahnen für die Berührungs- empfindungen und die Schmerzempfindungen. Es genügt nämlich, anzunehmen, dass z. B. bei der Tabes durch den pathologischen Process die Nervenfassern zuweilen so verändert sind, dass sie schwache Reize noch aufnehmen und bis zur Hirnrinde leiten, starke Reize hingegen gar nicht leiten oder abschwächen oder einen grösseren Bruchtheil des Reizes langsamer leiten *). Bei unserer fast völligen Unkenntniss des Wesens der pathologischen Veränderungen des Leitungsvermögens in den sensiblen Bahnen sehe ich nicht ein, weshalb diese Annahme a priori zu verwerfen wäre. Durch dieselbe wäre sowohl die »Analgesie ohne Anästhesie«, wie die Trennung der Empfindung in zwei aufeinander folgende Empfindungen, nämlich in eine schwache schmerzlose und eine starke schmerzhafte, erklärt. Aus all diesen Ausführungen ergiebt sich jedenfalls, dass keinerlei Grund vorliegt, den Schmerz als eine besondere Qualität der Hautempfindungen aufzufassen. Viel- mehr definieren wir denselben lediglich als das starke Haut- empfindungen begleitende Unlustgefühl.

Aehnlich wie bei den Hautempfindungen spielt der Gefühls- ton auch bei den sogenannten Organempfindungen eine domi- nierende Rolle. Sie werden sich entsinnen, dass unter normalen Verhältnissen die Intensität dieser Empfindungen äusserst gering ist. Erst durch den begleitenden Gefühlston der Unlust, den Schmerz, werden wir auf die meisten Organempfindungen auf- merksam 2).

Den Empfindungen der einfachen Töne bei mittlerer Stärke kommt nur ein sehr wenig ausgesprochener Gefühlston zu. Die Qualität ist in weiten Grenzen ohne Einfluss auf den Gefühlston. Nur zu hohe und zu tiefe Töne pflegen ceteris paribus leichter von negativen Gefühlstönen begleitet zu sein. Um so bemerkens- werther wird der Einfluss der Qualität der Tonempfindung, sobald es sich um Geräusch- oder Klangempfindungen handelt, sobald also mehrere einfache Töne bei Erzeugung einer Schall empfindung zusammenwirken. Die wichtigste Thatsache ist hier, dass die uuregelmässig periodischen Schwingungen der Geräusche im All- gemeinen nicht von positven Gefühlstönen begleitet sind , dass vielmehr nur die regelmässig periodischen Schwingungen der Klänge positive Gefühlstöne auslösen können. Ich sagte Ihnen früher : Wenn Sie eine Taste auf dem Ciavier anschlagen , so

1) Für diese Fragen kommen .jetzt namentlich auch die neueren Untersuchungen von Golgi, Ramön y Cajal und Külliker in Betracht, wonach die in das Rückenmark eingetretenen sensiblen Fasern sicli theilen und auch weiterhin zahlreiche Collateralen abgeben.

2) Auch die einseitige Verknüpfung der Genitalempfindungen mit positiven (Tf'iühlst<"i?ifM"i wäre hier zu erwähnen.

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hören Sie thatsächlich nicht einen einfachen Ton, sondern einen Klang, d. h. einen Accord mit ganz bestimmten, an Stärke all- mählich abnehmenden Obertönen, deren Schwingungszahlen in einfachem Zahlenverhältniss unter einander stehen. Jeder reine Ciavierton löst im Allgemeinen ein leichtes Lustgefühl aus, und thatsächlich entsteht er, wie Sie wissen, aus regelmässig periodischen Schwingungen der Lufttheilchen. Sie wissen aber nun weiter, dass gewisse Verbindungen sowohl von einfachen Tönen, wie von Klängen, also z. B. Ciaviertönen, einen noch un- vergleichlich grösseren Wohlklang als der einfache Ton oder Klang besitzen. Es sind dies die sog. consonanten Accorde. Es ist eines der interessantesten und schwierigsten Probleme, fest- zustellen , unter welch allgemeineren Bedingungen eine Tonver- bindung consonant oder dissonant ist, d. h. positive oder negative Gefühlstöne auslöst. Zunächst ist begreiflich, ja sogar selbstver- ständlich, dass die consonanten Accorde, z. B. der gewöhnliche C-dur-Accord c-e-g, aus Tönen bestehen müssen, deren Schwing- ungszahlen in einfachen Verhältnissen zu einander stehen. Denn, wie Sie wissen, ist nur dann, wenn diese Bedingung erfüllt ist, der Accord aus einer regelmässigen periodischen Schwingungsform entstanden, und letztere ist die conditio sine qua non für starke positive Gefühlstöne. In der That verhalten sich z. B. Schwing- ungszahlen der Töne c-e-g , wie die einfachen Zahlen 4:5:6. Indes nicht alle Accorde, deren Theiltöne Schwingungszahlen von so einfachen Zahlenverhältnissen besitzen, sind consonant ; z. B. der einfache Accord c-d klingt im Allgemeinen durchaus disso- nant, d. h. löst durchaus negativen Gefühlston aus, und doch ist er ein Klang; es verhalten sich nämlich die Schwingungszahlen von c und d wie die einfachen Zahlen 8 und 9. Also nicht jeder Accord von regelmässiger periodischer Schwingungsform löst das Lustgefühl der Consonanz aus, es giebt auch Accorde , deren Schwingungsform durchaus regelmässig periodisch ist und welche trotzdem dissonant sind. Weshalb ist nun c-e-g consonant und c-d dissonant? Beide sind keine Geräusche, sondern Klänge im weiteren Sinne l ), beide beruhen auf regelmässigen periodischen Schwingungen der Lufttheilchen. Man könnte an den Einfluss der Obertöne denken, welche z. B. auf dem Ciavier jedem Ton beigemischt sind , und den dissonanten Charakter des Accordes c-d darauf zurückführen wollen, dass bei diesem Accord die Ober- töne die Regelmässigkeit der Schwingungsform stören, bei dem anderen nicht. Indes dieser Versuch ist verfehlt : auch für Stimm- gabeln, denen Obertöne fehlen, ist c-e-g consonant, c-d dissonant.

1) Klang ist im Allgemeinen jede Tonverbindung, welche eine regel- mässig periodische Schwingungsform besitzt oder, was dasselbe ist, eine Verbindung einfacher Töne, deren Schwingungszahlen in einfache Zahlen- verhältnissen stehen. Der Ciavierton ist der einfachste Specialfall eines Klanges : hier verhalten sich die Schwingungszahlen der Theiltöne wie 1:2:3:4 etc., und die Intensität der Theiltöne nimmt, je höher sie werden, um so mehr ab. Der Accord ist umgekehrt ein Klang, dessen Theiltöne alle annähernd gleichstark sind und Schwingungszahlen von dem Verhältniss m : n : O : p etc. besitzen, wo n und m und o und p nur überhaupt ganze Zahlen sind.

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Ich will Ihnen von den mannigfachen Antworten , ] welche man auf unsere Frage gegeben hat, nur diejenige mittheilen, ] welche Helmholtz in seiner berühmten Lehre von den Tonempfindungen gegeben hat. Die HELMHOLTz'sche Antwort geht davon aus, dass bei gleichzeitigem Erklingen zweier Töne von wenig verschiedener Schwingungszahl sog. Schwebungen auftreten, d. h. die Tonstärke schwillt alternierend an und ab. Die Zahl dieser Schwebungen in der Secunde entspricht genau der Differenz der Schwingungs- zahlen. Diese Schwebungen sind ferner für unser.Ohr] meist ^un- angenehm, am unangenehmsten dann, wenn etwa 20—40 in der Secunde stattfinden; der Klang erhält durch diese.' Schwebungen etwas eigenthümlich Rauhes. Es lässt sich nun leicht zeigen, dass der Accord c-e-g zu unangenehmen Schwebungen gar keinen, der Accord c-d zu sehr unangenehmen Schwebungen" Anlass giebt. Um dies im Einzelnen für jeden Accord „in jeder Octave festzustellen, bedarf es genauer Berücksichtigung der .im Accord mitklingenden Obertöne, ferner der sog. Summations-, Differenz- und Stosstöne1). Jedenfalls glaubte Helmholtz auf diesem Weg die Dissonanz der Accorde auf das Entstehen von unangenehmen Schwebungen ausnahmslos zurückführen zu können. Wahrschein- lich wirken jedoch noch andere Momente mit, welche den einen Accord für unser Ohr consonant, den andern dissonant machen. Vielleicht kommt z. B. auch in Betracht, dass bei den dissonanten Accorden die Schwingungszahlen doch meist in complicierteren Zahlenverhältnissen, z. B. 8:9 oder 8 : 15 stehen und daher die sog. Periode der Welle erheblich verlängert wird. Bei Verbin- dung von Klängen zu Accorden mag auch die von Wundt urgierte Gemeinsamkeit einer Anzahl von Partialtönen wirksam sein.

Die einfachen Gesichtsempfindungen als solche und in mittlerer »Stärke sind nur von sehr leisen positiven Gefühlstönen begleitet. Schon unsere Freude am Blau des Himmels gilt nicht mehr ledig- lich der Empfindung als solcher, sondern associierte Vorstellungen mit ihren Gefühlstönen wirken im hohen Maasse mit, z. B. die Vorstellung der Unendlichkeit des blauen Gewölbes über uns u. a. m. Die Qualität der Gesichtempfindungen, also die Farbe ist für den Gefühlston fast ganz gleichgültig. Äeltere Psychologen freilich wie George glaubten jede Farbe mit einem bestimmten Geschmacke vergleichen und ihr daher auch einen bestimmten Gefühlston zuordnen zu können. So sollte Roth dem Salzig, Gelb dem Sauer, Blau dem Bitter und Süss dem Weiss entsprechen. Indes dies sind durchaus subjective, durch associierte Vorstel- lungen — denken Sie an »weiss«, »süss«, »Milch« vermittelte Vergleiche. Andererseits hat Goethe in der Reihe der Spectral- farben eine Plus-Seite und eine Minus-Seite unterschieden. Roth und Gelb sollten die Plus-Seite bilden und erregend wirken, Blau und Violett die Minus-Seite und herabstimmend wirken. Grün würde den Uebergang zwischen beiden Seiten vermitteln. Italie- nische Irrenärzte haben daher auch vorgeschlagen, die Melan- cholischen in Zimmern mit rothem Licht, die Maniakalischen in

1) Vergl. hierzu namentlich die neueren Arbeiten von R. König, Wusdkmann's Annalen, Bd. 39, 11. W. Pebybb, Wiudemann's Annalen, Bd. 38.

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Zimmern mit blauem Licht unterzubringen , um die krankhafte Neigung zu den extremen Gefühlstönen zu dämpfen. Offenbar sind auch hier Associationen mit Vorstellungen und deren Ge- fühlstönen wirksam. Roth erinnert uns an das flackernde Feuer, Gelb an das belebende Licht u. s. f. Es handelt sich also gar nicht um Gefühlstöne der Empfindung , sondern solche der Vor- stellung. Höchstens lässt sich vielleicht sagen, dass die Empfin- dungsqualitäten der dunkleren Farben, namentlich auch derjenigen, welche wie Rothbraun etc. den Uebergang von den Spectralfarben zu Schwarz darstellen, sich weniger leicht mit positiven Gefühls- tönen verbinden. Für das Hinneigen des Schwarz selbst zu negativen Gefühlstönen ist jedenfalls z. Th. die Association mit der Vorstellung des Unheimlichen maassgebend.

Farbenaccorde im gleichen Sinne, wie es Tonaccorde giebt, existieren nicht. Farbenmischungen ergeben Farbenempfindungen, welche ebenso einfach sind , wie die von einfachen Farben er- zeugten Empfindungen. Wir vermögen die Empfindungen von Farbengemischen nicht zu zerlegen. Also wären höchstens im räumlichen Nebeneinander Consonanzen und Dissonanzen der verschiedenen Farbenqualitäten eventuell zu suchen. In der That ist nun, wenn wir die Gemälde der besten Meister der italienischen Schulen vergleichen, ganz unzweifelhaft, dass gewisse Farbenzusam- menstellungen entschieden bevorzugt werden. So macht Helm- holtz auf die in der That in manchen Bildern so wunderbar wirkende Trias : Roth, Grün , Violett , aufmerksam. Ueber die Constanz und die näheren Bedingungen dieser Consonanz ge- wisser Farben wissen wir jedoch noch nichts.

Sehr wesentlich für den begleitenden Gefühlston ist ausser Intensität und Qualität auch die räumliche Anordnung der Empfindungen. Wir haben hier nur die beiden Sinne von höher entwickeltem räumlichen Charakter, also die Berührungsempfin- dungen und die Gesichtsempfindungen zu berücksichtigen. Be- züglich der ersteren erwähne ich nur , dass im Allgemeinen p o - sitive Gefühlstöne bei fläch enhaft ausgebreiteten Berührungs- empfindungen um so leichter auftreten, je stetiger und gleich- massiger die Ausbreitung ist. Die unangenehme Empfindung des Rauhen entsteht namentlich dann, wenn Berührungsempfindungen, welche über eine Fläche ausgebreitet sind, unregelmässig vertheilt und ungleich stark sind, wenn zwischen gereizten Nervenendig- ungen immer einige wenige ungereizte Nervenendigungen liegen. Viel bedeutsamer ist die räumliche Anordnung der Gesichtsem- pfindungen für den Gefühlston. Betrachten Sie eine gerade Linie und bestimmen Sie auf derselben einen Punkt , der nach Ihrer Empfindung die Linie in einem Ihnen angenehmen Verhältniss theilt. Fechner hat einer grossen Anzahl von Personen diese Frage vorgelegt. Dabei ergiebt sich, dass ausser dem Halbierungs- punkt besonders noch ein Punkt vorgezogen wird , welcher die Linie annähernd im Verhältniss des goldenen Schnittes theilt. Auch das Studium der italienischen Bauwerke aus älterer Zeit, welche fast nur durch ihre wunderbare Gliederung, also durch die Linieneintheilung ihrer Massen wirken, ist äusserst lehrreich. Jedenfalls ist Regelmässigkeit, speciell Symmetrie der räumlichen Anordnung der Gesichtsempfindungen durchaus nicht die einzige

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Bedingung für positive Gefühlstöne1). Die periodische Wieder- holung einer bestimmten räumlichen Anordnung pflegt in der Regel positive Gefühlstöne auszulösen. Für gekrümmte Linien eine allgemeine Regel aufzustellen, ist noch erheblich schwieriger. An die absolute Schönheitscurve Hogarth's glaubt Niemand mehr. Sehr wesentlich für das Auftreten von Lustgefühlen ist auch hier die Stetigkeit der Empfindung : eine gerade Linie macht im All- gemeinen einen angenehmeren Eindruck als eine Punktreihe. Gerade die Kleinheit der Unterbrechungen der Empfindung stört den Eindruck. Eine krumme Linie löst fortwährend associierte Bewegungsempfindungen aus : wir gleiten gewissermaassen mit unserem Auge über die Linie in ihrem ganzen Verlaufe hin. Für das Auftreten positiver Gefühlstöne ist hier die Stetigkeit der asso- ciierten Bewegungsempfindungen von grösster Bedeutung. Das Krümmungsmaass darf sich nicht plötzlich ändern: namentlich fortgesetzte kleine sprungweise Aenderungen wirken auch störend. Die Empfindung muss sich entweder stetig oder plötzlich sehr erheblich ändern. Daher spielen sanfte Bogen in der Ornamentik eine solche Rolle, daher die Seltenheit sehr flacher Winkel. Doch ich kann Ihnen hier nur einige kurze Andeutungen geben. Die physiologisch - psychologische Aesthetik gerade der räumlichen Formen liegt noch ganz in den Anfängen.

Endlich haben auch die zeitlichen Eigenschaften der Empfindung einen erheblichen Einfluss auf den Gefühlston der- selben. Die längere Dauer einer Empfindung pflegt meist sowohl die positiven wie die negativen Gefühlstöne zu dämpfen. Die Art und Weise der zeitlichen Succession mehrerer Empfindungen ist nur bei den Klangempfindungen von wesentlichem Einfluss auf den Gefühlston. Eine Reihe gleicher aufeinander folgender Ton- empfindungen wirkt in der Regel ermüdend ; auch wenn die Ton- qualität wechselt, stellt sich bald ein Unlustgefühl ein. Um das Lustgefühl der sog. rhythmischen Gliederung zu erziehen, muss die Intensität der einzelnen Töne oder ihre Dauer einem mehr oder weniger regelmässigen periodischen Wechsel unterworfen sein. Im musikalischen Tact wie in dem Vers eines Gedichtes haben Sie eine Aufeinanderfolge von Schallempfindungen, von welchen bestimmte einzelne besonders betont, d. h. besonders in- tensiv sind und welche sämtlich eine bestimmte Dauer haben2); davon, dass statt einer halben Note zwei Viertelsnoten oder auch Triolen oder für eine Länge zwei Kürzen oder für eine unbetonte Kürze zwei unbetonte eintreten können, kann hier abgesehen werden. Eine solche Einheit , die wir im Allgemeinen als Tact oder Vers bezeichnen, wiederholt sich nun immer wieder mit ge- ringem Wechsel : jedenfalls bleibt die Gesamtdauer der Schall- empfindungen und die Anordnung der betonten Stellen in jedem neuen Tact oder Vers constant. Die Tonqualitäten, also Noten und Worte wechseln , aber die Tonintensitäten , die Betonungen

1) Fechnek, Vorschule der Aesthetik, Th. 1, Abschn. XIV.

2) Die alte Metrik legt mehr Gewicht auf letzteres , die neue mehr auf erateres, der Alexandriner lediglich auf die Zahl der Schallempfin- dungen.

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Zimmern mit blauem Licht unterzubringen, um die krankhafte Neigung" zu den extremen Gefühlstönen zu dämpfen. Offenbar sind auch hier Associationen mit Vorstellungen und deren Ge- fühlstönen wirksam. Roth erinnert uns an das flackernde Feuer, Gelb an das belebende Licht u. s. f. Es handelt sich also gar nicht um Gefühlstöne der Empfindung, sondern solche der Vor- stellung. Höchstens lässt sich vielleicht sagen, dass die EmpfTn- dungsqualitäten der dunkleren Farben, namentlich auch derjenigen, welche wie Rothbraun etc. den Uebergang von den Spectralfarben zu Schwarz darstellen, sich weniger leicht mit positiven Gefühls- tönen verbinden. Für das Hinneigen des Schwarz selbst zu negativen Gefühlstönen ist jedenfalls z. Th. die Association mit der Vorstellung des Unheimlichen maassgebend.

Farbenaccorde im gleichen Sinne, wie es Tonaccorde giebt, existieren nicht. Farbenmischungen ergeben Farbenempfindungen, welche ebenso einfach sind , wie die von einfachen Farben er- zeugten Empfindungen. Wir vermögen die Empfindungen von Farbengemischen nicht zu zerlegen. Also wären höchstens im räumlichen Nebeneinander Consonanzen und Dissonanzen der verschiedenen Farbenqualitäten eventuell zu suchen. In der That ist nun, wenn wir die Gemälde der besten Meister der italienischen Schulen vergleichen, ganz unzweifelhaft, dass gewisse Farbenzusam- menstellungen entschieden bevorzugt werden. So macht Helm- holtz auf die in der That in manchen Bildern so wunderbar wirkende Trias : Roth, Grün , Violett , aufmerksam. Ueber die Constanz und die näheren Bedingungen dieser Consonanz ge- wisser Farben wissen wir jedoch noch nichts.

Sehr wesentlich für den begleitenden Gefühlston ist ausser Intensität und Qualität auch die räumliche Anordnung der Empfindungen. Wir haben hier nur die beiden Sinne von höher entwickeltem räumlichen Charakter, also die Berührungsempfin- dungen und die Gesichtsempfindungen zu berücksichtigen. Be- züglich der ersteren erwähne ich nur , dass im Allgemeinen p o - sitive Gefühlstöne bei flächenhaft ausgebreiteten Berührungs- empfindungen um so leichter auftreten, je stetiger und gleich- massiger die Ausbreitung ist. Die unangenehme Empfindung des Rauhen entsteht namentlich dann, wenn Berührungsempfindungen, welche über eine Fläche ausgebreitet sind, unregelmässig vertheilt und ungleich stark sind, wenn zwischen gereizten Nervenendig- ungen immer einige wenige ungereizte Nervenendigungen liegen. Viel bedeutsamer ist die räumliche Anordnung der Gesichtsem- pfindungen für den Gefühlston. Betrachten Sie eine gerade Linie und bestimmen Sie auf derselben einen Punkt , der nach Ihrer Empfindung die Linie in einem Ihnen angenehmen Verhältniss hat einer grossen Anzahl von Personen diese Dabei ergiebt sich, dass ausser dem Halbierungs- noch ein Punkt vorgezogen wird , welcher die im Verhältniss des goldenen Schnittes theilt. Auch das Studium der italienischen Bauwerke aus älterer Zeit, welche fast nur durch ihre wunderbare Gliederung, also durch die Linieneintheilung ihrer Massen wirken, ist äusserst lehrreich. Jedenfalls ist Regelmässigkeit, speciell Symmetrie der räumlichen Anordnung der Gesichtsempfindungen durchaus nicht die einzige

theilt. Fechner Frage vorgelegt, punkt besonders Linie annähernd

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Bedingung für positive Gefühlstöne1). Die periodische Wieder- holung einer bestimmten räumlichen Anordnung pflegt in der Regel positive Gefühlstöne auszulösen. Für gekrümmte Linien eine allgemeine Regel aufzustellen, ist noch erheblich schwieriger. An die absolute Schönheitscurve Hogarth's glaubt Niemand mehr. Sehr wesentlich für das Auftreten von Lustgefühlen ist auch hier die Stetigkeit der Empfindung: eine gerade Linie macht im All- gemeinen einen angenehmeren Eindruck als eine Punktreihe. Gerade die Kleinheit der Unterbrechungen der Empfindung stört den Eindruck. Eine krumme Linie löst fortwährend associierte Bewegungsempfindungen aus : wir gleiten gewissermaassen mit unserem Auge über die Linie in ihrem ganzen Verlaufe hin. Für das Auftreten positiver Gefühlstöne ist hier die Stetigkeit der asso- ciierten Bewegungsempfindungen von grösster Bedeutung. Das Krümmungsmaass darf sich nicht plötzlich ändern : namentlich fortgesetzte kleine sprungweise Aenderungen wirken auch störend. Die Empfindung muss sich entweder stetig oder plötzlich sehr erheblich ändern. Daher spielen sanfte Bogen in der Ornamentik eine solche Rolle, daher die Seltenheit sehr flacher Winkel. Doch ich kann Ihnen hier nur einige kurze Andeutungen geben. Die physiologisch - psychologische Aesthetik gerade der räumlichen Formen liegt noch ganz in den Anfängen.

Endlich haben auch die zeitlichen Eigenschaften der Empfindung einen erheblichen Einfluss auf den Gefühlston der- selben. Die längere Dauer einer Empfindung pflegt meist sowohl die positiven wie die negativen Gefühlstöne zu dämpfen. Die Art und Weise der zeitlichen Succession mehrerer Empfindungen ist nur bei den Klangempfindungen von wesentlichem Einfluss auf den Gefühlston. Eine Reihe gleicher aufeinander folgender Ton- empfindungen wirkt in der Regel ermüdend ; auch wenn die Ton- qualität wechselt, stellt sich bald ein Unlustgefühl ein. Um das Lustgefühl der sog. rhythmischen Gliederung zu erziehen, muss die Intensität der einzelnen Töne oder ihre Dauer einem mehr oder weniger regelmässigen periodischen Wechsel unterworfen sein. Im musikalischen Tact wie in dem Vers eines Gedichtes haben Sie eine Aufeinanderfolge von Schallempfindungen, von welchen bestimmte einzelne besonders betont, d. h. besonders in- tensiv sind und welche sämtlich eine bestimmte Dauer haben2); davon, dass statt einer halben Note zwei Viertelsnoten oder auch Triolen oder für eine Länge zwei Kürzen oder für eine unbetonte Kürze zwei unbetonte eintreten können, kann hier abgesehen werden. Eine solche Einheit , die wir im Allgemeinen als Tact oder Vers bezeichnen, wiederholt sich nun immer wieder mit ge- ringem Wechsel : jedenfalls bleibt die Gesamtdauer der Schall- empfindungen und die Anordnung der betonten Stellen in jedem neuen Tact oder Vers constant. Die Tonqualitäten, also Noten und Worte wechseln , aber die Tonintensitäten , die Betonungen

1; Fbchnee, Vorschule der Aesthetik, Th. 1, Abschn. XIV.

2) Die alte Metrik legt mehr Gewicht auf letzteres , die neue mehr auf ersteres, der Alexandriner Le üblich auf die Zahl der Schallempfin- dungen.

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und Senkungen kehren nach einer bestimmten Zeitdauer, also periodisch, immer wieder. Im Gedicht kann der Schluss einer solchen rhythmischen Periode noch dadurch besonders hervorge- hoben werden, dass die Qualität der die Periode abschliessenden Töne öfter sehr ähnlich gewählt wird : darin liegt die Bedeutung des Reims. Die regelmässige Periodicität ist also bez. der Suc- cession der Empfindungen die Hauptbedingung für das Auftreten von Lustgefühlen. Es ist kein Zufall, dass Maniakalische und exaltierte Paranoiker oft in Rhythmen und Reimen reden , es ent- spricht das vielmehr durchaus den krankhaften positiven Affecten dieser Psychosen.

Aus diesen Erörterungen werden Sie entnehmen , dass das Auftreten positiver oder negativer Gefühlstöne an sehr verschie- dene Bedingungen geknüpft ist, und wir gelangen zu der ebenso interessanten als schwierigen Frage, ob diese verschiedenen Be- dingungen unter einem gemeinschaftlichen Gesichtspunkt sich zu- sammenfassen lassen , zu der Frage nach dem Wesen dieser Ge- fühlstöne. Bei Beantwortung dieser Frage wird zu berücksichtigen sein, dass, wie zu Anfang erwähnt, nicht nur die Empfindungen, sondern auch unzweifelhaft die Vorstellungen ihre Gefühlstöne haben, und wir können uns die Vorfrage vorlegen, ob die Vor- stellungen ihre Gefühlstöne den Empfindungen entlehnt, ob sie als Erinnerungsbilder der Empfindungen die Gefühlstöne derselben einfach überkommen haben. Dies ist unzweifelhaft für viele Fälle zunächst zu bejahen. Die Vorstellung »Feind« und die Vor- stellung »Hass« sind nur deshalb mit Unlustgefühlen verbunden, weil wir im Leben oft Angriffe von Feinden und die Wirkungen des Hasses unangenehm empfunden haben. Aber andrerseits kommt unverkennbar auch der umgekehrte Weg vor: es über- tragen oft Vorstellungen ihre Gefühlstöne auf Empfindungen. Der Vorgang ist dann folgender : Sie haben z. B. als Kind oder später eine gewisse Tonverbindung oft in einem bestimmten wehmüthigen Lied erklingen hören. Die Tonfolge selbst hat gar nichts Weh- müthiges. Aber die Worte, welche zu dieser Tonfolge gesungen werden, lösen wehmüthige Vorstellungen aus. Der negative Ge- fühlston dieser Vorstellungen theilt sich allmählich auch den Ton- empfindungen mit, und schliesslich kommt es dahin , dass ein Accord, auch wenn er ohne die wehmüthigen Worte des Liedes, ganz isoliert oder in ganz anderer Verbindung auftritt, negative Gefühlsschwankungen in uns auslöst. Alle Versuche, einem be- stimmten Accord oder einer bestimmten Farbe einen bestimmten constanten Gefühlston zuzuordnen, beruhen auf solcher Ueber- tragung des Gefühlstons von Vorstellungen auf den Gefühlston einer Empfindung, mit der jene oft associiert waren1)- Die Em- pfindung des Schwarz verbindet sich, wie erwähnt, wahrscheinlich deshalb mit leichtem Unlustgefühl , weil die Vorstellung des Un- heimlichen und Gefährlichen der Dunkelheit mit ihr associiert ist,

1) Am weitesten bezüglich der Accorde ist wohl E. T. A. Hopfmann gegangen, welcher jeden Accord durch eine besondere Stimmung charak- terisieren zu können glaubte: so sollte der B-duv- Accord die harmlose Freude, C-dur die wilde Lust, ^äs-moll die Sehnsucht ausdrücken u. s. f.

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und schliesslich wird Schwarz , obwrohl an sich als blosse Em- pfindung nicht mit negativen Gefühlstönen verknüpft, bei den abendländischen Völkern zum Symbol der Trauer. Wenn somit gewisse Empfindungen unzweifelhaft ihren Gefühlston ander- weitigen Vorstellungen entlehnt haben , so liegt doch auf der Hand, dass in letzter Linie auch solche entlehnten Gefühlstöne auf Gefühlstöne von Empfindungen sich zurückführen lassen; denn die Vorstellungen, deren Gefühlston die Empfindung entlehnt, ver- danken ihren Gefühlston schliesslich doch wieder Empfindungen, nämlich denjenigen, aus denen sie selbst hervorgegangen sind.

Es ist wahrscheinlich, dass die Qualität der Empfindungen ursprünglich überhaupt nur in dieser indirecten Weise ver- möge Verknüpfung mit angenehmen oder unangenehmen Vor- stellungen den Gefühlston der Empfindungen beeinflusst, und dass also lediglich Intensität, sowie räumliche und zeitliche Anordnung der Empfindungen den Gefühlston derselben direct beeinflussen. Eine ganz allgemeine Regel dafür, welche Intensität und welche räumliche und zeitliche Anordnung Lustgefühl und welche Unlustgefühl erweckt , ist noch nicht gefunden worden und wird , da dieser Einfluss phylogenetisch sich entwickelt hat und weiter entwickeln wird, nicht zu finden sein. Was das Wesen des Gefühlstons anlangt , so ist derselbe offenbar ein qualita- tives Merkmal der Empfindung. Zu der früher besprochenen Qualität der Empfindung kommt also oft noch eine weitere Qua- lität hinzu , nämlich entweder ein Lustgefühl oder ein Unlustge- fühl. Diese zweite im Gefühlston gelegene Qualität ist ganz eben- so wie die früher besprochene Empffndungsqualität s. str. einer intensiven Steigerung fähig. Jeder Empfindung ist, wenn ich einen erläuternden, freilich im Einzelnen ungenauen Vergleich brauchen soll, noch etwas Weiss oder etwas Schwarz beigemischt. Der Gefühlston stellt gewissermaassen einen sechsten Sinn dar, für welchen nur zwei Hauptqualitäten, Lustgefühl und Unlustge- fühl , existieren und welcher eine dieser beiden Qualitäten den Empfindungen der anderen Sinne, unter gewissen Bedingungen aber auch den Erinnerungsbildern beimischt ; völlig selbständig kommen diese Affecttöne niemals vor. Aber auch abgesehen von ihrer Unselbständigkeit und von ihrer Beziehung zu den Er- innerungsbildern , unterscheiden sich diese Affecttöne noch in einer anderen wichtigen Beziehung wesentlich von den eigent- lichen Sinnesempfindungen. Die gewöhnliche Qualität der Em- pfindung wird bestimmt erstens durch die Beschaffenheit des äusseren Reizes R und zweitens durch die Beschaffenheit des den Reiz aufnehmenden Sinnesapparats (vom peripheren Sinnesorgan bis zum Rindencentrum incl.) , welcher aus dem R ein i?'' und schliesslich ein R' macht. Das einfachste Beispiel bildet z. B. der mechanische Reiz, welcher, auf die Haut appliciert, eine Druck- empfindung, auf die Retina appliciert, eine Lichtempfindung aus- löst. Den zahllosen Reizqualitäten entsprechen zahllose Empfin- dungsqualitäten. Der Gefühlston hat zunächst nur zwei Haupt- qualitäten : Lustgefühl und Unlustgefühl. Von dem äusseren Reiz und dem Sinnesapparat ist die Affectqualität der Empfindung zwar auch abhängig, aber den zahllosen Reizqualitäten und den ver- schiedenen Sinnesapparaten entsprechen hier zunächst nur die

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zwei Affectqualitäten des Lust- und Unlustgefühls in ihren ver- schiedenen Intensitätsgraden. Jeder Reiz wird einer dieser beiden Qualitäten subsumiert. Es müssen also sehr allgemeine Eigen- schaften der Reize und der aufnehmenden Sinnesflächen sein, welche dem Auftauchen der Gefühlstöne zu Grunde liegen. Wir müssen annehmen, dass in der Hirnrinde bei indifferenten Reizen Rc auftritt , bei affectiv differenten Reizen , also z. B. zu grellem Licht, die gereizte Hirnrinde zu dem physischen Process Rc noch etwas hinzufügt, dessen psychisches Correlat der Affectton ist. Wir haben es also recht eigentlich mit einer Reaction der cen- tralen Hirnrinde gegen die von aussen kommenden Reize zu thun. Hiermit hängt es denn auch zusammen, dass der gleiche Reiz nicht immer bei derselben Stärke einen bestimmten Gefühlston auslöst. Un- sere Empfindungsqualitäten s. str. sind gewiss auch von der Beschaf- fenheit der Hirnrinde abhängig, aber von constanten Eigenschaften derselben, während die Gefühlstöne von variableren abhängig sind. Um volle Klarheit zu gewinnen, wollen wir das Beispiel eines in unser Auge fallenden Lichtes nochmals heranziehen. Bei massiger Lichtstärke löst der Reiz R in der Hirnrinde eine Erregung Rr und eine derselben entsprechende Empfindung E aus ; wächst die Lichtstärke, so wächst auch Rc und E. Während die Lichtstärke in dieser Weise wächst, nimmt Rc und E nicht einfach weiter zu, sondern zugleich mit dem Wachsen von Rc und E gesellt sich ein weiterer physischer Process zu dem R% ein Affectton zu der Empfindung hinzu. Unser naives Denken hat daher vollständig recht, wenn es dem Gefühlston eine mehr subjective und den ge- wöhnlichen Empfindungsqualitäten eine mehr objective Bedeutung zumisst. Dem entspricht auch die Thatsache, welche neuerdings wieder Lipps besonders hervorgehoben hat, dass wir den Gefühls- ton der Empfindung nicht mit derselben in den Raum projicieren. Wir nennen den Gegenstand grün und nicht grün-erregend, hin- gegen freude-erregend und nicht etwa freudig.

Zur Charakterisierung der Gefühlstöne gehört nun noch eine phylogenetische Beziehung von grosser Wichtigkeit : die mit Lust- gefühlen verknüpften Reize sind zugleich in vielen Fällen die- jenigen, welche die Nahrungsaufnahme und die Fortpflanzung der Thiere begleiten, die mit Unlustgefühlen verknüpften Reize die- jenigen, welche zugleich eine Bedrohung des Lebens der Thiere enthalten. Dem entsprechend löst die erste Klasse von Reizen im Allgemeinen Annäherung an den Reiz , die zweite Klasse Zu- rückziehen oder Flucht vor demselben aus. Es ist sehr wohl möglich , dass phylogenetisch die eigenthümliche Eigenschaft der Hirnrinde, auf gewisse, im Allgemeinen schädliche oder nützliche Reize mit einem ganz neuen psychischen Process zu antworten oder, anders gesagt, zu der gewöhnlichen Empfindung noch den sog. Gefühlston hinzuzufügen , sich aus diesen Flieh- und An- näherungsbewegungen auf einer höheren Stufe entwickelt hat. Auf der niedrigsten Stufe löst die Empfindung unmittelbar die generell zweckmässige Bewegung aus, auf der höchsten schiebt sich der Gefühlston ein, welcher, wie wir sehen werden, für unser Handeln von grösster Bedeutung ist. Wir haben hierbei den Vortheil, dass uns schon in der Empfindung eine im Allgemeinen zutreffende Warnung oder Lockung gegeben ist, dass aber für

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das Spiel der Erinnerungsbilder und der Motive durch Hinaus- schieben der Annäherung- oder der Flucht Zeit gewonnen ist. Noch verständlicher werden Ihnen diese Ausführungen werden, wenn wir demnächst den Gefühlston der Vorstellungen, den Ein- rluss der Affecte auf den Verlauf der Ideenassociation und die sog. Ausdrucksbewegungen der Affecte kennen lernen werden. Namentlich werden wir dann auch zu erörtern haben , dass die Gefühlstöne der Empfindungen sich untereinander zwar namentlich durch ihre Intensität und ihr Vorzeichen unterscheiden, dass ihnen jedoch ausserdem auch qualitative Nuancierungen zukommen, welche für unser Affectleben von wesentlichster Bedeutung sind. Ich bitte Sie also, diese einfache Unterscheidung der Gefühlstöne in positive und negative von verschiedener Intensität zunächst nur als eine vorläufige und nicht erschöpfende zu betrachten.

ACHTE VORLESUNG. Empfindung Erinnerungsbild Begriff.

Wir haben in unseren letzten Vorlesungen, m. H., ausführlich das Entstehen der Empfindung aus dem äusseren Reiz verfolgt. Was wird nun aus den Empfindungen , die in der geschilderten Weise entsprechend den Erregungen der Hirnrinde aufgetaucht sind und nun in das Spiel der Association eintreten ? Wir nehmen zunächst als einfachsten Fall an, dass eine zusammengesetzte Em- pfindung, z. B. die Gesichtsempfindung einer Rose, zum ersten Mal parallel einer Erregung unserer Hirnrinde aufgetreten ist. An eine solche Empfindung schliesst sich nun das bewusste Spiel der Motive oder der Association. Zugleich aber wird ein Erin- nerungsbild der gesehenen Rose niedergelegt, oder, physisch ge- sprochen, eine Spur der stattgehabten Hirnrindenerregung bleibt in der Hirnrinde zurück. Wir schliessen dies und müssen es schliessen aus der Thatsache, dass wir die Rose wiedererkennen, wenn wir sie wiedersehen, dass wir uns derselben zu erinnern vermögen , dass wir ihr Bild in der Phantasie zu reproducieren im Stande sind. Dies Erinnerungsbild, welches jede Em- pfindung hinterlässt, haben wir auch als Vorstellung a) be- zeichnet. Worin besteht nun psychologisch dies Erinnerungsbild, und welche physiologische Hirnrindenerregung liegt ihm zu Grunde ? Die ältere Psychologie und am schärfsten Hume, dessen berühmten Treatise of human nature ich Ihnen nicht genug als Vorschule der Psychologie empfehlen kann , hat ausgesprochen, die Vorstellungen seien nur Copien der Impressionen oder Em- pfindungen und unterschieden sich von den Impressionen nur durch ihre geringere Lebhaftigkeit. Demgegenüber müssen wir nun doch hervorheben, dass die Erinnerungsbilder oder Vorstellungen von den Empfindungen selbst durchaus verschieden sind. Die vorgestellte Sonne, deren Bild wir uns in der Erinnerung zurückrufen, hat von dem Glanz und der Farbenpracht der wirk- lichen, d. h. der gesehenen Sonne nichts. Die Vorstellung der

1) In diesem engeren Sinn ist das Wort „Vorstellung" zuerst von Hegel und seinen Schülern und später namentlich von Lotze gebraucht werden.

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Sonne ist also durchaus nicht etwa lediglich eine abgeblasstere Sonne : der grosse englische Philosoph hat hier Unrecht. Es be- steht nicht ein Intensitätsunterschied zwischen Vorstellung und Empfindung, sondern vor allem ein qualitativer Unterschied 1). Die sinnliche Lebhaftigkeit, das unterscheidende Merkmal jeder Empfindung, kommt der Vorstellung nicht etwa in geringerer In- tensität, sondern überhaupt nicht zu. Die Vorstellung des leisesten Rauschens und des lautesten Donners zeigen daher keinen Intensitätsunterschied : beiden fehlt ja alle sinnliche Leb- haftigkeit, also muss auch der Intensitätsunterschied, den Donner und Rauschen in der Empfindung haben, in der Vorstellung ver- loren gehen. Wir können wohl die Vorstellung von der grösseren Intensität einer Empfindung haben, aber desshalb ist die Vorstellung selbst nicht intensiver. Versuchen Sie sich den Donner noch so lebhaft vorzustellen : Sie werden auch nicht das leiseste Rollen hören. Worin besteht nun aber der qualitative Unterschied zwischen Empfindung und Vorstellung, oder anders gefragt was geht vor sich , wenn eine Empfindung verschwindet und ein Erinnerungsbild derselben niedergelegt wird? Im Allgemeinen, abgesehen von seltenen Nachwirkungserscheinungen, verschwindet die Empfindung fast momentan mit dem äusseren Reiz. Damit erlischt die Rindenerregung jedoch nicht ganz, die Hirnrinde kehrt nicht wieder völlig in den Status quo ante zurück: irgendeine materielle Veränderung bleibt bestehen , eine Spur , ein orjfieiov, wie Plato es nennt -). Dabei geschieht dies durchaus unbewusst, ein psychischer Parallelvorgang für dies sog. Niederlegen des Er- innerungsbildes fehlt vollkommen. Sie sehen eine Rose zum ersten Mal : die Gesichtsempfindung löst eine Reihe von Handlungen aus : Sie bleiben vielleicht stehen, bücken sich zu der Rose nieder und gehen dann weiter, und andere Gesichtsempfindungen beschäftigen Sie. Davon, dass mittlerweile eine Spur des Gesichtseindruckes der Rose zurückbleibt, merken Sie gar nichts. Dies vollzieht sich ganz unbewusst oder, wie wir auch sagen, latent, und erst dar- aus, dass Sie später bei einem zweiten Sehen die Rose als solche wiedererkennen, schliessen Sie, dass überhaupt ein latentes Er- innerungsbild von jenem ersten Sehen zurückgeblieben war. Ich bitte Sie also dringend, vor jener groben Auffassung sich zu hüten, wonach das Erinnerungsbild als ein unbestimmtes psychisches Etwas, als eine unbewusste Vorstellung in einer Hirnrinden- ganglienzelle niedergelegt würde. Vielmehr bleibt von einer sen- siblen oder sensorischen Erregung R, , welcher eine Empfindung entspricht, gar nichts Psychisches zurück, sondern nur eine dauernde materielle Veränderung, welche wir als Ri bezeichnen wollen. Diesem Ri, dieser zurückbleibenden materiellen Spur, entspricht überhaupt nichts Psychisches. Dieses Ri können wir uns am einfachsten als eine bestimmte Anordnung in bestimmter

1) Auch Bain, The senses and the intellect, 3,h ed., leugnet mit un- genügenden Gründen die qualitative Verschiedenheit der Empfindung und ihres Erinnerungshildes.

2) Beneke (Lehrb. d. Psychologie als Naturwissensch., 2. Aufl., 1845, § 27) Dezeichnet Ri sehr angemessen auch als „Angelegtheit", schreibt den i?/'s aber ohne genügenden Grund psychische Existenz zu.

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Weise zusammengesetzter Molecüle der Ganglienzelle denken, also als eine latente Disposition. Erst wenn ich wieder eine Rose sehe oder wenn in der Ideenassociation, im Spiel der Phantasie irgend eine andere verwandte Vorstellung (z. B. die einer rothen, duften- den Blume) in mir auftaucht, wird diese lediglich materielle Spur auch psychisch als Erinnerungsbild oder Vorstellung lebendig. Es muss also die Ganglienzelle mit der Disposition Ri durch eine neue ähnliche Empfindung oder durch eine associativ - verwandte Vorstellung einen neuen Impuls erfahren, das Ri muss noch in bestimmter Weise verändert werden , sagen wir in R„, damit das schlummernde, nur potentiell vorhandene Erinnerungsbild geweckt wird. Die Ganglienzelle war also gewissermaassen auf eine be- stimmte Vorstellung abgestimmt. Ich kann Ihnen dies auch durch einen Vergleich erläutern: denken Sie an die Sterne, Räder, Namenszüge und andere Figuren aus Gasröhren, wie Sie dieselben bei Illuminationen sehen. Unangezündet gleichen sie den sog. latenten Erinnerungsbildern : Form und Alles ist schon als Dis- position vorhanden. Aber irgend ein Funke muss erst das aus zahllosen Löchern der Röhren hervorströmende Gas entzünden, damit die latente Form als leuchtende Wirklichkeit erscheint. Ich kann diesen Thatbestand nicht eindringlich genug betonen : der vom Reiz ausgelösten materiellen Rindenerregung entspricht psychisch die Empfindung, dem Residuum dieser materiellen Er- regung entspricht psychisch nichts. Die Bezeichnung latentes Erinnerungsbild ist sehr bequem, enthält aber einen Widerspruch. Erst eine neue ähnliche Empfindung oder die Ideenassociation können das Residuum der materiellen Erregung so verändern, dass zu demselben wieder ein psychischer Parallelvorgang, das bewusste Erinnerungsbild oder die Vorstellung hinzutritt. Wenn wir also im Folgenden diese materiellen Spuren oder Dispositionen oft schlechtweg als Erinnerungsbilder bezeichnen werden , so ge- schieht dies nur der Kürze halber und immer unter dem eben an- gegebenen Vorbehalt.

Lassen Sie uns nunmehr denselben Process auch physiologisch verfolgen. Ich sehe eine Rose : dabei werden zahllose Nerven- endigungen der Retina gereizt, und zahllose Sehnervenfasern tragen die Erregung in die Sehsphäre des Hinterhauptslappens des Grosshirns. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Netzhaut auf die Sehsphäre gewissermaassen projiciert ist, so dass also z. B. der obere Netzhautrand dem vorderen Sehsphärenrand ent- spricht u. s. f. Beim Sehen der Rose werden entsprechend den gereizten Stellen der Netzhaut bestimmte Regionen der Sehsphäre mit zahllosen Ganglienzellen erregt werden. Dieser Erregung zahlreicher Ganglienzellen der Sehsphäre entspricht die Gesichts- empfindung. Wo wird nun aber das Erinnerungsbild dieser Ge- sichtsempfindung niedergelegt? In denselben Elementen wie die Empfindung ? Die physiologische Psychologie kann an sich ruhig die Antwort der Physiologie und Pathologie auf diese Frage ab- warten, sie wird ebenso gut mit der Anschauung, dass Empfin- dung und Vorstellung an ebendieselben Rindenelemente gebunden sind, wie mit der gegentheiligen sich abfinden können. Trotzdem empfiehlt es sich der Anschaulichkeit halber, den nachfolgenden Erörterungen entweder die eine oder die andere Annahme zu

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Grunde zu legen. Wenn ich daher im Folgenden die Anschauung zu Grunde lege, dass Empfindung und Vorstellung an verschie- dene Elemente der Hirnrinde *) geknüpft sind, so geschieht dies, weil diese Anschauung unserem heutigen physiologischen und pathologischen Wissen besser zu entsprechen scheint. Es hat sich nämlich gezeigt, dass die Exstirpation einer bestimmten Stelle der Sehsphäre beim Hunde, sowie die Erkrankung bestimmter Theile des Hinterhauptslappens beim Menschen einen Zustand sog. Seelenblindheit hervorruft, d. h. das operierte Thier und der er- krankte Mensch sehen noch, was daraus hervorgeht, dass sie vorgehaltenen Gegenständen noch mit dem Blick folgen und in den WTeg gestellten Hindernissen ausweichen, aber sie erkennen nicht mehr, was sie sehen : der Hund tritt vor der emporgeschwunge- nen Peitsche nicht mehr zurück und duckt sich nicht vor dem geworfenen Stein, der Mensch starrt die gewöhnlichsten Dinge seiner Umgebung als ihm völlig unbekannt an und erkennt sie erst, wenn er sie betastet. Dieser Zustand von »Seelenblindheit«2) ohne eigentliche Blindheit, ebenso wie der analoge Zustand der Seelentaubheit u. s. f. erklärt sich in der That am einfachsten bei der Annahme, dass die Empfindungen und die Erinnerungsbilder an getrennte Rindenelemente geknüpft sind. Diejenigen von Ihnen, welche diese hochinteressante Frage specieller studieren wollen, verweise ich auf die einschlägigen Arbeiten von Munk, Mauthner, Nothnagel, Wilbrand u. A.3).

Wir nehmen also an, dass in gewissen Ganglienzellen die Empfindung der Rose entsteht, und weiter, dass diese zahlreichen Empfindungszellen an eine andere Ganglienzelle, die Er- innerungszelle4), ihre Erregung abgeben. Wenn also a, 6, c, d, e, f Ganglienzellen der Sehsphäre darstellen mit den zu- führenden Opticusfasern und die Rose beispielsweise nur die Opticusfasern, welche zu den Ganglienzellen 6, c, d führen, erregt hat, so entspricht der actuellen materiellen Erregung der Ganglien- zellen 6, c, d die Gesichtsempfindung der Rose. Sobald die Rose verschwindet, erlischt die materielle Erregung der Zellen 6, c, d und damit die ihr parallele Empfindung. Nur ein Theil der

1) Die alte Vorstellung des Schroeder v. d. Kolk, welche neuer- dings von der MEYNERT'schen Schule wieder aufgenommen worden ist, verlegt den Sitz der Empfindung überhaupt nicht in die Rinde oder wenigstens nicht nur in die Rinde, sondern ausschliesslich oder theilweise in die Vierhügel. Die erstere Anschauung lässt sich mit den neueren pathologischen Erfahrungen gar nicht, die letztere nur gezwungen ver- einigen (vergl. übrigens Vorl. 1 u. 2).

2) Bemerken swerth sind auch die von Charcot beschriebenen Fälle von Verlust der optischen Phantasie, sowie namentlich die Erfahrungen über die sog. sensorische Aphasie.

3) Munk, Ueber die Functionen der Grosshirnrinde, Berlin 1881: Mauthxkk, Wien. med. Wochenschr., 1880; Wilbrand, Die Seelenblind- heit als Herderscheinung, Wiesbaden 1887; Nothnagel, Vortrag auf dem VI. Congress für innere Medicin; Reinhard, Arch. f. Psychiatrie, XVII u. XVIII; Lissauer, Arch. f. Psychiatrie, XXI.

4; Der Ausdruck Erinnerungszellen stammt meines Wissens von Horwicz, Psycholog. Analysen, I, S. 287 ff.

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materiellen Erregungen von b, c, d ist nach der entfernten Gan- glienzelle V abgeflossen und hat dort eine lediglich materielle Spur oder Veränderung, das latente Erinnerungsbild, zurück- gelassen , welches erst bei einem Wiedersehen der Rose oder durch die Ideenassociation in später genauer zu beschreibender Weise psychisch lebendig wird. Ich wiederhole es, dass dieses Schema durchaus nicht das einzig mögliche ist, aber es ist bei dem heutigen Stand unseres Wissens das nächstliegende. Alle folgenden Erörterungen werden Sie selbst ohne Mühe auf ein anderes Schema übertragen können: dieselben sind von dieser oder jener physiologischen Hypothese im Wesentlichen unab- hängig.

Wir gehen nunmehr weiter. Lassen Sie uns bei einem be- stimmten sinnlichen Gegenstand stehen bleiben , z. B. der Rose. Dieselbe löst nicht allein eine Gesichtsempfindung und ein Er- innerungsbild derselben, die Gesichtsvorstellung, aus, sondern der Duft löst auch eine Geruchsempfindung und die weichen Blätter eine Berührungsempfindung aus , und auch von diesen Empfin- dungen bleiben Erinnerungsbilder, also eine Geruchsvorstellung und eine Berührungsvorstellung zurück. Es werden also von der Rose mindestens drei Erinnerungsbilder niedergelegt, ebenso viele Er- innerungsbilder, als dieselbe Sinnesorgane erregt. Nun liegt die Riechsphäre weitab von der Sehsphäre und ebenso die Fühlsphäre. Also werden in drei weit auseinandergelegenen Ganglienzellen an ganz verschiedenen Hirnrindenstellen latente Vorstellungen nieder- gelegt. Die folgende Skizze stellt Ihnen eine Grosshirnhemisphäre

Fig. 17.

in groben Umrissen dar. Bei 6" liege die Sehsphäre, bei F die Fühlsphäre, bei H die Hörsphäre, 'bei R die Riechsphäre. Von der Rose sind drei Partialvorstellungen zurückgeblieben in a, b

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und c. Die Ganglienzelle a steht durch Associationsfasern sowohl mit b wie mit c in Verbindung und ebenso auch b und c unter sich. Nun sind a, b und c oft gleichzeitig erregt worden, d. h. sehr oft sahen, fühlten und rochen wir ein und dieselbe Rose und legten also gleichzeitig in den Zellen a, b und c die entsprechen- den Erinnerungsbilder nieder ; die Folge dieser häufigen gleich- zeitigen Erregung ist, dass, wenn b erregt, stets auch a und c miterregt werden. Weshalb in Folge der häufigen gleichzeitigen Erregung gerade a und c miterregt wrerden, obwohl doch b nach- weislich noch mit vielen anderen Ganglienzellen durch Associations- fasern verknüpft ist, werden Sie später, wenn wir die Associations- gesetze besprechen , hören. Jetzt genügt uns die Thatsache. Von einem sinnlichen Gegenstand werden Partialvorstellungen in verschiedenen Hirntheilen niedergelegt ; diese Partialvorstel- lungen stehen in associativer Verbindung ' ) ; daher werden beim Auftauchen der einen Partialvorstellung durch Association die anderen wachgerufen. Die Gesamtheit der associativ ver- knüpften Partrialvorstellungen bildet die Vorstellung des Ge- genstandes. Die Vorstellung Rose ist also nichts Einfaches, sondern etwas Zusammengesetztes, dessen Einheit lediglich auf der gegenseitigen associativen Verknüpfung der Theile be- ruht. Aber eine weitere Einheit für diese zusammengesetzten Sinnesvorstellungen ist uns in der Sprache gegeben. Die Vor- stellungen, wie wir sie bis jetzt kennen lernten, sind von der Sprache ganz unabhängig , sie kommen wahrscheinlich auch den Thieren zu. Nun benennt der Mensch aber auch seine Vor- stellungen : ich begleite die oben beschriebene zusammengesetzte Vorstellung mit dem Aussprechen des Wortes »Rose« , d. h. mit einer eigenthümlichen Combination von Kehlkopf-, Lippen-, Zungen- und Gaumenbewegungen deren Resultat für einen Dritten ist, dass er mich das Wort »Rose« aussprechen hört. Als Ursache der meisten willkürlichen Bewegungen lernten wir schon früher eine Bewegungsvorstellung kennen : mir schwebt die Vorstellung einer Greif bewegung nach der Feder vor, und ohne dass ein weiterer Impuls erfolgt, ergreife ich die Feder. So haben wir uns auch als Ursache unserer Sprechbewegungen Sprechbe- wegungsvorstellungen zu denken , Erinnerungsbilder mühsam ge- lernter Sprechbewegungen 2). Diese Annahme hat durch die Pathologie die entschiedenste Bestätigung erfahren. Wenn auf dem Gehirn die in der Zeichnung schraffierte Stelle durch einen Krankheitsprocess zerstört ist, so beobachten Sie das Wunderbare, dass der betroffene Mensch noch über alle seine sinnlichen Vor- stellungen verfügt; er versteht auch noch, was Sie zu ihm sagen, er bewegt Zunge, Kehlkopf, Lippen und Gaumen ebenso wie vor seiner Erkrankung, aber die feine Combination der Bewegungen von Zunge , Kehlkopf, Lippen und Gaumen , welche nothwendig ist, um irgend ein Wort, z. B. »Rose«, auszusprechen, ist ihm un- wiederbringlich verloren gegangen, die Erinnerungsbilder der

1) ELebbabt bezeichnet diese associative Verknüpfung von Partial- vorstellungen verschiedener Sinnesgebiete als Complication.

2) Der scheinbar hierin gelegene Widerspruch wird sich in einer unserer letzten Vorli-sunLf-ii aufklären.

Zl< heu, Physiologische Psychologie. 2. Aufl. 8

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Sprechbewegungen oder seine Sprechbewegungsvorstellungen sind zerstört.

Diese Sprechbewegungsvorstellungen nun, welche im hintersten Theile der untersten Stirnwindung (bei d) nachweislich niederge- legt sind, stehen durch Associationsfasern in associativer Ver- knüpfung mit den Partialvorstellungen der sinnlichen Gegenstände. Also sind z. B., wie es die beifolgende Zeichnung Ihnen vorführt, die Ganglienzellen a, 6, c, in welchen die Erinnerungsbilder oder Partialvorstellungen des Duftes, der Farbe und Form der Rose ') niedergelegt sind , nicht nur untereinander durch Bahnen ver- knüpft, sondern im Stirnhirn liegt auch eine Ganglienzelle oder ein Ganglienzellencomplex <i, in welchem die complicierte Be- wegungsvorstellung für das Aussprechen des Wortes Rose nieder- gelegt ist. In der Zeichnung wollen wir alle zur Sprache in Be- ziehung stehenden Rindenelemente durch Strichelung auszeichnen. Es gilt nun bezüglich der Sprechbewegungsvorstellung d dasselbe, was bezüglich der Partialvorstellungen a, b, c untereinander galt. Sobald a, b oder c auftaucht, fällt uns d, das Wort für das Ge- sehene, Gerochene oder Gefühlte, ein und umgekehrt. Die Sprech- bewegungsvorstellung d ist aber deshalb besonders geeignet, für die drei Partialvorstellungen eine höhere Einheit abzugeben, weil sie mit den drei Partialvorstellungen gleichmässig verknüpft ist, ohne selbst eine von einer speciellen Sinnesqualität unmittelbar abhängige Partialvorstellung zu sein. Daher ihr genereller Cha- rakter.

Aber mit der Sprechbewegungsvorstellung d sind die sprach- lichen Elemente in der Gesamtvorstellung Rose noch nicht er- schöpft. Wenn Sie das Wort Rose hören, so verstehen Sie, was das Wort bedeutet, und es fällt Farbe, Form und Duft der Rose Ihnen ein. Es muss also auch ein Erinnerungsbild Ihres Gehör- sinns für das von einem Anderen gesprochene und von Ihnen gehörte Wort Rose in Ihrer Hirnrinde existieren, welches seiner- seits mit a, 6, c und d verknüpft ist. Offenbar haben wir dies Klangbild des gehörten Wortes .»Rose«, die Sprach hör Vorstellung »Rose«, in der Hörsphäre zu suchen, also im Schläfenlappen. In der That existiert eine ganz bestimmte Stelle in der obersten Schläfenwindung, bei e, deren krankhafte Zerstörung alle Func- tionen des menschlichen Gehirns einschliesslich des Sprechens und Hörens unversehrt lässt, aber das Wortverstän dniss auf- hebt. Ein Individuum mit einem Krankheitsherd bei e hört die gesprochenen Worte noch sehr gut, aber es versteht die gehörten Worte nicht: sie klingen ihm, als gehörten sie einer fremden Sprache an. Sieht es die Worte geschrieben, so weiss es sofort, was gemeint ist. Offenbar hat dies Individuum die akustischen Worterinnerungsbilder oder, anatomisch gesprochen, die aku- stischen Erinner ungs zellen für die gehörten Worte verloren, aber die akustischen Empfindungszellen behalten: es ist für Worte »seelentaub«. Zu dem Vorstellungscomplex Rose kommt also noch eine Sprachhörvorstellung e, die mit ö, 6, c und d ver-

1) Bei einem auch, auf unser Gehör oder unseren Geschmack wirken- den Gegenstand kämen selbstverständlich noch zwei weitere Partialvor- stelluno-en hinzu.

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knüpft ist und ihrerseits dazu beiträgt, die Partial Vorstellungen a, b und c zusammenzufassen. Wir könnten noch weiter gehen und bei dem gebildeten Menschen eine Gesichtsvorstellung / des ge- lesenen Wortes, deren anatomische Localisation gleichfalls ziem- lich sicher feststeht, und eine Schreib-Bewegungsvorstellung g des geschriebenen Wortes heranziehen. Indes Sie werden selbst ohne Mühe im Stande sein, für diese Componenten analoge Deductionen auszuführen.

Zusammenfassend können wir sagen: die Vorstellung Rose besteht aus drei Partialvorstellungen, welche ebenso vielen quali- tativ verschiedenen von der Rose ausgelösten Sinnesempfindungen entsprechen ; hierzu treten zwei Sprachvorstellungen , die Bewe- gungsvorstellung des gesprochenen und die akustische Vorstellung des gehörten Wortes. Den Gesamtcomplex dieser 5 Vorstellungen bezeichnen wir auch als den concreten oder sinnlichen Be- griff der Rose. Eine einzelne bestimmte Rose hinterlässt nur eine aus verschiedenen Theilvorstellungen bestehende Einzelvor- stellung. Diese Einzelvorstellungen werden in der Regel nicht mit einer besonderen Wortvorstellung verbunden : nur die Eigen- namen machen hier eine Ausnahme. Erst wenn viele einzelne Rosen in mir ihre Erinnerungsbilder oder Einzelvorstellungen niedergelegt haben, werden alle diese Einzelvorstellungen mit der einen, sie umfassenden Sprach Vorstellung Rose verknüpft. Der concrete oder sinnliche Begriff hat also fast stets bereits eine ge- wisse Allgemeinheit. Die Entwicklung sinnlicher Begriffe in un- serem Sinne ist also eng an die Entwicklung der Sprache ge- knüpft. Eine interessante Thatsache will ich Ihnen hier noch beiläufig erwähnen. Die Pathologie beweist uns in kaum zu be- zweifelnder Weise, dass die sinnlichen Partialvorstellungen «, b, c sämtlich doppelt in unserem Gehirn vorhanden sind. Jede Hemisphäre hat ihre Gesichtsvorstellung der Rose. Vollständige Seelenblindheit pflegt daher auch beim Menschen nur dann ein- zutreten, wenn in beiden Hemisphären die bezügliche Region des Occipitallappens zerstört ist. Die Sprachvorstellungen hingegen, die motorischen wie die akustischen , werden bei dem Menschen nur in einer Hemisphäre, und zwar bei Rechtshändern in der linken , an den beiden Ihnen angegebenen Stellen niedergelegt. Bezüglich der Erklärung dieser auf den ersten Blick so be- fremdenden Thatsache muss ich Sie auf die Hirnphysiologie ver- weisen l ).

Die ersten einfachsten concreten Begriffe sind die speciellsten : Ich sehe hundert Einzel-Rosen, und diese Häufigkeit des constanten Zusammentreffens einer bestimmten Farbe, Form etc. auf wech- selndem Hintergrunde genügt, den etwas allgemeineren concreten Begriff der Rose in meiner Hirnrinde zu deponieren und mit einem Wort oder richtiger mit Sprachvorstellungen zu verbinden. Eine viel grössere Induction ist erforderlich , um den weit allge- meineren Begriff der Pflanze in meiner Hirnrinde niederzulegen

l) Der erste , der die concreten Begriffe in einer der obigen Dar- stellung ähnlichen Weise physiologisch zergliedert, ist Weknicke in seiner kleinen Arbeit „Ueber das Bewusstsein", Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 35. Auch Mkynkkt: „Mechanik des Hirnbaues", führt Aehnliches aus.

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und mit Sprachvorstellungen zu verbinden. Die meisten dieser allgemeineren concreten Begriffe entstehen in folgender Weise. Die Erfahrung deponiert zahlreiche concrete , aus Partialvor- stellungen zusammengesetzte Einzelbegriffe in meiner Hirnrinde, z. B. die der Tulpe, der Rose, des Eichbaumes u. s. f. Bei aller Verschiedenheit werden die Partialvorstellungen dieser Einzel- begriffe gewisse Aehnlichkeiten besitzen und daher auf Grund eines Associationsgesetzes , welches wir später genauer kennen lernen werden , untereinander in associative Verbindung treten. So haben alle z. B. die grüne Farbe der Blätter gemein. Wäh- rend also die Partialvorstellungen der Rose unter einander einen sehr eng verbundenen Complex bilden , welchem das Wort »Rose« associiert ist, bildet die Summe der concreten Begriffe der Rose , der Tulpe und zahlloser anderer Pflanzen einen weiteren, aber auch loseren Complex, welchem sich das. Wort Pflanze associiert. Wenn also der Begriff Pflanze in uns auf- taucht, so taucht erstens die Wortvorstellung des gesprochenen und gehörten Wortes »Pflanze« auf, und zweitens gerathen dabei die zahllosen Partialvorstellungen aller einzelnen Pflanzen in leise Miterregung, sie »schwingen mit«, wie man es häufig auch be- zeichnet hat. Auch für die allgemeineren concreten Begriffe existiert also jene vermeintliche Einfachheit nicht, im Gegentheil: je allgemeiner ein concreter Begriff ist, um so complexer ist er, um so mehr lose associativ verknüpfte Einzelvorstellungen schwingen beim Auftauchen desselben mit, und eine scheinbare Einheit wird nur durch die allen diesen Einzelvorstellungen associierte Wort- vorstellung gegeben. Daher kommt es, dass, wenn Sie »Pflanze« denken und, vom Worte absehend, den Inhalt des Begriffs schärfer fixieren wollen, Ihnen sofort bestimmte einzelne Pflanzen undeut- lich vor Augen treten. Dies sind eben jene mitschwingenden Einzelvorstellungen, und zwar vor allen diejenigen, welche Ihnen am häufigsten begegnet sind und welche daher am stärksten mit- schwingen. Dem Denken eines allgemeinen sinnlichen Be- griffs entspricht also in noch viel höherem Grade als dem Denken eines speciellen sinnlichen Begriffs ein über fast die ganze Gross- hirnrinde ausgebreiteter physiologischer Process. Hieraus ergiebt sich auch, dass der Wortvorstellung, der motorischen und aku- stischen, gerade für die allgemeineren Begriffe eine höhere Be- deutung zukommt als für die speciellen , indem die losen Vor- stellungscomplexe der ersteren in der That ohne das gemein- schaftliche Band der Wortvorstellung auseinanderfallen würden. Sehr beweisend für diese Darlegung ist auch die Art und Weise, wie wir allgemeine concrete Begriffe erwerben. Als Kindern wird uns unzählige Male beim Sehen einer Rose , einer Tulpe , einer Eiche das Wort Pflanze vorgesprochen, und wir sprechen es nach: so bildet sich eine motorische und akustische Sprachvorstellung in Association mit zahlreichen concreten Einzelvorstellungen, die unter sich bei aller Verschiedenheit eine gewisse Aehnlichkeit haben. Das Gesamtsystem dieser Associationen bildet den allge- meinen concreten Begriff Pflanze.

Eine besondere Gattung sinnlicher Begriffe entsteht ferner dadurch, dass eine Reihe successiver concreter Vorstellungen mit einer einzigen Wortvorstellung associativ verknüpft wird.

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Dahin gehört z. B. der concrete Begriff Gewitter: derselbe ent- hält eine Reihenfolge optischer und akustischer Vorstellungen, die nicht alle gleichzeitig niedergelegt werden, sondern z. Th. ein- ander folgten.

Die concreten Begriffe bestehen, wie wir sahen, aus Vor- stellungscomplexen oder einer Succession von Vorstellungscom- plexen, welche mit einer Sprachvorstellung verknüpft sind. Diese Vorstellungscomplexe sind sämtlich direct irgend welchen Em- pfindungen entlehnt, z. B. der concrete Begriff des Gewitters löst sich auf in eine Succession von Vorstellungscomplexen : dunkel- graue Wolken Regen Blitz Donner etc., und alle diese Vorstellungscomplexe bestehen ihrerseits aus Erinnerungsbildern von Empfindungen, wie z. B. der Regen aus der akustischen Theil- vorstellung des gehörten Prasseins und der optischen der nieder- fallenden Tropfen.

In den bis jetzt uns bekannt gewordenen concreten Begriffen gehen alle Theilvorstellungen direct auf Empfindungen zurück. Auch alle Begriffe, welche eine Beziehung der concreten Gegen- stände untereinander ausdrücken, lassen sich noch direct auf Empfindungen zurückführen und sind also in unserem Sinne con- creto Nehmen Sie z. B. den Begriff der »Aehnlichkeit«. Un- zählige Male wird dem Kinde beim Sehen zweier oder mehrerer ähnlicher Gegenstände das Wort »ähnlich« vorgesprochen, sagen wir z. B. zuerst in Bezug auf zwei ähnliche Spielsachen. Anfangs hat das Kind ähnliche Empfindungen von den beiden , aber es weiss von dieser Aehnlichkeit seiner beiden Empfindungen nichts. Nun hört es das Wort »ähnlich« zuerst mit Bezug auf die beiden Spielsachen: das Wort »ähnlich« bedeutet ihm zunächst nur jene »zwei bestimmten ähnlichen Spielsachen«. Aber weiterhin wird das Wort »ähnlich« ihm öfter vorgesprochen: auch zwei ähnliche Bäume, zwei ähnliche Häuser werden dem Kind als ähnlich be- zeichnet, oder mit anderen Worten, die Sprachvorstellung »ähn- lich« des Kindes tritt in associative Verknüpfung mit zahllosen Paaren ähnlicher concreter Erinnerungsbilder. Wenn anfangs die Wortvorstellung »Aehnlichkeit« für das Kind nur den spe- cialen Sinn: »zwei bestimmte ähnliche Spielsachen« hatte, so ändert sich dies allmählich, indem mehr und mehr und immer ver- schiedenere derartige Paare ähnlicher Erinnerungsbilder mit- schwingen. Das Endresultat ist eine Wortvorstellung, die asso- ciativ mit zahllosen Paaren ähnlicher Erinnerungsbilder verknüpft ist und daher ihren besonderen Inhalt (Spielsachen, Bäume etc.) ganz verloren hat und ihre Charakteristik nur daraus empfängt, dass eben alle jene Erinnerungsbilder einander paarweise ähnlich sind. Wir wollen solche concrete Begriffe concrete Bezie- hungsbegriffe nennen. Ich habe Ihnen eben erläutert, wie das Kind, das Individuum dieselben erwirbt, und was ihre physio- logische Grundlage bei dem Erwachsenen ist. Die schwierige Frage, wie bei dem Menschengeschlecht, also phylogenetisch sich diese Beziehungsbegriffe entwickelt haben, beschäftigt uns hier nicht. Wie es ferner kommt, dass wir nun beim Sehen eines Gegenstandes sofort den zutreffenden Begriff und beim Sehen zweier ähnlicher Gegenstände sofort den zutreffenden Beziehungs- begriff der Aehnlichkeit finden , werden unsere nächsten Vor-

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lesungen lehren. Für jetzt mache ich Sie nur darauf aufmerksam, dass auch diese Beziehungsbegriffe zunächst noch concret sind, d. h. direct Empfindungen entlehnt sind. Sprachlich zeigt sich dies noch darin, dass die Wörter für Beziehungsbegriffe wie »Ver- hältniss, Folge« etc. fast ausnahmslos concreten Specialfällen ent- lehnt sind.

Damit sind unsere wichtigsten Arten der concreten Be- griffe erschöpft. Wir wollen hier direct die physiologische De- duction der abstracten Begriffe anschliessen. Unter einem abstracten Begriff ist von den Logikern durchaus nicht stets dasselbe verstanden worden. Die Scholastiker nannten »weiss« einen concreten Begriff, die »Weisse« einen abstracten Begriff. Ebenso in unserem Jahrhundert der berühmte Verfasser des Systems der deductiven und inductiven Logik , John Stuart Mill1). Andere bezeichneten das, was wir als allgemeine Begriffe bezeichneten, als abstracte Begriffe : danach wäre : »diese Rose« ein concreter, dagegen »Rose«, »Pflanze« etc. abstracte Begriffe.

In der physiologischen Psychologie bleibt für die sogenannten abstracten Begriffe nur wenig Feld übrig. Wir wollen als ab- stracte Begriffe solche bezeichnen, welche nicht direct auf Empfin- dungen und Erinnerungsbilder derselben zurückzuführen sind. Wir hörten oben von den einfachsten concreten Begriffen, dass sie aus einem Complex von Partialvorstellungen bestehen, welche untereinander und mit einer Wortvorstellung associativ verknüpft sind. Diese Verbindung der Partialvorstellungen, wie z. B. des Duftes , der Farbe und der Form der Rose, entspricht einer uns oft vorgekommenen Verbindung derselben Empfindungen. Ist ja doch jene nur eine Folge dieser! Aber unsere Vorstellungen entstehen nicht nur geweckt von Empfindungen, sondern auch wenn Augen und Ohren und alle unsere anderen Sinnesorgane ruhen , also jegliche Empfindung fehlt , spielt unsere Phantasie oder unser Denken und bringt in einer Weise, die wir alle genau kennen, die den Empfindungen entlehnten Theilvorstellungen in neue Verbindungen oder Complexe , wie sie unter den Empfin- dungen gar nicht vorkommen. Diese neuen Combinationen von Theilvorstellungen wollen wir als Phantasievorstelungen oder Denk Vorstellungen bezeichnen. Wenn ich mir einen Garten vorstelle, so kann ich mir zwar einen bestimmten oft ge- sehenen vorstellen, also die Theilvorstellungen genau in der- jenigen Auswahl und Combination, in welcher die Empfindungen wirklich oft durch einen bestimmten Garten ausgelöst wurden, reproducieren. Meine Ideenassociation , welche wir in diesem speciellen Fall gern als Phantasie oder Einbildungskraft bezeichnen, kann jedoch auch die Theilvorstellungen : Baum, Beet, Rose etc. in einer Auswahl und Verbindung combinieren, wie sie nie in unserem Empfindungsleben wirklich vorgekommen ist: wir haben dann die Vorstellung eines nie gesehenen Phantasiegartens. Diesen Phantasie- oder Denkvorstellungen fehlt also die directe Entstehung aus einer Empfindung oder, anders ausgedrückt, die Beziehung auf ein äusseres Object. Wie die aus Empfindungen

1) Mill. Uebers, von J. Schiel, S. 32 u. ff.

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direct entstandenen concreten Begriffe, treten auch diese Phantasie- vorstellungen zu successiven Reihen zusammen. Wichtiger noch ist, dass diese Phantasievorstellungen auch Verallgemeinerungen wie die concreten Begriffe erfahren und dass auch die allgemein- sten concreten Begriffe von unserem Denken in neue Combinationen gebracht werden. So werden von uns auch allgemeine Begriffe und Wörter gebildet, denen ein directer Bezug auf einen ausser- halb unserer Person befindlichen Gegenstand fehlt. Wir können solche Begriffe als abstracte Begriffe bezeichnen, falls wir diesem nicht ganz passenden Namen durchaus eine Verwendung geben wollen. Hier halten wir inne. Es genügt uns, festgestellt zu haben , wie der Reiz die Empfindung auslöst, diese ein Erinne- rungsbild oder eine Vorstellung hinterlässt, wie die Vorstellung durch Verbindung mit einer akustischen und motorischen Sprach- vorstellung zum concreten Begriff wird und den ersten Grad der Allgemeinheit erlangt. Der concrete Begriff selbst kann sich dann weiter verallgemeinern und kann auch Beziehungen ausdrücken, aber stets bezieht er sich direct auf concrete Dinge, resp. Em- pfundenes und die aus den Empfindungen stammenden Vorstel- lungen. Der abstracte Begriff stellt uns Vorstellungscombinationen dar, für welche analoge Empfindungscombinationen nie existiert haben. Sie sehen, dass damit eine Trennung unserer ps}7chischen Vorgänge vorbereitet ist, welche schliesslich dahin führt, dass wir die einfache uns gegebene Reihe der Empfindungen, Vorstellungen, concreten und abstracten Begriffe nun weiter so zerlegen, dass wir zwei parallele Welten, eine der physischen und eine der psy- chischen Erscheinungen annehmen und unter den letzteren die Empfindungen als die Wirkungen der physischen Erscheinungen betrachten. Unterstützt wird diese Trennung durch die Beobach- tung unserer Mitmenschen , welche über ihr Innenleben sprach- liche Auskunft geben. Die weitere Ausführung dieser Unter- suchung, namentlich auch die Frage der Berechtigung dieser Trennung müssen wir einer ganz anderen Wissenschaft, der Er- kenntnisstheorie, überlassen. Der Beziehungsbegriff der Ursache oder Causalität würde bei einer solchen genaueren De- duction eine wesentliche Rolle spielen. Die physiologische Psy- chologie begnügt sich, die beiden Reihen als gegeben hinzunehmen, und nur bei der Deduction der abstracten Begriffe streift sie diese erkenntnisstheoretische Frage.

Wir kehren zu den Erinnerungsbildern oder Vorstellungen concreten Inhalts zurück. Sie entsinnen sich, dass wir in der Lehre von der Empfindung drei Eigenschaften derselben unter- schieden, erstens die Qualität, zweitens die Intensität, drittens den Gefühlston. Hierzu kam dann noch der räumliche und zeitliche Charakter der Empfindung. Können wir nun ähnliche Eigen- schaften auch an dem Erinnerungsbild der Empfindung, der Vor- stellung unterscheiden? Einfachste Ueberlegung zeigt uns, dass die Vorstellungen von einander verschieden sind, erstens hin- sichtlich ihres Inhalts oder, wie man auch sagen könnte, hinsichtlich ihrer Bedeutung: die Vostellungen »König« und »Pflanze« haben einen ganz verschiedenen Inhalt. Ein zweiter Unterschied liegt in der Lebhaftigkeit oder Deutlichkeit der Vorstellungen. Sie haben z. B. eine sehr lebhafte oder deut-

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liehe Vorstellung von einer »Rose«. Sie haben so unzählige Male den Empfindungscomplex »Rose« gehabt, dass das Erinnerungs- bild oder die Vorstellung »Rose« eine sehr lebhafte oder deutliche ist. Eine schon erheblich undeutlichere, weniger lebhafte Vor- stellung werden Sie z. B. von einer Rhododendronblüthe haben ; der Grund liegt auf der Hand : der Empfindungscomplex einer Rhododendronblüthe ist Ihnen viel seltener vorgekommen. Aber auch bei gleichem Inhalt ist die Lebhaftigkeit einer Vorstellung verschieden : der Botaniker oder Gärtner hat eine viel lebhaftere Vorstellung von einer Rhododendronblüthe als ein pflanzenkun- diger Laie. Ja noch mehr: Ihre eigene Vorstellung von einer Rhododendronblüthe wechselt hinsichtlich des Grades der Leb- haftigkeit und Deutlichkeit. Wenn Sie heute vielleicht zum ersten Mal eine Rhododendronblüthe sehen, so ist heute und morgen das Erinnerungsbild oder die Vorstellung derselben sehr lebhaft. Nach wenigen Tagen 1 ) nimmt die Deutlichkeit schon ab, und nach einem Jahr ist, falls Sie die Blüthe nicht wieder gesehen haben, die Deutlichkeit oder Lebhaftigkeit Ihrer Vorstellung fast völlig verloren gegangen. Eine dritte Eigenschaft der Vorstellungen neben dem Inhalt und der Lebhaftigkeit ist der Gefühlston derselben. Die Vorstellung dieses Menschen ist von einem an- genehmen, die jenes Menschen von einem unangenehmen Ge- fühlston begleitet, oder: die allgemeine Vorstellung »Freund« ist von einem Lustgefühl, die allgemeine Vorstellung »Feind« von einem Unlustgefühl begleitet. Diesen Gefühlstönen, welche zu- sammen mit den Gefühlstönen der Empfindungen die Grundlage unseres Affectlebens bilden, werden wir eine specielle Erörterung widmen müssen. Was endlich den räumlichen und zeitlichen Charakter der Vorstellungen anlangt, so sind offenbar die Vor- stellungen nicht durchweg ebenso in den Raum projiciert, wie es die Empfindungen sind. Der Empfindungscomplex eines be- stimmten Baumes ist entschieden ein räumlicher, und auch das Erinnerungsbild dieses bestimmten Baumes oder die Vorstellung, welche ich mir in der Erinnerung von diesem bestimmten Baum mache, hat entschieden noch einen gewissen räumlichen Charakter. Aber einer grossen Zahl von Vorstellungen, so namentlich den meisten allgemeinen, geht der räumliche Charakter verloren. Schon die allgemeine Vorstellung oder der Begriff »Baum« hat den räum- lichen Charakter fast ganz verloren, noch mehr der allgemeine Begriff Pflanze. Indem die Einzelvorstellungen zu Begriffen ver- allgemeinert werden , lassen wir eben meistens gerade die räum- lichen Eigenschaften zuerst zurücktreten. Ein zeitlicher Charakter,

1) Sehr interessant ist die Untersuchung Pannth's (Centralbl. f. Physiol. 1890, Nr. 3), wonach anzunehmen ist. dass das Erinnerungsbild in den ersten 5 Minuten nach dem Verschwinden der Empfindung über- haupt nicht merklich an Schärfe abnimmt und erst nach mehr als 5 Minuten langsam an Schärfe zu verlieren beginnt. Dieses allmähliche Vergessen ist durchaus nicht nur eine Intensitätsabnahme, sondern zugleich mit dieser stellt sich stets auch eine eigenthümliche qualitative Veränderung ein, die kaum zu beschreiben ist und von uns meist als das Verblassen des Erinnerungsbildes bezeichnet wird: identisch ist dieselbe mit dem, was wir als Verlust der Deutlichkeit oder Schärfe bezeichnen.

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also eine gewisse Dauer und Reihenfolge kommt den Vorstellungen ganz ebenso wie den Empfmdunge zu: die eine Vorstellung be- schäftigt mich vielleicht nur eine Secunde , die nächste zwei Secunden u. s. f.

Wir schliessen hier gleich die Frage an, ob mehr als eine Vorstellung gleichzeitig auftreten kann , oder ob dies nicht vor- kommt. Hierauf ist zu antworten : gleichzeitige Vorstellungen verschmelzen zu zusammengesetzten Vorstellungen, zwei getrennte Vorstellungen in einem Augenblick können nicht auftreten.

Wir finden also auch für das Erinnerungsbild oder die Vor- stellung, abgesehen von dem räumlichen und zeitlichen Charakter, drei Eigenschaften, und ich möchte Sie ausdrücklich vor der nahe liegenden Versuchung warnen, etwa den Inhalt der Vorstellung mit der Qualität der Empfindung, die Deutlichkeit der Vorstellung mit der Intensität der Empfindung und den Gefühlston der Vor- stellung mit dem Gefühlston der Empfindung in Parallele zu stellen. Nur der Gefühlston der Empfindung geht allerdings meist in ein- facher Weise von dieser auf die Vorstellung über. Die Qualität und die Intensität der Empfindung gehen hingegen beide in den In- halt der Vorstellung ein und Aehnliches gilt im Ganzen auch für die räumlichen und zeitlichen Eigenschaften der Empfindung. Bei manchen Vorstellungen wird der Inhalt noch durch ein anderes Moment bedingt: wenn ich in meinem Leben nur zwei bestimmte Hundearten, z. B. ein Windspiel und einen Pudel, sehen und daraus mir die Vorstellung Hund bilden sollte, so würde der In- halt dieser Vorstellung sehr verschieden ausfallen, je nachdem ich den Pudel oder das Windspiel öfter gesehen, sie würde näm- lich entschieden dem öfter gesehenen Thier ähnlicher ausfallen. Also nicht nur die Qualität und Intensität, sondern auch die relative Häufigkeit der einzelnen zu Grunde liegenden Empfindungen be- stimmt den Inhalt der Vorstellungen, wenigstens der allgemeineren. Die Schärfe der Vorstellungen hängt zunächst von der Intensität der zu Grunde liegenden Empfindung ab : das intensive Leuchten des Blitzes wird im Allgemeinen ein lebhafteres Erinnerungsbild hinterlassen, als ein mattes Wetterleuchten. Aber andere Factoren sind ebenso wichtig für die Schärfe des Erinnerungsbildes : so namentlich auch hier wieder die Häufigkeit, in welcher der zu Grunde liegende Empfindungscomplex aufgetreten ist. Habe ich einen bestimmten Menschen oft gesehen , so ist die latente mate- rielle Spur dieses Empfmdungscomplexes den Elementen der Hirn- rinde fester eingeprägt , d. h. ich kann mir treuer und schärfer die Vorstellungen dieses Menschen ins Gedächtniss zurückrufen. Wir müssen uns, wie oben erwähnt, die materielle Spur Ri, welche wir unter Vorbehalt als latentes Erinnerungsbild bezeichneten, in letzter Linie als eine bestimmte räumliche Anordnung in bestimm- ter Weise zusammengesetzter Molecüle denken. Diese Anordnung ist nun Anfangs eine sehr labile und lose : erst wenn dieselbe Empfindung sehr häufig aufgetreten ist, wird die von ihr ge- schaffene und hinterlassene Anordnung der Molecüle eine sehr feste, und erst wenn die Ganglienzelle in dieser Weise eine sehr bestimmte und fixierte Disposition ihrer Molecüle erlangt hat, ist die Vorstellung, welche durch die Ideenassociation aus dieser Disposition emporgeweckt wird, eine deutliche. Ausser den eben-

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genannten drei Eigenschaften, welche den latenten Erinnerungs- bildern und den actuellen Vorstellungen gleichmässig zukommen, haben die actuellen Vorstellungen noch eine vierte Eigenschaft: je nach der Stärke des Impulses, welchen die Ganglienzelle mit der Disposition Ri von der Ideenassociation empfängt, ist nämlich die Intensität der Vorstellung selbst sehr verschieden. Wenn ich z. B. an einem heissen Tage Regenwolken sehe, so empfangen zwei latente Vorstellungen von der an die Gesichtsempfindung sich anschliessenden Ideenassociation einen Impuls, die der Durch- nässung meiner Person und die der zu gewärtigenden erfrischen- den Abkühlung der Luft. Einen stärkeren Impuls wird hier die erstere Vorstellung erfahren, und desshalb wird sie lebhafter als die letztere in mir auftauchen. Wir müssen also die Schärfe un- serer Vorstellungen , welche auf der grösseren oder geringeren Fixierung des Ri beruht und mit der qualitativen resp. inhalt- lichen Bestimmtheit der Vorstellung Hand in Hand geht, unter- scheiden von der Intensität unserer Vorstellungen, welche auf der Stärke des Impulses beruht, der Ri zu -R,., das latente zum actuellen Erinnerungsbild erhebt. Die Vorstellungsschärfe ist theilweise von der Intensität der zu Grunde liegenden Empfindungen ab- hängig, die Vorstellungsi ntensität hat mit der Intensität der Em- pfindungen, deren Erinnerungsbild sie ist, gar nichts zu thun. Die Vorstellungsintensität kann zweckmässig auch als Energie der Vorstellung bezeichnet werden. Die Vorstellungsenergie scheint zunächst nur eine Eigenschaft der actuellen Vorstellungen. Ich werde Ihnen jedoch später zu erörtern haben , dass auch die latenten Erinnerungsbilder sich gegenseitig associative Impulse zusenden und sich dadurch theils hemmen, theils anregen. In diesem Sinne kommt auch den latenten Vorstellungen eine be- stimmte Intensität oder Energie als vierte Eigenschaft zu.

Zum Schluss haben wir noch eine einfache Folgerung mit Bezug auf die latenten Erinnerungsbilder zu ziehen. Wenn diese wirklich nur materielle Dispositionen sind , so wird der Stoff- wechsel der Ganglienzelle nicht ohne Einfluss auf diese moleculare Disposition bleiben , d. h. falls nicht neue ähnliche oder gleiche Empfindungen diese Disposition wieder befestigen , wird dieselbe im Lauf der Zeit unvermerkt gelockert und schliesslich zerstört werden müssen. Damit stimmt denn auch die gewöhnlichste Selbstbeobachtung überein. Dieses Lockern und schliessliche Zerstören der latenten Erinnerungsbilder ist nichts anderes als das, was wir »Vergessen« nennen; Vorstellungen, welche nicht durch ähnliche oder gleiche Empfindungen immer wieder angeregt werden, vergessen wir.

Damit haben wir die Lehre von der Vorstellung oder dem Erinnerungsbild im Wesentlichen erschöpft und kennen das ge- samte Material, mit welchem unsere Ideenassociation arbeitet. Nur die Gefühlstöne der Vorstellungen werden noch einer besonderen Besprechung bedürfen,

NEUNTE VORLESUNG. Der Gefühlston der Vorstellungen Affecte.

Die ältere Psychologie betrachtete fast ausnahmslos die Affecte als die Kundgebungen eines besonderen , selbständigen Seelen- vermögens. Kant stellt das Gefühl der Lust und Unlust als besondere Seelenfähigkeit zwischen das Erkenntnissvermögen und das Begehrungsvermögen und betont ausdrücklich , dass eine weitere Ableitung dieser drei Seelenvermögeri aus einem gemein- schaftlichen Grunde nicht möglich sei. Dem gegenüber haben unsere bisherigen Erörterungen uns bereits gelehrt, dass die Ge- fühle der Lust und Unlust in dieser Selbständigkeit gar nicht existieren, dass sie vielmehr nur als Eigenschaften oder Merkmale von Empfindungen und Vorstellungen, als sogenannte Gefühlstöne auftreten. Die Gefühlstöne der Empfindungen haben wir bereits ausführlich kennen gelernt. Wir haben uns jetzt mit den Gefühls- tönen der Vorstellungen zu beschäftigen. Die Gefühlstöne aller Vorstellungen lassen sich in letzter Linie aus den Gefühlstönen von Empfindungen herleiten. Eine Empfindung verschwindet mit dem Verschwinden des Reizes und hinterlässt ein Erinnerungsbild oder eine Vorstellung. Mit ihren übrigen Merkmalen überträgt sie auf die Vorstellung auch ihren Gefühlston, er sei positiv oder negativ. Die stechende Empfindung des Rosendorns hinterlässt keine indifferente Erinnerung: wenn ich den Stich mir wieder vorstelle oder, anders ausgedrückt, das Erinnerungsbild des Stichs im Verlauf meiner Ideenassociation wieder auftaucht, so ist diese Erinnerung mit einem Unlustgefühl verknüpft. Die Vorstellung hat ihren Gefühlston von der Empfindung ererbt.

Dieser Satz, dass alle Vorstellungen ihre Gefühlstöne in letzter Linie Empfindungen verdanken, ist von der grössten Wichtigkeit. Aprioristische oder absolute Gefühlswerthe für irgendwelche Vor- stellungen existieren also nicht. Nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch ihrem Gefühlswerth nach sind, alle unsere Vorstellungen Ab- kömmlinge unserer Empfindungen. Die Vorstellung der Dank- barkeit oder irgend einer anderen Tugend würde niemals mit positivem Gefühlston von uns verknüpft werden , wenn wir nicht über Handlungen der Dankbarkeit, die wir gesehen oder die wir gehört, kurzum die wir empfunden haben, uns einmal gefreut hätten. Schliesslich kann selbst das lobende Wort des Lehrers genügen, eine Eigenschaft, für welche wir Beispiele nie erlebt haben, in unserer Vorstellung mit einem positiven oder negativen

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Gefühlston zu verknüpfen. Ohne irgend einen zu Grunde liegen- den Gefühlston der Empfindung entwickelt sich jedoch nie ein Gefühlston einer Vorstellung.

Freilich ist dieser Zusammenhang des Gefühlstons der Vor- stellung mit Gefühlstönen von Empfindungen oft viel verwickelter als in dem eben erwähnten Beispiel. Es beruht dies auf einer wichtigen Eigenschaft der Gefühlstöne der Vorstellungen, nämlich auf ihrer leichten Uebertragbarkeit. Wenn ich an einem beliebigen Orte einen Unfall, z. B. eine Verletzung, erlitten habe, so ist künftig nicht nur die Erinnerung an diese Verletzung von einem Unlustgefühl begleitet, sondern häufig ist mir auch die Erinnerung an den Ort selbst verleidet, d. h. eben gleichfalls mit einem Un- lustgefühl verknüpft. Wir können diesem unmotivierten Unlust- gefühl widerstreben , insofern durch Gegenvorstellungen der Ein- fluss desselben auf unsere Handlungen unwirksam wird, aber bei genauer Selbstbeobachtung werden wir dies übertragene Unlustgefühl selten in uns vermissen. Lassen Sie uns diesen psychologischen Vorgang etwas genauer analysieren. Eine be- stimmte Oertlichkeit erregt in uns die Gesichtsempfindung E0, gleichzeitig haben wir bei der Verletzung die Berührungsempfin- dung Et. E„ sei von keinem oder sehr schwachem Gefühlston begleitet. Et ist schmerzhaft, also von intensivem negativem Ge- fühlston begleitet. Von E0 bleibt das Erinnerungsbild F0, von Et das Erinnerungsbild Vt zurück. V0 und Vt als gleichzeitig niedergelegte Vorstellungen stehen unter einander in sog. asso- ciativer Verknüpfung. V0 entbehrt zunächst des Gefühlstons, Vt überkommt den intensiven negativen Gefühlston von Et . Das Gesetz, welches ich Ihnen soeben angab, äussert sich nun im vor- liegenden Falle darin , dass Vt seinen Gefühlston in voller oder abgeschwächter Intensität auf das associativ mit ihm verknüpfte V0 überträgt: die Folge hiervon ist, dass künftig auch die Er- innerung des Ortes, obwohl dessen Empfindung nie von nega- tivem Gefühlston begleitet war, von Unlustgefühl begleitet ist. Hier verdankt also eine Vorstellung ihren Gefühlston nicht direct der ihr selbst zu Grunde liegenden Empfindung, sondern einer anderen, associativ mit ihr verknüpften Vorstellung. Dass in letzter Linie auch hier der Gefühlston der Vorstellung auf Ge- fühlstönen der Empfindung beruht, liegt auf der Hand. Der Ge- fühlston von Et ist die letzte Ursache des Gefühlstons von V0. Der Zusammenhang ist nur viel verwickelter, nicht direct, sondern indirect. Einer Folgeerscheinung dieses Gesetzes sind wir bereits in einer früheren Vorlesung begegnet. Wenn ich die Oertlich- keit wiedersehe, also E0 sich wiederholt, so ist dies E0 häufig von Unlustgefühl begleitet, auch ohne dass Vt besonders in mir auf- taucht. Hier hat weiterhin V0 seinen von Vt resp. Et entlehnten Gefühlston auf das zweite E0 übertragen :). Die Empfindung hat mithin ihren Gefühlston der Vorstellung entlehnt. Ich erläuterte Ihnen dies früher an dem Beispiele einer von wehmüthigen Worten begleiteten Melodie. Es kann also zu einem vollständigen Zirkel in dieser Uebertragung der Gefühlstöne kommen.

1) Die pathologische Verzerrung dieser Eigenschaft unseres Affect- lebens bieten viele sog. Intentionspsychosen.

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Man kann die Uebertragung des Gefühlstons einer Vorstellung- auf eine andere auch als Irradiation der intellectuellen Gefühle bezeichnen. Ich verstehe hierbei unter intellectuellen Gefühlen die Gefühlstöne der Vorstellungen oder Erinnerungs- bilder und stelle sie den sensoriellen Gefühlen, d. h. den Gefühls- tönen der Empfindungen, gegenüber. Für diese Irradiation lassen sich zahllose Beispiele anführen. Eine widrig riechende Blume ist uns in der Erinnerung als Ganzes unangenehm: die Partial- vorstellung des Geruchs hat ihren Gefühlston auf den ganzen concreten Begriff übertragen. Unser ganzes Affectleben und da- mit auch unser ganzes Handeln wird von diesen Irradiationen be- herrscht. Unsere Antipathien und Sympathien, Vorurtheile und Voreingenommenheiten fliessen hauptsächlich aus dieser Quelle.

Lassen Sie uns zunächst folgende Consequenz dieses Irra- diationsgesetzes erwägen : wenn ich in einer gewissen Zeiteinheit eine oder einige wenige Empfindungen oder Vorstellungen mit gleichem starkem Gefühlston habe, so werden die vielen anderen in derselben Zeiteinheit auftretenden Empfindungen und Vor- stellungen, welche von keinem oder schwachem Gefühlston be- gleitet sind, sämtlich durch den Gefühlston jener einen Vorstellung (oder Empfindung) gefärbt. So kommt es, dass sehr häufig un- sere Empfindungen und Vorstellungen innerhalb einer gewissen Zeiteinheit eine Gleichartigkeit der Gefühlstöne zeigen. Begriff- lich fassen wir dann den Durchschnitt dieser gleichartigen Ge- fühlstöne der innerhalb einer Zeiteinheit vorhandenen Empfindungen und Vorstellungen unter dem Wort »Stimmung« zusammen. Unsere Stimmung ist somit nicht ein unabhängiger, selbständiger psychischer Process, sondern eine Abstraction aus den gleich- artigen Gefühlstönen der Vorstellungen und Empfindungen eines bestimmten Zeitabschnitts. Treten innerhalb eines solchen mehrere Vorstellungen mit starkem, aber entgegengesetztem Gefühlston auf, so hat es keinen Sinn, von einer einheitlichen Gemüthsstimmung zu sprechen.

Weiterhin wird es Ihnen jetzt sofort einleuchten, dass dank dieser Irradiation der Gefühlston der meisten Vorstellungen und gerade der allgemeineren in sehr complicierter Weise zusammen- gesetzt ist. Eine Vorstellung Vx hat zahllose associative Ver- knüpfungen mit anderen Vorstellungen. Jede dieser anderen Vor- stellungen, soweit sie überhaupt einen stärkeren Gefühlston hat, irradiiert denselben auf F, . Der Gefühlston von Vx ist somit die Resultante erstens der Gefühlstöne der l\ selbst zu Grunde lie- genden Empfindungen und zweitens der Gefühlstöne der mit Vx associativ verknüpften Vorstellungen. Erwägen Sie nun, dass oft F, selbst aus Partial Vorstellungen oder gar ganzen Associationssy- stemen, wie wir es in der letzten Vorlesung erörterten, zusammen- gesetzt ist , so werden Sie ermessen können , wie fein abgestuft und compliciert entstanden unsere intellectuellenGefühle sind.

Freilich wäre diese ganze Compliciertheit sofort beseitigt, wenn alle unsere Lust- und Unlustgefühle sich lediglich der Intensität nach unterschieden. Dann würde der Gefühlston auch der com- pliciertesten Vorstellung sich relativ einfach als die algebraische Summe der Gefühlstöne der zu Grunde liegenden Empfindungen und der assoeiierten Vorstellungen berechnen lassen. Leider hat

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die moderne Psychologie dieser falschen Hypothese über Gebühr beigepfiichtet und doch liegt ihre Unrichtigkeit auf der Hand. Die zahllosen Gefühle, welche ein Menschennerz durchbeben, Neid, Zorn, Ehrgeiz, Liebe und wie sie alle heissen, sind offenbar quali- tativ verschieden. Es hiesse den Thatsachen Gewaltlanthun, wollte man alle diese Gefühle in das Schema „Lustgefühl oder Unlust- gefühl" hineinzwängen. Wenn ich auf dem Ciavier den Duraccord c e g anschlage und dann den Mollaccord c es g, so entstehen zwei qualitativ verschiedene Empfindungen. Ich bitte Sie nun zu beachten, wie das begleitende Lustgefühl sich in beiden Fällen verhält. Zunächst ist unzweifelhaft das Lustgefühl, welches den Duraccord begleitet, erheblich grösser. Aber ebenso unzweifelhaft lehrt eine genaue Selbstbeobachtung, dass das Lustgefühl, welches den Mollaccord begleitet, auch qualitativ verschieden ist. Diesen qualitativen Unterschied drückt selbst der psychologische Laie zuweilen durch die Worte Dur und Moll aus. Noch auffälliger wird die qualitative Verschiedenheit des Lustgefühls, wenn Sie Empfindungen verschiedener Sinnesgebiete miteinander ver- gleichen. Das behagliche Lustgefühl, welches die Wärmeempfin- dung in der Nähe des Ofens im Winter begleitet , ist von dem Lustgefühl, welches die Gehörsempfindung eines Accords oder die Gesichtsempfindung eines Ornamentes begleitet, völlig ver- schieden. Diese Verschiedenheit der Gefühlsqualität ist natürlich bedingt durch die Verschiedenheit der Qualität der Empfindung, aber keineswegs identisch mit ihr.

Diese qualitative Verschiedenheit des sensoriellen Gefühls- tons überträgt sich nun auch auf den intellectuellen Ge- fühlston. Der Gefühlston verschiedener Vorstellungen ist daher nicht nur seiner Intensität nach, sondern noch mehr seiner Quali- tät nach im höchsten Grade zusammengesetzt. Jene einfache algebraische Summierung findet nicht statt. Jede Vorstellung empfängt von den ihr zu Grunde liegenden Empfindungen und durch Irradiation eine grosse Zahl von Gefühlstönen, die erstens intensiv verschieden sind, z. Th. sogar ungleiche Vorzeichen haben und die zweitens qualitative Verschiedenheiten aufweisen. So entstehen die complicierten Gefühle und Stimmungen in allen den zahllosen Nuancen, wie sie das entwickeltere Vorstel- lungsleben fast stets begleiten. Lassen Sie uns z. B. das Gefühl des Neides analysiren ! Neid ist ein complicierter Gefühlston, welcher zuweilen unter ganz bestimmten Umständen die Empfin- dung und Vorstellung einer anderen Person begleitet. Ich denke z. B. an einen Bekannten, welcher einen Besitz erworben hat, den ich nicht zu erwerben vermochte, sagen wir, um die Anschauung zu fixiren, ein seltenes Mineral. Welche Irradiation erleidet meine Vorstellung jenes Bekannten in diesem Beispiel? Die Vorstellung des beneideten Bekannten selbst hatte schon, bevor er in den Be- sitz des Minerals kam und dadurch Gegenstand meines Neides ward , einen bestimmten eigenartigen Gefühlston , meist einen leicht negativen. Weiterhin ist die Vorstellung des Steins selbst mit derjenigen meines Bekannten associativ verknüpft, seitdem dieser den Stein erworben. Diese Vorstellung ist mit einem eigen- artigen Lustgefühl verknüpft und überträgt dieses, wenn auch in schwachem Grade, auf die Vorstellung des Bekannten. Ferner

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steht in associativer Verknüpfung die Vorstellung meiner eigenen Mineraliensammlung , welcher der bezügliche Stein fehlt ; diese Vorstellung wird von einem starken negativen Gefühlston be- sonderer Qualität begleitet. Auch dieser irradiiert auf die Vor- stellung des Bekannten. Die Vorstellungen der vergeblichen Anstrengungen , welche ich selbst gemacht habe, den Stein zu erwerben , kommen hinzu : die intensiv negativen eigenartigen Gefühlstöne dieser 'Vorstellungen gehen ebenfalls auf die Vor- stellung des Bekannten über. Es Hesse sich diese Analyse noch viel weiter in das Einzelne verfolgen. Das Gesagte genügt jedoch bereits Ihnen klar zu machen, dass das Neidgefühl, welches die Vorstellungen eines Bekannten begleitet , die complicierte Resultante einer grossen Reihe irradiierter Gefühlstöne associierter Vorstellungen ist. Von diesen irradiierten Gefühlstönen sind einige lediglich dem angenommenen Specialfall , andere in typischer Weise jedem Neidgefühl eigen. Zu den letzteren gehört z. B. namentlich der negative Gefühlston des eigenen Entbehrens. Diese letzteren würden speciell in eine allgemeine Definition des Neides aufzunehmen sein. Vor solchen allgemeinen Definitionen der Affecte möchte ich Sie jedoch im Ganzen warnen ; die Vor- nahme psychologischer Analysen in dem Sinne, wie ich kurz und unvollständig sie soeben für das Neidgefühl versucht habe, ist unendlich viel fruchtbarer. Ich kann Ihnen hier selbstverständlich nicht für alle oder auch nur für einige dieser complicierten Ge- fühle eine solche Analyse geben. Es würde uns dies viel zu weit führen. Aber nicht dringend genug kann ich Ihnen selbst empfehlen solche Analysen auszuführen. Sie haben als Gefühls- ton einer bestimmten Vorstellung ein compliciertes Gefühl an sich oder bei anderen beobachtet. Unterziehen Sie sich nun bitte der Mühe , die zu Grunde liegenden Empfindungen und die associierten Vorstellungen und alsdann die Irradiation der Ge- fühlstöne der letzteren zu bestimmen. So werden Sie die gründ- lichste Einsicht in unser Affectleben erlangen. Nur auf diesem Weg lässt sich die Zahllosigkeit der Nuancen unserer intellectuellen Gefühlstöne erklären.

Sie haben vorhin gehört, dass die irradiierten Gefühlstöne unserer Vorstellungen wieder auf die Empfindung zurückwirken können und sich dieser mittheilen. So kommt es , dass die com- plicierten Gefühle , welche wir soeben kennen lernten , nicht nur die Vorstellungen , sondern auch die Empfindungen begleiten. Wenn ich den Anderen im Besitze eines Schatzes sehe , welcher mir fehlt, so verbindet sich auch diese Gesichts empf in düng mit dem Gefühlston des Neides. Sind somit diese complicierten Gefühlstöne auch keineswegs auf die Vorstellungen beschränkt, so ist ihr Hinzutreten zu Empfindungen doch stets durch Vor- stellungen vermittelt.

Es wäre nunmehr die Aufgabe der Psychologie, eine Ein- theilung dieser complicierten Gefühlstöne zu versuchen. Wir werden indes einer solchen, sofern sie scharfe Grenzen zu ziehen versucht, von Anfang an mit einem gewissen Misstrauen begegnen. Die Specialisierung dieser Gefühlstöne ist eine unendliche: der Neid der Liebe unterscheidet sich vom Neid des Sammlers und dieser von dem Neid um Ehre und andererseits existieren stetige

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Uebergänge zwischen den scheinbar disparatesten AfTecten. Das tägliche Leben beweist uns dies, und nach unserer Darlegung konnten wir es nicht anders erwarten * ). Selbst eine räumliche Anordnung dieser qualitativ verschiedenen Gefühlstöne ist unmög- lich, ebenso unmöglich wie etwa eine räumliche Anordnung der Geruchsqualitäten. Selbst diejenige Eintheilung, welche sich zu- nächst aufdrängt, die Eintheilung in positive und negative Gefühle, lässt uns im Stich. Gewiss existieren unter den uns beschäftigen- den Gefühlen viele, welche wie z. B. Traurigkeit, Angst etc. ganz vorwiegend aus negativen Gefühlstönen zusammengesetzt sind, und ebenso andere, welche ganz vorwiegend aus positiven Gefühls- tönen bestehen , und wir werden weiterhin diesen vorwiegend negativen und vorwiegend positiven Gefühlen eine besondere Be- achtung schenken. Viele Gefühle lassen sich jedoch nicht ohne Rest der einen oder anderen Classe zurechnen. Denken Sie z. B. an den Humor in der guten alten Bedeutung des Wortes, der, wie man sagt , aus Weinen und Lachen oft wunderbar gemischt ist ! Es bleibt uns somit nur übrig aus der unendlichen ungeord- neten Mannigfaltigkeit der Gefühle diejenigen herauszugreifen, welche wegen ihrer Häufigkeit oder wegen ihrer Beziehung zu bestimmten Empfindungen und Vorstellungen oder endlich wegen ihres erheblichen Einflusses auf unsere Ideenassociation und unsere motorischen Innervationen uns besonders wichtig erscheinen. Nur für diese hat denn auch die Menschheit besondere Wortbezeich- nungen geschaffen.

Ohne irgendwelchen Anspruch auf Vollständigkeit und All- gemeingültigkeit will ich Ihnen daher im Folgenden nur kurz die Entwicklung unserer wichtigsten complicierten Gefühlstöne vor- führen. Wir gehen hierbei von den einfachen Gefühlstönen der Empfindungen aus. Die Lehre von denselben, die Aesthetik im engeren Sinne , hat uns früher bereits ausführlicher beschäftigt. Es handelt sich jetzt für uns darum, aus ihnen die complicierteren durch Irradiation entstandenen Gefühlstöne der Vorstellungen und die complicierteren sensoriellen Gefühlstöne , welche in der eben beschriebenen Weise durch Rückwirkung von den Vorstellungen her sich den Empfindungen mitgetheilt haben, abzuleiten. Die ein- fachsten Gefühlstöne , die positiven wie die negativen , begleiten

1) An verfehlten Eintheilungsversuchen der Affecte ist namentlich die ältere Philosophie ungemein reich. Am verführerischsten war stets die Zweitheilung in Lustgefühle und Unlustgefühle, aus welchen man die übrigen Affecte rein begrifflich zu entwickeln versuchte. Den conse- quentesten derartigen Versuch hat Spinoza gemacht : derselbe leitet alle Affecte aus der Laetitia und Tristitia her (vergl Ethice P. IV, Prop. 8) und führt diese wiederum auf Erkenntnissacte zurück (laetitiae affectus = cognitio boni, bonum = quod nostro esse conservando prodest). Wer diese und ähnliche Herleitungen verfolgt, muss einsehen, dass man auf diesem Weg der Mannigfaltigkeit unserer Gefühle nicht gerecht zu werden vermag. Die berühmte quadratische Anordnung der Affecte durch Hume gehört ebenfalls hierher. Sehr lehrreich ist namentlich auch die Tafel „aller" qualitativen Gefühle, welche Hobwicz gegeben hat (Psychol. Analysen, I, 2). Andere Ein theilungs versuche rühren von Baust, Dumont, Sibbekx, Nahlowska\ Lehmann u. A.

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positive Empfindungen und diese Empfindungen entsprechen wie- derum positiven Reizen. Auch die Hunger- und Durstempfindung, welche so früh von heftigem Unlustgefühl begleitet sind, sind, wie die Plrysiologie uns lehrt, positive Empfindungen, deren ur- sächliche Reize in gewissen Veränderungen der chemischen Zu- sammensetzung des Blutes zu suchen sind. Mit der zunehmenden Zahl der Erinnerungsbilder und ihrer associativen Verknüpfungen ändert sich dies. Das Kind sieht ein Stück Zucker. Die Gesichts- empfindung weckt die Erinnerung an eine Partialvorstellung des- selben Gegenstandes, die Geschmacksvorstellung des Zuckers. Die Geschmacksempfindung des Zuckers war von starkem posi- tivem Gefühlston begleitet und ebenso auch die Geschmacksvor- stellung. Dieser Gefühlston überträgt sich auf die associierte Ge- sichtsvorstellung und daher auch auf die Gesichtsempfindung. Das Kind freut sich über das Stück Zucker, welches es sieht. Diese Empfindung löst nun Bewegungen aus: das Kind greift nach dem Zucker. Nun soll diese Bewegung trotz wiederholter Versuche misslingen. Bis jetzt war in dem kindlichen Gehirn nur die Ge- sichtsemp findung des Zuckers und associativ die Geschmacks- vorstellung des Zuckers, beide von positivem Gefühls- ton begleitet, aufgetreten. Da die Greifbewegungen miss- lingen, bleibt die erwartete, von intensivem Lustgefühl begleitete Geschmacksempfindung aus. Die vergeblichen Greifbewegungen erzeugen schliesslich eine intensive, von intensivem Unlustgefühl begleitete Ermüdungsempfindung. Der negative Gefühlston der letzteren theilt sich der Gesichtsempfindung des Zuckers und der ganzen Vorstellung des Zuckers mit. Alle Gefühlstöne erscheinen verwandelt. Auch allen anderen gleichzeitigen Empfindungen und Vorstellungen theilt sich der negative Gefühlston mit: die ganze Stimmung ist verändert. Das Kind weint. So entstehen nega- tive Gefühlstöne, welche scheinbar keine positive Empfindung, sondern das Ausbleiben einer angenehmen Empfindung be- gleiten. Diese im Einzelnen im höchsten Maasse variierenden Gefühlstöne des »Entbehrens« hat die Psychologie bis jetzt viel zu wenig beachtet. Hat sich der obige Vorgang erst öfter in der gleichen oder ähnlichen Weise wiederholt, so sind zur Um- wandlung der Gefühlstöne die vergeblichen Greifversuche und die nachfolgende Ermüdungsempfindung gar nicht mehr noth- wendig. Die Vorstellung der Vergeblichkeit aller Aneignungs- versuche genügt, den Gefühlston des Entbehrens zu erzeugen und das entsprechende Unlustgefühl über die gleichzeitigen Empfin- dungen und Vorstellungen auszubreiten. Ich bitte Sie nun, diese Darlegung auf zahlreiche ähnliche Fälle zu übertragen. Bei dem Kinde unseres Beispiels handelte es sich um ein Stück Zucker, bei dem Erwachsenen wird daraus die ganze Summe dessen, was wir irgendwie zum »Glück« rechnen, Ehre, Liebe, Geld, Schmuck und zahlloses Andere. Dementsprechend tritt der Gefühlston des Entbehrens in zahllosen qualitativ verschiedenen Nuancen auf1). Ebenso wie die Ermüdungsempfindung nach vergeblichen Greif versuchen den negativen Gefühlston des Entbehrens her-

1) Die Entwicklung aus Ermüdungsempfindungen ist überdies keines- wegs die einzige Entstehungweise des Gefühlstons des Entbehrens.

Ziehen, Physiologische Psychologie. 2. Aufl. 9

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vorruft, so erzeugt Ruheempfindung nach erfolgreichen Flucht- versuchen vor Unlustempfindungen den positiven Gefühlston der Sicherheit. Auch dieser letztere entwickelt sich in den verschie- densten Formen. Schliesslich begleitet er ganz allgemein die Vorstellung des Ausbleibens oder der Abwesenheit irgend einer Unlustempfindung.

Während also ursprünglich nur entsprechend wirklich vor- handenen Empfindungen mit positivem und negativem Gefühlston Vorstellungen mit den Gefühlstönen des Geniessens oder Leidens existierten, treten jetzt Vorstellungen von abwesenden Empfin- dungen mit den Gefühlstönen des Entbehrens und der Sicherheit auf. Die Erweiterung, welche unser Affectleben hierdurch erfährt, lässt sich am klarsten für den Specialfall nachweisen, in welchem es sich um die Empfindung oder Vorstellung des Glücks oder Unglücks eines Mitmenschen handelt. Die Gesichtsempfindung einer Ver- letzung eines Mitmenschen oder die Vorstellung einer solchen ist vermöge ihrer associativen Verbindungen zunächst von einem com- plicierten negativen Gefühlston begleitet. Unsere obige Deduction macht es uns verständlich, dass dieselbe Empfindung und dieselbe Vorstellung gelegentlich positive Gefühlstöne erhält. An die Stelle des Mitl eids tritt die Schadenfreude und in analoger Weise an die Stelle der Mitfreude der Neid, beide ich wiederhole es in zahllosen Nuancen1). Das Ueberwiegen des einen Gefühls- tons oder des anderen bei einem speciellen Individuum und in einem speciellen Fall, also die affective Reaction, hängt von zahlreichen Einzelfactoren ab , von den im Specialfall vorhan- denen associativen Verknüpfungen und von den Gefühlstönen der einzelnen associierten Vorstellungen. Insofern dieselben affectiven Reactionen bei demselben Individuum in der übergrossen Mehr- zahl der Einzelfälle stets gleichmässig wiederkehren, kann man von affectiven Charak ter reactionen sprechen.

Eine weitere Richtung, in welcher die Entwicklung unserer complicierten Gefühlstöne sich vollzieht, wird uns folgende Er- wägung kennen lehren. Wir betrachteten seither die Gefühlstöne der Empfindungen unabhängig von ihren zeitlichen Beziehungen. Die Einführung der letzteren bedingt neue Abänderungen der uns bekannten Gefühlstöne. Aus einer besonderen Combination des Gefühlstons des augenblicklichen Entbehrens und des künftigen Geniessens entsteht der complicierte Gefühlston der Hoffnung und in analoger Weise aus einer besonderen Combination des Ge- fühlstons der augenblicklichen Sicherheit und des künftigen Lei- dens der eigenartige Gefühlston der Furcht in seinen zahlreichen Varietäten (Besorgniss, Angst etc.). Die interessanten, aber wenig erforschten Gefühlstöne, welche das »Suchen« im weitesten Sinne begleiten , wären hier anzureihen. Eine weitere Modification er- fahren die Gefühlstöne, indem sie auf Vorstellungen übertragen werden, die wir in causale Beziehung zu anderen Vorstellungen und Empfindungen mit bestimmten Gefühlstönen setzen. Wir construieren eine causale Beziehung zwischen dem concreten Begriff des Brodes und zahlreichen einzelnen Vorstellungen und

1) Unsere Sprache kann allen diesen Nuancen selbstverständlich nicht gerecht werden; denken Sie jedoch z. B. an die feinen Unterschiede zwischen Neid und Missgunst, Mitfreude, Mitleid und Theilnahme etc. !

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Empfindungen, z. B. dem angenehmen Geschmack, der Stillung des Hungers, dem Nährwerth etc. Demgemäss erhält die Vor- stellung des Brodes einen Gefühlston, den wir allgemein als den Gefühlston der Nützlichkeit bezeichnen. Dieser Gefühlston der Nützlichkeit ebenso wie der analoge der Schädlichkeit haben in der Sprache, nur insoweit sie den Vorstellungen von Gegen- ständen zukommen, eine besondere Bezeichnung erhalten. Wir legen denselben in psychologisch nicht rechtzufertigender Weise dem Object selbst als Eigenschaften Nützlichkeit und Schädlich- keit — zu. Dies ändert sich, sobald dieselben Gefühltstöne Vorstel- lungen von Personen begleiten: für diese Gefühlstöne hat die Sprache die subjectiven Bezeichnungen der Liebe und des Hasses. Specialisiertere Gefühlstöne derselben Gattung sind die Gefühle des Dankes und des Nachtragens. Auch alle diese Gefühle treten oft als affective Charakterreactionen in dem oben angegebenen Sinn auf: so wird z. B. aus dem Dankgefühl die Eigenschaft der Dank- barkeit1), aus dem Gefühl des Nachtragens die Eigenschaft des Nachtragens. Zorn, Achtung, Bewunderung, Verachtung, Gering- schätzung sind gleichfalls besondere Arten der uns jetzt beschäf- tigenden Gattung der Gefühlstöne. Noch grösser wird die Spe- cialisierung , wenn die Gefühlstöne Personen betreffen, die in bestimmter Beziehung zu uns stehen : hierher gehören die Gefühle unseren Verwandten gegenüber und in weiterem Sinne auch die Gefühle dem Staat, dem Vaterland etc. gegenüber. Eine besondere Gruppe bilden schliesslich die Gefühle, mit denen wir unsere Ich- vorstellung begleiten, die sog. Selbstgefühle (Stolz, Demuth 2) etc.)

Gehen wir von den einzelnen Vorstellungen zur Betrachtung der Ideenassociation über, so begegnen uns neue Gefühlstöne. Sie werden später ausführlicher hören, dass bei angestrengtem Denken zahlreiche Muskeln, so der M. frontalis etc., regelmässig innerviert werden. Verzögert sich der Abschluss einer Vorstel- lungsreihe, so steigern und häufen sich diese Innervationen, und dementsprechend kommt es zu Ermüdungsempfindungen mit aus- gesprochenem negativen Gefühlston. Nach dem Gesetz der Irra- diation theilt sich dieser negative Gefühlston allen Vorstellungen der Reihe mit, und so entsteht das Unlustgefühl oder die Unlust- stimmung der geistigen Hemmung. Auch diese tritt in den ver- schiedensten Formen auf. Die eigenartigen Gefühlstöne, welche den Zweifel und den Widerspruch im Denken und zwischen Denken und Empfindungen begleiten, gehören hierher. Dem entsprechen andrerseits die positiven Gefühlstöne , welche das geistige Gelingen, die Uebereinstimmung i m Denken und zwischen Denken und Empfindungen begleiten. Wundt hat diese Gefühle in sehr zweckmässiger Weise als logische Gefühle bezeichnet.

Die letzte, aber auch erheblichste Complication erfahren un- sere Gefühlstöne, wenn sie auf die Empfindungen und Vorstellungen unserer eigenen Handlungen und der Handlungen unserer

1; Es bedarf wohl kaum besonderer Erwähnung, dass die Undank- barkeit kein Gefühlston ist, sondern ebenso wie Apathie, Gleichgültigkeit etc. ein Wort für den Begriff des Mangels bestimmter Gefühlstöne ist.

2) Der affective Grössenwahn der Manie und der Kleinheitswahn der Melancholie gehört hierher.

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Mitmenschen übertragen werden. Zunächst freilich begleiten wir auch diese Empiindungen und Vorstellungen mit den uns schon bekannten Gefühlstönen. Die Wohlthaten der Mutter, welche zahl- reiche Empfindungen positiven Gefühlstons auslösen, begleiten wir mit dem Gefühl des Dankes und der Liebe u. s. f. Alle diese Gefühle sind noch durchaus egocentrisch. Sie setzen noch keine fühlenden Menschen ausser unserer eigenen Person voraus. Selbst das ursprüngliche Mitleid und die ursprüngliche Mitfreude, wie wir sie oben schilderten , sind noch egocentrisch. Die Gesichts- empfindung oder die Vorstellung einer Wunde bei meinem Mit- menschen war nur insofern mit Unlust verknüpft, als sie mich an eigene schmerzhafte Wunden erinnerte. Der Anblick des Glücks eines Nebenmenschen erfreute mich nur, insofern ich an ähn- liches eigenes Glück erinnert wurde. Ich versetzte mich gewisser- maassen stets erst an die Stelle des Anderen und erst dadurch wurde mir Mitleid und Mitfreude zu empfinden möglich. Das ändert sich, sobald wir entdecken, dass auch unsere Mitmenschen fühlen, d. h. von Gefühlstönen begleitete Empfindungen und Vor- stellungen haben. Bisher hatten wir nur Vorstellungen m i t Ge- fühlstönen, jetzt bilden wir uns Vorstellungen von diesen Gefühls- tönen einmal bei uns selbst, namentlich aber bei unseren Mit- menschen. Wir bilden die Vorstellungen »Leiden, Geniessen, Mitleid, Mitfreude, Liebe, Hass etc.«. Der Gefühlston dieser Vor- stellungen entwickelt sich im Einzelnen in sehr verschiedener Weise. Die Vorstellung fremden Leidens und fremden Geniessens verbindet sich vermöge ihres Inhalts die erstere mit einem negativen, die letztere mit einem positiven Gefühlston. So erfährt unser eigenes ursprünglich egocentrisches Mitleid und ebenso unsere Mitfreude eine irradiierende Verstärkung in altruistischem Sinne. Compli- cierter, aber auch wichtiger ist die Entwicklung der Gefühlstöne unserer Vorstellungen von den Gefühlen anderer Menschen in der folgenden Richtung. Wir beobachten nämlich, dass viele Gefühle unserer Mitmenschen zu Handlungen führen, welche uns entweder Lustgefühle oder Unlustgefühle verschaffen. Demgemäss erhalten die Vorstellungen der ersteren Gefühle (wie Mitleid, Mitfreude, Liebe) einen positiven Gefühlston, die Vorstellungen der letzteren (Hass, Neid, Schadenfreude) einen negativen Gefühlston. Dieser Ge- fühlston überträgt sich auch auf die von den genannten Gefühlen bedingten Handlungen. Den Gefühlston der Vorstellungen der erst- genannten Gefühle drücken wir sprachlich dadurch aus, dass wir die bez. Gefühle als Tugenden bezeichnen, während wir den Gefühlston der Vorstellungen der letztgenannten Gefühle sprachlich zum Aus- druck bringen, indem wir von Lastern sprechen. Die aus den erst- genannten Gefühlen entspringenden Handlungen bezeichnen wir als gut, die aus den letztgenannten entspringenden Handlungen als schlecht. Diese Gefühlsbetonung gilt zunächst offenbar nur für die Vorstellung der Gefühle und Handlungen eines Anderen mir gegenüber. Dieser Altruismus scheint zunächst noch rein-egoistisch, diese Tugenden scheinen mit Nützlichkeit, diese Laster mit Schäd- lichkeit identisch zu sein. Indes lässt sich ohne Schwierigkeit zeigen, dass auch der Gefühlston der Vorstellung oder Empfindung meiner eigenen Handlungen und fremder Handlungen gegenüber Dritten in ähnlicher Weise beeinflusst wird. Nehmen Sie ein be- stimmtes Beispiel : ich selbst oder ein Anderer springt einem Be-

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drohten zu Hülfe (== eigene oder fremde Handlung). Ich sehe und wenn ich sie selbst ausführe, fühle ich auch diese Handlung oder stelle sie mir vor (== Vorstellung oder Empfindung einer eigenen oder fremden Handlung einem Dritten gegenüber). Welches wird der Gefühlston dieser Empfindung oder Vorstellung sein? Derselbe bestimmt sich offenbar nach dem Früheren aus den irradiierenden Gefühlstönen. Diese sind äusserst zahlreich : ich nenne Ihnen hier beispielsweise nur das primäre Mitleid , die Schadenfreude , die Furcht (bei dem Hülfeversuch zu Grunde zu gehen), je nach der Person des Bedrohten vielleicht auch Liebe und Hass etc. Die Resultante aus allen diesen Gefühlstönen allgemein zu bestimmen, ist gar nicht möglich. Die individuellen Verschiedenheiten der affectiven Charakterreactionen und die Schwankungen der irra- diierenden Gefühlstöne je nach den speciellen Umständen sind viel zu erheblich. In diesen Kampf der irradiierenden Gefühls- töne tritt nun der positive Gefühlston der Vorstellung einer mit- leidigen Handlung ein oder ganz populär ausgedrückt ich fühle, dass es »edel« wäre, aus Mitleid dem Bedrohten zu helfen. Allerdings bezog sich dieser positive Gefühlston ursprünglich nur auf Handlungen Fremder, die mir nützen. Auch jetzt verwechseln wir noch gewissermaassen die Situation. Aber diese Verwechslung ist in unserem ganzen Vorstellungsleben und Gefühlsleben ; be- gründet. Der positive Gefühlston kam zunächst nur einem com- plicierten Vorstellungscomplex zu : ich stellte mir eine mitleidige Handlung und mich als Object derselben vor. Die einzelnen Theil- vorstellungen dieses Complexes behalten auch aus dem Complex losgelöst etwas von diesem positiven Gefühlston. Die mitleidige Handlung als solche, einerlei wer sie ausführt und wem sie gilt, behält in unserer Vorstellung einen positiven Gefühlston. Der- selbe ist freilich viel zu schwach, um in jedem einzelnen Menschen und für jeden derartigen Fall die Entscheidung zu Gunsten des positiven Gefühlstons der speciellen Handlung zu geben. Es wird viele Menschen geben, welche eine solche Handlung (mit eigener Gefahr einem Mitmenschen zu helfen) trotz des hinzutretenden positiven Gefühlstons einer guten Handlung für thöricht halten, d. h. mit einem resultierenden negativen Gefühlston begleiten und daher gegebenen Falles unterlassen. Bei anderen Menschen hin- gegen ist dieser positive Gefühlston der Vorstellung einer guten Handlung stark genug, die Vorstellung der hülfreichen Handlung trotz der widerstreitenden anderen irradiierenden Gefühlstöne mit positivem Gefühlston zu versehen : die Vorstellung oder Empfin- dung der Handlung wird mit dem Gefühlston des Guten begleitet, obwohl die Handlung mir nicht nützt, sondern mich vielleicht so- gar bedroht.

Sie ersehen aus dieser ganzen Erörterung, wie schwankend die Gefühlstöne unserer Handlungen , unsere ethischen Gefühls- töne im engeren Sinne, sind. Wenn trotzdem bei den civilisierten Völkern sich gewissermaassen ein Canon dieser Gefühlstöne her- ausgebildet hat, wenn wir also jetzt mit leidlicher Ueberein- stimmung die oben angeführten Gefühle und Handlungen als gut bezeichnen , d. h. ihre Vorstellung mit einem eigenartigen posi- tiven Gefühlston begleiten, so ist dies namentlich auf folgenden Umstand zurückzuführen. Die Menschen haben zu ihrem Schutze

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Staaten und andere Gemeinschaften gegründet ; zu deren Erhaltung ist nun die erörterte ethische Gefühlsbetonung der Handlungen unerlässlich. Ohne sociale Gemeinschaft würde letztere voraus- sichtlich eine Specialität einiger absonderlicher Köpfe geblieben sein. Die socialen Gemeinschaften haben die ethischen Eigen- schaften bei uns nicht zum ersten Mal hervorgebracht, aber all- mählich gezüchtet. Individuen , welche ihrer entbehrten, wurden aus der Gemeinschaft ausgestossen. Gemeinschaften, deren In- dividuen der Mehrzahl nach ihrer entbehrten, gingen zu Grunde. Auch hier hat eine Selection stattgefunden, und diese Selection hat Staaten nur da entstehen und bestehen lassen, wo die Indivi- duen ethische Gefühlstöne wenigstens der Mehrzahl nach in einer bestimmten mittleren Stärke besitzen. Die Gesetze und die Er- ziehung mit ihrem »Du sollst« und »Du darfst nicht«, mit ihren Strafen und Belohnungen haben im Dienst des Staates jenen Canon der ethischen Gefühlsbetonung immer mehr befestigt. Sie werden mich vielleicht fragen, wo bei dieser Darlegung das ab- solute Sittengesetz bleibe, von welchem so viele Philosophen er- zählt haben. Darauf ist zu antworten, dass die Psychologie mit der Frage, ob es objective ethische Wert he giebt, nichts zu thun hat. Sollten Metaphysik oder Religion uns solche nachweisen, so wird das Verdienst ganz diesen beiden zufallen. Unsere Psycho- logie hat nur nachzuweisen, wie die subjectiven ethischen Gefühlstöne entstehen. Angeborene ethische Gefühlstöne existieren ebensowenig wie angeborene Handlungen. Die ethischen Gefühlstöne sind das Product einer langen complicierten ontogene- tiscben und indirect auch phylogenetischen Entwicklung. Die Hauptzüge dieser Entwicklung habe ich Ihnen im Vorigen gegeben , die Einzelausführung kommt einer besonderen Wissen- schaft, der Ethik zu.

Wenn Sie die ganze Darstellung der Entwicklung unserer complicierten intellectuellen und unserer auf die Empfindungen reflectierten Gefühlstöne überschauen, so bitte ich Sie nochmals, diese Entwicklung nicht als eine Eintheilung aufzufassen. Weder konnte ich Ihnen alle diese Gefühlstöne vollständig aufzählen noch die Beziehungen unter den aufgezählten Ihnen sämtlich klarlegen. Zum Theil liegt dies an unserer Wissenschaft selbst, welche früher über speculativen Untersuchungen und jetzt über dem Studium gewisser körperlicher Wirkungen der Affecte die einfache natur- wissenschaftliche, empirische Sammlung und Beobachtung der Ge- fühle vernachlässigt hat. Eine besondere Erschwerung erfährt die Darstellung der Gefühle auch in Folge der zahllosen Be- ziehungen und Uebergänge, welche die Gefühlstöne untereinander aufweisen. Damit hängt denn auch die Vieldeutigkeit und Un- bestimmtheit unserer sprachlichen Bezeichnungen für viele Gefühle zusammen. Eine wissenschaftliche Nomenclatur fehlt fast ganz. Auch die Reihenfolge, in welcher sich die intellectuellen Gefühle entwickeln , ist zahlreichen individuellen Schwankungen unter- worfen, weil die Empfindungen, deren ursprüngliche Gefühlstöne in letzter Linie den intellectuellen und reflectierten Gefühlen zu Grunde liegen, in sehr verschiedener Reihenfolge, Auswahl und Intensität den verschiedenen Individuen zufliessen. Unsere Darstellung kann also auch nicht beanspruchen, eine allgemeingültige Darstellung

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der ontogenetischen oder phylogenetischen Entwicklung der Ge- fühle zu sein. Die Darstellung der Gefühle, wie wir sie jetzt ver- suchten, sollte Ihnen nur die wichtigsten architektonischen Ver- schränkungen, gewissermaassen Stil und Princip des ganzen com- plicierten Auf baus zeigen , und zwar speciell in Beziehung auf die Fundamente, d. h. unsere Empfindungen und Vorstellungen.

Wir gehen nunmehr zu dem Einfluss der Gefühle auf die Ideenassociation und die motorischen Innervationen über. Insofern die Gefühle beide beeinflussen, bezeichnet man sie auch als A f f ecte. Der Einfluss der Affekte auf den formalen Ablauf der Ideenas- sociation hängt fast ausschliesslich von ihrem Vorzeichen ab. Die übliche Formulierung des hier giltigen Gesetzes geht dahin, dass Affecte mit vorwiegend oder ausschliesslich positivem Vorzeichen den Ablauf der Ideenassociation beschleunigen, während vor- wiegend oder ausschliesslich negative Affecte ihn verlangsamen. Ganz dasselbe gilt im Allgemeinen auch von dem Einfluss auf unsere Handlungen. Die depressiven Affecte führen langsam und spärlich zu Handlungen, die exaltierten Affecte rasch und ausgiebig. Dabei dürfen Sie jedoch nicht vergessen, dass diese Beeinflussung eine gegenseitige ist. Sie haben oben bereits gehört, dass die Hemmung des Vorstellungsablaufs negative Gefühlstöne, die Be- schleunigung positive Gefühlstöne erzeugt. Bei gewissen Geistes- krankheiten erlangt dieser eigenthümliche Zirkel , diese Wechsel- wirkung eine enorme Bedeutung.

Die Regel, welche ich Ihnen soeben gegeben habe, erleidet übrigens eine Reihe von Ausnahmen. Es giebt negative Affecte, welche geradezu heftige motorische Entladungen begünstigen. Ich nenne Ihnen z. B. Zorn und Angst. Der Zorn tendirt im höchsten Maass zu schweren motorischen Ausbrüchen. Er ist der Affekt des Angriffs tax s^ox^v. Das positive Element in dem Affect des Zorns ist unschwer festzustellen : die unmittelbar an die Empfindung einer Kränkung sich plötzlich in grosser Intensität anschliessende , alle anderen associierten Vorstellungen ausschliessende Vorstellung der Schädigung des Gegners theilt ihren positiven Gefühlston der Vorstellung der Angriffsbewegung mit und verhilft ihr damit zu einer jähen heftigen Entladung. Dass diese Entladung zuweilen auch leblose Gegenstände und Unschuldige trifft , hängt mit der oft erwähnten Irradiation zu- sammen 1). Aehnlich verhält es sich mit dem Affect der Furcht und Angst. Die Furcht löst ganz allgemein trotz ihres negativen Gefühlstons die rasche motorische Entladung der Flucht resp. der Abwehr aus. Die auftauchende Vorstellung der Rettung (im all- gemeinen Sinn) mit ihrem positiven Gefühlston verdrängt im Augenblick alle anderen Vorstellungen und überträgt dank dieser günstigen Constellation ihren positiven Gefühlston auf die Vor- stellung der Fluchtbewegung und verhilft letzterer trotz der sonst vorwiegend negativen Gefühlstöne zum Sieg. Die motorische Tendenz des Zorns und der Furcht trotz des negativen Gefühls-

1) Ich erinnere Sie auch an die interessante klinische Thatsache, dass krankhafte Heiterkeit sich sehr häufig mit krankhafter Zornmüthigkeit verknüpft. Beide erscheinen für die klinische Betrachtung ebenso ver- wandt, wie Traurigkeit mit Angst.

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tons erklärte sich also daraus, dass die Bewegungsvorstellung (des Angriffs resp. der Flucht), welche mit der zorn- resp. furchtbe- tonten Vorstellung associiert ist, gerade in Correlation zu dem Zorn resp. der Furcht einen intensiven positiven Gefühlston hat. Das oben angeführte Gesetz gilt also nicht allgemein. Es bedarf immer noch einer speciellen Untersuchung, ob bei einer negativen Stimmung nicht auch gewisse Bewegungsvorstellungen positiven und bei positiver Stimmung gewisse Bewegungsvorstellungen ne- gativen Gefühlston haben. Ist dies der Fall, so kann trotz gene- reller positiver Gefühlslage der motorische Effekt sich verzögern oder ausbleiben. In letzter Linie ist entscheidend, ob solche mo- torische Vorstellungen mit dem augenblicklichen Bewusstseins- inhalt associiert sind, welche positive, oder solche, welche negative Gefühlstöne haben. Im Allgemeinen führt uns die motorische Vorstellung mit positivem Gefühlston zur Handlung. Die Patho- logie liefert hierfür einen ausgezeichneten Beleg. Die Melancholie ist eine Geistesstörung, welche durch ein krankhaftes Ueberwiegen negativer Gefühlstöne charakterisiert ist. Dementsprechend zeigt der Melancholische im Allgemeinen neben ausgesprochener Denk- hemmung die grösste motorische Gebundenheit. Zu der einfachen Bewegung, den Löffel zum Munde zu führen, braucht der Kranke mitunter i Minute und mehr. Solche Kranke nun, die Monate lang fast regungslos im Bett liegen, stürzen sich, wenn eine un- vorsichtige Wärterin nur einen Augenblick das Fenster in ihrer Stube offen lässt, mit einer überraschenden Geschwindigkeit auf das Fenster, um sich hinauszustürzen. Der motorische Bann ist plötzlich gebrochen. Die Erklärung liegt auf der Hand. Die Vor- stellung, sich zum Fenster hinauszustürzen, ist für die Melan- cholische mit intensivem positiven Gefühlston verknüpft: sie be- trachtet den Tod als Befreiung von ihrer Angst, als willkommene Sühne ihrer vermeintlichen Schuld. Dieser positive Gefühlston dieser speciellen motorischen Vorstellung resp. des zugehörigen Vorstellungscomplexes kommt zur Geltung, sobald die Gelegenheit diese Vorstellung in dem sonst vorstellungsarmen Gehirn weckt, und überwindet dann alle sonstigen Hemmungen und löst die be- zügliche Handlung aus. Auch die sonstigen zuweilen mit explo- siver Plötzlichkeit und Heftigkeit auftretenden Angsthandlungen vieler Geisteskranken erklären sich in ähnlicher Weise.

Einen ganz eigenartigen motorischen Effect unserer Gefühle stellen endlich die sogenannten Ausdrucksbewegungen dar. Wir werden diese Ausdrucksbewegungen später, wenn wir die Hand- lungen besprechen, ausführlicher erörtern müssen. Wir rechnen zu denselben nicht nur die mimischen Bewegungen wie Lachen und Weinen , sondern auch gewisse motorische Innervationen, welche wie die Verengerung der peripheren Arterien bei Er- regungsaffecten sich in der glatten Musculatur abspielen und nur durch besondere Apparate festgestellt werden können. Ich gedenke derselben hier nur deshalb, weil die neuere Psychologie vielfach den Versuch gemacht hat, die Affecte einfach als die Empfindungen dieser Muskelcontractionen zu deuten. James1) hat z. B. geradezu erklärt: »Wir weinen nicht, weil wir traurig sind,

1) Mind. 1884, April.

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sondern wir sind traurig, weil wir weinen.« Die Anhänger dieser Richtung x ) haben sich bemüht , für die wichtigsten Affecte je eine specifische Combination solcher motorischer Innervationen nachzuweisen. So hat z. B. Lange folgendes Schema gegeben : Schwächung der willkürlichen Innervation = Enttäuschung.

{-+- Gefässverengerung = Kummer -j- Gefässverengerung -f- Spasmus organischer Muskeln = Schreck -f- Incoordination = Verlegenheit

Erhöhuno- derf+ Gefässerweiterung = Freude willk Innerv {+ Spasmus der organ. Muskeln = Spannung

(+ Gefässerweiterung -j- Incoordination = Zorn.

Fere fand , dass Lustgefühle die Muskelkraft und die Blut- menge in den Gliedmassen vermehren, Unlustgefühle beide herab- setzen. Noch genauere Untersuchungen verdanken wir Lehmann3). Endlich hat Münsterberg neuerdings behauptet, dass alle Lust- zustände Tendenz zur Streckung der Extremitäten, alle Unlustzu- stände Tendenz zur Beugung der Extremitäten zeigen.

Alle diese Untersuchungen lassen an Exactheit und Voll- ständigkeit noch sehr viel zu wünschen übrig. Sicher festgestellt ist nur die Thatsache, dass gewisse Affecte ausser den mimischen Bewegungen bestimmte Veränderungen der Herz- und Athem- thätigkeit und namentlich auch der Contraction der peripheren Arterien nach sich ziehen. Die Einzelheiten dieser Veränderungen sind uns noch fast völlig unbekannt. Es ist auch sehr wohl mög- lich, dass für manche Affecte diese Veränderungen ganz specifische, charakteristische sind. Keinesfalls aber ist es zulässig, die Em- pfindung dieser begleitenden Veränderungen mit dem Affecte selbst zu identificieren. Die Gefässverengerung und Abschwächung der willkürlichen Innervationen , welche nach Lange für den Kummer charakteristisch sein soll, kommt unzählige Male auch ohne Kummer vor. Wenn wirklich, wie jene über das Ziel hin- ausschiessenden Pseudoempiristen annehmen, der Affect der psy- chische Parallelprocess für die dem Centrum aus jenen motorischen Innervationen zugeflossenen sensiblen Erregungen wäre, so müssten ihre Sätze sich auch umkehren lassen. Wenn jene motorischen Innervationen vorliegen, müssten auch die bezüglichen Affecte vorhanden sein. Dies ist thatsächlich nicht der Fall, und schon damit ist jene Hypothese hinfällig geworden. Ueberhaupt möchte ich Sie bei dieser Gelegenheit ausdrücklich davor warnen, aus dem öfteren gleichzeitigen Auftreten eines psychologischen und

1) C. Lange, Ueber Geinüthsbewegungen. Uebersetzung von Kureela. Leipzig 1887. Münsterberg, Beiträge zur experimentellen Psychologie, Heft 4, S. 216. Vergl. auch die treffende Kritik Wundt's (Zur Lehre von den Gemüthsbewegungen. Philosoph. Studien, Bd. 6).

2) Sensation et Mouvement. Vergl. auch Mosso, Ueber den Kreislauf des Blutes im menschlichen Gehirn , Leipzig 1881, und Die Furcht, Leipzig 1889.

3) Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens. Uebersetzung von Bendixen. Leipzig 1892. Vergl. auch die vielfach ähnlichen theoretischen Ansichten Grant Allen's ('Physiological Aesthetics, 1877).

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eines physiologischen Processes auf einen Parallelismus der beiden im Sinne des Grundgedankens unserer physiologischen Psychologie zu schliessen. Durch voreilige derartige Schlüsse würde unsere Wissenschaft sehr bald in Misskredit gerathen.

Die motorischen und speciell die vasomotorischen Innervationen haben also mit dem Wesen der Affecte nichts zu thun, aber sie können allerdings zu den ursprünglichen Empfindungen und Vor- stellungen, welche die Träger der Gefühlstöne sind, neue eigen- artige Empfindungen zuweilen hinzufügen. Hierher gehören z. B. die eigenthümlichen Lähmungsempfindungen, welche zuweilen hef- tigen Schreck begleiten. Die secundäre Parese fast der gesamten Körpermusculatur , welche ein plötzlicher schreckhafter Sinnes- eindruck zuweilen nach sich zieht, erzeugt in uns eine plötzliche Ohnmachtsempfindung, welche zu der schreckhaften Sinnesempfin- dung hinzutritt. Die sog. Erwartungsgefühle erzeugen secundär eigenartige Contractionen unserer Intentions- und Accommodations- muskeln, und demgemäss treten zu den von dem Erwartungsgefühl begleiteten Vorstellungen oder Empfindungen besondere secundäre Spannungsempfindungen. Eine besondere Rolle spielen diese Secundärempfindungen auch bei der Angst : der Angstaffect stört den regelmässigen Rhythmus der Respiration und der Herzthätig- keit und löst eine intensive Contraction der peripheren Arterien aus. Dementsprechend empfinden wir eine innere Unruhe, eine in der Brust und namentlich in der Herzgegend localisierte Beklem- mung und einen allgemeinen Schauer 1). Solcher Beispiele Hessen sich noch sehr viele anführen. Es genügt mir jetzt, Sie auf die Bedeutsamkeit der secundären Empfindungen im Allgemeinen auf- merksam gemacht zu haben.

Sie könnten vielleicht noch die Frage aufwerfen, ob nicht die Intensität des positiven oder negativen Gefühlstons in irgend einer gesetzmässigen Abhängigkeit von den Merkmalen der Vorstellung, welche er begleitet, stehe. Sie entsinnen sich, dass wir eine solche gesetzmässige Beziehung zwischen der Intensität des Gefühlstons der Empfindung und der Intensität der Empfindung früher fest- gestellt haben. Bezüglich der intellectuellen Gefühlstöne sind unsere Kenntnisse erheblich geringer. Wir wissen nur, dass auch für die Vorstellungen ein gewisses Minimum der Intensität oder Energie erforderlich ist, wofern eine Gefühlsbetonung eintreten soll. Auch scheint sowohl der positive wie der negative Gefühls- ton einer Vorstellung im Allgemeinen mit ihrer Intensität und Lebhaftigkeit zuzunehmen. Die Dauer einer Vorstellung scheint innerhalb gewisser Grenzen einflusslos ; überschreitet sie eine ge- wisse Grenze, so stumpfen die Gefühlstöne sich ab. In höchstem Maasse wird die Intensität eines intellectuellen Gefühlstons beein- flusst durch die Gefühlstöne gleichzeitiger oder eben vorausge- gangener Empfindungen und Vorstellungen. Ich will hier nach- tragend bemerken, dass auch für die sensoriellen Gefühlstöne ganz ähnliche Regeln gelten. Eine der wichtigsten lautet dahin, dass nach einer unlustvollen Empfindung oder Vorstellung die Intensi-

1) Bei der sog. Präcordialangst vieler Geisteskranken, sowie nament- lich bei manchen Herzneurosen scheinen die präcordialen Sensationen das Primäre zu sein und als Gefühlston derselben die Angst aufzutreten.

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tat des Gefühlstons einer nachfolgenden lustvollen Empfindung oder Vorstellung grösser zu sein pflegt als ohne eine solche Vor- gängerin. Der C-dur-Accord wird besonders wohllautend, wenn er auf die Dissonanz des Septimenaccords g-h-d-f folgt. Die sog. Accordauflösungen der Harmonielehre beruhen im Wesentlichen auf dieser Regel. Ueberwundene Hindernisse erhöhen die Freude am endlichen Sieg. In grosser Verzweiflung kann eine hoffhungs volle Vorstellung viel aufheiternder wirken als in einer sorgen- losen Lage. Man kann dieses Gesetz, für welches Sie ohne Schwie- rigkeit selbst zahllose Beispiele auffinden können, als das Gesetz des Gefühlscontrasts oder noch besser als das Gesetz der Re- lativität unserer Gefühlsintensitäten bezeichnen. Ebensowenig wie die Intensität unser Empfindungen ist die Intensität unserer Gefühlstöne eine absolute Grösse, sondern sie ist abhängig von der Intensität der gleichzeitigen und vorausgegangenen Gefühls- töne. Beide Thatsachen beruhen darauf, dass alle Erregungen unserer Gehirnrinde sich nicht in völlig isolirten, vorher nie er- regten Elementen abspielen, sondern in Elementen, welche vorher bereits Sitz anderer Erregungen gewesen sind und mit zahllosen anderen Elementen in leitender, associativer Verknüpfung stehen. Die einzelnen Erscheinungen dieser Relativität der Intensität unsrer Gefühlstöne zu untersuchen, ist eine der dankbarsten künftigen Aufgaben unserer Wissenschaft. Selbstverständlich ist diese Un- tersuchung von den durch die Irradiation bedingten Schwankungen der Qualität der Gefühlstöne gar nicht zu trennen 1). Ich möchte Sie hier nochmals auf die Vorschule der Aesthetik Fechner's hinweisen, welcher in vorbildlicher Weise viele hierher gehörige Erscheinungen gesammelt und unter einheitliche Gesichtspunkte zusammengefasst hat. Solche Untersuchungen sind für den Fort- schritt unserer Erkenntniss unendlich viel fruchtbarer als die zahl- losen, zum Mindesten verfrühten Theorien über das Wesen der Gefühle, mit welchen uns die speculative Psychologie und Philo- sophie Jahrhunderte lang beschenkt hat.

1) Dass solche Untersuchungen nicht allein den Europäer des 19. Jahrhunderts berücksichtigen dürften, verstünde sich eigentlich von selbst, und doch haben mit wenigen Ausnahmen (Taine, Philosophie de l'art; Grosse , Ethnologie u. Aesthetik) die Aesthetiker die Ethnologie fast völlig ignoriert.

ZEHNTE VORLESUNG. Die Ideenassociation.

Die Ideenassociation arbeitet mit zwei Elementen: von aussen empfängt sie Empfindungen und in der Hirnrinde stehen ihr Er- innerungsbilder früherer Empfindungen zur Verfügung, welche sie fortwährnnd in unser Bewusstsein emporhebt und an die Em- pfindungen anreiht. Ich sehe eine dunkle Wolke, d. h. in den Sinneszellen meiner sensorischen Hirnrinde ist von der Netzhaut her ein Reiz Rc fr°lke angelangt, dessen psychisches Correlat die Gesichtsempfindung der dunklen Wolke ist. Die Ideenas- sociation empfängt diese Empfindung und reiht an dieselbe eine Reihe von Vorstellungen, so z. B. unter vielen anderen die Vor- stellung des Regens. Dieser an die Gesichtsempfindung der Wolke sich anschliessenden Vorstellung des Regens entspricht eine ma- terielle Erregung Rc Reeen in den Erinnerungszellen meiner Hirn- rinde. Diese materielle Erregung Rv Re$en bestand vorher nicht, vielmehr bestand vorher in diesen Erinnerungszellen nur eine ma- terielle Erregung Ri Reeen, welche von einer oder vielen früheren Gesichtsempfindungen des Regens in den Erinnerungszellen hin- terlassen worden war. Diesem Ri entsprach vorher nichts Psy- chisches, es war lediglich eine materielle Spur, ein latentes Er- innerungsbild. Erst indem jetzt das Spiel meiner Ideenassociation das Ri in Rv abgeändert hat, tritt als Correlat zu dem Rc auch etwas Psychisches auf, die Vorstellung des Regens. Ebenso wie diese eine Vorstellung, reihen sich noch zahllose andere an, fort- während werden latente Erinnerungsbilder über die psychische Schwelle gehoben oder, wie man es häufig ausdrückt, reproduciert. Eben diesen Hergang bezeichnen wir als Ideenassociation. Ich muss Sie jedoch bitten , unter dieser Ideenassociation sich kein activ thätiges oder passiv leidendes Wesen zu denken. Vielmehr bezeichnet die Ideenassociation nur mit einem kurzen Wort den Vorgang der Aneinanderreihung der Vorstellungen. Unsere Auf- gabe ist es , die Gesetze , nach welchen diese Aneinanderreihung erfolgt, festzustellen und uns physiologisch verständlich zu machen. Warum folgt auf die Empfindung einer grauen Wolke die Vor- stellung des Regens, warum auf diese die Vorstellung der Durch- nässung und die weitere des Heimkehrens oder des Schirmauf-

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spannens? Dies und nur dies haben wir aus den allgemeinen Gesetzen der Ideenassociation zu erklären. Wir wollen den Her- gang jetzt etwas genauer betrachten und zu diesem Zwecke zwei Fälle unterscheiden : die Empfindung nämlich , welche die Ideen- association einleitet, kann entweder mehr oder weniger neu oder sie kann uns schon früher in gleicher oder ähnlicher Weise be- gegnet sein. Die erste Vorstellung, welche sich an die Empfin- dung anreiht, ist dementsprechend entweder der Empfindung in- haltlich gleich oder verschieden. Eine graue Wolke habe ich geradeso oder fast geradeso schon oft gesehen, ein Nordlicht vielleicht noch nie. Bei dem Sehen der grauen Wolke oder eines Bekannten findet ein Wiedererkennen, eine Recognition statt, bei dem Sehen des Nordlichts nicht. Im ersteren Falle steigt die Vorstellung der gleichen früher schon von mir gesehenen Wolke auf, im letzteren die Vorstellung einer ähnlichen Licht- empfindung, z. B. der Sonne. Die Ideenassociation kann also mit einem Wiedererkennen und ohne ein solches beginnen. Wir wollen zunächst den ersten Fall betrachten und versuchen, uns das physiologische Substrat des Wiedererkennens klar zu machen. Wir sehen zum ersten Mal eine graue Wolke. Wir nehmen an, dass durch dieselbe in der Rinde unserer Sehsphäre, eine Reihe von Sinnes-Ganglienzellen erregt wird, z. B. 6, c, d und e. Nun wird in einer anderen

Ganglienzelle in der Fig. 18.

oben erwähnten Weise

ein latentes Erinne-

rungsbild niedergelegt.

Diese andere Ganglien 1"^

zelle, die Erinnerungs- zelle, sei mit « bezeich-

net. Dieses a steht mit

zahllosen, wahrschein-

lieh mit allen Sinnes- </

zellen a i u. s. f. in o^^

directer oder indirecter e

Verbindung. Anderer-

seits stehen noch zahl- £

reiche andere Erinne-

rungszellen ß, y, d etc., ^

die wir gar nicht alle y

zeichnen wollen, eben- ■"

falls in Verbindung mit -f

den Sinneszellen a i etc., und das latente Er- innerungsbild gelangt nur deshalb gerade nach a, weil auf den nach u führenden Bahnen der Leitungswiderstand zufällig am geringsten war. Nun fällt eine Regenwolke zum zweiten Mal in unser Gesichts- feld. Der psychologische Vorgang ist klar : bei dem Wiedersehen der Wolke taucht das Erinnerungsbild der früher gesehenen Wolke wieder in uns auf. Was ist aber das physiologische Substrat dieses Vorgangs? Wir nehmen an, dass die Regenwolke bei dem zweiten Sehen andere Sinneszellen, z. B. g, h, i, in Erregung ver- setzt. Wie kommt es nun, dass beim zweiten Sehen der Wolke

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das Erinnerungsbild der ersten Wolke auftaucht, oder mit anderen Worten, dass die Erregung in den Sinneszellen g, h, i sich wieder gerade nach a wendet und nicht zu einer der vielen anderen mit gi h, i in Verbindung stehenden Erinnerungszellen, z. B. zu ßl Der Grund liegt in Folgendem : durch die erstmalige Erregung sind die Ganglienzelle a und ebenso die zu ihr führenden Leitungs- bahnen, wie wir es ausdrücken, in ganz bestimmter Weise »ab- gestimmt« worden, d. h. seit ihrer erstmaligen Erregung sind sie für jede ähnliche Erregung viel zugänglicher1), für jede der ersten unähnliche Erregung viel unzugänglicher. Wir wollen diese Abstimmung auf eine bestimmte Erregung durch Querstrich- lung bezeichnen, wir haben also zunächst ba, ca und da mit Quer- strichlung zu versehen. Die »Abstimmung« beschränkt sich jedoch nicht etwa auf a und die beim ersten Sehen direct errgten Bahnen ba, ca und da, sondern sie dehnt sich weiterhin auf alle von a aus- gehenden Bahnen, also auch auf aa, ea, fa, ga, ha, ia, xa, ya, za u. s. f. aus. Sehen wir nun zum zweiten Male eine Wolke, und werden bei diesem zweiten Sehen die Sinneszellen g, h, i erregt, so findet die Erregung von g, h, i zahlreiche Wege offen, so nach a, ß, y etc., aber von diesen zahlreichen Bahnen sind seit dem ersten Sehen der Wolke die Bahnen, welche nach a führen, also ga, ha und ia, in viel höherem Grade abgestimmt oder em- pfänglich für die besondere Erregung des Wolkenbildes. So kommt es, dass das Sehen einer Wolke und nur dieses, welche Sinneszellen auch immer erregt werden, stets gerade das Erinne- rungsbild der Wolke der einen Erinnerungszelle a auftauchen lässt und nicht das irgendeiner anderen. Es findet also in der That gewissermaassen eine »Auswahl« unter den Bahnen statt, welche der in der Hirnrinde angelangten Erregung für ihre weitere Verbreitung offen stehen.

Ich habe Ihnen hiermit kurz zu erklären versucht, welche physiologische Vorgänge bei dem Acte des Wiedererkennens etwa in unserer Hirnrinde sich abspielen. Ich möchte Sie jedoch aus- drücklich darauf aufmerksam machen, dass diese Darstellung bei der Geringfügigkeit unseres Wissens über die Erregungsvorgänge der Hirnrinde in den Einzelheiten durchaus hypothetisch ist und nur in den Grundzügen das Richtige treffen kann. So sagte ich Ihnen schon früher, dass die räumliche Trennung der empfinden- den Elemente und der der Erinnerung dienenden Elemente zwar ziemlich wahrscheinlich, aber nicht bewiesen ist. Sie selbst können ohne grosse Mühe die eben gegebene Darstellung so umformen, dass sie der Annahme gerecht wird, Empfindung und Erinne- rung seien an ein und dasselbe materielle Substrat gebunden. Ferner sprachen wir eben stets von Sinnes z e 1 1 e n als Substraten der Empfindungen und Erinnerungs z e 1 1 e n als Substraten der Erinnerungsbilder. Auch dies ist hypothetisch : vielleicht sind es gar nicht die Ganglien z e 1 1 e n , sondern die Faser netze der

1) Diesen Satz spricht in ähnlicher Weise schon Charles Bonnet in seinem Essai analytique sur l'äme (1760) mit folgenden Worten aus: „La souplesse ou la mobilite des fibres augmente par le retour des memes ebranlements". Vergl. auch Locke, Essay concerning human understanding II, 33, § 6.

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Hirnrinde, welche die der Empfindung entsprechende Erregung und die dem Erinnerungsbild entsprechende Abstimmung erfahren. Ebenso wäre es ziemlich unwesentlich, ob wir die erwähnte Ab- stimmung auf die Zellen einschränken würden, statt sie auf die Bahnen auszudehnen x). Das Wesentliche des Vorgangs, wie ich ihn jetzt dargestellt habe, bleibt von diesen verschiedenen ab- weichenden Annahmen ganz unberührt: ein Reiz bewirkt eine materielle Erregung oder Veränderung Rc, deren psychisches Correlat die Empfindung ist. Dieses Rc verschwindet mit dem Er- löschen des Reizes nicht ganz, es bleibt vielmehr ein Erregungs- zustand oder eine Disposition R{ zurück. Wirkt nun wiederum ein Reiz und ist derselbe dem ersten ähnlich, so findet er zahl- lose Ri's vor. Von diesen zahllosen E/'s wirkt der Reiz vermöge der erwähnten Abstimmung eben nur auf dasjenige Ri, welches einem gleichen oder ähnlichen Reiz entstammt und macht aus Ri Rv und gesellt ihm dadurch einen psychischen Parallevorgang zu, dessen Ri entbehrte. Nur dies eine Ri »spricht an«, wie wir auch es ausdrücken können. Indem aber Ri zu R„ wird, taucht das Erinnerungsbild der früher gesehenen Wolke auf: wir erkennen die Wolke wieder.

Glauben Sie jedoch nicht, dass bei jeder Empfindung, welcher eine ähnliche früher bereits vorausgegangen ist, dieses Wieder- erkennen als ein besonderer Act stattfindet. Für gewöhnlich er- kennen wir die uns bekannten Dinge gar nicht wieder, sondern nehmen sie einfach wahr 2). Mit dem Auftauchen des Erinnerungs- bildes früherer ähnlicher Empfindungen ist gewissermaassen nur der Ausgangspunkt und die Hauptroute für die sich anschliessen- den Vorstellungsassociationen gegeben. So ist es schon der Fall in dem Beispiel, welches ich Ihnen zu Eingang unserer heutigen Vorlesung gab. Namentlich schliessen sich meist diejenigen Vor- stellungen unmittelbar an, welche mit dem zuerst aufgetauchten Erinnerungsbild zusammen den concreten Begriff des Gegenstan- des ausmachen. Wir sehen eine Rose von fern ; alsbald erkennen wir sie als solche, indem die von vielen früheren Rosen nieder- gelegte Gesichtsvorstellung Rose in uns auftaucht. Oft findet das jedoch gar nicht als besonderer Act statt, sondern an die Gesichts- empfindung reihen sich direct die den übrigen Empfindungen entsprechenden Partialvorstellungen, welche zusammen den con- creten Begriff des Gegenstandes Rose bilden, also die Vorstellung des Rosenduftes, der Weichheit ihrer Blätter, und vor allem die Sprechbewegungsvorstellung Rose. Ist letztere intensiv genug, so löst sie direct die Sprechbewegung aus, und wir rufen aus: »eine Rose!«3).

Wir gehen nunmehr zu dem zweiten Fall über : wir haben eine Empfindung, die uns früher noch nie vorgekommen ist. Eine

1) Die Abstimmung der Erinnerungszellen wäre dann einfach iden- tisch mit R/.

2) Münsterberg, Beiträge z. experim. Psychol., H. 1, S. 136. Erd- mann, 1. c. Letzterer hebt mit vollem Recht hervor, dass beim Wieder- erkennen die Empfindung und das Erinnerungsbild gleicher früherer Empfindungen nicht getrennt, sondern als einziger Process (Hkrbart's „Verschmelzung") auftreten.

3) Vergl. Lehmann, Philosoph. Studien, Bd. V.

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solche Empfindung findet offenbar eine völlig auf sie abgestimmte Bahn nicht vor, die Erregung wird daher diejenige Bahn ein- schlagen, welche wenigstens in mehr oder weniger ähnlicher Weise abgestimmt ist. Streng genommen, sind fast alle unsere Empfin- dungen neu, selten ist eine Empfindung genau in derselben Weise früher schon dagewesen. Wenn wir eine bestimmte Rose, die wir schon früher gesehen, wieder erblicken, so taucht das Er- innerungsbild derselben früher gesehenen Rose in uns auf. Hier kann man allerdings sagen, dass die Empfindung zunächst die ihr inhaltlich gleiche Vorstellung erweckt. Sehen wir aber eine beliebige Rose oder gar eine ganz unbekannte Blume , so taucht nur die allgemeine Gesichtsvorstellung Rose resp. Blume in uns auf, wir haben nie vorher eine Rose resp. Blume gesehen, mit welcher die jetzt erblickte genau übereinstimmt. Hier reproduciert die Empfindung also zunächst eine inhaltlich ähnliche oder verwandte Vorstellung: eine inhaltlich gl eiche existiert über- haupt gar nicht. Noch viel seltener aber als die absolute Gleich- heit einer neuen Empfindung- mit einer früheren ist die absolute Ungleichheit der neuen mit allen früheren. Sie müssen bedenken, dass unsere Empfindungen meist zusammengesetzt sind, und dass daher auch bei aller Eigenartigkeit der neuen Empfindung im Ganzen ihr doch gewisse Aehnlichkeiten in den Theilen mit früheren Empfindungen höchst selten fehlen werden. Es lässt also auch, wenn die zweite Empfindung scheinbar eine ganz neue ist, unsere obige Ueberlegung sich anwenden. Beide Fälle zu- sammenfassend, können wir sagen: die erste Vorstellung, welche sich anreiht an die einleitende Empfindung, reiht sich an vermöge einer Gleichheits- oder häu- figer einer Aehnlichkeitsassociation. Die Anreihung der folgenden Vorstellungen, oder, physiologisch ausgedrückt, die weitere Fortpflanzung der Erregung in der Hirnrinde folgt einem anderen Gesetz, welches wir jetzt vor allem genau kennen lernen müssen.

Dieses Hauptgesetz der Ideenassociation lautet in psychologi- scher Fassung folgendermaassen : Jede Vorstellung ruft als ihre Nachfolgerin entweder eine Vorstellung her- vor, welche ihr inhaltlich ähnlich ist, oder eine Vorstellung, mit welcher sie oft gleichzeitig auf- getreten ist. Die Association der ersten Art bezeichnet man auch als innere, die der zweiten auch als äussere Association1). Das Princip der äusseren Association ist die Gleichzeitigkeit, das der inneren die Aehnlichkeit. Wir denken an eine Land- schaft, und alsbald taucht die Vorstellung des Freundes auf, mit dem zusammen wir sie gesehen haben. Hier liegt eine äussere Association vor. Aehnlichkeitsassociationen sind erheblich seltener. Wenn eine Empfindung in das Spiel der Ideenassociation eintritt, so wird die erste Vorstellung, mit der sich die Empfindung überhaupt associiert, stets durch eine Aehnlichkeitsassociation,

1) Die äussere Association entspricht annähernd der „mittelbaren Reproduction" Herbabt's, die innere einer Verbindung der „mittelbaren" mit der unmittelbaren Reproduction". Die äussere Association entspricht Teichmüller's „historischer Zusammgehörigkeit".

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wie wir oben sahen, geweckt. Ist aber einmal die erste Vorstel- lung durch die Empfindung- geweckt, so folgen die weiteren Vor- stellungen fast ausschliesslich nach dem Princip der Gleichzeitig- keit, also durch äussere Association. Hierbei muss ich Sie vor allem bitten, nicht etwa die sog. äussere Association als die äusser- liche, oberflächliche anzusehen und die innere als die tiefere, sachlichere. Das Gegentheil ist richtig. Unsere ganze Erziehung geht dahin, im Kind verwandte Vorstellungen gleichzeitig zu wecken, also in äussere associative Verknüpfung zu bringen. Das Kind fragt: Was ist das? und es wird ihm geantwortet »ein Baum«: damit ist die erste äussere associative Verknüpfung zwischen einer Gesichtsvorstellung und einer Hörvorstellung gegeben. Die Ge- sichts- und die Gehörsvorstellung sind einander völlig unähnlich, aber durch fortwährendes gleichzeitiges Auftreten treten sie in engste associative Verknüpfung. Wir werden diesen Einfluss der äusseren Ideenassociation bis in unser logisches Denken hinein verfolgen. Umgekehrt ist die innere oder Aehnlichkeitsassociation, wo sie rein auftritt , sehr äusserlich und beschränkt sich wahr- scheinlich fast ganz auf die Hörvorstellungen gleichklingender WTorte : so kann die Hörvorstellung Lust die Vorstellung Brust, die Hörvorstellung Herz die Vorstellung Schmerz wecken.

Fragen wir uns zunächst nach dem physiologischen Substrat der äusseren Associationen , fragen wir also : Warum weckt eine Vorstellung gerade diejenige andere, mit welcher sie oft zusammen aufgetreten ist ? Seien a, 6, c drei Ganglienzellen, in welchen wiederum unter dem oft gemachten Vorhehalt wir uns drei Erinnerungsbilder oder Vorstellungen niedergelegt denken. Alle drei sind untereinander und mit zahlreichen anderen Ganglien- zellen durch Fasern verbunden. Die drei den drei Ganglienzellen entsprechenden Vorstellungen seien untereinander durchaus un- ähnlich, ferner seien die Vorstel- lungen a und b, resp. die ihnen ent- Fig. 19. sprechenden Empfindungen sehr oft gleichzeitig aufgetreten, nicht hingegen a und c oder b und c. So oft a und b zugleich erregt wurden, fand eine Miterregung der von a und b ausstrahlenden Bahnen statt. Diese Miterregung ist offenbar besonders gross für die Bahn ab, welche a und b ver- bindet. Die Folge der öfteren gleichzeitigen Erregung von a und b wird sein, dass die Bahn ab aus- geschliffen wird, d. h. in ganz besonderer Weise disponiert wird, einerseits eine in a befindliche Erregung nach b und eine in b befindliche nach a fortzutragen. Durch die häufige Miterregung werden gewissermaassen die Leitungswiderstände gerade auf der Bahn ab vermindert, und daher wird jede in a oder b befindliche Erregung die Bahn ab als die bestleitende einschlagen. Oder in das Psychische übertragen : wenn eine Vorstellung a im jetzigen Augenblick da ist, so wird als nächste diejenige Vorstellung b sich anreihen, welche schon früher oft mit a zusammen aufgetreten

Ziehen, Physiologische Psychologie. 2. Aull. 10

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ist1). Dies ist aber nichts anderes als das oben aufgestellte Ge- setz der äusseren Ideenassociation , welche, wie wir sahen, das Spiel der Ideenassociation fast ausschliesslich beherrscht.

Eine ähnliche physiologische Deduction des Gesetzes der inneren Ideenassociation kann ich mir ersparen : einerseits hätte ich Ihnen im Wesentlichen nur zu wiederholen , was ich Ihnen über Abstimmung bezüglich der Verknüpfung der ersten Vor- stellung mit der Anfangsempfindung sagte, und andrer- seits spielt diese innere Association in unserem Denken nur eine sehr geringe Rolle. Nur bei psychischen Erkrankungen, nament- lich überall da, wo sog. Ideenflucht herrscht, kann die innere Ideenassociation zuweilen über die äussere überwiegen. Mitunter reiht ein solcher Maniacus ganz sinnlos sich reimende Worte an- einander: Hund Bund Schund etc. Die Aehnlichkeit der Sprechbewegungsvorstellungen bewirkt hier diese Aneinander- reihung. Man hat wohl früher neben die Association nach der Aehnlichkeit noch die Association nach dem Contrast gestellt. Indess ist der Contrast nur ein Specialfall der Aehnlichkeit: nur solche Vorstellungen, ja gerade solche Vorstellungen contrastieren, welche bei Unähnlichkeit in einem Punkt Aehnlichkeit in vielen anderen aufweisen. Die Association nach Contrast ist also nur ein besonderer Fall der Aehnlichkeitsassociation.

Lediglich eine Folgerung aus dem Hauptgesetz der Ideen- association ist folgender Satz : Zusammengesetzte Vorstellungen, welche gewisse Partialvorstellungen gemeinsam haben, rufen sich gleichfalls gegenseitig hervor. So kann die Vorstellung eines Schlafenden die eines Todten nach sich ziehen. Psychophysio- logisch haben wir uns die Vorstellung eines Schlafenden ebenso wie die eines Todten aus sehr zahlreichen Theilvorstellungen zu- sammengesetzt zu denken, welche zahlreichen Erregungen an sehr verschiedenen Hirnrindenstellen entsprechen. Ganz schematisch sollen z. B. in dieser Zeichnung die Erregungen der Ganglien- zellen ab c d der Vorstellung des Schlafes , die Erregungen der Zellen c e f g der des Todes ent- sprechen , wobei die Erregung der Zelle c der dem Schlaf und dem Tod gemeinsamen Theilvor- stellung der Ruhe entspricht. Wir fragen nun : ist es eine Aehn- lichkeitsassociation oder eine Gleichzeitigkeitsassociation, wenn die Vorstellung des Schlafes die des Todes nach sich zieht? Offen- bar eine Gleichzeitigkeitsassocia- tion. Denn die Theilvorstellungen a b c d unter einander und die Theilvorstellungen c e f g unter einander sind offenbar durch Gleichzeitigkeitsassociationen verknüpft. Wenn nun im Augen-

1) In letzter Linie lässt sich diese Coexistenz natürlich auf die Coexistenz der Empfindungen zurückführen, von welchen die Vorstellungen a und b stammen.

Fig. 20.

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blick I die Theilvorstellungen a b c d, welche zusammen die Ge- samtvorstellung Schlaf bilden, bestehen, so wird jede dieser Theil- vorstellungen im Augenblick 2 eine Reihe der mit ihr durch Gleichzeitigkeitsassociation verknüpften Vorstellungen hervorrufen können. Die Theilvorstellung c ist aber durch Gleichzeitigkeits- association auch mit e f g verknüpft, wird also auch diese Vor- stellungen und damit die Vorstellung des Todes hervorrufen können. Es genügt also das Princip der Gleichzeitigkeit voll- ständig zur Erklärung der Association von Tod und Schlaf oder, allgemein gesprochen , der Association von solchen zusammen- gesetzten Vorstellungen , welche eine oder mehrere Theilvorstel- lungen gemein haben. Diese zusammengesetzten Vorstellungen sind einander wegen der gemeinsamen Theilvorstellungen offenbar inhaltlich verwandt oder ähnlich, und doch findet ihre associative Verknüpfung, wie wir jetzt sehen, durch Gleichzeitigkeitsassociation und nicht nur durch Aehnlichkeitsassociation statt. Damit wird Ihnen auch meine vorhin aufgestellte Behauptung von der Selten- heit reiner Aehnlichkeitsassociation en unter Vorstellungen erst völlig verständlich werden : die Aehnlichkeit von Vorstellungen beruht eben meist auf gemeinsamen Theilvorstellungen, und Vor- stellungen mit gemeinsamen Theilvorstellungen rufen sich gegen- seitig durch Gleichzeitigkeitsassociation hervor J).

Ueber das Princip der Gleichzeitigkeit, welches die Ideen- association in so hohem Maasse beherrscht, habe ich noch ein Wort hinzuzufügen. Es ist nämlich dasselbe nicht so zu fassen, als ob diese Gleichzeitigkeit in jedem Falle eine absolut genaue sein müsste. Im Gegentheil auch Vorstellungen, welche selbst oder deren zu Grunde liegenden Empfindungen oft unmittelbar nach einander aufgetreten sind , reproducieren sich gegenseitig. Die Vorstellungen des gesehenen Schlages und des gefühlten sind im Wesentlichen durch eine solche Association zeitlicher Folge verknüpft. Eine solche unmittelbare Succession wirkt ganz wie Gleichzeitigkeit. Auch hierbei findet ja das Ausschleifen einer Bahn statt. Das Wort »Contiguität« fasst die Gleichzeitigkeit und die unmittelbare Succession in sehr zweckmässiger Weise zu- sammen. Vorstellungen, wie Blitz und Donner, deren Empfin- dungen einander nicht unmittelbar folgen , sondern durch ein grösseres Intervall getrennt sind, verdanken ihre associative Ver- knüpfung in der Regel und vorzugsweise der früher erörterten Verbindung zu einem concreten Begriff durch eine gemeinsame Sprechbewegungsvorstellung, nämlich z. B. zu dem des Gewitters. Im Begriff des Gewitters sind die Vorstellungen Blitz und Donner gleichzeitig enthalten, obwohl die zu Grunde liegenden Empfin- dungen in der Erfahrung stets successiv auftreten.

In unseren weiteren Erörterungen gehen wir nun ganz von dem oben erörterten Hauptgesetz aus, dass die successiven Glieder einer Vorstellungsreihe durch Gleichzeitigkeitsassociation ver- knüpft sind. Ich will Sie zunächst nochmals daran erinnern, dass

1 j J. Stuart Mill u. Bain haben vergebens umgekehrt alle Gleich- zeitigkeitsassociationen im Wesentlichen auf Aehnlichkeitsassociationen zurückzuführen gesucht. James Mill (Analysis of the human mind, 1829) erkennt umgekehrt nur Association per contiguitatem an.

10*

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die oben gegebene Darstellung der Gleichzeitigkeitsassociationen uns den einfachsten Fall derselben darstellt. Wir sahen auf eine einfache Vorstellung a im Augenblick i eine einfache Vorstellung b im Augenblick 2 folgen und dachten uns sowohl a wie b in je einem Rindenelement localisiert. Thatsächlich sind jedoch unsere meisten Vorstellungen nicht einfach, sondern höchst zusammen- gesetzt, und dementsprechend, wie wir sahen, jede Vorstellung nicht an eine, sondern an viele über die ganze Hirnrinde zerstreute Elemente gebunden. Physiologisch sind die meisten Vorstellungen keine Einheiten, sondern nur psychologisch. Dem- o-emäss vollzieht sich nun thatsächlich auch die Gleichzeitigkeits- association nicht zwischen zwei einfachen Elementen a und 6, sondern zwischen den zahllosen in a enthaltenen Theilvorstellungen resp. Theilerregungen und den ebenso zahlreichen in b enthal- tenen. Sie werden ohne weiteres einsehen, dass die oben gegebene Deduction auch für die compliciertesten Vorstellungscomplexe o-anz ebenso zutrifft. Bedenken Sie nun aber, dass erstens jede Gesamtvorstellung a nicht nur mit einer Gesamtvorstellung 6, sondern mit vielen b, c, d u. s. f. associativ verknüpft ist, und dass alle in a enthaltenen Theilvorstellungen a,, «2, a.d u. s. f. wiederum eine grosse Anzahl associativer Verknüpfungen, theils mit Gesamt- vorstellungen, theils mit Theilvorstellungen aufweisen, so drängt sich sofort die Frage auf: welche von den vielen mit a oder seinen Theilvorstellungen associativ verknüpften Vorstellungen wird nun thatsächlich auf a folgen, oder anders gefragt: warum folgt auf a in dem einen Fall b, in dem anderen c u. s. f. ? Warum schliesst sich an das Erinnerungsbild eines Freundes einmal die Vorstellung einer Landschaft, die wir mit ihm gesehen, ein ander Mal die Vorstellung der Stadt, in der er jetzt weilt, ein drittes Mal vielleicht die Bewegungsvorstellung, zu ihm zu gehen? Es findet gewissermaassen ein Wettbewerb zahlreicher Vorstellungen um die nächste Stelle nach a im Augenblick 2 statt. Nur eine siegt, wie die einfachste Selbstbeobachtung lehrt: diese eine kann sehr zusammengesetzt sein , zahlreiche Theilvorstel- lungen können »mitschwingen«, aber alle anderen bis auf diese eine bleiben latent, bleiben rein -physiologische Disposi- tionen ohne psychisches Correlat, bleiben icVs und werden nicht zu 2?* 's. Was giebt nun die Entscheidung zu Gunsten der einen Vorstellung, heute vielleicht dieser, morgen jener? Eine Theorie, welche man als Apperceptionstheorie bezeichnen kann und welche in Deutschland noch sehr verbreitet ist, nimmt an, dass eine über der Association schwebende Apperception diese Entscheidung oder Auswahl trifft, bald dieser, bald jener Vorstellung ihre Auf- merksamkeit zuwendet und so gewissermaassen von ihrem Thron aus das Spiel der Association lenkt. Damit wäre, wie Sie leicht einsehen, ein ganz räthselhaftes , hypothetisches Seelenvermögen geschaffen: der Rückfall in eine alte unnaturwissenschaftliche Psychologie wäre damit besiegelt. Wir müssen uns daher fragen, ob nicht die in der Ideenassociation selbst gegebenen Factoren zur Erklärung jener Auswahl genügen? Eine genaue Prüfung ergiebt nun, dass unzweifelhaft die in Frage stehende Auswahl sich vollkommen befriedigend aus den uns schon bekannten That- sachen erklärt. Wir haben im ersten Zeitmoment eine Vorstellung

- M9 -

a ; von den für den zweiten Zeitmoment in Frage kommenden Vorstellungen b, c, d, e u. s. f. sind einige sehr eng mit a associa- tiv verbunden, weil sie sehr oft gleichzeitig mit a aufgetreten sind. Dabei ist selbstverständlich auch die Zeit, welche seit dem letzten gleichzeitigen Auftreten verstrichen ist, von Belang. Auch die Ausschleifung der Associationsbahnen geht allmählich verloren, wenn längere Zeit eine gleichzeitige Erregung ausbleibt. Vor- stellungen, die zwar in früheren Zeiten sehr oft gleichzeitig mit a aufgetreten sind, aber neuerdings überhaupt selten aufge- treten sind, werden in dem Wettbewerb unterliegen. Wie viel Associationen , welche unzählige Male in der Kindheit auftraten, sind in späterem Alter , wie wir sagen , vergessen ! Die Associa- tionsbahn hat ihre Leitungsfähigkeit durch den jahrelangen Stoff- wechsel bei Mangel jeder neuen actuellen Erregung eingebüsst. Schon durch dieses Moment der Intensität der associativen Verwandtschaft könnte man sich die Nachfolgerin der Vor- stellung a eindeutig bestimmt denken. Wäre dieser Factor allein maassgebend , so würde an eine Vorstellung a stets diejenige Vorstellung b sich anschliessen , welche am häufigsten und zwar speciell neuerdings am häufigsten gleichzeitig mit a aufgetreten ist. Aber es wirken noch andere Factoren ebenso wesentlich ein. Zu diesen gehört zunächst die Deutlichkeit der verschiedenen in Betracht kommenden Erinnerungsbilder. Diese spielt zwar eine geringere Rolle bei der Hauptform der Ideenassociation, der Gleichzeitigkeitsassociation. Die Deutlichkeit der latenten Vor- stellungen ist das beherrschende Moment der Aehnlichkeitsassoci- ation und daher namentlich des Wiedererkennens. Nur wenn die Ganglienzelle ihre eigenartige Disposition Ri und die von ihr aus- gehenden Bahnen ihre Abstimmung bewahrt haben, ist Aehnlich- keitsassociation möglich. Je mehr diese Disposition und Abstim- mung erhalten ist, um so grössere Chancen hat die Vorstellung, von der entsprechenden Empfindung geweckt zu werden. Wir werden später diesem Moment bei Besprechung der sog. Auf- merksamkeit wieder begegnen. Viel wichtiger als bestimmendes Moment für den Ablauf der gewöhnlichen Ideenassocation ist weiterhin der Gefühlston der Vorstellungen. Vorstellungen, welche von lebhafteren Gefühlstönen, sie seien positiv oder nega- tiv, begleitet sind , haben stets grössere Chancen in dem Wett- bewerb der Ideenassociation, aus R/'s zu R„'s zu werden und damit aus ihrer Latenz herauszutreten. Denken Sie an die Uni- versitätsstadt, in welcher Sie früher gewesen sind : die Wortvor- stellung des Namens der Stadt wird in der übergrossen Mehrzahl der Fälle Sie zuerst an das Angenehme und Unangenehme er- innern, was Sie dort erlebt haben : alle von irgend erheblicheren Gefühlstönen begleiteten Erinnerungsbilder werden Ihnen zuerst auftauchen. Kurz gesagt : wir wenden uns denjenigen Vorstellungen zu, welche uns die interessantesten sind.

Die Auswahl der Vorstellungen ist also nicht allein durch die Stärke der associativen Verbindung der in Frage kommenden latenten Vorstellungen mit a bedingt, sondern auch durch die Deutlichkeit und namentlich den Gefühlston derselben. Schon durch das Zusammenwirken dieser Factoren ist unserer Ideen- association eine breite Variabilität gesichert, aber es kommt noch

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ein viertes wichtiges Moment hinzu , auf welches ich Ihre Auf- merksamkeit jetzt lenken muss. Seien b, c, d, e, f fünf latente Vorstellungen, die vor allem als Nachfolgerinnen von a in Be- tracht kommen. Diese Vorstellungen b, e, d, e, f stehen meist selbst untereinander durch directe oder indirecte Associations- bahnen in Verbindung. Nun kommt ein wichtiges Gesetz, welches wir der allgemeinen Nervenphysiologie entlehnen, zur Geltung. Dieses lässt sich für unseren Zweck so ausdrücken : Wenn in zwei durch eine Leitungsbahn verbundenen Rindenelementen b und c eine Erregung von bestimmter Grösse , z. B. von der Grösse m in a und von der Grösse n in b besteht, so können sich die beiden Erregungsgrössen gegenseitig modificieren. Diese Modification kann sowohl in einer Hemmung, wie auch in einer Anregung bestehen. Kehren wir nun zu unseren latenten Vorstellungser- regungen b, c, d, e, f zurück, welche alle gewissermaassen psychisch zu werden begehren. Diese stehen, dem eben angegebenen Ge- setz zufolge, sämmtlich untereinander in einem complicierten Ver- hältniss gegenseitiger Hemmung und Anregung x ). Diese gegen- seitige Hemmung und Anregung hat nun zur Folge, dass eine vorzugsweise von Hemmungen getroffene Vorstellung im Wett- bewerb der Vorstellungen unterliegt trotz grösserer Deutlichkeit, trotz lebhafteren Gefühlstons und trotz starker associativer Ver- bindung mit der Anfangsvorstellung a, während eine in diesen drei Punkten vielleicht sogar ungünstiger gestellte Vorstellung vermöge der Abwesenheit solcher Hemmungen und begünstigt von Anregungen siegt, d.h. auf die Anfangsvorstellung a folgt. Es kommt also stets noch ein vierter Factor hinzu, welcher die Reihenfolge der Vorstellungen bedingt: wir können denselben kurz als » C o n s t e 1 1 a t i o n « bezeichnen. Sie werden nun weiter- hin leicht ermessen, dass diese Constellation eine ausserordentlich wechselnde ist. Daher wird auch die Reihe der Vorstellungen fortwährend wechseln. Heute folgt auf a c, wenige Stunden später auf dasselbe a das inzwischen von seinen Hemmungen be- freite b. Nur so erklärt sich die enorme Mannigfaltigkeit unseres Denkens. Dieselbe Empfindung, dieselbe Vorstellung kann uns heute an dies, morgen an jenes, heute an das Nächstgelegene, morgen an das Entfernteste erinnern. Die Gunst oder Ungunst dieser »Constellation« kann offenbar als eine vorübergehende Er- höhung oder Herabsetzung der Intensität oder Energie der be- günstigten oder benachtheiligten latenten Vorstellung aufgefasst werden.

Ein sehr schönes Beispiel für den Einfluss der Constellation erzählt Wähle 2). Es war ihm lange keinerlei Erinnerung an Venedig aufgetaucht, obwohl das gothische Rathhaus seiner Hei- mathstadt, an dem er täglich vorüberging, mit dem Stabwerk an den Fensterbögen sehr wohl geeignet gewesen wäre , die Er-

1) Es kommen hierzu namentlich noch die Hemmungen und Anre- gungen hinzu, welche die nascierenden Vorstellungen in ganz besonderem Maasse von Seiten der früheren Vorgängerinnen von a, der vor kurzem actuell gewesenen Vorstellungen, erfahren.

2) Beschreibung und Eintheilung der Ideenassociationen. Vierteljahr- schrift f. wiss. Philosophie, 1885, Jahrg. 9.

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innerungen an die Bögen der Arcaden des venetianischen Dogen- palastes wachzurufen. Das Rathhaus brachte ihm zahlreiche andere Associationen , aber nie eine an Venedig. Plötzlich trat eines Tages beim Anblick des Rathhauses das Erinnerungsbild des Dogenpalastes Wähle vor Augen. Er besann sich, und es fiel ihm ein , dass er vor zwei Stunden bei einer Dame eine Broche in der Form einer Venetianer Gondel gesehen hatte. Der Einfluss der Constellation ist hier augenfällig.

Herbart, der Königsberger Psycholog, hat diese gegenseitige Hemmung und Anregung zuerst allerdings in anderer Form und ohne Kenntniss der physiologischen Grundlagen gelehrt und glaubte sogar den Effect der Hemmung mathematisch aus- rechnen zu können. Er sagte ungefähr folgendermaassen : es liegen zwei Vorstellungen vor: A von der Intensität a und B von der Intensität b. Herbart nahm nun an, dass die Gesamthemmung gleich der Intensität der stärkeren Vorstellung sei, also z. B. gleich b. Diese Hemmung b wird nun von A und B gemein- schaftlich getragen, und zwar im umgekehrten Verhältniss ihrer Stärke. Es habe A von der Hemmung einen Antheil x, B einen Anteil y zu tragen. Wir wollen nun x und y ausrechnen. Es ist :

x -\- y = 6, x : y =& : a\

woraus sich ergiebt :

x \ x -{- y = b :b -\- a oder 62

x

y

a -\-b ab

b' Es verliert also durch die gegenseitige Hemmung:

B

62 ,., ab

a -\-b

Diese Berechnung Herbart's ist nun allerdings unzweifelhaft unrichtig. Vor allem liegen die Verhältnisse ungleich compli- cierter. Namentlich ist der Inhalt der beiden Vorstellungen für die Grösse der Hemmung durchaus nicht gleichgültig. Sie ver- mag Ihnen jedoch immerhin eine angenäherte Vorstellung von den quantitativen Verhältnissen dieser Hemmungen zu geben.

Durch die 4 Factoren : associative Verwandtschaft, Deutlich- keit, Gefühlston und Constellation ist die Reihenfolge unserer Vorstellungen oder, physiologisch gesprochen, der Weg der Er- regung in der Hirnrinde eindeutig bestimmt. Unser Denken ist streng necessitiert. Aus der Beschaffenheit der Hirnrinde im Augenblick 1 folgt nothwendig die Beschaffenheit der Hirnrinde im Augenblick 2, der ersten entspricht die Vorstellung «, der zweiten die Vorstellung b u. s. f. Einer willkürlich über den Vorstellungen herrschenden Apperception bedürfen wir weder zur Erklärung der normalen noch zur Erklärung der pathologischen psychischen Vorgänge. Die siegende latente Vorstellung, deren

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Reproductionsfähigkeit also bei Zusammenrechnung aller jener Factoren am grössten war, wird actuell : ihr Ri wird in Rv ver- wandelt. Die Energie, mit welcher diese Verwandlung stattfindet, hängt wiederum von jenen 4 Factoren und zum Theil wohl auch von der allgemeinen Energie der Ideenassociation ab. Je nach- dem die Energie dieser Verwandlung grösser oder kleiner ist, hat die actuelle Vorstellung grössere oder kleinere Energie in dem früher angegebenen Sinne.

Wir haben damit die Ideenassociation, ausgehend von der Anfangsempfindung oder auch einer beliebigen Anfangsvorstellung, in ihren Grundzügen kennen gelernt. Dieselbe stellt sich dar als eine Reihe, welche wir in leicht verständlicher Weise folgender- maassen darstellen können : E V2 F3 V4—Vö VG etc. Die Gesetze, welche die Auswahl dieser V's bestimmen, kennen wir bereits. Wir haben uns nur noch zu fragen, ob auch der ersten durch äusseren Reiz veranlassten Empfindung nothwendiger Weise stets nur Vorstellungen folgen müssen, ob nicht eine Empfindung zunächst noch eine zweite Empfindung auslösen kann, auch ohne einen zweiten äusseren Reiz , oder allgemeiner , ob ohne äusseren Reiz nie eine Empfindung vorkommen kann. Im normalen psychischen Leben ist dies ausserordentlich selten. Sie werden an zwar die sog. Nachempfindungen denken : wenn Sie lange ein helles grünes Quadrat ansehen, so sehen Sie auch nach Augenschluss ein solches Quadrat in der complementären Farbe, also purpurn. Eine Empfindung scheint hier eine zweite direct aus- zulösen, ohne dass ein neuer Reiz hinzukommt. Indes dem ist nicht so : es ist vielmehr äusserst wahrscheinlich, dass mit dem äusseren Reizvorgang des hellen grünen Papierstreifs der innere Reizvorgang nicht erlischt, sondern ein neuer wahrscheinlich durch Ermüdung hervorgerufen folgt, und dass dieser secundäre innere Reiz die Nachempfindung auslöst. Dieser sog. successive Contrast beschäftigt uns daher hier nicht. Im pathologischen Ge- hirn finden wir allerdings nicht selten Empfindungen ohne äusseren Reiz: die Kette der F's ist plötzlich durch ein oder mehrere E's unterbrochen. Wir werden hierauf bei Besprechung des krank- haften Denkens noch kurz zurückkommen. Unsere Aufgabe in der nächsten Vorlesung wird vor allem sein, die zeitlichen Ver- hältnisse der Ideenassociation kennen zu lernen.

ELFTE VORLESUNG. Schnelligkeit der Ideenassociation. Urtheil und Schluss.

Wir haben in der letzten Vorlesung das Hauptgesetz der Ideenassociation kennen gelernt. Es lautet: Die Vorstellungen folgen einander gemäss den associativen Verbindungen, in welchen sie durch früheres gleichzeitiges Auftreten stehen. Wir wollen nun versuchen die Geschwindigkeit dieser successiven Associa- tionen zu messen. Wir gehen wieder von der einleitenden Em- findung E aus, an welche die Vorstellungsreihe Fx, V2, F3 u. s. f. sich anschliesst. Wir haben gesehen, dass meist ein förmliches Wiedererkennen von E gar nicht stattfindet, oder mit anderen Worten , dass die Vorstellung der früher erlebten gleichen Em- pfindungen meist gar nicht besonders reproduciert wird. Wir sehen eine Rose von Weitem, und unser Denken stellt sich sofort den Duft derselben vor, d. h. reiht direct an die Gesichtsempfin- dung die Vorstellung des Rosendufts oder die Wortvorstellung »Rose«. Die Vorstellung der Gesichtsempfindungen gleicher Ro- sen, die ich früher erblickte, taucht gar nicht besonders in mir auf. Das förmliche Wiedererkennen involviert schon ein ziemlich com- pliciertes Urtheil, nämlich dass die neue Gesichtsempfindung gleich oder ähnlich ist einer Reihe früherer Gesichtsempfindungen. Das Wiedererkennen eignet sich daher zu messenden Versuchen über die gewöhnliche Associationsgeschwindigkeit sehr wenig. Zweck- mässiger ist es, die Zeit zu messen, welche zwischen einer Sinnes- empfindung und der ersten neuen ihr angereihten Vorstellung vergeht. Man hat zu diesem Zwecke z. Th. sehr sinnreiche Appa- rate construirt. Das Schema aller dieser Apparate ist im Wesent- lichen das folgende. Auf einer rotierenden Trommel wird der Augenblick, in welchem ein Sinnesreiz einwirkt, markiert, und zweitens macht die Versuchsperson eine vorher verabredete Sig- nalbewegung, sobald auf den Sinnesreiz die erste Vorstellung Vx folgt; zweckmässig lässt man die Versuchsperson zugleich das Wort für diese zuerst aufgetauchte Vorstellung laut aussprechen. Die Signalbewegung wird so gewählt, dass durch dieselbe ein electrischer Strom geschlossen wird und durch diesen der Augen- blick ihres Eintritts gleichfalls auf der Trommel markiert wird. Die zwischen den beiden auf der Trommel markierten Punkten

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liegende Strecke erlaubt, wenn die Umdrehungsgeschwindigkeit der Trommel bekannt ist, direct zu berechnen, wie viel Zeit zwi- schen dem Sinneseindruck und der Bewegung verflossen ist. Diese Zeit wollen wir als T bezeichnen. Dieselbe setzt sich aus mehre- ren Theilen zusammen, nämlich :

erstens aus der Zeit, welche der Reiz braucht, um von der peripheren Sinnesfläche bis zur sensorischen Grosshirnrinde zu gelangen, wo er die Empfindung auslöst;

zweitens der Zeit, welche vergeht zwischen der Empfindung und dem Auftauchen der ersten Vorstellung;

drittens der Zeit, welche vergeht zwischen dem Auftauchen der ersten Vorstellung und dem Auftauchen der zur Signal- bewegung und zum Aussprechen des Wortes erforderlichen Be- wegungsvorstellung ;

viertens der Zeit, welche erforderlich ist, die centrale moto- rische Erregung bis zum Muskel zu tragen und diesen in Con- traction zu versetzen.

Wir wollen diese 4 Theile als /,, t2, t3 und bezeichnen. Es ist also: T== tx + t2 -K3 + t±. T bestimmen wir durch das Experiment. Wir suchen t2, die zwischen Empfindung und Vor- stellung vergehende Associationszeit. tx und tA, die Dauer der centripetalen und centrifugalen Leitung, sind uns wenigstens an- nähernd aus der Physiologie bekannt. t3 ist uns ganz unbekannt. t5 stellt offenbar die zwischen zwei Vorstellungen verlaufende Associationszeit dar. Wir ziehen nun in Erwägung, dass die ts abschliessende Bewegungsvorstellung durch unsere gespannte Er- wartung sehr leicht erregbar geworden ist oder, anders ausge- drückt, die zu ihr hinleitenden Bahnen besonders leitungsfähig sind. Es wird t3 daher viel kürzer sein als die zwischen zwei beliebigen Vorstellungen vergehende Associationszeit. Vernach- lässigt werden darf dies t2 deshalb doch nicht. Wir müssen also darauf verzichten, t2 rein zu ermitteln, wir können nur t2 + 13 be- rechnen, d. h. wieviel Zeit zwischen der Empfindung und der ersten ihr angereihten Vorstellung vergeht, vermögen wir nicht anzugeben; wir können zunächst nur messen, wieviel Zeit ver- streicht zwischen der Empfindung und einer Bewegung, welche unmittelbar auf die erste von der Empfindung ausgelöste Vor- stellung folgt.

Wie gross ist nun dies t2 -j- 13 nach den bis jetzt vorliegenden Experimentaluntersuchungen ? Leider sind dieselben sehr spärlich. Es hat dieses seinen Grund namentlich darin, dass eine bestimmte, später zu erwähnende thatsächlich unrichtige Theorie die For- schungen meist in ganz andere Wege gedrängt hat. Nur die TRAUTSCHOLDT'schen1) Untersuchungen sind wenigstens zum Theil zur Beantwortung unserer Fragen direct verwendbar. Vor Trautscholdt hatte schon Galton ähnliche Versuche gemacht. Ich erwähne dieselben trotz ihrer augenscheinlichen Ungenauig- keit, weil sie sich zu Vorversuchen sehr empfehlen und leicht von Ihnen wiederholt werden können. Galton2) schrieb 75 Worte auf Papierstreifen, und in Zwischenräumen von mehreren Tagen

1) Philosoph. Studien, I, S. 213.

2) Brain 1879, July.

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legte er einen solchen Streifen zunächst halb verdeckt unter ein Buch, so dass er das Wort nur lesen konnte, wenn er sich vor- lehnte. Sobald er sich nun vorlehnte und das Wort erblickte, setzte er ein Chronometer in Gang und hielt es erst wieder an, nachdem z. B. 4 Vorstellungen im Anschluss an die Gesichts- emplindung des Wortes in ihm aufgetaucht waren. Es ergab sich hierbei, dass zu 505 Vorstellungsassociationen 660 Secunden ge- braucht wurden. Danach betrüge die durchschnittliche Asso- ciationszeit fast r1/3 Secunde. Sie erkennen die Fehler dieser Methode sofort. Ich will nur einen derselben erwähnen : indem Galton selbst den Chronometer in Gang setzt, schiebt sich eine neue Gesichtsempfindung und eine neue Bewegung ein. Traut- scholdt rief der Versuchsperson ein einsilbiges Wort zu, und diese signalisierte durch eine einfache Handbewegung, welche die Unterbrechung eines galvanischen Stromes bewirkte, den Augenblick, in welchem die erste Vorstellung associativ von der Schallempfindung erregt wurde. Erst nachträglich sprach die Versuchsperson die associierte Vorstellung mündlich aus. Es er- gab sich bei zahlreichen Versuchen, dass die ganze Reactionszeit vom Zuruf bis zur Signalbewegung durchschnittlich 9 10 Zehntel- secunden betrug. Um hieraus die Associationszeit zu berechnen, kann man folgenden Versuch anschliessen. Wir rufen der Ver- suchsperson wiederum ein einsilbiges Wort zu und geben der- selben auf, sobald sie das Wort hört, sofort die Signalbewegung zu machen. Messen wir nun die zwischen Zuruf und Signalbe- wegung verfliessende Zeit, so ergeben sich Werthe, die zwischen 1 und 2V4 Zehntelsecunden schwanken. Wir werden uns später mit dieser sog. einfachen Reactionszeit genauer zu beschäftigen haben und die Ursachen ihrer schwankenden Grösse kennen lernen. Die oben gefundene Reactionszeit von 9 10 Zehntelsecunden ent- sprach offenbar tx -f- t2 -j- ts + ti. Die einfache Reactionszeit ist zu setzen gleich tl-j-ts-j-ti; denn es ist ja die zwischen Em- pfindung und Vorstellung verflossene Zeit bei der einfachen Re- action in Wegfall gekommen. Freilich ist hierbei zu erwägen, dass t:i in beiden Reactionszeiten nicht ganz dasselbe bedeutet. Wir werden daher durch Subtraction der einfachen Reactionszeit von der oben gefundenen complicierten nur einen annähernd richtigen Werth für t2, für die Associationszeit zwischen Empfin- dung und Vorstellung erwarten dürfen. Nach den genannten Zahlen würde die Associationszeit t2 sich ganz annähernd zu 7 9 Zehntelsecunden berechnen 1).

Wir werden uns nicht wundern, dass die Associationszeit solchen Schwankungen unterliegt. Es giebt Individuen, bei wel- chen jeder Sinneseindruck mit grosser Schnelligkeit Vorstellungen associativ erweckt, und andere, welche in dieser Beziehung er- heblich langsamer reagiren. Aber auch bei demselben Individuum ist je nach Stimmung, körperlicher Beschaffenheit etc. die Asso-

1) Die TjtAUTSCHOLDT'sclie Berechnung ist eine andere, indem er mit Wundt das Eingreifen einer über der Association stehenden Apperception annimmt. Die Annahme jedoch, dass das zugerufene Wort erst als solches von einer Apperception erkannt werden müsse, ist ganz willkürlich, und findet ein besonderes Erkennen in vielen Fällen gar nicht statt.

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ciationszeit wesentlich verschieden. Sie werden von diesen Ver- schiedenheiten später noch mehr hören. Eine durchgängige Con- stanz der Associationszeit wird uns von diesem Standpunkt aus von vornherein sehr unwahrscheinlich sein.

Wir haben damit wenigstens annähernd festgestellt, wie viel Zeit zwischen einer Empfindung und der ihr zunächst associierten Vorstellung verfliesst. Ein seltener Specialfall ist dann gegeben, wenn die der Empfindung zunächst associierte Vorstellung das Erinnerungsbild früherer gleicher Empfindungen ist, also ein förm- liches Erkennen stattfindet. Man hat auch die Dauer dieser sog. Erkennungszeit zu bestimmen versucht, doch sind gerade hier die Resultate noch sehr unsicher1). Viel mehr interessiert uns die weitere Frage, mit welcher Geschwindigkeit die Vor- stellungen F2, V3 nun weiterhin der ersten Vorstellung Vx folgen. Offenbar liegt es ziemlich nahe, anzunehmen, dass im Allgemeinen V2 ebenso rasch auf Vl folgt, wie Vx auf E; handelt es sich doch in beiden Fällen um die Reproduction oder Hebung eines latenten Erinnerungsbildes. Vor allem ergaben die Versuche auch hier sehr schwankende Zahlen. Vorstellungen, welche selten zusammen aufgetreten sind, brauchen zu ihrer gegenseitigen Reproduction mehr als i Secunde, während sehr häufig associativ verbunden gewesene Vorstellungen sich binnen einer Drittelsecunde repro- ducieren. Vorstellungen, namentlich zusammengesetzte, welche in sehr complicierten Beziehungen zu einander stehen, reproducieren sich langsamer, als Vorstellungen, welche mehr äusserlich einander verwandt sind, wie z. B. sich reimende Wortvorstellungen. Andrer- seits wird eine zusammengesetzte Vorstellung, deren Theilvor- stellungen so beschaffen sind, dass nur eine einzige andere Vor- stellung ihrer Gesamtheit associiert ist, diese eine andere Vor- stellung sehr schnell producieren. Die Frage: Nennen sie mir ein Werk von Goethe ! wird daher langsamer beantwortet, als die Aufforderung: Nennen sie mir das erste Drama von Goethe. Man nennt Associationen der letzteren Art eindeutig bestimmt. Je ein- deutiger eine Association bestimmt ist, um so rascher vollzieht sie sich im Allgemeinen2). Das Verhältniss der sich associierenden Vorstellungsinhalte ist also von wesentlichem Einfluss auf die Associationsgeschwindigkeit. Dasselbe gilt von der oben er- wähnten Constellation der latenten Vorstellungen. Die zufällige Ungunst derselben ist es meist, welche bewirkt, dass uns mitunter ein Name oder ein anderes Wort nicht einfällt. Aber auch für ein und dieselbe Vorstellungsassociation ist die Associationsge- schwindigkeit je nach dem Individuum und bei demselben Indivi- duum je nach seiner augenblicklichen Veranlagung verschieden. Es giebt Individuen mit rascher und solche mit langsamer Asso- ciation. Heute fliegen meine Gedanken und morgen, wenn ich ermüdet bin, scheinen dieselben zu kriechen. Wichtig ist vor allem der Einfluss der Affecte auf die Associationsgeschwindig- keit. Herrschen Vorstellungen und Empfindungen vor, welche von Lustgefühlen begleitet sind, so fliessen die Gedanken rascher,

1) Es schiebt sich hier eben das oben erwähnte Grleichheits- u r t h e i 1 ein.

2) Vergl. Münsteebeeg, 1. c.

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umgekehrt üben Unlustgefühle einen hemmenden Einfluss auf un- sere Ideenassociation. Den interessantesten Beleg hierfür finden wir im Gebiet der Geisteskrankheiten. Die Irrenärzte kennen zwei Geistesstörungen, welche sie als Melancholie und Manie bezeichnen, und welche in fast jeder Beziehung sich psychologisch entgegen- gesetzt verhalten. Die Melancholie ist charakterisiert durch das krankhafte Vorherrschen unmotivierter Unlustgefühle, die Manie durch das krankhafte Ueberwiegen unmotivierter Lustgefühle. Wie verhält sich nun die Geschwindigkeit der Association bei beiden Krankheiten? Unzählige Erfahrungen lehren, dass die Ideenassociation des Melancholikers auf das höchste verlangsamt oder gehemmt ist, während die Ideenassociation des Maniakalischen extrem beschleunigt ist. Wir bezeichnen daher das Denken des letzteren auch als Ideen flucht. Diese Beschleunigung des Vorstellungsverlaufs wirkt ihrerseits wieder auf den Inhalt der Vorstellungen zurück. Es werden nämlich vorwiegend solche Vorstellungen associiert, welche in äusserlichen Associationsbe- ziehungen z. B. der Aehnlichkeit oder des Reimes stehen : Sie haben ja oben gehört, dass diese eine besonders grosse Associa- tionsgeschwindigkeit zeigen. Ein typisches Beispiel einer solchen Ideenflucht leichteren Grades will ich Ihnen vorlesen. Dasselbe stammt aus einem Briefe einer jugendlichen Maniakalischen an ihren Bruder und lautet: »Es grüsst Dich und alle die nach mir fragen mit Zittern und Zagen. Es hatte einen Haken und nun sind wir frei. Eure Schwester in Christo aber nicht in Misto, sonst kommt Mephisto.« Umgekehrt braucht eine melancholische Kranke zuweilen mehrere Minuten, um an die gehörte Frage nach ihrem Geburtstage die richtige Antwort des Datums associativ an- zureihen. Wir können diese Associationsstörung auch als Schwer- besinnlichkeit bezeichnen: die Erinnerungsbilder oder das sog. Ge- dächtniss sind intact, aber die Reproduction oder Association der Erinnerungsbilder vollzieht sich ausserordentlich langsam. Ein sehr treffendes Beispiel liefert auch der Alcoholrausch. Bei den ersten Gläsern Weins fliessen die Gedanken rascher: die Asso- ciation ist ungewöhnlich beschleunigt, die Stimmung vorwiegend heiter. Je mehr aber die Gläserzahl weiterhin steigt, um so lang- samer fliessen die Gedanken wieder, bis schliesslich eine abnorme Schwerfälligkeit und Trägheit der Association sich einstellt.

Wir müssen nunmehr noch eine weitere Form der Beschleu- nigung der Ideenassociation kennen lernen. Wir wollen eine

associativ verbundene Vorstellungsreihe Vy V ., V3 ins Auge

fassen. Sie entsinnen sich, dass diese drei psychischen Elemente

den materiellen Processen i?ri, Rr 2, B, 3 entsprechen, und

dass die E,.'s aus i?/'s, welche von psychischen Parallelvorgängen nicht begleitet waren, entstanden sind. Nehmen wir z. B. die Vorstellungsreihe: Wolke Regen Schirm. Die associative Verknüpfung ist ohne weiteres klar. Jemand sagt mir z. B., es seien Wolken am Himmel : die Vorstellung der Wolken lässt mich an die Möglichkeit von Regen denken und hierdurch werde ich an meinen Schirm erinnert. Thatsächlich denken wir jedoch viel rascher. Die Zwischenvorstellung des Regens F2 fällt sehr häufig ganz aus. Die Wolke erinnert mich sofort an den Schirm, ohne dass mir die Vorstellung »Regen« besonders auftaucht. Der

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Vorgang ist hier offenbar der: zuerst entsteht R, t aus Ri x, d. h. in das Psychische übersetzt, zuerst tritt die Vorstellung »Wolke« (Vt) auf. Die materielle Erregung verläuft nun weiter und trifft auf Ri~2; statt aber dieses in Rr2 zu verwandeln und damit die Vorstellung »Regen« {V2) hervorzurufen, wird Ri 2 nur ganz flüchtig berührt oder so wenig verändert, dass RV2 und F2 gar nicht zu Stande kommen. Vielmehr wird erst Ri 3 wieder so lange oder so intensiv von der sich fortpflanzenden materiellen Erregung berührt, dass es in i?„3 verwandelt wird und damit die Vorstellung des Schirmes (F3) auftaucht. Es hat gar keinen Sinn, hierbei von einer unbewussten Vorstellung (V2) des Regens zu sprechen. Un- bewusste psychische Vorgänge existieren, wie wir wissen, nicht. Wir müssen einfach zugestehen: die Zwischenvorstellung »Regen« (F2) ist ausgefallen oder, in das Materielle umgesetzt, die Ver- wandlung von Ri 2 in R, ., ist ausgeblieben. Ri ^ wurde berührt von der sich fortpflanzenden Erregung und beeinflusste den wei- teren Weg derselben, jedenfalls erleidet es dabei selbst auch Ver- änderungen, aber diese Veränderungen reichen nicht aus oder sind nicht derart, um aus Ri 2 Rv 2 zu machen und so V2 hervorzurufen. Hiermit ist nun eine sehr wichtige neue Form gegeben, in welcher sich die Beschleunigung der Ideenassociation äussern kann: es können Zwischenvorstellungen übersprungen und dadurch der Vor- stellungsablauf abgekürzt werden. Unser Denken würde entsetz- lich langweilig sein, im buchstäblichen Sinn des Wortes, wenn wir alle Zwischenvorstellungen jedes Mal wieder mitdenken müssten. In unserem gewöhnlichen Denken überspringen wir fortwährend zahllose Vorstellungen, und gerade das Genie unterscheidet sich vom Unbegabten dadurch, dass es grössere Reihen von Zwischen- vorstellungen überschlägt, also gewissermassen mit Siebenmeilen- stiefeln fortschreitet. Andrerseits beruht auch das, was wir Uebung nennen, häufig auf einer solchen Abkürzung der Ideenassociation. Der geübte Schachspieler überspringt in seinen Combinationen oder Associationen zahllose Zwischen Vorstellungen, welche der Neuling alle einzeln der Reihe nach durchdenken muss. Denken Sie sich nun diesen Vorgang der Uebung noch weiter gesteigert, lassen Sie alle Zwischenvorstellungen und schliesslich auch die einleitende Empfindung und die die Schlusshandlung auslösende Bewegungsvorstellung wegfallen, so haben Sie einen automatischen Act. Ich kann Ihnen hier nur wiederholen, was ich Ihnen früher über das allmähliche Entstehen automatischer Acte aus sog. will- kürlichen Handlungen sagte. Dass übrigens der Uebung neben dem indirect beschleunigenden, abkürzenden Einfluss auch ein direct beschleunigender Einfluss auf die Ideenassociation zu- kommt, bedarf kaum der Hervorhebung. Auch die Abkürzung der Ideenassociation ist ferner zuweilen pathologisch gesteigert: wir sprechen dann von springendem oder sprungweisem Denken.

Wir haben bis jetzt die Ideenassociation lediglich als eine Succession discreter Vorstellungselemente betrachtet. Das ein- zige Band der successiven Vorstellungen Vl V2 Vz etc. war entsprechend dem Hauptgesetz der Ideenassociation ihr öfteres früheres gemeinschaftliches Vorkommen oder ihre Aehnlichkeit Wir haben nun compliciertere Formen der Ideenassociation kennen

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zu lernen. Unser Denken vollzieht sich nämlich nicht stets in einfachen fortlaufenden Vorstellungsreihen , sondern auf einer höheren Stufe besteht es aus sog. Urtheilen und Schlüssen. Wir erheben nun die Frage, ob auch unser Urtheilen und Schliessen, die beiden logischen Functionen ymt sgoyr/v, dem Schema der Ideenassociation sich subsumieren lassen, oder ob wir in ihnen ganz neue heterogene Seelenvermögen zu erblicken haben. Offen- bar werden wir uns nur im Nothfall zu der letzteren Eventualität entschliessen, befriedigender wird es unzweifelhaft sein, wenn wir auch unser logisches Denken , also Urtheil und Schluss , auf den Process der Ideenassociation zurückführen können. Wir wollen mit einem einfachen Urtheil beginnen, z.B.: »die Rose ist schön«. Wir haben hier zwei Vorstellungen, erstens die Vorstellung »die Rose« und zweitens die Vorstellung »schön«. Diese beiden Vor- stellungen sind nun offenbar nicht einfach im Sinn der einfachen uns bis jetzt bekannt gewordenen Ideenassociation als Einfälle aneinander gereiht, sondern die zweite Vorstellung steht offenbar in engerer Beziehung zu der ersten. Diese engere Beziehung ist allerdings durch das Wort »ist« ausgedrückt, aber selbst wenn wir dieses »ist« noch als eine Zwischenvorstellung deuten , so kommen wir nicht darüber hinweg, dass es hier sich nicht um drei einfach aneinander gereihte Vorstellungen handelt, sondern wir müssen erst recht annehmen, dass die Zwischenvorstellung »ist« nicht nur eine rückwirkende Beziehung auf die Vorstellung »Rose«, sondern auch eine vorauswirkende auf die Vorstellung »schön« hat. Ist nun dies physiologisch ganz unverständlich ? Keineswegs ! Wir haben seither den materiellen bei der Ideenassociation in der Hirnrinde sich abspielenden Process gar nicht in seiner Con- tinuität untersucht, sondern immer nur einzelne Augenblicke des Processes entsprechend discreten Vorstellungen herausgegriffen. Offenbar ist dies nun nicht richtig: zwischen dem materiellen Zustand Bv 1 und dem materiellen Zustand Rr 2 liegt ein materieller Zwischenprocess, und wir haben gar keine Ursache, diesem Zwi- schenprocess jedes psychische Correlat abzusprechen. Im Gegen- theil ist in diesem Leitungsprocess aller Wahrscheinlichkeit nach das Substrat für die Continuität unserer Urtheile oder, anders aus- gedrückt, für die gegenseitige Beziehung unserer Vorstellungen im Urtheil gegeben. Es kommt hinzu, dass wie alle Erregungen im Nervensystem auch die den Vorstellungen entsprechenden Er- regungen eine gewisse Zeit zum Anstieg und ebenso eine gewisse Zeit zum Abklingen brauchen. So kann das Ansteigen von V2 schon während des Abklingens von F, stattfinden und somit ist die Mög- lichkeit eines theilweisen zeitlichen Zusammenfallens zweier Vor- stellungserregungen gegeben. Endlich kommt in Betracht, dass bei den meisten Urtheilen nur die Worte resp. die Sprechbewegungen eine successive Reihe darstellen, dass hingegen die beiden Vor- stellungen (z. B. Rose und schön) selbst gleichzeitig, als Theil- vorstellungen einer Gesamtvorstellung auftreten ; erst im sprach- lichen Ausdruck findet eine Auseinanderlegung der Vorstellungen in eine successive Reihe statt. Selbstverständlich ist dies zunächst nur Hypothese ; es kann sich auch bei unserem geringen Wissen in diesen Dingen gar nicht darum handeln, schon eine thatsäch- lich zutreffende psycho - physiologische Erklärung für die Conti-

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nuität unseres Denkens im Urtheil zu geben, es handelt sich vielmehr nur um die Möglichkeit einer psycho - physiologischen Erklärung. Dass nun eine solche Erklärung möglich ist, ohne aus dem Rahmen der Ideenassociation herauszugehen und ganz hypothetische neue Seelenvermögen zu erdichten, glaube ich Ihnen durch meine Auseinandersetzung dargethan zu haben.

Von diesem Standpunkt aus stellt sich uns also das Urtheilen als eine höhere Entwicklungsstufe der gewöhnlichen Association dar, nicht aber als etwas völlig Heterogenes. Mit dem Gesagten ist jedoch die psychologische Charakteristik des Urtheils noch nicht erschöpft. Ein wesentliches Merkmal des Urtheils ist auch, dass es sich auf eine viel ausgiebigere, engere Association seiner Vorstellungen untereinander stützt und hierauf den Anspruch gründet, als richtig zu gelten. Dieses »als richtig gelten« be- deutet psychologisch nur die Abwesenheit entgegengesetzter Vor- stellungen. Die gewöhnliche Associationsreihe : »Rose Blatt

Sommer« stützt ihre Verbindung auf keinen anderen Grund als den eines früheren gelegentlichen gleichzeitigen Vorkommens der Vorstellungen resp. der zugehörigen Empfindungen. Das Ur- theil: »die Rose hat gezähnte Blätter« unterscheidet sich von der genannten einfachen Associationsreihe erstens durch die durch- gängige Beziehung der Vorstellungen aufeinander und zweitens durch das viel häufigere früher gleichzeitige Vorkommen der im Urtheil enthaltenen Vorstellungen oder der diesen zu Grunde liegenden Empfindungen. Eben in Folge dieser sehr engen Asso- ciationen der Theilvorstellungen des Urtheils fehlen entgegen- gesetzte Vorstellungen vollständig, so in unserem Beispiel die Vorstellung glattrandiger Blätter, und auf dies Ausbleiben ent- gegengesetzter Vorstellungen gründet sich psychologisch der An- spruch unseres Urtheils auf Richtigkeit. Die Association »Rose

Blatt Sommer« ohne alle weiteren Zwischenglieder ist eine seltene und trägt daher den Charakter des Zufälligen. Die Asso- ciation des Urtheils hingegen ist fast ausnahmslos eine sehr enge Gleichzeitigkeitsassociation, und zwar speciell eine Gleichzeitig- keitsassociation , bei der häufig Beziehungsbegriffe eine grosse Rolle spielen. Unter allen möglichen Associationen ist ein Ur- theil gerade eine ausgewählte Association , bei welcher contra- dictorische Vorstellungen nicht auftreten1).

Sie sehen also , dass wir den Begriff der Ideenassociation etwas modificieren müssen, um auch das Urtheil demselben sub- sumieren zu können. Die Ideenassociation ist kein von einer discreten Vorstellung zur anderen springender Process 2), sondern wir müssen ihr dieselbe Continuierlichkeit auf psychischem Gebiet wenigstens für das Urtheil vindicieren , welche der materielle Parallelprocess ja unzweifelhaft hat. Die springende Ideenas-

1) Diese Auswahl ist namentlich von Herbart betont worden. Lipps (Grundthatsachen des Seelenlebens, Bonn 1886) hat zu einseitig als Cha- racteristicum des Urtheils das Bewusstsein seiner Wirklichkeit, also seiner Geltung hervorgehoben.

2) In pathologischen Fällen verdrängt die springende Ideenassociation die Urtheilsassociation oft ganz, so namentlich bei hochgradiger Ideen- flucht. Man bezeichnet dies Symptom auch als Verbigeration.

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sociation , wie wir sie zuerst kennen lernten , ist also nur eine Form derselben , das sog. Urtheil ist die zweite Form der Ideen- association.

Die Schullogik lehrt weiterhin, dass Urtheile sich zu Schlüssen verbinden. Denken Sie an das bekannte : Cajus ist ein Mensch Alle Menschen sind sterblich Also ist Cajus sterblich.

Die Thatsache nun, dass unsere logischen Urtheilsreihen sich in dies Schema oder eines der anderen Schemata der Logiker einfügen lassen , ist ja zweifellos richtig und interessant. Auch mag es für gewisse Zwecke ganz vortheilhaft sein , unsere Ur- theilsreihen in ein solches Schema zu bringen. Entschieden aber müssen wir bestreiten, dass unser gewöhnliches naives Denken je in diesen Schlussformen der Schullogik denkt. Unser natür- liches Denken weiss von keinem Major und Minor, sondern spielt sich einfach in der Urtheilsassociation : »Cajus Mensch sterb- lich« ab. Wir sehen z. B. »Cajus«. Mit der Gesichtsempfindung associiert sich die Vorstellung »Mensch«, mit dieser die Vorstel- lung »sterblich«. Alles Schliessen ist also ebenso wie alles Ur- theilen lediglich Association und das Schliessen noch dazu eine Form der Association, die psychologisch fast bedeutungslos ist.

Selbstverständlich, m. H., kann ich Ihnen hier auf dieser psychologischen Basis nicht das ganze Schulgebäude der Logik entwickeln. Wie früher in das Gebiet der Aesthetik , so ist uns jetzt in das Gebiet der Logik nur eine flüchtige Perspective ge- stattet. Die physiologische Psychologie stellt nur fest, wie unser Denken thatsächlich stattfindet, und wie wir es in Parallele zu materiellen Vorgängen setzen können ; das Problem der Logik, welches formale Denken zu sog. wahren Urtheilen führt und welches nicht, gehört nicht in die Psychologie. Das grosse Problem der physiologischen Psychologie besteht darin, die zahlreichen verschiedenen Formen unseres Denkens bis hinauf zu dem com- pliciertesten Beweis sämtlich auf die einfache Ideenassociation und ihre Gesetze zurückzuführen. Von der vollständigen Lösung dieses Problems ist die physiologische Psychologie noch weit entfernt. Ich konnte Ihnen daher nur ganz kurz skizzieren, in welcher Richtung ungefähr die Lösung des Problems zu suchen sein wird. Es ist wahrscheinlich , dass die eine oder andere un- serer Deductionen durch fortgesetzte Forschungen noch eine Modi- fication erleiden wird. Der Grundgedanke, dass alle unsere Denk- processe psychologisch auf die Association von Vorstellungen zurückzuführen sind, wird jedenfalls bestehen bleiben.

Ich will Ihnen allerdings nicht verhehlen , dass speciell in Deutschland noch eine psychologische Schule allmächtig ist, welche diesen Grundgedanken nicht anerkennt. An der Spitze dieser Schule steht Wundt. Wundt1) und seine Schüler nehmen an , dass es eine grosse Anzahl von Vorstellungsverbindungen

1) Wcndt's Grundzüge d. phys. Psychologie; ausserdem finden Sie eine Darstellung der in Rede stehenden Theorie in Wundt's Logik, Bd. 1, S. 10 ff.

/. lehe n , Physiologische Psychologie. 2 Aull. 1 1

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giebt, welche aus der Ideenassociation sich nicht erklären lassen. Dieselben nehmen daher ein besonderes Seelenvermögen an, welches über der Ideenassociation steht und welches sie als Ap- perception bezeichnen. Die Ideenassociation führt der Apper- ception fortwährend Vorstellungsmaterial zu, und die Apperception wählt nun unter diesem Vorstellungsmaterial aus. Bald wendet sie sich dieser, bald jener Vorstellung zu sie heisst dann Auf- merksamkeit — bald verschmilzt sie diese und jene Vorstellung zu einer zusammengesetzten Vorstellung, bald endlich innerviert sie Bewegungen und heisst dann Willen. Sie können sich denken, dass diese Hypothese sehr bequem ist. Alles, was sich nicht sehr einfach aus der Ideenassociation erklären lässt, wird der Thätig- keit eines höheren Wesens oder Seelenvermögens zugeschrieben. Dabei ist dieses ein völlig unbekanntes x. Alles, was man so oft und mit so viel Recht gegen die Lehre von den sog. Seelenver- mögen geltend gemacht hat, spricht auch gegen diese meta- physische Apperception. Auch hier wird in willkürlicher Weise einer Reihe von Vorgängen ein actives Subject zu Grunde gelegt als wirkende Ursache dieser Vorgänge. Wundt hat dann weiter- hin seiner Lehre einen physiologischen Anstrich gegeben, indem er die Annahme hinzufügte, dass diese Apperception im Stirnhirn localisiert sei. Dadurch tritt jedoch das Widerspruchsvolle dieses Begriffes in noch grellere Beleuchtung : ein von jeder mechani- schen Causalität im Grunde genommen unabhängig schaltendes Seelenvermögen wird , um es dem naturwissenschaftlichen Sinne unseres Zeitalters plausibler zu machen, wenigstens an eine be- stimmte Stelle des Gehirns localisiert, und so sollte vermeintlich eine Anknüpfung an die Hirnphysiologie gewonnen werden. Aber die letztere muss diese Anknüpfung wie die ganze Annahme einer Apperception ablehnen. Das Stirnhirn hat diese Function gar nicht. Grosse Theile desselben können zerstört sein, und doch geht diejenige Thätigkeit des Intellects, welche die WuNDT'sche Schule der Apperception zuschreibt, ungestört vor sich1). Cha- rakterveränderungen und Intelligenzstörungen können bei jeder Hirnerkrankung, sie sei localisiert wie sie wolle, auftreten. Man hat sich oft darauf berufen, dass das Homologon des Stirnhirns bei den Thieren relativ verkümmert sei, und dies in Beziehung zu dem angeblichen Fehlen der Apperception bei den Thieren gesetzt. Aber diese Berufung ist unberechtigt: die Sprechbe- wegung, die Schreibbewegung und endlich die Rumpfbewegungen werden von der Rinde des Stirnhirns ausgelöst, und dem ent- spricht, dass Sprache , Schrift und aufrechter Gang dem Thiere fehlen. Zieht man dies in Betracht, so ist das Stirnhirn des Affen relativ mindestens ebenso gross, als das des Menschen. Also für eine Localisation der hypothetischen Apperception fehlt jeder An- halt. Auch diese nachträglich eingeschobene Stütze der hypo- thetischen Apperception bricht zusammen. Wir werden also auf die Annahme dieses metaphysischen Seelenvermögens verzichten. Statt dessen haben wir den Versuch gemacht, auch die complicier- teren Denkvorgänge aus der Ideenassociation ohne Apperception zu erklären. Freilich ist dies ausserordentlich viel mühsamer als

2) Vergl. L. Welt, Diss. Zürich, 1888.

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ein einfaches Zuweisen aller complicierteren Denkvorgänge an eine räthselhafte Apperception. Aber wir haben auch mit diesem Zuweisen gar nichts für die Erklärung der uns beschäftigenden Vorgänge gewonnen, sondern im Gegentheil uns unwiderruflich um die Möglichkeit eines psycho-physiologischen Verständnisses gebracht. Ich wiederhole es, manche unserer Erklärungen mögen noch verbesserungsbedürftig sein, aber der von uns eingeschlagene Weg ist unzweifelhaft der richtige, psycho-physiologisch der einzig annehmbare. Und unsere Erklärungen leisten , selbst wenn eine fortschreitende Erkenntniss sie corrigiert, wenigstens dies, dass sie zeigen , dass wir ohne die Annahme eines neuen psychischen Vermögens auskommen können: die Möglichkeit der Zurück- führung auch der sog. höheren Denkprocesse auf die Association der Vorstellungen ist damit bewiesen. Für uns ist das Vorstel- lungsleben gewissermaassen ein republikanisches: alle latenten Vorstellungen treten in den Wettbewerb ein, jede will sich ins Bewusstsein drängen , und über den Sieg der einen oder der anderen und damit über Reihenfolge und Ablauf unserer Vorstel- lungen entscheidet nicht eine über den Vorstellungen schwebende höhere Macht, sondern lediglich die Deutlichkeit, der begleitende Gefühlston, die Constellation und die associativen Beziehungen der Vorstellungen selbst.

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ZWÖLFTE VORLESUNG.

Aufmerksamkeit. Willkürliches Denken. Das Ich.

Gedächtniss.

M. H. ! Sie haben mit mir in den letzten Vorlesungen die Ideenassociation in ihren Grundzügen kennen gelernt. Wir sprachen von dem einfachen Wiedererkennen und der Reproduction der Erinnerungsbilder und sahen die reproducierten Erinnerungs- bilder erst zu loseren Reihen und auf einer höheren Stufe zu Urtheilen zusammentreten. Wir haben in diesen Erörterungen geflissentlich zunächst ein Element ignoriert, welches gleichwohl in unserem Denken eine grosse Rolle spielt. Ich meine das, was wir schlechthin Aufmerksamkeit nennen. Wir sagen: »ich wende meine Aufmerksamkeit bald dieser, bald jener Em- pfindung zu«, oder »ich wende meine Aufmerksamkeit bald dieser, bald jener Gedankenreihe zu«. Es scheint unserer Willkür über- lassen zu sein , ob wir diese oder jene Empfindung, oder dieses oder jenes Erinnerungsbild vorziehen , und wir könnten fürchten, dass wir uns doch zur Annahme einer über der Association schwebenden Apperception, welche willkürlich die Empfindungen und Vorstellungen beachtet oder vernachlässigt, entschliessen müssen. Dem ist jedoch nicht so. Wir wollen zunächst das Auf- merken auf Empfindungen unter- Fig. 21. suchen, und zwar an einem bestimmten Bei-

spiel. Mein linkes Auge sei geschlossen, mein rechtes offen und bewegungslos auf das Ge- sichtsfeld vor mir gerichtet. Das Gesichts- feld sei durch den beistehenden Kreis be- zeichnet. Dasselbe enthält eine grosse Reihe Gegenstände. In der Figur sind drei der- selben mit Buchstaben bezeichnet, zunächst derjenige, welcher im etwas excentrisch ge- legenen, der Macula lutea entsprechenden Mittelpunkt des Gesichtsfeldes gelegen ist, mit M, zwei beliebige andere an der Peri- pherie gelegene mit Pl und P2. Es ist nun eine unzweifelhafte Thatsache, dass wir unsere Aufmerksam- keit meist dem Gegenstand M in der Mitte des Gesichtsfeldes zu-

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wenden. Wir fixieren den Gegenstand M und glauben ihn sogar mit geringerer oder grösserer Energie fixieren zu können. Be- deutet das nun , dass eine Apperception sich willkürlich M zu- wendet und meist dies M bevorzugt? Gewiss nicht. Der Sach- verhalt erklärt sich vielmehr so : M ist in dem der Macula lutea entsprechenden Mittelpunkt des Gesichtsfeldes gelegen und wird daher, wie die physiologische Optik lehrt, deutlicher als alle mehr peripheriewärts gelegenen Objecte gesehen : Pt und P2 entwerfen auf unserer Netzhaut im Allgemeinen nur verschwommene , un- deutliche Bilder. In Folge dessen wird auch die Empfindung von M, resp. die ihr entsprechende materielle Rindenerregung Pc erstens weitaus intensiver und zweitens früheren Empfindungen ähnlicher Objecte viel entsprechender sein als die Empfindung der peripheren Objecte P, und P.,. Wir haben also den Fall, das mehrere Em- pfindungen zugleich vorhanden sind und gewissermaassen in einen Wettbewerb eintreten, welche das nächste Erinnerungsbild wecken, also den Gang der Association bestimmen darf. Dies ist nun zu- nächst von zwei Momenten abhängig, erstens von der Stärke und zweitens von der Uebereinstimmung der bezüglichen Empfindung mit einem latenten Erinnerungsbild der Hirnrinde. Zunächst je stärker die Empfindung, resp. der ihr parallele materielle Process Rc ist, um so mehr kommt ihr offenbar die Fähigkeit zu, latente P/'s in P;,'s zu verwandeln, d. h. Erinnerungsbilder zu wecken und den Gang der Ideenassociation zu bestimmen. Aber auch die erwähnte Uebereinstimmung ist wesentlich. Ich habe z. B. öfter eine Tulpe deutlich gesehen, es wird nun sehr wesentlich sein, ob eine neue Gesichtsempfindung der Tulpe den früheren ähnlich, d. h. gleichfalls deutlich und scharf ist, oder ob sie, weil das Object, die Tulpe, zu fern ist oder von den peripheren Netz- hauttheilen gesehen wird, undeutlich und verschwommen und da- her den früheren Gesichtsempfindungen unähnlich ist. In letzterem Falle wird nämlich offenbar das Wiedererkennen erschwert sein, da die Empfindung ein mit ihr völlig übereinstimmendes latentes Erinnerungsbild nicht findet ; denken Sie, bitte, hierbei wieder an die früher besprochene Abstimmung der Bahnen, welche zum Wiedererkennen erforderlich ist. Die undeutliche Empfindung der Tulpe findet keine genau auf sie abgestimmte Bahnen. Daher wird schon die erste Reproduction, die Weckung früherer ähnlicher Erinnerungsbilder, ebenso aber auch die associative Erregung der associativ mit dem Erinnerungsbild der Tulpe verknüpften Erinnerungsbilder äusserst erschwert sein. Diese Uebereinstim- mung der Empfindung mit früheren Empfindungen resp. mit den Erinnerungsbildern früherer Empfindungen entspricht auf dem Gebiet der Empfindung dem, was wir früher als Schärfe der Vor- stellung auf dem Gebiet der Erinnerungsbilder kennen lernten. Beide stehen in vollkommener Correlation. Wir können geradezu diese Ueberstimmung in 2 Factoren zerlegen : es kommt erstens dar- auf an, ob die neue Empfindung den früheren gleicht und zweitens ob die Erinnerungsbilder dieser Empfindungen noch scharf oder deutlich sind. Diese Uebereinstimmung sowie die Intensität der Empfindung sind die wichtigsten Bedingungen dafür, dass eine Empfindung in der Concurrenz mit anderen siegt, d. h. die Aufmerksamkeit auf sich zieht, Erinnerungsbilder an sich reiht und

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so die Ideenassociation bestimmt. Damit ist nun aber auch erklärt, weshalb meist gerade der im Mittelpunkt des Gesichtsfeldes gelegene Gegenstand bestimmend auf die Ideenassociation einwirkt. Er ist, wie die physiologische Optik lehrt, derjenige, welcher in der Macula lutea sich abbildet. Die Bilder der Macula lutea sind die inten- sivsten1) und daher auch die dieser entsprechenden Empfindungen. Letztere sind es wegen dieser ihrer hervorragenden Intensität denn auch, welche fast ausschliesslich Erinnerungsbilder in der Hirnrinde hinterlassen und alle späteren Empfindungen desselben Gegenstan- des stimmen mit dem zugehörigen Erinnerungsbild daher dann am meisten überein, wenn sie wiederum der Macula lutea entstammen. Auf dieser grösseren Uebereinstimmung sowie auf ihrer grösseren Intensität beruht es, dass im Allgemeinen die Empfindungen der Macula lutea die Aufmerksamkeit in besonders hohem Maasse auf sich lenken. Hier hat keine willkürlich schaltende Apperception ihre Hand im Spiel. Unser Ideengang ist necessitiert von seinem ersten Beginn an und in seinem ganzen weiteren Verlauf. Dies ist der objective Thatbestand bei dem sog. Aufmerken. Woher rührt aber die eigenthümliche Empfindung einer activen Thätigkeit, welche wir bei dem Aufmerken haben? Die Selbstbeobachtung lehrt, dass diese Empfindung eine Bewegungsempfindung ist, ent- standen durch die Innervation zahlreicher dem Fixieren dienender Muskeln, so namentlich des Accommodationsmuskels und der Mm. recti interni. Durch diese Fixation wird nun wiederum die Schärfe und Intenstiät der Netzhautbilder und damit der Empfindung ge- steigert. Die Empfindung mehr oder weniger starker Anspannung unserer Augenmuskeln ist selbst durchaus associativ entstanden, sie ist ausgelöst von dem auf die Macula lutea wirkenden Reiz. In ihren leichten Graden ist sie reflectorisch 2), in ihren stärksten Graden eine corticale Handlung in dem früher erörterten Sinn. Speciell in letzterem Fall löst die stattgehabte Innervation be- sonders zahlreiche und intensive Bewegungsempfindungen aus, und daher tritt besonders im letzteren Fall ein äusserst lebhaftes Gefühl der activen Aufmerksamkeit auf. Dies Gefühl der Auf- merksamkeit ist also in der That nur eine Begleiterscheinung; das wesentliche objective Characteristicum des aufmerksamen Empfindens gegenüber dem rein passiven Empfinden ist, dass ersteres besimmend auf die Anreihung der nächsten Vorstellungen einwirkt, letzteres nicht.

Auf Grund des Gesagten wird Ihnen auch Folgendes sofort verständlich sein. Wir wollen annehmen, dass Pl , also eines der peripher gelegenen Objecte, eine ganz ungewöhnliche Reizstärke hat: es tauche also z. B. plötzlich ein grelles Licht in der Peri- pherie unseres Gesichtsfeldes auf. Was wird dann eintreten? P1 liegt zwar ungünstig für eine exacte Abbildung auf der Netz- haut und M ungleich günstiger, aber die viel grössere Lichtinten- sität wird dies völlig ausgleichen, und trotz seiner peripheren Lage wird Px eine stärkere Netzhauterregung und daher auch

1) Da dieselben zugleich dem Gegenstand am schärfsten entsprechen, kann man auch geradezu die „Empfindungsschärfe" als Factor der Aufmerksamkeit aufführen.

2) Nach Munk handelt es sich um einen corticalen Reflex.

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eine intensivere Empfindung erzeugen als M. Die Folge in diesem mehr exceptionellen Falle ist, dass die Aufmerksamkeit sich der intensiveren Empfindung P, trotz der geringeren Schärfe der- selben zuwendet. Dieses Zuwenden der Aufmerksamkeit ist wiederum ein streng necessitiertes und bedeutet nichts anderes als erstens: die Empfindung P, (und nicht M) reproduciert ver- möge ihrer grösseren Intensität die nächsten Erinnerungsbilder und bestimmt daher den weiteren Verlauf der Ideenassociation ; und zweitens wenden wir reflectorisch oder psychisch die Augen dem grellen Licht P, zu, und diese Augenbewegung löst Be- wegungsempfindungen aus, welche das eigenthümliche Gefühl der Activität bei dem Wechsel der Aufmerksamkeit darstellen. Also auch hier wieder lediglich associative Thätigkeit und nichts anderes. Mit einiger Mühe können wir es mitunter allerdings auch erreichen, dass wir dem peripheren P1 unsere Aufmerksam- keit zuwenden , ohne die zur Einstellung des P, auf die Macula lutea erforderliche Augenbewegung zu machen. Aber wenn Sie sich bei diesem Versuch scharf beobachten, so bemerken Sie fort- während die Neigung zu Augenbewegungen, welche das P, auf die Macula lutea einzustellen geeignet sind. Meist können Sie dieselben sogar nicht völlig unterdrücken, Ihr Auge weicht mit- unter thatsächlich etwas nach der Seite ab, aber Sie corrigieren jede seitliche Abweichung sofort wieder. Also auch in diesem ganz exceptionellen Fall wirken Bewegungsvorstellungen und Be- wegungsempfindungen fortwährend mit.

Wir betrachten nunmehr weitere Momente, welche ausser der Intensität der Empfindung und ausser dem Grad ihrer Ueberein- stimmung mit dem zugehörigen latenten Erinnerungsbild für den Einfluss einer Empfindung auf den Vorstellungsablauf maassgebend sind. Lassen Sie uns bei dem oben gegebenen Beispiel des ruhen- den Auges bleiben ! Wir wollen uns als P2 einen Gegenstand vorstellen , der in der Peripherie des Gesichtsfeldes gelegen ist und nur sehr geringe Reizintensität hat, der also eine Empfindung auslöst, welche an sich wenig geeignet ist, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die Ideenassociation zu bestimmen. Wir fügen jedoch nun die weitere Annahme hinzu, dass der Gegen- stand P2 ein sehr intensives Lustgefühl auslöst oder, anders ge- sprochen, dass die Empfindung des P.z von sehr starken positiven Gefühlstönen begleitet ist: es tauche also z. B. in der Peripherie des Gesichtsfeldes ein zwar matter, aber in den schönsten Farben schillernder Stern auf. Trotz geringerer Lichtintensität und trotz geringerer Schärfe wird dies Netzhautbild alsbald meine Auf- merksamkeit erregen: ich werde mein Auge dem Stern zuwenden, und meine nächsten Vorstellungen werden von dieser Empfindung und nicht von der durch M ausgelösten bestimmt werden. Ganz dasselbe gilt von Empfindungen mit starken negativen Gefühls- tönen : auch sie können trotz geringer Intensität und Schärfe ver- möge des starken begleitenden Unlustgefühls die Aufmerksamkeit von intensiveren und schärferen, aber gefühlschwachen Empfin- dungen ablenken und letzteren den Einfluss auf den Ablauf der Ideenassociation streitig machen. So kann ein leiser Accord mitten unter zahlreichen lauteren Geräuschen Ihre Aufmerksamkeit fesseln : Sie lauschen, d. h. Sie spannen Ihr Trommelfell und wenden den

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Kopf, um den Accord möglichst deutlich zu hören, und Ihre Vor- stellungen beschäftigen sich mit dem Accord. Auch hier haben Sie wieder die Elemente jedes Aufmerkens: eine Empfindung löst vermöge irgend welcher Eigenschaften, hier z. B. vermöge ihres starken positiven Gefühlstones Bewegungen aus und, was wesent- licher ist, bestimmt den Ablauf der Ideenassociation. Die durch die Bewegungen erzeugte Bewegungsempfindung giebt dem Auf- merken jenes eigenthümliche Gefühl der Activität. Ganz Aehn- liches findet statt, wenn eine leise, aber sehr unangenehme Disso- nanz in einer Menge von Tönen oder Geräuschen vorhanden ist: sie zieht ebenfalls die Aufmerksamkeit in hohem Grade auf sich. Wir haben also noch einen dritten Factor kennen gelernt, welcher ebenfalls den Einfluss einer Empfindung auf die Ideenassociation im hohen Maasse mitbestimmt : die Stärke des Gefühlstons kommt zu der Empfindungsschärfe und Empfindungsintensität hinzu. Jedoch auch hiermit haben wir noch nicht alle Factoren erschöpft. Es ist nämlich für die Frage, welche Empfindung die Association bestimmt, durchaus nicht gleichgültig, welche Vorstellungen in den letzten Minuten oder Stunden vorausgegangen sind und welche noch besonders lebhaft sind und welche sich gegenseitig hemmen und welche sich stützen. Kurz, alles, was wir früher als Constel- lation der Vorstellungen bezeichnet haben, ist ebenfalls von Ein- fluss. Nehmen Sie wieder ein einfaches Beispiel : ich gehe spazieren, zahllose Gesichtsempfindungen werden fortwährend in mir geweckt. Je nachdem nun z. B. die Vorstellung mir etwa begegnender Spaziergänger bei mir leicht weckbar vorhanden ist oder wegen Ueberwiegens anderer Gedanken völlig gehemmt wird, wird die Gesichtsempfindung eines begegnenden Freundes oder Fremden meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen und meine weiteren Be- wegungen und Vorstellungen bestimmen, oder ich werde zerstreut und achtlos an dem Begegnenden vorübergehen und z. B. der Gesichtsempfindung der Landschaft, welcher meine latente Vor- stellungsconstellation günstiger ist, meine Aufmerksamkeit zu- wenden. Die Gesichtsempfindung des Freundes kann unter Um- ständen noch so scharf und intensiv und noch so gefühlsstark sein, in Folge einer ungünstigen Constellation der latenten Vor- stellungen, oder anders ausgedrückt, in Folge der geringen Energie der latenten Vorstellung des Freundes überwiegen andere Em- pfindungen und bestimmen den Gang der Ideenassociation. Bei dem sogenannten »Suchen« und bei der »gespannten Erwartung« haben Sie typische Fälle des Einflusses der Constellation. Die Gesichtsvorstellung des gesuchten und erwarteten Gegenstandes erfüllt mich fortwährend: zahllose Empfindungen treten auf; trotz ihrer Schärfe und Intensität fesselt mich keine. Sobald hingegen nur in der Peripherie des Gesichtsfeldes der gesuchte Gegenstand, sei es auch noch so schwach und undeutlich, auftritt, bemerke ich ihn und richte meine Aufmerksamkeit auf ihn : derselbe be- stimmt nun meine weiteren Bewegungen und Vorstellungen. Die Constellation ist hier das Bestimmende für die Aufmerksamkeit und neben derselben allerdings auch das der gesuchten Empfin- dung anhaftende Lustgefühl, welches ja eben das Suchen be- gründet.

Wir wollen die Gesamtheit aller Factoren, welche entscheiden^

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ob eine Empfindung Gegenstand der Aufmerksamkeit wird und die Ideenassociation bestimmt, den associativen Impuls der Empfindung nennen. Wir haben dann also gesehen , dass der associative Impuls oder das associative Moment einer Empfindung von der Intensität, Ueberstimmung mit dem latenten Erinnerungsbild * ), der Stärke des begleitenden Gefühlstons und endlich viertens von der zufälligen Constellation der Vorstellungen abhängig ist. Diese vier Factoren entscheiden zwischen den concurrierenden Empfindungen Sie haben jedenfalls bereits die Analogie bemerkt, welche zwischen dem Wettbewerb der Em- pfindungen um die Aufmerksamkeit 2 ) und dem Wettbewerb der latenten Vorstellungen um die Stelle F2 besteht. Die Analogie ist sehr begreiflich , wenn wir uns vergegenwärtigen, dass auch die Aufeinanderfolge der Vorstellungen als ein successives Aufmerken auf Vorstellungen aufgefasst werden kann. Es besteht jedoch auch ein wesentlicher Unterschied : die in den Wettbewerb eintreten- den Empfindungen sind alle bewusst, d. h. psychisch wirklich vorhanden , die in den Wettbewerb eintretenden Vorstellungen sind ausser der einen siegenden psychisch latent. Ferner ist bei dem Wettbewerb der Vorstellungen die auf Gleichzeitigkeit beruhende äussere associative Verwandtschaft, bei dem Aufmerken die auf Aehnlichkeit beruhende innere associative Verwandtschaft ein maassgebender Factor.

Den successiven und simultanen Contrast habe ich unter den Componenten des associativen Moments nicht besonders genannt, obwohl der Einfluss beider auf die Aufmerksamkeit unzweifelhaft ist. Auf dem weissen Tuch fällt uns ein kleiner schwarzer Fleck besonders auf, und je plötzlicher ein Object in voller Intensität auf einem anders gefärbten Hintergrund erscheint, um so mehr zieht es unsere Aufmerksamkeit an sich. Offenbar lässt sich dieser Einfluss des Contrastes bereits aus den obigen Factoren ableiten. Eine im Raum oder Zeit sehr einförmige Empfindung büsst, wie wir früher gesehen haben, rasch an Intensität und Gefühlsstärke ein : die Vorstellungsthätigkeit ermüdet, die günstige Constellation erschöpft sich. Es ist daher durchaus verständlich, dass jede mit diesen momentanen Empfindungen contrastierende, plötzlich neu auftretende Empfindung im Wettstreit der Empfindungen um die Aufmerksamkeit siegt. Bei dem simultanen Contrast kommt meist namentlich der starke Gefühlston sowie die Constellation zu Gunsten der einzelnen contrastierenden Empfindung in Betracht.

Nochmals hebe ich hervor, dass in weitaus der Mehrzahl von Fällen die erste Vorstellung, welche von der siegenden Empfin- dung ausgelöst wird, eine Bewegungsvorstellung ist, und zwar die Vorstellung derjenigen Bewegung, welche geeignet ist, das Sinnesorgan auf den siegenden Reiz genau einzustellen und so die Schärfe und Intensität der Empfindung noch weiter zu heben. Sie wissen ferner bereits, dass die Bewegungsvorstellung -- ge- nügende Lebhaftigkeit vorausgesetzt an sich hinreichende Ur- sache der bezüglichen Bewegung ist. So ist also die erste Folge

1) Event, könnte dieselbe auch als innere associative Verwandtschaft bezeichnet werden.

2) Gewissermaassen um das Recht der Besetzung von V1.

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der meisten Empfindungen , auf welche wir aufmerken 1 ), eine Bewegung und zwar speciell eine Fixierbewegung. Diese Fixier- bewegungen sind für Auge und Ohr am höchsten entwickelt. Für die Hautsensibilität tritt bei dem Aufmerken meist eine allgemeine tonische Spannung aller die Reizstelle benachbarten Muskeln ein. Erst dann reihen sich die weiteren Vorstellungsassociationen an. Aus diesen Thatsachen geht hervor, dass jeder Empfindung ein ge- wisses motorisches Moment sit venia verbo oder ein moto- rischer Impuls zukommt. Dass dieser motorische Impuls stets so erfolgt, dass die Empfindung schärfer und intensiver wird, der Reiz also geradezu eingestellt wird , ist unzweifelhaft ausserordentlich zweckmässig und die Folge einer langen Selection. Diejenige Em- pfindung, welche unser Denken beschäftigen wird, wird gewisser- maassen im voraus, bevor dies Denken beginnt, erst noch ver- schärft. Sie können sich selbst sehr leicht construieren, wie sich wohl ein solcher Connex phylogenetisch entwickelt hat2). Ich will hier nur nochmals hervorheben, dass viele dieser Einstellungs- bewegungen bei uns unbewusst, also als rein materielle Vorgänge, also als Reflexe oder Reactionen stattfinden. Die Bewegungsvor- stellung wird übersprungen, und nur die Thatsache, dass die Be- wegung der Einstellung erfolgt ist, beweist uns, dass eine latente Bewegungsvorstellung angeregt worden ist. So ist die Drehung des Kopfes nach der Richtung eines Schalles in vielen Fällen eine durchaus unbewusste. Endlich existieren gewisse Einstel- lungen, wie die Accommodation, welche stets oder fast stets rein reflectorisch stattfinden.

Nachdem die Empfindungen einmal die Ideenassociation an- geregt haben, ist der weitere Verlauf Ihnen aus der letzten Vor- lesung bereits bekannt. Derselbe kann ein doppelter sein. Meist unterscheidet man nämlich das sogenannte willkürliche Denken von dem unwillkürlichen Gedankenablauf. Dieser Unter- schied ist kein principieller. Am meisten scheint uns unser Denken willkürlich bei dem sogenannten »Sich-auf-etwas-besinnen«. Das Räthsel, an dem das Kind, das Problem, an dem der Denker sich abmüht, beide sind nur Varianten dieses Sichbesinnens. Worin besteht nun hier die scheinbare Willkürlichkeit des Nach- denkens? ä) Genaue Selbstbeobachtung lehrt Folgendes: das so- genannte willkürliche Denken ist dadurch ausgezeichnet, dass die gesuchte Vorstellung x schon implicite z. Th. durch sehr com- plicierte Associationen in den ersten die Associationsreihe ein- leitenden Vorstellungen und auch in den weiteren Vorstellungen stets enthalten ist. Aber dazu kommt noch ein weiterer wichtiger Factor: wenn Sie scharf nachdenken, treten eine Reihe leiser Muskelinnervationen ein, welche Sie erst bei scharfer Selbstbeob-

1) Empfindungen , denen die Aufmerksamkeit zugewandt wird, be- zeichnen wir als Wahrnehmungen. Freilich ist dies Wort von den Psychologen nachgerade in so viel verschiedenen Bedeutungen angewandt worden, dass seine Verwendbarkeit entschieden gelitten hat.

2) Zunächst namentlich deshalb, weil er conipliciertere und exactere Abwehrbewegungen ermöglicht.

3) Vergl. die z. Th. ähnlichen Ausführungen in Münsterberg, Die Wlllenshandlung, Freiburg 1888.

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achtung entdecken, und welche bei dem sogenannten willkürlichen Denken selten ganz fehlen. Sie runzeln leicht die Stirn, pressen die Zähne etwas fester aufeinander, häufig kommt auch eine leichte tonische Spannung der Lippen und Nackenmusculatur hinzu1). Alle diese Innervationen vollziehen wir meist unbewusst und wir haben von diesen einzelnen Bewegungen auch keine isolierten Empfindungen, aber die Summe derselben erzeugt jene eigen- thümliche Gesamtempfindung, welche wir bei dem »Sich-auf-etwas- besinnen«, wie. überhaupt bei dem sogenannten willkürlichen Nach- denken haben. Sehr treffend-) bezeichnet auch unsere Sprache diesen Zustand als »Spannung«. Dieser Complex von Bewegungs- empfindungen verleiht oft unserem Denken den Charakter der Aufmerksamkeit und einen Schein von Willkür und Activität, den es thatsächlich gar nicht hat. Wir können nicht denken, wie wir wollen, sondern wir müssen denken, wie die gerade vor- handenen Associationen bestimmen.

Aber es kommt noch ein weiterer Umstand hinzu, um diesen Schein der Willkür zu verstärken. Im Lauf der ontogenetischen Entwicklung des Individuums bildet sich allmählich ein eigen- thümlicher Complex associativ verbundener Erinnerungsbilder, welchen wir als die Ich-Vorstellung bezeichnen. Mühsam grenzt sich bei dem Kind die Vorstellung des eigenen Leibes als ver- schieden von der der umgebenden Welt ab. Im Anfang ist für das Kind kein Unterschied zwischen der betastenden Hand und dem betasteten Gegenstand. Der Mond, nach welchem das Kind greift, und sein eigener Fuss, nach welchem es fasst, stehen ihm gleich nahe. Dies ändert sich erst allmählich. Das Kind lernt Objecte, d. h. räumliche Complexe von Gesichts- und Berührungs- empfindungen, welche sich mit activen Bewegungsempfindungen associieren, und solche, welche meist ohne active Bewegungs- empfindungen auftreten, unterscheiden. Die ersteren entsprechen in ihrer Gesamtheit unserem eigenen Körper, die letzteren den Objecten der Aussenwelt. Manche andere Momente befestigen und erweitern dann diese Unterscheidung. Wenn zwei Gesichts- empfindungscomplexe der zweiten Art, also zwei äussere Objecte sich berühren, so tritt keine Berührungsempfindung auf. Wenn sich hingegen zwei Gesichtsempfindungscomplexe der ersten Art, also zwei meiner eigenen Körpertheile, z. B. Hand und Gesicht, berühren, so tritt eine doppelte Berührungsempfindung auf; berührt sich endlich eine Gesichtsempfindung der ersten Art mit einer der zweiten Art, so tritt eine einfache Berührungsempfin- dung auf. Von der Gesamtheit aller Empfindungen der ersten Gattung, also der Gesamtheit aller Einzelempfindungen meines

1 [nteressant ist, dass bei Thieren, spec. beim Atfon Stirnrunzeln als Ausdrucksbewegung der Aufmerksamkeit nicht vorzukommen scheint ; wohl aber hat Darwin als Ausdrucksbewegung des Aufmerkens bei einem jungen Orang Schliessung und Vorstreckung der Lippen beobachtet.

2) Sehr interessant ist auch die früher schon gelegentlich erwähnte Beobachtung Lange's, dass bei dem Auftauchen optischer Erinnerungs- bilder häufig leichte unbewusste Augenbewegungen eintreten: ich denke z. B. an eine lange Strasse, und unbewusst machen meine Augen eine leichte Seitwärtsbewegung, als ob sie die Eäuserreihe verfolgten.

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eigenen Körpers bleibt ein Erinnerungsbild zurück : die Vorstellung meines eigenen körperlichen Ich's3). Anfangs schwankt dieselbe noch ausserordentlich. Dies Ich des Kindes ist anfangs nichts als Hunger- und Sättigungsgefühl, Schmerz, Freude am Licht und an der Bewegung. Erst allmählich wird die Körperoberfläche räumlich construirt und dadurch die Vorstellung des eigenen Leibs geschaffen. Allmählich kommt hierzu auch in langsamer Entwicklung die Vorstellung meines geistigen Ich's, d. h. eine Gesamtvorstellung aller der Erinnerungsbilder, welche in meiner Hirnrinde vorhanden sind. Noch viel mühsamer erwerben wir diese Gesamtvorstellung, als die unseres körperlichen Ich's. Ich muss Sie hier zurückverweisen auf das, was ich Ihnen in einer früheren Vorlesung über die Entstehung von Begriffen ohne äussere Empfindungsgrundlage sagte. Ich setzte Ihnen ausein- ander, dass unser ganzes psychisches Leben sich aus Empfin- dungen und Vorstellungen aufbaut, dass letztere zunächst in der Regel aus Empfindungscomplexen hervorgehen, dass jedoch auch Vorstellungscomplexe in uns entstehen, die in ihrer Gesamtheit keinem wirklich erlebten Empfindungscomplex entsprechen. Viel- mehr stellen diese Vorstellungen ganz subjective Vorstellungs- combinationen dar. So entsteht allmählich auch ein Vorstellungs- complex, in welchen meine hauptsächlichsten und intensivsten, von den stärksten Affectionen begleiteten Vorstellungskreise als Elemente eingehen. Die Gesamtsumme meiner augenblicklichen Neigungen und meiner augenblicklich dominierenden Vorstel- lungen ist ein wesentlicher zweiter Theil dieser meiner Ich-Vor- stellung. Aber ausser der Vorstellung meines jetzigen körper- lichen und geistigen Ich's ist an der gewöhnlichen Ich- Vorstellung als drittes Glied sehr wesentlich die Gesamtvorstellung betheiligt, welche mir von der Succession meiner wichtigsten geistigen und körperlichen Erlebnisse in der Vergangenheit zurückgeblieben ist. Es wird Ihnen vielleicht auflallen, dass die mit dem kurzen kleinen Wort Ich bezeichnete Ich-Vorstellung ein so complexes dreiglied- riges Gebilde sein soll, an welchem tausend und aber tausend Theilvorstellungen betheiligt sein sollen. Aber ich bitte Sie zu erwägen: das Wort ist zwar kurz, aber dass sein Vorstellungs- inhalt sehr complex sein muss, geht schon daraus hervor, dass jeder von Ihnen in Verlegenheit gerathen wird , wenn er den Denkinhalt seiner sogenannten Ich -Vorstellung angeben soll : Sie werden alsbald an Ihren Körper denken , an Ihre Relation zur Aussenwelt, Ihre verwandtschaftlichen und Eigenthumsbeziehungen, Ihre Namen und Titel, Ihre Hauptneigungen und dominierenden Vorstellungen und endlich an Ihre Vergangenheit und damit selbst den Beweis führen, wie äusserst zusammengesetzt diese Ich- Vor- stellung ist. Freilich reduciert der reflectierende Mensch diese Compliciertheit der Ich- Vorstellung wieder auf eine relative Ein- fachheit, indem er den äusseren Objecten und anderen Ich's sein eigenes Ich als das Subject seiner Empfindungen, Vorstellungen und Bewegungen gegenüber stellt. Gewiss hat auch diese Ge- genüberstellung und diese Vereinfachung der Ich -Vorstellung ihre tiefe erkenntnisstheoretische Begründung, aber, rein psychologisch

1) Vergl. Mkynekt, Gehirn und Gesittung. Wien 1889.

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betrachtet, ist dieses einfache Ich nur eine theoretische Fiction. Die empirische Psychologie kennt nur jenes zusammengesetzte Ich, wie ich es Ihnen eben sehr kurz und nur in seinen Haupt- zügen skizziert habe. Bei unserem gewöhnlichen naiven Denken nun schreiten wir von Vorstellung zu Vorstellung und von Ur- theil zu Urtheil fort, ohne dass diese complicierte Ich-Vorstellung auftaucht. Anders bei jenem, von uns oben besprochenen, sog. willkürlichen Denken : hier taucht oft zwischen den einzelnen Vorstellungen und Urtheilen die Ich -Vorstellung auf, und zwar mit der speciellen Beziehung, dass diese Ich -Vorstellung als Ursache meiner Vorstellungs- und Urtheilsreihe gedacht wird. Weiterhin trägt auch die Sprache , indem sie gewissermaassen unsere Empfindungen und Vorstellungen immer registriert, mittelst der Sprechbewegungsempfindungen , welche auch bei dem laut- losen Denken selten ganz fehlen, dazu bei, uns ein über unseren Empfindungen und Vorstellungen schwebendes , dieselben regist- rierendes Ich vorzutäuschen. Dies Mitschwingen der Ich -Vorstel- lung findet übrigens nicht stets statt. Bei dem angestrengtesten Nachdenken und Grübeln vergessen wir oft, dass wir es sind, die suchen: aber im Allgemeinen ist es richtig, dass das sog. will- kürliche Denken meist von jener Ich -Vorstellung begleitet ist.

Recapitulieren wir nochmals die drei Momente , welche das sog. willkürliche Denken auszeichnen : es war dies erstens die Eigenthümlichkeit, dass eine gesuchte Zielvorstellung schon im- plicite in den vorausgehenden Vorstellungsreihen enthalten war, zweitens ein Complex begleitender Muskelspannungen resp. Be- wegungsempfindungen, welche für die Aufmerksamkeit bezeich- nend sind, und endlich drittens das Nebenhergehen der Ich -Vor- stellung neben der Vorstellungsreihe. Sie hörten zugleich, dass diese Momente sämtlich zwar meist , aber nicht stets vorhanden sind, und dass sie einzeln auch bei dem sog. nicht- willkürlichen Denken vorkommen. Sie entnehmen aber aus dem Gesagten auch weiterhin , dass dieses willkürliche Denken gar keine Son- derstellung einnimmt. Es bleibt ganz im Rahmen der Ideenas- sociation, wie wir sie ausführlich kennen gelernt haben. Unser Denken ist nie willkürlich, es ist stets wie alles Geschehen streng necessitiert Die Freiheit, welche wir bei den sogenannten will- kürlichen Denkacten zu besitzen glauben, ist nur eine scheinbare ; und dieser Schein von Freiheit ist durch die obigen drei Momente vollständig psychologisch erklärt.

Der gemeine Sprachgebrauch sowohl wie die philosophischen und psychologischen Theorien haben noch zahlreiche andere be- sondere Formen der Ideenassociation hervorgehoben und durch ein besonderes Wort ausgezeichnet. Verstand, Vernunft, Urteils- kraft, Scharfsinn, Phantasie etc. gehören hierher. Zugleich hat sich von jeher das Bestreben geltend gemacht, diese mit mehr oder weniger Recht besonders hervorgehobenen Thätigkeiten zu substanzieren und ebenso viel verschiedenen Seelenvermögen zu- zuschreiben. Dem gegenüber halten wir daran fest, dass alle jene Thätigkeiten nur Abarten der Ideenassociation darstellen. _ Es wäre gar nicht schwer, rein psychologisch alle diese Thätigkeiten auf unsere Grundform der Ideenassociation zurückzuführen. Die Schwierigkeiten, welche diesen Begriffen anhaften, liegen im We-

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sentlichen nur in der Verquickung mit erkenntnisstheoretischen und metaphysischen Begriffen, sowie in der höchst schwankenden Anwendung, welche Völker wie Philosophenschulen von jenen Worten gemacht haben. Wir wollen hier nur noch eine Seite der Ideenassociation besonders hervorheben: das Gedächtniss oder Erinnerungsvermögen, und ich will Ihnen an diesem Beispiel auseinandersetzen , wie physiologisch - psychologisch überhaupt solche Seelenthätigkeiten aufzufassen und auf die Ideenassociation zurückzuführen sind. Damit wir uns eines Gegenstandes resp. einer Empfindung erinnern , ist offenbar zweierlei erforderlich : erstens muss das Erinnerungsbild des Gegenstandes intact sein, und zweitens muss die Association als solche normal von Statten gehen. Das letztere ist nur in Fällen von grosser Ermüdung und von Geisteskrankheit nicht der Fall: dann kann die Ideenas- sociation so verlangsamt und schliesslich sogar so vollständig ge- hemmt sein , dass kein Erinnerungsbild reproduciert wird. Das latente Erinnerungsbild Ri ist intact, aber der materielle Process, welcher dies Ri in Rv verwandeln und damit das Erinnerungsbild in das psychische Leben rufen sollte, ist nicht kräftig genug, diese Aufgabe zu erfüllen. Dieses Vergessen ist ein vorüber- gehendes. Anders das Vergessen, welches durch Erlöschen der Erinnerungsbilder entsteht. Sie haben schon früher gehört, dass die latenten Erinnerungsbilder in den ersten fünf Minuten nach ihrem Niederlegen wenig oder gar nicht an Schärfe verlieren. Dann aber beginnt die langsame Arbeit des Stoffwechsels, welche die materiellen Dispositionen, die 12/ 's, allmählich verwischt, oder, in das Psychische übersetzt : allmählich verlieren die Erinnerungs- bilder an Schärfe. Je seltener sie reproduciert werden, um so rascher tritt dies ein. Auch individuell kommen grosse Verschieden- heiten vor: bei dem einen Individuum werden die Dispositionen weniger fest und rascher verwischbar angelegt als bei dem anderen. Wir schreiben dann dem einen ein »schlechtes« , dem anderen ein »gutes Gedächtniss« zu. Aber auch unter Berücksichtigung aller dieser Umstände bleibt Vergessen und Gedächtniss etwas ganz Relatives. Erwägen Sie, bitte, dass die Reproduction einer Vorstellung in einem bestimmten Augenblicke auch von ihrem Gefühlston, von der associativen Verwandtschaft zu der voraus- gegangenen Vorstellung und von der Constellation der latenten Vorstellungen abhängig ist! Sind diese ungünstig, so kann selbst das schärfste Erinnerungsbild latent bleiben. Wir pflegen dann zu sagen: »dieses oder jenes fällt mir gerade nicht ein.« Sie sehen also , dass dies scheinbar so einfache Vermögen des Gedächtnisses sich auflöst in einen viel complicierteren Vor- gang, der jedoch in allen seinen Varianten uns nichts anderes zeigt als die uns bekannten Ideenassociationen und ihre Gesetze *).

1) Hering („Ueber das Gedächtniss als eine allgemeine Function der Materie", 1876) hat jeder organisierten Materie Gedächtniss zugeschrieben. Hier wird das Wort Gedächtniss auch auf Vorgänge übertragen, welche von psychischen Parallelprocessen nicht nachweislich begleitet sind. Von dieser Erweiterung des Begriffes sehen wir hier ganz ab. Vergl. auch Meinong, Vierteljahrsschrift f. wiss. Philos., X. John. Huber, Das Ge- dächtniss, 1878. Plato, Theaetet.

Hieraus werden Sie auch ermessen, wie ausserordentlich schwierig- exacte Experimentaluntersuchungen über das Behalten und Vergessen sind: es ist eben kaum möglich, wenn man z. B. versucht, den Einfluss der verstrichenen Zeit auf das Behalten festzustellen, die anderen Factoren : Stimmung, Constellation, Aufmerksamkeit etc. während aller Versuchsreihen durchaus gleich und constant zu erhalten. Immerhin liegen gerade für das Gedächtniss sehr zuverlässige, mühselige Untersuchungen von Ebbixghaus vor l). Ebbinghaus stellte sinnlose Silbenreihen von verschiedener Länge zusammen und prägte sich dieselben durch wiederholtes lautes Durchlesen so weit ein , dass er sie gerade eben reproducieren konnte. Nach bestimmten zeitlichen Inter- vallen, z. B. nach 20 Minuten, nach 1, 2 Tagen u. s. f., stellte er fest, wie viel Mal oder wie lange er die z. Th. wieder vergessene Silbenreihe wieder durchlesen musste, um sie abermals eben re- producieren zu können. Damit hatte er ein Maass für den Grad des Vergessens gewonnen. Es ergab sich, dass dasselbe anfangs sehr langsam , dann rasch und später wieder sehr langsam vor sich geht. Eine Stunde nach dem Aufhören des Lernens war das Vergessen so weit vorgeschritten , dass über die Hälfte der ursprünglich aufgewandten Zeit erforderlich war, um die Reihen wieder einzuprägen. Nach 8 Stunden war über 2/3 der ursprüng- lichen Zeit zum Wiedererlernen nothwendig, nach 1 Monat ca.4/.-. Es lassen sich diese Zahlen wenigstens annähernd durch folgen- des Gesetz ausdrücken: »Die Quotienten aus Behaltenem und Ver- gessenem verhalten sich etwa umgekehrt wie die Logarithmen der verstrichenen Zeit«. Bemerkenswerth ist auch das Resultat desselben Verfassers, dass sinnvoll zusammengestellte Silbenreihen, also z. B. die Verse eines Epos, sich zehnmal leichter merken als sinnlose Silbenreihen. Wir wollen von der Richtigkeit der Zahl 10 ganz absehen , jedenfalls ergiebt sich , dass die Theilvorstel- lungen eines Vorstellungscomplexes um so fester haften, je enger sie associativ namentlich durch Urtheilsassociationen verbunden sind. Bei der Reproduction unterstützen sich die associativ ver- bundenen Vorstellungen gegenseitig in dem, was wir Constellation nennen : sie sind sich gegenseitig, wie Herbart es nannte, »Hül- fen«. Ferner fand Ebbinghaus, dass zum Einprägen einer 7 8- silbigen Reihe einmaliges Durchlesen genügt. Zum Einprägen einer Reihe von 24 Silben sind bereits 44 Wiederholungen er- forderlich.

Aehnlich exacte Untersuchungen , wie sie hier Ebbinghaus für das Erinnerungsvermögen geliefert hat, stehen für die meisten anderen psychischen Vorgänge noch aus. Ich beschränke mich daher darauf, Ihnen nochmals zu wiederholen, dass auch sie sich mühelos auf die Ideenassociation und ihre Gesetze zurückführen lassen.

1) H. Ebbinghaus, Ueber das Gedächtniss. Untersuchungen zur experimentellen Psychologie, Leipzig 1885. Wolff's Arbeit (Thilos. Stud., III) enthält eine Specialuntersuchung über das T 0 n gedächtniss.

DREIZEHNTE VORLESUNG. Krankhaftes Empfinden und Denken. Schlaf. Hypnose.

Wir haben bis jetzt nur das wache Denken des gesunden Menschen betrachtet. Ich muss Sie jetzt bitten, für kurze Zeit mit mir in die labyrinthischen Regionen des geisteskranken Seelenlebens hinabzusteigen. Sie werden hier gerade in den Ab- weichungen zahlreiche Bestätigungen unserer Sätze finden. Sie erinnern sich, dass wir jeden psychischen Process auf das ein- fache Schema einer Empfindung .E, an welche eine Reihe von Vorstellungen V„ V2, V3 u. s. f. sich nach den Associations- gesetzen anknüpfen, zurückführten. Die Empfindung E war stets durch einen äusseren Reiz R bedingt, die Vorstellungen Vx u. s. f. stammten von früheren Empfindungen, deren zurückgebliebene materielle Dispositionen, die iVs, durch den Associationsprocess in RvS verwandelt und so ins psychische Leben gerufen, d. i. re- produciert werden. Welche Abweichungen von diesem normalen Process kommen nun im Leben des Geisteskranken vor? Ich möchte Sie hier zunächst auf eine eigenthümliche Erscheinung aufmerksam machen, welche man als secundäre Sinnesempfindung1) bezeichnet hat. Diese besteht darin, dass eine durch einen äusseren Reiz in normaler Weise erzeugte Sinnesempfindung zugleich auf dem Gebiet eines anderen Sinnes eine Empfindung auslöst, für welche jeder correspondierende Reiz fehlt. Ein einfaches Beispiel ist folgendes: Ich höre einen lauten hohen Ton und sehe dabei zugleich einen Blitz vor den Augen. Hier ist die Gesichtsempfin- dung des Blitzes entstanden ohne irgendwelche adäquate Reiz- ursache im Gefolge einer normalen Gehörsempfindung. Umge- kehrt erzeugt ein helles Licht ausser der primären Lichtempfin-

1) Gad und Goldscheider (Verhandl. d. Berl. physiol. Gesellsch., Oct. 1890) haben neuerdings einen ganz anderen Vorgang als „Secundär- empfindung" bezeichnet : nach wiederholten Inductionsschlägen oder e i n - maligen mechanischen Reiz tritt zuweilen ausser der ersten Empfindung c. 0,9 See. später eine zweite ähnliche Empfindung auf. Diese Secundär- empfindung, welche wahrscheinlich durch eine eigenartige Summation von Einzelreizen entsteht, hat mit unseren Secundärempfindungen nichts zu thun.

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düng zuweilen auch die secundäre Gehörsempfindung eines hohen Tones. Der Vorgang ist hier offenbar der, dass die corticale, in der Sehsphäre erzeugte Erregung auf Associationsbahnen die Elemente der Hörsphäre in Miterregung versetzt. Der Unter- schied gegen die uns bekannte Association ist nur der, dass es sich bei dieser um Association von Erinnerungsbildern oder Vor- stellungen handelt, bei den secundären Sinnesempfindungen hin- gegen um Association von Empfindungen. Das Bild des Feuers kann mich an das Knistern erinnern, der Trompetenton an Gelb. In beiden Fällen aber vermitteln Vorstellungen die Association, und nur das Erinnerungsbild des Rothen oder Gelben taucht in mir auf. Bei den secundären Sinnesempfindungen löst hingegen die primäre Empfindung direct wieder eine Empfindung aus. Wir werden daher besser den Ausdruck Association hier ver- meiden und lieber von Irradiation sprechen. Sie alle wissen, dass die Schmerzen, welche ein cariöser Zahn verursacht, oft in ganz eigenthümlicher Weise sich ausbreiten und schliesslich die ganze Kopfhälfte ergreifen können1). Was hier auf dem Gebiet eines Sinnes bei langanhaltendem Schmerz stattfindet, findet bei den secundären Sinnesempfindungen von einem Sinnesgebiet auf ein anderes hin statt. Unter den secundären Sinnesempfindungen sind Photismen, d. h. secundäre Licht- oder Farbenempfindungen entschieden am häufigsten, Phonismen, d.h. secundäre Schall- oder Geräuschempfindungen sind erheblich seltener. Die Qualität der Secundärempfindung ist bei derselben Person immer gleich, hingegen bei verschiedenen Personen oft verschieden. Es lassen sich daher nur einzelne allgemeine Regeln aufstellen: im Allge- meinen werden helle Photismen durch hohe Tonempfindungen oder auch durch intensive Schmerzen oder scharfbegrenzte Tast- empfindungen erzeugt, dunkle Photismen durch die gegentheiligen Empfindungen. Ebenso werden hohe Phonismen durch helle Lichtempfindungen und scharfbegrenzte Tastempfindungen (kleine, spitzige Gegenstände) hervorgerufen. Die Phonismen haben meist Geräuschqualität, die Photismen zeigen meist rothe, gelbe, braune oder blaue Farben ; zuweilen ist je einer bestimmten Tonhöhe oder einem bestimmten Geräusch oder einem bestimmten Vocal eine bestimmte Farbe zugeordnet. Ich kannte eine Dame, welche z. B. mit der Gehörsempfindung a die Farbenempfindung gelb, mit e weiss, mit i blau, mit o roth und mit u schwarz verbindet. Die- selbe Dame sieht auch die gedruckten Vocale beim Lesen in solchen Farben schimmern. Auf Fechner's Veranlassung hatte der akademisch-philosophische Verein zu Leipzig eine Statistik in weiten Kreisen angestellt: dabei ergab sich, dass durchschnitt- lich, jedoch nicht stets, den Vocalen a, e und i hellere, dem o und u dunklere Photismen entsprechen. Meiner Patientin er schienen Diphthonge in Mischfarben, desgleichen auch mehr- silbige Worte. Die französischen Autoren haben dies sehr cha- rakteristisch als : audition coloree bezeichnet. Interessant ist auch die Localisation der secundären Sinnesempfindung. Schallpho-

1) Die interessanten Beobachtungen Ukbantschitsch's über Verände- rungen der Trigeminussensibilität bei Ohrerkrankungen bieten ebenfalls eine gewisse Analogie. Vergl. auch PfTLÜGER's Arch., Bd. 42.

Ziehen, Physiologische Psychologie, ü. Aufl. 12

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tismen, d. h. durch Tonempfindungen inducierte Lichtempfindungen werden meist in das Hörfeld der Primärempfindung, die seltenen Geschmacksphotismen meist an die betreffende Stelle der Mund- höhle, Geruchsphotismen in die Umgebung des riechenden Körpers oder in die Nase localisiert. Seltener ist die Projection in das Innere des Kopfes (de Rochas, Ughetti). Sehr beachtenswerth ist auch, dass der unangenehme Gefühlston einer Primärempfin- dung von einem angenehmen Gefühlston der Secundärempfindung gefolgt sein kann. Weitaus in der Mehrzahl der Fälle scheint die Secundärempfindung völlig gleichzeitig mit der Primärempfindung aufzutreten, in seltenen Fällen wurde ein Intervall von einigen Secunden beobachtet.

Handelt es sich nun hier um eine pathologische oder um eine normale Erscheinung des Seelenlebens? Bleuler und Lehmann1) fanden bei 1/8 aller Menschen solche Secundärempfindungen, die FECHNER'schen2) Fragebogen brachten 347 Fälle zuverlässiger Farbenassociationen zusammen. Es ist nun wahrscheinlich, dass nicht alle diese Fälle rein sind, dass vielmehr Vorstellungsasso- ciationen, z. Th. aus der frühesten Kindheit stammend, bei einer gewissen Zahl die Ursache der secundären Sinnesempfindungen sind. Unzweifelhaft ist es jedoch, dass reine Fälle wirklich vor- kommen. Gerade in den reinen Fällen nun liegt fast ausnahmslos eine neuropathologische Disposition vor. Die oben erwähnte Dame litt an einer schweren Reflexneurose. Als Nussbaumer 3) zuerst in Deutschland seine Selbstbeobachtungen im Wiener ärzt- lichen Verein mittheilte, machte schon Benedict auf das Psycho- pathische des Symptoms aufmerksam. Sehr häufig findet sich eine erbliche Veranlagung. Nussbaumer's Bruder hatte gleichfalls Secundärempfindungen, ebenso ausser Bleuler selbst mehrere seiner Verwandten. Bei geistesgesunden, neuropathisch nicht be- lasteten Individuen sind diese Secundärempfindungen jedenfalls etwa ebenso selten, wie die später zu besprechenden Hallucinationen. Unzweifelhaft handelt es sich meist um angeborene, abnorm leistungsfähige Associationsbahnen zwischen den einzelnen corti- calen Sinnessphären.

Normaler Weise soll die Empfindung stets nur das Auftreten von Vorstellungen veranlassen und selbst nicht ohne Reiz auf- treten. Die secundäre Sinnesempfindung wird nicht ohne Reiz, sondern von einer anderen Empfindung ausgelöst und tritt daher aus dem Bereich des Normalen heraus. Wir betrachten jetzt einen anderen Fall krankhaften Empfindens : die Hallucinationen. Hier fehlt die Primärempfindung ganz, ebenso jeder äussere Reiz.

1) Zwangsmässige Lichtempfindungen durch Schall und verwandte Erscheinungen auf dem Gebiet der anderen Sinnesempfindungen, Leipzig 1881.

2) Steinbrügge , Ueber secundäre Sinnesempfindungen , Wiesbaden 1887. Hier finden sich auch weitere, freilich unvollständige Literatur- angaben. Zuzufügen sind Girandeau, L' encephale, 1885 ; de Rochas, La nature, 1885, und zahlreiche italienische Autoren. Die erste Be- schreibung gab Lussana schon 1865.

3) Wiener med. Wchschr., 1873. Unabhängig von Nussbaumer er- schien Fechner's erste Mittheilung in der Vorschule der Aesthetik (1876).

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Der Hallucinant sieht Personen und Landschaften am wolkenlosen Himmel und hört Stimmen bei der tiefsten Stille. Dabei sind seine Visionen zuweilen so plastisch und so farbengetreu und seine Akoasmen so laut und so deutlich, dass sie von der Wirk- lichkeit nicht unterschieden werden können. Sie treten auf bei geschlossenen Augen und Ohren ebenso wie bei offenen. Bald entsprechen sie inhaltlich dem jeweiligen Denken des Kranken : dann klagt derselbe , all sein Denken werde sofort illustriert und in Scene gesetzt, oder seine Gedanken würden laut oder sie kommen dem Pat. selbst völlig fremd und überraschend : er sieht nie zuvor gesehene Gesichter und hört Worte, an die er nicht im entferntesten denkt, oder selbst Silbenzusammenstellungen, die er nie früher vernommen. In anderen Fällen vermag der Kranke willkürlich diese oder jene Hallucination hervorzurufen, ähnlich wie es Goethe in den Wahlverwandtschaften von Ottilie er- zählt. Echte Hallucinationen des Geschmacks, Geruchs und Gefühls sind erheblich seltener. Hochinteressant sind gewisse Hallucinationen der Bewegungsempfindung. So sagte mir ein Kranker: Ich fühle meinen Kehlkopf und meine Zunge sich be- wegen, als ob ich das Wort »Vatermörder« hörte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass solche hallucinatorische Bewegungsempfin- dungen zuweilen den Anlass zu wirklichen unwillkürlichen Be- wegungen, z. B. zum Aussprechen des bezüglichen Wortes, geben. Was die Localisation anlangt, so werden die Stimmen zuweilen, die Visionen sehr selten in das Kopfinnere verlegt , häufiger werden beide nach aussen projiciert. Sie wechseln draussen ihren Platz und bewegen sich theils abhängig, theils unabhängig von den Augenbewegungen des Hallucinanten. Eigenthümlich ist, dass sie zuweilen stets nur auf einem Ohr gehört oder in der einen Gesichtsfeldhälfte gesehen werden. Auch erinnere ich mich eines Falles, in welchem die Stimme angenehmen Inhalts stets in das rechte, die unangenehmen Inhalts in das linke hineinsprach. Schielende sehen nicht selten ihre Visionen doppelt. Mitunter ist die Zuwendung besonderer Aufmerksamkeit erforderlich, damit der Hallucinant aus dem undeutlichen hallucinatorischen Gemurmel Worte heraushört. Auf seine Ideenassociation haben sie meist einen stärkeren Einfluss als die nebenher gehenden, z. Th. von den Hallucinationen auch geradezu verdeckten normalen Sinnes- empfindungen. Aeusserst selten ist es daher, dass jahrelang ge- häufte Hallucinationen bestehen , ohne Wahnideen zu erzeugen. Zuweilen lässt sich bei den Hallucinanten eine Erkrankung des Gehör- resp. Sehorgans nachweisen, in zahllosen Fällen fehlt dieselbe. Individuen, deren Sehnerven jahrelang atrophisch waren, können Visionen haben. Hingegen sind bei Blind- und Taub- geborenen Gesichts- oder Gehörstäuschungen nie beobachtet wor- den ] ). Die Stille der Einsamkeit, so z. B. Einzelhaft, begünstigt das Auftreten von Gehörstäuschungen, die Dunkelheit der Nacht, oder der Augenverband nach einer Staaroperation das Auftreten von Visionen. Indess gilt dies durchaus nicht allgemein. Es giebt sogar umgekehrte Fälle, in welchen leichte Gesichts- oder Gehörsreize beliebiger Art erforderlich sind zum Auftreten einer

1) Leijiksdokk. Li-lirb. d. psych. Krankh., ly(if>.

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Hallucination. Zuweilen scheint es auch vorzukommen, dass eine normale Empfindung eines Sinnes erforderlich ist, um eine Hallu- cination auf einem anderen Sinnesgebiete auszulösen (Kahlbaum). Hier ist also doch eine Primärempfindung in gewissem Sinne nothwendig. Daher schwinden manche Hallucinationen bei Augen- schluss, manche nicht.

Wie ist nun die Entstehung dieser Hallucinationen zu er- klären, wie kann eine Empfindung ohne Reiz entstehen?

Sie werden sich unserer früheren Unterscheidung von Em- pfindungszellen und Erinnerungszellen erinnern. Ich setzte Ihnen auseinander, dass wahrscheinlich Empfindung und Erinnerungs- bild nicht an dasselbe materielle Element gebunden sind. Den der Empfindung entsprechenden materiellen Process in den Em- pfindungszellen bezeichneten wir als Rc, die materielle Disposition, welche in den Erinnerungszellen zurückbleibt, als Ri, den bei der Weckung oder Reproduction des latenten Erinnerungsbildes ent- stehenden, der Vorstellung entsprechenden materiellen Process als Rv. Normaler Weise werden die Empfindungszellen nur von der Peripherie aus erregt : Rc kommt nur durch einen Reiz R, der auf die Sinnesbahn wirkt, zu Stande. Anders bei den Hallu- cinationen. Hier sind es die Erinnerungsbilder, welche ohne äusseren Reiz sinnlich lebhafte Empfindungen hervorrufen. Die Ei's resp. i?„'s erzeugen die i?c's. Der Erregungsprocess , der sonst stets von den Empfindungselementen zu den Erinnerungs- elementen geht, schlägt den umgekehrten Weg von diesen zu jenen ein. Im Allgemeinen kommt dies nur unter pathologischen Verhältnissen vor. Nur wenn die Empfindungszellen krankhaft erregbar sind, werden sie auf den von den Erinnerungszellen kommenden, normaler Weise unwirksamen, krankhaft gesteigerten Reiz ansprechen und in Miterregung gerathen. Offenbar kommen nun zwei Hauptfälle in Betracht : entweder sind es die actuellen, den Bewusstseinsinhalt gerade ausmachenden Vorstellungen, also die iiVs, welche die Empfindungszellen in Miterregung versetzen, oder die psychisch latenten Vorstellungen , d. h. richtiger , die lediglich materiellen unter der psychischen Schwelle gelegenen Dispositionen erregen die Empfindungszellen. Im ersten Fall ent- sprechen die Hallucinationen dem augenblicklichen Bewusstseins- inhalt, wie ich es Ihnen vorhin beschrieb, im zweiten tauchen sie überraschend für den Kranken selbst aus dem latenten Vorstel- lungsleben empor. Offenbar werden im Allgemeinen Halluci- nationen der zweiten Gattung nur bei sehr hochgradigen Erreg- barkeitsveränderungen der Empfindungszellen entstehen, während die actuellen Vorstellungnn schon bei niedergradigen Erregbar- keitssteigerungen der Empfindungszellen Hallucinationen auslösen können. Damit hängt es auch zusammen, dass die Hallucinationen der zweiten Gattung meist sinnlich lebhafter als die der ersten Gattung sind : an der krankhaften Erscheinung sind eben bei jenen die Empfindungszellen mehr betheiligt, als bei diesen. Em- pfindungszellen wie Erinnerungszellen sind beide jedenfalls, wie Sie wissen , in der Hirnrinde gelegen , die Hallucinationen also entschieden corticalen Ursprungs. Die Annahme, dass die peri- pheren Theile der, Sinnesnervenbahnen (Vierhügel, Netzhaut etc.) bei den Hallucinationen gewissermaassen mitschwingen, entbehrt

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der genügenden Begründung. Hingegen istfYür einen sehr grossen Bruchtheil aller Hallucinationen nachweisbar, dass ein äusserer Reiz im weiteren Sinne doch nicht ganz fehlt. Es zeigt sich nämlich dass häufig peripher im Gehörorgan ausgelöste subjec- tive Geräusche oder entoptische Trübungen, z. B. im Glaskörper, namentlich auch gehäufte mouches volantes den Hallucinationen zu Grunde liegen. Solche subjective Geräusche aus peripherer Ursache können jahrelang bestehen und als solche, d. h. z. B. als einfaches Sausen , empfunden werden. Entwickelt sich nun bei dem Individuum eine Geistesstörung, so hört es aus diesen Ge- räuschen Worte und Stimmen heraus. Dem Alcoholdeliranten verwandeln sich in analoger Weise die mouches volantes in zahl- lose ihn umschwärmende Mäuse oder Bienen. Hier und in vielen ähnlichen Fällen ist der Zusammenhang ganz augenscheinlich der : die Empfindungszellen empfangen eine Erregung nicht durch äussere Reize im engeren Sinne, d. h. solche, welche ausserhalb des Körpers Uiegen, sondern durch solche äussere Reize, welche im Sinnesorgan oder im Verlauf der Sinnesnervenbahn bis zur Hirnrinde gelegen sind. Dieser Erregung entspricht unter nor- malen Verhältnissen eine sehr einfache Empfindung, wie Ohren- sausen oder das Sehen dunkler Punkte im Gesichtsfeld. Die Erinnerungszellen wirken nun in d e m Sinne auf die Empfin- dungszellen, dass sie dies Erregungsmaterial zu complicierteren Empfindungen umformen: aus dem Ohrensausen werden Worte, aus den dunklen Punkten Gestalten. In mancher Beziehung nähern sich diese Hallucinationen1) bereits den sofort genauer zu besprechenden Illusionen.

Auch hier erheben wir die Frage, ob Hallucinationen auch bei Gesunden vorkommen können oder in ihrem Vorkommen le- diglich auf Geisteskrankheiten beschränkt sind. Eine genaue Prü- fung ergiebt in dieser Beziehung, dass zunächst auch die grosse Gruppe der zwar selbst nicht geisteskranken, aber erheblich zu Geisteskrankheiten veranlagten Individuen gelegentlich Halluci- nationen zeigt. Noch wichtiger für uns ist, dass gerade geistig hochbegabte Menschen und zwar namentlich phantasiebegabte Künstler zuweilen halluciniert haben. Ein italienischer Maler Spinello Aretini soll seine Madonnen von einer Vision gleichsam abgemalt, ein italienischer Componist seine Sonate nach einer hallucinatorisch gehörten Musik componiert haben. Die bekannte Vision Goethe's der Reiter im hechtgrauen Mantel auf dem Sesenheimer Ritt ist wohl nur eine Illusion (s. u.) gewesen. Von Schumann, Pascal, Cardanus, Mendelssohn, Jean Paul,

1) Die Literatur über Hallucinationen ist ausserordentlich umfang- reich. Excerpte aus über 300 Arbeiten liegen mir vor. Zur Einführung und Orientierung in der Lehre von den Hallucinationen empfehle ich Ihnen namentlich: Hagen, Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie, Bd. 25. Kahlbaum, ibidem Bd. 23. Lazarus, Zeitschr. f. Völkerpsychologie, Berlin 1867. Kraepelin, Ueber Trugwahrnehmungen, Arch. f. Psych., Bd. 14. Kandinsky, Arch. f. Psychiatrie, Bd. 11. Eine kurze ^Darstellung der Lehre von den Hallucinationen finden Sie bei Mendel, '-* Berl. klin. Wchschr., 1890.

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Spinoza, Byron, Tieck, Johnson, Pope und zahlreichen Andern werden Hallucinationen berichtet. Freilich handelt es sich hier zum grossen Theil auch um sehr unsicher beglaubigte Erzäh- lungen; oft mag es sich lediglich um Illusionen gehandelt haben. Bei dem gewöhnlichen Menschen erzeugt selbst der lebhafteste Affect in der Regel höchstens Illusionen , jedoch keine Halluci- nationen. Fechner und Henle berichten von sich , dass ihnen Abends oft Gegenstände, mit denen sie sich am Tag viel beschäf- tigt hatten, im Dunkeln als Phantasmen wiedererschienen. In- teressant sind auch die eigenthümlichen , von Hoppe1) am ge- nauesten beschriebenen, vor dem Einschlafen eintretenden »hypna- gogischen« Hallucinationen. Fast jeder kann dieselben auch bei sich gelegentlich beobachten. Sie treten nur bei Augenschluss ein, und es handelt sich ausnahmslos um Visionen von geringer sinnlicher Lebhaftigkeit, meist undeutliche Gesichter und Land- schaften.

Unter Illusionen versteht man solche Sinnesempfindungen, für welche zwar ein äusserer Reiz existiert, welche aber qualitativ diesem äusseren Reiz gar nicht entsprechen. Sie kennen alle das Schiller'sche Gedicht :

„Hör' ich das Pf Örtchen nicht gehen ? Hat nicht der Riegel geklirrt '? Nein, es war des Windes "Wehen, Der durch diese Pappeln schwirrt."

„Seh' ich nichts Weisses dort schimmern? Glänzt's nicht wie seidnes Gewand? Nein, es ist der Säule Flimmern An der dunklen Taxuswand."

Oder nehmen Sie das bekannte Beispiel eines Geisteskranken, der ein wirkliches Porträt sieht und plötzlich wahrnimmt, und zwar mit voller sinnlicher Lebhaftigkeit, dass der gemalte Kopf die Zunge vorstreckt. Oder eine geisteskranke Dame erzählte mir : so oft sie auf der Bahn fahre, höre sie aus dem Knarren der Räder

eine Stimme heraus: verrückte Bremer, verrückte Bremer,

So war der Name der Kranken. Was liegt in allen diesen Fällen vor? Offenbar zunächst eine normal entstandene Empfindung: das Windeswehen in den Pappelwipfeln, die weisse Säule an der Taxuswand, das Porträt, das Rasseln der Eisenbahnwagen liegen als äussere Reize vor und lösen eine Empfindung aus. Diese Empfindung wird jedoch nun transformiert : dem Erwartenden klingt das Rauschen der Pappelblätter wie das Gehen einer Thür, die weisse Säule nimmt die Form eines weissen Gewandes an, der Kopf streckt die Zunge vor, das Knarren verwandelt sich in Worte. Diese Transformation erfolgt unter dem Einfluss actueller oder in den beiden letzten Fällen latenter Vorstellungen. Die Erinnerungszellen hallucinieren hier gleichsam zu den Empfin- dungen etwas hinzu. Solche transformierte Empfindungen nun

1) Hoppe, Erklärung der Sinnestäuschungen, Würzburg 1888.

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bezeichnet man als Illusionen. Wohlgemerkt, es handelt sich hier nicht lediglich um Urtheilstäuschungen. Das Rauschen der Blätter im Wind wird bei der Illusion nicht falsch beurtheilt, sondern es ändert geradezu seine Empfindungsqualität: es klingt anders, als es dem Reiz entspricht. Im Gegentheil vermag unser Urtheil solche Illusionen oft zu rectificieren.

Solche Illusionen nun sind auf allen Sinnesgebieten häufig. Ja, man könnte sagen, dass der in der Illusion sich kundgebende Einfluss der Erinnerungsbilder auf unser Empfinden fast bei keiner Empfindung völlig fehlt. Der eigentliche Nährboden für Illusionen ist jedoch der Affect, und unter den Affecten namentlich der der Erwartung, der Furcht sowohl wie der Hoffnung. Sie werden jetzt auch verstehen, weshalb ich oben diejenigen Hallucinationen, welche an entoptische oder entotische Reize anknüpfen, den Illu- sionen nahe stellte : handelt es sich hier doch offenbar auch um Transformation von Empfindungen, welche durch wirkliche Reize ausgelöst sind. Dass es sich auch bei den Illusionen um eine solche rückläufige Erregung und Beeinflussung der Empfindungs- zellen von den Erinnerungszellen aus handelt, ist selbstverständlich.

Erheblich kürzer können wir über die krankhaften Störungen der Erinnerungsbilder und der Ideenassociation hinweggehen. Ich nenne Ihnen nur ganz kurz die wichtigsten und für die normale Psychologie interessantesten Erscheinungen. Zu diesen gehört vor allem der erworbene Schwachsinn. Sie entsinnen sich, dass als anatomisches Substrat für den Vorgang der Ideenasso- ciation sich am ungezwungensten die zahllosen sog. Associations- fasern darbieten, welche innerhalb der Rinde, z. Th. auch im Bogenverlauf durch das Mark von einem Rindenpunkt zum anderen ziehen und so Ganglienzelle mit Ganglienzelle in Verbindung setzen. Die Ganglienzellen selbst sind am ungezwungensten als die Elemente anzusehen, welche wir als Erinnerungszellen be- zeichneten und in welchen die sog. latenten Erinnerungsbilder niedergelegt sind. Es ist nun von höchstem Interesse, dass für diejenige Geistesstörung, welche am unaufhaltsamsten zu völligem Schwachsinn führt, für die sog. Hirnerweichung oder Dementia paralytica die pathologisch - anatomische Untersuchung positive Befunde ergeben hat. Dieselben bestehen namentlich in einem Untergang erstens der Ganglienzellen selbst und zweitens der sie verbindenden Associationsfasern. Sie sehen hierdurch gewisser- maassen a posteriori nochmals unsere ganzen Deductionen be- stätigt. _

Die abnorme Beschleunigung und Hemmung, sowie die krank- hafte Incohärenz der Ideenassociation habe ich schon früher er- wähnt. Es bleibt mir nur übrig, Ihnen noch zwei psychopathische Erscheinungen kurz zu nennen, welche ein ganz besonderes In- teresse verdienen, die Wahnvorstellung und die Zwangs- vorstellung. Beide kommen darin überein, dass sie Urtheils- associationen darstellen, welche in der Aussenwelt keine genügende Begründung finden. Beide unterscheiden sich darin, dass die erstere vom Kranken als richtig betrachtet wird, während der Kranke von der Unrichtigkeit und Krankhaftigkeit der letzteren volles Bewusstsein hat. Ein Kranker, der Jesus Christus zu sein

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glaubt, hat eine Wahnidee. Ein Kranker, dem z. B. beim Schneiden seines Brodes fortwährend der Gedanke kommt : du schneidest mit dem Brod deinen Bruder entzwei, der diesen Gedanken selbst als falsch und lächerlich anerkennt und ihn doch nicht los wird und bis zur Nahrungsverweigerung von ihm gequält wird, hat eine Zwangsvorstellung. Wie entstehen nun beide? M. H., normaler Weise entwickeln sich unsere Ideenassociationen, speciell die Ur- theilsassociationen stets unter dem Einfluss fortwährend neu uns zuströmender Empfindungen : diese letzteren bedingen und be- stimmen jene. Dadurch ist die Möglichkeit einer fortgesetzten Correctur unserer Urtheilsassociationen gegeben. Unrichtige werden im Entstehen unterdrückt. Phantasie und Urtheil stehen damit unter der Controle der Aussenwelt und können sich nie zu sehr in Widerspruch mit ihr setzen. Es kommt wohl zu „Irr- thümern", weil unsere Empfindungen selbst den äusseren Reizen nicht stets genau entsprechen, und namentlich, weil das Haupt- gesetz unserer Ideenassociation, das der Gleichzeitigkeit, offenbar noch sehr wohl gelegentlich zu ganz unlogischen Schlüssen und unberechtigten Verallgemeinerungen Raum und selbst Anlass giebt x ) ; aber es kommt weder zu Wahn- noch zu Zwangsvor- stellungen: im Allgemeinen bleibt der Parallelismus unserer Ur- theilsassociationen mit dem Zusammenhang der äusseren Reize oder mit den Vorgängen der Aussenwelt gewahrt. Bei den an Wahnideen und Zwangsvorstellungen leidenden Kranken fällt dieser vorwiegende Einfluss der Empfindungen oder der äusseren Reize auf das Vorstellungsleben weg oder verliert an Nachhaltig- keit. Daher kommt es zur Bildung von Urtheilsassociationen, die den Vorgängen der Aussenwelt total widersprechen. Ja, umge- kehrt bei diesen Kranken beeinflusst das Vorstellungsleben die Empfindungen: die letzteren werden im Sinne der bestehenden Wahnideen gedeutet und verarbeitet, weiterhin kommt es zu Illu- sionen und Hallucinationen. Es ist kein Zufall, dass Illusionen und Hallucinationen so sehr häufig gemeinschaftlich mit Wahn- ideen auftreten. Alle drei sind Symptome eines der Controle des Empfindungslebens entrückten Vorstellungslebens. Wahnidee und Zwangsvorstellung unterscheiden sich bezüglich ihrer Entstehung darin, dass bei der letzteren neben den unrichtigen Urtheilsasso- ciationen sich auch berichtigende und zwar sogar in überlegener Zahl bilden, bei der ersteren hingegen gar nicht oder in ver- schwindender Minderzahl.

Ich muss mich hier mit diesen kurzen Andeutungen über die Lehre von den krankhaften Störungen der Geistesthätigkeit be- gnügen und gehe zur psychologischen Darstellung eines Zu- standes über, den man freilich mit nicht ausreichenden Gründen oft direct mit krankhaften Geisteszuständen verglichen hat. Ich meine den Schlaf mit seinen Träumen. Was physiologisch dem Schlaf zu Grunde liegt, ob lediglich eine chemische Ermü- dung der Hirnrinde oder eine allgemeine oder partielle Circula-

1) Mit Recht erklärt Münsterberg die Irrthümer psychologisch für viel leichter erklärlich als die durchgängige Richtigkeit unserer Urtheile.

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tionsveränderung derselben, wissen wir noch nicht mit Sicherheit1). Psychologisch stellt sich der Schlaf dar als eine mehr oder we- niger hochgradige Aufhebung sämtlicher psychischer Processe : man kann dies, wenn man will, als Bewusstlosigkeit bezeichnen. Die -Rc's der Hirnrinde bleiben zu schwach, als dass es zu dem psychischen Parallelprocess, der Empfindung, käme und die -R/'s werden aus ihrer Latenz nicht geweckt. Nur in einer Form treten psychische Processe auf, in der Form der Träume. Das Studium der letzteren ist ein ausserordentlich interessantes, und empfehle ich Ihnen hier dringend Selbstbeobachtungen. Aller- dings werden solche nur dann exact ausfallen, wenn Sie dem Beispiel von Lazarus folgen, vor dem Einschlafen Papier und Bleistift neben sich legen und, sobald Sie über einen Traum auf- wachen, sofort das Geträumte niederschreiben. Warten Sie länger, z. B. bis zum Morgen, so ist das Meiste Ihrem Gedächtniss ent- schwunden. Eine nähere Anatyse des Traumvorgangs ergiebt nun als seine Elemente Phantasievorstellungen in dem von uns früher erörterten Sinn, aber z. Th. ausgestattet mit fast der vollen sinnlichen Lebhaftigkeit der Empfindung. Es handelt sich also um eigenthümliche Schlafhallucinationen, die zu längeren suc- cessiven Reihen zusammentreten, aber in der Regel sogar lockerer verknüpft sind, als die Wachhallucinationen der Geisteskranken. In sehr vielen Fällen lässt sich allerdings nachweisen, dass für die Traumphantasmen ein peripherer Reiz nicht völlig gefehlt hat. So giebt eine heftige Neuralgie nicht selten Anlass zu der Traum- empfindung eines heftigen Dolchstichs in die neuralgische Körper- gegend: associativ reinen sich dann das Bild des Mörders und seine Drohworte mit hallucinatorischer Lebhaftigkeit an. Es Hegt dann also zunächst eine Illusion und keine Hallucination vor, Hallucinationen schliessen sich nur secundär an die Illusion an. Meist gelangen gerade solche Erinnerungsbilder im Traum zu hallucinatorischer Lebendigkeit, welche nicht unmittelbar vor dem Einschlafen, sondern einige Stunden vorher in meiner Ideenasso- ciation aufgetreten sind. Doch ist dies nicht ausnahmslos. Auf- fällig ist oft die Farblosigkeit der Traumvisionen; gelegentlich kommen freilich auch die grellsten Farben vor. Charakteristisch für das Traumleben ist weiterhin vor allem das fast völlige Aus- bleiben der motorischen Reactionen. Die Musculatur scheint ge- lähmt, im tiefsten Schlaf sind sogar die Sehnenphänomene, welche einen scharfen Index für jeden etwa vorhandenen Muskeltonus ab- geben, erloschen. Wir haben wohl Bewegungsvorstellungen, wir glauben zu gehen oder zu kämpfen und doch rühren wir uns kaum. Nur in den lebhaftesten Träumen sehen wir beim Men- schen wie beim Thiere, so z. B. namentlich bei dem Jagdhund, als schwachen Ausdruck der Bewegungsvorstellungen des Traums einige leichte Rumpf- und Extremitätenbewegungen 2). Es tritt

1) Nach neueren Untersuchungen scheint es sich jedenfalls um eine partielle Anämie der Hirnrinde zu handeln. Vergl. auch Binz, Ueber den Traum, Bonn 1878.

2) Interessant ist in dieser Beziehung, dass die blind- und taub- geborene Laura Bridgman im Schlaf viel mit den Fingern gesticuliert

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also im Schlaf erstens das Anfangselement des psychischen Pro- cesses, die Empfindung, in Folge von Vorstellungsreizen auf, und zweitens ist das Schlusselement, die Bewegungsvorstellung oder Handlung, fast völlig weggefallen.

Eine ganz besondere Besprechung verdient eine Eigenschaft des Traums: sein rapides Vergessenwerden. Schon 5 Minuten nach dem Erwachen ist meist eine einigermaassen vollständige Reproduction selbst eines lebhaften Traums nicht mehr möglich. M. HJ. Auch im Wachen vermögen wir nicht eine längere Em- pfindungs- oder Vorstellungsreihe völlig lückenlos zu reproducieren. Sie entsinnen sich, dass die Association zweier lediglich durch Succession verbundener Vorstellungen sehr lose ist; wir führten deshalb die Association durch Succession, soweit es sich nicht um ganz unmittelbare Succession handelt, auf Gleichzeitigkeits- associationen zurück. Diese letzteren fehlen eben nie ganz. So wird es uns im Wachen möglich namentlich auch unterstützt von der abgestuften Lebhaftigkeit der von den successiven Em- pfindungen zurückgelassenen Erinnerungsbilder und der durch- gängigen engen Beziehung der successiven Empfindungen resp. Vorstellungen untereinander selbst längere Reihen leidlich zu reproducieren. Die Empfindungs- und Vorstellungsreihe des Schlafs bieten für die Reproduction viel weniger günstige Ver- hältnisse: die Traumempfindungen sind durchgängig weniger in- tensiv und viel zusammenhangsloser, voll jäher Uebergänge, die begriffliche Zusammenfassung der successiven Einzelvorstellungen und die Herstellung von Beziehungsbegriffen unter denselben fällt fast ganz weg. Endlich bewirkt das plötzliche Erwachen jähe Circulationsänderungen und damit erhebliche unvermittelte, wahr- scheinlich nicht einmal für die ganze Hirnrinde gleichmässige Erregbarkeitsverschiebungen; in alle Sinnesorgane strömen zahl- lose Reize ein und erzeugen eben so viele Empfindungen. Hier- durch wird das, was wir als Constellation der latenten Vorstel- lungen bezeichneten, völlig geändert, und zwar durchaus zu Ungunsten der von den Traumempfindungen zurückgebliebenen latenten Erinnerungsbilder. So erklärt sich die erschwerte Re- productionsfähigkeit der Traumbilder oder, wie man auch sagen kann, die Amnesie für die Traumvorgänge. Deshalb sind diese nicht etwa weniger psychisch-vollwichtig als die Empfindungs- und Vorstellungsreihen des Wachens. Wenn ich eine kleine Be- gebenheit, welche ich wachend vor einiger Zeit erlebte, ganz oder fast ganz vergessen habe, so darf und werde ich deshalb doch nie schliessen, ich hätte damals gar keine vollgültigen psychischen Processe gehabt und sei bewusstlos gewesen. Ebenso ist es mit dem Traum. Daraus, dass ich ihn vergessen habe, darf ich nicht schliessen, ich sei im Traum nicht bei vollem Bewusstsein oder bewusstlos1). Das psychische Leben des Traumes und das des

haben soll. Gesteigerte Bewegungsvorstellungen vicariieren hier gewisser- maassen für die fehlenden Gesichts- und Gehörsvorstellungen.

1) Auch der Gebrauch des Wortes „Bewusstlosigkeit" in der foren- sischen Psychiatrie, speciell der Rückschluss von Amnesie auf „Bewusst- Josigkeit" erfährt hierdurch eine grelle Beleuchtung.

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Wachens sind verschieden, aber psychisch verschieden w e r t h i g sind beide nicht. Eine Aufhebung der psychischen Processe, also Bewusstlosigkeit, liegt nur in dem übrigens ziemlich seltenen, traumlosen Schlaf vor.

Ausser dem Schlaf giebt es noch eine Reihe anderer Alte- rationen des psychischen Lebens, für welche insgesamt die mehr oder minder grosse Verschiebung der corticalen Erregbarkeits- zustände und die hiermit zusammenhängende mehr oder weniger vollständige Amnesie charakteristisch ist. Hierher gehören na- mentlich die »Dämmerzustände« mancher Epileptiker, in welchen die compliciertesten Handlungen, z. Th. auch Verbrechen begangen werden, für die nachher jede Erinnerung fehlt 1 ). In sehr seltenen Fällen kommt es sogar vor, dass die beiden Phasen des psychi- schen Zustandes mit ihrer verschiedenen Constellation der latenten Erinnerungsbilder abwechseln, und dass in jeder Phase Amnesie für die vorausgegangenen ungleichartigen besteht, während die Erinnerung für die früheren gleichartigen Phasen erhalten ist. Man hat für diese Krankheitserscheinung den unzweckmässigen Namen des »doppelten Bewusstseins« gewählt2). Ein be- sonderes Interesse beansprucht weiterhin die Hypnose; wir fassen mit diesem Worte das Thatsächliche zusammen, was nach gründlicher kritischer Sichtung vom thierischen Magnetismus, Mesmerismus etc. übrig geblieben und nun Gegenstand exacter Forschung geworden ist. Es handelt sich um folgende Grund- thatsache : Gewisse Individuen lassen sich entweder durch gleich- massiges Fixieren eines glänzenden Gegenstandes und nachfol- gendes leichtes Streichen der Stirn oder durch das fortwährende Zureden : du sollst schlafen, du musst schlafen, in einen eigen- thümlich veränderten psychischen Zustand versetzen, welcher eben als Hypnose bezeichnet wird. Die erstgenannte Methode nennen wir die physikalische, die letztgenannte schlechtweg Suggestion. Beide können noch in mannigfacher Weise modificiert werden. Wirksamer ist im Allgemeinen die Suggestion. Bernheim hat neuerdings sogar jede Hypnose auf Suggestion zurückzuführen versucht und auch in dem Fixieren und Streichen eine versteckte, indirecte Suggestion des Schlafens gesucht. Am raschesten ge- langt man jedenfalls durch Vereinigung beider Methoden, Streichen und Schlafsuggestion, zum Ziel. Die wesentliche Eigenthümlich- keit nun des hypnotischen Zustandes, gleichviel auf welchem Wege er erzeugt wurde, wahrscheinlich auch die einzige allen hypno- tischen Zuständen gemeinsame Eigenthümlichkeit ist die Sugge- stibilität. Sie können dem Hypnotisierten Handlungen befehlen, welche Sie wollen: automatenhaft führt er sie aus. Sie können ihm beliebige Empfindungen suggerieren, und alsbald hat er die- selben, ebenso treu und plastisch wie der Hallucinant. Sie sagen ihm, sein linker Arm sei empfindungslos, und er spürt den tiefsten Nadelstich im linken Arm nicht mehr. Willkürlich können Sie

1; Vergl. Samt, Arch. f. Psychiatrie, Bd. 5 u. 6, sowie die psychia- trischen Lehrbücher von Griesinger, Kraeet-Ebing und Schule.

2) Vergl. Emminghaus , Allgemeine Psychopathologie. Ribot, Les maladies de la personnalite u. a. m.

ihm eine beliebige Vorstellung suggerieren, z. B. die Wahnidee, König zu sein, und der Kranke benimmt sich als König. Falten Sie der Hypnotisierten die Hände wie zum Gebet, so löst diese passive Bewegungsempfindung alsbald die Hallucination einer Kirche, eines Priesters etc. aus. Kurzum, der Hypnotisierende regt eine beliebige Vorstellung, sei es durch Sprechen oder auf anderem Wege, in dem Gehirn des Hypnotisierten an, und die so angeregte Vorstellung greift nun übermächtig in den Gang der Ideenassociation ein: alle entgegengesetzten Vorstellungen und auch wirklich vorhandene Empfindungen unterdrückt sie und bestimmt fast alleinherrschend den Gang der Ideenassociation, wobei zugleich die geweckten Erinnerungsbilder hallucinatorische sinnliche Lebhaftigkeit erlangen. Mit der Suggestion der Wahn- idee, König zu sein, ist der wirkliche Titel vergessen, und statt des einfachen Kleides sieht der Hypnotisierte sich im Krönungs- anzug. Diese Suggestibilität , von deren zahlreichen Variationen ich Ihnen hier nicht einmal eine annähernde Vorstellung geben kann1), stellt offenbar eine eigenthümliche Veränderung der cor- ticalen Erregbarkeitszustände dar, welche sich vorzugsweise in einer Verschiebung der Constellation und der Intensität der la- tenten Erinnerungsbilder und in einer abnormen Empfänglichkeit der Empfindungszellen für die von den Vorstellungszellen an- langenden Reize äussert. Wie die obengenannten Methoden diesen Zustand zu Stande bringen, ist uns noch völlig unbekannt2). Für alle Vorgänge in der Hypnose besteht nachher mehr oder weniger hochgradige Amnesie. Bei totalem Erinnerungsdefect bleibt selbstverständlich die skeptische Frage offen ebenso wie bei den Dämmerzuständen der Epileptiker mit totaler Amnesie ob nicht vielleicht trotz ihrer Compliciertheit alle Handlungen des Hypnotisierten Bewegungen ohne psychischen Parallelprocess waren. Da der Betreffende uns nicht über etwaigen Bewusstseins- inhalt berichten kann, so lässt das früher aufgestellte diagnostische Kriterium zwischen Handlung und automatischem Act uns hier im Stich. Wir können nicht mit Bestimmtheit entscheiden, ob actuelle, also psychische Erinnerungsbilder mitgewirkt haben oder nicht. Es genügt hier, diese Frage aufzuwerfen, wir werden ihr später in unserer Schlussvorlesung in allgemeiner Form wieder begegnen und sie zu beantworten versuchen. Jedenfalls ist die Amnesie als solche weder gegen noch für die Existenz psychischer

1) Eine gute Einführung in das Gebiet der Hypnose geben die beiden Artikel über Hypnotismus von Preyer und Binswanger in der Eulen- BURG'scben Realencyklopädie der mediciniscben Wissenschaften. Eine sehr vollständige Zusammenstellung der gesamten Literatur über Hypno- tismus hat Max Dessoir (Berlin 1889) gegeben. Ein erster Nachtrag zu dieser Bibliographie ist bereits 1890 erschienen. Die enorm angeschwollene Literatur über Hypnotismus und Suggestion wimmelt übrigens von ganz unzuverlässigen, kritiklosen Arbeiten.

2) Ein schwaches Licht auf das Zustandekommen und Wesen der Hypnose werfen vielleicht die BüBNoEF-HEiDENHAiN'schen Versuche, Pflü- ger's Arch., Bd. 26.

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Parallelprocesse während der fraglichen Zeit zu verwenden1). Ebensowohl kann die plötzliche Verschiebung der corticalen Er- regungen im Augenblick des Erwachens die associative An- knüpfung der Vorstellungen des wachen Zustandes an die des hypnotischen Zustandes unmöglich gemacht haben, und ebenso- wohl können Vorstellungen und Empfindungen in letzterem ganz gefehlt haben.

Wir haben hiermit die wesentlichsten Abweichungen von der typischen Ideenassociation kennen gelernt und können uns in einer nächsten Vorlesung dem Schlussstein des psychischen Pro- cesses, der Handlung, zuwenden.

1) Auch die erhaltene Erinnerung spricht nicht stets für die Existenz psychischer Parallelprocesse zur fraglichen Zeit. Denken Sie an das Bei- spiel des Ereundes, an dem ich achtlos vorübergehe, und den gesehen zu haben, mir erst nachträglich einfällt. Erklärlicherweise kommt dies jedoch nur bei sehr kurzen Zeiträumen vor.

VIERZEHNTE VORLESUNG. Handlung. Ausdrucksbewegungen. Sprache.

M. H. ! Mit der Empfindung begann der psychische Process. An die Empfindung schloss sich die Ideenassociation , also eine Reihe successiver Vorstellungen an. Das Resultat dieser Ideen- association kann eine Bewegung sein, und wir nennen eine solche Bewegung Handlung. Die einer Handlung vorausgegangene As- sociation bezeichnen wir gern speciell als das Spiel der Motive. Wir erheben nun vor allem die wichtige Frage: wie ist dieses neue Element, die Bewegung oder die motorische Innervation, zu unserem Empfindungs- und Vorstellungsleben hinzugekommen? Wie hat der Mensch seine Bewegungen gelernt und noch dazu planvolle Bewegungen, die im Allgemeinen unseren Vorstellungen mit äusserster Exactheit entsprechen und die höchste Zweckmäs- sigkeit aufweisen ?

Die sehr vernachlässigte Lehre von der Entwicklungsge- schichte der Kindesseele kann uns hier allein zur richtigen Ant- wort verhelfen. Das neugeborene Kind wie das neugeborene Thier machen noch keine oder fast keine Bewegungen, welche man als willkürliche oder als Handlungen bezeichnen könnte. Wir finden nur Reflexe und automatische Acte, allerdings z. Th. schon von ausserordentlicher Compliciertheit. Damit steht die anatomisch - physiologische Thatsache gut im Einklang , dass die vom Sehhügel peripherwärts ziehenden Faserbahnen bei dem Neu- geborenen bereits völlig entwickelt sind, d. h. vor allem sich schon mit den sogenannten Markscheiden umhüllt haben , während die grosse Nervenbahn , welche von der sogenannten motorischen Region der Hirnrinde zu den Vorderhörnern des Rückenmarks und aus diesen zur Körpermusculatur zieht und welche nachweis- lich die Innervationserregung bei den Willenshandlungen den Muskeln zuleitet x)5 der Markscheiden noch entbehrt. Weiterhin stimmt die Thatsache hiermit überein, dass elektrische Reizung einer bestimmten Stelle der motorischen Rindenregion beim Er-

1) Es geht dies einfach aus der Thatsache hervor, dass bei Unter- brechung der bezüglichen Bahn durch einen Krankheitsheerd alle Willens- bewegungen aufhören.

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wachsenen stets Bewegungen des gegenüberliegenden Armes, Reizung einer anderen solche des Beines, Reizung einer dritten solche der contralateralen Gesichtsmuskeln auslöst, dass aber beim Neugeborenen alle diese Reizungen erfolglos bleiben. Aus allen diesen Thatsachen müssen wir schliessen, dass erst in den ersten Lebensmonaten allmählich Willensbewegungen oder, richtiger, psychisch bedingte Bewegungen vom Kinde gelernt werden. Wie findet dies Lernen nun im Einzelnen statt? In das zunächst nur infracorticaler , reflectorischer und automatischer Bewegungen fähige Gehirn des neugeborenen Thieres strömen vom Moment der Geburt an durch alle Sinnespforten zahlreiche Reize und zahllose Empfindungen, und Erinnerungsbilder derselben, resp. die ihnen entsprechenden materiellen Erregungsprocesse bleiben in der Hirnrinde zurück, speciell in den sensorischen Regionen x) derselben. Das Spiel der Ideenassociation beginnt : die sensorische Erregung reproduciert allenthalben auf der Hirnrinde, indem sie sich auf den Associationsfasern fortpflanzt, Erinnerungsbilder. Auf Associationsbahnen gelangt so die materielle, in der Hirnrinde sich fortpflanzende Erregung auch in die motorische Region und entlädt sich hier in peripherer Richtung auf der grossen motori- schen Bahn , der sog. Pyramidenbahn. Dieser motorische »Aus- schlag« ist zunächst ein fast völlig regelloser; immerhin werden durch Vererbung bestimmte Associationsbahnen bereits ausge- schliffener und leitungsfähiger angelegt sein als andere, so dass doch von vornherein die Erregung je nach ihrer Art in gewisse Bahnen gelenkt wird. So erklärt es sich z. B., dass das eben geborene Hühnchen schon nach Körnern pickt 2). Ererbte Vor- stellungen der Körner braucht man deshalb bei dem Hühnchen nicht anzunehmen, sondern nur eine ererbte, besonders gut lei- tende Associationsbahn zwischen der Sehsphäre und dem Theil der motorischen Region, von welchem aus die beim Picken thätigen Muskelgruppen innerviert werden. Abgesehen aber von diesen von Anfang an gegebenen Dispositionen, sind die ersten Be- wegungen des Kindes im Allgemeinen zweck u n entsprechend. Ein mit der Handfläche des Kindes in Berührung gebrachter Gegenstand wird erst im 3. Monat von den Fingern umschlossen. Nach gesehenen Gegenständen greift das Kind gegen Ende des 5. Monats mit einiger Sicherheit und erst vom 6. oder 7. Mo- nat ab wird die Hand beim Greifen auf dem kürzesten Weg zum Gegenstand hingeführt. Auch junge Papageien greifen, wie Raehlmann beobachtet hat, nach Aesten häufig fehl. Die Aus- wahl zweckentsprechender Bewegungen erfolgt nun lediglich durch Uebung und zwar in ganz ähnlicher Weise, wie später der Erwachsene eine neue Bewegung, z. B. das Spielen eines Kla- vierstücks, neu erlernt. Die ausserordentliche Schnelligkeit, mit welcher das Kind so zahllose complicierte Bewegungen machen

1) Dass nach Aussage mancher Hirnphysiologen die corticale Central- station der Sensibilität s. str., also namentlich der Hautempfindungen, die sog. Fühlspbäre, sich mit der motorischen Region räumlich deckt, kann hier füglich unberücksichtigt bleiben.

2) Freilich ist die Möglichkeit, dass es sich hier um einen auto- matischen A.ct handelt, nicht auszuschliessen.

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lernt , erklärt sich lediglich aus der ererbten günstigen Veran- lagung des Associationsmechanismus. Diese Uebung besteht darin, dass fortwährend neue motorische Ausschläge so lange statt- finden, bis der Reiz beseitigt ist. Das Kind greift so lange nach einem Gegenstand, welcher auf seinen Gesichtssinn als Reiz wirkt, bis nach zahllosen unzweckmässigen motorischen Ausschlägen schliesslich der zweckentsprechende getroffen wird : mit dem Er- greifen des Gegenstandes schwindet der Reiz , und die Greif be- wegung hört auf, oder vielmehr der Reiz verändert sich mit der durch das Ergreifen bedingten Berührungsempfindung und Lage- veränderung des Objectes, und andere Bewegungsversuche mit- neuen Zielen setzen ein. So entsteht durch eine in der That er- staunliche Selection allmählich jene durchgängige Zweckmässig- keit unserer sogenannten willkürlichen Bewegungen : d. h. sie werden allmählich äusserst genau den Reizen der Aussenwelt oder was dasselbe ist unseren Empfindungen angepasst. Indess allmählich erfolgt noch eine weitere Vervollkommnung des corti- calen motorischen Apparats. Der eben beschriebene motorische Ausschlag vollzieht sich zunächst ganz ohne psychischen Parallel- process. Es gehen wohl Empfindungen und Vorstellungen voraus, aber diese enthalten zunächst nichts von der resultierenden Be- wegung. Erst wenn die Bewegung stattgefunden hat, erhält das Kind Kenntniss von seinem eigenen Bewegungsact. Diese Kennt- niss empfängt es durch die früher ausführlich beschriebenen activen Bewegungsempfindungen. Durch die active Bewegung werden die Gelenk- und Sehnen-, Bänder- und Hautnerven gereizt, und die so zu Stande kommende zusammengesetzte Empfindung bezeichnen wir kurz als Bewegungsempfindung. Auch die Ge- sichtsempfindung, welche uns von der durch die active Bewegung veränderten Lage unserer Körperglieder unterrichtet, verschmilzt mit dieser Bewegungsempfindung, und wir wollen jetzt unter dem Wort Bewegungsempfindung dieselbe mit einbegreifen. An die der Bewegung zunächst vorausgegangenen Vorstellungen schliesst sich also ohne weiteres Zwischenglied unmittelbar die Bewegungs- empfindung an, welche uns Kenntniss giebt, dass unsere Vor- stellungsreihe zu einer bestimmten Bewegung geführt hat. Wie nun von jeder anderen Empfindung ein Erinnerungsbild oder eine Vorstellung zurückbleibt, so auch von dieser Bewegungsempfin- dung. Wir haben das Erinnerungsbild der Bewegungsempfindung daher auch als Bewegungsvorstellung bezeichnet. Wie alle anderen Vorstellungen, betheiligen sich fortan auch diese Bewegungsvor- stellungen an dem Getriebe der Association , wie alle anderen Vorstellungen erlangen sie ebenfalls die Fähigkeit motorischer Entladung. Anfangs löst nur die Gesichtsempfindung und Ge- sichtsvorstellung oder die Tastempfindung, resp. Tastvorstellung die Greifbewegung aus; nachdem öfter Greif Bewegungen statt- gefunden haben, vermag auch die Bewegungsvorstellung des Greifens selbst die Greif bewegung auszulösen. Die durchgängige associative Verknüpfung, welche die Anfangspunkte der motori- schen Willkürbahnen mit allen Rindenelementen haben , kommt den Bewegungsvorstellungen ganz ebenso zu statten wie den Vor- stellungen irgend eines anderen Sinnesgebietes, oder vielmehr es bildet sich sogar eine besonders enge associative Verknüpfung

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gerade zwischen den Bewegungsvorstellungen und den Erre- gungen der Ursprungszellen der motorischen Bahn : dient doch jede einzelne Bewegung dazu, eine Gleichzeitigkeitsassociation zwischen beiden herzustellen und die Verbindungsbahn auszu- schweifen. So kommt es, dass später die Bewegungsvorstellungen, die ganz secundär entstanden und erst secundär mit den motori- schen Elementen in Verbindung getreten waren, einen ganz do- minierenden Einrluss auf diese motorischen Elemente gewinnen. Wenn später eine Vorstellungsreihe F15 T\>, V3 , zusammen- gesetzt aus Gesichts-, Gehörs- und Tastvorstellungen, auftritt, so löst sie in der Regel nicht mehr direct die motorische Inner- vation aus : sondern erst wird associativ die bezügliche Be- wegungsvorstellung ausgelöst und erst von dieser letzteren die motorische Innervation. Mit grossem Recht hat neuerdings wieder Müxsterberg x) betont, dass gerade dies Vorausgehen der Vor- stellung der Bewegung dieser Bewegung den Charakter der willkürlichen Bewegung giebt. »Ich will eine Bewegung« heisst vor allem und in erster Linie: »die Vorstellung der Be- wegung schwebt mir vor«. Unterstützt wird das Gefühl der ver- meintlichen Willkür unserer Bewegungen durch die gleichzeitige Innervation gewisser Körpermuskeln, wie des M. frontalis, welche die sogenannte willkürliche Bewegung, ebenso wie die Anspan- nung der Aufmerksamkeit begleitet und Anlass zu eigenartigen begleitenden Bewegungsempfindungen giebt.

Mit der hier gegebenen Darstellung stimmen denn auch die Resultate der modernen Hirnphysiologie gut überein. Die sog. motorische Zone des Hundes, d. h. diejenige Region der Hirnrinde, deren elektrische Reizung Contractionen der Körpermusculatur hervorbringt, ist dadurch definiert, dass sie die Ursprungselemente der motorischen Bahn enthält. Beim Hund scheinen in derselben Region auch die Bewegungsempfindungen und Bewegungsvorstel- lungen localisiert zu sein. Wenigstens ist dies aus den MuNK'schen Versuchen zu schliessen, nach welchen Exstirpation der motori- schen Region Aufhebung der Bewegungsvorstellungen der contra- lateralen Körperhälfte bedingt. Ja, nach Munk würden bei dem Hunde und dem Affen auch die Berührungs-, Lage- und Tast- empfindungen wie -Vorstellungen ebenda niedergelegt werden. Wenn einem Hunde die motorische Vorderbeinregion links ex- stirpiert worden ist, so kann man sein rechtes Vorderbein in die unbequemste Lage bringen, und das Thier corrigiert dieselbe nicht. Beim Passieren einer Treppe verfehlt es die Stufen , oft gleitet es mit dem rechten Vorderbein aus. War es eingeübt, auf einen bestimmten Ruf die rechte und auf einen anderen die linke Vorderpfote zu geben, so giebt es auf diesen noch die linke wie zuvor, aber auf jenen die rechte nicht mehr. Nach Fleisch- stücken greift der operierte Hund vom Tage der Operation an nur mit dem linken Vorderbein , nie mit dem rechten , dessen

1) Auch im Uebrigen weicht die hier gegebene Darstellung zwar in minder wesentlichen Punkten von der MüNSTEKBEiiG'schen Schrift, „Die Willenshandlung", Freiburg 1888, ab, in den wesentlichsten stimmt sie mit ihr überein.

'/. eher Physiologische Psychologie. -' Aufl. 13

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Rindenregion exstirpiert worden ist. Hier sind also auch die Lage-, Tast- und Bewegungsvorstellungen an ein und dieselbe corticale Region gebunden. Bei dem Menschen scheint eine grössere locale Trennung stattzufinden. Auch bitte ich Sie, immer zu erwägen , dass die Bewegungsvorstellung ein Zusammenge- setztes ist, und dass neben der tactilen Componente in der Regel auch eine optische in ihr enthalten ist. Jedenfalls ergiebt sich aus dieser Darstellung, dass der in den grossen Ursprungszellen der motorischen Bahn bei der Innervation sich abspielende materielle Process ohne psychischen Parallelprocess abläuft; psychische Pa- rallelprocesse existieren nur für die der.?motorischen Innervation vorausgegangenen Rindenerregungen in Gestalt der Motivempfin- dungen und Motivvorstellungen sowie der zwischen diesen letzteren und der motorischen Innervation nachträglich eingeschobenen Be- wegungsvorstellung. Lediglich Empfindung und Vorstellung exi- stieren als psychische Processe, Bewegung nicht. Die Bewegung ist nur der Effect eines psychoplrysischen Processes.

Ein grosses Interesse knüpft sich selbstverständlich an die Frage, wie gross die Geschwindigkeit des bei der Handlung statt- findenden Processes in einfach gewählten Fällen ist. Sie ent- sinnen sich, dass wir vorgreifend bereits früher bei der experimen- tellen Ermittlung der Geschwindigkeit der Ideenassociation die Wichtigkeit dahin gehender Untersuchungen hervorgehoben haben. In der That sind namentlich aus der WuNDT'schen Schule eine grosse Zahl diesbezüglicher experimenteller Arbeiten hervor- gegangen. Ich will Ihnen die Resultate derselben hier kurz vor- führen; die von der WuNDT'schen Schule gegebene Deutung der Zahlen werden wir freilich von unserem Standpunkt grösstentheils modificieren müssen.

Der einfachste Fall einer Handlung liegt vor , wenn eine möglichst einfache, durch einen momentanen Reiz ausgelöste Em- pfindung eine möglichst einfache Bewegung, z. B. eine Hand- bewegung auslöst. Man bezeichnet die hierbei verfliessende Zeit nach Exner's und Wundt's Vorgang als einfacheReactions- zeit1). Selbstverständlich wäre es sehr wichtig, diese einfache Reactionszeit auch für den Fall zu bestimmen, dass die Versuchs- person vorher nicht weiss, welche Empfindung wahrscheinlich auf sie einwirken wird, und dass der Versuchsperson keine bestimmte Reactionsbewegung vorher vorgeschrieben wird. Indess eine der- artige Versuchsanordnung ist namentlich bezüglich des zweiten Punktes erklärlicher Weise nicht wohl zu realisieren. Vielmehr wird der Versuch meist so angestellt, dass der Versuchsperson im Allgemeinen der zu erwartende Reiz vorher bekannt und vor- her eine bestimmte Bewegung mit ihr verabredet ist. Die Ver- suchsanordnung wird weiterhin so getroffen, dass sowohl der Augenblick der Reizeinwirkung wie der Augenblick der Reactions- bewegung auf einer rotierenden Trommel registriert wird. Ich kann Ihnen hier die zahlreichen Apparate, welche zur Bestimmung der Reactionszeit angegeben worden sind, nicht beschreiben und und .nenne Ihnen nur das Hipp'sche Chronoskop und namentlich

1) Nach unserer Nomenclatur würden wir die Bezeichnung „einfache Actionszeit" vorziehen.

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den WuxDTschen Chronographen 1). Die Reactionszeit wird meist in Tausendstelsecunden (a) angegeben.

Bei solchen zeitmessenden Versuchen ergab sich nun sehr bald, dass die Reactionszeit sehr verschieden gross war, je nach- dem die Versuchsperson ihre Aufmerksamkeit auf den zu erwar- tenden Sinneseindruck oder auf die zu bewegende Hand richtet. Man spricht in ersterem Fall von einer sensoriellen, im letzte- ren von einer musculären Reaction. Die musculäre Reaction ist stets erheblich schneller als die sensorielle, nämlich 2) etwa um 1jln Secunde oder ioo a. Die musculäre Reaction wird daher auch als die verkürzte, die sensorielle als die vollstän- dige bezeichnet. Nach Ludw. Lange's Versuchen beträgt die einfache Reactionszeit abgerundet für3):

bei sensorieller Reaction

bei musculärer Reaction

Licht

290

170

elektr. Hautreizung

210

100

Schall 230 120

Am bemerkenswerthesten ist hier jedenfalls die erheblich lang- samere Reaction auf Lichteindrücke. Die individuellen Unter- schiede zeigen sich auffällig gering, sobald nur die Individuen der Bedingung genügen, ihre Aufmerksamkeit ausschliesslich nur dem Sinneseindruck oder ausschliesslich nur der Be- wegung zuzuwenden. Die meisten Menschen , welche naiv und unvorbereitet an den Versuch herantreten, reagieren gemischt, d. h. die Aufmerksamkeit ist zwischen dem erwarteten Sinnes- eindruck und der verabredeten Bewegung getheilt. Daher schwankt auch in diesem Fall, je nachdem die Aufmerksamkeit nach dieser oder jener Richtung überwiegt, die Reactionszeit innerhalb sehr weiter Grenzen. Bei der Registrierung astronomischer Erschei- nungen hat sich diese ungleiche Reactionsweise besonders störend geltend gemacht , indem eine leichte zeitliche Differenz in der Registrierung sich herausstellte, wenn zwei Beobachter dasselbe Phänomen beobachteten, und es bedurfte des Aufsteilens beson- derer »persönlicher Gleichungen«, um diesen Fehler zu eliminieren. Für andere Sinnesmodalitäten existieren nur wenige zuverlässige Versuchsreihen. Interessant ist die Angabe von v. Vintschgau und Hönigschmied, dass an der Zungenspitze die einfache Reactions- zeit für Chinin viel grösser als für Zucker ist, während sich das Verhältniss bei Prüfung der hinteren Zungentheile umkehrt. Sie werden sich dabei der früher besprochenen Localisation der süss- empfindenden Nervenfasern im vorderen Zungendrittel und der

1) Vergl. Ludw. Lange, Philosoph. Stucl., Bd. 4, S. 457.

2) Münstebbebg fand neuerdings nur eine Differenz von 42 o.

S) Wundt, Physiol. Psychol., Bd. 2, 8. 267; L. Lange, Philosoph. Stud., Bd. 4, S. 479.

13*

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bitter-empfindenden am Zungengrunde erinnern. Für Geruchs- reize liegen übereinstimmende Versuchsresultate nicht vor. Für mechanische und thermische Hautreize haben v. Vintschgau 1) und Steinach die Reactionszeiten bestimmt. So ergab sich für Druck eine Reactionszeit von ca. 120 150 0. Die Wärmereactions- zeit erwies sich für ein und dieselbe Körperregion länger als die Kältereactionszeit und letztere ihrerseits länger als die Druck- reactionszeit. Interessant ist, dass, wie auch sonst beobachtet, individuelle Verschiedenheiten eine grosse Rolle spielen. Auf Wärme und Kälte wird an der rechten Gesichtshälfte rascher reagiert als an der linken.

Was bedeuten nun diese Zahlen? Offenbar wird die Actions- zeit, welche wir soeben bestimmt haben, für 3 Vorgänge ver- braucht: erstens für die centripetale Leitung des Reizes von dem peripheren Sinnesorgan bis zur sensorischen Hirnrinde, zweitens für den intercentralen, in den Elementen der Hirnrinde stattfin- denden Associationsvorgang, und drittens für die centrifugale Lei- tung von der motorischen Rindenregion bis zum Muskel. Etwaige Latenzzeiten der Erregung wollen wir zur Vereinfachung unserer Betrachtung zunächst unberücksichtigt lassen. Von diesen drei Vorgängen ist nur der zweite von einem psychischen Parallel- process begleitet. Da uns nun die Dauer des ersten und dritten wenigstens annähernd aus der Physiologie bekannt ist, so lässt sich die Dauer des zweiten wenigstens ungefähr berechnen. So dürften z. B. von den 210 o der vollständigen Reactionszeit bei elektrischen Hautreizen etwa 60 80 o auf Rechnung der sensiblen und motorischen Leitung zu setzen sein, und es bliebe für den psycho-physischen Associationsvorgang nur etwa 1 il\2 Zehntel- secunde. Für die musculäre Reaction bliebe sogar noch erheblich weniger. Hiermit stimmt überein , dass zuweilen bei letzterer Fehlreactionen vorkommen, d. h. dass die Versuchsperson die ver- abredete Bewegung macht, obwohl der Reiz noch gar nicht ein- getreten ist. Wie unterscheiden sich nun die beiden Reactionen? Offenbar bedeutet die Hinrichtung der Aufmerksamkeit auf den zu erwartenden Sinneseindruck nichts anderes , als dass Vorstel- lungen , welche in Beziehung zu dem letzteren stehen , vor dem Eintritt des Sinneseindrucks die Versuchsperson erfüllen. Zu diesen Vorstellungen gehört vor allem das Erinnerungsbild des erwarteten Sinneseindrucks, wie es von früheren Einwirkungen her bekannt ist. Damit steht in Zusammenhang, dass die Äc- commodationsapparate des betreffenden Sinnesorgans innerviert werden, so namentlich der M. ciliaris und tensor tympani. Anders bei der musculären Reaction : hier ist die Aufmerksamkeit auf die auszuführende Bewegung gerichtet, d. h. die Bewegungsvorstel- lung, speciell also die Vorstellung der verabredeten Handbe- wegung erfüllt die Versuchsperson zur Zeit, wo der Sinneseindruck eintritt. Es äussert sich dies meist auch darin, dass schon lange vor der Reaction eine fortwährende leichte tonische Spannung der Hand- und Armmusculatur besteht. Nunmehr erklärt sich auch die Differenz der beiden Reactionszeiten in befriedigender Weise. Das bei der sensoriellen Reaction im Vordergrund stehende

1) Pflügek's Arch., Bd. 43.

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Erinnerungsbild des Reizes wirkt geradezu fast störend. Seine besondere Reproduction ist bei dem ganzen Associationsvorgang gar nicht nöthig, ein besonderes Wiedererkennen mit anderen Worten überflüssig. Während also die Anspannung der Accom- modationsmuskeln bei der sensoriellen Reaction zwar im Allge- meinen etwas beschleunigend auf den Reactionsvorgang wirken kann, nöthigt das zugleich bestehende Erinnerungsbild die As- sociation gewissermaassen zu einem Umweg oder zwingt ihr einen überflüssigen Zwischenact des Wiedererkennens auf. Bei der mus- culären Reaction ist die Reizaufnahme weder beschleunigt, noch verzögert , aber durch die vorherrschende Bewegungsvorstellung ist sowohl die intercentrale Leitungsbahn, wie das motorische Centrum, wTie die motorischen Leitungsbahnen, wie endlich die Musculatur selbst gewissermaassen auf den kommenden Reiz ab- gestimmt oder vorbereitet. Derselbe braucht das volle Gefäss nur zum Umkippen zu bringen. Die Erregbarkeit der Leitungswege ist durch die Bewegungsvorstellung gesteigert. Aus dieser sehr günstigen Constellation erklärt sich die ausserordentliche Ver- kürzung des Vorgangs bei musculärer Reaction1).

Die musculäre Reaction ist ganz besonders geneigt, in einen automatischen Act, also in eine Reaction im eigentlichen Sinne überzugehen: d. h. es bleibt bei längerer Uebung leicht der psy- chische Parallelprocess weg, die Handbewegung wird mechanisch ausgeführt. Bei der sensoriellen Reaction ist dies erheblich sel- tener. Aus dem Vorigen erklärt sich dies leicht: der psychische Act bei der rein musculären Action ist als ein minimaler anzu- sehen, wenn man bedenkt, dass die Innervation als solche eines psychischen Correlats so wie so entbehrt und bei der musculären Reaction die Empfindung eine viel unerheblichere, lediglich aus- lösende Rolle spielt. Viele Psychologen nehmen an , dass in solchen Fällen, wo eine Willenshandlung durch Uebung auto- matisch wird und damit des psychischen Parallelprocesses verlustig geht, der materielle Erregungsprocess allmählich einen anderen, abgekürzten Weg nimmt. Man stellt sich vor, dass die corticale Zwischenstation ganz übersprungen wird, und der Uebergang der Erregung schon infracortical von einem sensorischen Centrum aut ein anderes motorisches erfolgt. Diese Annahme führt unver- meidlich zu Widersprüchen. In diesen Fällen, wo aus psychischen Acten automatische werden, wird die transcorticale Bahn in Folge der Uebung immer mehr ausgeschliffen, und es tritt dasselbe ein, was wir bereits bei der Ideenassociation kennen lernten: Zwischen- vorstellungen werden übersprungen, indem sich der Process mehr und mehr beschleunigt. Wird in stetiger Weiterentwicklung eine Zwischenvorstellung nach der anderen übersprungen, und fällt bei extremster Uebung und Beschleunigung schliesslich die letzte fort, so ist damit auch der psychische Parallelprocess überhaupt in Wegfall gekommen , zumal wenn zugleich die einleitende Em- pfindung durch intensive andere Empfindungen oder Vorstellungen bis zur Intensität Null abgeschwächt wird. Der Weg der Erregung

1) Für die von Langk angegebene subcorticale oder cerebellare Localisation der musculären Reaction liegt keinerlei ausreichender Grund vor.

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bleibt dabei wahrscheinlich ganz derselbe, er wird nur schneller zurückgelegt : so entstehen aus psychischen Acten Reactionen und selbst Reflexe. Nur phylogenetisch kommt jenes Ueber- springen einer corticalen Zwischenstation zu Stande.

Doch wir kehren zu unseren zeitmessenden Versuchen zurück. Wir haben bis jetzt nur die Handlung in ihrer einfachsten Form untersucht. Wir wollen jetzt compliciertere Fälle betrachten. Zu- nächst geben wir der Versuchsperson auf, erst dann die verab- redete Handbewegung zu machen, wenn sie den Sinnesreiz aus- drücklich wiedererkannt hat, also ein Wiedererkennen in aller Form eingetreten ist. Die Reactionszeit wird hierdurch selbst- verständlich ganz erheblich grösser. Es schiebt sich ja hier, ab- gesehen von dem besonderen Auftauchen des Erinnerungsbildes, noch meist ein Urtheilsvorgang ein , indem die Person erst dann reagiert, wenn sie das Urtheil gefällt hat: jetzt habe ich das Licht oder den Schall erkannt. Eine scharfe Grenze zwischen dieser Erkennungsaction und der einfachen sensoriellen Reaction existiert übrigens nicht : denn erstens ist bei der sensoriellen Reaction in ihrer extremen Form das Auftauchen des Erinnerungsbildes und das Dazwischentreten eines Urtheils von dem eben angegebenen Inhalt nicht ganz zu vermeiden, und zweitens ist bei dieser Er- kennungsreaction die Aufmerksamkeit der Versuchsperson meist vorwiegend sensoriell. Die Versuche über Erkennungs- reactionen werden erklärlicherweise am besten so angestellt, dass zwischen einer bestimmten Anzahl von Sinneseindrücken bestän- dig gewechselt wird : die Versuchsperson wird auf diesem Wege am leichtesten gezwungen, statt einfach zu reagieren, immer erst die erwähnte Ueberlegung und Erkennung einzuschalten. So wird die Erkennungszeit zugleich zur Unterscheidungszeit.

Eine weitere Complication können wir dadurch herstellen, dass wir anordnen , dass auf einen bestimmten Sinneseindruck immer mit dem Mittelfinger, auf einen anderen immer mit dem Zeigefinger reagiert werden soll. Hier kommt zur Unterschei- dung noch eine Wahl hinzu , und dementsprechend wird die Reactionszeit noch grösser. Man bezeichnet sie in diesem Fall als Wahlzeit. Erklärlicher Weise sind hier sowohl rein sen- sorielle, wie rein musculäre Reactionen schwer zu erhalten, meist ist die Reactionsweise eine mehr gemischte. Schieben wir endlich zwischen Sinneseindruck und Bewegung noch eine oder mehrere Vorstellungen, also eine vollständige Ideenassociation ein, so ge- langen wir zu der Handlung in ihrer grössten Zusammensetzung und damit auf das Problem der Geschwindigkeit der Ideenasso- ciation zurück, welches wir bereits früher ausführlich erörtert haben. Ich verzichte geflissentlich darauf, Ihnen genauere Zahlen über die eben besprochenen sogenannten zusammengesetzten Re- actionszeiten anzugeben, da die hierher gehörigen Experimental- untersuchungen von Cattell1), Friedrich2), Münsterberg3)

1) Psychometrische Untersuchungen, Philosoph. Stud.^ Bd. 3, S. 305 u. 452, Bd. 5, S. 241, Bd. 2, S. 635.

2) Zur Methodik der Apperceptionsversuche , Bd. 2, S. 66, und Bd. 1, S. 39.

3) Beiträge zur experimentellen Psychologie, H. 1.

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u. A. trotz ihrer grossen Zahl und trotz der aufgewandten Mühe eine genügende Uebereinstimmung nicht aufweisen.

Hingegen interessiert uns hier noch die Frage, wie der ein- fache Reactionsvorgang durch Variation der einzelnen psychischen Factoren variiert wird. Am bemerkenswerthesten ist in dieser Richtung die Abnahme der Reactionszeit mit Zunahme der Em- pfindungsintensität. Stark verlängert wird ferner die Reactions- zeit stets durch das gleichzeitige Bestehen von anderen Empfin- dungen oder Vorstellungen, welche, wie wir uns ausdrücken, die Aufmerksamkeit ablenken und stören. Wundt hat noch speciell die interessante Thatsache festgestellt, dass die störende Wirkung der Nebenempfindungen grösser ist bei disparaten Reizen als bei gleichartigen. Soll also die Versuchsperson auf einen Lichtfunken reagieren, so ist ein Nebengeräusch störender als ein Neben- licht. Endlich ist, wie aus früheren Bemerkungen schon erklär- lich, die Stimmung der Versuchsperson nicht ohne Einfluss. Wir verstehen unter Stimmung die Resultante der in einer bestimmten Zeiteinheit auftretenden positiven und negativen Gefühlstöne. Je mehr nun die positiven Gefühlstöne in der Stimmung vorherrschen, um so rascher verlaufen ceteris paribus alle Reactionen. Daher rührt u. a. auch z. Th. die abnorme Beschleunigung der moto- rischen Reactionen, die sog. motorische Agitation bei der Manie, bei welcher, wie früher erwähnt, positive Affecte vorherrschen.

Auch toxische Mittel verändern die Reactionszeit. So fand Kraepelin 1 ) , dass gewisse Stoffe , wie Amylnitrit , Aether und Chloroform, die Reactionszeit erst vergrössern und dann verkürzen, während Alcohol umgekehrt erst verkürzend und dann verlängernd auf die Reactionszeit zu wirken scheint. Freilich ist in diesen Versuchen der Unterschied zwischen musculärer und sensorieller Reaction noch nicht berücksichtigt. Mit steigender Höhe der Alcoholdosen tritt übrigens die Phase des verkürzenden Einflusses mehr und mehr zurück.

Von den zeitmessenden Versuchen über den Ablauf der Hand- lung wenden wir uns zu den verschiedenen Formen der Handlung, welche wir unterscheiden können. Psychologisch am wichtigsten ist hier die Unterscheidung , ob die initiale Em- pfindung oder der Inhalt der im Spiel der Motive einwirkenden Erinnerungsbilder oder die Gefühlstöne sowohl der Empfindung wie der Vorstellungen den maassgebenden Einfluss auf die Be- schaffenheit der resultierenden Bewegung hatten. Im ersten Fall wollen wir von einer Triebhandlung2), im zweiten von einer intellectuellen Handlung, im dritten von einer Affecthandlung sprechen. Die Abwehrbewegung, welche ich auf die Gesichts- empfindung eines drohenden Schlages mache, ist eine Triebhand-

1) Philosoph. Stud., Bd. 1, S. 417 u. 573, sowie neuerdings ein Vor- trag auf der Jahresversammlung des psychiatrischen Vereins, 1889. Vergl. auch Dietl und v. Vintschgau, Pplüger's Archiv, Bd. 16, sowie nament- lich Kraepelin's neueste Monographie „Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel". Jena, Gr. Fischer, 1892.

2 Wundt bezeichnet als Triebhandlungen solche Bewegungen, welche durch ein einziges Motiv eindeutig bestimmt sind. Beide Definitionen decken sich offenbar nur theilweise.

200

lung. Die zahllosen Handlungen, welche wir zur Erfüllung eines Wunsches stündlich ausführen, sind Affecthandlungen. Die mei- sten überlegten Handlungen sind intellectuelle Handlungen in unserem Sinn. Diese Grenze ist jedoch nichts weniger als scharf. Bei den meisten Handlungen wirken alle drei Factoren mit, namentlich pflegt bei der Triebhandlung stets auch der Affect eine grosse Rolle zu spielen. Die willkürliche Bewegung im engeren Sinne, d. h. diejenige Bewegung, bei welcher das Ge- fühl einer scheinbaren freien Willensbestimmung am täuschendsten vorhanden ist, findet in dieser Eintheilung keine besondere Stelle. Die charakteristischen Eigenthümlichkeiten dieser Willkürhandlung habe ich schon vorher erwähnt. Ich füge noch hinzu, dass die- selbe in den ausgeprägten Fällen stets vorwiegend Affecthandlung ist, und zwar ist der dominierende Factor der positive Gefühlston der der Bewegung vorangehenden Bewegungsvorstellung. Die Triebhandlung steht jedenfalls der automatischen Bewegung am nächsten J), die intellectuelle Handlung am fernsten.

Weit wichtiger als die eben gegebene Eintheilung der Hand- lungen ist die Abgrenzung einer bestimmten Gruppe derselben von einem anderen Standpunkt aus. Ich meine die Gruppe der Ausdrucksbewegungen. Alle Ausdrucksbewegungen haben gemein, dass sie einen motorischen Ausschlag des psychischen Processes darstellen, dessen wesentlicher Effect lediglich darin besteht, diesen psychischen Process anderen Individuen zu ver- rathen. Jede andere Bewegung hat noch einen bestimmten ander- weitigen äusseren Effect und giebt nur nebenher und indirect Auskunft über den psychischen Zustand des Handelnden. Bei der Ausdrucksbewegung ist umgekehrt der sonstige äussere Effect nebensächlich. Wenn ich ein Wasserglas ergreife, so ist es neben- sächlich, dass andere aus meiner Handbewegung meine Absicht zu trinken errathen. Umgekehrt, wenn ich lache, so ist der Haupt- effect der, dass meine Stimmung sich äussert und eventuell anderen verräth. Dabei bezeichnen wir das Ergreifen des Wasserglases als eine beabsichtigte, willkürliche Handlung, während wir viele Ausdrucksbewegungen, wie Lachen, Weinen, geradezu als mehr oder weniger unwillkürlich bezeichnen. Endlich existieren eine Reihe Ausdrucksbewegungen auch in glatten, also nach der ge- wöhnlichen Terminologie dem Willen überhaupt nie unterworfenen Muskeln, so das Weinen, das Sträuben der Haare und Federn und anderer Hautanhänge, das Erröthen u. a. m. Mit diesen mimischen Bewegungen im engeren Sinne sind nun freilich die Ausdrucks- bewegungen nicht erschöpft. Die Gesticulationen der Hand sind ebenfalls als Ausdrucksbewegungen zu bezeichnen. Oder denken Sie an das Zucken der Achseln, die Verbeugung des Oberkörpers u. a. m. !

Die wichtigste Gruppe der Ausdrucksbewegungen ist die der Sprechbewegungen. Sie wissen, dass dieselben sich darstellen als eine Summe ausserordentlich complicierter, coordinierter Lippen-,

1) Meynbrt hat versucht (Psychiatrie, Wien 1888) für alle willkür- lichen Bewegungen eine Entstehung aus automatischen Bewegungen nach- zuweisen, für manche Triebbewegungen scheint mir in der That eine solche Entstehung wohl denkbar.

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Gaumen-, Zungen- und Kelilkopfbewegungen. Während die zu- erst angeführten Ausdrucksbewegungen des Lachens, Weinens u. s. f. meist speciell Affecte ausdrücken, werden die Sprechbewegungen zum Ausdruck unserer Empfindungen und ihrer Erinnerungsbilder, der Vorstellungen. Die enorme Zahl der Empfindungen und Vor- stellungen erfordert natürlich eine entsprechend grosse Variabilität der Sprechbewegungen. Beides, Sprache und Denken, entwickelt sich parallel eines an und mit dem anderen. Die Bedeutung der Sprechbewegungen für die Zusammenfassung der Theilvor- stellungen zu einheitlichen Begriffen habe ich Ihnen früher be- reits erörtert. Sie werden nun auch verstehen, weshalb die Aus- drucksbewegungen des Sprechens so entscheidend für die höhere Entwicklung des Menschen sind. Auch anatomisch spricht sich dies im Bau der Hirnoberfläche aus. Wenn Sie ein Affen- und Menschengehirn vergleichen, so finden Sie bei letzterem einen Windungscomplex am hinteren Ende der unteren Stirnwindung, welcher bei dem Affengehirn völlig fehlt, wie mit dem Locheisen ausgeschlagen scheint: an dieser Stelle liegt, wie wir bereits seit 50 Jahren wissen, das Rindencentrum der Sprechbewegungen. Hat ein Krankheitsherd diese sog. BROCA'sche Stelle links zer- stört, so kann der Kranke die groben Lippen-, Zungen- und Kehl- kopfbewegungen noch ausführen, aber die feineren Bewegungs- complexe der Lippen-, Zungen- und Kehlkopfmuskeln zum Be- hufe des Sprechens sind dem Kranken unwiederbringlich verloren gegangen. Die Function der correspondierenden Stelle der rechten Hemisphäre des menschlichen Grosshirns ist nicht genau bekannt. Wahrscheinlich ist es, dass dasselbe nur bei der Articulation inter- jectioneller Ausdrücke wie: ach Gott, ja, nein ') mitwirkt. Hand in Hand mit der Entwickelung dieses motorischen Sprachcentrums entwickelt sich in der Hörsphäre des Grosshirns, im Temporal- lappen, ein sensorisches Sprachcentrum, in welchem die Erinne- rungsbilder der Wortklänge niedergelegt werden. Wird dieses Centrum an der sog. WERNiCKE'schen Stelle des linken Temporal- lappens zerstört, so werden Worte wohl noch gehört, aber nicht verstanden. Endlich treten als letzte Stufe der Ausdrucksbewe- gungen bei dem Culturmenschen die Schreibbewegungen auf, denen auf sensorischem Gebiet die Gesichtsvorstellungen des Lesens entsprechen. Ich kann Ihnen hier nur einen ganz flüch- tigen Ueberblick über diese höchst interessanten Beziehungen des Grosshirns zu der Sprache geben und muss Sie dringend auf das Studium der einschlägigen Fachschriftsteller hinweisen2).

Uns interessiert hier vor allem die Frage nach der Ent- stehung der Ausdrucksbewegungen. Noch Duchenne, der be- rühmte Verfasser der Physiologie des mouvements und des Mecanisme de la physiognomie humaine, hält die Ausdrucks- bewegungen für ein Geschenk, das Gott dem Menschen neu ge-

1) Vergl. Gowers , Vorlesungen über die Diagnostik der Gehirn- krankheiten, Vorl. 9 u. 10.

2) Weunicke, Der aphasische Symptomencomplex, Breslau 1874, und namentlich auch die neueren Aufsätze desselben Autors in Friedländer's Fortschritten der Medicin, 1886. Ferner Gkashky, Arch. f. Psychiatrie, 1885. Lichthkim, Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 36.

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geben habe. Die göttliche Weisheit oder die göttliche Phantasie habe willkürlich zum Ausdruck einer bestimmten Gemüthsbewe- gung diesen oder jenen Muskel für das Menschengeschlecht be- stimmt. Erst Darwin1) hat auch hier der phylogenetischen Er- klärung Bahn gebrochen. Auch die Ausdrucksbewegungen des Menschen sind in jahrtausendelanger Entwickelung aus thierischen Ausdrucksbewegungen entstanden. Wahrscheinlich sind fast alle Ausdrucksbewegungen erst secundär aus gewöhnlichen, nicht-ex- pressiven psychischen Handlungen hervorgegangen. Wir wollen ein bestimmtes Beispiel wählen : Der Gesichtsausdruck der Wuth und des Hasses beim Menschen äussert sich ganz vorzugsweise in einem Zurückziehen der Lippen und Entblössen der Zähne : namentlich die Winkel der Oberlippe werden gehoben, so dass die Eckzähne sichtbar werden. Diese Bewegung ist entschieden von der Thierreihe ererbt. Hund, Katze, Affe entblössen ihre Eckzähne vor einem Feind, den sie angreifen wollen, oder dessen Angriff sie erwarten, ganz in derselben Weise. Bei diesen Thieren nun ist diese Bewegung zunächst gar keine Ausdrucksbewegung, sondern eine höchst zweckmässige Vorbereitung auf den bevor- stehenden Kampf. Dieser motorische Ausschlag der unange- nehmen Gesichtsempfindung eines Feindes hat sich durch Selection eben wegen seiner Zweckmässigkeit allgemein in der Thierreihe eingestellt. Bei dem Menschen ist der ursprüngliche Vortheil der Bewegung ganz in Wegfall gekommen, da ja die Zähne dem Menschen selten als Waffe im Kampf dienen, aber die Bewegung hat sich erhalten als Ausdruck des specifischen Unlustaffects, welcher das Sehen eines Feindes begleitet. Aber noch mehr : auch andere Empfindungen, welche der Gesichtsempfindung eines Feindes bezüglich des Gefühlstons gleichen oder associativ mit der Vorstellung eines Feindes verknüpft sind, rufen dieselbe Aus- drucksbewegung hervor, und zwar auch schon bei Thieren oft dann, wenn ein Kampf und die Verwerthung der Zähne in dem- selben ganz ausgeschlossen ist. Der Leidenschaftliche fletscht die Zähne zuweilen auch dann, wenn das Schicksal einen Wunsch nicht erfüllt hat. Es kommt nun hinzu, dass in der grossen Mehrzahl der Fälle diese Ausdrucksbewegungen zwar den ur- sprünglichen directen Vortheil der Abwehr etc. verlieren, dafür aber allmählich sich mit einem anderen, ebenso grossen Vortheil verbinden : der Angstschrei der jungen Thiere ruft die Mutter herbei, der Wuthschrei des erwachsenen Thieres schreckt den Angreifer. In der übergrossen Mehrzahl der Fälle ist dem Thier dieses Kundwerden seiner Affecte nützlich. Bei dem Menschen erreicht die Entwickelung dieser Ausdrucksbewegungen ihre höchste Stufe. Indem die Sprache für jede Empfindung und jede Vorstellung, nicht nur für Affecte wie die thierischen Ausdrucks- bewegungen, ein specielles Wort, d. h. eine specielle Ausdrucks- bewegung in Kehlkopf- und Mundmuskeln hat, ist sociale Gemein- schaft und Cultur möglich und dem Menschen ein unermesslicher Vortheil im Kampf ums Dasein gewonnen worden.

Aus welchen speciellen Ausdrucksbewegungen die Sprache

1) Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen. Gesammelte Werke, Bd. 7.

203

entstanden ist, ist noch sehr unsicher1). Keinesfalls ist sie, wie noch neuerdings behauptet worden ist, eine menschliche Erfin- duno-, welche zufolge eines allgemeinen Uebereinkommens sich eingebürgert hat. Vielmehr scheinen namentlich auf zwei Wegen Wortbildungen zu Stande gekommen zu sein, einmal aus dem thierischen Affectschrei und zweitens durch die sogenannte Ono- matopöie. Der thierische Schrei drückt bereits mannigfache ps}^- chische Zustände aus, allerdings vorzugsweise affectiver Natur. Als Lockruf der Männchen drückt er sexuelle Gefühle aus, als Angstschrei das Gefühl der Bedrohung, als Wuthschrei den Hass u. s. f. Namentlich plötzlich auftretende Gesichtsreize (ein vorüberjagendes Thier, der Blitz) lösen fast reflectonscb einen Schrei aus. Diese Schreie differenzierten sich durch Selection, ähnlich wie wir es so oft finden, mehr und mehr, bis aus ihnen schliesslich der colossale Wortschatz unserer Sprachen geworden ist. Einen mehr secundären, modificierenden Einfluss hat die Ono- matopöie ausgeübt. Dieselbe ist namentlich2) für Gehörsreize wichtig. Ein Schall, der uns in der Natur öfter begegnet, wird nachgeahmt, d. h. der motorische Ausschlag, welchen z. B. die vom Rollen des Donners ausgelöste Schallempfindung auslöst, wird so lange modificiert, bis die Bewegung einen dem Donner ähnlichen Schall hervorbringt. Von einem Verständniss dieses Nachahmungstriebes im darwinistischen Sinne sind wir noch weit entfernt; an der Bedeutung dieses Triebes für die Sprachentwicke- lung ist nicht zu zweifeln. Die Verständlichkeit der so entstan- denen Worte für eine grössere Zahl erklärt sich in beiden Fällen leicht nach den Ihnen bekannten Associationsgesetzen, wenn Sie erwägen, dass sowohl der Reflexschrei wie die onomatopoetische Nachahmung bei ähnlich gebauten Individuen bei ein und der- selben Empfindung nothwendig ähnlich ausfallen musste. Der enorme Einfluss der Vererbung bei den Ausdrucksbewegungen offenbart sich am deutlichsten darin, dass auch Blind- und Taub- geborene, wie Laura Bridgman, ihre Freude etc. durch ein typi- sches Lachen ausdrücken. In der Entwickelung des normalen Kindes stellen sich die meisten Ausdrucksbewegungen erst ver- hältnissmässig spät ein, so z. B. Weinen selten vor dem dritten Lebensmonat '•'). Sehr interessant ist, dass bei fast allen Menschen- rassen die mimischen Ausdrucksbewegungen der Affecte nahezu identisch sind. Bezüglich der Ausdrucksbewegungen der Sprache ist Ihnen ja bekannt, wie grosse Analogien die vergleichende Sprachwissenschaft zwischen den einzelnen Sprachen festgestellt

1) Vergl. P. Regnaud, Origine et philosophie du langage ou principes de linguistique indoeuropeenne. Paris 1889. Leider verkennt R. die Bedeutung der Onomatopöie völlig. Einen guten Einblick in alle hierher gehörigen Streitfragen geben Ihnen auch die allerdings zu sehr zweifel- haften Ergebnissen führenden Aufsätze Marty's (Viertel]' ahrsschr. f. wiss. Philosophie, 1885—1892).

2 Nicht ausschliesslich, vergl. Lazarus, Leben der Seele. Steinthal, Abriss der Sprachwissensschaft.

3) Vergl. Pbeyeb, Seele des Kindes. Binswangeb hat Lachen schon in der 15. Lebenswoche beobachtet; Lächeln stellt sich schon in der 7. JO. Woche ein.

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hat. Dass auch die Thiere zahlreiche Ausdrucksbewegungen zeigen, welche den menschlichen im höchsten Maass ähneln, er- wähnte ich schon oben.

Sehr interessant ist auch die anatomische Localisation der Centren und Nervenbahnen der Ausdrucksbewegungen. Das Cen- trum der compliciertesten Ausdrucksbewegungen der sprach- lichen -- ist unzweifelhaft, wie Sie schon gehört haben, in der Rinde gelegen. Die Bahn, auf welcher die Sprechimpulse von der Rinde der Sprachmusculatur zugehen, scheint im Wesentlichen in der Pyramidenbahn enthalten zu sein ; keinesfalls findet eine Unterbrechung derselben in den grossen Ganglien statt. Anders die mimischen Ausdrucksbewegungen. Das Centrum derselben ist wahrscheinlich im Thalamus opticus gelegen. Bei dem Ka- ninchen finden die charakteristischen Ausdrucksbewegungen Brummen, Schwanzhebungen etc. noch statt, nachdem die

ganze Grosshirnrinde entfernt worden ist1). Auch für den Men- schen scheint nach neueren klinischen Beobachtungen Noth- nagel^-) die Bedeutung des Thalamus opticus für die mimischen Ausdrucksbewegungen unzweifelhaft. Dieser infracorticalen Lo- calisation entspricht denn auch der psychologische Thatbestand, dass die mimischen Ausdrucksbewegungen, wie Lachen, zwar durch einen psychischen Factor ausgelöst werden, aber dem Spiel der Association nur wenig unterworfen sind oder, wie wir sagen, fast unwillkürlich erfolgen. Selbstverständlich muss immerhin noch eine Bahn existieren, welche die dem psychischen Zustand der heiteren Stimmung entsprechende Rindenerregung dem Seh- hügel mittheilt: in der That sind solche Faserverbindungen zwischen Sehhügel und Rinde in grosser Zahl bekannt. Endlich gewisse Ausdrucksbewegungen, wie Erröthen3), Sträuben der Haare etc., haben wahrscheinlich ihr Centrum in noch tieferen Theilen des Gehirns, speciell in der Medulla oblongata. Dem entspricht der Thatbestand, dass diese Ausdrucksbewegungen zwar auch von psychischen Ursachen ausgehen, aber der Willkür oder richtiger dem Spiel der Association so gut wie gar nicht unterworfen sind und nicht einmal willkürlich unterdrückt werden können.

Mit diesem flüchtigen Ueberblick über das Gebiet der Hand- lungen muss ich mich hier begnügen. Es erwartet uns nun die Aufgabe, zu untersuchen, welcher Platz in unserer Psychologie dem sogenannten Willen zukommt.

1) Bechterew, Viech. Arch., Bd. 101. Ziehen, Arch. f. Psych., XX.

2) Nothnagel, Zeitschr. f. klin. Med., 1889, Bd. 16, H. 5 u. 6.

3) In gewissem Sinn gehören auch die eigenthümlichen Pulsverände- rungen hierher, welche die Erregungsaffecte begleiten. Vergi. Ziehen, Splrygmograph. Untersuchungen, 1887

FÜNFZEHNTE VORLESUNG. Wille. Allgemeine Schlussfolgerung.

M. H. ! Wir haben aus den zahllosen materiellen Reizen der Aussenwelt Rindenerregungen abgeleitet, welchen auf psychischem Gebiet die Empfindungen entsprachen. Wir verfolgten die Rin- denerregung alsdann in der Hirnrinde auf den Associationsfasern bis in die motorische Zone: von hier wurde die materielle Er- regung wieder peripheriewärts der Musculatur zugeleitet und löste Muskelcontractionen aus. Psychisch entsprach dem transcorticalen Process das Spiel der Ideenassociation, und die resultierende Be- wegung bezeichneten wir psychologisch als Handlung. Wir ver- mochten die letztere aus der Empfindung und aus den Erinne- rungsbildern früherer Empfindungen , den Vorstellungen , nach den Gesetzen der Ideenassociation in völlig genügender Weise abzuleiten und hatten damit den psychischen Process bis zu seinem Schlussgliede verfolgt. An dieser Stelle stossen wir jedoch auf eine Hypothese, welche die Psychologie früher fast ausnahmslos gelehrt hat, und zu welcher zu allen Zeiten der gemeine Men- schenverstand scheinbar unbewusst gelangt: ich meine die An- nahme eines besonderen Willens als Ursache unserer Handlungen. Diese Hypothese schiebt zwischen den Vorgang der Ideenassocia- tion und die Handlung noch die Einwirkung eines specifischen Seelenvermögens. Die Ideenassociation liefert nur die Motive, zwischen diesen Motiven entscheidet in letzter Linie der Wille. Während die übrigen Seelenvermögen, Verstand, Urtheilskraft etc. als solche seit Herbart rasch an Credit verloren haben, hält sich die Lehre von der Existenz eines besonderen Willens Vermögens mit grösster Hartnäckigkeit. Nun haben wir bereits gesehen, dass uns nichts zur Annahme eines neuen, ganz hypothetischen Factors im Seelenleben nöthigt. Wir können den Verfechtern der Lehre von einem besonderen Willensvermögen mit vollem Recht das onus probandi zuwälzen. Wir haben alle psychischen Vorgänge ohne dasselbe erklärt, durch dasselbe würden sie um nichts verständ- licher. Was bedeutet es, wenn ich sage: ich »will« gehen? Oder richtiger gefragt : welchen psychischen Inhalt drückt die Sprechbewegung »ich will gehen« aus? Offenbar nur Folgendes: die Bewegungsvorstellung meines Gehens schwebt mir in grosser

20Ö

Intensität vor und ist von einem ausgeprägten positiven Gefühls- ton begleitet, zugleich ist die Vorstellungsconstellation eine der- artige," dass die Vorstellungen, welche das Auftreten der Bewe- gungsvorstellung des Gehens fördern oder heben, gegenüber den hemmenden überwiegen. Wenn ich mir vorstelle : wie schön wäre es, wenn ich dort auf jenen Berg stiege, so kann diese Vorstellung sehr lebhaft sein, ohne dass ich dort umhergehen will. In diesem Fall liegt fast ausschliesslich eine von positivem Gefühlston be- gleitete Gesichtsvorstellung und nur eine sehr schwache Bewe- gungsvorstellung meiner Glieder vor. Zahlreiche hemmende Vor- stellungen, z. B. diejenigen der grossen Entfernung des Berges etc., lassen die Bewegungsvorstellung nicht anwachsen. Wir gehen einen Schritt weiter und sagen: ich möchte auf jenen Berg steigen. Was bedeutet dieses »möchte«, dies »Begehren«? Der Vorstellungsinhalt ist auch hier noch der gleiche geblieben, die Bewegungsvorstellung ist noch immer gehemmt trotz ihres stark gewachsenen positiven Gefühlstons. Die letzte Stufe endlich ist das: »ich will auf jenen Berg steigen«. Die Bewegungsvorstel- lung ist ausserordentlich intensiv geworden, der positive Gefühls- ton hat seine volle Höhe erreicht und vor allem überwiegen die fördernden Vorstellungen die hemmenden. Der Ausdruck: »ich will« bezeichnet auch den objectiven Status quo unseres Gehirns und zwar speciell die Constellation der latenten Vorstellungen, nicht nur das subjective Bewusstsein eines bestimmten Augen- blicks. Man muss hier dreierlei unterscheiden. Wenn ein An- derer von mir sagt, dass ich dies oder jenes will, so meint er ganz vorzugsweise, dass die Constellation meiner latenten Erin- nerungsbilder dem Auftreten dieser oder jener in mir von starken positiven Gefühlstönen begleiteten Bewegungsvorstellung oder Handlung günstig ist. Hingegen ist mein eigner psychischer Inhalt, wenn ich etwas will, nur dadurch vor anderen psychi- schen Inhalten ausgezeichnet, dass die Vorstellung einer gewollten Bewegung, begleitet von positivem Gefühlston, schon implicite in meinen augenblicklichen Empfindungen und Vorstellungen ent- halten ist. Sehr häufig kommen hierzu noch jene eigenthümlichen oft genannten Bewegungsempfindungen hinzu, welche durch un- bewusste Innervation der Intentionsmusculatur entsprechend der gesteigerten Aufmerksamkeit entstehen. Ein Drittes ist endlich noch zu unterscheiden : mein eigner psychischer Inhalt , wenn ich sage: ich will etwas, wenn ich also die Willenshandlung momentan unterbreche und über sie reflectiere. Dieses »ich will etwas« ist eine Kette von Sprechbewegungsvorstellungen , mit welcher associativ mitschwingen: erstens, meine Ich -Vorstellung im früher erörterten Sinne, zweitens die vom positiven Gefühlston begleitete Vorstellung einer zukünftigen Handlung , drittens Be- wegungsempfindungen der Intention, viertens die Vorstellung eines causalen Verhältnisses zwischen meiner Ich-Vorstellung und der gewollten Handlung l). Alle diese Elemente sind uns schon längst bekannt, keines derselben ist neu. Die Vorstellung eines causalen

1) Vergl. die in mancher Beziehung diesen Standpunkt schon anti- cipierenden Erörterungen von Th. Waitz, Lehrbuch der Psychologie als

Naturwissenschaft.

2o;

Verhältnisses ist eine Beziehungsvorstellung-, ganz ebenso wie die früher als Paradigma der Beziehungsvorstellungen behandelte Vor- stellung der Aehnlichkeit. Also auch diese Analyse er- giebt keinen Anlass zur Annahme eines besonderen Willens Vermögens.

Eine interessante Bestätigung dieses Resultates liefert auch die Psychiatrie. Diese ist ganz empirisch dazu gekommen, zwei Hauptformen der Psychosen anzunehmen, solche, welche im in- tellectuellen Gebiet, und solche, welche im affectiven Gebiet der Seelenvorgänge beginnen. Besondere Willenspsychosen kennt die Psychiatrie nicht. Die Versuche, besondere Willenserkran- kungen unter dem Namen von Monomanien oder eine allgemeine Willenserkrankung als Moral insanity, moralisches Irresein, auf- zustellen , sind anerkanntermaassen fehlgeschlagen. Alle Stö- rungen der Handlung, welche wir bei Geisteskranken finden, lassen sich zwanglos auf Störungen des Empfindungslebens, speciell der Gefühlstöne, oder intellectuelle Störungen, der Ideen- association oder der Vorstellungen, zurückführen. Die sogenannte Abulie, die Unfähigkeit, einen Entschluss zu fassen, ist z. B. ein häufiges Symptom geistiger Erkrankung, stets aber lässt sich diese sogenannte Willenlosigkeit entweder auf hochgradige Ver- langsamung der Ideenassociation oder abnorme negative Ge- fühlstöne oder Aehnliches zurückführen. Gerade die Pathologie spricht gleichfalls gegen die Annahme eines besonderen Willens- vermögens ' ).

Zu erörtern bleibt uns nur noch, wieso wir dazu kommen, unsere Ich -Vorstellung als Ursache unserer Handlungen zu be- trachten, und endlich, woher unser Gefühl der Freiheit bei unseren Handlungen kommt. Ersteres beruht offenbar auf dem äusserst häufigen Auftreten der Ich -Vorstellung in der jeder Handlung vorausgehenden Vorstellungsreihe. Fast stets findet sie sich mehr- mals vertreten unter den der Schlussbewegung vorausgehenden Vorstellungen. Die Beziehungsvorstellung der Ursächlichkeit tritt aber empirisch überall da auf, wo zwischen zwei Vorstellungen eine sehr enge associative Verknüpfung und doch Succession besteht.

Das Gefühl der Freiheit bei unseren Handlungen erklärt sich i_ranz ebenso wie das Gefühl der Freiheit in unserer Ideenassocia- tion, welches wir früher beschrieben. Wir müssen hier wieder hervorheben, dass dieses Gefühl der Freiheit auf der Abwesenheit äusserer zwingender Motive, also auf der Thatsache beruht, dass nicht die Empfindungen allein, sondern auch unsere Erinnerungs- bilder unsere Bewegungen bestimmen. Auch kommt begünstigend hinzu , dass meist im Spiel der Motive auch die Vorstellung der Unterlassung der Bewegung oder die einer anderen Bewegung als der vom stärksten Gefühlston begleiteten und später wirklich aus- geführten auftritt. Was aber dann diese letztere zum Sieg führt und die erstere unterdrückt, ist nicht ein besonderer freier Wille, son- dern dies ist ausschliesslich eben dieser stärkere Gefühlston, die grössere associative Verwandtschaft und die Gunst der Constellation

1) Vergl. Rjbot, Les maladies de la volonte, ein Buch, dass aller- dings dem „Ich" eine entschieden zu grosse Rolle bei den Willenshand- lungen zutheilt.

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der latenten Erinnerungsbilder. Unser Handeln ist necessitiert wie unser Denken *). Zu diesem Schluss mussten wir kommen, denn im Grunde genommen sind ja beide völlig identisch. Das Denken besteht aus einer Vorstellungsreihe und das Psychische an einer Handlung ist eben auch eine Vorstellungsreihe, welche nur die Besonderheit hat, dass ihr letztes Glied eine Bewegungs- vorstellung ist. Für beide gelten ganz dieselben Gesetze, beide sind Ideenassociationen. Der motorische Endeffect bei der Hand- lung ist von diesem Standpunkt aus mehr eine zufällige Zugabe, die schon des psychischen Parallelprocesses entbehrt. Auch dürfen wir nicht vergessen , dass leichte motorische Elemente denken Sie nur an die Aufmerksamkeitsbewegungen u. a. m. auch un- serem Denken zukommen. Man hat daher auch ganz zweckmässig das Denken als innere Handlung und die in Muskelcontrac- tionen sich äussernde Handlung als äussere Handlung be- zeichnet.

Hierbei müssen wir zugleich desjenigen Grundes gedenken, welcher für viele besonders für die Freiheit des Willens zu sprechen scheint. Man glaubt nämlich, wenn man den Willen und speciell den freien Willen leugne, falle alle ethische Werthverschiedenheit der Handlungen und jede Verantwortlichlichkeit für die Hand- lungen fort. Lassen Sie uns beides getrennt betrachten. Die ethische Werthverschiedenheit bedeutet psychologisch: ge- wissen Handlungen (z. B. Mord) kommt ein negativer Gefühls- ton , anderen ein positiver zu. Diese Verschiedenheit des be- gleitenden Gefühlstons fällt nun auf Grund der erörterten Lehren in keiner Weise weg. Ebenso wie auf ästhetischem Gebiet »schön« und »hässlich« den positiven und negativen Gefühlston bezeichnen, so hier »gut« und »schlecht« auf ethischem. Wie die ästhetischen Gefühle, so lassen auch die ethischen sich vom empirischen Psycho- logen nicht auf eine bestimmte Hauptformel zurückführen. Es lässt sich nachweisen, dass fast alle Handlungen, die uns als Ver- brechen gelten , irgendwo und irgendeinmal anderen Menschen als gut galten, d. h. von positiven Gefühlstönen von den Menschen begleitet wurden. Absolute ethische Gesetze darf man von der Psj^chologie ebensowenig erwarten, wie absolute ästhe- tische Gesetze. Die ethischen wie die ästhetischen Gefühlstöne schwanken erstens historisch : sie sind Producte, wenn nicht einer phylogenetischen, so doch einer historischen Entwicklung und zweitens auch bei demselben Volke zu einer bestimmten Zeit sind sie nur für eine grosse Majorität, nicht für alle, völlig überein- stimmend. Man wird es gewiss der empirischen Psychologie nicht vorwerfen, dass sie keine ethischen Gesetze findet. Was würden auch dem Ethiker etwaige vom Psychologen gefundene Gesetze helfen, da sie doch immer nur empirischen Charakter haben könnten, nie aber jenen absoluten, den der Ethiker zu verlangen pflegt. Wir haben es hier nur mit den Gesetzen in uns, nicht mit den Gesetzen über uns zu thun.

Anders der Begriff der Verantwortlichkeit. Dieser wider-

1) Hierzu wären namentlich auch die denkwürdigen Auseinander- setzungen Spinoza's, Ethik, P. II, Propos. 49 und namentlich das zu- gehörige Schol. zu vergleichen.

20g

spricht in der That den Ergebnissen der physiologischen Ps3^cho- logie. Diese lehrt : unser Handeln ist streng necessitiert , das nothwendige Product unserer Empfindungen und Erinnerungs- bilder. Man könnte also dem Menschen eine schlechte Handlung ebensowenig als Schuld zurechnen, wie einer Blume ihre Hässlich- keit. Die Handlung bleibt deshalb auch psychologisch schlecht, aber sie ist zunächst keine Schuld. Der Begriff der Schuld und der Verantwortlichkeit ist um den Gegensatz kurz zu bezeichnen ein religiöser oder socialer. Wir können daher hier von demselben absehen. Die Psychologie, um es zu wieder- holen , leugnet ästhetische und ethische absolute Gesetze nicht, wofern sie ihr von anderer Seite nachgewiesen werden, sie selbst in ihrer empirischen Beschränkung kann nur empirische Gesetze finden 1).

So hat uns also auch die Untersuchung der sogenannten Willensvorgänge keine Veranlassung gegeben, ausser der Reihe der Empfindungen und Vorstellungen noch ein anderes psychisches Etwas zu unterscheiden. Der Metaphysiker kann vielleicht zu der theoretischen Fiction eines Subjects der Empfindungen, Vorstel- lungen und Handlungen gelangen und mag dies Subject Ich oder Seele nennen. Die physiologische Psychologie bleibt bei der ihr gegebenen Reihe stehen und sieht sich zum Schluss ihrer Forschungen nur noch vor die Frage gestellt, ob sie rein empirisch noch etwas angeben könne über das Wesen des von Anfang an supponierten Parallelismus der hirnphysiologischen materiellen Vorgänge und der psychischen Vorgänge.

Lassen Sie uns kurz betrachten, wie die Wissenschaft seither diesen Parallelismus , welcher zunächst nur eine regelmässige Coexistenz bedeutet, ausgelegt hat. Wir unterscheiden hier die dualistischen Theorien von den monistischen.

Die dualistischen Theorien lassen den Dualismus der beiden Reihen bestehen und verzichten auf jeden Versuch, ihn aufzuheben. Hierbei bleibt die durchgängige gegenseitige Abhängigkeit der beiden Reihen , eben das , was wir Parallelismus nannten, ganz unverständlich. Daher musste Leibniz, einer der Hauptvertreter der dualistischen Theorie, zu einer prästabilierten Harmonie seine Zuflucht nehmen. Auch der Occasionalismus Geulinx's gehört hierher. Für diese dualistische Theorie ist selbstverständlich störend, dass die psychische Reihe viel kürzer ist als die materielle Reihe, indem die Erfahrung nur für einen kleinen Theil der mate- riellen Vorgänge, nämlich für die hirnphysiologischen, psycho- logische Parallelvorgänge nachweist. Diesen Längenunterschied

1) Zum genaueren Studium der Lehre vom Willen empfehle ich Ihnen weiterhin namentlich Herbart's .,Psychologie als Wissenschaft", Spencee's „Principles of Psychology", Lipps, Grundthatsachen des Seelen- lebens, Steinthal, Einleitung in d. Psychologie u. Sprachwissenschaft, Bajx, The senses and the intellect, und The emotions and the will. Ueber die diesen Forschen] im Allgemeinen diametral entgegengesetzten und in der Annahme eines speciellen Willensvermögens mit älteren Autoren übereinstimmenden WuNDT'schen Anschauungen finden Sie in dessen: „Grundzüge der physiologischen Psychologie", sowie in seiner „Ethik" Auskunft.

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wenn wir bei dem Vergleich mit Linien bleiben wollen ver- suchte man durch hypothetische Verlängerung der psychischen Reihe auszugleichen. So kam man dazu, nicht nur für die hirn- physiologischen, sondern für alle organischen materiellen Vor- gänge psychische Parallelvorgänge anzunehmen. Man kann diese Hypothese als die animistische bezeichnen. Auch Wundt gehört zu den Vertretern derselben1). Noch weiter endlich geht der Hvlozoimus, welcher auch den anorganischen Vorgängen ein Leben und damit psychische Parallelprocesse zuweist : in seinen letzten Consequenzen scheint demselben für jedes Atom und Molecül auch eine psychische Parallelsubstanz zu existieren. Diesen Hypothesen gegenüber ist darauf hinzuweisen, dass dieselben sämtlich unabweis- bar zur Annahme unbewusster psychischer Vorgänge führen, eine Annahme , welche , wie wir früher gesehen haben , einen Widerspruch in sich trägt.

Unter den monistischen Theorien betrachten wir zunächst diejenigen, welche eine Subordination der einen Reihe unter die andere annehmen. Hier sind nur zwei Ansichten möglich : ent- weder die materielle Reihe wird als Function der psychischen oder diese als Function jener betrachtet. Weder die erstgenannte spiritualistische, noch die letztgenannte materialistische Ansicht vermag irgendeinen genügenden Grund für ihre Sub- ordinationen beizubringen. Diejenigen monistischen Theorien, welche die Coordination beider Reihen wahren und doch eine Einheit herstellen wollten, suchten diese Einheit darin, dass sie beide Reihen als Attribute einer Substanz betrachteten. So schreibt Spinoza seiner einen absoluten Substanz, dem Deus sive Mundus, die beiden Attribute der Ausdehnung und des Denkens, der extensio und cogitatio zu. Und wenn andere Natur- forscher ihren Molecülen erstens Ausdehnung und zweitens eine psychische Eigenschaft, z. B. Gedächtniss, zuschrieben, so stimmt diese Anschauung mit der Spinozistischen darin überein, dass beide lediglich eine formale, logische Einheit für die beiden ge- trennten Reihen schaffen. Irgendeine Einsicht in den Zusammen- hang beider Reihen wird uns durch diese unbewiesene Hypothese nicht eröffnet.

Eine andere Variante der monistischen Ansicht nimmt eben- falls beide Reihen als coordiniert an, sucht aber ihre Verschieden- heit durch mehr oder weniger sophistische Beweise hinwegzu- schaflen. Beide Reihen sollen eigentlich identisch sein im Abso- luten und nur durch Entzweiung des Absoluten sich differenziert haben. Die metaphysischen Schöpfungsgeschichten der Identitäts- philosophie gehören hierher 2).

Die letzte der monistischen Ansichten kann als die kritische

1) Neuerdings hat Wundt (System der Philosophie, Leipzig 1889) den Animismus als diejenige Anschauung bezeichnet, „welche das Wesen des Geistigen in den Willen verlegt".

2) Nicht viel mehr als ein Wortspiel ist auch die von vielen modernen Psychologen vertretene Auffassung, wonach die Materie das von aussen betrachtet ist, was das Seelische von innen betrachtet ist (Höffding's „Identitätshypothese"). Man dürfte doch billig fragen, wozu nun der Betrachter resp. das Betrachten gehört.

211

bezeichnet werden. Sie ist die einzige, welche in den Grenzen einer empirischen , naturwissenschaftlichen Psychologie bleibt. Diese kritische Ansicht acceptiert die beiden Reihen nicht ohne weiteres, sondern prüft, wie wir zur Annahme beider psychologisch gekommen, und ob beide uns gleich ursprünglich gegeben sind. Eine solche kritische Prüfung ergiebt nun ganz unwiderleglich, dass uns zunächst einzig und allein die psychische Reihe der Er- scheinungen gegeben ist x). Wir wollen diesen letzten, wichtigsten Satz der empirischen Psychologie, der namentlich von natur- wissenschaftlicher Seite zu leicht ignoriert wird , hier etwas ge- nauer erörtern.

Wir hatten zunächst den Reflex und den automatischen Act kennen gelernt. Beiden fehlt der psychische Parallelvorgang. Erst der Handlung kam ein solcher zu. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass nicht etwa die Handlung dadurch erst zu Stande kommt, dass ein psychischer Parallelprocess sich einschiebt. Ganz und gar nicht. Im Gegentheil: der materielle Process, welcher der" Handlung zu Grunde liegt, ist in sich völlig ab- geschlossen und auch ohne den psychischen Parallelvorgang, ohne Empfindung und Erinnerungsbilder vollkommen verständlich. Im Gegentheil, Empfindung und Erinnerungsbilder stellen gewisser- maassen Complicationen dar. Das Unverständliche und Erklärungs- bedürftige liegt vielmehr darin, dass, im Gegensatz zu Reflexen und automatischen Acten, plötzlich zu der Handlung ein psy- chischer Parallelprocess, etwas ganz Neues hinzutritt. Die materielle Seite der Handlung ist zunächst völlig klar. Die Handlung würde nicht anders verlaufen, auch wenn die Erregung der Sinneszelle ohne das Correlat der Empfindung und die zurückbleibende materielle Disposition, das Ri resp. Rr ohne das Correlat des Erinnerungsbildes oder der Vorstellung bliebe: wir könnten die generelle Zweckmässigkeit unserer Handlungen uns ebenso ver- ständlich machen wie die Zweckmässigkeit der automatischen Acte und der Reflexe oder die Zweckmässigkeit eines Vogel- gefieders. Das Wirksame ist in beiden Fällen die Selection. Für das Vogelgefieder, die Reflexe und z. Th. auch die automatischen Acte2) ist diese Selection im Wesentlichen eine phylogenetische, für die Handlungen eine ontogenetische. Das einzelne Individuum muss streng genommen während seiner Ontogenese erst alle Handlungen einüben, so wie wir ein Klavierstück einüben : phylo- genetisch erworben, d. h. ererbt ist nur der für diese Einübung

1) Dass streng genommen nur die psychische Reihe eines Indi- viduums gegeben ist, kann hier übergangen werden. Die Erwägung dieser Thatsache führt zu dem sog. erkenntnisstheoretischen Solipsismus. Vergl. v. Schubbbt-Soldern, Kampf um die Transcendenz.

2) Die schon früher erwähnte Zwischenstellung der automatischen Acte erfährt hier eine neue Beleuchtung. Sieht man nämlich von der Abwesenheit psychischer Parallelprocesse bei dem automatischen Act und ihrer Anwesenheit bei der Handlung ab, so wird eine scharfe Abgrenzung vielei- mitogenetisch erworbener automatischer Acte gegen die Handlung anmöglich. Das unbewusste automatische Klavierspiel , wie es durch Uebung entsteht, unterscheidet sich materiell kaum wesentlich von dem bewussten Klavierspio.l.

I I*

212

höchst geeignete corticale Mechanismus. Diese Zweckmässigkeit ist also jedenfalls nach materiellen Gesetzen vollkommen ver- ständlich, die psychischen Parallelprocesse sind unnütz und über- flüssig zur Erklärung dieser Zweckmässigkeit. Ich wiederhole es : nach diesen Darlegungen erscheint das Auftreten der psychischen Parallelprocesse selbst als das einzig Erklärungsbedürftige, und es würde sich die Frage erheben, welchen materiellen Processen kommt ein solcher psychischer Parallelprocess zu. Die einfache Antwort: den corticalen und nur diesen komme ein solcher zu, wäre ungenügend. Zahllose corticale materielle Processe laufen ohne psychischen Parallelprocess ab. Ein und dasselbe Rfi löst heute eine Empfindung aus und morgen keine aus, je nachdem die Constellation der Vorstellungen verschieden ist. Hier fehlt uns eine Antwort vollständig. Aber die empirische Psychologie erhebt jetzt die entscheidende kritische Frage, mit der sie ihre eigenen Fundamente prüft : wie kommen wir zu dieser Spaltung des Gegebenen in die zwei Reihen des Psychischen und des Ma- teriellen, welche von beiden Reihen ist uns zunächst gegeben? Prüfen Sie, bitte, sich selbst! Sie sehen einen Baum. Scheinbar sind Ihnen hier beide Reihen schon gegeben : Ihr Sehen und der Baum. Ist dies aber der exacte Ausdruck des empirischen That- bestands? Keinesfalls. Was Ihnen gegeben ist, ist einzig und allein Ihre Gesichtsempfindung Baum, also lediglich ein psychi- scher Process. Wir verarbeiten erst diese Empfindung in ganz eigenthümlicher Weise, indem wir die Vorstellung von einem Gegenstand Baum bilden, welcher die Ursache meiner Empfindung Baum sein soll. Ebenso mit allen Gegenständen. Ueberall ist uns nur die psychische Reihe der Empfindungen und ihrer Er- innerungsbilder gegeben, und es ist nur eine universelle Hypo- these , wenn wir zu dieser psychischen Reihe eine zu ihr in cau- salem Verhältniss stehende materielle Reihe annehmen. Ueber die Berechtigung dieser Hypothese entscheiden die Erkenntniss- theorie und Metaphysik, wofern es eine solche giebt. Wichtig für uns ist nur der Satz selbst, dass die materielle Reihe nicht gleich ursprünglich mit der psychischen Reihe gegeben ist. Nur letztere ist empirisch gegeben , die erstere ist erst erschlossen ; wenn Sie so wollen, ist die materielle Reihe eine Vorstellung, welche wir aus unseren Empfindungen und deren Erinnerungsbildern abstrahiert haben. Damit stimmt denn auch die moderne Physik durchaus überein. Von der sog. Materie blieben schliesslich dem Natur- forscher nichts übrig als Raumpunkte, welche als Kraftcentren gedacht werden, d. h. welche Empfindungen bewirken können. Diese sog. Materie ist uns, abgesehen von ihrer hypothetischen ursächlichen Beziehung zu unseren Empfindungen^ sonst ein voll- ständiges x. Was nun für alle materiellen Vorgänge gilt, gilt ebenso auch für die materiellen Vorgänge der Hirnrinde. Auch sie sind erst erschlossen , nicht primär gegeben , wie die psychi- schen Vorgänge. Der Hergang ist streng genommen der: wir haben zahllose Empfindungen und durch dieselben Vorstellungen. Zu diesen nehmen wir als Ursachen äussere Gegenstände an. Unter diesen Empfindungen sind auch die bei der anatomischen und physiologischen Untersuchung der Hirnrinde uns aufgestos- senen. In ganz analoger Weise wie für alle Empfindungen neh-

213

men wir auch für diese eine materielle Ursache, die Hirnrinde, an. Weitere Untersuchung lehrt nun , dass diese materiellen Hirn- rindenvorgänge noch eine ganz besondere Beziehung zu allen psychischen Vorgängen haben, dass nämlich die einen nie ohne die anderen und umgekehrt vorkommen. Mit der weiteren Auf- lösung dieses complicierten Zirkels hat sich die empirische Psycho- logie nicht zu befassen. Bei jedem Versuch einer solchen Auf- lösung würde sie ihren empirischen Boden verlassen müssen. Sie überlässt daher die weitere Bearbeitung dieses Problems, wofern dasselbe überhaupt eine Lösung zulässt, einer etwaigen Meta- physik oder der Erkenntnisstheorie. Um so mehr muss dagegen unsere Wissenschaft auf dem empirischen Factum selbst bestehen, dass uns ursprünglich nur das Psychische gegeben ist und nichts ausserhalb und ausser demselben. Sie bleibt hierbei durchaus innerhalb der naturwissenschaftlichen Grenzen und ihrem empiri- schen Charakter durchaus getreu. Interessant ist , dass unsere Wissenschaft mit diesem ihrem letzten Satze sich aufs engste mit dem Begründer der kritischen Philosophie, Kant, berührt. Locke, Berkeley und Hume hatten die grosse Wahrheit vorbereitet, welche Kant schliesslich aussprach , dass uns zunächst nur die psychische Reihe gegeben ist, die Reihe der Erscheinungen, wie Kant sie nannte. Die hypothetische Ursache der »Erscheinungen« oder der psychischen Reihe ist erstens lediglich erschlossen und zweitens eine völlige Unbekannte für uns.

So stellt sich also der psychophysische Dualismus oder Pa- rallelismus nur als scheinbar heraus. Wenn uns aber ursprünglich die psychische Reihe gegeben ist, so wird uns auch verständlich, dass wir in unseren vorausgegangenen Untersuchungen mehrfach auf psychische Factoren stiessen, für welche materielle Grundlagen fehlten. Ich erinnere Sie an die Projection unserer Empfindungen in Raum und Zeit, für welche wir ein psychophysiologisches Ver- ständniss nicht zu gewinnen vermochten.

M. H. ! Mit diesem letzten Satz ist unser Arbeitsgebiet, das der empirischen physiologischen Psychologie, erschöpft. Jeder weitere Schritt würde ein metaphysischer sein und zu einer pro- blematischen Metaphysik führen. Die physiologische Psychologie aber muss eine naturwissenschaftliche bleiben oder sie verräth sich selbst.

Register.

Abulie, 207.

Abweichung, untere und obere des Weber'scken Gesetzes , 53, 70, 85.

Accord, Denn, des, 100.

Actinosphaerium, Reflexe bei, 5.

Actionszeit, einfache, 194, Fussnote.

Affecte, Vorl. 9.

Amnesie, für Traumvorgänge, 186; für epileptische Dämmerzustände, 187, 188; für hypnotische Zu- stände, 187.

Amoeben, nervöse Vorgänge bei, 4.

Angst, 138.

Animistische Theorie, 210.

Apperception, III, 40, 148, 151, 155, 161, 162.

Aronsohn, 48, Fussnote.

Arthropoden, Hörorgane bei den, 64.

Association, Defin. der Ideenasso- ciation, 17 u. Vorl. 10; Gesetze der , 144 ; als Wiedererkennen, 141 ; Hauptformen der, 144, 160, 161 ; physiologischer Parallelpro- cess, 145, ff. ; Schnelligkeit der, 153 ff.; Störungen, 183, 184.

Associationsfasern, 24, 113.

Absociativer Impuls, associatives Moment der Empfindung, 169.

Associative Verwandtschaft, 149, 169.

Audition coloree, 177.

Auerbach, 8, Fussnote.

Aufmerksamkeit, 164 ff.

Alisdrucksbewegungen, 200 ff. ; Ent- stehung 201 ; Localisation der Centren, 204.

Automatische Acte, Wesen der, 10; 158, 198, 200, 211; nicht-psy- chischer Charakter der, 10; Un- terschied vom Reflex, 10; Bei- spiele von, 9 13; phylogenetische oder ontogenetische Entstehung der, 11; anatomische Localisation der, 25.

Bain, Fussuoten auf den Seiten 26, 109, 128, 147, 209.

Bechterew, 204, Fussnote.

Begriff, Bildung des, 112 ff.; sinn- licher oder concreter, 115; all- gemeiner concreter, 116; ab- stracter 118; concreter Bezie- hungs-, 117.

Benedict, 178.

Beneke, Fussnoten auf den Seiten 97 u. 109.

Berkeley, 213.

Bernheim, über Hypnotismus, 187.

Berührungsempfindung, 49 ff. ; Ge- fühlston der, 97.

Bewegungsvorstellung, 18, 57 ff., 87 ff., 103, Vorl. 14 u. 15.

Bewegungsempfindung, 18, 51, 103.

Bewusste Handlung, s. Handlung.

Bewusslosigkeit, Begriff der, 186, Fussnote.

Bewusstsein , Kriterien des Psy- chischen, 3, 4; doppeltes, 187.

Biedermann, über Unterschiedsem- pfindlichkeit, 52.

Binswanger , 188 und 203, Fuss- noten.

Binz, 185.

21 :

Bleuler, 178.

Blix , Magnus, über specifische Energie, 49.

Boll, über Sehpurpur. 74.

Bonnet, 142.

Brentano, über Deutung des Weber- schen Gesetzes, 39.

Bridgman, Laura, Fussnote, 203.

.Broca'sche Windung, 201.

Brodhun, 82. Fussnote ; über Unter- schiedsempfindlichkeit, 85.

Bubnoff und Heidenhain, 188, Fuss- note.

Byron, Lord, 182.

Camer er, 47, Pussnote.

Cardanus, 181.

Cattell , 95; über Reactionszeit, 198.

Cesca. über unbewusste ps}rchische Zustände, 4, Fussnote : 97, Fuss- note.

Gharcot, 111, Fussnote.

Chcsselden, 59.

Coelenteraten, 5.

Complication Herbart's, 113, Fuss- note.

Constellation der Vorstellungen, 150, 168.

Contiguität, 147.

Corti's Organ, 64; 71, Fussnote.

Crinoiden, Reflexvorgänge bei, 18.

Ctenophoren, sog. Otolithen der, 164.

Dämmerzustände, 187.

DaM, 47, Fussnote.

Darivin, über ererbte Automatisinen, 12; 171, Fussnote; über Deutung der Ausdrucksbewegungen , 202.

Darwinismus, Anwendung auf die Theorie vom Ursprung der Sprache, 202.

Delboeuf, über Prüfung des Weber- schen Gesetzes, 43.

Denken , Unterscheidung zwischen willkürlichem u. unwillkürlichem, 170 ff.

Dessoir, 188, Fussnote.

Deutlichkeit der Vorstellung, 119, 121.

Dietl und v Vintschgau, 199, Fuss- note.

hifferenztöne, 101.

Dolirn, über Unterschiedsempfind- lichkeit, 52.

Drobisch, über die Farbenscala, 75.

Druckempfindung, 49 ff.

Druckpunkte, 49.

Dubois, 46.

Duchenne , über Ausdrucksbewe- gungen, 201.

Ebbinghaus , Untersuchungen über Gedächtniss, 175.

Ebert, 85, Fussnote.

Echinodermen , automatische Be- wegungen der, 10; Geruchssinn der, 47.

Einfache Reactionszeit, 194.

Emminghaus , über doppeltes Be- wusstsein, 187, Fussnote.

Empfindung, Entstehung der, 14, 15 ; Qualitäten der, 45 ; Intensität der, 33 ; Weber's Gesetz, 36 ff. ; Merk- male einer, 32 ; fünf Hauptgruppen der, 45 ; zeitliche Eigenschaften der, 92; Gefühlston der, 95, 124; seeundäre, 177 ff.

Empfindungskreise, Defih. der, 59 ; Bedeutung und Kennzeichen der, 59, 60.

Empfindungszelle, 111.

Energie der Vorstellung, 122.

Engelmann, 11.

Entoptische Beize, 181.

Entotische Beize, 181.

Erdmann, 143, Fussnote.

Erfahrungspsychologie, 1.

Erinnerungsbild, 14 ff., Vorl. 8.

Erinnerungszelle, 111.

Erkennungszeit, 156.

Erscheinungen, die materiellen und psychischen, 1, 2, 119.

Ethische Werthe, 134, 208 ff.

Eulenburg, 54, Fussnote.

Ewart, 10.

Excentrische Projection, 56.

Exner, 48, 90, Fussnote; über Re- actionszeit, 194.

Farben, 74 ff.

Farbenblindheit, 81.

Farbensättigung, 79.

Fechner , über Anwendung des Weber'schen Gesetzes, 34, 37, 39, 54; über den „goldnen Schnitt",

2l6

103; über„audition coloree", 177: über Aesthetik, 139; über Hallu- cinationen, 182 ; seine Fundamen- talformel, 37.

Fischer und Penzoldt, 48, Fussnote.

Flagellaten, Reflexe bei, 5, 6.

Flechsig, 25 und 89, Fussnote.

Forel, 25, Fussnote; 64.

Franz, 59.

Friedrich, über Reactionszeit, 198.

Galton, über Schnelligkeit der Asso- ciation, 154.

Gedächlniss, 174, 175; Ton-, 175, Fussnote.

Gefühlston, Vorl. 7 und 9.

Gehörsempfindung , ursächl. Beize der, 62, 65 ; Organ der, 64 ; Qualitäten der, 65 ff. ; Intensität der, 69 ff.; Localisation der, 71.

George, 101.

Geräuschempfindung, 63, 65.

Geruchsempfindung, 47 ; Qualitäten der, 48 ; Organ der, 47 ; Reize, 48 ; Intensität der, 48 ; Localisation der, 48.

Geschmacksempfindung, 45 ; Reize, 46 ; Qualitäten der, 46 ; Organ der, 45; Anwendung des Weber'schen Gesetzes auf, 46.

Geschmacksknospen u. Geschmacks- becher, 46.

Gesichtsempfindung, 73 ff. ; Reize, 74 ff. ; Organ der, 73 ; Quali- täten der , 74 ff. ; Anwendung des Weber'schen Gesetzes auf, 84 ; Intensität der, 83 ff. ; Anordnung und Localisation der , 86 ff . ; nativistische und genetische Theo- rieen, 87.

Geulinx , dualistische Theorie von, 209.

Girandeau, 178, Fussnote.

Gladstone , über Farbenblindheit der alten Griechen, 82.

Goldscheider , Fussnoten auf den Seiten 29, 30, 50, 54, 55, 98; über Bewegungsempfindungen, 54 und 55.

Goethe, seine Farbenlehre, 77, 101 ; Illusionen unterworfen, 181.

Golgi , Fussnoten auf den Seiten 25, 89, 99.

Goltz , über Reflexvorgänge des Frosches , 8 , über automatische Acte, 9, 10; ferner Fussnoten auf den Seiten 8, 9, 10.

Gowers, 201, Fussnote.

Grashey, 201, Fussnote.

Griesinger, 187, Fussnote.

Hagen, 181, Fussnote.

Hallucinationen, 178 ff.

Hamilton, 4, Fussnote.

Handlung, unterschieden von Re- flexen und automatischen Acten,

14 ff. ; anatomische Localisation der, 25, 26 ; Defin. der, 22 ; Beschaffen- heit und Erläuterung der, 190 ff. ; Formen und Arten der, 199 ff.

Helligkeit, s. Licht.

Helmholtz , über das Weber'sche Ge- setz, 39 ; über Klangfarbe, 68, 69 ; über Gesichtsempfindungen , 75, 80, 81.

Henle, über Hallucinationen, 182.

Herbart, seine mathematischen Be- rechnungen in Anwendung auf Psychologie, 2, 151 ; Fussnoten auf den Seiten 58, 113, 143, 144, 160, 209.

Hering, sein Gesetz, 41 ; über Wärme- reize, 50, 54; über Gesichtsempfin- dungen , 81 , 91 ; auch Fussnote auf Seite 174.

Hermann, 69 ; Theiltöne der mensch- lichen Stimme.

Hess, 82.

Hipp, sein Chronoskop, 194.

Hoffmann, E. T. A., 104, Fussnote.

Hogarth's Schönheitslinie, 103.

Hönigschmied , über Reactionszeit, 195.

Hoppe, über hypnagogische Hallu- cinationen, 182.

Horwicz, 97, 111, 128, Fussnoten.

Huber, 174, Fussnote.

Hume, über Vorstellungen, 108: als Vorläufer Kants, 213.

Hydra, 5.

Hylozoismus, 210.

Hypnagogische Hallucinationen, 182.

Hypnotismus, 187 ff.

Ideenflucht, 157.

217

Idealismus, s. Theorieen u. s. w. Illusionen, 182. Incohärenz, 158. Innervationsempfindung, 51. Instinkte, 12, 13. Irradiation, 125, 177. James, 136. Jeaw Paw?, 181. Johnson, 182.

Kahlbaum, über Hallucinationen, 180, 181.

Kältepunkte, 49 ff.

Kandinsky, 181, Fussnote.

Kant, über wissenschaftliche Psy- chologie, 2; Kriticismus, 213.

Klänge, Defm. der, 63, 64 und 100, Fussnote ; Natur der, 62 ff.

Klangfarbe, 68.

Kölliker, 25, 99, Fussnote.

König , über Unterschiedsempfind- lichkeit, 85.

König und Dieterici, 82, Fussnote.

Kraepelin, über Reactionszeit, 199 ; desgl. 181, Fussnote.

Krafft-Ebing, 187, Fussnote.

Krankhaftes Denken, 183 ff.

Krause, über die Regio olfactoria, 48.

Kries, 81, Fussnote.

Kriticismus, s. Theorieen u. s. w.

Kiilpe, 97. Fussnote.

Lageempfindung, Defin. der, 50.

Lange, C., 137.

Lange, L., über Begleitbewegungen, 19 : über Empfindungsintensität, 93; über Reactionszeit , 195; auch Fussnoten auf den Seiten 195, 197.

Langley, 85, Fussnote.

Lazarus, 181, 185.

Lebhaftigkeit der Vorstellung, s. Deutlichkeit,

Lehmann, 128, 137, 143, Fussnote.

Leibniz, dualistische Theorie, 209.

Leidesdorf, 179, Fussnote.

Lewes, Fussnoten auf den Seiten 4 und 7.

Licht, unterschieden von Weiss, 77.

Lichtheim, 201, Fussnote.

Linne, 46, Fussnote.

Lipps, Fussnoten auf den Seiten, 100 und 209.

Lissauer, 111, Fussnote.

Localisationsfehler, 56.

Localisationsv er mögen, 56.

Localzeichen, 55.

Locke, 31 ; als Vorläufer Kant's 213.

Lotze, über G-esichtsenipfindungen, 87 ; 10, Fussnote ; seine Local- zeichen, 55.

Löwit, über Unterschiedsempfind- lichkeit, 52.

Luft, E., über Unterschiedsenipfind- lichkeit, 67.

Lussana, 178, Fussnote.

Lustig, über die regio olfactoria, 48.

Mach, über die kleinste noch merk- liche Differenz der Tondauer, 94.

Magnetismus, als Nervenreiz, 29.

Manie, 131, 157.

Marty, 203.

Masje, 29, Fussnote.

Masson's Scheiben, 84.

Materialistische Theorie, s. Theo- rieen u. s. w.

Maudsley, 4, Fussnote.

Mauthner, 111, Fussnote.

May, über Geruchsempfindung der Krebse, 47.

Medusen, 5.

Meinong, 174, Fussnote.

Melancholie, 131, 135, 157.

Mendel, 181, Fussnote.

Mendelssohn, 181.

Merkel, über das Weber'sche Ge- setz, 43, 85 ; über Unterschieds- empfindlichkeit, 52 ; über die Me- thode der mittleren Abstufungen, 69, 70.

Methode der mittleren Fehler, 91, auch Fussnote ; der mittleren Ab- stufungen, 70; der richtigen und falschen Fälle, 53 ff.

Meynert, Fussnoten auf den Seiten 12, 24, 111, 115, 172, 200.

Mill, James, 4, 147, Fussnote.

Mill, J. St, über abstracte und concrete Begriffe, 118; über Asso- ciationsgesetze, 147, Fussnote.

Mitschwingen der Vorstellungen, 116.

Monaden, 4.

Moneren, 49.

218

Monomanie, 207. Moral insanity, 207. Motive, s. Spiel der Motive. Mouches volantes, 181. Müller, G. E., 54, Fussnote. Munk, 193, Fussnoten auf den Seiten

26, 30, 88, 111, 166. Münsterberg, Fussnoten auf den

Seiten 12, 16, 137, 143, 156, 170,

184, 193, 195, 198. Muskelsinn, 51. Musculäre Reaction, s. Reaction.

Nachbilder, 152.

Nachempfindungen, 152.

Nagel, 46.

Newton, über die Farbenscala, 75; über Mischungsgesetze, 80.

Nörr, 70, Fussnote.

Nothnagel, über den Sehhügel, 204; ferner Fussnote, 111.

Nussbaumer , über secundäre Em- pfindungen, 178.

Occasionalismus, 209.

Oehrwall, über Papulae fungiformes, 46.

Onomatopöie, 203.

Ontogenetische Entstehung der auto- matischen Acte, 12.

Ophiuren, 10, 11.

Paneth, 120, Fussnote.

Partialvorstellungen, 112 ff.

Pascal, 181.

Pfeffer, 40.

Pflüger, über „Rückenmarksseele", 7.

Phonismen, 177.

Phosphen, 74.

Photismen, 177.

Phylogenetische Entstehung der automatischen Acte, 12.

Physiologische Psychologie , Be- ziehungen zur Psychologie, 1 ff.; Abgrenzung des Gebietes der,

2' 3- Physiologische Zeit, s. einfache

Reactionszeit. Plateau, über Weber's Gesetz, 39,

43, 70. Plato, 109, 174.

Pollock, 46.

Pope, 182.

Poteriodendron, 5.

Preyer, über Ophiuren, 10, 11; Fussnoten auf den Seiten 26, 71, 81, 101, 188, 203.

Protection, excentrische, 56.

Prouho, 47.

Protisten, 5, 11, 73.

Pseudopodien, 4.

Psychische Erscheinungen, 1, ff.

Psychologie, als Wissenschaft, 2.

Psycho-physik, Abgrenzung des Ge- bietes der, 2.

Raehlmann, 89, 191.

Ramon y Cajal, 25, 99, Fussnoten.

Raumanschauung, 55 ff., 86 ff.

Reaction, musculäre, 195; senso- rielle, 195 ff.

Reactionszeit , 194 ff.; einfache, 194.

Reflex, Denn, des, 4; niedere oder einfache , 6 ; nicht psychischer Charakter des, 6 ; complicierte, 8 ; anatomische Localisation, 25.

Reflexion der Gefühlstöne auf die Empfindung, 124.

Reinhard, 111, Fussnote.

Reize, intercurrente, 9 ; Arten der, 28 ff. ; des Geschmacks , 45 ; des Geruches, 47 ; der Berührung, 48 ; des Gehörs, 62 ff. ; des Ge- sichtes, 73 ff.

Reizhöhe, 34

Reizschwelle, 34, 47, 48, 52, 85.

Reim, Bedeutung des, 104.

Reproduction der Ideen, 140; Her- bart's mittelbare und unmittel- bare, 144, Fussnote.

Ribot, 187, 207, Fussnoten.

Richet, 98, Fussnote.

de Rochas, 178, Fussnote.

Romanes, über Medusen, 4, 10, 46.

Samt, 187, Fussnote.

Sanders-Ezn, 8, Fussnote.

Schärfe der Vorstellungen, s. Deut- lichkeit.

Schiff, über Berührungsempfindung und Schmerz, 99.

Schlaf, 184 ff.

Schmerz, Denn, des, 97 ff.

219

Schröder van der Kolk, 111, Fuss- note.

v. Schubert- Soldern, 211, Fussnote.

Schule, 187, Fussnote.

Schumann, 181.

Schwachsinn, 183.

Schwingungen, s. Mitschwingungen.

ÄeeZe, im Rückenmark, s. Pflüger's Rückenmarkseele.

Seelenblindheit, 111.

Seelentaubheit, 111.

Secundäre Empfindungen, 176 ff.

Sensibilität der Haut, 48 ff.

Sinnestäuschung, 178 ff.

Solipsismus, 211, Fussnote.

Specifische Energie, Lehre von der, 29 ff.

Spencer, 209, Fussnote.

jSpieZ der Motive, 17 ff.

Spinello Aretini, die Gemälde seiner Madonnen, 181.

Spinoza, über Willensunfreiheit, 20, 208 ; Hallucinationen unterworfen, 182; sein Monismus, 210; auch 208, Fussnote; Affecte, 128.

Spiritualismus, s Theorieen u. s. w.

Sprachbewegungen, 113 ff, 200.

Sprachhörvorstellung, 114.

Starke, 69, Fussnote.

Steinach, über Reactionszeit, 196.

Steinbrügge, 178, Fussnote.

Steinthal, 203, 209, Fussnoten.

Stimmung, Dehn, der, 125, 199.

Stosstöne, 101.

Strassburger, 88.

Stumpff, ßeurtheilung der Ton- höhe, 67, 94.

Successiver Contrast, 152, 169.

Suggestion, 187.

Summationstöne, 101.

Tastempfindung, 51.

Teichmüller, 32, 144.

Temperaturempfindung, Reize, 49, 50 ; Intensität der, 54 ; 55, Fuss- note.

Temperaturpunkte, s. Kälte- und Wärmepunkte.

Theorieen in Bezug auf den Paralle- lismus materieller und psychischer Erscheinungen , 209 ff. ; die dua- listische (Leibniz-Geulinx) , 209; Miiimistische (Wundt), 210; mo-

nistische, 210, 211 ; Spinoza's, 210; spiritualistische, 210; mate- rialistische, 210; der Identität, 210; Kriticismus, 210—213.

Thigmotropismus, negativer, 5, Fuss- note.

Thomson und Tumlirz, 34.

Tieck, 182.

Tiedemann, über Bewegungen des Seesterns, 10.

Ton, Denn, des, 63 ff. ; musikalischer, 100 ; tiefster, 65, Fussnote.

Tonhöhe, 65.

Träume, 184 ff.

Trautscholdt , über Associations- geschwindigkeit, 154, 155.

Triebhandlung, 199, 200.

Ueberlegung, s. Spiel der Motive.

Ughetti , über secundäre Empfin- dungen, 178.

Uhthoff, 82, Fussnote.

Unterschiedsempfindlichkeit, 53, 67, 70,. 82, 85.

Unterscheidungszeit, 198.

Urbantschitsch, 177, Fussnote.

Venables, über die Reizschwelle von Zucker, Chinin, Saccharin und Strychnin, 47.

Verschmelzung, Herbart's , 143, Fussnote.

Verworn, über die Protisten, 5.

Vierordt, über Wärmereize, 50.

Vintschgau, über mechanische und thermische Reize, 196.

Volta, 74.

Vorgänge, materielle, 1, 2; nervöse, 4 ff. ; physiologische, 2 ; psycho- physiologische, 3, 13, Vorl. 2.

Vorstellung (Erinnerungebild), 17, 108 ff.; Gebrauch des Ausdruckes, 108, Fussnote ; Unterschied von der Empfindung, 108, 109 ; phy- siologische Basis der, 110 ff.; Merkmale der, 119 ff.; Phan- tasie-, Denk-, 118; der Sprech- bewegung, 113 ff., 200; des ge- hörten Wortes, 114; Vergessen der, 121; Flucht der, 157; Zwangsvorstellung, 183; Bewe- gungsvorstellung , s. Bewegungs- vorstellung.

220

Vulpian, über complicierte Reflexe, 9 ; auch 10, Fussnote.

Wallte, über die Constellation laten- ter Vorstellungen 150.

Wahlzeit, 198.

Wahnvorstellungen, 183.

Wahrnehmung , unterschieden von Empfindung, 17, 170.

Waitz, 206, Fussnote.

Wärmepunkte, 49 ff.

Weber, E. #., 50, 52.

TPe&er's Gesefe, 36 ff.; Fechner's Auslegung, 37 40; Pfeffer's Ver- such, 40 ; Wundt's Deutung, 40 ; für Hautempfindlichkeit, 52; un- tere und obere Abweichung des, 53, 85 ; für Gehörsempfindungen, 69 ; für Gesichtsempfindungen, 85 ; für Unterscheidung von Zeiten, 94 ; für Geruchsempfindungen, 48 ; für Geschmacksempfindungen, 46.

Welt, L., 162, Fussnote.

Wernicke, 115 und 201, Fussnoten.

Wiedererkennen, 140 ff.

Wilbrandt, über Hemianopsia, 76, 111, Fussnote.

Wille, 205 ff.; Theorie des, 18,

. 205; in den Augen des Psychiaters, 207 ; Ursprung der Idee vom freien W. , 207 ff.; seine Be- ziehungen zur Ethik, 208.

Willkürliche Bewegungen , Defin. der, 22, 193.

Willkürliche Handlungen , Defin. der, 20; s. auch Handlungen.

Wolff, 175, Fussnote.

Wundt, über specifische Energie der Sinnesnerven , 30, Fussnote ; über Weber's Gesetz, 40; über die Methode der mittleren Ab- stufungen, 43 ; über tiefste Töne, 65, Fussnote; über Gesichtsempfin- dungen 81, auch Fussnote; über Accorde, 101 ; über Apperception, s. Apperception ; sein Chrono- graph, 195; über Reaction, 195, Fussnote ; über Triebhandlungen, 199, Fussnote ; als Hauptverfechter der animistischen Theorie, 210.

Young-Helmholtz, 80.

Zeitsinn, 92 ff. Zorn, 135.

Zuckerkandl, 48, Fussnote. Zwangsvorstellungen, 183.

Froinmannsche Buchdruckerei (Hermann .Pohle) in Jena. 1116

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