UNIVERSITY OF TORONTO e : | Ill 3 1761 01 Ill | 700306 2 || I | ‚HELM WUNDT JOSIK DRITTE AUFLAGE DREI BÄNDE Il. BAND Logik der exakten Wissenschaften ONE HRNIE REN JERDRID SÄRDÄRT x u’ 7?, De Po « %r RN, BT Digitized by the Internet Archive in 2010 with funding from University of Toronto http://www.archive.org/details/logikeineuntersu00wund 4 wer ver h EM gr Ki );« ” eur x s Ye f nn f » zu a : Se k Y rg ® iA b/ - ’ Y N ! 4 . 7. . m hu u u) x le A . P u Pa Ze: PAR | 73 1: u | Hi - 2 en rer y + nn ar + A. e D " “ Fo) 2 Ben nenn EN ES ei Da f j dal h BEN NDS LH: er LOGIK EINE UNTERSUCHUNG DER PRINZIPIEN DER ERKENNTNIS UND DER METHODEN a WISSENSCHAFTLICHER FORSCHUNG a VON WILHELM WUNDT DREI BÄNDE * II. BAND LOGIK DER EXAKTEN o WISSENSCHAFTEN oo 3. UMGEARBEITETE AUFLAGE VERLAG VON FERDINAND ENKE STUTTGART 1907 mes we LOUGIK DER EXAKTEN WISSENSCHAFTEN VON WILHELM WUNDT Dritte umgearbeitete Auflage VERLAG VON FERDINAND ENKE STUTTGART 1907 ir N t „ \ \ Ir ‘ \ v: h ’ 5 42) nn ER 2 ht _ Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttga it xS ENT Re Yu Re Vorwort zur ersten Auflage. In dem vorliegenden Werke ist der Versuch gemacht, die wissen- schaftlichen Methoden und ihre Prinzipien einer vergleichenden Unter- suchung zu unterwerfen, welche so viel als möglich unmittelbar aus den Quellen der Einzelforschung zu schöpfen sucht. Dieser Versuch ist von so großen Schwierigkeiten umgeben, daß es vielleicht weniger erforderlich ist, seine Mängel als ihn selbst zu entschuldigen. Die Mathematik, die Naturforschung, die Geisteswissenschaften, jedes dieser Gebiete scheint reich genug, um als Grundlage einer logischen Darstellung zu dienen. Dennoch drängte sich mir bei Vollendung meiner Arbeit immer mehr die Überzeugung auf, daß nur eine sie alle umfassende Untersuchung von den methodischen Eigentümlich- keiten jedes einzelnen zureichende Rechenschaft geben könne, und daß allein auf diesem Wege dem Fehler unberechtigter Verall- gemeinerung gewisser Methoden wirksam zu steuern sei. Auch schien es mir fruchtbringender, der tatsächlichen Entwicklung des wissen- schaftlichen Denkens in seinen verschiedenartigen Gestaltungen nach- zugehen, als bei abstrakten logischen Betrachtungen von fragwürdiger Anwendbarkeit zu verweilen. In diesem Plan des Buches liegt, wie ich hoffe, eine zureichende Entschuldigung dafür, daß in demselben auf andere logische Darstellungen nur an wenigen Stellen Bezug genommen ist. Werke aus den einzelnen Wissenschaftsgebieten habe ich dagegen in der Regel dann zitiert, wenn ein Hinweis auf spezielle Belegstellen oder auf weitere Ausführungen zu den im Text gegebenen Andeutungen erforderlich schien. Die Entstehungsweise meiner Arbeit brachte es mit sich, daß die allgemeine Methodenlehre, obgleich der systematische Zweck vI Vorwort zur ersten Auflage. ihren Vorantritt verlangte, dennoch fast zuletzt ausgeführt wurde, nachdem die speziellen Abschnitte der Hauptsache nach vollendet waren; ich habe dann aber selbstverständlich das Ganze noch ein- mal einer sorgfältigen Überarbeitung unterzogen. Auf diese Weise fügte es sich von selbst, daß der Schwerpunkt der Darstellung in die Logik der einzelnen Wissenschaften verlegt ist. Ich wünsche nicht, daß hieraus die Meinung entstehe, jeder Abschnitt könne nötigen- falls als ein für sich bestehendes Ganzes gelesen werden. Ins- besondere betrachte ich die spezielle Methodenlehre durchaus als ein zusammenhängendes Werk, dessen einzelne Teile überall aufeinander hinweisen. Für die Darstellung erwuchs hieraus die Pflicht, sie in einer Form zu halten, welche — höchstens von einzelnen Ausführungen abgesehen — jedem wissenschaftlich gebildeten Leser es möglich machen soll, dem Gedankengang zu folgen. Gegenüber der Zer- splitterung der Einzelforschungen und der mit ihr so oft verbundenen Unterschätzung fremder Arbeitsgebiete ist es, wie ich meine, eine der schönsten philosophischen Aufgaben, das Bewußtsein der Zu- sammengehörigkeit der Wissenschaften wach zu erhalten und die Gleichberechtigung der wissenschaftlichen Interessen zu wahren. Daß nicht alle Disziplinen die nämliche Berücksichtigung ge- funden haben, wird wohl niemand dem Verfasser verargen. Eine Beschränkung auf die Hauptgebiete, welche für die Ausbildung der Methoden und Prinzipien der Forschung vorzugsweise bestimmend sind, war schon durch den allgemeinen Charakter des Werkes ge- boten. Überdies ist es unvermeidlich, daß der individuelle Stand- punkt des Autors die gleichförmige Durchführung einer derartigen Aufgabe beeinträchtigt. Meine Beschäftigung mit Mathematik und Naturforschung ist durch den Gesichtskreis des Physiologen, mein Interesse an den Geisteswissenschaften vorzugsweise durch psycho- logische Studien bestimmt worden. Vielleicht lag in diesem doppelten Berufsfach für mich mehr als für manchen andern eine Aufforderung zur Beschäftigung mit allgemeinen methodologischen Problemen. Vorwort zur ersten Auflage. VII Sieht sich doch der Physiologe fast überall auf die Hilfe der ex- akteren Teile der Naturwissenschaft angewiesen, und der Psychologe, wenn er die unersprießlichen Pfade des herkömmlichen Subjektivis- mus verlassen will, ist fortwährend gezwungen, nach beiden Seiten Umschau zu halten, um bald die experimentellen Methoden des Physikers und Physiologen für die Analyse der einfachen Bewußt- seinserscheinungen zu verwerten, bald aus der Untersuchung der Geisteserzeugnisse, wie sie Sprachwissenschaft, Mythologie, Völker- kunde und Geschichte ihm bieten, für die Analyse der höheren psychischen Funktionen Anhaltspunkte zu gewinnen. Die zentrale Stellung, die ich der Psychologie zwischen den Natur- und Geistes- wissenschaften angewiesen, mag infolge dieser individuellen Be- ziehungen vielleicht etwas mehr betont worden sein, als es sonst geschehen wäre; dennoch ist es meine Überzeugung, daß sie tat- sächlich der Bedeutung entspricht, welche diese Wissenschaft — nicht jetzt besitzt, aber in der Zukunft besitzen wird. Leipzig, im Juli 1883. Vorwort zur dritten Auflage. Durch die Trennung der in der vorigen Auflage zu einem Doppelband vereinigten Methodenlehre in zwei selbständige Bände ist es nötig geworden, für jeden dieser Bände einen besonderen Titel zu wählen. Wenn ich demnach den vorliegenden Band eine Logik der exakten Wissenschaften genannt habe, so ist dies, wie ich nicht unterlassen möchte zu bemerken, lediglich aus praktischen Gründen geschehen. Für Mathematik und Naturwissenschaft, vornehmlich in ihrer Vereinigung, ist nun einmal der Name der „exakten Wissen- schaften“ im Gebrauch. Niemand wird daher zweifelhaft sein, was er unter diesem Titel zu erwarten habe. Im übrigen bin ich selbst der Meinung, daß sich gegen ihn manches einwenden läßt. Versteht man den Begriff des Exakten in dem üblichen Sinne, nach dem er eine besondere Genauigkeit und Zuverlässigkeit bezeichnen soll, so gibt es zweifellos naturwissenschaftliche Gebiete, wie z. B. viele Teile der Biologie, deren Exaktheit vieles vermissen läßt, während die philologische und teilweise auch die historische Methodik in ihrer Weise sehr wohl den Anspruch erheben dürfen, exakt genannt zu werden. Nimmt man aber den Begriff des Exakten im Kantischen Sinne, wonach jede Wissenschaft so genannt werden darf, auf die Mathematik angewandt werden kann, so ist es zwar richtig, daß solche Anwendungen in der Naturwissenschaft sehr viel häufiger vorkommen als in den Geisteswissenschaften, daß sie aber auch in diesen keineswegs ausgeschlossen sind, wie dies z.B. die Maß- methoden in der Psychologie und die statistischen Methoden in der Sozialwissenschaft zeigen. Vorwort zur dritten Auflage. TX Auch die Aufnahme der allgemeinen Methodenlehre in diesen Band beruht mehr auf äußeren als auf inneren Gründen. Bildet sie doch ebenso gut eine Einführung in die Logik der Geistes- wie in die der mathematischen und Naturwissenschaften. Immerhin haben die letzteren Gebiete schon infolge ihrer früheren Entwicklung die Ausbildung der allgemeinen Methoden wissenschaftlicher Forschung am meisten gefördert. Daß schließlich die Logik der Mathematik nur in den Hauptrichtungen der Methodik und in ihren Grund- begriffen in die vorliegende Darstellung hereingezogen wurde, be- darf wohl kaum der besonderen Rechtfertigung. Ist doch die Mathematik eine so eminent logische Wissenschaft, daß sie selbst eigentlich schon eine Methodik des mathematischen Denkens zur Darstellung bringt, und daß daher eine eingehendere Behandlung zu den Aufgaben der Mathematik selbst gehört. Dagegen scheint mir die Erörterung der allgemeinen logischen Gesichtspunkte der mathematischen Methodik und Begrifisbildung umsomehr eine Auf- gabe der Logik zu sein, als die Mathematiker aus begreiflichen Gründen solche Fragen entweder überhaupt nicht oder doch nicht gerade in ihrem Zusammenhang mit den allgemeinen Prinzipien der Erkenntnis zu behandeln pflegen. Leipzig, im Juli 1907. W. Wundt. 73 Bf a EN bis 3 Re. : NERRE, fr ee aan Erster Abschnitt. Allgemeine Methodenlehre. Erstes Kapitel, Die Methoden der Untersuchung. 1. Analyse und Synthese hi Ka Pe a a Be a. Allgemeine Bedeutung der analytischen und synthetischen Methode .b. Die Analyse. c. Die Synthese } 2. Abstraktion und en a. Die Abstraktion b. Die Determination 3. Induktion und Deduktion . a. Die logischen Elemente der Induktion b. Die Induktion als Methode c. Die Deduktion . - 4. Die wechselseitigen Beneknngen nr neergreiieden. ZweitesKapitel. DieFormender systematischen Darstellung. 1. Die Definition . 2. Die Klassifikation . A a. Allgemeine Eigenschaften Br Blasaitkatoh nie Mabwidklung der Klassifikationsformen b. Die deskriptive Klassifikation c. Die genetische Klassifikation . d. Die analytische Klassifikation 3. Der Beweis . a. Allgemeine Aufgäben den Bewererfährens b. Die direkten Beweisformen c. Die indirekten Beweisformen Drittes Kapitel. Das System der Wissenschaften. 1. Die wissenschaftliche Arbeitsteilung und die künstlichen Systeme 2. Das natürliche System der Wissenschaften . Seite XJI Inhalt. Seite Zweiter Abschnitt. Die Logik der Mathematik. Erstes Kapitel. Die allgemeinen logischen Methoden der Mathematik. 1. Die Aufgaben der mathematischen Untersuchungs . . . . . . 101 2. Die mathematische Analyse und Synthese . . . . 2.2. .107 3. Die mathematische Induktion und Abstraktion . . ....213 a. Der mathematische Realismus und Nominalismus. . . . . 118 b. Die historische Bedeutung der mathematischen Induktion. . 126 c. Die bleibenden Formen der mathematischen Induktion. . . 130 d. Die mathematische. Abatraktion....; u zu N... 0 Se 4.."Die-mathematische Deduktion.... In un m 2 RE Zweites Kapitel. Die arithmetischen Methoden. 1. Die"Zahlen und ihre Symbole... nn. 20 22 a. Das Ziffernsystem . . ee ee b. Die Zahlarten und Zulllarsönte N ee c. Die Zahlgrenzen.. . . ER 0. 2. Die algebraischen Oneshanen BR: . 165 a. Die Entstehung und Bedeutung arabische Gleichenen . 166 b. Die allgemeinen Eigenschaften der algebraischen Gleichungen 172 Drittes Kapitel. Die geometrischen Methoden. 1. Die geometrischen Konstruktionsmethoden . . . „An a. Die Entwicklung der geometrischen Konztrukkionemeihenen oT, b. Die Teilung der Figuren . . we a TE a c. Die ergänzenden Hilfckoarekraklionen BORR: 183 d. Die genetischen Konstruktionen: Beeren Rn Die: schneidungsfiguren . . . 187 e. Die projektive Kohsimkken. and Yale Snthetinahe deometee 194 2. Die Anwendungen algebraischer Methoden auf die geometrische Untersuchung. . . ie PR E a. Die algebraische und a anulyiische Geprueir 2 re I b. Die. geometrische Analysiıı. 4 Jr. ar De a Ver Viertes Kapitel. Der Funktionsbegriff und die Infinitesi- malmethode. 1. Die analytischen Funktionen . . EEE EEE a. Die Entwicklung des Begriffs a Bankkian N b. Die Hauptformen der analytischen Funktionen . . . . . 219 2. Der Differentialbegrif. . . ic a. Allgemeine Entwicklung de Differentialbesriie SE U N. b. Der phoronomische Differentialbegriff . . . . 2 2.2..2...237 c. Der geometrische Differentialbegrif. . . . - „ „0. m 324 d. Der arithmetische Differentialbegif . - . » . „2.2.7247 e. Der Begriff der derivierten Funktion -. . . .. In .2.243 3. Das Prinzip der Integration . . . A 4. Die Anwendungen der nee ekenh N ne Inhalt. XII Seite Dritter Abschnitt. Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Erstes Kapitel. Entwicklung und Gliederung der Natur- wissenschaften. 1. Die Entwicklung der Naturwissenschaften . . » 2 .2.2.2...269 2. Das System der Naturwissenschaften - . » . 2 2.2.2.2... 274 Zweites Kapitel. Heuristische Prinzipien der Naturforschung. 1. Kausale und teleologische Naturbetrachtung . . . .» ..... 281 2. Postulate der empirischen Naturforschung . . . . 2.2..2...287 a, Das’ Postulat der "“Ansehaulichkeit ) .. .. 21.0. 2. 387 ballexı krutucherAwaltebe: ANNE en re hr 120 c. Das Postulat der Einfachheit . . . . 295 d. Die heuristischen Postulate der Natel: und die ubrekk- Wistische-Hirkennintatbeoriesa eu ae ern „a. 209 Drittes Kapitel. Die Prinzipien der Mechanik und der Kausalbegriff der mechanischen Naturlehre., 1. Die Entwicklung der mechanischen Grundbegriffe . . . . . 306 Bu Ike, Stauık destrchimedesra rn. 2° isn er ee 30 b. Gelileis dynamische Anschauungen . . . EEE RE c. Die Begründung der synthetischen Mefkanık DE A er SACHEN 2. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik . . . . . ie le a. Die Formulierung der mechanischen Axiome durch Norton . 314 b. Teleologische Fundamentaltheoreme der Mechanik . . . . 317 c. Kausale Fundamentaltheoreme der Mechanik . . . . .. 330 d. Die phoronomischen und die De Vorterkngen der Mechanik. . . a 2 ra Le e. Das Prinzip der Finfachheit in er Werne. SR 342 f. Der Kausalbegriff der mechanischen Naturlehre und die Bee meinen Formen der Kausalgleichungen . . . 2 ...2....847 Viertes Kapitel. Die allgemeinen Methoden der Natur- forschung. 1. Allgemeiner Charakter der naturwissenschaftlichen Methoden . 355 2. Experiment und: Beobachtung. % ar: 00... We 357 a. Die, experimentelle Methode) =... 1.7 20 2 en 357 b.Die vergleichende. Methode u. Zn nn 2 12 227,0 05 SE 3. Naturbeschreibung und Naturerklärung . . . 2 .2.2.2.2..8366 Vierter Abschnitt. Die Hauptgebiete der Naturforschung. Erstes Kapitel. Die Logik der Physik. LDie physikalischen: Methoden 4% 1.0 1. naar une! ge a) 868 a. Die Analyse der Naturerscheinungen . . . we end SED b. Die synthetische Erzeugung der Feng a eu Die-Dliysikahische Induktion, u 3 var 0 SEE 5 XIV Inhalt. d. Die physikalische Abstraktion . e. Die physikalische Deduktion 9. Die Hilfsmittel der physikalischen erschung a. Die physikalische Beobachtung b. Die Messung der Naturerscheinungen ’ c. Die mathematischen Hilfsoperationen der ShyMEnlischen Lindlar suchung . 5 d. Die Enakaheche Konokantenbeinne . Das Substrat der Naturerscheinungen a. Kontinuitätshypothese und Atomistik b. Die dynamische Atomtheorie c. Die kinetische Atomtheorie . d. Rückkehr zu Konkinnilalsetellunsn e. Logische Prüfung der Hypothesen 4. Die allgemeinen Naturgesetze . a. Kraftgesetze und Kraftfunktionen b. Die Energiegesetze . s c. Die physikalischen ec : Zweites Kapitel. Die Logik der Chemie. 1. Die chemischen Methoden . . .. . f a. Allgemeine Aufgaben der chemischen Ünlerudiuhe x b. Die chemische Analyse c. Die chemische Synthese . d. Die chemische Induktion e. Die chemische Abstraktion und Dednklion 2. Die chemische Statik und Dynamik . a. Die Prinzipien der chemischen Statik . b. Die Prinzipien der chemischen Dynamik . 3. Der chemische Atombegriff . a. Entwicklung der chemischen Dee Hppothese der 2 es atome : . b. Die Nlekkonenikeone DE die ee der . setzung der Atome . . ee c. Die chemischen Elemente ana ee Banep ie Konstahk der Materie . Drittes Kapitel. Die Logik der Biologie. 1. Die biologischen Methoden . : . a. Allgemeine Aufgaben der Biologen Worehaue b. Die morphologische Analyse Men c. Die physiologisch-chemische Uteruehung d. Die physiologisch-physikalische Untersuchung . e. Die physiologische und pathologische Funktionsanalyse . Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen a. Die biologischen Richtungen i er b. Die teleologische Mechanik der Lebanserscheinune ; c. Teleologische Prinzipien der Biologie. Das Entwicklungs gesetz Seite 394 400 415 417 424 436 442 447 448 452 454 455 459 468 468 474 478 489 489 491 498 501 513 517 517 922 528 528 535 5836 589 539 541 548 552 594 560 560 567 969 Inhalt. d. Das Vererbungsgesetz. Stofftheorien und dynamische Theorien g. .‚ Das Anpassungsgesetz. Mechanische, chemische und funk- tionelle Anpassungen . . Das Prinzip der Summation es, irgen ad Be an strophenlehre. Variations- und Mutationstheorie . . . . Kausale Prinzipien der Biologie. Das Regulations- und das Energieprinzip 3. Die biologischen Canndbeeriite ad de Brbolheskn über 3 Zu: sammenhang der Lebensvorgänge a. b. © d. e. S a b. c d e. Register Das organische Individuum und der re ielarereiene Die systematischen Begriffe der Biologie . Die Ursachen des Lebens Untergang und Erneuerung des Deren. Das Problem der Urzeugung törungen der Lebensvorgänge . Der Begriff der Krankheit . Funktionsstörungen und Infektionen . Die Theorie der Immunisierung . METER. . Die Selbstregulierung im kranken Organismus . Die abnormen Neubildungen XV Seite 572 977 583 587 592 592 600 607 611 614 618 618 625 627 629 631 635 Erster Abschnitt. Allgemeine Methodenlehre. Erstes Kapitel. Die Methoden der Untersuchung. 1. Analyse und Synthese. a. Allgemeine Bedeutung der analytischen und synthetischen Methode. Jede einzelne wissenschaftliche Untersuchung besteht entweder in der Zergliederung eines zusammengesetzten Gegenstandes in seine Bestandteile, oder in der Verbindung irgendwelcher relativ einfacher Tatsachen zum Behuf der Erzeugung zusammengesetzter Resultate. Analyse und Synthese sind daher die allgemeinsten Formen der Unter- suchung, die in alle anderen als deren Bestandteile eingehen. So erheben sich auf beiden zunächst zwei Paare zusammengesetzter Methoden: erstensdeAbstraktionmitihrer Umkehrung, derDetermina- tion, und zweitens die Induktion mit ihrer Umkehrung, der Deduktion. Die Abstraktion gründet sich auf analytische Unter- suchungen; die Determination ist ein synthetisches Verfahren. Die Induktion stützt sich vorzugsweise auf eine Analyse der Tatsachen; die Deduktion verbindet wiederum die durch die Analyse gewonnenen Elemente. Doch ist damit nur die vorwiegende Richtung der Denk- operationen bezeichnet; denn es verrät sich gerade in der kombinierten Anwendung der Analyse und Synthese die zusammengesetztere Be- schaffenheit der Methoden. Von den Methoden der Untersuchung sind die Formen der systematischen Darstellung abhängig. Auch in Bezug auf diese bewähren daher die Analyse und Synthese ihre grundlegende Bedeutung. Den einfachen Methoden derselben entsprechen die Formen der Definition, welche entweder in der Zerlegung eines Begrifis Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 1 2 Allgemeine Methodenlehre, in seine Elemente oder in dem Aufbau desselben aus diesen Elementen bestehen kann. Den Methoden der Abstraktion und Determination schließt sich das Verfahren der Klassifikation an. Die Ge- winnung der Allgemeinbegriffe eines Systems beruht auf Abstraktion, während bei der Bildung der Einteilungsglieder das umgekehrte Ver- fahren der Determination Platz greift. Endlich auf die Induktion und Deduktion stützen sich die Formen der Demonstration. Denn der Beweis eines Satzes besteht entweder in einer abgekürzten Reproduktion des Weges, auf welchem derselbe gewonnen wurde, oder auf einer umgekehrten Zurücklegung dieses Weges. Da nun alle wissenschaftlichen Sätze durch Induktion oder Deduktion gefunden sind, so folgt hieraus, daß auch das Beweisverfahren bald den induk- tiven, bald den deduktiven Weg einschlagen wird, wobei jedoch wegen der angedeuteten Umkehrungen ein Übergewicht des deduktiven Verfahrens bestehen bleibt. Die allgemeine Methodenlehre muß sich darauf beschränken, für jede der angegebenen Methoden die allgemeingültigen logischen Gesichtspunkte zu entwickeln, während die Untersuchung der beson- deren Bedingungen und einzelnen Formen ihrer Anwendung den folgenden Abschnitten, welche die Logik der einzelnen Wissenschafts- gebiete behandeln, überlassen bleibt. b. Die Analyse. Die Gegenstände unserer Erfahrung sind von zusammengesetzter Beschaffenheit. Jedes einzelne Objekt oder Ereignis bietet uns bald mehrere bleibend koexistierende Bestandteile, bald verschiedene in der Zeit aufeinanderfolgende Zustände, und nicht selten verbinden sich diese beiden Merkmale miteinander. Die Analyse ist daher die- jenige methodische Denkoperation, welche durch die natürliche Be- schaffenheit der Erfahrungsobjekte in der Regel zuerst angeregt wird. Eine klare und deutliche Auffassung der Gegenstände ist die Grund- bedingung der wissenschaftlichen Untersuchung und zugleich das nächste Merkmal, welches diese von der gewöhnlichen praktischen Betrach- tung der Dinge unterscheidet. Die bestimmte Vergegenwärtigung der einzelnen simultan oder sukzessiv wahrzunehmenden Elemente, aus denen eine Tatsache besteht, muß daher der erste Schritt bei der Unter- suchung derselben sein. Diese Analyse der Tatsachen vollzieht sich aber wieder in einer bestimmten Entwicklungsfolge, innerhalb deren sich im allgemeinen drei Stufen unterscheiden lassen. Naturgemäß ist es nur die erste dieser Stufen, die in der angedeuteten Weise die Analyse”und Synthese. Be Vorbereitung zu jeder weiteren Untersuchung bildet, während sich die übrigen mit synthetischen Verfahrungsweisen verbinden können und in dieser Verbindung namentlich Bestandteile der Induktion und Deduktion zu bilden pflegen. Jene erste Stufe ist die der elementaren Analyse. Sie besteht lediglich in der Zerlegungeiner Erscheinung inihre Teilerscheinungen, ohne daß man sich noch darum kümmert, in welchen gegenseitigen Beziehungen die Teile des Ganzen zueinander stehen mögen. Eine solche Zerlegung erfüllt zunächst einen rein deskriptiven Zweck. Denn darin besteht das Wesen der Beschreibung, daß man ausschließlich über das Neben- und Nach- einander der Bestandteile einer Erscheinung Rechenschaft gibt. Außer- dem kann aber die Beschreibung die eingehendere kausale Unter- suchung vorbereiten, und es ist dies regelmäßig der Fall, wenn nicht die Schwierigkeit des Gegenstandes eine einstweilige Beschränkung auf die bloße Beschreibung gebietet. Im übrigen können die Hilfs- mittel, deren sich die elementare Analyse bedient, der verschiedensten Art sein. In den einfachsten Fällen stützt sie sich auf die natürlichen Sinneswerkzeuge oder, bei der psychologischen Analyse, auf die un- mittelbare innere Wahrnehmung. Der logische Charakter des Ver- fahrens bleibt aber der nämliche, wenn künstliche Werkzeuge den Sinnesorganen zu Hilfe kommen, wie bei den vollkommeneren Formen der naturwissenschaftlichen Beobachtung, oder wenn aus den Be- richten verschiedener Augenzeugen, historischen Dokumenten, statisti- schen Erhebungen u. dgl. eine Anzahl von Tatsachen in Bezug auf ihre räumliche und zeitliche Verbindung festgestellt wird, wie solches bei der Untersuchung sozialer und historischer Fragen stattzufinden pflegt. Selbst dann verliert die Methode noch nicht den Charakter elementarer Analyse, wenn gewisse Versuchsverfahren zu Rate ge- zogen werden, deren Anwendung an sich schon auf die Kenntnis ge- wisser kausaler Beziehungen gegründet ist, so lange sich nur der Zweck des Verfahrens auf die tatsächliche Feststellung der Elemente einer Erscheinung beschränkt und bloß die äußere räumliche und zeitliche Verbindung derselben berücksichtigt. So ist die chemische Elementar- analyse auch im logischen Sinne eine solche, so weit sich auch hier der Vorgang von der einfachen Zerlegung einer sinnlichen Wahrnehmung in ihre Teile entfernen mag. Denn das Resultat der chemischen Elemen- taranalyse ist bloß die Kenntnis der einfachen Bestandteile des unter- suchten Körpers ohne Rücksicht auf die näheren Bedingungen ihrer Verbindung. Aber gerade in diesen verwickelteren Fällen, in denen 4 Allgemeine Methodenlehre. schon für den deskriptiven Zweck experimentelle Hilfsmittel herbei- gezogen werden müssen, pflegt die erste unaufhaltsam zu den weiteren Stufen der analytischen Methode überzuführen. Als zweite Stufe ergibt sich so die der kausalen Ana- lyse. Sie besteht in der Zerlegungeiner Erscheinung inihre Bestandteile mit Rücksicht auf die ur- sächlichen Beziehungen derselben. Eine derartige vom Zweck der Erklärung geleitete Zergliederung setzt die ele- mentare deskriptive Analyse bereits voraus. Doch kann diese unter Umständen sehr schnell erledigt sein oder auch sofort in die kausale Zergliederung verwoben werden, so daß die Untersuchung unmittelbar mit der letzteren zu beginnen scheint. Beispiele solcher Art bieten unter den Naturwissenschaften die Physik, unter den Geisteswissenschaften die Psychologie und Geschichte, während anderseits Chemie und Physio- logie, Staats- und Gesellschaftslehre leicht als Gebiete zu erkennen sind, in denen das deskriptive Stadium eine selbständigere Bedeutung besitzt. Der Grund dieses Unterschieds liegt in den verschiedenen Be- dingungen dieser Wissenschaften. Physik und Psychologie beschäftigen sich beide mit der Erklärung der allgemeinen Erscheinungen, jene der äußeren, diese der inneren Erfahrung. Zu diesem Behuf beginnen beide ihre Analyse mit den einfachsten Tatsachen, bei denen ohne beschreibende Vorbereitung eine kausale Erwägung unmittelbar nahe gelegt wird. Die Untersuchung der verwickelteren Erscheinungen stützt sich dann aber bereits auf jene einfachsten Kausalanalysen, und es verbindet sich daher sofort mit ihnen der Versuch, durch ein synthetisches Verfahren die Anwendbarkeit der analytisch gewonnenen kausalen Prinzipien zu prüfen. Der historischen Untersuchung mangeln zwar solche einfache Ausgangspunkte; dafür aber bedient sie sich eines weitgehenden Abstraktionsverfahrens, das es ihr gestattet, zu- nächst gewisse Hauptmomente des historischen Geschehens heraus- zugreifen, für welche die Zurückführung auf bestimmte psychologische Motive nahe liegt. In völlig entgegengesetzter Lage befinden sich die an zweiter Stelle angeführten Gebiete. Bei ihnen ist meistens schon in den einfachsten Fällen das rein tatsächliche Verhalten, wie es z. B. in der qualitativen und quantitativen Zusammensetzung einer chemischen Verbindung, in den morphologischen und chemischen Eigenschaften eines Organs, in den Berufs- und Sittenzuständen einer Bevölkerung gegeben ist, so wenig der unmittelbaren Beobachtung zugänglich, daß die deskriptive Analyse der Tatsachen einen selbständigen Wert für sich in Anspruch nimmt. Analyse und Synthese. 5 In der Ausführung zeichnet sich die kausale Analyse vor allem durch ein willkürliches Isolieren einzelner Elemente aus den zu untersuchenden komplexen Tatsachen aus, welches Verfahren in der Absicht geübt wird, die kausalen Beziehungen der isoliert be- trachteten Elemente kennen zu lernen. Während demnach die elemen- tare Analyse den Gegenstand höchstens insofern verändert, als sie zum Behuf der Nachweisung seiner Bestandteile diese sukzessiv vonein- ander trennt, vernachlässigt die kausale von vornherein die Existenz gewisser Bestandteile; sie beschränkt sich dann aber nicht auf die Nachweisung der übrigen in Rücksicht gezogenen, sondern sie sucht so viel als möglich die Bedingungen ihrer Koexistenz oder Aufein- anderfolge zu verändern. Zu der Isolation gesellt sich auf diese Weise die VariationderElementeals das wesentlichste Hilfsmittel. Am vollendetsten gestaltet sich die letztere dann, wenn die Natur des Gegenstandes es gestattet, willkürlich einzelne Elemente der Erscheinung entweder ganz zu beseitigen oder in ihrer Größe zu verändern. In einer solchen willkürlichen Variation besteht die analytische Form desexperimentellen Verfahrens. Wo das Experiment angewandt werden kann, verdient es vor jeder anderen Art kausaler Analyse den Vorzug, weil es auf dem direktesten Wege das kausale Verhältnis der Bestandteile einer Erscheinung ermitteln läßt. Ist es wegen der Natur des Gegenstandes nicht anwendbar, wie bei gewissen den Menschen betreffenden physiologischen Fragen, bei den allge- meinsten kosmologischen und biologischen, bei historischen und sozialen Problemen, so muß der Variation der Elemente der untersuchten Er- scheinung die Variationder Elemente verschiedener einanderähnlicherErscheinungen substituiert werden. Es greift daher nun allgemein ein Vergleichungsverfahren Platz, bei dem man die zu untersuchende Tatsache in Parallele bringt mit anderen bekannten Tatsachen, die ihr in irgendwelchen Be- ziehungen ähnlich sind. Je mehr solche Variationen denjenigen Ver- änderungen gleichen, die man bei der experimentellen Methode will- kürlich hervorbringen würde, umsomehr gewinnen natürlich auch die Resultate einen experimentellen Wert. Da jedoch die Auffindung ge- eigneter Tatsachen von glücklichen Zufällen abhängt, so beansprucht hier die Untersuchung auch unter den günstigsten Verhältnissen eine längere Zeit, und sie setzt die Ansammlung eines umfangreicheren Er- fahrungsmateriales voraus. In nicht seltenen Fällen aber bleibt jede Annäherung an die experimentelle Methode dadurch ausgeschlossen, daß die untersuchten Tatsachen einen singulären Charakter be- 6 Allgemeine Methodenlehre. sitzen, insofern selbst die einigermaßen verwandten Erscheinungen immer noch zu verschieden sind, um eine unmittelbare Vergleichung zu gestatten. Dies findet namentlich bei denjenigen Vorgängen der Ent- wicklung statt, bei denen, wenigstens in einer unserer Beobach- tung zugänglichen Zeit, periodische Wiederholungen ausgeschlossen sind, wie bei der ersten Entstehung kosmischer und organischer Ge- bilde oder bei historischen Ereignissen. Hier muß sich dann die ver- gleichende Kausalanalyse teils mit entfernteren Analogien begnügen, teils wird sie von Voraussetzungen geleitet, die einem allgemeineren Gebiet von Tatsachen angehören, das eine Anwendung auf den unter- suchten Gegenstand zuläßt. So stützt sich die Analyse der Artent- wicklung auf die individuelle Entwicklungsgeschichte und auf die nach- weisbare Bildung von Spielarten; oder die historische Analyse folgt allgemein anerkannten psychologischen Gesichtspunkten. Die dritte StufeistdielogischeAnalyse. Sie besteht inder Zerlegungeinerkomplexen Tatsacheinihre Bestandteile mit Rücksicht auf die logischen Beziehungen derselben. Hierzu ist erforderlich, daß eine allgemeine Feststellung der begrifflichen Eigenschaften der Elemente des Ganzen bereits erfolgt sei. Ist diese Voraussetzung erfüllt, so über- nimmt dann die logische Analyse die Entwicklung der einzelnen Folge- rungen, die sich aus diesen Eigenschaften ergeben. In doppelter Weise kann aber jene allgemeine Feststellung geschehen, welche die Vorbedingung der logischen Analyse ist: erstens durch ein synthetisches Verfahren, das nach in der Anschauung gegebenen oder willkür- lichen Motiven die Beziehungen der Elemente eines Begriffs zugleich mit diesem selbst bestimmt, und zweitens durch die vorangegangenen Stufen der elementaren und kausalen Analyse. Nur im zweiten dieser Fälle bildet demnach die logische Analyse das Endglied des analytischen Verfahrens überhaupt, während im ersten die nachher zu schildernde synthetische Methode in sie einmündet. Diese auf synthetischer Grund- lage erwachsene logische Analyse ist die häufigste und zugleich die vollendetste Form. Insbesondere gehören hierher alle Anwendungen des analytischen Verfahrens im Gebiet der reinen Mathematik. So be- sitzt man in der Gleichung einer Kurve einen auf synthetischem Wege gewonnenen Ausdruck, welcher den Begrifi der Kurve samt den Be- ziehungen seiner wesentlichen Elemente in sich schließt. Die ana- lytische Behandlung dieses Ausdrucks entwickelt dann durch Zerlegung des Begriffs die verschiedenen Eigenschaften der Kurve. Stellt dagegen der einer solchen Analyse unterworfene mathematische Ausdruck ein Analyse und Synthese. 7 allgemeines Naturgesetz dar, so pflegt dieses durch eine vorange- gangene kausale Analyse der Erscheinungen gewonnen zu sein, worauf nun die nachfolgende logische Analyse Folgerungen entwickelt, die wiederum durch Beobachtung oder Experiment geprüft werden können. Auf diese Weise fordern gerade hier, wo die logische Analyse das ana- lytische Untersuchungsverfahren abschließt, nicht selten die Resultate derselben eine teilweise Rückkehr zu den vorangegangenen Stufen. Übrigens pflegt auch in diesen Fällen an der Feststellung der Begriffe, welche der logischen Analyse zu unterwerfen sind, immerhin in ge- wissem Grade die synthetische Methode beteiligt zu sein, da die Formu- lierung allgemeiner Naturgesetze niemals das Resultat einer reinen Analyse ist, sondern aus dem zusammengesetzten Verfahren der In- duktion entspringt. Wegen der exakten Form, in der die mathematische Symbolik die Beziehungen der miteinander verbundenen Größenbegriffe anzu- geben vermag, erweist sich der mathematische Ausdruck eines Begriffs als vorzugsweise geeigneter Ausgangspunkt für die logische Analyse. Doch kann diese auch in solchen Begrifissystemen, deren Natur die mathematische Formulierung ausschließt, zu verhältnismäßig großer Vollendung gelangen. Das hervorragendste Beispiel dieser Art bilden die Rechtsbegriffe, die, nachdem sie durch Definitionen festgestellt sind, bald mit Rücksicht auf allgemeine Rechtsfragen, bald aus Anlaß individueller Rechtsanwendungen der logischen Ana- lyse unterworfen werden. Immerhin verrät sich die minder exakte Natur solcher Definitionen noch häufig genug in den widerstreiten- den Resultaten, zu denen die Analyse gelangen kann, und deren Ausgleichung eine der erheblichsten Aufgaben juristischen Scharfsinns zu sein pflegt. An den hier geschilderten drei Stufen der analytischen Methode können sich die verschiedenen logischen Funktionen in ziemlich wech- selnder Weise beteiligen. Eine logische Zergliederung dieser wie jeder anderen Methode läßt sich daher nur insofern vornehmen, als man die logischenGrundformen bezeichnet, auf welche die betrefien- den Methoden vermöge der in ihnen herrschenden Gedankentätigkeit vorzugsweise zurückgehen. Unter dieser Voraussetzung läßt sich als die Grundform der elementaren Analyse das dis- junktive Urteil betrachten, das eine Tatsache M in ihre Teile A, B,C... zerlegt, ohne über die logische Beziehung dieser Teile zu- einander Rechenschaft zu geben: BZANLBICH, HA 8 Allgemeine Methodenlehre. Die kausale Analyse zerlegt diese Form in ebenso viele A b- hängigkeitsurteile, als zuvor einzelne Glieder unterschieden worden sind. Sie gewinnt so Beziehungen von der Form: EEE A B,B700,7D,.... E wobei das obere oder untere Symbol gilt, je nach der Richtung der kausalen Abhängigkeit, unter Umständen aber auch beide in dem Zeichen der Wechselbestimmung sich vereinigen können. (Bd. TI, S. 259.) Endlich die logische Analyse setzt an die Stelle des kausalen Abhängigkeits- das allgemeinere Bedingungsurteil, indem sie zugleich die sämtlichen Glieder des untersuchten Begriffs mit- einander zu verbinden strebt, so daß sie schließlich ein Gesamturteil gewinnt von der Form: MEI, BCE) oder in mathematischer Symbolik ausgedrückt MA BCE 2.) wo das Abhängigkeits- oder Funktionssymbol vor der Gesamtheit der Begrifisglieder andeutet, die Zerlegung des Begrifis M in seine Ele- mente A, B,C...solle in der Weise stattfinden, daß zugleich die logi- schen Beziehungen dieser Elemente zueinander angegeben werden. Mit Rücksicht hierauf kann man daher in der logischen Analyse ein Verfahren erblicken, das die formalen Eigenschaften der beiden vor- angehenden Stufen verbindet. ec. Die Synthese, Das synthetische Verfahren kann in der einfachen Umkehrung einer vorausgegangenen Analyse bestehen. Dann ist die Synthese eine reproduktive: sie hat einen verhältnismäßig beschränkten Wert, da sie hauptsächlich im Interesse einer nochmaligen Prüfung der analytischen Resultate unternommen wird. Es kann aber auch das synthetische Verfahren in einer solchen Weise zur Anwendung kommen, daß nur gewisse Ergebnisse vorangegangener analytischer Unter- suchungen oder sogar nur die Begrifiselemente, die eine vorherige Analyse gefunden hat, benützt werden, während die Synthese selbst in neuer und unabhängiger Weise die Elemente verbindet. Hier ist die Synthese eine produktive: sie führt zu Ergebnissen, welche die analytische Untersuchung in wesentlichen Punkten ergänzen und in vielen Fällen in dieser nicht einmal angedeutet lagen. Zwischen beiden Arten der „ Analyse und Synthese. 9 Synthese finden sich mannigfache Zwischenstufen, für die namentlich die synthetische Form des experimentellen Verfahrens Belege darbietet. Nachdem die Analyse eines zusammengesetzten Klangs gewisse Partialtöne in ihm nachgewiesen hat, versucht man aus ein- fachen Tönen den Klang zusammenzusetzen. Nachdem durch die Ana- lyse des weißen Sonnenlichts die Spektralfarben als dessen Bestandteile erkannt sind, erzeugt man das Weiß durch die Mischung der Farben. Aber hier liegt es dann zugleich nahe, das Verfahren zu modifizieren, so daß der Weg einer bloß reproduktiven Synthese verlassen wird. An Stelle aller Bestandteile des Sonnenlichts begnügt man sich mit der Mischung einzelner Farben und gewinnt so durch selbständige Syn- these verschiedene Kombinationen derselben, die sich zu Weiß ver- binden lassen. Ebenso entfernt sich die chemische Synthese, nament- lich bei den zusammengesetzteren Verbindungen, in der Regel mehr oder weniger von dem Weg der Analyse, da man, von bestimmten Vor- aussetzungen über die Konstitution der Verbindungen ausgehend, von vornherein durch die Synthese eine Prüfung jener Voraussetzungen zu gewinnen sucht. Am eigentümlichsten gestaltet sich die Synthese dann, wenn sie von vorangegangenen analytischen Untersuchungen nur die Elemente übernimmt, mit denen sie ihren Aufbau beginnt. Sie führt hier den Namen der Konstruktion, ein Ausdruck, der zunächst dem mathematischen Gebiete entnommen ist. So benützt die synthetische Geometrie den Punkt, die Gerade und die Ebene als Elemente, mit denen sie ihre Konstruktionen ausführt. Der produktive Charakter der letzteren ist aber namentlich auch deshalb ein so aus- geprägter, weil die Analysen, die zur Auffindung jener Elemente geführt haben, höchst einfacher Art waren, so daß sie den Erfolg der sich an- schließenden synthetischen Operationen nicht vorausahnen ließen. Abgesehen von. dieser in dem Verhältnis zur vorangegangenen Analyse begründeten Unterscheidung sind bei der synthetischen Unter- suchung, eben weil sie eine Umkehrung der analytischen ist, die näm- lichen Stufen wie bei dieser möglich. Doch tritt die elementare Synthese fast ganz zurück, da der rein tatsächliche Nachweis der Elemente eines Ganzen in der Regel durch die analytische Untersuchung in zu- reichender Weise geliefert werden kann. Dagegen ist die kausale Syn- these von hervorragender Bedeutung. Sie bildet einen wichtigen Be- standteil des experimentellen Verfahrens, der nicht bloß da seine An- wendung findet, wo es sich darum handelt, ein analytisches Resultat durch die Umkehrung des Versuchswegs zu bestätigen, sondern der vielfach auch selbständig durch neue Kombinationen elementarer Bedingungen 10 Allgemeine Methodenlehre, komplexe Erscheinungen hervorbringt. Eine logische Synthese endlich ist bei allen mathematischen und sonstigen begrifllichen Konstruk- tionen wirksam. Bald werden solche Konstruktionen, wie in der syn- thetischen Geometrie, durch die Anschauung geleitet, wobei jedoch die Verarbeitung der letzteren immer logischen Gesichtspunkten unter- worfen bleibt, bald beruhen sie auf einer rein begrifflichen Zusammen- fügung, wie bei dem Euklidischen Beweisverfahren in seinen mathe- matischen, philosophischen und sonstigen Anwendungen, oder bei gewissen dialektischen Verfahrungsweisen von synthetischem Charakter, für die Hegels Dialektik ein prägnantes Beispiel ist. Die verhältnis- mäßig einwurfsfreieste unter diesen Methoden, die Euklidische, zeigt jedoch deutlich, was bei den anderen zuweilen mehr verhüllt wird, daß es sich hier im besten Falle um reproduktive Synthesen handelt, bei denen man, wie dies schon von Newton trotz seiner Hochschätzung des Euklidischen Verfahrens richtig erkannt wurde, analytische Er- gebnisse in die synthetische Form umprägt. Wo dies nicht zutrifft, wie in den synthetischen Verfahrungsweisen philosophischer Dialektik, da treten an die Stelle einer haltbaren logischen Synthese nur zu leicht willkürliche Begrifiskombinationen. Die synthetische Methode ist im allgemeinen von beschränkterer Anwendung als die analytische. Insbesondere pflegen sich die Tat- sachen, sobald sie eine gewisse Verwicklung erreichen, der synthetischen Konstruktion oder selbst Rekonstruktion zu entziehen. So beschränkt sich schon die synthetische Geometrie auf die Untersuchung verhält- nismäßig einfacher Raumgebilde, wie der Kurven und Flächen zweiten Grades; die Untersuchung komplizierterer Probleme überläßt sie der analytischen Geometrie. Ebenso reicht in der Physik und Chemie die Analyse bis zu beliebig zusammengesetzten Erscheinungen und Körpern, während die Synthese immer nur relativ einfachere Prozesse aus ihren Bedingungen oder einfachere Verbindungen aus ihren Ele- menten zu erzeugen im stande ist. Aus dem nämlichen Grunde ist die Synthese im Gebiet der Geisteswissenschaften von beschränkter An- wendung. Die meisten psychologischen, sozialen und historischen Tat- sachen sind von allzu verwickelter Beschaffenheit, als daß sie einen anderen als den analytischen Weg der Untersuchung zuließen. Nur die Psychologie gestattet bei den einfachsten Prozessen der sinnlichen Wahrnehmung ein synthetisches Experimentalverfahren. Ebenso hat auf Grund gewisser allgemeingültiger psychologischer Tatsachen die Nationalökonomie, indem sie durch eine weitgehende Abstraktion die Probleme auf einfachste Bedingungen zurückführte, gewisse Folge- Abstraktion und Determination, 11 rungen auf synthetischem Weg gewonnen. Dabeisind dann freilich diese insofern nur von hypothetischer Bedeutung, als durch die gemachten Abstraktionen die Fiktion eines Tatbestandes entsteht, der von dem wirklichen Geschehen stets mehr oder weniger weit sich entfernt. Da das synthetische nur eine Umkehrung des analytischen Ver- fahrens ist, so bleiben auch die logischen Grundformen hier die nämlichen. Die elementare Synthese entspricht einfach dem kopulativen Urteil von der Form: AK BIER EM Die kausale Synthese führt dann aber sofort zu einem zusammenge- setzten Abhängigkeitsurteil von der Form: (Ay. B}C 2). Meoderf ArB CO.) —=H, da, dem Charakter der synthetischen Methode gemäß, das für die Analyse charakteristische Herausheben einzelner Kausalbeziehungen hinwegfällt. Der nämlichen Form folgt dann schließlich die logische Synthese, bei der nur die Abhängigkeits- und Funktionssymbole eine allgemeinere Bedeutung gewinnen. 2. Abstraktion und Determination. a. Die Abstraktion, Unter der Abstraktion verstehen wir allgemein das Ver- fahren, durch welches aus einer zusammengesetzten Vorstellung oder aus einer Mehrzahl solcher Vorstellungen gewisse Bestandteile als Ele- mente eines Begrifis festgehalten und die übrigen eliminiert werden. Die logische Abstraktion gründet sich daher auf die fundamentale psychologische Eigenschaft der Apperzeption, in einer Mehrheit von Bewußtseinsinhalten einzelne, die durch bestimmte Motive bevor- zugt sind, in den Blickpunkt des Bewußtseins zu heben. Die logische Abstraktion ist demnach diejenige Form der Apperzeption, welche durch die Motive der logischen Vorstellungsverbindungen erregt wird. Als einfaches logisches Verfahren setzt sie aber die Analyse voraus. Denn die Objekte der Begrifisbildung müssen in die Bestandteile zer- legt sein, von denen einzelne apperzipiert und andere eliminiert werden sollen. Die wissenschaftliche Bedeutung der Abstraktion beruht teils auf dem Werte, der ihr an und für sich zukommt, teils und besonders aber auf der Wichtigkeit, die sie als Bestandteil und Hilfsmittel anderer 12 . Allgemeine Methodenlehre. logischer Verfahrungsweisen besitzt. Aus der Fülle der einzelnen Er- scheinungen, die einen komplexen Tatbestand ausmachen, bestimmte Elemente herausheben und isoliert der weiteren Untersuchung oder der Ordnung der Erscheinungen zu Grunde legen zu können, ist eine der wertvollsten Errungenschaften der analytischen Methode. Dabei gewährt es noch einen besonderen Vorteil, daß die Abstraktion voll- kommen nach unserer freien Wahl in der verschiedensten Weise und im verschiedensten Grade geübt werden kann. Denn es ist schließlich derselbe Vorgang, der den Systematiker befähigt, bei der Untersuchung einer naturgeschichtlichen Spezies die individuellen Variationen zu ver- nachlässigen, die eine im übrigen mit zahlreichen konkreten Eigen- schaften ausgerüstete Artform darbietet, und der es dem Mathematiker möglich macht, Begriffe festzuhalten, die in der von ihm definierten Weise in gar keiner konkreten Erfahrung gegeben sind, sondern für welche die einzelnen Erfahrungsobjekte nur als Hilfsmittel der Ver- sinnlichung dienen müssen. Die Abstraktion vollzieht sich in zwei voneinander abweichenden Formen, die wir als isolierende und generalisierende unterscheiden können. Unter ihnen ist die erstere die ursprüng- lichere, da die analytische Methode immer zunächst zu ihr führt, und da sie jeder generalisierenden Abstraktion notwendig vorausgeht. Im übrigen aber bilden beide nicht etwa zwei regelmäßig aufein- anderfolgende Entwicklungsstufen, sondern die isolierende Abstrak- tion besitzt ihren selbständigen Wert, und bei vielen der wichtig- sten Anwendungen des Abstraktionsverfahrens bleibt dieses ganz auf die isolierende Form beschränkt, und die generalisierende bildet eine verhältnismäßig unwichtigere Ergänzung. Das Wesen der isolierenden Abstraktion liegt darin, daß man aus einer in der Beobachtung gegebenen komplexen Erschei- nung einen bestimmten Bestandteil oder mehrere Bestandteile will- kürlich abgetrennt denkt und für sich der Beobachtung unterzieht. So reflektiert der Physiker bei der Untersuchung der Lichtbrechung im Prisma nur auf den Gang der Lichtstrahlen und die Farbenzerstreuung; er abstrahiert aber von der gleichzeitigen Erwärmung des Prismas, seiner thermischen Ausdehnung, der Elastizitätsänderung des Glases u.s. w. So nimmt der Nationalökonom bei der Untersuchung der all- gemeinen Gesetze des Güterverkehrs nur auf den Trieb der Menschen, Güter zu erwerben und zu ersparen, Rücksicht, um dagegen alle mög- lichen anderen Eigenschaften, moralische Triebe, Leidenschaften, mangelnde Einsicht u. dgl., die in der Wirklichkeit nicht selten die Abstraktion und Determination. 13 Effekte jener wirtschaftlichen Eigenschaften durchkreuzen, zu vernach- lässigen. So reflektiert schließlich der Geometer, wenn er den Begriff eines mathematischen Punktes bildet, nur auf die Anschauungsfunktion, die einen Ort im Raume fixiert; er abstrahiert aber von allen Eigen- schaften der physischen Objekte, die wir zur Ortsbestimmung verwenden, also nicht bloß von ihrer Lichtbeschaffenheit, sondern insbesondere auch von ihrer räumlichen Ausdehnung. Die generalisierende Abstraktion besteht darin, daß man innerhalb einer der vergleichenden Analyse unterworfenen An- zahl von Gegenständen oder Tatsachen die von einem individuellen Fall zum anderen wechselnden Eigenschaften vernachlässigt, um ge- wisse, der gesamten Gruppe gemeinsam zugehörige zurückzubehalten und zu Merkmalen eines allgemeinen Begriffs zu erheben. Diese Ab- straktion zerfällt wieder in zwei Unterformen, je nachdem die der Analyse unterworfenen Objekte wirkliche Gegenstände der Anschauung oder des Denkens oder aber einzelne Sätze sind, die sich auf irgendwelche Relationen von Gegenständen beziehen. Im ersten Fall gehen aus der Abstraktion Gattungsbegriffe hervor, im zweiten Fall liefert dieselbe abstrakte Regeln oder Gesetze. So sind die Begriffe der naturhistorischen Klassifikationen durch eine generali- sierende Abstraktion der ersten Art gebildet: sie sind zugleich Gegen- standsbegriffe, wenn ihnen auch nicht unmittelbar reale Gegenstände entsprechen, da diese stets individuelle Eigenschaften besitzen, die bei der Bildung der Gattungsbegriffe eliminiert werden. Andere Gattungs- begriffe entstehen durch eine Generalisation, die nicht von empirischen Gegenständen, sondern von Begriffen ausgeht, die bereits eine iso- lierende Abstraktion voraussetzen. Den allgemeinen Begriff des Drei- ecks z. B. bilden wir aus einer Vielheit einzelner geometrischer Drei- ecke, deren jedes das Resultat einer mathematischen Abstraktion ist. Ebenso finden sich innerhalb aller anderen Begrifisgebiete Verhält- nisse der Über- und Unterordnung, die auf eine Stufenfolge generali- sierender Abstraktion hinweisen. Nicht minder ist die zweite Form der letzteren, die Abstraktion von Regeln oder Gesetzen, von genereller Bedeutung. Wie die Begriffe einer nach dem umgekehrten Quadrate der Entfernung wirkenden Kraft oder einer transversalen Wellenbewe- gung durch Generalisation entstanden sind, so beruhen auch die allge- meinen Gesetze einer solchen Kraft oder Bewegung auf generalisieren- der Abstraktion. Überhaupt aber ist diese bei der Aufstellung aller derjenigen Gesetze beteiligt, die eine Vielheit konkreter Regeln, deren jede durch eine besondere Induktion gefunden ist, unter sich begreifen. 14 Allgemeine Methodenlehre, Auf diese Weise schließt nicht selten die generalisierende Abstrak- tion einen zusammengesetzten Induktionsprozeß ab, während um- gekehrt die isolierende denselben teils vorbereitet, teils in seinen Ab- lauf unterstützend eingreift. Ein charakteristischer äußerer Unter- schied beider Formen liegt außerdem darin, daß sich die Isolation nötigenfalls an einem einzigen Erfahrungsgegenstande vollziehen kann, die Generalisation aber stets eine Vielheit von Objekten voraussetzt. Die Gesetze der Liehtbrechung würden sich an einem einzigen Prisma studieren, der Begriff der Geraden an einer einzigen mit dem Lineal gezogenen Linie entwickeln lassen, wenn auch in der Wirklichkeit wegen der wünschenswerten Variation der Bedingungen selten eine solche Be- schränkung stattfinden wird. Dagegen ist für die Begriffe der Natur- geschichte oder der systematischen Geisteswissenschaften die Vielheit der Abstraktionsobjekte ein unbedingtes Erfordernis, da die Heraus- hebung der den allgemeinen Begriff konstituierenden Elemente nur durch ihr Vorkommen in einer Vielheit einzelner Gegenstände oder Spezialbegrifie veranlaßt wird. Als delogische Grundform der Abstraktion läßt sich der Vergleichungsschluß, und zwar vorzugsweise in seiner positiven Form, betrachten (Bd. I, S. 344), nach folgendem Schema: A M,; M,, M, , B=Z MM, ÜO< MM, dD: AB CAB, A M,N. Dieses Schema läßt sich auf die beiden Grundformen der Determina- tion anwenden. Während aber bei der Spezifikation im allgemeinen die nämlichen Objekte A, B,C..., die zur Abstraktion des Gattungs- begrifis M, gedient haben, auch für die Determination des engeren Begrifis M, M, zur Verwendung kommen, können bei der Kolligation völlig andere Objekte A‘, B’, C’... herbeigezogen werden, sobald sie nur die Bedingung erfüllen, daß sie dem Allgemeinbegriff M, ent- sprechen. 20 Allgemeine Methodenlehre. 3. Induktion und Deduktion. a. Die logischen Elemente «er Induktion. Von Aristoteles wurde die Induktion oder &raywyrj dem Syllogis- mus als eine besondere Schlußweise, welche vom Einzelnen zum Allgemeinen aufsteige, gegenübergestellt. Die Aristotelische Induktion besteht aber lediglich in der Zusammenfassung gewisser Spezialregeln in einen allgemeineren Ausdruck*). Der die Aristotelische Logik be- herrschende Gesichtspunkt der Subsumtion verrät sich überdies darin, daß der gewonnenen Konklusion erst dann eine allgemeine Be- deutung zugestanden wird, wenn in der einen Prämisse Prädikat und Subjekt vollständig sich decken, so daß das Urteil umgekehrt und der Schluß in einen solchen der ersten Figur umgewandelt werden kann**). Indem Bacon von der Überzeugung ausging, daß alle Erkenntnis auf einzelne Erfahrungen gegründet sei, mußte vor allem gegen diese Zurückführung der Induktion auf den Subsumtionsschluß seine Polemik sich richten. Der letztere vermag nach ihm höchstens zu zeigen, wie gegebene Sätze zu ordnen sind, niemals aber zu neuen Erkennt- nissen zu führen. Solches ist vielmehr die Aufgabe einer wahren Methode der Induktion, die darum der syllogistischen Logik um ebenso viel vor- zuziehen ist, wie die Auffindung der Wahrheiten wichtiger ist als ihre mehr oder minder zweckmäßige Anordnung. Auf diese Weise gewinnt bei Bacon erst der Begriff der Induktion die Bedeutung, die ihm heute noch beigelegt wird***). Dennoch ist dieser Philosoph im Irrtum, wenn er meint, das Prinzip des Syllogismus finde auf seine induktive Methode gar keine Anwendung. Wenn er lehrt, man habe zuerst in einer Tafel der „positiven Instanzen“ alle die Fälle zu registrieren, in denen eine der Untersuchung unter- worfene Erscheinung beobachtet wird, dann eine Tafel der „negativen Instanzen“ aufzustellen, in der die den vorigen verwandten Fälle aufgezählt werden, wo die betrefiende Erscheinung fehlt, so haben wir es hier zunächst mit Vergleichungsschlüssen zu tun, denen sich leicht die Form der zweiten Aristotelischen Figur geben läßt. Freilich *) Dies erhellt deutlich aus dem Aristotelischen Beispiel: „Mensch, Pferd, Maulesel sind langlebig; Mensch, Pferd, Maulesel sind gallenlos; also sind gallen- lose Tiere langlebig.“ Analytic. poster. II, 23. **) So entsteht die „vollständige Induktion’: „Mensch, Pferd, Maulesel sind langlebig; das Gallenlose ist Mensch, Pferd, Maulesel; also ist das Gallen- lose langlebig.“ .,**) Bacon, Novum organon, Lib. I. Induktion und Deduktion. PA ist mit diesen Vergleichungen bei Bacon die Induktion nicht beendet, sondern es entsteht nun erst die Aufgabe, zu bestimmen, welche allge- meine Bedingung, oder welcher allgemeine Begriff, von Bacon „Form“ genannt, den übereinstimmenden Fällen zukommt und in den nicht über- einstimmenden mangelt*). Zu diesem Zweck schreibt er vor, den voran- gegangenen Tafeln eine dritte, die der „gradweisen Abstufungen“ hinzu- zufügen, solche Fälle, in denen die untersuchte Erscheinung in quanti- tativen Unterschieden beobachtet wird. Diese Tafel der Grade bildet eine Art von Vermittlung zwischen den positiven und den negativen Instanzen, da ein Fall A’, in welchem M nicht beobachtet wird, gradweise übergehen kann in den Fall A, welchem M zukommt. Der- artige Unterschiede sollen sich aber ganz besonders zur Erkenntnis der „Form“ einer Erscheinung eignen. Denn eine Bedingung, in der sich eine positive und eine negative Instanz unterscheiden, wird voraus- sichtlich für das Wesen der untersuchten Erscheinung bedeutsamer sein als andere Merkmale. Zum Abschluß der Untersuchung bedarf es daher nur noch der Elimination unwesentlicher Unterschiede, was mittels der sogenannten „Lese“ und der an sie sich anschließenden Auf- stellung der „prärogativen Instanzen“ geschieht, einer Sammlung von Gesichtspunkten, in der neben vielem Unwesentlichen und Irrtümlichen einzelne Lichtblicke vorkommen, in denen gewisse Grundsätze der expe- rimentellen Methodik in bewundernswerter Weise vorausgenommen sind. Es ist längst bemerkt worden, daß sich die Baconische Induktion einer Weitschweifigkeit schuldig macht, die den wirklich geübten Induktionen der Wissenschaft niemals eigen ist. In der Tat waltet in ihr der nämliche Irrtum ob, der die Aristotelische Induktion beherrscht: daß nur die vollständige Induktion wissenschaftlichen Wert besitze. Dieser Irrtum ist aber bei Bacon noch augenfälliger, weil er die Existenz allgemeiner Voraussetzungen, welche die Aufzählung der Fälle von vornherein beschränken könnten, leugnet, so daß bei ihm der Induktion das Unmögliche zugemutet wird, sie solle tatsächlich die Erfahrung erschöpfen. Der zweite Fehler besteht in der Vermengung der Induktion mit der Abstraktion. Schon der Begriff der „Form“, in deren Nachweisung Bacon das Ziel des Induktionsverfahrens erblickt, besitzt die Doppelnatur eines Allgemeinbegrifis und eines allgemeinen Gesetzes. So lehren denn auch die zwei ersten Tafeln seiner Instanzen ein Vergleichungsverfahren, das an sich nur zur Abstraktion von Be- griffen führen kann. Erst bei den gradweisen und prärogativen Instanzen *) Nov. organ. II, 1, 20. 22 Allgemeine Methodenlehre. wird die Gewinnung allgemeiner Sätze über die Erscheinungen zum vorherrschenden Gesichtspunkt. In beiden Beziehungen hat die neuere induktive Logik, die auf dem Baconischen Standpunkte weiterbaute, und deren Hauptrepräsen- tant John Stuart Mill ist, die Lehre von der Induktion zu verbessern gesucht*). Die Induktion wird hier als das Verfahren definiert, durch welches wir erkennen, daß was sich in einzelnen Fällen als wahr be- stätigt hat, in allen unter den gleichen Bedingungen eintretenden Fällen wahr sein werde. Sie scheidet sich dadurch ebensowohl von der Begriffsabstraktion wie von der sogenannten vollständigen Induktion, die nichts anderes als die Einführung einer Kollektivbezeichnung für eine Anzahl einzelner Tatsachen sei. Die wahre Induktion ist nach Mill nicht eigentlich ein Schluß vom Einzelnen auf das Allgemeine, sondern vom Einzelnen auf das Einzelne, da wir zunächst immer nur in einzelnen den vorangegangenen ähnlichen Fällen auch einen ähnlichen Erfolg er- warten. Es steht aber ein jeder solcher Schluß unter der Voraussetzung, daß der Gang der Natur gleichförmig sei, oder daß unter ähnlichen Umständen immer wieder das Ähnliche eintreten werde. Jede In- duktion läßt sich daher in die Form eines Syllogismus bringen, in dem jene Voraussetzung die obere Prämisse bildet. Hier entsteht nun die Frage, wie der oberste Grundsatz aller Induktionen, das Axiom von der Gleichförmigkeit der Natur, selber ent- standen sei. Jener Grundsatz ist aber offenbar nichts anderes als das allgemeine Kausalgesetz, und rücksichtlich seiner gibt Mill die Antwort, es sei eine Induktion der rohesten Art, eine bloße „inductio per enumera- tionem simplicem“. Dies steht jedoch mit der Voraussetzung, daß es der gemeinsame Obersatz aller Induktionen sei, im Widerspruch. Min- destens eine Induktion muß es dann geben, die auf andere Weise entstanden ist, und konsequenterweise wird man nicht leugnen wollen, daß unter diesen Umständen noch andere Induktionen von dem näm- lichen unzuverlässigen Ursprunge sein könnten. Es würden dann alle Induktionen in zwei Formen zerfallen: in die strenge Induktion: und in die bloß aufzählende In- Unter gleichen Bedingungen treten duktion: gleiche Erfolge ein, unter den Bedingungen a, b,e... trat Unter den Bedingungen a, b, c... trat häufig der Erfolg X ein, häufig der Erfolg X ein; also tritt unter den Bedingungen a,b, also tritt unter den Bedingungen a, b, ce... immer der Erfolg X ein. ©... immer der Erfolg X ein. *) Mill, System der Logik, 3. Buch, besonders Kap. III—V. Induktion und Deduktion, 23 Da jedoch der Obersatz der strengen Induktionen seinerseits auf einer bloßen Aufzählung beruht, so ist der Unterschied beider Formen in Bezug auf ihre Sicherheit nur ein scheinbarer. Daß die hier zu Grunde liegende Auffassung des Kausalprinzips eine ungenügende sei, wurde früher nachgewiesen. (Bd. I, S. 591.) Außerdem steht die darauf ge- baute Theorie der Induktion ebenfalls noch unter dem Bann der Aristote- lischen Syllogistik. Die Baconische Forderung einer vollständigen Induktion hat sie zwar aufgegeben; dafür verlangt sie, daß jede In- duktion ein regelrechter Subsumtionsschluß sei, um wenigstens eine formale Sicherheit für sie zu retten. In verschiedener Weise hat man nun diese formale in eine reale Gewißheit umzuwandeln gesucht. Entweder ließ man im Anschlusse an Kants Kategorienlehre das Kausalprinzip als eine apriorische Wahr- heit gelten, wodurch der Obersatz des Millschen Induktionsschlusses seines zweifelhaften Charakters entkleidet wurde; oder man zoges vor, zu der Aristotelischen Ansicht zurückzukehren und nur der vollständigen Induktion eine vollkommen bindende Kraft zuzugestehen, eine Auf- fassung, die nebenbei leicht mit der vorigen zu vereinigen war*). Unter allen diesen Ansichten, welche die Form des Aristotelischen Syllogismus möglichst für die Induktion zu bewahren suchen, wird diejenige der spezifisch-logischen Form derselben am meisten gerecht, die die In- duktion als eine Umkehrung des gewöhnlichen subsumierenden Syllogismus betrachtet. Denn diese Ansicht erfaßt in der Tat voll- kommen richtig das schematische Verhältnis der Induktion zu der auf den Subsumtionsschluß zurückführenden Deduktion**). Aber sie ist doch nur für den einzelnen Induktionsschluß, nicht für die zusammengesetzte Methode der Induktion zutrefiend. Wir schließen nämlich in einfachster Form induktiv: deduktiv: SP MP SM SM MP SP ’*) So bei Apelt (Theorie der Induktion, Leipzig 1854), der übrigens jeden disjunktiven Schluß zur Induktion zählt und daher, wie schon früher (Bd. I, S. 354 Anm.) erwähnt, die Induktions- und Wahrscheinlichkeitsschlüsse zusammenwirft. **) Jevons, Principles of Science. 2. edit. p. 122, 218. Sigwart, Logik II, S. 250, 356. 2. Aufl., S. 289, 401. 24 Allgemeine Methodenlehre. Die elementare logische Form der Induktion ist, wie dieses Schema zeigt, dr Verbindungsschluß. Er ist am nächsten verwandt dem Vergleichungsschluß, welcher der Methode der A b- straktion zu Grunde liest. Während aber dieser letztere durch Umkehrung in den klassifizierenden Subsumtionsschluß SM, MP, Sp übergeht, wandelt sich der erstere durch die gleiche Operation in den exemplifizierenden Subsumtionsschluß um: MP, SM . Sp. (Bd. I, S. 319.) Diese Umwandlungsprodukte unterscheiden sich von den ur- sprünglichen Formen wesentlich dadurch, daß die letzteren mehr- deutige Schlüsse sind. (Ebend. S. 364 ff.) Bei der Abstraktion äußert sich diese Mehrdeutigkeit in der freien Auswahl der Merkmale, die zur Konstitution des allgemeinen Begrifis bestimmt sind, und ihr äußeres Symptom ist die Willkürlichkeit der Benennung. Bei der In- duktion kommt sie in der Unbestimmtheit der Beziehung zum Vorschein, die zwischen den im Schlußurteil verbundenen Begriffen besteht. Diese Unbestimmtheit aufzuheben und dadurch zu allgemeinen Sätzen von apodiktischer Geltung zu gelangen, ist die Hauptaufgabe der induk- tiven Methode. b. Die Induktion als Methode. Die induktive Methode bedient sich bei der Lösung ihrer Auf- gaben zweier wesentlich voneinander verschiedener Verfahrungs- weisen. Erstens sucht sie durch eine mannigfach wechselnde Benützung der analytischen und synthetischen Methode die Deutungen der Tat- sachen zu beschränken. Zweitens nimmt sie eine einzelne Deutung, die sich ihr als möglich darbietet, hypothetisch als wirklich geltend an, um die daraus sich ergebenden Folgerungen zu entwickeln und an der Erfahrung zu prüfen. Auf diese Weise können sukzessiv verschiedene Hypothesen untersucht werden, damit man schließlich diejenige zurück- behalte, die sich durch ihre Übereinstimmung mit den Tatsachen am meisten empfiehlt. Unter diesen beiden Hilfsmethoden gehört nur die erste vollständig der Induktion an; die zweite besitzt in ihrem ganzen Verlauf bereits den Grundcharakter der Deduktion, und nur insofern, als sie sich in eine zusammenhängende Induktion einschiebt und bei der Prüfung der Tatsachen sich durchaus auf induktive Hilfsmittel stützt, kann sie noch zu den Bestandteilen der Induktion gerechnet werden. Immerhin macht dieser Umstand häufig einescharfe Trennung der beiden Methoden unmöglich, so daß man bei ihrer Unterscheidung zunächst auf die Gesamtrichtung der Untersuchung Rücksicht zu nehmen hat. Induktion und Deduktion, 25 Als das Resultat einer Induktion ergibt sich stets ein all- gemeiner Satz, welcher die einzelnen Tatsachen der Erfahrung, die zu seiner Ableitung gedient haben, als spezielle Fälle in sich enthält. Einen solchen Satz nennen wir ein Gesetz. Wie die Konstanz der Objekte unserer Beobachtung die Bedingung ist für die Abstraktion von Gattungsbegrifien, so ist die Regelmäßigkeit des Geschehens die Bedingung für die Induktion von Gesetzen. Aber diese Bedingung spielt weder die Rolle einer Prämisse, die sich an jeder Induktion be- teiligt, noch begründet sie die Annahme, daß die Absicht einer Sub- sumtion unter Gesetze allen Induktionen vorausgehe. Vielmehr ist jene Beschaffenheit der Erfahrungsobjekte so gut wie die Existenz derselben ein tatsächliches Verhalten, das durch das Gelingen un- serer Abstraktionen und Induktionen wirklich erprobt werden muß, durch welches Erproben dann erst die weiterhin alle wissenschaftliche Forschung lenkende Maxime des durchgängigen Zusammenhangs der Erfahrungen entsteht. So kommt hier abermals das allgemeine Prinzip zur Geltung, daß die logischen Gesetze unseres Denkens zugleich die Gesetze der Objekte des Denkens sind. (Bd. I, S. 5f. 419 ff.) Nach dem Grad der Allgemeinheit, welche die durch einzelne Verbindungsschlüsse gewonnenen Gesetze besitzen, können wir nun dreiStufenderInduktion unterscheiden: 1) die Auffindung empirischer Gesetze, 2) die Verbindung einzelner empirischer Gesetze zu allgemeineren Erfahrungsgesetzen, endlich 3) die Ableitung von Kausalgesetzen und die logische Begründung der Tatsachen. Bei der Auffindung empirischer Gesetze entfernt sich der logische Vorgang noch wenig von dem einfachen Verbindungs- schlusse, den wir oben als Grundform der Induktion kennen lernten. Wie wir jedoch bei der Abstraktion der Gattungsbegriffe uns nicht damit begnügen, die Zusammengehörigkeit gewisser Objekte zu be- haupten, sondern einen Begriff bilden, in welchem diese Zusammen- gehörigkeit unmittelbar realisiert ist, so drücken wir bei der Induktion sofort die nähere Art der Beziehung, die zwischen den Prädikaten A und B zweier auf die nämliche Erscheinung M sich beziehender Verbindungsurteile stattfindet, in der Form eines Bedingungs- urteils aus, das auf ein Verhältnis regelmäßiger Gleichzeitigkeit oder Aufeinanderfolge hinweist: „Wenn A stattfindet, so findet auch B statt.“ Zur Entscheidung der Frage, welches unter den verbundenen Elementen A und B Bedingung oder Folge sei, besitzen wir zwei Kriterien, die unmittelbar teils aus dem logischen Verhältnis von Grund und Folge, teils aus den früher erörterten anschaulichen Grundlagen 36 Allgemeine Methodenlehre. des Kausalbegrifis sich ergeben. (Bd. I, S. 559.) Das Glied A nämlich ist dann Bedingung und nicht Folge, wenn 1) der Eintritt von A regel- mäßig den von B mit sich führt, aber nicht umgekehrt, und wenn 2) im zeitlichen Verlauf der Erscheinungen A dem B vorausgeht oder, falls es sich um permanente Erscheinungen handelt, wenn der ur- sprüngliche Eintritt von A als ein dem B vorausgehendes Ereignis gedacht werden kann. (Bd. I, S. 594.) Trifft der erste Teil des ersten und der letzte Teil des zweiten Kriteriums sowohl für A wie für B zu, so handelt es sich um ein Verhältnis der Wechselwirkung, Ein auf solche Weise aufgestelltes empirisches Gesetz enthält nun noch keine Kausalbeziehung, sondern nur die Aussage über einen regel- mäßigen räumlichen oder zeitlichen Zusammenhang von Erscheinungen. Dies schließt nicht aus, daß wir nicht gelegentlich auch solche Gesetze bloß empirisch formulieren, die auf einen Kausalzusammenhang zurück- geführt werden können, sobald wir nur aus irgendwelchen Gründen von dem letzteren abstrahieren wollen. Wir begeben uns dann aber eigentlich auf einen Standpunkt zurück, welcher der Unterordnung gewisser empirischer Verbindungen unter ein Kausalverhältnis vor- ausging. So in den Beispielen: „Der Fallraum ist beim freien Fall proportional dem Quadrat der Fallzeit“, „die Schwingungen eines Pendels sind isochronisch“, „die Erde bewegt sich in einer Ellipse um die Sonne“. Bei der Aufstellung solcher Gesetze können wir, wie diese Beispiele zeigen, leicht der Form des Bedingungsurteils entbehren. Wo wir aber die letztere einführen, da geschieht dies regelmäßig in solcher Weise, daß als Bedingung lediglich die Konstellation von Umständen an- geführt wird, unter denen eine bestimmte Tatsache zur Beobachtung komnt. cal DieVerbindungeinzelnerempirischer Gesetze zuallgemeineren Erfahrungsgesetzen besteht in der Herstellung einer allgemeinen Form, die mehrere einzelne empirische Gesetze als Spezialfälle unter sich begreift. Während sich die erste Auf- findung dieser Spezialgesetze auf mannigfache Anwendungen der analytischen und synthetischen Methode stützt, beruht die Gewin- nung allgemeinerer Erfahrungsgesetze auf einem Abstraktionsver- fahren, das sich als eine eigentümliche Form derGeneralisation darstellt. Ganz in derselben Weise wie die Generalisation von Begriffen zu allgemeineren Gattungsbegrifien, so führt die Generalisation ein- zelner empirischer Gesetze zu allgemeineren Erfahrungs- gesetzen. Auch die hierzu erforderlichen logischen Operationen sind von verwandter Art. Denn die Generalisation der Gesetze eliminiert Induktion und Deduktion, 37 die variablen und darum minder allgemeinen Bestandteile der einzelnen Gesetzmäßigkeiten, um die konstanten und gemeinsamen zurück- zubehalten. So sind das Boylesche Gesetz der Reziprozität von Druck und Volum der Gase sowie das Gesetz, daß sich die Gase nach einfachen Volumverhältnissen chemisch verbinden, durch eine Verallgemeinerung der für die einzelnen Gase festgestellten Volumgesetze entstanden. Die beiden ersten Keplerschen Gesetze sind Generalisationen aus den Bewegungsgesetzen der einzelnen Planeten, während das dritte Gesetz, das sich auf das Verhältnis der Umlaufszeiten zu den mittleren Ent- fernungen von der Sonne bezieht, aus einer Anzahl von Einzelgesetzen abstrahiert ist, die durch Vergleichung der Umlaufszeiten und Ent- fernungen je zweier Planeten gewonnen wurden. Die Aufstellung empirischer Gesetze in den bisher besprochenen beiden Stadien ihrer Entwicklung vollzieht sich in genauem Anschlusse an beobachtete Tatsachen. Die Gesetze enthalten in ihrem Ausdruck nur eine Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Tatsachen selbst, ohne daß denselben ein weiterer Begriff hinzugefügt wäre. Sie weichen nur darin von den Tatsachen ab, daß in beiden Stadien eine wesentliche Beteiligung des Abstraktionsverfahrens stattfindet, da bereits bei den einfachen empirischen Gesetzen von den Schwankungen der einzelnen Beobachtungen und dann bei den durch Generalisation gewonnenen wiederum von den Besonderheiten der speziellen Gesetze abstrahiert ist. Bloß insofern läßt sich ein prinzipieller Einfluß auf dieses Abstraktionsverfahren nachweisen, als sich durchweg das Bestreben geltend macht, die einzelnen Beobachtungen zu Gunsten möglichst regelmäßiger allgemeiner Beziehungen zu verbessern. Aber so zweifellos es ist, daß der Feststellung der meisten Erfahrungs- gesetze die Voraussetzung einer bestimmten Regelmäßigkeit bereits voranging, so boten sich doch für diese Voraussetzung in den ein- fachsten Formen des Geschehens hinreichende Anhaltspunkte, um dieselbe zugleich vom empirischen Standpunkte aus als gerecht- fertigt erscheinen zu lassen; und oft genug mußte im einzelnen die vorschnelle Formulierung eines Gesetzes wieder aufgegeben werden, weil die genaue Kontrolle der Beobachtungshilfsmittel keine genügende Übereinstimmung mit den Tatsachen erzielen ließ, so daß dennoch schließlich die Erfahrung als die allein entscheidende Instanz für die Gültigkeit eines Erfahrungsgesetzes stehen bleibt. Dieser Standpunkt wird nun verlassen bei der Ableitung von Kausalgesetzen. Denn hier wird stets dem Ausdruck der beobachteten Tatsachen, den das Erfahrungsgesetz enthält, ein 38 Allgemeine Methodenlehre. Begriff hinzugefügt, welcher selbst nicht in der tatsächlichen Beobach- tung gegeben ist, aber geeignet erscheint, gewisse in regelmäßiger Beziehung stehende Tatsachen zusammenzufassen. Der so ergänzte Begriff ist eine Spezialisierung des allgemeinen Kausalbegriffs, und er verleiht daher dem betreffenden Gesetze den Charakter eines spe- ziellen Kausalgesetzes. Insofern die Formulierung des letzteren, eben deshalb weil sie über den Tatbestand unmittelbarer Erfahrung hinausgeht, stets mit einer gewissen Willkür geschieht, die andere Formulierungen nicht absolut ausschließt, ist dieser Vorgang durchaus demjenigen verwandt, in welchem die Abstraktion von Gattungsbegriffen infolge der willkürlichen Bevorzugung bestimmter Gattungsmerkmale sich abschließt. Auch bei der Induktion von Kausal- gesetzen prägt sich dieser Charakter in der Willkür der Benennung der gewonnenen Kausalbegriffe aus, an welche sodann die Kausalgesetze in Form von Definitionen solcher Begriffe sich anschließen. So ergab sich für Newton aus den Keplerschen Gesetzen die kausale Definition der Gravitation als einer von der Sonne ausgehenden und auf alle Planeten nach dem umgekehrten Verhältnis des Quadrats der Entfernungen wirkenden Kraft, oder für Dalton aus dem empirischen Gesetz der Verbindung nach festen Gewichtsverhältnissen die kausale Definition der chemischen Affinität als einer zwischen Atomen von konstanten Eigenschaften stattfindenden und bestimmte Lagerungsverhältnisse derselben herbeiführenden Anziehungskraft. Da alle Naturkausalität zurückbezogen wird auf die materielle Substanz als ihren Träger, so ist diese Aufstellung von Kausalgesetzen unmittelbar verbunden mit der Entwicklung bestimmter Kraftbegriffe. Für jeden der letzteren sucht man womöglich ein fundamentales Kraftgesetz zu gewinnen, aus dem die einzelnen kausalen und empirischen Gesetze eines be- stimmten Gebietes abgeleitet werden können. Wie aber das Streben nach Verbindung des Mannigfaltigen schon bei den empirischen Gesetzen zur Abstraktion allgemeiner Erfahrungsgesetze führte, so veranlaßt es hier zur Aufsuchung allgemeinerer Kraftbegrifie und ihnen entsprechen- der Kausalgesetze. Den physischen Kausalgesetzen, auf welche die naturwissen- schaftliche Induktion hinleitet, stehen im Gebiete der Geisteswissen- schaften psychische Kausalgesetze gegenüber. Es ist aber charakteristisch, daß hier dieser letzte Schritt des Induktionsver- fahrens nur von der Psychologie selbst geschehen kann, während die von ihr abhängigen Gebiete, wie die Gesellschaftslehre, Sprachwissen- schaft, Mythologie u. s. w., bloß zur Aufstellung empirischer Gesetze Induktion und Deduktion. 239 2 gelangen, die erst eine kausale Form annehmen, wenn sie einem der reinen Psychologie angehörigen Kausalgesetze subsumiert werden. So kann z. B. durch statistische Ermittlungen festgestellt sein, daß mit der Erhöhung der Getreidepreise die Zahl der Geburten und Ehe- schließungen abnimmt. Die Zurückführung dieser empirischen Regel auf ein Kausalgesetz ist aber nur möglich, insofern man dieses etwa als einen speziellen Fall des allgemeinen psychologischen Gesetzes betrachtet, daß, sobald in unserm Bewußtsein ein einzelner Trieb, wie der Selbsterhaltungstrieb, über seine normale Intensität gesteigert wird, die übrigen Triebe eine Abnahme erfahren. Es entspricht übrigens dieses Verhältnis durchaus demjenigen der Naturwissenschaften zur Physik, wenn man die Aufgabe der letzteren in jenem allgemeinen Sinne bestimmt, in welchem Chemie und Biologie ihre Teile bilden. Auch schließt dasselbe keineswegs aus, daß Tatsachen, die den spe- ziellen Geisteswissenschaften angehören, die Auffindung psychologi- scher Kausalgesetze veranlassen. Nur ist zur Aufstellung dieser immer die subjektive Erfahrung ein notwendiges Erfordernis. Vermöge jener Willkür, die bei der Aufstellung der Kausalgesetze stattfindet, enthalten diese nun stets ein hypothetisches Ele- ment, das umso deutlicher hervorzutreten pflegt, von je allgemeinerem Charakter sie sind. Daß die Planeten von der geradlinigen Bewegung in der Richtung gegen die Sonne hin abweichen, ist eine Tatsache der Erfahrung; daß aber diese Abweichung durch eine von der Sonne aus- gehende Anziehungskraft vermittelt wird, ist eine hypothetische Vor- aussetzung. Auf diese Weise ist in einem Kausalgesetz immer dasjenige Tatsache der Erfahrung, was dem empirischen Gesetz angehört, aus dem es hervorging. Aber der logische Nutzen der kausalen Formulierung ergibt sich daraus, daß dieselbe auch dem empirischen Inhalt des Gesetzes eine einfachere und allgemeinere Gestalt gibt, wie dies die Vergleichung der Keplerschen Gesetze mit dem Newtonschen deutlich macht. Jener hypothetische Charakter veranlaßt außerdem, nach weiteren Hypothesen zu suchen, die entweder zur Veranschaulichung der Erscheinungen oder zur Vereinfachung der Erklärungen dienlich sind. So liegt esz. B. nahe, der Gravitationskraft ein materielles Sub- strat zu leihen, dessen Bewegungen die Fernewirkungen der Weltkörper veranschaulichen. So sind überhaupt alle Annahmen über die Materie und ihre Bewegungsformen Hypothesen, die unmittelbar aus Anlaß bestimmter Kausalgesetze und zum Behuf einer tieferen Begründung und theoretischen Verwertung derselben aufgestellt wurden. Eine weitere wichtige Folge der teilweise hypothetischen Natur 30 Allgemeine Methodenlehre. der Kausalgesetze ist es, daß sie Sätze aufzustellen erlaubt, die auch in Bezug auf den Inhalt der unter ihnen enthaltenen Erfahrungsgesetze noch hypothetisch, aber einer Prüfung zugänglich sind, durch welche dann die Kausalgesetze selbst bestätigt werden können. So hat Galilei die Fallgesetze nicht durch Induktion gefunden, sondern teils bediente er sich dabei der isolierenden Abstraktion, indem er alle begleitenden Nebenumstände der Versuche in seiner Anschauung des Vorgangs zu eliminieren wußte; teils bestand sein Verfahren in der Erfindung von Hypothesen und in der Vergleichung der Folgerungen aus diesen Hypo- thesen mit der Erfahrung. In allem dem findet die innige Beziehung der Deduktion zur Induktion ihren Ausdruck. Fast immer sucht die erstere das Geschäft der letzteren abzukürzen, indem sie sich nament- lich an der Entwicklung kausaler Gesetze aus einzelnen empirischen Gesetzen beteiligt; zuweilen tritt sie aber auch, wie das letzte Beispiel zeigt, von Anfang an für sie ein, indem eine auf die unmittelbare Ab- straktion aus der Wahrnehmung gegründete Annahme zu deduktiven Entwicklungen Anlaß geben kann, durch deren nachträgliche Be- stätigung dann die ursprünglich fehlende Induktion ersetzt wird. ec. Die Deduktion. Die deduktive Methode kann entweder an eine vorangegangene Induktion anknüpfen oder unabhängig von einer solchen als selbständiges Verfahren auftreten. Weder aber pflegt sie im ersten Fall in einer bloßen Umkehrung zu bestehen, da sie in der Regel zu Nebenresultaten führt, die nicht durch die vorangegangene Induktion gefunden wurden; noch fehlt im zweiten Fall ganz und gar die induktive Grundlage, sondern diese gehört entweder den gewöhnlichen Tatsachen der Sinneswahr- nehmung oder einem anderen Gebiet wissenschaftlicher Untersuchungen an. Nicht selten würden an sich für die Gewinnung eines gegebenen komplexen Resultates beide Wege, der induktive und der deduktive, möglich sein. Dann hängt es von zufälligen Ausgangspunkten und Gedankenrichtungen ab, welcher von ihnen wirklich gewählt wird. So hat Galilei die Fallgesetze durch Deduktion gefunden; eine induktive Entdeckung derselben würde sich aber ebenso leicht denken lassen. Umgekehrt ist Newton zu dem Gravitationsgesetz durch Induktion gelangt; es wäre aber ebensogut möglich gewesen, daß er es zuerst als Hypothese aufgestellt und dann daraus die Keplerschen Gesetze deduziert hätte, wie solches gegenwärtig in der theoretischen Astronomie zu geschehen pflegt. In der Tat hat Newton selbst schon bei einer ein- Induktion und Deduktion, 31 zelnen für seine Theorie sehr wichtigen Frage den Weg der Deduktion eingeschlagen, bei der Frage nämlich, ob die Kraft, die den Mond von der geradlinigen Bahn abzieht, mit der irdischen Schwere identisch sei*). Die Deduktion hat vor der Induktion in allen Fällen den Vorzug, daß sie sofort alle Folgerungen aus den an die Spitze gestellten Prin- zipien ableiten kann, während bei der Induktion häufig, wie das zuletzt angeführte Beispiel zeigt, sehr wichtige Resultate durch hilfsweise eintretende Deduktionen nachgeholt werden müssen. Hieraus erklärt sich das durchgängig namentlich in den Naturwissenschaften hervor- getretene Streben, die Deduktion zur bevorzugten Methode zu er- heben. Außerdem hat in diesem Fall das Beispiel der Mathematik und der abstrakten Mechanik mitgewirkt, in denen die Induktion wegen der einfachen Anschauungsgrundlagen, die hier maßgebend sind, ver- hältnismäßig zurücktritt. Dagegen besitzt die induktive vor der de- duktiven Methode den nicht zu unterschätzenden Vorzug, daß sie die hypothetischen Kausalgesetze, in denen schließlich beide Methoden gipfeln, gründlicher vorbereitet, und daß sie daher den bei einseitig gepflegter Deduktion namentlich gegenüber verwickelteren Problemen so oft begangenen Fehler unzureichender Voraussetzungen vermeiden hilft. Es ist charakteristisch, daß aus diesem Grunde, in diametralem Gegensatze zu der gegenwärtigen Tendenz der Naturforschung, auf manchen Gebieten der Geisteswissenschaften der Ruf nach einer um- fassenderen Anwendung der Induktion laut geworden ist. Besonders innerhalb der nationalökonomischen und historischen Forschung liegt es nahe, von einzelnen beschränkten Erfahrungen aus und unter Zu- hilfenahme allgemein anerkannter psychologischer Tatsachen eine Deduktion zu versuchen. Es ist daher begreiflich, daß hier zunächst diese überwiegt, und daß erst allmählich das Bedürfnis nach einer gründlicheren Anwendung der induktiven Methode rege wird. Da die Deduktion, mag sie nun eine Umkehrung einer voran- gegangenen Induktion sein oder nicht, regelmäßig mit denjenigen Gesichtspunkten anfängt, bei denen die Induktion aufzuhören pflegt, so bildet beiihr de Aufstellung kausaler oder logischer Beziehungen den Ausgangspunkt der Entwicklung. Von diesem Ausgangspunkt ist der Verlauf der Deduktion abhängig, die demnach entweder einen kausalen.odereinenrein logischen Charakter besitzt. Diese Unterscheidung trifft jedoch mehr die äußere Gestalt als das Wesen der Methode. Denn wie das Kausalprinzip überhaupt *) Newton, Mathemat. Prinzipien der Naturphilosophie, 3. Buch, 1. Abschnitt. 33 Induktion und Deduktion. sich betrachten läßt als eine Anwendung des logischen Satzes vom Grunde auf den Inhalt der Erfahrung, so ist auch die kausale Deduktion lediglich eine Verbindung kausaler Gesetze durch Schlußoperationen, wobei sich dann jene durch diese in Erkenntnisgründe für die empi- rischen Erscheinungen umwandeln. Am augenfälligsten wird dies, wenn die kausale Deduktion eine mathematische Einkleidung zuläßt, wie solches z. B. im Gebiete der theoretischen Physik der Fall ist. Die abstrakte Form, die hierbei die Naturgesetze annehmen, würde ebenso- gut auf einen rein logischen Zusammenhang von Größenbegriffen bezogen werden können. So bleibt als der wesentliche Unterschied beider Fälle nur das verschiedene Anwendungsgebiet übrig, indem die kausale Deduktion in den Erfahrungswissenschaften, die logische da- gegen in den reinen Anschauungs- und Begriffswissenschaften die herr- schende ist. Bedeutsamer sind die Unterschiede, die aus der verschiedenen Richtung der logischen Operationen entspringen. Ihnen entsprechen zwei Hauptmethoden, die wir als diesynthetische und als die analytischeDeduktion unterscheiden können. In der ersten herrscht die Synthese, in der zweiten die Analyse als elementare Methode vor. Die Namen dieser Hauptformen weisen daher zugleich schon auf einen beachtenswerten Unterschied der Deduktion von der Induktion hin. Während in der letzteren die Analyse und die Synthese in wechseln- der Weise, wenn auch in der Regel mit einem gewissen Übergewicht jener, zur Anwendung kommen, pflegt die Deduktion an der einen oder andern vom Anfang bis zum Ende festzuhalten. Hierin verrät sich der auch sonst zur Geltung kommende strengere Gang des deduktiven Verfahrens. Die synthetische Deduktion ist aber hier voranzustellen, weil die Synthese bei der Deduktion, im Gegensatze zu ihren sonstigen Anwendungen, als das näherliegende und daher im ganzen ursprüng- lichere Hilfsmittel angesehen werden muß. Diesynthetische Deduktion geht von einfachen Sätzen von allgemeiner Geltung aus und leitet aus deren Verbindung andere Sätze von speziellerem und meist zugleich verwickelterem Charakter ab. Zu dieser Ableitung dient ihr der Subsumtionsschluß, teils in seiner einfachen kategorischen Form, teils aber und vorzugsweise häufig in der Gestalt des subsumierenden Bedingungsschlusses. Regelmäßig sind es verwickelte syllogistische Formen, auf die in dieser Weise die syn- thetische Deduktion zurückführt: Kettenschlüsse und Schlußver- zweigungen, deren Konklusionen oft zu neuen Schlüssen verbunden werden, um das gewünschte Resultat zu erzielen. Die synthetische Induktion und Deduktion. 33 Deduktion ist aber nicht bloß, wie es nach dieser äußeren Beschrei- bung scheinen könnte, eine zusammengesetzte Form des subsumierenden Syllogismus, sondern ihre fruchtbare Anwendung beruht vor allem auf einigen weiteren Eigenschaften, die sich zwar nicht so leicht wie die übrigen in allgemeingültiger Weise schildern lassen, die aber gerade deshalb, weil sie in einer sehr wechselnden, überall den besonderen Bedingungen sich anpassenden Form zur Geltung kommen, die metho- dischen Vorzüge dieser Deduktion ausmachen. Namentlich sind hier zwei Eigenschaften hervorzuheben. Die erste besteht in dem ver- schiedenartigenCharakterderallgemeinen Sätze, welche als Prämissen der Deduktion dienen, die andere in den Hilfs- verfahren, deren jede Deduktion bedarf. Die Prämissen der synthetischen Deduktion bestehen zur einen Hälfte in exakten Beschreibungen oder Erklärungen der Begriffe oder Tatsachen, auf die sich die Deduktion bezieht, zur anderen in Erklärungen über bestimmte Relationen von allgemeingültiger Art, die zwischen den in Betracht kommenden Begriffen oder Tatsachen bestehen. Die Sätze der ersten Art werden innerhalb der systema- tischen Darstellungsformen der Deduktion als Definitionen, die der zweiten als Theoreme oder als Axio me bezeichnet, wobei man unter den letzteren speziell solche Theoreme versteht, die nicht aus anderen abgeleitet werden können, sondern als ursprünglich in der Anschauung oder in den Eigenschaften der Begriffe gegebene Rela- tionen gelten müssen. Ist die Deduktion eine prinzipielle, d. h. setzt sie in keiner Beziehung vorangegangene Deduktionen voraus, so scheiden sich demnach ihre Prämissen regelmäßig in Definitionen und Axiome. Keiner dieser Bestandteile kann entbehrt werden. Eine Schlußfolgerung aus lauter Definitionen oder aus lauter Axiomen ist keine methodische Deduktion mehr, sondern ein gewöhnlicher Syllogismus oder Ketten- schluß, da in diesem Falle regelmäßig auch jene Hilfsverfahren un- möglich werden, die das zweite Kennzeichen der synthetischen Deduktion ausmachen. Hierin zeigt sich zugleich, daß diese beiden Eigenschaften notwendig zusammenhängen. Fallen sie hinweg, so bleibt bloß die formale Außenseite des syllogistischen Verfahrens zurück, welches an sich nur eine Unterordnung gegebener Sätze unter andere gegebene Sätze oder eine Umformung mittels der Substitution äquivalenter Begriffe, niemals eine Deduktion neuer Sätze gestattet. Wohl aber kann es vorkommen, daß Definitionen oder selbst Axiome nicht aus- drücklich formuliert, sondern stillschweigend vorausgesetzt werden. Dies geschieht namentlich bei geläufigen Anschauungen oder Be- Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 3 34 Allgemeine Methodenlehre, griffen, deren Definitionen man als bekannt annimmt, oder in Bezug auf die Axiome bei Sätzen, die sich durch eine naheliegende Umfor- mung aus den vorhandenen Definitionen ergeben. Ein nicht seltener Fall endlich ist es, daß einzelne der als Grundlagen der Deduktion dienenden Definitionen oder Axiome einen hypothetischen Charakter besitzen, sei es nun, daß sie auf willkürlicher Begriffsbildung beruhen, wie in manchen Gebieten der spekulativen Mathematik, sei es, daß sie aus dem Bedürfnis hervorgegangen sind, für gewisse empirische Tat- sachen eine verknüpfende Voraussetzung zu finden, wie solches in den Theorien der Erfahrungswissenschaften gewöhnlich stattfindet. Es versteht sich von selbst, daß dann auch die Resultate der Deduktion hypothetisch werden; doch kann im zweiten der angeführten Fälle die Vergleichung mit der Erfahrung oder mit parallellaufenden Induktionen die Folgerungen und dadurch indirekt die ursprünglichen Voraus- setzungen bestätigen. Als Hilfsverfahren der synthetischen Deduk- tion können Begrifisanalysen, Konstruktionen und experimentelle Verfahrungsweisen in Anwendung kommen. Unter ihnen schließt sich die Begrifisanalyse am nächsten an den unmittelbaren Gang der Deduk- tion selbst an, indem sie lediglich durch Zerlegung eines in dem Schluß- verfahren verwendeten Begriffs die Gewinnung bestimmter Resultate vermittelt. Ihrer Hilfe bedienen sich naturgemäß vorzugsweise Wissen- schaften von streng begriffilichem und logischem Charakter, wie Philo- sophie und Rechtswissenschaft, wogegen die Konstruktion eine an- schauliche Darstellung der Begriffe und das Experiment sogar em- pirisch gegebene Objekte voraussetzt, deren gegenseitige Beziehungen wir willkürlich verändern können. Die Konstruktion ist daher das hauptsächlichste Werkzeug der mathematischen Deduktion. Sie be- steht hier nicht nur in den mannigfaltigen Formen der geometrischen Konstruktion, sondern in einem weiteren Sinne sind ihr auch alle die Verfahrungsweisen der Analysis unterzuordnen, bei denen man Hilfs- größen und Hilfsfunktionen zur Lösung bestimmter Probleme an- wendet. Denn da sich diese Operationen mit Hilfe geometrischer Kon- struktionen veranschaulichen lassen, so können sie selbst als logische Formen der Konstruktion betrachtet werden, sobald man den Begriff der letzteren so erweitert, daß er nicht nur die willkürliche Erzeugung und Kombination von Gebilden der reinen Anschauung, sondern auch von Begriffen, die solchen Gebilden entsprechen, enthält. Der Kon- struktion nahe verwandt ist endlich das experimentelle Verfahren. Insbesondere teilen beide miteinander das Merkmal der Willkür, Induktion und Deduktion. 35 der freilich durch die objektiven Bedingungen dort der Gesetze der Anschauung, hier der Erfahrung bestimmte Schranken gesetzt sind. Ein Unterschied des experimentellen Verfahrens von der eigentlichen Konstruktion liegt aber darin, daß diese Schranken bei jenem engere sind als bei dieser. Denn die Erfahrung ist nicht nur auf das strengste gebunden an die unveränderlichen Gesetze der Anschauung, sondern sie wird auch außerdem von dem nach Ort und Zeit veränderlichen Inhalt dieser Anschauung bestimmt. Das Experiment vermag daher nur teils Erscheinungen herbeizuführen, deren Verlauf den objektiv gegebenen Bedingungen überlassen bleibt, teils aber auch in einen ge- gebenen Verlauf von Ereignissen durch die Veränderung dieser Be- dingungen verändernd einzugreifen. DieanalytischeDeduktion besitzt entweder einenrein logischen oder einen kausalen Charakter. Das erstere ist der Fall in den reinen Anschauungs- und Begrifiswissenschaften, das letztere in den Erfahrungswissenschaften. Hier wie dort gehen der analytischen Deduktion synthetische Operationen voraus, die, teils in genetischen Konstruktionen teils in der Verbindung einzelner Wahrnehmungen bestehend, das Material für die nachfolgende Deduktion herbeischaffen. Für diese selbst ist die allgemeine Bezeichnung der Begriffe, wie sie aus der algebraischen Symbolik in alle Gebiete der Mathematik und ihrer empirischen Anwendungen übergegangen ist, ein besonders wirk- sames Hilfsmittel. Denn indem sie die Beziehungen der Einzelbegrifie und die Schlußoperationen, die sich aus jenen ergeben, deutlich übersehen läßt, legt sie von selbst eine Form der Deduktion nahe, bei der sich alle Ergebnisse als Folgerungen darstellen, die in den anfäng- lich aufgestellten Sätzen bereits enthalten sind und daher zu ihrer Ge- winnung nur einer geeigneten Analyse dieser Sätze bedürfen. Eine deduktive Analyse dieser Art umfaßt aber, wie namentlich das Beispiel der Mathematik zeigt, drei wesentlich verschiedene Operationen, die in der mannigfaltigsten Weise ineinander eingreifen können. Die erste dieser Operationen besteht in der Zerlegung einesallgemeinenBegriffsinseineBestandteile. Wenn die Begrifiszerlegung schon bei der synthetischen Deduktion als ein wichtiges Hilfsverfahren in Anwendung kommt, so ist sie bei der analytischen umso unentbehrlicher, als hier zum großen Teil auf ihrer vorwaltenden Benützung der analytische Charakter der Methode be- ruht. In der Zerlegung eines arithmetischen Ausdrucks in seine Fak- toren, einer Funktion in eine Reihe oder in eine Anzahl elementarer Funktionen, eines komplexen Bewegungsgesetzes in eine Anzahl ein- 36 Allgemeine Methodenlehre. facherer Gesetze, eines zusammengesetzten Rechtsbegrifis in die ihn konstituierenden Elemente begegnen uns verschiedenartige Bun dieses Verfahrens. Als zweite Fundamentaloperation schließt sich hieran der Übergangvoneinemallgemeinenzueineminihm enthaltenenengeren Begriffeodervoneinemall- gemeinen Gesetze zu einem speziellen Fall des- selben. So entwickelt die analytische Deduktion aus dem Begriff der bürgerlichen Gesellschaft den des Staates, aus der allgemeinen Form des Newtonschen Potentials den Begriff des elektrischen Poten- tials u. dgl. In der mathematischen Symbolik vollzieht sich ein der- artiger Übergang stets in der Form einer Substitution einzelner bestimmter Werte für solche, die in dem allgemeinen Ausdruck der Begriffe unbestimmt gelassen sind. Den Charakter der Analyse besitzt dieses Verfahren, insofern auch hier der durch dasselbe gewonnene engere Begriff in dem ursprünglich gegebenen enthalten ist. Der Unter- schied von der einfachen Begrifiszerlegung liegt aber darin, daß die Ana- Iyse in diesem Fall erst durch die begleitende Substitution ermöglicht wird. Die dritte, häufig mit der vorigen nahe verbundene Operation besteht endlich in der Transformation gegebener Be- griffe mittels einer veränderten Verbindungs- weise ihrer Elemente, wobei die neue Verbindung in der ursprünglichen vorgebildet sein muß, so daß sie aus ihr durch eine Reihe zwingender Schlußfolgerungen abgeleitet werden kann. So gewinnt man durch passende Transformationen arithmetischer Gleichungen die in ihnen enthaltenen unbekannten Größen. Eine Gleichung, die analytischer Ausdruck einer geometrischen Kurve oder eines allgemeinen Naturgesetzes ist, läßt durch solche Transformationen andere Ausdrücke entstehen, aus deren Interpretation sich spezielle Eigenschaften der vorgelegten Kurve oder einzelne Folgesätze des be- treffenden Naturgesetzes ergeben. Nicht selten tritt zu dieser Trans- formation noch eine Kombination verschiedener Begriffe, die gewisse Elemente miteinander gemein haben, hinzu: man kombiniert z. B. die Gleichungen zweier Kurven, um daraus die Bedingungen für deren Schnitt- und Berührungspunkte abzuleiten, oder man verbindet mehrere einfache Bewegungsgesetze, um eine zusammengesetzte Bewegungs- form zu gewinnen. Handelt es sich bei diesem Kombinationsverfahren um ein Hereinragen der synthetischen Methode in die analytische Deduktion, so ist dagegen das Transformationsverfahren an und für Induktion und Deduktion. 37 sich, ebenso wie das Substitutionsverfahren, lediglich als eine unter speziellen Nebenbedingungen stattfindende Begrifiszerlegung aufzufassen. Diese Nebenbedingungen bestehen hier darin, daß erst die Ausführung bestimmter Änderungen in der Anordnung der Begrifiselemente, welche in der Natur derselben ihre Rechtfertigung finden, die für die Deduktion erforderlichen Schlußoperationen ermöglicht. Die analytische Deduktion eignet sich ihrem ganzen Charakter nach vorzugsweise für solche Gebiete, bei denen die Untersuchungs- objekte von zusammengesetzterer Beschaffenheit nicht in dem Auf- treten neuer Elemente der Erkenntnis ihre Quelle haben, sondern lediglich durch eine mehrfache Anwendung gewisser gleichförmig wiederkehrender logischer Operationen aus den einfacheren hervor- gehen. Auf keinem Gebiet trifit diese Bedingung vollkommener zu als auf dem der Mathematik. Von ihr aus hat sich dann die analytische Deduktionsmethode auf die Behandlung physikalischer Probleme über- tragen, die aber insoweit nur mathematische Probleme sind, als man sich bei ihrer Untersuchung auf die Betrachtung des formalen Verlaufs der Naturvorgänge beschränkt. Das Mittelglied zwischen der reinen Mathe- matik und der theoretischen Physik bildet hier die Mechanik, deren verwickeltere Aufgaben aus denselben Gründen wie diejenigen der Geometrie eine analytische Behandlung erfordern, und die in ihrer abstraktesten Form als eine analytische Geometrie erscheint, welche durch die Dimension der Zeit ergänzt ist. Die analytische Mechanik zerlegt erstens jede Bewegung in die Komponenten der Geschwindigkeit und der Beschleunigung nach bestimmten Koordinatenrichtungen, und sie zerlegt zweitens die Bewegungen eines Körpers in die Bewegungen eines Systems von Punkten, das man dem Körper substituiert denkt. Auf diese Weise enthalten die allgemeinen Bewegungsgleichungen eines Systems die sämtlichen begrifilichen Elemente, in welche sich die Be- wegung zerlegen läßt, samt den wechselseitigen Beziehungen derselben. In den Geisteswissenschaften herrscht vermöge der verwickelten Beschaffenheit ihrer Probleme die analytische Deduktion vor. So pflegt eine Rechtsdeduktion in der Zerlegung irgend eines der Beurteilung unterbreiteten Tatbestandes zu bestehen, wobei zugleich nachgewiesen wird, daß bestimmte Rechtsdefinitionen auf die einzelnen Tatsachen Anwendung finden. Die Erscheinungen des wirtschaftlichen Verkehrs erklärt man, indem man den Konflikt und die Selbstregulierung der egoistischen Interessen als deren bedingende Elemente aufzeigt; ein historisches Ereignis deduziert man teils aus den Willensmotiven der maßgebenden Individuen, teils aus den Förderungen und Wider- 38 Allgemeine Methodenlehre. ständen, die sie in den allgemeinen Bedingungen der Gesellschaft vorfanden. Wenn die Deduktion in diesen Fällen vielfach Lücken darbietet und des zwingenden Charakters entbehrt, so beruht dies darauf, daß die Probleme der Geisteswissenschaften vermöge ihrer komplexen Beschaffenheit der eindringenden Analyse unbesiegbare Schwierigkeiten entgegensetzen. Es wird daher überhaupt nur mög- lich, sie der Analyse zu unterwerfen, indem man sich teils hypothetische Voraussetzungen gestattet, teils aber ein weitgehendes Abstraktions- verfahren ausübt, bei welchem es nicht selten dahingestellt bleiben muß, ob dabei nicht auch von solchen Bedingungen abstrahiert worden sei, die für den Zusammenhang der zu erklärenden Erscheinungen von wesentlicher Bedeutung sind. 4. Die wechselseitigen Beziehungen der Untersuchungs- methoden. Die geschilderten Methoden der Untersuchung sind in ihren wissen- schaftlichen Anwendungen so innig verbunden, daß es kein irgendwie zusammengesetzteres Problem gibt, bei dessen Lösung sie nicht sämt- lich beteiligt wären. Dabei ist aber nicht bloß jenes Verhältnis sukzes- siver Überordnung entscheidend, das in der oben gewählten Reihen- folge seinen Ausdruck fand, und nach dem jeweils eine nachfolgende Methode die vorangehenden voraussetzt, sondern es greifen im all- gemeinen überall auch umgekehrt die später aufgezählten in die voran- gegangenen ein. Auf die Hilfsdeduktionen, ohne die überhaupt keine irgend zureichende Induktion zu stande kommt, ist in dieser Beziehung schon hingewiesen worden. Aber auch die übrigen Glieder der Reihe stehen überall in ähnlichen Wechselbeziehungen, wenngleich die Ver- bindung keine so augenfällige zu sein pflegt. So bereitet die isolierende Abstraktion nicht bloß die induktive Untersuchung vor, indem sie die zur Feststellung gesetzmäßiger Zusammenhänge geeigneten Teil- phänomene aus den komplexen Erscheinungen ausscheidet, sondern es werden auch umgekehrt die Resultate der Induktionen wieder für die Richtung der vorzunehmenden realen Abstraktionen maßgebend. Noch mehr wird im allgemeinen die generalisierende Abstraktion von vorausgehenden Induktionen geleitet, und diese greifen dann fortan berichtigend und weiterführend in die bereits gebildeten Generalisationen ein. So machen z. B. bei den Klassen-, Ordnungs- und Artbegriffen der verschiedenen naturgeschichtlichen Disziplinen die anfänglich auf Grund relativ oberflächlicher Merkmale gebildeten Abstraktionen mehr und Die wechselseitigen Beziehungen der Untersuchungsmethoden. 39 mehr solchen Platz, die auf umfassende Induktionen gegründet sind, ein Vorgang, bei dem dann immer zugleich Hilfsgebiete ergänzend ein- greifen: so in die Mineralogie die Chemie und Geologie, in die syste- matische Botanik und Zoologie die Physiologie und allgemeine Biologie. Je elementarer die Methoden in ihrer isolierten Anwendung sind, umso verwickelter gestalten sie sich daher im Vergleich damit bei ihren umfassenderen Anwendungen. So kommt es, daß die Analyse und die Synthese in dem Gebrauch, den man von diesen Begriffen macht, geradezu entgegengesetzte Endpunkte in der Stufenleiter der wissen- schaftlichen Methoden bezeichnen. Die ohne weitere Hilfsverfahren auf Grund der unmittelbaren Wahrnehmung vorgenommene Zerlegung irgend eines zusammengesetzten Tatbestandes ist die einfachste Aufgabe, die sich eine Untersuchung stellen kann und darum zugleich die Vor- bedingung zu allen weiteren Schritten. Anderseits wird in der Mathematik die abstrakteste und zugleich eine Fülle induktiver und deduktiver Untersuchungen voraussetzende Disziplin nach dem immerhin auch hier obwaltenden Übergewicht der analytischen Methode als „Ana- lysis“ bezeichnet. Nicht anders werden die Ausdrücke „physikalische, chemische, philologische, historische Analyse“ zum Teil den schwierigsten, die meisten anderweitigen Vorbereitungen erfordernden Aufgaben dieser Gebiete vorbehalten. Von der Synthese gilt dies, da sie selbst schon die Analyse voraussetzt, und da überdies ihre Anwendung an gewisse beschränkende Bedingungen geknüpft ist, nicht ganz in gleichem Grade; doch kann auch sie eine ähnlich verschiedene Stellung einnehmen, wie dies z. B. die einfachen synthetischen Operationen der Mathematik, die elementaren physikalischen und chemischen Synthesen auf der einen und die im engeren Sinne sogenannten synthetischen Disziplinen auf der anderen Seite, die synthetische Geometrie oder die synthetische Chemie, zeigen. Aus diesen Wechselbeziehungen folgt von selbst, daß in der An- wendung auf irgendwelche komplexe Untersuchungen die den einfachen Methoden entlehnten Ausdrücke immer nur die vorwaltende Richtung der Forschung bezeichnen, während als Hilfsmethoden immer zugleich andere in Anwendung kommen. Zugleich steigert sich die Verbindung mit der Komplikation der Probleme dermaßen, daß kaum eine verwickeltere Aufgabe vorkommen dürfte, an deren Lösung nicht überhaupt die sämtlichen Methoden beteiligt wären. Einen sprechenden Beleg hierzu bildet der Gebrauch, den man von den Ausdrücken „Be- griff“ und „Gesetz“ nicht selten zur Bezeichnung von Untersuchungs- ergebnissen macht, die an sich den gleichen Inhalt besitzen, obgleich 40 Allgemeine Methodenlehre. als die hauptsächlichste Grundlage des Begriffs die Abstraktion, als die des Gesetzes dagegen die Induktion zu gelten pflegt. Wenn wir dem- nach z. B. von dem Begriff der Gravitation reden, so setzt dieser selbst- verständlich die ganze Induktion voraus, die zum Gesetz der Gravi- tation geführt hat. Nichtsdestoweniger haben auch in diesem Fall die beiden Ausdrücke eine verschiedene, in ihrer Anwendung hervor- tretende Bedeutung. Von dem Begriff der Gravitation werden wir nämlich dann reden, wenn dieser Begriff mit verwandten Begriffen, z. B. mit denen anderer Naturkräfte, verglichen wird, während das Gesetz der Gravitation das direkte Ergebnis einer in der gewöhnlichen Weise von Hilfsdeduktionen unterstützten Induktion ist. Insbe- sondere bei dem Verhältnis zwischen Begrifisbildung und Gesetzes- formulierung kommt es daher wesentlich darauf an, welcher der ein- fachen Methoden die abschließende Bedeutung zukommt. In diesem Sinne ist dann aber für die Begrifisbildung die Abstraktion, für die Gewinnung von Gesetzen die Induktion die entscheidende Methode. Zweites Kapitel. Die Formen der systematischen Darstellung. 1. Die Definition. Untersuchung und Darstellung greifen in ihrer wissenschaftlichen Anwendung fortwährend ineinander ein. Keineswegs lassen sie daher in dem Sinne sich scheiden, daß die erstere völlig abgeschlossen sein müßte, wenn die zweite beginnen soll. Wohl aber setzt jede syste- matische Darstellung voraus, daß eine Reihe von Begriffen durch voran- gegangene Untersuchungen zureichend festgestellt sei, um einerseits die wünschenswerte Abgrenzung der einzelnen Gebiete zu ermöglichen, und um anderseits für die Fortführung der Untersuchung die erforder- lichen Grundlagen darzubieten. Diese Aufgabe erfüllt die Defi- nition. Sie ist die elementarste unter den systematischen Formen, weil Klassifikation und Beweisführung auf ihr weiterbauen, und sie steht ihrer tatsächlichen Entstehung nach mitten inne in dem Verlauf der induktiven Forschung. Denn jedes Resultat der letzteren sucht in einer zureichenden Begrifisbestimmung seinen Abschluß zu finden, damit dann an diese die Deduktion anknüpfen könne. Die Definition. 41 Dieser Doppelstellung entspricht die Natur der Definition. Als systematische Form sucht sie einen gegebenen Begriff auf das schärfste von den verwandten Begriffen zu trennen; als nächstes Ergebnis einer Untersuchung, welcher die Begrenzung der Begriffe erst zu einem tieferen Eindringen in den Gegenstand verhelfen soll, kann sie nicht das Wesen dieses Gegenstandes erschöpfend bestimmen wollen, sondern sie muß sich mit der Hervorhebung derjenigen Elemente begnügen, welche zur sicheren Unterscheidung zureichend sind. Die Definition bildet aber in doppelter Weise die Grundlage für die Weiterführung der Untersuchung: einmal durch sich selbst, insofern die klare Feststellung der charakteristischen Elemente eines Begrifis für die Untersuchung desselben und seines Verhältnisses zu anderen Begriffen ein wesentliches Erfordernis ist, und sodann durch die nahe Beziehung, in der die Defi- nitionen zu den Grundsätzen stehen, auf welche die Deduktion die einzelnen Theoreme zurückzuführen sucht. Diese Beziehung stellt sich wieder in einer doppelten Form dar. Entweder gestatten, wie in der Mathematik und in den reinen Begrifiswissenschaften, gewisse Funda- mentaldefinitionen eine unmittelbare Transformation in axiomatische Sätze; oder es lassen sich umgekehrt Erfahrungsgesetze, die durch In- duktion gewonnen sind, in Definitionen allgemeiner Begriffe umwandeln, wie in den physikalischen Disziplinen. Der Unterschied beider Formen entspringt daraus, daß in den erstgenannten Wissenschaften die Fest- stellung der Begriffe auf einer willkürlichen, wenn auch durch die Natur der Anschauung nahegelegten Konstruktion beruht, deren Sinn festgestellt sein muß, ehe man zu Gesetzesformulierungen über- gehen kann, während im zweiten Fall der durch den Zwang der Wahr- nehmung sich aufdrängende Zusammenhang der Erscheinungen zu- nächst zur Annahme gesetzmäßiger Beziehungen herausfordert, die dann erst nachträglich einem allgemeinen Begriff subsumiert werden. Die systematische Darstellung verwischt schließlich diese Unterschiede der Entstehungsgeschichte. In ihrem Streben nach zwingender Deduk- tion sucht sie alle Theoreme als apodiktische Folgerungen aus einer begrenzten Zahl ursprünglich gegebener Begrifisbestimmungen dar- zustellen, wobei dann die Frage, wie man zu diesen Begrifisbestim- mungen gelangt sei, nicht weiter zur Erörterung zu kommen braucht, In diesem Sinne bilden Definitionen die Grundlage einer jeden systemati- schen Wissenschaft. Es ist aber dazu keineswegs erforderlich, daß sie, wie in dem Euklidischen System, der Entwicklung der Deduktionen und sonstigen Untersuchungen vorangestellt werden, sondern es genügt vollkommen, wenn eine jede an dem Orte vorkommt, wo sie zum ersten 42 Allgemeine Methodenlehre. Male gebraucht wird. Doch hat dieser Umstand sowie der andere, daß geläufige Begrifisbestimmungen leicht als selbstverständlich voraus- gesetzt werden können, zuweilen die fundamentale Bedeutung der Definition übersehen lassen. Da wir uns als Zeichen der Begriffe im allgemeinen der Worte bedienen, so ist jede Definition zunächst eine Worterklärung; und da Begriffe immer nur durch andere Begriffe, also auch Worte nur durch andere Worte erklärt werden können, so besteht die Definition regelmäßig darin, daß ein Wort, dessen begrifflicher Sinn noch nicht festgestellt ist, durch Worte bestimmt wird, deren begriffliche Be- deutung als bekannt vorausgesetzt werden darf. Dieser regelmäßigen Aufgabe scheint es zu widerstreiten, wenn man die Worterklärung von der eigentlichen Definition zu unterscheiden pflegt, indem man beide als Nominal- und Realdefinition einander gegenüberstellt. In der Tat ist auch diese Unterscheidung deshalb bekämpft worden, weil es niemals Definitionen der Dinge selbst geben könne, sondern immer nur Definitionen der Wörter, mit denen wir die Dinge bezeichnen. Die Realdefinition ist daher, wie Mill meint, ebenfalls nur eine Wort- erklärung; sie unterscheide sich aber von der bloßen Nominaldefinition durch den Umstand, daß sie daneben noch die Voraussetzung einschließe, es gebe ein Ding, das dem Wort entspreche*). Dennoch ist es offenbar nicht der Gedanke an reale Existenz, der uns hier zunächst beschäftigt. Vielmehr liegt der eigentliche Unterschied darin, daß wir bei der bloßen Nominaldefinition völlig absehen von dem wissenschaftlichen Zu- sammenhang, in den der betreffende Begriff durch die Definition ge- bracht werden soll, indem wir bei ihr den nämlichen Zweck verfolgen wie bei der Übersetzung eines Wortes aus einer fremden Sprache: die Nominaldefinition ersetzt nur das Wort von unbekannter Bedeutung durch synonyme Ausdrücke und Umschreibungen ohne jede Rücksicht auf die systematische Stellung der Begriffe. Der Realdefinition ist es dagegen um die letztere zu tun. An und für sich kann daher ebensogut die Nominaldefinition eines Pferdes wie die Realdefinition eines Cen- tauren gegeben werden, auch wenn man nicht im geringsten daran zweifelt, daß das Pferd ein wirkliches Tier und der Centaur ein bloßes Geschöpf der Phantasie sei. Hiernach bedarf es kaum der Bemerkung, daß die bloße Worterklärung kein Gegenstand logischer Untersuchung ist, sondern daß diese sich nur mit Realdefinitionen im obigen Sinne, d. h. mit solchen Definitionen zu beschäftigen hat, durch welche die *) Mill, Logik I. Übersetzt von Schiel, 2. Aufl., 8. 172, Die Definition. , 43 Stellung eines Begriffs innerhalb eines allgemeineren Zusammenhangs von Begriffen bestimmt wird. Diese Aufgabe wird nun in der einfachsten Weise erfüllt, wenn man erstens den zunächst übergeordneten Begriff angibt, unter den der zu definierende gehört, und wenn man zweitens das Merkmal oder den Komplex von Merkmalen bestimmt, wodurch er sich von den ihm koordinierten Begriffen unterscheidet. Im günstigsten Fall können so zwei Namen, ein Gattungsname und eine Eigenschaftsbezeichnung, zur Definition genügen. Diese Regel des genus proximum und der differentia specifica ist in der systematischen Naturgeschichte für die hauptsächlich seit Linne üblichen, aber schon vor ihm gebrauchten Doppelbezeichnungen, wie Felis domestica, Canis familiaris u. dgl., maßgebend geworden. Die Benennung soll hier eine kurze Definition ersetzen, die aber freilich infolge der Willkürlichkeit der Genusbenen- nung und der oft planlosen Auswahl des spezifischen Unterschieds der eigentlichen Aufgabe einer Realdefinition wenig entspricht. Darum pflegt man selbst in der systematischen Naturgeschichte diesen Namen ausführlichere Definitionen folgen zu lassen, und in anderen Gebieten, wie bei mathematischen, physikalischen, juristischen und national- ökonomischen Begriffsbestimmungen, behält die Regel des genus proximum und der differentia specifica nur noch in einem allgemeineren Sinne ihre Geltung, insofern nämlich, als bei jeder systematischen Definition die zur Verwendung kommenden Begriffe in zwei Gruppen zerfallen, von denen die eine einen oder mehrere übergeordnete Be- grifie enthält, die als bekannt aus vorangegangenen Definitionen voraus- gesetzt werden, während die andere die besonderen Bestimmungen hinzufügt, durch welche der betreffende Begriff in eindeutiger Weise von allen ihm verwandten Begriffen abgegrenzt wird. Damit eine solche eindeutige Abgrenzung zu stande komme, darf der Definition selbstverständlich kein für den Begriff wesentliches Element fehlen; und ebenso fordert der systematische Zweck, daß sie nicht mit un- wesentlichen, etwa schon in anderen Elementen vorausgesetzten Be- stimmungen überlastet werde. Je einfacher und zugleich logisch durch- gebildeter ein Begrifisgebiet ist, umsomehr wird aber eine Definition, die der Forderung der Eindeutigkeit genügt, doch zugleich eine voll- ständige Einsicht in die Konstitution des Begriffs gewähren. In voll- kommenster Weise besitzen diese Eigenschaft die mathematischen Begriffe. Die exakte Definition einer geometrischen Kurve enthält ebenso wie die für sie aufzustellende Gleichung bereits alle ihre Eigen- schaften vorgebildet. Der Definition in Worten kann daher in diesem 44 Allgemeine Methodenlehre. Fall der analytische Ausdruck als eine symbolische Form der Definition substituiert werden. Am weitesten dagegen entfernen sich von diesem idealen Ziel die Begriffsbestimmungen konkreter Naturobjekte. Nur in geringem Umfange sind wir im stande, die charakteristischen Eigen- schaften einer Pflanze oder eines Tieres in einen solchen Zusammenhang zu bringen, daß sich uns aus bestimmten einzelnen dieser Eigenschaften die anderen mit Notwendigkeit ergeben. Die Definition muß sich darum in diesem Falle damit begnügen, diejenigen Merkmale herauszugreifen, in deren Konstanz eine Bürgschaft ihrer begrifflichen Bedeutung zu liegen scheint, ohne daß sie aber den Anspruch erheben kann, damit irgendwie das Wesen des Objekts anzugeben, wie man dies so oft als die Aufgabe aller Definition angesehen hat, eine Aufgabe, die selbst- verständlich nur erfüllt werden kann bei Begriffen, deren Bestimmung nach Inhalt wie Umfang schließlich in unserer eigenen Macht liegt. Neben der Mathematik sind es daher die systematischen Geisteswissen- schaften, wie die Rechts- und Staatslehre, sowie die verschiedenen Zweige der systematischen Philosophie, in denen jene ideale logische Aufgabe der Definition am ehesten annähernd erreichbar ist. Da jede Definition zur Feststellung eines Begriffs anderer Be- griffe bedarf, so setzt sie diese als bereits gegeben voraus, sei es, daß sie durch vorangegangene Definitionen bestimmt, sei es, daß sie unmittelbar aus der Anschauung bekannt und daher keiner Definition bedürftig sind. Sobald eine Definition die gewöhnliche Gliederung in das genus proximum und die differentia specifica zuläßt, so ist regelmäßig das erstere der Gegenstand vorangegangener Definitionen, während die letztere an die unmittelbare Erfahrung appelliert, die höchstens eine anschauliche Zerlegung, in keiner Weise aber eine Feststellung mittels anderer Begriffe gestattet. Die Definition der übergeordneten Begriffe zerfällt nun selbstverständlich ihrerseits wieder in ein oberes Genus und eine spezifische Differenz, von denen jenes abermals eine ähnliche Zerlegung erfährt, bis man schließlich bei denjenigen Allgemeinbegriffen des betrefienden Gebietes angelangt ist, die einen weiteren Rückgang nicht mehr gestatten. Indem dieser Prozeß von den zunächst unter- suchten Begriffen alle anschaulichen Elemente sukzessiv losgelöst hat, bleiben schließlich als nicht weiter definierbare oberste Gattungen solche Begriffe übrig, die völlig abstrakter Art sind, d. h. unmittelbar gar keine anschaulichen Elemente mehr enthalten, wie die Begriffe Ding, Substanz, Größe, Zahl u. dgl. Auf diese Weise führt die Analyse der Definitionen auf zwei undefinierbare Bestandteile von völlig ver- schiedenem Charakter: erstens auf die Elemente der unmittelbaren Die Definition. 45 Erfahrung oder die Inhalte des Bewußtseins, die wahrgenommen werden müssen und eben darum nicht definiert werden können, und zweitens auf die allgemeinsten Abstraktionen, die, insofern ihnen jeder anschauliche Inhalt abhanden gekommen ist, eine bloß formale Bedeutung besitzen, da in ihnen lediglich die intellektuellen Funk- tionen zum Ausdruck kommen, deren wir uns bei der Ordnung des empirischen Stoffes bedienen. Diese Funktionen sind wiederum einer eigentlichen Definition nicht zugänglich, sondern es können bei ihnen höchstens die Bewußtseinsakte beschrieben werden, die bei der Erzeugung der Begriffe wirksam sind. So führen wir z. B. den Begriff des Dings auf die selbständige Apperzeption des einzelnen Wahr- nehmungsinhalts, den Begriff der Zahl auf die Verbindung einer Reihe von Apperzeptionsakten zurück u. s. w. (Bd. I, Abschnitt III, Kap. II ff.) Indem die Definition einen gegebenen Begriff stets durch eine Mehrheit anderer Begriffe erklärt, kann sie nun entweder auf einer Zerlegung in diese oder aber auf ihrer Verbindung zu einem neuen Begriffe beruhen. Die Definition stützt sich daher auf die ele- mentareren Methoden der Analyse und Synthese, und sie läßt hiernach zwei Hauptformen zu: die analytische und die synthetische Definition. Die analytische Definition ist die nächstliegende und darum häufigste Form. Fast unerläßlich bei der Begrifisbestimmung von Erfahrungsobjekten bietet sie sich auch auf abstrakten Gebieten immer zunächst dar, weil sie von dem gegebenen Begriff, der definiert werden soll, ausgeht. Die einfachste Art analytischer Definition besteht aber in der Hervorhebung der unterscheidenden Merkmale, welche die Be- schreibung des Gegenstandes an ihm kennen lehrt. Diese deskrip- tive Definition ist selbst nichts anderes als eine abgekürzte, auf die charakteristischen Eigenschaften eingeschränkte Beschreibung. Wie die Beschreibung überhaupt, so hat sie den Nachteil, daß sie die Begrifiselemente nur äußerlich aneinander reiht, ihre innere Beziehung aber nicht kennen lehrt. So in den bekannten Definitionen der Natur- geschichte, aber auch bei mathematischen Begrifisgebilden, wo jedoch die exakte Bestimmung der Begrifiselemente leicht jene Beziehung er- gänzen läßt. Wenn wir z. B. den Kreis als diejenige in einer Ebene ge- legene Linie definieren, deren Punkte sämtlich gleich weit von einem festen Punkte der nämlichen Ebene entfernt sind, so ist diese Begriffs- bestimmung an sich rein deskriptiv; trotzdem schließt sie infolge der scharfen Fassung des Begriffs der Äquidistanz alle wesentlichen Eigen- 46 Allgemeine Methodenlehre. schaften des Kreises in sich. Immerhin müssen wir auch hier die de- skriptive Definition verlassen, wenn die wechselseitige Beziehung der Begrifiselemente angegeben werden soll. Dies geschieht in der ana- IytischenDefinition imengeren Sinne, die symbolisch immer in der Form einer Funktionsgleichung M=IEobr2u®9...) ausgedrückt werden kann, wo M den zu definierenden Begriff, a,b.. die konstanten, u,v... die variablen Elemente, in die er zerlegt wird, und endlich das Zeichen F die Funktionsbeziehung bezeichnet, die zwischen allen diesen Elementen stattfindet. In diesem Sinne ist die Gleichung des Kreises zugleich die analytische Definition desselben. Sie enthält alle Elemente der deskriptiven Definition und außer ihnen mit Hilfe der Operationssymbole den exakten Ausdruck ihrer wechsel- seitigen Relationen. Neben der Mathematik sind es wieder die einer strengeren logischen Kultur zugänglichen Geisteswissenschaften, wie die Erkenntnislehre, die Rechtswissenschaft und zum Teil die National- ökonomie, in denen analytische Definitionen erstrebt werden können. Da uns aber hier ein dem algebraischen ähnliches Zeichensystem mangelt, so müssen die Beziehungen der Begriffselemente mit den gewöhnlichen Hilfsmitteln der Sprache ausgedrückt werden, ein Umstand, der infolge der ungenügenden Präzision dieser Hilfsmittel nicht selten die De- finition ganz oder teilweise auf die deskriptive Stufe zurücksinken läßt. Den entgegengesetzten Weg schlägt die synthetische De- finitionein. Sie gibt an, wie sich der Begriff aus seinen charakte- ristischen Elementen zusammensetzt. Hierbei erscheinen dann meistens diese Elemente zugleich als die Bedingungen seiner Entstehung, und die synthetische nimmt so die geläufige Form der genetischen Definition an. Wenn man mit geringer Abänderung der oben gegebenen Beschreibung den Kreis durch die Bewegung eines Punktes in der Ebene entstehen läßt, der von einem festen Punkt der näm- lichen Ebene immer gleich weit entfernt bleibt, wenn man ferner die verschiedenen Kurven zweiten Grades aus bestimmten Modifikationen dieses Bewegungsgesetzes ableitet oder noch einfacher als Schnitte eines geraden Kegels durch eine Ebene von wechselnder Lage auffaßt, so gewinnt man abermals genetische Definitionen, wobei übrigens, wie das letzte Beispiel zeigt, im allgemeinen für ein und dasselbe Raum- gebilde verschiedene Entstehungsweisen und darum verschiedene genetische Erklärungen möglich sind. Doch ist dies nur der Fall, wo die Definition, wie in der Mathematik, Ausdruck einer willkürlichen Die Klassifikation, 47 Konstruktion ist. Bei Erfahrungsobjekten kann die genetische De- finition immer nur in dem Versuch einer Nacherzeugung der wirklichen Entstehung des Gegenstandes bestehen, und da diese in der Regel nur eine einzige ist, so ist hier im allgemeinen nur eine Form derselben möglich. Bloß wo es sich um eine genetische Definition solcher Objekte handelt, die unserer unmittelbaren Erfahrung entrückt sind, wie der Sprache, der ursprünglichen Rechts- und Staatsformen, der mytho- logischen Vorstellungen, da haben wohl auch verschiedene genetische Begrifisbestimmungen nebeneinander Raum, die nun aber freilich nicht, wie in der Mathematik, ein gleiches Recht für sich in Anspruch nehmen, sondern als Ausdrucksformen verschiedener hypothetischer Anschauungen einander bekämpfen. Nicht selten geschieht es ferner, daß nur einzelne Seiten eines Begriffs eine genetische Definition zu- lassen, während andere, die zur Unterscheidung von verwandten Be- griffen immerhin der Hervorhebung bedürfen, bloß einer Beschreibung zugänglich sind. Es entstehen dann gemischte, genetisch-deskriptive Definitionen. Die Andeutung eines derartigen Verhaltens findet sich in den Artbenennungen der Naturgeschichte, wo die eine Hälfte der Doppelbezeichnung, das genus proximum, auf die Abstammung der Art hinweist, während die differentia specifica, die Aufzählung der charakteristischen Artmerkmale, einer bloß deskriptiven Aneinander- reihung überlassen bleibt. Die angegebenen Unterschiede der Definition stehen in nahem Zusammenhange mit den Eigenschaften derjenigen systematischen Form, die sich auf die Definition stützt, indem sie die fundamentalen Definitionen eines Wissensgebietes zu dessen geordneter Gliederung verwertet. Diese Form ist die Klassifikation. 2. Die Klassifikation. a. Allgemeine Eigenschaftender Klassifikation und Entwicklung der Klassifikationsformen. Wir bezeichnen als Einteilung jede Gliederung eines Begriffs, durch welche dieser in eine Anzahl koordinierter und additiv mitein- ander verbundener Teile zerlegt wird. Die logische Einteilung führt daher stets zu einem vollständigen disjunktiven Urteil von der Form Se AN ag 23 Die Einteilung wird zur Klassifikation, wenn die so gewonnenen Begrifie allgemeine Klassen bezeichnen, an denen der Vorgang der 48 Allgemeine Methodenlehre. Einteilung einmal oder mehrmals wiederholt werden kann. Jede Klassi- fikation besteht daher aus einer Haupteinteilung und aus Untereinteilungen. Damit die Einteilung eines Begriffs ausgeführt werden könne, müssen seine wesentlichen Elemente durch vorangegangene Analyse ermittelt sein, und insbesondere muß diese darüber Aufschluß geben, welche unter den Begrifiselementen konstant, und welche veränder- lich sind. Unter den veränderlichen werden dann diejenigen ausgewählt, die sich zur Abgrenzung der Glieder des einzuteilenden Begriffs als die geeignetsten erweisen. Ein variables Begrifiselement, dessen Ver- änderungen in dieser Weise benützt werden, heißt Einteilungs- grund. In den einfachsten Fällen genügt ein einziger; in ver- wickelteren wird es aber nicht selten nötig, mehrere Einteilungsgründe zu kombinieren, um eine hinreichend vollständige Gliederung des Begriffs zu gewinnen. Gehen wir auf den allgemeinen analytischen Ausdruck der De- finition eines Begriffs zurück: DM NP DES URVERNT so würden demnach unter den variablen Elementen vw, v.... . die Ein- teilungsgründe zu wählen sein*). Da die Wahl zwischen ihnen im allgemeinen, abgesehen von Rücksichten der Zweckmäßigkeit, frei- steht, so läßt jeder zusammengesetzte Begriff verschiedene Einteilungs- weisen zu. Erfordert die Vollständigkeit der Einteilung die Kom- bination mehrerer Einteilungsgründe, so bestimmt sich die Gesamt- zahl der Teile nach der Anzahl der Kombinationen, die zwischen den durch die einzelnen Einteilungsgründe gewonnenen Elementen möglich sind. Wählt man also z. B. u und v, so würde, wenn M nach u einge- teilt in A, Bund(, nach v eingeteilt in «,ß und y zerfällt, als Resultat der kombinierten Teilung M=Aa-+4ABß+4Ar+Ba-+ BB + Br + 0a CB-C7 sich ergeben. In allen solchen Fällen bedarf es jedoch einer besonderen Untersuchung darüber, ob nicht einzelne der logisch möglichen Glieder infolge von Bedingungen, die in der speziellen Konstitution des Begriffs liegen, hinwegfallen. *) Diese logischen Variabeln dürfen, wie schon hier bemerkt werden mag, nicht verwechselt werden mit den Variabeln algebraischer Gleichungen. Wir werden unten sehen, daß vielmehr die logischen Variabeln bei der analytischen Klassifikation mathematischer Ba _riffe regelmäßig unter den algebraischen Kon- stanten zu wählen sind. Die Klassifikation, 49 Für die Wahl der Einteilungsgründe gelten zwei Hauptregeln, die freilich bei der Klassifikation von Erfahrungsobjekten nicht immer strenge befolgt werden können. Erstens sollen die Einteilungsgründe allen Gliedern des einzuteilenden Begriffs zukommen, damit es nicht nötig werde, plötzlich mit ihnen zu wechseln. Zweitens sollen die Ver- änderungen der zu Einteilungsgründen gewählten Merkmale den wesent- lichen Veränderungen des Gesamtbegriffs, also den Veränderungen der wichtigsten anderen variablen Begrifiselemente, parallel gehen. Wie auf der ersten dieser Regeln die logische Richtigkeit der Einteilung, so beruht auf der zweiten die der Natur des Gegenstandes angemessene Wahl der Einteilungsgründe. Durch die Hervorhebung einzelner für die gegenseitige Abgren- zung der Teile eines allgemeinen Begriffs geeigneter Elemente steht nun die Klassifikation in unmittelbarem Zusammenhang mit der De- finition. Einerseits setzt sie zureichende Definitionen der einzu- teilenden Begriffe voraus, anderseits werden durch sie selbst, namentlich durch die Fortschritte, die sie im Verlauf der systematischen Ent- wicklung einer Wissenschaft macht, die Definitionen vervollkommnet und immer mehr in eine sich wechselseitig stützende Verbindung gebracht. Hierbei verwertet die Klassifikation die verschiedenen Untersuchungsmethoden, die sich an der Entwicklung des Wissens beteiligen. Vor allem ist es de Abstraktion, die sich zunächst in der Form derisolierenden bei der Wahl der Einteilungsgründe betätigt, um sodann als generalisierende die Feststellung der allgemeinen Gattungsbegrifie zu vermitteln. Die Art aber, wie diese Formen der Abstraktion geübt werden, ist wiederum abhängig von der jeweils erreichten Stufe der Induktion und Deduktion. Auf diese Weise ist es die Klassifikation nebst dem von ihr getragenen System von Definitionen, an der am unmittelbarsten der Grad der Entwicklung, der in der Untersuchung eines bestimmten Gebietes erreicht ist, erkennbar wird; und der Verlauf der Entwicklung selbst spiegelt sich regelmäßig in der Aufeinanderfolge der Klassifikations- systeme einer Wissenschaft. In dem Wechsel der Formen der Klassifikation ist daher meistens eine bestimmte Regelmäßig- keit zu erkennen, die von den allgemeinen Gesetzen wissenschaftlicher Entwicklung beherrscht wird. Entsprechend den Formen der Definition können wir so zunächst als Hauptformen die analytische und die synthetische Klassi- fikation unterscheiden. Wie mit der Analyse jede wissenschaftliche Untersuchung beginnt, so äußern sich auch die ersten Versuche einer Wundt, Logik. I. 3. Aufl. 4 50 Allgemeine Methodenlehre. systematischen Ordnung der Begriffe regelmäßig in analytischen Ein- teilungen. Die beginnende Analyse vermag nun zwar über die Ko- existenz der Merkmale eines Begriffs, nicht aber über die innere Be- ziehung derselben Aufschluß zu geben. Die analytischen Klassi- fikationen der beginnenden Wissenschaft sind daher stets deskrip- tiver Art. Erst indem sich mit der AnalysesynthetischeKon- struktionen oder Beobachtungen nach synthetischer Methode ver- binden, gewinnt diese Methode auch auf die Einteilungen ihren Ein- fluß, und es geht so die deskriptive in eine genetische Klassi- fikation über. Aber nicht unter allen Umständen kann die letztere auf die Dauer befriedigen. Namentlich in den reinen Anschauungs- und Begrifiswissenschaften macht sich mehr und mehr das Streben nach systematischen Einteilungen geltend, die nicht bloß über die Ent- stehung der Begrifisgegenstände Rechenschaft ablegen, sondern einen möglichst vollständigen Ausdruck der bleibenden inneren Beziehungen ihrer Elemente enthalten. Dies ist nur durch ein Zurückkehren zur Analyse möglich, wobei aber diese sich nicht auf eine deskriptive An- einanderreihung der Merkmale beschränken darf, sondern im Sinne der mathematischen Analyse über deren gesetzmäßige Beziehungen Rechen- schaft geben muß. So entsteht die vollendetste Form der Klassifikation, die analytische Klassifikationim engeren Sinne, die der analytischen Definition parallel geht, aber, gleich dieser, infolge unserer unvollkommenen Einsicht in das Wesen der Erfahrungsobjekte hauptsächlich nur in den Gebieten der auf Konstruktion beruhenden Begrifissysteme Anwendung finden kann. b. Die deskriptive Klassifikation. Die deskriptive Klassifikation benützt als Einteilungsgründe Merk- male, die bei der Beschreibung einer zusammengehörigen Reihe von Gegenständen gewonnen worden sind. Da die Beschreibung an sich infolge ihrer Beschränkung auf die bloße Betrachtung der tatsächlichen Koexistenz der Eigenschaften eines Objektes kein Merkmal vor dem anderen bevorzugt, so ist jene Wahl der Einteilungsgründe vollkommen freigegeben, und es wird deshalb der deskriptiven Klassifikation ver- hältnismäßig leicht, den beiden oben namhaft gemachten logischen Forderungen der Konstanz der Einteilungsgründe und der angemessenen Variabilität der charakteristischen Merkmale zu genügen. Je mehr aber dies der Fall ist, in umso höherem Grade muß hinwiederum die Klassifikation mit den von anderen Gesichtspunkten aus unternommenen SS Die Klassifikation. 51 Gliederungen des Gegenstandes übereinstimmen, umsomehr also müssen auch ihre Resultate mit denjenigen der vollkommeneren gene- tischen oder analytischen Klassifikation zusammentreffen. In der Tat besteht zum großen Teil gerade hierin der Dienst, den eine logisch an- gemessene Klassifikation, mag sie auch noch so sehr nach äußerlichen Merkmalen ausgeführt sein, der weiteren Untersuchung des Gegen- standes zu leisten pflegt. Man hat wegen der freien Wahl der Ein- teilungsgründe, über welche diese erste Einteilungsform mehr als jede andere verfügt, vorzugsweise der deskriptiven Klassifikation in der Naturgeschichte den Namen der künstlichen beigelegt. Aber es ist eine längst gemachte und infolge der angedeuteten Beziehung der Merkmale leicht verständliche Bemerkung, daß die Unterordnungen der besseren künstlichen Systeme mit denjenigen der sogenannten natürlichen vielfach übereinstimmen. Ein weiterer Vorzug der de- skriptiven Klassifikation, der mit der freien Wahl der Einteilungsgründe zusammenhängt, besteht in der willkürlichen Beschränkung der Zahl derselben, eine Eigenschaft, die der klaren Übersicht der Gliederungen des Systems wesentlich zu statten kommt. In allen diesen Beziehungen ist besonders Linnes künstliches Pflanzensystem, mehr als seine Klassi- fikationen auf anderen Gebieten der Naturgeschichte, ein muster- gültiges Beispiel. Indem dieses System die Beschaffenheit der Frukti- fikationsorgane zum Einteilungssrunde wählt, geht es zunächst von den allgemeinsten Unterschieden in der Lage derselben aus, worauf die weitere Unterscheidung der Klassen nach der Zahl und Befestigungs- weise der Staubfäden geschieht. Diesen Vorzügen des deskriptiven Systems stehen jedoch einige Nachteile gegenüber, die allmählich zur Ersetzung desselben durch vollkommenere Klassifikationsformen antreiben. Solche Nachteile ent- springen hauptsächlich daraus, daß die deskriptive Einteilung vermöge der Beschränkung der Einteilungsgründe, die sie erstrebt, in höherem Grade als jede andere auf die durchgängige Korrelation der Merkmale sich stützen muß, während sie doch weniger als jede andere über die Ursachen dieser Korrelation Rechenschaft zu geben vermag. Wenn z. B. das deskriptive System als Klassenmerkmal der Säugetiere den Besitz der Milchdrüsen aufstellt, so macht es nicht im geringsten be- greiflich, warum mit diesem Merkmal gewisse andere Eigenschaften, wie der Besitz von Haaren, zweier Hinterhauptskondylen, eines einzigen auf der linken Seite gelegenen Aortenbogens, eines die Brust- und Bauchhöhle vollständig trennenden Zwerchfells, regelmäßig verbunden sind. Und doch sind die Milchdrüsen nur deshalb ein zweckmäßig ge- 53 Allgemeine Methodenlehre. wählter Einteilungsgrund, weil zwischen ihnen und jenen anderen Merk- malen ein konstantes Verhältnis der Koexistenz besteht. Namentlich in zwei Erscheinungen kommt hier die mangelhafte Einsicht in die wechselseitige Beziehung der Begriffselemente in störender Weise zur Geltung. Erstens geschieht es, und zwar gerade bei den in logischer Beziehung vollkommensten deskriptiven Einteilungen, nicht selten, daß einzelne Glieder, die durch das Einteilungsprinzip logisch gefordert werden, hinwegfallen, weil sie dem Wesen des eingeteilten Begriffs widerstreiten. Über die Gründe solcher Lücken des Systems vermag aber die deskriptive Klassifikation keine Rechenschaft zu geben, so daß deren Existenz lediglich als eine zufällige erscheint. Dem läßt sich nun freilich nicht abhelfen, wo überhaupt unsere Kenntnis der Dinge eine zu unvollkommene ist. Wenn z. B. das Linnesche Pflan- zensystem alsbald von der Dekandria, der Klasse mit 10 Staubgefäßen, zu der Dodekandria überspringt, in der es Blüten mit 12—20 Staub- gefäßen vereinigt, so entzieht sich der hier zu Grunde liegende Mangel einer Elfzahl männlicher Fruktifikationsorgane vorläufig unserer Er- klärung. Wenn man dagegen die Kurven dritten Grades erstens nach der Zahl ihrer unendlichen Zweige und zweitens nach der parabolischen oder hyperbolischen Gestalt dieser Zweige einteilt, so läßt auch hier diese deskriptive Einteilung dahingestellt, warum gewisse logisch denk- bare Kombinationen der stets paarig in den Zahlen 2, 4, 6 und 8 vor- kommenden Zweige hinwegfallen, warum also z. B. unter den Kurven mit sechs Zweigen nur solche mit zwei parabolischen und vier hyper- bolischen vorkommen und vollends die Kurven mit acht Zweigen stets hyperbolisch sind. Da es sich aber in diesem Fall um Begriffe handelt, bei denen die Erkenntnis des Zusammenhangs ihrer Eigenschaften vollkommen in unserer Macht steht, so liegt hierin zugleich ein Motiv, an die Stelle der deskriptiven eine genetische oder analytische Klassi- fikation zu setzen, bei denen die logisch möglichen Glieder der Einteilung immer auch mit den tatsächlich existierenden oder dem Begriff nach notwendigen zusammenfallen müssen. Ein zweiter Mangel der deskriptiven Einteilung besteht darin, daß sie nicht selten genötigt wird, entweder Zusammengehöriges zu trennen oder, wenn dieser Übelstand vermieden werden soll, dem gewählten Einteilungsgrund untreu zu werden. Dies ereignet sich namentlich bei Naturobjekten, deren abweichende Gestaltungen oft durch mannigfache Übergänge verbunden sind, so daß sie den von uns willkürlich gezogenen Grenzen nur widerstrebend sich fügen. So ordnet das Linnesche System sämtliche Liliaceen in die sechste Die Klassifikation. 53 Klasse, obgleich einige Arten nicht sechs, sondern nur drei entwickelte Staubgefäße besitzen. Die Gesamtheit der sonstigen Eigenschaften gewinnt hier das Übergewicht über das einzelne willkürlich bevor- zugte Merkmal. Indem die deskriptive Klassifikation sich auf diese Weise genötigt sieht, die allgemeinen Verwandtschaftsbeziehungen der Objekte auf Kosten der logischen Folgerichtigkeit zu bevorzugen, legt sie aber selbst schon den Gedanken einer genetischen Ein- teilung nahe. c. Die genetische Klassifikation. Der Versuch, zusammengehörige Objekte unserer Beobachtung in irgend eine Entwicklungsreihe zu ordnen, ist wohl so alt wie die wissenschaftliche Beobachtung selber. Auch liegen schon den frühesten deskriptiven Einteilungen meistens zugleich unvollkommene gene- tische Anschauungen zu Grunde. So sind die von Aristoteles unter- schiedenen Klassen des Tierreichs sichtlich nach deskriptiven Merk- malen gebildet, aber für ihre Anordnung ist nebenbei die Annahme einer kontinuierlichen Entwicklungsfolge der Organismen von den Pflanzen aufwärts bis zu den Säugetieren maßgebend. Gerade im Gebiet der Naturgeschichte mußte sich jedoch bald der prinzipielle Unterschied deskriptiver und genetischer Einteilung geltend machen. Denn während hier das Bedürfnis, in der Fülle der Formen eine logische Ordnung zu schaffen, zu der ersteren drängte, konnte der vergleichenden Beobachtung die Mannigfaltigkeit genetischer Beziehungen nicht ver- borgen bleiben. Mit klarem Bewußtsein freilich hat wohl erst der große Reformator der systematischen Naturgeschichte, Linne, diesen Unter- schied erfaßt, indem er seinem künstlichen einnatürliches System an die Seite setzte, dessen Vollendung er übrigens der Zukunft über- lassen mußte. Auch die später zur Ausführung gelangten natürlichen Systeme, wie sie für das Pflanzenreich Jussieu und Decandolle auf- stellten, bilden erst eine Übergangsform zwischen deskriptiver und genetischer Klassifikation, indem namentlich die Unterabteilungen nach rein äußerlichen Merkmalen geschieden sind. Dies ist zum Teil wohl die Folge davon, daß der genetische Grundgedanke hier unter dem vielleicht noch aus der Aristotelischen Philosophie herüber- genommenen Vorurteil stand, die Entwicklung erfolge in einer einzigen Richtung, daher man auch dem natürlichen System eine lineare Anordnung zu geben suchte. Hierzu kam, daß die ersten erfolgreicheren Versuche genetischer Klassifikation nicht einer wirklichen Beobach- tung der Entwicklung, sondern einer bloßen Vergleichung der fertigen 54 Allgemeine Methodenlehre. Objekte ihren Ursprung verdankten, ein Standpunkt, der in den nament- lich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zur Ausbildung gelangten vergleichenden Wissenschaften seinen Ausdruck fand. War in der Linnöschen Schule die Untersuchung der Eigenschaften der Pflanzen und Tiere fast nur als ein Hilfsmittel betrachtet worden zur Gewinnung einer Klassifikation, und diese wieder als ein Hilfs- mittel zur Auffindung und Benennung der Objekte, so wurde nun in der vergleichenden Anatomie der Pflanzen und Tiere die Untersuchung sich selbst Zweck, und sie führte dadurch notwendig zu einer Bevor- zugung der inneren vor den bisher hauptsächlich beachteten äußeren Merkmalen. Hatte die Mineralogie ohne Rücksicht auf Vorkommen und Bildung die Mineralien nach gewissen äußeren Unterschieden geordnet, so traten ihr jetzt in der Geognosie und Geologie Wissen- schaften zur Seite, deren Aufgabe von selbst auf eine vergleichende Untersuchung und damit zugleich auf die Erforschung der Ent- stehungsbedingungen der Gesteine hinwies. Von der Naturgeschichte ausgehend, ergriff dies Streben nach vergleichender Methode bald noch weitere Kreise der wissenschaftlichen Forschung. Eine „vergleichende Erdkunde“ nannte Karl Ritter sein bahnbrechendes geographisches Werk. Auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften schlossen sich daran die vergleichende Sprachwissenschaft, die Anfänge einer ver- gleichenden Mythologie und schließlich der Versuch einer aus Be- völkerungs- und Wirtschaftsstatistik allmählich hervorwachsenden ver- gleichenden Gesellschaftslehre. Manche dieser Disziplinen, wie Geo- graphie, Sprachwissenschaft und soziale Statistik, waren durch die Natur ihres Gegenstandes ganz oder großenteils auf die Vergleichung fertiger Objekte oder Zustände angewiesen. Von der Naturgeschichte kann dies zwar nicht behauptet werden, sondern es schien hier im Gegenteil die Erfahrung selbst die Forderung zu stellen, daß ein gene- tisches System auf die wirkliche Genese der Gegenstände zu gründen sei. Immerhin war es begreiflich, daß trotzdem der schwierigeren und zeitraubenderen entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung die Vergleichung vorausging. Nun kann aber ganz allgemein der Zweck einer genetischen Klassi- fikation ein doppelter sein. Entweder kann sie, ohne Rücksicht auf die wirkliche Entstehung, lediglich darüber Rechenschaft geben, wie die Objekte von uns anschaulich oder begrifflich konstruiert werden können. In diesem Fall werden möglicherweise mehrere genetische Einteilungen der nämlichen Gegenstände gleichberechtigt nebenein- ander bestehen, je nach den wechselnden Gesichtspunkten, von denen Die Klassifikation. 55 unsere genetische Konstruktion ausgeht. Oder die Klassifikation kann ein Ausdruck der wirklichen Entwicklung sein. Nur in diesem Falle haben wir eigentlich das Recht, von einem natürlichen System zu sprechen, und es ist zugleich klar, daß hier gleichberechtigte Systeme nicht nebeneinander möglich sind, oder daß, wo sie vor- kommen, dies bloß eine noch bestehende Unsicherheit über die em- pirischen Grundlagen eines solchen natürlichen Verwandtschafts- systems andeutet. Der wesentliche Unterschied beider Formen gene- tischer Klassifikation ist unschwer an Beispielen zu erkennen. Mathe- matische Begrifisgebilde gehören regelmäßig der ersten Form an. Ob ich die Kurven zweiten Grades durch die Bewegungen eines nach be- stimmten Gesetzen fortschreitenden Punktes oder durch die Schatten- projektionen eines Kreises bei wechselnder Lage desselben zur Pro- jektionsebene oder endlich mittels der Durchschneidung eines Kegels entstehen lasse, ist für die Sache selbst gleichgültig, und jede der auf einer dieser fingierten Entstehungsweisen beruhenden Einteilungen ist darum an sich gleichberechtigt. Wenn ich dagegen über den genetischen Zusammenhang einer Reihe chemischer Verbindungen Rechenschaft geben will, so ist nicht jede beliebige Art, wie man sich die Entstehung einer Atomgruppierung denken kann, der anderen gleichwertig, sondern nur die ist streng genommen berechtigt, die mit der wirklichen Ent- stehung zusammentrifit. Die Genese ist also willkürlich, so lange es sich um eine Konstruktion des Begriffs handelt; sie ist an die Erfahrung gebunden, sobald nur eine Rekonstruktion in Frage steht. In den genetischen Systemen, namentlich der Naturgeschichte, wurden nun diese beiden wesentlich verschiedenen Fälle nicht immer genügend auseinandergehalten, und es ist begreiflich, daß besonders die Beschränkung auf die Vergleichung der gewordenen Objekte zu einer solchen Vermengung von Konstruktion und Rekonstruktion Anlaß geben konnte. Eine mehr oder minder willkürliche Betrachtung der Gegenstände wurde in diese selbst verlegt oder als das ideale Ge- setz angesehen, das durch eine Art mystischer Kausalität die Wirklich- keit bestimme. Ihren Ausdruck fand diese Betrachtungsweise in einem Begriff, der, solange man sich seines Ursprungs aus der logischen Abstrak- tion bewußt blieb, seine Berechtigung hatte, da sein Fehler nur in der Hypostasierung bestand, die er erfuhr. Dies war der Begrifides Typus. Es gehört zu den bedeutsamsten Erscheinungen in der neueren Ent- wicklung der Wissenschaften, daß in den verschiedensten Gebieten, Zoologie, Botanik, Kristallographie, Chemie, Sprachwissenschaft, der 56 Allgemeine Methodenlehre. nämliche Begriff beinahe gleichzeitig auftaucht. Geht man aber auf die empirischen Grundlagen zurück, von denen seine Abstraktion aus- gegangen ist, so kann eine dreifache Bedeutung desselben unterschieden werden. Erstens bezeichnet der Typus dieeinfachsteForm, in der ein gewisses Gesetz der Struktur oder der Zusammensetzung repräsentiert sein kann. Hier wird daher auch der Ausdruck Grund- form insynonymer Bedeutung gebraucht. In diesem Sinne betrachtet die Kristallographie Würfel und Oktaeder als die Grundformen des regulären, die Doppelpyramide mit quadratischer Basis als die Grund- form des tetragonalen Systems, oder sucht die Chemie nach der von Dumas eingeführten typischen Anschauung auf die Typen des Chlor- wasserstofis (HCl), Wassers (H,O), Ammoniaks (H,N) und Sumpfgases (H,C) die zusammengesetzteren Verbindungen zurückzuführen. Zwei- tens versteht man unter dem Typus diejenige Form, in der die Eigenschaften einer Reihe verwandter Formen am vollkommen- sten repräsentiert sind. Diese Bedeutung des Begrifis fand besonders in der Naturgeschichte des Pflanzen- und Tierreichs ihre Verwertung. So vereinigt der Typus eines Säugetiers nach Cuvier alle Merkmale in sich, die einer größeren Zahl von Ordnungen zukommen. Zu diesem Typus gehören also fünf Zehen an den Vorder- und Hintergliedmaßen, ein vollständiges Gebiß aus drei Zahnformen, obgleich bei der Mehrzahl der Säugetiere keines dieser Merkmale zutrifft. Zu dem typischen Charakter der Rosaceen gehört es, daß sie abwechselnde, von Neben- blättern begleitete Blätter haben, obgleich bei einzelnen, nämlich den Amygdaleen, die Nebenblätter ganz fehlen. Drittens endlich nimmt der Typus zuweilen noch die Bedeutung an, daß er nureineformale Eigenschaft bezeichnet, die den Gliedern einer Gattung oder mehreren Gattungen gemeinsam zukommt. So wenn von Endlicher die Cormo- und Thallophyten als die Haupttypen des Pflanzenreiches angesehen wurden, oder wenn viele Linguisten die isolierende, agglutinative und flektierende Form als die hauptsächlichsten Sprachtypen unter- schieden. Wie schon diese Beispiele zeigen, handelt es sich hier um um- fassendere Eigenschaftsbegriffe, bei denen die Gefahr einer Umwand- lung zu Objekten weniger nahe lag als in den zwei ersten Fällen, wo der Typus zwar auch ein Abstraktionsprodukt ist, aber doch zugleich sein reales Abbild in bestimmten Objekten der Erfahrung findet. Dennoch ist auch hier diese Gefahr nicht ganz vermieden worden, indem man solche Abstraktionen zwar als ideale Formen auffaßte, ihnen aber doch zugleich eine Art unmittelbarer Realität beimaß. So wird in der so- genannten Spiraltheorie von Schimper und Braun die Blattstellung Die Klassifikation. 57 auf ein abstraktes geometrisches Gesetz zurückgeführt, dem sich die Wirklichkeit natürlich immer nur mehr oder weniger annähern kann. Dieses Gesetz wird aber nicht bloß als eine mathematische Abstraktion betrachtet, wogegen nichts einzuwenden wäre, sondern zugleich als eine reale Kraft, die in dem Wachstum der Pflanzen sich äußern soll*). In ähnlichem Sinne suchte noch H. G. Bronn die Tierformen auf einfache geometrische Formen, Kegel, Keil u. dgl., zurückzuführen, welchen Abstraktionen er den Namen „Gestaltungsgesetze“ gab**). In der Tat bestand die Meinung, morphologische Betrachtungen solcher Art seien der Aufstellung kausaler Naturgesetze äquivalent. Jener von den Begründern der natürlichen Systeme des Pflanzen- und Tierreichs gebildete Begriff des Typus, der mit dem Begriff der repräsentativen, die Merkmale der Familie, Ordnung oder Klasse am vollkommensten ausprägenden Art sich deckte, stand zwar an und für sich in näherer Beziehung zur unmittelbaren Erfahrung. Aber auch er besaß doch in- sofern den Charakter einer bloß idealen Form, als man sich dabei der unendlichen individuellen Variabilität innerhalb der Art bewußt war und sich dennoch den Typus individuell dachte, als ein ideales Indi- viduum, in welchem alle schwankenden Eigenschaften der realen Individuen aufgehoben seien. Ebenso fand man keine Schwierigkeit, die Möglichkeit eines Gattungstypus zuzugestehen, der in keiner einzigen der in der Gattung enthaltenen Arten, sondern nur in ihnen allen zu- sammengenommen vollständig realisiert sei, und dennoch diesen nirgends existierenden Gattungstypus als eine reale Kraft zu betrachten, die in den einzelnen Formen zur Wirkung komme. Die unbewußte Mystik dieser Anschauung trat augenfällig in der von Decandolle zunächst in Bezug auf die Pflanzen ausgebildeten, dann auch für das Tier- reich adoptierten Lehre vom „Abortus“ zu Tage. Die Abweichungen einzelner Arten von dem gemeinsamen Typus wurden hier dadurch er- klärt, daß gewisse Teile verkümmert oder völlig verloren gegangen seien***). Dieser Verlust wurde aber nicht als ein wirklicher, sondern als ein idealer Vorgang gedaeht, gleichsam als ein Erlebnis in einer vor- bildlichen Welt, nach dessen Resultaten sich erst die Dinge der Wirk- lichkeit gestaltet hätten. Lagen solche Vorstellungen den älteren Formen der Typenlehre mehr unbewußt zu Grunde, so hat Agassiz *) A. Braun, Betrachtungen über die Erscheinung der Verjüngung in der Natur. 1849. S. 124. **) H. G. Bronn, Morphologische Studien über die Gestaltungsgesetze der Naturkörper, 1858. ***) Sachs, Geschichte der Botanik, $. 142, 58 Allgemeine Methodenlehre. das Verdienst, daß er sie mit vollem Bewußtsein zum Ausdruck brachte. Schon Cuvier hatte den Typus als die „Idee der Gattung“ bezeichnet; bei Agassiz wird diese Idee zum Schöpfungsgedanken, aus dessen Ver- wirklichung die Wesen selber entspringen. Die Idee wird also objek- tiviert und zugleich als Bestandteil einer transzendenten vorbildlichen Welt gedacht*). Die bis dahin noch einigermaßen latent gebliebene Übereinstimmung mit der Platonischen Ideenlehre tritt hier offen zu Tage. Umso merkwürdiger ist aber jene Übereinstimmung, weil wir schwerlich bei diesen Morphologen an eine absichtliche Wiedererneue- rung Platonischer Philosophie denken dürfen. In der organischen Naturgeschichte hat die Typentheorie durch ihren Zusammenhang mit der Lehre von der Konstanz der Artenihr besonderes Gepräge empfangen, und namentlich ist dadurch ihre zuletzt erwähnte mystische Wendung begünstigt worden. Dennoch faßt man diese Theorie einseitig auf, wenn man sie bloß von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet. Der Chemie und der Sprachwissen- schaft liegen solche Nebengedanken ferne, und trotzdem hat hier der Begrifi des Typus eine ähnliche Rolle gespielt. Die wesentliche Bedeutung desselben liegt überall darin, daß er eine genetische Ordnung gewisser Objekte zu vermitteln sucht, daß aber diese Ordnung nicht auf eine Beobachtung der wirklichen Entwicklungen, sondern auf die Vergleichung der fertigen Objekte gegründet wird. Darum eben tritt an die Stelle der rekonstruktiven Genese, die bei Er- fahrungsobjekten immer gefordert wird, eine konstruktive Genese, die der Erzeugung mathematischer Objekte nachgebildet ist, und die so auch im einzelnen in den Irrtum verfallen kann, durch eine mathematische Abstraktion die kausale Erklärung der wirklichen Gegenstände ersetzen zu wollen. Das Streben, eine genetische Ordnung zu gewinnen, ist vorhanden, aber noch fehlt es an den vollständigen Vor- bedingungen. Deshalb sind die auf der Grundlage des Typenbegrifis entstandenen Einteilungen offenbare Übergangsformen: sie sind in Wahrheit deskriptive Klassifikationen in einer genetischen Form. Diese Form ist aber von außen hinzugebracht: sie stützt sich entweder, wie in der Chemie oder Sprachwissenschaft, auf hypothetische An- nahmen, oder, wie in der organischen Naturgeschichte, auf eine postu- lierte „ideale Entwicklung“, d. h. auf die Umwandlung von Abstrak- *) L. Agassiz, Essay on Classification. 1857. (Contributions to the natural history of the Unit. States of America. Vol. I.) Vgl. hierzu Reinh. Körner in meinen Fhilos. Stud. II, S. 19% £. Die Klassifikation, 59 tionsgebilden in wirkliche, aber einer transzendenten Welt angehörige Dinge. Das Merkmal einer wahren genetischen Klassifikation ist es jedoch, daß sie auseiner genetischen Erklärung der betreffenden Objekte hervorgeht. So setzt die genetische Einteilung der Kegel- schnitte vollständige Definitionen ihrer Entstehung voraus. Dagegen erklärt der chemische Typus ebensowenig die Entstehung einer Ver- bindung, wie die Abstraktion der Spirallinie die Blattstellung oder der Arttypus das Werden der organischen Arten begreiflich macht. Wohl aber enthält in allen diesen Fällen die äußerlich und zum Teil künstlich angewandte genetische Form einen Hinweis auf die wirkliche Entwicklung der Objekte, und eben darum bahnen die auf solche Weise entstandenen Einteilungen den wahren genetischen Systemen den Weg. Doch wird dem genetischen Prinzip keineswegs dadurch schon Genüge geleistet, daß man einfach jene ideale Bedeutung des Typus, wie sie in der vorangegangenen Periode der Naturgeschichte gültig gewesen, in eine reale umzuwandeln sucht, indem man einen hypothetischen Stammvater postuliert, aus dessen im Verlauf der Ver- erbung entstandenen Abänderungen allmählich die Variationen des Typus hervorgegangen seien. Wo dieser Annahme nicht der irgendwie durch die Beobachtung mindestens indirekt zu führende tatsächliche Nachweis zu folgen vermag, da bleibt der Fehler bestehen, daß an die Stelle der Rekonstruktion eine Konstruktion tritt. Der Typus behält in Wahrheit seine ideale Bedeutung, mit dem einzigen Unterschied, daß ihm nicht in einer vorbildlichen Welt, sondern in irgend einem un- zugänglichen Zeitraum der wirklichen Welt objektive Realität bei- gemessen wird. Immerhin ist auf diesem zuerst von der Darwinschen Theorie mit Erfolg eingeschlagenen Wege der Vorteil erreicht, daß die unhaltbare und mit der genetischen Auffassung im Widerspruch stehende Annahme einer durch leere Zwischenräume getrennten Entwicklungs- reihe beseitigt wird. Namentlich aber macht die Übertragung der Idee des Typus auf ein empirisch erreichbares Gebiet eine Prüfung möglich, durch welche die von Hypothesen überbrückten Lücken des genetischen Systems allmählich ausgefüllt werden. Auf diese Weise vollzieht sich in den systematischen Erfahrungs- wissenschaften der Übergang von der deskriptiven zur genetischen Klassifikation in der Regel durch ein Zwischenstadium, in dem an Stelle der allein zulässigen rekonstruktiven eine konstruktive Genese benützt wird, deren Anwendung in Wirklichkeit nur ein deskriptives System in genetischer Form zu stande bringt. Dem gegenüber bewahrt sich die Mathematik fortan die konstruktive Methode und mit ihr den 60 Allgemeine Methodenlehre. Vorteil, daß sie die nämlichen Objekte nach verschiedenen Prinzipien genetisch zu ordnen vermag. Dieser Vorzug ist aber nur die Folge eines Übelstandes, den auf diesem Gebiete das genetische Verfahren mit sich führt. Jede genetische Erklärung und Einteilung beleuchtet nämlich die zu untersuchenden Objekte nur von einer Seite und läßt zahlreiche andere, oft nicht minder wichtige Eigenschaften unbeachtet. Dies ist der Grund, weshalb hier, ebenso wie bei der Definition, eine auf die analytische Begriffsentwicklung gestützte Klassifikation als die vorzüglichere anerkannt werden muß. d. Die analytische Klassifikation. Die analytische Klassifikation, als die vollendetste Form der Gliederung eines Begriffs, gewährt zugleich den vollkommensten Ein- blick in die logischen Prinzipien der Klassifikation überhaupt. Be- zeichnen wir, zurückgehend auf die früher (S. 46) gegebene symbolische Form der analytischen Definition, mit M=F (a,b, c, u, v, w) irgend einen Allgemeinbegrifi, als dessen logische Variabeln v, v und w zu betrachten sind, so geht die Klasse M in eine unter ihr enthaltene Gattung M , diese in eine zugehörige Art M, über, wenn wir sukzessiv die geeigneten Variabeln durch konstante Elemente ersetzen. Wir erhalten so die im Verhältnis sukzessiver Unterordnung stehende Reihe: Klasse IM; ==, #.(0, b,.c, vn): Gattung M,=F(a,b,c, a, v, w), Art MM, — 2 (@,.b, 68, B.20), Individuum M, = F (a, b, c, o, ß, 7), welche Reihe selbstverständlich, je nach dem Bedürfnis der Einteilung, auch durch eine größere Zahl von Stufen verlaufen kann, ehe der In- dividualbegrifi erreicht wird. Immer aber ist dieser dann gegeben, wenn die sämtlichen logischen Variabeln durch Konstanten ersetzt sind. Jede Stufe dieser Reihe enthält nun mit Ausnahme der letzten eine Anzahl koordinierter Glieder, die gewonnen werden, indem man die zum Einteilungsgrund der betreffenden Stufe genommene logische Variable allmählich alle Werte annehmen läßt, deren sie überhaupt fähig ist. Die äußersten Grenzwerte bezeichnen dann den Umfang der Klasse, Gattung oder Art, und die koordinierten Glieder werden er- halten, wenn man die den Einteilungsgrund abgebende Variable suk- zessiv zwischen engeren Grenzen veränderlich annimmt oder ihr auch Die Klassifikation, 61 gewisse ausgezeichnete konstante Werte anweist, so aber, daß diese Einzelwerte sämtlich zusammen wieder den Umfang der Variabeln vollständig erschöpfen. Angenommen also, in der oben symbolisch aus- gedrückten Gattung M, erweise sich der Einteilungsgrund u als ver- änderlich zwischen den Grenzen a, und a,; außerdem mögen 4,, &, » - - &..ı Grenzen bezeichnen, die sich als angemessen für die Trennung der koordinierten Glieder aus der Konstitution des Begrifis ergeben, so wird das ganze Verfahren der analytischen Einteilung symbolisch aus- gedrückt werden durch die Gleichung M I ar m TE AU ee m er N ö as SEN ; Inte a ’ ee ee ” 1 Hr URN. ’ )» worin der Kürze halber die konstanten Elemente a, b, ce durch A und die Variablen w, v, w durch U bezeichnet sind. Das Hauptgebiet der Anwendungen der analytischen Klassi- fikation ist das der mathematischen Analysis. Die Definition eines Begrifis wird hier in der Form einer Gleichung gegeben, welche den Vorteil bietet, den Begriff nicht nur zureichend abzugrenzen, sondern auch erschöpfend zu bestimmen, so daß aus ihr alle seine Eigenschaften entwickelt werden können. Zu diesen Eigenschaften gehört auch die Gliederung in Unterbegriffe. Sie verwirklicht sich in einer Reihe spezieller Gleichungen, die aus der zuvor aufgestellten allgemeinen als deren einzelne Fälle hervorgehen. Zu ihrer Ableitung bedarf es zunächst der Auffindung der logischen Variabeln, welche ihrer Natur nach stets unter den algebraischen Konstanten der Gleichung zu wählen sind, da nur diese allgemein solche Werte bezeichnen, die in dem Begriff auch dann konstant bleiben, wenn er sich auf ein individuelles Objekt be- zieht. Die algebraischen Variabeln dagegen haben die Eigenschaft, noch für die Individualbegriffe variabel zu bleiben, in denen logische Variabeln gar nicht mehr vorkommen können. Nachdem nun zum Zweck der analytischen Klassifikation die logischen Variabeln einer allgemeinen Gleichung bestimmt und deren einzelne Spezialwerte in diese eingeführt sind, können sich Transformationen und Ver- einfachungen der allgemeinen Gleichung ergeben, durch welche die Spezialgleichungen voneinander abweichende Formen annehmen. Geben wir z. B. der allgemeinen Gleichung eines Kegelschnitts die Form = Bart vr, 63 Allgemeine Methodenlehre. so lassen sich, wenn wir v als logische Variable wählen, die drei Haupt- fälle v—=—b, v—=0 und v—= --b5 unterscheiden, entsprechend den drei Hauptformen: Kreis und Ellipse Parabel Hyperbel y? = 2ax — ba? y?— 2ax y=2ax + br°. Ein Beispiel mit z wei Einteilungsgründen sei hier nur andeutend ausgeführt. Der analytische Begriff der homogenen ganzen Funktion läßt sich durch das logische Symbol ausdrücken F (p, m, n), worin p die Zahl der Konstanten, m den Grad der Funktionsgleichung und n die Zahl ihrer algebraischen Variabeln bezeichnen. Wählt man nun m und n, die nur ganze Zahlen sein können, als Einteilungsgründe, so gewinnt man für m—=1,—=2,... die Funktionen Iten, 2ten.... Grades, und innerhalb jeder dieser Klassen wieder durch Variierung von n die Funktionen mit 1,2,3... Variabeln. Die Größen m und n besitzen den Charakter erschöpfender Einteilungsgründe, da durch sie auch » bestimmt wird. Denn zwischen der Zahl p der Konstanten und jenen logischen Variabeln m und n besteht die Beziehung: nn.“ +D).r +23)... n m —D 2 a s Außerhalb der Mathematik kann zwar ebenfalls eine analytische Klassifikation erstrebt werden. Sie ist aber hier infolge der mangel- hafteren Form der analytischen Definitionen, an die sie sich in der wissenschaftlichen Anwendung anschließt, von geringerer Sicherheit, so daß ihr selbst auf den für sie geeigneten Begrifisgebieten nicht selten eine genetische Gliederung vorgezogen wird. (Vgl. S. 45£.) e. Die Zwei-, Drei- und Vierteilung. Die Zwei-, Drei- und Vierteilung haben sich, als die einfachsten äußeren Formen, in denen überhaupt ein Begriff eingeteilt werden kann, stets einer besonderen Bevorzugung zu erfreuen gehabt. Sie können in jeder der oben unterschiedenen Klassifikationsformen vor- kommen, sind aber doch weitaus am häufigsten bei der deskriptiven infolge der größeren Freiheit, mit der sich diese in der Wahl der Ein- teilungsgründe bewegt. Die Zweiteilung gründet sich auf den kontradiktorischen Gegensatz, insofern er als das logische Prinzip betrachtet werden kann, welches jeder Unterscheidung eines Begriffs von einem anderen Die Klassifikation. 63 Begriff zu Grunde liegt. (Bd. I, S.129fi.) Es zerfällt aber die Zwei- teilung wieder in zwei Formen, je nachdem der einem ersten Be- griff A gegenübergestellte andere Begriff non-A bloß negativ bestimmt bleibt, der ursprünglichen Bedeutung des kontradiktorischen Gegen- satzes entsprechend, oder ebenfalls positiv als ein gewisser Begriff B unterschieden wird, wo dann der kontradiktorische Gegensatz nur in- sofern noch Anwendung findet, als die Vollständigkeit der Einteilung verlangt, daß gleichzeitig B=non-A und A=non-B sei. Ein aus- gezeichneter Fall dieser positiven Dichotomie ist es, wenn A und B im Verhältnis des konträren Gegensatzes zueinander stehen. Hiernach unterscheiden wir drei Formen der Zweiteilung: 1) Die Dichotomie nach dem kontradiktorischen Gegensatze, 2) die Dichotomie der einfachen Unterscheidung und 3) die Dichotomie nach dem konträren Gegensatze. Unter ihnen ist die erste die un- vollkommenste, obgleich sie sich großer Beliebtheit deshalb erfreut, weil sie den Vorteil hat immer vollständig zu sein. Dieser Vorteil wird aber durch den Nachteil erkauft, daß das eine Glied der Einteilung nur negativ bestimmt ist. Denkt man sich daher eine ganze Klassi- fikation nach diesem Prinzip durchgeführt, so gewinnt man schließlich für die Hälfte der Glieder des Systems bloß negative Definitionen. Auch leistet diese Form insofern der Willkür Vorschub, als es für die logische Vollständigkeit der Gliederung ganz gleichgültig ist, welcher Art das Merkmal A ist, nach dem man irgend ein Gebiet in A und non-A trennt. Ein Beispiel dieser Klassifikationsform bietet Ehrenbergs zoologisches System. Es scheidet in Wirbeltiere und Wirbellose, die ersteren in Junge nährende und nicht nährende, die letzteren in Tiere mit Herz und ohne Herz, die Wirbellosen mit Herz in gegliederte und nicht gegliederte, die Tiere ohne Herz in solche mit geteiltem Darm und nicht geteiltem Darm*). Ferner eine Klassifikation der Sprachen von Steinthal. Sie unterscheidet Formsprachen und formlose Spra- chen; jene zerfallen in solche mit und ohne Scheidung von Nomen und Verbum, diese in solche mit und ohne Kategorien**). Häufiger noch sind die Diehotomien der einfachen Unterscheidung. Sie pflegen nament- lich Hauptgliederungen von Systemen zu bilden, weil man bei diesen sich vorzugsweise der Einfachheit befleißigt. Hierher gehören die Ein- teilungen der Organismen in Pflanzen und Tiere, der Pflanzen in Thallo- phyten und Cormophyten, der Urteile in kategorische und hypo- thetische, der Seelenvermögen in Vorstellen und Begehren, des Seienden *) Carus, Geschichte der Zoologie, $S. 671. **) Steinthal, Die Klassifikation der Sprachen. 1850. 64 Allgemeine Methodenlehre. in Stoff und Form u. s. w. Ihnen nahe stehen die Dichotomien nach dem konträren Gegensatz, wie Kälte und Wärme, Tag und Nacht, männliches und weibliches Geschlecht. Zur Klassifikation sind diese minder brauchbar, weil der konträre Gegensatz zuweilen Zwischen- formen gestattet, so daß hier von vornherein die Einteilung an dem Fehler der Unvollständigkeit leidet. Aus diesem Grunde geht denn auch die Dreiteilung nicht selten aus der Dichotomie des konträren Gegensatzes hervor, indem man die zwischen den Endgliedern einer Begrifisreihe gelegenen Über- gänge unter einem gemeinsamen Begriff zusammenfaßt. So liegt zwischen dem Guten und Bösen das Indifferente, zwischen dem Er- habenen und Niedrigen das einfach Schöne, oder man verlegt zwischen den Apriorismus und Empirismus den Kritizismus, zwischen den Materialismus und Spiritualismus einen unbestimmten Monismus. Auch aus der Dichotomie nach einfacher Unterscheidung kann auf ähnliche Weise eine Trichotomie werden. So hat man neben den Pflanzen und Tieren die Protisten als Zwischenwesen unterschieden, zwischen die . Gesetzesübertretung und das Verbrechen das Vergehen als eine weitere Gradabstufung eingeschaltet. Hegels dialektische Methode endlich besteht in Trichotomien, die auf Zweiteilungen nach kontradiktorischem Gegensatze gegründet sind. Dabei kann aber selbstverständlich der dritte Begriff nicht ein Mittelbegriff sein, sondern nur auf dem Weg der Synthese erzeugt werden, wie z. B. bei der Vereinigung des Seins und des Nichtseins zum Werden. Übrigens treten in der weiteren Aus- führung nicht selten an die Stelle der kontradiktorischen auch konträre Gegensätze und sogar einfache Unterscheidungen. Die Vierteilung pflegt aus der Kombination von zwei Dicho- tomien zu entstehen. So gewann die scholastische Logik eine Vier- teilung der Urteilsformen, indem sie einerseits bejahende und ver- neinende, anderseits allgemeine und besondere Urteile unterschied. Ein weiteres Beispiel einer Tetratomie nach konträren Gegensätzen bietet die Aristotelische Ableitung der vier Elemente, nach welcher Wasser das feuchte und kalte, Erde das trockene und kalte, Luft das feuchte und warme, Feuer das trockene und warme Element ist. So unanfechtbar auch in logischer Beziehung derartige Einteilungen sind, so gründen sie sich doch, wie diese Beispiele zeigen, auf oberflächliche und ungenügende Unterscheidungen; daher die künstlichen Tricho- tomien und Tetratomien in dem Maße verschwinden, als sich die Unter- suchung der Begriffe vertieft und das Streben nach sachgemäßer Ord- nung über das Wohlgefallen an äußerer Symmetrie den Sieg davonträgt. Der Beweis. 65 3. Der Beweis. a. Aligemeine Aufgaben des Beweisverfahrens. Als Beweisführung oder Demonstration bezeichnen wir die Darlegung der Gründe, durch welche die Wahrheit oder Wahr- scheinlichkeit eines gegebenen, einen realen Erkenntnisinhalt aus- sprechenden Urteils festgestellt wird. Die Aufgaben eines jeden Be- weisverfahrens bestehen daher erstens in der Aufsuchung der Prä- missen zu dem zu beweisenden Satze und zweitens in der Herstellung einer Schlußfolge aus jenen Prämissen. Der ersten dieser Aufgaben wird durch die HerbeischaffungdesBeweismaterials entsprochen, der zweiten durch de Ordnung der Beweis- gründeundden VollzugderSchlußfolgerung. Hiernach ist der Beweis diejenige systematische Form, welche unmittelbar den Forschungsmethoden der Induktion und De- duktion entspricht. Er hat wie diese den Schluß zu seiner Grund- form; er unterscheidet sich aber von ihnen dadurch, daß es sich bei ihm nicht erst um die Auffindung eines Satzes, sondern um die Nachweisung der Richtigkeit eines bereits gefundenen handelt. Es kann sich daher ein Beweis bald auf das engste an eine ihm zu Grunde liegende In- duktion oder Deduktion anschließen, bald sich mehr oder weniger weit von ihr entfernen, bald auch eine vorangegangene Induktion in eine Deduktion, oder sogar umgekehrt diese in eine induktive Form umwandeln. Mit Rücksicht auf seine systematische Bedeutung hat zugleich der Beweis im allgemeinen im Vergleich mit jenen Forschungs- methoden einen engerbegrenzten Zweck. Er bezieht sich auf die Wahrheit eines einzelnen Urteils, während sich Induktion und Deduktion über eine große Zahl von Urteilen erstrecken können, die aus gewissen miteinander im Zusammenhang stehenden Prämissen abgeleitet werden. Jede Beweisführung stützt sich schließlich auf irgendwelche Tat- sachen der Erfahrung. Diese Tatsachen können entweder durch die Abstraktion zu Sätzen verarbeitet sein, die sich auf die allgemeinen Formen der Anschauung beziehen und, weil sie sich fortwährend in der Anschauung bestätigt finden, den Charakter unmittelbarer an- schaulicher Gewißheit besitzen; oder sie können den konkreten Inhalt der Erfahrung zu ihrem Gegenstande haben. Demnach können wir überhaupt die tatsächlichen Grundlagen des Beweises in Tatsachen der reinen Anschauung und in empirische Tatsachen scheiden. Auf jenen beruht das Beweissystem der Mathematik, auf diesen das Beweisver- Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 5 66 Allgemeine Methodenlehre. fahren in den empirischen Wissenschaften und im praktischen Leben. Die beiden letzteren trennen sich aber wieder dadurch voneinander, daß die Erfahrungswissenschaft die einzelnen Erfahrungen, ehe sie dieselben zur Demonstration verwertet, durch Abstraktion und Induk- tion zuallgemeingültigen Erfahrungssätzen zu er- heben sucht, während das praktische Beweisverfahren, wie es z. B. zum Behuf der Rechtsprechung geübt wird, unmittelbar die einzelnen Tatsachen selbst als Prämissen benützt. Im letzteren Fall hat der Beweis stets die Form eines Induktionsbeweises, und es fehlt ihm, dem logischen Charakter der Induktionsschlüsse entsprechend, im allgemeinen die unbedingt zwingende Kraft, so daß dem Endurteil immer nur eine mehr oder minder große Wahrscheinlich- keit zugestanden werden kann, die aber freilich unter Umständen für die Zwecke des praktischen Lebens der Gewißheit gleichzuachten ist. Übrigens pflegen in derartigen Fällen auch solche Formen der Be- gründung eines Urteils als Beweise bezeichnet zu werden, die diesen Namen streng genommen nicht verdienen. So ist in dem richterlichen Verfahren zwar der Indizienbeweis ein echter Induktions- beweis, dagegen kann der sogenannte Zeugenbeweis, sofern es sich bei ihm um die unmittelbare Bezeugung der in Frage stehenden Tatsachen handelt, nicht zu den logischen Beweisverfahren gerechnet werden, da das Urteil nicht aus anderen Beobachtungen erschlossen wird, sondern ein Ausdruck der Beobachtung selbst ist. In den theoretischen Erfahrungswissenschaften gehen außer den Tatsachen der Erfahrung und den durch Abstraktion und Induktion aus ihnen gewonnenen Sätzen nicht selten noch hypothetische Voraussetzungen in die Prämissen der Beweise ein. Dies er- eignet sich in der Physik z. B. bei jenen Beweisführungen, die auf be- stimmte Anschauungen über die Konstitution der Materie oder auf die Annahme gewisser elementarer Gesetzg derselben gegründet sind. Von hier aus hat die Aufstellung hypothetischer, absichtlich den Tatsachen der Anschauung irgendwie widerstreitender Definitionen auch in die Mathematik Aufnahme gefunden. Selbstverständlich haben dann aber die Beweisresultate ebenfalls so lange nur einen hypothetischen Wert, als sich nicht etwa aus den Folgerungen die Zulässigkeit der Hypothesen ergibt. Die Prämissen des Beweisverfahrens in den theoretischen Wissenschaften, deDefinitionen,AxıomeundTheoreme, sind bei der Deduktion bereits besprochen worden (S. 33 ff.). Sie werden bei der Verbindung der Beweise zu einem deduktiven System in der Der Beweis, 67 durch ihre logische Abhängigkeit bestimmten Ordnung aneinander gereiht. Namentlich in der Mathematik ist diese Ordnung strenge aus- gebildet. Fundamentale Lehrsätze sind hier solche, die direkt aus evidenten Axiomen bewiesen werden. Abgeleitete Lehrsätze bedürfen anderer bereits erwiesener Theoreme zu ihrer Begründung. Ein Korollarsatz endlich ist ein solcher, der aus einem bestimmten schon bewiesenen Lehrsatze durch bloße Trans- formation desselben gewonnen werden kann. So gehören in dem Beweis- system Euklids die Sätze über die Kongruenz der Dreiecke zu den Fundamentalsätzen; dagegen sind die Sätze über den Flächeninhalt der Parallelogramme und die Gleichheit der gegenüberliegenden Winkel in ihnen abgeleitete Lehrsätze. Endlich der Satz, daß Parallelen zwischen Parallelen gleich lang sind, ist ein Korollar zu dem Lehrsatze, daß in jedem Parallelogramm die gegenüberliegenden Seiten von gleicher Größe sind. In den theoretischen Erfahrungswissenschaften behält das Beweis- verfahren im allgemeinen diesen Charakter. Es gestaltet sich aber mannigfaltiger infolge des verschiedenartigeren Ursprungs seiner Prä- missen. Einerseits können, namentlich in der theoretischen Physik, rein mathematische Axiome und Theoreme herbeigezogen werden, da ja die allgemeinen Gesetze der Anschauung auch für jede einzelne Er- fahrung gültig sind ; anderseits treten dazu, dem spezifischen Erfahrungs- inhalte entsprechend, Verallgemeinerungen aus der Erfahrung und hypothetische Voraussetzungen, die beide völlig gleichwertig den Axiomen und Definitionen im mathematischen Beweisverfahren be- handelt werden. Weil übrigens die an die Stelle der Axiome getretenen allgemeinen Erfahrungssätze häufig nicht ohne weiteres durch einen bloßen Hinweis auf die Wahrnehmung als gewiß gelten können, so tritt zugleich der Induktionsbeweis als ein wichtiges Ergänzungsglied ein. Je mehr in einer Disziplin die konkrete Erfahrung über die allgemeinen Voraussetzungen und infolgedessen die empirische über die mathe- matische oder spekulative Betrachtung überwiegt, einen umso breiteren Raum nimmt der Induktionsbeweis ein, bis dieser endlich in allen den Fällen der konkreten wissenschaftlichen Untersuchung oder des prak- tischen Lebens, wo es sich nicht um die Gewinnung allgemeiner Sätze, sondern um den Nachweis von Tatsachen handelt, die nicht direkt be- obachtet, sondern bloß erschlossen worden sind, als der allein mögliche zurückbleibt. Obgleich der Beweis die Induktion und Deduktion zu seinen Zwecken verwertet und außer ihnen keine anderen Hilfsmittel zur Verfügung hat, so unterscheidet er sich doch von diesen Unter- 68 Allgemeine Methodenlehre. suchungsmethoden, wie schon oben bemerkt, durch den Umstand, daß der zu beweisende Satz oder die zu beweisende Tatsache bereits vor dem Antritt des Beweises gegeben ist. Nicht selten befolgt darum auch noch heute diejenige Wissenschaft, in der die Kunst des Beweises zur höchsten Ausbildung gelangt ist, die Mathematik, die Euklidische Regel, den zu demonstrierenden Lehrsatz dem Beweise voranzustellen, damit der Zweck des letzteren von Anfang an im Auge behalten werde. Die Art und der Grad der Erkenntnis eines Demonstrandum können übrigens wieder auf das mannigfachste variieren, von der bloßen Ver- mutung an bis zur sicheren, durch unmittelbare Erfahrung oder die vorangegangene Untersuchung festgestellten Überzeugung. Darum kann nun auch der Zweck des Beweises entweder darin bestehen, eine noch unsichere Annahme zur Gewißheit zu erheben, manchmal auch einem erst in beschränkterem Umfange nachgewiesenen Satz die All- gemeingültigkeit zu sichern, oder er kann sich darauf beschränken, die Resultate einer zuvor abgeschlossenen Untersuchung in die Beweis- form zu ordnen, und im zweiten Fall wird sich dann selbstverständlich der Beweis mehr oder weniger innig an die Untersuchung anschließen. Selten aber wird er sich auf eine bloße Reproduktion der Untersuchung beschränken dürfen. Denn für allgemeine Wahrheiten wie für einzelne nicht direkt beobachtete Tatsachen pflegen sich nur durch einen beson- ders günstigen Zufall die Beweisgründe schon der Untersuchung in der zweckmäßigsten Reihenfolge und Verbindung darzubieten. Erst die Ordnung des Beweismaterials hat ihnen diese für die Schlußfolge an- gemessenste Verbindung zu geben. Ein augenfälliges Zeugnis für diese selbständige Aufgabe des Beweisverfahrens liegt darin, daß es Beweis- formen gibt, denen keine bestimmten Untersuchungsmethoden ent- sprechen, ebenso wie sich anderseits nicht alle Bestandteile einer Unter- suchung in die Beweisform umprägen lassen. Die Mathematik kennt zahlreiche Sätze von axiomatischem Charakter, die ohne eine eigent- liche Untersuchung feststehen, weil sie unmittelbar in der Anschauung gegeben sind. Gleichwohl kann man in solchen Fällen den Versuch machen, durch einen Beweis den notwendigen logischen Zusammen- hang derartiger Sätze mit den allgemeinen Gesetzen unserer Anschauung darzutun. Die Beweise pflegen dann die apagogische Form anzunehmen, eine Form, der keine spezifische Untersuchungsmethode korrespondiert. Auf der anderen Seite bleiben alle wissenschaftlichen Aufgaben, die ent- weder der Gewinnung zu beweisender Lehrsätze vorangehen oder sich an bewiesene Sätze als deren Anwendungen anschließen, der eigent- lichen Untersuchung vorbehalten. Indem solche Aufgaben die An- Der Beweis. 69 wendung konstruktiver und experimenteller Verfahrungsweisen not- wendig machen, setzen sie ein Maß erfinderischer Tätigkeit voraus, welches über die bloße Herbeischaffung von Beweismaterial hinausgeht, da es dieses vielmehr erst hervorbringt. Charakteristisch ist darum die Stellung, die schon in Euklids Beweissystem das Problem gegen- über dm Theorem einnimmt. Teils gehen hier Probleme und ihre Lösungen den Lehrsätzen eines bestimmten Gebietes voran, teils folgen sie ihnen nach. In den Aufgaben der ersten Art sind die Resultate der Untersuchungen fixiert, welche die Gewinnung der zu beweisenden Theoreme vorbereiten; die Aufgaben der zweiten Art zeigen die An- wendungen, welche die Lehrsätze auf die einzelne Untersuchung zu- lassen. Nun kann zwar, wie es bei Euklid in der Tat geschieht, der Nach- weis, daß die in der Aufgabe liegende Konstruktion richtig ausgeführt wurde, wieder durch eine Demonstration geführt werden. Doch die Lösung des Problems muß vor dieser Demonstration geschehen, und sie ist der eigentliche Gegenstand der Untersuchung. Sie aber liefert für die Beweise der nachfolgenden Lehrsätze das Material, weil bei ihnen die zur Lösung der Aufgaben angewandten Konstruktionsmethoden wieder zur Anwendung kommen. Aus diesem Verhältnis zur vorangegangenen Untersuchung er- geben sich zugleich die Gesichtspunkte für die Unterscheidung der Beweisformen. Ist nämlich durch die Untersuchung ein Beweis- material geschaffen worden, aus welchem der zu beweisende Satz unmittelbar abgeleitet werden kann, so wird das direkte Beweis-. verfahren gewählt, das in der einfachen Anwendung der Schluß- normen auf die durch die Untersuchung gewonnenen Erkenntnis- gründe besteht. Vermag dagegen die Untersuchung ein solches Be- weismaterial nicht zu schaffen, sondern nur die Überzeugung zu erwecken, daß andere Sätze, die an Stelle des zu beweisenden postuliert werden könnten, aus bestimmten Gründen nicht zulässig sind, so wird einindirektes Beweisverfahren erforderlich, dessen bin- dende Kraft lediglich auf der Beseitigung der etwa möglichen anderen Annahmen beruht. b. Die direkten Beweisformen. Da sich das direkte Beweisverfahren unmittelbar an eine voran- gegangene Untersuchung anschließt, deren Resultate es als Beweis- gründe verwertet, so richten sich nach den Hauptformen der Unter- suchung auch die Hauptformen des direkten Beweises. Dieser wird 70 Allgemeine Methodenlehre, entweder deduktiv oder induktiv geführt, wobei hier die deduktive Beweisform als die strengere und deshalb in der Regel be- vorzugte voranzustellen ist. Sie zerfällt in mehrere Unterformen, die charakteristische logische Unterschiede darbieten. Unter ihnen schließt sich drsynthetischeDeduktions- beweis am nächsten an die Form des Subsumtionsschlusses an. Er ist es daher, der sich überall da, wo aus gegebenen allgemeinen Sätzen ein einzelnes Urteil oder ein allgemeiner Satz von beschränkterer Be- deutung als spezielle Folge abgeleitet werden soll, als die geeignetste Form darbietet. Der überwiegende Wert, den die antike Logik auf den Subsumtionsschluß legte, hat dieser Beweisform lange Zeit ein Über- gewicht über alle anderen gesichert. Das Euklidische Beweissystem stützt sich darum vorzugsweise auf sie. Ihre Anwendung führt hier zu jener regelmäßigen Anordnung der einzelnen Sätze, wie sie sich zu er- kennen gibt in der vorläufigen Aufzählung der Definitionen und Axiome, in der Voranstellung der fundamentalen vor den abgeleiteten Lehr- sätzen, der Konstruktionsaufgaben vor den sie verwertenden Theo- remen. In der strengen logischen Ordnung der Beweisgründe und der abgeleiteten Sätze besteht der Vorzug dieses Verfahrens, sein Nach- tell in dem Umstande, daß namentlich in verwickelteren Fällen der Zusammenhang eines Theorems mit seinen Beweisgründen zwar nach der Führung des Beweises vollkommen deutlich ist, daß aber der Weg, auf dem man zur Auffindung der Beweisgründe gelangte, durchaus dunkel bleibt, so daß diese Auffindung wie eine zufällige Entdeckung erscheinen kann. Wenn z. B. Euklid durch die Ziehung von Hilfs- linien den Pythagoreischen Lehrsatz auf den einfacheren Satz zurück- führt, daß ein Parallelogramm, das mit einem Dreieck die nämliche Grundlinie hat und zwischen denselben Parallellinien liegt, den doppelten Flächeninhalt besitzt, so wird dadurch der zu beweisende Satz vollkommen evident; es ist aber nicht im geringsten deutlich, warum man zu den schließlich durch den Erfolg gerechtfertigten Hilfs- konstruktionen gelangen mußte. Darum kontrastiert bei diesem Be- weisverfahren mit der strengen logischen Anwendung der Beweis- ‚gründe die scheinbare Zufälligkeit ihrer Gewinnung. Ohne Zweifel liegt in diesem Nachteil der Grund, weshalb schon die Alten für gewisse Fälle an die Stelle des synthetischen ein ana- lytisches Beweisverfahren treten ließen, und dieses hat sich, ursprünglich nur ausnahmsweise zugelassen, allmählich auf den meisten Gebieten den Vorrang vor dem synthetischen zu erringen vermocht. Das überall zutreffende Kennzeichen des analytischen Be- Der Beweis, ‚ 71 weises besteht aber darin, daß derselbe den zu beweisenden Satz als feststehend annimmt, um aus ihm Folgerungen zu ziehen, durch deren Richtigkeit dann nachträglich seine Wahrheit verbürgt wird. Dieses Verfahren kann nun wieder in zwei verschiedenen Formen zur An- wendung kommen, die sich durch die Beschaffenheit der analytisch gewonnenen Folgerungen wesentlich unterscheiden. In dem einen Falle nämlich sind diese Folgerungen allgemeinere Sätze, entweder fundamentalere Theoreme oder Grundsätze, in dem anderen sind sie speziellere Sätze oder einzelne Tatsachen der Erfahrung. Wir wollen die erste als die kategorische, die zweite als die hypo- thetische Form des analytischen Beweises bezeichnen, mit Rück- sicht darauf, daß nur bei der ersten der Schlußfolgerung eine bindende Notwendigkeit zukommt, während dieselbe bei der zweiten bloß als eine mehr oder minder hypothetische betrachtet werden kann. Die alten Mathematiker haben unter diesen analytischen Beweis- methoden allein die kategorische gekannt. So beweist Euklid folgenden Satz sowohl auf analytischem wie auf synthetischem Wege: „Wenn eine Linie AB nach dem goldenen Schnitt geteilt ist (AB: AC = AC:CDB), und wenn der größere Teil AC um eine Strecke AD=—- AC verlängert wird, so ist die zusammengesetzte Linie BD eben- falls nach dem goldenen Schnitt geteilt (BD:BA=BA:AD).“ Der analytische Beweis nimmt die letztere Proposition als zugestanden an. Es ist dann, dd AD= ACiıst, auch BD:BA=BA:4C. Wenn aber die größeren Stücke zweier Linien den ganzen proportioniert sind, so müssen es auch die kleineren Stücke sein, also BD:AD —=BA:BC; und da ferner, wenn verbundene Größen proportional sind, auch die getrennten proportional sein müssen und umgekehrt, so folgt weiter BA:AD=A(C:BC, und daraus, dd AD=A(, BA:AC= AC: BC, was vorausgesetzt war. Der synthetische Beweis dagegen geht von dieser Voraussetzung aus, folgert zunächst BA: AD — 4C: BC, hieraus, unter Zuhilfenahme des oben angeführten Satzes von der Proportionalität verbundener und getrennter Größen, BD: AD — BA: BC, hieraus ferner mittels des Satzes von der Proportionalität der kleineren und größeren Stücke zu den ganzen Linien, BD: BA —BA:A4(C, und daraus endlich BD:BA=BA:AD, was zu beweisen war*). Dieses Beispiel zeigt deutlich, daß hier der analytische die reine Umkehrung des synthetischen Beweisganges ist. Die nämlichen Sätze wie bei diesem kommen auch bei jenem zur Anwendung, nur in um- *), Euklids Elemente XIII, 5. 72 Allgemeine Methodenlehre. gekehrter Reihenfolge. Demgemäß ist auch der Schluß in beiden Fällen in gleicher Weise bindend. Indem der analytische Beweis zeigt, daß der angenommene Satz auf gewisse andere bereits feststehende Sätze als seine Erkenntnisgründe zurückführt, kommt für ihn ebenso wie für den synthetischen das allgemeingültige logische Gesetz zur Anwendung: „Mit dem Grund ist die Folge gegeben.“ (Bd. I, S. 336 £.) Dies verhält sich anders bei der hypothetischen Form des analytischen Beweises. Hier wird der zu erweisende Satz zunächst hypothetisch angenommen, um aus ihm nicht die ihn bedingenden Erkenntnisgründe, sondern die einzelnen Folgen abzuleiten, die unter Voraussetzung seiner Gültigkeit eintreten müssen. Die Bestätigung dieser Folgen durch die Erfahrung oder auf dem Wege eines ander- weitigen Beweisverfahrens liefert dann die Bestätigung der Hypothese. Hier ist nicht der Satz maßgebend: „mit dem Grund ist die Folge gegeben“, sondern dessen Ergänzung: „mit der Folge ist der Grund aufgehoben“. Nach diesem Satze kann aber, wie schon bei Erörte- rung des allgemeinen logischen Verhältnisses von Grund und Folge erwähnt wurde, aus dem Eintreffen gewisser Folgen zu einem hypo- thetisch vorausgesetzten Grunde immer nur geschlossen werden, daß die betreffenden Folgen aus diesem Grunde erklärt werden können, nicht aber, daß sie notwendig aus demselben erklärt werden müssen. (Bd. I, 229 £., 561f£.) Es kann daher die Wahrscheinlichkeit eines auf solchem Wege erwiesenen Satzes nur dadurch allmählich der Gewiß- heit genähert werden, daß man erstens möglichst viele tatsächlich zu bestätigende Folgen abzuleiten sucht, die auf einen und denselben Grund hinweisen, und daß man zweitens zeigt, daß andere Gründe, die denkbarerweise die nämlichen Folgen hervorbringen könnten, nicht statthaft sind. Der erste dieser Wege ist im allgemeinen in den em- pirischen Wissenschaften, der zweite in den mathematischen Disziplinen der gebotene. In allen diesen Beziehungen steht aber der hypothetische Deduktionsbeweis mit dem nachher zu besprechenden Induktions- beweis auf gleichem Boden. In der Tat pflegt er auch am häufigsten durch die einfache Umkehrung des letzteren zu entstehen. Es ist ganz besonders das Gebiet der physikalischen Erfahrung, das zur Änwendung des hypothetischen Beweisverfahrens Veran- lassung bietet. Nachdem durch Induktion ein bestimmtes Gesetz gefunden ist, wird der Beweis für dasselbe analytisch geführt, indem man es als gültig voraussetzt und zeigt, daß die aus ihm abgeleiteten Folgerungen mit der Erfahrung übereinstimmen. Nicht selten aber zeigt bereits die Untersuchung dem Beweis diesen analytisch-hypo- Der Beweis. 73 thetischen Weg, indem sie von irgend einer vermuteten gesetzmäßigen Beziehung ausgeht, welche durch bestimmte Beobachtungen oder experimentelle Erfahrungen bestätigt werden. Gerade in solchen Fällen pflegen wir darum auf die Untersuchung selbst schon den Namen eines Beweisverfahrens anzuwenden. So bewies Newton, daß die Er- scheinungen der Ebbe und Flut von der Schweranziehung des Mondes und der Sonne bedingt sind, indem er zeigte, daß die Beobachtungen dieser Erscheinungen mit der gemachten Voraussetzung übereinstimmen. So bewies Cavendish, daß schwere Körper einander anziehen, indem er die Ablenkung kleiner, an einer Drehwage befestigter Bleikugeln durch eine in die Nähe gebrachte größere Bleimasse feststellte. In allen diesen Fällen, wo der Gang des Beweises mit dem der Unter- suchung zusammenfällt, handelt es sich um Beispiele des analytisch- hypothetischen Beweisganges. Im Gebiete der Mathematik und ihrer Anwendungen hat die analytische Beweismethode in ihren beiden Formen ein mächtiges Hilfsmittel an der algebraischen Symbolik gefunden. Dem analytischen Verfahren kommt diese Symbolik deshalb mehr als dem synthetischen zu statten, weil sie es möglich macht, nicht nur irgend ein Gesetz, das entweder hypothetisch angenommen wird oder aus anderweitigen Be- trachtungen gewonnen ist, symbolisch auszudrücken, sondern auch durch bestimmte allgemein zulässige Operationen aus demselben andere Sätze abzuleiten, die nun entweder allgemeine Erkenntnisgründe oder spezielle Folgerungen zu dem zuerst aufgestellten Gesetze sein können. Aus der Fülle der Beispiele, welche die reine Mathematik und mathe- matische Physik hier darbieten, mag ein dem letzteren Gebiet an- gehöriges genügen, welches sich der zuletzt erörterten Form der hypo- thetischen Beweisführung anschließt. Die mechanische Wärmetheorie nimmt an, daß in den gasförmigen Körpern die Moleküle in fort- währenden geradlinigen Bewegungen begriffen seien, und daß jedes Molekül seine Bewegung in gleicher Richtung so lange fortsetze, bis ein Stoß gegen die Gefäßwand oder gegen ein anderes Molekül die Richtung der Bewegung ändere. Diese Annahme wird bewiesen, indem man die aus ihr sich ergebenden Folgerungen ableitet. Zu diesem Zweck muß zunächst der vorausgesetzte Bewegungszustand präziser formuliert werden. Man denkt sich demgemäß ein Gas, von dessen Teilchen jedes eine Masse m und eine mittlere Geschwindigkeit u besitzt, in ein würfel- förmiges Gefäß von der Seitenlänge a eingeschlossen. Man denkt sich ferner die Bewegungsrichtungen der Moleküle nach drei zueinander rechtwinkligen Komponenten zerlegt und gestattet sich die verein- 74 Allgemeine Methodenlehre, fachende Hypothese, daß die Bewegungen gleichförmig nach diesen Richtungen verteilt seien, daß also, wenn n die Gesamtzahl der Moleküle, n =2 jedes Teilchen je — sich parallel der x-, y- und z-Achse bewegen. Offenbar muß dann u 2% stoßen, und bei jedem Stoß wird die Masse m eine Geschwindigkeit « verlieren und wiedergewinnen, so daß die der Masse m durch die Wand erteilte Geschwindigkeit dem Betrag 2u gleichkommt. Da aber dies mu? mal in der Sekunde gegen eine Wand des Würfels —_ mal in der Zeiteinheit geschieht, so ist die Kraft, mit welcher 2a a die Gefäßwand auf das stoßende Molekül reagiert. Demnach kommt 2 auf jede einzelne Würfelfläche ein Druck von der Größe = ß = i welche Größe durch a? dividiert den auf der Flächeneinheit ruhenden Gasdruck n mu? 3 nmu? ae eye: ergibt, worin beiderseits mit 2 dividiert und a? —v gesetzt ist, indem unter vo der Voluminhalt des Würfels verstanden wird. Will man nun dieses Gesetz, welches die lebendige Kraft der fortschreitenden Be- nmu? wegung aller in einem geschlossenen Raum enthaltenen Gas- moleküle ausdrückt, mit der Erfahrung vergleichen, so bieten sich hierzu die von Boyle und von Gay-Lussac gefundenen empirischen Gesetze dar. Nach dem ersteren verhält sich bei gleichbleibender Tem- peratur das Volum eines Gases umgekehrt wie der Druck, unter dem es steht, nach dem zweiten wächst der Druck bei gleichbleibendem Volum proportional der absoluten Temperatur*). Beide Gesetze lassen sich daher zusammen durch die Gleichung ausdrücken pvy=T. Konst, wenn man mit T die absolute Temperatur bezeichnet. Hieraus folgt durch Vergleichung mit der vorhin theoretisch abgeleiteten Gleichung: *) Nach Gay-Lussacs Versuchen wächst nämlich der Druck eines Gases bei dessen Erwärmung für jeden Grad der 100-teiligen Thermometer- 1 skala um 373 des Wertes, den er bei 0° beträgt. Ebenso sinkt er selbst- 1 verständlich bei der Abkühlung für jeden Grad um 913" Bei — 273° C, würde demnach der Druck gleich Null geworden sein; die Entfernung von diesem Nullpunkte gilt daher als die absolute Temperatur. Der Beweis. 75 nmu? 2 == 17, Konst: D. h. die Summe der lebendigen Kräfte der Gasmoleküle ist propor- tional der absoluten Temperatur, eine Folgerung, die durchaus mit der über den Bewegungszustand der Gasmoleküle gemachten Voraussetzung im Einklang steht. Denn da ein Gas, das auf den Nullpunkt der ab- soluten Temperatur abgekühlt werden könnte, keinen Druck auf die umschließenden Wände mehr ausübte, so würde bei dem nämlichen Punkte auch die lebendige Kraft der Gasmoleküle null sein, und die- selbe wird darum von hier an proportional der Größe der absoluten Temperatur zunehmen*). Im Unterschiede von den bisher besprochenen deduktiven Beweis- formen sucht nun der Induktionsbeweis die Wahrheit eines Satzes durch den Hinweis auf die einzelnen Tatsachen darzutun, die ihn als ihren Erkenntnisgrund fordern. Hierbei kann das Urteil, dessen Wahr- heit bewiesen werden soll, entweder die Bedeutung eines allgemeinen Theorems besitzen, oder es kann selbst nur eine einzelne Tatsache ent- halten. Beide Fälle können als der theoretische und als der praktischelnduktionsbeweis unterschieden werden. Der erstere findet überall da seine Anwendung, wo ein Lehr- satz, der zur Ableitung einer Reihe einzelner Tatsachen dient, selbst nicht direkt aus anderen Lehrsätzen oder aus axiomatischen Wahr- heiten abgeleitet werden kann. Schon die Mathematik bedient sich daher des Induktionsbeweises vorzugsweise, um die Wahrheit der Axiome selbst oder solcher Sätze, die ihnen sehr nahe stehen, dar- zutun. Der Satz z. B., daß die Multiplikation zweier Zahlen a und 5 dasselbe Produkt ergibt, in welcher Richtung man sie auch vornimmt, daß also a.b=b.a ist, kann nur bewiesen werden, indem man seine Richtigkeit an einzelnen Zahlenbeispielen nachweist. Von hier aus kann der nämliche Satz dann auf eine beliebige Menge von Zahlen aus- gedehnt werden, indem man an mehreren herausgegriffenen Beispielen zeigt, daß er für die Produkte von je zwei, drei oder mehr Zahlen gültig ist**). Wie hier, so beruht überhaupt in solchen Fällen, in denen sich der Induktionsbeweis nicht bloß auf die Anschauung beruft, sondern *) Die genauere mathematische Ausführung des obigen Beweises vgl. bei Clausius, Abhandlungen über die mechanische Wärmetheorie, Bd. II, 1867. S. 247 ft. A *) Dirichlet, Vorlesungen über Zahlentheorie, 2. Aufl, 8. 2 f. 76 Allgemeine Methodenlehre. auf Axiome oder bereits bewiesene Sätze zurückgeht, die Führung desselben auf der Hervorhebung eines oder mehrerer charakteristischer Beispiele, an denen die Triftigkeit des zu beweisenden Satzes nach- gewiesen wird. Es kann dann unter Umständen das Induktionsver- fahren nur in der Sammlung dieser Beispiele bestehen, während bei jedem der letzteren ein deduktiver Beweis zur Anwendung kommt. So beweist Euklid den Satz, daß der Mittelpunktswinkel im Kreis doppelt so groß ist als der zugehörige Peripheriewinkel, indem er zwei extreme Fälle herausnimmt und nachweist, daß er für diese richtig ist*). Weit ausgedehnter noch ist die Anwendung des Induktionsbeweises auf empirischem Gebiet, entsprechend der starken Beteiligung des Induktionsverfahrens an den Untersuchungsmethoden der Erfahrungs- wissenschaften. So kann das Gesetz, daß sich die Winkelgeschwindig- keit, mit der sich die Erde in jedem Teil ihrer Bahn um die Sonne bewegt, umgekehrt verhält wie das Quadrat der Entfernung beider Weltkörper, induktiv bewiesen werden aus parallelgehenden Ver- gleichungen einerseits der Entfernungen und anderseits der täglichen Winkelgeschwindigkeiten zu verschiedenen Jahreszeiten. Die Ent- fernungen am 1. Januar und 1. Juli verhalten sich z. B. wie 18910 zu 19556, die täglichen Winkelgeschwindigkeiten an den nämlichen Tagen wie 1,0695 zu 1. Dies ist aber das umgekehrte Verhältnis der Quadrate der erstgenannten Zahlen. Den Satz, daß der Kohlenstoff ein vier- wertiges Element sei, sucht man zu beweisen, indem man an einer Anzahl einzelner Kohlenstofiverbindungen zeigt, daß seine Affinität dann durch freie Affinitäten anderer Elemente oder ungesättigter Ver- bindungen gesättigt wird, wenn sie den freien Affinitäten von vier Atomen Wasserstoff, des zum gemeinsamen Maß der Affinitätsgröße genommenen Elementes, äquivalent ist. Auch in diesen Fällen wird der Induktionsbeweis durch Beispiele geführt. In der Zahl der heraus- gegriffenen Beispiele kann man sich aber umsomehr beschränken, von je strengerer Gesetzmäßigkeit die Erscheinungen sind, auf die sich jene beziehen. So genügen nötigenfalls zwei korrespondierende Ent- fernungen und Geschwindigkeiten, um das Newtonsche Gesetz zu be- weisen, während für die Vierwertigkeit des Kohlenstoffs eine sehr große Zahl von Beispielen angeführt werden muß, wenn sie auch nur annähernd als festgestellt gelten soll. Häufiger als der reine Induktionsbeweis kommt auf einer etwas fortgeschrittenen Stufe der Naturerklärung ein gemischtes Ver- *, Euklid IH, 20. x Der Beweis. 77 fahren zur Anwendung, indem entweder in den Gang des Induktions- beweises einzelne deduktive Beweismomente eingreifen oder sich an ihn anschließen. Zahlreiche Beispiele dieser Art enthält das Funda- mentalwerk der neueren Physik, Newtons Prinzipien der Naturphilo- sophie, welches, so strenge es in den geometrischen und abstrakt mechanischen Abschnitten die deduktive, und zwar vorzugsweise die synthetische Beweismethode einhält, dennoch in den eigentlich phy- sikalischen Teilen durchweg ein gemischtes Verfahren wählt. So beweist Newton den Satz, daß die Kräfte, durch welche die Planeten in ıhren Bahnen erhalten werden, nach der Sonne gerichtet und den Quadraten ihrer Abstände von ihr umgekehrt proportional sind, einerseits aus dem ersten und dritten der Keplerschen Gesetze, und anderseits aus den allgemeinen mechanischen Sätzen über die Zentripetalkräfte*). Nun sind aber die Keplerschen Gesetze Induktionen, während die Gesetze der Zentripetalkräfte in streng synthetischer Form aus der Definition derselben und den allgemeinen Grundsätzen der Mechanik abgeleitet sind; das ganze Beweisverfahren ist also ein gemischtes. Ebenso beweist Newton den Satz, daß der Mond durch die irdische Schwere von der geradlinigen Bewegung abgezogen und in seiner Bahn erhalten wird, einerseits aus den empirischen Ermittlungen über die Entfernung des Mondes von der Erde und über die siderische Umlaufs- zeit desselben, sowie aus der bekannten Fallgeschwindigkeit der irdischen Körper, anderseits aber aus der Voraussetzung der Gültigkeit des all- gemeinen Satzes, daß die Intensität der Schwere mit dem Quadrat der Entfernungen abnimmt**). Der ganze Beweisgang besitzt in diesen Fällen den Charakter einer synthetischen Deduktion. In dieser werden aber einzelne Induktionen teils zur Feststellung des numerischen Wertes der in die Voraussetzungen eingehenden Größen, teils zur Be- stätigung der Schlußfolgerungen verwendet. Derpraktischelnduktionsbeweis, welcher nicht der Feststellung allgemeiner Gesetze, sondern der Ableitung einzelner Tat- sachen aus anderen Tatsachen dient, kann ebenfalls auf theoretischem Gebiete vorkommen. Es findet dies jedesmal im Verlauf einer kon- kreten Untersuchung statt, sobald es sich darum handelt, die Wahrheit eines einzelnen Resultates der Beobachtung oder des Versuchs sicher- zustellen. Auf diese Weise bilden praktische Induktionsbeweise überall *) Prinzipien der mathematischen Naturphilosophie, Buch III, Abschn. I, Lehrsatz 2. **) Ebend. Lehrsatz 4. 78 Allgemeine Methodenlehre, die Hilfsmittel der theoretischen Induktion. Wenn z. B. der Akustiker auf objektivem Wege zeigen will, daß eine gegebene Stimmgabel die bestimmte der geforderten Tonhöhe entsprechende Schwingungsdauer besitze, so läßt er sie etwa ihre Schwingungen auf eine mit bekannter und gleichförmiger Geschwindigkeit rotierende Scheibe aufzeichnen. Oder wenn der Chemiker das Vorhandensein eines Eisensalzes in einer Flüssigkeit nachweisen will, so zeigt er, daß diese die sämtlichen einzelnen Reaktionen des Eisens darbietet. Durchaus den nämlichen Charakter besitzt der Induktionsbeweis auf praktischem Gebiete. Der Untersuchungsrichter, der den Tatbestand eines nicht direkt beobachteten Verbrechens feststellen soll, sucht zunächst die Beschaffenheit der Tat selbst zu ermitteln, sammelt dann die Indizien und Zeugenaussagen, die auf bestimmte Personen als die mutmaßlichen Täter oder Veranlasser der Handlung hinweisen, sucht den Aufenthalt der Verdächtigen vor, während und nach der Tat zu erkunden, prüft das sonstige Verhalten derselben, die Wahrscheinlichkeit ihrer Aussagen, die Widersprüche, in die sie sich verwickeln, u. s. w. Das Verfahren ist hier mit Rücksicht auf den logischen Charakter der Methode kein anderes, als es der Naturforscher oder der Historiker einschlägt, wenn beide eine nicht direkt beobachtete Tatsache durch die Benützung anderer, der Beobachtung zugänglicher Data beweisen wollen. Die verschiedene Vollständigkeit der zu Grunde liegenden Induktionen und die mehr oder weniger verwickelte Verket- tung der Ursachen begründen zwar große Unterschiede in der Sicher- heit, aber keine in der Art des Beweisverfahrens. e.Dieindirekten Beweisformen Der indirekte oder apagogische Beweis sucht die Wahrheit eines Satzes festzustellen, indem er die Unwahrheit aller derjenigen An- nahmen dartut, die an Stelle der zu beweisenden gemacht werden könnten. Der indirekte Beweis folgert also durch Ausschließung; seine syllogistische Grundform ist der modus tollendo ponens des disjunktiven Schlusses, und er stützt sich mit diesem auf das Axiom des ausgeschlossenen Dritten: A ist entweder B oder non-B (Bd. I, 8.339 f.). Da nun das in diesem Axiom nur negativ bezeichnete Glied in dem disjunktiven Urteil in verschiedener Weise positiv bestimmt sein kann, wobei nur jedesmal die Forderung gestellt ist, daß die Vollständig- keit der Disjunktion der in jenem kontradiktorischen Gegensatze ent- haltenen gleichkomme, so sind auch für den indirekten Beweis drei Der Beweis. 79 Hauptformen möglich, die den Hauptformen des disjunktiven Urteils entsprechen, und die wir als de disjunktive, diekon- träre und die kontradiktorische Form bezeichnen wollen. Gegenüber dem direkten Beweise und namentlich den deduktiven Arten desselben, mit denen er zunächst vergleichbar ist, leidet der in- direkte in allen seinen Formen an dem Nachteil, daß er die Wahrheit eines Urteils nicht aus dessen eigenen Erkenntnisgründen deutlich macht, da er auf den Inhalt des Begriffs selbst nicht eingeht. Dagegen hat er den Vorzug, daß er den Umfang dieses, den der direkte Beweis seinerseits unberücksichtigt läßt, untersucht, indem er alle die Wahrheit des zu beweisenden Satzes aufhebenden oder beschränkenden Gegen- aufstellungen beseitigt. Im allgemeinen wird daher zwar der direkte Beweis, wo er möglich ist, vor dem indirekten den Vorzug verdienen; unter Umständen aber kann es doch wünschenswert sein, den direkten durch einen indirekten Beweis zu ergänzen, um die Wahrheit des Urteils auf dem Wege der Ausschließung zu vollerer Evidenz zu bringen. Namentlich dann pflegt man diese Ergänzung oder selbst den Ersatz des direkten durch den indirekten Beweis zu wählen, wenn der erstere ein bloßer Induktionsbeweis ist und daher an sich der wünschenswerten Bündigkeit ermangelt. Derartige Fälle, in denen zugleich der indirekte zweifellos dem direkten Beweis überlegen ist, kommen teils auf mathe- matischem Gebiete, teils und hauptsächlich bei praktischen Induk- tionsbeweisen vor. So ist z. B. im strafrechtlichen Verfahren der Alibibeweis ein indirekter Beweis. Der Umstand, daß der Angeschuldigte im Augenblick der Tat an einem entfernten Orte gewesen ist, beweist sicherer als alle direkten Verteidigungsgründe, daß er nicht gleich- zeitig am Ort des Verbrechens selbst gewesen sein kann. Ein anderes Gebiet, für welches die indirekte Beweismethode bevorzugt zu werden pflegt, ist das der prinzipiellen, den axiomatischen Wahrheiten nahe- stehenden oder unmittelbar aus bestimmten Definitionen abzuleitenden Lehrsätze. In diesen Fällen ist häufig ein direkter Beweis überhaupt nicht möglich, und auch der indirekte hat mehr den Wert einer Verdeutlichung des in der unmittelbaren Anschauung oder in den Voraussetzungen bereits Gegebenen als den einer eigentlichen Argumentation. Endlich hat man noch die hauptsächlichste, manchmal sogar die allein berech- tigte Funktion des indirekten Beweises darin gesehen, daß er die Wahr- heit negativer Sätze feststelle*). Hieran ist aber nur dies richtig, daß negative Urteile auf anderem als auf indirektem Wege nicht be- *, Trendelenburg, Logische Untersuchungen, 2. Aufl., II, S. 396. 80 Allgemeine Methodenlehre. wiesen werden können, da ihre Beweisführung allein darin bestehen kann, daß das entgegenstehende positive Urteil als unzulässig dar- getan wird. Es ist aber nur die dritte, eben wegen dieser Eigenschaft verhältnismäßig wertloseste Form des indirekten Beweises, die kontra- diktorische, für die jene Behauptung zutrifft, wogegen die beiden ersten Formen sogar ausschließlich zum Zweck positiver Beweisführungen Anwendung finden. Die disjunktive Form des indirekten Beweises unterscheidet zunächst die verschiedenen Annahmen A, B,C...N, die in Bezug auf eine gegebene Frage gemacht werden können; sie zeigt dann, daß unter diesen Annahmen B, C, D...N nicht statthaft sind, und schließt hieraus, daß die allein übrig bleibende A die richtige sei. Die wesent- liche Bedingung der Gültigkeit eines solchen Beweises ist hiernach die Vollständigkeit der aufgestellten Disjunktion. Da aber in dieser Beziehung, namentlich auf empirischem Gebiete, leicht ein unbeabsichtigtes Übersehen stattfinden kann, so ist man be- strebt, wo immer möglich den indirekten durch einen direkten Beweis zu ergänzen. Am ehesten kommen noch in der Mathematik disjunktive Beweise für sich allein vor wegen der größeren Sicherheit, mit der hier vollständige Disjunktionen gebildet werden können. So in vielen Fällen bei Euklid. Den Satz z. B., daß, wenn zwei gerade Linien ein- ander parallel sind, eine dritte, die sie schneidet, mit ihnen gleiche Wechselwinkel bildet, beweist Euklid, indem er von der Disjunktion ausgeht: entweder sind die Wechselwinkel « und ß gleich, oder « ist größer als ß, oder ß größer als «. Er weist dann die Unmöglichkeit der zwei letzteren Annahmen nach, wobei er sich hier wegen der genauen Analogie der beiden Fälle auf den Nachweis der Unmöglichkeit des einen, z.B. von «>ß, beschränken kann*). Astronomisch suchte man die Eigenbewegung unseres Sonnensystems im Weltraum zu beweisen, indem man schloß: Es gibt scheinbare Bewegungen der Fixsterne, welche nicht herrühren können 1) von der Bewegung der Erde (der Parallaxe), weil sie keine jährliche Periode zeigen, 2) von der Bewegung des Lichtes (der Aberration), aus demselben Grunde, 3) von der sekularen Bewegung der Erdachse, weil sie mit der entsprechenden sekularen Periode nicht übereinstimmen, 4) von der eigenen Bewegung der Fix- sterne, weil von dieser wegen der sehr großen Zahl der Fixsterne voraus- gesetzt werden kann, daß sie nach den verschiedenen Richtungen des *) EuklidI,29. Als weitere Beispiele der disjunktiven Beweisform vgl. EuklidI, 6 und 19. Der Beweis, 81 Raumes annähernd gleichförmig verteilt sei. Es bleibt daher nur übrig, die eigene Bewegung unseres Sonnensystems als die Ursache eines Teils der scheinbaren Bewegungen anzunehmen. Diekonträre Form des indirekten Beweises stützt sich auf ein alternatives Urteil von der Form: A ist entweder B oder ©. (Bd. TI, S.191f.) Da nun überall, woein Begriff in nur zwei positiv bestimmbare Teile zerlegt wird, diese zugleich in das Verhältnis des konträren Gegen- satzes zueinander treten, so besteht das Wesen eines aus einem alter- nativen Urteil mit positiv bestimmten Begriffen hervorgehenden Be- weises immer darin, daß die Wahrheit einer Behauptung erwiesen wird, indem man die Unmöglichkeit ihres konträren Gegensatzes nachweist. Während die disjunktive Form des indirekten Beweises bereits mehrfach als eine selbständige gegenüber der kontradiktorischen anerkannt wurde*), pflegt man die konträre mit dieser zusammenzuwerfen, eine Verwechslung, die wohl darin ihren Grund hat, daß auch im sprach- lichen Ausdruck der konträre mit dem kontradiktorischen Gegensatz häufig vermengt wird. In der Tat aber werden wir überall, wo für das negativ bestimmte Glied einer Alternative eine zutrefiende positive Definition möglich ist, das Vorhandensein eines konträren, nicht eines kontradiktorischen Gegensatzes anerkennen müssen. So sind z. B. Endlichkeit und Unendlichkeit des Raumes dem ersteren zuzurechnen; denn die Unendlichkeit läßt sich als diejenige Eigenschaft definieren, vermöge deren in jeder Richtung über jeden noch so entfernten Punkt hinaus ein weiterer Fortschritt möglich ist, und ebenso die Endlichkeit als diejenige Eigenschaft, vermöge deren es in jeder Richtung zwei Punkte gibt, die weiter als alle anderen Punkte der nämlichen Richtung und doch zugleich um eine meßbare Größe voneinander entfernt sind. Ähnlich verhalten sich Primzahlen und Nicht-Primzahlen, denn die letzteren lassen sich positiv definieren als diejenigen Zahlen, die außer durch die Einheit und durch sich selbst noch durch eine andere ganze Zahl teilbar sind, u. s. w. Dagegen sind Substanzen, die nicht existieren, Kreise, die keinen gemeinsamen Mittelpunkt haben, Funktionen, die sich in keine Potenzreihe entwickeln lassen, und andere ähnliche Be- *), Trendelenburg, Logische Untersuchungen, 2. Aufl., II, S. 431. Vgl.a. Sigwart, Logik, II, 2. Aufl., S. 285 fi. Völlig unbrauchbar ist die von Lotze gegebene Einteilung der indirekten Beweise (Logik, S. 222 f.), welche, lediglich nach Analogie der direkten Beweise ausgeführt, die wichtigsten Unterschiede ignoriert und dagegen Formen unterscheidet, die nirgends vor- kommen und zum Teil sogar dem Wesen des indirekten Beweisverfahrens wider- streiten. Wundt, Logik. IL 3. Aufl. 6 32 Allgemeine Methodenlehre. griffe nur negativ definierbar, so daß, wo sie zu Gegenständen indirekter Beweise werden, diese die kontradiktorische Form annehmen. Da nun solche nur negativ bestimmte Begriffe regelmäßig dann auftreten, wenn der zu beweisende Satz selbst verneinender Art ist, so scheidet sich demnach der kontradiktorische von dem disjunktiven sowie dem konträren Beweis durch das Kennzeichen, daß jener nur für Sätze von negativem Inhalt gebraucht wird, während die letzteren stets für positive Sätze eintreten oder doch für solche, die trotz der etwa gebrauchten Form der Verneinung eine positive Bedeutung haben und sich daher leicht in die positive Form umwandeln lassen. Folgt man dem zuletzt erwähnten Kriterium, so zeigt sich sofort, daß die wichtigsten unter den sogenannten apagogischen Beweisen der konträren Form angehören. Während aber die disjunktive Form auch auf empirischem Gebiete sehr verbreitet vorkommt, ist die kon- träre vorzugsweise auf spekulativem, in der Mathematik und Philosophie, zu Hause. Hierher gehören die zahlreichen apagogischen Beweise, deren sich Spinoza bedient*), die Beweise der Kantischen Anti- nomien, ferner die Begründungen der Thesen und Antithesen, die in Bezug auf die allgemeinsten mechanischen und physikalischen Grund- sätze im Verlaufe der Entwicklung der Physik aufgetreten sind**). Es ist ein für die Anwendung dieser Demonstrationsart bedenkliches Symptom, daß sie sich, wie die letzterwähnten Beispiele zeigen, als Werkzeug zur Unterstützung entgegengesetzter Behauptungen ge- brauchen läßt. Immerhin kann hierfür nicht der Beweisform als solcher die Schuld aufgebürdet werden, sondern entweder beruhen die Wider- sprüche, in die sie verwickelt, auf der Zweideutigkeit der sprachlichen Bezeichnungen, wie großenteils bei den Dilemmen der Alten, oder auf widerstreitenden Motiven des spekulativen Denkens, wie bei den onto- logischen Antinomien der Kosmologie und Physik, und im letzteren Fall sind die antithetischen Beweisführungen zwar nicht für den Zweck, für den sie angeblich eintreten, wohl aber für die Untersuchung jener Motive und ihrer etwaigen Berechtigung von großem Werte. Völlig anders verhält es sich mit den mathematischen Beweisen dieser Art. Bei ihnen handelt es sich wirklich um die in- direkte Begründung eines positiven Satzes durch den Nachweis der Unrichtigkeit seines konträren Gegenteils. Dabei pflegt aber dieses nicht strenge begrenzt zu sein, sondern aus einer unbestimmten An- *) Vgl. z. B. Ethik, I, prop. 5, 8, 11, 12, 13. **) Vgl. meine Schrift: Die physikalischen Axiome. 1866. 8. 79. FDer Beweis. 83 zahl von Fällen zu bestehen, von denen immer nur einzelne heraus- gegriffen werden können, um an ihnen die Annahme des Gegenteils ad absurdum zu führen. Dadurch tritt diese Art mathematischer Beweis- führungen in Analogie einerseits mit dem direkten Beweis durch Bei- spiele, anderseits mit der disjunktiven Form des indirekten Beweises. Von der letzteren scheidet sie sich aber wesentlich durch die unbe- stimmte Zahl der Fälle, ein Umstand, der zugleich sehr geeignet ist, die Verwechslung mit der kontradiktorischen Form des apagogischen Beweises zu begünstigen. Immerhin bleibt der Gesamtbegriff, welchem das herausgegriffene Beispiel angehört, positiv definierbar, und es kann daher auch sein Gegensatz zu dem Demonstrandum stets positiv be- stimmt werden, eine Eigenschaft, deren Mangel gerade das Wesen des kontradiktorischen Gegensatzes ausmacht. Schon bei Euklid findet sich die konträre Beweisform mehrfach angewandt*). Es mag hier an einigen Beispielen aus neuerer Zeit genügen. Dirichlet beweist den Satz „wenn die Summe 1.2.3... (p—1)-+-1 durch p teilbar ist, so muß p eine Primazahl sein“ auf folgende Weise: Wäre p keine Prim- zahl, so müßte es außer durch 1 und durch sich selbst noch durch eine andere Zahl a, die der Reihe der Zahlen 2, 3, 4... (p —1) angehörte, teilbar sein. Dann würde aber einerseits die Summe 1.2.3...(p—1)+1. anderseits der erste Summand 1. 2.3. ... (p—1) durch a teilbar sein, was nur stattfinden könnte, wenn auch 1 durch a teilbar wäre**). Der Satz „eine eindeutige Funktion f (x) kann nur auf eine einzige Art durch eine nach den Potenzen von x geordnete Reihe dargestellt werden wird folgendermaßen indirekt bewiesen: Angenommen es gebe mehrere Arten der Entwicklung, z. B. fW=atac + ,2°+...a,., t=b-+b2-+b,2?+...b,%%, so würde durch Subtraktion folgen: 0=(a —b)— (a —b)xz + (a, — b)2°”—+...(a, — b,) a”. Daraus ergibt sich aber, da sämtliche durch sukzessives Differenzieren erhaltene Ableitungen ebenfalls null sind: a—b=Ia —b)=I,, —b,=I,...a,—b,=). D. h. die hypothetisch angenommene zweite Entwicklung ist mit der *) Vgl. Euklid III, 7 (2. Teil), 8 (3. Teil), 9 (2. Beweis), 19; X, 80 bis 85. **) Lejeune-Dirichlet, Vorlesungen über Zahlentheorie 2 8 6L 84 Allgemeine Methodenlehre. ersten identisch*). Beweise der letzteren Form sind in der neueren Analysis sehr beliebt, und sie sind auch deshalb von Interesse, weil hier einerseits durch die positive Schlußwendung, die er nimmt, der in- direkte dem direkten Beweis an bindender Kraft vollkommen gleich- kommt, und weil anderseits wegen der Allgemeinheit der algebraischen Zeichen der Beweis durch ein Beispiel eine allgemeingültige Bedeutung gewinnt. Der kontradiktorischen Form des indirekten Beweises liegt der Satz des ausgeschlossenen Dritten „A ist entweder B oder non-B“ in seiner ursprünglichen Unbestimmtheit zu Grunde. Zweck desselben ist regelmäßig der Nachweis der Richtigkeit eines negativen Satzes. Daß A nicht B sei, wird bewiesen, indem man zeigt, daß die ent- gegengesetzte Annahme, A ist B, auf Widersprüche führt. Sollte diese Beweisart für die Demonstration positiver Sätze Verwendung finden, so müßten umgekehrt aus der Annahme „A ist non-B“ ihre Folgen entwickelt und die Unstatthaftigkeit derselben aufgezeigt werden. Da sich aber aus einem negativen Satze nichts folgern läßt, so erhellt ohne weiteres die Unmöglichkeit einer solchen Beweisart. Wo sie schein- bar stattfindet, da handelt es sich eben in Wirklichkeit um einen Beweis mittels eines konträren Gegensatzes. Auch der kontradiktorische Beweis ist ausschließlich in den speku- lativen Wissenschaften, in Metaphysik und Mathematik, im Gebrauch; immerhin ist er auch hier vermöge des geringen Wertes rein negierender Urteile von weit beschränkterem Vorkommen, als man angenommen hat. Er dient hauptsächlich zum Beweis von Sätzen, die Corollarsätze anderer positiver und bereits bewiesener Sätze sind, und wo darum statt des indirekten Beweises manchmal auch der unmittelbare Hinweis auf jene begründenden Sätze genügen kann. Letzteres ist der Grund der auffallenden Erscheinung, daß Spinoza, der sonst so sehr den apagogischen Beweis, namentlich in seiner konträren Form liebt, gerade für negative Sätze direkte Beweise bevorzugt. Bei näherer Prüfung zeigt sich freilich, daß solche negative Lehrsätze nichts enthalten, was nicht in vorangegangenen positiven bereits in anderer Form gesagt wäre. Am korrektesten hat Euklid die kontradiktorische Beweismethode an- gewandt, obgleich auch bei ihm viele der so bewiesenen Sätze ent- weder bereits in bestimmten Definitionen stillschweigend enthalten sind oder ebenso gut als Corollarsätze anderer direkt bewiesener Theoreme *), Harnack, Die Elemente der Differential- und Integralgleichung. 1881. S. 157. Die wissenschaftliche Arbeitsteilung und die künstlichen Systeme. 85 auftreten könnten. Den Satz z. B.: „Wenn in einem Kreise zwei gerade Linien, die nicht durch den Mittelpunkt gehen, einander schneiden, so halbieren sie einander nicht“ beweist Euklid, indem er darauf hinweist, daß die Annahme, es halbierten sich zwei solche Linien, zu der Folgerung führen würde, daß auch eine vom Kreismittelpunkt nach ihrem Durch- schnittspunkt gezogene Gerade sie beide halbiere. Nun lehrt aber ein unmittelbar vorhergehender Satz: „Wenn im Kreise eine durch den Mittelpunkt gehende Gerade eine andere nicht durch den Mittelpunkt gehende halbiert, so schneidet sie dieselbe senkrecht“. Es würde also die Gerade mit beiden Linien einen rechten Winkel bilden, was damit unvereinbar ist, daß der Annahme nach die Linien selbst miteinander einen Winkel bilden*). Es ist klar, daß dieser apagogische Beweis ohne Nachteil durch den unmittelbaren Hinweis auf den Satz, auf den er sich stützt, und auf den Beweis desselben ersetzt werden könnte. Diese auch bei den anderen Beweisen ähnlicher Art wiederkehrende Eigenschaft hat wohl neben dem relativ geringen Wert negativer Sätze dazu beigetragen, daß in neuerer Zeit die kontradiktorische Beweisform immer mehr aus dem wissenschaftlichen Gebrauch verschwunden ist. Drittes Kapitel. Das System der Wissenschaften. 1. Die wissenschaftliche Arbeitsteilung und die künstlichen Systeme. Die Gliederung der Wissenschaft ist ursprünglich aus dem gleichen Bedürfnis der Arbeitsteilung hervorgegangen, das die menschliche Gesellschaft in Berufe und Stände mit abweichenden Aufgaben und Interessen gesondert hat. Die zunehmende Menge des Stofis und die damit gleichen Schritt haltende Mannigfaltigkeit der Interessen hat auf diese Weise schon seit langer Zeit dem Einzelnen einen irgend voll- ständigen Überblick über das Ganze der wissenschaftlichen Arbeit unmöglich gemacht; und vielfach sind dadurch die verschiedenen Ge- biete zugleich der fruchtbaren Wechselwirkungen beraubt worden, die sie in einer vorangegangenen, noch unter einfacheren Bedingungen arbeitenden Epoche aufeinander ausüben konnten. Das öffentliche *) Euklid III, 7. Weitere Beispiele sind: III, 5 und 23; VIIL, 17; XL, 1. 86 Allgemeine Methodenlehre. Leben, die Religion, selbst die Kunst werden, so sehr sie sich in der Teilnahme der Einzelnen trennen mögen, doch durch die Allgemeinheit ihrer Zwecke zusammengehalten. Aus der mehr im Verborgenen tätigen Werkstätte der Wissenschaft dringen höchstens vereinzelte, durch ihre praktische Brauchbarkeit oder ihren blendenden Glanz die Aufmerksam- keit erregende Ergebnisse in das allgemeine Bewußtsein. So hat sich hier ein Prozeß der Differenzierung vollzogen, wie er nirgendwo sonst wieder- kehrt, ein Prozeß, der gleich sehr durch die Fülle und die Schwierigkeit der Aufgaben wie durch den abgezogenen, dem allgemeinen Nutzen relativ fern liegenden Charakter vieler Gebiete befördert wird. Je mehr nun auf solche Weise die wissenschaftliche Arbeitsteilung eine Trennung und Isolierung der Gebiete mit sich führt, umsomehr müssen naturgemäß auch die Produkte dieser Teilung der systematischen: Ordnung entbehren. Sind sie doch nicht im mindesten aus einer irgendwie planmäßigen, die Probleme von vornherein nach ihrem sachlichen In- halt oder nach methodischen Grundsätzen ordnenden Absicht, sondern teils aus dem wechselnden Übergewicht praktischer Bedürfnisse, teils auch aus der abweichenden Verteilung theoretischer Interessen ent- standen. Bei dieser Scheidung mußte aber naturgemäß, je vielseitiger die praktischen Bedürfnisse wurden, und je stärker neben ihnen der reine Erkenntniswert der wissenschaftlichen Forschung zur Geltung kam, die Arbeitsteilung zugleich von der individuellen Begabung abhängig werden, die der Einzelne den verschiedenen Problemen entgegenbrachte. So ergab es sich von selbst, daß sich im allgemeinen trotz mancher Fehl- griffe, wie sie ja noch heute bei keiner Berufswahl ausbleiben, jeweils die tauglichsten Begabungen in der Bearbeitung der verschiedenen Gattungen wissenschaftlicher Aufgaben zusammenfanden, und daß, nachdem hier nur einmal ein Anfang gemacht war, nun auch die ein- seitige Übung der Kräfte den Sonderleistungen zu gute kam und die Befähigung zu ihnen steigerte, während sie freilich zugleich die Iso- lierung der Gebiete begünstigte. Auf dieser Beobachtung beruht wohl der uns heute seltsam erscheinende Gedanke Francis Bacons bei seiner Haupteinteilung der Wissenschaften, die zugleich der erste einiger- maßen vollständige Versuch dieser Art ist, das Klassifikationsprinzip nicht den Objekten und Aufgaben der Wissenschaft selbst, sondern den verschiedenen Geisteskräften zu entnehmen, die nach seiner Meinung in den verschiedenen Gebieten vorwiegend zur Anwendung kommen sollten. Bei den Unterabteilungen des Systems mußte er dann freilich dieses Prinzip sofort wieder verlassen, da schon zu seiner Zeit der Zustand der wirklichen Forschung einer solchen künstlichen Unter- Die wissenschaftliche Arbeitsteilung und die künstlichen Systeme. 87 ordnung unter die drei angenommenen Seelenvermögen Gedächtnis, Phantasie und Vernunft durchaus nicht entsprach*). Zwei Wege hat man, nachdem das ganze Problem lange Zeit geruht hatte, in der Folge eingeschlagen, um diesem Fehler abzuhelfen. Auf der einen Seite wurde im Gegensatze zur Baconischen Vermögenslehre die Einheit und Unteilbarkeit aller intellektuellen Tätigkeiten und im Zusammenhange damit die Zusammengehörigkeit aller Arten wissen- schaftlicher Arbeit betont. Einen besonderen Wert legte man hierbei darauf, daß gewisse Disziplinen unbedingt andere als ihre Vorbereitung fordern, während diese selbst unabhängig von jenen betrieben werden können, wie dies z. B. das Verhältnis der Mathematik zur Physik deut- lich macht. Indem Auguste Comte diese Tatsache zu der Behauptung einer sukzessiven Reihe einseitiger Abhängigkeiten aller Wissenschaften zu- spitzte, kam er zu seinem linearen System, in welchem jedes folgende Glied von allen vorangegangenen abhängig und für alle weiter folgen- den grundlegend sein sollte. So beruht diese Einteilung auf der Voraus- setzung, die abstrakteren Wissenschaften seien zugleich die allgemeineren und der Übergang vom Abstrakten zum Konkreten, wie er, mit der Mathematik beginnend, sukzessiv zur Mechanik, Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und Soziologie fortschreite, bezeichne eine Abhängig- keit einer jeden nachfolgenden von allen ihr vorangehenden Disziplinen**). Einen zweiten Weg hatten schon vor Comte unabhängig voneinander Bentham und Ampere eingeschlagen***). Sie hielten mit Bacon an der Verschiedenheit der wissenschaftlichen Aufgaben fest, sahen aber den Grund dieser Verschiedenheit vor allem in den Gegenständen der Forschung. Diesem Prinzip folgend waren sie die ersten, die die seitdem stehengebliebene Gegenüberstellung von Natur- und Geistes- wissenschaften zu Grunde legten. Die Mathematik wurde hierbei den Naturwissenschaften zugezählt. Die so begonnene Zweiteilung suchten sie dann aber möglichst auch bei den weiteren Untereinteilungen fest- zuhalten. Auf diese Weise entstanden diehotomische Systeme, die freilich in vielen Beziehungen nicht mehr der tatsächlich bestehen- *) Bacon, De dignitate et augmentis scientiarum, 1623, Lib. u Kap. I. Vgl. hierzu und zum Folgenden meine Bemerkungen über die Ge- schichte der Klassifikationsversuche, Philosophische Studien, V, 1889, S. 1 ff. und die Einleitung in die Philosophie *, S. 39 fi. **) Auguste Comte, Cours de philosophie positive, I, 1830, Lee. I. ***) J Bentham, Oeuvres, 1821, L. III. A.M. Ampere, Essai sur la philosophie des sciences, 1834. 88 Allgemeine Methodenlehre. den wissenschaftlichen Arbeitsteilung folgten, sondern statt dessen künstliche Gebietsscheidungen logisch konstruierten. So leiden diese beiden Klassifikationen an entgegengesetzten Fehlern. Das lineare System ist zu einfach: es trägt mit seinem Schema des stufenweisen Übergangs vom Abstrakten zum Konkreten den mannigfaltigen Beziehungen der Gebiete, die sich nur zu einem kleinen Teil in jene Folge einordnen lassen, keine Rechnung. Die dichotomischen Systeme sind umgekehrt zu verwickelt. In dem Streben, durch fort- gesetzte Subdivisionen alles was Objekt selbständiger Untersuchung sein könnte in vollkommen symmetrischer Anordnung zu erschöpfen, gliedern sie mehr als irgendwie wünschenswert und ordnen meist nach rein äußeren Merkmalen. Schließlich liegt daher der gemeinsame Fehler beider Einteilungen darin, daß sie künstliche Systeme sind. Das verrät sich nicht nur darin, daß Gebiete, die zusammen ge- hören, getrennt und andere, deren Aufgaben und Methoden wesentlich abweichende sind, vereinigt werden, sondern das ist eigentlich schon eine Folge der beiden Teilungsprinzipien selbst, des linearen und des dichotomischen, von denen das erste auf der Annahme einer tatsächlich zum großen Teil nicht existierenden Abhängigkeit, das andere auf der Hereintragung eines ästhetischen Symmetriebedürfnisses beruht, das sich weder auf die wirkliche Arbeitsteilung noch in dieser Ausdehnung auf irgendwelche logische Motive berufen kann. Aus diesem Grunde ist denn auch das dichotomische System in den neueren Versuchen einer verbesserten Klassifikation durchgängig ver- lassen worden. Dagegen wurde nach dem Vorbilde von Herbert Spencer zumeist das Prinzip der linearen Anordnung noch insofern festgehalten, als man fortan mit Auguste Comte einen stufenweisen Übergang von den abstrakteren zu den konkreten Aufgaben als das Grundprinzip der wissenschaftlichen Differenzierung betrachtete und die letztere nur dadurch den wirklichen Bedürfnissen anzupassen suchte, daß jenem stufenweisen Übergang eine Teilung in drei Teile substituiert wurde. Nach dieser Trichotomie sollte die erste Gruppe die abstrakten Gebiete der reinen Mathematik, die zweite die „abstrakt-konkreten“, endlich die dritte die „konkreten“ oder die gewöhnlich sogenannten systemati- schen Wissenschaften enthalten*). Man muß anerkennen, daß eine *) Dahin gehört außer Herbert Spencer, The Classification of the Sciences, Essays Vol. III, Nr. 1, namentlich Raoul de la Grasserie, De la Classification objective et subjective des Arts, de la Literature et des Sciences, 1893. Auch Alfred Hettner, der sich im übrigen von dem künst- lichen System Spencers ganz emanzipiert hat, hält immerhin an den drei Das natürliche System der Wissenschaften. 89 solche Dreiteilung, indem sie auch noch in jeder dieser Gruppen eine Anzahl koordinierter Gebiete unterscheidet, den tatsächlichen An- forderungen besser entspricht als das lineare Schema Comtes. Nichts- destoweniger bleibt auch sie eben in dem Punkte willkürlich und vom Standpunkt der Methode aus anfechtbar, in welchem sie den Grund- gedanken der Hierarchie beibehalten hat, nämlich in dem einer nach dem Gradunterschied der angewandten Abstraktionen bestehenden Stufenfolge. Diese Stufenfolge ist lediglich der Mathematik entnommen, für die sie infolge der aus praktischen Gründen bestehenden Übergänge zwischen rein mathematischer und mathematisch-physikalischer Be- trachtung zutrifit. Sie gibt aber ein falsches oder doch höchstens in einzelnen diesem mathematischen Beispiel verwandten Fällen an- nähernd richtiges Bild der wirklichen Verhältnisse. Denn in Wahrheit kann auch sie immer nur eine künstliche Gruppierung liefern, da, wie wir in Kap. I gesehen haben, die Abstraktion nur eine unter einer großen Zahl wissenschaftlicher Methoden ist, so daß es bei der Scheidung der Gebiete häufig viel mehr auf den Charakter der untersuchten Er- scheinungen selbst oder auch auf die anderen Untersuchungsmethoden ankommt, als auf den Grad der Abstraktion, dessen man sich bedient. '2. Das natürliche System der Wissenschaften. Ein natürliches System der Wissenschaften wird hiernach vor allem zwei Forderungen erfüllen müssen: erstens soll es die wirklich vorhandenen Gebiete der Wissenschaft vollständig enthalten; aber es soll nicht Wissenschaften künstlich schaffen, die tatsächlich nicht existieren, oder zu deren künftiger Entwicklung nicht mindestens An- fänge und deutlich erkennbare Probleme vorliegen. Zweitens soll es diese vorhandenen oder zureichend vorbereiteten Gebiete in eine logische Ordnung bringen, die in erster Linie den Objekten der Forschung und in zweiter den von ihr angewandten Methoden, nicht aber willkür- lich an die Objekte von außen herangebrachten Gesichtspunkten ent- nommen sind. Die erste dieser Forderungen ist gegenwärtig wohl nicht Stufen fest, wobei er jedoch der „abstrakt-konkreten“ Gruppe den Ausdruck „abstrakte Erfahrungswissenschaften“ und der „konkreten“ die „systematischen Erfahrungswissenschaften“ substituiert. Als rein abstrakte Wissenschaft bleibt dann, wie im wesentlichen auch schon bei Spencer, nur die Mathematik stehen. (A. Hettner, Das System der Wissenschaften, Preußische Jahr- bücher, Bd. 122, 1905, S. 251 ff. Allgemeine geographische Zeitschrift, Bd. 11, 1905.) 90 Allgemeine Methodenlehre. allzu schwer zu erfüllen, da zwar gewisse Spezialgebiete der Forschung natürlich noch immer neu entstehen können, „Desiderata“ dagegen in dem umfassenden Sinne, in dem dereinst Bacon sie in sein System auf- nahm, kaum mehr in Betracht kommen. Umso schwerer ist es der zweiten Forderung nachzukommen. Gleichwohl ist sie es erst, deren Erfüllung das System zu einem natürlichen, den wirklichen Beziehungen der Gebiete entsprechenden macht. Denn auch hier gilt, daß die ge- schichtliche Entwicklung der wissenschaftlichen Arbeitsteilung tat- sächlich und ohne besondere systematische Absichten gewisse Grup- pierungen geschaffen hat, die wertvollere Anhaltspunkte für eine natür- liche Systematik geben als die wegen ihrer logischen Uniformität bevor- zugten, aber gerade darum auch von vornherein der Willkür verdäch- tigen Einteilungen wie die nach dem Grad der Abstraktion oder nach einer in konträren Gegensätzen fortschreitenden Dichotomie. In diesem Sinne hat sich denn auch seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts, im Gegensatze zu den künstlichen Systemen, die die Mathematik den Natur- wissenschaften zuzählten, mehr und mehr deren Stellung als die einer reinen Formwissenschaft durchgesetzt, die zwar in ihren Betrachtungen von empirisch gegebenen Formen auszugehen pflegt, keineswegs aber an diese oder überhaupt an die durch die Erfahrung gezogenen Grenzen gebunden ist. Dieser Untersuchung der Formen möglicher Mannigfaltigkeiten stehen dann die sämtlichen Erfahrungs- wissenschaften als solche gegenüber, die sich mit der wirklichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen beschäftigen und nach diesem allgemeinen Verhältnis als die realen Disziplinen unterschieden werden können. Eine zweite, in der Arbeitsteilung schon längst vorbe- reitete, aber erst um dieselbe Zeit zu allgemeinerer Anerkennung ge- langte Scheidung ist sodann die der realen Gebiete in Natur- und Geisteswissenschaften. Sie beruht darauf, daß die Er- scheinungen der Wirklichkeit abweichende Standpunkte der Betrach- tung zulassen. Die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit den Vor- gängen und Gegenständen der äußeren Wahrnehmung unter völliger Abstraktion von der Beziehung, in der jene zu dem geistigen Leben und seinen Einflüssen auf die Außenwelt stehen, die Geisteswissenschaften betrachten umgekehrt alle diejenigen Erscheinungen, die wir mit unseren psychischen Erlebnissen in Beziehung bringen. Aus dieser Art der Be- grenzung ergibt sich zugleich, daß die Natur- und die Geisteswissen- schaften in der mannigfaltigsten Weise ineinander eingreifen, da die geistigen Vorgänge nicht nur überall an physische Substrate gebunden sind, die als solche zugleich zu den Objekten der Naturwissenschaft Das natürliche System der Wissenschaften. 91 gehören, sondern da auch die geistigen Vorgänge selbst durch Einflüsse der Naturumgebung bestimmt werden und ihrerseits wieder bestimmend in diese eingreifen. So bleibt für die methodische Begrenzung beider Klassen realer Wissenschaften schließlich nur das negative Kriterium übrig, daß wir der Naturforschung alles das zuweisen, was ohne Rücksicht auf irgendwelche seelische Eigenschaften und Vorgänge einer erschöpfenden Untersuchung zugänglich ist, alles dagegen, was solche voraussetzt, in das Gebiet der Geisteswissenschaften verweisen. Bei der weiteren Einteilung dieser beiden Klassen hat man dann häufig wieder innerhalb einer jeden von ihnen „erklärende“ und „be- schreibende Wissenschaften“ einander gegenübergestellt. Diese Bezeich- nungen, die zunächst in der Naturforschung aus Anlaß zweier in der Tat wesentlich verschiedener Formen methodischer Aufgaben entstanden, konnten sich jedoch, wenn sie auch gegenwärtig noch gelegentlich ge- braucht werden, keine dauernde Anerkennung erringen. Auf der einen Seite betonten nicht selten die Vertreter der „erklärenden“ Natur- wissenschaften, eine andere Aufgabe als die einer exakten Beschreibung könne eine empirische Wissenschaft überhaupt niemals haben; und auf der anderen Seite protestierten die Angehörigen der sogenannten „beschreibenden“ Disziplinen energisch gegen die Zumutung einer bloßen Aufzählung der Merkmale von Objekten ohne jeden Versuch einer Interpretation ihres Zusammenhangs. In der Tat besteht hier der wesentliche Unterschied nicht sowohl darin, daß man in dem einen Gebiet erklärt und in dem anderen beschreibt, als vielmehr darin, daß sich die Untersuchung im einen Fall auf die regelmäßige Verbindung von Vorgängen bezieht, deren Zusammenhang man zu deuten sucht, während man im anderen Fall natürlich vorkommende oder künstlich erzeugte Gegenstände in ihrer systematischen Stel- lung zu anderen, namentlich zu solchen von verwandter Beschaffenheit zu ergründen sucht. Der angemessenere Ausdruck würde es daher offenbar sein, auf der einen Seite Wissenschaften der Naturvor- gänge und der geistigen Vorgänge, und auf der anderen solche der Naturgegenstände und der Geisteserzeug- nisse zu unterscheiden. Insofern dort die wechselnden Phänomene der Natur und des geistigen Lebens, hier dagegen die systematische Ordnung der untersuchten Objekte im Vordergrund steht, kann man aber beide Gebiete wohl auch als phänomenologische undals systematische Wissenschaften einander gegenüberstellen. Da bei den ersteren die kausale Interpretation der Erscheinungen, bei den letzteren dagegen die logische Ordnung der Gegenstände nach den für 99 Allgemeine Methodenlehre, deren Stellung bedeutsamen Merkmalen die Hauptrolle spielt, so be- steht in der Tat das zunächst in den Vordergrund tretende Verfahren dort in der Erklärung der Erscheinungen aus ihren in dem Zusammen- hang mit anderen liegenden Bedingungen, hier dagegen in einer die syste- matische Ordnung begründenden Beschreibung. Dabei sind aber nicht nur diese beiden Funktionen immer nebeneinander vorhanden, sondern es ergeben sich in beiden Fällen noch weitere, nicht minder wesentliche Unterschiede. Ein solcher besteht vor allem auch darin, daß die phäno- menologischen Wissenschaften der Gewinnung allgemeiner Gesetze zu- streben, die die Folge der Erscheinungen in der Zeit beherrschen, und die, sofern nur die gleichen Konstellationen der Bedingungen wieder- kehren, von allgemeingültiger Bedeutung sind, während bei den syste- matischen Disziplinen die bleibenden Eigenschaften der Objekte und neben den zeitlichen meist auch die räumlichen Bedingungen ihres Vorkommens von entscheidendem Werte sind. Dadurch treten die systematischen insofern in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den phänomenologischen Gebieten, als überall da, wo die Beschaffenheit der Gegenstände der ersteren zu einer kausalen Erklärung heraus- fordert, eine solche nur in der Anwendung phänomenologischer Gesetze gefunden werden kann. In diesem, aber auch nur in diesem Sinne sind die phänomenologischen Gebiete die allgemeineren, die systematischen, die spezielleren, ein Verhältnis, das aber nicht mit dem des Abstrakten und Konkreten verwechselt werden darf. In der Tat ist z. B. das Phä- nomen eines elektrischen Funkens eine ebenso konkrete Tatsache wie ein Stück Kalkspat, und jener wird dadurch, daß er in den mannig- faltigsten Variationen unzähligemal in ähnlicher Weise vorkommt, ebensowenig zu einem abstrakten Phänomen, wie der Kalkspat, weil er sich als ein ähnlicher Körper an den verschiedensten Orten findet, ein abstrakter Körper wird. Dieses Verhältnis tritt am deutlichsten da hervor, wo diese Betrachtungsweisen in besonders inniger Weise einander zugeordnet sind, wie es beispielsweise bei der allgemeinen Chemie als einer phänomenologischen Wissenschaft von den chemischen Prozessen und der systematischen Chemie als einer klassifikatorischen Wissenschaft der Fall ist. Beide sind an und für sich scharf geschieden, auch wo sie in einer und derselben Darstellung vereinigt sein sollten. Gerade bei dieser Verbindung zeigt sich aber deutlich die Abhängigkeit der systema- tischen von der phänomenologischen Disziplin, indem nur die letztere über die innere Beschaffenheit der chemischen Verbindungen und die Bedingungen ihrer Stabilität wie ihres Zerfalls Aufschluß geben kann. Von diesen Gebieten, in denen sich beide Betrachtungen in ihrer vollen Das natürliche System der Wissenschaften. 93 Eigentümlichkeit und zugleich in ihrer engen Zusammengehörigkeit gegenüberstehen, scheiden sich nun andere, die wir in Anbetracht des Übergewichts der kausalen Analyse der Vorgänge ganz zu den phäno- menologischen Wissenschaften rechnen können, wie die Physik oder die Psychologie, oder die wir umgekehrt mit Rücksicht auf den Gesichts- punkt logischer Ordnung, der sie beherrscht, den systematischen Wissen- schaften zuzählen, wie die sogenannten beschreibenden Naturwissen- schaften oder die systematische Rechtswissenschaft. Dabei mangelt freilich auch in diesen Fällen nirgends die Beziehung zu der ergänzenden Betrachtungsweise. In Physik und Psychologie zeigt sie sich in der Gliederung des Stofis, wo im einen Fall die Zerlegung in Mechanik, Akustik, Optik u. s. w., im anderen Fall in Empfindungen, Gefühle, Vorstellungen u. s. w. das Hereinragen systematischer Gesichtspunkte in die phänomenologische Behandlung andeuten. Noch weniger können im allgemeinen die systematischen Gebiete der zugehörigen phänomeno- logischen, wie die Mineralogie der allgemeinen Chemie, die systematische Botanik und Zoologie der Pflanzen- und Tierphysiologie, oder endlich die systematische Rechtslehre der Rechtsgeschichte und im letzten Grunde der Psychologie entraten, so sehr man sich in diesem Fall auf das der praktischen Erfahrung Zugängliche beschränken mag. Am meisten stehen hier noch die „chorologischen“ Wissenschaften als rein deskriptive Gebiete scheinbar isoliert da, weshalb man sie auch zu einer besonderen Klasse vereinigt hat: die deskriptive Astronomie und die Geographie*). Dennoch dürfte auch hier das Verhältnis im wesentlichen kein anderes sein als bei den verschiedenen Zweigen der sogenannten Naturgeschichte, abgesehen von dem Umstande, daß die Verhältnisse der Objekte einer logischen Gliederung wie einer phäno- menologischen Deutung größere Widerstände bereiten als in anderen Fällen. Um Ordnung in die Fülle der Erscheinungen zu bringen, sucht auch der Astronom die Objekte des Sternhimmels zunächst nach den räumlichen Verhältnissen und Orientierungslinien und dann nach der Verbindung der einzelnen, so weit es nur immer angeht, systematisch ein- zuteilen, und in dieses System greifen in der Unterscheidung der Fixsterne, Planeten und kosmischen Nebel und schließlich in der Erforschung der Konstitution dieser Gebilde phänomenologische Betrachtungen ein, wie sich denn auch hieraus eine kosmische Physik und Astrophysik als Sondergebiete der allgemeinen Physik entwickelt haben. Nicht anders verhält es sich mit der Geographie, vornehmlich seit man nach Karl *) A. Hettner,a.a. 0. S. 273. 94 Allgemeine Methodenlehre, Ritter ihre nächste Aufgabe in der systematischen Betrachtung der Erd- oberfläche sieht, dann aber in der Geophysik und Geologie innerhalb der ihr durch die Natur des Gegenstandes gezogenen Grenzen zu einem kau- salen Verständnis der Formen zu gelangen sucht. Noch in höherem Grade treten diese vielseitigen Beziehungen in den zum Teil in die Geisteswissenschaften herüberreichenden Gebieten hervor, wie in der Pflanzen- und Tiergeographie, der Anthropogeographie und der mit ihr eng zusammenhängenden Ethnographie, endlich in der politischen und der historischen Geographie. Noch gibt es jedoch auf der Seite der Natur- wie der Geisteswissen- schaften außer den phänomenologischen und den systematischen Disziplinen ein drittes Gebiet, das in beide hineinreicht, daneben aber durch die Bedeutung, die in ihm der Begriff der Entwicklung gewinnt, eine selbständige Stellung behauptet. Das ist die Klasse der genetischen Wissenschaften. Indem ihre Aufgabe in der Nach- weisung der Entstehung und der im Laufe der Zeit entstandenen Ver- änderungen der Naturgegenstände wie der Geisteserzeugnisse besteht, entnehmen sie die Gesichtspunkte für die Unterscheidung der Objekte und demnach auch für die Gliederung ihrer Gebiete den systematischen Disziplinen. In der Untersuchung der Entwicklungsbedingungen sehen sie sich dagegen ganz und gar auf die Hilfsmittel und Methoden ange- wiesen, die ihnen die phänomenologischen Gebiete an die Hand geben. Infolgedessen nehmen sie in ihrem Aufbau selbst durchaus den Charakter phänomenologischer Wissenschaften an, die aber in ihrer Besonderheit durch den die untersuchten Erscheinungen beherrschenden Gedanken der Entwicklung bestimmt sind. Solche genetische Wissenschaften sind im Gebiet der Natur die Kosmologie, die Geologie, die Entwicklungs- geschichte der Organismen, im Gebiet des geistigen Lebens die Geschichte überhaupt mit ihren nach den einzelnen Zweigen der systematischen Betrachtung bestimmten Untergebieten, wie Kultur-, Kunst-, Literatur-, Religions-, Rechtsgeschichte u. s. w. Gewinnt schon in der Entwicklungs- geschichte der Organismen der Begriff der Entwicklung eine auf die phänomenologischen Gebiete stark herüberwirkende Bedeutung, so gilt dies naturgemäß in gesteigertem Maße in den Geisteswissenschaften, deren einzelne Teile es durchweg entweder geradezu mit den be- sonderen Erscheinungsformen der allgemeinen geistigen Entwicklung des Menschen oder mit den Erzeugnissen zu tun haben, die aus dieser Entwicklung in ihrer Wechselwirkung mit den Bedingungen der Natur- umgebung hervorgegangen sind. In dieser Beziehung ist es überaus charakteristisch, daß innerhalb des ganzen Umfangs der Geistes- Das natürliche System der Wissenschaften. 95 wissenschaften das Geisteserzeugnis der dem Natur- objekt korrespondierende Begriff ist. Das Erzeugnis ruft unmittel- bar die Frage nach den Ursachen seiner Entstehung wach; ein Objekt kann nötigenfalls auch unabhängig von dieser Frage Gegenstand der Untersuchung sein. Im Hinblick auf diese vorherrschende Bedeutung des Entwicklungsgedankens und der historischen Betrachtung hat man wohl auch dem Begriff der „Geisteswissenschaften“ überhaupt durch den der „Geschichtswissenschaften“ zu ersetzen gesucht*). Dennoch erscheint diese Substitution nach keiner Seite gerechtfertigt. Erstens ist das Prinzip der genetischen Betrachtung in den hierher gehörigen Naturwissenschaften nicht in anderem Sinne verschieden, als wie sich etwa Physik und Chemie als phänomenologische Wissenschaften von der Psychologie unterscheiden. Wer diese zu den Naturwissenschaften rechnet, weil sie sich gegenwärtig neben anderen Hilfsmitteln auch des Experimentes bedient, der verwechselt das Werkzeug mit der Sache, die oberflächliche Ähnlichkeit kausaler Betrachtung überhaupt mit dem inneren Gehalt der kausalen Verknüpfungen, der in beiden Fällen ebenso verschieden ist, wie etwa die Geologie der europäischen Gebirgs- formationen von der europäischen Staatengeschichte abweicht. Zweitens gibt es im Gebiet der Geisteswissenschaften gerade so gut systematische Disziplinen wie unter den Naturwissenschaften, und die logische Ordnung der Rechtsbegriffe, der Wirtschaftsbegriffe, der poetischen, musikalischen oder bildnerischen Kunstformen ist im selben Sinne systematisch wie irgend ein naturwissenschaftliches System, nur daß jene ebenso von psychologischen und geschichtlichen Gesichtspunkten wie diese von physikalischen, chemischen und entwicklungsgeschichtlichen be- herrscht ist. Mehr noch als die Stellung der genetischen Wissenschaften ist schließlich die der Philosophie eine umstrittene gewesen. Auguste Comte hatte sie ganz eliminiert, indem er sie im wesentlichen mit einer allgemeinen Zusammenfassung der Ergebnisse der einzelnen Disziplinen zusammenfallen ließ. Bentham und Ampere stellten sie zu den Geisteswissenschaften**). Dabei war wohl die überlieferte Zugehörigkeit der Psychologie zu ihr maßgebend. Je nachdem man dieses Gebiet zu *), Windelband, Geschichte der Naturwissenschaft, 1900. Etwas allgemeiner, aber im wesentlichen doch mit dieser Unterscheidung zusammen- treffend formuliert Rickert den Gegensatz als den der „Natur‘- und der „Kulturwissenschaft“. (Riekert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 1899.) Siehe dazu auch meine Einleitung in die Philosophie *, S. 65 ff. **) Ebenso R. dela Grasserie,a.a. O. p. 282. 96 Allgemeine Methodenlehre, den Naturwissenschaften zählte oder aber in ihm eine spezifische Seelen- wissenschaft sah, die einerseits mit der Metaphysik und anderseits mit den allgemeinen Erscheinungen des geistigen Lebens zusammen- hing, mußte entweder die Philosophie als selbständiges Gebiet ganz verschwinden oder die Stellung einer allgemeinsten Geisteswissenschaft gewinnen. Für den gegenwärtigen Zustand der Psychologie sind aber diese beiden Standpunkte unhaltbar geworden. Weder ist diese nach Aufgabe wie Inhalt eine Naturwissenschaft, noch ist sie ein Bestandteil der Philosophie an sich, sondern sie gehört so gut wie die Physik oder die Geschichte zu den empirischen Einzelwissenschaften*). So ist denn auch die Philosophie weder nach ihrer Geschichte noch nach ihrem gegenwärtigen Zustand eine Geisteswissenschaft. Geschichtlich ist es eine offenkundige Tatsache, daß nicht nur die Philosophie der Griechen mit naturphilosophischen Spekulationen begonnen hat, sondern daß auch in der neueren Zeit von Bacon und Descartes an bis auf Kant der Einfluß der Naturwissenschaften der vorherrschende gewesen ist, dem erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die Geistes- wissenschaften die Wage hielten. Aber auch diese zeitweise Verschiebung des Schwerpunktes bedeutet offenbar keineswegs eine Lösung der alten Beziehungen zu den exakten Wissenschaften. Wie vielmehr die Er- kenntnistheorie noch immer in der naturwissenschaftlichen Forschung die transzendente metaphysische Begrifisbildung in der Mathematik ihre nächste Grundlage findet, so stützt sich die Philosophie ander- seits überall da, wo der Gedanke der geistigen Entwicklung auf sie Ein- Auß gewinnt, auf Psychologie und Geschichte. Ihr eigenstes Streben ist aber schließlich darauf gerichtet, den Motiven gleichmäßig gerecht zu werden, die von den verschiedenen Seiten her an sie herantreten, um so jener „Scientia universalis“ nahezukommen, mit der Leibniz dereinst ihre Aufgabe bezeichnet hat. Aus dieser Aufgabe ergibt sich nun zugleich die Gliederung der Philosophie. Zunächst gibt es nämlich zwei Gesichtspunkte, unter denen der allgemeine Inhalt der Wissenschaften betrachtet werden kann: den logischen, der sich auf die in ihnen herrschenden Gesetze des Denkens bezieht, und den metaphysischen, der die prinzi- piellen Voraussetzungen und deren Zusammenhang zum Gegenstande hat. Beide Gesichtspunkte beginnen nicht erst außerhalb der Einzel- wissenschaften, sondern ihr Ursprung liegt in diesen selbst. Denn ebenso wie die Erkenntnisfunktionen in allen Einzelgebieten zur An- *) Vgl. hierzu Bd. III, Abschn. I, Kap I. Das natürliche System der Wissenschaften. 97 wendung kommen, so operieren diese bereits mit Hypothesen, zu denen sie durch den Trieb nach durchgängiger logischer Verknüpfung der Tat- sachen geführt werden. Logik und Metaphysik sind in diesem Sinne lediglich Verallgemeinerungen und Weiterführungen der innerhalb der Einzelgebiete überall bereits entstandenen Problemstellungen und der Versuche zu ihrer Lösung. Ebenso entspricht die weitere Gliederung dieser philosophischen Aufgaben der im einzelnen schon vorbereiteten Scheidung der Betrachtungen. So zerfällt die Logik in allgemeine Logik und Erkenntnistheorie, und auf der Grundlage beider erhebt sich dann die allgemeine Methodenlehre. Sie hat, wie die obige Darstellung zu zeigen versuchte, die in der allgemeinen Logik erörterten Formen des Denkens auf die Hauptaufgaben wissenschaftlicher Forschung anzu- wenden. Auf diese Weise leitet sie zugleich in die Logik der einzelnen Gebiete wissenschaftlicher Forschung, die wiederum die Prinzipien der Methodenlehre und Erkenntnistheorie auf die verschiedenen Wissen- schaften anwendet und durch die von den letzteren selbst gewonnenen Forschungsmaximen ergänzt. Genau dieser Gliederung entspricht nun die der Metaphysik, nur daß in ihr an die Stelle des methodologischen der systematische Gesichtspunkt und demnach an die der logischen Analyse der wissenschaftlichen Forschungsmethoden und ihrer Voraus- setzungen die erkenntnistheoretische Prüfung der Grundbegriffe der Wissenschaft tritt. Wie die allgemeine Erkenntnistheorie in die Logik der einzelnen Wissenschaftsgebiete ausläuft, so endet demnach ver- möge der Gliederung ihrer Aufgaben die Metaphysik als Prinzipienlehre in Philosophie der Mathematik, Naturphilosophie, Philosophie der Geschichte und der Gesellschaft u. s. w. Innerhalb dieser Unterdis- ziplinen kreuzt sie sich dann wieder mit den entsprechenden Zweigen der konkreten Logik, daher denn auch weder die Logik in diesen ihren Spezialisierungen ganz von den metaphysischen Begrifisbildungen der betreffenden Gebiete noch auch die Metaphysik von den logischen Methoden und den in ihnen herrschenden logischen und methodologi- schen Gesichtspunkten abstrahieren kann. Gerade in den den Haupt- gebieten der Einzelforschung beigeordneten Zweigen der Philosophie durchkreuzen sich daher der logische und der metaphysische Gesichts- punkt so sehr, daß es sich im allgemeinen nur um ein relatives Überge- wicht der einen oder der anderen Betrachtungsweise handeln kann, da- her auch in den philosophischen Disziplinen, die solchen Einzelgebieten zugeordnet werden, beide Seiten, die logische wie die metaphysische, berücksichtigt werden. So ist denn das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften von Anfang an ein doppeltes. Auf der Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 7 98 Allgemeine Methodenlehre, einen Seite vereinigt sie das Getrennte, auf der anderen scheidet sie das Verbundene. So strebt sie zunächst nach einer Vereinigung der ge- trennten Quellen des Wissens in einer einheitlichen Weltanschauung. Diese Aufgabe zerlegt sich ihr aber wieder in die logische, die das Erkennen in seinem durch die Gesetze des menschlichen Denkens bestimmten Werden, und in die metaphysische, die es in dem systematischen Zusammenhang seiner Prinzipien zum Inhalte hat. Hierauf scheidet sich dann jede dieser Aufgaben wieder nach den ver- schiedenen Gebieten wissenschaftlicher Erkenntnis, und diese Scheidung durchkreuzt sich endlich mit der unumgänglichen Verbindung jener ab- strakten Standpunkte gegenüber den konkreten Problemen. Außerdem wird der tatsächliche Bestand der philosophischen Disziplinen noch durch den Umstand beeinflußt, daß gewisse unter ihnen teils wegen ihrer besonderen Wichtigkeit, teils weil bei ihnen am meisten die von der Einzelforschung gelassene Lücke empfunden wird, vor anderen das Bedürfnis nach philosophischer Bearbeitung wachgerufen haben. Das sind durchweg solche, bei denen die Tatsachen und die aus ihnen ab- strahierten Gesetzmäßigkeiten zugleich einer psychologischen Durch- forschung bedürfen. So kommt es, daß insbesondere aus der Philosophie der Geisteswissenschaften seit langer Zeit drei Gebiete sich der be- sonderen Beachtung aufgedrängt haben: die Ethik mit der ihr nahe verbundenen Rechtsphilosophie, deÄsthetikunddieReligions- philosophie, zu denen sich schließlich als eine vierte, den Gesamt- inhalt des geistigen Lebens unter dem genetischen Gesichtspunkt um- fassende Disziplin die Philosophie der Geschichte ge- sellt. Hiernach können wir das System der Wissenschaften, wenn wir von den zum Teil durch praktische Rücksichten bestimmten näheren Spezialisierungen sowie von Zwischengebieten absehen, wie sie z. B. in der Mechanik zwischen Mathematik und Physik sich einschiebt, nach dem folgenden Schema systematisch ordnen*). *) Einteilungen einzelner Gebiete, die zugleich den praktischen Bedürf- nissen Rechnung tragen, sind z. B. für die Geographie von A. Hettner (a. a. O.), für die Rechtswissenschaft von H. OÖ. Lehmann gegeben worden (Die Systematik der Wissenschaften und die Stellung der Jurisprudenz, 1897). Beide Autoren haben dabei ein allgemeines System der Wissenschaften ent- worfen, um innerhalb desselben den von ihnen näher behandelten Gebieten ihre Stellung anzuweisen. Seitdem d’Alembert in der Einleitung zur großen französischen Enzyklopädie seine im wesentlichen im Anschluß an Bacon ge- gebene Klassifikation der Wissenschaften durch eine solche der Künste zu er- gänzen suchte, hat auch dieses Unternehmen mehrfach Nachahmung gefunden: so besonders noch bei R. de la Grasserie (a. a. ©. p. 91f.). Da die Gesichts- Das natürliche System der Wissenschaften. ‚oıydosoyud yısäydegoyy ‚ereigaßsyeyosusssiy uaujazule 49p eiydosofiyd 607 Al errlen SlloayrsıuJuuayug 21807 BlIv eiydosojıyd sıydosojıyd -suoöjey Fıu73 ANeyısey -ınyen Altewoygeyy 'P 'Sollyd a EEE e}y91y9SEH Jep alydosojiyg | us}Jeyosuassıy\ | usujazula sap YıBo] ——— Huyajuspoyjay (eiydosojiyg 42P a}yoıyosaH) yeyosuassıy\ 4ap oryaıy9saH "woßly "n's'n Yeyasuassım -suorBlloy msn 81BojoyoAsd *-51409 er1yo Fa ae en SIHRINDPSDANEN 7 1u0jünsoB (Bunuyosurewisayuiun) Syosgewsgskg -syeyosyum | SE EUN LIDL eıdoroıg InYIeyuauon Jung ojsuny “SYOSNIIOT SıugBInaSD ug 'ueBig Sıwoyo 'BllV Exap ianekb Bi se eıBojoyoAsg SlWoUONSY 8150]099 yısAyd SayaısyeyBiye | 34 ie | I EILLIEITERSN | -Btuuep En eloeyuejyez ayosıBoı | eyosıBoj | | ueyjeyosuassimsajsion us}jeyosuossiminyeN areweyreyy Sujoy ‚uayjeyosuassimjezug punkte eines solchen Systems der Künste ästhetischer, nicht erkenntnis- theoretischer Art sind, so liegen jedoch diese Versuche außerhalb unserer gegen- wärtigen Aufgabe, 100 Allgemeine Methodenlehre. Die folgende Darstellung der logischen Prinzipien und Methoden der Einzelwissenschaften muß sich im Hinblick auf dienotwendigen Grenzen, die hier zwischen den eigenen Aufgaben der speziellen Forschungs- gebiete und denen der allgemeineren logischen Untersuchung zu ziehen sind, darauf beschränken, die reine Mathematik nur insoweit in den Kreis dieser Betrachtung zu ziehen, als einerseits die Eigenart ihrer Begriffsbildung eine logische Untersuchung ihrer Grundbegriffe erheischt, und als sie anderseits durch die formale Allgemeinheit ihrer Begriffe und Methoden eine grundlegende Bedeutung für alle die Er- fahrungswissenschaften besitzt, in denen die von ihr ausgebildeten formalen Methoden bei der Lösung der Probleme Verwendung finden. Diese Anwendungen sind an und für sich nicht auf die Naturwissen- schaften beschränkt; sie sind aber in diesen von so überwiegendem Um- fang, daß es sich rechtfertigen wird, wenn wir hier die Mathematik vorzugsweise als Grundlage der Naturwissenschaften ins Auge fassen. Auch handelt es sich überall, wo sonst noch die mathematische Betrach- tung Platz greift, wie bei den Maßmethoden der Psychologie oder bei der Behandlung der Massenerscheinungen der Gesellschaft, überall nur um besondere, dem speziellen Zweck angepaßte Anwendungen derselben Methoden, die auch schon bei zahlreichen naturwissenschaftlichen Auf- gaben in Frage kommen. In den Systemen der Natur- und der Geistes- wissenschaften endlich werden wir uns im wesentlichen auf diejenigen allgemeinen Gebiete beschränken können, die für die Ausbildung der Prinzipien und Methoden entscheidend sind. Das sind in der Natur- wissenschaft, abgesehen von den für alle grundlegenden allgemeinen Prinzipien, zu denen insbesondere auch die der Mechanik gehören, die drei Gebiete der Physik, der Chemie und der Biologie. Zweiter Abschnitt. Die Logik der Mathematik. Erstes Kapitel. Die allgemeinen logischen Methoden der Mathematik. 1. Die Aufgaben der mathematischen Untersuchung. Wie die meisten andern Wissenschaften, so hat auch die Mathe- matik aus praktischen Bedürfnissen ihren Ursprung genommen. Die Zählung von Wertobjekten, die Messung von Flächen und Körpern bildeten ihre ersten und lange Zeit ihre einzigen Aufgaben. Zählung und Messung fallen jedoch immer erst dann in den Bereich mathe- matischer Erwägungen, wenn sie nicht direkt sich erledigen lassen, sondern wenn zwischen die Aufgabe und ihre Lösung logische Hilfs- operationen eintreten müssen; und letzteres geschieht, sobald nicht die in Frage stehenden Werte und Größen selbst, sondern statt ihrer irgendwelche andere, die zu den gesuchten in bekannten Beziehungen stehen, gezählt und gemessen werden. Zu einer solchen indirekten, erst mit Hilfe der Rechnung zu vollziehenden Größenmessung greifen wir entweder, weil die direkte Messung zu weitläufig, oder weil sie überhaupt unmöglich ist. Während wir bei der direkten Größenmessung auf die Anwendung des ursprünglichsten arithmetischen Verfahrens, der Addition, uns beschränken, ist schon die Entwicklung der übrigen einfachen arithmetischen Operationen durchaus an die Aufgaben der indirekten Größenmessung gebunden. So sucht man z. B. bei der Sub- traktion zum Maß einer Größe dadurch zu gelangen, daß man sie als die Differenz zweier anderer direkt gemessener Größen bestimmt. In diesem Sinne kann man sagen: Die Mathematik hat begonnen, sobald der menschliche Geist über die Stufe der Addition sich erhoben hatte. Die drei einfachen Operationen, die sich zunächst an sie anschließen, bilden, als die einfachsten Fälle indirekter Größenmessung, zugleich die Quellen, aus denen alle anderen mathematischen Methoden hervorgegangen sind. 102 Die Logik der Mathematik. Aber wenn sich auch ohne das Problem der indirekten Größen- messung niemals das mathematische Denken entwickelt hätte, so wird doch keineswegs durch jenes Problem die wissenschaftliche Aufgabe der Mathematik erschöpfend bezeichnet. Schon Plato hat der Arith- metik und Geometrie andere Ziele gesteckt, als sie von der praktischen Rechen- und Meßkunst verfolgt werden, und lange vor ihm spricht sich in dem Kultus der Zahlen, wie ihn die Pythagoreische Schule geübt, ein dunkles Bewußtsein der Wahrheit aus, daß die Objekte der Mathematik um ihrer selbst willen ein wissenschaftliches Interesse besitzen. Die Geschichte hat diese Voraussicht bestätigt; denn heute beschäftigen sich ganze Zweige der mathematischen Untersuchung mit Fragen, bei denen es auf eine Größenmessung keineswegs abgesehen wird. Bei den Betrachtungen der Zahlentheorie, des Funktionen- kalküls, der projektivischen Geometrie u. s. w. handelt es sich überall um die Feststellung der Eigenschaften der Begriffe und ihrer Bezie- hungen, während eine wirkliche Messung von Größen höchstens in nebensächlicher Weise beabsichtigt wird. Nicht sie ist demnach der eigentliche Zweck der Mathematik, sondern diese stellt sich die weit allgemeinere Aufgabe: diedenkbaren Gebildederreinen Anschauung sowie die auf Grund der reinen An- schauung vollziehbaren formalen Begriffskon- struktioneninBezugaufalleihre Eigenschaften und wechselseitigenRelationeneinererschöpfen- den Untersuchung zu unterwerfen. Auf die Gliederung der Mathematik ist die allmählich eintretende bewußtere Erkenntnis dieser Aufgabe nicht ohne Einfluß gewesen. So lange der Ursprung aus der praktischen Rechen- und Meßkunst noch nachwirkte, blieben Arıthmetik und Geometrie ihre Hauptzweige. Die vielfachen Beziehungen zwischen beiden, die bald in der geometrischen Darstellung arithmetischer Sätze, bald in der arithmetischen Verwertung geometrischer Resultate ihren Ausdruck fanden, führten endlich zu dem Gedanken der Größenlehre als einer allgemeineren Disziplin, deren Voraussetzungen ebensowohl Zahlen- wie Raumgrößen umfassen sollten. Sie hat in der algebraischen Behandlung der Gleichungen eine zunächst noch vorwiegend durch arithmetische Gesichtspunkte bestimmte Form gewonnen, bis ihr durch Descartes’ Erfindung der analytischen Geometrie ihre allgemeinere Bedeutung gesichert wurde. Diese Erfindung hat aber zugleich, in- folge der mit verstärkter Gewalt hervortretenden Notwendigkeit der numerischen Ausmessung stetiger Raumgrößen, zu Erweiterungen des Die Aufgaben der mathematischen Untersuchung. 103 Zahlbegriffs geführt, durch die er allmählich vollständig mit dem Größenbegriff selber sich deckte, so daß Newton bereits das Gebiet der seitherigen Algebra mit dem Namen der „Arithmetica universalis“ belegen konnte. Der moderne Ausdruck Analysis (bei dem man zunächst an die analytische Methode der Logik nicht denken darf) umfaßt diese aus der Algebra der arabischen Mathematiker allmählich emporgewachsene allgemeinste Disziplin der Mathematik in ihrem ganzen Umfange. Vermöge jener Erweiterungen des Zahlbegrifis bildet die Arithmetik nur noch einen Zweig der Analysis. Im selben Maße wie die alte Arithmetik ihre Selbständigkeit aufgab, machte sich aber das Erfordernis fühlbar, die Umwandlungen des Zahlbegrifis selbst sowie überhaupt dessen allgemeine Eigenschaften der Untersuchung zu unterwerfen. So entstand die heutige Zahlentheorie, ein Gebiet der reinen Mathematik, das praktischen Anwendungen und wirklichen Größenmessungen beinahe am fernsten liegt, obgleich es sich gerade mit jenen Elementen beschäftigt, auf die schließlich jede Messung zurückführt. Diesen Umgestaltungen der alten Arithmetik gegenüber hat die Geometrie in Bezug auf das Objekt ihrer Unter- suchungen im ganzen mehr ihren ursprünglichen Charakter bewahrt, so weit sie nicht der Analysis oder diese ihr dienstbar geworden ist. Immerhin sind auch hier Versuche einer analogen, aber die wesent- lichen Eigenschaften des Geometrischen bewahrenden Behandlung hervorgetreten, indem man von allen sonstigen Eigenschaften des Raumes außer der stetigen Ausdehnung abstrahierte und so der kon- kreten Raumlehre eine allgemeinere Ausdehnungslehre über- ordnete*). Von hier ausgehend lag es dann nahe, auch das Stetige aus dem obersten Begriff zu entfernen, um Ausdehnungs- und Zahlen- lehre als Gebiete zu behandeln, die nebst anderen denkbaren Begrifis- konstruktionen wieder in einer abstrakten Mannigfaltigkeits- lehre oder Formenlehre enthalten seien**). Diese letzte Begriffs- *), H. Graßmann, Die Ausdehnungslehre von 1844 oder die lineale Ausdehnungslehre ein neuer Zweig der Mathematik?, 1878. **) Den Ausdruck „Mannigfaltigkeitslehre“ hat Riemann, den Ausdruck „Formenlehre“ Graßmann zuerst eingeführt. B. Riemann, Gesammelte mathematische Werke, 1876, S. 255. Graßmann, Ausdehnungslehre, S.1f£. Übrigens hat Graßmann auch die Betrachtung der Zahlen in seine Aus- dehnungslehre hineingezogen, indem er dieselben als „Ausdehnungsgrößen nullter Stufe“ (d. h. als Punkte) behandelte (a. a. O. S. 107). Vgl. hierzu mein System der Philosophie”, I, S. 13ff., 233ff. und den Aufsatz über die Einteilung der Wissenschaften, Philosophische Studien, V, S. 34 ff. 104 Die Logik der Mathematik. erweiterung führt zur Aufstellung einer allgemeinsten mathematischen Disziplin, als deren spezielle Zweige alle einzelnen mathematischen Wissenschaften betrachtet werden können, und durch deren Inhalt daher auch die Aufgabe der Mathematik in der allgemeinsten Form bezeichnet sein muß. Die beiden oben gebrauchten Ausdrücke deuten diesen Inhalt in verschiedener Weise an, indem sie zugleich auf zwei Erfordernisse hinweisen, die bei den Gegenständen mathematischer Untersuchung erfüllt sein müssen. Das erste dieser Erfordernisse ist das Gegebensein einer Mannigfaltigkeit zusammengehöriger Denkobjekte, das zweite die rein formale, d. h. ausschließlich die wechselseitigen Relationen der Denkobjekte, nicht ihre eigene kon- krete Beschaffenheit in Betracht ziehende Behandlungsweise. In diesem weitesten Umfange umfaßt die Mathematik auch den formalen Teil der Logik, welcher eben darum vollständig einem mathematischen Algorithmus sich unterwerfen läßt. Da ferner alles in der Erfahrung Gegebene auf Relationen mannigfaltiger Denkobjekte zurückgeführt werden kann, so ist jede Erfahrungswissenschaft an und für sich einer formalen oder mathematischen Behandlungsweise zugänglich, wobei es jedoch selbstverständlich von äußeren Bedingungen abhängt, ob und in welchem Umfange diese mathematische Behandlung anwendbar ist. Dagegen ist die Mathematik selbst durchaus nicht auf die Unter- suchung derjenigen formalen Relationen beschränkt, die sie an den Objekten der Erfahrung verwirklicht findet, sondern es steht ihr frei, die in der Erfahrung gegebenen Bedingungen beliebig zu erweitern oder zu verengern. Da sie eine rein logische Wissenschaft ist, so findet sie ihre Schranken immer nur an der formalen Ausführbarkeit der durch bestimmte Voraussetzungen geforderten Denkoperationen. Natur- gemäß aber müssen diese Voraussetzungen anknüpfen an die empi- risch gegebenen Relationen wirklicher Objekte; sie können nicht als völlige Neuschöpfungen auftreten, sondern nur als willkürliche Veränderungen gegebener Beziehungen. Deshalb hat auch die Aus- bildung der mathematischen Methoden fast nur von denjenigen Auf- gaben, welche dem Denken aus den mannigfaltigen Beziehungen der Erfahrungsobjekte erwuchsen, ihre Antriebe empfangen. Insbesondere läßt sich zeigen, daß jede der fundamentaleren mathematischen Me- thoden aus bestimmten Rechnungs- oder Messungsaufgaben hervor- gegangen ist, die bald die Bedürfnisse des praktischen Lebens, bald die Probleme der Naturwissenschaft nahe legten. So verdanken zunächst die zwei Hauptzweige der älteren Ma- thematik, Arithmetik und Geometrie, ihre Trennung und selbständige Die Aufgaben der mathematischen Untersuchung. 105 Ausbildung den verschiedenartigen Anforderungen, die der Handels- verkehr und die Aufgaben der Feldmessung an die Rechenkunst stellten. Auf diese Weise fügte es ein glücklicher Zufall, daß die äußeren Be- dürfnisse, die der Mathematik ihre ersten Impulse gaben, mit jener naturgemäßen Scheidung der Probleme zusammentrafen, welche in der Verschiedenheit der mathematischen Grundbegriffe selbst ihre Wurzel hat. Die diskrete Zahl und die stetige Ausdehnung sind bis auf den heutigen Tag die heterogensten Begriffe der Mathematik ge- blieben, an deren Vermittlung die letztere in einer mehr als zweitausend- jährigen Entwicklung gearbeitet hat. Jede Messung muß, wenn sie praktisch brauchbar sein soll, ein numerisches Resultat ergeben; aber die stetige Größe fügt sich einer genauen Ausmessung nach ganzen Zahlen nur in glücklichen Ausnahmefällen. Diese Schwierigkeit würde vielleicht früher schon in empfindlicherer Weise fühlbar geworden sein, hätte nicht die nämliche Verschiedenheit der Begriffe, welche die erste Scheidung der mathematischen Gebiete bewirkte, auch zu einer Ver- schiedenheit der mathematischen Begabungen geführt, die einer tieferen Auffassung der Beziehungen im Wege stand. Während der Grieche die Zahlverhältnisse räumlich darzustellen liebte und daher ohne Be- denken überall, wo die Zahl nicht ausreichte, zur geometrischen An- schauung griff, half sich der indische Rechner, wenn die gewohnten arithmetischen Operationen auf geometrische Objekte nicht ohne wei- teres anwendbar waren, gelegentlich mit unzureichenden Näherungs- methoden*). Erst das aus den Anregungen indischer Arithmetik und griechischer Geometrie hervorgegangene Streben arabischer Algebristen, ebensowohl arithmetische Beziehungen geometrisch zu gestalten, wie geometrische Sätze in arithmetische Formen zu bringen, hat allmählich zu jener allgemeingültigen Form mathematischer Untersuchungen übergeführt, wie sie in der modernen Analysis Geometrie und Arith- metik gleichzeitig beherrscht und durch das Mittelglied der Geometrie selbst die physischen Vorgänge in das nämliche Gewand abstrakter mathematischer Formeln kleidet. Bei den großen Vorteilen, welche diese alle Gebiete der Mathematik und ihrer Anwendungen umfassende Methode darbietet, ist es begreiflich, daß sie auf längere Zeit beinahe die Alleinherrschaft behauptete, indem insbesondere die konstruktiven Methoden der Geometrie jahrhundertelang auf der nämlichen Stufe stehen blieben, auf die sie schon die Alten erhoben hatten. Da die *) Vgl. M.Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, S. 546 ff. 106 Die Logik der Mathematik. Analysis die schwierigsten geometrischen und mechanischen Probleme zu lösen vermochte, so gab man sich mit den Resultaten zufrieden, gleichgültig ob die Anschauung dem Gang der analytischen Entwick- lung zu folgen im stande war oder nicht. Erst die synthetischen Me- thoden der neueren Geometrie haben in dieser Beziehung einen be- deutsamen Umschwung herbeigeführt. Indem sie zeigten, daß die Resultate mühseliger Rechnungen durch konstruktive Verfahrungs- weisen oft leichter und anschaulicher zu erreichen, und daß analytische Entwicklungen Schritt für Schritt in räumliche Anschauungen über- tragbar seien, haben sie die mit Descartes begonnene Verbindung abstrakter Untersuchung und konkreter Anwendung ihrer Vollendung entgegengeführt und der bis dahin vorherrschenden’ analytischen Be- handlung die geometrische Anschauung als gleichberechtigtes und ihrer- seits der Analysis neue Ideen zuführendes Hilfsmittel an die Seite gestellt. Unter dem Übergewicht abstrakter algebraischer Formeln hatte sich die geometrische Konstruktion in einem steifen, die freie Bewegung hemmenden Gewande bewegt. Jetzt begann man überall nach den der Natur der Objekte angemessensten Konstruktionen zu suchen, infolge deren dann auch wieder zweckmäßigere arithmetische Methoden gefunden wurden. Die neu geübte geometrische Gestaltungs- kraft gestattete es, bisher tot liegende analytische Formen durch die Anschauung zu beleben, und Begriffen, deren Wert fast nur auf zu- fälligen Entdeckungen beruhte, wie den komplexen Zahlen, eine reale anschauliche Bedeutung zu sichern. So ist auch die Arithmetik wieder, in ähnlicher Weise wie dereinst in der Blütezeit hellenischer Mathe- matik, nur verändert durch die seitdem weit fortgeschrittene Ent- wicklung, überall von geometrischen Vorstellungen durchdrungen worden. Die hier in flüchtigen Umrissen angedeutete Entwicklung des mathematischen Denkens macht es begreiflich, daß die logischen Methoden desselben in ihrer Entstehung einer bestimmten Gesetz- mäßigkeit gefolgt sind. Dabei ist zwar nicht selten eine ältere Methode vor einer neu auftauchenden in den Schatten getreten; im allgemeinen aber wird das Neue dem Schatz des bereits Erworbenen zugefügt und läßt diesen selbst an Wert und Verwendbarkeit zunehmen. In dieser Sicherheit ihrer Entwicklung, ebenso wie in ihrem ganzen Aufbau, ist die Mathematik die logisch vollendetste Wissenschaft; sie steht außer- dem noch deshalb der Logik am nächsten, weil sie nichts anderes als die logische Untersuchung der allgemeinen Anschauungsformen und der mit ihrer Hilfe vollziehbaren Begriffiskonstruktionen zu ihrem Gegen- Die mathematische Analyse und Synthese. 107 stande hat. Umsomehr ist es erforderlich, hier die Grenze scharf zu bezeichnen, welche die LogikderMathematik von der Mathe- matik selber trennt. Insofern die mathematischen Grundbegriffe und Methoden zum Zweck der Lösung der oben bezeichneten Probleme entwickelt und angewandt werden, sind sie ganz und gar Gegenstand der mathematischen Untersuchung. Insofern man aber nach dem logischen Ursprung jener Begriffe und Methoden und nach ihrem Verhältnis zu den allgemeinen Gesetzen des Denkens frägt, werden sie Objekte der Logik. Darin liegt zugleich eingeschlossen, daß sich die Logik auf die Untersuchung der allgemeinen Prinzipien der mathe- matischen Methodik beschränken muß. Auch wird diese Arbeitsteilung von seiten der Mathematik tatsächlich eingehalten, da diese den prin- zipiellen logischen Fragen meist aus dem Wege geht oder höchstens gelegentlich sie berührt, wenn etwa zufällig einmal der Mathematiker zugleich zum Logiker wird. Die Logik der Mathematik kann nun aber ihrerseits wieder von zwei Gesichtspunkten ausgehen. Erstens kann sie fragen, welche Formen die allgemeinen Methoden der wissenschaftlichen Forschung in ihrer Anwendung auf das mathematische Untersuchungsgebiet an- nehmen. Die aus dieser Frage entspringenden Betrachtungen, welche die Untersuchung der mathematischen Analyse und Synthese, Ab- straktion, Induktion und Deduktion zu ihrem Gegenstande haben, weisen wir der im gegenwärtigen Kapitel zu behandelnden all- gemeinenmathematischen Methodenlehre zu. So- dann kann zweitens der logische Charakter der in den einzelnen Haupt- gebieten der Mathematik herrschenden Methoden untersucht werden. Dies ist Jie Aufgabe einer speziellen mathematischen Methodenlehre, mit der sich die folgenden Kapitel beschäf- tigen sollen. 2. Die mathematische Analyse und Synthese. Die Unterscheidung der analytischen und synthetischen Methode ist von Euklid, zum Teil nach Platonischem Vorbilde, in die Mathematik eingeführt worden. Analysis und Synthesis sind bei ihm die beiden Unterformen der syllogistischen Beweismethode. Bei der Analysis nimmt man das zu Beweisende als zugestanden an und zeigt, daß die daraus gezogenen Folgerungen mit allgemein als wahr anerkannten Sätzen übereinstimmen. Bei der Synthesis geht man von als wahr an- erkannten Sätzen aus und zeigt, daß die Folgerungen den zu beweisenden 108 Die Logik der Mathematik. Satz enthalten*). Beide Methoden fügen sich bei Euklid in das nämliche vielgliederige Schema von Definitionen, Axiomen, Theoremen und Problemen, und es ıst klar, daß ın beiden Fällen der zu beweisende Satz existieren muß, ehe der Beweis angetreten wird, daß sie also Demonstrations-, nicht Untersuchungsmethoden sind. Zugleich hat die synthetische Methode einen unverkennbaren Vorzug dadurch, daß sie stets zu einem bindenden Beweise führt, während das analytische Ver- fahren nur dann unbedingt richtige Folgerungen gestattet, wenn der Beweis ein indirekter oder apagogischer ist. Der direkte analytische Beweisgang dagegen wird nur in dem Falle zwingend, wenn das Ver- hältnis von Grund und Folge zugleich ein Verhältnis der Wechsel- bestimmung ist, so daß die Folge als Grund den Grund als Folge her- vorbringen würde. Gerade deshalb aber kann der direkte analytische Beweis bei Euklid stets durch einen synthetischen ersetzt werden. Eine wesentlich andere Bedeutung gewinnt die Unterscheidung der analytischen und synthetischen Methode erst bei Descartes. Ana- Iysis nennt er dasjenige Verfahren, durch welches das Wesen eines Gegenstandes unmittelbar erforscht werde, und welches daher auch beim Unterricht der Mathematik zu bevorzugen sei, weil es den Schüler selbst den Weg der Erfindung führe. In seiner Geometrie hat er ein mustergültiges Beispiel dieser Methode aufgestellt. Überall besteht hier die Analyse in einer zweckmäßigen Zerlegung des Ganzen, dessen Untersuchung in Frage steht, in Elemente und eventuell in der kon- struktiven Hinzufügung anderer Elemente, die zusammen mit den gegebenen eine vollständige Bestimmung der Eigenschaften des unter- suchten Gebildes möglich machen. Zugleich aber hält es Descartes für wesentlich, daß diese analytische Untersuchung in der allgemeinsten Form geführt werde, damit die Beschaffenheit der Verstandesopera- tionen und die allgemeine Bedeutung der Resultate deutlich hervor- trete. In diesem Sinne macht er der Analysis der Alten den Vorwurf, daß sie den Geist an die Betrachtung der Figuren gebunden und darum die Einbildungskraft ermüdet, die Übung des Verstandes aber verab- säumt habe; und seine eigene Methode bezeichnet er als ein Verfahren, das, die Analysis der Alten mit der Algebra der Neueren und der syllogistischen Kunst verbindend, die Vorteile dieser aller wahrnehme und ihre Fehler vermeide**). So äußerlich diese Definition auch erscheinen mag, so deutet sie doch trefiend den Charakter der neueren Analysis * Euklids Elemente, XIII, 1, und oben Abschn. I, S. 70 ff. **) Discours de la methode. Oeuvr. publ. parCousin,l,p. 140. Die mathematische Analyse und Synthese. 109 an, zu der Descartes’ Geometrie den Grund gelegt hat. Das Prinzip der analytischen Methode Platos und Euklids, daß das Gesuchte als bereits gegeben vorausgesetzt werde, ist eines der mächtigsten Werk- zeuge auch dieser Analysis. Aber die eigentliche Quelle seiner An- wendungen liegt hier wie in anderen Fällen schon in der Einführung der algebraischen Symbolik. Indem das Buchstabensymbol jede be- liebige bekannte, unbekannte oder veränderliche Größe bezeichnen kann, ist es ein überall brauchbares Hilfsmittel, um das Gesuchte in der Rech- nung so zu verwenden, als wenn es gefunden wäre. Schon vor Descartes hatte sich daher das analytische Verfahren in den algebraischen Me- thoden zur Lösung der Gleichungen praktische Geltung verschaftt. Doch bewegen sich diese Anwendungen ausschließlich auf arithme- tischem Gebiete, und es bleibt so Descartes das Verdienst, daß er zuerst mit durchschlagendem Erfolg die allgemeinere Anwendbarkeit der alge- braischen Symbolik kennen lehrte. Erst die Einführung dieser Sym- bolik machte aber die Analysis zu einem der Synthesis logisch gleich- wertigen Verfahren. Die Analysis der Alten war, als ein Schluß von der Folge auf den Grund, wegen der Mehrdeutigkeit dieser Schlußform im allgemeinen unsicherer und eben darum von beschränkterer Anwendung gewesen als die Synthesis. Dieser Unterschied besteht für die neuere Analysis nicht mehr: hier ist ein analytisch gewonnener Satz von ebenso zwingender Gewißheit wie das Resultat einer synthetischen Demon- stration. Die Analysis der Alten hatte sich in geometrischen Konstruk- tionen bewegt, deren Ergebnisse in einer Reihe von Bedingungsurteilen niedergelegt waren. Sollte hier ein direkter Beweis in bindender Weise geführt werden, so war zu prüfen, ob jedes Bedingungsurteil zugleich ein Verhältnis der Wechselbestimmung enthalte, also umkehrbar sei. Diese Prüfung wurde hinfällig, sobald für jede Art mathematischer Untersuchungen der abstrakte arithmetische Ausdruck jn Anwendung kam. Denn nun trat an die Stelle ds Bedingungsurteils die algebraische Gleichung, welche, da sie stets umkehrbar sein muß, bei ihrer Auf- stellung bereits jene Prüfung bestanden hat. War aber die Analysis erst in Bezug auf Strenge der Beweise der synthetischen Methode eben- bürtig geworden, so konnte es nicht fehlen, daß sie bei ihren sonstigen Vorzügen bald den Vorrang behauptete. Nur als Beweisverfahren hat die synthetische Methode Euklids noch lange Zeit die Herrschaft be- halten, und nicht selten mußten sich, wie das Beispiel Newtons zeigt, Untersuchungen, die auf analytischem Wege geführt waren, die müh- selige Umprägung in Euklidische Demonstrationen gefallen lassen. Im Gefolge dieser allmählichen Erweiterung ihrer Anwendungen 110 Die Logik der Mathematik. erweiterte sich zugleich der Begriff der Methode selbst. Die bei dem Gebrauch der algebraischen Symbolik vorausgesetzte Maxime, die gesuchten Größen ebenso wie die bereits gegebenen in die Rechnung einzuführen, wurde, weil als ein selbstverständliches, zugleich als neben- sächliches Moment angesehen. Indem sich die Demonstrations- in eine Untersuchungsmethode umwandelte, konnte nicht mehr die Stellung des Beweisobjektes, sondern nur noch das wechselseitige logische Ver- hältnis der aufeinanderfolgenden Sätze entscheiden. Hier aber erwies sich überall der Fortschritt vom Zusammengesetzten zum Einfachen, vom Besonderen zum Allgemeinen als das charakteristische Merkmal der Analyse, der umgekehrte Weg als das der Synthese. In dieser all- gemeineren, jedoch dem logischen Sinn der Ausdrücke vollkommen entsprechenden Weise faßten daher namentlich Newton und Leibniz den Unterschied beider Methoden auf*). Wie nun in der Regel die fertigen Begriffe mannigfache Spuren ihrer Vergangenheit an sich tragen, so gilt dies vielleicht von wenig Begriffen in so hohem Maße wie von dem der Analysis in der Mathe- matik. Die ganze Geschichte desselben scheint sich in seiner heutigen Bedeutung verdichtet zu haben. Eine weitere Erschwerung ist noch durch den Umstand eingetreten, daß der nämliche Ausdruck, der ur- sprünglich nur auf eine Methode bezogen wurde, nunmehr zur Be- zeichnung der ganzen Disziplin dient, in der jene Methode vorzugsweise zur Anwendung kommt, in der aber selbstverständlich auch solche Ver- fahrungsweisen, die ihrem logischen Charakter nach synthetische genannt werden müssen, keineswegs fehlen. Bleiben wir hier bei der methodologischen Bedeutung des Begriffes stehen, so werden sich nach dem Obigen hauptsächlich drei Kriterien der analytischen Methode unterscheiden lassen. Das erste besteht in der allgemeinen logischen Eigenschaft, daß sie den Weg von dem Zusammengesetzten zu dem Einfachen einschlägt; das zweite in der Wahl einer gleichförmigen, für die formale Ausführung der arithmetischen Operationen geeigneten Symbolik, welche alle Bedingungsurteile in Gleichungen umwandelt und dadurch den Schlußfolgerungen eine eindeutige Form gibt; end- lich das dritte in dem Euklidischen Prinzip, daß das Gesuchte gefunden wird, indem man es als gegeben voraussetzt. Diese drei Kennzeichen der analytischen Methode stehen in innigem Zusammen- hange miteinander. Sobald eines gegeben war, mußten daher die anderen *, Newton, Optice Lib. III, Quaestio XXXI. Ed. Lausanne 1740 p. 329. Leibniz, Math. Werke. Ausgabe von Gerhardt. III, S. 206. Die mathematische Analyse und Synthese. 131 allmählich von selbst entdeckt werden. Aber es ist bemerkenswert, daß sie nicht in der soeben angegebenen Reihenfolge ihrer logischen Wichtigkeit, sondern in der umgekehrten, die spezielleren voran, das allgemeinste zuletzt, zur Entwicklung gelangt sind. Im Verhältnis zu der Ausbildung der Analysis ist nun die Syn- thesis, als mathematische Methode betrachtet, verhältnismäßig lange zurückgeblieben. Augenscheinlich war es hier der Einfluß Euklids, der einer freieren Auffassung im Wege stand. Während man längst in dem analytischen Verfahren eine Forschungsmethode erkannt hatte, die sich nur gelegentlich zugleich in eine Darstellungsmethode ver- wandeln könne, hatte man bei dem synthetischen Verfahren die geo- metrische Demonstration im Auge. Nur hieraus erklärt es sich, daß noch Newton der Analyse ausdrücklich den zeitlichen Vorrang vor der Synthese einräumt. Nichtsdestoweniger findet diese Auffassung im Grunde schon in den einfachsten arithmetischen Operationen ihre Widerlegung. Die Addition, Multiplikation und Potenzierung sind synthetische Verfahrungsweisen, und sie sind zweifellos früher als die zu ihnen inversen Operationen der Subtraktion, Division und Radi- zierung, die als analytische bezeichnet werden können. Aber diese ein- fachen Operationen setzte man als gegeben voraus, man betrachtete sie als Hilfsmittel, deren sich jede Methode bedienen müsse, die aber nicht selbst den Rang von Methoden beanspruchen könnten. Obgleich daher in Wahrheit in Arithmetik und Zahlentheorie synthetische Methoden eine nicht geringe Rolle spielen, so ist doch wiederum die Geometrie es gewesen, in der die Erkenntnis reifte, daß auch die Syn- these den Wert einer Forschungsmethode besitzen könne. Faßt man bei Euklid nicht die äußere Form der Demonstration, sondern die Unter- suchungsmethoden ins Auge, wie sie vor allem in seinen geometrischen Konstruktionen zu Tage treten, so kann kein Zweifel bleiben, daß hier das herrschende Verfahren das analytische ist. (Vgl. unten Kap. III.) Im Gegensatze hierzu ist nun diejenige Richtung der neueren Geometrie, die sich selbst die synthetische nennt, bestrebt gewesen, ihre einzelnen Konstruktionen in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, in welchem aus den einfachsten Raumgebilden allmählich die zusammengesetzteren hervorgehen. Hier ist aber zugleich die syn- thetische Methode zur Forschungsmethode geworden, und als Dar- stellungsmethode empfiehlt sie sich nur unter dem nämlichen Gesichts- punkte, unter dem Descartes auch die analytische empfohlen hat, und unter dem das Demonstrationsverfahren Euklids bestreitbar ist, insofern nämlich, als im allgemeinen der zweckmäßigste Weg zur 112 Die Logik der Mathematik. Nachweisung einer Wahrheit in der Reproduktion ihrer Auffindung besteht. Unzweifelhaft ist die synthetische Methode in diesem neuen Sinne nicht auf die Geometrie beschränkt, sondern sie erstreckt sich über alle Gebiete der Mathematik. Zu einer folgerichtigen Anwendung derselben scheint aber allerdings eine anschauliche Beschaffen- heit der Untersuchungsobjekte erforderlich zu sein. Dafür spricht schon der Umstand, daß sie bei den komplizierteren Aufgaben der höheren Geometrie wachsenden Schwierigkeiten begegnet, so daß sie hier hinter der analytischen Behandlung zurückstehen muß. Diese Bedingung der Anschaulichkeit resultiert aus dem der synthetischen Methode eigentümlichen Konstruktionsverfahren, welches stets vor- aussetzt, daß irgend ein zusammengesetztes Ganzes in leicht zu über- sehender Weise aus der Synthese seiner Elemente gewonnen werde. Neben der Geometrie ist es daher die Mechanik, deren elementare Probleme eine synthetische Behandlung gestatten, wie denn auch in die nach ihrem vorherrschenden Charakter sogenannte analytische Mechanik und nicht minder in die analytische Geometrie Konstruk- tionen von synthetischem Charakter eingehen. Von den aus der Arith- metik hervorgegangenen Gebieten ist es hauptsächlich die Zahlentheorie, die bei ihrer Beschäftigung mit den einzelnen Zahlbegriffen und Zahl- gesetzen synthetischen Untersuchungen zugänglich oder sogar auf sie angewiesen ist. Hiernach kann, wenn wir die beiden Methoden unter überein- stimmenden Bedingungen ihrer Anwendung vergleichen, von einer zeitlichen Priorität der Analysis im Sinne Newtons nicht mehr die Rede sein. Vielmehr zeigen sich zahlreiche Probleme ebensowohl der synthetischen wie der analytischen Behandlung zugänglich. Nur bei den fundamentalsten Aufgaben gewinnt die synthetische Methode einen Vorrang und wird bei der Ableitung der einfachsten arithmetischen und geometrischen Sätze ausschließlich verwendbar, während um- gekehrt bei der Untersuchung sehr zusammengesetzter Objekte die Analyse die näherliegende und manchmal selbst die allein mögliche Methode ist. Mit diesem Verhältnis, das nahezu eine Umkehrung der früheren Auffassung in sich schließt, hängt ein weiterer Unterschied der modernen Begriffe von den älteren zusammen. Nach den letzteren stehen Ana- lysis und Synthesis beide im Dienste der Deduktion. Jede dieser Methoden setzt die Prinzipien, aus denen Folgesätze abgeleitet oder Beweise geführt werden sollen, als gegeben voraus. Nicht nur die Die mathematische Induktion und Abstraktion. 148 Definitionen und Axiome der Arithmetik und Geometrie, sondern auch alle möglichen einzelnen Zahlformeln und mit Lineal und Zirkel im Raume ausführbaren Konstruktionen, diese von Euklid zum Teil als Postulate bezeichnet, gelten als ein ursprüngliches Inventar, über welches die mathematische Deduktion beliebig verfügen könne. Wesent- lich anders gestaltet sich die Sache, wenn man, wie es in der neueren Mathematik geschieht, auf beiden Gebieten den genetischen Stand- punkt zur Geltung bringt. Es erhebt sich dann notwendig die Frage, wie jenes ursprüngliche Inventar selber entstanden sei, und wie seine einzelnen Bestandteile miteinander zusammenhängen oder auseinander hervorgehen. Hier ist es nun gerade auf der einen Seite die Zahlen- theorie, auf der anderen die synthetische Geometrie, die in ihren grund- legenden Teilen jene Frage zu beantworten suchen. Dadurch gelangt in beiden das logische Verfahren der Induktion zu umfassender Geltung. Auch die induktiven Operationen der Mathematik sind aber teils synthetischer, teils analytischer Art, wie dies schon an den vier arithmetischen Fundamentaloperationen zu sehen ist, deren einzelne Sätze nicht bloß durch Induktion gefunden sind, sondern auch allein auf induktivem Wege bewiesen werden können. 3. Die mathematische Induktion und Abstraktion. a. Der mathematische Realismus und Nominalismus, Bis in die neueste Zeit sind Mathematiker und Philosophen darin einig gewesen, in der Mathematik das Vorbild einer deduktiven Wissen- schaft zu sehen, die nur in einigen seltenen Fällen die sogenannte voll- ständige Induktion zu Hilfe nehme. Umso weiter haben sich die An- schauungen über die Natur der Voraussetzungen, von denen die mathe- matische Deduktion auszugehen habe, voneinander entfernt. Bald gilt die Mathematik deshalb als das Ideal einer Wissenschaft, weil ihre Fundamentalsätze durch ihre Evidenz und Allgemeingültigkeit auf eine dem Zufall wechselnder Erfahrungen entrückte Quelle der Erkenntnis in dem menschlichen Geiste selbst hinzuweisen scheinen. Bald behandelt man die Prinzipien der mathematischen Deduktion als empirisch entstandene, aber durch willkürliche Annahmen von den Erfahrungsobjekten abweichende Vorstellungen. Damit ist die meta- physische Verwertung der Mathematik beseitigt, und gleichwohl be- hält diese den Erfahrungswissenschaften gegenüber eine Ausnahme- stellung, wie sie für die apodiktische Geltung ihrer Sätze unerläßlich scheint. Beide Auffassungen begegnen sich daher in der Überzeugung, Wundt, Logik. U. 3. Aufl. 8 114 Die Logik der Mathematik. daß die Gewißheit der Mathematik auf der Unveränderlichkeit ihrer Voraussetzungen beruhe. Aber diese Voraussetzungen erscheinen dort als eingeborene Gesetze des Geistes, die dieser vielleicht aus einem überempirischen Dasein mitbringe, und in denen man darum geneigt ist gleichzeitig ursprüngliche Weltgesetze zu erblicken; hier verdanken sie ihre allgemeinere Geltung der Übereinkunft der Menschen und höchstens noch der praktischen Anwendbarkeit auf empirische Ob- jekte. Darum besitzt in diesem Fall das mathematische Wissen einen subjektiven und hypothetischen, gerade deshalb aber zugleich einen exakten Charakter: denn nur unsere subjektive Willkür kann den Begriffen jene Konstanz sichern, die zu einer exakten Beweisführung erfordert wird. Für beide Anschauungen erscheinen in diesen ihren Anwendungen auf das Gebiet der mathematischen Vorstellungen noch heute die alten Bezeichnungen des Realismus und Nomina- lismus als die passendsten*). Denn nach der einen Ansicht beruht die Bedeutung der mathematischen Ideen wesentlich auf ihrer realen Existenz im Geiste; die andere leugnet diese reale Existenz, jene Ideen gelten ihr als willkürliche Schöpfungen, welche durch die für sie ein- geführten Namen oder sonstigen Symbole die erforderliche Konstanz erst empfangen. Weder der mathematische Realismus noch der No- minalismus ist aber unverändert geblieben, sondern beide haben Wand- lungen erfahren, durch die sie im Laufe der Zeit einander genähert wurden. Der Realismus Descartes’ trägt in mancher Beziehung noch die Züge der Platonischen Ideenlehre. Die sinnlichen Objekte können nur darum mathematische Ideen in uns hervorrufen, weil diese vorher in unserem Geiste gelegen waren. Die Art, wie sie durch die äußeren Eindrücke erweckt werden, schildert er deutlich als eine Art Wieder- *) In seiner „allgemeinen Funktionentheorie“ (1882, T. I, 8. ‚58 fi.) hat Paul du Bois Reymond für die nämlichen Gegensätze, insofern sie bei den Grundbegriffen der Infinitesimalmethode zur Geltung kommen, die Ausdrücke Idealismus und Empirismus gewählt. Ich habe es vorgezogen, die Namen des mathematischen Realismus und Nominalismus, die ich in einem vor dem Erscheinen des soeben genannten Werkes veröffent- lichten Aufsatze (Philosophische Studien, I, S. 105) schon gebraucht hatte, beizubehalten, da die philosophischen Richtungen des Idealismus und Em- pirismus zwar häufig, aber keineswegs immer mit den hier gemeinten Gegen- sätzen zusammentreffen, wie sie denn auch selbst keine Gegensätze bilden. Berkeley z. B. ist als Philosoph bekanntlich Idealist und Empirist zugleich, daneben huldigt er in mathematischer Beziehung einem entschiedenen No- minalismus. Die mathematische Induktion und Abstraktion. 115 erinnerung*). Über das Verhältnis der angeborenen Ideen zu den sinnlichen Bildern, die ihnen entsprechen, spricht er sich nirgends in unzweideutiger Weise aus. Im allgemeinen scheint er sich jene eben- falls in der Form von Anschauungen gedacht zu haben. Zuweilen aber weisen seine Äußerungen mehr auf eine bloß begriflliche Existenz hin. Von dem Tausendeck z. B. sollen wir eine vollkommen klare Idee besitzen, obgleich es unmöglich sei, dasselbe mit der Einbildungskraft vorzustellen. Ähnlich unbestimmt bleibt überhaupt, was er eine „klare Idee“ nennt. So sehr er es betont, daß die Klarheit der mathematischen Vorstellungen ihren auszeichnenden Charakter bilde, der zugleich auf ihren überempirischen Ursprung hinweise, so wenig hat er sich bemüht, diesen Begriff der Klarheit sicher zu definieren. Nur dies kann als eine bemerkenswerte Bestimmung angesehen werden, daß die klare Idee für uns immer die nämliche überzeugende Kraft besitze, so oft wir uns auch ihr zuwenden. Offenbar ist also die Unveränderlichkeit ein sie auszeichnendes Merkmal. Entschiedener nun als Descartes betont es Leibniz, daß die mathe- matischen Ideen, um in unserem Geiste lebendig zu werden, der sie auslösenden Einwirkung der Erfahrungsobjekte bedürfen. Deutlicher aber zugleich scheidet er die ursprüngliche Natur jener Ideen von den sinnlichen Bildern, in denen sie sich in der Erfahrung verwirklichen. Die ursprüngliche Existenz der Idee ist ihm eine rein begriflliche. Hier- für liegt ihm der unumstößliche Beweis darin, daß Bild und Begriff vollkommen voneinander verschieden seien**). Der Begriff des Dreiecks fällt ebensowenig mit dem einzelnen Dreieck zusammen wie die Zahl mit den gezählten Objekten. Demnach denkt sich Leibniz die Ent- wicklung der mathematischen Ideen keineswegs mehr in der Form einer Wiedererinnerung, bei der eine Gleichheit zwischen dem Eindruck und der zurückgerufenen Idee vorauszusetzen wäre; sondern die sinn- lichen Bilder sind ihm vielmehr Gelegenheitsursachen, bei denen wir uns ursprünglich in uns liegender Begriffe bewußt werden. Darum ist ihm die mathematische Untersuchung umso vollkommener, je abstrakter sie geführt wird; denn in gleichem Maße nähert sie sich einer adäquaten Vorstellung der in uns liegenden Begriffe. In diesem Sinne stellt Leibniz gelegentlich der wissenschaftlichen eine empirische Geometrie gegen- *) Rep. aux cing. obj. (Desc.& Gassendi). Oeuvr. publ. par Cousin, II, p. 290. **) Nouv. ess. I, 1. IV, 17. Vgl. außerdem namentlich die unter den Titeln „Initia mathematica“ und „Mathesis universalis“ mitgeteilten Schriften. Math. Werke, Ausg. von Gerhardt, VII, S. 17 fi. 116 Die Logik der Mathematik. über, die nicht wie jene durch den logischen Beweis, sondern durch die unmittelbare Anschauung zu überzeugen suche*). Aus dem gleichen Grunde schätzt er die Euklidische Demonstrationsmethode; nur scheint es ihm, daß einzelne der Euklidischen Axiome eine Deduktion aus abstrakteren Axiomen und Definitionen gestatten, und er macht in dieser Beziehung verschiedene Versuche, das Euklidische System zu verbessern**). Die Tatsache, daß schließlich auch die Euklidischen Demonstrationen auf die Überzeugung durch unmittelbare Anschauung zurückführen, gesteht er ebensowenig zu wie den induktiven Ursprung der einfachsten arıthmetischen und geometrischen Sätze. Solche Sätze sind nach ihm intuitiv gewiß; man muß sie anerkennen, sobald man nur die Aufmerksamkeit auf sie wendet. Durch die entschiedene Hervorkehrung der begrifilichen Natur der mathematischen Ideen scheidet sich demnach Leibniz von Descartes. Freilich hatte auch dieser schon die algebraische Behandlung der Geometrie in der Absicht eingeführt, dadurch die geometrischen Gesetze auf eine abstrakte und rein begriffliche Form zurückzuführen. Aber er tadelt ebenso die Unfähigkeit der früheren Algebristen, ihren For- meln eine anschauliche Anwendung zu geben, und seine Geometrie verfolgt daher den doppelten Zweck einer analytischen Untersuchung geometrischer Objekte und einer geometrischen Darstellung algebraischer Gleichungen. Bei Leibniz gilt die analytische Behandlung in jeder Beziehung als die vorzüglichere. Aus diesem Grunde zieht er schon die Arithmetik als die abstraktere Disziplin der Geometrie vor, und unter den Euklidischen Axiomen bevorzugt er diejenigen, die den Charakter abstrakter Größenaxiome besitzen. So eröffnet Leibniz in der Entwicklung der neueren Mathematik jene Periode unbedingter Herrschaft der Analysis, die später in Euler und Lagrange kulminierte, und in der man es sich zu besonderem Ruhme anrechnete, in der Mechanik und womöglich sogar in der Geometrie der Figuren entraten zu können. Gerade die Schroffheit, mit der Leibniz die nach ıhm an sıch der Anschaulichkeit völlig entbehrenden Grundbegriffe von ihren anschau- lichen Anwendungen scheidet, verwickelt nun aber den mathematischen Realismus in neue Schwierigkeiten. Sind die ursprünglichen Ideen selbst anschaulicher Natur, so liefert der psychologische Mechanismus der Reproduktion ein immerhin verständliches Schema für die Rück- beziehung des unmittelbar Angeschauten auf eine ideale Form. Der *) Opera philos., ed. Erdmann, p. 382. **) Opera philos., ed. Erdmann, p. 81 Nota. Math. Werke, Ausg. von Gerhardt, VII, S. 260 f.: Specimen Geometriae luciferae. Die mathematische Induktion und Abstraktion. 117 abstrakte Begriff mit realer Existenz gedacht ist aber gegenüber dem sinnlichen Objekt ein völlig Inkommensurables. Diese Anschauung ist mystisch, denn sie setzt hinter die Welt der Vorstellungen noch einmal eine Welt völlig unvorstellbarer Ideen, und es bleibt unbegreiflich, wie das vorgestellte Objekt die unvorstellbare Idee im Bewußtsein soll er- wecken können. So erschien es denn dringend geboten, die Inkongruenz zwischen Idee und Bild wieder zu beseitigen und der Idee ihre anschauliche Natur wiederzugeben, um ihre Beziehung zu den sinnlichen Objekten erklärlich zu machen. Diesen letzten Schritt in der Entwicklung des mathematischen Realismus hat Kant getan mit seiner Lehre von der reinen Anschauung und den Anschauungsformen. Es ist ohne Zweifel einer der glücklichsten Griffe Kants gewesen, daß er von der vielgestaltigen Menge der einzelnen mathematischen Ideen zurückging auf die Grundlagen, auf die sie sich alle beziehen müssen, auf die Raum- und Zeitanschauung. Schon die Zahl, die der Mathematiker in den Vordergrund zu stellen pflegt, gibt nach Kant durch die Zusammenfassung der aufeinander folgenden Zeitpunkte dem Begriff der Quantität eine anschauliche Form, und sie ist daher ein sekundäres Erzeugnis jenes Begrifisschematismus, der überall erst die allgemeinen Begriffe durch ihre Darstellung in Formen des Zeit- verlaufs anwendbar machen soll auf die sinnliche Erfahrung. Die Be- wegung vollends setzt nicht nur Zeit und Raum, sondern auch die Wahr- nehmung eines beweglichen Etwas voraus, und er behauptet daher, daß sie im Unterschied von Zeit und Raum, die aller Erfahrung vor- ausgehen, ein empirischer Begriff sei*). Endlich die einzelnen arith- metischen Operationen, die einzelnen geometrischen Gebilde sind nach Kant durchaus nur Konstruktionen innerhalb der reinen Zeit- und Raumanschauung, zu denen wir durch den Eindruck empirischer Objekte veranlaßt werden, und bei deren Ausführung wir uns daher ebensolcher Objekte bedienen müssen**). Die unendliche Menge mathematischer Ideen, die der vorangegangene Realismus als ein angeborenes Besitztum des Geistes angesehen hatte, beschränkt sich also bei Kant auf die reine Raum- und Zeitanschauung. Diese allein sind a priori gegeben, und die Zeitanschauung vermittelt über- dies noch durch ihre Verbindung mit der Kategorie der Quantität den reinen Begriff der Zahl. Alles weitere dagegen besteht in Vor- stellungen, die durch „Einschränkungen“ jener allgemeinen Anschau- *) Kritik der reinen Vern., 2. Aufl., S. 58. **) Prolegomena zu jeder künftigen Metaphysik. Ausg. von Rosen- kranz, S. 19. 118 Die Logik der Mathematik. ungen entstehen, zu welchen Einschränkungen wir durch einzelne sinnliche Wahrnehmungen veranlaßt werden. Indem wir an dem sinnlichen Objekt dasjenige auffassen, was an ihm reine Anschauung ist, entsteht der Gegenstand des mathematischen Begrifis, der in dem äußeren Objekt nur seine Gelegenheitsursache hat, sonst aber ganz und gar der reinen Anschauung angehört. Auf diese Weise wird z. B. das sinnliche Dreieck Anlaß zur Bildung der Idee des geometrischen Dreiecks. Die mathematischen Definitionen und Axiome sind Sätze, die sich auf die Verbindung der Bestandteile der reinen Anschauung beziehen, und sie sind daher nach Kants prägnantem Ausdruck „syn- thetische Urteile a priori“. Diese fundamentale Reform der realistischen Lehre unterscheidet sich von ihrer vorangegangenen Gestaltung bei Leibniz hauptsächlich dadurch, daß der ursprüngliche Besitzstand des Geistes an mathe- matischen Ideen nicht mehr als ein begrifflicher, sondern als ein an- schaulicher angesehen wird. Kants Bemühen ist daher überall darauf gerichtet, die anschauliche Natur der mathematischen Opera- tionen und Demonstrationen darzutun, und er weist in sichtlichem Gegensatze zu Leibniz darauf hin, wie gerade auch bei Euklid der Beweis schließlich an die unmittelbare Anschauung appelliere*). Alle weiteren Unterschiede haben hierin ihre Quelle. Besteht der ursprüngliche Besitz des Geistes, aus dem die Mathematik schöpft, in Anschauungen und nicht in Begriffen, so genügt es, die allgemeinen Anschau- ungsformen als ursprüngliche zu betrachten, aus denen sich die ein- zelnen mathematischen Vorstellungen entwickeln können. Damit wird auch der Einfluß der Erfahrungsobjekte ein anderer; diese wirken nicht mehr nach Analogie der psychologischen Reproduktion, sondern sie erwecken jene Tätigkeit der reinen Einbildungskraft, welche die äußeren Objekte gewissermaßen in die reine Anschauung überträgt, indem sie lediglich dasjenige nacherzeugt, was an ihnen der Raum- und Zeitform angehört. Ist auf diese Weise jede Tätigkeit, welche mathematische Gebilde schaft, konstruktiver Natur, so be- sitzen aber auch notwendig die mathematischen Fundamentalsätze den Charakter synthetischer Urteile. Jene einschränkende Tätigkeit, welche die Einbildungskraft an den Anschauungsformen ausübt, um die ein- zelnen Objekte der mathematischen Betrachtung hervorzubringen, muß zugleich ein Zusammenfügen der einzelnen Elemente sein, aus denen die Objekte bestehen. So entsteht jede Zahl aus der Verbin- *) Kritik der reinen Vern., 2. Aufl., S. 39. Die mathematische Induktion und Abstraktion. 119 dung ihrer Einheiten, jede geometrische Figur aus der Verbindung der einfacheren Raumgebilde, die zu ihrer Konstruktion verwendet werden. In dieser starken Betonung der synthetischen Grundlagen der Mathe- matik kündet sich in der Lehre Kants schon das Ende jener Allein- herrschaft der Analysis an, die mit Leibniz begonnen hatte. Von so unbestreitbarer Wahrheit nun aber auch die Behauptung der synthetischen Natur der mathematischen Fundamentalsätze ist, so ist doch die Grundlage, auf der das ganze Gebäude von Kants Philo- sophie der Mathematik ruht, die Apriorität der Anschauungsformen, von ihm nicht bewiesen worden. Seine beiden Argumente, daß die Vorstellungen räumlicher und zeitlicher Objekte die allgemeinen Vor- stellungen von Raum und Zeit als Bedingungen voraussetzen, und daß alle mathematischen Sätze einen apodiktischen, also über die Zufällig- keit der Erfahrung hinausweisenden Charakter besitzen, sind hin- fällig. Denn allerdings kann das Einzelne in Raum und Zeit nicht vor- gestellt werden, ohne daß die Raum- und Zeitanschauung vorhanden wäre; aber dadurch wird nicht ausgeschlossen, daß sich diese an und mit den einzelnen Vorstellungen gleichzeitig entwickelt, und insofern es keine Anschauungsformen gibt ohne einen Empfindungsinhalt, ist diese Annahme die zunächst gebotene. Apodiktisch aber ist das aus- nahmslos Gültige; der apodiktische Charakter mathematischer Sätze wird daher vollkommen zureichend durch die Tatsache erklärt, daß sie sich auf die konstanten Bestandteile aller Erfahrung beziehen. (Vgl. Bd. I, S. 468, 491 fi.) Hat also auch Kant den anschaulichen und darum synthetischen Charakter der mathematischen Fundamentalsätze vollkommen richtig erkannt, so hat er doch keineswegs den Beweis geliefert, daß sie synthetische Urteile apriorisind. Nun bildet aber dies gerade den auszeichnenden Bestandteil der Kantischen Lehre. Nimmt man die Apriorität der mathematischen Prinzipien hinweg, so mündet Kants transzendentale Ästhetik in den Strom jener empiristischen Anschauungen, welche sich aus der entgegengesetzten Denkweise des Nominalismus entwickelt haben. Weit mehr an der Oberfläche als die Wandlungen des Realismus sind die Veränderungen geblieben, die die Richtung des mathema- tischen Nominalismus erfahren hat. Ein weiter Raum trennt schon die Anschauungen Descartes’ von Leibniz, und die Lehre Kants hat sich fast in allen Stücken im direkten Gegensatze zu Leibniz entwickelt. Zwischen Thomas Hobbes und John Stuart Mill dagegen ‚besteht fast nur der Unterschied ungleicher Betonung der verschie- denen Bestandteile einer im ganzen übereinstimmenden Ansicht. In 120 Die Logik der Mathematik. seiner Überzeugung von dem Wert der mathematischen Methode läßt sich Hobbes nur mit Leibniz vergleichen*). Diese Hochschätzung tritt bei ihm umso augenfälliger hervor, je mehr sie gegen seine Auffassung der Grundbegriffe kontrastiert. Die Definitionen der Mathematik ver- danken ihre Unveränderlichkeit nur der Konstanz der Namen, mit denen wir die willkürlich gebildeten Begriffe festhalten; die Axiome aber sind aus den Definitionen abgeleitet, sie besitzen daher weder den Wert von Denkgesetzen noch von objektiven Naturgesetzen, sondern sie sind willkürliche Festsetzungen wie die ihnen entsprechenden Definitionen selbst. Der Zweck dieser willkürlichen Festsetzungen pflegt endlich in der isolierten Inbetrachtnahme gewisser Bestandteile der sinnlichen Objekte zu bestehen. Darum verbessert Hobbes die geometrischen Definitionen Euklids: Punkt ist nicht dasjenige, was keine Teile hat, sondern dasjenige, wovon beim Beweis keine Teile in Betracht zu ziehen sind; eine Linie ist nicht selbst ohne Breite, sondern sie soll beim Beweis so betrachtet werden. Auf diese Weise erscheinen die mathematischen Begriffe durchgängig als Erzeugnisse einer A b- straktion; diese aber ist nicht eine notwendige Tätigkeit des Geistes, sondern sie beruht auf willkürlicher Übereinkunft. Nur hier- durch wird es begreiflich, daß für Hobbes der auszeichnende Charakter der Mathematik nicht in ihrem begrifflichen Inhalt, sondern nur in ihrer Methode besteht. Wie er daher einerseits z. B. der Politik die Fähig- keit zuschreibt, sich zum Rang einer mathematischen Disziplin zu erheben, so sieht er anderseits in jedem streng logischen Denken eine Folge mathematischer Operationen. Sehen wir so in Hobbes den nominalistischen Gesichtspunkt, die Annahme der willkürlichen Feststellung der Begriffe, durchaus vorwalten und die Anerkennung der empirischen Motive derselben verhältnismäßig zurücktreten, so gewinnen dagegen bei Locke diese das Übergewicht. Das Element der Willkür hat sich bei ihm zu der Anerkennung ermäßigt, daß die mathematischen Ideen den Objekten der Wahrnehmung nicht unmittelbar gleich seien, sondern durch freie Variation der durch die äußeren Eindrücke entstandenen allgemeinen Ideen des Raumes, der Zahl u. s. w. gebildet würden. Trotz dieses von ihm zugestandenen idealen Charakters der mathematischen Ideen weist ihnen aber Locke zugleich eine reale Bedeutung an, da er hervorhebt, die mathematischen Sätze besäßen eben insofern objektive Wahrheit, *) Vgl. J. J. Baumann, Die Lehren von Raum, Zeit und Mathe« matik in der neueren Philosophie, 1868, Bd. I, S. 237 ff. Die mathematische Induktion und Abstraktion. 234 als die Dinge mit ihren mathematischen Vorbildern in unserem Geiste immer in einem gewissen Grade übereinstimmten*). Sicherlich ist er zu diesem Zugeständnis wesentlich durch seine empiristische Neigung geführt worden, der die Annahme von Prinzipien widerstrebte, deren Anwendbarkeit auf die Erfahrung irgendwie bezweifelt werden konnte. Dennoch kommt gerade dadurch in seine Auffassung der Mathematik ein stark realistischer Zug. Erinnert doch die Annahme von Vorbildern im Geiste, abgesehen von der Behauptung ihrer empirischen Entstehung, unmittelbar an Cartesianische Vorstellungen. Fast noch näher kommt aber Locke, durch die Betonung der anschaulichen Natur der mathematischen Ideen und die Rückbeziehung aller mathematischen Beweise auf die Anschauung, bereits Kant. Denn was ist die allgemeine Idee des Raumes anderes als eine reine Anschauung, nur daß sie a posteriori entstanden gedacht wird? Vollends die Einschränkungen und Variationen dieser Idee sind ein Konstruieren innerhalb der reinen Anschauung, welches sogar in die logische Form synthetischer Urteile a priori gebracht werden könnte. So leidet die Lehre Lockes an einem unheilbaren Widerspruch zwischen der empiristischen Grundanschauung und den zum Teil völlig rationalistischen Ausführungen im einzelnen. Ist die Erfahrung die einzige Quelle des Wissens, so bleibt es in der Tat un- begreiflich, wie Ideen entstehen können, denen kein adäquates Objekt in der Erfahrung entspricht. Ein solcher Widerspruch ließ sich vermeiden, sobald man die Identität der mathematischen Ideen und der sinnlichen Einzelvor- stellungen behauptete. Diesen Weg schlug Berkeley ein. Wie er die abstrakten Begriffe leugnet, so selbstverständlich auch die Existenz einer reinen Raum- und Zeitanschauung. Die vollkommen zu Recht bestehende psychologische Unmöglichkeit, das Allgemeine als solches vorzustellen, veranlaßt ihn, ihm auch die logische und erkenntnistheoretische Be- rechtigung abzusprechen, und er versetzt sich dadurch in einen schneiden- den Widerspruch vor allem mit den Postulaten der mathematischen Wissenschaft. Das Dreieck im Geiste und das wirkliche Dreieck sind ihm eins und dasselbe. Alle zufälligen Eigenschaften des letzteren finden sich in jenem wieder. Auch die geometrische Demonstration hat daher nur dieses sinnliche Dreieck im Auge, und die an ihm bewiesenen Sätze haben für andere Dreiecke nur insofern Gültigkeit, als sie ihm gleichen. Die bindende Kraft der mathematischen Folgerungen hat darum nach Berkeley schließlich ihren Grund in der Konstanz der *) Essay, B. II, ch. 13; B. IV, ch, 4. 122 ‚Die Logik der Mathematik. geometrischen Figuren und der sonstigen Objekte,“auf die sich die Demonstration bezieht*). Die Schwäche dieser Begründung liegt offen zu Tage. Als sinnliche Einzelvorstellungen entbehren die mathe- matischen Objekte durchaus der Unveränderlichkeit, die ihnen Berkeley zuschreibt. Sie gewinnen dieselbe gerade erst durch jene Denkakte, durch die unter ihnen abstrakte Begriffe gedacht werden, welche Ber- keley leugnet. Auf dem Boden der Erfahrungsphilosophie gibt es nur einen Ausweg aus diesen Schwierigkeiten: die Rückkehr zu der nomina- listischen Anschauung von Hobbes. Sie beginnt mit Hume. Freilich glaubt auch Hume die mathematischen Ideen nicht als bloße Erzeugnisse der Abstraktion ansehen zu können, sondern er gibt ihnen mit Berkeley ein sinnliches Substrat. Aber er hält es nicht für erforderlich, daß jede einzelne Zahl, jede beliebige geometrische Figur aus der Anschauung eines sinnlichen Objekts entspringe, sondern er meint, nur die Elemente, mit denen wir unsere Konstruktionen ausführen, müßten als reale Ob- jekte der Erfahrung gegeben sein**). So gewinnen wir eine gegebene Zahl durch die wiederholte Setzung eines Punktes, so eine geometrische Kurve durch die Aneinanderreihung von Punkten u. s. w. Auf diese Weise ist es der in der Wahrnehmung unteilbare Punkt, auf den alle arithmetischen und geometrischen Konstruktionen als letztes gegebenes Element zurückführen. Aus diesem Element erzeugen wir aber nach Willkür alle mathematischen Vorstellungen, und auf dieser unserer willkürlichen Erzeugung beruht schließlich die Evidenz der mathe- matischen Folgerungen. So spielt bei Hume der sicht- und fühlbare Punkt die Rolle eines psychischen Atoms. Dieses ist ihm eine unmittelbare Tatsache der sinnlichen Erfahrung. Durch Wiederholung und Aneinanderfügung desselben sollen wir aber in freier Konstruktion alle möglichen mathe- matischen Gebilde hervorbringen können, wobei wir freilich auch hier durch die Beispiele geleitet werden, die uns in der äußeren Erfahrung gegeben sind. Doch die Schwierigkeiten, denen Berkeleys Anschauung begegnet war, sind durch diese Beschränkung der sinnlichen Objekte der Mathematik auf ein letztes Element nicht beseitigt. Denn wie sollen wir voraussetzen, daß dieses Element in allen mathematischen Vor- stellungen derselben Art ein konstantes bleibe, wie es doch im mathe- matischen Denken vorausgesetzt wird, während die Eigenschaften *) Treatise on the principles of hum. knowledge. Introd. und CXT £. *%) Treat. on'hum; mat, B..L.27., Die mathematische Induktion und Abstraktion. 123 unserer Empfindung fortwährend wechseln? Wie verträgt sich ferner die Annahme, daß der mathematische Punkt reale Ausdehnung und sonstige qualitative Eigenschaften wie Farbe und Festigkeit hat, mit der mathematischen Voraussetzung, daß ihm alles dies nicht zukomme? Wenn die sinnliche Wahrnehmung die einzige Quelle unserer Ideen ist, so dürfen wir auch erwarten, alle Bestandteile jener in diesen wiederum anzutreffen. Hier gibt es keine andere Rettung, als den Rückgang auf Hobbes ganz zu vollziehen, einzugestehen, daß die Voraussetzungen der Mathe- matik abweichen von den sinnlichen Vorstellungen, durch die sie an- geregt werden, eben darum aber auch schon den Grundlagen dieser Wissenschaft nur einen hypothetischen Wert beizulegen. Es ist haupt- sächlich das Verdienst John Stuart Mills, die Notwendigkeit dieser Konsequenz erkannt zu haben. Seine Anschauungen fallen in allen wesentlichen Punkten mit denen von Hobbes zusammen; aber die erkenntnistheoretische Arbeit eines Locke, Berkeley und Hume ist für ihn nicht umsonst getan. Das sinnliche Dreieck und das Dreieck in unserem Geiste, erklärt auch Mill, sind eins und dasselbe; einen Punkt ohne Ausdehnung und eine Linie von absolut gerader Richtung gibt es nicht in unserer Anschauung*). Gerade darum aber beziehen sich die Definitionen und Axiome der Geometrie weder auf die sinnlichen Ob- jekte noch auf unsere Vorstellungen von ihnen, sondern auf rein hypothetische Gebilde, denen sich die Objekte immer nur mehr oder weniger annähern können. Jene Definitionen und Axiome haben daher nur insoweit reale Gültigkeit, als sich die Objekte ihnen wirk- lichannähern. Nurineinem Punkte entfernt sich Mill von Hobbes: die Voraussetzungen der Mathematik sind ihm nicht willkürliche Fik- tionen, sondern Hypothesen, zu denen wir durch die Erfahrung genötigt werden. Doch ist auch dieser Unterschied fast nur ein scheinbarer, denn weder hat Hobbes den Einfluß der Erfahrung geleugnet, noch kann sich Mill der Anerkennung widersetzen, daß die Aufstellung mathe- matischer Hypothesen schließlich eine Handlung unseres Willens sei. Es ist bemerkenswert, daß neuere Mathematiker nicht selten aus eigenem Antrieb zu der nämlichen Auffassung gedrängt, dabei aber meistens durch Motive bestimmt worden sind, die von dem Empiris- mus Mills weit abliegen. Da zahlreiche Objekte mathematischer Speku- lation ganz und gar imaginärer Art sind, also auf Voraussetzungen *) Mill, System der deduktiven und induktiven Logik, übers. von Schiel?, I, S. 270 £. 124 Die Logik der Mathematik, beruhen, die nicht unmittelbar aus der Erfahrung entspringen können, so betrachtet man alle diese Voraussetzungen als willkürliche Hypo- thesen. Da übrigens von den Vertretern der spekulativen Mathematik zugestanden wird, daß irgendwelche imaginäre Begriffe stets in Opera- tionen ihre Quelle haben, die von den einer realen Veranschaulichung fähigen arithmetischen oder geometrischen Begriffen ausgehen, so bleibt auch hier in Bezug auf die fundamentalsten Prinzipien die An- sicht Mills bestehen, daß dieselben hypothetischer Art, aber aus Anlaß bestimmter Erfahrungsobjekte gebildet seien*). Das logische Verfahren nun, das aus einzelnen Erfahrungen all- gemeine mathematische Sätze, Definitionen oder Axiome, ableitet, bezeichnet Mill als eine Induktion, und er faßt dasselbe als voll- kommen übereinstimmend mit der Gewinnung physikalischer oder anderer Naturgesetze durch Induktion auf. Wie sich auf physikalischem Gebiet die empirischen Erscheinungen den von uns formulierten Gesetzen immer nur mehr oder weniger annähern, so sollen die Gesetze der Arith- metik und Geometrie nur eine schematische Bedeutung besitzen, da- durch aber gerade auf alle möglichen Objekte anwendbar sein. Auch in diesen Ausführungen treten die Schwächen der nominalistischen Auf- fassung deutlich zu Tage. Daß die mathematischen Wahrheiten in irgend einer Art von Erfahrung ihre Quelle haben, wird niemand mehr leugnen. In diesem Sinne wird auch von vornherein zugestanden werden, daß die mathematische Erkenntnis schließlich auf Induktionen zurückführt. Aber daß nun diese Induktionen in ihrem Wesen völlig mit denjenigen übereinstimmen sollen, aus denen wir allgemeine Natur- gesetze gewinnen, dies ist eine Annahme, die in der tatsächlichen Ver- schiedenheit physikalischer und mathematischer Sätze ihre Widerlegung findet. Wohl stellt auch der Physiker abstrakte Gesetze auf, die in der Erfahrung immer nur annähernd verwirklicht sind. Aber alle Ab- weichungen beobachtet er auf das genaueste und sucht sie auf ihre Ursachen zurückzuführen. Den Geometer dagegen stören die Un- genauigkeiten seiner Figuren ebensowenig wie die Erkenntnis, daß es keine Objekte gibt, die seinen Begriffen vollkommen adäquat sind. Hierin liegt eben der Beweis, daß sich seine Induktionen nicht auf äußere Objekte beziehen, sondern nur auf seine eigenen Vorstellungen, und daß hier die Objekte bloß die Rolle von Hilfsmitteln spielen, welche die Vorstellungen erwecken sollen. Doch ineiner Beziehung existiert allerdings eine bemerkenswerte Analogie zwischen der Generalisation *) Vgl. hierzu Bd. I, S. 387 ff., wo diese Beziehungen des neueren Positi- vismus zum mathematischen Nominalismus näher erörtert sind. Die mathematische Induktion und Abstraktion. 125 der Naturgesetze und der Aufstellung mathematischer Sätze. Bei den fundamentalen Naturgesetzen gehen wir im allgemeinen von der Voraus- setzung aus, daßsievoneinfacher Artsind. daß sie also insbesondere eine einfache mathematische Formulierung zulassen. Nicht minder herrscht in der Mathematik diese Lex simplieitatis. In der Geometrie z. B. gelten der Punkt, die Gerade, die Ebene offenbar deshalb als die Elemente aller Konstruktion, weil sie die einfachsten Gebilde unserer geometrischen Abstraktion sind. Aber auch hier besteht ein wesent- licher Unterschied. In der Mathematik ist die Einfachheit der Prin- zipien eine selbstverständliche Voraussetzung. Wo es sich zeigen sollte, daß ein Prinzip dieser Voraussetzung nicht genügt, da muß es zerlegt werden, bis sie erfüllt ist. In der Naturwissenschaft ist die Einfachheit ein Postulat, dem immer nur insoweit nachzugehen erlaubt ist, als es die Erfahrung gestattet. Daraus geht schon hervor, daß dieses Postulat gar nicht in der Naturwissenschaft selbst entsprungen ist, sondern von außen in sie hereingetragen wird. In der Tat ist leicht zu erkennen, daß es nirgend anders als in der Mathematik oder in den formalen Gesetzen unserer Zeit- und Raumanschauung, die das nächste Objekt der Mathematik sind, seine Wurzel hat, wie solches auch die Tatsache andeutet, daß wir für jedes Naturgesetz einen möglichst einfachen mathematischen Ausdruck zu finden suchen. Die Auffassung der mathematischen Sätze als Generalisationen, die den Generalisationen der Naturgesetze entsprechen sollen, kreuzt sich nun aber außerdem mit einer fast noch unzulässigeren Anwendung des Begriffs der Abstraktion. Da es keine Objekte oder Vor- stellungen gibt, die den Begriffen der Einheit, des Punktes, der Geraden u. s. w. vollkommen adäquat sind, so liegt es nahe, alle mathematischen Grundbegriffe aus einem Abstraktionsprozeß hervorgehen zu lassen. So wenig nun zu leugnen ist, daß die Mathematik auf Induktionen aufgebaut sei, ebensowenig läßt sich die Bedeutung der Abstraktion bei der Aufstellung ihrer Begriffe in Abrede stellen. Aber auch hier be- geht wieder der Nominalismus den Fehler, daß er diese Abstraktion als einen uniformen Prozeß ansieht, der sich in seiner Betätigung auf mathematischem Gebiete durchaus nicht unterscheide von der Ab- straktion sonstiger Erfahrungsbegriffe. Nach ihm sollen wir den Begriff der Geraden in der nämlichen Weise bilden, in der in uns etwa der Be- griff eines vierfüßigen Tieres entsteht. Wie wir bei diesem von allen Merkmalen eines Tieres nur dasjenige der vier Füße festhalten, so sollen wir bei dem Begriff der Geraden nicht nur von der verschiedenen Dicke und Länge der einzelnen in der Erfahrung gegebenen geraden Linien, 126 Die Logik der Mathematik. sondern auch von ihrer mehr oder minder großen Abweichung von der geraden Richtung absehen und so die Gerade in abstracto übrig behalten, Als wenn diese Eigenschaft gerade zu sein nicht eben allen einzelnen Linien, die von der geraden Richtung abweichen, fehlte, so daß sie un- möglich aus ihnen abstrahiert werden kann, sondern offenbar schon vorhanden sein muß, wenn jene Richtungen als annähernd gerade erkannt werden sollen. Ja Mill stellt gelegentlich die Eigenschaft der Dinge zählbar zu sein auf eine Linie mit ihrer Eigenschaft blau oder hart oder süß zu sein, mit dem einzigen Unterschied, daß dieses Merkmal der Zählbarkeit allen Dingen ohne Ausnahme zukomme*). Gibt der Nominalismus in seinen Anfängen von der Entstehung der Voraussetzungen, von welchen die mathematische Demonstration ausgeht, gar keine Rechenschaft, so ist die Antwort dieser seiner letzten Entwicklungen ungenügend; denn indem hier hauptsächlich auf die äußeren Gelegenheitsursachen der mathematischen Begriffe Wert ge- legt wird, bleiben die wesentlichen logischen Eigentümlichkeiten, die bei der Entstehung dieser Begriffe obwalten, unbeachtet. Wirft so der Nominalismus die mathematischen Begriffe trotz ihrer bedeutsamen Unterschiede mit den gewöhnlichen Erfahrungsbegriffen zusammen, so reißt aber der Realismus beide dergestalt auseinander, daß den mathe- matischen Prinzipien abermals das logische Fundament abhanden kommt. Sie erscheinen entweder, wie in den älteren Ansichten, als ein ursprüngliches Besitztum des Geistes oder, wie bei Kant, als Erzeugnisse einer in ursprünglichen Anschauungsformen frei tätigen Einbildungs- kraft. So wertvoll hier der Hinweis auf die Beteiligung des Denkens und der allgemeinen Formen unserer Anschauung ist, so wird doch dabei nicht nur der Einfluß der äußeren und inneren Erfahrung unter- schätzt, sondern es fehlt auch jeder Versuch, jener konstruktiven Tätigkeit, welche die mathematischen Objekte erzeugt, im einzelnen nachzugehen und die logischen Verfahrungsweisen festzustellen, aus denen die mathematischen Begriffe entspringen. Ein Versuch dieser Art darf aber nicht die Prinzipien für sich ins Auge fassen, isoliert von dem Unterbau zahlreicher einzelner Anschauungen und Sätze, den sie voraussetzen. Denn die Geschichte der Mathematik lehrt, daß auch in ihr fast überall einzelne Erkenntnisse den allgemeinen vorangegangen sind. b. Die historische Bedeutung der mathematischen Induktion. Wo immer wir im stande sind, die grundlegenden mathematischen Erkenntnisse auf ihren ersten Ursprung zurückzuverfolgen, da ergibt *) Mill, Logik, I?, S. 266. Die mathematische Induktion und Abstraktion. ar sich als deren Quelle die Induktion aus der Erfahrung. So wird niemand daran zweifeln, daß die vier arithmetischen Fundamentaloperationen aus Anlaß der Wahrnehmungen getrennter Objekte und ihrer ver- schiedenartigen Gruppierungen entstanden seien, da außer unserem eigenen Ziffernsystem die sämtlichen Zählmethoden der Naturvölker auf einen solchen Ursprung hinweisen*). Aber es ist bemerkenswert, daß wir in den Anfängen der mathematischen Wissenschaft deutlichen Spuren der Induktion auch bei zusammengesetzten arithmetischen Problemen begegnen. Eine der frühesten Aufgaben dieser Art, die sich an die Division anschließt, ist wohl die Umwandlung der durch die Teilung eines Ganzen gewonnenen Bruchzahlen in eine Summe ein- facherer Brüche, die ihnen äquivalent ist, eine Aufgabe, die schon von den altägyptischen Rechnern mit großer Fertigkeit gelöst wurde**). Der einfachste Bruch ist der, dessen Zähler die Eins ist, weil er un- mittelbar das Verhältnis des Teils zu dem Ganzen angibt. Die Über- führung in solche Stammbrüche gewährte eine leichtere Vergleichung verschiedener Teilungen miteinander, und sie spielte daher, wie es scheint, in den frühesten Zeiten der Mathematik eine ähnliche Rolle, wie sie heutzutage dem entgegengesetzten Verfahren der Umwandlung in Brüche mit gleichem Nenner zukommt. Aber während wir uns zu dem letzteren Zweck einer einfachen auf die arithmetischen Axiome gegründeten Regel bedienen, fand der ägyptische Rechner offenbar rein empirisch durch versuchsweise Teilungen, daß beispielsweise 2 1 1 2 1 1-8; 4 - a er er sel, u. 8. w. Wie sehr die so gewonnene Tafel der Induktion entsprungen ist, geht am sichersten daraus hervor, daß keinerlei übereinstimmende Regel die verschiedenen Teilungen beherrscht, so daß offenbar jede einzelne Zerlegung eine besondere Induktion erforderte. Daß die frühesten geometrischen Sätze in ähnlicher Weise ent- standen sind, wird nicht minder durch die Umstände, die ihr erstes Auftreten begleiten, über allen Zweifel erhoben. Eine der ersten Aufgaben der praktischen Geometrie war wohl die Berechnung des Flächeninhaltes eines Quadrats aus seiner Seite. Indem man ein be- liebiges Quadrat in kleine Quadrate von der Seitenlänge 1 zerlegte, *) A.v. Humboldt, Crelles Journal f. Mathematik, Bd. 4, S. 205. Pott, Die quinäre und vigesimale Zählmethode 1847. Vgl. auch meine Völkerpsycho- logie?, I, 2, S. 25 fi. **) A. Eisenlohr, Ein mathematisches Handbuch der alten Ägypter (Papyrus Rhind des British Museum), 1877. 128 Die Logik der Mathematik. ergab sich durch einfache Addition der Satz, daß der Flächeninhalt = a.a sei, wenn die Länge einer Seite = a ist. Es lag nahe, diesen Satz sofort auf das Rechteck zu übertragen und festzustellen, daß hier den Seiten a und 5 ein Flächeninhalt «.b entspricht. Nur wenn in solcher Weise der erste Schritt durch Induktion getan war, konnte es geschehen, daß eine ähnliche Übertragung weiterhin auch da stattfand, wo sie zu falschen Ergebnissen führte, daß man also beispielsweise den Inhalt des gleichschenkligen Dreiecks von den Seitenlängen a und 5 zu 2 bestimmte*). Auch die Ausmessung der Kreisfläche konnte in der frühesten Zeit nur empirisch, etwa durch Teilung in kleine Qua- drate und Vergleichung mit dem über dem Durchmesser errichteten Quadrate geschehen sein, da sonst kaum begreiflich wäre, daß dieses Problem von Anfang an gerade in der Form der Quadratur des Kreises aufgetreten ist. Von noch größerem Interesse sind die Spuren, die darauf hin- weisen, daß Sätze, deren verwickelte Beschaffenheit ihre allgemein- gültige Erkenntnis durch Induktion ausschließt, in gewissen ein- facheren Fällen dennoch auf diesem Wege gefunden wurden, und der nachfolgenden Deduktion nur die Aufgabe blieb, einen Beweis zu er- sinnen, der das in einzelnen anschaulichen Beispielen Erkannte zu einer allgemeinen Wahrheit erhob. Auch hier mögen nicht selten empirische Proben, ob das in einem bestimmten Fall Beobachtete auch in einem anderen davon abweichenden zutrefie, dem verallgemeinernden Be- weise vorangegangen sein; war aber dieser erst gefunden, so geriet jene induktive Vorbereitung leicht in Vergessenheit. Wenn uns übrigens berichtet wird, daß die Alten den Satz von der Winkelsumme im Dreieck für jede besondere Form des Dreiecks auch besonders bewiesen, zuerst für das gleichseitige, dann für das gleichschenklige und zuletzt für das ungleichseitige Dreieck, so B werden wir hierin die Spuren einer Induktion umsoweniger verkennen, als für das gleichseitige und gleichschenklige Dreieck der unmittelbare Augenschein zu einer Messung der Winkel führen konnte. Denkt man sich das gleichseitige Dreieck Ä CE ABO (Fig. 1) in ein Rechteck eingezeichnet, so lehrt leicht die Beobachtung, daß die drei Winkel bei B, die zusammen zwei Rechten gleich sind, den drei einander gleichen Winkeln des Dreiecks A BC entsprechen. War erst der Satz für diesen Fig. 1. | *) M Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, S. 49. Die mathematische Induktion und Abstraktion. 129 einfachsten Fall gefunden, so lag es nahe, ihn nun auch für das gleich- schenklige und sodann für jedes beliebige Dreieck durch eine ähnliche Einzeichnung in ein Rechteck zu konstatieren. Indem jedoch, sobald alle drei Winkel bei B verschieden waren (Fig. 2), zugleich sich die entsprechende Ver- schiedenheit der Dreieckswinkel der Beobach- tung aufdrängte, mochte aus dieser Erweiterung außerdem der allgemeinere Satz von der Gleich- heit der Wechselwinkel entspringen, worauf dann später umgekehrt aus diesem erst der Satz von der Winkel- summe im Dreieck abgeleitet wurde*). Ähnlich ist der Pytha- goreische Lehrsatz sicherlich zuerst aus einzelnen, der Anschauung leicht zugänglichen Fällen abstrahiert worden, mag man nun etwa an dem Dreieck von den Seitenlängen 3, 4, 5, dessen man sich seit alter Zeit zur Konstruktion des rechten Winkels bediente, die Eigenschaft, daß das Quadrat der dritten Seite der Summe aus den Quadraten der beiden ersten gleich sei, herausgefunden**), oder mag man, was noch wahrscheinlicher sein dürfte, an einer Konstruk- tion wie der in Fig. 3 dargestellten jenen Satz ent- deckt haben. Eine regelmäßige Figur dieser Art, die nicht einmal in geometrischer Absicht aus- Ö SR c geführt zu sein brauchte, läßt sofort die Maßbe- ziehunge fgh ==> abcd—=2aemh erkennen***. eX——5 77 Dieser einfachste Fall des Pythagoreischen Satzes, N wa | der sich auf das gleichschenklige rechtwinklige Alb een. Dreieck bezieht, mußte zugleich zu einer Wahrneh- mung Anlaß bieten, die für die Weiterentwicklung der Mathematik von folgenschwerer Bedeutung wurde. So anschaulich sich das Maßverhältnis der Linien geometrisch erkennen ließ, so widersetzte es sich doch einer genauen arithmetischen Bestimmung. Die Diagonale e h irgend eines Quadrates ae mh läßt sich nicht in einer ganzen Zahl angeben, wenn «a e, die Länge der Seite, durch eine ganze Zahl meßbar ist. So haben wir Fig. 2. *) Eine ähnliche, aber in Bezug auf die Reihenfolge der Sätze entgegen- gesetzte Rekonstruktion vgl. bei H. Hankel, Zur Geschichte der Mathe- matik im Altertum und Mittelalter, 1874, S. 96. **) Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, S. 153. ***) Ähnliche hypothetische Konstruktionen vgl. bei Hankel,a. a. O. S. 98, ebenso die in Bd. I, S. 560 mitgeteilte Figur, die jedoch weniger als die obige dem Geiste frühester Geometrie entsprechen dürfte. Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 9 130 Die Logik der Mathematik, allen Grund anzunehmen, daß die Entdeckung des Irrationalen, welche die Überlieferung dem Pythagoras zuschreibt, auf dem nämlichen Weg induktiver Ermittlungen geschehen sei. Nur in einer Beziehung überschreiten diese geometrischen Versuche bereits den Kreis der reinen Induktion. Sie bedienen sich, namentlich da, wo sie Sätze, die in speziellen Fällen gefunden sind, in Bezug auf ihre Allgemeingültigkeit prüfen wollen, der Ziehung von Hilfslinien. Die geometrische Hilfs- konstruktion aber bezeichnet, wenn sie auch durch die probeweise Art ihrer Anwendung hier noch ganz als induktives Hilfsmittel verwendet wird, doch schon deutlich den Übergang zur Deduktion, da der Ge- danke nahe liegt, die nämlichen Hilfsmittel, die zur induktiven Auf- findung eines Satzes gedient haben, nun auch sofort zu dessen Demon- stration zu benützen. So ist es denn begreiflich, daß im einzelnen Fall häufig nicht mehr entschieden werden kann, ob eine bestimmte Hilfskonstruktion sogleich in deduktiver oder ursprünglich in induk- tiver Absicht gebraucht wurde. Gibt man sich aber Rechenschaft über den Weg, den heute noch jeder bei der Lösung einer geometrischen Aufgabe einschlägt, so kann nicht zweifelhaft sein, daß die Konstruktion überall zunächst in einem experimentellen Verfahren bestand, das manchmal erst nach vielen vergeblichen Versuchen zum Ziel führte. Nachdem durch dasselbe die Gültigkeit gewisser Sätze induktiv gefunden war, konnte man zur Aufsuchung der zweckmäßigsten Konstruktionen übergehen und auf diese Weise auch der Deduktion die nämliche Methode dienstbar machen. Die scheinbare Zufälligkeit, die so vielfach bei den Konstruktionen Euklids auffällt, trägt noch deutliche Spuren jenes tastenden Verfahrens an sich, das man bei den ersten geometrischen Induktionen befolgen mußte. Ja selbst darin zeigen sich bei diesem Geometer die Nachwirkungen der induktiven Periode, daß er nicht ganz selten ein allgemeines Theorem in mehrere Fälle zerlegt, für die er einzeln den Beweis führt*). «©. Die bleibenden Formen der mathematischen Im duktion. Nehmen wir alle Überlieferungen zusammen, die uns aus der frühesten Entwicklungszeit des mathematischen Denkens geblieben sind, so läßt sich aus ihnen mit der größten Wahrscheinlichkeit schließen, daß die Mathematik ursprünglich eine induktive Wissenschaft ge- *) Vgl. z. B. Euklids Elemente, Buch I Satz 26, Buch III Satz 33, 35, 36, Buch IV Satz 5, Buch V Satz 6, 8, 20, 21 u. 8. w. Die mathematische Induktion und Abstraktion. 13] wesen ist. So bedeutsam dies aber auch für die Entwicklung der Er- kenntnis überhaupt sein mag, so erscheint doch für den wissenschaft- lichen Charakter der Mathematik von noch größerer Wichtigkeit die weitere Tatsache, daß es in ihr gewisse bleibende Formen der In- duktion gibt, und daß gerade die fundamentalsten Sätze auf diese zurückführen. Zunächst erweisen sich nämlich alle axiomatischen Sätze als solche, die nicht nur durch Induktion entstanden sind, sondern für die auch fortan keine andere Begründung gegeben werden kann. Der Umstand, daß die mathematischen Axiome im allgemeinen nur Umformungen der Definitionen sind, die sich von Zahl, Größe, Raum u. s. w. aufstellen lassen, ändert an dieser Sachlage nichts. Denn auch für die Definitionen läßt sich kein anderer Ursprung nachweisen als die Abstraktionaus der Erfahrung. Selbst für die Definitionen rein imaginärer Gebilde hat dies Geltung, da dieselben von den durch Abstraktion gewonnenen Fundamentalbegriffen ausgehen, die dann willkürlich in Bezug auf irgendwelche Eigenschaften verändert gedacht werden. Insofern die mathematischen Definitionen ausschließlich auf die Abstraktion, die Axiome außerdem noch auf die Induktion zurück- führen, offenbart sich jedoch der früher (Bd. I, S. 566 £.) hervorgehobene Unterschied beider Sätze von einer neuen Seite. Die Axiome werden regelmäßig zuerst festgestellt. So ist die Wissenschaft lange Zeit im Besitz gewisser Axiome über Raum, Zahl und Größe gewesen, ehe es gelang, befriedigende Definitionen dieser Begriffe zu gewinnen. In dem Abstraktionsprozeß, der zu ihnen führte, spielen Axiome eine wichtige Rolle. Ohne die Sätze z. B., daß die Lage eines Punktes in Bezug auf einen anderen immer durch drei Gerade bestimmt werden kann, und daß jedes Raumgebilde bei beliebiger Lageänderung sich selbst kongruent bleibt, würde eine allgemeine Definition des Raumes gar nicht möglich gewesen sein. "Kann man nun aber auch, nachdem diese Definition aufgestellt ist, aus ihr durch eine bloß formale Um- wandlung die Axiome gewinnen, so führt doch jeder Versuch, die Rich- tigkeit dieser nachzuweisen, wiederum auf die ursprünglichen In- duktionen zurück, Nächst den Axiomen verdanken sodann solche Sätze einer In- duktion ihren Ursprung, die als unmittelbare Speziali- sierungen der Axiome betrachtet werden können. Hierher gehören alle Zahlformeln, wie ”+5=12, 5.630 u. dgl., alle auf die einfachsten Raumkonstruktionen sich beziehenden Sätze der synthe- tischen Geometrie, z. B. daß zwei Gerade, sofern sie nicht parallel 132 Die Logik der Mathematik. sind, in einem Punkt, zwei solche Ebenen in einer Geraden sich schneiden, daß alle Strahlen, die durch einen Punkt und eine Ge- rade gelegt werden, in einer einzigen Ebene liegen, u. s. w. Von den eigentlichen Lehrsätzen unterscheiden sich diese Fundamental- sätze dadurch, daß sie, hierin den Axiomen gleichend, keinen Be- weis zulassen, sondern nur in dem unmittelbaren Hinweis auf die Anschauung ihre Begründung finden. Von den Axiomen dagegen sind sie insofern verschieden, als diese die allgemeinsten Abstraktionen aus jenen sämtlichen in der unmittelbaren Anschauung gegebenen Sätzen darstellen. Diese lassen sich daher auf die Axiome zurück- führen, aber sie gestatten keinen eigentlichen Beweis aus denselben, da in ihnen stets besondere Elemente der Anschauung auftreten, die in den allgemeinen Axiomen nicht enthalten sind. Der Begriff der letzteren ist darum ungenügend bestimmt, wenn man sie bloß negativ als diejenigen Sätze bezeichnet, die einen Beweis aus anderen Sätzen nicht zulassen. Vielmehr werden durch sie die allgemeinsten Gesetze festgestellt, von denen die verschiedenen mathematischen Begrifisgebiete beherrscht sind, und mit denen alle einzelnen Sätze in Übereinstimmung stehen müssen. Sie sind daher Verallgemeinerungen aus den durch Induktion gefundenen und nur durch Induktion erweis- baren einzelnen Tatsachen der mathematischen Anschauung. Die Axiome selbst lassen sich, eben weil sie völlig abstrakte Sätze sind, nur in diesen ihren einzelnen Anwendungen in der Anschauung nachweisen. Das Additionsgesetz z. B. hat für uns eine anschauliche Wirklich- keit nur, indem wir es uns an einzelnen Additionsformeln deutlich machen. Den Satz von der Kongruenz des Raumes mit sich selbst müssen wir auf konkrete Raumgebilde anwenden, die wir uns im Raume bewegt oder zur Deckung gebracht denken, und alle einzelnen Kon- gruenzsätze sind solche Anwendungen. Eindrittes Gebiet der Induktion bilden endlich diejenigen allgemeinen Sätze, die aus Einzelinduktionen dersoeben beschriebenen Art durch Generalisa- tion entstanden sind. Bei der Feststellung des Gesetzes, nach welchem die Primfaktoren einer Zahl sich bestimmen lassen, oder der Anzahl der Kombinationen, die eine bestimmte Zahl von Elementen gestattet, oder der Form, nach der eine durch empirische Entwicklung gefundene Reihe fortschreitet, ist das induktive Verfahren so augen- fällig, daß es längst Anerkennung gefunden hat. Es ist aber klar, daß es sich hierbei nur um eine Weiterführung der vorhin besprochenen ein- fachen Induktionen handelt. Durch eine einfache Induktion erhält Die mathematische Induktion und Abstraktion. 133 man z. B. die Zahlformel 1-+-3=4, durch eine mehrmalige Wieder- holung solcher Induktionen die Glieder einer arithmetischen Reihe 1, 4, 7, 10, 13 ..., und aus der Betrachtung dieser und ähnlicher Reihen gewinnt man durch Generalisation den Satz, daß das nte Glied einer arithmetischen Reihe = a + (n— 1) d ist, wenn mit a das erste Glied und mit d die konstante Differenz bezeichnet wird. So bilden jene Spezialisierungen der mathematischen Axiome, wie sie uns in den Zahl- formeln und in den auf die einfachsten Konstruktionen zurückgehenden geometrischen Sätzen entgegentreten, den Anfang aller mathematischen Induktion. Auf der einen Seite gehen ausihnen durch Abstraktion die Axiome, auf der anderen Seite durch die an eine Anzahl verwandter Induktionen sich anschließende Generalisation die verwickel- teren Induktionen hervor. Besonders bei jenen einfachen Sätzen, die entweder selbst unter die Axiome gehören oder als nächste Spezialisierungen derselben be- trachtet werden können, ist es nun ein altes Bestreben der Mathe- matiker, die Spuren der Induktion zu verwischen. Dies geschieht entweder, indem man an die Stelle der Induktion die Intuition setzt, wobei man hervorhebt, daß eine einmalige Beobachtung zu ihrer Feststellung zureichend sei, oder indem man die Induktion durch einen angeblich deduktiven Beweis zu ersetzen sucht. Der erste dieser Einwände übersieht jedoch den Umstand, daß die Erfahrungen, aus denen wir die Überzeugung von der Richtigkeit der einfachsten arithmetischen und geometrischen Sätze schöpfen, zum großen Teil in einer Zeit gemacht wurden, die der wissenschaft- lichen Induktion lange vorausging. Den Charakter der Allgemein- heit wird man solchen Sätzen wie der Additionsformel 7+5—=12 oder dem geometrischen Satz, daß zwei Gerade nie mehr als einen Punkt gemein haben, nicht absprechen dürfen, denn der erste ist für alle möglichen Gruppierungen von 7 und 5 Einheiten, der zweite für unendlich viele Gerade im Raum gültig. Eben deshalb aber ist es nicht denkbar, daß man zur Feststellung dieser Sätze anders als durch ein mehrfaches Experimentieren gelangt sei. Nur eine Mehrheit von Anschauungen konnte lehren, daß, wie man auch die einzelnen Einheiten der Zahlen 7 und 5 aneinanderfüge, die resultierende Anschauung immer die nämliche Summe von Einheiten enthalte, oder daß, wie man auch die Richtungen der Geraden sich ändern lasse, niemals ein Bild mit zwei Durchschnittspunkten entstehen könne. Nicht besser steht es mit den Beweismethoden, durch die man den experimentellen Ursprung gewisser Erkenntnisse zu verhüllen sucht. Diese setzen ent- 134 Die Logik der Mathematik. weder, indem sie apagogischer Art sind, in Wirklichkeit das zu Be- weisende voraus, oder sie enthalten selbst nichts anderes als die Schil- derung eines Induktionsverfahrens. In beide Gattungen gehören die Euklidischen Kongruenzbeweise. Der versuchte Beweis für die Kon- gruenz zweier Dreiecke besteht hier darin, daß man angehalten wird, die gleichen Stücke zur Deckung zu bringen, worauf, wenn die drei Seiten gleich sind, die unmittelbare Anschauung lehren soll, daß auch die ganzen Dreiecke zusammenfallen (I, Satz 8); oder, falls zwei Seiten und der eingeschlossene Winkel, eine Seite und zwei Winkel gleich sind, so wird gezeigt, daß die Voraussetzung der Nichtkongruenz dem Axiom, nach welchem zwei Gerade keinen Raum einschließen, widersprechen würde (Satz 4 und 26). Es ist klar, daß auch dieser apagogische Beweis der Berufung an die unmittelbare Erfahrung nur eine andere Wendung gibt; denn ich weiß ja nur aus der Anschauung, daß das Dreieck eine geschlossene Figur ist, der Beweis sagt also bloß, daß die Nichtkongruenz meiner Anschauung widersprechen würde. Ähnlich verhält es sich mit den für gewisse mathematische Fundamentalsätze versuchten Beweis- führungen. Das sogenannte Assoziationsgesetz der Addition und Multiplikation, wonach («e +b) +c=a-+(b-+c) und (ab).c=a. (b c) ist, beweist man für beliebig viele Zahlen, indem man zeigt, daß es, wenn für eine gegebene Anzahl von Elementen richtig, auch für die nächst größere Anzahl richtig sein müsse*). Dieses in der Mathematik als vollständige Induktion bezeichnete Verfahren ist in der Tat insoweit eine Induktion, als die Voraussetzung, das Gesetz sei für eine gegebene Anzahl zutreffend, nur aus experimentellen Ermittlungen hervorge- gangen sein kann. Nur ist es nicht zulässig, diese Voraussetzung wie eine vorläufige Hypothese einzuführen, die durch die nachträgliche Ausdehnung auf eine beliebige Anzahl von Gliedern, die in Wahr- heit keine Induktion mehr ist, ihre Bestätigung erst empfange. Diese Bestätigung würde nichts beweisen, wenn der Satz nicht durch Er- fahrungen, die sich auf eine beschränkte Anzahl von Gliedern be- ziehen, vollkommen feststünde. Aber es ist eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit der Mathematik, daß sie es liebt, die Erfahrung zu verleugnen, indem sie, um ihren deduktiven Charakter zu wahren, Sätze als Hypothesen behandelt, die in Wirklichkeit durch Induktion entstanden sind. Sehr augenfällig tritt dies an einer apagogischen Beweisführung hervor, die man für den mit dem Assoziationsgesetz nahe zusammenhängenden Satz versucht hat, daß, wenn zwei Zahlen A *) Lejeune-Dirichlet, Vorlesungen über Zahlentheorie A Die mathematische Induktion und Abstraktion. 135 und B aus der nämlichen Anzahl von Einheiten bestehen, keine ein- deutige Verknüpfung zwischen ihnen möglich ist, bei welcher ein Rest bleibt. Man nimmt an, das Gegenteil wäre möglich: es soll neben der Verbindung, die keinen Rest läßt, noch eine andere stattfinden können, bei der etwa von B eine Einheit 5 übrig bleibe. Nun nehme man dieses Element b aus der Zahl B und entsprechend das Element «a, mit dem es bei der restlosen Verknüpfung verbunden war, aus A weg: es wird dann vorausgesetzt, daß zwischen den gebliebenen Zahlen A’ und B’ wieder zwei Verknüpfungen, die eine mit einem Rest, die andere ohne einen solchen, möglich seien, und es sollen nun die einander entsprechenden Elemente 5’ und a’ weggenommen und so fortgefahren werden, bis von jeder der beiden Zahlen nur noch eine Einheit übrig bleibt. Daß nun zwischen zwei Einheiten mehr als eine Art der Verbindung nicht stattfinden kann, ist unmittelbar einleuchtend, und es wird daher ge- folgert, daß auch zwischen Zahlen aus beliebig vielen Einheiten nicht zwei Verbindungen möglich sind*). Der Schluß dieses Beweises ist offenbar eine demonstratio ad oculos, die allerdings am einleuchtendsten bei bloß zwei Einheiten wird, aber im allgemeinen auch schon bei Gruppen von je 2, 3 oder überhaupt einer kleineren Zahl von Einheiten deutlich genug sein dürfte. Es handelt sich, wie bei den Kongruenz- beweisen Euklids, um eine Berufung an die Anschauung, die in das Ge- wand der apagogischen Beweisführung gekleidet ist. Das wirkliche Induktionsverfahren wird hierbei umgedreht. Während dieses von den einfachsten Fällen ausgeht, wird hier der zusammengesetzte Fall bis zum einfachsten zurückverfolgt. Es bedarf hiernach nicht mehr der näheren Ausführung, daß auch die übrigen allgemeinen Gesetze der Zahlenverknüpfung, das Kommutations- und das Distributionsgesetz, a—+b=b-a, ab=ba, (a+b) c=ac-+beu. s. w., andere als induktive Begründungen nicht zulassen. Nur auf einen Spezialfall der Multiplikation mag hier deshalb noch hingewiesen werden, weil bei ihm die Verkennung des induktiven Charakters eines Satzes zu sehr merkwürdigen Beweisversuchen den Anlaß geboten hat, nämlich auf die Multiplikationsregel, wonach das Vorzeichen eines Produktes aus zwei Faktoren positiv ist, wenn beide Faktoren ein gleiches, negativ, wenn sie ein verschiedenes Vor- zeichen besitzen. Wenn man es auch für selbstverständlich hielt, daß —ta.+b=-.ab und allenfalls a.—b=—.ab sei, so wurde doch lange Zeit das Produkt —a.—b=--ab für eine Art von *), ErnstSchröder, Lehrbuch der Arithmetik und Algebra, I, S. 19 £. 136 Die Logik der Mathematik. Paradoxie gehalten, und noch in der neueren Analysis kann man Aus- führungen begegnen, die sich mit der Bemerkung begnügen, daß —a. — b notwendig das entgegengesetzte Vorzeichen zu +a.—b emp- fangen müsse. Auch, wie es zuweilen geschieht, als bloß willkürliche Voraussetzungen, deren Berechtigung erst durch den Erfolg bewiesen werde, können jene Gleichungen nicht gelten, da ihre erfolgreiche An- wendung auf eine Berechtigung hinweist, die sie an und für sich schon besitzen müssen. Willkürlich ist nur der Gebrauch der Vorzeichen plus und minus für gewisse reale Gegensätze der durch Zahlen meßbaren Objekte, wie der Wertgrößen, der Richtungen im Raume u. dgl. Gleich- wohl ist gerade dieser Gebrauch lediglich aus der Beobachtung der zählbaren Objekte hervorgegangen. Die Verknüpfung zwischen den Größen a und 5 ist in den drei Fällen die nämliche, darum erscheint auch immer das nämliche Produkt @.b. Aber die Gleichung + «a. — b=—-ab bedeutet, daß die Richtung der Größe db, welche a-mal ge- nommen werden soll, entgegengesetzt sei einer anderen Richtung des nämlichen Größenkontinuums, die mit 4 b bezeichnet wurde, wo dann notwendig auch die aus der Vervielfältigung hervorgehende Größe einen negativen Wert haben muß. Das nämliche Resultat gewinnt man, wenn umgekehrt, entsprechend der Gleichung —a.+b=—.ab, eine positive Größe b a-mal aufgehoben gedacht wird, wenn z. B. eine Summe von 5b Werteinheiten a-mal hinweggenommen wird: die Ge- samtsumme der hinweggenommenen Werteinheiten ist hier abermals —=—-ab, weil von vornherein die Aufhebung der ursprünglich ge- setzten Größen negativ bezeichnet wurde. Die Gleichung — a. —b= —-ab endlich sagt aus, daß eine negative Größe b a-mal aufgehoben gedacht wird, daß also z. B. ein Verlust vom Werte b a-mal wieder- ersetzt oder ein in rückläufiger Richtung gemessener Weg b in recht- läufiger Richtung a-mal zurückgelegt sei. Hier muß mit derselben Sicherheit ein positives Produkt «.b erscheinen, als eine doppelte Negation verschwindet, eine allgemein logische Regel, von welcher der mathematische Fall eine Anwendung ist. (Bd. I, S. 554.) Dieser Zusammenhang mit dem Satz des Widerspruchs beweist nichts gegen den induktiven Ursprung der Multiplikationsgesetze, da ja die logischen Axiome selber nicht nur gleichzeitig Gesetze des Denkens und der Ob- jekte des Denkens, sondern auch unter dem Einfluß dieser Objekte entstanden sind. Auch wird durch den induktiven Ursprung der Multi- plikationsregeln keineswegs ausgeschlossen, daß einzelne unter ihnen deduziert werden können, wenn die anderen gegeben sind. Vielmehr wird, sobald nur die gegebenen Regeln eine vollständige Definition der Die mathematische Induktion und Abstraktion. 137 positiven und der negativen Einheiten enthalten, eine solche Deduktion möglich sein. In der Tat lassen sich aus den beiden Gleichungen + a. +b=-abund-+a—a=0 die zweite und dritte Multiplikations- regel ableiten*). Die Möglichkeit dieser Deduktion beweist aber natür- lich nur, daß, nachdem die erste Regel und der Begriff der entgegen- gesetzten Zahlen durch Induktion und Abstraktion gefunden sind, man sich die besondere induktive Auffindung der übrigen ersparen kann. Mehr anerkannt ist das Stattfinden einer Induktion in jenen Fällen zusammengesetzter Induktion, bei denen gleichzeitig eine Generalisation aus einfacheren Induktionen stattfindet. Hier- her gehören vor allem die Schlüsse von der Potenz n auf die Potenz n—-1, bei denen nur die Bezeichnung „vollständige Induktion“ eine unrichtige ist**). Ähnlich verhält es sich mit anderen Reihenentwick- lungen. So gewinnt man z. B. die Anfangsglieder der Reihe 3 14404048 durch wirkliche Ausführung der Division von 1 durch 1—x. Nur weil durch experimentelle Verfahrungsweisen dieser Art tatsächlich solche Reihen gebildet werden, läßt sich die Voraussetzung recht- fertigen, daß überhaupt jede Größenfunktion eine Reihenentwicklung gestatte. Diese Voraussetzung für jeden einzelnen Fall besonders zu beweisen, ist dann allerdings nicht mehr nötig, sondern es genügt, daß der Erfolg ihre Richtigkeit ohne Ausnahme bestätigt. Auch in diesen zusammengesetzteren Fällen kann jedoch die Induktion, in einer übrigens vollkommen zulässigen Weise, verhüllt werden. Dies ge- schieht teils durch die Verbindung mit deduktiven Operationen, teils aber auch dadurch, daß die Induktion in indirekter Weise An- wendung findet. So benützt man z. B. die induktive Ermittlung der Primfaktoren einer Zahl m, um daraus deduktiv diejenigen Zahlen zu finden, die relativ prim zu m sind***). Man würde die letzteren ebensogut auf dem Wege einer direkten, aber weit langwierigeren Induktion durch Divisionsversuche bestimmen können. % d. Die mathematische Abstraktion. Der Grund, weshalb die mathematische Induktion besonders in ihren einfachsten Fällen übersehen zu werden pflegt, liegt vornehm- *) Eine solche von Weierstraß herrührende Ableitung vgl. bei Kossak, Die Elemente der Arithmetik, 1872, S. 22 fi. **) Vgl. hierüber Bd. I, S. 332 f. ***) Lejeune-Dirichlet,a.a. O.S. 19 f. 138 Die Logik der Mathematik. lich darin, daß sie sich von Anfang an mit einem sehr vollständigen und durch eigentümliche Merkmale ausgezeichneten Abstrak- tionsverfahren verbindet. Niemand würde daran zweifeln, daß die Additionsformel 7—+5==12 der Induktion ihren Ursprung verdanke, wenn die Zahlsymbole eine konkrete Bedeutung besäßen, wenn also die Formel etwa lautete: sieben Äpfel und fünf Äpfel sind zwölf Äpfel. Aber da jene Symbole alle möglichen Objekte bezeichnen können, so ist man geneigt, die Zahlvorstellungen und ihre Verbin- dungen sowie die grundlegenden geometrischen Konstruktionen als die Schöpfungen einer reinen Gedankentätigkeit anzusehen, auf welche der nur auf empirischem Gebiet zulässige Begriff der Induktion keine An- wendung finde. In diesem Sinne meinte der ältere Realismus, alle mathe- matischen Sätze ließen sich aus den abstrakten Begriffen der Zahl, der Größe, des Raumes ohne jede weitere Beihilfe analytisch entwickeln. Sobald man dagegen die anschauliche Grundlage der mathematischen Sätze anerkannte, wurde man entweder durch den abstrakten Charakter derselben veranlaßt, sie mit Kant auf synthetische Konstruktionen innerhalb einer reinen Anschauung zurückzuführen, oder man suchte in einer Weise, die mehr auf die psychologische Natur der Vorgänge als auf ihre logische Bedeutung Rücksicht nahm, die Unterschiede zwischen der mathematischen und der naturwissenschaftlichen Induktion zu ver- wischen. So besteht der Mangel beider Auffassungen darin, daß in ihnen jener Abstraktionsprozeß, der den mathematischen Induktionen haupt- sächlich erst ihre Allgemeinheit sichert, nicht in zureichender Weise zur Geltung kommt. Bei Kant erscheint die reine Anschauung als ein ursprüngliches Gebiet innerer Erfahrung, in welchem jede Erkennt- nis des einzelnen mit der Konstruktion anhebt, während in Wahrheit die reine Anschauung die höchste der Abstraktionen ist, auf welche die einzelnen Abstraktionen mathematischer Denkobjekte zurückführen. Mill dagegen vermengt die mathematischen Begriffsgebilde mit den Objekten der wirklichen Erfahrung, die Geometrie insbesondere be- zeichnet er mit Comte als diejenige Naturwissenschaft, die sich mit den räumlichen Eigenschaften der Körper beschäftige*). So verwandeln sich ihm die Grundsätze der Mathematik in Induktionen, die sogar nur eine annähernde Gültigkeit besitzen, da es gerade Linien, Ebenen, regelmäßige Figuren, wie sie die Geometrie voraussetzt, in der Wirk- lichkeit nicht gibt. Er nimmt daher die mathematischen Sätze für un- mittelbare Induktionen aus der Erfahrung, während sie Induktionen aus Abstraktionen von der Erfahrung sind. *) A. 3. 0. 11,28..104 Die mathematische Induktion und Abstraktion. 139 Als Abstraktion überhaupt haben wir nun das Verfahren bezeichnet, durch das aus einer Anzahl einzelner Vorstellungen gewisse Elemente eliminiert und die zurückbleibenden als Gegenstand eines Begriffs festgehalten werden. (Abschnitt I, Kap. I, S. 11.) Vermöge des nega- tiven Teils dieser Definition können wir nun offenbar die Entstehung mathematischer Begriffe ohne weiteres dem Verfahren der Abstraktion unterordnen. Aber der positive Teil begegnet hier eigentümlichen Schwierigkeiten. Wenn jene Elimination vollständig ausgeführt wird, so scheint kein Rest übrig zu bleiben, der dem mathematischen Begriff entspricht. Die Zahl ist ebensowenig eine für sich denkbare objektive Eigenschaft der zählbaren Objekte, wie gerade Richtung und aus- dehnungslose Beschaffenheit Merkmale sind, in denen gewisse Linien übereinstimmen. Trotzdem beweist diese Tatsache nicht, daß hier über- haupt keine Abstraktion stattfinde, sondern sie beweist nur, daß man die mathematische Abstraktion falsch interpretiert, wenn man sie voll- ständig nach Analogie derjenigen Abstraktionen beurteilt, zu denen die physikalische Beobachtung Anlaß gibt. Aus der Vergleichung der mathematischen mit den physikalischen Begriffen erhellt aber ohne weiteres, daß jenes Eliminationsverfahren, in welchem das Wesen der Abstraktion besteht, bei den ersteren ein vollständigeres ge- wesen sein muß. Die nächste Frage lautet also: welche Bedingungen müssen zu der gewöhnlichen Abstraktion, die wir die physische nennen wollen, hinzutreten, wenn mathematische Begriffe entstehen sollen? Die Antwort auf diese Frage ist leicht zu geben, sobald man sich die Schwierigkeiten vergegenwärtigt, in die sich die gewöhnliche Lehre von der empirischen Entstehung der mathematischen Begriffe ver- wickelt. Diese Lehre bleibt siegreich, solange sie sich auf die Schil- derung der negativen Seite der Abstraktion beschränkt; sie scheitert aber in dem Augenblick, wo sie sich auf die positiven Begriffselemente besinnt, die ihr zurückbleiben. Die gewöhnliche Ausflucht, daß man sich auf die Vorstellungen beruft, die in unserem Bewußtsein die Be- griffe repräsentieren, deckt nur notdürftig dieses Scheitern; denn sie verwechselt die Zeichen der Begriffe mit den Begriffen selber. Der ganze Mißerfolg hat aber seine Quelle darin, daß man von Anfang an diejenigen Vorstellungsmomente, die den zur Einleitung des Abstrak- tionsprozesses dienenden Objekten angehören, als die allein existierenden behandelt, die subjektiven, unserer eigenen Gedankentätigkeit an- gehörenden ganz ignoriert. Führt nun jener Mißerfolg zu dem Ergebnis, daß das Eliminationsverfahren der Abstraktion scheinbar keinen Rest zurückläßt, so werden wir demnach sogleich schließen dürfen, daß der 140 Die Logik der Mathematik. in Wahrheit bleibende Rest nichts anderes als unsere bei der Bildung der mathematischen Vorstellungen wirksame Gedankentätigkeit selbst ist, oder mit anderen Worten, daßmathematischeBegriffe zustandekommen,indemwir vonallendenjenigen Elementen der Vorstellung abstrahieren, die in dem Objektihre Quellehaben. Am deutlichsten kommt dieses Verfahren bei dem Begriff der Zahl zum Vorschein, weil die abstrakte Natur dieses Begriffs sofort die Schwäche der physischen Abstraktionstheorie bloßlest. Wenn wir uns fragen, was zurückbleibt, wenn wir von allen wechselnden Bestandteilen jener Vorstellungen abstrahieren, an denen sich die Funktion des Zählens betätigt, so ist dieses Zurückbleibende nichts anderes als de Funktion des Zählensselber, eine Aufein- anderfolge und Verbindung von Apperzeptionsakten, deren jeder ein- zelne den abstrakten Begriff der Einheit darstellt. Wir können freilich nicht zählen ohne Objekte, die uns in innerer oder äußerer Erfahrung gegeben sein müssen, und jede Darstellung von Zahlen sieht sich daher genötigt, zu objektiven Versinnlichungen zu greifen, welche den ein- fachsten Gelegenheitsursachen, aus denen Zahlen entstehen, nach- gebildet sind. Aber der Begriff der Zahl ist, was nach Elimination aller dieser wechselnden Elemente zurückbleibt: die Verbindung der einzel- nen Denkakte als solcher, abgesehen von jedem Inhalt. (Vgl. Bd. I, S. 510 £.) Von hier aus wird es nun nicht schwer, auch den geometrischen Begriffen gerecht zu werden. Der geometrische Punkt unterscheidet sich darin vom physischen, daß es sich bei diesem immer um ein Etwas handelt, was objektiv, mit bestimmten physischen Eigenschaften begabt, gegeben sein soll. Der geometrische Punkt dagegen bedeutet den ein- zelnen Ort im Raume, insofern derselbe bloß durch unsere orts- bestimmende Gedankentätigkeit gegeben ist. Von den Eigenschaften der physischen Gegenstände, die uns zur äußeren Bezeichnung so gut wie zur inneren Vorstellung eines Ortes dienen, wird abstrahiert; es bleibt nur die fixierende Tätigkeit zurück, ohne die sich keine Orts- bestimmung vollzieht. Die ausdehnungslose Beschaffenheit des Punktes ist eine selbstverständliche Folge dieser Abstraktion, da die Ausdeh- nung immer nur den objektiven Bestimmungsmitteln der Örter im Raum eigen ist. Etwas zusammengesetzter ist der Abstraktionsprozeß, der zum Begriff der geraden Linie führt. Hier wird nicht einfach, wie bei der arithmetischen Einheit und dem geometrischen Punkt, von dem zählbaren oder raumerfüllenden Objekt abstrahiert, sondern der Die mathematische Induktion und Abstraktion. 141 sinnlichen Vorstellung eines annähernd geradlinigen Stabes folgt zunächst die Wahrnehmung, daß ein solcher Stab, wie er auch um sich selbst gedreht werden mag, stets in konstanter Weise zwei voneinander entfernte Orte im Raum, durch die man ihn gelegt denkt, verbindet. Dieser Erfahrung bemächtigt sich nun die mathematische Abstraktion: indem sie aus der Vorstellung des Stabes alle objektiven Bestandteile eliminiert, bleibt der Denkakt übrig, welcher die relative Lage der zwei Punkte in Bezug aufeinander bestimmt. Da die Gerade, die zum Behuf der Lagebestimmung gezogen werden muß, nur in Bezug auf ihre Richtung und Länge bei jener Lagebestimmung in Betracht kommt, so bleiben als einzige Elemente des Begriffs einer gegebenen Geraden Richtung und Länge übrig. Der Umstand, daß es in der Natur keine absolut geradlinige Grenze gibt, steht diesem Begriff nicht im Wege, da der Gedanke der lagebestimmenden Verbindung zweier Punkte ein Postulat unseres Denkens ist, keine wirkliche Vorstellung. In ähnlicher Weise ist die Verarbeitung der übrigen geome- trischen Vorstellungen aufzufassen. Die einfacheren unter ihnen werden ebenfalls durch unmittelbare Erfahrungen nahe gelegt; andere ent- stehen durch objektive oder subjektive, von unserer Einbildungskraft geleitete Experimente, also auf dem Wege der Konstruktion. Das auf solche Weise entstandene Bild wird aber erst zum geometrischen Objekt im eigentlichen Sinne, wenn wir alle diejenigen Elemente der Vorstellung eliminieren, die nur nebensächliche Begleiter des Resultates sind, das unser Denken beabsichtigt. Wollen wir eine gegebene Figur als Kreis auffassen oder einen Kreis konstruieren, so besteht die For- derung unseres Denkens in einer kontinuierlichen Folge geometrischer Punkte, die in einer Ebene liegen und mit einem einzigen festen Punkte durch gerade Linien von konstanter Größe verbunden werden können. Bei der geometrischen Untersuchung des Kreises beschäftigt uns nur diese Forderung, nicht die einzelne Vorstellung, die den Begriff in unserem Bewußtsein vertreten muß. Man hat vielfach den Hauptwert darauf gelegt, daß die den Begriffen entsprechenden Vorstellungen von uns konstruiert werden müßten. Infolgedessen schwinde, wie man meint, die Schwierigkeit, daß die geometrischen Begriffe keinen realen Objekten entsprechen, und es sei darum möglich, die konstruierten Vorstellungen selbst als geometrische Gebilde zu betrachten, ohne daß ein hinzukommender Abstraktionsprozeß erforderlich wäre. Aber diese konstruierten Vorstellungen leiden an den nämlichen Ungenauig- keiten wie die äußeren Objekte; das wesentliche Moment der Begrifis- bildung bleibt daher immer die Elimination aller empirischen Bestand- 142 Die Logik der Mathematik. teile der Vorstellung und die Zurückführung auf diejenigen Elemente, die den Charakter von Postulaten des Denkens besitzen. Die allgemeinen Bedingungen der mathematischen Begrifisbildung, die Anschauungs- formen des Raumes und der Zeit, beruhen durchaus auf einer Abstraktion der nämlichen Art, indem wir uns bei ihnen jeden gegebenen Raum- und Zeitinhalt eliminiert denken und so nur die subjektiven Apper- zeptionsformen zurückbehalten, die das räumliche und zeitliche Vorstellen begleiten. Eben wegen des auch hier vorhandenen Ab- straktionsprozesses ist die „reine Anschauung“ ein Begriff und keine Vorstellung. Von der Kantischen Auffassung unterscheidet sich die hier ent- wickelte hauptsächlich darin, daß Kant die subjektiven Elemente der mathematischen Begrifisbildung den objektiven vorangehen läßt und sie in diesem Sinne als transzendentale Bedingungen der empirischen Vorstellung selbst bezeichnet. Denn indem Kant die begriffliche Natur der reinen Anschauung leugnet, wird er genötigt, eine konstruktive Tätigkeit der reinen Einbildungskraft anzunehmen. Nichts aber berech- tigt uns, in dieser Weise das letzte Resultat des mathematischen Er- kennens an dessen Anfang zu stellen, statt dem wirklichen Erkennen Schritt für Schritt nachzufolgen. Nun besteht in der Reduktion auf die formalen Bedingungen unserer Auffassung das Wesen des mathe- matischen Apriori. Darum können wir den Grund desselben nicht in einer jede Induktion und Abstraktion entbehrlich machenden Konstruk- tion, am wenigsten aber in einem aller Erfahrung vorausgehenden Wissen erblicken, da vielmehr die mathematischen Begriffe, von der Erfahrung ausgehend, den längsten Weg zurücklegen müssen. Das ganze zur Feststellung der mathematischen Begriffe dienende Abstraktionsverfahren gehört hiernach der Form der isolierenden Abstraktion an. Auch in den weiteren Verlauf des mathematischen Denkens greift aber die Abstraktion unter fortwährender Verbindung mit der Induktion ein. Als generalisierende macht sie es möglich, die an einzelnen Gebilden der Anschauung gewonnenen Sätze sofort auf ganze Klassen solcher Gebilde zu übertragen und so denselben die ihnen zukommende Allgemeinheit zu sichern. Sodann bemächtigt sich die nämliche Abstraktion der durch einzelne Induktionen ent- standenen Sätze, um mit ihrer Hilfe die nachher in der Form von Definitionen fixierten Grundbegriffe zu gewinnen, die als die allgemeinen Bedingungen jener einzelnen Sätze angesehen werden können. Ist auf diese Weise erst die allgemeinste Definition gefunden, die ein be- stimmtes mathematisches Begrifisgebiet beherrscht, so liegt darin der Die mathematische Deduktion, 143 Anlaß, nun wiederum solche Sätze zu prüfen, denen ein axiomatischer Charakter zugeschrieben werden kann, und aus ihnen diejenigen zum Rang definitiver Axiome zu erheben, die zureichend sind die Defi- nition zu erschöpfen und daher alle anderen unmittelbar anschau- lichen, keines Beweises bedürftigen Sätze als spezielle Fälle unter sich enthalten. Euklids Axiome erscheinen uns nur darum fast zufällig zusammengetragen, weil ihre Aufstellung nicht von bestimmten Defi- nitionen der Grundbegriffe von Zahl, Größe und Raum geleitet wird, weshalb teils Axiome verschiedenartiger Gebiete miteinander, teils Sätze von untergeordnetem Charakter mit den Axiomen vermengt sind. Dieser Mangel des Euklidischen Systems ist also wesentlich die Folge unzureichender Generalisation. 4. Die mathematische Deduktion. Bei der großen Bedeutung, welche die Mathematik für die Aus- bildung der deduktiven Methoden besitzt, hat sich bereits die allgemeine Methodenlehre vielfach auf das Vorbild der mathematischen Wissen- schaft beziehen müssen. Namentlich sind die Hauptformen mathe- matischer Deduktion in der Lehre von der Deduktion und vom deduk- tiven Beweis besprochen worden; mit der Betrachtung der einzelnen, an bestimmte Grundbegriffe sich anlehnenden logischen Methoden aber werden sich die folgenden Kapitel beschäftigen. Nur eine all- gemeine Deduktionsform, die spezifisch mathematischer Natur und für alle Gebiete der Mathematik von eminenter Wichtigkeit ist, bedarf hier noch der genaueren Untersuchung: es ist dies de Deduktion nach exakter Analogie, die auf den früher betrachteten exakten Analogieschluß als ihre logische Grundform zurückführt. (Vgl. Bd. I, S. 330 fi.) In dem systematischen Zusammenhang des mathematischen Denkens pflegt die exakte Analogie eine gewöhnliche unvollständige Induktion deduktiv abzuschließen, indem sie dem Resultat derselben Allgemeingültigkeit sichert. Am deutlichsten ist dies bei dem schon früher erwähnten Schlusse von einem Gliede n auf ein weiteres Glied n--1, der fälschlich so genannten „vollständigen Induktion“ der Mathematiker. So findet man z. B. durch Induktion, daß das Kommutationsgesetz für zwei und für drei Zahlen gilt, und zeigt dann, daß es in ähnlicher Weise von n auf n—-1 Zahlen ausgedehnt werden kann, wodurch es, da für n jede beliebige Zahl gesetzt werden darf, allgemein bewiesen ist*). Der ge- *) Lejeune-Dirichlet, Vorlesungen über Zahlentheorie, S, 1 fi. 144 Die Logik der Mathematik. meinsame Grund für diese unbedingte Verallgemeinerung arithmetischer Induktionen ist die Gleichförmigkeit der Zahlgesetze. Diese gründet sich aber nicht bloß auf die tatsächliche Bestätigung in aller Erfahrung, sondern in erster Linie auf jene Konstanz der Begriffe, welche die Be- dingung unseres eigenen logischen Denkens ist. Wollte ich voraussetzen, daß für den Fortschritt von nzun 4 1 ein anderes Gesetz der Zunahme Platz greife als von 1 zu 1-1, so müßte ich annehmen, daß der Begriff der Eins oder der Vorgang der additiven Verbindung eine Veränderung erfahren habe, d. h. daß identische Denkoperationen nicht miteinander identisch seien. Eine solche Annahme widerstreitet freilich auch aller Erfahrung. Dennoch heißt es Heterogenes vermengen, wenn man nun deshalb mit Mill mathematische Verallgemeinerungen dieser Art der Generalisation empirischer Gesetze gleichstellt und sie auf eine bloße inductio per enumerationem simplicem zurückführt*). Es waltet doch eine wesentliche Verschiedenheit ob zwischen einem Satze, der seine allgemeine Geltung nur dem Umstand verdankt, daß bis dahin keine Erfahrung ihm widersprochen hat, während widerstreitende Erfah- rungen sehr wohl vorstellbar wären, und einem solchen Satze, dessen Beseitigung wir uns nicht denken können, ohne gleichzeitig die Gesetze unserer Anschauung und die Normen unseres Denkens verändert zu denken. In wesentlich anderer Weise vervollständigt die Analogie jene vereinzelten Induktionen, die sowohl den zusammengesetzten Induk- tionsprozessen wie der Bildung der Axiome zur Grundlage dienen. Hier haben die einzelnen durch Induktion gewonnenen Sätze die Be- deutung abstrakter Regeln für singuläre Tatsachen, die an und für sich einer Verallgemeinerung nicht zugänglich sind; die Analogie gestattet es dann aber ohne weiteres, andere singuläre Sätze von verwandter Art festzustellen, für die infolgedessen das Erfordernis einer besonderen Induktion hinwegfällt. Nachdem die Summe 7 +5==12 durch wirk- liche Addition der Einheiten gefunden ist, bilden wir sofort die Summen 70 + 50 = 120, 700 + 500 —= 1200 u. s. w., ohne daß es uns notwendig scheint, auch in diesen Fällen die Addition durchzuführen. Indem man die 10, 100, 1000 u. s. w. als neue zusammengesetzte Einheiten be- trachtet, setzt man voraus, die zwischen ihnen möglichen Operationen seien den nämlichen Gesetzen unterworfen wie die zwischen den ein- fachen Einheiten. Die einzelnen Induktionen, aus denen die axio- matischen Gesetze der Addition, Multiplikation, Subtraktion und *) Mill, Logik, IT?, S. 154. Die mathematische Deduktion. 145 Division abstrahiert sind, beschränken sich so auf die Feststellung der für die Zahlen 1 und 10 möglichen Zahlformeln, die bei den direkten Operationen unter allen Umständen leicht ausführbaren Verknüpfungen der Einheiten entsprechen, während bei den inversen Operationen in jenen Fällen, in denen sich negative, irrationale oder imaginäre Größen ergeben, die aufgestellten Beziehungen wirklichen Induktionen nicht unmittelbar parallel gehen. In der Tat ist es gar nicht denkbar, daß man, solange die Zahlen ihre ursprüngliche Bedeutung bewahrten, durch unmittelbare Zählungen zu negativen oder irrationalen Zahlen gelangt wäre. Vielmehr wurden die betreffenden Zahlformeln zunächst nur nach Analogie anderer, aus wirklichen Induktionen hervorgegangener gebildet, und erst spätere Induktionen von anderer Beschaffenheit führten zu der Entdeckung, daß ihnen eine reale Bedeutung zukommen könne. Hier hat sich also der gewöhnliche Verlauf umgekehrt, indem die Analogie zuerst zu bestimmten Gesetzen führte, welche dann durch Induktion eine objektive Grundlage gewannen. Selbstverständlich kann es sich in solchen Fällen auch ereignen, daß die nachfolgende Induktion ganz ausbleibt. Wo sie sich aber einstellt, da ist der Vorgang nicht so zu verstehen, als wenn die Begriffe zuerst durch Analogie und dann noch einmal selbständig durch Induktion gefunden wären. Viel- mehr hat die Induktion immer nur zu realen Beziehungen geführt, für deren Ausdruck sich die schon vorhandenen Begriffe als geeignete Hilfs- mittel erwiesen. Ihre Anwendung ging daher aus einer willkürlichen Übertragung hervor, zu der die Induktion nur das äußere Motiv bildete. Kein objektiver Zwang nötigt uns, Gewinn und Verlust, Vermögen und Schulden durch positive und negative Zahlen auszudrücken; aber durch Induktion aus der Erfahrung mußten jene gegensätzlichen Begriffe entstanden sein, wenn die negative Zahl überhaupt eine reale Be- deutung erhalten sollte. Auf geometrischem Gebiete ist es die Analogie, welche das in einer einzelnen Konstruktion anschaulich Gegebene ohne weiteres auf alle Raumgebilde gleicher Art überträgt, um so der in einem einzelnen Fall erkannten Tatsache den Wert eines allgemeinen Gesetzes zu sichern, Diese Analogie ist eine exakte, weil sie sich auf die Unmöglichkeit stützt, andere Räume außer dem in der wirklichen Anschauung gegebenen sich vorzustellen. Die große Schwierigkeit, die seit langer Zeit die Geometer in dem sogenannten Parallelenaxiom gefunden, beruht wesentlich auf dem Vorkommen der bei diesem Satze mitwirkenden Analogie. Daß zwei gerade Linien, die von einer dritten unter gleichen Winkeln ge- schnitten werden, sich selbst niemals schneiden können, wie weit wir Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 10 146 Die Logik der Mathematik. sie auch verlängern mögen, schließen wir daraus, daß die schneidende Linie sich selbst parallel beliebig längs der beiden Parallelen verschoben werden kann, ohne daß sich die schneidenden Winkel ändern. Insoweit sich dieser Schluß auf die unmittelbare Anschauung stützt, ist er eine Induktion; insoweit er von uns über jede mögliche Anschauung hinaus verallgemeinert wird, ist er eine exakte Analogie, die sich auf die durch- gängige Kongruenz des Raumes mit sich selber stützt. In einem wesentlich anderen Sinne dagegen verwertet die geo- metrische Untersuchung die Analogie, wenn sie die Übergänge zwischen den geometrischen Begriffen über die reale Anschauung hinaus im Sinne einer bloßen Analogie fortsetzt, wenn sie also einen analogen Übergang, wie er von der Ebene zum Raum stattfindet, zwischen Räumen von mehr Dimensionen statuiert. Hier beginnt, ähnlich wie bei den Erweiterungen des Zahlbegrifis, der Prozeß mit einer Analogie, der dann unter Umständen Induktionen, die eine reale Anwendung vermitteln, nachfolgen können. Nur muß man freilich beachten, daß diese Anwendungen nicht mehr dem Gebiet der eigentlichen Geometrie, welcher durch die Raumanschauung ihre festen Grenzen gezogen sind, angehören, sondern daß es sich hierbei immer nur um eine Behandlung von Problemen anderer Gebiete, der Funktionentheorie oder der Mannig- faltigkeitslehre, in geometrischer Form handelt. Auf diese Weise geben sich für die Benützung der exakten Ana- logie in dem Zusammenhang der mathematischen Methoden allgemein zwei Formen: dieerste, die sich an die Induktion anschließt und zur Feststellung der Allgemeingültigkeit gewisser ursprünglich durch Induktion gewonnener Sätze führt, und eine zweite, die gewisse Operationen oder auf anderem Wege festgestellte Begriffe über ihr ursprüngliches Gebiet hinaus erweitert, indem sie einen bestimmten logischen Prozeß nach Analogie der für ihn in den Erfahrungsgrenzen gültigen Normen über die letzteren fortsetzt. Während die erste Form vorzugsweise bei den fundamentaleren Sätzen ihre Anwendung findet, dient die zweite als Basis der abstraktesten, zuweilen völlig von dem Boden der Anschauung sich entfernenden Spekulationen. Beide Formen lassen sich auf verschiedene Prinzipien zurückführen: die erste auf ein Prinzip der Konstanz mathematischer Gesetze, die zweite auf ein Prinzip dr Permanenz mathematischer Operationen. So sehr auch das erste derselben, ds Konstanz- prinzip, geeignet ist, die in einzelnen Anwendungen festgestellten Gesetze auf eine beliebige Zahl anderer Fälle auszudehnen, so ist es doch niemals im stande, zuneuen Begriffen und Gesetzen zu führen. Die Zahlen und ihre Symbole. 147 Dagegen besitzt ds Permanenzprinzip in hohem Grade diese Eigenschaft. Durch seine Anwendung werden regelmäßig bedeutsame Umgestaltungen der Begriffe hervorgebracht, und diese können zu- gleich von Umwandlungen der für diese Begrifisoperationen gültigen Gesetze begleitet sein*). Die große Wichtigkeit, welche das Permanenz- prinzip hierdurch für die Entwicklung des mathematischen Denkens besitzt, wird sich namentlich aus den Anwendungen ergeben, die es auf den fundamentalsten Begriff der Mathematik, auf den der Zahl, gefunden hat. Zweites Kapitel. Die arithmetischen Methoden. 1. Die Zahlen und ihre Symbole. a. Das Ziffernsystem. Weiter zurück als unsere sonstigen für andere Begriffe gebrauchten Schriftsymbole reichen die Anfänge der Zahlsymbolik, die ihrerseits die Quelle des ganzen von der gewöhnlichen Sprache so weit abweichenden Zeichensystems der Mathematik geworden ist. Ursprünglich sind die besonderen Zahlzeichen durch nichts als durch den äußeren Vorteil der Kürze vor den anderen Schriftsymbolen ausgezeichnet. Nur in der fast überall befolgten Regel, daß bei einem Aggregat aus mehreren Zahlen die größere der kleineren vorangeht**), läßt sich eine unmittel- bare Wirkung der arithmetischen Operationen erkennen. Da jede Zahl aus einer Addition von Einheiten entstanden ist, so wird sie nämlich durch ebensoviele Summen ausgedrückt, als sie Zahlsymbole zu ihrer Schreibung bedarf. CLIII z. B. bedeutet die drei Summen 100, 50 und 3. Da nun hierbei die kleinere Summe der nach vollendeter Abzählung der größeren gebliebene Rest ist, so ergibt sich von selbst, daß sie nachfolgt. In der Tat kann daher die umgekehrte Anordnung nur dort eintreten, wo nicht die Addition, sondern die Subtraktion oder Multiplikation zur Bildung der Zahlbezeichnungen dient, wie dies z. B. in der lateinischen Sprache und Schrift gelegentlich der Fall ist. Aber da die wirkliche Bildung der Zahlen von der Addition aus- *) Den Ausdruck „Permanenzprinzip“ für diesen zweiten auf der exakten Analogie beruhenden Grundsatz hat bereits H. Hankel gebraucht (Theorie der komplexen Zahlensysteme, 1860, S. 10). **) H. Hankel, Zur Geschichte der Mathematik im Altertum und Mittelalter, S. 32. 148 Die Logik der Mathematik. geht, so konnten nur ausnahmsweise im Interesse der Kürzung solche entgegengesetzte Stellungen aufkommen, und sie mußten bei jedem rationell durchgeführten Ziffernsystem gegenüber der Forderung gleichmäßiger Ordnung wieder verschwinden. Derjenige Schritt, der dem Ziffernsystem erst seinen spezifisch mathematischen Charakter aufgeprägt hat, ist dessen Umwandlung in ein reines Positionssystem. Dieses unterscheidet sich aber von den vorangegangenen Systemen regelmäßiger Anordnung da- durch, daß nicht die Stellung der Zahl nach ihrem Werte,sondernumgekehrtder WertderZahlnach ihrer Stellungsich richtet. Diese sinnreiche Umkehrung der Beziehung wurzelt zwar in dem nämlichen Gesetz der Summierung, dem die vorangegangene Abhängigkeit der Stellung vom Werte ent- sprungen war; möglich aber wurde sie durch die Erfindung der Null. Denn die letztere gestattet es, eine doppelte Wertbezeichnung der Ziffern anzuwenden: eine erste, die an das Symbol als solches geknüpft ist, und eine zweite, die von seiner Stellung abhängt. Diese gibt die allgemeine Klasse an, welcher die Ziffer zugerechnet werden soll. Die Wertverhältnisse der Klassen sind dabei an sich willkürlich und kon- ventionell, aber es wird durch sie die Menge der einzelnen Symbole bestimmt, welche für die in jeder Klasse vorhandenen Zahlen erforder- lich sind. So beruht das Dezimalsystem auf dem Prinzip, daß die unterste Klasse neun einfache, jede höhere Klasse aber neun zusammen- gesetzte Einheiten enthält, deren jede zehn Einheiten der nächst niederen Klasse gleich ist. Wo in einer Klasse überhaupt keine Einheiten vorkommen, da wird dies durch das zehnte Zeichen, die Null, ausge- drückt. Das Geschäft der Zählung dadurch zu erleichtern, daß man Gruppen von Einheiten bildet und diese als neue Einheiten behandelt, ist ein so nahe liegender Gedanke, daß er lange vor der Ausbildung einer Ziffernsymbolik verwirklicht war, daher die letztere überall von ihm Gebrauch macht. Das von den indischen Mathematikern er- fundene Positionssystem aber hat diesen Gedanken nach dem durch die Dezimalmethode geforderten Prinzip systematisch durchgeführt und dabei durch die reine Stellungsbezeichnung der Einheitswerte den ungeheuren Vorteil erreicht, daß sie mit der möglichst kleinen Anzahl von Zeichen auskommt, indem sie außer der Null nur so viele Ziffern- symbole nötig hat, als die niederste Klasse Einheiten enthält. Daß hierbei das Dezimalsystem den Vorrang erhielt, ist wie gesagt kon- ventionell. Man wird ihm den Vorzug einräumen können, daß es in Anbetracht der durch die praktischen Rechenbedürfnisse gestellten Die Zahlen und ihre Symbole. 149 Bedingungen zwischen dem Zuviel und Zuwenig eine richtige Mitte hält. Hätte man die Zahl der Symbole und also auch der Einheiten jeder Klasse noch mehr beschränkt, wie in dem quinären System mancher Naturvölker, so würden schon bei mäßigen Summen der Klassen zu viele sein. Hätte man ein vigesimales oder gar sexagesimales System bevor- zugt, so wäre die Menge der Zeichen nachteilig für ihre sichere Unter- scheidung geworden. Nur das duodezimale System, wie es in unserer Tageseinteilung angedeutet ist, hätte diese Vorteile in ungefähr gleichem Grad dargeboten, und es würde daneben für die Division den Vorzug besitzen, daß die Einheiten höherer Klasse in eine größere Anzahl von Faktoren zerlegt werden könnten als die Zehn und ihre Potenzen. Da sich jedoch die objektiven Bedingungen der Jahres- und Tageseinteilung, aus denen möglicherweise ein Duodezimalsystem zu entwickeln war, minder zwingend geltend machten, und da sie überdies nur in sehr annähernder Weise auf Verhältnisse ganzer Zahlen zurückführbar waren, so hatte hier von vornherein die auf den unveränderlichen Eigen- schaften des Menschen selbst, auf der Anzahl der bei dem einfachsten Abzählungsverfahren benutzten Finger, beruhende dezimale Zähl- methode den Vorzug. Das Positionssystem stellt, ganz abgesehen von der speziellen Form, die es als Dezimalsystem angenommen hat, jede beliebige Zahl all- gemein als eine Reihe dar von der Form „eßt+aß?+eß’+bß-+a in welcher durch a, b, c,d..... die Einheitswerte der einander folgenden Klassen bezeichnet sind, während ß die Anzahl der in dem gewählten System vorhandenen Ziffernsymbole bedeutet; im Dezimalsystem ist also ß = 10, während für a, b, c, d... irgendwelche unter den Ziffern O0 bis 9 eintreten können. Diese Reihe zeigt deutlich den mathematischen Charakter des Positionssystems: jede Zahl wird durch dieses in eine Reihe von Summen zerlegt, die nach absteigenden Potenzen der Grundzahl des Systems geordnet ist. Da die Reihe bis zu jeder beliebigen Potenz von ß fortgesetzt werden kann, so ist sie durch keine noch so große Zahl begrenzt, ohne daß doch der kleine Vorrat der benützten Ziffernsymbole überschritten zu werden braucht. Das Positionssystem hat daher die durch die unbegrenzte Menge der Zahlen gestellte Forde- rung gelöst. In der Tat bemerkten schon die indischen Mathematiker, daß die unbegrenzt große Zahl, deren Begriff in jener Forderung ge- geben ist, zwar niemals durch eine wirkliche Summenreihe, wohl aber, unter Zuhilfenahme des nämlichen Symbols, welches das Fehlen einer 150 Die Logik der Mathematik. Einheit andeutet, der Null, durch eine Division von der Form - aus- gedrückt werden kann*). Nicht in der gleichen Weise wie nach oben sind die Zahlen nach unten unbegrenzt. Größen, die kleiner als die Einheit sind, können zwar bis zu beliebiger Kleinheit durch echte Brüche ausgedrückt werden. Da aber die Nenner solcher Brüche jeden möglichen Wert haben können, so fehlt es innerhalb der ursprünglichen natürlichen Zählmethoden an einem Prinzip, welches für derartige Zahlen eine durchgängige Ver- gleichbarkeit herstellt. Das Positionssystem liefert dieses Prinzip, in- dem es einfach den Aufbau der Zahl aus einer Summenreihe nach ent- gegengesetzter Richtung fortsetzt. Wie es die Zahlen, die über der Einheit liegen, durch die Bildung neuer Einheiten gewinnt, die im direkten Verhältnis der aufsteigenden Potenzen der Grundzahl des Systems zunehmen, so gewinnt es die Zahlen unter der Einheit eben- falls durch die Bildung neuer Einheiten, die den aufsteigenden Potenzen der Grundzahl reziprok sind. So entsteht beim Dezimalsystem die Ergänzung durch die Dezimalbrüche oder allgemein die Dar- stellung einer beliebigen Zahl durch die Reihe et te tt tt t get welche Reihe nach beiden Seiten unbegrenzt wachsen kann und so auf die beiden Begriffe der unbegrenzt großen und der unbegrenzt kleinen Zahl hinweist. Durch diese Ausdehnung hat sich das Positions- system zugleich den Erweiterungen angepaßt, die der ursprüngliche Zahlbegriff durch die Entwicklung der gebrochenen und namentlich der irrationalen Zahlen erfuhr. b. Die Zahlarten und Zahlsysteme, Durch die einfachen arithmetischen Operationen und ihre Wieder- holung entstehen aus dem ursprünglichen System der positiven ganzen Zahlen neue Zahlbegriffe, welche dann zugleich eine reale Anwendung auf geometrische oder beliebige andere Größen gestatten. Allgemein ist daher zunächst eine doppelte Möglichkeit für die Erzeugung neuer Zahlbegriffe gegeben. Dieselben können erstens entstehen durch die Anwendung des Permanenzprinzips auf die Resultate arithmetischer Operationen, indem man voraussetzt, daß mit diesen *) M. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, S. 523. Die Zahlen und ihre Symbole. 151 Resultaten stets die nämlichen Operationen wie mit den ursprünglichen Zahlen wieder ausgeführt werden können; zweitens können sie sich bilden durch die Anwendung des Konstanzprinzips auf beliebige in der Anschauung gegebene Objekte, indem man annimmt, daß jeder Gegenstand, der überhaupt dem Begriff der Größe subsumiert werden kann, eine analoge Messung durch Zahlen gestatte, wie eine solche für diskrete abzählbare Objekte möglich ist. Diese historisch aufeinander gefolgten Entstehungsformen der sekundären Zahlbegriffe tragen aber logisch, beide aus verschiedenen Gründen, den Charakter der Zufälligkeitansich. Bei der ersten erscheint es als ein will- kürlicher Akt, daß Rechnungsresultate, die nicht durch Zahlen aus- gedrückt werden können, dennoch wie Zahlen behandelt werden; bei der zweiten entspringen die neuen Begriffe aus den empirischen Eigen- schaften unserer Sinneswahrnehmung, und sie würden daher möglicher- weise ganz andere sein können, wenn diese Eigenschaften sich ver- änderten. Der Versuch erscheint daher gerechtfertigt, daß man jene beiden äußeren Entwicklungsformen der Zahlbegriffe durch eine innere, dem ursprünglichen Zahlbegriffe selbst immanente zu er- setzen strebt. Diese dritte Erzeugungsweise, die wir im Unterschiede von der arithmetischen und geometrischen die logische nennen wollen, kann aber allein dadurch zum Ziele führen, daß sie die begrifflichen Merkmale, die in den sekundären Zahlbegriffen zur Anwendung kommen, schon in den ursprünglichen Zahlbegriff aufnimmt. Dies geschieht am einfachsten, wenn man außer dem Begriff der Einheit und der Zusammenfassung von Einheiten oder der Anzahl noch den Begriff des Elementes einführt, indem man von vornherein die Möglichkeit offen läßt, daß die Einheit aus beliebig angeordneten, selbst aber nicht weiter zerlegbaren Elementen, die auch „arithmetische Punkte“ genannt werden, bestehe. Der logische Unterschied von den vorhin hervor- gehobenen Umwandlungen des ursprünglichen Zahlbegrifis mittels der Anwendungen des Permanenz- und des Konstanzprinzips besteht hier darin, daß jener ursprüngliche Zahlbegriff selbst schon dem gene- rellen BegriffiderMannigfaltigkeitsubsumiert wird, aus welchem sukzessiv seine logisch möglichen Formen durch Determination ent- wickelt werden*). Unter diesen Formen müssen dann aber notwendig auch die verschiedenen Zahlbegriffe anzutreffen sein. Jener allgemeine *) Über den Begriff der Mannigfaltigkeit ım allgemeinen vgl. mein System der Philosophie®, I, S. 233 fi. 152 Die Logik der Mathematik. Begriff enthält so zwei Bestandteile, deren Variierung verschiedene Entwicklungen ermöglicht: 1) den Begriff des letzten absolut unzerleg- baren, weil jeder Größe entbehrenden Elementes, und 2) den Begrifi der Einheit oder des einzelnen irgend einen Inhalt zusammen- fassenden, aber von der objektiven Beschaffenheit dieses Inhalts ab- strahierenden Denkaktes. Der Variierung des ersten dieser Begriffe entsprechen die Unterschiede der ganzen und gebrochenen, der ratio- nalen und irrationalen Zahlen; aus den Veränderungen des zweiten entspringen die Unterschiede der positiven, negativen, imaginären und komplexen Zahlen. Beide Entwicklungen haben eine völlig abweichende Bedeutung. Durch die erstere ändert sich die innere Konsti- tution, durch die letztere die äußere Form des Zahlbegrifis; jene bezieht sich auf die Art des Zählens, diese auf die Rich- tung desselben. Es wird daher zweckmäßig sein, beide Zahlformen auch durch verschiedene Namen zu unterscheiden: wir wollen die ersten als Zahlarten, die zweiten als Zahlsysteme bezeichnen. Da jene Begriffsvariationen unabhängig voneinander geschehen können, so sind übrigens in jedem der Zahlsysteme die verschiedenen Zahlarten möglich*). Die einfachste Zahlart sind die ganzen Zahlen, weil sich bei ihnen die Begriffe der Einheit und des Elementes decken. Ihre nächste anschauliche Verwirklichung finden sie in der zeitlichen *) Eine unter den Zahlentheoretikern verbreitete Richtung, der besonders L. Kronecker Ausdruck gegeben hat, ist freilich geneigt, alle diese im folgenden näher zu besprechenden Entwicklungen des Zahlbegriffs als Um- gestaltungen desselben zu betrachten, die, aus der Anwendung auf Gegenstände der Anschauung entsprungen, dem rein logischen Begriff der Zahl fremd seien (vgl. Kronecker, Über den Zahlbegriff, Crelles Journal für reine und angewandte Mathematik, Bd. 101, S. 337 fi, und Philosophische Aufsätze Ed. Zeller zu seinem 50jährigen Doktorjubiläum gewidmet, S. 265). Aber man verkennt hierbei, daß schon bei dem ursprünglichen Begriff der Anzahl nicht anders als bei allen jenen Fortbildungen desselben die empirische Entstehung und der abstrakt logische Inhalt zu scheiden sind. Beachtet man dies, so ist das Verhältnis des Begriffs zu seiner Anschauungsgrundlage bei den irrationalen und imaginären Zahlen schließlich kein wesentlich anderes als bei den einfachen ganzen Zahlen. Wenn Kronecker glaubt, es werde dereinst gelingen, den gesamten Inhalt der anderen mathematischen Disziplinen zu „arithmetisieren“, d. h. „einzig und allein auf den im engsten Sinne ge- nommenen Zahlbegriff zu gründen, also die Modifikationen und Erweiterungen dieses Begriffs wieder abzustreifen“, so dürfte eben die dem ursprünglichen Zahl- begriff immanente logische Fortentwicklung zu den anderen Zahlarten und Zahlsystemen der Weg sein, auf welchem dieses „Arithmetisieren“ aller Größen- begriffe bereits erfolgt ist. Die Zahlen und ihre Symbole. 150 Aufeinanderfolge der Denkakte, indem die Einheit dem einzelnen Denkakt unter Abstraktion von jedem Inhalt entspricht. (Siehe oben Bd.I, S.510 ff.) Diese psychologische Grundlage des Zahlbegrifis darf aber nicht dazu verführen, daß man mit W.R.Hamiltonauchlogisch die Zahl aus der Zeit ableitet*). Können wir schon psychologisch unter Umständen mehrere Denkinhalte gleichzeitig auffassen, so ist es logisch überhaupt nicht nötig, über die Zeitfolge der Einheiten irgend etwas auszumachen. Das einzige, was vorausgesetzt werden muß, ist, daß die Einheiten überhaupt zusammengefaßt werden. Logisch ist demnach die Zahl ein Begriff sui generis, der ebensowenig auf die Zeit wie auf den Raum zurückgeführt werden kann. Wäre er dies nicht, so würde auch kaum denkbar sein, wie es möglich ist, den Zahlbegriff logisch unabhängig von diesen Anschauungen nach seinen verschiedenen Gestaltungen zu entwickeln. Bei den gebrochenen Zahlen entsprechen die Begrifis- elemente der Einheit und des Elementes einander nicht mehr, sondern es werden bestimmte Einheiten in Elemente von je nach Bedürfnis wechselnder Menge zerlegt gedacht, indem der Zähler des Bruchs die Anzahl der Elemente enthält, die zusammengefaßt werden sollen, während der Nenner die Menge der Elemente angibt, die in der Ein- heit enthalten sind. Da diese Menge wiederum durch eine ganze Zahl angegeben werden kann, so bilden die Elemente neue Einheiten, die der Bedingung entsprechen, daß durch sie die ursprünglichen teilbar sind, und die gebrochene Zahl drückt daher nicht bloß eine durch Zahlen meßbare Größe, sondern zugleich das Verhältnis aus, in welchem jene beiderlei Einheiten zueinander stehen. So sagt z. B. der Bruch ®%, es solle eine Zahl gedacht werden, die durch die Zusammenfügung von 6 Einheiten entstehe, deren jede durch 5malige Teilung einer ursprüng- lichen Einheit erzeugt werde. Da das Verhältnis dieser Einheiten be- liebig wechseln kann, so repräsentieren die gebrochenen Zahlen eine beliebig veränderliche, im allgemeinen aber ungleich dichte Anord- nung der Elemente einer Mannigfaltigkeit. Aus dieser Eigenschaft entspringt nun eine logische Forderung, die erfüllt gedacht die dritte und letzte Zahlart entstehen läßt. Diese *) W.R. Hamilton, Lectures on Quaternions, Dublin 1853. Preface. Hamilton beruft sich dabei auf Kant, aber zu Unrecht, da Kant immer den Zahlbegriff mittels der Funktion des Abzählens auf das Schema der Zeit zurückführt, jedoch zur Ausübung jener Funktion stets ein räumliches Substrat voraussetzt, Darum veranschaulicht Kant die Entstehung von Zahlbegriffen an Punktmengen. 154 Die Logik der Mathematik. Forderung besteht in der Voraussetzung, die Elemente der Mannig- faltigkeit seien ein- für allemal so angeordnet, daß mittels derselben jede beliebige Teilung möglich sei. Infolgedessen tritt zu dem für die ganzen Zahlen gültigen Teilungsgesetz, das an und für sich auch für diese neue Zahlart gültig bleibt, ein zweites Teilungsgesetz hinzu, welches in der Umkehrung des ersteren besteht. Nach dem ursprünglichen Teilungs- gesetze werden durch jede beliebige Zahl a, die man aus der Reihe der ganzen Zahlen herausgreift, die sämtlichen Zahlen in zwei Klassen zerfällt, von denen die eine nur Zahlen a enthält, während «a selbst entweder der einen oder der anderen Klasse zugerechnet werden kann. Führt man nun die Forderung beliebiger Teilbarkeit ein, so bedeutet dies, daß auch das umgekehrte Prinzip gültig sei, d. h. daß, wenn man irgend eine Teilung der vorausgesetzten Mannigfaltigkeit vornimmt, dadurch jedesmal eine bestimmte Zahl a entstehe, welche die Reihe der Zahlen in zwei Klassen von den vorhin geschilderten Eigenschaften zerfällt. Die Zahlen, die dieser Forderung Genüge leisten, sind deirrationalen Zahlen, und die Mannigfaltigkeiten, die denselben entsprechen, be- sitzen die Eigenschaft, daß sie ins Unendliche teilbar und daß in jedem noch so kleinen Teil die Elemente gleich dicht geordnet sind*). Mittels der irrationalen Zahlen kann nun jede in der Anschauung gegebene stetige Größe und jedes Verhältnis solcher Größen gemessen werden. Deshalb ist aber doch logisch betrachtet die obige Definition keineswegs, wie Dedekind und Cantor annehmen, zugleich die Definition einer stetigen Größe. Vielmehr ist sie nur die Definition derjenigen Zahlart, die infolge der vorausgesetzten Teilung der ursprünglichen Einheiten in unendlich viele überall gleich dicht geordnete Elemente eine vollkommen erschöpfende arithmetische Messung der stetigen Größe zuläßt. Denn der Begrifi der Zahlenmannigfaltigkeit selbst enthält immer nur die Begriffe der Einheit und des Elementes, und wie man auch das Verhältnis dieser zueinander willkürlich fixieren mag: jede solche Fest- stellung kann sich nur auf die Anordnung und die Dichtigkeit der Elemente beziehen, sie kann niemals die begrifiliche Trennung der letz- teren aufheben. Wird, um dies dennoch zu erreichen, die obige arith- metische Definition durch die Forderung ergänzt, daß die Elemente stetig ineinander übergehen sollen, oder daß sie eindeutig und wechsel- *) Vgl. hierzu Dedekind, Stetigkeit und irrationale Zahlen, 1872, und G. Cantor, Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre, Leipzig 1883 (Mathem. Annalen, Bd. 15—21). Die Zahlen und ihre Symbole. 155 weise den Punkten einer in der Anschauung gegebenen stetigen Mannig- faltigkeit, z. B. einer geraden Linie, zugeordnet werden können, so sind solche Bestimmungen immer nur aus der Anschauung hinzugefügt, durch irgend eine Determination des ursprünglichen Zahlbegrifis aber können sie niemals gewonnen werden. Gebunden in unseren arith- metischen Messungen an die ursprüngliche Gestaltung des Zahlbegrifts, vermögen wir übrigens auch die irrationalen Zahlen nicht durch be- sondere Zahlformen auszudrücken, sondern es bleibt nur die Aufstel- lung von Näherungswerten mittels gebrochener Zahlen möglich, die aber wegen der unbegrenzten Fortsetzung der Teilungen, welche die letzteren gestatten, bis zu jeder beliebigen Grenze den wirklichen Werten genähert werden können. Wie auf diese Weise aus der Variation der Bedingungen für die Elemente der Zahlenmannigfaltigkeit die Zahlarten, so entspringen nun aus der Einführung verschiedener Voraussetzungen für die Ein- heiten der Zahlen die Zahlsysteme. Bezeichnen wir die ur- sprünglicheEinheitdurch e, so hat der Wert a, den wir irgend einer Zahl beilegen, die Bedeutung, daß e a-mal gedacht werden solle. Diese einfache Position einer Verbindung von Einheiten nennen wir eine positive Zahl, und die unbegrenzte Mannigfaltigkeit solcher Zahlen ist das System der positiven Zahlen. Hiervon können dann die Zahlen anderer Systeme in doppelter Weise logisch abweichen. Sie können erstens aus verschiedenartigen Einheiten gebildet sein, so daß irgend eine Zahl durch das Produkt a .e' dargestellt werden muß, worin e’ die abweichende Einheit be- deutet. Derartige Zahlsysteme stimmen mit den gewöhnlichen darin überein, daß sie einfache sind: zu jeder Zahl «a des gewöhnlichen existiert eine gleich große Zahl eines solchen neuen Zahlsystems, die von jener nur durch die Qualitätder Einheit verschieden ist. Zweitens können neue Zahlsysteme entstehen, indem Gruppen verschiedenerEinheiten zu neuen Zahlen zusammentreten. Gruppen, die aus den nämlichen Einheiten bestehen, wie «.e und b.e, können stets durch Addition zu einfachen Zahlen (a-+b) e ver- einigt werden. Gruppen aus verschiedenartigen Einheiten, wie @.e und b..e’, sind aber nicht addierbar, weil die Einheiten e und e’ nicht ver- einigt werden können. Eine so gebildete Zahl wird also nur in der Form eines durch Addition verbundenen Aggregates a.e-+b.e‘ darstellbar sein. Ein System, das aus solchen Zahlen aufgebaut ist, heißt ein ko m- plexes Zahlsystem, und es wird speziell, wenn jede Zahl zweierlei Einheiten enthält, ein zweifach ausgedehntes genannt, wenn drei ver- 156 Die Logik der Mathematik. schiedenartige Einheiten vorkommen, ein dreifach ausgedehntes u. s. w. Es erhellt hieraus, daß die Menge denkbarer Zahlsysteme, und zwar sowohl der einfachen wie der komplexen, unbegrenzt ist. Vergegenwärtigen wir uns nun die Anwendungen der so ent- standenen Zahlsysteme auf die Objekte der Anschauung, so liegt offenbar der wesentlichste Unterschied der ursprünglichen positiven Zahlen von den aus ihnen abgeleiteten darin, daß sich jene ausschließlich auf die zählbaren Objekte selber beziehen, während durch diese zugleich die wechselseitigen Beziehungen der Ob- jekte bestimmt werden. Erst unter dem Einfluß dieser neuen Begriffe erhalten dann auch die positiven Zahlen neben ihrem unmittelbaren noch einen relativen Wert, wobei sie jedoch stets die festen Be- ziehungspunkte bilden, auf welche die anderen zurückgeführt werden müssen, sobald es sich um eine wirkliche numerische Messung der Ob- jekte und ihrer Relationen handelt. Dies geschieht, indem man die Einheiten der übrigen Zahlsysteme durch positive Einheiten ersetzt und diese mit Operationssymbolen versieht, welche die Entstehungs- weise der andersartigen Einheiten aus positiven angeben. Auf diese Weise tritt an Stelle der zweiten Einheit e, das Zeichen der Subtraktion, an Stelle der dritten © das aus der geometrischen Proportion + 1: —= 1 :— lentnommene Zeichen | "— 1, und die vierte Einheit, end- lich nimmt das der Verbindung der Subtraktion und Radizierung ent- sprechende Zeichen — / — 1 an. Behält man für die positiven Ein- heiten verschiedener Art die unterscheidenden Zeichen e und z bei, so zerfallen alle Einheiten in zweierlei Gegensätze: 4 e und — e, + i und — i, die sich, da ö die mittlere geometrische Proportionale zwischen —- e und — e ist, durch zwei in einer Ebene zueinander senkrechte Gerade darstellen lassen, die sich im Nullpunkte schneiden (Fig. 48.158). Die logische Bedeutung der negativen, der imaginären und der aus den letzteren zunächst abgeleiteten gemeinen komplexen Zahlen besteht hiernach darin, daß dieselben neben den rein metrischen Verhältnissen der Größen auch ihre verschiedenen Richtungsverhältnisse bestimmen, wobei wiederum die Begriffe der Richtung und Ausdehnung in einem allgemeineren logischen Sinne zu verstehen sind, in welchem sie die räumlichen Beziehungen als einen Spezialfall unter sich begreifen. Diese Übertragung der Richtungsverhältnisse auf den Zahl- begriff ist es daher zugleich, die an die Einführung der imaginären Zahlen in die Analysis die wichtigsten Anwendungen der letzteren in der neueren Mathematik geknüpft hat. Die Beschränkung des gemeinen komplexen Zahlsystems auf eine Die Zahlen und ihre Symbole. 157 zweifach ausgedehnte Mannigfaltigkeit legt nun aber die Frage nahe, ob sich nicht mit Hilfe weiterer Einheiten noch andere Zahlsysteme bilden lassen. Mindestens für den Raum scheint die geometrische An- schauung eine ähnliche numerische Lagebestimmung zu verlangen, wie sie die gewöhnlichen komplexen Zahlen für die Ebene gestatten. Nichts- destoweniger erweist sich diese Forderung als undurchführbar. Viel- mehr führt der Versuch, irgend eine weitere Form imaginärer Einheiten zu verwenden, immer wieder auf die gewöhnlichen imaginären und komplexen Zahlen zurück. Der logische Grund dieser Beschränkung liegt in dem arithmetischen Ursprung der verschiedenen Einheits- formen. Wie die Gerade mit ihren zwei Richtungen der ersten Stufe der einfachen arithmetischen Operationen, der Addition und Sub- traktion, so entspricht die durch zwei Gerade bestimmte Ebene den Operationen zweiter Stufe, der Multiplikation und Division. Weitere Formen imaginärer Einheiten würden also nur dann möglich sein, wenn entweder noch andere arithmetische Fundamentaloperationen existierten, oder wenn mindestens die gegebenen in verschiedener Weise ausführbar wären, wenn also z. B. mehrere einander koordinierte Formen der Multiplikation und Division von verschiedener Bedeutung auf- gestellt werden könnten. Von dem ersten dieser Fälle kann vermöge der Natur des Zahlbegrifis nicht die Rede sein. Dagegen ist der zweite an und für sich denkbar, da bei jeder Operation je zwei Zahlen in zwei verschiedenen Formen miteinander verbunden werden können, additiv in den Formen «+5 und b-+a, multiplikativ in den Formen a.b und b.a. Nimmt man nun an, diese Formen seien nicht äquivalent, so würde jede Operation in ebenso viele Unterarten zerfallen, als Per- mutationen zwischen den Gliedern einer Summe oder den Faktoren eines Produktes möglich sind. Vorausgesetzt also, die Multiplikation wäre eine vieldeutige Operation, so würde man, da die Anzahl der Faktoren, die man zu einem Produkte vereinigen kann, unbegrenzt ist, beliebig viele Arten imaginärer Einheiten und mittels ihrer eine un- begrenzte Anzahl komplexer Zahlsysteme höherer Ordnung erhalten können. Einen realen Wert können diese formalen Bedingungen natürlich nur dann gewinnen, wenn die wirkliche Anschauung zur Anwendung entsprechender Zahlbegrifie Veranlassung bieten sollte. Hier ist nun leicht ersichtlich, daß sofort ein von den Verhältnissen des gemeinen komplexen Zahlensystems verschiedener Fall eintritt, sobald man als Konstruktionsfeld nicht die Ebene, sondern de Kugeloberfläche wählt. Irgend ein in der Ebene gelegener Punkt x (Fig. 4), dessen Lage 158 Die Logik der Mathematik. durch die komplexe Zahl «+ bi bestimmt ist, läßt sich als Endpunkt der Diagonale eines Parallelogramms denken, dessen Seiten a und bi sind. Ob man nun auf den Wegen 2e-+-b oder 2i—-a nach x gelangt, ist für das Resultat gleichgültig. Man schließt daher, daß a+bi —=bi-a ist, oder daß für das ebene komplexe Zahlensystem das kommutative Prinzip gilt. Nun läßt sich aber auch auf der Kugelober- fläche (Fig. 5) eine Figur konstruieren, welche dem ebenen Parallelo- gramm in der Weise entspricht, daß eine Seite BC mit einer anderen AD zur Deckung kommt, wenn sie um den Betrag einer dritten Seite in der Richtung BA um den Mittelpunkt der Kugel gedreht wird. Doch ist klar, daß jene zwei parallelen Seiten eines sphärischen Parallelo- gramms zwar in ihrer Größe, nicht aber in ihrer Richtung einander Fig. 5. gleich sind: in diesem Fall wird daher auch einer Bewegung auf! der Seite BC eine gleich große auf der Seite AD nicht äquivalent sein. Denken wir uns die diagonalen Hauptkreise gezogen, so entstehen vier sphärische Dreiecke, die an dem Pol E aneinander stoßen. Die dem Winkel bei E gegenüberliegende Seite eines jeden solchen Dreiecks läßt sich durch die Drehung eines von dem Mittelpunkte der Kugel ausgehenden Vektors um die beiden Winkel «&—=EC und ß=BE hervorgebracht denken. Das Resultat einer kombinierten Drehung wird aber in diesem Fall gleich dem Produkt der beiden einfachen Drehungen sein. Setzen wir also den Vektor—1 und bezeichnen wir a und ß als Versoren, so ist der Bogen BC gleich dem Produkte « . ß seiner beiden Versoren. Es zeigt sich aber zugleich, daß dieses Produkt wegen der vorhin hervorgehobenen Eigenschaften des sphärischen Parallelogramms verschiedene Bedeutungen annimmt, je nachdem es in der Form &.ß oder ß.« geschrieben, und je nachdem es mit posi- tivem oder negativem Vorzeichen eingeführt wird. Setzen wir die Die Zahlen und ihre Symbole, 159 Drehungen in der Richtung der Pfeile als die positiven voraus, so wird das Produkt + «a. ß gleichzeitige Drehungen EC und BE bedeuten, welche aber, da ß Multiplicandus ist, so verlaufen, daß ein von Z um den Winkel ß entfernter Punkt in die Distanz « geführt wird, daß also —+a.ß= BC wird. Ebenso kann +ß.« nur derjenige Bogen sein, bei dessen Anfangspunkt « gegeben und ß=0 ist, also AD. Aus ähnlichen Erwägungen ergibt sich AB=—a.ßB und DO=—Bß.o. Diese Betrachtungen lassen sich auf beliebige im Raum ausgedehnte Gebilde übertragen, indem man jede Strecke erstens in Bezug auf ihre Größe durch eine reelle Zahl mißt und dazu zweitens in besonderen imaginären Einheiten den Bogen bestimmt, welcher die Richtung der Strecke angibt. Bezeichnet man die vom Mittelpunkt der Kugel aus nach drei zueinander senkrechten Richtungen gelegten Einheitsradien mit z, 7 und k, so lassen sich diese als zueinander und zu den reellen Ein- heiten laterale Größen betrachten, für welche die Bestimmungen gelten i’.i=—-Ljj=—1Lk.k=—1Li.oj=hk, und die Zahl «, welche eine geometrische Strecke nach Größe und Richtung im Raum vollständig bestimmt, nimmt nun die Form an e=atbitcj+tdk. Diese viergliedrigen, eine reelle und drei imaginäre Einheiten ent- haltenden Zahlen sind von ihrem Erfinder W. R. Hamilton als Qua- ternionen bezeichnet worden. Durch sie wird jene Übertragung des Zahlbegrifis auf den Raum, die das gewöhnliche System der kom- plexen Zahlen vermöge der Eindeutigkeit der arithmetischen Funda- mentaloperationen nicht gestattet, auf einem Umweg erreicht. Der Umweg besteht aber darin, daß man Größe und Richtung als getrennte Eigenschaften einer Strecke behandelt und dann die letztere auf die Drehungen einer imaginären Kugel zurückgeführt denkt. Diese Trennung bringt es dann mit sich, daß die Quaternionen nicht zwei, sondern drei imaginäre Einheiten enthalten. Auch hier lassen sich wieder die Begriffe der Richtung und Strecke selbstverständlich in einem all- gemeineren, von den räumlichen Beziehungen abstrahierenden Sinne auffassen. Immerhin ist es klar, daß die so entstandenen Zahlen nicht wie die gewöhnlichen komplexen Zahlen aus einer mit innerer Not- wendigkeit sich ergebenden Erweiterung des Zahlbegrifis hervorge- gangen sind, sondern daß sie auf der Anwendung eines Kunstgrifis beruhen, der trotz seiner praktischen Fruchtbarkeit doch den Charakter des Zufälligen besitzt. 160 Die Logik der Mathematik. Einen logisch strengeren, aber freilich für die anschaulichen An- wendungen minder fruchtbaren Charakter gewinnt die Entwicklung neuer komplexer Zahlbegriffe dann, wenn man von der Entstehung derselben aus arithmetischen Operationen überhaupt abstrahiert und lediglich die formalen Eigenschaften der gewöhnlichen komplexen Zahlen zum Ausgangspunkte nimmt. Eine solche Entwicklung kann dann wieder nach zwei Richtungen ins Unbegrenzte fortgeführt werden, indem man 1) die Anzahlder Glieder einer komplexen Zahl zunehmen und 2) an die Stelle des linearen Ausdrucks, aus welchem die gewöhnlichen komplexen Zahlen bestehen, höhere Potenzen treten läßt. Logisch betrachtet bewegen sich demnach diese zahlentheoretischen Spekulationen lediglich in fortwährenden Anwendungen des Permanenzprinzips. Die verschiedenen Entwicklungen des Zahlbegrifis haben nunmehr gezeigt, daß, obgleich dieselben ursprünglich in der Anschauung und in den von der Anschauung ausgehenden Begrifisoperationen ihre Quelle haben, dennoch überall diesen anschaulichen Motiven ein rein logisches Erzeugungsprinzip substituiert werden kann, welches den Vorteil der größeren Allgemeinheit voraus hat. Mit seiner Annahme werden dann die anderen Bildungsformen der Zahlen zu bloßen Folgerungen und Anwendungen herabgedrückt, so daß gelegentlich von ihnen auch ganz abgesehen werden kann. Dieses Verhältnis ist aber nicht etwa so auf- zufassen, als sei das logische Erzeugungsprinzip nur aus zufälligen Ur- sachen das spätere, oder als sei eine intellektuelle Entwicklung denkbar, bei der sich die Sache umgekehrt verhalten könnte. Diese Annahme wird durch die Existenz eines Hilfsbegrifis widerlegt, den die logische Erzeugung der neuen Zahlbegrifie nicht entbehren kann, während die übrigen Entwicklungen seiner nicht bedürfen: des Hilfsbegrifis der Mannigfaltigkeit oder, was der Bedeutung nach damit identisch ist, des arithmetischen Elementes. Der Mannigfaltigkeitsbegriff ist zunächst durch eine Abstraktion aus den in der Anschauung ge- gebenen Mannigfaltigkeiten, wie Zeit, Raum, beliebig verteilten Zeit- momenten oder im Raum gegebenen Punktmengen u. dgl., hervor- gegangen, und er hat dann seine arithmetische Allgemeinheit durch die Anwendung des Permanenzprinzips auf diese Abstraktion erlangt, indem nach demselben nicht nur die Verhältnisse der Dichtigkeit der Elemente, sondern auch die Richtungen ihrer Anordnung als dem Begriff nach völlig unbeschränkte und darum die realen Bedingungen der Anschauung beliebig übersteigende gefordert werden. Darauf wird außerdem mittels des Konstanzprinzips eine exakte Analogie Die Zahlen und ihre Symbole. 161 der für verschiedene Mannigfaltigkeiten solcher Art gültigen Gesetze vorausgesetzt. Aber die Grundlage dieser begrifllichen Konstruktionen bleibt doch die Anschauung, sie bleibt es auch in dem Sinne, daß hier wie überall fortwährend Anschauungen als Stellvertreter der Begriffe funktionieren müssen. Der Unterschied von den beiden anderen Er- zeugungsformen besteht also im wesentlichen nur darin, daß bei diesen im einen Falle das Permanenz-, im anderen das Konstanzprinzip erst nachträglich auf den ursprünglichen Begriff der positiven ganzen Zahlen angewandt wird, während dort beide Prinzipien gleichzeitig vor der Ableitung des Zahlbegrifis zur Anwendung kommen, um zunächst den Begriff einer Mannigfaltigkeit überhaupt herzustellen, der hinreichend allgemein ist, daß die verschiedensten denkbaren Zahl- arten und Zahlsysteme aus ihm abgeleitet werden können. Es ist ersichtlich, daß dieses Verfahren, das die beiden ersten eigentlich als Teile in sich begreift, das logisch vollendetere ist. Dies bewährt sich auch darin, daß die Zahlbegriffe, zu denen man auf solchem Wege ge- langt, an sich unerschöpflich sind, und daß begriffliche Beziehungen zwischen ihnen hervortreten, die bei den spezielleren Erzeugungen unbeachtet bleiben. c. Die Zahlgrenzen. Die positiven ganzen Zahlen bilden eine unerschöpfliche Reihe, vor deren Anfang die Nichtexistenz jeder Zahl, die Null, und an deren Ende die jede denkbare Zahl übersteigende Größe, das Unendliche, liegt. Diese Eigenschaft geht auf alle anderen Zahlarten und Zahl- systeme über. Die Symbole 0 und oo bezeichnen daher nicht selbst Zahlen, sondern die beiden Grenzen des Zahlbegrifis. Aber dies schließt nicht aus, daß sie gewisse Eigenschaften mit den Zahlen gemein haben und daher unter bestimmten Bedingungen den Charakter wirklicher Zahlen annehmen können. Zunächst nämlich entstehen O0 und oo, ebenso wie die eigentlichen Zahlen mit Ausnahme der Einheit, durch die arithmetischen Funda- mentaloperationen. So wird oo durch die unbegrenzte Addition von Einheiten oder anderen positiven Zahlen, durch die unbegrenzte Mul- tiplikation von ganzen Zahlen mit Ausnahme der Einheit, oder auch durch die Division einer Zahl mit 0 erzeugt. Die Null dagegen entsteht entweder durch die Subtraktion zweier gleicher Zahlen voneinander oder durch die Division einer Zahl mit oo. Es zeigt sich nun schon bei der Vergleichung dieser Entstehungsweisen, daß jedes der Symbole Wundt, Logik. I. 3. Aull. 11 162 Die Logik der Mathematik, 0 und oo verschiedene Bedeutungen besitzen kann. Am deutlichsten ist dies bei der Null, wie aus den einfachen Beziehungen hervorgeht: N 0 a S07 7 og Deere a— a 0 nern Jeder der beiden Grenzbegrifie kann hiernach in einer doppelten Bedeutung auftreten. In der ersten bedeutet er die Grenze einer veränderlichen Größe, einer unaufhörlich abneh- menden oder unaufhörlich zunehmenden; in der zweiten dagegen bedeutet er was alleGrenzen meßbarer Größenüber- schreitet, weil es entweder keine Größe besitzt, oder weil seine Größe durch die Reihe aller Zahlen, selbst wenn diese vollendbar wäre, nicht erschöpft würde. Im ersten Falle handelt es sich um eine aus der Betrachtung der Größenänderungen, im zweiten um eine aus der Auffassung des absoluten Wertesder@Größen hervorgegangene Gestaltung des Null- und des Unendlichkeitsbegriffs. Die beiden Formen der Null sind durch die oben erwähnten Entstehungs- weisen hinreichend gekennzeichnet. Während die nach der Subtraktion a — a zurückbleibende Null das absolute Fehlen jeder Größe bedeutet, weist die Division — darauf hin, daß a durch Teilung abnehme, wobei aber, da die teilende Größe unendlich ist, auch diese Abnahme eine unbegrenzte sein muß. Die beiden Formen des oberen Grenz- begrifts verhalten sich in Bezug auf ihre Entstehungsweisen insofern abweichend, als ein absolutes Unendlich überhaupt nicht auf dem Wege irgendwelcher arithmetischer Operationen entstehen kann. Denn durch die der Subtraktion entsprechende Operation der Addition entsteht hier ebenfalls nur der veränderliche Grenzbegrift, da diese Addition, um eine unendliche Summe zu geben, nicht wie die Subtraktion a — a eine begrenzte Zahl von Gliedern verlangt, sondern in der Form einer unvollendbaren Reihe aa--a+ta... fort- schreitet. Der absolute Unendlichkeitsbegriff kann daher überhaupt nur in der Form eines von den erzeugenden Operationen völlig abstra- hierenden Postulates gedacht werden. Zu einem derartigen Postulat kann aber die mathematische Untersuchung endlicher Größen Veranlassung finden. Denn es kann für die Fixierung gewisser Begriffe, die eine absolute Bedeutung besitzen und der Messung durch bestimmte endliche Größen unzugänglich sind, jener konstante oder absolute Die Zahlen und ihre Symbole. 165 Unendlichkeitsbegrifi gefordert werden. Wenn man z. B. den Durch- schnittspunkt zweier Parallellinien in unendliche Entfernung ver- legt, so ist hier ein absolutes Unendlich gemeint. Als Durchschnitts- punkt bezeichnet er einen einzigen fest bestimmten Ort im Raume, und da der Parallelismus der Linien als gegeben, nicht als erst entstehend vorausgesetzt ist, so kann man ihn nicht etwa als einen Punkt denken, dem die Linien ohne Ende zustreben. Vielmehr denken wir uns die Linien über alle meßbaren Grenzen hinaus immer noch als parallel. Solange wir bloß die erste Form des Unendlichkeitsbegrifies, die Grenze einer veränderlichen Größe, im Auge haben, ist daher der Begriff eines Durchschneidungspunktes überhaupt unvollziehbar. Ähnliche Vor- aussetzungen wie hier für die spezielle Form der Raumgrößen können nun aber auch für die allgemeinsten Größen, die Zahlen, gemacht werden. Vermöge der unbeschränkten Freiheit mathematischer Be- grifisbildung auf Grundlage des Permanenzprinzips ist die Annahme möglich, es gebe einen absoluten Wert =», welcher nicht bloß die Grenze bezeichne, dem die Reihe der Zahlen ohne Ende zu- strebt, sondern in welchem diese Grenze wirklich erreicht sei. In der Tat hat man diese Fiktion in die arithmetische Spekulation eingeführt und daran Untersuchungen über die Eigenschaften der jenseits der Grenzen einer solchen absoluten Größe ® —= © gelegenen Zahlen ge- knüpft. Dabei stellt sich z. B. heraus, daß diese „transfiniten“ Zahlen schon bei der Addition dem Kommutationsgesetz nicht mehr folgen, indem 1 o=ow, dagegen + 1>o, also auch 1+ o nicht gleich » 4 1 ist*). Wenn wir eine in ihrer absoluten Totalität gedachte unendliche Gerade, die nach ihrer einen Richtung begrenzt ist, vor ihrem Anfang im Unendlichen um eine Strecke verlängert denken, so wird dadurch ihre Größe verändert; wenn wir aber die näm- liche Strecke an ihrer Grenze im Endlichen ansetzen, so bleibt die Gerade eine unendliche Größe von gleichem Werte wie vorher. Vielfach sind in der Mathematik und Philosophie die beiden hier besprochenen Formen der Grenzbegrifife miteinander vermengt worden, und viele der sogenannten „Paradoxien des Unendlichen“ haben hierin ihre Quelle**). Auch wenn man zu einem gewissen Bewußtsein der Unterschiede gelangte, verband sich dies nicht selten mit einer un- gleichen Wertschätzung beider Begriffe, indem einer derselben als der allein berechtigte, der andere als ein unrechtmäßiger galt. Besonders *) G. Cantor, Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre, S. 39. **) Vgl. B. Bolzano, Paradoxien des Unendlichen, 1851. 164 Die Logik der Mathematik. bezog sich dieser Streit auf den oberen Grenzbegriff, während der untere, bei dem die arithmetische Anwendung beiden Formen ihr Recht ver- schaffte, davon kaum berührt wurde. So wurde in der Mathematik das Symbol & fast nur in der Bedeutung einer ohne Ende wachsenden Größe gebraucht, während Hegel diese Unendlichkeit der Mathematiker als die schlechte bezeichnete und ihr die absolute Unendlichkeit als die wahre gegenüberstellte*). Die dieser Unterscheidung zu Grunde liegende Anschauung, daß es sich bei der ersten Form in Wahr- heit um endliche, wenn auch unmeßbar große oder kleine Größen handle, kann aber nicht als zutreffend anerkannt werden. Obgleich sie in der Entwicklung der Grundbegriffe des Infinitesimalkalküls ihre Quelle hat, so ist sie doch in diesem offenbar nicht selbständig ent- standen, sondern aus den älteren Näherungs- und Exhaustionsmethoden in ihn übergegangen. Das Unendliche ist die Negation der endlichen Größe und als solche für die beiden Gestaltungen des oberen Grenz- begrifis gültig. Der einzige Unterschied liegt in dem zu Grunde liegen- den Erzeugungsprinzip. Dieses besteht im ersten Falle darin, daß man das Unendliche aus der endlichen Größe durch unbegrenztes Wachstum hervorgehen läßt, während man es im zweiten Fall als einen fertigen Begriff denkt, der von Anfang an das Merkmal der Begrenztheit, das den endlichen Größen zukommt, nicht besitzt. Eher werden daher die Bezeichnungen des End- losen und des Überendlichen oder die zuerst von G. Cantor gebrauchten des Infiniten und des Transfiniten diesen ver- schiedenen Entstehungsbedingungen der Unendlichkeitsbegriffe einiger- maßen gerecht. Noch einen andern Übelstand hatte aber die Vermengung dieser verschiedenartigen Grenzbegriffe. In solchen Fällen, wo an sich nur einer der beiden Unendlichkeitsbegriffe Berechtigung besaß, erzeugte sie durch die Herbeiziehung des andern einen falschen Zwiespalt der Anschauungen. Wir werden auf diesen Punkt bei den Grundbegriffen der Infinitesimalmethode zurückkommen. Doch ist hier schon her- vorzuheben, daß derabsoluteodertransfinite Unendlichkeits- begriff in der Mathematik nur für zahlentheoretische oder geometrische Zwecke eingeführt werden kann, daß dagegen überall da, wo es sich um die mathematische Darstellung physikalischer, also durch *) Hegel, Logik, I, S. 263 f. In ähnlichem Sinne unterscheidet G.Cantor (a.a. O0. 8.13) das uneigentlich und das eigentlich Unendliche. Die algebraischen Operationen. 165 die Erfahrung bestimmter Begriffe handelt, nur derinfinite Unend- lichkeitsbegriff möglich ist. Nicht zu übersehen ist schließlich, daß beide Unendlichkeits- begrifie den Charakter logischer Postulate besitzen. Wir können fordern, es solle die Reihe der positiven ganzen Zahlen in einer einzigen Zahl —= © zusammengefaßt werden, und es solle eine Größe ohne Ende wachsen oder zunehmen, ja wir können wegen der begriff- lichen Freiheit des mathematischen Denkens alle diese Postulate als erfüllt annehmen und dann die daraus entspringenden Folgerungen entwickeln. Aber da unser Denken nicht die Macht hat, eine objektive Realität zu erschaffen, sondern höchstens im stande ist, dieselbe in subjektiven und darum den Erkenntnisbedingungen des Bewußtseins unterworfenen Begriffen nachzuerzeugen, so sind auch jene Voraus- setzungen an sich nichtsalslogischePostulate, und eine reale Bedeutung gewinnen sie erst von dem Punkte an, wo sie sich in der begrifilichen Nachbildung der Wirklichkeit als brauchbar bewähren*). 2. Die algebraischen Operationen. In den Zahlarten und Zahlsystemen ist ein Zahlbegriff zur Ent- wicklung gelangt, der von dem allgemeinen Begriff der Größe nicht mehr verschieden ist. Durch die Symbole des an den ursprünglichen Zahlbegriff sich anlehnenden Ziffernsystems kann daher dieser Begriff nicht in zureichender Weise ausgedrückt werden, sondern derselbe fordert Begrifiszeichen von allgemeinerer Bedeutung. Solche Zeichen sind die algebraischen Buchstabensymbole, denen jene Be- deutung willkürlich beigelegt worden ist. Neben ihnen bedarf die all- gemeine Arithmetik der Operationssymbole, welche die mit den Zahlen vorgenommenen arithmetischen Operationen andeuten. Außer diesen beiden kann endlich noch eine dritte Art von Sym- bolen vorkommen, welche Zahlen und die mit denselben vorzunehmen- den Operationen gleichzeitig bezeichnen. Diese dritte Art ist an sich nicht unerläßlich wie die beiden ersten, aber sie ist als abkürzendes Hilfsmittel des Denkens von großer Wichtigkeit und findet deshalb eine mit der Verwicklung der Aufgaben zunehmende Anwendung. Die arithmetischen Methoden, welche diese dreierlei Symbole *) Vgl. hierzu die Bemerkungen über die transzendenten Raumspeku- lationen, Bd. I, S. 480 ff., und meine Abhandlung über Kants kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit, Philos. Stud. II, S. 495 ff. 166 Die Logik der Mathematik. benützen, können nun entweder die direkte Lösung allgemeiner Zahlen- probleme bezwecken, indem sie sich dazu der vier arithmetischen Grundoperationen und ihrer Wiederholungen bedienen; oder sie können der Untersuchung der Eigenschaften gewisser allgemeiner Größen- beziehungen gewidmet sein, um erst in zweiter Linie von diesen Eigen- schaften für die Lösung der Probleme Gebrauch zu machen. Auf diese Weise scheiden sich voneinander die Gebiete der eigentlichen Algebra und der algebraischen Analysis. Nicht die Gegenstände, mit denen sich beide beschäftigen, sondern die Stand- punkte, die sie bei der Untersuchung dieser Gegenstände einnehmen, sind daher verschieden. Die Algebra betrachtet einen algebraischen Ausdruck bloß mit Rücksicht auf den Wert der einzelnen Größen und auf die Beschaffenheit der Operationen, die mit ihnen vorzunehmen sind; die algebraische Analysis sieht ihn als die Darstellung einer Be- ziehung zwischen Größen an, und sie untersucht seine Abhängigkeit von den Veränderungen, die einzelne in ihn eingehende Größen er- fahren können. Der analytische Standpunkt ist daher der allgemeinere, welcher den rein algebraischen als speziellen Fall in sich schließt. Nichts- destoweniger wird es angemessen sein, hier den nämlichen Weg zu wählen, den die Ausbildung der mathematischen Begriffe selber ge- nommen hat. Wir beschäftigen uns darum zuerst mit den algebraischen Methoden im engeren Sinne und wenden uns erst in einem folgenden Kapitel der logischen Untersuchung des Begriffs der Funktion zu, von welchem die Analysis beherrscht ist, dessen Entwicklung aber, wie wir sogleich sehen werden, schon in den gewöhnlichen algebraischen Opera- tionen beginnt. a. Die Entstehung und Bedeutung algebraischer Gleichungen. Die algebraischen Methoden in dem oben angegebenen engeren Sinne sind auf zwei logische Grundlagen zurückzuführen. Die eine besteht inder AllgemeinheitderZahlgesetze. Diese, die den Gebrauch der Symbole möglich macht, beherrscht auch fortan deren Anwendungen. Die andere besteht in der unmittelbaren, aber ver- möge der abgeschlossenen Natur eines jeden Problems stetsbegrenz- ten Anwendung der vier arithmetischen Operationen und ihrer Wieder- holungen. Die Art, wie diese Operationen zur Anwendung kommen und aufeinander folgen müssen, richtet sich nach der Natur des Pro- blems. Die nächste Aufgabe der algebraischen Methodik besteht daher Die algebraischen Operationen, 167 darin, daß sie die Beschaffenheit des vorgelegten Problems in einem allgemeinen symbolischen Ausdruck darstellt. Dies geschieht mittels der Aufstellung einer Gleichung, welche die Beziehungen zwischen den in das Problem eingehenden Größen angibt. Die Probleme, die auf solche Weise eine algebraische Formulierung zulassen, können sich auf alle möglichen meßbaren Objekte beziehen, auf abstrakte Zahlen, auf Zeit- und Raumgrößen, auf Waren und Güterwerte u. s. w. Stets aber besteht die Bedingung zur Aufstellung einer algebraischen Gleichung darin, daß sich die quantitativen Relationen zwischen den Größen auf einfache arithmetische Operationen in begrenzter Anzahl zurück- führen lassen. Das bei der Lösung der gestellten Aufgaben einzu- schlagende Verfahren muß dann aus Operationen bestehen, welche denjenigen entgegengesetzt sind, aus denen die quantitativen Re- lationen der in der Gleichung verbundenen Größen hervorgingen: eine Addition wird also in einer Subtraktion, eine Multiplikation in einer Division, eine Potenzerhebung in einer Radizierung ihre Auf- lösung finden. Die Gleichung als mathematisches Identitätsurteil ist die einzige Form, in welcher der Ausdruck fest bestimmter Relationen zwischen Größen überhaupt möglich ist. Die Aufstellung einer Gleichung ent- hält aber nur dann zugleich eine bestimmt lösbare Aufgabe, wenn eine der durch sie in Relation gesetzten Größen unbekannt ist und aus der in der Gleichung vorgelegten Relation zu den anderen bekannten Größen gefunden werden soll. Sind alle Größen der Gleichung bekannt, so enthält diese keine Aufgabe; ist mehr als eine Größe unbekannt, so genügt sie nicht, um die Aufgabe zu lösen, sondern es müssen ebenso viele weitere Relationen zwischen den nämlichen Größen in der Form von Gleichungen gegeben sein, als weitere Unbekannte vorhanden sind. Da die Algebra aus praktischen Rechenaufgaben hervorging, bei denen es sich stets um die wirkliche Ermittlung unbekannter Werte aus un- veränderlich gegebenen bekannten handelte, so ist die Untersuchung der Gleichungen ursprünglich nur von diesem Gesichtspunkte bestimmt gewesen. Jede Gleichung galt als der Ausdruck einer Beziehung zwischen Größen, die sämtlich fest bestimmte Werte besitzen, von denen aber einzelne zufällig unbekannt sind. Traten mehrere Gleichungen mit mehreren Unbekannten auf, so wurden solche nur als Hilfsmittel an- gesehen, um aus ihnen die Normalform mit der einen Unbekannten herzustellen. Zuerst kam dieser rein arithmetische Standpunkt aus Anlaß der mehrfachen Werte, welche die Unbekannte bei höheren Gleichungen annahm, ins Schwanken. Denn eine anschauliche Deutung 168 Die Logik der Mathematik. dieser mehrfachen Werte lieferte die Geometrie, indem sie zeigte, daß, sobald man die in der Gleichung aufgestellte Relation als eine solche zwischen Raumgrößen ansieht, die mehrfachen Werte der Unbekannten mehreren Raumgrößen entsprechen, die sämtlich der gegebenen Gleichung Genüge leisten. Hier mußte sich nun zugleich die Wahr- nehmung aufdrängen, daß eine derartige Bestimmung der Unbekannten immer nur einen (bei den höheren Gleichungen einige) der Einzel- werte herausgreift, die eine Größe dann annimmt, wenn anderen mit ihr in gesetzmäßiger Beziehung stehenden Größen fest bestimmte Werte gegeben werden, daß aber, sobald man sich diese oder einzelne unter ihnen stetig verändert denkt, nun auch jene Unbekannte stetige Ver- änderungen erfährt. So führte hauptsächlich die geometrische Be- trachtung zu einer neuen Auffassung der algebraischen Gleichungen. Die Unbekannte wurde untergeordnet dem allgemeinen Begriff der Veränderlichen. Die algebraische Gleichung mußte nun all- gemein als ein Ausdruck betrachtet werden, welcher die auf eine be- grenzte Zahl arithmetischer Elementaroperationen zurückführbaren Beziehungen zwischen veränderlichen und konstanten Größen angibt. Werden alle Größen als konstant angenommen mit Ausnahme von zweien, so drückt die Gleichung eine einfache Reihe stetig veränder- licher Beziehungen aus, indem jedem Wert der einen Veränderlichen x im allgemeinen auch ein anderer Wert der zweiten Veränderlichen y entspricht. Ihre einfachste anschauliche Verwirklichung findet darum eine solche Gleichung in einer ebenen Kurve, deren Grad dem Grad der Gleichung entspricht. Wird in dieser Gleichung der einen der Veränderlichen ein konstanter Wert beigelegt, so ist es klar, daß auch die zweite Veränderliche einen konstanten Wert oder, wenn das Resultat mehrdeutig wird, eine begrenzte Anzahl konstanter Werte annehmen muß. Insofern diese konstanten Werte nicht direkt gegeben sind, sondern erst aus ihrem Verhältnis zu den übrigen Größen gefunden werden sollen, verwandelt sich jetzt die Veränderliche in die Unbekannte, und die Auflösung der Gleichungen wird zu einem Spezialfall der Be- handlung algebraischer Funktionen. Will man sich\die Entstehung dieses Spezialfalls vergegenwärtigen, so muß man also von dem allgemeinen Gesetz einer stetig veränderlichen Funktion aus- gehen. Eine Funktion zweiten Grades z. B. von der Form y„?=2(a — x) wird in eine lösbare Gleichung zweiten Grades übergehen, wenn etwa y=b und demnach x? —ax-+b?—0 wird. Man erhält dann für x die zwei Werte 5 at > a? — b?. Fragen wir aber nach der realen Die algebraischen Operationen, 169 Bedeutung dieses Übergangs, so wird, wenn wir eine geometrische Be- deutung zu Grunde legen, „?=x (a — x) zur Scheitelgleichung eines Kreises vom Durchmesser a. Setzt man hierin die auf dem Durchmesser senkrechte Ordinate — b, so ist damit auch der zugehörige Abszissen- wert x fixiert. Aber da zu der Ordinate b eine gleich große auf der ent- gegengesetzten Seite des Kreismittelpunktes existiert, so erhält x zwei Werte, je nachdem man die Wurzelgröße positiv oder negativ nimmt. Es ist das große Verdienst Descartes’, daß er diese Entwicklung der Gleichung aus der algebraischen Funktion der Wissenschaft zum Bewußtsein brachte*). Er hat damit zugleich auf den rationellen Weg zur methodischen Behandlung der Gleichungen hingewiesen, welcher darin besteht, daß man sich überall erst von ihren Entstehungsbedin- gungen Rechenschaft gibt, hieraus die Kenntnis ihrer allgemeinen Eigenschaften schöpft und auf diese endlich die Methoden zu ihrer Lösung gründet. Nun sind die einfachsten Bedingungen zur Aufstellung einer Gleichung dann gegeben, wenn die realen Größen, die durch sie in Be- ziehung gesetzt werden, gleichförmig miteinander veränderlich sind. In diesem Fall entspricht der Konstanz in dem Fortschritt der Zahlenreihe eine ihr völlig gleichende Konstanz in den Verhältnissen der Objekte, auf welche die Zahlen Anwendung finden. Ist nun bei einem solch gleichmäßigen Fortschritt irgend eine der miteinander ver- änderlichen Größen für einen bestimmten Wert der anderen nicht direkt gegeben, so bestimmt sie sich aus dem bekannten Verhältnis, in dem sie zu den anderen Größen steht. Der Ausdruck dieses Verhältnisses ist eine lineare Gleichung, die durch einfache Isolierung der Un- bekannten gelöst wird. Bei diesem Verfahren kommen nur die vier arithmetischen Operationen selbst zur Anwendung, nicht ihre Wieder- holungen. Zu den einfachsten Aufgaben solcher Art gehören diejenigen der Regeldetri, bei denen zu drei gegebenen Gliedern einer Proportion das vierte gesucht wird. Hiervon unterscheiden sich die verwickelteren Fälle dadurch, daß die Größen, deren Relation die Gleichung ausdrückt, nicht gleich- *) Descartes, Geometrie, Oeuvr. T. I. Zwar waren schon die arabischen Mathematiker durch die von ihnen geübten Methoden der Lösung von Gleichungen zu ähnlichen Gesichtspunkten gelangt. Ihre Leistungen wurden aber erst in jüngster Zeit der Vergessenheit entrissen und haben daher in dieser Beziehung keinen merklichen Einfluß auf die Entwicklung der neueren Algebra ausgeübt. Vgl. L. Matthießen, Grundzüge der antiken und modernen Algebra, 1878, S. 921 ff. 170 Die Logik der Mathematik. förmig zu- und abnehmen, daß also die eine nicht ein konstanter Bruch- teil oder ein konstantes Vielfaches der anderen ist. Demgemäß reicht nun auch die einfache Division oder Multiplikation nicht mehr aus, um eine Unbekannte in bekannten Größen auszudrücken. Der nächst einfache Fall ist hier dann gegeben, wenn die Geschwindigkeit in der Zunahme des Wachstums einer Größe proportional der absoluten Zu- nahme einer anderen ist, oder wenn, während die eine Größe gleich- förmig zunimmt, die andere mit einer Geschwindigkeit wächst, die fort- während ihrem eigenen absoluten Werte proportional bleibt. Der erste dieser Fälle ist in der Natur in vielfältiger Weise verwirklicht, in der Zunahme der Geschwindigkeit fallender Körper, in der Zunahme der Licht- und Schallstärke mit der Annäherung an die Licht- und Schall- quelle u.s. w. Die reine quadratische Gleichung ist der Ausdruck dieser Beziehung. Dem zweiten Fall entspricht das Wachstum eines Kapitals, dessen Zinsen wieder kapitalisiert werden. Reine Gleichungen höherer Grade entstehen demnach überhaupt, wenn zwei Zahlen in solcher Beziehung stehen, daß sie sich stetig miteinander verändern, daß aber die Veränderung der einen aus derjenigen der anderen nicht durch eine einfache Multiplikation oder Division, sondern nur durch mehrfache Wiederholung dieser Operationen in Bezug auf die nämliche Größe gefunden werden kann. Diese bis dahin noch einfachen Aufgaberi werden dann von steigen- der Verwicklung, wenn nicht bloß das Wachstum der durch die Gleichung in Beziehung gesetzten Größen ein verschiedenes ist, sondern wenn außerdem teils die Anzahl der Größen, die zueinander in Relation ge- bracht sind, teils die Anzahl der zwischen ihnen existierenden Relationen zunimmt. Geben wir z. B. der Gleichung mit zwei Variabeln z und y eine geometrische Deutung, so bezeichnen x und y stets zwei gerade Linien, deren relatives Wachstum den Weg einer Kurve bestimmt, die in ihrem ganzen Verlauf der Ausdruck der gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den Veränderungen jener beiden Geraden ist. Denken wir uns zwischen den nämlichen Geraden von denselben Anfangspunkten aus gleichzeitig zweierlei beziehungsweise Veränderungen nach einem ver- schiedenen Gesetze oder mindestens mit verschiedener Geschwindig- keit erfolgen, so werden diese zwei nebeneinander hergehenden Rela- tionen in zwei Kurven ihren Ausdruck finden, die sich in irgend einem Lageverhältnis zueinander befinden. Legt man sich nun die Frage vor, ob es einen oder mehrere Punkte auf der Geraden x gibt, die für beide Gesetze beziehungsweiser Veränderungen koinzidieren, wo also zwei Werten y von gleicher Größe auch zwei gleiche Werte Die algebraischen Operationen. 171 von x entsprechen, so verwandeln sich die beiden Gleichungen zwischen x und y, welche die Gesetze des Verlaufs der zwei Kurven ausdrücken, in zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten. Die Werte von z, die man aus ihnen gewinnt, bezeichnen, auf der Geraden x abgemessen, die den beiden Kurven gemeinsamen Punkte. Auf diese Weise entsprechen z. B. zwei Kegelschnitten im allgemeinen vier Schnittpunkte. Die zwei quadratischen Gleichungen der Kegelschnitte liefern daher als allge- meinen Ausdruck für die Werte von x eine Gleichung vierten Grades. Die Lage der beiden Kegelschnitte kann nun aber auch eine solche sein, daß sie in weniger als vier Punkten, oder daß sie gar nicht sich schneiden. In diesem Fall ergeben sich als die entsprechenden Werte von zimaginäre oder komplexe Zahlen. Gemäß der geometrischen Bedeutung der letzteren ist demnach dieses Resultat so zu erklären, daß sich der be- treffende Punkt nicht auf der Geraden x selbst befindet, sondern daß diese in lateraler Richtung bewegt werden müßte, um ihn zu erreichen. Denken wir uns, die eine der sich schneidenden Linien sei stets eine Ge- rade, so ist an und für sich klar, daß die andere eine Kurve von immer zusammengesetzterer Beschaffenheit werden muß, wenn die Zahl der Schnittpunkte wachsen soll. Wie die Gerade eine andere Gerade in einem und einen Kegelschnitt in zwei Punkten schneidet, so eine Kurve dritten, vierten, fünften Grades in je drei, vier, fünf Punkten, von denen wieder je nach der Lage der Geraden einzelne hinwegfallen können, wodurch sich imaginäre Werte der Unbekannten x ergeben. Die geometrischen Objekte bilden so die anschaulichste Darstellung der Beziehungen, die zur Aufstellung von Gleichungen führen, und die Verhältnisse anderer Größen können immer leicht in sie übertragen werden. Versuchen wir es aber, die in dieser Darstellung gegebenen Bedingungen in abstrakter Allgemeinheit auszudrücken, so bestehen dieselben offenbar darin, daß aus einer Summe in wechselseitigen Rela- tionen stehender Größen zunächst die einzelnen Größen isoliert werden, was in der Bezeichnung jeder einzelnen durch ein besonderes Buchstaben- symbol ausgedrückt ist. Jede solche isolierte Größe enthält in sich kein bestimmtes Gesetz des Wachstums, ihre Messung folgt daher dem durch die natürliche Zahlenfolge gegebenen Gesetz gleichmäßiger Änderung. Sobald nun aber die Größen in den zwischen ihnen statt- findenden Relationen beobachtet werden, so zeigt es sich, daß die einen, a,b,c..., konstant bleiben, während sich die anderen, x, Y, 2. .., ver- ändern. Zum Ausdruck des Gesetzes dieser Veränderung ist zunächst die Gleichung bestimmt. Die ihr entsprechende Kurve hat, wie die Gleichung selbst, die Bedeutung einer Relation zwischen Größen, die 172 Die Logik der Mathematik. für sich selbst betrachtet sämtlich gerade Linien von teils unveränder- lichem, teils veränderlichem Werte sind. Auch die Aufgabe, zu welcher die Gleichung überführt, indem sie an Stelle der mehreren Veränderlichen die eine Unbekannte zurückläßt, besteht daher geometrisch in der Ermittlung der Länge einer Geraden oder allgemein des isolierten Wertes der Größe x. Darum führt die Auflösung einer Gleichung immer darauf hinaus, daß eine Gleichung nten Grades für x in n Gleichungen ersten Grades übergeführt werde, die den n Wurzeln für x ent- sprechen. b. Die allgemeinen Eigenschaften der algebraischen Gleichungen. Der nahe Zusammenhang der Eigenschaften der Gleichungen mit ihren Entstehungsbedingungen ergibt sich unmittelbar aus den obigen Erörterungen. Während aber die Betrachtung der Entstehungsbedin- gungen von den verwickelten Erscheinungen, welche Anlässe zu be- stimmten Problemen enthalten, ausgehen mußte, ist der Weg für die Untersuchung der Eigenschaften der Gleichungen notwendig der umgekehrte. Daraus ergibt sich zugleich die Möglichkeit, daß hier die Untersuchung sofort in abstrakter Form begonnen werden kann, wogegen einer verwickelten Gleichung immer erst durch die anschaulich gegebenen Verhältnisse, auf die sie bezogen wird, ein Verständnis ab- zugewinnen ist. Hierin besteht nun das zweite große Verdienst Descartes’ um die algebraische Analysis. Während er auf der einen Seite das geometrische Bild als das angemessenste Objekt für die Er- kenntnis der Bedeutung einer Gleichung und der sie konstituierenden Größen kennen lehrte, zeigte er auf der anderen, daß bei der Unter- suchung des Aufbaues der Gleichung aus diesen Elementen das alge- braische Symbol jeder anschaulichen Versinnlichung überlegen ist, weil es für die Ausführung der arithmetischen Elementaroperationen das einfachste Werkzeug darbietet. Das Ergebnis der Auflösung einer Gleichung besteht nun in der Fest- stellung linearer Gleichungen von der Form =o, 2=ß, @=Y..., deren Anzahl dem Grad der ursprünglichen Gleichung entspricht, und in denen a, ß, Yy... sukzessiv die einzelnen Wurzelwerte bedeuten, die x annehmen kann. Diese Werte &,ß,y... sind in der ursprüng- lichen Gleichung nicht isoliert enthalten, sondern untereinander und mit x zu einer einzigen zusammengesetzten Relation verbunden, welche die Werte —o, 2&—ß, 2&—Y..., die sämtlich gleich Null sind, als Die algebraischen Operationen. ur: Faktoren enthält, und worin übrigens «a, ß, y... sowohl negative als komplexe Werte bedeuten können. Rückwärts wird daher auch aus den n linearen Endgleichungen die ursprüngliche wieder hergestellt werden, wenn man die genannten Faktoren miteinander multipliziert, wenn man also (.— a0). c — PB). ce —Y)...=0 setzt. Es ergibt dann die wirkliche Ausführung dieser Multiplikation einen Ausdruck © +-Aent+- Bari? -...+7=0, in welchem die Koeffizienten A, B,C... T bestimmte Verbindungen der Wurzeln «, ß, y.. sind, nämlich A=ae+ßHtr... B=aß+toy-+ae... C=aßytaßi-ayd... Nzaßpye..: Diese von Descartes gelehrte Rekonstruktion der Gleichung aus den linearen Endgleichungen ihrer Wurzeln liefert das vollständige Material zur Ableitung der Eigenschaften der Gleichungen. Die oben entwickelte Form, die sämtliche Potenzen von x in absteigender Reihenfolge enthält, wird dabei als die Normalform angesehen, deren verschiedene Gestaltungen von der positiven, negativen oder imaginären Form der einzelnen Wurzeln «, ß, y.. abhängen. Alle Methoden für die Untersuchung der Gleichungen gründen sich einzig und allein auf die Herstellung jener Normalform nten Grades aus den vorläufig hypo- thetisch als gegeben vorausgesetzten n Wurzeln als ihren Elementen. Die spezielle Verfolgung dieser Methoden gehört nicht zu unserer Auf- gabe; nur der Ausgangspunkt und allgemeine Charakter derselben bedarf einer kurzen Erörterung. Ausgangspunkt ist der Satz, daß die Gleichung nten Grades aus ihren n Wurzelgleichungen rekonstruiert werden kann. Dieser Satz gründet sich auf das arithmetische Gesetz, daß die Veränderung, die an einem beliebigen Zahlenausdruck durch eine begrenzte Anzahl elementarer Operationen vorgenommen wurde, wieder aufgehoben werden kann, wenn man die umgekehrten Opera- tionen in der geeigneten Reihenfolge anwendet. Dieses Gesetz selbst ist aber nur eine Verallgemeinerung des Prinzips der inversen Operationen. Nachdem unter der Anleitung dieses Prinzips die Normalform der Gleichung nten Grades durch die wirkliche Ausführung der Multipli- 174 Die Logik der Mathematik. kation, also durch Induktion gefunden ist, trägt nun die weitere Unter- suchung der allgemeinen Eigenschaften der so entstandenen Gleichungen durchgehends einen gemischten Charakter an sich, insofern die Sätze, zu denen man gelangt, sowohl eine induktive wie eine deduktive Be- gründung zulassen. In der Regel sind sie zuerst durch Induktion im Anschlusse an die erste Induktion, welche die Normalgleichung ergibt, gefunden worden; man hat dann aber außerdem gesucht, sie direkt aus den Eigenschaften dieser abzuleiten. So ergibt sich z. B. der Cartesianische Satz, daß eine vollständige Gleichung lauter positive Wurzeln hat, wenn die Koeffizienten von x abwechselnde Vorzeichen besitzen, und daß sie lauter negative Wurzeln hat, wenn die Koeffizienten ohne Ausnahme positiv sind, induktiv aus der Multiplikation der linearen Faktoren; derselbe ergibt sich aber außerdem auch als eine notwendige Folge der Eigenschaften der Normalfunktion x&* 4 Ax”"!+ Ba"”?... Denn sobald von je zwei aufeinander folgenden Gliedern vom ersten an die höhere Potenz positiv und die niedrigere negativ ist, so muß z unter allen Umständen einen positiven Wert haben, wenn die Summe gleich Null werden soll; umgekehrt dagegen, wenn alle Vorzeichen positiv sind, so kann die Summe nur dann gleich Null sein, wenn x stets negativ ist. Ähnlich folgt der Satz, daß die Normalgleichung durch jede der Differenzen < — a, 2 — ß,2 — Y... ohne Rest teilbar ist, induktiv ‚aus der Bildung des Produktes (e— a). (e—ß).(@ —Y)..., wo jede der Differenzen unmittelbar als ein Faktor jenes Polynoms erscheint. Der nämliche Satz läßt sich aber aus den allgemeinen Eigenschaften des Polynoms und dem Begriff der Wurzel erweisen, nach welchem für jeden Wert «a, ß,y... die nämliche Gleichung wie für x gelten muß, so daß also auch die Differenzengleichung (a — ar) + A (et — ar) + B (a? — arm)... .=0 gebildet werden kann, welche durch x — «a teilbar ist. Bei den Transformationen der Gleichungen, namentlich bei der Bildung abgeleiteter Wurzelgleichungen und Koeffizientengleichungen, benützt man sodann die durch die Fundamentalsätze festgestellten Eigenschaften der Normalgleichung, um aus ihnen auf ausschließlich deduktivem Wege weitere Sätze zu gewinnen. Es handelt sich hierbei um fortgesetzte Anwendungen zweier allgemeiner Prinzipien. Nach dem ersten derselben darf jede in eine Gleichung eingehende Größe eine beliebige Veränderung erfahren, sobald nur mit den zu ihr in Relation gebrachten Größen entsprechende Veränderungen vor- genommen werden. Nach dem zweiten Prinzip darf für eine ge- Die algebraischen Operationen. 175 gebene Relation einer Größe irgend eine andere der nämlichen Größe substituiert werden, sobald man nur an Stelle der übrigen ursprüng- lichen Größen andere von geeigneter Beschaffenheit einführt. Das erste dieser Prinzipien, welches wir als das Prinzip der korrespon- dierenden Veränderungen bezeichnen können, beruht un- mittelbar auf der Konstanz der Zahlgesetze und der Existenz der inversen Operationen, vermöge deren es jederzeit möglich ist, eine willkürlich eingeführte Veränderung wieder aufzuheben. Das zweite Prinzip, welches wir das der Variation der Beziehungen nennen können, schöpft seine Berechtigung aus dem Wesen der Gleichung. Da diese aus einer unbegrenzten Anzahl denkbarer Be- ziehungen einer Größe x eine einzelne herausgreift, so ist es natürlich immer möglich, der gewählten irgend eine andere jener denkbaren Be- ziehungen zu substituieren. Bei der Anwendung des ersten Prinzips bleibt die vorliegende Form der Gleichung unverändert, bei der An- wendung des zweiten wird sie in der Regel verändert, und im allgemeinen geht man bei dieser Veränderung darauf aus, eine Gleichung niedrigeren Grades aus einer solchen höheren Grades herzustellen. Die zahlreichen Methoden, die zum Zweck der Auflösung der Gleichungen im Laufe der Zeit erfunden worden sind, bestehen nun in der fortgesetzten und meist kombinierten Anwendung jener beiden Prinzipien. Nur die Gleichungen ersten Grades erfordern außer der einfachen Hilfe der vier arithmetischen Operationen kein weiteres Verfahren; streng genommen handelt es sich aber bei ihnen gar nicht um Lösungsmethoden, sondern nur um eine geeignetere Ordnung der Größen, da sie die Form linearer Wurzelgleichungen bereits besitzen. Anders bei den Gleichungen höherer Grade, wo nunmehr das eigent- liche Lösungsverfahren in der schließlichen Reduktion auf Gleichungen ersten Grades besteht. Zahlreiche Methoden substituieren, um dies zu erreichen, zunächst der Unbekannten x eine lineare Funktion von x, z.B. y=x—z. Aus der ursprünglichen Gleichung f (x) =0 erhält man auf diese Weise eine neue Gleichung f (y)=0, in welcher alle Größen Veränderungen erfahren haben, die dem Übergang von z in y entsprechen. Wenn man die unbestimmte Größe z, die in die Koeffi- zienten der neu gebildeten Gleichung eingeht, unter Rücksichtnahme auf die sonstigen Faktoren dieser Gleichung in geeigneter Weise bestimmt, so genügt das so zur Anwendung gekommene Prinzip der korrespon- dierenden Veränderungen vollständig zur Lösung. Ist dies aber nicht der Fall, so kann dann außerdem das Prinzip der Variation der Be- ziehungen herbeigezogen werden, indem man z.B. die Gleichung f (y)=0 176 Die Logik der Mathematik. in zwei Gleichungen p° (4, 2) = 0 und »“ (y,z) — 0 zerlegt, in welchen die beiden Größen y und 2 als Unbekannte behandelt werden. Sind diese Gleichungen niederen Grades, so können sie die Auffindung zunächst der Wurzeln von y und z und dadurch, vermöge’der angenommenen Beziehung dieser Größen zu x, auch der Wurzeln von x vermitteln. Bei der von Descartes erfundenen, für die algebraische Analysis epoche- machenden Methode der Lösung biquadratischer Gleichungen wird das Prinzip der Variation der Beziehungen unmittelbar in der hier ange- deuteten Weise angewandt, indem die vorgelegte Gleichung, nachdem sie auf die Form 2 +a2?+bxz+c==0 gebracht ist, in zwei quadra- tische Gleichungen xz+a,2+b,=0undde!— „zz +b,—=0 zerlegt wird. Der ursprünglichen Beziehung zwischen x und den be- kannten Größen a, b, c sind hier zwei andere Beziehungen zwischen x und anderen Größen a,, b,, a,, b,, die zunächst ebenfalls unbekannt sind, substituiert. Diese unbestimmten Koeffizienten können nun aber gefunden werden, da die Bedingung besteht, daß die zwei neu aufge- stellten Relationen mit der ursprünglichen übereinstimmen müssen. Man sucht daher besondere Gleichungen zu gewinnen, durch welche die Beziehungen der unbestimmten Koeffizienten a,, b, u. s. w. zu den ur- sprünglichen a, b, c festgestellt werden. Dies ist im vorliegenden Fall leicht möglich, da man durch Multiplikation der beiden quadratischen Gleichungen miteinander eine biquadratische von der Form der ur- sprünglichen erhält, die nun mit dieser verglichen unmittelbar die Be- dingungsgleichungen liefert, durch welche die neuen Koeffizienten be- stimmt werden. Die Methode der unbestimmten Koeffizienten, die Descartes bei dieser Gelegenheit in die Analysis einführte, ist, wie in diesem Beispiel, so in zahlreichen anderen ein notwendiges Hilfsmittel für die Anwendung des Prinzips der Variation der Beziehungen. Jene Methode selbst aber ist eine der fruchtbarsten Anwendungen des all- gemeinen Prinzips der analytischen Methode, daß das Gesuchte zum Behuf seiner Auffindung als bereits gegeben vorausgesetzt werde. (Siehe oben S. 71.) Die geometrischen Konstruktionsmethoden, 177 Drittes Kapitel. Die geometrischen Methoden. 1. Die geometrischen Konstruktionsmethoden. a. Die Entwicklung der geometrischen Konstruktionsmethoden, Der abstrakte Raumbegriff, welcher den Gegenstand der reinen Geometrie bildet, ist durch eine gleichförmigere Entwicklung aus der Anschauung hervorgegangen als der Zahlbegriff. In diesem Sinne liegt er der Anschauung näher als der letztere, so daß Kant sogar ihn selbst für eine Anschauung halten konnte. (Vgl. Bd. I, S. 480.) Auch die anschaulichen Objektivierungen der einzelnen geometrischen Begriffe sind aus diesem Grunde eindeutiger als die arithmetischen Be- grifisformen, und sie fordern dadurch unmittelbarer eine Untersuchung mittels der Analyse und Synthese einfacher räumlicher Objekte heraus. Auf solche Weise erklärt es sich, daß unter allen mathematischen Methoden die geometrischen am frühesten eine wissenschaftliche Ausbildung erreicht haben. Im Dienste der Induktion und der Deduktion gleichzeitig verwendbar zeigen sie am deutlichsten den Übergang aus der induktiven in die deduktive Periode der Mathe- matik. Versuchsweise zog man Hilfslinien, um Sätze zu finden, oder um zu erproben, ob Sätze, die in speziellen Fällen bereits gefunden waren, eine weitere Ausdehnung zuließen. Ein derartiges Verfahren beginnt einen deduktiven Charakter anzunehmen, sobald die ausgeführ- ten Versuche die Kenntnis des nachzuweisenden Satzes bereits voraus- setzen, wenn auch diese nur in der Form einer Vermutung vorhanden sein sollte. Die Konstruktion wird dann eben zu dem Zwecke aus- geführt, den deduktiven Beweis für die Richtigkeit der Vermutung zu liefern. Die Mathematik steht in dieser Beziehung auf dem nämlichen Boden wie die Erfahrungswissenschaften. Wo es sich nicht gerade um den Beweis von Wahrheiten handelt, die durch Induktion oder durch eine andere Form der Beweisführung bereits vollkommen sicher stehen, da hat die Deduktion überall die Aufgabe, zunächst Hypothesen zu Grunde zu legen, um diesen, wenn die Beweisführung gelingt, Gewißheit zu geben. Hypothesen, auf Grund deren geometrische Konstruktionen ausgeführt werden, entstehen aber am häufigsten dadurch, daß die unmittelbare Anschauung der Figuren dieselben an die Hand gibt. Schon durch die griechischen Geometer wurden die Konstruktions- methoden mit reicher Erfindungskraft gehandhabt. Sie bedienten sich ihrer zugleich zum Beweis arithmetischer Sätze, indem sie die Zahlgrößen durch Raumgrößen versinnlichten. Teils die Anschaulichkeit solcher Wundt, Logik. II. 3. Aufl.” 12 178 Die Logik der Mathematik. Beweise, teils die unvollkommene Ausbildung der arithmetischen Symbolik machten so die geometrische Konstruktion fast zur allgemeinen mathematischen Methode. Die instrumentellen Hilfsmittel, welche die alte Geometrie bei diesem Verfahren gebrauchte, waren das Lineal und der Zirkel, wobei dieser nicht bloß zur Herstellung des Kreises, sondern namentlich auch zur Abmessung gleicher Strecken auf den mit dem Lineal gezogenen Geraden diente. Lineal und Zirkel ersetzten also den Maßstab. Jene Verwendung geometrischer Konstruktionen im Dienste der Arithmetik scheint aber keineswegs in der Weise entstanden zu sein, daß man von Anfang an für Zahlbegriffe nach räumlichen Ver- sinnlichungen suchte. Vielmehr waren wohl umgekehrt die Sätze ur- sprünglich geometrische und wurden erst durch Messung und Zählung in arithmetische umgewandelt. Am frühesten scheint die Ausmessung des Quadrates zu diesem Übergang den Anlaß geboten zu haben. Indem man den Flächeninhalt desselben durch Zerlegung in kleine Quadrate bestimmte, ergab sich von selbst die umgekehrte Aufgabe, einem elemen- taren Quadrate a sukzessiv Teile anzufügen, welche es mit Erhaltung seiner Gestalt vergrößerten. So erhielt man aus a durch Hinzufügung eines sogenannten Gnomon (bdc) das nächst größere Quadrat ab dc, aus diesem auf ähnliche Weise das noch größere aevf, u.s.w. (Fig. 6). Maß man aber das zuletzt erhaltene durch Zählung der sukzessiv hinzugenommenen elementaren Quadrate, so erhielt man die Reihe der sogenannten Quadratzahlen 1-3 +5-+7-+...+(2n—1) =n?, d.h. man gewann durch die geometrische Betrachtung den arithmetischen Satz, daß die Summe der ungeraden Zahlen von 1 bis zu einer beliebigen Zahl gleich dem Quadrat der Hälfte der nächst höheren geraden Zahl sei. Die nämliche Zerlegung hat wahrscheinlich Veranlassung gegeben, die elementaren Quadrate zu summieren, welche die Hälfte des ganzen Quadrates oder das gleichschenklige rechtwinklige Dreieck akl aus- messen: man erhielt so sukzessiv a, bc, edf, kg hl oder die natürliche Zahlen go a nee in Rainer din Namen der Dreieckszahlen führte, und deren Summierung aber- mals einen arithmetischen Satz ergab*). Das methodische Interesse dieser arithmetischen Anwendung geometrischer Konstruktionen be- *) Hankel, Zur Geschichte der Mathematik, S. 104. Cantor, Vor- lesungen, I, S. 135 £. Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 179 steht vor allem darin, daß uns diese hier noch vollständig als Hilfs- mittel der Induktion entgegentreten. Dem entspricht der eigentümliche Charakter dieser Konstruktionen, bei denen eine Figur aus gleich- artigen Elementen aufgebaut und dann die Verknüpfung der Elemente mittels einer einfachen Addition ausgeführt wird. Diesem synthetischen Verfahren einfachster Art trat nun frühe schon die Methode der Zerlegung geometrischer Figuren zum Zweck der Feststellung der wechselseitigen Beziehung ihrer Teile gegenüber. Man sieht sich zu einer solchen Zerlegung gezwungen, so- bald die geometrischen Figuren allzu verwickelt sind, so daß sie eine unmittelbare Erkenntnis ihrer Form- und Maßverhältnisse in der An- schauung nicht zulassen. Der Zweck der Zerlegung besteht daher zu- nächst darin, einfachere Teile zu gewinnen, deren Maßbeziehungen un- mittelbar übersehen werden können. Das älteste Konstruktionsver- fahren begnügt sich mit der Erreichung dieses Zwecks: der Geometer gibt die Anleitung zur Ziehung der Hilfslinien und verweist dann auf die Anschauung. Erst durch die Platonische Philosophie wurde der Mathematik allmählich das Bedürfnis zum Bewußtsein gebracht, sich bei dieser Berufung nicht zu beruhigen, sondern über die Gründe Rechen- schaft zu geben, aus denen gewisse Formverhältnisse für uns evident sind*). Nun erst entstand die Forderung, mit Hilfe der Konstruktion alle Sätze auf ein System von Definitionen und Axiomen zurückzu- führen, eine Forderung, deren getreuen Reflex die Euklidische Geometrie bildet, welche die Teilung der Figuren mit Vorliebe als Konstruktions- methode verwendet. Hiermit hat zugleich diese Methode ihren deduk- tiven Charakter gewonnen, und sie ist analytisch in einem doppelten Sinne, in einem anschaulichen und in einem begrifilichen: in jenem, weil das in der Anschauung Gegebene selbst zerlegt wird, in diesem, weil die Zerlegung auf die logischen Voraussetzungen zurückgeht, aus denen der Beweis zu führen ist. An die Zerlegung der Figuren schließt sich dann ein anderes Ver- fahren nahe an, zu dem man in solchen Fällen zu greifen pflegt, wo die Zerlegung nicht vollständig genügt, um Formverhältnisse herzustellen, die eine unmittelbare Anschaulichkeit vermitteln. Hier zieht man er- gänzende Konstruktionen zu Hilfe, die, außerhalb der untersuchten Figuren angebracht, die Teile derselben in neue Relationen bringen, welche die zuvor nicht hinreichend vorhandene Anschaulichkeit vermitteln und dadurch zugleich die Zurückführung auf bestimmte *) Cantor, Vorlesungen, I, S. 188 f£. 180 Die Logik der Mathematik, Axiome gestatten. Es besteht also dieses Verfahren in einer Zwischen- form zwischen analytischer und synthetischer Methode: die Zerlegung verbindet sich mit der Erzeugung neuer Raumgebilde, die durch ihre Verbindung mit den gegebenen die Lösung einer Aufgabe gestatten. Hierdurch führt diese Methode unmittelbar über zu einem letzten Ver- fahren, das insofern das vollkommenste ist, als es das zu unter- suchende Raumgebilde aus bestimmten Entstehungsbedingungen her- vorgehen läßt, mit denen die wesentlichsten Eigenschaften desselben teils unmittelbar gegeben sind, teils in einem leicht durchschaubaren Zusammenhange stehen: zur Methode der genetischen Kon- 'struktion. Sie ist im allgemeinen wieder synthetisch, wird aber, im wesentlichen Unterschiede von jenem synthetischen Aufbau ein- facher Figuren aus gleichartigen Teilen, mit dem die geometrische Kon- struktion anfing, ausschließlich im deduktiven Interesse geübt. Denn eine genetische Konstruktion läßt sich nicht ausführen, ohne daß das leitende Prinzip, von dem alle Eigenschaften der erzeugten Gebilde abhängen, zuvor gegeben ist. Auf diese Weise hat sich die Entwicklung der geometrischen Konstruktionsmethoden in einer bestimmten Ord- nung vollzogen: mit synthetischen Verfahrungsweisen nehmen sie ihren Anfang, und in ebensolchen finden sie wieder ihren Abschluß, der Übergang aber wird durch Methoden von analytischem und von gemischtem Charakter vermittelt. Anderseits bewegt sich die nämliche Entwicklung von induktiven Anfängen aus durch großenteils induktiv gefundene, aber deduktiv verwertete Methoden zu solchen, die in Auf- findung und Anwendung vollständig deduktiv geworden sind. Doch ist auch hier das Nacheinander zugleich ein Nebeneinander, da die neu gewonnenen Methoden keineswegs die früher vorhandenen verdrängten. Nur die ältesten synthetischen Konstruktionen haben, weil sie bloß räumliche Versinnlichunge n einfacher arithmetischer Operationen sind, der abstrakten Ausübung der letzteren Platz gemacht. b. Die Teilung der Figuren. In den einfachsten Fällen, in denen die Euklidische Geometrie die Teilung der Figuren anwendet, ist diese durch den Inhalt des zu erweisenden Satzes selbst bestimmt, so daß die konstruktive Erfindungs- kraft nicht weiter in Anspruch genommen wird. So ergibt sich z. B. der Satz, daß Parallelogramme auf derselben Grundlinie und zwischen denselben Parallellinien einander gleich sind (Euklid I, 35), aus der Konstruktion der Figur ohne Ziehung von Hilfslinien. Für die An- Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 181 schauung ist der Satz unmittelbar einleuchtend; der Beweis greift aber auf die Definition des Parallelogramms, den Satz von der Gleichheit der Wechselwinkel und die Kongruenz der Dreiecke zurück. Die Er- findung zweckmäßiger Hilfslinien wird hier dadurch erspart, daß die Konstruktion der Figur schon eine hinreichende Zahl von Linien und Durchschnittspunkten liefert, um eine geeignete Zerlegung in Teile mög- lich zu machen (Fig. 7). Diesen Fällen reihen sich zunächst solche an, in denen zwar der Inhalt eines Satzes unmittelbar durch die Konstruktion anschaulich wird, jedoch die logische Führung des Beweises eine hinzutretende Teilung durch Ziehung einer oder mehrerer Hilfslinien erforderlich macht. So bedarf die geometrische Versinnlichung des Satzes (A—+ B)?— 4? 2A B-+- B? (Euklid II, 4), um sofort anschaulich zu sein, nur der Fig. 7. Fig. 8. b EN ER d I _e | 7 a—e ARE: a9 Dh Ziehung der durch den Satz selbst geforderten Linien efundgh. Die Reduktion auf bereits bewiesene Sätze fordert aber außerdem die Ziehung der Diagonale a c, welche es möglich macht, auf die Sätze von der Gleichheit der Wechselwinkel und der Winkel an der Basis des gleichschenkligen Dreiecks zurückzugreifen (Fig. 8). In einer dritten Klasse von Fällen ist die Art der vorzunehmen- den Teilung weder mit dem Inhalt des Satzes unzweideutig gegeben, noch führt sie zu einer unmittelbaren Veranschaulichung desselben, sondern sie wird zunächst nur durch das Streben nach logischer Zurück- führung der Theoreme auf bereits bekannte Sätze bestimmt. Hier er- reicht zwar ebenfalls die zerlegende Konstruktion eine größere An- schaulichkeit, doch geschieht dies nur für ein durch mannigfache geometrische Betrachtungen bereits geübtes Anschauungsvermögen oder unter Zuhilfenahme weiterer, noch mehr ins einzelne gehender Zerlegungen. Als Beispiel kann der Euklidische Beweis des Pytha- goreischen Lehrsatzes gelten (I, 47). Auch bei ihm können wir eine durch den Inhalt des Satzes selbst geforderte Konstruktion von den- jenigen Konstruktionen unterscheiden, die erst durch die Zurück- 182 Die Logik der Mathematik. führung auf bekannte Sätze notwendig werden. Der Inhalt des Satzes macht die Ziehung der Linie al||ce erforderlich, durch welche das Quadrat be in zwei Rechtecke cl—=ak und bl—bg geteilt wird. Die weitere Konstruktion, die in der Ziehung der Hilfslinien «ae, ad,bkundc f besteht, dient dann dem Nachweis, daß wirklich el—=ak und bl=bg ist. Der große Unterschied von den vorangegangenen Fällen liest aber darin, daß diese dem Beweis dienende Hilfskonstruk- tion zugleich die Richtigkeit des Satzes erst Fig. 9. einigermaßen anschaulich macht. Dies ge- er R) schieht dadurch, daß die drei genannten Hilfs- x /\ linien zunächst die Herstellung von zwei Paaren = kongruenter Dreiecke, cbf und abd, ckb Ex und ace, vermitteln. Da nun leicht zu sehen N ist, daß Aabd die Hälfte des Rechtecks b1 und A cbf die Hälfte des Quadrates a f, so folgt, daß bla f, und daß in analoger Weise \g el=chist. Prägen sich aber auch diese Ver- hältnisse einer geometrisch geübten Anschauung g unmittelbar ein, so läßt sich doch nicht ver- kennen, daß solches nur vermöge der voran- gegangenen Beschäftigung mit den Sätzen über die zwischen Parallel- linien konstruierten Figuren möglich wird, welche von der un- mittelbar anschaulichen Identität des Flächeninhalts von Dreiecken oder von Parallelogrammen von gleicher Höhe und Grundlinie und von der nicht minder anschaulichen Halbierung des Parallelo- sramms durch die Diagonale konsequent zu dem Satze übergeführt haben, daß ein Dreieck, das mit einem Parallelogramm einer- lei Grundlinie hat und zwischen denselben Parallelen konstruiert ist, die Hälfte vom Flächeninhalt des Parallelogramms einnimmt, h daher abd= - blundace= = el sein muß. Anschaulicher noch wird dieses Verhältnis, wenn man, die in jenen grundlegenden Sätzen stattfindende Entwicklung rekonstruierend, etwa die Diagonale 51 zieht, wo sofort die Flächengleichheit der Dreiecke abd und bild — 5 bl einleuchtet. Selbst in solchen Fällen, wo das Konstruktions- verfahren vorwiegend durch logische Motive bestimmt wird, führt demnach die Teilung der Figuren auch immer zugleich eine anschau- liche Vergegenwärtigung des Inhalts der Sätze mindestens als Neben- erfolg herbei. Es hat dies seinen natürlichen Grund darin, daß die Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 183 durch die Ziehung gerader Linien gewonnenen Teile im allgemeinen von einfacherer Beschaffenheit sind als die ganze Figur und sich darum in ihren Formverhältnissen leichter übersehen lassen. c. DieergänzendenHilfskonstruktionen. Während für Lehrsätze, die sich auf bestimmte Figuren bezienen, die Teilung dieser in der Regel als das nächstliegende Hilfsmittel einer anschaulichen Demonstration erscheint, führt die Lösung irgend- welcher geometrischer Aufgaben häufiger zur Herbeiziehung von Hilfskonstruktionen, die darauf abzielen, das Raumgebilde, dessen Erzeugung die Aufgabe fordert, als einen Teil eines Ganzen erscheinen zu lassen; die Relationen der verschiedenen Teile dieses Ganzen ver- bürgen dann die Richtigkeit der gegebenen Lösung. Sehr deutlich ist dieses Verhältnis in Euklids Elementen zu erkennen, in denen Lehr- sätze und Aufgaben weit mehr voneinander geschieden sind, als es bei der neueren Behandlungsweise der Geometrie zu geschehen pflegt. So löst Euklid die Aufgabe, auf einer geraden Linie a b ein gleichseitiges Dreieck zu errichten, indem er an den Endpunkten «a und b mit ab als Halbmesser zwei sich schneidende kongruente Kreise zieht, worauf die nach einem der Schnittpunkte c gezogenen Radien ac und be die geforderte Konstruktion ergeben: diese beruht also auf dem Kunstgriff, daß die gegebene Linie ab zum Radius zweier sich in ihren Mittelpunkten schneidender gleicher Kreise gemacht wird, wodurch dann auch die Linien ac und bc zu Radien, also miteinander und mit a b gleich werden (Elemente I, 1). Die Aufgabe einen Winkel zu halbieren löst Euklid, indem er auf den Winkelschenkeln gleiche Strecken abträgt und an den Endpunkten dieser gleiche Radien zieht; die gewonnenen Punkte mit- einander verbunden ergeben dann zwei kongruente Dreiecke, deren gemeinsame Grundlinie die Halbierungslinie ist: hier besteht der Kunst- griff darin, daß die geforderten Winkel als gleich liegende Winkel kon- gruenter Dreiecke konstruiert werden (I, 9). Das Verhältnis zwischen Aufgaben und Lehrsätzen beruht demnach darauf, daß im allgemeinen die Lösung von Aufgaben ein synthe- tisches Verfahren darstellt, das für die Hilfskonstruktionen der Lehr- sätze, die den analytischen Gang einzuhalten pflegen, die Hilfsmittel her- beischafft. Die ergänzenden Hilfskonstruktionen sind daher ebenfalls vorwiegend synthetischer Art: sie benützen das gegebene Objekt, um weitere Raumgebilde zu konstruieren, die mit jenem in einem bestimm- ten Zusammenhange stehen, worauf dann zuweilen allerdings als Neben- 184 Die Logik der Mathematik. erfolg zugleich eine Teilung des ursprünglichen Objektes auftreten kann, namentlich wenn diese, wie in dem zweiten der obigen Beispiele, durch die Aufgabe selber gefordert ist. Es steht also diese Verwendung ergänzender Hilfskonstruktionen in naher Beziehung zu der allgemeinen wissenschaftlichen Bedeutung der Aufgaben, und es ist darum charakte- ristisch, daß Euklids Elemente nicht nur sogleich mit Aufgaben beginnen, sondern daß auch später neue Lehren wiederum durch solche eingeleitet werden. Von den fundamentalen Aufgaben, wie wir oben in unserem ersten Beispiel eine derartige kennen lernten, scheiden sich dann aber diejenigen, die bestimmten Lehrsätzen folgen, als deren Anwendungen, die meistens zugleich auf neue Lehrsätze vorbereiten. So ist das zweite der obigen Beispiele eine Anwendung der Kongruenzsätze und bereitet anderseits die Sätze über das Verhältnis der Neben- und Außenwinkel vor, in denen von der Teilung der Winkel Gebrauch gemacht wird. Nichtsdestoweniger hat auch Euklid Aufgaben und Theoreme nicht vollständig voneinander getrennt, sondern, namentlich in solchen Fällen, in denen die Lösung einer Aufgabe dem Beweis eines einzelnen Lehr- satzes dient, die erstere mit dem letzteren verschmolzen, oder er hat Sätze in die Form von Theoremen gebracht, die ebensogut als Auf- gaben behandelt werden könnten. Unter diesen Umständen ist es be- greiflich, daß auch in der Begründung einer großen Zahl von Lehrsätzen ergänzende Hilfskonstruktionen teils für sich, teils neben der Teilung der Figuren auftreten. So beweist Euklid den Satz, daß Dreiecke auf gleichen Grundlinien und zwischen denselben Parallellinien gleich sind, indem er die Dreiecke durch Verlängerung der Parallelen, zwischen denen sie konstruiert sind, und durch Ziehung von Parallelen zu je einer der Seiten eines jeden Dreiecks zu Parallelogrammen ergänzt, wodurch der Satz auf den andern von der Gleichheit der Parallelogramme von gleicher Höhe und Grundlinie zurückgeführt ist (I, 40). Der Satz, daß in gleichwinkligen Dreiecken die Seiten, die um Ep. gleiche Winkel liegen, proportioniert sind, wird = bewiesen, indem die Dreiecke auf derselben a Grundlinie konstruiert und durch Verlängerung d gleich liegender Seiten zu einem größeren Drei- b 52 eck, dessen Teile sie sind, ergänzt werden (VI, 4). Es ist dann leicht ersichtlich, daß die Ergänzung afcd (Fig. 10) ein Parallelogramm, daher /b||cd und ac||fe ist. Mit Hilfe des Satzes, wonach die Parallele zur einen Seite eines Dreiecks die andern Seiten proportional teilt, folgt aber hieraus ba:af=be:ce oder ba:cd=bce:ce; ebenso fd4:de=be:ce oder ac:de=bc:ce Die geometrischen Konstruktionsmethoden, 185 —=ba:cd. Offenbar ließe sich dieser Satz ebensogut in der Form einer Aufgabe behandeln. Um auf derselben Grundlinie zwei Dreiecke zu kon- struieren, deren Seiten proportioniert sind, hat man die beiden andern Seiten paarweise einander parallel zu ziehen und zu verlängern, wodurch das Dreieck b fe entsteht und alles weitere wie oben folgt. In einer noch innigeren Verbindung stehen in der neueren Geometrie die Lösung der Aufgaben und die Aufstellung der Lehr- sätze, wie dies häufig schon die durchgängig gewählte Form der äußeren Darstellung mit sich bringt, in der an die Stelle der Zerlegung in eine Reihe scheinbar völlig getrennter Sätze die zusammenhängende Unter- suchung getreten ist. Indem aber diese Untersuchung regelmäßig von der Lösung bestimmter Aufgaben mittels der Konstruktion zu der Formulierung der Gesetze fortschreitet, die sich aus jener ergeben, wird die Konstruktionsmethode eine vorwiegend synthetische. Die Teilung der Figuren kommt daher nur noch in sehr geringem Maße zur Anwendung; an ihre Stelle tritt überall da, wo sich die Untersuchung auf ein bereits gegebenes Raumgebilde bezieht, wo also das Unter- suchungsobjekt selbst nicht erst durch Konstruktion erzeugt werden soll, die ergänzende Hilfskonstruktion. Aber sie unterscheidet sich zugleich in der Art ihrer Durchführung von den Methoden der alten Geometrie. Diese tragen häufig noch den Charakter des Zufälligen an sich. Dem Stadium induktiver Untersuchungen näher stehend, oft sicht- lich aus einer Erprobung verschiedener Mittel hervorgegangen, erscheinen sie leicht als willkürlich bevorzugte Verfahren, für die ebensogut andere hätten gewählt werden können. Diesen Charakter trägt die Methode der Teilung der Figuren am allermeisten an sich; er fehlt aber auch bei den ergänzenden Hilfskonstruktionen der Alten nicht ganz. Im Gegen- satze hierzu sucht nun die neueresynthetische Geometrie überall diejenigen Konstruktionsmethoden anzuwenden, die durch die Natur des Problems unmittelbar gefordert sind, so daß sie den künstlichen Verfahrungsweisen Euklids gegenüber als natürliche Methoden er- scheinen, die sich für jeden, der das allgemeine Prinzip der Methoden erfaßt hat, von selbst ergeben. Es handle sich z. B. um die Unter- suchung des Vierecks oder desjenigen Raumgebildes, das durch vier Punkte in der Ebene, cdc’d’, bestimmt wird. Für Euklid war die Untersuchung eines solchen Gebildes erschöpft durch die Ermittlung seines Flächeninhaltes, welche mittels der Konstruktion eines Parallelo- gramms von gleichem Flächeninhalte geschah, und wobei der Winkel, den die Höhenseite dieses Parallelogramms mit der Grundlinie bildet, willkürlich blieb (Elemente I, 45). Die neuere Geometrie sucht die 186 Die Logik der Mathematik. gesetzmäßigen Beziehungen festzustellen, in denen die aus dem ge- gebenen Raumgebilde und seinen Elementen von selbst sich ergebenden Raumteilungen zueinander stehen. Als nächste ergänzende Konstruk- tion wird so die Verbindung eines jeden der vier Punkte mit jedem der drei anderen gefordert: auf diese Weise entsteht das aus 6 Linien be- stehende vollständige Viereck (Fig. 11). Sodann kann eine jede dieser 6 Geraden beliebig verlängert werden: diese Verlängerungen samt den so entstandenen Durchschnittspunkten bilden das voll- ständige Vierseit. In ihm erscheinen die Fig. 11. Punkte c‘ d’ als Projektionen der Punkte cd, b und b’ als Projektionen von B‘ oder B. Daraus aber folgt die fundamentale Beziehung ac ad _ ad ad ve vo em wer eine Beziehung, aus der eine Reihe der wich- tigsten Folgerungen abgeleitet wird, die in das Gebiet der später zu betrachtenden geometrischen Analyse gehören*). Zuweilen gehen solche Konstruktionen von speziellen Fällen aus, in denen Hilfslinien von fundamentaler Bedeutung für die Auffassung der Maß- oder Lageverhältnisse der Figuren durch die Beschaffenheit dieser an die Hand gegeben sind, worauf sie dann durch Verallgemeinerung auf alle anderen Fälle ähnlicher Art übertragen wer- den, um die anschauliche Darstellung eines allgemeinen Gesetzes zu ver- mitteln. So ist unmittelbar ersichtlich, daß die gemeinsame Sehne zweier sich schneidender Kreise von jedem Punkte ihrer Verlängerungen aus die Ziehung von Tangenten, die einander gleich sind, an die beiden Kreise gestattet. Dies vorausgesetzt ist leicht nachzuweisen, daß jenes Ver- halten der gemeinsamen Sehne eine Eigenschaft ist, welche allgemein einer bestimmten Geraden zukommt, die auf der Verbindungslinie der Mittel- punkte zweier beliebig in einer Ebene gelegener Kreise senkrecht ist, und die als die Polare der beiden Kreise bezeichnet wird. Es kann dann die nämliche Linie auch für die Lagebeziehung dreier Kreise benützt werden, da offenbar die drei Polaren dieser Kreise in einem Punkte sich schneiden müssen. Im weiteren Sinne können diesen er- gänzenden Hilfskonstruktionen auch die Projektionsmethoden der *), Jacob Steiners Vorlesungen über synthetische Geometrie, II, 2. Aufl. Bearb. von H. Schröter, S. 17 f. Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 187 deskriptiven Geometrie, mit Hilfe deren man wichtige Eigenschaften körperlicher Gebilde in ihren Projektionen auf einer Ebene nachweist, sowie die mannigfaltigen Verfahrungsweisen der Transformation der Figuren beigezählt werden. Sie alle haben die gemeinsame Eigen- schaft zu gegebenen Figuren andere zu konstruieren, die, zu jenen in bestimmten gesetzmäßigen Beziehungen stehend, deren räumliche Verhältnisse erkennen lassen. Der unterscheidende Charakter der ergänzenden Hilfskonstruk- tionen in den zuletzt betrachteten Anwendungen gegenüber der Euklidi- schen Geometrie besteht vor allem darin, daß man nicht bloß die Größe-, sondern auch die Lagebeziehungen der untersuchten Raumgebilde mittels der Konstruktion erschöpfend zu bestimmen sucht. Sodann aber ergeben sich die geforderten Hilfslinien unmittelbar aus den Rela- tionen der vorhandenen Elemente, und sie führen daher ohne weiteres zu einem angemessenen Ausdruck dieser Relationen. So zeigt z. B. die Hilfskonstruktion des vollständigen Vierseits (Fig. 11) sofort, daß die Lagebeziehung der vier Punkte auf den allgemeineren Fall der pro- jektivischen Beziehung zweier geradliniger Punktreihen abcd und a’b’c'd’ zu einem von einem gegebenen Mittelpunkt B ausgehenden ebenen Strahlenbüschel zurückführbar ist. Indem die Konstruktion von dem gewöhnlichen zunächst zu dem vollständigen Viereck und dann von diesem zu dem vollständigen Vierseit überführt, ist sie aber zugleich eine Erzeugung dieser Raumgebilde. Die ergänzenden Hilfskonstruktionen bilden daher den Übergang zu den geneti- schen: sie können, namentlich in der Anwendungsweise, die ihnen die projektivische Geometrie gibt, selbst als genetische Konstruktionen betrachtet werden, die in ihrer Ausführung durch bereits vorhandene Raumgebilde bestimmt sind. d. Die genetischen Konstruktionen: Bewegungs- und Durchschneidungsfiguren. Die genetische Konstruktion ist notwendigerweise zu jeder Zeit der Ausgangspunkt geometrischer Untersuchungen gewesen. Die Raum- gebilde müssen erzeugt sein, ehe die Betrachtung ihrer Maß- und Lage- verhältnisse beginnen kann. Aber nicht immer hat die genetische Kon- struktion zugleich die Grundlage der Untersuchungen gebildet. Die Geometrie der Alten ist ausschließlich metrische Geometrie. Sie betrachtet die mit Lineal und Zirkel hervorgebrachten Figuren als fertige Objekte, die sie für sich und in ihrem gegenseitigen Verhältnisse 188 Die Logik der Mathematik. der Messung unterwirft. Dadurch wird von selbst die Teilung der Figuren, mit gelegentlicher Herbeiziehung ergänzender Hilfskonstruk- tionen, zur herrschenden Methode, und diese Methode führt beinahe unvermeidlich zur isolierten Untersuchung der einzelnen Klassen von Figuren, wobei verbindende Beziehungen nur zwischen solchen Raum- gebilden sich einstellen, bei denen schon die unmittelbare Anschauung dieselben erkennen läßt. Indem dabei die genetische Konstruktion nur den Zweck hat, das Material für die nachfolgende Untersuchung zu ge- winnen, nicht dieser selbst als vornehmstes Hilfsmittel zu dienen, er- scheint die Art, wie die verschiedenen Figuren erzeugt werden, ver- hältnismäßig gleichgültig. Der gleichzeitige Gebrauch von Zirkel und Lineal ließ überdies von vornherein die einfachsten regelmäßigen Figuren bevorzugen, eine Neigung, die durch ästhetische Interessen und durch die Leichtigkeit der Aufgaben begünstigt wurde. So be- greiflich und notwendig aber auch diese Bevorzugung war, so hinderte doch gerade sie eine allgemeinere Behandlung der Probleme, die zu- gleich zu einer planmäßigeren und übereinstimmenderen Anwendung genetischer Methoden hätte führen können. Es ist charakteristisch für dieses Zurücktreten des genetischen Gesichtspunktes, daß Euklid die Definitionen der Raumgebilde möglichst unabhängig macht von ihrer Erzeugungsweise, und daher erst bei den Körpern mit krummen Öber- flächen, Kugel, Zylinder, Kegel, wo eine bloße Beschreibung allzu weit- läufig würde, die deskriptive durch eine genetische Definition ersetzt*). Obgleich aber die in diesen Fällen naheliegende Entstehungsweise der Raumgebilde durch Rotation einer ebenen Figur (Halbkreis, Parallelo- gramm, Dreieck) um ihre Achse darauf hinweisen mußte, daß die Be- wegung eine überall anwendbare Konstruktionsmethode sei, so wurde diese doch bei den Kegelschnittlinien aus bloß zufälligen An- lässen wieder verlassen, um das Prinzip der Erzeugung von Figuren mittels der gegenseitigen Durchschneidung anderer, die bereits gegeben sind, zu benützen. Nur bei gewissen verwickelteren Kurven, wie bei der Quadratrix, der Konchoide des Nikomedes, der Archimedi- schen Spirale u.s. w., kehrte man, veranlaßt durch die in der Natur zu beobachtende Entstehung solcher Kurven, abermals zu der Bewegung zurück. Auf diese Weise pflegt die antike Geometrie von derjenigen Erzeugungsweise der Formen auszugehen, durch die sie zufällig ge- funden wurden, ohne sich darum zu kümmern, daß im einen Fall körper- liche Gebilde zur Erzeugung von Kurven in der Ebene und in einem *) Euklids Elemente, Buch XI. Die geometrischen Konstruktionsmethoden, 189 anderen umgekehrt ebene Figuren zur Erzeugung von Körpern und krummen Oberflächen verwendet werden. Die neuere Geometrie hat nun in dem Maße, als sie die genetische Methode zur herrschenden erhob, mehr und mehr zugleich die einzelnen Konstruktionen in einen systematischen Zusammenhang zu bringen ge- sucht, der durch die gleichförmigen Bedingungen der Erzeugung und die regelmäßige Ableitung neuer Konstruktionen aus den bereits ge- gebenen geregelt wird. Indem dieser Zusammenhang die Forderung mit sich bringt, daß alle Raumgebilde auf die einfachsten Elemente zurückzuführen sind, aus denen sie erzeugt werden können, werden die äußeren Hilfsmittel, deren sich die Konstruktion bedient, nicht ver- mehrt, sondern vereinfacht. Das einzige unerläßliche Werkzeug bleibt das Lineal. Nicht der Kreis und die Gerade, sondern der Punkt und die Gerade sind die einfachsten Gebilde; sie dienen zunächst zur Er- zeugung der Ebene, worauf dann aus diesen drei Elementen alle anderen Raumformen entstehen können. Hatte die alte Geometrie, durch zu- fällige Anlässe bestimmt, bald die Bewegung der Elemente, bald die Durchschneidung gegebener Raumgebilde benützt, ohne daß zwischen beiden Methoden eine innere Beziehung ersichtlich geworden wäre, so ist jetzt die wechselseitige Durchdringung beider zur Herrschaft gelangt. Indem alle Raumgebilde aus gesetzmäßig erfolgenden Bewegungen von Punkten und Geraden abgeleitet werden, pflegt dann erst eine solche Bewegung die Entstehung von Durchschnittsfiguren als eine weitere Folge mit sich zu führen. Der Vorgang, der diese Verbindung beider Konstruktionen unmittelbar verwirklicht, ist die Projek- tion. Hiernach scheiden sich die genetischen Konstruktionsmethoden im ganzen in drei Klassen: de Erzeugung von Raumgebil- den durch Bewegung, die Bildung von Durch- schneidungsfiguren und die projektive Konstruk- tion. Außerdem kommen zuweilen noch Transformationen der Figuren durch Biegung, Dehnung und Zerschneidung als spezielle Hilfs- mittel, namentlich im Interesse der geometrischen Versinnlichung analy- tischer Sätze, zur Anwendung. Unter diesen Methoden ist die Bewegung und die wechselseitige Durchschneidung von Raumgebilden schon von der alten Geometrie benützt worden; die projektive Methode ist erst in der neueren Geometrie zur Entwicklung gelangt. Die Erzeugung der Raumgebilde durch Be- wegung hat gegenüber anderen Methoden hauptsächlich zwei Vorzüge. Der eine besteht in ihrer unbeschränkten Anwendbarkeit: jedes beliebige Raumgebilde läßt sich auf irgend eine Bewegung oder 190 Die Logik der Mathematik. auf ein System von Bewegungen zurückführen, und diese Entstehungs- weise gibt regelmäßig zugleich über gewisse fundamentale Eigenschaften der Figur unmittelbar Rechenschaft. Der zweite Vorzug besteht in der Möglichkeit, jede, auch die verwickeltste Form aus sehr einfachen Bedingungen abzuleiten. In doppelter Weise findet bei der Erzeugung der Formen durch Bewegung eine solche Zurückführung auf elementare Bedingungen statt: jede Bewegung zusammengesetzter Raumgebilde läßt sich in Bewegungen einfacherer, und jede verwickeltere Bewegung läßt sich in eine Anzahl einfacher Bewegungen zerlegen. Als letztes Element des Raumes, aus dessen wiederholten Bewegungen jede noch so komplizierte Figur schließlich abgeleitet werden kann, bleibt so der Punkt; als einfachste Bewegung, auf deren Wiederholung und Zu- sammensetzung jede beliebige Bewegung zurückzuführen ist, bleibt die einfache geradlinige Bewegung. Die Verwicklung der auf diesen Elementen erzeugbaren Formen kennt aber keine Grenzen, da sich beliebig viele einfache Bewegungen kombinieren und die durch vorausgegangene Bewegungen erzeugten Formen als Grundgebilde für eine neue Erzeugungsreihe verwenden lassen. Die systematische Er- zeugung zusammengesetzter Formen aus einfachen kann daher den Übergang von den Formen niederer zu solchen höherer Stufe in zwei- facher Weise gewinnen: 1) durch gleichzeitige Kombination mehrerer Bewegungen von gleicher Einfachheit, und 2) durch sukzessive An- wendung bestimmter Bewegungsgesetze auf die durch vorangegangene Bewegungen erzeugten Raumgebilde. Beide Formen des systematischen Fortschritts erfüllen verschiedene Zwecke, nach denen die Wahl der Methode sich richten muß. Die gleichzeitige Kombination mehrerer ein- facher Bewegungen ist das wirksamste Mittel, um Raumge- stalten derselben Art, aber von wachsender Verwicklung entstehen zu lassen. Die Zusammensetzung der Bewegungen gibt hier unmittelbar ein anschauliches Maß ab für den Grad der Verwicklung der Form, wie er analytisch durch den Grad der Gleichung gemessen werden kann, die der arithmetische Ausdruck des betreffenden Raumgebildes ist. So entstehen alle Kurven zweiten Grades durch die Bewegung eines Punktes, die im allgemeinen durch eine Gerade und zwei feste Punkte, die Brennpunkte, bestimmt ist: diese Bewegung erzeugt eine Ellipse, wenn die Entfernungssumme, eine Hyperbel, wenn der Entfernungs- unterschied von den zwei festen Punkten gleich der gegebenen Geraden ist; Kreis und Parabel sind Grenzfälle, von denen der erste entsteht, wenn die zwei Brennpunkte in einen zusammenfallen, der zweite, Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 191 wenn der eine der Brennpunkte in unendliche Entfernung rückt. Wie auf diese Weise die Kegelschnitte auf Punkte und gerade Linien als die bestimmenden Elemente zurückführen, so ist eine ähnliche Re- duktion bei jeder noch so verwickelten Kurve immer ausführbar. Man pflegt dabei unter den bestimmenden Elementen zunächst ein- fachere Kurven zu erhalten; da sich aber diese durch Punkte und Gerade bestimmen lassen, so bleibt jene Reduktion auch bei den höheren Kurven immer möglich, und es nimmt dadurch teils die Zahl der ein- fachen Elemente, von denen die Bewegung abhängt, teils die Zahl der Bewegungen, die zur Erzeugung der Kurve erforderlich sind, fort- während zu. So erfordert z. B. die Archimedische Spirale an sich nicht mehr Elemente als der Kreis, nur tritt bei ıhr an die Stelle des festen Punktes und der Geraden ein fester Kreis und eine Gerade, und die Be- wegung selbst wird eine doppelte: während die Gerade als Halb- messer des Kreises bestimmte Bogenlängen beschreibt, legt zugleich auf ihr der erzeugende Punkt Strecken zurück, die jenen Bogenlängen proportional sind. So verwendet die genetische Konstruktion die Bewegung im all- gemeinen in solcher Weise, daß das bewegte Element durch seine Re- lationen zu gewissen anderen Elementen vollständig bestimmt wird, und daß daher von der relativen Geschwindigkeit der stattfindenden Bewegungen abstrahiert werden kann. Diese Abstraktion findet ihren Ausdruck in dem Begrifi des geometrischen Ortes. Indem dieser einen Punkt oder eine Summe von Punkten bezeichnet, welche von anderen Raumelementen bestimmt sind, ermöglicht er aber zugleich die vollständige Elimination des Begrifis der Bewegung, während doch alle sonstigen Vorteile der genetischen Konstruktion beibehalten werden. Definiert man z. B. die Hyperbel als den geometrischen Ort eines Punktes, für den die Differenz der Abstände von zwei festen Punkten einer konstanten Geraden gleich kommt, so ist hier nur noch die gesetz- mäßige Abhängigkeit von den bestimmenden Elementen der Kurve zum Ausdruck gelangt. Da der Begriff der Bewegung zur Auffassung eines Raumgebildes nicht erforderlich ist, so ist die Substitution des geometri- schen Ortes an ihrer Stelle die vorzüglichere Form der Definition, wenn auch dieser Begriff in Wirklichkeit erst durch die Verwertung der Be- wegung zur Erzeugung der Raumgebilde nahegelegt wurde*). Die *) In prinzipieller Allgemeinheit hat diese auf dem Begriff des geometri- schen Ortes aufgebaute konstruktive Geometrie zuerst durchgeführt K. G. Chr. von Staudt, Geometrie der Lage, 1847. 192 Die Logik der Mathematik. Möglichkeit, den Begriff der Bewegung durch den des geometrischen Ortes zu ersetzen, unterscheidet insbesondere auch die Konstruk- tionen der synthetischen von denjenigen der Koordinaten- geometrie. Diese wird durch die analytischen Zwecke, die sie ver- folgt, zur Anwendung möglichst gleichförmiger Konstruktionsmethoden gezwungen. Hierdurch ist sie aber zugleich genötigt, sich auf die Be- nützung von bestimmten Elementen einfachster Art zu beschränken. Eine ebene Kurve z. B. denkt man sich erzeugt durch die Bewegung eines in der Ebene gelegenen Punktes, die in zwei Bewegungen nach den Koordinatenachsen zerlegt wird: es ist dann die Form der Kurve von der relativen Geschwindigkeit abhängig, die diese beiden Be- wegungen in jedem Momente besitzen. Hier ist eine Elimination des Begriffs der Bewegung zu Gunsten des geometrischen Ortes durchaus unmöglich, da die gleichförmige Art, in der jene Reduktion auf die Koordinatenachsen bei Kurven der verschiedensten Ordnung vor- genommen wird, dazu zwingt, alle Formeigentümlichkeiten der Raum- gebilde aus Relationen der Geschwindigkeit abzuleiten. Wo sich die erzeugenden Elemente nach der besonderen Natur der Gebilde nicht richten, da muß selbstverständlich alles in die Modalitäten der erzeugenden Bewegungen, ihre relativen Geschwindigkeiten und Ge- schwindigkeitsänderungen, verlegt werden. Der Vorteil, der aus dieser Gleichförmigkeit für die analytische Behandlung entspringt, ist aber ein ebenso großer Nachteil für die rein geometrische Betrachtung. Die Forderung, jede Konstruktion durch Bewegung auf möglichst einfache bestimmende Elemente zurückzuführen, gerät nun unver- meidlich bei Aufgaben von verwickelter Natur mit der anderen Forde- rung, daß die Zahl der bestimmenden Elemente eine möglichst kleine sei, so sehr in Konflikt, daß man in der Regel der letzteren nachgeben wird, sofern nicht, wie bei der Koordinatengeometrie oder bei den unten zu besprechenden projektivischen Methoden, spezielle Motive die aus- schließliche Wahl gerader Linien fordern. Hiervon abgesehen erscheint es als ein wohlbegründetes Recht, daß man durch die sukzessive Anwendung bestimmter Bewegungsgesetze auf bereits vorhandene Raumgebilde eine Reihe neuer Konstruktionen gewinnt. Nicht selten wird dieses Verfahren zu einer tieferen Einsicht in die Verwandtschaftsbeziehungen geometrischer Formen führen, als wenn man für jede einzelne Form die einfachste Erzeugungsweise wählt, die für sie möglich ist. So lassen die oben angeführten einfachsten genetischen Konstruktionen der Kegelschnitte durchaus eine Erkenntnis ihrer Beziehungen vermissen. Diese wird da- Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 193 gegen sofort hergestellt, wenn man jeden Kegelschnitt aus der Bewegung eines Punktes ableitet, der von einem festen Punkte und von einem Kreise gleich weit absteht, wenn man also statt zweier Punkte und einer Geraden einen Punkt, einen Kreis und eine Gerade als bestimmende Elemente wählt*). Weist man nun dem erzeugenden Punkte die ver- schiedenen für ihn möglichen geometrischen Orte an, so erhält man suk- zessiv die verschiedenen Formen des Kegelschnitts: dieser ist eine Ellipse, wenn der Punkt innerhalb des bestimmenden Kreises liegt, er wird selbst zu einem Kreis, wenn er in den Mittelpunkt desselben fällt, zu einer Geraden, wenn er in seinen Umfang fällt, zu einer Hyperbel, wenn er außerhalb des Kreises liegt, und speziell zu einer Parabel, wenn der Mittelpunkt des bestimmenden Kreises in unendliche Ferne rückt, wodurch sich der Umfang desselben in die Leitlinie der Parabel umwandelt. Diese Konstruktion erschöpft also nicht nur vollständig den Begriff des Kegelschnitts, sondern sie zeigt auch, wie die ver- schiedenen Formen durch stetige Veränderung der Bedingungen in- einander übergehen. Die Bildung von Durchschneidungsfiguren ist nun eine Konstruktionsmethode, welche zur Erzeugung durch Bewegung insofern im vollen Gegensatze steht, als sie nicht aus dem Einfachen das Zusammengesetzte, sondern aus dem Zusammengesetzten das Ein- fache ableitet. An sich ist diese Methode ebenso konsequent durch- führbar wie die entgegengesetzte. Wie man durch Bewegung des Punktes die Linie, durch Bewegung der Linie die Fläche und durch Bewegung der Fläche den Körper erhält, so ließe sich, von diesem ausgehend, als sein Durchschneidungsgebilde die Fläche, aus ihr die Linie und aus der Linie der Punkt gewinnen. Auch hat man zuweilen, mit Rücksicht darauf, daß uns in der Erfahrung nur Körper gegeben sind, diese Ent- wicklung für den naturgemäßen Weg zur Erlangung der geometrischen Grundbegriffe gehalten. Dabei wird jedoch übersehen, daß wir durch Abstraktion und nicht durch Konstruktion zu den geometrischen Be- griffen von Fläche, Linie und Punkt gelangen, und zwar durch eine Ab- straktion, die schon bei dem Begriff des Körpers wirksam ist, da dem geometrischen Körper zahlreiche Merkmale nicht zukommen, welche bei den physischen Körpern nicht fehlen können. In der Tat hat daher auch vorzugsweise in einem Fall die Bildung von Durchschneidungs- gebilden wichtigere Anwendungen gefunden: bei der Erzeugung von *) Steiner, Die Theorie der Kegelschnitte in elementarer Darstellung. Bearbeitet von C. F. Geiser, 2. Aufl, S. 40 fi. Wundt, Logik. II. 3. Aufl, 13 194 Die Logik der Mathematik, krummen Linien durch Flächen. Gerade hier aber pflegt sich trotz des Übergangs von drei Dimensionen auf zwei das erzeugende Gebilde durch einfachere Eigenschaften auszuzeichnen. Den augenfälligsten Beleg hierzu liefert diejenige Klasse von Kurven, die lange Zeit aus- schließlich auf diesem Wege abgeleitet wurde, die Kegelschnitte. Der Kegel, namentlich der gerade Kreiskegel, den die Alten allein benützten, wird durch eine viel einfachere Bewegungskonstruktion gewonnen als die Kegelschnitte selbst, den Kreis ausgenommen. So leicht es war, durch Drehung eines Dreiecks auf seiner Basis einen Kegel herzustellen, so wenig nahe lag es, durch die Bewegung eines Punktes in der Ebene die Ellipse, Parabel und Hyperbel zu finden. Auch mußte die Verschiedenheit der Durchschnittsfläche des abgestumpften Kegels je nach der Lage der schneidenden Ebene frühe schon die Aufmerksam- keit fesseln. Außerdem bietet diese Konstruktion vor der Erzeugung durch Bewegung eines Punkts in der Ebene den Vorteil, den Zusammen- hang der verschiedenen Kegelschnitte untereinander anschaulich zu machen. Dagegen steht sie mit den fundamentalen Eigenschaften der Kurven nicht in so unmittelbarer Beziehung, und es muß immerhin als eine Unvollkommenheit anerkannt werden, wenn man genötigt ist, zur Erzeugung einer ebenen Figur den Raum von drei Dimensionen zu Hilfe zu nehmen. e. Die projektive Konstruktion und die synthetische Geometrie. Die zuletzt erwähnte Unvollkommenheit ist es nun, die haupt- sächlich zur Ausbildung der dritten Form genetischer Methoden, zu denen der projektiven Konstruktion, beigetragen hat. Indem diese aus einer Verbindung der beiden vorigen hervorging, hat sie freilich zur Überwindung jener Unvollkommenheit nur allmählich geführt. Die nächste Umgestaltung nämlich, welche die Erzeugung von Durchschnittsgebilden im Sinne einfacherer genetischer Methoden zuließ, bestand in der Ausbildung der perspektivischenPro- jektionsmethode. Wie die sämtlichen Kurven zweiten Grades als Durchschneidungsgebilde der allgemeinsten Oberfläche zweiten Grades, der Kegelfläche, dargestellt werden können, so lassen sie sich auch als perspektivische Projektionen der einfachsten dieser Kurven selber, des Kreises, gewinnen. Denkt man sich den Schatten, den ein Kreis entwirft, wenn sich hinter ihm ein leuchtender Punkt befindet, durch eine Ebene von veränderlicher Lage aufgefangen, so erhält man 'Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 195 durch Drehung der Ebene die verschiedenen Kegelschnitte als Schatten- projektionen. Ähnlich lassen sich, wie Newton gezeigt hat, die ver- schiedenen Formen der Kurven dritten Grades durch die Schatten- projektion von fünf divergierenden Parabeln gewinnen*). Denkt man sich nun aber den Punkt, von dem die Projektionsstrahlen ausgehen, in unendliche Entfernung gerückt, so verwandelt sich die zentrale Pro- jektion in die seit Monge von der deskriptiven Geometrie vorzugs- weise benützte Parallelprojektion. Da bei dieser parallele Linien auch nach der Projektion parallel bleiben, so werden zwar die Dimensions- verhältnisse, nicht aber die Lageverhältnisse der Figuren verändert. Aus räumlichen Gebilden gehen also Figuren in der Ebene hervor, die jenen in allen ihren Eigenschaften entsprechen. So eröffnet sich hier eine Reihe theoretisch wie praktisch gleich wichtiger Wechsel- beziehungen, indem sich bald die Eigenschaften der ebenen Figuren aus denjenigen der ihnen entsprechenden körperlichen Formen, bald um- gekehrt diese aus jenen genetisch entwickeln lassen**). Diese beiden Anwendungen der-Projektionsmethode, die Schatten- konstruktion und die Parallelprojektion der deskriptiven Geometrie, setzen jedoch gegebene Raumgebilde voraus, die nach bestimmten Regeln in andere transformiert werden. Sie stehen auf diese Weise in gewissem Sinne immer noch zwischen der ergänzenden Hilfskonstruk- tion und der genetischen Konstruktion in der Mitte. Nur insofern, als das durch die Transformation erzeugte Gebilde entweder den gleichen Wert beansprucht wie das ursprüngliche oder sogar den eigentlichen Zweck der Methode ausmacht, überwiegt bereits der genetische Ge- sichtspunkt. Zur vollen Geltung gelangt aber dieser bei den projek- tiven Konstruktionen erst dann, wenn nicht bestimmte Raumgebilde, sondern nur die zur Ausführung der Projektion un- erläßlichen Elemente selbst als gegeben vorausgesetzt werden. Diese Elemente sind der Punkt, als der Ort, von dem ein Pro- jektionsstrahl ausgeht, die Gerade, welche die Richtung desselben an- gibt, und die Ebene, welche das zu einem Punkt gehörige Strahlen- büschel enthält, das durch je zwei in dem Punkt sich schneidende Strahlen bestimmt wird. Insofern sich hierbei der Punkt stets als Durch- schnittsgebilde von Strahlen ergibt, können diese Elemente auch auf zwei, auf die Gerade und die Ebene, zurückgeführt werden. Es über- *) Neutoni Genesis curvarum per umbras, Lond. 1746. **) Vgl. hierzu Chasles, Geschichte der Geometrie, Kap. V. Deutsche Ausgabe von Sohncke, 1839, S. 185 fi. 196 Die Logik der Mathematik. nimmt dann die Gerade jene Rolle des erzeugenden Gebildes, die bei der Konstruktion durch Bewegung dem Punkte zukommt. Wie bei dieser der in einer Ebene bewegte Punkt alle ebenen Figuren hervor- bringt, so erzeugen bei der projektiven Konstruktion gerade Linien in der Ebene, indem sie sich kreuzen oder als Tangenten einen Raum umhüllen, alle in der Ebene möglichen Raumformen. Darum trägt vornehmlich diese Darstellungsweise auch den Namen der synthe- tischen Geometrie, insofern sie wirklich durch eine Synthese von ausgedehnten Gebilden der einfachsten Art, von Geraden, ihre Formen hervorbringt. Die Bewegungskonstruktion dagegen verfährt nicht im eigentlichen Sinne synthetisch, da der Punkt selbst kein ausgedehntes Gebilde, also auch die Erzeugung einer Kurve durch seine Bewegung nur die sukzessive Darstellung der geometrischen Orte ist, aus denen die Kurve wirklich besteht, nicht aber eine synthetische Er- zeugung aus anderen elementaren Raumgebilden. Die in diesem Sinne angewandte projektive Konstruktion ist dem- gemäß vom genetischen Gesichtspunkte aus die vollendetste Methode. Nichts weiter voraussetzend als jene einfachsten zur Konstruktion er- forderlichen Elemente, wird es ihr möglich, die verschiedenen Formen in der naturgemäßen Reihenfolge hervorzubringen und unmittelbar aus ihrer Erzeugungsweise ihre wesentlichen Eigenschaften und inneren Beziehungen erkennen zu lassen. Um den Charakter dieser Methode zu kennzeichnen, sei hier nur auf einige einfache Beispiele hingewiesen, die sich an frühere Konstruktionen anschließen. Wir haben S. 186 be- merkt, daß, wenn durch ein ebenes Strah- lenbüschel zwei transversale gerade Linien gelegt werden, auf diesen zwei Reihen von Durchschnittspunkten a, b, c, dund a,b’, c', d’ entstehen, die zueinander perspek- tivisch sind, indem die eine Reihe als die perspektivische Abbildung der anderen an- gesehen werden kann. Denkt man sich nun den Träger der einen Punktreihe, z. B. A‘ (Fig. 12), durch Drehung um den Punkt «’ aus seiner ursprünglichen Lage gebracht, während die Punkte auf ihm unverändert bleiben, so können diese nicht mehr mittels des Strahlenbüschels S, wohl aber mittels eines zweiten Strahlenbüschels S’ erhalten werden, welches auf der anderen Seite von A’ so gelegen ist, daß die Strahlen Sa und S’a‘ zusammenfallen. Verlängert man nun Fig. 12. Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 197 aber die von S und S’ ausgehenden Strahlen über die zugehörigen Punkte hinaus, so schneiden sie sich in einer Punktreihe « ß 7 d, deren Träger wiederum eine gerade Linie ist. Da nämlich (S. 186) ac ad _ We ,add N a de ie, und jedes dieser Doppelverhältnisse nach der Konstruktion = 1: - Ir ist, so muß auch der Träger @ der Punktreihe « ß y © wiederum eine Gerade sein. Umgekehrt läßt es sich daher als die Bedingung für die Erzeugung einer Geraden ansehen, daß die einander zugeordneten oder homologen Strahlen von perspektivisch gelegenen Mittelpunkten S und S‘ ausgehen müssen, wobei die perspektivische Lage dieser Mittel- punkte dadurch charakterisiert ist, daß ein Paar homologer Strahlen zusammenfällt. Wir können uns nun aber auch den Träger A’ so aus seiner ursprünglichen Lage gebracht denken, daß diese Bedingung nicht mehr erfüllt ist. Ist dies der Fall, befinden sich also die beiden ursprünglich perspektivischen Punktreihen in irgend einer nicht perspektivischen oder schiefen Lage, so wird auch nicht mehr zu erwarten sein, daß die Durchschnittspunkte homologer Strahlen auf einer Geraden liegen. In der Tat zeigt die nähere Untersuchung, daß hier die Verbindung der Durchschnittspunkte eine regelmäßig ge- krümmte Linie ergibt, welche allgemein die Form eines Kegel- schnitts besitzt. Die spezielle Form desselben ist dann wieder von den Lageverhältnissen der zueinan- der gehörigen Strahlen abhängig. So er- hält man einen Kreis, wenn die Strahlen übereinstimmend liegen und überdies die Bedingung erfüllen, daß die Winkel, welche je zwei Strahlen bei, $ bilden, den Winkeln der ihnen homologen Strahlen bei $’ gleich sind. Infolgedessen müssen dann auch die Winkel, welche die von jedem Kurvenpunkt nach 8 und 8’ ge- zogenen Geraden bilden, sämtlich ein- ander gleich sein (Fig. 13). Ist die zweite der obigen Bedingungen nicht erfüllt, so entsteht je nach der Lage, die man den Strahlbüscheln (bezw. den ihnen entsprechenden perspektivischen Punktreihen) zuein- ander gibt, eine Ellipse, Parabel oder Hyperbel, wobei sich als spezielle Fälle ein Punkt, eine Gerade oder zwei Gerade ergeben Fig. 13. 198 Die Logik der Mathematik. können. So lange die Strahlen nicht nur übereinstimmend laufen, sondern auch alle homologen Strahlen sich durchschneiden, ent- steht eine Ellipse, da diese außer dem Kreis der einzige Kegelschnitt ist, der keinen unendlich entfernten Punkt hat. Ist nur ein einziges homologes Strahlenpaar parallel, so entsteht die Parabel, der ein unendlich entfernter Punkt zukommt. Sind endlich zwei Strahlen- paare parallel, so entsteht die Hyperbel mit ihren beiden, zwei un- endlich entfernten Punkten entsprechenden Zweigen. Dieser Fall kann sich auch dann ereignen, wenn die homologen Strahlen der beiden Strahlenbüschel nicht übereinstimmende Lage haben (nicht gleich- laufend sind). Hier gehören dann deren Mittelpunkte verschiedenen Zweigen der Hyperbel an. Der Durchschnitt nicht gleichlaufender Strahlen erzeugt darum unter allen Umständen eine Hyperbel. Teilt diese mit dem Kreise die Eigenschaft, daß die Winkel homologer Strahlen gleich sind, so entsteht der spezielle Fall der gleichseitigen Hyperbel. Abgesehen von der unmittelbaren Beziehung, in der diese Er- zeugungsweisen durch projektive Konstruktion zu den geometri- schen Eigenschaften der erzeugten Gebilde stehen, bietet die Methode den Vorzug dar, daß sie wegen der Einfachheit der Elemente, mit denen sie operiert, leicht Modr- fikationen zuläßt, welche geeig- net sind, die Eigenschaften der erzeugten Gebilde von verschie- denen Seiten her zu beleuchten. So läßt sich eine Kurvenicht bloß als Durchschnittsgebilde von Strahlenbüscheln in projektivi- scher Lage, sondern auch als Tangentengebilde kon- struieren. Die Parabel z.B. hat die Eigenschaft, daß die zwischen äquidistanten Punkten irgend zweier Tangenten gezogenen Strahlen ebenfalls Tangenten sind. Demnach kann man sie als Umhüllungsgebilde zweier Strahlenbüschel betrachten, die von zwei projektivisch-ähnlichen Punktreihen in nichtperspektivischer Lage erzeugt werden (Fig. 14). Ähnlich umhüllt aber überhaupt die Gesamtheit der Projektionsstrahlen zweier projektivischer Punkt- reihen eine Kurve, die mit jedem Projektionsstrahl nur einen Punkt, den Berührungspunkt, gemein hat. Diese Kurve ist ein Kegelschnitt, und die spezielle Form desselben hängt von dem Lageverhältnis der Fig. 14. Die geometrischen Konstruktionsmethoden, 199 beiden erzeugenden Punktreihen ab*). In dem Verhältnis dieser Er- zeugungsweise zu der vorhin besprochenen tritt zugleich ein ergänzendes Verhältnis der konstruktiven Elemente zueinander hervor. Die nämliche Kurve kann entweder als eine kontinuierliche Reihe von Punkten oder als eine kontinuierliche Reihe berührender Strahlen (Tangenten) be- trachtet werden. Dort entsteht sie als Durchschnittsgebilde, hier als Umhüllungsgebilde. Im ersten Fall aber ist das ursprünglich erzeugende Gebilde das projektivische Strahlenbüschel, im zweiten die projek- tivische Punktreihe. Diese ergänzende Beziehung, die man auch als das Prinzip der Dualitätder Gebilde bezeichnet, tritt in ver- schiedenen Gestaltungen auf. Wie sich in der Ebene die Punktreihe und das Strahlenbüschel ergänzen, so treten im Raum Punkt und Ebene als reziproke Gebilde einander gegenüber. Die Lage einer Geraden kann ebensowohl durch zwei Punkte wie durch zwei sich schneidende Ebenen bestimmt werden; im ersten Fall entsteht aber die Gerade als Bewegungsgebilde, im zweiten als Durchschneidungsgebilde. Ferner kann sowohl die Ebene wie der Punkt durch zwei Gerade oder die erstere durch eine Gerade und einen außerhalb liegenden Punkt, der letztere durch eine Gerade und eine sie kreuzende Ebene, oder endlich jene durch drei Punkte, dieser durch drei Ebenen bestimmt werden. Diese Konstruktionen zeigen zugleich die nahe Beziehung zwischen der Er- zeugung der Raumgebilde durch Bewegung und ihrer Erzeugung durch Durchschneidung. Einer Erzeugungsweise der ersten Art steht immer eine solche der zweiten dual gegenüber, und die eine wandelt sich in die andere um, wenn an die Stelle der erzeugenden Elemente andere treten, die zu ihnen in einem reziproken Verhältnisse stehen: bei Kon- struktionen in der Ebene an die Stelle des Punktes die Gerade, bei Konstruktionen im Raum an die Stelle des Punktes die Ebene. Insoweit die projektiven Konstruktionen für sich selbst zur Ent- wicklung der Eigenschaften der betrefienden Raumgebilde nicht zu- reichen, pflegen sie nun unmittelbar auf gewisse Hilfskonstruktionen hin- zuweisen, die auch hier ihre ergänzenden Dienste leisten. So läßt z. B. die Konstruktion der Kegelschnitte als Durchschnittsgebilde pro- jektiver Strahlenbüschel unmittelbar ersehen, daß jeder Kegelschnitt durch fünf Punkte seines Umfanges vollständig bestimmt ist. Es ge- hören nämlich die Mittelpunkte der erzeugenden Strahlenbüschel stets der Kurve an, und außerdem sind alle Strahlen durch das Doppel- *) Steiner, Die Theorie der Kegelschnitte, gestützt auf projektivische Eigenschaften, S. 91 ft. 200 Die Logik der Mathematik. verhältnis bestimmt, sobald zu drei Strahlen a bc die ihnen homologen a’b’‘c‘ gegeben sind. Sucht man zu irgendwelchen fünf Punkten eines Kegelschnitts durch Konstruktion einen sechsten auf, so erhält man durch Verbindung dieser Punkte ein Sechseck, von dem schon Pascal die charakteristische Eigenschaft entdeckt hat, daß sich die gegenüber- liegenden Seiten desselben in drei Punkten schneiden, die in einer Geraden liegen. Es ist nun aber durch jene sechs Punkte zunächst nur die Form des vollständigen Sechsecks bestimmt, welches man (nach der Analogie ‚des vollständigen Vierecks S. 186) erhält, wenn jeder Punkt mit jedem anderen verbunden wird, und welches, da irgend ein Punkt a mit jedem der fünf anderen Punkte verbunden werden kann, mit jeder Verbindung aber die entgegengesetzt gerichtete zusammen- fällt, = — 15 Seiten hat. Aus diesem vollständigen Sechseck läßt sich wieder aus ähnlichen Gründen auf nz — 60 verschiedene Arten ein gewöhnliches Sechseck herstellen. Jedem dieser 60 Sechsecke entspricht dann eine Pascalsche Gerade, und je drei solcher Geraden schneiden sich, wie Steiner gezeigt hat, in einem Punkt. So führt diese Hilfskonstruktion, die selbst durch die Erzeugung der Kurve an die Hand gegeben ist, in völlig naturgemäßer Weise, ohne irgendwie zu- fällig entdeckte Kunstgriffe in Anspruch zu nehmen, zu einer Fülle charakteristischer Linien und Punkte, durch die zusammengenommen mit den verschiedenen Erzeugungsformen die Eigenschaften der Kurve erschöpfend bestimmt werden. Die allgemeine Stellung der projektiven oder synthetischen Geo- metrie wird schließlich durch ihr Verhältnis zur metrischen Geometrie einerseits und zur analytischen anderseits gekenn- zeichnet. Die metrische Geometrie, die in Euklids Lehrgebäude ihre erste systematische Darstellung fand, nimmt die Raumgebilde als ge- gebene hin und stellt mit Zuhilfenahme der für jeden einzelnen Fall besonders ersonnenen Konstruktionen ihre metrischen Eigenschaften fest; der Raum selbst wird dabei als eine alle diese einzelnen Formen enthaltende gegebene Größe vorausgesetzt. Die projektive Geometrie dagegen setzt zunächst nur die Punkte und die geraden Linien voraus, die sie als Konstruktionselemente verwendet; sie erzeugt dann aus diesen die zusammengesetzten Raumgebilde und ermittelt an ihnen die Eigenschaften des ganzen Raumes. Der analytischen Geometrie Descartes’ liegt ebenfalls der fertige Raum der metrischen Geometrie mit den in ihm gegebenen Raumgebilden zu Grunde. Aber an Stelle Die geometrischen Konstruktionsmethoden. 201 der für den einzelnen Fall erfundenen Messungsmethoden der letzteren bedient sie sich in dem ein für allemal eingeführten Liniensystem der Koordinaten eines einheitlichen, den Dimensionen des Raumes un- mittelbar angepaßten dreifachen Maßstabes, der dann außerdem die Benutzung der Methoden der allgemeinen Arithmetik zur Lösung der einzelnen Messungsaufgaben möglich macht. Dem gegenüber ergeben sich der projektiven Geometrie bei ihrer synthetischen Erzeugung der Raumgebilde unmittelbar zugleich die erforderlichen Messungshilfs- mittel, die nun, im Unterschied von dem uniformen Koordinaten- maßstab, jedesmal der Entstehung der Raumformen und damit diesen selbst adäquat sind. Insbesondere ergibt sich hierbei der ent- scheidende Gesichtspunkt für die Gewinnung der gesetzmäßigen Be- ziehungen zwischen den Elementen einer Form aus der Ermittlung der- jenigen Elemente und Elementenkomplexe, die bei der bezugsweisen Veränderung der übrigen unverändert bleiben. Die so gewonnenen Invarianten einer veränderlichen Form vermitteln dann hier eine analoge, nur dem einzelnen Fall direkter angepaßte Umsetzung der geometrischen in arithmetische Beziehungen, wie solche die Ko- ordinatengeometrie verwendet. In charakteristischer Weise tritt schließlich noch das Verhältnis der projektiven zur metrischen wie zu der mit dieser zusammenhängenden analytischen Geometrie in den- jenigen Betrachtungen hervor, in denen die geometrische Konstruktion auf Grund des Permanenzprinzips (S. 146) die Grenzen des Raumes unserer Anschauung überschreitet. Die metrische und die analytische Geometrie können dies nur durch die Einführung von Fiktionen. So gewinnt z. B. jene den Begriff eines sphärischen oder elliptischen Raumes durch die Verallgemeinerung der Eigenschaften bestimmter im wirk- lichen Raum konstruierter Formen. Die Koordinatengeometrie gelangt ebenso zum Raum von n Dimensionen, indem sie die drei analytischen Bestimmungselemente des wirklichen Raumes beliebig vermehrt denkt. Dem gegenüber ergeben sich der projektiven Geometrie Gebilde, die nicht mehr im wirklichen Raum vorkommen, unmittelbar aus der Weiterführung bestimmter in diesem beginnender Konstruktionen. Da aber diese Geometrie nicht den Raum selbst, sondern nur gewisse Konstruktionselemente desselben voraussetzt, so besitzen hier die den metageometrischen Spekulationen der metrischen und analytischen Geo- metrie entsprechenden Untersuchungen nicht wie dort den Charakter willkürlicher Fiktionen, sondern sie bilden lediglich Fortführungen bestimmter Konstruktionen über die Grenzen möglicher Rauman- schauung. Das beweist natürlich hier so wenig wie dort die anschauliche 202 Die Logik der Mathematik. Denkbarkeit solcher Konstruktionen. Vielmehr zeigt sich nur deut- licher als dort der begriflliche Zusammenhang des Raumes mit einer unbegrenzten Reihe von Mannigfaltigkeitsbegriffen, zu deren Bildung er den äußeren Anlaß gibt, ohne daß jedoch diese Begriffe über seinen eigenen Ursprung in der Anschauung irgend etwas aussagen können*). 2. Die Anwendungen algebraischer Methoden auf die geometrische Untersuchung. Diealgebraischeunddieanalytische Geometrie. Der Mangel einer algebraischen Symbolik hatte die antike Geometrie über ihr eigentliches Gebiet hinaus zu einer Vertreterin der allgemeinen Arithmetik erhoben. Die ausschließlich metrische Richtung jener Geometrie, die hierin zum Teil ihre Quelle hatte, war ihrerseits wieder geeignet, diese Verbindung aufrecht zu erhalten und die Aufmerksam- keit von den besonderen Bedingungen abzulenken, welche die geometri- schen Objekte den arithmetischen Verfahrungsweisen entgegenbringen. Hierdurch geschah es, daß bestimmte Zahlverknüpfungen stets auf fest bestimmte Raumverhältnisse bezogen wurden, indem man bei dem- jenigen geometrischen Bilde stehen blieb, das die ursprünglichste Darstellung einer arithmetischen Operation gewesen war. Demgemäß betrachtete man allgemein die einfache Zahl als Maß einer linearen Strecke, das Produkt und die Quadratzahl repräsentierten eine ebene Fläche, das dreifache Produkt und die Kubikzahl einen Körper. Mehr- fache Produkte und höhere Potenzen als die dritte verloren überhaupt jede geometrische Bedeutung. Erst durch die freiere Bewegung, welche die Arithmetik infolge der Erfindung der algebraischen Symbolik gewann, wurde diese Beschränkung beseitigt. Die entscheidende Leistung war hier Descartes’ Geometrie. Der Titel bezeichnet nur unzureichend ihren Inhalt. Denn indem sich dieser gleichzeitig auf die allgemeine Untersuchung der algebraischen Gleichungen erstreckt, ist es einer- seits die freiere geometrische Verwendung der arithmetischen Opera- tionen, anderseits die synthetische Ableitung und analytische Unter- suchung der algebraischen Formen, die sich der Verfasser zum Ziel setzt. So wurde dieses Werk gleichzeitig die Grundlage der neueren Geometrie und der Analysis. Den Weg zu seiner Behandlung der Geo- *) Vgl. hierzu Bd. I, S. 480 ff. Dazu Felix Klein, Zur ersten Verteilung des Lobatschefskypreises (Kasan), 1897”. Fr. Engel, Lobat- schefskys Leben und Schriften, 1899. Über Invariantentheorie: W. Fr. Meyer, Encyklopädie der math. Wissensch. I, Bd. 2, 1899. Die Anwendung algebraischer Methoden auf die geometrische Untersuchung. 203 metrie bahnt sich aber Descartes, indem er den arithmetischen Funda- mentaloperationen eine solche geometrische Deutung gibt, daß nicht bloß die ursprünglichen Größen gerade Linien sind, sondern daß auch die Ergebnisse der mit ihnen vorgenommenen Operationen wiederum als gerade Linien erscheinen. So verwendet er zur Darstellung der Multiplikation und Division die Konstruktion ähnlicher Dreiecke. In diesen läßt sich, sobald man eine der Seiten der Einheit gleich setzt, eine Proportion bilden von der Form a:b=c:1, welche algebraisch den Gleichungen a—=b.c und b= —,, also einer Multiplikation und c Division entspricht. Konstruiert man mit Zuhilfenahme des Kreises die mittlere Proportionale zwischen der Einheit und einer anderen Geraden, welche die Einheit zum Durchmesser ergänzt, so erhält die mittlere Proportionale die Bedeutung der Quadratwurzel aus der zweiten Geraden, oder diese ist gleich dem Quadrate der ersteren. Da nun dies Verfahren von den so gefundenen Linien ausgehend beliebig oft wiederholt werden kann, so steht nichts im Wege, eine dritte, vierte oder höhere Potenz in der Form einer Geraden zu konstruieren. Hatten die Alten alle Kurven höherer Grade als „mechanische Linien“ (weil sie durch gewisse mechanische Vorrichtungen und Bewegungen erzeugt werden konnten) von den geometrischen unterschieden, so gewinnt nun der Begriff der geometrischen Kurven bei Descartes einen größeren Umfang und zugleich eine analytische Bedeutung. Eine geometrische Kurve ist ihm jede, die sich schließlich auf bestimmte Relationen einer begrenzten Anzahl gerader Linien zurückführen läßt. Wo dies nicht mehr der Fall ist, wo also die Relationen der Geraden, die als die Erzeuger der Kurven angesehen werden können, irgendwie veränder- lich sind, da ist auch für Descartes die Linie keine geometrische mehr. Der Begriff der geometrischen Kurve geht also nun vollständig parallel dem der algebraischen Gleichung, und in dem Gebiet der „mechanischen Kurven“ verbleiben alle Gebilde, deren Untersuchung nicht durch die einfachen arithmetischen Operationen und ihre Wiederholungen er- ledigt werden kann, sondern auf eine unbegrenzte Zahl solcher Opera- tionen, d. h. auf transzendente Funktionen zurückführt. Auf diese Weise tritt hier zum ersten Mal die Unterscheidung der algebraischen und der transzendenten Kurven in die Entwicklung der Geometrie ein, freilich in noch unvollkommener Gestalt und nur mit sicherer Ab- grenzung der ersteren. Jene noch heute gebrauchte Bezeichnung rührt erst von Leibniz her, der damit zugleich die Beschränkung der Carte- sianischen Geometrie endgültig beseitigte. Ihrem Ausgangspunkte 204 Die Logik der Mathematik. gemäß war diese noch durchaus einealgebraischeGeometrie gewesen. Als solche benützte sie die Algebra für die Geometrie und be- handelte die letztere nur insoweit, als die elementaren algebraischen Methoden verwendbar sind; anderseits machte sie nicht minder die Geometrie der Algebra dienstbar, indem einer ihrer wesentlichsten Zwecke darin bestand, die anschauliche Bedeutung algebraischer Gleichungen nachzuweisen und so über deren Entstehungsbedingungen Rechenschaft zu geben. Diesem algebraischen Charakter entspricht es, daß die Konstruktionen überall dem einzelnen Fall angepaßt sind. Bei der Untersuchung einer Kurve werden diejenigen Hilfslinien ge- zogen, welche am einfachsten zu einem algebraischen Ausdruck führen. Solche Hilfslinien sind aber naturgemäß wechselnder Art, und es exi- stieren daher, abgesehen von den Fällen, in denen sich ein einzelnes Problem selbst schon auf mehrere Kurven bezieht, keine zwingenden Gründe zu einer gleichförmigen Rückbeziehung der untersuchten Ge- bilde auf ein System gerader Linien von unveränderlicher Lage. Der Übergang von der algebraischen zur analytischen Geometrie vollzog sich teils infolge der Ausdehnung der ana- Iytischen Behandlung auf transzendente Kurven und auf den Raum von drei Dimensionen, teils unter dem Einfluß der Anwendungen der Geometrie auf die Mechanik. Die hier sich ergebenden Aufgaben machten einen festen Ausgangspunkt für die bestimmenden Geraden wünschenswert. Die analytische Geometrie wurde daher zur Koordi- natengeometrie. Indem diese die Geraden, durch deren Rela- tionen die Eigenschaften der Raumgebilde gemessen werden, mit be- stimmten Richtungen des Raumes zusammenfallen läßt, legt sie ihren Entwicklungen den mathematischen Raumbegriff in seiner abstrak- testen Form zu Grunde. Die Gleichungen, die als analytische Ausdrücke bestimmter Raumgebilde auftreten, besitzen darum den logischen Charakter von Definitionen, welche die einzelnen geometrischen Be- griffe mit dem allgemeinen Raumbegriff in unmittelbare Beziehung bringen. Durch die Gleichung einer Raumkurve wird diese nach drei von einem festen Anfangspunkt ausgehenden Richtungen, die meist senkrecht zueinander gewählt werden, zerlegt, indem man feststellt, wie groß der einem bestimmten Fortschritt in der Richtung X ent- sprechende Fortschritt in den zwei anderen Richtungen Y und Z ist. Das Verfahren ist also auch im logischen Sinne ein analytisches, und zugleich ist in demselben die Vorstellung der Erzeugung der Raum- gebilde durch Bewegung enthalten. Gerade deshalb liegt hier der Übergang von der Geometrie zur Mechanik so nahe. In der Tat kommt Die Anwendung algebraischer Methoden auf die geometrische Untersuchung. 205 es häufig nur auf die Interpretation der Symbole einer Gleichung an, ob man ihr eine geometrische oder eine mechanische Deutung geben will. Die Mechanik erscheint dabei als ein der Geometrie untergeordnetes Gebiet, insofern unter den zahllosen Raumgebilden, die überhaupt möglich sind, einzelne durch die in der Natur wirksamen Bewegungs- gesetze erzeugt werden. Von den Methoden der antiken Geometrie entfernt sich aber die analytische Behandlung weit mehr als die al- gebraische Geometrie Descartes’, da die Beziehung auf ein festes Koordi- natensystem die Anwendung besonderer, nach der Natur der unter- suchten Gebilde wechselnder Konstruktionen völlig entbehrlich macht. Darum kann nun auch hier die Untersuchung in völlig abstrakter Weise geführt werden. Weil die Hilfskonstruktionen bei der Untersuchung entbehrlich sind, so werden schließlich die geometrischen Objekte selber entbehrlich. An ihre Stelle treten die Gleichungen, an die Stelle der Hilfskonstruktionen die passenden Transformationen der Gleichungen. Den Vorteilen, welche diese Verwertung der analytischen Hilfsmittel bietet, stehen die geringe Anschaulichkeit der Resultate und nicht selten, wegen des Verzichts auf Konstruktionen, die den be- sonderen Erfordernissen des Falles entsprechen, die Schwerfälligkeit der Rechnung als Nachteile gegenüber. Diese sind es denn auch, die in der neueren Zeit zu einer weiteren Form der Verwertung algebraischer Methoden geführt haben, die wir als die Methode der geometri- schen Analysis bezeichnen wollen. b. Die geometrische Analysis. Die geometrische Analysis, die einen wesentlichen Bestandteil der synthetischen Geometrie bildet, sucht, wie ihr Name andeutet, die Stellung umzukehren, die Analysis und Geometrie in der analytischen Geometrie zueinander einnehmen. Während in dieser das analytische Verfahren vollständig die geometrische Anschauung beherrscht, sucht jene die Ausübung der algebraischen Methoden den spezifischen Verhält- nissen räumlicher Objekte anzupassen, ebenso wie in ihr die geometri- schen Konstruktionsmethoden den konkreten Objekten angepaßt sind. Auf der innigen Verwebung naturgemäßer Konstruktionen und algebraischer Betrachtungen beruht daher der eigentümliche Charak- ter dieser Geometrie. Auch sie will der Verwertung algebraischer Methoden keineswegs verlustig gehen; aber sie sucht diese Verwertung fruchtbarer zu machen, indem sie an der algebraischen Symbolik die- jenigen Veränderungen vornimmt, die den Eigentümlichkeiten der 206 Die Logik der Mathematik. Raumanschauung entsprechen. Die Berechtigung eines solchen Ver- fahrens ergibt sich daraus, daß die algebraische Symbolik in ihrer all- gemein gebrauchten Form auf rein arithmetischem Boden ruht. Sowohl die algebraische wie die analytische Geometrie haben dieses Verhältnis unverändert gelassen, da bei beiden Formen noch immer der metrische Gesichtspunkt vorwaltet. Dies muß von selbst anders werden, wenn die Lagebeziehungen der geometrischen Objekte in den Vorder- grund treten. Denn hier muß sogleich die Frage entstehen, ob nicht die arıthmetischen Fundamentaloperationen, angewandt auf eine mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit, notwendig Änderungen erfahren, sobald man nicht bloß auf die Größe, sondern auch auf die Lage und Richtung des Ausgedehnten Rücksicht nimmt. Da bei jeder Art geometrischer Untersuchung ausgedehnte Ge- bilde von verschiedener Form auf die Gerade zurückgeführt werden können, so bietet sie sich auch bei der geometrischen Analyse als nächstes Objekt dar. Rein metrisch betrachtet sind zwei Gerade einander gleich, wenn sie gleich lang sind. Auf dieser Voraussetzung ruht daher sowohl die antike wie die analytische Geometrie, und so betrachtet unter- scheidet sich die Gerade nicht von beliebigen anderen durch Zahlen meßbaren Objekten. Nehmen wir dagegen bei der Definition der Gleich- heit auf die spezifischen Eigentümlichkeiten des Raumes Rücksicht, so werden wir gleich zwei Gerade nur dann nennen, wenn sie nicht nur gleiche Länge, sondern auch gleiche Lage und Richtung haben. Von gleicher Lage sind sie aber, wenn sie einander parallel sind (worin zugleich der Spezialtall, daß die eine in der Verlängerung der anderen liegt, eingeschlossen ist). Gleiche Richtung haben sie, wenn alle Punkte der einen von den entsprechenden Punkten der anderen gleich weit ent- fernt sind, wenn also z. B. zwischen den Anfangspunkten A und A’ der Geraden A B und A’ B’ die Distanz die gleiche ist wie zwischen den um eine je gleiche Strecke von ihnen entfernten Punkten B und B'. Diese Definition der Gleichheit vorausgesetzt ergeben sich nun die Modifikationen, welche die vier arithmetischen Elementaroperationen in ihrer Anwendung auf gerade Strecken erfahren müssen, mit logischer Notwendigkeit. Bezeichnen wir nämlich in gewohnter Weise die Geraden durch ihre Anfangs- und Endpunkte, also durch A B, BC die Strecken zwischen den Punkten A und B, B und (, so gelten für die Addition von Strecken gleicher Lage folgende Gesetze: AB=—BA ABIBA=0, ABA BC=AC ABLBOTC0A=D. Die Anwendung algebraischer Methoden auf die geometrische Untersuchung. 207 Haben zwei Strecken A B und B’C irgend eine andere Lage, so läßt sich die zweite B’C' ohne Änderung der Gleichheit sich selbst parallel verschieben, bis B’ mit B zusammenfällt, und es ist dann ABI BC=ACwd AB—- BO=CA=— AC d. h. sowohl die Summe wie die Differenz zweier Geraden, die einen Winkel miteinander bilden, wird durch eine dritte Gerade dargestellt, welche beide zu einem Dreieck ergänzt; diese dritte Gerade erhält aber im zweiten Fall eine entgegengesetzte Richtung. Eine Multiplikation und Division von Geraden werden nun dann entstehen, wenn Strecken in ihrem Verhältnisse zueinander betrachtet werden, wobei unter diesem Verhältnis wiederum nicht bloß das der Länge, sondern auch das der Lage und Richtung zu verstehen ist. Sind z. B. vier Strecken a, b, c, d so zueinander gelagert und gerichtet, daß die Proportion besteht a:b=c:d, so wird, wenn man d zur Einheit nimmt, a=b.c, oder, wenn man @— Eseizt, a = 2 Dort wird also die Strecke a gleich dem Produkt, hier gleich dem Quotienten zweier anderen. Diese Multiplikation und Division ist der von Descartes angewandten durchaus ähnlich: hier wie dort wird auf eine Proportion zwischen Strecken zurückgegangen, von denen eine der Einheit gleich gesetzt ist. In beiden Fällen läßt sich daher durch zwei ähnliche Dreiecke der Gleichung Genüge leisten. Aber während es bei Descartes nur auf die Länge der Strecken ankam, bezieht sich hier die Proportion zugleich auf die Richtung und Lage derselben, und es vermehren sich auf diese Weise, entsprechend der mit dem Begriff der Gleichheit vorgenommenen Veränderung, die Elemente, die den Begriff der Ähnlichkeit zusammensetzen. Der Gesichtspunkt der geometrischen Analyse, der diesen Be- trachtungen zu Grunde liegt, gestattet es jedoch nicht, bei der Geraden stehen zu bleiben, sondern er fordert die Anwendung auf das letzte Element aller Raumkonstruktionen, auf den Punkt. Läßt dieser für eine rein metrische Betrachtung keine weitere Bestimmung zu, so ist dagegen eine Bestimmung der Lage desselben immer möglich. Da sich auf Lagebeziehungen von Punkten schließlich alle anderen geometrischen Verhältnisse zurückführen lassen, so muß dann von den in Bezug auf Punkte ausführbaren Operationen auch ein Übergang zur Geraden, zur Ebene und zum dreifach ausgedehnten Raumgebilde zu gewinnen sein. Denken wir uns demgemäß, die für irgend zwei voneinander ent- 208 Die Logik der Mathematik. fernte Punkte gewählten Symbole & und ß bezeichneten gleichzeitig die Lage dieser Punkte, so wird ein genau in der Mitte zwischen «und ß gelegener Punkt y hinsichtlich seiner Lage in Bezug auf die ersteren bestimmt sein durch die Gleichung. — 2ER oder «+ ß= 27. Als die Summe zweier Punkte erscheint also deren doppelt genommener Mittelpunkt. Diese Relation wird auch für Verbände von Punkten, z. B. für m Punkte « und für n Punkte ß gelten, indem metnd=(m+nr ist, eine Beziehung, in welcher der Mittelpunkt zweier Punktsysteme einem Schwerpunkt analog erscheint*). Von dem der Addition zu Grunde liegenden Prinzip aus läßt sich nun offenbar auch die Addition eines Punktes und einer geradlinigen Strecke vollziehen. Denken wir uns den Punkt ß von « um die Strecke a entfernt, so wird sich ß als hervorgegangen aus einer Addition von a zu «& betrachten lassen: «+a=ßodr a—ßB=aundß—a=—a. Als Differenz zweier Punkte erscheint demnach in Bezug auf Größe, Lage und Richtung die zwischen beiden gelegene geradlinige Strecke**). Die nämliche Strecke entspricht aber dem Produkt der beiden End- punkte. Es ist also a.Bß=—ß.a=ß—o. Man übersieht leicht, daß in Verfolgung dieses Satzes das Produkt dreier Punkte zu einem ebenen Gebilde wird, das nach Größe und Lage dem doppelten Flächeninhalt des durch die drei Punkte gebildeten Dreiecks gleichkommt. In ähnlicher Weise wird das Produkt von vier Punkten ein dreifach ausgedehntes Raumgebilde, nämlich das durch die drei Punkte als Eckpunkte bestimmte Parallelepiped. Es versteht sich von selbst, daß diese Betrachtungen noch erweitert werden können, wenn man an Stelle des Raumes den allgemeinen Be- griff der Ausdehnung setzt, wie solches von Graßmann geschehen ist. Anderseits lassen sich die hier festgestellten Gesetze der Elementar- operationen ohne Rücksicht auf ihren geometrischen Ursprung als ab- *) Die erste fruchtbare Verwertung dieses Gedankens hat Moebius gegeben in seinem Werke: Der baryzentrische Kalkul, ein neues Hilfsmittel zur analytischen Behandlung der Geometrie, 1827. (A. F. Moebius’ Ges. Werke, I, S. 1—389.) **) H. Graßmann, Die Ausdehnungslehre von 1844, 2. Aufl., S. 131 £. Die Anwendung algebraischer Methoden auf die geometrische Untersuchung. 209 strakte Zahlgesetze behandeln, wobei man dann den Begriff der be- treffenden Zahlsysteme durch diese Gesetze selbst erst bestimmt sein läßt. So ersieht man unmittelbar, daß die oben besprochene geometrische Addition von Strecken vollkommen der Addition komplexer Zahlen entspricht, und ähnlich lassen sich die übrigen Elementaroperationen aus der geometrischen Analyse auf das System der gewöhnlichen kom- plexen Zahlen übertragen. Wenn aber die Multiplikation inkommutativ wird, so nehmen die Zahlen die Eigenschaften der Quaternionen an, die ebenfalls, unabhängig von ihrer geometrischen Bedeutung, als reine Zahlbegriffe, definiert durch die Beziehungen der drei imaginären Einheiten, betrachtet werden können (S. 159). Es wiederholt sich darin nur eine Entwicklung, die schon dem gewöhnlichen Zahlbegriff zu Grunde liegt. Die Zahl in ihrer allgemeinen Bedeutung ist die letzte, abstrakteste Form der mathematischen Auffassung. Wir abstrahieren bei ihr völlig von den realen Objekten und ihren Verhältnissen. Gerade der Fall der geometrischen Analyse zeigt aber deutlich, daß neue fruchtbringende Umgestaltungen des Zahlbegriffs stets gebunden sind an die wirkliche Anschauung. In dieser Beziehung trefien darum auch die komplexen Zahlsysteme und die Methoden der geometrischen Analyse von ent- gegengesetzten Seiten her beim nämlichen Ziel zusammen. Dort findet es sich, daß Ergebnisse, zu denen man in der konsequenten Verfolgung der arithmetischen Operationen gelangt, eine Bedeutung nur gewinnen können, wennmanden Begriff derZahl in dem Sinne erweitert, daß diese nicht bloß die Größe, sondern auch die Richtung und Lage der Objekte zu messen im stande ist. Hier zeigt es sich, daß für die arithmetischen Operationen in ihrer Anwendung auf ausgedehnte Gebilde, d. h. auf Objekte von verschiedener Größe, Richtung und Lage, Modifikationen erforderlich werden, die sie selbst und damit auch die zu Grunde liegenden Zahlbegriffe verändern. Auf solche Weise begegnen sich beide Begriffs- erweiterungen, und dieses Zusammentreffen zeigt, daß es sich hier nicht um willkürliche Erfindungen, sondern um eine naturgemäße Entwick- lung handelt, die sich aus den dem Zahlbegriff wie der geometrischen Anschauung immanenten Eigenschaften heraus vollzogen hat. Wundt, Logik. II. 3. Aufl 14 10 Die Logik der Mathematik, Viertes Kapitel. Der Funktionsbegriff und die Infinitesimalmethode. 1. Die analytischen Funktionen. a. Die Entwicklung des Begriffs der Funktion, Der Begriff der Funktion ist der älteren Mathematik unbekannt; in der neueren aber hat er eine immer umfassendere Bedeutung ge- wonnen: er ist der herrschende Begriff der Analysis und durch sie der ganzen Mathematik geworden. Aus der Erfindung der algebrai- schen Symbolik in naturgemäßer Entwicklung hervorgegangen, hat er in der Anwendung der algebraischen Methoden auf die Geometrie seine nächste Quelle. Indem Descartes’ Geometrie die Untersuchung der geometrischen Objekte auf die Maßbeziehungen gerader Linien zurückführte, deren Zahl für die Ebene gleich zwei und für den Raum gleich drei ist, operiert sie mit dem Begriff der Funktion, wenn ihr auch dieser Name noch mangelt. In die Gleichung einer ebenen Kurve gehen neben konstanten Größen die beiden bestimmenden Geraden x und y als veränderliche ein. Da aber jedem Werte der einen Ver- änderlichen x ein bestimmter Wert oder eine Anzahl bestimmter Werte der anderen Veränderlichen y entspricht, so erscheint hier yals Funk- tionvon x. Der Begriff der Funktion hat also in dieser seiner nächsten Anwendung die Bedeutung, daß er die Abhängigkeit einer Größe von einer anderen oder von einer Mehrheit anderer Größen bezeichnet, deren Veränderungen nach einem vorgezeichneten Gesetze erfolgen. Dieses Gesetz findet geometrisch in einer Kurve, analytisch in der zu- gehörigen Gleichung seinen Ausdruck. Stets wird dabei die abhängig Veränderliche y selbst als Funktion aufgefaßt, und die unabhängig Veränderlichen x, z, bei deren Variation y alle für dasselbe möglichen Werte durchläuft, sind de Argumente dieser Funktion. Vermöge des beschränkten Gesichtskreises der Cartesianischen Geometrie kamen aber in ihr zunächst nur solche Gleichungen in Frage, in welchen alle Größenverbindungen aus einer begrenzten Zahl und Reihenfolge der vier arithmetischen Fundamentaloperationen hervorgehen, und es war überdies stillschweigend vorausgesetzt, daß zwar jede beliebige andere Größe, niemals aber ein Divisor gleich Null werden könne. Auf diese Weise verengte sich der Begriff der Funktion zu demjenigen der algebraischen Funktion. Erst Leibniz führte in die analytische Geometrie den Namen transzendente Kurven ausdrücklich deshalb ein, weil die Pro- Die analytischen Funktionen. 21l bleme, die sich auf solche Kurven beziehen, die Hilfsmittel der Algebra übersteigen, oder weil mit anderen Worten die in den Gleichungen derselben darzustellenden Größenbeziehungen nicht durch eine be- schränkte Anzahl von Additionen, Multiplikationen, Subtraktionen und Divisionen sich erledigen lassen*). Hat z. B. die Funktion die Form y= a”, so gestattet dieser Ausdruck nur dann eine genaue Berechnung von y durch eine beschränkte Zahl von Anwendungen der arıthmetischen Elementaroperationen, wenn für z ein bestimmter ganzer Zahlenwert angenommen wird. Da dies aber bei der allgemeinen Form der Funktion nicht der Fall ist, sondern hier für x jede beliebige gebrochene oder irrationale Zahl eintreten kann, so ist es klar, daß eine allgemeingültige Beziehung der beiden Veränderlichen x und y auf algebraischem Wege nicht herzustellen ist. Ähnlich verhält es sich mit den Funktionen y=sinz, y=cos« y=tang x, y — cotang x. Bei der Funktion y=sin x nimmt x von Null an stetig zu, indem Te IT Frag wechselt aber y periodisch und stetig zwischen 0,—+1,0,—1,0. Bei der Funktion y=tang x wechselt bei stetig wachsendem x der Wert von y zwischen 0, —- 0, 0, — ©, 0. Auch hier läßt sich die Beziehung zwischen x und y nicht in allgemeingültiger Weise durch eine begrenzte Zahl arithmetischer Operationen zum Ausdruck bringen. Nichtsdesto- weniger entsprechen nicht nur allen diesen Gleichungen geometrische Gebilde von ebenso strenger Gesetzmäßigkeit wie die algebraischen Kurven, sondern es verändern sich auch die in Beziehung gesetzten Größen, abgesehen von den speziellen Fällen, wo die Funktion unend- lich wird, in gleicher Weise miteinander. Es können nun aber außerdem bei jeder derartigen Beziehung Eigenschaften der veränderlichen Größen vorausgesetzt werden, ver- möge deren eine Stetigkeit der Veränderung nicht mehr möglich ist, und also auch die geometrische Darstellbarkeit der Funktion mittels einer zusammenhängenden Kurve hinwegfällt. Dies geschieht, sobald man annimmt, daß die ursprünglich veränderlichen Größen, die in irgend einem algebraischen oder transzendenten Ausdruck vorkommen, die Bedeutung ganzer Zahlen besitzen. Es werden sich dann offenbar die einzelnen Werte von y, die in dem Ausdruck „=/(x) den ein- zelnen Zahlwerten von x korrespondieren, nicht mehr kontinuierlich, sondern sprungweise ändern. Der Begriff der Funktion gewinnt hier es die Werte ‚3x u.s. w. durchläuft; währenddessen *) Leibniz, Mathematische Werke, herausg. von Gerhardt, V, S. 228. >13 Die Logik der Mathematik. die Bedeutung eines Zahlengesetzes, und es kann daher der so verengte Begriff speziell als der zahlentheoretische Funktions- begriff bezeichnet werden. Hat dagegen die Unstetigkeit nicht in der Voraussetzung eines unstetigen Wachstums der Veränderlichen, sondern in der Natur der Funktion selbst ihren Grund, indem plötz- liche Sprünge für beliebig kleine Veränderungen des Arguments vor- kommen, so ist an denjenigen Stellen, an denen der Verlauf der Funktion durch solche Unstetigkeiten unterbrochen ist, eine nähere Untersuchung derselben unmöglich. Denn diese Untersuchung kann sich immer nur darauf beziehen, daß man zu einer gegebenen Ver- änderung des Argumentes die zugehörige Veränderung der Funktion nachweist; in demjenigen Intervall, in welchem der Verlauf der Funk- tion ein unstetiger, ist aber ein solcher Nachweis offenbar nicht möglich. Aus diesem Grunde ist die Stetigkeitder Veränderung ein notwendiges Kriterium der analytischen Funktion. Zugleich ist es klar, daß der allgemeine Begriff der letzteren auch den zahlen- theoretischen Begriff der Funktion, in welchem die Stetigkeit nicht vorausgesetzt wird, insofern in sich schließt, als die Annahme, daß die Veränderlichen ganze Zahlen bedeuten sollen, eine willkürlich eingeführte Beschränkung bleibt. Die zahlentheoretische Funktion geht im allgemeinen in eine analytische Funktion über, welche statt des Zahlengesetzes eine Beziehung zwischen stetig veränderlichen Größen darstellt, sobald man jene beschränkende Voraussetzung aufgibt und an die Stelle des engeren den allgemeineren Zahlbegriff treten läßt, welcher mit dem Begriff der stetigen Größe zusammenfällt. In logischer Beziehung läßt sich demnach der Begriff der Funktion als diejenige Umgestaltung betrachten, welche der Begriff der logischen Abhängigkeit in der An- wendung auf den allgemeinen Größenbegriff er- fahren muß. Bei dem allgemeinen Verhältnis von Bedingung und Folge bleibt es dahingestellt, ob die Glieder desselben überhaupt sich begleitenden Veränderungen unterworfen sind, und ob solche, wenn sie erfolgen, einen stetigen Charakter besitzen. Wo die logische Symbolik das Funktionszeichen anwendet, da gibt sie daher ihrerseits demselben eine erweiterte Bedeutung. Die algebraische Symbolik dagegen, welche unter ihren Zahlsymbolen gerade dann, wenn sie ihnen die allgemeinste Bedeutung gibt, kontinuierliche Größen denkt, muß in die Abhängig- keitsbeziehung einerseits den Begriff der Veränderung und anderseits den der Stetigkeit aufnehmen. Denn die Abhängigkeit zweier Zahlen kann überhaupt nur darin bestehen, daß die Veränderungen der einen Die analytischen Funktionen, 213 von den Veränderungen der anderen bedingt sind, und eine feste Be- ziehung zwischen diesen Veränderungen läßt sich nur dann erkennen, wenn im allgemeinen (von einzelnen Unstetigkeiten abgesehen) der stetigen Veränderung der ursprünglich veränderlichen Größe eine stetige Veränderung der abhängig veränderlichen entspricht. Wenn daher Johann Bernoulli, der Urheber des Ausdrucks „Funktion“, dieselbe allgemein als eine Abhängigkeit zwischen Größen definierte, so war dieser Begriff zu weit und unbestimmt*). Denn es fehlte darin jenes Merkmal der Stetigkeit, durch welches der mathematische Begriff der Funktion sich scheidet von dem allgemeineren der logischen Folge. Wir nennen aber eine Größe estetigveränderlich, wenn sie bei der Zunahme um einen Wert + ösowie bei der Abnahme um einen Wert — ö stets Werte durchläuft, die zwischen x und 2 +6 und zwischen z und £— 6 in der Mitte liegen, auch wenn man Ö so klein wählt als man will. (Vgl. oben S. 154 f.) Demgemäß werden wir eine Funktion y= f(x) dann eine stetige nennen, wenn nicht nur für jede der Größen x und yan und für sich die obige Bedingung zutrifft, sondern wenn sich außerdem die abhängige Variable y nur dann um ein meß- bares Intervall verändert, wenn sich auch x um ein meßbares Intervall ändert, während für jede Veränderung von x, die kleiner ist als irgend eine meßbare Zahl ö, die beliebig klein gewählt werden mag, auch y keine Veränderung erfährt, die irgend einer meßbaren Zahl gleichkommt. Diese Definition der Stetigkeit einer Funktion führt unmittelbar zu den Grundbegriffen der Differentialrechnung, bei deren Erörterung wir daher den Begriff der stetig veränderlichen Größe nach seinen verschiedenen Richtungen weiter verfolgen werden**). Während so der Begriff der Funktion durch die Bedingung der Stetigkeit enger begrenzt wird, erfährt er dagegen infolge der An- wendungen auf komplexe Größen und die damit verbundene Unterscheidung ein- und vieldeutiger Funktionen eine bemerkenswerte Erweiterung. In der Gleichung y=f(x) kann jedem einzelnen Werte des Argumentes z ein einzelner oder eine fest bestimmte Anzahl einzelner Werte von y entsprechen: dann nennt man die Funktion eine eindeutige. In dieser Weise eindeutig *), Joh. Bernoulli, Opera omnia, t. II, p. 241. **) Als äußeres Kriterium der Stetigkeit einer Funktion betrachtet man in der Tat im allgemeinen ihre Differenzierbarkeit. Doch hat Weierstraß gezeigt, das gewisse zusammengesetzte Sinus- und Kosinusfunktionen zwar stetig, aber nicht differenzierbar sind. Vgl. P. du Bois-Reymond, Crelles Journ. f. Math., Bd. 29, S. 21. 914 Die Logik der Mathematik. ad sind stets die Funktionen reeller Größen. Eine algebraische Gleichung nten Grades liefert zwar zu jedem Werte von x n Werte von %, aber diese bezeichnen hier n voneinander isolierte Punkte, welche zusammen- gehörigen Werten von x und y entsprechen, und die Funktion selbst bleibt immer durch eine einzige Kurve darstellbar. Mehrdeutig dagegen kann eine Funktion nur dann genannt werden, wenn dem Ausdruck == f (x) innerhalb gewisser Grenzen ein ganz verschiedener Verlauf der zu einer kontinuierlichen Änderung von x gehörigen Werte von y entspricht, wenn also jene Gleichung durch zwei oder mehr aus- einanderfallende Kurven dargestellt werden kann. Dieser Fall tritt nun im allgemeinen dann ein, wenn die Argumente der Funktion kom- plexe Zahlen sind. Eine reelle Variable x findet, wie wir sahen, ihre Dar- stellung in einer geraden Linie. Zwischen zwei voneinander entfernten Punkten a und 5b einer Geraden liegt aber immer nur eine Reihe stetig aufeinanderfolgender Punkte. Wenn a und b gegeben sind, so ist darum auch der ganze Verlauf der Linie x gegeben, und in der Glei- chung y=f(«) sind die Werte von y den korrespondierenden Werten von x eindeutig zugeordnet. Hat dagegen die Funktion die Form :=fktiy), so entspricht zwar hier ebenfalls jeder einzelne Wert des komplexen Argumentes einem Punkt in der Ebene: die Gesamtheit der stetig auf- einanderfolgenden Punkte, welche das Wachstum des Argumentes ver- sinnlichen, braucht aber nicht in einer Geraden zu liegen, sondern da jeder Punkt durch die zwei zueinander senkrechten Geraden x und % als Koordinaten bestimmt ist, so kann das Wachstum des Argumentes einer beliebig veränderlichen Kurve oder einer aus geraden und ge- krümmten Teilen zusammengesetzten Linie entsprechen. Zwischen zwei bestimmten Werten a und b eines komplexen Argumentes sind demnach auch unendlich viele Übergänge möglich, und jedem dieser Übergänge wird im allgemeinen ein anderer Verlauf der Funktion z zugehören. Sind a und b als Anfangs- und Endpunkt der Funktion ge- geben, so werden dieselben Verzweigungspunkte darstellen, zwischen denen der Übergang durch eine unendliche Schar stetiger oder ge- brochener Linien vermittelt werden kann. Geometrisch läßt daher das Verhältnis der Funktionen mit komplexen zu solchen mit reellen Argu- menten auch so sıch auffassen, daß an die Stelle der Geraden, welche hier stets das bestimmende Grundelement ist, dort eine veränderliche Linie tritt, daß also das geradlinige durch ein anderes Koordinaten- system ersetzt wird. Das letzte Element, von dem man irgend ein krumm- Die analytischen Funktionen. 215 liniges Koordinatensystem abhängig denkt, muß freilich auch hier die Gerade bleiben, da jede Richtung und Richtungsänderung immer wieder durch die Rückbeziehung auf gerade Linien von gegebener Richtung bestimmt werden muß. In der Tat hat ja jeder einzelne der beiden Teile x und © y, aus denen ein komplexes Argument besteht, die Be- deutung einer stetig veränderlichen Geraden. In dieser Beziehung sind also die Funktionen komplexer Variabeln im eigentlichsten Sinne Funktionen höherer Ordnung. Sie setzen eine Funktionsbeziehung zwischen den Teilen ihrer komplexen Argumente voraus. Aber indem der allgemeine Ausdruck einer Funktion komplexer Variabler jene Beziehung zunächst unbestimmt läßt, entspricht jedem einzelnen Werte von x eine unendliche Menge von Werten z y; auch die Funktion z—=f(z-+-iy) hat daher zu ihrem geometrischen Bilde nicht eine Kurve, sondern eine Fläche, welche von der Ebene, auf der sich der Punkt £ + iy bewegt, abhängig ist, und es kommt nun auf besondere Bedingungen an, ob zwischen gewissen Grenzen zu jedem Werte von x auch nur ein Wert von : y gehört oder nicht. Ist ersteres der Fall, so wird die Funktion eindeutig, und es entspricht ihr nur noch eine einzige unter der unendlichen Zahl von Kurven, die in der Fläche der mehrdeutigen Funktion zwischen deren Grenzwerten a und b möglich sind. Die mathematischen Umgestaltungen des Zahlbegrifis haben hier- nach einerseits eine Verengerung, anderseits eine Erweiterung des Be- griffs der Funktion herbeigeführt: die erstere, insofern der allgemeinste Begriff der Zahl durch die in ihn aufgenommene Stetigkeit diese auch auf die Funktion übertragen ließ; die letztere, insofern der Be- griff der komplexen Zahl zur Funktion zwischen komplexen Größen und damit zur vieldeutigen Funktion führte. Wenn diese auch immer erst durch die Umwandlung in eine eindeutige Form mathematisch fruchtbar wird, so muß sie gleichwohl als eine logisch notwendige Entwicklung des Funktionsbegrifis anerkannt werden. Dem gegenüber ist nun eine fernere Erweiterung dieses Begriffs zu- nächst aus physikalischen Anwendungen hervorgegangen. Während näm- lich die rein mathematische Aufstellung einer Funktion stets voraussetzt, daß durch die beschränkte oder unbeschränkte Anwendung der alge- braischen Operationen gewisse Größenbeziehungen entstehen, welche sich in einer Gleichung ausdrücken lassen, können in anderen Fällen solche Beziehungen auch rein empirisch gegeben sein oder vollkommen willkürlich von uns vorausgesetzt werden. Wenn man z. B. die Tem- peraturen mißt, die ein prismatischer oder zylindrischer Stab in 216 Die Logik der Mathematik. verschiedenen Teilen seiner Länge besitzt, so wird man zwei Reihen korrespondierender Zahlen erhalten, von denen die einen die Längen des Stabs von einem willkürlich angenommenen Nullpunkte an, die anderen die zugehörigen Temperaturen angeben. Mittels beider Zahlen- reihen läßt sich eine Kurve konstruieren, die im allgemeinen einen stetigen Verlauf haben wird, da alle Temperaturunterschiede all- mählich sich auszugleichen streben. Über die sonstige Beschaffenheit dieser Kurve läßt sich aber a priori gar nichts aussagen, wenn, wie wir voraussetzen, die Bedingungen, denen der Stab unterworfen ist, unbekannt sind. Nichtsdestoweniger kann die Temperaturhöhe y als Funktion der Länge x des Stabes angesehen werden, und es ist da- her eine Gleichung y — f (x) denkbar, welche die Temperaturver- teilung in mathematischer Form darstellt. Die empirische Beob- achtung gibt vielfache Gelegenheit zur Aufstellung solcher Funktions- beziehungen, die sich von den auf mathematischem Wege gewonnenen offenbar dadurch unterscheiden, daß die Kurve, die den Gang der Funktion darstellt, nicht aus bestimmten algebraischen Opera- tionen abgeleitet, sondern direkt durch Konstruktion der einander entsprechenden Werte der Variabeln erhalten wird. Nun steht es der Mathematik frei, beliebige willkürlich angenommene Zahlenreihen in ähnliche Beziehungen zueinander zu bringen, wie sie hier durch die empirische Beobachtung dargeboten werden. Vom mathema- tischen Standpunkte aus ist zwischen diesen beiden Fällen kein Unterschied: jede Zuordnung stetig veränderlicher Größen, welche nicht aus bestimmten Operationen hervorgegangen ist, erscheint umso mehr als eine willkürliche, da in der Regel auch bei den durch Beobach- tung aufgefundenen Zahlenreihen eine unmittelbare logische oder kausale Beziehung zwischen der Funktion und ihrem Argumente nicht existiert. So sind z. B. die Entfernungen der Punkte eines Stabes von irgend einem Nullpunkte nicht die Ursachen der Temperaturverteilung, sondern beide Veränderungen sind auch in physikalischem Sinne bloß koexistierende Tatsachen. Wenn man hier die eine Veränderung als Funktion der anderen betrachtet, so beruht dies also auf einer will- kürlichen Annahme. Demgemäß werden überhaupt derartige Funktionen als willkürliche bezeichnet. Unter den mathematischen Funk- tionen sind es die transzendenten, namentlich die trigonometrischen, die in der Form von Reihenentwicklungen die Hilfsmittel zur Dar- stellung derselben abgeben. Natürlich aber hat ein solcher Funktions- ausdruck niemals über die Grenzen der Zahlenreihen hinaus Gültigkeit, für die er speziell gefunden worden ist. Die analytischen Funktionen. 217 In logischer Beziehung bieten die willkürlichen Funktionen, deren Aufstellung erst der neueren mathematischen Physik seit d’Alembert und Euler angehört*), ein mehrfaches Interesse dar. Zunächst sind sie es, durch welche der Funktionsbegrifi seine größte Allgemeinheit erreicht, da es keinerlei Art der Abhängigkeit mehr gibt, mag dieselbe auch ganz beliebig von uns angenommen sein, welche sich nicht dem Begriff der Funktion unterordnen läßt und in dieser Form der mathe- matischen Behandlung zugänglich ist. Für die letztere gewinnt darum auch das scheinbar Gesetzloseste den Charakter des Gesetzmäßigen; denn jede, selbst die irregulärste Beziehung läßt sich auf die Form einer willkürlichen Funktion zurückführen. Es findet darin der logische Trieb unseres Geistes, der für das Zufällige keinen Raum läßt, seinen vollendetsten Ausdruck. Denn hier wird nicht nur allem objektiven Geschehen, sondern auch jeder Beziehung verschiedener Reihen von Denkobjekten, die aus irgend einer willkürlichen Laune entstehen mag, der Charakter der Gesetzmäßigkeit zugesprochen. Das Kausalgesetz bleibt für viele Gebiete ein Postulat, das sich unserer sicheren Nach- weisung entzieht; das mathematische Gesetz der Funktion beherrscht alle Größenbeziehungen, weil seine Anwendung vollkommen in unserer Wahl steht. Sodann aber hat sich in der willkürlichen Funktion der allgemeine Begriff der Funktion selbst von den besonderen, an sich zufälligen Eigenschaften losgelöst, die vermöge seiner mathematischen Ent- stehungsbedingungen ihm anhafteten. Die rein mathematische Fuik- tion bleibt stets eine Beziehung zwischen Größen, die aus den mit den- selben vorgenommenen Operationen hervorgegangen ist. Diese erscheinen hier als die Bedingungen, die zur Erzeugung der Funktion erforder- lich sind und daher auch die Form derselben bestimmen. Bei der will- kürlichen Funktion dagegen tritt die Funktion als der primäre Begriff auf. Zunächst wird hier die Abhängigkeit gewisser Reihen von Größen voneinander festgestellt, und dann erst sucht man die Frage zu beant- worten, welche Operationen ausgeführt werden müssen, um diese Ab- hängigkeit mathematisch auszudrücken. Darum behält der Begriff der Funktion vollständig seine Bedeutung bei, wenn man zu jener zweiten Frage gar nicht übergeht, sondern sich etwa damit begnügt, die gegebene Abhängigkeit in der Form einer Kurve zu konstruieren, oder in einem abstrakten symbolischen Ausdruck, wie y= (x), dar- *) Zur Geschichte derselben vg. Riemann, Ges. mathematische Werke, ST2l3.H: 218 Die Logik der Mathematik. zustellen. Auf diese Weise hat erst die Behandlung der willkürlichen Funktionen das Bewußtsein von der allgemeineren, den mathematischen Operationen nicht bloß gleichwertigen, sondern übergeordneten Bedeu- tung des Begriffs der Funktion erweckt. Da es übrigens, sobald die Abhängigkeitsverhältnisse mathematischer Art sind, für den Ausdruck der Funktion keinen Unterschied macht, ob derselbe aus vorangegange- nen Größenoperationen hervorgegangen ist oder nicht, so besteht vom mathematischen Standpunkte aus zwischen den willkürlichen und den übrigen Funktionen kein prinzipieller Unterschied. Der Ausdruck einer wıllkürlichen Funktion muß stets ein solcher sein, daß man sich denken könnte, er sei aus einer Reihe von Größenoperationen hervor- gegangen, wie ja auch jede noch so willkürlich und regelmäßig gezogene Kurve irgend einem komplizierten Gesetze gehorcht. Der Unterschied bezieht sich also einzig und allein auf die Entstehungsweise des für die Darstellung der Funktion gewonnenen Ausdrucks. Bei den mathe- matischen Funktionen geht dieser unmittelbar aus der Operations- verknüpfung der Elemente hervor, welche den gesetzmäßigen Gang der gegebenen Kurve bestimmen. Beiden willkürlichen Funktionen wird für diese Kurve ein Ausdruck von hinreichend allgemeiner Beschaffenheit gewählt, damit durch die Beibehaltung einer genügenden Anzahl von Gliedern und durch die Wahl geeigneter Werte für die zunächst un- bestimmt gelassenen Koeffizienten dieser Glieder der Ausdruck der ge- gebenen Kurve konform wird. Im ersten Fall wird daher der unter- suchte Begriff direkt bestimmt, im zweiten wird zuerst ein allgemeinerer Begriff aufgestellt, den man dann auf den speziellen Fall anwendet. Die Nötigung zu dem letzteren Verfahren wird naturgemäß dann eintreten, wenn die Funktion zu verwickelt ist, als daß sie durch ÖOperationsver- knüpfung ihrer Elemente sich finden ließe. Hier bietet die Mathematik die Möglichkeit dar, Funktionsausdrücke anzuwenden, welche all- gemein genug sind, daß sie alle möglichen Verhältnisse der Abhängig- keit umfassen, und welche doch vermöge der Bestimmtheit, die jedem einzelnen in sie eingehenden Größenbegriff zukommt, die speziellste Determination gestatten. Auch hierin bewährt es sich wiederum, daß die Funktion der allgemeinere Begriff ist, der die einzelnen Größen- operationen als die speziellen Beziehungen einschließt, aus denen die besonderen Formen mathematischer Funktionen hervorgehen. Der Erkenntnis dieser Bedeutung entspricht der zunehmende Gebrauch der allgemeinen Funktionssymbole in der neueren Mathe- matik. Nicht nur in solchen Fällen, wo die spezielle Form der Funktion noch unbekannt ist oder unbestimmt bleiben soll, wendet man dieselben Die analytischen Funktionen. 219 an, sondern nicht selten auch bedient man sich ihrer der Kürze halber, indem man durch die Wahl verschiedener Funktionszeichen, wie F, f, f,, 9, b, die in einem gegebenen Zusammenhang vorkommenden Funk- tionsformen trennt. Hieran schließt sich dann unmittelbar der Ge- brauch stehender Zeichen für gewisse in der höheren Mathematik öfter vorkommende Funktionsformen. Diese Anwendung der Funktionssym- bole gestattet es außerdem leicht, die Wahl der abhängig Variabeln und des Argumentes unbestimmt zu lassen, indem man statt der Be- ziehungen y=f(z), y=f(z,2...) die Gleichungen ENZUTELZLEN N aufstellt. Diese impliziten Funktionen repräsentieren den Be- griff der Funktion in der allgemeinsten Form, die für ihn möglich ist, insofern sie lediglich angeben, daß eine Abhängigkeit zwischen ge- wissen Variabeln besteht. Der Übergang zu der expliziten Funktion oder zu der Voraussetzung, daß irgend welche Variabeln als die ursprünglich Veränderlichen angesehen werden, von denen dann die anderen abhängen, erscheint auf diese Weise schon als eine Spe- zialisierung dieses allgemeinsten Begrifis. b. Die Hauptformen der analytischen Funktionen. Der Begriff der analytischen Funktion ist aus den algebraischen Operationen hervorgegangen. Die algebraische Gleichung, als Aus- druck einer Relation zwischen gegebenen völlig bestimmten Größen, verwandelte sıch in einen Funktionsausdruck, sobald zwei oder mehrere dieser Größen veränderlich angenommen wurden. Der Gesichtspunkt, den Descartes für die Untersuchung der Gleichungen einführte, ihre Zerlegung in einfache lineare Faktoren und die Rekonstruktion der höheren Gleichungen durch Multiplikation dieser Faktoren, ist daher auch für die Auffassung der Funktionen bestimmend geworden. (Vgl. S.172f.) Jede noch so verwickelte Funktion läßt sich als hervorgegangen aus der Verbindung linearer Funktionen betrachten, die in begrenzter oder in unbegrenzter Anzahl zusammentreten. Die allgemeine Form, auf die alle Gleichungen zurückgeführt werden können, wird daher zur allgemeinen Grundform der analytischen Funktionen, sobald man mindestens zwei voneinander abhängige Variabeln in sie einführt. Auf diese Weise ist die Form y=A-+Bx-t 0x? De’-+... Per+0a-+... die Grundform einer entwickelten Funktion mit einem Argumentes 23230 Die Logik der Mathematik. Diese Reihe kann je nach der Beschaffenheit der Funktion entweder bei einem bestimmten Gliede abbrechen, oder sie kann ohne Ende fortschreiten, in welchem Fall aber ihr Wert nur dann sich bestimmen läßt, wenn die Glieder immer kleiner werden und sich schließlich der Null nähern. Während nun die Algebra von der einfachsten Form der Funktion ausging und auf sie allmählich die verwickelteren zurück- führte, wobei sie jedoch stets an der Voraussetzung einer begrenzten Zahl von Gliedern festhielt, legt umgekehrt die Analysis sofort jene allgemeinste Form, die sie außerdem als nicht notwendig begrenzt voraussetzt, ihren Untersuchungen zu Grunde, um durch Einführung spezieller Bedingungen aus ihr die einzelnen Hauptformen analytischer Funktionen abzuleiten. Diese ihre erste Voraussetzung entnimmt somit die Analysis der Algebra. Sie fügt nur noch die weitere Annahme hinzu, daß sich die angegebene Reihe zur Darstellung jeder beliebigen Funktion eigne, sobald man eine unbegrenzte Zahl von Gliedern zulasse. Diese Annahme stützt sich auf die Erwägung, daß eine algebraische Gleichung nur deshalb ein geschlossener Ausdruck ist, weil sie aus einer begrenzten Anwendung der arithmetischen Fundamentaloperationen hervorging, daß aber anderseits keine irgendwie beschaffene Funktion denkbar ist, welche nicht durch eine sukzessive Anwendung jener vier Operationen entstehen könnte. Wenn es demnach Funktionen gibt, die nicht in der geschlossenen Form einer algebraischen Gleichung ausgedrückt werden können, so kann dies nur darin seinen Grund haben, daß die Zahl der Operationen, die zur Bildung solcher Funktionen geführt haben, keine bestimmt begrenzte gewesen ist. Denkt man sich nun die Opera- tionen, aus denen eine algebraische Gleichung beliebigen Grades her- vorgeht, ins Unbegrenzte fortgesetzt, so entsteht jene Grundform der Analysis, welche dann als speziellen Fall auch jede algebraische Glei- chung in sich enthält. Die Möglichkeit der Anwendung der angegebenen Grundform auf alle einzelnen Funktionen beruht demnach zunächst auf der Unbestimmt- heit der Koeffizienten A, B,C.. Die Umwandlung der allgemeinen Form in eine besondere Funktionsform geschieht dann stets auf solche Weise, daß aus den für die Funktion geltenden Voraussetzungen Spezialglei- chungen entwickelt werden, aus denen die Koeffizienten A, B,C... gefunden werden können. Auf das in dieser Methode der unbestimmten Koeffizienten zur höchsten Ausbildung gelangte logische Fundamental- prinzip der Analysis, daß ein gegebenes Problem zum Zweck seiner Lösung als bereits gelöst vorausgesetzt wird, wurde schon hingewiesen (8. 176). Die Anwendbarkeit desselben im vorliegenden Fall beruht Die analytischen Funktionen. 221 aber darauf, daß in jener Reihe wirklich der oberste Begriff einer ana- lytischen Funktion enthalten ist, der demnach auch durch geeignete Determinationen in jeden unter ihm enthaltenen besonderen Funk- tionsbegriff übergeführt werden kann. Die Herstellung der Grund- form liefert überdies ein einfaches Kriterium für die Entscheidung der Frage, ob zwei gegebene Funktionen mit einer gleichen Anzahl von Veränderlichen einander gleich sind oder nicht. Dieses Kriterium besteht in der Identität der Koeffizienten, welche einander entsprechenden Glie- dern der beiden Reihen zugehören. Zugleich liegt hierin ein neuer Fall vor, in welchem der allgemeine arithmetische Begriff der Gleichheit durch die Bedingungen, unter denen er Anwendung findet, näher deter- miniert wird. Wie früher die Geometrie durch die Herbeiziehung des Begrifis der Lage, so sehen wir hier die Analysis durch die Eigenschaften des Funktionsbegrifis zu einer solchen Umgestaltung der ursprünglich bloß auf das numerische Maß gegründeten arithmetischen Gleichheit gelangen. Alle diese Umgestaltungen sind einig in der Tendenz, den für viele Zwecke allzu unbestimmten Begriff der numerischen Gleichheit in denjenigen der logischen Identität überzuführen. Bei ihrem ursprünglichen Gleichheitsbegriff mußte die Arithmetik von allen denjenigen Momenten der Identität abstrahieren, die einer unmittelbaren messenden Vergleichung getrennter Gebilde im Wege stehen. Bei der weiteren Ausbildung ihrer Methoden wird sie ebenso unvermeidlich zu einer immer umfassenderen Berücksichtigung der Eigentümlichkeiten der verglichenen Gebilde und auf diese Weise zu einer Wiederannäherung an die logische Identität getrieben. Die Entwicklung der Hauptformen, in die der Funktionsbegrift zerfällt, läßt sich nunmehr unmittelbar an die Betrachtungen an- schließen, die zur Aufstellung der analytischen Grundform ge- führt haben. Ist diese aus einer zunächst unbeschränkt gedachten Anwendung der vier arithmetischen Operationen hervorgegangen, so werden sich die einzelnen Hauptformen gewinnen lassen, wenn man für die Anwendung der Operationen besondere Bedingungen einführt. Solche können sich beziehen: 1) auf die Anzahl der Opera- tionen, 2) auf de Anzahlihrer Anwendungen, und 3)aufdie Reihenfolge derletzteren. Die Einführung dieser Bedingungen zeigt, daß die so entstehenden Hauptformen der Funk- tionen kontinuierlich miteinander zusammenhängen, insofern die Opera- tionen, aus deren Hinzunahme eine neue Form entspringt, bei einer vorangegangenen immer bereits vorbereitet sind. Die Einführung der ersten unter den drei genannten Bedin- 222 Die Logik der Mathematik. gungen läßt so zunächst verschiedene Formen algebraischer Funktionen entstehen. Da alle Funktionen, die einer be- grenzten Anwendung der vier arithmetischen Operationen entsprechen, algebraische genannt werden, so kann eine weitere Einteilung der- selben nur darauf beruhen, ob jene vier Operationen sämtlich bei der Bildung der Funktion mitgewirkt haben oder nicht. Logisch würden sich demgemäß unterscheiden lassen Funktionen, die aus bloßen Additionen, solche, die aus Additionen und Subtraktionen entstanden sind, andere, bei denen die Multiplikation mitgewirkt hat, und endlich diejenigen, bei denen auch noch die Division herbeigezogen wird. Nur der letztere Fall begründet aber wesentliche Unterschiede in der Beschaffenheit der Funktionen. Aus ihr entspringt die wichtige Einteilung inganzeundingebrochene.algebraische Funktionen. Die ganzen Funktionen bestehen immer aus einer be- grenzten Anzahl von Gliedern; denn die entwickelte Funktion mit einer Variabeln läßt sich stets entstanden denken aus der Multipli- kation einer beschränkten Anzahl von Faktoren von der Form (c-+ o). (<+&ß.(@ +)... ., wobei einzelne Größen null, niemals aber Brüche sein können. Die , Zahl dieser Faktoren und der Glieder, welche in der aus ihnen gewonnenen geschlossenen Grundform y=4A+DBxr-+ (x-t...0x stehen bleiben, bestimmt den Grad der Funktion. Bleibt bloß das erste Glied, so ist die Funktion nullten Grades; die weiteren Grade entsprechen den Potenzen der Veränderlichen x. Vermöge ihrer Ent- stehungsweise kann eine gegebene ganze Funktion im allgemeinen auf algebraischem Wege auch wieder in ihre Teile, in Faktoren des ersten Grades, zerlegt werden; nur bedarf es zu diesem Zweck stets der Hinzu- ziehung der vierten Operation, der Division. Auch gibt es einen Spezialfall, wo diese Zerlegung innerhalb der realen Einheiten nicht möglich ist. Er ergibt sich überall da, wo eine Summe von Potenzen von der Form a? —b? in die Funktion eingeht. Diese Summe kann nur in die komplexen linearen Faktoren (a—-bi). (a — bi) zerlegt werden. Auf diese Weise führt schon die ganze Funktion auf den Begriff der komplexen Größe, durch den sie, wie wir unten sehen werden, im Zusammenhang steht mit den transzendenten Funktionen. Wenn außer den drei ersten arithmetischen Operationen auch noch die Division bei der Bildung einer algebraischen Funktion mit- wirkt, so gewinnt nun diese die Beschaffenheit einer gebrochenen Funktion. Denkt man sich die letztere, ähnlich wie die ganze Die analytischen Funktionen. 223 Funktion, aus linearen Faktoren hervorgegangen, so wird man eine Anzahl von Faktoren ( +o).(e &ß).(e ty)... erhalten, die den Zähler, und eine andere Anzahl von Faktoren (e + a‘). («+ ß‘). (+ Y')..., die den Nenner der gebrochenen Funktion bilden. Jede gebrochene Funktion = F (z) läßt sich daher als Quotient zweier ganzer Funktionen f “ betrachten, der entweder, wenn die Division ohne Rest aufgeht, auf eine einzige ganze Funktion » (x) zurückführt oder, im entgegengesetzten Fall, neben der Funktion b (x) einen Rest r zurückläßt, der die Form einer niedrigeren Funktion von x hat, welche abermals durch den Nenner p (x) geteilt werden muß. Mittels der Ein- führung negativer Potenzen von x läßt sich nun der so gewonnene echte Bruch — (@) Auf diese Weise erhält man schließlich eine Reihe von der Form in eine neue ganze Funktion und in einen Rest zerlegen. ++: ?(@) welche ins unendliche fortschreitet, deren Glieder aber kleiner und kleiner werden. Somit läßt sich auch eine gebrochene Funktion mittels der Einführung unbestimmter Koeffizienten stets auf die allgemeine analytische Grundform, eine Reihe mit steigenden Potenzen der Variabeln, zurückführen; die Zahl der Glieder einer solchen Reihe wird aber in diesem Falle, sobald die ursprüngliche Funktion selbst einen echten Bruch darstellt oder in eine ganze Funktion und in einen echten Bruch zerlegt werden kann, unbegrenzt. Hierdurch überschreiten die gebrochenen Funktionen das Gebiet der Algebra, auf dem sie ent- standen sind. Hervorgegangen aus einer begrenzten Anzahl von An- wendungen der vier arithmetischen Operationen, sind sie dem Begrift der algebraischen Funktion unterzuordnen. Aber sobald es sich darum handelt, ihren Wert durch Summation der Reihe, in die sie ent- wickelt worden sind, zu bestimmen, so übersteigt dies die Hilfsmittel der algebraischen Operationen, da die Glieder jener Reihe an Zahl un- beschränkt sind. Nur unter der Voraussetzung, daß schon eine begrenzte Anzahl von Gliedern eine zureichende Wertbestimmung gestattet, reichen hier die algebraischen Methoden noch aus. Wie auf diese Weise der Begriff der ganzen Funktion zu dem der gebrochenen führt, sobald man annimmt, daß die bei der Zerlegung einer ganzen Funktion erforderlichen Operationen sämtlich auch bei der Bildung einer Funktion verwendet werden, so vermittelt nun 224 Die Logik der Mathematik. eine ähnliche, an den Begriff der gebrochenen Funktion sich an- schließende Umkehrung den Übergang von dieser zu den trans- zendenten Funktionen. Die Zerlegung einer gebrochenen Funktion läßt sich nämlich nicht mehr in allgemeingültiger Weise auf algebraischem Wege vornehmen, weil diese Zerlegung eine unbegrenzte Anzahl in bestimmter Reihenfolge auszuführender arithmetischer Operationen erfordern würde. Sobald man aber voraussetzt, daß auf eben diesem Wege einer unbegrenzten Anzahl von Operationen eine Funktion en t- stehe, so gewinnt man damit den Begriff der transzendenten Funk- tion. Wir kommen damit auf den zweiten.der oben für die Einteilung der Funktionen geltend gemachten Gesichtspunkte: auf die Anzahl derAnwendungen, welche die arithmetischen Operationen er- fahren müssen, um eine Funktion hervorzubringen. Den Fall, wo diese Anzahl eine beschränkte ist, bilden die algebraischen, den Fall, wosieeineunbeschränktewird,dietranszendenten Funktionen. Die einfachste Form, die hier möglich ist, lehnt sich an die ein- fachste Form einer algebraischen Funktion an. Diese letztere ist in Bezug auf zwei Variabeln gegeben in einer Gleichung VT: in welcher das Argument x alle möglichen rationalen und irrationalen Werte durchlaufen kann, der Exponent a aber konstant ist und zwar eine rationale positive Zahl bedeutet. Kehrt man nun auf der rechten Seite dieser Gleichung das Verhältnis der Variabeln und Konstanten um, indem man den Exponenten zum Argument der Funktion nimmt, so entsteht de Exponentialfunktion ya". Es ist klar, daß hier der genaue Wert von y im allgemeinen nicht mehr durch eine begrenzte Anzahl von Operationen gewonnen werden kann. Denn sobald & bei seiner Veränderung irrationale Werte durchläuft, so können solche zunächst mit beliebiger Annäherung durch einen un- echten Bruch dargestellt werden, der, wenn die Division wirklich aus- geführt wird, in eine rationale Zahl und eine unbegrenzte Reihe echter Brüche, die sich immer mehr der Null nähern, zerfällt. Die Bildung der Funktion führt also hier auf eine ähnliche unendliche Reihe, wie sie bei der Zerlegung einer gebrochenen Funktion sich ergibt. Demnach kann auch die Funktion a” auf die analytische Grundform A + Bx +(0z2?-+...zurückgeführt werden, wenn die Anzahl der Glieder der- selben unbegrenzt angenommen wird. Die analytischen Funktionen. 225 Die wesentlichen Eigenschaften der Exponentialfunktion, die sich unmittelbar aus dem Wesen der Multiplikation ergeben, sind nun ausgedrückt in den zwei für alle Fälle, in denen a>1 ist, gültigen Gleichungen: az arı a”. aa = a”+tzı und hr] 2-72]. Diese Eigenschaften liefern die Bedingungen, durch welche die all- gemeine Grundform der analytischen Funktionen in einen Ausdruck für die Exponentialfunktion übergeht. Sie bestehen darin, daß der erste der unbestimmten Koeffizienten —= 1 und die übrigen den Potenzen der Veränderlichen konform werden. Man gewinnt nämlich: A?x? A°x? A*x* ee Asa Ta 5 Taster und für den Spezialfall, daß die Konstante A=1 wird, x? x? a a 5 A a, welche Reihe schließlich für 2=1 den Wert von e=2,71828... ergibt. Der analytische Wert der Exponentialfunktion beruht auf den in der Beschaffenheit dieser Reihen ausgedrückten Beziehungen der Veränderungen der Funktion zu den Veränderungen ihres Ar- gumentes. In der Gleichung y=a” hat für jeden reellen positiven oder negativen Wert von x, unter der Voraussetzung, daß a größer als die Einheit ist, die Funktion ynur positive Werte, sie ist für jedes negative x kleiner als die Einheit, für jedes positive x größer als die Einheit und für ©—=0 der Einheit gleich; dabei entspricht übrigens jeder stetigen Änderung des Argumentes eine stetige Ände- rung der Funktion. Diese bietet demnach die Möglichkeit, jedes be- liebige System von Zahlen in ein positives Zahlensystem zu über- tragen, wobei die Beziehung zwischen beiden Systemen nur abhängig ist von der Konstanten a, welche darum die Basis der Exponential- funktion genannt wird. Die Eigenschaft der Exponentialfunktion, daß sie als die Repräsen- tantin eines neuen Zahlensystems angesehen werden kann, welches dem durch das Argument x dargestellten ursprünglichen Zahlensystem eindeutig zugeordnet ist, enthält nun aber außerdem die Möglichkeit zu einer weiteren wichtigen Anwendung. Es läßt sich nämlich diese Zuordnung umkehren, indem man x als Funktion und yals das zugehörige Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 15 236 Die Logik der Mathematik. Argument auffaßt: dann geht die Exponentialfunktion in dielogarith- mische Funktion z==log y über. Vermöge der oben festge- stellten Beziehungen entspricht hier jedem unter der Einheit liegenden Werte der Zahl x ein negativer Logarithmus, einem über der Einheit liegenden ein positiver, und der Logarithmus der Einheit ist die Null. Die oben gefundenen Gleichungen a* . a” — a” + *ı und - ara a ergeben aber die Beziehungen log (x.x,) = log x + log x,, log (--) = log x — log x,, log (21) —= x, log x, in welchen die große praktische Bedeutung der logarıthmischen Funk- tion ausgesprochen ist, daß sie jede arithmetische Operation von der Multiplikation an um eine Stufe zu erniedrigen gestattet. Theoretisch ist diese Umwandlung der Exponentialfunktion in die logarithmische deshalb von Interesse, weil in ihr zum ersten Male eine Umkehrbar- keit der Funktion auftritt, welche weiterhin bei allen höheren transzendenten Funktionen sich wiederholt, und welche vollständig der Umkehrbarkeit der arithmetischen Operationen entspricht, die bei den algebraischen Funktionen zur Anwendung kommen. Die Entwicklung der Zahl e, der Basis der natürlichen Logarithmen, bietet endlich ein bemerkenswertes Beispiel für eine in der Analysis vielfach geübte Methode der Begrifisentwicklung. Durch sukzessive Determination wurde e erhalten, indem man in der für a® gewonnenen Reihe zuerst die Konstante A und dann auch die Veränderliche x gleich der Einheit annahm. Gleichwohl läßt sich die so erhaltene Reihe l + 1 — — —— — ...„, welche die Zahl e darstellt, ihrerseits als die arithmetische Grundform ansehen, welche in der Entwicklung einer Funktion von der Form a schon vorausgesetzt ist. Denn unter einer Reihe von Zahlgesetzen von übereinstimmender Form ist dasjenige das einfachste und darum allgemeinste, dessen Faktoren der Einheit gleich sind, da man sich die übrigen Formen durch sukzessive Multi- plikation der Einheit mit anderen Zahlen kann entstanden denken. So bietet sich hier die Möglichkeit dar, eine und dieselbe analytische Form unter entgegengesetzten Gesichtspunkten zu betrachten. Der Grund dieses Verhältnisses liegt in der Eigentümlichkeit der logischen Determination. An sich ist diese stets eine Operation, die eine Einschrän- kung des Begriffs ergibt. Aber der Begriff, welcher als Determinator Die analytischen Funktionen. 227 gewählt wird, kann so beschaffen sein, daß er diese Einschränkung wieder aufhebt und in ihr Gegenteil verwandelt. In der Tat werden wir noch manche Fälle kennen lernen, in denen gerade die Analysis Begrifis- erweiterungen auf dem Wege der Determination zu stande bringt. Der vorliegende ist aber dadurch ausgezeichnet, daß bei ihm die Auf- fassung wechseln kann, je nachdem man von dem analytischen oder dem arithmetischen Standpunkte ausgeht. Analytisch ist die Reihe e ein Spezialfall der Funktion a”; arithmetisch dagegen ist e die Grund- form, die bei jeder Funktion a® vorausgesetzt wird. Die Bildung der Exponentialfunktion beruht auf der Annahme, daß die zur Anwendung kommenden arithmetischen Operationen zwar an Zahl unbegrenzt seien, daß sie aber stets in einer und derselben Richtung fortschreiten. Diese letztere Bedingung findet in der Reihe 222 a —=1-44Acx-+ z n +... unmittelbar ihren Ausdruck, denn die Glieder dieser Reihe sind sämtlich in der gleichen Weise additiv ver- bunden, und sie ändern sich sukzessiv um Az, us — u. 8. w. Die Exponentialfunktion läßt sich also durch sukzessive Multiplikation der Einheit mit diesen immer kleiner werdenden Faktoren und durch Addition der so gebildeten Glieder entstanden denken. Nur unter der Bedingung einer solchen stetig in der nämlichen Richtung vollzogenen Bildung ist es auch möglich, daß Funktion und Argument durch ihre stetige Veränderung einander eindeutig zugeordnete Zahlensysteme erzeugen, die miteinander zu- und abnehmen. Es läßt sich nun aber die unbeschränkte Anwendung der arithmetischen Operationen noch in einer anderen Weise vollzogen denken, so nämlich, daß der gleich- förmigen Änderung des Argumentes periodisch zu- und ab- nehmende Änderungen der Funktion entsprechen. Solche Funktionen werden im allgemeinen aus einer wechselnden Anwendung der arith- metischen Operationen hervorgehen, und die Reihe, die der Ausdruck der Funktion ist, wird daher niemals aus lauter positiven oder aus lauter negativen Gliedern bestehen können. Wir sind hiermit bei der dritten der oben (8. 221) unterschiedenen Bedingungen angelangt, wonach die Reihenfolge, in welcher die zur Bildung der Funk- tion erforderlichen Operationen angewandt werden, eine wechselnde ist. An sich kann dieser Wechsel ein beliebiger sein. Die hier sich er- öffnende Klasse von Funktionen umfaßt daher alle Funktionsbezieh- ungen, die außer den oben erörterten noch denkbar sind. Dabei bilden aber die einfachsten periodischen Funktionen, d. h. diejenigen, bei 228 Die Logik der Mathematik. denen die periodischen Veränderungen in der einfachsten und regel- mäßigsten Weise erfolgen, die Grundlagen für alle anderen. Der so entstehende Begriff der periodischen Funktion hat sich nun, wie fast jeder fundamentale Funktionsbegriff, ursprünglich in einer speziellen Anwendung entwickelt: in der Anwendung auf die Länge des Kreisbogens und die Seiten des ihm entsprechenden rechtwinkligen Dreiecks im Kreise. Ist der Radius des Kreises der Einheit gleich, so erscheint der Sinus eines Winkels zwischen zwei Radien als die senkrechte Gerade, die von dem Endpunkt des einen der beiden Einheitsradien auf den anderen gezogen wird, der Kosinus als die Strecke, die auf dem letzteren durch jene Senkrechte abgetrennt wird, und die dem Sinus des Ergänzungswinkels gleich ist, u. s. w. Der geometrische Nutzen dieser trigonometrischen Funktionen, durch den man zugleich auf deren Gebrauch geführt wurde, besteht da- rin, daß dieselben es gestatten, den Winkeln im rechtwinkligen Dreieck überall, wo sie in die Rechnung eingehen, gerade Linien zu substituieren, wodurch die notwendige Gleichförmigkeit zwischen den der Rechnung unterworfenen Größen hergestellt wird. Die trigono- metrischen Funktionen haben also hier, ähnlich den Logarithmen; die Bedeutung von Hilfsfunktionen, die es leicht ermöglichen, am Ende der Rechnung wieder zu den ursprünglichen Größen, zu denen sie gehören, zurückzukehren. Während aber bei der Einführung der Loga- rithmen die Vereinfachung der arithmetischen Operationen der einzige Zweck ist, wird man zur Einführung der trigonometrischen Funktionen durch die inkommensurable Beschaffenheit der Winkelgrößen oder Bogenlängen gegenüber dem allgemeinen Messungshilfsmittel der Geo- metrie, der Geraden, genötigt. Nun ist die Beziehung, die zwischen den Mittelpunktswinkeln des Kreises und ihren trigonometrischen Funktionen besteht, ein Spezialfall, der sich in ganz abstrakter Weise verallgemeinern läßt, indem man unter Sinus, Kosinus, Tangente u. s. w. Funktionen ver- steht, die sich periodisch verändern, während ihr Argument stetig zu- nimmt. Zählt man die Winkel oder die ihnen entsprechenden Bogen über 360° hinaus, so lassen sich dieselben als ein ins Unbegrenzte gleich- förmig wachsendes Argument betrachten, dessen Funktionen sich zwischen bestimmten Grenzen hin und her bewegen. Dabei gestattet dann die Verschiedenheit der trigonometrischen Funktionen die Wahl solcher Funktionen, welche für die darzustellende Abhängigkeit die geeig- neten Grenzen abgeben. Die Funktionen Sinus und Kosinus bewegen sich nämlich stets zwischen den Grenzen — lund + 1. Wenn das Argu- Die analytischen Funktionen. 229 Bi BL DER läuft der Sinus ebenfalls von Null an die Werte 4 1,0, — 1,0 u.s. w., während der Kosinus gleichzeitig von + 1 anfangend die parallel gehenden Werte 0, — 1,0, +1 annimmt. Die Funktionen Tangente und Kotangente dagegen bewegen sich ebenso periodisch zwischen den ment von Null an wachsend die Werte ‚2r erreicht, so durch- bil sin Grenzen 4 oo und — oo, wie die Beziehungen tang = Fee und kotang co cos i an andeuten. Irgend eine dieser vier Funktionen eignet sich daher unmittelbar zur Darstellung einer periodischen Veränderung, sofern dieselbe nur, wie beim Kreise, eine gleichförmig zu- und abnehmendeist. Bewegt sich die Funktion zwischen der positiven und negativen Einheit, so wird sie durch den Sinus oder Kosinus dar- gestellt, durch den ersteren, wenn sie mit Null, durch den zweiten, wenn sie mit der Einheit beginnt. Bewegt sie sich zwischen entgegen- gesetzten unendlichen Werten, so entspricht sie der Tangente oder Kotangente, der ersten, wenn sie mit Null, der zweiten, wenn sie im Unendlichen beginnt. Da nun die Einheit mit jedem beliebigen end- lichen Werte multipliziert werden kann, so sind die vier genannten trigonometrischen Funktionen überhaupt als die Repräsentanten aller gleichförmig veränderlichen periodischen Funktionen zu be- trachten, die sich zwischen beliebigen endlichen oder unendlichen Werten bewegen. Wie aber die Exponentialfunktion bei den Veränderungen des Argumentes x ein neues Zahlensystem liefert, welches dem durch die einzelnen Werte von x repräsentierten zugeordnet ist, so stellt jede der trigonometrischen Funktionen ein der stetig veränderlichen Bogenlänge x zugeordnetes Zahlensystem dar. Auch die trigonometri- schen Funktionen lassen daher, wenn man Argument und abhängig Variable vertauscht denkt, eine Umkehrung zu: es entstehen so die zyklometrischen Funktionen, welche die Eigenschaft haben, daß, während das Argument zwischen endlichen oder unendlichen Werten hin und her geht, die Funktion stetig ineiner Richtung veränderlich ist. Infolgedessen können einem und demselben Wert des Argumentes unendlich verschiedene Werte der Funktion entsprechen. MR SER OTE TE sein. Die zyklometrischen Funktionen sind also im allgemeinen viel- deutige Funktionen. Hierdurch sind sie geeignet, überhaupt den So kann z. B.arcsn 0 —(0,r,2r,3r...„arcsinl = 230 Die Logik der Mathematik. Begriff der Vieldeutigkeit einer Funktion zum Ausdruck zu bringen. Es steht aber dieser Begriff, wie aus der obigen Entwicklung hervorgeht, mit dem der Periodizität in unmittelbarer Beziehung. Vieldeutig kann eine Funktion überhaupt nur dann sein, wenn sie in irgend einer Weise mit einer periodischen Veränderung zusammenhängt. So haben wir früher gesehen, daß die Funktionen komplexer Variabeln den Charakter vieldeutiger Funktionen besitzen (S. 213). Nun kann aber diese Viel- deutigkeit auch so dargestellt werden, daß man sich die komplexe Variable = x --iy zwischen ihren beiden Endpunkten a und 5 hin und her gehend denkt, wodurch sie sukzessiv alle hier möglichen Wege beschreibt. Bei einem solchen Hin- und Hergehen findet nur eine wichtige Abweichung von der Beziehung der zyklometrischen Funk- tionen zu ihren Argumenten statt: die Kurven, welche zwischen den Punkten a und b beschrieben werden, fallen nicht zusammen, sondern sie wechseln fortwährend; außerdem können diese Kurven beliebig ge- krümmt sein, mit anderen Worten: das Problem der gleichförmigen verwandelt sich hier in dasjenige einer beliebigen ungleichförmigen Veränderung. Es ist aber klar, daß dieses Problem, abgesehen von dem besprochenen Spezialfall, eine ganz allgemeine Bedeutung besitzt, da die gleichförmige Veränderung in gegebenen Perioden nur die ein- fachste Form unter den unendlich vielen überhaupt möglichen periodi- schen Veränderungen ist. Hier bietet nun der Umstand, daß jeder trigonometrischen Funktion eine andere von entgegengesetzter Periode zugeordnet ist, ein Hilfsmittel dar, um eine in beliebiger Weise un- gleichförmige Veränderung darzustellen. In der einfachsten Weise kommt diese Ergänzung einander zugeordneter Funktionen bei der Darstellung komplexer Variabeln zum Ausdruck. Hier macht es die Einführung der trigonometrischen Funktionen unmittelbar möglich, den Ausdruck 2= 2 --iy in die Form 2=r (cos +: sin p) überzu- führen. Denkt man sich in dieser Gleichung sowohl den Radiusvektor r wie den Winkel » stetig veränderlich, so kann durch sie jeder beliebige Weg des Punktes z zwischen zwei gegebenen Endpunkten a und b dar- gestellt werden. Nun zeichnet sich aber die Form r (cos g-+-isin p) vor der ursprünglichen &-+iy offenbar dadurch aus, daß in ihr die beiden Bestandteile der komplexen Variabeln nicht mehr völlig unab- hängig voneinander, sondern Funktionen der nämlichen Größen r und p sind. Hierin tritt daher eine direkte Beziehung der trigonometrischen Funktionen zu den komplexen Größen zu Tage; und die Anwendung dieser Funktionen macht es möglich, den imaginären Bestandteil einer komplexen Größe durch eine Funktion der nämlichen Größe auszu- Die analytischen Funktionen. 231 drücken, von der auch der reelle Bestandteil eine Funktion ist. Der Grund dieses Verhältnisses liegt aber darin, daß die Beziehung einer trigonometrischen Funktion zu ihrer Ergänzungsfunktion genau dieselbe ist wie die Beziehung des imaginären zum reellen Bestandteil einer komplexen Größe, wenn die letztere geometrisch gedeutet wird. Geben wir dem Kosinus alle möglichen Werte von +1 bis — 1, so nimmt indessen der Sinus die hierzu gehörigen lateralen Werte an. Setzt man daher den Radius r, von dessen Zentriwinkeln die trigonometrischen Funktionen abhängen, veränderlich, so stellt jeder beliebige Punkt der komplexen Zahlenebene in Bezug auf seinen reellen Teil eine Kosinus- funktion, in Bezug auf seinen imaginären Teil eine Sinusfunktion dar. Vermöge der Beziehung der trigonometrischen Funktionen zu den kom- plexen Größen führt dann aber auch die Betrachtung der algebraischen Funktionen überall da zu dieser Form der transzendenten Funktionen, wo sich als Faktoren algebraischer Ausdrücke komplexe Größen er- geben. Solche treten z. B. dann auf, wenn in einer Funktion eine Summe von der Form a? +5? vorkommt, welche nur in die komplexen Faktoren (a + bi). (a — bi) zerlegbar ist (S. 222). Jeder solche Fak- tor läßt sich leicht in einer Form darstellen, die den Bedingungen der trigonometrischen Funktionen entspricht. Denn es ist offenbar a nern [Mae en en Hi V er et va) worin der in der Klammer enthaltene Teil, abgesehen von der ima- ginären Einheit z, die Eigenschaft hat, daß sein Quadrat der Einheit gleich ist, entsprechend der Gleichung cos®-+-sin®=1. Demnach lassen sich beide Glieder als Kosinus und Sinus eines Winkels 9 auffassen. Nicht minder entsprechen a und b den Katheten eines rechtwinkligen Dreiecks, dessen Hypotenuse der Radiusvektor r ist, und man erhält daher die oben allgemein für den Ausdruck einer komplexen Größe mittels trigonometrischer Funktionen festgestellte Beziehung: a+bi=r(csp -ising) Der tiefere Grund dieses Zusammenhangs liegt darin, daß die algebraischen Funktionen eben insoweit den Charakter periodischer Funktionen gewinnen, als sie komplexe Faktoren enthalten. Sobald die Wurzeln einer Funktion nten Grades komplex werden, so wird aber die Funktion periodisch, indem sie ebenso viele periodisch aufeinander- folgende Werte annimmt, als ihr Grad beträgt. Diese Eigenschaft ist eine naturgemäße Folge der schon oben berührten Vieldeutigkeit der 232 Die Logik der Mathematik. Funktionen komplexer Variabeln. Zu irgend einer reellen Zahl x kann man, wenn ihr Vorzeichen bestimmt ist, nur in einer Weise und, wenn ihr Vorzeichen unbestimmt gelassen ist, nur auf zwei Weisen gelangen, da das System der reellen Zahlen nach zwei entgegengesetzten Richtungen einfach ausgedehnt ist. Zu einer komplexen Zahl & 4% dagegen kann man auf vielfältige Weise gelangen, und die sämtlichen Wege lassen sich, da ein und derselbe Punkt ihren Anfangs- und End- punkt bildet, immer als Perioden einer zusammengesetzten Bewegung ansehen. In der Gleichung + iy=r (cosp-+-isinp) ist dies un- mittelbar ausgedrückt, da cos p und sin $ wegen der Beziehungen cos = cos (p+2r7)—=cos(p+4r)...,sinp—=sin (p+27)...u.s.w. vieldeutige Größen sind. Wenn sich auf diese Weise die trigonometrischen Funktionen unter bestimmten Bedingungen aus den algebraischen entwickeln, so ist es nun eine naheliegende Folgerung, daß sie auch, gleich ihnen, sich auf die allgemeine analytische Form zurückführen lassen. Nur ist dabei wegen der Periodizität der Funktionen vorauszusetzen, daß die Glieder der Reihe abwechselnde Vorzeichen annehmen. In der Tat erhält man, wenn man erwägt, daß sin 0O—0 und cos 0=]1 ist, und wenn man aus den bekannten Beziehungen sin? 2—+ cos®x—=1 und sin22 —=2sinz®. cos x Bedingungsgleichungen für die Koeffizienten entwickelt, für die beiden Grundfunktionen Sinus und Kosinus die Reihen: i 2° > Ein a2 5 a ae 2 4 cs z—=1— 2 2 1.2 a: 1 or a In Diese Reihen lassen sofort eine nahe Beziehung erkennen zwischen den trigonometrischen Funktionen und der Exponentialfunktion. Ent- wickelt man die letztere für ein imaginäres Argument i x, so erhält man X 2 i > c* em = 1452 ,375 Spore woraus sich die Beziehung ergibt: e*— cost 4 :;sin tz. Der letztere Ausdruck stimmt mit dem allgemein für eine komplexe Größe gefundenen Funktionsausdruck r (cos + sin p) überein, wenn in diesem der Radiusvektor r gleich der Einheit angenommen wird. Demnach lassen sich die trigonometrischen Funktionen als Exponential- Der Differentialbegriff. 233 funktionen imaginärer Argumente betrachten, und komplexe Größen sowie periodische Funktionen können ebensowohl in der Form der trigonometrischen Funktion wie in derjenigen der Exponentialfunktion dargestellt werden. Wie wir die trigonometrische Funktion aus der algebraischen sich entwickeln sahen, sobald sich diese auf komplexe Werte bezieht, so geht sie aus der Exponentialfunktion dann hervor, wenn in dieser die willkürlich Veränderliche imaginär wird. Auf diesen periodischen Eigenschaften beruht die Möglichkeit der Anwendung der trigonometrischen Funktionen zum Ausdruck ganz beliebiger und beliebig wechselnder Beziehungen zwischen zwei Veränderlichen. Denn wenn man die trigonometrischen Funktionen in solcher Weise kombiniert, daß sie unregelmäßig wechselnde und veränderliche Perioden darstellen, so kann auf die Form derselben jede willkürliche Funktion zurückgeführt werden (S. 216). 2. Der Differentialbegriff. a. Allgemeine Entwicklung des Differentialbegriffs. Aus der Anwendung der Zahl auf stetige Größen ist zunächst, wie wir sahen, die irrationale Zahl, aus dieser die algebraische Verall- gemeinerung der arithmetischen Methoden und aus der letzteren end- lich der Begriff der analytischen Funktion als der Abhängigkeitsbezieh- ung zwischen stetig veränderlichen Größen hervorgegangen. So lange es sich nun allein darum handelt, aus einer durch ein bestimmtes Gesetz vorgeschriebenen Abhängigkeitsbeziehung diejenigen Werte einer Ver- änderlichen abzuleiten, welche bestimmten Werten anderer willkürlich veränderlicher Größen entsprechen, so überschreitet diese Aufgabe im allgemeinen nicht die bisher eingehaltenen Grenzen der Analysis. Ist nur die Gleichung gegeben, welche die Funktion ausdrückt, so kann durch Einführung der speziellen Werte des Argumentes auch die Auf- gabe gelöst werden. Ebenso kann man zu der Aufstellung von Gleich- ungen für die Funktionsbeziehungen mittels der wiederholten Aus- führung der gewöhnlichen arithmetischen Operationen gelangen, wenn sich eine zusammengesetzte Funktion in eine begrenzte Anzahl linearer Funktionen zerlegen läßt, was bei den algebraischen Funktionen immer zutrifft, oder wenn die Abhängigkeitsbeziehung für alle Werte der Funktion einer bestimmten durch eine einfache Exponential- oder Kreisfunktion gegebenen Regel folgt, wie dies bei den elementaren Formen der transzendenten Funktionen der Fall ist. Hier überall hat man es zwar nicht bloß mit veränderlichen Größen, sondern auch mit 234 Die Logik der Mathematik. veränderlichen Beziehungen zwischen ihnen zu tun; aber die Konstanz des Gesetzes, welchem die Funktion folgt, gestattet für einen weiten Bereich von Aufgaben von dieser Veränderlichkeit zu abstrahieren. Dagegen ist dies nicht mehr möglich, sobald die konstanten Be- ziehungen, die der analytische Ausdruck einer Funktion enthält, nicht ausreichen, um mit ihrer Hilfe auch veränderliche Beziehungen aufzu- finden. So ist es zwar für einfachere algebraische Kurven leicht, die Richtung der Tangente zu ermitteln, welche an irgend einen durch gegebene Koordinaten bestimmten Punkt gelegt werden kann, indem man aus der Gleichung der Kurve analytisch die Gleichung derjenigen Geraden ableitet, die der Tangente entspricht. Bei den höheren alge- braischen Kurven wird aber diese Aufgabe sehr verwickelt, und bei den transzendenten ist sie auf algebraischem Wege nicht mehr zu lösen. Da sich die Richtung der Tangente stetig von Punkt zu Punkt verändert, so kann eine allgemeingültige Methode zur Lösung des Tangentenproblems in der Tat nur aufgefunden werden, wenn es gelingt, der stetig veränderlichen Richtung einer Kurve in dem allgemeinen Ausdruck für die Tangente Rechnung zu tragen. Ebenso ist es in der Regel nicht möglich, durch die gewöhnlichen arithmetischen Hilfs- mittel zu bestimmen, welche Werte von y in einer Funktion „=f(x) Maximal- oder Minimalwerte sind, die zwischen Änderungen von ent- gegengesetzter Richtung liegen. Da solche ausgezeichnete Werte der Funktion Wendepunkte zwischen vollkommen stetigen Änderungen dar- stellen, so setzt ihre Ermittlung im allgemeinen ebenfalls die Berücksichti- gung dieser stetigen Änderungen voraus. Die nämliche Forderung pflegt sich endlich dann einzustellen, wenn es sich darum handelt, den gesam- ten Betrag aller der Werte zu bestimmen, die eine Funktion annimmt, wenn ihre Argumente sich stetig zwischen gewissen Grenzen verändern. Hierher gehört also z. B. die Bestimmung der Länge einer Kurve, des Flächeninhalts einer von einer Kurve begrenzten ebenen Fläche, einer krummen Oberfläche u. s. w. Gerade hier übersteigen schon verhältnis- mäßig elementare Aufgaben, wie die Messung der Kreisperipherie, die Hilfsmittel der niederen Arıthmetik. Aufgaben dieser Art sind es daher, durch die der Begriff derstetigveränderlichenFunktion Eingang in die analytische Untersuchung gefunden hat. Da aber unsere Vorstellungen ebenso wie die Dinge außer uns in einem stetigen Flusse von Veränderungen begriffen sind, so hat durch diese letzte Erweiterung erst der Funktionsbegriff diejenige Form angenommen, in der er den Objekten seiner Anwendung vollkommen adäquat geworden ist. So schließt mit den Grundbegriffen der Infinitesimalmethode der Kreis Der Differentialbegriff. 235 von Entwicklungen ab, der mit dem primitiven Begriff der posi- tiven Zahl begonnen hat, und aus dem wir alle fundamentalen Methoden der Mathematik allmählich entspringen sahen. Der Begriff der stetigen Änderung einer Funktion bedarf jedoch einer angemessenen Fixierung, wenn er eine arithmetische Verwendung soll finden können. Eine solche kann nur darin bestehen, daß man sich die veränderliche Beziehung, die an sich die numerische Messung aus- schließt, in Elemente zerlegt denkt, in denen die Veränderung auf- gehoben ist. So entsteht der Grundbegrift der Infinitesimalmethode, der Differentialbegriff. Zur näheren Begründung desselben kann man aber auf verschiedenen Wegen gelangen. Einerseits erwächst er mit innerer Notwendigkeit aus den einzelnen Gebieten seiner An- wendung; anderseits ergibt er sich als eine unerläßliche Weiterbildung des allgemeinen Funktionsbegrifis. Geht man von den in der Anschauung gegebenen Beziehungen aus, so verknüpft sich der Begriff der stetigen Änderung am unmittelbarsten mit der Vorstellung der Bewegung: sie liegt der Fluxionsmethode Newtons zu Grunde. Eine zweite Quelle desselben von noch allgemeinerer Anwendbarkeit ist in der Betrachtung geometrischer Objekte gegeben: hieraus ist der Leibnizsche Differentialbegriff hervorgegangen. Sodann führt der Grundbegriff der Arithmetik, die Zahl, auf einem allgemeineren Wege zu der nämlichen Auffassung. Der so entstandene Differentialbegriff Eulers nötigt aber, sobald man das Differential in seinem Verhältnis zu den ursprünglichen Größen unter dem Gesichtspunkte der Funktion auffaßt, zu dem letzten und allgemeinsten Infinitesimalbegriff, zu Lagranges derivierter Funktion. Diese verschiedenen Begründungen des Differentialbegrifis sind an sich vollkommen miteinander vereinbar. Doch bei der Aufstellung der- selben sind außerdem Gegensätze der Anschauungen wirksam gewesen, die teils mit den Schwierigkeiten des unteren und oberen Grenzbegrifts, teils mit der verschiedenen Auffassung der mathematischen Grund- begriffe zusammenhängen. (Vgl. oben S. 113 und 161.) Indem der mathematische Realismus das Element einer veränderlichen Be- ziehung als ein wirklich existierendes denkt, ist er geneigt, in dem Differential eine elementare Größe zu sehen, die einen ebenso fest be- stimmten Wert besitze wie die endliche Größe, von der sie sich nur dadurch unterscheide, daß sie nicht meßbar sei. Diesem unteren steht das Unendliche als der obere absolute Grenzbegriff gegenüber. Dem mathematischn Nominalismus dagegen gilt das Differential lediglich als ein Hilfsbegriff des rechnenden Denkens. Eine wirklich 236 Die Logik der Mathematik. momentane Veränderung gibt es nicht; denn jede noch so kleine Zeit-, Raum- oder Zahlgröße läßt sich weiter geteilt denken. Wir be- gnügen uns daher, eine derartige Teilung als Forderung aufzustellen und in der weiteren Rechnung so zu verfahren, als wenn die Forderung erfüllt wäre. Diesem Postulat einer unteren Grenze wird dann das Unendliche als eine ähnliche Fiktion einer oberen Grenze, die in belie- bigen Annäherungen erreicht werden könne, gegenübergestellt. Auf diese Weise bemächtigen sich hier die entgegengesetzten mathematischen Anschauungen der verschiedenen Gestaltungen der beiden Grenz- begriffe.. Der Realismus behandelt das Differential als eine trans- finite, der Nominalismus als eineinfinite Größe. Dabei werden aber freilich die Standpunkte nicht immer folgerichtig festgehalten. So schwankt schon Leibniz zwischen beiden, obgleich ursprünglich sein philosophischer Gegensatz zu Newton gerade darin besteht, daß dieser den infiniten, er selbst den transfiniten Begriff vertritt. Unter den Nachfolgenden machte Euler den Versuch, den letzteren festzuhalten, während hauptsächlich d’Alembert und Lagrange die mathematische Folgerichtigkeit und Fruchtbarkeit des infiniten Grenzbegrifis ins Licht setzten. Trotzdem hat man noch in neuerer Zeit die Gleichberech- tigung beider Standpunkte verteidigt*).. Nun haben wir in der Tat gesehen, daß die beiden Formen der Grenzbegrifie, die diesem Streit zu Grunde liegen, ihre logische Berechtigung besitzen. Aber es ist zugleich aus den für diese Begriffe gewonnenen Bestimmungen er- sichtlich, daß innerhalb der Infinitesimalmethode nur dieinfiniten Grenzbegriffe zulässig und verwertbar sind. Denn diese Methode ist aus der Untersuchung stetig veränderlicher Funktionen hervorgegangen. Innerhalb dieser Untersuchung kann es sich nun immer nur um den- jenigen Grenzbegriffi handeln, welcher die Grenze einer ver- änderlichen Größe bezeichnet. Wenn es hierfür noch eines Beweises bedarf, so wird derselbe durch die Entwicklung der Infini- tesimalbegriffe geliefert. Denn so wenig man sich bei derselben auch des verborgenen Kampfes bewußt gewesen ist, den hier die beiden Un- *), P. du Bois Reymond, Allgemeine Funktionentheorie, I, S. 58 ff. Der Verf. ist, wie ich glaube, zu seiner Auffassung nicht bloß durch die Ver- kennung der beiden Formen des Unendlichkeitsbegrifis, sondern auch durch den Umstand geführt worden, daß er die Ansichten des Realismus und des Nominalismus über das Wesen der mathematischen Begriffe überhaupt für gleichberechtigt hält. Wir haben aber gesehen, daß in dieser Beziehung beide Standpunkte unhaltbar sind, weil sie die Natur der mathematischen Abstraktion entweder übersehen oder unrichtig auffassen. Vgl. hierzu oben S. 113 ff. Der Differentialbegriff. 237 endlichkeitsbegriffe miteinander führten, so kann es doch keinem Zweifel unterliegen, daß die Auffassungen, die Newton in seiner Grenzmethode und Lagrange in seinem Funktionenkalkül zur Geltung gebracht, den Sieg behauptet haben. Diesen Sieg verdanken aber beide Methoden dem Umstande, daß sie den Differentialbegriffi am unmittelbarsten mit den sonstigen Entwicklungen des Zahl- und Funktionsbegrifts verbinden, und daß sie daher auch bei den Anwendungen der In- finitesimalmethode die Natur der dabei vorliegenden Probleme am vollkommensten zum Ausdruck bringen. Zugleich ergänzen sich beide Auffassungen wieder in dem Sinne, daß die Grenzmethode vor allem der Anwendung auf anschaulich gegebene, stetig veränderliche Größen, also auf geometrische und mechanische Aufgaben, der reine Begriff der abgeleiteten Funktion aber den rein analytischen Betrachtungen adäquat ist. Bei dem engen Zusammenhang dieser Gebiete hat es jedoch von frühe an auch nicht an Verbindungen zwischen beiden Auffassungen der In- finitesimalmethode gefehlt, da diese in der Tat im Grunde nur die ver- schiedenen Standpunkte bezeichnen, von denen aus die Abhängigkeits- beziehungen stetig veränderlicher Größen betrachtet werden können*). b. Der phoronomische Differentialbegriff. Die Vorstellung der Bewegung reicht zwar nicht aus, um den Differentialbegriff in seiner ganzen Allgemeinheit zu erschöpfen; aber für seine einfachsten Anwendungen liefert sie die anschaulichste Dar- stellung. Um den Begriff der Bewegung loszulösen von allem, was für ihn unwesentlich ist, müssen wir ıhn beschränken auf die abstrakte Auffassung einer Ortsveränderung in der Zeit, dagegen von der Form des zurückgelegten Weges vollkommen absehen. In dieser abstrakten Auffassung enthält der Begriff der Bewegung Zeit und Raum als fort- während fließende Größen oder Fluenten nach dem Ausdruck Newtons, und zwar die Zeit als eine gleichförmig wachsende Größe, den Raum als eine Größe, die nach den verschiedensten Gesetzen mit dem Wachstum der Zeit sich verändern kann. Denkt man sich nun die Zeitgrößen auf einer Abszissenlinie, die Ortsveränderungen als zu ihr senkrechte Ordinaten aufgetragen, so liefert die durch die Verbindung der letzteren gewonnene Kurve ein Bild der Geschwindigkeit und ihres Wechsels in jedem Momente der Bewegung. Indem man dann jede be- *) Zur Geschichte der Infinitesimalmethode in mathematischer Hinsicht vgl. M.Cantor, Geschichte der Mathematik, Bd. 3, und für die neueste Zeit A. Voß, Enzyklopädie der mathem. Wissensch., II. A. 2, S. 54 ff. 238 Die Logik der Mathematik. liebige Größenänderung als eine Bewegung auffaßt, die in einer ge- wissen Zeit sich vollzieht, gewinnt man in dem einzelnen Zeitmoment und in der demselben entsprechenden momentanen Geschwindigkeit oder in den von Newton so genannten Fluxionen elementare Be- griffe, welchen die dem Begriff der Veränderung mangelnde Konstanz zukommt, während die Vorstellung eines stetigen Flusses, ohne die keine Veränderung möglich ist, in ihnen erhalten blieb*). Die Schwie- rigkeiten des Differentialbegrifis sind dadurch nicht beseitigt, aber sie sind in den fundamentaleren Begriff der Bewegung zurückverlegt, und sie müssen darum auch zunächst durch die Zergliederung dieses Be- griffes gelöst werden. Nun ist es bekanntlich von dem Eleaten Zeno bereits als ein Wider- spruch in dem Begriff der Bewegung angesehen worden, daß dieselbe in fortwährendem Flusse begriffen und doch in einzelne Momente zer- legbar sei, in denen der bewegte Körper bestimmte Orte im Raume einnehme. Herbart hat hier den Ausweg eingeschlagen, daß er die Zeit aus unveränderlichen Zeitpunkten bestehen läßt, so daß der Zenonische Satz wirklich seine Gültigkeit behält: das Bewegte ruht in jedem Punkte seiner Bahn. Die Bewegung selbst wird dann zu einem objektiven Schein, und der angebliche Widerspruch, der im Begriff der Bewegung liegt, verschwindet, weil es in der Welt des Realen weder eine stetige Änderung noch überhaupt ein Kontinuum gibt**). Uns ist mit dieser Auskunft wenig geholfen. Denn der Differentialbegriff bezieht sich gerade auf jenen objektiven Schein Herbarts, in welchem nur stetige Änderungen vorkommen. In Wahrheit fällt aber dem Eleatischen Widerspruch nicht eine Vermengung des Intelligibeln und Sinnlichen, sondern zunächst nur eine Verwechslung jener beiden Grenzbegriffe zur Last, denen wir arithmetisch den gleichen Wert Null beilegen, obgleich wir jedesmal mit diesem Wert einen verschiedenen Begriff verbinden. (Vgl. 8. 161 f.) Die Bewegung des Pfeils in jedem Punkt seiner Bahn ist wirklich gleich Null, aber diese Null ist nicht die auf- gehobene, sondern die verschwindende Größe. Jene würde, auch wenn wir sie unendlich oft wiederholt dächten, immer gleich Null bleiben; diese ist das Resultat einer Zerlegung, die man sich ins Unendliche fortgesetzt denkt, und aus der, wenn der Zerlegungsprozeß umgekehrt wird, notwendig wieder endliche Größen entstehen müssen. Diese Ver- tauschung der beiden Formen des Grenzbegrifis wird bei dem Zenoni- *), Newtoni Methodus Fluxionum, Opuscula I, p. 34. **) Herbart, Metaphysik, II, $ 284 f. (Werke Bd. 4, S. 233.) Der Differentialbegriff. 239 schen Beweis noch unterstützt durch den Schein der Wahrnehmung. Wenn man sich den einzelnen Moment der Bewegung für sich isoliert vorstellt, so entsteht das Bild des ruhenden Pfeils. Doch der Begrift der objektiven Bewegung verlangt, daß die einzelne Wahrnehmung mittels der Ergebnisse der ihr vorangehenden und nachfolgenden Wahrnehmungen ergänzt werde. Nur auf diesem Wege läßt sich ent- scheiden, ob der momentane Ort des bewegten Körpers konstant bleibt oder sich stetig verändert. So erweist sich der Unterschied der wirk- lichen und scheinbaren Ruhe nur als ein anschauliches Beispiel für den Unterschied der beiden Formen des Nullbegrifis. Da die Fluxions- methode der Auffassung der veränderlichen Funktionsbeziehung den Begriff der kontinuierlichen Bewegung substituiert, so hat in ihr der absolute Nullbegrifi keine Stelle, sondern sie denkt sich die beiden Fluenten, welche den Begriff der Bewegung zusammensetzen, die Zeit und den Raum, in ihre Elemente, in Zeitmomente und geometrische Punkte, zerlegt. In charakteristischer Weise bezeichnet daher Newton die zu den Fluenten x und y gehörigen Fluxionen durch einen über die Buchstabensymbole gesetzten Punkt: x bedeutet zunächst den nach dem Ablauf der Zeit x eintretenden Zeitpunkt, y den nach dem Durch- laufen des Raumes y erreichten Raumpunkt. Aber da Zeit und Raum bei der Bewegung fließende Größen sind, so gewinnen x und % zugleich die Bedeutung der dem Zeitpunkt x entsprechenden Geschwindigkeit des Abflusses der Zeit und der dem Raumpunkt y entsprechenden Ge- schwindigkeit der Ortsveränderung. Statt immerwährend auf die Grund- bedeutung von x und y zurückzugehen, zieht Newton überdies im all- gemeinen es vor, die Fluxionen unmittelbar als die momentanen Ge- schwindigkeiten des Wachstums der beiden Koordinaten einzu- führen, eine Übertragung, durch welche die geometrische Verwendung der Methode erleichtert wird. Jene ursprüngliche Bedeutung der beiden Fluxionen kommt aber darin zur Geltung, daß stets die Geschwindig- keit x für alle Werte der Fluenten x als konstant angesehen wird, während die zugehörige Geschwindigkeit y eine wechselnde sein kann. Da nun z und y momentane Geschwindigkeiten bedeuten, so muß, wenn man die Werte des Verhältnisses — bestimmen will, die in einem gegebenen Moment stattfindende Bewegung mit der voran- gegangenen und nachfolgenden in Beziehung gesetzt werden. Zu diesem Zweck sondert Newton die Begriffe des Zeitverlaufs und der Orts- veränderung wieder in je zwei Begriffe, indem er die Fluxionssymbole z und y bloß Geschwindigkeiten bedeuten läßt und die Zeit- und Raum- 240 Die Logik der Mathematik. werte, auf die sich diese Geschwindigkeiten beziehen, besonders be- zeichnet. Insofern nun Geschwindigkeiten bestimmte Zeit- und Raum- größen zu ihrer Messung bedürfen, behandelt dann Newton z und % als meßbare Zahlgrößen, welche erst dadurch gleich Null werden, daß man die Zeit und den Raum, innerhalb deren diese Geschwindig- keiten angenommen werden, gleich Null setzt. Die so entstehenden Produkte 2.0 und 4.0 nennt er die Momente der Zeit- und der Raumgeschwindigkeit. Seine Methode, um zu den Differentialien be- stimmter Funktionen zu gelangen, besteht dann darin, daß er die Ver- änderlichen um diese Momente zunehmen läßt, in der Rechnung die Nullen wie wirkliche Zahlen behandelt, schließlich aber alle Glieder hinweghebt, welche die Null als Faktor enthalten. Ist z. B. die ein- fache Funktion „= x? gegeben, so setzt Newton y„+y0—=(2--20)? —2?42220-+ 220°, und schließt daraus, da (y4y0) — y= (2-4 20)? — x? sein muß: 0 = 2250 4 5°0%, y—=2x& oder = — 22. Man sieht deutlich, daß diese Einführung der Momente 20 und y0 nur ein Kunstgriff ist, der dazu dienen soll, in der Gleichung y0 —2r720—=x?0? das zweite Glied hinwegzuschaffen. In Wahrheit operiert man nur mit den Begriffen x und y, der momentanen Zeit- geschwindigkeit und der momentanen Ortsveränderung. Der Hervor- hebung, daß hier die Ausdehnung der Zeit und des Raumes gleich Null sei, bedarf es gar nicht: das liegt in den Begriffen von z und % schon eingeschlossen, daher auch in dem endlichen Ergebnisse die letzteren allein genügend sind. Hätte Newton einfach bemerkt, daß x und y gleich Null sind und deshalb, wo sie einzeln oder miteinander multi- pliziert vorkommen, hinwegfallen, daß dagegen das Verhältnis — darum doch einen bestimmten Wert haben könne, so würde er ohne die Zwischenrechnung mit der Null zu seiner Fluxionsgleichung gelangt sein. Aber es wäre dann allerdings ein Hinausgehen über den Begriff der momentanen Bewegung erforderlich gewesen; denn der Nachweis, daß der Quotient - im allgemeinen einen bestimmten Wert besitzt, fordert eine Berücksichtigung des ganzen Verlaufs der Bewegung. Eine solche liegt nun zwar schon in der Natur der Aufgaben, welche die Fluxionenrechnung behandelt. Eine gegebene Gleichung y=f(x) ist ja stets ein Ausdruck für den ganzen Verlauf der Funktion, und die Differentialgleichung, die für einen bestimmten Moment das Wachs- Der Differentialbegriff, 241 tum der Veränderlichen bestimmt, kann eben darum nur aus der ur- sprünglichen Funktionsgleichung abgeleitet werden. Sobald man aber bei der Ableitung des Fluxionsbegrifis zugleich auf die Beziehung der momentanen Veränderung zu der vorangehenden und nachfolgenden Rücksicht nimmt, so führt dies zur geometrischen Darstellung der Bewegung und damit zum geometrischen Differentialbegriff. Noch in anderen Beziehungen zeigt sich jedoch die Vorstellung der Bewegung ungenügend. Ein Mangel derselben liegt namentlich darin, daß sie, da der Begriff der Bewegung nur z wei Fluenten, die Zeit und den Raum, enthält, auf Funktionen zwischen mehr als zwei Veränderlichen nicht anwendbar ist. Newton selbst hat daher für solche Zwecke zu geometrischen Veranschaulichungen gegriffen, die dem Geist der Fluxionsmethode eigentlich fremd sind. So nötigt der phoronomische Difierentialbegrift von verschiedenen Seiten her zu einer Weiterbildung, die ihn in den geometrischen überführt c. Der geometrische Differentialbegriff. Eine Funktion von der Form y=f(x) wird geometrisch dar- gestellt durch eine Kurve, in welcher einem gleichförmigen Wachs- tum der Abszissen ein Wachstum der Ordinaten entspricht, dessen Gesetz durch jene Gleichung bestimmt ist. Wenn die Differenz x, — x, konstant bleibt, so kann daher die zugehörige Differenz y, — y, im allgemeinen sehr verschiedene Werte annehmen. Nur in einem Fall bleibt auch y, — y, konstant, dann nämlich, wenn die Funktion y==f (x) eine lineare ist. Auf diesen einfachsten Fall läßt sich nun eine jede Funktion zurückführen, wenn man die Voraussetzung macht, daß die Differenzen 2, — x, und y, —y, unendlich kleine Größen bedeuten. Denn ein unendlich kleines Stück einer beliebigen Kurve kann immer als eine gerade Linie angesehen werden. Das betreffende Kurvenstück fällt dann seiner Richtung nach vollständig mit der Tangente der Kurve zusammen. Auf diesen Begriff unendlich kleiner Differenzen der Koordinaten gründete Leibniz die Bezeichnungen d z, dy für die Differentiale der Veränderlichen. Geometrisch aber be- deuten d x und d y die Katheten eines unendlich kleinen rechtwinkligen Dreiecks, dessen Hypotenuse die Tangente ist. Die Seiten dieses „Iriangulum characteristicum “, wie Leibniz es nannte, sind, ebenso wie dessen Flächeninhalt, unendlich klein; dennoch besteht zwischen den- selben ein bestimmtes Verhältnis, das durch Zahlen ausgedrückt werden kann, und das ungeändert bleibt, wenn man sich durch ein Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 16 242 Die Logik der Mathematik. stetiges und gleichförmiges Wachstum das unendlich kleine Dreieck in ein ihm ähnliches Dreieck von endlicher Größe übergeführt denkt. Da nun die Tangente als Hypotenuse trigonometrisch durch das Ver- hältnis der beiden anderen Seiten bestimmt wird, so mißt dieses oder der Quotient = die Richtung der Kurve an dem betreffenden Punkte, und die nächste Aufgabe der Differentialrechnung ist gelöst, wenn es gelingt, aus der aufgestellten Funktionsgleichung y=f (x) den Wert jenes Quotienten in allgemeingültiger Weise zu. gewinnen. Man sieht sofort, daß der wesentliche Unterschied dieses geo- metrischen Differentialbegrifis von dem Fluxionsbegriff in der Ein- führung der unendlich kleinen Größe besteht. Die Fluxion wurde als eine momentane Bewegung angesehen. Hier dagegen macht es der geometrische Ausgangspunkt unmöglich, von der Ausdehnung ganz zu abstrahieren. Die Seiten des charakteristischen Dreiecks ver- schwinden zwar im Vergleich mit jeder gegebenen Größe, aber sie können niemals gleich Null werden. Dadurch hat man den Vorteil, daß die Beziehung der momentanen Änderung zu der vorangegangenen und nachfolgenden, die bei der Fluxionsmethode Schwierigkeiten be- reitet, hier von Anfang an schon in den Differentialbegriff aufgenommen ist. Dafür aber büßt dieser selbst seine Strenge ein. Die Annahme, daß ein unendlich kleines Stück einer Kurve einer geraden Linie gleich- komme, genügt zwar vollkommen, um praktisch zu richtigen Resul- taten zu gelangen, aber diese Resultate erscheinen nur als Annäherungen, ähnlich wie bei der in dieser Beziehung auf gleichem Boden stehenden sogenannten Exhaustionsmethode des Archimedes. Leibniz selbst suchte dieser Schwierigkeit gelegentlich zu entgehen, indem er das Differential als das letzte unteilbare Element einer Größe auffaßte und. erklärte, eine Differenz x, — x, seidx, wenn x, und z, die zwei „ein- ander nächsten“ Werte von x bezeichneten. In gleicher Absicht ver- glich er das Verhältnis der Differentialien zu den ursprünglichen Größen mit dem Verhältnis arithmetischer Reihen von verschiedener Ordnung. Auf diese Weise hob er aber den Begriff der Stetigkeit, dessen Bedeutung für die Infinitesimalmethode er sonst mit Recht betonte, gerade bei dem Grundbegriff derselben wieder auf. Zugleich ist ersichtlich, daß dieser Versuch, aus absolut unteilbaren und darum eigentlich diskontinuier- lichen Elementen die stetige Größe entstehen zu lassen, mit dem meta- physischen Begriff der Monade in einer gewissen Beziehung steht. Be- kanntlich sind die Grundgedanken der Differentialrechnung älter als die Ausbildung der monadologischen Vorstellungen. Es mag daher sein, Der Differentialbegriff. 243 daß gerade die Widersprüche, in die sich Leibniz durch den Begriff der Stetigkeit zu verwickeln meinte, wenn er nicht letzte unteilbare Elemente voraussetzte, bei der Bildung des Monadebegrifis mitgewirkt haben. Daß jene Schwierigkeiten nicht durch eine solche absolute Bedeutung, die man dem Differential beilegt, gelöst werden können, dies zeigt nun aber sofort die Unterscheidung unendlich kleiner Größen verschiedener Ordnung, zu der Leibniz selbst schon veranlaßt wurde. In der Tat wird man auf rein arithmetischem Wege zu dieser Unterscheidung geführt, wenn man die Differentialausdrücke für bestimmte Funktionen ent- wickelt; denn das Verfahren besteht hier immer darin, daß man die unendlich kleinen Größen zweiter und höherer Ordnung gegen diejenigen erster Ordnung verschwinden läßt. So gewinnt man z. B. aus der Funk- tion y= x" das Differential dy=nz"! dx, indem man in dem Aus- druck (x + dx)" — x" das Binomium in eine Reihe entwickelt, alle Glieder, welche eine höhere als die erste Potenz von dx enthalten, weg- hebt, und dann x” subtrahiert. Nimmt man hier an, daß dx aus einer Teilun En hervorgegangen sel, so werden die höheren Potenzen dx?, a gegang dx®... durch die Brüche Ze En ... dargestellt werden können. Bei 002’ 003 der Motivierung des Verschwindens dieser höheren Differentialen schwankt aber Leibniz selbst noch zwischen zwei verschiedenen Auf- fassungen. Einerseits nämlich meint er, dieselben hätten, ähnlich den imaginären Größen, eine bloß formale Bedeutung, da das Element dr 2 nicht mehr weiter geteilt werden könne; anderseits gesteht er zu, daß zwischen den unendlich kleinen Größen verschiedener Ordnung eine ähnliche Relation angenommen werden könne, wie zwischen einem unendlich Kleinen erster Ordnung und einer endlichen Größe*). Erst in der Folgezeit ist diese letztere Auffassung und damit überhaupt die Anschauung, daß das unendlich Kleine keine absolute, sondern nur eine relative Bedeutung besitze, zur Herrschaft gelangt. Es mochte dabei wohl hauptsächlich die bereits von Leibniz erkannte geometrische Bedeutung des zweiten Differentialguotienten mitwirken. Im Sinne der Theorie des unendlich Kleinen bedeutet nun dy die Differenz zweier einander unendlich nahe gelegener Ordinaten %, und y.. und der Quotient = als trigonometrische Tangente des Win- *) Leibniz’ mathematische Werke, herausgegeben von Gerhardt, V, 8. 389. 244 Die Logik der Mathematik. kels, welchen das unendlich kleine Kurvenstück mit der Abszissenlinie bildet, bestimmt die Richtung der Kurve an der gegebenen Stelle. Bleiben für eine Reihe aufeinanderfolgender unendlich kleiner Ordinaten- unterschiede %, — %9 Y5 — %1 Y — Y, die Werte von a die nämlichen, so ist die Richtung der Kurve an der betreffenden Stelle konstant, d. h. die Kurve selbst ist hier eine gerade Linie. Sind dagegen jene unendlich kleinen Differenzen voneinander verschieden, so erhält man auch für den ersten Differentialquotienten eine Reihe voneinander verschiedener Werte EN, nr ... Die Geschwindigkeit der Rich- tungsänderung wird dann offenbar gemessen durch die Differenzen dy, —dy,dy,—dy,...., welche je Fig. 15. nach dem Sinn der Richtungsänderung positiv oder negativ sein können. Geo- metrisch läßt sich aber eine Differenz dy,—dy, darstellen, wenn man die Endpunkte der beiden Ordinaten y, und y, durch die Gerade mn verbindet und diese Gerade bis zum Punkte p der näch- sten Ordinate y, verlängert. Esentspricht dann das Stück pq der unendlich klei- nen Differenz dy, —dy,, welche sym- bolisch durch d?y bezeichnet wird. Führt man statt der absoluten Werte dy,, dy, ihre Verhältnisse zu den unendlich kleinen Zuwüchsen dx ein, so erhält man Nun besteht der Begriff der Richtungsänderung darin, daß das Ver- hältnis dieser Differenz der Quotienten zu dem unendlich kleinen Zu- wachs d x bestimmt wird. Die Gleichung geht also über in die folgende: dy; ayı dy Een a EEE RA an) AL Ey FF a2 EB der; oder dy Ze Der Differentialbegriff 245 welche letztere Gleichung eben nichts anderes aussagt, als daß zur Bestimmung der Richtungsänderung einer Kurve an einem gegebenen ‚ Punkte der erste Differentialquotient, welcher die Richtung angibt, noch einmal der Operation der Differentiation in Bezug auf die un- abhängig Veränderliche unterworfen werden muß. Die notwendige Folge davon ist, daß im Nenner des zweiten Differentialquotienten der Zuwachs des Argumentes im Quadrat erscheint. Es ist klar, daß sich diese geometrischen sofort in phoronomische Vorstellungen übertragen lassen. Wie die Richtung oder der erste Differentialquotient = der Geschwindigkeit, so entspricht hier die Richtungsänderung oder der 2 zweite Differentialquotient — der Geschwindigkeitsänderung. Unter Befolgung des Permanenzprinzips kann nun aber die nämliche Operation, durch die aus dem ersten der zweite Differentialquotient hervor- gegangen ist, beliebig wiederholt werden, und man gewinnt so die un- 3 4 begrenzte Reihe der höheren Differentialquotienten — = a - . Kann für dieselben auch eine anschauliche geometrische oder mechanische Bedeutung nicht mehr gefunden werden, so haben sie doch jedenfalls eine arithmetische Bedeutung, da, sobald man die Difierentiation als eine reine Zahlenoperation auffaßt, ihrer beliebigen Wiederholung keine Schranken gesetzt sind. Mit dem so erweiterten Begriff des Differentials ist aber jene ab- solute Bedeutung, die Leibniz demselben beizulegen geneigt war, nicht mehr zu vereinigen, sondern auf dem Boden der bisherigen geo- metrischen Betrachtungen bleibt nur noch der Begriff eines relativ unendlich Kleinen möglich, welcher zugleich die arithmetisch postu- lierte beliebige Wiederholung der Difierentiation gestattet, da die Reihe der relativen Unendlichkeiten an und für sich keine Grenzen hat. Doch damit gewinnt auch die Infinitesimalmethode jenen schon oben berühr- ten Charakter eines bloßen Annäherungsverfahrens, der umso unbe- friedigender ist, als die Voraussetzungen, aus denen er entspringt, oflen- bar der Richtigkeit entbehren. Denn eine Kurve ist in Wirklichkeit nicht aus geraden Linien, eine veränderliche Bewegung nicht aus gleich- förmigen Bewegungen von irgend einer wenn auch noch so geringen Ausdehnung zusammengesetzt. Dazu kommt, daß die Auffassung des zweiten und der höheren Differentialquotienten als unendlich kleiner Größen höherer Ordnung brauchbar ist, so lange es sich darum handelt, 246 Die Logik der Mathematik. dieselben bloß gegen den ersten Differentialquotienten verschwinden zu lassen, daß aber diese Deutung ungenügend wird, sobald sie eine reale Bedeutung gewinnen. Der Begriff der Richtungsänderung zum Beispiel setzt zwar den der Richtung voraus, sicherlich aber wird durch die Annahme unendlich kleiner Größen verschiedener Ordnung das Verhältnis beider Begriffe nicht zureichend definiert. Diese Schwierigkeiten, welche die geometrische Deutung des un- endlich Kleinen herbeiführt, sind nun auf das glücklichste vermieden in der eigentümlichen Umgestaltung, die der geometrische Differential- begriff in der in ihren Grundgedanken zuerst von Newton in seinen „mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie“ angegebenen und dann hauptsächlich durch Maclaurin und d’Alembert ausgebildeten sogenannten Grenzmethode erfahren hat*). Der glückliche Griff dieser Umgestaltung des Leibnizschen Verfahrens besteht darin, daß man bei ihr von einer beliebigen endlichen Differenz der Veränder- lichen durch kontinuierliche Abnahme derselben auf den Grenzfall zurückgeht, wo die Differenz null wird, und daß man das Differential als diesen Grenzfall betrachtet. Geometrisch läßt sich auch dieser Be- trachtung das charakteristische Dreieck zu Grunde legen; aber die Hypotenuse desselben ist die zwischen den Punkten m und n der Kurve gezogene Sehne, und die trigonometrische Tangente des Winkels, welchen diese Sehne mit der Abszissenachse bildet, wird durch den Differenzquotienten = bestimmt. Denkt man sich jetzt den Punkt n 2 dem mnäher und näher rücken und schließlich mit demselben zusammen- fallen, so geht für diesen Grenzfall die Sehne in die Tangente und der Differenzquotient in den Differentialquotienten 2 über. Auch der zweite Differentialquotient gewinnt auf diesem Wege unmittelbar seine geometrische Bedeutung, ohne daß es nötig wird, die Annahme von unendlich kleinen Größen einzuführen. Denn der zweite Differenz- A?y Ar? schied Az stattfindende Richtungsänderung der Kurve. Läßt man wiederum den Punkt n mit m zusammenfallen, so stellt der für diesen quotient bezeichnet nun die für einen bestimmten endlichen Unter- 2 Grenzfall zurückbleibende Differentialguotient ei die Richtungs- * Newton, Principia, liber I, sect. 1. Übersetzung von Wol- fers, S. 46. Der Differentialbegriff. 247 änderung der Kurve im Punkte m dar, ebenso wie der erste Differential- quotient = die Richtung in diesem Punkte bedeutet hat. Hiernach besteht die Grenzmethode teilweise in einer Umkehrung der Methode des unendlich Kleinen. Während man bei der letzteren die Veränderliche von null an um eine unendlich kleine Größe wachsen läßt, die gerade zureicht, um das Verhältnis ihres Wachstums zu be- stimmen, geht die Grenzmethode von einer beliebigen endlichen Zu- nahme der Veränderlichen aus, die sie allmählich bis auf null herab- sinken läßt. Dadurch wird der Begriff des unendlich Kleinen umgangen. Es wird möglich, mit der nämlichen Strenge wie bei der Fluxionsmethode den Begriff der momentanen Änderung festzuhalten, und es wird doch die für die Messung dieser Änderung unerläßliche Vergleichung mit den vorangehenden oder nachfolgenden Zuständen ermöglicht. Die Grenz- methode vereinigt darum die Vorteile der Methoden von Newton und Leibniz, die begriffliche Strenge der ersteren und die größere Allgemein- heit und praktische Brauchbarkeit der letzteren. Sie ist, wenn man von den Anwendungen des Differentialbegrifis ausgeht, die exakteste Be- gründung desselben. Denn sie wird den beiden Forderungen, daß die elementare Größenänderung als eine streng momentane aufgefaßt, und daß zur Bestimmung des Gesetzes derselben der gesamte Verlauf der Veränderung berücksichtigt werde, gleichmäßig gerecht. Diesen Vorzügen verdankt die Grenzmethode den Sieg, den sie in der Praxis allmählich über alle anderen Begründungsweisen des Differentialbegrifis davongetragen hat. Jenes Verfahren des Zurückgehens von einer gege- benen Differenz auf den Grenzfall, wo dieselbe null wird, das die Grenz- methode im Anschluß an geometrische Vorstellungen einschlägt, läßt nun aber eine Verallgemeinerung zu, indem man den nämlichen Vor- gang in arithmetischer Form auffaßt. d. Der arithmetische Differentialbegriff. Läßt man in einer Funktion y=f(x) das Argument x um end- liche Intervalle wachsen, so daß es sukzessiv die Werte + Az, c—+ 2Az,2c-+3Ax... annimmt, so erscheint jene Gleichung als Ausdruck für das allgemeine Glied einer arithmetischen Reihe. Die Differenzen der einzelnen Glieder dieser Reihe bilden eine Differenzreihe, deren all- gemeines Glied mit Ay bezeichnet werden kann. Aus dieser läßt sich eine zweite Differenzreihe entwickeln mit dem allgemeinen Glied A?y, u. s. w. Die Zahl der Differenzreihen und der ihnen entsprechenden 248 Die Logik der Mathematik. abgeleiteten Funktionen Ay, A®?y... ist von der Beschaffenheit der ursprünglichen Funktion y—= f(x) abhängig. Ist diese z. B. vom ersten Grade, so wird schon A y konstant, und demgemäß wird dann die zweite Differenz A?y und mit ihr jede höhere gleich null. Läßt man nun den Zuwachs Az des Arguments zu null werden, und bezeichnet man diese zum Verschwinden gebrachte Differenz Az mit dx, so gehen die ab- hängigen Differenzen Ay, A?y... ebenfalls in die verschwindenden Größen dy, d?y... über. Obgleich sie sämtlich ihrem absoluten Werte nach null sind, so werden doch die Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen, im allgemeinen einen bestimmten numerischen Wert besitzen, R ‘a da sie aus endlichen Größen durch eine Operation von der Form — hervorgegangen sind. (Vgl. S. 161.) Euler definiert daher die Differen- tiale als Größen, deren arithmetisches Verhältnis stets gleich null sei, deren geometrisches Verhältnis aber jeden beliebigen Wert erreichen könne*). Euler hat hierdurch zum ersten Male klar darauf hingewiesen, daß von der Messung einer Differentialgröße immer nur dann die Rede sein kann, wenn dieselbe zu anderen Differentialgrößen in irgend ein Verhältnis gebracht wird. Von dieser Bemerkung datiert der vorwiegende Gebrauch des Differentialquotienten. Gleichwohl ist die Behauptung, daß das arithmetische Verhältnis aller Differential- größen dasselbe, nämlich gleich null sei, keine völlig korrekte. Die Null ist ein Rechnungssymbol, welches jede beliebige verschwindende Größe bezeichnen kann. Nur aus diesem Grunde ist es möglich, daß ein Quotient u obgleich er nach dem absoluten Wert seines Zählers und Nenners in der Tat durch den Bruch = ausgedrückt wird, dennoch einen bestimmten endlichen Wert annehmen kann. Das Wahre von Eulers Bemerkung liegt also darin, daß die Division die einzige Operation ist, durch welche die Beziehungen verschwindender Größen zueinander bestimmt werden können. Aber der Umstand, daß solche Beziehungen von verschiedener Art existieren, beweist eben zugleich, daß arithmetisch die Bedeutung der verschwindenden Größen eine ver- schiedene ist, oder daß mit anderen Worten diejenige Null, die eine ver- schwindende Größe a repräsentiert, eine andere Bedeutung hat als die Null, die als Resultat einer Operation a — a zurückbleibt. Im ersteren *) Leonhard Euler, Institutiones calculi differentialis, Petrop. 1755, Cap. I—IV. Der Difierentialbegriff, 249 Fall kann daher nicht bloß ein Quotient nn einen bestimmten Wert, sondern auch eine Gleichung O0—=0 einen bestimmten Sinn haben. Der arithmetische Differentialbegriff führt nun von selbst zu einer neuen Auffassung, sobald man den Gesichtspunkt, auf den der- selbe gegründet ist, verallgemeinert. Betrachtet man nämlich die dy d’y d’y aufeinander folgenden Differentialquotienten —-, IE ” 4 dx’ da?’ dx? die Werte, in welche die Differenzquotienten de als übergehen, wenn Ax=0 wird, so muß auch das Verhältnis jener Differen- tialquotienten zueinander konform sein dem Verhältnis dieser Differenz- quotienten. Nun lassen sich aber Ay, A?y, A’y...als Funktionen be- trachten, welche von der ursprünglichen Funktion y—=f(x) abhängen, insofern dieselben die allgemeinen Glieder derjenigen Differenzreihen bezeichnen, die zu der durch die Funktion „=/(x) ausgedrückten Hauptreihe gehören. Demnach haben auch die Differenzquotienten und die Differentialquotienten die Bedeutung abgeleiteter Funktionen, und speziell die letzteren bilden denjenigen Spezialfall, wo in der ur- sprünglichen Funktion ein stetiges Wachstum der Veränderlichen vorausgesetzt wird. Auf diese Weise führt die arithmetische Betrach- tung, sobald man an die Stelle des Begriffs der Operation den all- gemeinen der Funktion treten läßt, direkt über zu der letzten Ge- staltung des Difierentialbegrifis, zu der derivierten Funktion. e. Der Begriff der derivierten Funktion Geht man von dem allgemeinsten Begriff der Analysis, von dem Begriff der Funktion aus, so läßt sich die Aufgabe der Infinitesimal- methode dahin feststellen, daß sie die stetigen Veränderungen der Funktion y„=f(x) für jede beliebige Veränderung des Argumentes ermittelt, daß sie also, wenn allgemein die letztere durch A x bezeichnet wird, die Umwandlung feststellt, die sich mit der Funktion f (x) voll- zieht, wenn dieselbe in die Funktion f («+ Ax) übergeht. Da Az alle möglichen Werte von null an bis zu jeder beliebigen endlichen Größe bedeuten kann, so sind, wenn diese Aufgabe auf analytischem Weg lösbar ist, alle Schwierigkeiten vermieden, welche bei den sonstigen Begrün- dungen des Differentialbegrifis entweder die Annahme einer bloß momentanen Änderung oder der Übergang von einer endlichen zu einer verschwindenden Differenz bereitet. Lagrange ist es nun gelungen, 250 Die Logik der Mathematik. jene Aufgabe zu lösen, indem er sich dabei des allgemeinen Satzes der Analysis bediente, daß jede Funktion in der Form einer Reihe darge- stellt werden kann, die nach aufsteigenden Potenzen der Veränder- lichen fortschreitet*). Wir haben früher gesehen, daß dieser Satz aus der Zerlegung der Funktion in die arithmetischen Operationen, durch die sie entstanden ist, hervorgeht, und daß, da die Zahl dieser Opera- tionen nur unter gewissen beschränkenden Bedingungen eine begrenzte ist, als die allgemeinste Funktionsform eine unendliche Reihe von der angegebenen Beschaffenheit angesehen werden muß (8. 219). Im gegenwärtigen Falle handelt es sich nun darum, zu bestimmen, wie die Funktion f (x) sich verändert, wenn sie durch ein bestimmtes Wachs- tum der Veränderlichen in eine Funktion f («+ Az) übergeht. Da hier nicht mehr x selbst, sondern der Zuwachs Az als die willkürlich Ver- änderliche betrachtet wird, so ist es offenbar gerechtfertigt, diese Funk- tion nach aufsteigenden Potenzen von Az in eine Reihe zu entwickeln, welche die Form annimmt A+ BAx + CAz2-+ DAz®... Hierin bezeichnen A, B, ©... unbestimmte Koeffizienten, welche Funktionen von x sind. Die von Az freie Größe A ist aber offenbar —/ (x), weil, wenn Ac—=0 wird, auf der rechten Seite alle Glieder außer dem ersten verschwinden und die Gleichung f(z2)= 4 übrig bleibt. Da die weiteren Koeffizienten B, 0, D... ebenfalls irgend- welche Funktionen von x sind, so erhält man demnach für die ursprüng- liche Reihe die Form f&@) +Axz.e) +Aa2.d(a) +Ar?.y@)..- worin 9, d, 4%... die Bedeutung von Funktionszeichen besitzen. Um das Verhältnis dieser abgeleiteten Funktionen zueinander festzu- stellen, bedient sich Lagrange des Kunstgrifis, daß er in die Funktion /(<--Ax) einen neuen Zuwachs ö einführt und die so entstehende neue Funktionsform f (« +Ax2—-8) in doppelter Weise entwickelt, ein- mal nämlich unter der Voraussetzung, daß ö ein Zuwachs von x, und sodann unter der Voraussetzung, daß es ein Zuwachs von Az sei. Da die Koeffizienten gleicher Glieder in beiden Reihen einander gleich sein müssen, so ergeben diese Entwicklungen eine Anzahl von Koeffizienten- gleichungen, aus denen sich das gesuchte Verhältnis der Funktionen » (x), $ (2), 4% (8)... bestimmen läßt. Dieses Verhältnis findet seinen *) Lagrange, Lecons sur le calcul des fonctions. Nouv. Edit. Paris 1806. Theorie des fonetions analytiques. Paris an V. Prem. part. Der Differentialbegriff. 251 Ausdruck in der schließlich für die Funktion f (c+ Ax) gewonnenen Reihe ; Rack, a ER f@+AD)=f@) Ha. HH + in welcher die Funktionen f (x), f" (@), f” (x)... dem Gesetze folgen, daß jede aus der ihr vorangegangenen in übereinstimmender Weise gebildet ist. Dieses Gesetz für die aufeinanderfolgenden deri- vierten Funktionen ist aber das nämliche, welches die Bildung der Differentialquotienten beherrscht. Denn es ist, wie wir sahen, dy d"!y a4 i dz oder allgemein a ER Die deriviert = u en dx? da : dr“ ds Funktionen erster, zweiter, dritter... .. Ordnung sind also mit den Differentialfunktionen entsprechender Ordnung identisch. Der Wert dieser Ableitung besteht in dem unmittelbar mit Hilfe des Funktionsbegrifis geführten Nachweis, daß der Differentialbegriff selbst ein Funktionsbegriff ist, der sich überall da mit Notwendigkeit ergibt, wo in die Funktion der Begriff der stetigen Veränderung ein- geführt wird. Bei den vorangegangenen Begründungen des Differential- begrifis ergibt sich diese Bedeutung desselben immer erst indirekt, in- sofern man die geometrischen oder arithmetischen Beziehungen dem Begriff der Funktion unterordnet. Vor allem aber wird durch diese Ableitung das Verhältnis der Differentialien verschiedener Ordnung zu- einander in exakter Weise bestimmt. Das Wesen der Infinitesimal- methode besteht jetzt darin, daß eine stetig veränderliche Funktion in die ursprüngliche Funktion und in eine an sich unbegrenzte Zahl aus ihr abgeleiteter Funktionen zerlegt wird, die nach einem und demselben Gesetze sukzessiv auseinander hervorgehen. Es tritt hierdurch sofort die nahe Beziehung hervor, in welcher der Infinitesimalbegriff zu dem Begriff des Irrationalen steht, der aus den nächstliegenden Anwendungen der Zahl auf stetige Größen hervorgegangen ist. Wie die stetige Größe nur durch eine unbegrenzte Anzahl von Divisionen arithmetisch ge- messen werden kann, so ist die stetig veränderliche Funktion nur durch die Ableitung einer an sich unbegrenzten Anzahl von derivierten Funk- tionen zu erschöpfen. Auf diese Weise gewinnen sofort die Differential- quotienten höherer Ordnung ihre berechtigte Bedeutung, während die phoronomische und die geometrische Begründung des Differential- begriffs allein dem ersten und zweiten einen bestimmten Sinn unterzu- legen im stande sind. Nur die arithmetische Auffassung der Differentiale 959 Die Logik der Mathematik. als verschwindender Differenzen verschiedener Ordnung erreicht in dieser Beziehung die Methode der Derivation an Allgemeinheit, da sie in der Tat nichts anderes als eine Umkehrung derselben ist, die von den Operationen, welche die Funktion erzeugen, statt von dieser selbst ausgeht. Infolge der rein arithmetischen Auffassung der Operationen leidet aber jene Methode an dem Übelstand, daß sie nur das quantitative Verhältnis der Differentialquotienten verschiedener Ordnung zur Geltung bringt, indem sie dieselben analog den Differenzen verschiedener arithmetischer Reihen behändelt. Auch diesen Mangel beseitigt der Begriff der derivierten Funktion. Er vereinigt in sich die qualitative und die quantitative Bedeutung, die dem Differentialquotienten bei- gelegt werden kann. Die Richtung der Tangente an dem Punkt einer Kurve ist abhängig von dem Gesetz, welches den allgemeinen Verlauf derselben angibt, d. h. sie ist eine aus der ursprünglichen Funktion, die durch die Kurve repräsentiert wird, abgeleitete Funktion; ihrem arith- metischen Werte nach betrachtet ist aber die letztere zugleich eine ver- schwindende Größe. Die Richtungsänderung ferner ist zunächst ab- hängig von der Richtung, also eine aus der ersten derivierten Funktion abermals derivierte, und ihrem arithmetischen Werte nach eine ver- schwindende Größe zweiter Ordnung*). Ist auf diese Weise der Begriff der derivierten Funktion die korrek- teste Gestaltung des Infinitesimalbegriffs, bei welcher der Ausdruck „Differential“ mit der ihm durch seinen Ursprung aus der Differenz anhaftenden Unklarheit entbehrlich wird, so fehlt dagegen jenem Begriff der derivierten Funktion selbst teils die Anschaulichkeit, teils die leichte Anwendbarkeit. Zur vollständigen Erfassung des Wesens der In- finitesimalmethode ist daher seine Verbindung mit den eigentlichen Differentialbegriffen, namentlich mit dem arithmetischen und dem auf geometrische Anschauungen gestützten Grenzbegriff erforderlich. Wie überhaupt die Einsicht in das Wesen einer Funktion durch die Erkennt- nis der arithmetischen Operationen, die zu ihr geführt haben, vermittelt wird, so bildet die arithmetische Ableitung der Differenzquotienten den angemessensten Weg für die Entwicklung der Differentialquotienten verschiedener Ordnung. Die Anwendung dieser Operationen auf räum- liche Größen liefert sodann aber ein anschauliches Bild der Bedeutung, welche die gewonnenen Begrifie besitzen können, und der Nachweis, daß die Resultate der arithmetischen Operationen dem Funktions- begriff unterzuordnen sind, stellt schließlich diese Bedeutung in einer allgemeingültigen Form fest. *) Lagrange, Theorie des fonctions analytiques, p. 118. Das Prinzip der Integration. 953 3. Das Prinzip der Integration. In dem Wesen einer jeden mathematischen Operation liegt es be- gründet, daß sie eine Umkehrung zuläßt. Denn bei jeder Operation werden gegebene Größen oder Größenverbindungen nach einem be- stimmten Gesetz in andere übergeführt. Vermöge der Konstanz der befolgten Regel muß aber ein solches Verfahren umkehrbar sein. Kann irgend ein mathematischer Ausdruck A durch eine Operation f, in einen anderen Ausdruck B übergehen, so gibt es also stets eine um- gekehrte Operation f,, durch die B wieder in A übergeht. Doch muß dabei sogleich bemerkt werden, daß, wenn auch die erste Operation ein eindeutiges Resultat ergibt, darum das Ergebnis der zweiten nicht not- wendig ebenfalls eindeutig ist, sondern daß es von der Beschaffenheit jener Regel abhängt, welche die beiden Ausdrücke miteinander ver- knüpft, ob man aus B notwendig A wiedergewinnen muß, oder ob man dasselbe nur neben einer unbestimmten Anzahl anderer Resultate wiedergewinnen kann. Von den einfachsten arithmetischen Operationen an ist uns dieses Verhältnis der Umkehrbarkeit immer wieder begegnet. In der Analysis hat sich dasselbe in der wechselseitigen Beziehung gewisser Funktionsformen, wie der Exponentialfunktionen und der Logarithmen, der trigonometrischen und derzyklometrischen Funktionen, erneuert, und in dem letzteren Fall ergab sich bereits, daß die Umkehrung zu einem vieldeutigen Resultate führen kann. Da nun, wie die Entwicklung des Differentialbegrifis gelehrt hat, die Operation des Differenzierens stets aus einer gegebenen Funktion eine neue erzeugt, die mit der ur- sprünglichen nach einem bestimmten Gesetze zusammenhängt, so muß auch hier eine inverse Operation existieren, die aus den abgeleiteten Funktionen die ursprünglichen wiederherstellen kann. Diese inverse Operation ist die Integration. Die nähere Bestimmung des Begriffs der Integration ist nun zu- nächst von der Anschauung abhängig, von der man bei der Bildung des Differentialbegriffs ausgeht. Indem die Fluxionsmethode die ver- änderliche Größe unter dem Bild der abstrakten Bewegung darstellt, werden ihr der Differential- und der Integralbegriff zu den einander entgegengesetzten Formen des Bewegungsproblems. Das Differenzieren einer Funktion entspricht der Aufgabe: aus dem Raum, der bei einer nach einem bestimmten Gesetz erfolgten Bewegung zurückgelegt wurde, für jeden Zeitpunkt die momentane Geschwindigkeit zu finden; 254 Die Logik der Mathematik. die Integration löst die umgekehrte Aufgabe: wenn die momentane Geschwindigkeit für jeden Zeitpunkt gegeben ist, den Raum zu finden, welcher durchlaufen wurde. Indem auf diese Weise die Fluxionsmethode nur die Verschiedenheiten der Veränderlichen betont, um deren Be- stimmung im einen und im anderen Fall es sich handelt, kommen bei ihr die fundamentalen Gegensätze der Operationen selbst nicht zur hin- reichenden Geltung; sie verbergen sich hinter der nebenhergehenden Bemerkung, daß die Geschwindigkeit eine momentane, der Raum da- gegen eine ausgedehnte Größe ist. Von diesem letzteren Gegensatze geht dann die Methode des un- endlich Kleinen aus. Ihre Auffassung der beiden Operationen ist daher zunächst von dem Wert der Größen bestimmt, welche aus diesen Opera- tionen hervorgehen. Bedeutet das Differential eine unendlich kleine Größe, so entspricht das Integral einer endlichen Größe, und da man sich vorstellt, daß aus der Verbindung einer unendlich großen Zahl unendlich kleiner Größen eine endliche Größe entstehen kann, so wird der Prozeß der Integration zu einer speziellen Form der Summation, von der gewöhnlichen Summenbildung nur durch die beiden Bedingungen verschieden, daß die einzelnen Elemente keinen meßbaren Wert besitzen, und daß die Zahl der Verbindungen keine begrenzte ist. In so anschau- licher Weise aber auch diese Auffassung von den einfachsten Anwen- dungen der Integralrechnung Rechenschaft gibt, so leidet sie doch an der Ungenauigkeit des Difierentialbegrifis, auf den sie sich stützt, und sie schiebt deshalb der Differentiation und Integration in Wirklichkeit andere Operationen unter, nämlich die Subtraktion und die Addition. Diese trotz der nützlichen Symbolik, die von ihnen ausge- gangen ist, unzureichenden Anlehnungen an die arithmetischen Ele- mentaroperationen werden nun durch die Grenzmethode und die ihr verwandte exaktere Fassung des arithmetischen Differentialbegriffs unmöglich gemacht. Bezeichnet der Differentialquotient nr das Ver- hältnis der Funktion y=f(&) zu ihrem Argumente x für den Fall, daß Funktion und Argument beide verschwinden, entspricht darum jener Quotient stets einem Bruch — so kann der Rückgang zu der ursprünglichen Funktion unmöglich ein Verfahren der Addition sein. Es muß vielmehr die Integration ebensogut als eine Operation von spezifischer Beschaffenheit angesehen werden wie die Differentiation, deren Umkehrung sie ist. Aus diesem Grunde hat Euler in der Tat ge- glaubt, die Definition der Integration dahin beschränken zu solkn, daß Das Prinzip der Integration. 259 sie eine Umkehrung der Differentiation sei. Auf keinen Fall aber, meinte er, sei der Begriff der Summe zulässig, denn eine Summe von Nullwerten müsse ebenfalls gleich null sein. Auch dieser Einwand steht jedoch unter dem Vorurteil der unmittelbaren Anlehnung an die arithmetischen Elementaroperationen, und er vermengt überdies die zwei spezifisch verschiedenen Bedeutungen des Nullbegrifis. Gehen wir von der geometrischen Bedeutung des Grenzbegrifis aus, so wird, da man bei demselben die Distanz zwischen zwei Punkten m und n einer Kurve zu null werden ließ, die Umkehrung des Verfahrens darin bestehen, daß man jene Distanz von null an bis zu einem gegebenen endlichen Werte wiederum wachsen läßt. Will man ein solches Wachs- tum als eine Addition auffassen, so ist diese von der gewöhnlichen doch insofern wesentlich verschieden, als die zu bildende Summe durch das stetige Durchlaufen aller möglichen Zwischenwerte erreicht wird. Es bleibt eben in dem Integral der Begriff der Summe in dem nämlichen Sinne als ein Grenzbegriff erhalten, in welchem auch das Differential als Grenze der Differenz erscheint. Das Integral ist nicht eine Summe von Grenzwerten, sondern vielmehr der Grenzwert einer Summe von Differenzen. Öbgleich daher auch diese Auf- fassung die Integration an die Summation anlehnt, so bietet sie doch den Vorzug, daß sie zugleich die wesentlichen Unterschiede von der arithmetischen Addition hervorhebt. Diese Unterschiede bestehen einerseits in dem stetigen Wachstum des Integrals, anderseits darin, daß jedes Integral ein bestimmtes Gesetz des Wachstums einer Funktion repräsentiert. Beide Unterschiede sind so tiefgreifend, daß nur noch die quantitative Zunahme als der wesentliche Punkt der Übereinstim- mung zurückbleibt. Sie führen zugleich auf die allgemeinste Bedeutung des Integralbegrifis. Diese besteht aber darin, daß die Integration die Herstellung der ursprünglichen aus einer ab- geleiteten Funktion ist. Eine jede Funktion enthält den mathematischen Ausdruck eines Gesetzes, welches verschiedene teils veränderliche, teils konstante Größen miteinander verbindet. Das Integral und der Differential- ausdruck, da sie beide unter den Begriff der Funktion fallen, stellen daher Gesetze dar, die einander so zugeordnet sind, daß, wenn das eine gegeben ist, das andere gefunden werden kann. Für die nähere Beschaffenheit dieses Verhältnisses der Zuordnung ist aber die Tat- sache bezeichnend, daß die Differentialfunktionen sich darauf be- schränken, die Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den veränderlichen Größen, die in dem Funktionsausdruck vorkommen, festzustellen, 256 Die Logik der Mathematik. während die Integralfunktion außer den veränderlichen noch konstante Größen als wesentliche Bestandteile enthält. Hiernach hat die Differen- tialfunktion eine allgemeinere, die Integralfunktion eine speziellere Bedeutung: in dieser wird durch den Hinzutritt der konstanten Größen das in dem Differentialausdruck enthaltene Gesetz näher determiniert. Eine notwendige Folge dieser Determination ist es dann, daß auch die veränderlichen Größen bestimmte absolute Werte annehmen, während der Differentialausdruck nur das Gesetz ihrer relativen Änderungen angibt und sie darum ihrem absoluten Werte nach als verschwindende Größen behandelt. Somit wird hier die logische Beziehung zwischen den beiden Infinitesimalbegriffen zu einer Umkehrung der bei den voran- gegangenen Ableitungen vorausgesetzten. Beider Grenzmethode erscheint nämlich das Auftreten der Konstanten im Integralausdruck als eine Kon- sequenz des stetigen Wachstums der Veränderlichen. Ein solches Wachs- tum kann aber nur dann einem bestimmten Maß unterworfen werden, wenn es sich zwischen gewissen Grenzen vollzieht, und diese Grenzen sind es daher, die den Wert der Konstanten bestimmen. Betrachtet man dagegen den Differential- und den Integralausdruck als Funktions- formen, denen ein übereinstimmendes Gesetz zu Grunde liegt, so er- scheint die Tatsache, daß in der ersten dieser Formen die absoluten Werte der Veränderlichen unbestimmt sind oder verschwinden, erst als eine Folge der Allgemeinheit des Funktionsverhältnisses. Beide Auf- fassungen stehen natürlich nicht im Widerspruch, sondern sie ergänzen einander, und zu einer erschöpfenden Bestimmung dieser Funktions- begriffe sind sie darum beide erforderlich. Die Differentiation und die Integration sind, von diesem allgemeinsten Standpunkte aus aufgefaßt, Funktionsoperationen von entgegengesetzter Richtung. Die Differen- tiation ist diejenige Operation, durch die zu einer gegebenen Funktion die allgemeinere Funktion gesucht wird, welche die der ersteren ent- sprechende Beziehung zwischen dem Wachstum der veränderlichen Größen losgelöst von jeder Anwendung auf bestimmte einzelne Fälle angibt. Die Integration dagegen ist diejenige Operation, durch die aus einem abstrakten, bloß das Gesetz des Wachstums der Veränder- lichen enthaltenden Ausdruck der Wert der Funktion gesucht wird, die in irgendwelchen einzelnen Fällen jenem Wachstumsgesetz der Ver- änderlichen entspricht. Die von Lagrange gewählten Namen der primären und der deri- vierten Funktion bezeichnen dieses Verhältnis beider Funktionsformen auch insofern zutreffend, als sie andeuten, daß zwar die Differen- tiation, die Herstellung der derivierten Funktion, ein nach selbständigen Das Prinzip der Integration, 257 Regeln vor sich gehendes Verfahren ist, nicht aber ihre Umkehrung, die Integration. Denn die Integrale gegebener Differentialfunktionen können nur mittels der Beziehungen gegebener Funktionen zu ihren Differentialformeln gefunden werden. In dieser letzteren Eigenschaft gleicht die Integration den inversen Operationen der Arithmetik. Da jede Zahl nur durch eine Addition definierbar ist, die schließlich auf die Addition von Einheiten zurückführt, so folgt von selbst, daß die Subtraktion keine selbständige Operation ist. Sie wird es auch dann nicht, wenn sich durch sie negative Zahlen ergeben. Denn die Verbindungen dieser sind wiederum bloß Additionen unter geänderten Vorzeichen. Ähnlich ist das Verhältnis der Multiplikation zur Division, der Potenzierung zur Radizierung und der Exponentialfunktionen zu den Logarithmen. Nur in dem einen Punkte unterscheiden sich die Infinitesimalfunktionen, daß bei ihnen nicht die synthetische Opera- tion als die selbständige erscheint und die analytische als die von ihr abhängige Ergänzung, sondern umgekehrt. Obgleich also nach ihrem Zweck die Differentiation mehr der Subtraktion und Division, die Integration der Addition und Multiplikation analog ist, so besitzt gleichwohl in diesem Falle nur die analytische Operation einen selbst- ständigen Algorithmus, auf dessen Resultate dann die synthetische angewiesen bleibt. Auch dieser Unterschied hat aber seinen Grund in dem Problem der stetigen Änderung, von dem die Infinitesimalmethode ausgeht. Indem ihre nächste Aufgabe darin besteht, diesen Begriff der stetigen Änderung zu fixieren, kann sie hierzu nur durch ein analytisches Verfahren gelangen, das so zur Grundlage aller weiteren Methoden wird. Der analytische Ausgangspunkt wird außerdem dadurch ermöglicht, daß die Infinitesimalrechnung ein Funktionenkalkul ist, der die Exi- stenz der verschiedenen elementaren Funktionsformen voraussetzt, während diese durch die niederen arithmetischen Operationen erst erzeugt werden müssen. tw, Wir sahen nun, daß der Differentialausdruck, da er nur die Be- ziehung zwischen den Veränderlichen enthält und überdies von bestimm- ten Werten der letzteren ganz abstrahiert, stets eine allgemeinere Bedeutung besitzt als die Funktion, aus der er abgeleitetist. Aus diesem Grunde kann aus verschiedenen der nämlichen Funktionsform ange- hörenden Gleichungen ein und derselbe Differentialausdruck erhalten werden, und es gewinnt so das Integral, das man aus einem solchen Differentialausdruck durch Umkehrung ableitet, zunächst eine unbe- stimmte Bedeutung. Das äußere Zeichen der letzteren ist die willkür- liche Konstante, die dem allgemeinen Integral beigefügt werden muß. Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 17 2358 .Die Logik der Mathematik. Indem dieser Konstanten jeder beliebige Wert gegeben werden kann, repräsentiert das unbestimmte Integral eine unendliche Zahl von Gleichungen einer und derselben Funktionsform, die sämtlich unter dem nämlichen Differentialausdruck enthalten sein können. Wo die Integration auf konkrete Probleme angewandt wird, da muß deshalb entweder vermöge der Natur des Problems von vornherein der Wert der unbestimmten Konstanten fixiert sein, oder es muß die Aufgabe der Integration dadurch beschränkt werden, daß man das durch einen allgemeinen Differentialausdruck f (x) dx angegebene Gesetz der Ver- änderung nur zwischen gewissen Grenzen x, und x, des Argumentes x bestimmen will. Es geht dann das unbestimmte Integral f (x) dx zn in das bestimmte Integral " /(x)dx über. Für die Anwendungen des Integrationsverfahrens sind die bestimmten Integrale von über- wiegender Wichtigkeit, teils weil man durch konkrete Aufgaben in der Regel auf sie geführt wird, teils weil gewisse ausgezeichnete Formen derselben als Hilfsfunktionen Verwendung finden, welche die Lösung ganzer Klassen von Problemen vermitteln helfen. 4. Die Anwendungen der Infinitesimalmethode, Das Gebiet der Anwendungen der Infinitesimalmethode reicht so weit, als stetige Veränderungen, die bestimmten Gesetzen folgen, der mathematischen Untersuchung gegeben sind. Da aber dem nämlichen Gebiet zugleich die wichtigsten Anwendungen des Funktionsbegrifis angehören, so empfängt dieser erst durch die Entwicklungen der In- finitesimalmethode seine Vollendung. Das Kriterium der Stetigkeit einer Funktion besteht darum auch in der Regel in ihrer Differenzier- barkeit oder in der Möglichkeit, die Beziehungen des Wachstums der Veränderlichen in der Form von Differentialgleichungen darzustellen. Eine solche Differentialgleichung pflegt die veränderlichen Größen und ihre Differentialverhältnisse in irgendwelchen Verbindungen zu ent- halten. Die Differentialgleichung erster Ordnung einer Funktion zwischen zwei Veränderlichen x und y hat daher die allgemeine Form AAN r(# Yı 2). Die Anwendungen der Infinitesimalmethode, 259 Die Aufgabe ihrer Auflösung besteht aber regelmäßig darin, daß sie in eine Gleichung zwischen dem Differentialquotienten einerseits und den Veränderlichen anderseits übergeführt wird, so daß sie in eine Gleichung von der Form day __ übergeht. Ersteres ist die unentwickelte, letzteres die entwickelte Form. Alle Differentialformeln der einfachen Funktionen gehören dieser entwickelten Form an, und die Aufgabe der Auflösung der Diffe- rentialgleichungen besteht darum allgemein in der Zurückführung auf einfache Differentialformeln und ihre Verbindungen. Die ein- fachste Deutung, die einer solchen Differentialformel gegeben werden kann, ist die geometrische. Es bezeichnet dann jede Differen- tialgleichung zwischen zwei Veränderlichen das allgemeine Gesetz einer ebenen Kurve, das ein ganzes System einzelner Kurven unter sich begreift, für die sämtlich das Verhältnis KL: d.h. das beziehungs- dx weise Wachstum der Koordinaten für einen beliebigen Punkt der Kurve, wie es durch die Richtung der Tangente angegeben wird, ein übereinstimmendes ist. Ähnlich hat eine Differentialgleichung zweiter Ordnung zwischen zwei Veränderlichen allgemein die Form dy d’y\ _ Kan Er) und sie fordert als Lösung die entwickelte Form Auch durch sie wird ein Gesetz ausgedrückt, das einer unend- lichen Zahl ebener Kurven gemeinsam ist. Denn sie stellt das Gesetz fest, nach welchem für ein gewisses System von Kurven die Gestalt derselben in jedem einzelnen Punkt abhängig ist einerseits von dem beziehungsweisen Wachstum der Koordinaten und anderseits von der Richtung der Kurve oder ihrer Tangente an dem betreffenden Punkte. Es ist klar, daß dieses Gesetz von noch allgemeinerer Natur ist als das vorangegangene. Denn unter der unendlichen Zahl von Kurven, für welche die Differentialgleichung erster Ordnung ein gemeinsames Richtungsgesetz angibt, wird sofort eine einzelne vollständig bestimmt, wenn für einen einzelnen Wert von x der zugehörige Wert von y an- gegeben, d. h. wenn irgend ein einzelner Punkt der Kurve seiner ab- 260 Die Logik der Mathematik. soluten Lage nach festgestellt wird. Dagegen wird aus der ebenfalls unendlichen Zahl von Kurven, für welche die Differentialgleichung zweiter Ordnung ein gemeinsames Krümmungsgesetz angibt, eine einzelne Kurve erst dann vollständig determiniert, wenn nicht nur ein Punkt der Kurve durch die betreffenden Werte von z und y, sondern auch ihre Richtung an diesem Punkte in der Form des Quotienten = bekannt ist. Auf diese Weise gelangt man mit dem Übergang zu Diffe- rentialgleichungen höherer Ordnung zu Gesetzen von immer größerer Allgemeinheit. Es hängt aber selbstverständlich ganz und gar von der Bedeutung der Veränderlichen ab, bis zu welcher Stufe der Allgemein- heit überhaupt fortgeschritten werden kann. Eine ebene Kurve läßt ein allgemeineres Gesetz als dasjenige der Richtungsänderung, das durch die Differentialgleichung zweiter Ordnung zwischen den beiden Koordinaten dargestellt wird, überhaupt nicht mehr zu. Nehmen wir jedoch an, es sei irgend ein Substrat gegeben, das, analog der Ebene, nach zwei voneinander unabhängigen Richtungen wachsen kann, und das außerdem in jedem Punkt qualitative Differenzen verschiedener Ordnung in sich schließe, so daß für jeden Punkt ein stetiger Wechsel verschiedener Qualitäten möglich sei, für jede dieser Qualitäten wieder ein solcher u. s. w., so würden offenbar je nach der Zahl qualitativer Unterordnungen für die erschöpfende Feststellung der Gesetze eines solchen Kontinuums Differentialgleichungen dritter, vierter und selbst noch höherer Ordnung erforderlich werden können. Begrifilich hat demnach dieser Fortschritt überhaupt keine Grenzen. Doch bringen es die Bedingungen unserer Raumanschauung mit sich, daß bei den Anwendungen der Infinitesimalmethode Differential- gleichungen höherer Ordnung nur in gewissen Ausnahmefällen vor- kommen. Wenn wir hier das Verhältnis der Differentialgleichungen ver- schiedener Ordnung als ein solches der aufsteigenden Begriffsallgemein- heit bezeichnet haben, so darf übrigens dasselbe nicht als äquivalent einer logischen Über- und Unterordnung von Gattungs- und Artbe- griffen gedacht werden. Die Richtungsänderung läßt sich nicht schlecht- hin als der allgemeinere Begriff zu demjenigen der Richtung auffassen. Denn es trifft zwar zu, daß ein und dasselbe Gesetz der Richtungsände- rung gültig bleiben kann, auch wenn man die Richtung, deren Ände- rung bestimmt wird, mannigfach wechseln läßt, aber dabei sind doch beide Begriffe gerade dadurch verschieden, daß sich das charakteristische Element, das den höheren Begriff auszeichnet, in dem engeren nicht Die Anwendungen der Infinitesimalmethode. 261 wiederfindet. Die Verschiedenheit der Begriffsallgemeinheit, um die es sich hier handelt, entspringt daher nicht aus einer einfachen Begrifts- subsumtion, sondern sie gründet sich auf den Umfang der Geltung des in der Differentialgleichung formulierten Gesetzes. Wir nennen ein Gesetz dann allgemeiner, wenn die Zahl der Fälle, auf die es sich erstreckt, größer ist. Unzweifelhaft ist darum ein Gesetz, das ein anderes in sich schließt, im Verhältnis zu diesem stets das allge- meinere, obgleich es neue Begrifiselemente enthalten kann, welche in dem engeren Gesetz durchaus nicht vorgesehen sind. Eine fernere Erweiterung erfährt die Bedeutung der Differential- gleichungen, wenn sie sich auf mehr als auf zwei veränderliche Größen beziehen. Dieser Fall ist mathematisch dadurch ausgezeichnet, daß er eine unmittelbare Zurückführung auf die Differentialformeln einfacher Funktionen nicht gestattet, weilsich das vollständige Differentialeiner sol- chen zusammengesetzteren Funktion stets nur durch eine Summe von Teildifferentialen darstellen läßt. Gehen wir nämlich von der Funktion zwischen drei Veränderlichen x, y und z aus, so wird der Wert irgend einer der letzteren immer erst dann eindeutig bestimmt sein, wenn die zugehörigen Werte der beiden andern gegeben sind. Es können darum in solchen Fällen stets zwei der Veränderlichen, z. B. x und y, als gleich- zeitige Argumente betrachtet werden, deren Funktion die dritte Ver- änderliche 2 ist. Die Differentialgleichung einer solchen Funktion muß dann aber offenbar zwei Differentialquotienten enthalten, einen ersten, der die Veränderung von z in Beziehung auf x, und einen zweiten, der die Veränderung in Beziehung auf y bestimmt. Diese Quotienten - und _ bei denen nach dem Vorgang von Jacobi das Zeichen 9 statt des für die vollständigen Differentiale gebrauchten d eingeführt ist, sind die partiellen Differentialquotienten erster Ordnung der Funktion z= f (z, y). Dem vollständigen Differential dieser Funk- tion wird daher auch die Form gegeben: NS = rw Y) 4, ı ren or Geometrisch bezeichnet die ursprüngliche Funktionsbeziehung zwischen x, y und z eine Fläche im Raum, die man sich durch x und y als hori- zontale Abszissen und durch z als vertikale Ordinate bestimmt denken kann. Die partielle Differentialgleichung erster Ordnung, in welcher dz als der Zähler, 9x und 9% als die Nenner der Differentialquotienten er- scheinen, bezeichnet demnach das allgemeine Gesetz der Richtung einer 262 Die Logik der Mathematik. Fläche, welche durch die an jeden Punkt gelegte tangierende Ebene bestimmt ist; die partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung aber bezeichnet die von Punkt zu Punkt stattfindende Richtungsänderung dieser Fläche. Infolge der räumlichen Bedeutung, die sich so den par- tiellen Differentialgleichungen zwischen drei Veränderlichen beilegen läßt, bilden diese das allgemeine Hilfsmittel zur Darstellung der Natur- vorgänge und als solches eines der wichtigsten Werkzeuge der mathe- matischen Physik*). Auch infolge der steigenden Zahl der Veränderlichen, welche die Differentialgleichungen enthalten, erweitert sich ihre Allgemeinheit. Die Differentialgleichung mit n Veränderlichen enthält diejenige mit n — 1 Veränderlichen als einen speziellen Fall in sich, welcher dann aus ihr hervorgeht, wenn irgend eine der Veränderlichen als konstant angenommen wird. Doch die hier sich ergebende Begrifisallgemeinheit ist von anderer Beschaffenheit als diejenige, die aus der verschiedenen Ordnung der Differentialgleichungen entspringt. Während im letzteren Fall das Gebiet des Gesetzes dasselbe bleibt, aber der Umfang seiner Bedeutung und demzufolge auch sein logischer Inhalt sich verändert, ist es umgekehrt das Gebiet der Anwendungen des Gesetzes, das mit der steigenden Anzahl der Veränderlichen zunimmt. So verwandelt sich das nämliche Gesetz, das in der Form einer Differentialglei- chung zwischen zwei Veränderlichen die Tangente einer ebenen Kurve bestimmt, in ein Gesetz für die tangierende Ebene einer krummen Oberfläche, wenn es auf drei Veränderliche ausgedehnt wird. Auch hier trägt diese wachsende Begrifisallgemeinheit einen durchaus spezi- fischen Charakter an sich, durch den sie sich von sonstigen logischen Überordnungen unterscheidet. Ein n-fach ausgedehntes Gebiet ist dem Gebiet von der Ausdehnungszahl n — 1 übergeordnet, weil sich dieses in jenem konstruieren läßt, während keine Möglichkeit vorliegt, ohne die Hinzunahme weiterer Hilfsmittel aus dem zweiten in das erste zu gelangen. Hier läßt sich also das Gebiet niederer Ordnung stets als ein Spezialfall betrachten, der aus dem Gebiet höherer Ordnung durch beschränkende Bedingungen hervorgeht. Die letzteren bestehen aber nicht, wie bei dem Übergang von der Gattung zur Art, in der Ein- führung determinierender Merkmale, die dem Gattungsbegrifi fehlen, sondern im Gegenteil in der Abstraktion von weiteren Bestimmungen, die dem höheren Begriff eigen sind. In der Aufstellung der Differentialgleichungen besteht nun überall *) Vgl. Riemann, Vorlesungen über partielle Differentialgleichungen. Einl. Die Anwendungen der Infinitesimalmethode. 263 die nächste Aufgabe bei den Anwendungen der Infinitesimalmethode. In gewissen Fällen können die vorgelegten Probleme schon durch die Untersuchung dieser Gleichungen gelöst werden. Dies findet regel- mäßig dann statt, wenn der logische Charakter des Problems nur die Kenntnis jener allgemeinsten Gesetzmäßigkeit verlangt, die in der Differentialgleichung ihren Ausdruck findet. Die Bestimmung der Tangente und der Krümmung einer Kurve, der Maxima und Minima der Funktionen, die Formulierung der allgemeinen Bewegungsgesetze sind Aufgaben solcher Art. Bei einer zweiten Reihe von Problemen dagegen ist die Aufstellung der Differentialgleichungen nur ein vor- bereitendes Geschäft, indem die eigentliche Lösung eine einfache oder mehrfache Integration voraussetzt. Dies ist überall da der Fall, wo es sich darum handelt, die Beschaffenheit der ursprünglichen Funktion zu erkennen, deren Differentialgleichung gegeben ist, oder wo das in der Differentialgleichung aufgestellte Gesetz auf Messungen angewandt werden soll, für die spezielle Bedingungen vorhanden sind, wie auf die Messung der Zeit einer Bewegung, der Länge einer Kurve, des Inhalts einer Fläche oder eines Körperraumes. Die Integralformeln, zu denen man bei der Lösung solcher Aufgaben gelangt, bilden eine Art Zwischen- glied zwischen der in der Differentialgleichung ausgedrückten derivierten und der primären Funktion. Die Integralformel, die sich lediglich durch das Integrationssymbol und unter Umständen durch hinzu- tretende Konstanten von dem Differentialausdruck unterscheidet, be- zeichnet hierbei die Herstellung der ursprünglichen Funktion zunächst nur als eine Aufgabe. Es ist aber umso wichtiger, diese Aufgabe symbolisch ausdrücken zu können, als erstens zahlreiche Fälle vorkommen, in denen eine exakte Lösung derselben unmöglich ist und dennoch ein Ausdruck notwendig wird, der für den Zusammenhang des mathematischen Gedankengangs diese Lösung als vollzogen postuliert, und als es zweitens andere Fälle gibt, in denen eine Integralformel der allgemeine Aus- druck für eine große Zahl einzelner Funktionen ist, die sämtlich dem durch die erstere repräsentierten Gesetze unterworfen sind. Infolge- dessen ist der Geltungsbereich eines unbestimmten Integrals ein ebenso weiter, wie derjenige der zugehörigen Differentialgleichung. Der Über- gang auf die speziellen Funktionen, den dasselbe vermittelt, wird durch die willkürlichen Konstanten nur angedeutet, indem diese dem Aus- druck einen Bestandteil hinzufügen, dessen Fixierung sofort das all- gemeine in ein konkretes Gesetz umwandelt. Darum richtet sich auch die Zahl dieser Konstanten nach dem Umfang des durch die Differential- gleichung repräsentierten Gesetzes. Einer Differentialgleichung nter 264 Die Logik der Mathematik, Ordnung entsprechen n Integrationen, deren jede die Bestimmung einer andern willkürlichen Konstanten voraussetzt. Diese sämtlichen Konstanten finden sich daher in dem Integral, und sie verleihen dem- selben die nämliche Allgemeinheit, wie sie die Differentialgleichung besitzt. Erst durch die sukzessive Ausführung der Integrationen, durch welche die Konstanten eine nach der anderen determiniert werden, gewinnt die Integralformel allmählich eine konkretere Be- deutung. Außerdem besteht ein wichtiges Hilfsmittel, durch das von vornherein der Geltungsbereich der Integralformeln verengert wird, in der Voraussetzung gewisser Grenzen für die Argumente der Funktionen, wodurch die unbestimmten in bestimmte Integrale über- gehen. Die einzelnen Methoden, die zur Berechnung der Funk- tionen aus den Integralformeln befolgt werden, sind jedoch von aus- schließlich mathematischem Interesse. In logischer Beziehung be- dürfen nur noch die Anwendungen, welche gewisse Integralformeln zur Lösung bestimmter Klassen von Problemen finden, einer kurzen Hervorhebung. In dem bestimmten Integral wird zunächst zwar die Allgemeinheit des unbestimmten beschränkt, aber zwischen den für dasselbe einge- führten Grenzen bleibt immer noch eine Mannigfaltigkeit einzelner Funktionsformen möglich. Es kann nun die Aufgabe gestellt werden, aus dieser gewisse einzelne Funktionen zu finden, die einen ausgezeichneten Charakter besitzen. Ein solcher ist dann gegeben, wenn die Funktion im Vergleich mit den ihr benachbarten einen Maximal- oder Minimalwert erreicht. Konkrete Beispiele, die unter diese Aufgabe fallen, ergeben sich nicht selten bei den geometrischen und physikalischen Anwendungen der Infinitesimalmethode. Hierher gehört z. B. die Ermittlung der kürzesten Linie, die auf einer gegebenen Fläche zwischen zwei ge- gebenen Punkten gezeichnet werden kann, oder die Bestimmung der- jenigen Kurve, in der ein Körper, wenn er sich unter dem Einfluß der Schwere zwischen zwei gegebenen Punkten bewegt, in der kürzesten Zeit fällt u. dgl. Diese Aufgaben besitzen eine vollständige Analogie mit denen, welche die Differentialgleichung in der Theorie der Maxima und Minima erledigt; sie unterscheiden sich nur darin, daß es sich bei ihnen nicht um die Vergleichung einzelner ausgezeichneter Punkte der eine Funktion repräsentierenden Kurve oder Oberfläche mit den benach- barten Punkten, sondern um eine Vergleichung der ganzen Form jener Kurven oder Oberflächen, die durch eine bestimmte Integralformel repräsentiert werden, handelt. Wie man also bei dem entsprechenden Problem der Differentialrechnung von einem gegebenen Punkt einer Die Anwendungen der Infinitesimalmethode, 265 Kurve zu dem ihm benachbarten .gelangt, so hier von einer gegebenen Kurve zu derjenigen, die in der Schar stetig ineinander übergehender Kurven, welche dem nämlichen allgemeinen Gesetze folgen, ihr benach- bart ist. Es ist klar, daß diese Aufgabe gleichzeitig der Integral- und der Differentialrechnung angehört, insofern die Differentialmethode, die zur Bestimmung der Maxima und Minima einer Funktion dient, auf gegebene Integralformeln angewandt werden muß. Eine solche Diffe- rentiation in Bezug auf bestimmte Integrale ist von Lagrange als Variation bezeichnet worden. Der Algorithmus der Variation ist hier- nach an sich nicht verschieden von dem der Differentiation, und seine Anwendung ist immer dann gefordert, wenn eine Funktion V in der Form eines bestimmten Integrals gegeben ist, dessen Wert so bestimmt werden soll, daß 9 V = 0 wird, während 9°? V im allgemeinen einen von null verschiedenen Wert annimmt, worin 9 das von Lagrange einge- führte Symbol der Variation bedeutet. Die nähere Ausführung der Me- thode beruht nun wesentlich darauf, daß die Variation der Funktion V in die Variation ihrer Bestandteile, der abhängig Veränderlichen und ihrer Differentialquotienten verschiedener Ordnung, zerlegt wird. Logisch ist aber der Variationskalkul hauptsächlich deshalb bemerkenswert, weil er die Fruchtbarkeit der Integrationssymbolik in ein helles Licht setzt; denn gerade die Allgemeinheit der durch ein Integral repräsentierten Funktion macht es möglich, auf dasselbe jene Regeln der Differential- methode anzuwenden, die zur Ermittlung ausgezeichneter Werte einer Funktion dienen. Auf der nämlichen Allgemeinheit der Integralformeln beruht eine zweite Anwendung, die noch von größerer Tragweite ist als die eben besprochene. Sie besteht darin, daß gewisse bestimmte Integrale und die ihnen entsprechenden transzendenten Funktionen die Be- deutung von Hilfsfunktionen übernehmen, die den einfachen transzendenten Funktionen und ihren Umkehrungen entsprechen, aber zur Darstellung komplizierterer Gesetze als diese sich eignen. Diese Aufgabe erfüllen die höheren transzendenten Funktionen, die sich im allgemeinen an bestimmte Integralformeln anlehnen. Auch in dieser Beziehung bilden die einfachen Funktionen ihr Vorbild. So ist nach den elementaren Regeln der Differentiation darsinz _ 1 dz Vı1—: : und deshalb, wenn man Grenzen einführt, welche die willkürliche Kon- stante des Integrais zu beseitigen gestatten, 266 Die Logik der Mathematik, z : 1x atcsıınz = SEE u van a x? % f) d. h. die Kreisfunktion läßt sich entstanden denken aus dem Integral einer gebrochenen algebraischen Funktion zweiten Grades. Demgemäß darf man von vornherein voraussetzen, daß ein Integral von der Form z dz 0 also ein Integral einer gebrochenen algebraischen Funktion vierten Grades, ebenfalls dem Bogen einer Kurve entspricht, und daß man durch die Umkehrung dieser Bogenfunktion eine dem Sinus analoge Funktion erhalten wird. Auf diese Weise gewinnt man in der Tat trigonometrische Funktionen höherer Ordnung, die ellipti- schen Funktionen, die insofern eine allgemeinere Bedeutung besitzen, als sie sowohl die einfachen trigonometrischen Funktionen wie die Exponentialfunktionen als spezielle Fälle in sich schließen. Denn setzt man in dem allgemeinen elliptischen Integral die Konstante k=0, so geht dasselbe in das Integral für are sin x über, und setzt man k==1, so verschwindet im Nenner das Wurzelzeichen, und man E4 erhält a en welches Integral der logarithmischen Funktion > 0 1+x 1— x reelle, die ihnen entsprechenden Exponentialfunktionen eine imaginäre Periodizität besitzen (S. 232), so vereinigen die elliptischen Funktionen beide Eigenschaften in sich: sie sind doppelperiodische Funktionen. Die logische Bedeutung dieser durch die Vermittlung algebraischer Integrale gewonnenen neuen Hilfsfunktionen besteht demnach darin, daß sie den mathematischen Ausdruck für den Begriff der periodischen Veränderung verallgemeinern und so eine genaue Darstellung solcher Vorgänge gestatten, für welche die einfachen periodischen Funktionen nicht zureichen. In der nämlichen Richtung, in der aus den trigono- metrischen die elliptischen Funktionen hervorgegangen sind, läßt sich nun weiter fortschreiten, indem man zu Funktionen sechsten, achten Grades u. s. w. übergeht. So entstehen die verschiedenen Ordnungen der sogenannten hyperelliptischen Integrale. Entspre- log entspricht. Da die trigonometrischen Funktionen eine Die Anwendungen der Infinitesimalmethode. 267 chend der Beschränkung der komplexen Größen auf die Darstellung in einer Ebene zeigt sich übrigens, daß eindeutige Funktionen von mehr als zwei Perioden unmöglich sind. In logischer Beziehung bieten diese Entwicklungen nur noch zu zwei Bemerkungen Anlaß. Erstens sehen wir, daß alle höheren transzendenten Funktionen aus den einfachen analytisch durch die Anwendung des Permanenzprinzips hervorgehen, wobei aber dieses nicht direkt auf die Funktion selbst, sondern zunächst auf die arithmetischen Operationen, die zu ihr führen, angewandt werden muß. Eben darum bilden gewisse Integralformen, in denen diese Operationen in einem geschlossenen Ausdruck zusammengefaßt werden, die Übergangsglieder. Zweitens zeigt es sich, daß die Allgemein- heit der Funktion mit ihrer Ordnung, bezw. mit der ÖOrdnungszahl des algebraischen Ausdrucks, welchen das ihr entsprechende Integral enthält, zunimmt. Diese Allgemeinheit bezieht sich aber lediglich auf die umfassende Natur des durch die Funktion repräsentierten Gesetzes. Jede Funktion höherer Ordnung schließt die Funktionen niederer Ordnung, aus denen sie durch die Anwendung des Permanenzprinzips hervorgegangen ist, als Spezialfälle in sich. Doch gehen diese Spezial- fälle auch hier aus der allgemeineren Form nicht durch den Hinzutritt determinierender Bedingungen hervor, sondern im Gegenteil dadurch, daß bestimmte Elemente, die in der allgemeineren Form enthalten sind, zum Verschwinden kommen. So läßt sich denn überhaupt diese wach- sende Determination der Begriffe in aufsteigender Richtung als der spezifische Charakter mathematischer Überordnung be- trachten. Schließlich liegt die Bemerkung nahe, daß auf dem angedeuteten Wege, vermöge der auch in diesem Fall unbeschränkten Anwendbarkeit des Permanenzprinzips, die Ableitung neuer Funktionen von zuneh- mender Allgemeinheit eine unbegrenzte ist. Aber es ist ebenso gewiß, daß man gerade infolge dieser zunehmenden Allgemeinheit an eine Grenze kommen muß, wo die Verwendbarkeit der so entwickelten Funktionen in der Form von Hilfsfunktionen fraglich wird. Diese Grenze wird namentlich dann erreicht, wenn die Funktionen einen vieldeutigen Charakter gewinnen. In der Fähigkeit, neue Funktions- formen zu erzeugen, bekundet übrigens die Integration wiederum ihre Verwandtschaft mit den inversen Operationen der Arithmetik. Aus diesen sahen wir sukzessiv neue Zahlsysteme entspringen, aus der Subtraktion die negativen, aus der Division die gebrochenen und irra- tionalen, aus der Radizierung die komplexen Zahlen, und aus den beiden letzteren Operationen außerdem die gebrochenen und die kom- 268 Die Logik der Mathematik. plexen Funktionen. Im Gegensatze zu dieser prinzipiellen Entwicklung waren die einfachen Formen transzendenter Funktionen zunächst aus zufälligen Betrachtungsweisen hervorgegangen, denen nur mittels der Übertragung auf alle möglichen analogen Größenverhältnisse eine all- gemeinere Bedeutung beigelegt werden konnte. Auf eine solche wies überdies die Beziehung der Exponentialfunktionen und trigonometri- schen Funktionen zueinander und der letzteren zu den Funktionen komplexer Variabeln hin. Erst durch die Infinitesimalmethode wird nun der vollständige Zusammenhang der transzendenten und der alge- braischen Funktionen aufgeklärt. Auch die Größensysteme der transzen- denten Funktionen können nämlich unmittelbar aus den ursprünglichen Zahlen und den aus ihnen gebildeten algebraischen Funktionen durch eine inverse Operation abgeleitet werden: diese Operation ist die Inte- gration. Wie die Aufgaben, jeden beliebigen Bruch und jede Wurzel aus einer negativen Größe in einer einfachen Zahl darzustellen, durch die irrationalen und komplexen Zahlen gelöst werden, so führt das Problem, aus derivierten Funktionen von algebraischer Form die ur- sprünglichen Funktionen, von welchen sie abgeleitet sind, zu finden, unter gewissen Bedingungen direkt zu der Aufstellung der transzen- denten Funktionen. Dieser Weg ist aber auch insofern der allgemeinere, als sich auf ihm mit den niederen zugleich die höheren Formen dieser Funktionen ergeben. Dritter Abschnitt. Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Erstes Kapitel. Entwicklung und Gliederung der Naturwissenschaften. 1. Die Entwicklung der Naturwissenschaften. So innig die Beziehungen sind, die Mathematik und Naturforschung verbinden, so weit entfernen sich beide voneinander in den Bedingungen ihrer Entwicklung. Vermöge der einfachen Natur der Erfahrungen, die den Begriffen von Zahl und Ausdehnung zu Grunde liegen, hat die Mathematik in dem Augenblick, wo sie in das Licht der Geschichte trat, den Gang einer gesicherten Wissenschaft eingeschlagen. Die Naturforschung dagegen erscheint von Anfang an als ein Schauplatz des Kampfes widerstreitender Weltanschauungen. Spät erst und zu- nächst bloß auf beschränkten Gebieten hat in ihr durch die Sicher- stellung allgemein anerkannter Ergebnisse eine friedlichere Entwick- lung beginnen können. Allmählich sind dann die methodischen Gesichts- punkte, denen man solche Ergebnisse verdankte, auch auf andere Gebiete übertragen worden. Doch die Nachwirkungen jener Kämpfe werden in der Unsicherheit der Grundbegriffe heute noch überall fühl- bar ; sie verraten sich in dem Zweifel über die Bedeutung der einfachsten Prinzipien der Mechanik ebensogut wie in den wechselnden Anschau- ungen über den Ursprung der verwickeltsten Lebenserscheinungen. Die Aufgabe der Naturwissenschaften besteht in der metho- dischen Erforschung der einzelnen Naturerscheinungen. Diese Aufgabe ist aber allmählich aus anderen, älteren Formen der Naturbetrachtung entstanden. Den Banden mythologischer Weltanschauung entwand sich in den ersten Anfängen der Wissenschaft die philosophische Betrach- tung des Weltganzen, und aus ihr sind in viel späterer Zeit erst die ein- zelnen Naturwissenschaften hervorgegangen. Dieses Verhältnis hat auf die gesamte Entwicklung der letzteren seine Schatten geworfen. 270 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Während das System der Mathematik aus speziellen Ergebnissen und Verfahrungsweisen in stetiger Entwicklung zu einem Ganzen sich fügte, fand die naturwissenschaftliche Forschung bereits als sie begann zusammenhängende Naturanschauungen vor, die sich jede neu gefundene Tatsache dienstbar zu machen strebten, und die auf die Methoden, die man zur Auffindung der Tatsachen benützte, einen beherrschenden Einfluß ausübten. Uns erscheint dies jetzt als eine Umkehrung der naturgemäßen Verhältnisse. Wir verlangen, daß der Philosophie überall durch die Erfahrungswissenschaften der Boden bereitet werde. Gleichwohl wäre es unbillig, wenn man der alten Naturphilosophie vorwerfen wollte, daß ihr diese Ansicht fremd war. Mag auch infolge seines der Erkenntnis vorauseilenden Strebens der menschliche Geist die größten Schwierigkeiten sich selbst schaffen, — das Interesse an der Frage nach dem Ursprung und dem Wesen der Dinge ist ein so un- geheures, daß sich jede Zeit damit abfinden muß. Es liegt nahe, als den wichtigsten Grund, weshalb die Natur- wissenschaft der Griechen so weit hinter den Leistungen auf andern Gebieten zurückblieb, ihren gänzlichen Mangel an methodischen Hilfs- mitteln anzusehen. Welchen Erfolg konnte eine Naturforschung haben, die auf Zeitbestimmungen ohne Uhr, Temperaturvergleichungen ohne Thermometer, astronomische Beobachtungen ohne Fernrohr vertrauen mußte?*) Man vergißt aber bei dieser Frage, daß die mangelnde Er- findung solcher Hilfsmittel selbst schon eines der lautesten Zeugnisse für den Mangel der richtigen Methode naturwissenschaftlicher For- schung ist. Überdies, ein Hipparch und Archimedes hatten ohne vollkommenere Instrumente, jener die Grundlagen der exakten Astro- nomie gelegt, dieser die allgemeinsten Gesetze der Statik fester und flüssiger Körper aufgefunden. Sogar die schiefen Rinnen und die primitiven Wasseruhren, deren sich Galilei bei seinen Fallversuchen bediente, hätten nötigenfalls schon dem Aristoteles zur Verfügung gestanden. Nicht die äußeren Hilfsmittel sind es, die der Methode der neueren Naturforschung ihr charakteristisches Gepräge verleihen, sondern die in ihr herrschende Form der Naturbetrachtung. Und diese war es zugleich, welche die Werkzeuge exakter Beobachtung mit der nämlichen inneren Notwendigkeit schaffen mußte, mit der die Aristotelische Naturphilosophie niemals zu ihnen führen konnte. An solche tiefer liegende Gegensätze mochte man denken, wenn die Ursachen des Mißerfolgs antiker Naturforschung in die kurze *) Vgl. E. Zeller, Die Philosophie der Griechen, 3. Aufl., II, 2, S. 250. Die Entwicklung der Naturwissenschaften, ar Formel gefaßt wurden, es habe den Alten weder an Tatsachen noch an Ideen gemangelt, ihre Ideen seien aber zu unbestimmt und zu wenig angemessen den Tatsachen gewesen*). Mit größerem Rechte könnte man vielleicht sagen: die ihnen bekannten Tatsachen waren zu unbestimmt, und sie wurden dadurch verführt, an die Stelle der Tat- sachen ihre eigenen Ideen zu setzen. Aber alle diese Erklärungen, die mehr auf äußere Unterschiede als auf Ursprung und Bedeutung der verschiedenartigen Naturanschauungen Rücksicht nehmen, ver- gleichen, was im Grunde unvergleichbar ist. Die Alten besaßen eine Naturphilosophie, aber keine irgend nennenswerte Naturwissenschaft. Als diese ihre ersten Schritte zu machen begann, fand sie darum keines- wegs freies Feld vor, sondern ihr Gebiet war im Besitz einer philo- sophischen Weltbetrachtung, die mit ihren allgemeinen Antworten auch dem einzelnen seine bestimmte Bedeutung anwies,. So kommt es, daß die Geschichte der Naturforschung von ihren ersten Anfängen an den Charakter eines Besitzstreites hat, und daß sıe diesen Charakter bis in unsere Tage herab jedesmal von neuem annimmt, sobald für ein neues Gebiet festere Beziehungen zu den bereits sicher begründeten Zweigen der exakten Wissenschaft gewonnen werden. Bei diesem Besitzstreit tritt regelmäßig eine neue Betrachtungsweise, die jede Erscheinung in ihre einfachsten empirischen Bestandteile zu zerlegen sucht, einer älteren bis dahin herrschenden gegenüber, welche die Unterordnung jeder einzelnen Tatsache unter gewisse allgemeine Be- griffe als ihre Aufgabe ansieht. Wenn wir die erste dieser Betrach- tungsweisen die naturwissenschaftliche, die zweite die naturphilo- sophische nennen, so soll damit nicht die wirkliche Aufgabe der Natur- philosophie, sondern nur die historische Stellung angedeutet sein, die sie bis dahin eingenommen. Diese historische Stellung ist aber wesent- lich dadurch bedingt, daß die Naturphilosophie der naturwissenschaft- lichen Forschung vorausging und daher in ihren Anfängen ganz und gar auf die gemeine Erfahrung gegründet war. Indem sich diese einem hoch ausgebildeten logischen Denkvermögen gegenüber befand, konnte kaum ein anderes Resultat zu stande kommen als dasjenige, das in der Naturphilosophie der Griechen niedergelegt ist. In die unendliche Fülle mannigfach verketteter Erscheinungen, welche die Naturbeob- achtung darbietet, muß eine erste wissenschaftliche Auffassung vor allem durch eine nach logischen Gesichtspunkten unternommene *) Whewell, Geschichte der induktiven Wissenschaften. Deutsch von Littrow. I,S. 69 £. 372 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung, Klassifikation eine gewisse Ordnung zu bringen suchen. Stets hat daher die tiefer eindringende Forschung gegen einen logischen Schema- tismus zu kämpfen, der in voreiliger Weise ein Wissensgebiet systematisch abschließt, und der die Dinge zu erklären meint, indem er sie einteilt. Eine so gewonnene Naturanschauung kann auf lange hinaus das wissen- schaftliche Bedürfnis befriedigen. Darum verdanken auch die ersten Regungen der exakten Naturforschung im Altertum nicht dem theo- retischen Interesse, sondern praktischen Bedürfnissen ihren Ursprung. Dem theoretischen Interesse an den Himmelserscheinungen war durch die unbestimmten Vorstellungen über den Umschwung der Gestirn- sphären, wie sie sich bei Plato und Aristoteles finden, Genüge geleistet; aber zum Zweck einer exakten Jahreseinteilung bedurfte man quanti- tativer Bestimmungen, die schließlich in einer für die Hilfsmittel der Alten erreichbaren Genauigkeit in dem astronomischen System eines Hipparch und Ptolemäus ihren Abschluß fanden. Durch das Pro- blem, den Silbergehalt einer goldenen Krone zu bestimmen, wurde Archimedes, wie man erzählt, zu seinen hydrostatischen Entdeckungen veranlaßt. Wie ein Körper von gegebener Form zu unterstützen sei, um seinen Fall zu verhindern, wie eine gegebene Kraft in Bewegung zu setzen, wie die Spannung einer Bogensehne zunehmen müsse, wenn die erzielte Kraft um ein bestimmtes Maß wachsen solle: diese und ähnliche praktische Aufgaben haben einen Archimedes und Heron von Alexandrien zu ihren mechanischen Untersuchungen geführt. Unter allen Naturerscheinungen sind nun aber die Bewegungen schwerer Körper vermöge der Einfachheit der zu ihrer Beobachtung erfor- derlichen Methoden am leichtesten einer exakten Untersuchung zugäng- lich. Die Mechanik ist daher die einzige Naturwissenschaft, deren An- fänge bis in das Altertum zurückreichen. Indem sich die Mechanik des Archimedes auf statische Probleme beschränkte, bedurfte sie nur einer kleinen Zahl physikalischer Voraussetzungen; ihr wesentlicher Inhalt bestand daher in der statischen Verwertung geometrischer Sätze. Selbst bei Stevinus und Galilei sind noch die Nachwir- kungen dieser Abhängigkeit von der Geometrie zu erkennen. Doch die Behandlung der Bewegungsprobleme mußte mit innerer Notwendig- keit die selbständige Entwicklung der Mechanik und zugleich ihre Rückwirkung auf die übrigen Gebiete der Naturlehre herbeiführen. In dem nämlichen Zeitalter, welches die Fundamente der rationellen Mechanik entstehen sah, wurden in der Tat durch Mersenne und Snell die einfachsten Grundgesetze der Akustik und Optik entdeckt, durch Gilbert die Eigenschaften des Magnetes zum ersten Male ge- Die Entwicklung der Naturwissenschaften. 273 nauer erforscht, und gelang es endlich Kepler, auf der Grundlage der Kopernikanischen Weltanschauung, die Bewegungen der Planeten auf die Gesetze zurückzuführen, die noch jetzt seinen Namen tragen, Ihren Abschluß fand diese Entwicklung der Physik und Astro- nomie in der folgenden Zeit in der Gravitationstheorie Newtons, welche der physikalischen Untersuchung auf allen Gebieten den Weg zeigte, indem sie die Deduktion aus den allgemeinen Prin- zipien der Mechanik als das Ziel einer jeden physikalischen Theorie hinstellte. Langsam folgten die übrigen Naturwissenschaften dem Beispiel, das ihnen durch die Astronomie und die einfacheren Gebiete der Physik gegeben war. Zur selben Zeit, als bereits die Fallversuche Galileis eine tiefere Erkenntnis der Schwerkraft erschlossen und die Kepler- schen Gesetze die Bewegungen der Himmelskörper einfachen Maß- beziehungen unterworfen hatten, lag die chemische Forschung noch in den Händen abergläubischer Goldköche, und bekämpften sich mit wechselndem Glück die Lehren des Aristoteles und Paracelsus über die Elemente. Erst als Robert Boyle gegen Ende des 17. Jahrhunderts dem Begriff des Elementes die Bedeutung eines erfahrungsmäßig nicht weiter zerlegbaren und durch konstante Eigenschaften sich unter- scheidenden Stoffes anwies, begann die Chemie den nämlichen Forschungsprinzipien zu folgen. Die Menge der Elemente, ihre Beziehungen und ihre Verbindungen richteten sich nun nicht mehr nach irgend welchen mystischen Zahlsymbolen und anderen Vor- stellungen, die von außen an die Erscheinungen herangebracht oder höchstens aus einigen wenigen Tatsachen abstrahiert und ungebührlich verallgemeinert waren, sondern zur einzigen Richterin über Tatsachen und Hypothesen wurde auch hier die Erfahrung. Um einige Jahrzehnte früher als die Chemie hatte die Physiologie durch William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufes den ersten Schritt auf der Bahn der exakten Forschung getan. So wichtig aber dieser Schritt auch war, so mußte er doch für die nächste Folgezeit in gewisser Art umso verhängnisvoller werden, je weiter noch die übrigen Zweige biologischer Forschung zurückstanden. Denn allzu groß ward nun die Versuchung, auf beliebige Lebensvorgänge von unbekannter Natur die nämlichen mechanischen Prinzipien anzu- wenden. Von Cartesius und den iatromechanischen Schulen des 17. Jahrhunderts an dauert diese Tendenz bis in unsere Tage. Der mechanischen Auffassung stellen sich aber mit wechselndem Glück teleologische Anschauungen entgegen. Findet die mechanische Phy- Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 18 274 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. siologie stets an dem Vorbilde der Physik und an gewissen einfachsten Lebensvorgängen ihren Rückhalt, so stützen sich die animistisch- vitalistischen Lehren auf das Hereingreifen psychischer Faktoren in die höheren Lebensvorgänge und vor allem auf die eine Zweckerklärung herausfordernde Beschaffenheit der Entwicklungserscheinungen. Dieser Kampf ist noch nicht beendet, und noch mehr als die Physiologie selber stehen die von ihr abhängigen Zweige der organischen Naturgeschichte unter dem Einflusse desselben. 2. Das System der Naturwissenschaften, " Die einzelnen Zweige der Naturwissenschaft haben sich zunächst aus praktischen Bedürfnissen, nicht aus systematischen Rücksichten gesondert. Dennoch entspricht diese Gliederung ihrem tatsächlichen Erfolg wie ihrem zeitlichen Eintritte nach in hohem Grade zugleich den logischen Eigentümlichkeiten der verschiedenen Wissenschaften, sowie den besonderen Gestaltungen der Methodik, die in ihnen herrschend ist. Nur an einzelnen Stellen, namentlich da, wo spezielle Bedingungen, wie sie aus der vielseitigen Verknüpfung der verschiedenen Gebiete hervorgehen, auf eine einzelne Disziplin fördernd oder hemmend ein- gewirkt haben, entfernt sich die historische Entwicklungsfolge von dem systematischen Zusammenhang*). Anfang und Grundlage aller erklärenden Naturwissenschaften ist die Mechanik. Sie ist die allgemeinste Naturwissenschaft, inso- fern man auf die Erscheinungen, mit denen sie sich beschäftigt, auf die Bewegungen der Körper und ihrer Teile, alle der äußeren Wahr- nehmung gegebenen Naturerscheinungen vermöge des Grundsatzes der Unveränderlichkeit der materiellen Substanz zurückzuführen sucht. Sie bildet außerdem das Bindeglied zwischen Mathematik und Natur- forschung. Denn nicht nur besitzen diejenigen ihrer Prinzipien, die sich auf die reine Bewegungsvorstellung beziehen, völlig den Charakter abstrakter mathematischer Allgemeinheit, sondern selbst jene me- chanischen Sätze, bei denen die empirisch gegebenen Eigenschaften der Körper eine wesentliche Rolle spielen, pflegen diese Eigenschaften auf eine ideale Form zurückzuführen, der sich die Körper unserer Er- fahrung immer nur annähern können. Infolge dieses Übergewichts mathematischer Abstraktion besitzt die Mechanik in höherem Grade *) Vgl. oben Abschn. I, S. 89 ff. und über die Einteilung der Wissen- schaften, Philos. Studien, VI, S. 1 fl. Das System der Naturwissenschaften, 275 als irgend eine andere Naturwissenschaft einen spekulativen Charakter. Zugleich können in ihr mit großer Schärfe die Annahmen von den Fol- gerungen, sowie unter den ersteren diejenigen Voraussetzungen, die in allgemeingültigen Anschauungen ihre Quelle haben, von jenen unterschieden werden, die auf einzelnen Erfahrungen beruhen. Infolge der vollkommen bindenden Schlußweisen endlich, durch die sich aus einer kleinen Anzahl allgemeiner Voraussetzungen das System der rationellen Mechanik entwickelt, ist diese auch in methodischer Beziehung das vollendete Vorbild einer exakten Naturwissenschaft. An die Mechanik schließt sich zunächst die Physik an. Wäh- rend die Mechanik ihren Betrachtungen abstrakte Hypothesen zu Grunde legt, die in keiner Erfahrung vollständig verwirklicht sind, hat die Physik den besonderen Bedingungen Rechnung zu tragen, die für die Geltung der mechanischen Gesetze aus den speziellen Eigenschaften und Verbindungen der Naturobjekte entstehen. Mit Rücksicht hierauf und in Anwendung des Grundsatzes, daß wegen der qualitativen Un- veränderlichkeit der Materie alle Naturvorgänge in letzter Instanz Bewegungen sind, betrachtet man als das Ziel der Physik ihre voll- ständige Überführung in eine angewandte Mechanik. Dabei bleibt jedoch der Physik eine unermeßliche Fülle eigentümlicher Aufgaben in der Erforschung der konkreten Bedingungen des Geschehens, ins- besondere in der Gewinnung haltbarer Voraussetzungen über die Eigenschaften der Materie und in der Deduktion der verschiedenen Naturerscheinungen aus denselben. Gerade dadurch, daß die Physik verpflichtet ist, ihre Annahmen den in der Erfahrung gegebenen Natur- erscheinungen auf das genaueste anzupassen, entfernt sie sich weiter als die Mechanik von dem Charakter einer mathematischen Wissen- schaft, die von der empirischen Gültigkeit ihrer Voraussetzungen unabhängig ist. Infolge der verwickelten Beschaffenheit der Erschei- nungen und der Unsicherheit ihrer Hypothesen verliert sie zudem sogar teilweise den Charakter einer exakten Wissenschaft, indem sie sich vielfach genötigt sieht, an Stelle einer strengen Deduktion der Erfahrungen aus gewissen allgemeinen Voraussetzungen eine Beschrei- bung der durch Beobachtung und Versuch festzustellenden Tatsachen treten zu lassen. Dieses Verhältnis hat im Verein mit pädagogischen Rücksichten die Trennung in experimentelle und theo- retische oder mathematische Physik herbeigeführt. Es ist aber unrichtig, wenn man hierbei die experimentelle Physik als die ursprüngliche Wissenschaft bezeichnet, aus der sich die theoretische allmählich entwickelt habe, eine Ansicht, die mit der geläufigen und 2376 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. im ganzen ebenso unrichtigen Unterscheidung eines induktiven und deduktiven Stadiums einer jeden Wissenschaft zusammenhängt. Schon der Umstand, daß die Ausbildung der Mechanik derjenigen der Physik vorangegangen ist, widerspricht dem. In Wirklichkeit ist darum auch eine strenge Trennung jener beiden Disziplinen nicht durchzuführen, sondern wie die mathematische Physik der experimentellen eine Menge tatsächlicher Bestimmungen entnehmen muß, so pflegen anderseits in die letztere zahlreiche Abstraktionen und Deduktionen der ersteren einzugehen. Die mathematische Physik nähert sich übrigens nicht bloß durch ihren streng deduktiven Charakter, sondern auch darin der Mechanik, daß sie mit abstrakten Voraussetzungen operiert, von denen von vornherein zugestanden wird, daß sie nur annähernd ver- wirklicht sein können. Aber sie sucht diese Voraussetzungen so lange umzugestalten, bis es ihr gelingt, eine völlige Übereinstimmung mit gewissen numerischen Daten der Beobachtung herbeizuführen. Auf diese Weise stellt sie im Verein mit der Mechanik die Vermittlung her zwischen mathematischer Spekulation und empirischer Forschung. In ihrem weitesten Sinne umfaßt die Physik das Gesamtgebiet des Naturgeschehens. Dieses trennt sich dann aber zunächst in zwei Teile, deren Inhalt von den verschiedenen Gesichtspunkten abhängt, unter denen das hypothetische Substrat der Naturerscheinungen, die Materie, der wissenschaftlichen Betrachtung zugänglich ist. Eine Reihe allgemein verbreiteter Naturerscheinungen weist nämlich auf die allgemeinen Eigenschaften zurück, welche der Materie ohne Rück- sicht auf jene spezifischen Verschiedenheiten zukommen, die den cha- rakteristischen Unterschieden der einzelnen Naturkörper zu Grunde liegen. Die Erscheinungen der Schwere, der Wärme, des Lichtes u.s. w. sind Naturerscheinungen, für deren Gestaltungsweise zwar die Unterschiede der Naturkörper nicht gleichgültig sind, bei deren Er- klärung aber doch ein Zurückgreifen auf spezifische Stoffunterschiede schon deshalb ausgeschlossen ist, weil sie an Körpern von sehr ver- schiedenen materiellen Eigenschaften in übereinstimmender Weise auftreten. Die Betrachtung dieser allgemeinen Naturerscheinungen ist daher die Aufgabe der eigentlichen Physik, während die Untersuchung jener Eigenschaften der Körper, deren Erklärung die Annahme irgend welcher spezifischer Stoffunterschiede erheischt, der Chemie an- heimfällt. Ein hiervon verschiedener Gesichtspunkt hat noch zu einer weiteren Spaltung der Physik den Anlaß geboten. Der Biologie bleiben alle Naturerscheinungen vorbehalten, die, unter dem Gesichtspunkt Das System der Naturwissenschaften. 277 des Zweckes zusammengefaßt, als Lebenserscheinungen bezeichnet werden. Damit sollen diese keineswegs der allgemeineren physikalischen und chemischen Betrachtung entzogen sein, sondern es wird bloß der eigentümliche Charakter angedeutet, den bestimmte zusammengesetzte Ergebnisse physikalischer und chemischer Funda- mentalerscheinungen annehmen. In diesem Sinne betrachtet erscheint die Biologie als ein Anwendungsgebiet der Physik und Chemie, das zu diesen seinen Mutterwissenschaften in einem ähnlichen Verhältnisse steht wie die theoretische Maschinenkunde zur allgemeinen Mechanik. Die Biologie beschäftigt sich mit der Anwendung der physikalischen und chemischen Prinzipien auf gewisse natürliche Substanzkomplexe, die Organismen, die mit Rücksicht auf ihre zweckmäßige Beschaffen- heit den Charakter natürlicher Maschinen besitzen. Diese Betrach- tungsweise reicht aber nicht mehr zu, sobald es sich um das Verständnis jener physischen Erscheinungen handelt, die, wie insbesondere die Entwicklungs- und Bewegungsvorgänge, mit dem geistigen Leben in Beziehung stehen. Hier bedarf vielmehr die Biologie der Psych.o- logie zu ihrer Ergänzung, mit der vereinigt sie das verbindende Glied ist zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften. Physik, Chemie und Biologie bilden dergestalt die drei aus der Physik hervorgegangenen Hauptzweige der theoretischen Naturlehre. Jeder dieser Hauptzweige läßt aber wieder einzelne Anwendungen auf die verschiedenen Naturobjekte zu, und hieraus entspringt dann eine größere Anzahl von Sondergebieten, deren jedes aus der Anwendung irgend einer der drei Hauptdisziplinen oder mehrerer von ihnen auf einzelne Gegenstände der Natur hervorgeht. Der allgemeinen Physik, die sich mit den Naturerscheinungen ohne spezielle Rücksicht auf bestimmte räumliche und zeitliche Be- dingungen beschäftigt, ordnet sich so die kosmische Physik unter als eine Wissenschaft, welche die Ableitung der uns gegebenen Weltordnung aus den allgemeinen physikalischen Gesetzen zu ihrem Gegenstande hat. Sie zerfällt wieder in zwei Gebiete: indie Astro- nomie, deren Aufgabe in der Darlegung der wechselseitigen Bezie- hungen der Weltkörper besteht, und in die Astrophysik, die die physikalischen Eigenschaften derselben zergliedert, und der daher auch die Geophysik als ein wesentlicher Bestandteil zuzurechnen ist. Die wechselseitigen Beziehungen der Weltkörper finden ihren nächsten Ausdruck in der allgemeinen Topographie des Sternhimmels, die den Gegenstand der deskriptiven Astronomie ausmacht. Sie bildet zusammen mit der Geographie den Inhalt der oben 278 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. (S. 93) charakterisierten „chorologischen Wissenschaften“. An die Topographie der Gestirne schließt sich sodann als phänomenologische Disziplin die Himmelsmechanik, welche die zeitlichen Änderungen in der wechselseitigen Lage der Gestirne als ein Anwendungsgebiet der Mechanik schwerer Körper behandelt, ausgezeichnet durch die ver- hältnismäßig einfachen Bedingungen, unter denen die Bewegungen statt- finden. Von den sonstigen physischen Eigenschaften der Weltkörper fallen nur diejenigen, die auf die Entstehung der gegenwärtigen Welt- ordnung Licht werfen, der Mitberücksichtigung der Astronomie an- heim. Hier ist dann die letztere auf die Resultate angewiesen, welche die Astrophysik bei der Untersuchung der einzelnen Sterne gewonnen hat. Die nämlichen Ursachen aber, die eine frühzeitige Ausbildung der astronomischen Wissenschaft möglich machten, bedingen eine sehr langsame Entwicklung der astrophysischen Kenntnisse, da sich diese naturgemäß auf die durch die Hilfsmittel des Gesichtssinns wahr- zunehmenden Erscheinungen beschränken. So vollständig nun diese Hilfsmittel zum Aufbau der Mechanik des Himmels genügen, ebenso unzureichend sind sie im allgemeinen zur Erforschung der übrigen physikalischen Eigenschaften der Gestirne. Nur ein einziger Welt- körper macht in dieser Beziehung eine Ausnahme: unsere eigene Erde. Die Geophysik ist daher unter allen Zweigen der Astrophysik der vollkommensten Ausbildung fähig, so daß hier das praktische Bedürfnis zu einer Teilung in verschiedene Zweige geführt hat. Unter ihnen nimmt die physikalische Geographie die Stelle einer allgemeinen Geophysik ein, indem sie von den allgemeinsten Eigen- schaften des Erdkörpers und ihren wechselseitigen Beziehungen Rechen- schaft zu geben sucht. Sie stützt sich dabei teils auf die spezielleren Teile der Geophysik, die sich nach einzelnen Seiten hin mit den phy- sischen Eigenschaften der Erde beschäftigen, wie Meteorologie und Klimatologie, Chorologie und Geologie; teils verbindet sie sich mit der organischen Naturgeschichte und bildet so die besonderen Gebiete der Pflanzen-, Tier- und Anthropogeographie. Hier berührt sich aber wieder die Geologie mit der Chemie, die Pflanzen- und Tiergeographie mit der Biologie, und die Anthropogeographie tritt in ein näheres Ver- hältnis zu den Geisteswissenschaften, insbesondere zur Geschichte und Völkerkunde. Hierin findet das allgemeine Prinzip seinen Aus- druck, daß die wissenschaftlichen Gebiete umsomehr ineinander ein- greifen, je mehr sie sich auf konkrete Naturgegenstände und nicht auf allgemeine Erscheinungen beziehen. Von verschiedenartigen Motiven ist die Gliederung der Chemie Das System der Naturwissenschaften, 279 bestimmt worden. Bei der Einteilung in jene beiden Hauptzweige, welche die wenig angemessenen Namen der unorganischen und der organischen Chemie tragen, haben hauptsächlich zwei Gesichtspunkte zusammengewirkt. Auf der einen Seite schien es wünschenswert, die fundamentalen Eigenschaften der chemischen Elemente und ihrer Verbindungen in einem grundlegenden Teile zu behandeln, dem dann die systematische Beschreibung der einzelnen Verbindungen in einer besonderen Disziplin zu folgen habe. Auf der anderen Seite forderten die Kohlenstoffverbindungen durch ihre Zahl und ihre Eigenschaften eine abgesonderte Behandlung heraus. Infolge dieser heterogenen Motive trägt die Einteilung in unorganische und organische Chemie fast mehr das Gepräge einer praktischen Arbeits- teilung als einer aus den inneren Eigenschaften des Gegenstandes erwachsenen Trennung. Waltet auch in der unorganischen Chemie, insofern sie es mit den allgemeinen Grundlagen der chemischen Wissen- schaft zu tun hat, im ganzen mehr der Versuch theoretischer Erklärung, in der organischen der Standpunkt systematischer Klassifikation vor, so hat sich doch teils infolge der Hereinziehung eines großen Teils des Systems der chemischen Verbindungen in die unorganische Chemie, teils infolge der Verwertung gerade der Kohlenstoffverbindungen zu theoretischen Spekulationen dieses Verhältnis mannigfach verschoben. Auch hat wohl hauptsächlich dieser Umstand zur Abzweigung der allgemeinen oder physikalischen Chemie Anlaß ge- geben. Indem man in ihr alle diejenigen Untersuchungen vereinigt, die irgend eine direkte Beziehung zur Erklärung der chemischen Fun- damentalerscheinungen besitzen, vollendet sich mehr und mehr die Scheidung in enetheoretischeundineinesystematische Chemie. Davon fällt der ersteren die theoretische Erklärung der che- mischen Erscheinungen, der zweiten die systematische Klassifikation und Beschreibung der chemischen Verbindungen zu. Abermals von anderen Gesichtspunkten aus hat sich die Gliede- rung der Biologie vollzogen. Zunächst erwies sich hier eine ein- gehende Kenntnis des Baues und der Struktur der Organismen als unerläßliche Bedingung des Studiums der Lebenserscheinungen. Es schieden sich daher zunächst de Anatomie und die Physio- logie der Pflanzen und der Tiere. Bildet als bloß deskriptive Wissen- schaft betrachtet die Anatomie die Vorbereitung zur Physiologie, so ist sie als erklärende Untersuchung der Formentwicklung oder als Ent- wicklungsgeschichte ein integrierender Bestandteil derselben. Die Physiologie trennt sich sodann nach der durchgreifenden Verschieden- 380 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. heit der Lebenserscheinungen in die Physiologie der Pflanzen und in die Physiologie der Tiere. Aus beiden hat sich die allgemeine Physiologie als dasjenige Gebiet abgesondert, das die all- gemeinen Eigenschaften der Organismen und den Zusammenhang der gesamten Lebenserscheinungen zum Objekt ihrer Untersuchungen nimmt. Von den in den einzelnen Gebieten der Naturlehre zur Geltung gelangten Prinzipien aus werden nun schließlich die Anschauungen be- stimmt, die für die systematische Erkenntnis der einzelnen Natur- objekte gültig sind. Der alte Name der Naturgeschichte deutet vollkommen treffend dieses Verhältnis an. Denn er bezeichnet als die eigentliche Aufgabe einer systematischen Beschreibung der Gegen- stände die Ableitung ihrer Eigenschaften aus den Bedingungen ihrer Entstehung, d. h. ihre Erklärung aus bestimmten physikalischen, chemischen oder biologischen Gesetzen. Für den jeweiligen Zustand der systematischen Wissenschaften ist nun aber außerdem die Tat- sache bestimmend, daß das Bedürfnis nach einer genauen Beschreibung und einer geordneten Übersicht der Objekte schon in den Anfängen der wissenschaftlichen Erkenntnis fühlbar wird, lange bevor in dem entsprechenden Gebiet der Naturlehre die zu einem genetischen Ver- ständnis erforderlichen Vorbereitungen gewonnen sind. Die Natur- geschichte sucht daher zunächst durch provisorische, meist auf die äußere Form der Gegenstände gegründete Einteilungen eine vorläufige Ordnung zu schaffen, und erst in der weiteren Entwicklung ihres Systems kommen allmählich bestimmte theoretische Anschauungen zur Geltung. Von da an reflektiert sich dann in dem Wechsel der systematischen Prinzipien die Entwicklung der gesamten Naturanschauung. (Vgl. Abschn. I, S. 50 fi.) Doch ist bei der tatsächlichen Trennung der ein- zelnen Zweige des naturwissenschaftlichen Systems voneinander der eigentümliche Umstand nicht zu übersehen, daß die Klassifikation der chemischen Verbindungen nicht getrennt zu werden pflegt von der Theorie der chemischen Erscheinungen. Dies entspringt aus der nahen Beziehung, in der hier der systematische und der phänomenologische Teil der Untersuchung zueinander stehen. Außerdem wirkt aber dabei auch die alte Tradition der Naturgeschichte mit, nach der nur die natürlich vorgefundenen Objekte, nicht die künstlich erzeugten, als Gegenstände besonderer systematischer Wissenschaften behandelt werden. Die folgende Betrachtung wird sich übrigens umsomehr auf die Untersuchung der Grundbegriffe und Methoden der drei grund- legenden phänomenologischen Gebiete, der Physik, Chemie und Biologie, Kausale und teleologische Naturphilosophie. 281 beschränken können, als in den einzelnen Zweiggebieten derselben die prinzipiellen Gesichtspunkte unverändert bleiben, während die logischen Grundlagen der systematischen Disziplinen bereits in der allgemeinen Methodenlehre (Abschn. I, S. 40 fi.) erörtert worden sind. Zweites Kapitel. Heuristische Prinzipien der Naturforschung. 1. Kausale und teleologische Naturphilosophie. Alle Naturforschung geht aus von der Sinneswahrnehmung. So sehr aber schon für das naive Bewußtsein die Sinneserscheinungen in Beziehungen zueinander treten und dadurch Versuche zusammen- hängender Naturerklärung herausfordern, so widersetzen sich doch die Vorstellungen der einzelnen Sinnesgebiete durch ihre verschieden- artige Beschaffenheit einer durchgängigen Verbindung der Erschei- nungen. Da nun gleichwohl das Erkenntnisbedürfnis zu einer solchen drängt, so wird das einzige Auskunftsmittel ergriffen, das hier möglich ist: man ordnet die Erscheinungen unter gewisse allgemeine Begriffe, die aus der Wechselwirkung unseres eigenen Denkens und Handelns mit der Außenwelt hervorgegangen sind. Die Prinzipien, die hierbei zur Anwendung kommen, können wir heuristische nennen, weil sie nicht als Resultate, sondern als leitende Maximen der Forschung auftreten. Der Gebrauch dieser Prinzipien findet seine Begründung darin, daß das denkende Subjekt niemals von den Erkenntnisformen abstrahieren kann, die sich durch die Beziehungen, in die es zu den Objekten seines Denkens tritt, entwickelt haben. Der berechtigten Anwendung derselben muß darum stets die sorgfältige Untersuchung der Frage vorangehen, ob sie notwendige Erkenntnisbedingungen sind, und ob die Objekte, in ihrem rein erfahrungsmäßigen Zusammen- hang betrachtet, ihnen wirklich entsprechen. An der Prüfung dieser Frage läßt es die ursprüngliche Naturphilosophie fehlen. Sie über- trägt ohne weiteres gewisse Allgemeinbegrifie auf die. Naturgegen- stände. Aber weder weist sie deren spezifische Berechtigung noch über- haupt die Zulässigkeit des ganzen Verfahrens nach; daher denn auch ihr Gebäude skeptischen Angriffen nicht standhalten kann. Naturgemäß sind nun die Einflüsse, welche die Gestaltung bestimm- ter Grundanschauungen hervorrufen, von Anfang an doppelter Art: einer- seits gibt es bestimmte Naturerscheinungen, die vor anderen die Auf- 282 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. merksamkeit fesseln, anderseits subjektive Begriffe und Gefühls- richtungen, die als das Bewußtsein beherrschende Mächte zugleich die Auffassung der Außenwelt lenken. Diese beiden Einflüsse grei- fen stets ineinander: nach den Ideen, die uns lenken, richtet sich unsere Apperzeption der Objekte, und an diesen wirken wieder gewisse durch ihre Konstanz ausgezeichnete Eigenschaften auf unsere Ideen zurück. Schon in der frühesten Naturphilosophie treten uns auf diese Weise zwei Grundanschauungen entgegen, die sich in vielfach ver- änderten Gestalten auch noch innerhalb der späteren Naturforschung bekämpfen. Auf der einen Seite ist die antike Atomistik beherrscht von dem Begriff der mechanischen Kausalität. In- dem sich die Bewegungserscheinungen, vor allem die beim Stoß der Körper eintretenden Übertragungen der Bewegung, als ein unmittelbar anschauliches Bild kausaler Beziehung darbieten, ent- steht die Forderung, alle anderen Formen der Naturkausalität auf dieses Urbild zurückzuführen und so einen einheitlichen Zusammen- hang der Naturerscheinungen zu stande zu bringen, der zugleich der Forderung der Notwendigkeit jedes einzelnen Geschehens genüge. Die atomistische Hypothese erkennt an, daß zahlreiche Erscheinungen jenem Bild des Stoßes und der Bewegung nicht unmittelbar entsprechen, und sie betrachtet demgemäß, um gleichwohl das Postulat der mechani- schen Naturerklärung aufrecht zu erhalten, alle sonstigen Erscheinungen als einen sinnlichen Schein, hinter dem als reales Substrat ein der Wahr- nehmung unzugänglicher mechanischer Vorgang verborgen sei. Der letztere fordert dann unsichtbare, also unmeßbar kleine Körperelemente, die Atome, die, ähnlich den wahrnehmbaren Körpern, durch Zwischen- räume getrennt sind, um gleich ihnen in mechanische Wechselwirkungen tretenzu können. Ebenso sind alle weiteren Sätze der antiken Atomistik, insbesondere die Überzeugung von der absoluten Konstanz der Materie, unmittelbare Folgen des in dieser Lehre zum Ausdruck gelangten mechanischen Kausalitätsbegriffs. Einer Annahme gegenüber, für die das denkende Subjekt selbst in dem Mechanismus der Körperwelt verloren geht, erhebt sich nun aber umso energischer eine Anschauung, die ein zusammenhängendes Bild der Natur zu gewinnen sucht, indem sie die ethischen Motive des mensch- lichen Handelns auf die Außenwelt überträgt. Der Begriff, der jetzt zum herrschenden wird, ist der Zweck. Unter den Naturvorgängen, nach deren Vorbild man alle anderen zu beurteilen sucht, fesseln hier gerade diejenigen hauptsächlich die Aufmerksamkeit, deren Realität Kausale und teleologische Naturphilosophie. 283 der Atomistiker leugnet: die Erscheinungen des Werdens und Ver- gehens und die auf sie zurückführenden qualitativen Verände- rungen. Denn wie der Mensch da in eminentem Sinne zwecksetzend auftritt, wo er schöpferisch gestaltet, so erscheint auch die Natur vor allem dann von Zwecken bewegt, wenn sie neue Bildungen hervor- bringt; das Vergehen aber ist ein notwendiges Korrelat des Werdens. Nirgends tritt dieses zweckvolle Werden und Vergehen so augenfällig hervor wie in der organischen Natur. Der organisierte Körper hat zu jeder Zeit den Vergleich mit einem Kunstwerk herausgefordert, und die Aufeinanderfolge seiner Entwicklungszustände legt den all- gemeineren Gedanken einer zweckmäßigen Weltentwicklung nahe. Zu einer derartigen Anschauung sind daher mannigfache Ansätze schon bei den älteren Philosophen, einem Heraklit, Anaxagoras, Empedokles, zu finden. Eine klarere Gestaltung aber gewinnt sie samt ihren Motiven erst in der Platonisch-Aristotelischen Philosophie. Während bei Plato die ethische Quelle dieser ganzen Richtung offen zu Tage tritt, ist es Aristoteles, der zuerst dem Zweckbegriff seine allgemeinere Bedeutung gibt und in Verbindung damit den Ent- wicklungsgedanken vollständiger durchführt. Teils hierdurch, teils durch die Fülle seiner Einzelkenntnisse ist Aristoteles für diese teleologische Richtung der Physik auf lange Zeit maßgebend ge- blieben. Es ist ein Irrtum, wenn man zuweilen die Gegensätze mechanischer und teleologischer Physik zu den Gegensätzen von Empirie und Speku- lation in Beziehung bringt, indem man den ersten Standpunkt aus einer objektiven Bearbeitung der Erfahrung, den zweiten aus einer durch subjektive Begriffe gefälschten Ordnung derselben zu erklären sucht. Vielmehr sind beide Anschauungen von objektiven und sub- jektiven Motiven bestimmt worden, und beide sind überwiegend speku- lativen Ursprungs. Der mechanische Kausalitätsbegriff eines Demo- krit war in der Tat ebensogut ein durch die tatsächliche Erfahrung nur unzureichend unterstütztes Postulat wie der Entwicklungsgedanke des Aristoteles, und hinter jenem stand nicht minder wie hinter diesem als subjektive Grundlage das menschliche Handeln; nur ging der Atomistiker ebenso einseitig von dem äußeren Effekt, der bewegenden Wirkung auf umgebende Körper, aus, wie der teleologische Physiker von dem inneren Motiv der Handlung, der sie bestimmenden Zweck- vorstellung. Was uns heute vor allem als das Ungenügende aller dieser Be- strebungen erscheint, ist der vollständige Verzicht auf jede Begründung 284 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. ihrer Voraussetzungen. Durch einen Machtspruch wird von den alten Naturphilosophen die Idee eines allgemeinen Substrates der Erschei- nungen eingeführt. Man denkt weder daran nachzuweisen, warum überhaupt die Annahme eines solchen notwendig sei, noch warum es die vorausgesetzte Beschaffenheit haben, also z. B. aus Atomen und leeren Zwischenräumen bestehen müsse. Nicht minder treten in der Physik des Aristoteles die allgemeinen Begriffe des Stofis, der Form und des Entblößtseins, die verschiedenen Arten der Formbestimmung, die vier Elemente u. s. w. ohne jede Rechtfertigung als tatsächliche Bestimmungen des natürlichen Seins auf; namentlich aber die Grund- anschauung, daß der Zweck die höchste und letzte Formbestimmung sei, gilt als eine durchaus selbstverständliche Annahme. Ließe sich auch denken, einem Demokrit habe seine Anschauung nur als eine hypo- thetische Form einheitlicher Naturbetrachtung gegolten, ähnlich wie dies bei dem späteren Erneuerer der Atomistik, bei Epikur, der Fall war, so liegt doch im allgemeinen eine solche Auffassung nicht im Cha- rakter der antiken Naturphilosophie, und bei Aristoteles ist sie ganz und gar ausgeschlossen. Mit Rücksicht auf das Verhältnis der zu Grunde gelegten Prinzipien und der auf sie gestützten Erklärungsversuche bewahrt also die antike Naturphilosophie in allen ihren Richtungen einen überwiegend spekulativen Charakter. Aus einer geringen Anzahl von Induktionen und Abstraktionen, die von der Oberfläche der Erscheinungen geschöpft sind, und aus bestimmten Begrifispostulaten gewinnt sie ihre Voraussetzungen. Da jene Induktionen und Abstrak- tionen im wesentlichen schon der allverbreiteten vorwissenschaftlichen Erfahrung angehören, so gelten sie als selbstverständliche Wahrheiten, bei denen man sich jeder Nachweisung meint entschlagen zu können. Wie wäre es auch nötig zu beweisen, daß der Stoß den Körper bewegt, oder daß alles Existierende aus Stoff und Form besteht? Gibt man sich gleich auf einem Standpunkte reiferer Reflexion einigermaßen schon darüber Rechenschaft, daß Begriffe wie Stoff und Form erst in unserem Denken entspringen, so führt dies doch höchstens zu der Überzeugung, welche die Aristotelische Metaphysik beherrscht, daß die Begriffe Ab- bilder des substantiellen Seins der Objekte, oder daß, was damit überein- stimmt, die Objekte realisierte Begriffe seien. Noch weniger ist daran zu denken, daß man die objektive Berechtigung jener Begrifispostulate, durch welche die Erfahrungsbegriffe überall erst ihre bestimmte Ge- staltung gewinnen, anzweifelt. Eben darum, weil Kausalität und Zweck Postulate sind, bleibt ihre Gültigkeit ursprünglich außer Frage. Doch besteht hier allerdings ein bemerkenswerter Unterschied zwischen Kausale und teleologische Naturphilosophie. 285 der kausalen und der teleologischen Naturanschauung, der sich schon in ihren frühesten Gestaltungen äußert. Wenn diese den Zweck als den letzten Grund des Geschehens ansieht, so ist sie weit davon entfernt, gleichzeitig die Kausalität leugnen zu wollen, sondern sie ist im Gegen- teil der Meinung, damit nur den Kausalbegrifi selber vertieft zu haben. Dagegen verbindet sich schon der Atombegriff eines Demokrit mit der energischen Leugnung der Zwecke, und diese Tendenz ist seit- dem der mechanischen Naturanschauung im allgemeinen erhalten geblieben. Dies führt uns auf einen Unterschied beider Grundanschauungen, der für ihre historische Bedeutung maßgebend geworden ist. Die mechanische Ansicht hat die Vorzüge der Folgerichtigkeit und der Einfachheit für sich. Aber eben deshalb setzt sie sich zunächst in Wider- spruch mit der Vielgestaltigkeit der Erscheinungen, die verschieden- artige Prinzipien der Erklärung zu fordern scheint. Dieser Forderung wird die teleologische Physik mehr gerecht, und sie ist daher schon mit Rücksicht auf die äußere Erfahrung ursprünglich einleuchtender, auch wenn man von ihren ethischen Beweggründen absieht. Keine Natur- lehre hat aber wohl so sehr wie die Aristotelische allen den Bedürfnissen Rechnung getragen, die dem Standpunkte der unmittelbaren, wissen- schaftlich noch nicht ausgebildeten Erfahrung entsprechen. Schon die Methode, deren sich der Stagirite überwiegend bedient, erscheint voll- kommen geeignet, das nächste Wissensbedürfnis zu befriedigen. Sie besteht, gemäß dem Charakter der Aristotelischen Logik, in der Begriffs- subsumtion und in der dialektischen Verknüpfung der Allgemeinbegriffe. Diese sind teils, wie die Gegensätze der Elemente, der natürlichen und der gezwungenen Bewegung, des Stofis und der Form, dem unmittel- baren Eindruck der sinnlichen Objekte, teils, wie der Zweck, die Voll- kommenheit, den nächstliegenden subjektiven Erfahrungen entnommen. Nachdem die Begrifissubsumtion dem ersten Ordnungsbedürfnis des Geistes Genüge geleistet, empfängt dann durch die dialektische Verarbei- tung der Begriffe der spekulative Trieb seine Befriedigung. Durch eine scharfsinnige Benützung der logischen Technik werden hier, indem der Philosoph die verschiedenen Begriffe zueinander in Beziehung setzt und namentlich von den Verfahrungsweisen der Einteilung nach Gegen- sätzen und der Ausschließung Gebrauch macht, allgemeine Begriffe gewonnen, die in der Aristotelischen Physik die Rolle von Naturgesetzen übernehmen. Jede Veränderung, so wird z. B. deduziert, ist entweder ein Werden oder ein Vergehen; Werden und Vergehen ereignen sich aber nur zwischen entgegengesetzten Dingen. Nun gibt es eine Be- 986 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. wegung, die nicht zwischen Gegensätzen stattfindet, die kreisförmige; also ist die kreisförmige Bewegung des Himmels ewig und unveränder- lich*). Auf diese Weise gelangt Aristoteles zu dem seine ganze Natur- lehre beherrschenden Satze, daß der gleichförmige Umschwung des Himmels der Ursprung aller Bewegungen und Veränderungen in der Natursei. DieseMethode gewährt zugleich den Vorteil, daß sie gestattet, mehrere parallel laufende Beweisführungen zu entwickeln, in denen aus verschiedenen Vordersätzen der nämliche Schluß abgeleitet wird. So wird für den oben angeführten Satz noch eine große Anzahl anderer Beweise beigebracht, in denen sukzessiv fast alle Grundbegriffe dieser Physik zur Verwendung kommen, so daß die verschiedenen Deduk- tionen teils gegenseitig sich stützen, teils die festere Verbindung des spekulativen Gebäudes vermitteln helfen. Zugleich hat diese teleo- logische Physik in dem „Zufälligen“, worunter sie alles versteht, was sich ihrem allgemeinen Zweckzusammenhang nicht fügen will, einen die Lücken ihrer Erklärung überall ausfüllenden, ebenfalls dem An- schauungsbereich des vorwissenschaftlichen Denkens entnommenen Hilfsbegriff zur Verfügung. Zu diesen scheinbaren Vorzügen der Methode tritt die vielseitigste Berücksichtigung der verschiedenen Erfahrungsgebiete. Nirgends wird an das Bewußtsein die harte Zumutung gestellt, von den ihm selbst innewohnenden Motiven des Geschehens völlig abzusehen oder bestimmte äußere Naturvorgänge, die sich der unmittelbaren Beobachtung auf- drängen, schlechthin zu negieren. Neben der qualitativen Veränderung findet die mechanische Bewegung ihre Stelle, und der teleologische Grundcharakter seiner Physik hindert den Aristoteles keineswegs an der richtigen Erkenntnis einfacher mechanischer Sätze, wie des Hebel- gesetzes**). So ist die Aristotelische Naturphilosophie ein dem Stand- punkte unmittelbarer Erfahrung vollkommen angemessenes und dem- selben zugleich durch die unverhältnismäßige Ausbildung der dialek- tischen Hilfsmittel im höchsten Maße imponierendes System. Darum hat sie denn auch nicht nur während einer langen Zeit die Herrschaft behauptet, sondern der Entwicklung anderer Anschauungen als eines der mächtigsten Hindernisse im Wege gestanden. Je begreiflicher aber jene Herrschaft erscheint, umsomehr drängt sich die Frage auf, welche Ursachen schließlich das Übergewicht der mechanischen Naturansicht herbeiführten. *) Aristoteles, Physik, VII, 7. **) Aristoteles, Quaestiones mechanicae, cap. 4. Postulate der empirischen Naturforschung. 287 2, Postulate der empirischen Naturforschung. a. Das Postulat der Anschaulichkeit. Die gewöhnliche Antwort auf die obige Frage besteht darin, daß man auf die Übereinstimmung der auf der Grundlage der Mechanik unternommenen Erklärungen mit der Erfahrung hinweist. Aber man übersieht hierbei, daß diese, übrigens nie mit absoluter Vollständigkeit und immer nur unter mancherlei hypothetischen Annahmen zu er- reichende Übereinstimmung das späte Produkt einer langen Entwick- lung ist, und daß niemals der Nachweis der Durchführbarkeit der mechanischen Naturansicht gelungen wäre, wenn man diese nicht lange vorher als Forderung an die Interpretation der Erscheinungen herangebracht hätte. Nicht bloß die antike Atomistik war ein rein spekulatives Gebäude, sondern auch im Zeitalter Galileis, als die mechanische Physik ihren Kampf um die Herrschaft begann, waren die Voraussetzungen derselben zumeist noch fragwürdig und lückenhaft. In der Tat ist der Grundgedanke der mechanischen Physik ebensowenig unmittelbar und ausschließlich der Erfahrung entnommen, wie die Begriffe der Dynamis und Energie bei Aristoteles, sondern jener Ge- danke ist zunächst als eine logische Forderung entstanden und hat dann erst in der fruchtbaren Anwendung, die er zuließ, seine Recht- fertigung gefunden. Jede wissenschaftliche Erklärung der Natur strebt, gemäß dem logischen Trieb des Bewußtseins, nach Einheit und Zu- sammenhang der Erscheinungen. Die teleologische Physik sucht diese Einheit in dem Zweck als demjenigen Allgemeinbegriff, der aus dem eigenen Handeln des Bewußtseins entspringt, und dem sie daher die durch die unmittelbare Erfahrung gewonnenen Reflexionsbegriffe unterordnet. Dem gegenüber besteht das treibende Motiv, das die mechanische Physik und schon die antike Atomistik beseelt, in der vollkommenen Anschaulichkeit der Vorgänge. Die Bewegungen der Körper und ihre Wechselwirkungen im Stoß sind ein anschauliches Geschehen, bei dem zugleich der Zuschauer von seiner eigenen Anwesenheit abstrahieren kann, so daß hierin eine Bürgschaft dafür zu liegen scheint, daß infolge der Ableitung aus Bewegungen die Erscheinungen auf ihren objektiven Gehalt zurückgeführt werden. Wie die teleologische Physik unter dem Postulat dersubjektiven Begreiflichkeit, so handelt daher die mechanische unter dem der objektiven Anschaulichkeit des Geschehens, und dieses erst führt zu jener streng kausalen Betrachtung, welche dann 388 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. durch den dem Kausalitätsprinzip eigenen Vorzug logischer Folge- richtigkeit ihrerseits das Übergewicht der mechanischen Naturansicht verstärken hilft. Der Hauptgegensatz, der in dem Kampfe teleologischer und mechanischer Physik entscheidend wird, dreht sich demnach um die Frage, ob die Natur als einbegrifflicher, oder ob sie als ein anschaulicher Zusammenhang aufgefaßt werden solle. Im ersteren Sinne entscheidet sich das Aristotelische System und jedes, das nach ihm von analogen dialektischen Voraussetzungen ausgeht, wie z. B. die Naturphilosophie Schellings und Hegels; im Sinne der Anschaulichkeit hat die neuere wissenschaftliche Physik die Frage be- antwortet, und sie hat damit in Bezug auf die allgemeine Richtung seiner Bestrebungen dem Demokrit gegen Aristoteles und seine ver- späteten Nachfolger Recht gegeben. Die innere Notwendigkeit dieser Entscheidung liegt aber im Wesen der objektiven Erfahrung begründet. Die Natur ist die Gesamtheit der in der Anschauung gegebenen Erscheinungen. An die Bedingungen der Anschauung bleibt daher alle Erkenntnis der Natur gebunden. Niemals kann sich eine solche Erkenntnis anders vollziehen, als in- dem das anschaulich Gegebene auf ein anderes anschaulich Gegebenes und so die Gesamtheit der Naturerscheinungen schließlich auf eine ge- wisse Anzahl primitiver Tatsachen der Anschauung zurückgeführt wird. Auch die Begriffe, die zur Ordnung dieser Tatsachen dienen, bedürfen der anschaulichen Verwirklichung; niemals können sie als leere Formen über der Welt der Erscheinungen schweben. Dies ereignet sich aber bei jenen Kategorien der teleologischen und dialektischen Naturphilo- sophie, die teils aus den Erscheinungen abstrahiert, teils aus gewissen logischen und ethischen Motiven an sie herangebracht werden, ohne in bestimmten allgemeinen Eigenschaften der äußeren Anschauung un- mittelbar objektiviert zu sein. Freilich sind auch die Kausalität und der im richtigen Sinne verstandene Zweckbegriff, der lediglich eine Um- kehrung der kausalen Beziehung enthält (vgl. Bd.I, S.629f.), Kategorien, die unser Denken an die Erfahrung heranbringt; aber diese Begriffe sind eben nur insofern von physikalischer Anwendung, als sie in ein- fachsten Tatsachen der Anschauung unmittelbar verwirklicht sind. Dies geschieht für das Gesamtgebiet der Naturlehre in dem mecha- nischen Kausalbegriff, der als Ursache und als Wirkung bloß an- schaulich gegebene äußere Bewegungen anerkennt und lediglich in die regelmäßige Beziehung dieser Bewegungen das Kausalverhältnis selbst verlegt. Ohne sich dieser logischen Motive ihres Tuns im allgemeinen Postulate der empirischen Naturforschung. 289 bewußt zu sein, geht nun die mechanische Physik von der Voraus- setzung aus, der einzige wirkliche Gegenstand ihrer Untersuchung seien die Objekte der Anschauung in ihren anschaulich gegebenen Beziehungen. Wenn sie sich gewisser Allgemeinbegriffe, wie der Substanz und Kau- salität, bedient, so bedeuten diese nichts, was zu den Anschauungs- objekten hinzukäme oder außerhalb derselben eine selbständige Wirk- lichkeit besäße, sondern es sollen durch sie nur gewisse Existenz- und Beziehungsformen des Wirklichen ausgedrückt werden, zu deren Ge- staltung unser Denken durch die sinnliche Wahrnehmung genötigt wird. Indem aber bestimmte Beziehungsformen als konstante Elemente der Wahrnehmung wiederkehren, neben denen sich veränderliche und darum für die begriffliche Auffassung zufällige Bestandteile be- merklich machen, erhebt sich die Forderung, diese letzteren zu elimi- nieren und so die objektive Erfahrung ausschließlich auf jene konstanten Elemente zurückzuführen, mit deren Aufhebung die anschauliche und die begriffliche Auffassung der Welt gleichzeitig verschwinden würden. Diese konstanten Elemente aller Erfahrung sind die zeitlichen und räumlichen Formen des Geschehens, losgelöst von den qualitativen Elementen der Wahrnehmung, die in der einzelnen Vorstellung niemals fehlen, und von denen wir daher auch nur absehen können, indem wir ihren Inhalt als einen gleichgültigen auffassen. Von beiden Elementen der Erfahrung sind aber die räumlichen wieder diejenigen, die bei allen quantitativen Bestimmungen der Natur- erscheinungen die allein maßgebende Bedeutung besitzen, da alle Zeit- maße auf räumliche Maße zurückführen. Die letzten Elemente aller Messung der Naturerscheinungen sind so die geometrischen: die gerade Linie und der Winkel. Durch sie wird das räum- liche Verhalten der Erscheinungen direkt, das zeitliche indirekt gemessen, indem auf das Postulat eines durchgängig gesetzmäßigen Verhaltens der Vorgänge die Voraussetzung gegründet wird, daß die unter übereinstimmenden Bedingungen verflossene Zeit stets der Linien- oder Winkelgröße einer Bewegung von gleichem Werte ent- spreche. (Vgl. Bd. I, S. 478 ff. und unten Kap. III.) Die grundlegende Bedeutung, die auf solche Weise der Raum für die Verknüpfung der Naturerscheinungen gewinnt, wirkt nun weiterhin auch auf die Vorstellungen über das Substrat der Er- scheinungen zurück, indem hieraus die an einer früheren Stelle bereits besprochene Tendenz der Naturerklärung entspringt, zunächst der materiellen Substanz die abstrakten Eigenschaften des Raumes, vor allem seine Konstanz, beizulegen und sodann von hier aus auch den Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 19 290 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. ursprünglich regellos schweifenden Kausalbegriff auf die räumliche Wechselbeziehung unveränderlicher Gebilde zu beschränken. (Bd. I, 8.519 fi.) Erst indem diese näheren Bestimmungen des allgemeinen Postulates der Anschaulichkeit, welche die Grundvoraussetzungen der mechanischen Naturlehre bilden, hinzutreten, wird jenes Postulat selbst in zureichender Weise erfüllt. Denn durch die Reduktion der Beziehungen aller Wahrnehmungsobjekte auf die rein geome- trischen Beziehungen räumlicher Gebilde wird dem Streben nach Anschaulichkeit überall entsprochen. Eine Ver- stärkung gewinnt außerdem diese Richtung aus dem praktischen Wunsche, die sich immer vollkommener entwickelnden Hilfsmittel der Mathematik der physikalischen Forschung dienstbar zu machen. Hier treffen vollständig die Entwicklungsbedingungen der Naturwissenschaft mit denen ihrer abstrakten Grundlage, der Mechanik, zusammen. Wie diese durch jene mathematische Tendenz dazu getrieben wird, ihre De- duktionen an geometrische Abstraktionen zu knüpfen, denen keine Wirklichkeit in der Erfahrung zukommt, so überträgt hinwiederum die Physik diese Abstraktionen der Mechanik so viel als möglich auf ihr Ge- biet, um erst nachträglich an ihnen die Veränderungen anzubringen, die durch die einzelnen Erfahrungen gefordert werden. Die Voraus- setzungen über die letzten Substrate von Stoff und Kausalität müssen aber infolgedessen einen begrifflich abstrakten Cha- rakter bewahren, der ganz jenen abstrakten Formbegrifien entspricht, welche die Mechanik ihren einfachsten Deduktionen zu Grunde legt. Auf diese Weise findet das Postulat der Anschaulichkeit in ge- wissem Sinne an den Voraussetzungen über das Substrat der Naturer- scheinungen, das niemals selbst in der Anschauung gegeben ist, seine Grenze. Die Annahmen über dieses Substrat müssen so beschaffen sein, daß die Wirkungen desselben dem Postulat der Anschaulichkeit genügen, und dies schließt nur ein, daß das Substrat selbst die abstrakten zeitlich-räumlichen Elemente der Anschauung enthalte. Aber diese Elemente brauchen keineswegs irgendwelchen wirklichen Objekten der Anschauung zu gleichen. Wie sich vielmehr die Mechanik mit vollem Recht der Abstraktion eines physischen Punktes, eines absolut starren oder absolut elastischen Körpers u. dgl. bedient, ohne darauf Anspruch zu machen, daß diese mechanischen Gebilde wirklich in der Natur vor- kommen, ebenso sind die letzten Voraussetzungen über die Materie Begrifisbildungen, die zum Behuf der Verknüpfung der in der Anschauung gegebenen Erscheinungen gemacht werden, die aber darum selbst keineswegs mit bestimmten Objekten der Anschauung übereinstimmen Postulate der empirischen Naturforschung. 291 müssen. Wir werden sehen, daß die Nichtbeachtung dieser abstrakten Natur der hypothetischen Hilfsbegriffe der Naturwissenschaft von frühe an das Problem der Materie in Verwirrung gebracht hat, indem man gerade vom Standpunkte der mechanischen Physik aus geneigt war, dem Postulat der Anschaulichkeit den Sinn zu geben, daß dasselbe eine mit den Objekten der wirklichen Anschauung durchgängig übereinstimmende Natur der Begriffe verlange. (Vgl. Abschn. IV, Kap. I, 3.) Man übersah hierbei, daß diese Annahme sogar mit der Forderung, alle Naturerscheinungen auf Mechanik zurückzuführen, in Widerspruch stand, da die Mechanik ihrerseits alle ihre Erklärungen auf abstrakte Begrifispostulate gründet, die in keiner wirklichen Er- fahrung gegeben sind. Dieser Widerspruch blieb aber deshalb un- beachtet, weil man zwar zugab, daß die letzten Abstraktionen der Mechanik, wie der physische Punkt, der absolut starre Körper, gänz- lich hypothetischer Natur seien, dagegen glaubte, den Voraussetzungen über das Substrat der Naturerscheinungen eine nicht bloß hypothetische Bedeutung oder eine solche doch nur insofern zuschreiben zu sollen, als der Widerstreit der Meinungen über diese Voraussetzungen noch nicht ganz ausgeglichen sei. Dabei blieb außer acht, daß die letzteren ihrer Natur nach zu den definitiven Hypothesen gehören. (Vgl. Bd. 1, S. 443 fi.) Zugleich hängen übrigens in diesem Fall der defini- tive und der abstrakt begriffliche Charakter der Hypothesen enge zu- sammen: denn da das letzte Substrat der Erscheinungen nie unserer An- schauung gegeben sein kann, so sind alle Annahmen über dasselbe ein für allemal hypothetisch, und sie sind zugleich, eben weil sie niemals anschaulich sein können, von abstrakt begrifflicher Art. Somit sind es bei allen diesen Begrifisentwicklungen logische Motive, die der naturwissenschaftlichen Erfahrung in dem Sinne als spekulative Beweggründe gegenübertreten, als sie nicht erst die Be- gründung durch die Erfahrung abwarten, sondern von vornherein die Gesichtspunkte abgeben, unter denen man diese beurteilt. Hier beginnt nun aber zugleich der tiefgreifende Unterschied zwischen den älteren Antizipationen der mechanischen Naturanschauung und ihrer Verwirklichung in der neueren Physik. Dort bleibt diese Anschauung eine spekulative Forderung, hier gilt sie nur deshalb als gesichert, weil sie nicht bloß Voraussetzung, sondern auch Resultat der wissen- schaftlichen Erfahrung ist. Es wird zugestanden, daß alle spekula- tiven Gründe nicht zureichen würden, die Voraussetzungen der mecha- nischen Physik festzuhalten, wenn sie sich nicht fortwährend brauchbar erwiesen zu einer wahren Interpretation der Natur. 2392 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. b. Der kritische Zweifel, Damit kommen wir erst auf den entscheidenden Grund, dem die mechanische Naturansicht ihren Sieg über die ältere teleologische Physik verdankt. Dieser Grund, der im historischen Sinne der letzte, an sich aber der wichtigste ist, besteht in dem Verhalten des er- kennenden SubjektszurErfahrung. Ein naiver Glaube an die unmittelbare Wirklichkeit der Erfahrung ist der Standpunkt der älteren Naturphilosophie. Mochte auch aus spekulativen Bedürfnissen, die mit einzelnen Erfahrungseinflüssen zusammentrefien, eine Sub- stanz, die nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann, als Grund- lage der tatsächlichen Erfahrung gefordert werden, so geschah dies doch nur, um Einheit und Zusammenhang in die vielgestaltige Wahr- nehmung zu bringen, an deren objektiver Realität nicht gezweifelt wurde. In dieser Beziehung stehen die Demokritische und die Aristo- telische Physik auf gleichem Boden. Wohl hat auch die Wissenschaft des Altertums den Zweifel gekannt. Weist doch schon Protagoras auf die Subjektivität der sinnlichen Erfahrung hin. Aber dieser Zweifel ist hier das Erzeugnis einer rein logischen Reflexion, und er bleibt darum für die positive Wissenschaft unfruchtbar, der er den Weg eher zu verlegen als zu ebnen sucht. Ganz anders verhält es sich mit dem- jenigen Zweifel, der die Triebfeder der neueren Naturforschung ist. Hier ist man weit entfernt, an der Erkennbarkeit der Dinge überhaupt zu zweifeln; im Gegenteil, die Forderung einer solchen bildet die Vor- aussetzung aller Naturwissenschaft. Aber mit ihr verbindet sich die Annahme, daß die unmittelbare Wahrnehmung erst der wissenschaft- lichen Prüfung bedürfe, ehe bestimmt werden könne, was als das reale Substrat der Erscheinungen anzunehmen sei. Dieser kritische Zweifel beseelt die neuere Naturforschung von ihren ersten Anfängen an, und er hat sie von Stufe zu Stufe bei ihrer Entwicklung begleitet. Seine Wirkung aber war vielleicht umso größer, je weniger sich die Forscher, die unter seinem Antriebe handelten, desselben deutlich bewußt wurden. Ein solches Bewußtsein wäre nicht möglich gewesen ohne allgemeinere logische Reflexionen, und diese führen zunächst nur allzu leicht wieder die Gefahr jenes absoluten Zweifels mit sich, der die Voraussetzung der physikalischen Wissenschaft, das Postulat der Be- greiflichkeit der Welt, aufhebt. Mit den rein logischen Prinzipien, die zur wissenschaftlichen Unter- suchung erfordert werden, sind die Alten im allgemeinen hinreichend bekannt gewesen; aber es hat ihnen jener kritische Zweifel Postulate der empirischen Naturforschung, 293 gefehlt, der den Antrieb zu einer von richtigen Grundsätzen geleiteten Forschung hervorbrinst. Wie sehr in diesem Punkte der ent- scheidende Unterschied der älteren und neueren Wissenschaft liegt, das tritt deutlich hervor, sobald man die Behandlung irgend eines einzelnen Problemes vergleicht. In der Untersuchung der Farben stützt sich z. B. Aristoteles so gut wie Newton auf die Voraussetzung, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen müsse auf einen einheitlichen Grund zurückgeführt werden. Doch dem Aristoteles kommt kein Zweifel daran, daß Weiß, Schwarz und jede einzelne Farbe so, wie sie von uns empfunden werden, auch objektiv existieren; für ihn besteht daher die Aufgabe nur darin, die Gesamtheit der Lichterscheinungen unmittelbar einem einheitlichen Begriff unterzuordnen. Dieser ist ihm die „Tätigkeit des Durchsichtigen“, welche die Bedingung aller Licht- erscheinungen sein soll. Die Farben gelten ihm demnach als unmittel- bare Eigenschaften der Objekte, die aber erst durch das Licht, die Tätigkeit des Durchsichtigen, aktuell werden. Die Wahrnehmbarkeit des Lichts und der Farben wird endlich darauf zurückgeführt, daß das Durchsichtige sowohl innerhalb wie außerhalb des Auges vor- komme*). In dieser Theorie ist offenbar der Inhalt der sinnlichen Wahrnehmung, dem ohne weiteres objektive Realität zugeschrieben wird, einfach unter gewisse allgemeine Begriffe gebracht, die aus ihm unmittelbar abstrahiert sind. Newton ging aus von den Erscheinungen der Farbenzerstreuung. Da er entdeckt hatte, daß ein Sonnenstrahl durch das Prisma vollständig in divergierende Farben zerlegt wird, so begannen sich ihm Zweifel an der selbständigen Existenz des weißen Lichtes zu regen, und er wurde so zu Untersuchungen veranlaßt, deren Zweck zunächst in der Prüfung jenes Zweifels bestand, und die ihn schließlich, hauptsächlich infolge der gelungenen Wiedervereinigung der Farben zu Weiß, zu dem Ergebnisse führten, daß das Sonnenlicht aus farbigen Strahlen von verschiedener Brechbarkeit zusammengesetzt sei. Auch die hierauf von Newton gegründete Emanationstheorie hielt aber dem kritischen Zweifel nicht auf die Dauer stand. Zunächst waren es Bedenken über die weiteren Schicksale des angenommenen Licht- stofis, die hier als skeptische Elemente wirkten. Nachdem schon Huygens das Phänomen der Doppelbrechung entdeckt und gezeigt hatte, daß es sich nicht aus den Emanationsvorstellungen, wohl aber aus der Annahme einer Wellenbewegung herleiten lasse, neigte sich endlich *) De anima, cap. 5—7. Vgl. außerdem die (unechte) Schrift: De colo- ribus, 9394 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. infolge von Fresnels Untersuchung der Interferenzerscheinungen dieser Annahme der Sieg zu. In dem nun folgenden Kampfe zwischen diesen Hypothesen haben dann die von beiden Seiten beigebrachten kritischen Einwürfe zur Vervollkommnung der endgültig siegenden Theorie bei- getragen. Führte die Undulationstheorie Interferenz, Doppelbrechung und Polarisation als gewichtige Argumente gegen die Emanationslehre auf, so konnte sie dagegen nur langsam die Schwierigkeiten beseitigen, die sich ihrer Erklärung der Beugung und Farbenzerstreuung in den Weg stellten. In vielen Fällen ist, wie in dem angeführten Beispiel, der kri- tische Zweifel durch Beobachtungen und Experimente angeregt worden, und seine Verfolgung hat dann in wachsendem Maße den Anstoß zu neuen Untersuchungen gegeben. In anderen Fällen sind es spekulative Voraussetzungen gewesen, die zuerst die Bestreitung gewisser naiver Vorstellungen veranlaßten. Das hervorragendste Beispiel dieser Art ist die Kopernikanische Hypothese. Das Ptolemäische Welt- system war auf die Überzeugung von der unmittelbaren Realität der wahrgenommenen kosmischen Bewegungen gegründet, und es hatte den Zusammenhang dieser Bewegungen durch eine große Zahl sinnreich ausgedachter Hilfsannahmen hergestellt. Der Zweifel an der Wahrheit dieses Systems entsprang bei Kopernikus zunächst aus dem Gedanken, daß es die wünschenswerte Symmetrie und Regelmäßigkeit vermissen lasse*). Erst der Kampf beider Systeme um die Herrschaft führte dann in der Beobachtung der Jupitermonde und der Lichtgestalten der Venus durch Galilei zu entscheidenden Erfahrungen. Das Kopernikanische Weltsystem hat aber mehr als irgend eine andere Tatsache dem kritischen Zweifel vorgearbeitet. Waren einmal die sichtbaren Bewegungen der Sternenwelt als ein sinnlicher Schein nachgewiesen, so erschien jeder Zweifel an der Realität der unmittel- baren Wahrnehmungen berechtigt. Bald waren es, wie in diesem Fall, spekulative Gründe, bald zufällige Beobachtungen, die den Zweifel anregten, bald hat er von einem bestimmten Erfahrungsgebiet aus auf andere sich ausgebreitet. In letzterer Beziehung ist es bedeu- tungsvoll, daß die Entwicklung der neueren Physik durch die großen geographischen und kosmologischen Entdeckungen vorbereitet wurde. Bei diesen wurde der menschliche Geist durch Tatsachen, die sich mit zwingender Gewalt der Wahrnehmung aufdrängten, genötigt, einge- wurzelte Vorstellungen zu berichtigen, und er trat nun von selbst auch *) Copernicus, De revolutionibus orbium coelestium, lib. I, cap. 1—10, Postulate der empirischen Naturforschung. 295 den Erscheinungen seiner unmittelbaren Umgebung mit kritischen Bedenken gegenüber. Da aber diese Erscheinungen willkürlichen Ein- griffen leicht zugänglich sind, so war damit zugleich der Gedanke der experimentellen Untersuchung nahegelegt. c. Das Postulat der Einfachheit. Die Methode jener naturphilosophischen Behandlung der Er- scheinungen, für die uns die Aristotelische Physik als typisches Beispiel gilt, ist hinreichend gekennzeichnet durch die bereits angedeuteten Eigenschaften, daß sie aus dem Ganzen das Einzelne konstruiert, daß sie in die Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen durch einen fest- gefügten logischen Begrifisschematismus Ordnung zu bringen sucht, und daß die Begriffe, die diese Ordnung bewirken sollen, unbedenklich aus allen dem Denken zugänglichen Gebieten aufgenommen und auf andere übertragen werden, daß insbesondere aber ethische Begriffe oder überhaupt solche, die der Sphäre menschlicher Willenstätigkeit entlehnt sind, in der Naturerklärung eine wichtige Rolle spielen. Dem- gegenüber erscheint die gewöhnliche Angabe, daß die exakte Natur- forschung umgekehrt überall mit dem Einzelnen beginne, weder genügend noch in dieser Allgemeinheit richtig. Denn oft genug muß ein all- gemeiner Gedanke erst der einzelnen Forschung den Weg zeigen: so das Kopernikanische System den Beobachtungen und Rechnungen Keplers, oder das Beharrungsprinzip den mechanischen Versuchen Galileis. Der Mythus, daß Francis Bacon der große Gesetzgeber natur- wissenschaftlicher Methodik gewesen sei, ist zwar allmählich im Ver- schwinden begriffen. Aber die durch diesen Mythus lebendig gewordene Vorstellung, die Induktion sei das logische Instrument der Naturfor- schung, dem sie alle ihre Erfolge verdanke, ist noch vielfach geblieben. Daß Bacon, wenn auch wenig vertraut mit der Naturwissenschaft seiner Zeit, doch von dem Geiste derselben mächtig erfaßt war, läßt sich freilich fast aus jeder Zeile seiner Schriften herauslesen. Doch ebenso offenkundig ist es, daß nicht die von der Naturforschung geübte Methode ihn mit sich fortriß, sondern die von ihr herbeigeführte und durch sie geahnte Erweiterung des Horizonts der Erfahrung. Ihn er- füllt darum ganz der Gedanke, wie in der kürzesten Zeit eine möglichst große Anzahl fruchtbringender Erfahrungen zu sammeln und zu ordnen sei. Über dem Eifer, mit dem er diesen Plan betreibt, versäumt er es, die von ihm aufgestellte Regel, daß man allgemeine Prinzipien stets aus einzelnen Tatsachen ableiten müsse, auf das Objekt seiner eigenen 296 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Untersuchungen anzuwenden. Seine Methode der Induktion ist nicht mustergültigen Beispielen physikalischer Forschung entnommen, sondern nur aus der allgemeinen Forderung hervorgeflossen, alles Wissen müsse aus der Erfahrung stammen. In Wahrheit ist aber auch das Verfahren der Naturforschung nicht im mindesten aus der Voraussetzung der Baconischen Regeln, dem Verzicht auf alle Spekulation, die der Sammlung der Erfahrungen vorausgehe, entstanden, sondern es stützt sich auf einen Gedanken, der selbst spekulativen Ursprungs ist. Dieser Gedanke, der von den übrigen Naturforschern der Zeit in einer mehr instinktiven Weise befolgt, doch von Galilei erst an verschiedenen Stellen ausdrücklich hervorgehoben wird, besteht in der Voraussetzung, daß alles Ge- schehen in der Natur einfachsten Regeln folge, und daß daher jede Untersuchung der Naturer- scheinungen von möglichsteinfachenAnnahmen auszugehen habe. Dieses Prinzip der Einfachheit ist es, das Kopernikus zu seiner heliozentrischen Hypothese führt, das Kepler veranlaßt, die exzentrischen Kreise und Epizykeln beiseite zu legen, um zu prüfen, ob die Annahme einer einfachen Kurve den Forderungen der Beobachtung genüge, und das dann bei Galilei die doppelte Bedeu- tung eines Naturgesetzes und eines methodologischen Postulates an- nimmt. Dem Naturgesetz gibt er mehrere Formen, die alle den näm- lichen Gedanken in verschiedener Weise teleologisch ausdrücken. Daß die Natur die Dinge nicht ohne Not vervielfältige, daß sie sich der leichtesten und einfachsten Mittel bediene, und daß sie nichts vergeb- lich tue: diese Sätze gelten ihm als Axiome*). Ihnen parallel geht der von ihm überall befolgte methodische Grundsatz, der ihm offenbar als die logische Kehrseite derselben erschienen ist: man müsse die Naturerscheinungen so viel als möglich unter den einfachsten Be- dingungen untersuchen und ihrer Erklärung die einfachsten Annahmen zu Grunde legen**). Jene teleologisch geformten metaphysischen Axiome können an sich kritischen Einwürfen ebensowenig stand- halten wie die Grundbegriffe der Aristotelischen Naturphilosophie. Dennoch wird kein Einsichtiger bezweifeln, daß der ihnen entsprechende methodische Grundsatz für die exakte Wissenschaft fruchtbringender geworden ist als alle Regeln Bacons zusammen genommen. Der Grundgedanke dieses Prinzips ist freilich älter als das Zeitalter *) Dialoghi dei massimi sistemi, III. Opp. Tom. I, p. 429, **) Dial. delle nuove scienze, III. Opp. Tom. XIII, p. 154. (Ediz. Alberi.) Postulate der empirischen Naturforschung. 297 Galileis. Auch er reicht in die antike Atomistik zurück. Indem diese alle Veränderungen in der Natur auf anschauliche Formen des Geschehens zurückzuführen suchte, schwebte ihr unausgesprochen bereits das Prinzip der Einfachheit vor. Mit Hilfe desselben vermied sie jene Vermengung ethischer Motive mit dem natürlichen Geschehen, die der gleichzeitigen Elementenlehre des Empedokles ihre Rich- tung gab. Der Stoß ist die einfachste anschauliche Form der Ursache einer Veränderung; darum wird er der Atomistik zum Urbild aller Kausalität. Dieses Motiv der Einfachheit ist es zugleich, das neben der Anschaulichkeit den atomistischen Vorstellungen ihren ungeheuren Einfluß in den kommenden Zeiten gesichert hat, obgleich sie in der nächsten Zukunft der überwältigenden Macht teleologischer Natur- anschauungen unterliegen mußten. Auch besaß hier das Prinzip noch einen ausschließlich metaphysischen Charakter; es hatte sich noch nicht zu einer methodischen Regel gestaltet. Hieraus entsprang die Unzulänglichkeit und Einseitigkeit dieser mechanischen Naturphilosophie.. Der Demokritischen Atomistik lag der Gedanke des Experimentes und der exakten Beobachtung ebenso fern wie der Aristotelischen Physik. Nur dadurch, daß Galilei den Grundsatz der Einfachheit zum Leitstern seiner Methode wählte, wurde er vor den Gefahren bewahrt, zu denen auch ihn die metaphysisch- teleologischen Formulierungen des nämlichen Prinzips leicht hätten verführen können. Denn nun galt ihm die Einfachheit nicht mehr an und für sich als Kriterium der Wahrheit, sondern sie blieb ihm lediglich eine Forderung, nach der sich die der Untersuchung vor- ausgehenden Hypothesen richten müßten. Damit diese Hypothesen Anspruch auf Wahrheit erheben könnten, wurde weiterhin ihre Bestäti- gung durch die Erfahrung verlangt. So vollzog sich die der antiken Naturphilosophie noch fern liegende logische Unterscheidung von Hypothesen und Tatsachen, eine Unterscheidung, welche das in der neueren Naturwissenschaft herrschende methodische Ver- fahren vorzugsweise kennzeichnet. (Vgl. Bd. I, S. 437 ff.) Schon die oberflächliche Betrachtung eines Gebietes von Natur- erscheinungen erweckt ja in uns Vorstellungen über die wechsel- seitige Beziehung der einzelnen in der Erfahrung gegebenen Objekte und Vorgänge. Diese unüberwindliche Neigung des Geistes zur Inter- pretation der Erscheinungen, die der wissenschaftlichen Untersuchung vorausgeht, und in der die ursprüngliche Naturphilosophie ihre Quelle hat, wird von der exakten Forschung nicht, wie es die Baconische Vorschrift verlangt, als eine unerlaubte Übereilung angesehen, sondern 398 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. ihr Streben geht dahin, diese unvermeidliche „anticipatio mentis“ in eine der Prüfung durch die Erfahrung zugängliche Voraussetzung umzuwandeln. Demgemäß sucht man eine vorläufige Hypothese über den zu erwartenden Zusammenhang der Tatsachen zu bilden, bei welcher sich das Prinzip der Einfachheit namentlich in der Weise betätigt, daß alle Annahmen teils den zu erklärenden Tatsachen selbst, teils Erfahrungen, die ihnen gleichartig sind, entnommen werden. Hierdurch erfährt jenes Prinzip seine angemessene Anwendung und seine notwendige Einschränkung. Denn die wesentliche Bedeutung desselben besteht nun darin, daß es erstens alle den beobachteten Erscheinungen fremdartigen Gesichtspunkte fern hält, und daß es zweitens einen regelmäßigen Fortschritt der Untersuchung von den einfacheren zu den verwickelteren Tatsachen verlangt. Zugleich hat aber nıcht mehr die Einfachheit als solche, sondern nur die Über- einstimmung mit der Erfahrung den Wert eines Kriteriums der Wahrheit. Das Prinzip der Einfachheit hat auf diese Weise vollständig die Bedeutung eines metaphysischen Axioms verloren und diejenige einer methodischen und heuristischen Regel gewonnen. Bei der Untersuchung eines bestimmten Gebiets von Erfahrungen geht der Naturforscher von der einfachsten Erschei- nung dieses Gebietes aus, die ihm zugänglich ist. Er legt der Ableitung derselben eine einfache, d. h. eine bloß den Tatsachen selbst und den ihnen ähnlichen entnommene Hypothese zu Grunde. Die Zulässigkeit dieser Hypothese wird dann durch Beobachtung oder Experiment geprüft, um sie, wenn sich ein Widerspruch zeigt, angemessen zu ver- ändern oder durch eine andere Annahme zu ersetzen. Ist auf solche Weise für eine Anzahl einfacherer Tatsachen eine Erklärung gegeben, so sucht man verwickeltere Erscheinungen des nämlichen Gebietes zunächst auf jene einfacheren zurückzuführen und, wo dies nicht vollständig gelingt, weitere ergänzende Hypothesen zu erfinden, die wiederum die Probe der Prüfung an der Erfahrung bestehen müssen. In diesen Anwendungen aber bewährt es sich, daß sich das Prinzip der Einfachheit mit dem der Anschaulichkeit verbindet, um einer Klasse von Naturerscheinungen den Vorzug zu verschaffen vor allen anderen: dn Bewegungserscheinungen. Sie sind einfach und anschaulich zugleich, und sie sind es, die einerseits durch ihren relativ leicht übersehbaren Zusammenhang das Kausalbedürfnis des Denkens vorzugsweise befriedigen, und die anderseits, wo es gelingt ihnen die konkrete Erfahrung unterzuordnen, durch die glückliche Postulate der empirischen Naturforschung. 299 Verbindung von Hypothesen und Tatsachen dem kritischen Zweifel ein Ziel setzen. So weisen die heuristischen Postulate der Natur- erkenntnis auf die Prinzipien der Mechanik als diejenigen Grundsätze hin, die für den ganzen Umfang der Naturforschung All- gemeingültigkeit besitzen. d. Die heuristischen Postulate der Naturlehre und die subjektivistische Erkenntnistheorie. Die Entwicklung der oben entwickelten heuristischen Prinzipien der Naturlehre hat sich unter der bewußt oder unbewußt alle Natur- forschung beherrschenden Voraussetzung der objektiven Wirk- lichkeit der Naturerscheinungen vollzogen. Nach dieser Voraus- setzung sind alle Erscheinungen so lange der objektiven Wirklichkeit zuzurechnen, als sie nicht das Prinzip des kritischen Zweifels infolge der Widersprüche, in die ihre Objektivierung verwickelt, in das Gebiet des subjektiven Scheins verweist (Bd. I, S. 407 fi.). Gegen diese Auf- fassung haben sich nun zwar frühe schon diejenigen philosophischen Richtungen erhoben, die vom Standpunkt der psychologischen Re- flexion aus den gesamten Inhalt der Erkenntnis zu subjektivieren suchten. Gleichwohl ist die naturwissenschaftliche Forschung selbst unbeirrt von solchen auf einem ihr fremden Boden entstandenen Einwänden ihren Weg gegangen. Dagegen hat der zunehmende Gebrauch pro- visorischer und darum zweifelhafter Hypothesen sowie der steigende Wert, den man auf die technische Bedeutung der Mathematik bei der Behandlung der Probleme legte, allmählich in der neueren Naturwissen- schaft selbst eine weit verbreitete Strömung erzeugt, die in ihrer Grund- anschauung mit dem vormaligen philosophischen Subjektivismus zu- sammengeht, wenn sie auch aus ganz anderen Motiven entstanden ist als dieser. Denn wie hier lediglich die Reflexion auf den subjektiven Ursprung der Denkfunktionen entscheidend gewesen war, so wurde es dort das Bewußtsein der subjektiven Freiheit der Hypothesenbildung und das Vertrauen in die Allgewalt der von dem Subjekt beherrschten mathematischen Technik. So liegt denn auch die philosophische Richtung, der diese Strömung in der neueren Naturwissenschaft ent- spricht, weit ab von den Quellen des philosophischen Subjektivismus. Vielmehr bildet sie eine Teilerscheinung jenes skeptischen Positivismus, den wir in seinen allgemeinen logischen Voraussetzungen und in den Folgerungen, die er aus diesen auf den Begriff des allgemeinen Schau- platzes der Naturerscheinungen, des Raumes, zieht, früher schon kennen 300 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. gelernt haben (Bd. I, S. 387 fi.). Die erkenntnistheoretische Stellung dieses positivistischen Subjektivismus wird aber dadurch gekennzeichnet, daß er die sämtlichen in der Naturwissenschaft bis zum heutigen Tage tatsächlich wirksamen heuristischen Prinzipien entweder durch ihr Gegenteil ersetzt, oder daß er ihnen mindestens einen wesentlich anderen Inhalt unterschiebt. So verwirft er in der Regel das Kausalprinzip, um ihm andere Einheitsprinzipien von durchweg teleologischer Färbung zu substituieren: so das technische der „Ökonomie des Denkens“, das physikalische der Erhaltung der Energie, das mechanische der kleinsten Abweichung der Bewegungen vom Gleichgewicht u.s.w. Auf diese Weise nimmt der moderne Positivismus die das 18. Jahrhundert beherrschende teleologische Vorstellung der Naturlehre wieder auf, allerdings ohne sich meist ihres Zweckcharakters bewußt zu werden. Auch setzt er durchweg an die Stelle der objektiven Naturzwecke jener Zeit die subjektiven Zwecke des ökonomischen Denkens. Nicht minder gewinnt das Postulat der Anschaulichkeit, soweit es nicht überhaupt negiert wird, eine wesentlich veränderte Bedeutung, indem zwar der in der wirklichen Anschauung gegebene Inhalt bestimmter Empfindungen beibehalten, für alle die Hilfshypothesen und Hilfsoperationen dagegen, durch die verschiedene Erfahrungsinhalte verknüpft werden, jede Anschaulichkeit für überflüssig erklärt wird: die analytischen Formeln gelten so als rein begrifflich-technische Hilfsmittel ohne irgend eine unmittelbare Beziehung zu den Erfahrungsinhalten, die sie verbinden sollen. Den kritischen Zweifel, der seiner Natur nach stets ein relativer bleibt, da er gegen widerspruchslos gegebene Tatsachen keine Macht hat, verwandelt ferner dieser Subjektivismus in den absoluten Zweifel, der sich auf das alte skeptische Argument stützt, niemand könne aus seinem eigenen Bewußtsein hinauskommen, ein Argument, das an sich ebenso unfruchtbar bleibt, wie umgekehrt der kritische Zweifel ein unentbehrliches Vehikel des wissenschaftlichen Denkens gewesen ist. Dagegen behält diese Erkenntnistheorie dasjenige Prinzip, das der größten Einschränkungen bedurfte, um eine gewisse relative Geltung als methodologische Regel zu bewahren, das Prinzip der Einfachheit, nicht nur bei, sondern sie nimmt es sogar zu ihrem obersten Erkenntnisprinzip, aus dem sie die anderen abzuleiten sucht. Indem auf solche Weise in diesem Prinzip in gewissem Sinne alle übrigen zusammenfließen, bedarf es hier noch einer kurzen Beleuchtung in seinem Verhältnis zu dem älteren Prinzip der ob- jektiven Einfachheit der Naturgesetze und dem daraus hervorge- gangenen rein methodologischen Grundsatz der Beschränkung der Postulate der empirischen Naturforschung. 301 Hypothesen auf die unbedingt durch die Tatsachen selbst geforder- ten Voraussetzungen*). Indem das Prinzip der Einfachheit in das der „Ökonomie des Denkens“ übergeführt wird, überläßt man einerseits die aufzustellenden Hypothesen der subjektiven Willkür, während dieses Prinzip anderseits eine dogmatische Behauptung enthält, die es wiederum dem Galileischen Axiom von der Einfachheit der Naturgesetze nahe bringt. Dabei ist es aber zugleich der polare Gegensatz zu dem Galileischen Ge- setz. Ist dieses ein objektives Naturgesetz, so ist jenes ein subjektives Denkgesetz. Beide stimmen nur darin überein, daß sie Allgemein- gültigkeit fordern: das Galileische fordert sie, weil jedes objektive Naturgesetz allgemeingültig ist, das Ökonomieprinzip umgekehrt, weil es objektive Naturgesetze überhaupt nicht geben soll, wir aber bei den subjektiven Annahmen, die wir an ihre Stelle setzen, vernünftigerweise stets den einfachsten Weg jedem komplizierteren vorziehen müssen. Wie nun jene objektive Fassung des Simplizitätsprinzips deshalb un- haltbar ist, weil sie eine metaphysische Voraussetzung in sich schließt, die in jedem einzelnen Fall, wo sie angenommen werden soll, der tat- sächlichen Begründung bedarf, so ist diese subjektive Form deshalb unzulässig, weil sie umgekehrt auf der stillschweigenden Annahme ruht, alle Naturgesetze seien im Grunde willkürliche Hypothesen, deren jede von uns aus einer unbegrenzten Anzahl sonst noch möglicher Annahmen lediglich nach Maßgabe der Bequemlichkeit gewählt werden könne. In Wahrheit handelt die naturwissenschaftliche Forschung nirgends nach dieser Annahme, sondern sie sucht überall durch ihre Interpretation der Erscheinungen die wirkliche Verknüpfung der letzteren darzustellen, und erst da, wo etwa mehrere Voraussetzungen nebeneinander möglich sind, gibt sie der einfacheren den Vorzug. Jene beiden Formen des Simplizitätsprinzips sind also aus einer miß- verständlichen Deutung des methodologischen Prinzips hervorge- gangen: die objektive verwandelt dieses in ein die Naturerscheinungen selbst beherrschendes Gesetz, die subjektive in ein ursprüngliches Erkenntnisgesetz. Hinter beiden Formulierungen versteckt sich jedoch die falsche Teleologie des Utilitätsprinzips, nach dem auf der einen Seite für die Natur, auf der anderen für unsere Erkenntnistätigkeit der sparsamste Gebrauch der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel als oberster Grundsatz gelten soll. *) Vgl. besonders die allgemeinen Ausführungen über den Standpunkt der „Ökonomie des Denkens“ bei Mach, Populärwissenschaftliche Vorlesungen, 1896, S. 203 fi. Dazu oben Bd. I, S. 391 ft. 302 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. E Indem sich nun dieses Sparsamkeitsgesetz in seiner subjektiven Fassung mit der Annahme verband, die Art der Verknüpfung gegebener Tatsachen sei an sich vollkommen gleichgültig und habe sich eben deshalb nur nach dem subjektiven Motiv der Ökonomie des Denkens zu richten, führte sie noch zu einem weiteren Postulat, in dessen Be- folgung man die vollkommenste Verwirklichung des Ökonomieprinzips erblickte: zu dem Postulat nämlich, alle Naturwissenschaft solle sich auf de reine Beschreibung der Naturerscheinungen beschränken, jeden Versuch einer Erklärung von sich aus- schließen. Insofern die Beschreibung nur die Tatsachen selbst, die Erklärung außer diesen auch noch allerlei Hilfsbegriffe, wie den der Ursache, der Kraft, der Masse u. s. w., enthalte, sei unter allen Um- ständen die reine Beschreibung einfacher als eine solche Erklärung. Die Forderung der einfachsten Beschreibung nahm daher häufig auch die Form an, daß im Prinzip die Elimination aller jener Hilfs- begriffe verlangt wurde*). In dieser Forderung laufen nun aber zwei an sich sehr verschiedene methodologische Regeln zusammen: eine erste, nach der sich die Inter- pretation der Erscheinungen keiner dunkeln, unklar definierter Hilfs- begriffe bedienen, und eine zweite, nach der es überhaupt keine irgendwie über die einfache Beschreibung hinausgehende Interpretation der Erscheinungen geben soll. Die erste dieser Regeln ist natürlich vollkommen gerechtfertigt, und in ihrem Sinne wird man daher in der Tat nur Hilfsbegrifie verwenden dürfen, die entweder selbst Ver- allgemeinerungen bestimmter leicht zu beschreibender Tatsachen sind oder mindestens nur solche hypothetische Elemente enthalten, die sich als anschauliche, die Verknüpfung der Tatsachen erleichternde Dar- stellungen des Zusammenhangs der zu beschreibenden Erscheinungen erweisen. Aus demselben Grunde, aus dem nur die Elimination dunkler und schlecht definierter Hilfsbegriffe, nicht die der Hilfsbegriffe überhaupt gefordert wird, ist nun aber das zweite Postulat, das der Beschränkung auf die reine Beschreibung der in der Wahrnehmung gegebenen Tatsachen, nicht nur undurchführbar, sondern es steht mit der wirklichen Wissenschaft und mit den Zwecken, die sich diese immer gestellt hat und auch in Zukunft notwendig stellen wird, in Wider- »» *) In der letzteren negativen Form hat wohl zuerst d’Alembert die Beschränkung auf die reine Beschreibung verlangt (Traite de Dynamique, 1743, Preface). In seiner positiven Form ist dann das Prinzip von Kirchhoff (Vorlesungen über Mechanik 8. 5 fl.,, Mach u. a. ausgesprochen worden. , Postulate der empirischen Naturforschung. 303 spruch. Diese Zwecke bestehen ja nur zum geringsten Teil in der Nachweisung der einzelnen Tatsachen der Erfahrung; ihre Haupt- absicht geht auf die Ermittlung des Zusammenhanges verschiedener Tatsachen, und dieses zweite Ziel ist überdies nicht bloß um seiner selbst willen vom größten Werte, sondern vor allem auch deshalb, weil die Ermittlung des Zusammenhanges der Tatsachen der häufigste Weg ist, auf dem wiederum neue Tatsachen gefunden und der Beschreibung zu- gänglich gemacht werden können. Das erhellt schon bei einem flüch- tigen Blick auf die Geschichte der bekanntesten wissenschaftlichen Entdeckungen, welcher zeigt, daß die isoliert und darum durchweg zufällig gefundenen Tatsachen gegenüber jenen, auf die zuerst der Zusammenhang der Erscheinungen geleitet hatte, an Zahl und zumeist auch an Wert eine verschwindende Minderheit bilden. Nun haben wir unter „Erklärung“ im naturwissenschaftlichen Sinne gar nichts anderes zu verstehen als eine Beschreibung von Erscheinungen, bei der man zugleich deren Zusammenhang mit anderen Erscheinungen berücksich- tigt. Stellt sich dieser Zusammenhang als ein regelmäßiger und mit den sonst bekannten Bedingungen des Geschehens übereinstimmender dar, so geht die Beschreibung in das über, was wir eine „Erklärung“ nennen. Insofern eine solche Darstellung das allgemeine Kausalprinzip voraussetzt, können wir daher die Erklärung auch die kausale „Beschrei- bung‘‘ eines Vorgangs nennen, und die Beschreibung überhaupt läßt sich nun in die einfache und in die kausale Beschreibung unterschei- den. Hypothesen sind dann allerdings bei der letzteren notwendige Hilfs- mittel für die Darstellung des Zusammenhangs. Aber je mehr bei der Aufstellung der letzteren das methodologische Prinzip der Einfachheit befolgt wird, umsomehr verwandeln sich solche Hypothesen lediglich inHilfsmittelder Beschreibung komplexer Phö- nomene und ihres Zusammenhanges. Die Forderung einer reinen Beschreibung der Naturerscheinungen unter Verzicht auf jeden Gebrauch interpretatorischer Hilfsmittel entspricht daher weder dem wirklichen Zustand der Wissenschaft noch dem Zweck, den sie hat. Dieser Widerspruch entspringt aber einerseits daraus, daß dabei zwei durch unzweifelhaft bestehende logische Merkmale unterschiedene Methoden, nämlich eben die der reinen und die der kausalen Beschrei- bung oder Erklärung, in ihrem sich gegenseitig bedingenden Verhältnisse verkannt werden, und anderseits daraus, daß jene Forderung der reinen Beschreibung wiederum unter der V oraussetzungeinesteleologischen Prin- zips steht, das nicht der naturwissenschaftlichen Forschung selber ent- nommen, sondern ihr willkürlich entgegengebracht wird, ähnlich wie das 304 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. objektive Gesetz der „einfachsten Mittel“ dereinst der Natur selbst ok- troyiert wurde. (Vgl.unten das „Prinzip der kleinsten Aktion“, Kap. III.) Indem das Ökonomieprinzip nicht nur den Anspruch erhebt, ein allgemeingültiges, sondern auch den, das alleingültige erkenntnis- theoretische Axiom der Naturlehre zu sein, läßt es endlich, wiederum im Gegensatz zu dem Galileischen Einfachheitsprinzip, de Anschau- lichkeit nicht mehr als ein notwendiges Postulat gelten. Vielmehr beruft man sich hier auf die Tatsache, daß die analytischen Entwick- lungen, die den Zusammenhang der Phänomene auf exaktem Wege zu verfolgen suchen, in einem großen Teil ihres Verlaufs der Anschauung, die ihnen folgen will, unüberwindliche Hindernisse bereiten, und daß sich daher in Wirklichkeit die mathematische Physik solcher Entwick- lungen lediglich als technischer Hilfsmittel bedient, die zwar begriff- lich wohl begründet sind, aber einen Anspruch auf Anschaulichkeit nicht machen können. Insofern nun diese rein technische Auffassung des mathematischen Kalküls nicht bloß die einfachste ist, sondern sich überdies darauf beschränkt, gegebene Phänomene der Wahrnehmung, die direkt nicht miteinander verknüpft werden können, auf dem in- direkten Weg passend gewählter Differentialgleichungen in Verbindung zu setzen, nennt man vom Standpunkt des Ökonomieprinzips aus eine solche Betrachtungsweise auch de phänomenologische. In Wirklichkeit ist freilich diese Bezeichnung nur zur Hälfte richtig, und unter dem Gesichtspunkt, daß ein Phänomen im allgemeinen eine in der Anschauung gegebene Erscheinung bedeutet, gleicht sie bei- nahe einem „lucus a non lucendo“. In Wahrheit ist der Standpunkt gleichzeitig phänomenologisch und nominalistisch: phänomenologisch in Bezug auf die zu interpretierenden Erscheinungen, nominalistisch in Bezug auf die hierzu dienenden Interpretationsmittel, wo die Formeln, ähnlich den Wörtern der Sprache, als willkürlich gewählte Denkmittel betrachtet werden, die zu dem was sie bedeuten in gar keiner inneren Beziehung zu stehen brauchen. Diese Auffassung scheitert aber erstens daran, daß die Gleichungen, in denen die Prämissen formuliert werden, die zur Lösung der spezielleren Probleme dienen, überall eine anschaulich interpretierbare Bedeutung besitzen, und zweitens daran, daß die endgültigen Ergebnisse der Betrachtungen ebenfalls wieder anschaulich interpretierbar sein müssen, wenn sie überhaupt als Lösungen der gestellten Aufgaben gelten sollen. Man hat bisweilen die erste dieser Tatsachen auf Grund der von Maxwell aufgestellten Grundgleichungen seiner elektromagnetischen Lichttheorie bestritten, indem man be- hauptete, bei diesen Gleichungen, die sich für die Interpretation der Postulate der empirischen Naturforschung. 305 mannigfaltigsten Erscheinungen des Lichts, der Elektrizität, des Mag- netismus und ihrer Wechselbeziehungen fruchtbar erwiesen haben, sei es ganz gleichgültig, ob man sich darunter anschauliche Vorgänge denken wolle oder nicht. Nachdem die Gleichungen einmal da sind, mag das zutreffen, ebenso wie man sich ja des großen Einmaleins be- dienen kann, ohne die erforderlichen einfachen Multiplikationen oder gar Additionen jedesmal auszuführen. Aber die erste Aufstellung irgend- welcher Gesetze, die sich auf die in der Wahrnehmung gegebenen Er- scheinungen beziehen, ist niemals möglich, ohne daß man sich von den Gesetzen zugleich ein anschauliches Bild macht. Das bezeugt in diesem Fall Maxwells eigener Bericht über die Art, wie er zu seinen Gleichungen gelangt ist*). Er ersann sich einen Mechanismus, der zur Veran- schaulichung der elektromagnetischen Wechselwirkungen geeignet erscheinen konnte. Dieser Mechanismus war sehr unwahrscheinlich, so daß ihn sein Erfinder selbst eine „seltsame Vorstellung“ nannte; aber anschaulich war er durch und durch, und ohne daß er dies gewesen wäre, würde Maxwell schwerlich zu seinen Grundgleichungen gelangt sein. Nicht daß sie wahr, sondern daß sie anschaulich sind, und daß sie eben dadurch geeignete Formulierungen der Probleme zulassen, darin be- steht daher im allgemeinen der Hauptwert der naturwissenschaftlichen Hypothesen. Eine hypothesenfreie und zugleich rein phänomenologische Wissenschaft würde das Ideal einer reinen Beschreibung verwirklichen. Aber sie würde auch keine Probleme mehr enthalten und damit darauf verzichten, über den Zusammenhang der Erscheinungen Rechenschaft zu geben. Läßt man die Mathematik als ein technisches Hilfsmittel gelten, das solchen Zusammenhang herstellt, so muß der Anfang und das Ende der analytischen Entwicklungen immer in der Anschauung repräsentierbar sein. Wenn sie das sind, so können die Zwischen- operationen zwar im einzelnen sich der Verfolgung in der Anschauung entziehen, weil die Verwicklung der Begriffe zu groß wird, als daß wir sie jedesmal in die Anschauung übertragen könnten. Doch eine logische Entwicklung, die mit Gliedern von anschaulicher Bedeutung beginnt und in ihrem Endergebnis wieder einen in der Anschauung interpretier- baren Sinn haben muß, kann an sich auch in den Zwischengliedern niemals die Beziehung zur Anschauung verlieren, wenn es gleich bei der Behandlung der Probleme zu umständlich oder selbst unserem Anschauungsvermögen versagt sein mag, dieser Beziehung im ein- zelnen zu folgen. Als direktes Postulat bleibt aber das Prinzip der An- *) Maxwell, On physical lines of force (1861), Scient. Pap. Vol. I, p. 451, Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 20 306 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturferschung. schaulichkeit insbesondere für die hypothetischen Elemente bestehen, die als Hilfsbegriffe in die analytischen Entwicklungen eingehen. Hier können die Eigenschaften der hypothetischen Substrate der Erschei- nungen möglicherweise durchaus von den Eigenschaften der uns in der Wahrnehmung gegebenen Körper abweichen. Mit den allgemeinen Bedingungen unserer Anschauung, mit den Eigenschaften des Raumes und der Bewegung, müssen sie stets übereinstimmen. Damitsind dann aber auch solche hypothetische Substrate vorstellbar, und sie genügen so dem Prinzip der Anschaulichkeit in dem allgemeinen Sinne, in dem dieses für alle naturwissenschaftliche Interpretationen gefordert ist. Drittes Kapitel. Die Prinzipien der Mechanik und der Kausalbegriff der mechanischen Naturlehre. 1. Die Entwicklung der mechanischen Grundbegriffe. a. Die Statik des Archimedes. Die wissenschaftliche Mechanik hat mit einzelnen Erkenntnissen begonnen, die sich auf die Erscheinungen der Bewegung unter den relativ einfachsten Bedingungen bezogen. Solche einfachste Bedingungen des mechanischen Geschehens sind dann gegeben, wenn an einem Körper verschiedene bewegende Wirkungen miteinander im Gleichgewicht stehen. Denn in diesem Falle kommen, da eine wirkliche Bewegung nicht eintritt, Zeit und Geschwindigkeit, die sonst unerläßlichen Be- standteile der Bewegungsvorstellung, nicht unmittelbar ın Betracht, sondern es genügt die Kenntnis der geometrischen Eigenschaften der Körper sowie der Größe und Richtung der an ihnen angreifenden Kräfte, um die Bedingungen des Gleichgewichts aufzufinden. In den Anfängen der statischen Untersuchung, wie sie das Altertum aufzuweisen hat, wird aber das Problem noch nicht einmal in dieser Allgemeinheit aufgestellt, sondern man begnügt sich mit der Berücksichtigung einer Kraftform, die so zu sagen als selbstverständliche Eigenschaft aller Körper zu den rein geometrischen Eigenschaften derselben hinzugedacht wird, der Schwerkraft. Auf diese Weise wird die Statik in den Händen des Archimedes vollständig zu einem Zweig der Geometrie. Der feste Körper wird als ein abgegrenzter Teil des Raumes aufgefaßt, dessen einzelne Punkte, der bei geometrischen Untersuchungen angenommenen Unveränderlichkeit der Raumgebilde entsprechend, . in . vollkommen Die Entwicklung der mechanischen Grundbegriffe, 307 starrem Zusammenhange stehen. Es tritt nur zu den bei der gewöhn- lichen Geometrie gültigen Voraussetzungen die weitere hinzu, daß das betreffende Raumgebilde Gewicht besitze. Das Problem der Bestim- mung des Schwerpunkts wird so zu einer rein geometrischen Aufgabe, und selbst das Hebelgesetz, obgleich es durch die Einführung von Ge- wichten, die in verschiedenen Abständen an der Hebelstange wirken, zur Unterscheidung äußerer Kräfte nötigt, die nicht einfach den sonstigen geometrischen Eigenschaften der Körper hinzugefügt werden können, wird dennoch durch einen eigentümlichen Kunstgriff von Archimedes auf das Feld geometrischer Betrachtungen übergeführt, indem er dasselbe aus dem als Axiom angenommenen Satze ableitet, daß gleich große Gewichte in gleicher Entfernung vom Unterstützungspunkt mit- einander im Gleichgewicht stehen. Da das nämliche Axiom auch der Be- stimmung des Schwerpunktes zu Grunde liegt, so besteht die Bedeutung dieser Ableitung wesentlich darin, daß sie es gestattet, den Hebel samt den an ihm wirkenden äußeren Kräften wiederum als ein geo- metrisch gleichförmiges Gebilde zu betrachten, an welchem auch die Gewichte gleichförmig verteilt seien. Suchen wir uns, insoweit hier überhaupt von einer Rekonstruk- tion die Rede sein kann, über den Weg Rechenschaft zu geben, auf dem Archimedes zu seinen statischen Erkenntnissen geführt wurde, so wird nun zunächst nicht in Abrede zu stellen sein, daß gewisse experimentelle Ermittlungen über Gewicht und Gleichgewicht der Körper vorangingen. Nachdem durch die unmittelbare Wahrnehmung das Gewicht als ein vertikal abwärts gerichteter Druck erfaßt war, konnten weitere zu- fällige Beobachtungen leicht zu dem Satze führen, daß es für jeden Körper einen Punkt gibt, dessen Unterstützung Gleichgewicht herbei- führt. Hier war aber auch sofort nahe gelegt, die genauere Lösung des Problems des Schwerpunktes auf geometrischem Wege zu ver- suchen. Daran schloß sich dann die Ableitung des Hebelgesetzes, das infolge der leichten experimentellen Bestätigung, die es zuließ, dieses ganze Gebiet geometrisch-statischer Untersuchungen zum Abschluß brachte. Im ganzen können wir somit hier drei Stadien der Unter- suchung unterscheiden: 1) das der induktiven Vorbereitung, in welchem die Beobachtung im wesentlichen einen qualitativen Charakter besitzt oder sich höchstens zu approximativen quantitativen Schätzungen er- hebt; 2) das der spekulativen Bearbeitung der Probleme, in welchem auf Grund der vorangegangenen Beobachtung allgemeine Voraussetzungen gebildet und aus diesen Sätze von quantitativem Charakter abgeleitet werden; 3) das der experimentellen Prüfung, in welchem sich der Nach- 308 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. weis vollzieht, daß die Erscheinungen ihren quantitativen Verhältnissen nach mit den gemachten Voraussetzungen übereinstimmen. Diese Ent- wicklungsfolge kommt, wie wir sehen werden, in allen Zweigen der Naturlehre zur Geltung. Aber schon die antike Mechanik ist gegenüber anderen Gebieten der Naturwissenschaft dadurch ausgezeichnet, daß das erste und sogar das dritte jener Entwicklungsstadien im Verhältnis zu dem zweiten vernachlässigt werden. Infolgedessen tritt die Mechanik in nahe Beziehung zur reinen Mathematik. Die induktive Vorbereitung beschränkt sich dort wie hier auf eine geringe Zahl objektiver Wahr- nehmungen, und die experimentelle Bestätigung erscheint als ein nahe- zu überflüssiges Geschäft, da sich die betreffenden Sätze schon durch ihre innere Evidenz Beistimmung zu erzwingen scheinen. Außerdem wird dieser spekulative und mathematische Charakter der Entwicklungen noch dadurch verstärkt, daß die Voraussetzungen, die man der Ab- leitung der Sätze zu Grunde legt, von den in der Erfahrung gegebenen Bedingungen in einem ähnlichem Sinne abweichen wie die geometrischen Begriffe von den wirklichen Körpern im Raume. So ist insbesondere in der Archimedischen Statik die Annahme einer absolut homogenen und starren Beschaffenheit der Körper lediglich geometrischen Ur- sprungs, und eben dadurch wird diese Statik gewissermaßen zu einer Geometrie intensiver Raumgrößen, indem jedem Raumteilchen außer seinem extensiven auch noch ein intensiver Wert in Gestalt eines bestimmten Gewichtes zugeschrieben wird*). b. Galileis dynamische Anschauungen. Indem die antike Statik die Vorstellung des Gewichtes in der Form, in der sie in der verbreiteten Anschauung vom Körper enthalten ist, unmittelbar mit den geometrischen Begriffen verbindet, gelangen in ihr die spezifisch mechanischen Begriffe noch nicht zur Ausbildung, und sie wird nicht einmal diese Lücke gewahr, weil sie durch ihre Be- schränkung auf die Erscheinungen des Gleichgewichts an den wirklichen Bewegungsproblemen vorübergeht. So wertvoll daher auch die An- regungen waren, die aus der Archimedischen Periode auf die Anfänge der neueren Wissenschaft übergingen, so gewinnt doch erst in diesen, insbesondere in den dynamischen Forschungen Galileis, die Mechanik *) Von den hydrostatischen Entdeckungen des Archimedes sehen wir hier ab, da über die Art, wie er zu denselben gelangte, zu wenig bekannt ist. Vgl. hierüber M. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, S. 267, 280. Die Entwicklung der mechanischen Grundbegriffe. 309 ihre Selbständigkeit*). Bedeutungsvoll ist in dieser Beziehung die Rolle, die in Galileis Untersuchungen den Reflexionen über den Kraft- begriff zukommt. Um diesem Begriff seine allgemeine Geltung zu sichern, mußte er von der speziellen Vorstellung des Gewichtes los- gelöst werden. Dies konnte nicht wirkungsvoller geschehen, als indem Galilei an eine davon völlig verschiedene Kraftform seine Spekulationen anknüpfte, und wieder konnte er hier keine glücklichere Wahl treffen, als indem er die menschliche und tierische Muskelkraft zum Urbilde der Kraft überhaupt nahm**). Denn so notwendig es für die Vollendung der wissenschaftlichen Begriffe ist, von allen anthropomorphischen Vor- stellungen abzusehen, so wünschenswert muß es für die erstmalige klare Aufstellung eines Begriffes sein, daß man sich die psychologischen Bedingungen vergegenwärtige, die zunächst zur Bildung desselben ge- führt haben. Der Begriff des Gewichtes schließt Kraft und Masse als seine Bestandteile ein. Eine Trennung dieser Elemente konnte nur erfolgen, indem man sich solche Formen der Kraftwirkung vergegen- wärtigte, bei denen sie deutlich voneinander geschieden sind. Dies ist aber vor allem in den Fällen verwirklicht, wo die menschliche oder tierische Muskelkraft eine äußere Last in Bewegung setzt. Die ver- schiedenen Ausdrücke, deren sich Galilei zur Bezeichnung der Kraft bedient, impetus, momentum, weisen daher auf die Vorstellung hin, daß die Kraft von außen die Masse ergreife, um ihr entweder durch einen augenblicklichen Anstoß (impetus) oder durch einen gleichförmig an- dauernden Antrieb (momentum) eine Bewegung mitzuteilen***). Diese Vorstellung führt zu zwei Voraussetzungen, die für die moderne Mechanik grundlegend geworden sind. Die erste besteht in der Annahme, daß die Masse des Körpers passiv der sie ergreifenden Kraft gegenüberstehe, die zweite in der Zurückführung der dauernden Kraftwirkung auf eine stetige Folge momentaner Impulse, deren Effekte sich summieren. Beide Voraussetzungen finden ihren Ausdruck in dem von Galilei auf- gestellten Beharrungsprinzip, welchem später der nicht ganz *) Die an sich höchst bemerkenswerten Arbeiten des Simon Stevi- nus, des Zeitgenossen Galileis, müssen hier außer Rücksicht bleiben, weil sie sich, durch ihre rein statische Richtung der antiken Betrachtungsweise verwandt, gerade von denjenigen Grundgedanken fernhalten, aus denen die neuere Mechanik hervorgegangen ist. Vgl. über dieselben E. Dühring, Kritische Geschichte der allgemeinen Prinzipien der Mechanik, 1873, S. 60 ff. **) Dialogh. delle nuove scienze, giorn. III, lib. II. Opere, ediz. Alberi. Firenze 1855. T. XIII, p. 154. Vgl. auch Dühring,a.a. O.S. 24 fi. RP): A. 8. Os, ZIEH, 179,880," Xp: |, 310 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. passende Name des „Trägheitsgesetzes“ verliehen worden ist. Nach dem Beharrungsprinzip erzeugt der momentane Anstoß eine an sich ins un- begrenzte dauernde Bewegung von gleichförmiger Geschwindigkeit, und der dauernde Antrieb einer Kraft läßt sich auf eine Anhäufung elementarer Anstöße zurückführen, die in gleichen Zeiten gleich große Zuwüchse an Geschwindigkeit hervorbringen müssen*). Dem ersten Teil dieses Satzes liegt sichtlich die Vorstellung der durch eine einmalige Stoß- oder Wurfbewegung angetriebenen Masse zu Grunde. Aber es bedurfte einer eminenten Abstraktionskraft, um die in der Beobachtung niemals gegebene Vorstellung einer ins unendliche fort- dauernden gleichförmigen Geschwindigkeit als den an sich notwendigen Effekt des Stoßes hinzustellen, und die in der Wirklichkeit stets vorhan- denen Verzögerungen der Geschwindigkeit auf die wechselnden Wider- stände zurückzuführen. Gerade diese Abstraktion zeigt, wie unschein- bar in solchen Fällen der Anteil der Beobachtung an dem endgültig durch Spekulation gefundenen Prinzip sein kann. Reduziert sich doch bei dem Trägheitsgesetz die Beobachtung ganz und gar auf die Tat- sache, daß der gestoßene Körper überhaupt noch sich weiter bewegt, nachdem der Stoß aufgehört hat. Auch hätte darin allein nie ein zu- reichendes Motiv gelegen, die eingewurzelte Vorstellung zu verlassen, daß die Bewegung allmählich von selbst erlösche. Sichtlich war es viel- mehr ein anderes Element der an die menschliche Kraftäußerung sich anlehnenden Bewegungsvorstellung, nämlich die oben schon betonte Trennung von bewegender Kraft und bewegter Masse, das hier der Spekulation ihre Richtung gab. Wenn die Kraft nicht eine innere Eigenschaft des Körpers selbst ist, sondern nur als ein äußerer Anstoß an ihn herantritt, so ist nicht abzusehen, wie an der einmal hervor- gerufenen Bewegung Änderungen entstehen sollen, wenn sie nicht abermals durch äußere Kräfte veranlaßt werden. So ist es wesentlich die Anschauung von dem passiven Verhalten des Körpers, aus welcher die Konzeption des Beharrungsgesetzes entsprang, und mit Rücksicht hierauf hat auch der Name der Trägheit seine Berech- tigung, ebenso wie aus diesem Motiv die spätere Vereinigung des Axioms, daß ein ruhender Körper einer äußeren Kraft bedarf, wenn er in Be- wegung geraten soll, mit dem Galileischen Beharrungsprinzip, das sich nur auf die Bewegung bezieht, erklärlich wird. Sobald der erste Teil des Beharrungsprinzips, der Satz von der *) Dialogh. giorn. III, lib. II, p. 163. Hinsichtlich der hierbei von Galilei stillschweigend gemachten Voraussetzungen über das Maß der Geschwindigkeit vgl. Bd. I, S. 573 £., 6il £. Die Entwicklung der mechanischen Grundbegriffe, 3ıl gleichförmigen Geschwindigkeit bei momentanem Impuls, vollkommen klar erfaßt war, so ergab sich nun der zweite Teil, der Satz von der gleichförmigen Beschleunigung eines durch eine dauernde Kraft be- wegten Körpers, als eine notwendige Konsequenz der zu Grunde liegenden Vorstellung. Verhält sich der Körper passiv gegen die auf ihn einwirken- den Anstöße, so muß ein neuer Impuls seine Wirkung der schon vor- handenen Bewegung hinzufügen, und eine dauernde Kraft wird in eine Summe stetig aufeinander folgender augenblicklicher Impulse auf- gelöst werden können. Hier aber griff nun die Beobachtung der be- schleunigten Bewegung beim Fall der Körper nicht bloß bestätigend in den Verlauf der Spekulation ein, sondern sie war wohl schon bei der induktiven Vorbereitung derselben beteiligt gewesen. Der wenigstens qualitativ leicht zu gewinnende Nachweis, daß die alte Annahme einer Proportionalität zwischen Fallzeit und Fallraum ein Irrtum sei, hat den Gedanken Galileis frühe schon die Richtung gegeben. Aber zu der spekulativen Entwicklung des Beharrungsgesetzes konnte dieser Ge- danke doch nur führen, nachdem mit Hilfe anderer Formen der Kräfte- wirkung die Unterscheidung von Kraft und Masse vollzogen war, so daß es nun nahe lag, dieselbe auch auf die Bewegung der Körper beim Fall zu übertragen. Das Beharrungsgesetz ist das einzige Prinzip der Mechanik, das von Galilei als Axiom aufgestellt wurde. Aber gerade darin zeigt sich die außerordentliche Fruchtbarkeit dieses Prinzips, daß es seinem Ur- heber gelang, an der Hand desselben eine Menge von Sätzen abzuleiten, für die eine spätere Zeit noch weitere Voraussetzungen erforderlich hielt. Dies war freilich nur möglich, weil bei ihm das Beharrungsgesetz eine allgemeinere Bedeutung besaß, als sie späterhin dem Trägheitsprinzip zugestanden wurde, wie sie aber allerdings durch die spekulative Be- gründung, die Galilei seinem Gesetz gegeben, unmittelbar nahe gelegt war. Insbesondere sind es zwei Prinzipien, die bei Galilei als selbst- verständliche Folgen des Trägheitsgesetzes erscheinen : der Satz von der Zusammensetzung der Kräftewirkungen, und das Gesstz der Zurückführung des Gleichgewichts der Kräfte auf die Gleichheit ihrer virtuellen Momente. Von dem ersteren Prin- zip macht Galilei bei der Ableitung der Wurfbewegungen Gebrauch. Daß die Bahn eines horizontal fortgeworfenen Körpers einfach durch die Verbindung der durch den Wurf hervorgebrachten gleichförmigen Geschwindigkeit in horizontaler Richtung mit der durch das Gewicht hervorgebrachten gleichförmig beschleunigten Geschwindigkeit in vertikaler gewonnen wird, erscheint bei ihm als eine unmittelbare 313 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Folge des passiven Verhaltens der Körper gegenüber den auf sie ein- wirkenden Kräften, ohne daß er sich veranlaßt findet, hier ein besonderes Prinzip der Zusammensetzung herbeizuziehen, wie ein solches späterhin in dem Satz vom Kräfteparallelogramm entwickelt wurde*). Ähn- lich verhält es sich mit der Zurückführung des Gleichgewichts auf mögliche Geschwindigkeiten. Da Galilei von dynamischen Unter- suchungen ausgegangen war, so war die Reduktion der Statik auf Dynamik für ihn ein fast unvermeidlicher Schritt. Die Anwendung der dynamischen Gesichtspunkte auf statische Probleme mußte aber zu einer Vertiefung des Kraftbegrifis selbst führen, als dessen wesentlicher Inhalt sich nun erst in vollkommen klarer Weise die durch eine bestimmte Ursache hervorgebrachte momentane Beschleunigung einer Masse darstellte, so daß als allgemeines Maß der Kraft das Produkt der Masse in ihre momentane Beschleunigung dienen konnte. Das statische Verhalten ergab sich jetzt als derjenige Spezialfall, wo sich die einzelnen momentanen Geschwindigkeiten, die durch ver- schiedene Ursachen an gegebenen Massen entstehen, infolge der vor- handenen Verbindungen der letzteren gegenseitig aufheben. Aber auch dieses Prinzip tritt bei Galilei, der es auf den Hebel und den Flaschenzug anwendet, weder als ein selbständiges Axiom auf noch als ein Satz, der aus anderen abzuleiten wäre, sondern es scheint ihm als eine notwendige Folge des Kraftbegrifis selbst zu gelten**). ec. Die Begründung der synthetischen Mechanik, So fruchtbar nun auf diese Weise das Beharrungsgesetz geworden ist, indem es teils direkt, teils durch die logische Ausbildung des Kraft- begrifis, zu der es den Anlaß bot, eine Reihe anderer Prinzipien zur Entwicklung brachte, die für die neuere Mechanik von grundlegender Bedeutung sind, so läßt sich doch nicht verkennen, daß in diese Prin- zipien Voraussetzungen eingehen, die, so sehr sie durch gewisse ein- fache Beobachtungen nahegelegt sein mögen, keineswegs in dem Be- harrungsprinzip oder in dem aus ihm abgeleiteten fundamentalen Kraft- begriff an und für sich schon enthalten sind. Durch die Entwicklung, welche die Mechanik in der folgenden Zeit genommen, wurde aber das Bedürfnis nach einer vollständigeren Darlegung der grundlegenden axiomatischen Voraussetzungen dieser Wissenschaft immer unabweis- barer. Denn in dem Maße, als sich die mechanischen Probleme, die *) Dialogh. giorn. IV. A. a. O. p. 221 fi. **) Della scienza meccanica. Opere T. XIII, p. 91 f. Die Entwicklung der mechanischen Grundbegriffe. 313 man behandelte, verwickelter gestalteten, mußte die Strenge der Be- weisführung und damit zugleich die bestimmte Sonderung der Prin- zipien von den gefolgerten Sätzen zunehmen. Eine freie Diskussion, wie sie Galilei in seinen „Discorsi“ übte, läßt eine solche Sonderung kaum aufkommen; die Euklidische Demonstrationsweise dagegen, deren sich ein Huygens und Newton mit Meisterschaft bedienten, hat dieselbe zur Vorbedingung. Dennoch trennen sich innerhalb dieser mit den Hilfsmitteln der synthetischen Demonstration die Mechanik behandelnden Richtung deutlich wieder zwei Entwick- lungen voneinander, deren charakteristische Unterschiede hauptsäch- lich in der Verschiedenheit der Probleme, mit denen man sich beschäf- tigt, ihre Quellen haben. Auf der einen Seite waren es die Kombinationen frei wirkender Kräfte, die sich der Untersuchung darboten. Wie hier Galilei selbst schon aus Anlaß der Fall- und Wurfbewegungen zu der Konzeption des fundamentalsten Axioms der Mechanik, des Beharrungsgesetzes, gelangt war, so mußte die Weiterführung solcher Untersuchungen wegen der relativen Einfachheit und Gleichartigkeit der Bedingungen, die bei frei wirkenden Kräften stattfinden, vorzugs- weise leicht zur Aussonderung einfachster Voraussetzungen von axio- matischem Charakter führen. In der Tat ist es Newton, der, indem er Galileis Gesetze der Bewegung schwerer Körper auf das Welt- system ausdehnt, zugleich als der erste die sämtlichen Axiome zu formulieren sucht, die dem System der Mechanik zu Grunde liegen. Auf der anderen Seite handelte es sich bei derjenigen Weiterbildung der Mechanik, die durch technische Zwecke, durch die Anwendung der Bewegungsgesetze auf einfache Maschinen gefordert war, im allgemeinen um die Kombination gegebener Kräfte mit bestimmten statischen Bedingungen, die durch die gegenseitige Verbindung der Teile der Maschine vorgeschrieben sind. Der Hebel und die schiefe Ebene sind die einfachsten Fälle dieser Art, die zugleich insofern einen typi- schen Charakter besitzen, als bei allen diesen statischen Kombinationen die Wirkungen der äußeren Kräfte entweder, wie beim Hebel, durch den Zusammenhang des Körpers selbst, an dem sie angreifen, oder aber, wie bei der schiefen Ebene, durch äußere Hemmungen, welche die Bewegungen des Körpers bestimmen, beschränkt sind. Wie der Hebel und die schiefe Ebene die einfachsten, so wurden bald das phy- sische Pendel und die Brachystochrone (die Bahn des schnellsten Falls) die für die Ausbildung der Mechanik wichtigsten Beispiele aus diesen beiden einander ergänzenden Klassen von Problemen. Die verhältnismäßig verwickelte Beschaffenheit der letzteren, sowie die 314 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Komplikation verschiedenartiger, teils dynamischer, teils statischer Bedingungen bewirkte nun aber hier, daß an Stelle einfacher Axiome gewisse Prinzipien von zusammengesetzterer Art zur Entwicklung ge- langten, die sich für die Lösung bestimmter technischer Aufgaben un- mittelbar fruchtbar erwiesen. So kam es, daß in der Mechanik überhaupt vorzugsweise solche Sätze fernerhin den Namen von Prinzipien erhielten, die durchaus nicht den Charakter ursprünglicher Voraus- setzungen, sondern den von Lehrsätzen besitzen, die des Beweises bedürfen. 2. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. a. Die Formulierung der mechanischen Axiome durch Newton. An den Anfang seiner „mathematischen Prinzipien der Natur- philosophie“ hat Newton außer den grundlegenden Definitionen, deren seine Mechanik bedurfte, drei axiomatische Gesetze der Be- wegung gestellt, die er, gleich jenen Definitionen, als die allgemeinsten Abstraktionen aus der Erfahrung zu betrachten scheint, da er zur näheren Erläuterung lediglich auf geläufige Erscheinungen hinweist, in denen sie sich bewähren. Diese drei Axiome Newtons bestehen in dem Trägheitsgesetz, in dem Satz, daß die Änderung der Bewegung der Einwirkung der bewegenden Kraft proportional sei und nach der Richtung der geraden Linie erfolge, nach der die Kraft wirke, und endlich in dem Gesetz von der Gleichheit der Wirkung und Gegen- wirkung. Merkwürdigerweise ist unter diesen Sätzen der erste, das Trägheitsgesetz, am wenigsten glücklich formuliert. Nicht nur tritt es hier zum ersten Male in jener seitdem gangbar gewordenen Doppel- gestalt auf, in der es Bewegung und Ruhe gleichzeitig umfassen soll, sondern es wird auch auf eine innere Eigenschaft der Körper bezogen, die als „Vis inertiae“ den äußeren Kräften analog gedacht ist, und es kommt daher der nämliche Satz in einer doppelten Form vor: zuerst unter den Definitionen der Materie, und dann noch einmal als oberstes Bewegungsaxiom. Gerade diese doppelte Aufstellung beweist aber, daß auch Newton das Streben nach einer spekulativen Begründung jenes Fundamentalgesetzes nicht überwinden konnte. Denn. für die empirische Auffassung liegt kein Anlaß vor, ein Gesetz, das sich in aller Erfahrung bewährt, und das aus keinem anderen Erfahrungsgesetz abgeleitet werden kann, aus irgend einer Qualitas occulta in den Dingen selbst zu erklären. Eine solche Qualitas occulta ist die Trägheit, Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 315 wenn sie als eine Eigenschaft oder gar als eine Kraft der Körper ge- dacht wird. Das Beharrungsgesetz ist ja ein Axiom, das für die Wir- kungen äußerer Kräfte auf die Körper gültig ist; es ist also in die all- gemeine Definition der Kraft aufzunehmen und darf nicht auf eine spezifische innere Kraft zurückgeführt werden, die zu den äußeren Kräften erst hinzukomme. Die letztere Betrachtung schließt eigent- lich die Annahme in sich, die äußeren Kräfte für sich genommen folgten dem Beharrungsgesetze nicht. In der Tat zeigen spätere Aus- führungen über die Vis inertiae, die sich direkt an die Newtonsche Definition anschließen, deutlich genug, daß im Hintergrunde dieser Auffassung der alte scholastische Satz steht: „Cessante causa cessat effectus“, und daß man in der Zurückführung des Beharrungsgesetzes auf eine in den Körpern permanent anwesende Kraft eine Art von spekulativer Begründung desselben gefunden zu haben glaubte*). Das zweite Gesetz Newtons schließt sodann streng genommen zwei Axiome oder ein Postulat und ein Axiom in sich: das Postulat, daß die Änderung der Bewegung der bewegenden Kraft proportional sei, und das Axiom, daß die Änd:rung in der Richtung der geraden Linie er- folge, in welcher die Kraft wirkt. Das ganze Gesetz, das schon Galilei überall vorausgesetzt, aber nirgends formuliert hatte, erscheint als eine Anwendung der vorangegangenen Definition der Kraft, wonach diese das auf einen Körper ausgeübte Bestreben ist, seinen Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung zu ändern. Als ein neues Prinzip, das nur in den Arbeiten von Huygens bereits gelegent- lich seine stillschweigende Verwendung gefunden hatte, tritt endlich das Gesetz von der Gleichheit der Aktion und Reaktion auf, dem allein keine grundlegende Definition gegenübersteht. Bei der Beurteilung dieses ersten Versuches eines synthetischen Systems der Mechanik darf man die Kunst, mit der aus den Prinzipien der Bewegung die Gesetze des Weltsystems entwickelt werden, nicht mit dem logischen Wert jener Prinzipien selbst vermengen. In ersterer Beziehung ist Newtons Gravitationsmechanik noch heute für uns das bewundernswerteste Beispiel einer strengen Deduktion einzelner Erfahrungsgesetze aus ihren allgemeinen Voraussetzungen. In der zweiten Beziehung dagegen werden wir bei Newtons Formulierung der Bewegungsgesetze, abgesehen von dem zwiespältigen Charakter des *) Vgl. Chr. Wolffs Ontologia, $ 321, sowie Euler, Theoria motus, Introd. Cap. II. (Mechanik, Ausgabe von Wolfers, Bd. I, S 5, 21 ff.) Eulergibt im ganzen der Bezeichnung „Eigenschaft“ für die Trägheit den Vorzug. (Theoria motus, Def. II, Schol.) 316 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Trägheitsprinzips, von der Verbindung zweier Axiome in dem zweiten Gesetz und von der wechselnden Beziehung zu den vorangegangenen Definitionen, vor allem die Vollständigkeit vermissen. In der Tat wiederholt sich hier in beschränkterem Maße der nämliche Vorgang, der uns schon bei Galilei begegnet ist. Wie dieser alle Erscheinungen auf sein Beharrungsgesetz zurückführt, dabei aber in Wirklichkeit eine Reihe weiterer Voraussetzungen stillschweigend hinzunimmt, so wird bei Newton ein wichtiger Satz scheinbar aus dem zweiten Be- wegungsgesetz abgeleitet, in Wahrheit aber in den zu diesem Behuf geführten Beweis als eine Petitio principii eingeführt: es ist dies der Satz von der Zusammensetzung der Bewegungen. Er tritt als Korollar- satz zu den drei Bewegungsgesetzen hinzu, und das inihm zur Äußerung kommende Prinzip, daß eine zweite Kraft nichts an der Geschwindigkeit ändert, welche die erste für sich allein hervorbringen würde, ist in der hinzugefügten Erläuterung als eine unmittelbare Folgerung aus dem zweiten Bewegungsgesetz bezeichnet*). Aber es ist nicht abzusehen, wie aus einem Gesetz, das die Wirkungsweise einer einzigen Kraft bestimmt, irgend etwas über die Verbindung der Kräfte gefolgert werden kann; vielmehr macht offenbar diese letztere eine neue axiomatische Annahme erforderlich. Außerdem ist in den aufgestellten Bewegungs- gesetzen die der ganzen neueren Mechanik zu Grunde liegende Voraus- setzung, daß die Kraft stets räumlich getrennt sei von der Masse, auf die sie wirkt, nicht zum Ausdruck gekommen. Für Galilei lag diese Trennung in der Vorstellung von der menschlichen Muskelkraft, von der er bei seiner Konzeption des Kraftbegrifis ausgegangen war, als ein selbstverständlicher Bestandteil eingeschlossen. In dem Maße aber, als man mit Recht diesen anthropomorphischen Ursprung des Kraftbegriffs zurücktreten ließ, wäre die Nötigung dringender gewesen, sich von der wirklichen Bedeutung, die jene Vorstellung für die Reform des Kraftbegriffs gehabt hatte, deutliche Rechenschaft zu geben; nur so wäre es möglich geworden, die Irrungen zu vermeiden, die sich später in die Auffassung des Trägheitsgesetzes einmengten. Ein letzter Mangel dieser frühesten Gestaltung mechanischer Axiome liegt endlich in der unzureichenden Entwicklung des Begriffs der Bewegung. Ga- lilei hatte die Bewegungsvorstellung einfach der sinnlichen Wahr- nehmung entnommen, ohne an eine Zergliederung ihrer Bedingungen zu denken. Newton scheidet die wirkliche von der scheinbaren *) Philosophiae naturalis princip. math. Axiomata, Lex III, Coroll. Edit. 7ultim. Amstelod. 114, p. 13. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 317 Bewegung, indem er nur die erstere der Mechanik zuweist, da bloß die wirkliche Bewegung der Körper im Raum in wirkenden Kräften ihre Ursache habe. Aber indem er dem Raum, in welchem die wirk- liche Bewegung vor sich geht, eine absolute Existenz zuschreibt, wird ihm zugleich die wirkliche zur absoluten, die scheinbare zur relativen Bewegung, und es verbirgt sich ihm so der aller Mechanik vorausgehende phänomenologische Grundsatz, daß jede Bewegung an und für sich nur eine relative sein kann, weil wir die Ortsveränderung irgend eines Körpers nur wahrnehmen können, insofern wir sie auf irgend einen Punkt außerhalb desselben beziehen, den wir als ruhend voraus- setzen*). Mit dieser mangelhaften Entwicklung des Begriffs der Bewegung hängt eine Vermengung zusammen, die, so natürlich sie auch für die Anfänge der Mechanik ist, doch einer klaren Auffassung und Unter- scheidung der Axiome hindernd im Wege stand: es ist dies die Ver- mengung solcher Sätze, die einen rein phoronomischen Charakter be- sitzen, insofern sie nichts als die Anschauung der Bewegung voraus- setzen, mit anderen Sätzen von dynamischem Inhalt, die auf be- stimmten Annahmen über die Kräfte und über die Massen, auf die sie wirken, beruhen. Diese Vermengung ist es aber, die noch weit mehr als in der immerhin auf die Gewinnung fundamentaler Voraus- setzungen gerichteten Naturphilosophie Newtons in jener zweiten Entwicklung der Mechanik hervortritt, die sich vorzugsweise an die technischen Anwendungen derselben anschließt und der Gestaltung komplizierter, aber praktisch fruchtbarer Prinzipien zugewandt ist**). b. Teleologische Fundamentaltheoreme der Mechanik. Vom Standpunkte der reinen Mechanik aus erscheint es gleich- gültig, ob die allgemeinen Bewegungsgesetze auf irgend einen natür- lichen Zusammenhang von Bewegungserscheinungen wie das Welt- system, oder auf eine künstliche Vorrichtung wie die Pendeluhr an- gewandt werden. Trotzdem steht die Ausbildung der Mechanik in beiden Fällen unter sehr verschiedenen Bedingungen. Die Natur bietet vorzugsweise Kombinationen frei wirkender Kräfte, und am günstigsten gestaltet sich in dieser Beziehung wieder das Weltsystem *) Philos. nat. prineip. math. Definitiones, Schol. 1. ce. p. 5. **) Vgl. zu Obigem die in Bd. I, S. 571 ff. 609 ff. gegebenen Formulierungen der phoronomischen und physikalischen Axiome. 318 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. als Ganzes, weil hier gegenüber einigen wenigen nach einfachen Gesetzen wirkenden Ursachen alle etwa stattfindenden Nebeneinflüsse bei einer approximativen Betrachtung der Erscheinungen vernachlässigt werden können. Von Anfang an streben daher die aus den allgemeinen Natur- erscheinungen abgeleiteten Prinzipien einer kausalen Form zu. Auf die künstliche Maschine dagegen wirken die Bewegungsursachen unter bestimmten Bedingungen des Zusammenhangs der Teile, und diese sind von den Zwecken abhängig, denen die Maschine dienen soll. Hier wird daher die ganze Beurteilung von dem Zweckbegrift gelenkt, und die auf Grund solcher Betrachtungen gewonnenen Prinzipien nehmen eine teleologische Form an. Nach der Natur des Zweckbegriffs kann freilich dies Verhältnis kein ausschließliches sein, sondern die auf dem ersten Weg entstandenen Kausalgesetze wirken ebenso auf die technische Mechanik wie die in dieser herrschenden Zweck- betrachtungen auf die physikalische zurück. Zudem liegen in der Aus- bildung der letzteren selbständig wirkende teleologische Motive. An ihren Endpunkten gehen endlich beide Entwicklungen ineinander über, indem der kausale Gesichtspunkt im ganzen zum Übergewichte gelangt, während nebenbei gewissen Zweckprinzipien eine allgemeinere Über- tragung auf die Natur zu teil wird. Die Entwicklung der Mechanik von Huygens und Newton an bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ist der aus beiden Quellen ge- flossenen Ausbildung der mechanischen Fundamentaltheoreme ge- widmet. Eine Reihe von Sätzen wurde hier in die Wissenschaft ein- geführt, deren jeder nach seinem Ursprung die Bedeutung eines aus axiomatischen Voraussetzungen abzuleitenden Theorems und in Bezug auf seine Anwendung die Bedeutung eines Prinzips besitzt, auf das man wo möglich die ganze Mechanik zu gründen sucht. Nicht selten war man zugleich bemüht, gewisse spekulative Gründe für das gewählte Prinzip geltend zu machen und dasselbe auf diese Weise dennoch zum Rang einer axiomatischen Voraussetzung zu erheben. Solche Gründe sind aber regelmäßig teleologischer Art, so daß hier der technische Aus- gangspunkt und die philosophische Gedankenrichtung auf das gleiche Ziel hinwirken. Die letztere verstärkt außerdem die Neigung zu einer Übertragung der nämlichen Gesichtspunkte auf die Betrachtung der frei wirkenden Naturkräfte. Erst gegen das Ende dieser Zeit kommt in der hauptsächlich durch d’Alembert und Lagrange der analy- tischen Mechanik gegebenen Gestaltung die kausale Betrachtung zum Übergewicht, und man sucht nun nachzuweisen, daß alle jene teleo- logischen Prinzipien Folgerungen sind aus den einfachsten Bewegungs- Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 319 gesetzen oder aus einem diese umfassenden mechanischen Grundsatz von kausaler Bedeutung. Eine hervorragende Rolle unter den so entstandenen fundamen- talen Lehrsätzen der Mechanik von teleologischem Inhalt kommt einer Reihe von Prinzipien zu, die wir unter dem Namen der Erhaltungsprinzipien zusammenfassen. Sie bilden den Anfangs- und Endpunkt dieser Entwicklung. Denn zum ersten Male tritt, in einer freilich ausschließlich spekulativ begründeten und in der Anwendung irreführenden Form, der Gedanke der Erhaltung in dem Cartesianischen Satz von der Erhaltung der Quantität der Bewegung in die Geschichte der Mechanik ein; ihren Ab- schluß aber findet diese ganze Entwicklung in dem erst der neuesten Zeit angehörenden Prinzip der Erhaltung der Energie, welches den Cartesianischen Gedanken auf seine haltbare physikalische Form zurückführt. Übrigens sind gerade die Aufstellungen dieses ersten und letzten Prinzips ursprünglich bloß von spekulativen Er- wägungen ausgegangen, und sie haben daher auch von Anfang an den Anspruch auf die Bedeutung allgemeiner Naturgesetze erhoben. Da- gegen kommt die technische Bedeutung des Erhaltungsgedankens in einer Reihe zwischenliegender Prinzipien zur Geltung, die für das engere Gebiet der Mechanik fruchtbarer geworden sind als jene all- gemeinen Formulierungen, deren Wert mehr auf physikalischem Bo- den liegt. Unter diesen spezifisch mechanischen Erhaltungsgesetzen nimmt das Prinzip der Erhaltung der lebendigen Kräfte der Zeit wie der Bedeutung nach die erste Stelle ein. Als eine selbstver- ständliche Voraussetzung wurde es von Huygens in die Mechanik eingeführt, indem dieser bei der Untersuchung der Pendelbewegungen von dem Satze ausging, daß ein fallender Körper durch die erlangte Geschwindigkeit niemals in eine größere Höhe gehoben werden könne, als die er herabgefallen sei*). Seine weitere Ausbildung hat das Prinzip in mathematischer und physikalischer Richtung durch Jakob, Jo- hann und Daniel Bernoulli, in philosophischer Beziehung aber durch Leibniz gewonnen. ‘In rein mathematischer Formulierung lautet es: „Wenn sich ein System irgendwie verbundener Massen unter dem Einfluß konstanter Kräfte bewegt, so ist die Summe der Pro- dukte der Massen in die Quadrate ihrer Geschwindigkeiten zu allen Zeitpunkten, in welchen die Massen die gleichen relativen Lagen *) Horologium oscillatorium. Pars IV, hyp. I, II. 320 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. gegeneinander einnehmen, die nämliche“*). Die ersten Begründungen dieses Satzes stützen sich auf das Beharrungsgesetz und auf die still- schweigende oder ausdrückliche Annahme, daß keine Kraft aus nichts entstehen könne. In diesem Sinne suchte namentlich Leibniz dem Produkt aus der Masse in das Geschwindigkeitsquadrat, für das er im Gegensatze zu der bei dem Gleichgewicht der Körper in Wirksam- keit tretenden „toten Kraft“ den Namen lebendige Kraft einführte, seine allgemeinere philosophische Bedeutung zu sichern, ohne daß es ihm jedoch gelang, für dasselbe eine andere Ableitung zu finden als aus den Fallgesetzen und aus der Voraussetzung, die Wirkung einer Kraft werde durch das Produkt eines gehobenen Gewichtes in seine Erhebungshöhe gemessen**). In dieser letzten Voraussetzung lag nun insofern eine Petitio principi, als dabei der Arbeitseffekt, ohne Rücksicht auf die Zeit, in welcher er zu stande kommt, als Maß der Kraft angenommen ward. Dem von Leibniz so lebhaft bekämpften Cartesianischen Kräftemaß dagegen, dem Produkt der Masse in die einfache Geschwindigkeit, lag gerade die Berücksichtigung der Zeit zu Grunde, ohne daß dies jedoch in der metaphysisch-teleo- logischen Erklärung, die Descartes von seinem Prinzip gegeben hatte, irgend ersichtlich gewesen wäre. So war denn im wesentlichen dieser ganze Streit um das Kräftemaß, der übrigens in der Entwicklung der Mechanik große Dienste geleistet hat, ein Streit um Worte, bei dem man sich sowohl über die einfachen Elemente des Kraftbegriffs wie über den eigentlichen Grund der Meinungsunterschiede im un- klaren befand. Übrigens scheint Leibniz selbst in späterer Zeit einer Erkenntnis des richtigen Sachverhältnisses nahe gewesen zu sein, da er inseinem „Specimen dynamicum“ für den Stoß der Körper ein Prinzip der „Erhaltung des Totalfortschritts der Körper“ aufstellt, das mit dem Cartesianischen Maß übereinstimmt***). Die Grundlosigkeit dieses Streites, die wohl zuerst d’Alembert durchschaute****), wird voll- kommen deutlich, wenn man beide Kräftemaße auf ihre einfachen Voraussetzungen zurückführt. Nach dem Galileischen Beharrungsgesetz ist die unter dem Einfluß einer konstant wirkenden Kraft in einer Zeit t erlangte Geschwindigkeit v eines Körpers: v—g.t, *), D’Alembert, Traite de dynamique. Paris 1743, p. 169. **) Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii. Math. Werke, Ausg. von Gerhardt, VI, p. 122. ***) Math. Werke VI, p. 226 £. **4*) Trait& de dynamique, pref. p. XVI—-XXi. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 321 wenn g die in der Zeiteinheit erlangte Geschwindigkeit bedeutet. Der Weg s aber, den der Körper in der Zeit i zurücklegt, ist: Nun ist die in der Zeiteinheit erlangte Geschwindigkeit proportional er wenn wir mit k die Kraft und mit m die Masse bezeichnen. Nimmt m man also zur Einheit der Kraft diejenige Kraftgröße, die der Einheit der Masse in der Einheit der Zeit die Geschwindigkeitseinheit mit- teilt, so wird oder: 1 me—k.tud—mv=hk.s. Diese Entwicklung, die nebenbei zeigt, daß das korrekte Maß der Arbeit einer Kraft das halbe Produkt der Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit ist, deutet auf zwei verschiedene Erhaltungs- prinzipien hin, die in der Tat als die eigentlichen Früchte jenes Streites anzusehen sind. Das eine, das an die zweite Gleichung an- knüpft, ist das Prinzip der Erhaltung der lebendigen Kräfte: es kommt, wie sein Ursprung andeutet, in solchen Fällen zur Geltung, wo es sich um die Beurteilung eines Massensystems, z. B. einer Maschine, nach ihren Arbeitseffekten handelt, ohne daß bei diesen die Zeit, in der sie geleistet werden, unmittelbar in Rück- sicht fällt. Es hat in technischer sowohl wie in physikalischer Beziehung die überwiegende Bedeutung, da es bei der Untersuchung der Bewegungen zusammenhängender Massensysteme in den meisten Fällen für uns vorzugsweise von Interesse ist, die Arbeitseffekte zu kennen, die gewissen Lagen des Systems entsprechen. Das andere Prinzip, das auf die erste der obigen Gleichungen zurückführt, ist das derErhaltung des Schwerpunktes. Es kommt in solchen Fällen zur Anwendung, wo es sich, wie beim Stoß der Körper, darum handelt, zu wissen, in welcher Weise sich infolge eines während einer bestimmten Zeit ablaufenden Vorgangs, z. B. eines Stoßes, der Zustand des beteiligten Massensystems verändert hat. Die Keime zur Entwicklung des Satzes von der Erhaltung des Schwerpunktes finden sich schon in den von Wren, Wallis und Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 21 332 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Huygens gelieferten Untersuchungen über den Stoß; auch Des- cartes hat bei seinem Satz von der Erhaltung der Quantität der Bewegung hauptsächlich an den Stoß gedacht, aber irrtümlich an- genommen, die absolute, nicht die algebraische Summe der Be- wegungsgrößen bleibe erhalten. In exakter Weise wurde das Prinzip zuerst von Newton ausgesprochen, der dasselbe unter die Korollar- sätze seiner Bewegungsaxiome aufnimmt und ihm folgende Form gibt: „Der gemeinschaftliche Schwerpunkt zweier oder mehrerer Körper ändert seinen Zustand der Ruhe oder Bewegung durch die Wirkung der Körper unter sich nicht, und derselbe wird daher, so lange keine äußeren Kräfte einwirken, entweder ruhen oder sich gleichförmig in gerader Linie fortbewegen“*). Werden demnach durch m, und m, zwei gegeneinander stoßende Massen, durch v, und v, ihre Geschwindig- keiten vor dem Stoß, durch v,’ und v,‘ dieselben nach dem Stoß be- zeichnet, so ist nach dem obigen Prinzip: Mm, v, + m, v, = m, dv + m, v5), eine Formel, die unmittelbar zeigt, daß in den Ausdruck dieses Er- haltungsprinzips das von Descartes als Quantität der Bewegung bezeichnete Produkt m.v eingeht. In der Beziehung der beiden genannten Erhaltungsprinzipien zu den allgemeinen Bewegungsgesetzen liegt nun die Aufforderung, sie des Charakters ursprünglicher Prinzipien ganz zu entkleiden, um sie unter die aus den Bewegungsgleichungen gefolgerten Theoreme zu verwei- sen. Dieser Schritt ist hauptsächlich durch Lagrange geschehen, der ihnen damit vollends die Bedeutung kausal begründeter Sätze ge- geben hat**). Es versteht sich von selbst, daß es dadurch leicht wird, ihnen auch im Ausdruck ihren ursprünglich teleologischen Charakter zu nehmen, und es mag sein, daß man sich deshalb gegenwärtig, selbst wenn man die alten Namen beibehält, kaum noch ihrer Zweckbedeu- tung bewußt ist. Gleichwohl bedarf es kaum des näheren Nach- weises, daß der Gedanke der Erhaltung notwendig den des Zwecks in sich schließt. Die Bedeutung des Zweckprinzips besteht ja in allen Fällen darin, daß wir von einem zu erreichenden Endeffekt aus auf die Bedingungen zurückgehen, die denselben herbeiführen. (Vgl. Bd. ], S. 631.) Bei der Anwendung des Begriffs der Erhaltung vergleicht man aber unmittelbar den Endefiekt mit den Anfangsbedingungen, indem man beide einander gleich setzt. *) Philos. nat. prince. math. Coroll. II, l. c. p. 17. **) Mecanique analytique, sec. part. sect, III, $ Iet V. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 3233 Die beiden Erhaltungsprinzipien, in denen der Streit um das Kräftemaß seine Lösung gefunden, stehen nun außerdem in naher Beziehung zu zwei weiteren Prinzipien, in denen sich ebenfalls der Er- haltungsgedanke bewahrt hat. Aus dem Prinzip der Erhaltung der lebendigen Kräfte ist das der Erhaltungder Energie hervor- gegangen; der Satz von der Konstanz der Quantität der Bewegung aber, der sich in den von der Erhaltung des Schwerpunktes fortsetzte, hat einen weiteren Ausläufer in dem sogenannten Prinzip der Erhal- tungderFlächen gefunden. Der beschränkte Wert des letzteren im Vergleich mit der universellen Bedeutung des Energiegesetzes zeigt übrigens schon, daß unter den beiden ursprünglichen Erhaltungsgesetzen das Prinzip der lebendigen Kräfte das entwicklungsfähigere war. In seiner rein mechanischen Bedeutung betrachtet erscheint das Energiegesetz als eine Erweiterung des Prinzips der lebendigen Kräfte. Durch die Erwägung, daß bei einem abgeschlossenen System von Körpern bei bestimmten periodisch wiederkehrenden Lageverhält- nissen die Summe der vorhandenen lebendigen Kräfte jedesmal wieder dieselbe ist, wird diese Erweiterung unmittelbar nahegelegt; denn die Bedingungen zur Erzeugung jener Kräfte müssen auch in irgend einer der anderen Positionen, welche das System durchläuft, schon vorhanden sein, insofern durch die in dem System ursprünglich gegebenen Be- dingungen auf ein bestimmtes Lageverhältnis alle anderen notwendig folgen. In diesem Sinne kann aber die Arbeit, die das System in einer späteren Position leistet, bereits als potentiell vorhanden in irgend einer vorangegangenen angesehen werden*). So ist die lebendige Kraft der Schwingung des Pendels bei seinem Durchgang durch die Gleich- gewichtslage in der äußersten Abweichung von der letzteren, in der seine wirkliche Geschwindigkeit null ist, potentiell vorhanden, da jene lebendige Kraft von der Größe der Ablenkung abhängt. Das Wesen dieser Auffassung besteht also darin, daß man nicht bloß einen gege- benen Zustand des Systems, sondern den ganzen Zusammenhang auf- einanderfolgender Zustände berücksichtigt. Die so erweiterte Betrach- tung erfordert aber auch eine Erweiterung des ursprünglichen Kraft- begriffs, und diese besteht in seiner Überführung in den allgemeineren Begriff der Energie. Der Kraftbegrifi bezieht sich nämlich, da der In- halt desselben die Beschleunigung einer Masse ist, nur auf unmittelbar *) Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft. Berlin 1847, S. 20 ff. Thomson und Tait, Handbuch der theoretischen Physik. Deutsche Aus- gabe, I, 1, S. 211 ff. 3934 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. gegebene Wirkungen; der Begriff der Energie dagegen bezeichnet überhaupt die in einer Masse oder in einem System von Massen vorhandene Wirkungsfähigkeit. Die in einem bestimmten Augenblick vorhandene Energie zerfällt daher in zwei Teile: in die aktuelle Energie, die dem älteren Begriff der lebendigen Kraft entspricht und durch das halbe Produkt der Massen in das Quadrat ihrer Geschwindigkeiten gemessen wird, und in die potentielle Energie, die sich aus den Lageverhältnissen der Massen ergibt und daher auch als Energie der Lage bezeichnet werden kann. Das Energiegesetz nimmt nun die einfache Form an: „Die Energie eines gegebenen unter unveränderlichen äußeren und inneren Bedingungen stehenden Systems ist eine konstante Größe.“ Im Gebiete der eigent- lichen Mechanik bewährt sich dieses Erhaltungsprinzip vor allem in der genauen Wechselbeziehung, die zwischen Energie der Lage und aktueller Energie stattfindet, indem jede Abnahme der ersteren mit einer entsprechenden Zunahme der letzteren verbunden ist, und um- gekehrt. Dennoch geht hier die Bedeutung des Prinzips kaum über diejenigen Anschauungen hinaus, die bereits in dem Prinzip der Er- haltung der lebendigen Kräfte, wenn auch in beschränkterer Form, ihren Ausdruck fanden. Eine umfassendere Bedeutung gewinnt das Prinzip erst auf physikalischem Boden, wo es unmittelbar zu der Fest- stellung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Formen der Energie, die in der Natur vorkommen, überführt, und wo es die leitende Maxime abgibt, nach der die mannigfaltigen Transformationen der Naturkräfte zu beurteilen sind. Während daher das Energiegesetz in der Mechanik die Stellung eines abgeleiteten Satzes von verhältnis- mäßig untergeordnetem Werte einnimmt, erhebt es sich in der Physik zur Rolle des allgemeinsten und fundamentalsten Naturgesetzes. Aus diesem Grunde muß aber auch die nähere Würdigung dieses Prinzips, sowie der Modifikationen, die zu bestimmten Zwecken mit ihm vor- genommen worden sind, der Untersuchung der physikalischen For- schungsprinzipien vorbehalten bleiben. Von weit beschränkterer Bedeutung ist das letzte der Erhaltungs- prinzipien: das Prinzip der Erhaltung der Flächen. Es wurde für einen speziellen Fall und als ein rein empirisches Gesetz zuerst von Kepler aufgestellt und dann von Newton aus dem Trägheits- gesetz sowie aus dem Satz des Kräfteparallelogramms abgeleitet. New- tons Lehrsatz, der nur eine Verallgemeinerung des ersten Keplerschen Gesetzes ist, lautet: „Wenn Körper sich in Bahnen bewegen, deren Radien nach dem unbeweglichen Mittelpunkt der Kräfte gerichtet Die Fundamentaltheoreme der Mechanik, 325 sind, so liegen die von ihnen beschriebenen Flächen in festen Ebenen und sind den Zeiten proportional“*). Durch Euler, Dan. Bernoulli und d’Arcy erfuhr dieser Satz eine weitere Verallgemeinerung, indem er auf ein System von Körpern, die sich in verschiedenen Ebenen um ein festes Zentrum bewegen, ausgedehnt wurde. Hierbei ergab sich dann die Notwendigkeit, diese verschiedenen Drehungsebenen auf eine einzige zu projizieren, für welche der ursprüngliche Satz seine Geltung behielt. Das Prinzip der Erhaltung der Flächen nahm daher die Form an: „Wenn beliebige Massen um einen Mittelpunkt rotieren, so ist die Summe der Produkte der Massen in die Projektionen der von ihren Radiusvektoren beschriebenen Flächenräume auf eine und dieselbe Ebene der Zeit proportional“, oder in anderer Fassung: „Wenn die Bewegungen eines um einen Mittelpunkt rotierenden Systems auf eine und dieselbe Ebene projiziert werden, so ist die Summe der Produkte der Massen in ihre Geschwindigkeiten und in die Abstände vom Mittel- punkt eine konstante Größe.“ Diese letztere Formulierung zeigt un- mittelbar, daß das Flächenprinzip ein Satz ist, der für die drehende Bewegung die nämliche Bedeutung hat wie das Prinzip der Erhaltung des Schwerpunktes für die fortschreitende. Es kann daher ebenso wie dieses aus den Fundamentalgesetzen der Bewegung abgeleitet werden, was in Bezug auf die speziellere Form des Satzes schon von Newton, in Bezug auf die allgemeinere aber namentlich von Lagrange dargetan worden ist**), Eine zweite Reihe mechanischer Zweckprinzipien, denen der teleologische Charakter in der Regel noch deutlicher aufgeprägt ist als den Erhaltungsprinzipien, kann mit dem Namen der Maximal- und Minimalprinzipien belegt werden. Sobald das Ergebnis mechanischer Betrachtungen in die Form gebracht ist, daß irgend eine bei einem mechanischen Vorgang resultierende Größe als eine solche bezeichnet wird, die entweder einen Maximal- oder Minimalwert an- nehme, so liegt darin an und für sich eine Anwendung des teleologischen Gesichtspunktes; denn die relative Größe des Erfolgs ist hier maß- gebend für die Aufstellung der Bedingungen, und es tritt somit die für das Zweckprinzip charakteristische Umkehrung der Kausalbeziehung ein. Ein leicht begreifliches Motiv hat nun aber außerdem in diesem Falle de Minimalwerte bevorzugen lassen. Geht man nämlich *) Philos. nat. princip. math., lib. I, prop. I, l. c. p. 34. **) Mecanique analytique, sec. part. sect. I, 16; sect. III, $ II; 3. edit. t. ], p. 227, 244. 326 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. ai von den technischen Anwendungen der Mechanik aus, so wird die Zweckmäßigkeit irgend einer mechanischen Vorrichtung, einer Maschine z. B., zunächst danach beurteilt werden, ob der zur Wirkung kommende Aufwand an Kraft dem von der Maschine zu leistenden Nutzeffekt möglichst zu statten kommt oder nicht. Denn eine Maschine wird offen- bar dann am zweckmäßigsten konstruiert sein, wenn ein gegebener Nutz- effekt durch einen möglichst geringen Kraftaufwand erreicht wird. Für eine Zeit, welche die Natur mit Vorliebe unter dem Gesichtspunkte des Nutzens auffaßte, lag es nahe, diese technische Betrachtungs- weise auf die natürlichen Bewegungssysteme zu übertragen. Rein logisch beurteilt würde man nun ebensogut zu einem Maximal- wie zu einem Mini- malprinzip gelangen können. Ob ich einen gegebenen Effekt als einen möglichst großen oder den Kraftaufwand, der zu ihm geführt hat, als einen möglichst kleinen bezeichne, ist für das tatsächliche Verhältnis gleichgültig. Aber der teleologische Standpunkt begünstigt hier die Form desMinimalprinzips, da derselbe, von der Folge zum Grund zurück- gehend, zu der Frage führt, wie ein gegebener Effekt unter möglichst günstigen Bedingungen entstehen könne, worauf dann als quantitativer Ausdruck dieser Bedingungen am natürlichsten ein Minimum an Kraft- aufwand sich herauszustellen scheint. Diese Erwägungen haben bereits unmittelbar zu derjenigen Gestalt geführt, in der die hier erörterte Form teleologischer Prinzipien zum ersten Male in die Entwicklung der Mechanik eingetreten ist: zu dem um das Jahr 1746 von Maupertuis aufgestellten Prinzip der kleinsten Aktion*). In der Formulierung, die ihm sein Ur- heber gibt, reflektiert sich auf das deutlichste die einseitige Teleologie jener Zeit: „Wenn in der Natur irgend eine Veränderung vor sich geht, so ist die zu dieser Veränderung nötige Menge von Tätigkeit eine mög- lichst kleine.“ Die Natur erscheint hier als die große Sparerin, deren Weisheit man in diesem Prinzip bewundert, und ebendeshalb ist man geneigt, das letztere als das Fundamentalgesetz anzuerkennen, auf das alle anderen Sätze zurückgeführt werden sollen. Dabei zeigt freilich die Durchführung sofort, daß man, um eine solche Behauptung auf- recht erhalten zu können, von der Unbestimmtheit der Begriffe Tätigkeit und Veränderung Gebrauch machen muß. Maupertuis selbst benützt als Maß der Tätigkeit das Produkt aus Masse, Geschwindigkeit und durch- laufenem Raum (mv s), als Veränderung aber betrachtet er bald, wie beim Stoß der Körper, die Differenz der lebendigen Kräfte, bald, wie *) Vzl.hierzuAd.Mayer, Geschichte des Prinzips der kleinsten Aktion. 1877. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik, 327 bei der Brechung und Reflexion des Lichtes, die Summe der Aktions- mengen vor und nach dem Ereignis, so daß das behauptete Minimum in verschiedenen Fällen eine sehr verschiedene physikalische Bedeutung hat und überdies, wie d’Arcy zeigte, bei der Lichtbrechung sogar ge- legentlich zu einem Maximum werden kann. Es war daher nureine äußer- liche Anbequemung, die freilich in der philosophischen Zeitrichtung ihre Quelle hatte, wenn Euler Resultate, die dem Gebiete der sogenannten isoperimetrischen Probleme angehörten, als Spezialfälle des Prinzips der kleinsten Aktion betrachtete. Es ist selbstverständlich, daß Aufgaben, bei denen es sich von vornherein darum handelt, die Bedingungen für den Minimal- oder auch Maximalwert irgend einer Größe zu finden, zu Lösungen führen können, die eine äußere Ähnlichkeit mit dem hier besprochenen Prinzip darbieten, da ja an und für sich jede solche Auf- gabe auf einem verwandten teleologischen Gesichtspunkt beruht, wie dies z. B. schon bei dem ältesten isoperimetrischen Problem, dem der Kurve des schnellsten Falls, deutlich hervortritt. Da aber dieser Gesichtspunkt schließlich auf alle mechanischen Probleme anwendbar ist, indem nach den Minimal- und Maximalwerten einer Funktion und nach den Bedingungen, unter denen sie auftreten, überall gefragt werden kann, so ist auch die zu Grunde liegende Methode, welche die Analytiker des 18. Jahrhunderts als die isoperimetrische bezeich- neten, und aus welcher die von Lagrange begründete Variationsrech- nung (S. 264 f.) hervorging, von einer ganz allgemeinen Anwendbarkeit, und sie bietet auf diese Weise die Gelegenheit, jedes mögliche me- chanische Problem unter dem ihr eigenen Gesichtspunkte zu behandeln. In der Tat ist nun die ganze Weiterentwicklung des Prinzips der kleinsten Aktion von diesen beiden Motiven aus bestimmt worden: von dem philosophischen, das seine ursprüngliche Aufstellung ver- anlaßte, und von dem rein mathematischen, das aus den isoperime- trischen Problemen entsprang. Je mehr aber im Laufe der Zeit die Will- kürlichkeit in der Ausführung des ersten philosophischen Grund- gedankens zu Tage trat, umsomehr mußte das Prinzip den Charakter einer bloß mathematischen Formulierung annehmen, die sich durch ihren Nutzen für bestimmte Anwendungen empfahl. In diesem Sinne ist es zunächst von Lagrange behandelt worden, der es als das „Prinzip der größten oder kleinsten lebendigen Kraft“ bezeichnete und gleich allen anderen zusammengesetzten Prinzipien aus den allgemeinen Be- wegungsgesetzen ableitete*). Schon der gewählte Ausdruck zeigt, indem *) M£c. analyt., sec. part. sect. III, $ VI. 328 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. er eine Alternative zwischen dem Maximum und Minimum aufstellt, daß hier der ursprüngliche teleologische Gedanke zurückgetreten ist. Das nämliche gilt von den weiteren Entwicklungen, die das Prinzip bei W. R. Hamilton und Jacobi gefunden hat*). Es verbleibt ihm allerdings auch hier insofern der teleologische Charakter, als es in direkte Abhängigkeit von dem Prinzip der Erhaltung der lebendigen Kräfte gebracht wird, welches letztere ja, wie oben erörtert, unmittelbar auf einer Zweckbetrachtung beruht. Nachdem aber diese teleologische Be- schränkung auf ein „konservatives System“ vorausgesetzt ist, bieten die Prinzipien von Hamilton und Jacobi lediglich mathematische Aus- drücke dar, welche die Lösung bestimmter Probleme erleichtern, ohne im Sinne der ersten Aufstellung des Prinzips der kleinsten Aktion irgendwie auf eine ursprüngliche Zweckmäßigkeit der Natur selbst hinzuweisen. Ihre letzte und definitive Gestaltung haben endlich die Maximal- und Minimalprinzipien in dem von Gauß aufgestellten Prinzipdes kleinsten Zwangs gefunden**). Nach ihm erfolgen die Be- wegungen eines Massensystems, wie auch die Massen miteinander ver- bunden sein mögen, in jedem Augenblick in möglichst großer Über- einstimmung mit der freien Bewegung, also unter dem kleinsten Zwang. Als Maß des Zwangs betrachtet man dabei die Summe der Produkte aus dem Quadrat der Ablenkung jedes Punktes von der freien Be- wegung in seine Masse. Man wendet also auf die Abweichung der ge- zwungenen von der freien Bewegung eine ähnliche Betrachtung an, wie sie bei der Methode der kleinsten Quadrate in Bezug auf die Aus- gleichung der Beobachtungsfehler stattfindet. Mit Rücksicht hierauf bemerkte Gauß, die Natur verfahre, wenn in ihr die Bewegungen durch irgendwelche hemmende Bedingungen modifiziert werden, in der nämlichen Weise wie der rechnende Mathematiker, wenn er Erfahrungen ausgleicht, die sich auf voneinander abhängige Größen beziehen. Man wird nicht verkennen, daß es auch im ersteren Falle der rechnende Mathematiker ist, der unter einem bestimmten Gesichtspunkt die Er- scheinungen betrachtet, und der nun nachträglich diese seine Betrach- tungsweise der Natur selbst unterschiebt. Werden die Vorgänge in ihren rein kausalen Beziehungen aufgefaßt, so ist es selbstverständlich, daß bestimmte Hemmungen eine Bewegung um nicht mehr abändern können, als dem Betrag der Hemmung entspricht; jedes Mehr wäre *) Jacobi, Vorlesungen über Dynamik, S.45. Thomson undTait, a. 32077, 15, S0258F7: **) Gauß’ Werke V, S. 25 fi. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 329 ein ursachloses Geschehen. Kehrt man nun dieses kausale Verhältnis um, indem man den Endeffekt aller Bedingungen der Bewegung, die nach Maßgabe der vorhandenen Hemmungen eintretende Abweichung von der freien Bewegung, zum Ausgangspunkt nimmt, so gelangt man zum Prinzip des kleinsten Zwangs. Der dem letzteren zu Grunde liegende Zweckgedanke wird erst dann zum objektiven Naturzweck erhoben, wenn man dieses Prinzip als ein Gesetz hinstellt, nach welchem die Natur selber verfahre. Eine solche Auffassung ist natürlich bestreit- bar, weil sich damit die Vorstellung verbinden kann, der erreichte Endzweck sei zugleich die Ursache der Bewegungsgesetze selbst, wo- durch die Natur hylozoistisch zu einem mit Zweckbewußtsein handeln- den Wesen gemacht würde. Wird dagegen diese falsche Objektivierung vermieden und die teleo- . logische Formel gemäß der überall zulässigen subjektiven Anwendung des Zweckbegrifis (Bd. I, S. 620) lediglich als ein Ausdruck für die Be- dingungen benützt, denen man die Bewegungen unterworfen denkt, so kann eine solche Formel den Vorteil bieten, daß sich ın ıhr die G e- samtheit dieser Bedingungen zusammenfassen läßt. So kann hier ein einziges teleologisches Prinzip als Grundlage genügen, während die kausale Analyse ihrer Aufgabe gemäß stets auf mehrere vonein- ander unabhängige Voraussetzungen zurückführt. Noch H. Hertz hat daher, von diesem Streben nach Einheit geleitet, seine Darstellung der Mechanik auf den Satz gegründet, ein System zusammengehöriger Massen bewege sich so, daß die Abweichung von der einfachsten, d. h. der geraden und gleichförmigen Bewegung in jedem Augenblick ein Minimum sei*). Dieser Satz ist offenbar dem Prinzip des kleinsten Zwangs nahe verwandt, und er besteht lediglich in der Verallgemeine- rung der schon von Hamilton gegebenen Formulierung des Prinzips der kleinsten Aktion. Aber indem Hertz nachdrücklich dieses Hamilton- sche Prinzip als ein willkürlich gewähltes bezeichnet, das seine Brauch- barkeit lediglich durch die Möglichkeit seiner Anwendung auf die wirk- lichen Bewegungen erproben müsse, hat er ihm mit dieser völligen Elimination des objektiven Zweckgedankens den Charakter einer rein mathematischen Regel für die Konstruktion möglicher Bewegungen ge- geben, wobei es dann der Erfahrung überlassen bleibt, zu prüfen, inwie- weit die wirklichen Bewegungen damit übereinstimmen. Daraus ergibt sich dann von selbst, daß die der Newtonschen Mechanik zur Grund- lage dienenden physikalischen Begriffe der Kraft und ihrer Wirkungs- *) H. Hertz, Prinzipien der Mechanik, 1894, S. 19 fi. 330 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. gesetze aus dieser mathematisch-teleologischen Begründung der Mecha- nik verschwinden und nur der auf seine abstrakteste Form gebrachte Begriff der Masse als des Substrates der Bewegungen zurückbleibt. So nähert sich dieser Versuch, abgesehen von dem für den physika- lischen Gebrauch unentbehrlichen Massenbegriff, möglichst vollständig dem Ziel einer Zurückführung der gesamten Mechanik auf eine rein mathematische Phoronomie als beschreibende Wissenschaft. Doch um die so gewonnene allgemeine Formel auf die einzelnen Bewegungspro- bleme anzuwenden, müssen aus ihr die allgemeinen Bedingungsglei- chungen abgeleitet werden, welche die Bewegungen, zerlegt nach den drei Hauptrichtungen des Raumes, in ihren wechselseitigen Beziehungen bestimmen. Diese Bedingungsgleichungen entsprechen aber vollständig denjenigen, die man, von den kausalen Fundamentaltheoremen aus- gehend, direkt gewinnt. Der Unterschied beider Behandlungsweisen der Mechanik besteht also im wesentlichen nur darin, daß die teleo- logische, nachdem der objektive Zweckbegriff aus ihr entfernt ist, die nämlichen Bewegungsgesetze, welche die kausale Analyse auf Grund des Kraftbegriffs und seiner Wirkungsgesetze ableitet, als rein mathe- matische Folgerungen eines subjektiven Zweckprinzips erscheinen läßt, bei denen von der kausalen Bedeutung der Begriffe ganz abstrahiert werden kann. c. Kausale FundamentaltheoremederMechanik. Die in der älteren Entwicklung der teleologischen Fundamental- theoreme vorherrschende Objektivierung des Zweckbegriffs, bei der die Natur als der Sitz zwecktätiger Kräfte gedacht wurde, hat in der vor- nehmlich von d’Alembert und Lagrange begründeten, im wesentlichen noch heute herrschenden Richtung der klassischen Mechanik zu einer Wiederherstellung der von Galilei eingeführten einfachen und an- schaulichen Ableitung der Bewegungsgesetze zurückgeführt. Doch ging man dabei insofern über jene Anfänge hinaus, als man nun den teleologischen Formulierungen auch von dem Standpunkte kausaler Interpretation aus durch die Einführung zusammenfassender einheit- licher Prinzipien nahezukommen suchte. In dieser Beziehung ist die exakteste der Naturwissenschaften den nämlichen Wandlungen des Zeitgeistes unterworfen gewesen wie jede andere. Der teleologischen Mechanik entspricht eine teleologische Physik und Physiologie, und die kausale Mechanik gibt auch auf diesen Gebieten der kausalen Betrach- tung ihre Richtung. Nur werden freilich in beiden Fällen Verirrungen, denen der exakte Charakter der Mechanik engere Grenzen setzt, umso Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 331 schwerer und andauernder, je verwickelter die Erscheinungen sind. Die Rückkehr zu den Anschauungen Galileis macht sich vor allem darin geltend, daß man die mechanischen Prinzipien wieder auf die einfachsten Bewegungsvorstellungen zu gründen sucht. In diesem Sinne war zunächst d’Alembert bemüht, den Begriff der Kraft, der in der teleologischen Periode der Mechanik und namentlich in dem be- rühmten Streit über das Kräftemaß vielfach verdunkelt worden war, wieder auf jene anschaulichen Elemente zurückzuführen, die er bei Galilei und Newton gehabt hatte; und damit Hand in Hand ging sein Streben, die wegen ihrer nützlichen Anwendungen nicht zu entbehrenden Erhaltungsprinzipien aus den einfachsten dynamischen Vorstellungen abzuleiten. Das von ihm begonnene Werk führte Lagrange zu Ende. Hatte auch d’Alembert bereits mit der kausalen Betrachtung den Plan verbunden, aus einem durch unmittelbare Evidenz oder durch einen anschaulichen Beweis feststehenden Fundamentaltheorem alle anderen Sätze zu g>winnen, so eignete sich doch das von ihm aufgestellte Prinzip weder zu einer hinreichend allgemeinen Formulierung der Bewegungs- gesetze noch in der ihm gegebenen Fassung zu einer unmittelbaren Verbindung der Statik mit der Dynamik, auf die es doch hinwies. Dies leistete erst Lagrange, indem er auf dasjenige Prinzip zurückging, das schon dem d’Alembertschen Satze stillschweigend zu Grunde lag: auf das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten, das er in einer Weise verallgemeinerte, in der es sich zur Ableitung aller anderen statischen und dynamischen Prinzipien geeignet erwies. Auch in dieser Hervorkehrung des virtuellen Prinzips lag eine Rückkehr zu den Anschauungen Galileis, der dasselbe in einfacherer Gestalt be- reits besaß, wenn ihm auch der Name noch fehlte. Diese Rückkehr ist aber doch zugleich verbunden mit einer Umkehrung der Betrach- tungsweise. Galilei hatte dynamische Vorstellungen in die Statik ein- geführt. Dazu hatte ihm der Begriff des virtuellen Momentes gedient. Lagrange reduzierte jedes dynamische Problem auf ein statisches, was freilich wiederum nur dadurch möglich war, daß schon infolge jener Galileischen Anschauung das Gleichgewicht als ein Grenzfall der Be- wegung erscheint. Das Prinzip von d’Alembert bildet zu dieser syste- matischen Gestaltung der gesamten Statik und Dynamik auf Grund eines einzigen kausalen Grundsatzes die Vorbereitung. Es lautet in der von d’Alembert selbst gegebenen Formulierung: „Um die wirklichen Bewegungen eines Systems von Körpern zu finden, die miteinander im Zusammenhang stehen, zerlege man die jedem Körper mitgeteilten 332 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Bewegungen a,b, ce... in je zwei andere a, a, PB; Yy, Ya - : Diese sollen so beschaffen sein, daß, wenn man dem Körper die Bewegungen 9, Bz, Ya - . . allein mitteilte, das System im Gleichgewicht sein würde. Es werden dann die Bewegungen a, ß,, %, --. zugleich diejenigen sein, die der Körper wirklich annimmt“*). Die Nützlichkeit dieses Prinzips besteht darin, daß es in allen Fällen, wo bewegende Kräfte unter bestimmten statischen Bedingungen einwirken, eine Zer- legung des Problems in einen statischen und dynamischen Teil herbei- führt, worauf nach Feststellung der im Gleichgewicht stehenden oder der sogenannten „verlorenen Kräfte“ die übrig bleibenden wie frei wirkende Kräfte behandelt werden können. Es liegt nun nahe, diesem Resultat eine solche Wendung zu geben, daß der Bewegung vollständig der Fall des Gleichgewichts substituiert wird. Dies geschieht dann, wenn man zu den übrig bleibenden Kräften «a, ß,, Y, - . - solche von gleicher Größe, aber entgegengesetzter Richtung hinzugefügt denkt. Diese Wendung ist dem d’Alembertschen Prinzip in der Tat später ge- geben worden, und es ist dasselbe dadurch zu der von Lagrange voll- brachten Zurückführung der Dynamik auf die Statik in noch nähere Beziehung getreten. Eine besondere Beweisführung für das Prinzip hat jedoch sein Urheber nicht für nötig gehalten; vielmehr betrachtete er das- selbeals eine unmittelbar einleuchtende Folge der vorgenommenen Kräfte- zerlegung. Da sich jede solche Zerlegung auf das Prinzip der Zusammen- setzung der Kräfte stützt, so ist aber jedenfalls das letztere voraus- gesetzt. Die oben angeführte Veränderung des d’Alembertschen Prinzips, durch die jedes dynamische auf ein statisches Problem reduziert wird, bot nun den nächsten Anlaß zu der von Lagrange unternommenen einheitlichen Gestaltung der Mechanik auf Grund eines einzigen kausalen Fundamentalsatzes. Als solches dient ihm eben das Prinzip der vir- tuellen Geschwindigkeiten, dem er die Bedeutung eines allgemeinsten statischen Gesetzes gibt. Maßgebend ist hier zunächst der Begriff des „virtuellen Momentes“, unter dem man das Produkt einer Kraft in die im Sinne ihrer Wirkung zurückgelegte unendlich kleine geradlinige Wegstrecke versteht. Dies vorausgesetzt lautet das Prinzip: „Ein zu- sammenhängendes System von Körpern oder Punkten ist im Gleich- gewicht, sobald die Summe seiner virtuellen Momente gleich null ist“**). *), D’Alembert, Traite de dynamique. 1743, p. 5l. **) Vgl. hierzu die ausführlichere Formulierung bei Lagrange, a. a. O, p- 20. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 333 Man ermittelt also hier die Bedingungen des Gleichgewichts, indem man sich denkt, jede einzelne Kraft übe eine ihrer Größe entsprechende, aber unendlich kurz dauernde Wirkung aus, und feststellt, daß die Summe der so gebildeten positiven und negativen virtuellen Geschwin- digkeiten gleich null ist. Findet kein Gleichgewicht statt, so wird diese Summe nicht gleich null sein; doch kann dann stets die Bewegung dadurch aufgehoben werden, daß man die nach den drei Koordinaten- achsen genommenen Komponenten der Bewegung durch Kräfte von gleicher Größe und entgegengesetzter Richtung kompensiert denkt. Durch diese dem d’Alembertschen Prinzip entnommene Betrachtungs- weise liefert das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten die Grund- gleichungen der Dynamik für die Bewegung irgend eines Körper- systems*). Hierbei beruht die mathematische Ableitung der letzteren auf einem sehr einfachen Verfahren. Ist nämlich im Fall des Gleich- gewichts die Summe der statischen Momente gleich null, so wird dieselbe, wenn kein Gleichgewicht vorhanden ist, den momentanen Beschleuni- gungen nach den drei Koordinatenachsen gleich gesetzt werden können. Bringt man nun aber diese Beschleunigungen unter abgeändertem Vorzeichen auf die andere Seite, so wird man wieder eine Summe er- halten, die der Null gleich ist, und die sich von der statischen Bedingungs- gleichung nur dadurch unterscheidet, daß sie außer den virtuellen Momenten die Komponenten der Beschleunigung im umgekehrten Sinne genommen enthält. Mit demselben Rechte kann man übrigens auch die Bedingungsgleichungen der Bewegung als den allgemeineren Fall betrachten, aus dem die statischen Grundgleichungen hervor- gehen, wenn die Komponenten der Beschleunigung sämtlich gleich null werden. Die neuere Mechanik hat im ganzen die letztere Auffassung bevorzugt. Ermöglicht wurde diese Zurückführung auf ein einziges dynamisches Grundprinzip durch die Anwendung der Infinitesimal- methode, die bei der Aufstellung der Grundgleichungen der Be- wegung überhaupt von der Annahme unendlich kleiner Verrückungen ausgeht, wie solche das virtuelle Prinzip verlangt. Da übrigens bei jedem Bewegungsvorgang gewisse konstante Bedingungen, unter denen sich die bewegten Massen befinden, von Einfluß sind, so müssen solche ebenfalls in den Bewegungsgleichungen berücksichtigt werden. Zu diesem Zweck werden jene Bedingungen zunächst unabhängig von dem untersuchten Bewegungsvorgange betrachtet und in gewissen Be- dingungsgleichungen =c, d=e ausgedrückt, wo die Größen c, e... *, Lagrange,a.a. O. p. 234. 334 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. irgendwelche, von der Natur des Problems abhängige Funktionen der Koordinaten bedeuten. Es werden dann derivierte Funktionen der Werteg, b... in die Bewegungsgleichungen aufgenommen, indem man sich des S. 261 erwähnten Prinzips der partiellen Differentiation bedient. Betrachtet man hiernach das bewegte System als ein System von Punkten, deren Massen m , m, .... sind, und bezeichnet man die Komponenten der Kräfte nach den drei Koordinatenachsen mit X, I, Zu Xa, I, Z,.. . so nehmen die Gleichungen Lagranges die Form an: ae. Bei % EN EN —— +... Der mathematische Vorzug dieser abstrakten analytischen Formeln besteht in ihrer Anwendbarkeit auf jedes spezielle Problem, ihr logischer Vorzug darin, daß sie eine vollständige Zerlegung des Bewegungs- vorganges in seine Elemente enthalten und hierbei die Bedeutung der einzelnen Faktoren, wie der Massen (m , m, ...), der Kräfte (definiert 2 durch die Differentialquotienten _ = ) ® rn - ++, d.h. durch die Beschleunigungen), sowie der äußeren Bedingungen (p, d...), deut- lich hervortreten lassen*). Einen wichtigen Teil seiner Dynamik hat nun Lagrange dem Nachweis gewidmet, daß alle jene komplizierteren Prinzipien von großenteils teleologischem Charakter, die sich für die Behandlung bestimmter Arten von Aufgaben nützlich erwiesen, aus dem so ge- wonnenen Fundamentalgesetz abgeleitet werden können. Auf diese Weise finden sich bei ihm zum ersten Male die genannten Prinzipien als einzelne Folgen aus den allgemeinsten Kausalgesetzen der Mechanik im Zusammenhange entwickelt. Mit dem hierin hervortretenden Streben einer vollkommen ein- heitlichen Ausführung der Mechanik geht Hand in Hand der Ver- such, auch dem zu Grunde gelegten Prinzip eine Selbständigkeit zu geben, durch die es von allen etwa sonst maßgebend gewesenen Voraus- *) Vg. Kirchhoff, Vorlesungen über Mechanik. 2. Vorl. S. 28 fi. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 335 setzungen unabhängig wird. Das Ideal wissenschaftlicher Darstellung würde ja in der Tat dann erreicht sein, wenn es nicht nur gelänge, aus einem Prinzip alles Einzelne abzuleiten, sondern wenn auch außerdem dieses Prinzip nur auf sich selber gestellt wäre. So erfolgreich nun Lagranges Bemühungen in ersterer Beziehung gewesen sind, so ist es ihm doch zweifellos nicht geglückt, durch seine Ableitung des Prinzips der virtuellen Geschwindigkeiten wirklich alle anderen Voraussetzungen entbehrlich zu machen. Vielmehr werden dieselben auch hier still- schweigend hinzugedacht. Lagrange bezeichnet den Satz vom Hebel und den vom Kräfteparallelogramm als die beiden Prinzipien, auf die man bis dahin die Statik gegründet habe, und er ist der Ansicht, das virtuelle Prinzip sei das allgemeinere, weil es als ein allgemeiner Ausdruck für die sämtlichen Gesetze des Gleichgewichts betrachtet werden könne. Das virtuelle Prinzip selbst sei zwar nicht unmittelbar evident, aber es könne aus einem an- deren unmittelbar evidenten Prinzip, aus dem des Flaschenzuges, ab- geleitet werden, ohne daß es nötig wäre, das Hebelgesetz und das Gesetz der Zusammensetzung der Kräfte zu dieser Deduktion zu benützen. Kaum dürfte jedoch der Flaschenzug den Namen eines besonderen Prinzips ver- dienen, da er lediglich die Bedeutung einer Veranschaulichung des virtuellen Prinzips selbst besitzt. Angenommen, es wirkten auf einen Körper X (Fig. 16) eine Reihe von Kräften DirBsPs-..n.den Richtungena, D> a, b,,a, b,... ein, so besteht die ka ar Vorstellung des Flaschen- zuges ein. daß man an den Angrifispunkten a ,a,, a, .... der Kräfte bewegliche Rollen, irgendwo in der Richtung des Kodktonuees dagegen feste Rollen b,; b,,b,... angebracht und um eben diese Rollen einen einzigen unausdehnsamen und absolut biegsamen Faden geschlungen denkt, dessen Ende an der letzten beweglichen Rolle a, befestigtist. Bringt man nun an einer beliebigen Stelle außerhalb des Kräftesystems noch einmal eine feste Rollecan, über welcheder Anfang des Fadens gelegt wird, so lassen sich alle Kräfte P, P,, P,...durch ein hier angehängtes Gewicht g ersetzt denken, wenn man zwischen je zwei zusammen- gehörigen Rollen a, und b,, a, und b, u. s. w. den Faden so oft- mal geschlungen denkt, daß der durch g ausgeübte Zug succesiv den Kräften Ba, P,, P,... an Größe gleichkommt. Bezeichnet 336 Die aligemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. also NN N. die Zahl der Fäden zwischen a, und b; q, und db, a, und b,...., so sind diese Zahlen durch die Bedingung ge- geben, daß n, . N .9=P,,n,.9=P,... sein muß. Denkt man sich nun a jede 1 Rollen @,, @, 4, .. . erführe durch das Gewicht qg unendlich kleine Vericküngen 6, ee, so wird offenbar ein Sinken dieses "N ER dann nicht eintreten NND? können, wenn n, .e,+n,.-8,-+n,- = 0 ist, d. h. wenn die vorausgesetzten unendlich Flcmen Tonne einander gegenseitig aufheben. Hieraus ergiebt sich aber, wenn man die zwischen P, PR Das ... und gq festgestellte Bee berücksichtigt, unmittelbar die Gleichung der virtuellen Momente «PA tet: Brt--- = welche der gewöhnliche Ausdruck des Prinzips der virtuellen Ge- schwindigkeiten ist. Diese Ableitung gewinnt noch eine abstraktere Allgemeinheit, wenn man der Schwere des Gewichtes q eine beliebige Kraft p substituiert, die in irgend einer Richtung b, c wirken kann, und wenn man, wie dies in der Fig. 16 angedeutet ist, voraussetzt, die Rollen a, 5 ER seien von verschwindendem Durchmesser, so daß alle zwischen zwei zusammengehörigen Rollen verlaufende Fäden in eine einzige gerade Linie zusammenfallen. Es wird aber dann zu- gleich noch deutlicher, daß dieser ganze Mechanismus des Flaschen- zuges nur die Bedeutung einer mathematischen Hilfsvorstellung be- sitzt, die anschaulich machen soil, unter welcher Bedingung Kräfte, die auf einen Körper oder auf ein System untereinander verbundener Punkte wirken, im Gleichgewicht stehen. Auf den mathematischen Charakter der ganzen Vorstellung weist überdies die physikalisch un- mögliche Annahme unausdehnsamer und absolut biegsamer Fäden hin, die auf den fingierten Rollen reibungslos gleiten. In dieser Be- ziehung gleicht die Vorstellung des Flaschenzuges vollständig einer jener geometrischen Hilfkonstruktionen, die einen Satz, der aus der ursprünglichen Figur nicht entnommen werden kann, unmittelbar evident machen. (Vgl. S. 181 ff.) Das Zwingende der Veranschaulichung liegt in diesem Falle darin, daß die Erfolge der Kombination einer Mehrheit in verschiedenen Richtungen wirkender Kräfte durch die Beziehung auf eine einzige mehrfach gebrochene gerade Linie versinn- licht werden, deren einzelne Teile man durch angemessene Knickungen sukzessiv mit den Richtungen sämtlicher Kräfte zusammenfallen läßt, wodurch nun, unter der Voraussetzung, daß sich alle Kräfte- wirkungen längs derselben fortpflanzen, der Gesamteffekt der auf das Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 331 System ausgeübten Wirkung als eine Bewegung des freien Endes merk- lich werden muß. Demgemäß läßt es sich dann umgekehrt als Bedin- gung des Gleichgewichts hinstellen, daß, wenn alle Kräfte momentan in Wirksamkeit gedacht werden, eine solche Bewegung nicht statt- finden darf. Die hypothetischen Eigenschaften des geschlungenen Fadens sind hiernach nur insofern berechtigt, als sie den unveränder- lichen Zusammenhang der Massenpunkte des Körpers K in einer an- deren für den vorliegenden Zweck geeigneten Form zur Darstellung bringen. Im übrigen aber zeigt die obige Zergliederung, wie die ganze Veranschaulichung ihre zwingende Kraft dadurch gewinnt, daß man gewisse Voraussetzungen stillschweigend hinzudenkt. Erstens nämlich wird angenommen, daß Kräfte, die in einer und derselben geraden Linie auf ein starres Massensystem einwirken, sich in Bezug auf diese Wirkungen algebraisch addieren lassen, und zweitens, daß die Größe einer Kraft an sich nicht verändert wird, wenn man der- selben durch irgendwelche äußere Hilfsmittel eine veränderte Richtung gibt. Diese beiden Voraussetzungen sind es nun, die allen Sätzen über die Kombination von Kräftewirkungen, insbesondere also auch dem Satz vom Parallelogramm der Kräfte zu Grunde liegen. Das virtuelle Prinzip hat den Vorzug, daß es diese allgemeinsten Voraussetzungen der Kombination von Kräften unmittelbar in ihrer einfachen Natur hervortreten läßt, während der Satz vom Kräfteparallelogramm in direkterer Weise geeignet ist, zu gegebenen Kräften die Resultierende nach Größe und Richtung zu finden oder eine Kraft von bestimmter Richtung auf eine beliebige andere Richtung zu reduzieren. Übrigens bietet auch der Satz vom Kräfteparallelogramm diesen Vorteil nur so lange dar, als die Kräfte auf einen einzigen Punkt wirken, während, sobald an einem System fest verbundener Punkte die Kräfte angreifen, die Möglichkeit des Eintritts rotierender Wirkungen ein Problem der Kräftekombination einschließt, das durch jenen Satz nicht gelöst wird. In dieser Beziehung bildet der von Poinsot*) eingeführte Begriff des Kräftepaars eine wichtige Ergänzung desselben, indem er eine ähnliche Reduktion auf beliebige Richtungen auch für die drehende Bewegung gestattet. Dabei hat nun abermals das virtuelle Prinzip den Vorzug größerer Allgemeinheit für sich, da es sich auf ein System be- liebig vieler fest verbundener Punkte bezieht, so daß die Bedingungs- gleichung, zu der es führt, ebensowohl die drehende wie die fort- schreitende Bewegung umfaßt. Endlich wird auch die Richtungs- *) Poinsot, Neue Theorie der Drehung der Körper. Deutsch von Schellbach. 1854. Wundt, Logik. 1I. 3. Aufl. 22 338 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. reduktion bei dem virtuellen Prinzip verwertet: sie besteht hier darin, daß alle Kräfte schließlich auf eine einzige Richtung reduziert werden. So ergibt sich, daß alle die genannten Sätze nur verschiedene Ge- staltungen eines einzigen Prinzips der Zusammensetzung der Kräfte sind. Es kommt auf die spezielle Beschaffenheit der Aufgabe an, welche von ihnen zu bevorzugen ist; doch besitzt der Satz der virtuellen Ge- schwindigkeiten wegen seiner Ausdehnung auf beliebig viele Kräfte von translatorischer oder rotatorischer Wirkung jedenfalls die größte All- gemeinheit. Infolge dieser gemeinsamen Wurzel ist nun auch für keinen jener Sätze ein eigentlicher Beweis, d. h. eine Ableitung aus anderen fundamentaleren Prinzipien, möglich. Was man Beweis zu nennen pflegt, das besteht nur in einer Veranschaulichung, bei der das zu be- weisende Prinzip schon vorausgesetzt ist. So beweist man z. B. angeblich den Satz vom Kräfteparallelogramm, indem man die simultane Wirkung der Komponenten in eine sukzessive auflöst und zeigt, daß, wenn man sich diese sukzessiven Wirkungen in unendlich kleinen Zeitteilchen einander folgend denkt, der beschriebene Weg die Diagonale des Par- allelogramms ist. Nun besteht aber das Prinzip gerade darin, daß die simultanen Wirkungen der Kräfte ebenso wie die sukzessiven sich kombinieren. Ähnlich verhält es sich mit der Zusammensetzung der Kräftepaare, bei der man ganz nach dem Satz vom Kräfteparallelo- gramm verfährt. Nicht minder hat für das Prinzip der virtuellen Ge- schwindigkeiten die Anwendung des Flaschenzugs nur die Bedeutung der Veranschaulichung eines axiomatisch angenommenen Prinzips. Es besteht jedoch eine wesentliche Aufgabe der kausalen Behandlungs- weise der Mechanik gerade darin, daß sie über alle einzelnen Voraus- setzungen Rechenschaft zu geben hat, die der schließlichen Ableitung der allgemeinen Bewegungsgleichungen zu Grunde liegen, während die teleologische umgekehrt diese Voraussetzungen in ein einziges kom- plexes Fundamentaltheorem zusammenzufassen sucht. Jene von Anfang an analytische Aufgabe wird daher verdeckt, wenn alle die einzelnen und voneinander unabhängigen Voraussetzungen infolge einer solchen äußeren Nachahmung der einheitlichen teleologischen Formeln durch eine sie alle stillschweigend einschließende Veranschaulichung, wie die des Flaschenzugs, ersetzt werden. So hat denn auch die neuere Mechanik diesen Weg wieder verlassen und sich im Gegenteil bemüht, die Defini- tionen und hypothetischen Axiome möglichst vollständig zu entwickeln, auf denen die Ableitung der mechanischen Grundgleichungen beruht*). *) Am vollständigsten ist dies von L. Boltzmann geschehen in seinen „Prinzipen der Mechanik“ (I. Teil, 1897, S. 6 ff.). Seine sieben „Grundannahmen“ Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 339 d. Die phoronomischen und die dynamischen Voraus- setzungender Mechanik. Der allgemeine, in allen einzelnen Sätzen über die Zusammen- setzung von Kräften zur Geltung konimende Grundsatz, daß die eintretenden Erfolge allein durch die geometrischen Eigenschaften der erzeugten Bewegungen bestimmt werden, gestattet es, alle hier in Rede stehenden Prinzipien unter einem veränderten Gesichtspunkte zu be- trachten. Es wird nämlich bei den Problemen über Kräftezusammen- setzung von den Kräften selbst völlig abstrahiert werden können, und es werden dann die betreffenden Sätze eine reinphoronomi- sche Gestalt annehmen, indem sie lediglich die allgemeinsten Gesetze über die Zusammensetzung von Bewegungen enthalten. In der Tat ist schon um deswillen diese phoronomische Gestaltung der Prinzipien die korrekteste Form, weil die veranschaulichenden Beweise für die- selben ebenfalls phoronomischer Art sind, so daß die Einführung des Kraftbegrifis hier eine überflüssige Rolle spielt. Dies führt uns auf denjenigen Punkt, in dem die systematische Gestaltung, welche die Mechanik bei Lagrange gefunden, un- genügend geblieben ist. Er betrifft die logische Scheidung der ver- schiedenen Gebiete der Mechanik nach den in ihnen vorausgesetzten Grundbegriffen, eine Scheidung, die von ungleich größerer Wichtigkeit ist als die alte Trennung in Statik und Dynamik, da diese beiden in ihrer neueren Entwicklung die nämlichen Grundbegriffe zur Anwendung bringen. Mit Rücksicht hierauf hat in einzelnen Darstellungen der Mechanik eine Gliederung Platz gegriffen, die in der Tat bestimmt zu sein scheint, an die Stelle jener älteren zu treten: die Gliederung näm- lieh n Phoronomie (oder Kinematik) und Dynamik. Von ihnen hat sich die erstere mit den Gesetzen der Bewegung als solcher zu beschäftigen, abgesehen von den Ursachen, welche Bewegungen erzeugen, und von den physischen Eigenschaften der Körper, an denen sie stattfinden*). Die Phoronomie in diesem Sinne ist eine der fallen zumeist mit den in Bd. I (S. 571 fi., 623 ff.) formulierten phoronomischen und physikalischen Axiomen zusammen. Doch hat B. die der Geometrie ent- lehnte Stetigkeit des Raumes als eine besondere Voraussetzung eingeführt. *) Zwischn Phoronomie und Kinematik unterscheidet der Sprachgebrauch der neueren Mechanik im allgemeinen wieder derart, daß man unter Phoronomie die abstrakte Behandlung der allgemeinsten Bewegungs- gesetze, unter Kinematik die Anwendung dieser und der geometrischen Gesetze auf die verwickelteren Bewegungsprobleme versteht. Anfänge einer rein phoronomischen Behandlung finden sich schon bei d’Alembert, der durch 340 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Geometrie nahe verwandte Disziplin. Auch sie bezieht sich nur auf reine Anschauungen, sie fügt aber zu den geometrischen Grundbegriffen den der Bewegung hinzu. Auf diesem letzteren Umstande beruht ihre Selbständigkeit, welche in der Existenz besonderer phoronomischer Axiome ihren Ausdruck findet. Diese Axiome, zu denen neben dem Satz von der Relativität der Bewegung vor allem das Prinzip der Zu- sammensetzung der Bewegungen gehört, haben gleich den geometri- schen Axiomen eine anschauliche Gewißheit, d. h. ihre Richtigkeit kann nur durch den unmittelbaren Hinweis auf die Anschauung fest- gestellt werden. Die Dynamik dagegen, von welcher die Statik nur einen Teil bildet, setzt außer den phoronomischen Begriffen noch die beiden Begriffe der Kraft und der Masse voraus. Auf diese Begriffe beziehen sich zwei andere Fundamentalgesetze der Mechanik, welche darum als spezifisch dynamische Axiome bezeichnet werden können: das Beharrungsgesetz und der Satz von der Gleichheit der Aktion und Reaktion. Aus ihnen und aus den phoronomischen Axiomen können die anderen dynamischen Prinzipien, insbesondere die ver- schiedenen Erhaltungsprinzipien abgeleitet werden. Während die phoronomischen Axiome nur der Vorstellungen des Raumes und der Bewegung bedürfen, stützen sich die dynamischen Grundsätze außer auf diese auch noch auf den Kausal- und Substanzbegrifi. So läßt sich das Beharrungsgesetz geradezu als Korollarsatz des Kausalgesetzes auffassen, wenn man die Voraussetzung der Unveränderlichkeit der Substanz als gegeben annimmt. Die übrigen dynamischen Axiome aber gehen aus den phoronomischen Grundsätzen hervor, sobald man in sie den Kausal- und Substanzbegriff mit den näheren Bestimmungen einführt, die sie durch das Zusammenwirken der Erfahrung und der Postulate der reinen Anschauung gewonnen haben. (Bd. I, S. 586 ff.) Die Begriffe von Kraft und Masse enthalten nun aber in der abstrakten Fassung, die ihnen die Dynamik gibt, noch eine Un- bestimmtheit, welche den dynamischen Untersuchungen einen weiten Spielraum sowohl innerhalb wie außerhalb der konkreten Bedingungen des Geschehens läßt. Die Kraft, indem sie lediglich als Beschleuni- gung einer Masse definiert wird, ist nur durch die phoronomischen Gesetze einerseits und durch die allgemeinen dynamischen Grundsätze anderseits bestimmt. Innerhalb dieser Voraussetzungen ist es der Dynamik vollkommen freigestellt, beliebige Annahmen über Größe seine Skepsis gegenüber dem Kraftbegriff hierzu geführt wurde, namentlich aber beiL.M.N.Carnot. Vgl. dessen Grundsätze der Mechanik vom Gleich- gewicht und der Bewegung. Deutsche Ausg. 1805. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 341 und Verteilung der Kräfte zu machen. Trotzdem bleibt hier der Über- gang zu den konkreten physikalischen Problemen stets ein sehr ein- facher, weil der Begriff der Kraft selbst in diesen Anwendungen nur spezielle Werte annimmt, sonst aber ungeändert bleibt. Anders ver- hält es sich mit dem Begriff der Masse. Er enthält an und für sich nur die Vorstellung eines räumlich selbständigen Gebildes, auf welches die Kraft wirkt, und welches dieser Wirkung einen bestimmten meß- baren Widerstand entgegensetzt, nach dem die Größe der Masse ge- schätzt wird. Hier sind erstens die geometrischen Eigenschaften der Masse unbestimmt gelassen — in der Tat kann vom Punkt an bis zum beliebig ausgedehnten Körper jedes denkbare geometrische Gebilde auch im dynamischen Sinne als Masse gedacht werden, — sodann aber bleiben, wenn die Masse ausgedehnt ist, hinsichtlich des gegenseitigen Verhältnisses der einzelnen Punkte derselben die verschiedensten Vor- stellungen möglich: die Verbindung dieser Punkte kann als eine absolut starre, als eine in einem gewissen Grade verschiebbare, als eine absolut verschiebbare gedacht werden u. s. w. Es ist naturgemäß, daß die Dynamik gegenüber dieser unbeschränkten Zahl von Möglichkeiten zunächst die einfachste Voraussetzung über die Konstitution der Massen macht. Sie besteht in der Annahme, daß der Masse, abgesehen von der in ihrem dynamischen Begriff gelegenen Eigenschaft eines Widerstandes von bestimmter Größe, nur diejenigen Eigenschaften zukommen, die in ihrer geometrischen Vorstellung enthalten sind. Diese Annahme führt zu der in der Mechanik benützten Fiktion absolut starrer, unausdehnsamer und in sich gleichartiger Linien, Flächen und Körper. Nimmt man zu diesen geometrischen Abstraktionen die pho- ronomische Vorstellung der absoluten Beweglichkeit eines gegebenen Punktes hinzu, so entsteht die Annahme eines unausdehnbaren und absolut biegsamen Fadens, wie sie z. B. beim Prinzip des Flaschenzugs zur Anwendung kommt, oder bei noch allgemeinerer Ausdehnung die Annahme einer körperlichen Masse, deren einzelne Punkte absolut beweglich sind, wie eine solche zur Ableitung der abstrakten hydro- dynamischen Grundgesetze verwertet wird*). Diese Behandlungs- weise der Dynamik, die sich auf den allgemeinen Kraftbegrifi be- schränkt und in den Begriff der Masse ausschließlich gewisse mathe- matische Voraussetzungen von absolutem Charakter einführt, die in der Natur niemals verwirklicht sind, wollen wir als de abstrakte oder mathematische Dynamik bezeichnen. Dagegen kann der- *) Lagrange, Mecan. anal. I, p. 172. 342 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. jenigen Behandlungsweise, die gewisse Bestandteile dieser abstrakten Voraussetzungen aufgibt, um die Probleme den wirklich in der Natur gegebenen Bedingungen zu nähern, der Name einer konkreten oder physikalischen Dynamik beigelegt werden. Es ist selbst- verständlich, daß die abstrakte der konkreten Dynamik vorarbeiten muß. Diese würde niemals zu einer Lösung der verwickelteren physi- kalischen Aufgaben gelangen, wenn sie diese Aufgaben nicht zunächst auf ihre einfachste mathematische Form zurückführte. Aus diesem Grunde vollzieht sich auch der Übergang von der mathematischen zur physikalischen Dynamik keineswegs mit einem Schritte, sondern sukzessiv werden in die ursprünglich ganz abstrakten dynamischen Voraussetzungen limitierende Annahmen eingeführt. Solange man im Gebiete der eigentlichen Mechanik verweilt, verläßt man aber niemals das Gebiet abstrakter Betrachtungen. Denn selbst jene limi- tierenden Annahmen pflegen zunächst schon um der mathematischen Behandlung willen wiederum eine abstrakte Form anzunehmen. Un- merklich erweitert sich auf diese Weise die Mechanik zur theore- tischen Physik, deren ausgebildetere Teile geradezu als die einzelnen Zweige der konkreten Dynamik betrachtet werden können. e. Das Prinzip der Einfachheit in der Mechanik. Das heuristische Prinzip der Einfachheit hat in der Mechanik, wie der obige Abriß ihrer Entwicklung zeigt, in doppeltem Sinne eine Rolle gespielt. Auf der einen Seite suchte man diese Einfachheit in der Auf- zeigung der letzten, nicht weiter zerlegbaren Voraussetzungen: das ist das Prinzip der Einfachheit im eigentlichen Sinne, in dem es von Galilei und Newton bis auf L. Boltzmann die kausale Mechanik beherrscht hat. Es ist notwendig mit der Annahme einer Vielheit solcher einfachster Voraussetzungen verbunden, und es treibt daher immer wieder dazu, jene eigentliche Einfachheit durch eine zweite Anwendungsform des gleichen Prinzips zu ersetzen: durch die Einheit der letzten Voraussetzungen. In diesem Fall erblickt man das Endzie! der Betrachtung vielmehr darin, daß ein einziges Prinzip, das selbst freilich stets zusammengesetzt ist, die Grundlage aller Deduktionen bildet: das ist der Charakter der teleologischen Mechanik, die von Huygens und Leibniz bis auf H. Hertz, zuerst verbunden mit dem Gedanken objektiver Naturzweckmäßigkeit, dann in der Form einer bloß subjektiven Maxime der Betrachtung entwickelt worden ist. Zwischen beiden Richtungen hat es an Vermittlungsversuchen nicht Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 343 gefehlt, deren wichtigster uns in dem Prinzip der virtuellen Geschwindig- keiten begegnet ist. Neben diesen zwei Hauptrichtungen ist nun aber frühe schon eine dritte Richtung hervorgetreten, bei der sich das Streben nach Einfach- heit mit dem nach Einheit verband, und die zugleich auf eine viel radikalere Weise auf eine Umbildung der aus der Galileischen Mechanik überkommenen Grundbegriffe ausging. Ist diese letztere von dem Dualismus von Kraft und Masse beherrscht, deren Definitionen zugleich so eng aneinander gebunden sind, daß jeder dieser Begriffe den anderen voraussetzt, so würde ja eine wesentliche Vereinfachung dann erzielt werden, wenn es gelänge, bloß auf einen dieser Begriffe, sei es ausschließlich auf den der Masse, sei es auf den der Kraft, die ganze Mechanik zu gründen. Der Widerstreit zwischen den durch eine solche Reduktion auf einen einzigen Begriff denkbaren Grund- anschauungen spielt in der Tat schon in die frühesten Versuche einer philosophischen Begründung der Galileischen Mechanik hinein. Hier steht auf der einen Seite Descartes als der Vertreter einer reinen Massenmechanik, dem auf der anderen Leibniz mit seinem allbeherr- schenden Kraftbegriff entgegentritt. Freilich ist es keinem dieser Philosophen gelungen, seine Anschauung widerspruchslos und ohne Entlehnungen durchzuführen. Immerhin weisen ihre Gedanken deut- lich auf die Richtungen hin, in denen die Ausführung einer solchen einseitigen Massen- oder Kraftmechanik denkbar ist. Die Massen- mechanik muß dem Begriff der Kraft notwendig ein teleologisches Prinzip substituieren, das nur die Masse enthält, und das die sonst aus irgendwelchen Wirkungsgesetzen der Kräfte abgeleiteten Bewegungen als Verwirklichungen eines allgemeinen Naturzweckes erscheinen läßt, sei es nun, daß dieser als ein objektiv gesetzgebender oder als ein der subjektiven Zusammenfassung der Erscheinungen dienender aufgefaßt wird. Dieses oberste Zweckprinzip ist bei Descartes die Erhaltung der Quantität der Bewegung, dargestellt in der Formel % m v — konst. (Siehe o. 8. 319 ff.) Daß dieses Prinzip falsch ist, und daß Descartes noch weitere, zum Teil der Galileischen Mechanik entlehnte Sätze hinzunehmen muß, um auch nur notdürftig über die allgemeinsten Be- wegungserscheinungen Rechenschaft zu geben, tut hier nichts zur Sache. Charakteristisch ist nur, daß er die Passivität der Materie und die Unmöglichkeit einer anderen Entstehung von Bewegungen außer durch Druck und Stoß, also durch die unmittelbaren Eigenschaften der Massen selbst betont*). Das ist nun aber zugleich der Punkt, *) Descartes, Principia philosophiae, Pars II, 36 fi. 344 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. in dem Leibniz Descartes’ mechanische Grundanschauungen nicht bloß berichtigen, sondern durch ihr Gegenteil ersetzen möchte. Nicht die Masse, sondern die Kraft ist nach ihm das Primäre. Sie tritt als aktive Kraft in der wirklichen Bewegung oder, wenn Gleichgewicht besteht, in dem Streben nach Bewegung zu Tage; als passive Kraft besteht sie in der Masse, die selbst wieder in den Erscheinungen der Undurchdringlichkeit und der Trägheit sich äußert. Diese passive Kraft ist, wie er meint, selbst nur ein Grenzfall der aktiven, und er deutet an, daß sie aus den unendlich kleinen inneren Bewegungen abzuleiten sei, die in jedem Körper angenommen werden müßten*). Indem er jedoch diese unendlich kleinen „verborgenen Bewegungen“ als einen Grenzfall der endlichen Bewegungen ansah, analog wie die Statik ein Grenzfall der Mechanik sei, blieb er gleichwohl bei der Vorstellung, die letzten Gesetze der Bewegung seien uns in den Erscheinungen der Massenbewegung gegeben, so daß sein Gedanke einer Reduktion der mechanischen Grundbegriffe auf die Kraft eine unbestimmte metaphysische Idee blieb. Überdies drängte ihn sein Grundsatz der immanenten Zweckmäßigkeit der Natur auch zur Aufstellung eines allgemeinen teleologischen Prinzips, das für alle ein- zelnen mechanischen Prinzipien wiederum maßgebend sein sollte. Das so von ihm formulierte und dem Cartesianischen entgegengestellte Erhaltungsgesetz L+ T—=konst. (L—X\ mv’), oder „Lebendige und tote (potentielle) Kraft zusammen sind konstant“, enthielt daher in der ihm beigefügten Definition L—= mv”, so gut wie das Cartesiani- sche, den Massenbegrifi. So hat Leibniz seine Forderung, die Masse auf die Kraft zurückzuführen, nirgends erfüllt. Vielmehr hat gerade die an ihn sich anschließende teleologische Richtung der Mechanik des 18. Jahrhunderts den Kraftbegriff dadurch verdunkelt, daß die Kraft selbst teleologisch gefaßt und damit, wie besonders die älteren Erörterungen über das Prinzip der kleinsten Wirkung zeigen, aus ihrer einfachen kausalen Bedeutung als einer die Bewegung beschleunigenden Bedingung verdrängt wurde, ein Mißbrauch, der schon bei d’Alem- bert den Gedanken erweckte, diesen Begriff überhaupt in dem Sinne zu Gunsten des Massenbegriffs zu eliminieren, daß die Dynamik über- haupt nur bestimmte Formeln aufzustellen habe, welche die tatsäch- lichen Bewegungen irgendwie verteilter Massen beschreiben. Das ist nun offenbar der Punkt, von dem aus in neuerer Zeit u ne a An *) Leibniz’ mathem. Schriften, herausgeg. von Gerhardt, VI, Specimen dynamicum, p. 236 ff. Essay de Dynamique, p. 217 fi. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 345 Hertz unter dem Einfluß ähnlicher skeptischer Stimmungen wieder auf d’Alembert und in indirekter Weise auf Descartes zurück- ging, indem er unter den teleologischen Formulierungen der vergange- nen Zeit das Hamiltonsche Prinzip (S. 328) benutzte, das er übrigens als eine rein beschreibende Definition irgendwelcher Bewegungen von Massen betrachtete, so daß er anscheinend zu einem reinen Massen- gesetz gelangte*). Der entgegengesetzte Versuch, den Begriff der Masse zu eliminieren und mit dem der beschleunigenden Kraft allein auszukommen, ist bis jetzt nicht zur Ausführung gelangt. An Andeutun- gen in dieser Richtung fehlt es allerdings nicht. Nur liegen sie außer- halb der eigentlichen Mechanik im Gebiet der Physik des Äthers. Infolge der universellen Bedeutung, die man den Prinzipien der Me- chanık einräumte, hatte es von frühe an als eine beinahe selbstver- ständliche Voraussetzung gegolten, so viel als nur immer möglich jene Grundbegriffe der beschleunigenden Kraft und der Masse, deren sich die Körpermechanik bedient, auch auf das vielumstrittene „im- ponderable“ Medium und seine Bewegungserscheinungen anzuwenden. Daß das nicht vollständig oder in vielen Fällen nur insofern gelang, als man die Massen verschwindend klein annahm, dafür ist schon der Begriff des „Imponderabeln“ bezeichnend. Vollends kann man be- zweifeln, ob eine Mechanik des Äthers, wenn sie nicht von vornherein mit den Begriffen der Körpermechanik arbeitete, überhaupt zu dem Begriff einer imponderablen Masse gekommen wäre. Betrachtungen solcher Art konnten daher wohl den Gedanken einer von solchen aus der traditionellen Mechanik übernommenen Vorstellungen ganz ab- strahierenden Mechanik des Äthers erwecken; und die mannigfachen Beziehungen, die die neuere Physik zwischen den elektrischen, magne- tischen und Lichterscheinungen nachgewiesen hat, konnten ohnehin nach experimentellen Methoden suchen lassen, mit deren Hilfe sich Bewegungserscheinungen des Äthers ähnlich unabhängig erforschen ließen, wie dereinst die Gesetze der Körpermechanik umgekehrt unab- hängig von solchen „imponderabeln Medien“ festgestellt worden waren. Fragen dieser Art führen natürlich schon allzu tief in weitere physi- kalische Voraussetzungen und namentlich in die Hypothesen über die Konstitution der Materie hinein, als daß sie hier bereits erörtert wer- den könnten. Nur ein Ergebnis mag hervorgehoben werden, das in der Tat die Bedeutung des Massenbegrifis möglicherweise dereinst erschüttern könnte. Die Versuche über die Ablenkung kleinster be- *) H.Hertz, Die Prinzipien der Mechanik, 1894, Einleitung, bes. S. 19 fi. 346 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. wegter Elektrizitätsteilchen, der sogenannten Elektronen, scheinen zu beweisen, daß diese Teilchen eine konstante Masse in dem Sinne nicht besitzen, in welchem wir den schweren Körpern eine solche zu- schreiben. Vielmehr zeigt sich der Faktor der Masse bei der Bestim- mung der lebendigen Kraft dieser Teilchen von einer gewissen Grenze an in dem Sinne abhängig von der Geschwindigkeit, daß er mit der letzteren in raschem Wachstum zunimmt*). Das würde beweisen, daß in diesem Fall die Masse keine unveränderliche, also auch keine kon- stitulerende Eigenschaft der Materie ist, und es würde als solche nur die beschleunigende Kraft übrig bleiben, welche die Teilchen aufeinander ausüben, d. h. die Materie selbst würde aufgelöst sein in Kräfte. Die Masse würde sich dann als eine aus bestimmten Kräftewirkungen abzuleitende Erscheinung ergeben müssen, die in jenem Grenzfall, den die Mechanik der ponderablen Körper verwirklicht, in eine kon- stante Eigenschaft überginge. Hier treffen nun diese Spekulationen zugleich mit den Versuchen einer Vereinheitlichung des Begriffs der Materie zusammen, auf die wir unten kommen werden. In Wahrheit ist diese Idee der Ableitung der Gesetze der Körpermechanik aus einer allgemeineren Mechanik des Äthers selbst nur der Reflex der in der neueren Physik unter dem Einfluß der wachsenden Bedeutung der elektromagnetischen und optischen Untersuchungen zunehmenden Tendenz, die ehemals nur als zweifelhafte Notbehelfe verwendeten „imponderablen“ Medien in der einheitlichen Form des allverbreiteten Lichtäthers zur eigentlichen Materie zu erheben. Diese würde dann in gewissen Grenzfällen durch eigentümliche Aggregierung der Elemente zu relativ stabilen Gebilden die Erscheinungen der wägbaren Körper erzeugen**). Auch das ist eigentlich wieder nur eine Rückkehr zu längst dagewesenen Vorstellungen in erneuerter Form; ist doch schon in Des- cartes’ Naturphilosophie die Annahme, daß die ponderable Materie durch eine besondere Aggregierung des Äthers entstehe, ein leitender Gedanke. Sollte nun eine solche Theorie der Materie zur allgemeinen Rezeption gelangen, so würde naturgemäß auch die entsprechende Transformation der Mechanik nur noch eine Frage der Zeit, und die Idee Leibnizens, daß die Masse selbst eine Wirkung der Kraft sei, *, W. Kaufmann, Göttinger gel. Nachrichten. Math.-phys. Kl., 1903, S. 90. **) Hierher gehörige Vorstellungen sind namentlich im Zusammenhang mit der später zu besprechenden „Elektronentheorie“ von verschiedenen Seiten ent- wickelt worden. Vgl. z.B. W. Wien, Zeitschrift für Elektrochemie, Bd. 5, 1904, S. 395. J.J. Thomson, Elektrizität und Materie, 1904, S. 57 fi. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 347 würde in freilich ganz anderer Form, als jener ihn meinte, ver- wirklicht sein. Erkenntnistheoretisch würde aber eine solche Reduktion einen letzten Schritt in der Elimination subjektiver Empfindungs- elemente aus dem objektiven Weltbilde bedeuten. Denn die Begriffe der Kraft und der Masse sind, wie die Entwicklung der Galileischen Mechanik zeigt, unter dem beherrschenden Einfluß der Empfindungen der Muskelanstrengung und des tastbaren Widerstandes der Körper entstanden (S. 309). Schon die gewaltige Abstraktionskraft ihres Urhebers hat sie aber durch die unbeschränkte Übertragung auf die Bewegungen schwerer Körper im wesentlichen von dieser subjektiven Grundlage unabhängig gemacht. Gleichwohl kann man bezweifeln, ob ohne jene Empfindungen diese Scheidung erfolgt wäre. Denn die Bewegung an sich ist ein einheitliches Phänomen, das aus rein ob- jektiven Gründen die Annahme kausaler Wechselwirkungen voraus- setzt, das aber eine Interpretation dieser Wechselwirkungen aus jenen ursprünglich dem Vorbild subjektiver Empfindungen folgenden Ele- menten nicht mit logischer Notwendigkeit verlangt. f. Der KausalbegriffdermechanischenNaturlehreund die allgemeinen Formen der Kausalgleichungen. Die Annahme, daß die Materie das qualitativ wie quantitativ un- veränderliche Substrat aller Naturerscheinungen sei, hatte schon die antike Atomistik zu dem Schlusse geführt, diese Erscheinungen seien sämtlich aus Bewegungszuständen und Bewegungsvorgängen teils der unmittelbar wahrzunehmenden materiellen Massen, teils hypo- thetisch vorauszusetzender Massenteilchen abzuleiten. Die Entwick- lung der neueren Mechanik hat dann diese Voraussetzung befestigt, indem sie die Hilfsmittel an die Hand gab, durch die es gelang, die verschiedensten Teile der Naturlehre in Gebiete der angewandten Mechanik umzuwandeln. Dabei bleibt jedoch selbstverständlich über- all da, wo die Bewegungsvorgänge nicht direkt nachweisbar sind, son- dern nur angenommen werden, um die empirisch gegebenen Er- scheinungen abzuleiten, diese ganze Subsumtion unter die Mechanik ein hypothetisches Verfahren, das seine Rechtfertigung lediglich seiner Fähigkeit verdankt, auf diesem Wege eine widerspruchslose und ein- heitliche Erklärung der Naturerscheinungen zu stande zu bringen. Darum ist der Satz, daß alle Naturerscheinungen schließlich auf die Prinzipien der Mechanik zurückführbar seien, kein Erfahrungssatz, und er kann sich niemals in einen solchen umwandeln, sondern er ist und bleibt ein heuristisches Postulat, das sich aber als ein so wirk- 348 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. sames Förderungsmittel der naturwissenschaftlichen Forschung, nament- lich auf vielen Gebieten der Physik, erwiesen hat, daß es auf alle Natur- gebiete übertragen worden ist. So wenig demnach auch die mechanische Naturansicht im Sinne einer vollständig gelungenen Durchführung dieses Postulats voraussichtlich jemals absolut beweisbar sein wird, so wenig ist es doch wahrscheinlich, daß die Naturwissenschaft dasselbe jemals aufgeben sollte. Dazu ist es zu sehr verwachsen mit allen sonstigen Voraussetzungen: mit dem Prinzip der Anschaulichkeit, der Einfachheit, sowie mit dem Prinzip der Konstanz der Materie. Dagegen ist niemals zu vergessen, daß der Gesamtheit der Naturerscheinungen gegenüber jene Annahme lediglich ein methodologisches Postulat ist, das uns sagt, in welcher Richtung die Voraussetzungen zu machen sind, mittels deren wir eine gegebene Tatsache in den allgemeinen Zusammenhang der Natur- erscheinungen einreihen können. Darum darf dieses Postulat niemals, wie es beispielsweise in den mechanistischen Theorien der früheren Physiologie der Fall war, dazu verführen, daß man empirisch gegebene Tatsachen vernachlässigt oder unvollständig, etwa mit Hilfe leerer mechanischer Analogien, interpretiert. In diesem verkehrten Sinn angewandt wird die mechanische Naturanschauung, statt zu einem Förderungsmittel, vielmehr zu einem Hindernis der Forschung. Jener regulative Grundsatz der mechanischen Interpretation hat nun einen weitgreifenden allgemeinen Einfluß auf das Gesamt- gebiet der Naturwissenschaft namentlich dadurch ausgeübt, daß er dem Kausalprinzip die ihm für alle Naturgebiete eigentümliche Form gab. Diese Form besteht darin, daß jede Kausalbeziehung prin- zipiell als ausdrückbar durch eine Kausalgleichung angesehen wird, deren eine Seite den als „Ursache“, und deren andere den als „Wirkung“ aufgefaßten Komplex von Tatsachen enthält. Der Auf- stellung solcher Kausalgleichungen entspricht der schon im Beginn der Entwicklung der neueren Naturwissenschaft zur Geltung gebrachte Grundsatz: „Causa aequat effectum‘, oder, wie er wegen der Trans- formationen der Naturkräfte angemessener auszudrücken ist: „Die Wirkung ist äquivalent ihrer Ursache“*). Sobald sich für bestimmte Naturerscheinungen solche Kausalgleichungen aufstellen lassen, sind mit ihrer Hilfe demnach stets die Kriterien gegeben, nach denen der engere Begriff der Ursache von dem der entfernteren Bedingungen *) Über die geschichtliche Entwicklung dieses Grundsatzes vgl. meine Schrift: Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Kausalprinzip. 1866, S. 57 ff. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 349 einer Erscheinung zu sondern ist, eine Unterscheidung, die darum im Gebiet der exakteren Naturwissenschaften niemals Schwierigkeiten bereiten kann, falls man sich nur dieses tatsächlich von der Natur- wissenschaft allgemein angewandten Kriteriums bedient. Von den im Zusammenhang mechanischer und physikalischer Entwicklungen auftre- tenden Definitionsgleichungen sind aber die Kausalgleichungen dadurch unterschieden, daß sie auf beiden Seiten verschiedene Begriffe ent- halten, nicht ein und denselben, wie die Definitionsgleichungen. Sobald verschiedene Erscheinungen als kausal zusammengehörig und zugleich als quantitativ einander gleich oder äquivalent erkannt sind, werden sie demnach in einer Kausalgleichung zusammengefaßt. So ist z. B. die Gleichung v — ur .t für die Geschwindigkeit einer Masse m, auf die m während der Zeit t eine Kraft k wirkt, eine Kausalgleichung: v kann als die Wirkung der auf der rechten Seite der Gleichung stehenden ur- sächlichen Faktoren betrachtet werden. Indem sich die Kausal- gleichungen der Naturwissenschaft stets auf Ereignisse, niemals auf ruhende Zustände beziehen, fügen sie sich ferner den allgemeinen Be- dingungen für die Bildung des Kausalbegrifis. (Bd. I, S. 586 ff.) Der Naturkausalität eigentümlich ist es jedoch, daß in jede Kausalgleichung neben veränderlichen auch konstante Faktoren eingehen, die in der- selben Größe in anderen Kausalgleichungen vorkommen können, und die auf die unveränderlichen Bedingungen der Naturkausalität, auf die Materie als die Trägerin beharrender Naturkräfte einerseits und kon- stante Widerstände der Massen anderseits, hinweisen. Mit Rück- sicht auf diese Gebundenheit an konstante substantielle Substrate kann man die Naturkausaltiät auch als substantielle Kausa- lität bezeichnen. Nun hat die Mechanik, wie wir sahen, z w ei Begriffe von kausaler Bedeutung entwickelt: die Begriffe der Kraft und der Energie (S. 323 f.). Demnach können wir auch schon im Gebiet der Mechanik zweierlei Kausalgleichungen unterscheiden: Kraftgleichungen und Energiegleichungen. Die Fundamentalgesetze der Mechanik sind die Kraftgleichungen:so die oben als Beispiel angeführte Relation zwischen beschleunigender Kraft, Masse und Geschwindigkeit. Vor allem gehören aber auch Lagranges Grundgleichungen der Bewegung hierher (5. 334). Energiegleichungen besitzt dagegen die Mechanik in der Form fester Relationen zwischen Lageenergie und Bewegungsenergie (S. 324.) Insofern es sich dabei um verschiedene, unter Umständen zeitlich mehr oder weniger weit voneinander entfernte Zustände der be- 350 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. wegten Massen handelt, können wir diese Gleichungen auch Zu- standsgleichungen nennen. Wenn wir z. B. ein Gewicht 9 auf die Höhe h heben, so wird ihm dadurch eine Lageenergie mitgeteilt, vermöge deren es, von der Höhe Ah herabfallend, eine bewegende Energie mv? mw? > entwickeln kann. Demnach ist die Gleichung ph = ——— eine Le Kausalgleichung, in welcher der eine Zustand als die Ursache des anderen betrachtet wird. Diese Gleichungen haben das Eigentümliche, daß sie auf Zwischenvorgänge, die zwischen dem Übergang aus dem einen in den anderen Zustand liegen, die aber für die quantitative kausale Beziehung beider Zustände unwesentlich sind, keine Rücksicht nehmen, und ferner, daß sie besondere Bedingungen für den Übergang des einen Zustands in den anderen voraussetzen, von denen ebenfalls abstrahiert wird. Dabei wird jedoch im allgemeinen stillschweigend angenommen, daß, wenn auf solche Zwischenvorgänge und Übergangsbedingungen Rücksicht genommen würde, diese stets in besonderen Kausalglei- chungen dargestellt werden könnten. In dem weiteren Gebiet der Naturlehre tritt endlich zu diesen der Mechanik eigentümlichen Arten der Zustandsgleichungen noch eine weitere hinzu, bei der die Transformationen der verschiedenen Natur- kräfte, also z. B. der Übergang von mechanischer Kraft in Wärme, dieser in Volumänderung, in die Gleichung eingehen. Solche Trans- formationsgleichungen sind wieder in zwei Formen möglich. Die erste, die wir die Form der direkten Transformationsgleichungen nennen können, drückt den unmittelbaren Übergang bestimmter Energieformen in andere, unter der Voraussetzung, daß er in äqui- valenten Verhältnissen geschieht, in einer Gleichung aus. Die zweite Form, die wir als dieindirekte Transformationsgleichung bezeichnen wollen, verbindet zwei äquivalente Glieder eines Umwandlungsprozesses, die in Wirklichkeit durch beliebige, nicht berücksichtigte Mittelglieder zusammenhängen können, in einer Gleichung. Wenn man z. B. den Übergang einer einem Körper zugeführten unendlich kleinen Wärme- menge dQ in lebendige Kraft der Molekularbewegungen d W, die Ver- änderung der Mittellagen der kleinsten Teilchen d J und die Änderung des Gesamtvolums d Z ausdrückt durch die ideale Gleichung dQ=A(dW+dJ-+dlI), so ist dies eine direkte Transformationsgleichung*). Wenn dagegen die Wärmetheorie die Beziehung zwischen Druckänderung und Tem- *) Zeuner, Grundzüge der mechanischen Wärmetheorie. 2. Aufl., S. 25. Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 351 peraturänderung eines Gases beim Ausströmen aus einem Behälter in einen anderen, der mit gleichem Gas von geringerer Spannung ge- füllt ist, unter der Voraussetzung konstant bleibenden Drucks dar- stellt durch die Gleichung worin T, die absolute Anfangs- und T, die absolute Endtemperatur, P, den Anfangs- und P,den Enddruck, k aber eine von der Natur des Gases abhängige Konstante bedeutet, so hat diese den Charakter einer indirekten Transformationsgleichung. Denn es bleibt dabei ganz dahingestellt, ob die auf der rechten Seite stehende Funktion der rela- tiven Druckänderung in einer unmittelbaren Kausalbeziehung zu der auf der linken stehenden relativen Temperaturänderung gedacht wird. Zu den Zustandsgleichungen gehört diese Form insofern, als ganz davon abstrahiert wird, mit welcher Geschwindigkeit das Gas aus dem einen in das andere unter niedrigerem Druck stehende Gefäß ausströmt. Von dem oben angeführten Beispiel einer mechanischen Zustandsgleichung 2 (pr= -) unterscheidet sich dagegen das vorliegende dadurch, daß die beiden Zustandsänderungen des Drucks und der Temperatur während des ganzen Vorgangs aneinander gebunden sind. Gerade diese willkürliche Abstraktion von dem zeitlichen Verhältnis der kausal ver- knüpften Zustände, sowie von den weiteren kausalen Bedingungen be- gründet übrigens die große Brauchbarkeit der Zustandsgleichungen. An die beiden Formen der Transformationsgleichungen schließt sich endlich eine letzte große Klasse von Zustandsgleichungen, die für die Aufstellung rein empirischer Gesetzmäßigkeiten von großer Wichtig- keit ist. Wir können sie zusammenfassend die Korrelations- gleichungen nennen. Bei ihnen wird von den bei den Kraft- und Energiegleichungen vorausgesetzten kausalen Beziehungen ganz abstrahiert und lediglich ein korrelatives Verhältnis zwischen zwei regelmäßig verbundenen Erscheinungen in der Form einer aus der Be- obachtung erschlossenen Funktion dargestellt. Dabei kann diese Funktion selbst zu irgend einer Klasse der bekannten analytischen Funktionen gehören, oder sie kann, wo die komplexe Natur der Be- ziehung eine solche Subsumtion verbietet, aus den einander empirisch zugeordneten Zahlenreihen, welche die Korrelation ausdrücken, in der *) Ebend. S. 175. 352 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Form einer willkürlichen Funktion entwickelt werden (8. 216). Em- pirische Koordinationsgleichungen dieser Art können eventuell später in irgendwelchen anderen Kraft- oder Energiegleichungen ihre theo- retische Begründung finden. An sich drücken sie aber lediglich eine durch noch unbekannte Ursachen erzeugte Regelmäßigkeit aus. Dabei ist die Aufstellung solcher Gleichungen nur der Bedingung unter- worfen, daß jede der in Korrelation gebrachten Erscheinungen einem besonderen, von der anderen unabhängigen Größenmaß unterworfen werden kann. So ergab sich z. B. bei osmotischen Versuchen mit Zucker und ähnlich leicht diffundierbaren Salzlösungen die einfache Korrelation p—=k.e, wenn man mit p den osmotischen Druck, mit ce die Konzentration der Lösung und mit % eine von der gelösten Substanz abhängige Konstante bezeichnet, eine Gleichung, die durch ihre vollkommene Analogie mit dem Boyleschen Gesetz über das Verhältnis zwischen Gasdruck und Gasdichte zu einer theoretischen Interpretation bezw. zu einer Ab- leitung dieser empirischen Korrelation aus den Kausalgleichungen der mechanischen Wärmetheorie auffordert*). In einer sehr großen Zahl von Fällen, nämlich in allen denen, in welchen der zeitliche Verlauf einer Erscheinung näher bestimmt werden soll, werden die Korrela- tionsgleichungen in der. Weise formuliert, daß als unabhängig Ver- änderliche die Zeit, als abhängig Veränderliche die in den verschiedenen Stadien ihres Verlaufs gemessene Erscheinung selbst angenommen wird. So formuliert man nach einem von Wilhelmy aufgestellten Gesetz, das später zum Ausgangspunkt zahlreicher Ermittlungen über che- mische Reaktionsgeschwindigkeiten gedient hat, die Beziehung zwischen der bei Anwesenheit einer Säure erfolgenden katalytischen Zersetzung des Rohrzuckers in Dextrose und Lävulose zu der Zeitdauer des Pro- zesses mit Rücksicht auf die für die Geschwindigkeit des Vorgangs wesent- liche Konzentration A durch die Korrelationsgleichung ——h.t, worin z die im Zeitpunkt 2 bereits umgesetzte Zuckermenge und keine Konstante bedeutet**). Solche Gleichungen kann man dann in *) Pfeffer, Osmotische Versuche, 1877. Über Beziehung zwischen Gas- und osmotischem Druck (van t’Hoff). Pfeffer, Pflanzenphysiologie*, TI, 8. 126. **) Wilhelmy, Das Gesetz, nach welchem die Einwirkungen der Säuren auf den Rohrzucker stattfinden, 1850. (Ostwalds Klassiker, 1891.) Die Fundamentaltheoreme der Mechanik. 353 Korrelationen zwischen der Geschwindigkeit .. des Vorgangs und q den übrigen Größen umwandeln, wodurch die obige Beziehung in die Gleichung der Reaktionsgeschwindigkeit übergeht dx N —=/(A—2). Solche Korrelationsgleichungen können in der mannigfaltigsten Weise zum Zweck der Zusammenfassung regelmäßiger numerischer Be- ziehungen Verwendung finden. Wo die Funktion, welche die Kor- relation ausdrückt, allzu verwickelt wird, da tritt schließlich an die Stelle der Gleichung die geometrische Darstellung in einer Kurve, deren Abszissen die unabhängig, und deren Ordinaten die abhängig gedachten Veränderlichen bezeichnen. Natürlich ist nun aber eine solche Darstellung der Beziehungen irgendwelcher Erscheinungen in Korrelationsgleichungen oder in geometrischen Veranschaulichungen, die ihnen entsprechen, nur so lange gestattet, als teils vermöge der Regelmäßigkeit der Beziehungen selbst, teils aus anderen Gründen ein Kausalverhältnis zwischen den in der Gleichung verbundenen Größen angenommen werden kann. Das entscheidende Kriterium ist dabei stets die Regelmäßigkeit der Korrelation, die mit Sicherheit eine kausale Beziehung auch da annehmen läßt, wo die nähere Nachweisung einer solchen noch völlig unmöglich sein sollte. In diesem Sinne gründen sich die Korrelations- gleichungen auf die Voraussetzung, daß sie bei zureichender Kenntnis der Bedingungen der in ihnen aufgestellten Beziehungen teils in Kraft-, teils in Energiegleichungen übergeführt werden könnten. Insofern jedoch bei den energetischen Zustandsgleichungen eine Abstraktion von der in alle Kausalverbindungen eingehenden Zeitanschauung nur dadurch möglich ist, daß auch bei ihnen schon der zwischen den verglichenen Zuständen liegende Zeitverlauf unberücksichtigt bleibt, stehen wiederum die Energiegleichungen samt den auf sie gegründeten Transformations- und Korrelationsgleichungen unter der Voraussetzung, daß auch die in ihnen auftretenden Glieder zeitlich bestimmt sein würden, wenn man die nicht berücksichtigten Glieder hinzufügte. Es würden dann alle Energiegleichungen teils in Kraftgleichungen, teils in solche Transformationsgleichungen übergeführt sein, in denen die Umwand- lungen der Energie in Bezug auf ihren zeitlichen Verlauf vollständig be- stimmt wären. Die mechanische Naturansicht fügt hierzu noch die wei- tere Voraussetzung, daß auch die übrig bleibenden Transformations- Wundt, Logik. II. 3, Aufl. 23 354 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. gleichungen prinzipiell in Kraftgleichungen umgewandelt werden können, sobald die den verschiedenen Energieformen, Wärme, Licht, Elektrizität u. S. w., entsprechenden Bewegungsformen ermittelt sind. Da aber dies nur mit Hilfe bestimmter Annahmen über die jenen Energien zukommen- den Bewegungsvorgänge möglich ist, so ist diese letzte Überführung in Kraftgleichungen immer nur durch Hilfshypothesen zu erreichen. In diesem Sinne interpretiert z. B. die mechanische Wärmetheorie in den obigen Transformationsgleichungen die Größen dQ, sowie T, und T, selbst als mechanische Energien, so daß die Gleichungen, da die auf der rechten Seite derselben angegebenen Werte an und für sich schon eine mechanische Bedeutung besitzen, in Kausalgleichungen zwischen verschiedenen Formen mechanischer Energie übergehen: solche müssen sich aber schließlich immer in Kraftgleichungen nach dem Muster der Fundamentalformeln Lagranges umwandeln lassen. Dies ist freilich wegen unserer Unkenntnis der Molekularvorgänge und wegen der Schwierigkeiten ihrer mechanischen Behandlung bis jetzt nur in einzelnen Fällen und in hypothetischer Weise möglich. Es bleibt daher jener letzte Schritt ein bloß regulatives Postulat, das überdies, auch wenn es einmal theoretisch durchführbar sein sollte, wahrscheinlich aus praktischen Gründen, wegen der Einfachheit der Betrachtung und um bei der bloßen Feststellung empirischer Zusammenhänge Hypo- thesen zu vermeiden, niemals durchgängig zur Anwendung kommen wird. In der Vrraussetzung der mechanischen Naturlehre, daß alle Naturvorgänge auf mechanische Bewegungen, alle Kausalgleichungen daher schließlich auf Kraftgleichungen zurückgehen, liegt nun ein für die Naturforschung ausnehmend wichtiges Postulat eingeschlossen: das Postulat der geschlossenen Naturkausalität. Das- selbe sagt aus, daß Naturvorgänge immer nur in anderen Naturvor- gängen, nicht aber in irgendwelchen außerhalb des Zusammenhangs der Naturkausalität gelegenen Bedingungen ihre Ursachen haben können. Für die Naturwissenschaft selbst hat dieses Postulat zunächst eine regulative Bedeutung: es fordert auf, jeden Naturzusammenhang auf Kausalgleichungen zurückzuführen, in die lediglich genau analysier- bare und auf die allgemeinen Naturgesetze zurückführbare Natur- vorgänge als ihre Glieder eingehen. Eine weittragende Bedeutung empfängt aber dieses Postulat außerdem für die Psychologie und die Geisteswissenschaften, weil sich aus ihm die Forderung ergibt, die Voraussetzungen über die geistige Kausalität so zu gestalten, daß sie mit diesem Grundsatz der Naturwissenschaft nicht in Wider- Allgemeiner Charakter der naturwissenschaftlichen Methoden. 355 spruch geraten. (Vgl. Bd. III, Abschn. I.) Für das Maß der Sicher- heit jenes von der heutigen Naturwissenschaft teils stillschweigend, teils ausdrücklich überall anerkannten Postulates ist es übrigens be- achtenswert, daß dasselbe zwar ursprünglich aus der mechanischen Naturansicht hervorgegangen ist, keineswegs aber mit der Nicht- anerkennung der letzteren ebenfalls fallen würde. Vielmehr bleibt die Voraussetzung der geschlossenen Naturkausalität so lange eine not- wendige, als man überhaupt zugibt, daß die Erklärung aller Natur- vorgänge, wenn sie endgültig zu leisten wäre, lediglich auf Kraft- und vollständige Transformationsgleichungen zurückführen müßte. Da- gegen schließen allerdings die Zustandsgleichungen an und für sich nicht die gleiche Forderung ein. Aber da das anerkanntermaßen nur deshalb der Fall ist, weil bei ihnen von an sich notwendigen Zwischen- gliedern der Kausalverknüpfung abstrahiert wird, so muß das Postulat der geschlossenen Naturkausalität auch noch dann als maßgebend betrachtet werden, wenn man die mechanische Naturansicht als nicht zureichend erwiesen aufgeben sollte, falls nur überhaupt ein Übergang der verschiedenen Naturvorgänge ineinander nach konstanten äqui- valenten Verhältnissen angenommen wird. Dem entspricht die Tat- sache, daß dem Postulat der geschlossenen Naturkausalität in Wirk- lichkeit bald ausdrücklich bald stillschweigend eine noch allgemeinere Geltung als der mechanischen Naturansicht unter den leitenden Prinzipien der Naturforschung zugeschrieben wird. Viertes Kapitel. Die allgemeinen Methoden der Naturforschung. 1. Allgemeiner Charakter der naturwissenschaftlichen Methoden. Die allgemeinen Methoden der Naturforschung stimmen in allen wesentlichen Punkten überein mit den im ersten Abschnitte geschil- derten Methoden der wissenschaftlichen Forschung überhaupt, zu deren Ausbildung jene hauptsächlich beigetragen haben. Die durch die spezifische Beschaffenheit der Objekte bedingten Abweichungen aber gehören großenteils den Einzelgebieten an und werden daher in den folgenden Kapiteln zu erörtern sein. So bleibt uns hier nur übrig, auf einige allgemeine, in den gemeinsamen Merkmalen der Naturerscheinungen begründete Eigentümlichkeiten der Untersuchung hinzuweisen. 356 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Bei jeder Untersuchung unterscheiden wir von den Methoden selbst die Hilfsmittel, deren sich jene bedienen müssen. Während die Methode durchaus nur die logischen Verfahrungsweisen der Unter- suchung umfaßt, bezieht sich der Begriff eines Hilfsmittels auf die natür- lichen oder künstlichen Werkzeuge und Operationen, die im Dienste der Methode Verwendung finden. Die Analyse und Synthese der Er- scheinungen, die Induktion und Deduktion sind Methoden der natur- wissenschaftlichen Forschung; die Beobachtung und das Experiment, die geometrische Konstruktion und die mathematische Analysis sind Hilfsmittel derselben. Alle diese Hilfsmittel können innerhalb jeder der erwähnten Methoden zur Anwendung kommen, wenn auch die einen vorzugsweise für das induktive, die anderen für das deduktive Stadium der Untersuchung verwertet werden. So dienen Beobachtung und Experiment zumeist der Induktion und Abstraktion, aber sie sind anderseits für die Verifikation und Determination der auf deduktivem Wege gefundenen Resultate wnerläßlich; die mathematischen Ver- fahrungsweisen sind die hauptsächlichsten Werkzeuge der naturwissen- schaftlichen Deduktion, doch kann auch die induktive Methode der arithmetischen und geometrischen Hilfsoperationen nicht entbehren. Der große Vorzug der Naturwissenschaften besteht nun vor allem in dem reichen Vorrat an Hilfsmitteln, über den sie verfügen. Diese Hilfsmittel haben auf die Methoden selbst zurückgewirkt, deren Ausbildung durch jene gefördert wurde. Das ursprüngliche und fortan für alle Naturforschung unerläßliche Hilfsmittel ist hier die einfache Sinneswahrnehmung. Mit ihr verbindet sich sodann die Anwendung mannigfacher künstlicher Werkzeuge, welche die physi- kalische Methodik zur Verfügung stellt, und deren Beschaffenheit sich nach den speziellen Untersuchungsgebieten richten muß. Die durch die Herbeiziehung dieser Hilfsmittel ermöglichte exakte Beobach- tung kann aber in doppelter Weise die Erforschung eines Gegenstandes in Angriff nehmen: erstens, indem sie in die Eigenschaften desselben oder in den Verlauf der untersuchten Vorgänge willkürlich verändernd eingreift, und zweitens, indem sie eine möglichst große Anzahl über- einstimmender oder analoger Erscheinungen miteinander vergleicht. Auf diese Weise ergeben sich de experimentelle und die ver- gleichende Beobachtung als die zwei einander ergänzenden methodischen Hilfsmittel der Naturforschung. Beide sind nicht strenge voneinander zu scheiden, sondern sie können sich in der verschiedensten Weise kombinieren. Dennoch bringt es das Wesen der experimentellen Methode mit sich, daß sie sich in der Regel mit einer verhältnismäßig Experiment und Beobachtung. 357 kleinen Zahl von Beobachtungen begnügen kann, während umgekehrt, sobald aus irgendwelchen Gründen das Experiment unanwendbar ist, eine umso umfassendere Sammlung vergleichender Beobachtungen erfordert wird. 2. Experiment und Beobachtung. a. Die experimentelle Methode. Von der unmittelbaren, nur die natürlichen Sinneswerkzeuge benützenden Beobachtung geht alle Untersuchung der Naturerschei- nungen aus. Sobald aber diese unseren willkürlichen Eingriffen zu- gänglich sind, so verbindet sich die Beobachtung mit dem Experiment. Nachdem sich das letztere ausgebildet hat, wirkt es seinerseits zurück auf die Beobachtung, indem es derselben künstliche Werkzeuge zur Verfügung stellt. Erst durch die Verwendung jener technischen Hilfs- mittel, die auf experimentellem Wege entstanden sind, wird die Beobach- tung zur exakten Beobachtung. Wie daher das Experiment selbst nichts anderes als eine Beobachtung ist, die von willkürlichen Ein- wirkungen des Beobachters auf die Erscheinungen begleitet wird, so greifen auch im ganzen Verlauf der Untersuchung beide Hilfsmittel fortwährend ineinander ein. Der Beobachter bedient sich der Werk- zeuge, die aus experimentellen Untersuchungen hervorgegangen sind, und die auch in solchen Fällen, in denen das Experiment selbst un- möglich ist, wenigstens der Beobachtung eine größere Sicherheit und Genauigkeit geben sollen. Fast jede bedeutendere Untersuchung fügt außerdem zu diesem im Laufe der Zeiten allmählich gewaltig ange- wachsenen Inventar technischer Hilfsmittel neue hinzu, welche die Genauigkeit der Beobachtung unter neuen Bedingungen sicherstellen oder neue Formen experimenteller Einwirkung möglich machen. Alle Beobachtung ist ursprünglich von zufälligen Wahr- nehmungen ausgegangen. Soll sich die Wahrnehmung zur Beobachtung erheben, so muß die wahrgenommene Erscheinung aus irgend einem Grunde unser Interesse erregen. Letzteres ist aber nur dann vor- handen, wenn sich die Aufmerksamkeit auf die Erscheinung mit der Frage nach der Art ihres Eintritts, nach ihrem Verlauf, nach ihrer Beziehung zu anderen Vorgängen verbindet. Wer Blitzschlag und Donner hört, hat ein Gewitter wahrgenommen. Wer es beobachten will, wird auf die Form und die räumliche Ausbreitung des Blitzstrahls, die Zeit, die zwischen ihm und dem Eintritt des Donners verfließt, die Häufigkeit der Blitze, die begleitende Wolkenbildung und ähnliches 358 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. achten. Mit der Beobachtung beginnt daher schon jene Fragestellung an die Natur, in der alle Untersuchung der Naturerscheinungen ihre Quelle hat. Die Beobachtung fordert den höchsten Grad aktiver Auf- merksamkeit, denn sie will nicht nur die Erscheinung selbst in allen ihren Stadien, sondern auch ihre etwaigen Begleiterscheinungen wahr- nehmen. Damit ihr von diesem ganzen Verlauf nichts entgehe, bereitet sich wo möglich, ehe ein Ereignis eintritt, die Aufmerksamkeit auf das- selbe vor. Darin liegt schon für die fernere Beobachtung ein Impuls, um, wenn es irgend geschehen kann, zum Experimente fortzuschreiten ; denn in dem Experiment beherrschen wir in der Regel den Eintritt der Erscheinungen und können ihn daher nun leicht gerade in den Augen- blick verlegen, wo unsere Aufmerksamkeit am besten vorbereitet ist. Fällt aus irgend einem Grunde, etwa weil es sich um ein unerwar- tetes Ereignis handelt, jene vorläufige Richtung der Aufmerksam- keit hinweg, so leidet darunter stets die Genauigkeit der Beobachtung, und zwar wird nicht bloß die Bestimmung des Eintritts der Erscheinung, sondern meist auch die Verfolgung des weiteren Verlaufs derselben un- sicherer, da die Aufmerksamkeit eine gewisse Zeit braucht, um sich zu sammeln. Jeder Beobachtung liegt die Frage nach dem Wie der Erschei- nungen zu Grunde. Das Ziel der Beobachtung als solcher ist erreicht, wenn sich die Erscheinung in Bezug auf ihren Verlauf und auf die ihn begleitenden Umstände aufs genaueste beschreiben läßt. Das Ex- periment sucht nun zunächst, indem es den Eintritt der Erschei- nungen beherrscht, die Sicherheit der Beobachtung zu vergrößern; vor allem aber schreitet dasselbe, indem es die Bedingungen des Gesche- hens selber verändert, zu der Frage nach dem Warum der Erschei- nungen fort. Nur in seltenen Fällen, unter der Voraussetzung teils einer zureichenden Einfachheit der Vorgänge, teils einer in der Natur von selbst sich darbietenden Variation der Bedingungen, vermag die Beobachtung ohne die Hilfe des Experimentes dieser zweiten Frage näher zu treten. Die Astronomie bietet das hauptsächlichste Beispiel dieser Art dar. Aber auch sie würde wahrscheinlich niemals ihr deskrip- tives Stadium verlassen haben, wären ihr nicht die experimentellen Untersuchungen im Gebiete der irdischen Gravitation zu Hilfe gekommen. Die Keplerschen Gesetze, in denen alles enthalten ist, was die astro- nomische Beobachtung der Gravitationstheorie entgegenbrachte, be- sitzen einen rein beschreibenden Charakter. Das Mittel, durch welches das Experiment jener Frage nach dem Warum näher tritt, besteht in der Isolierung und Variierungder Umstände. Unter Experiment und Beobachtung. 359 ihnen ist es namentlich die erstere, die durch die bloße Beobachtung niemals erreicht werden kann; denn es ist ein kaum zu erwartender und darum nie mit der erforderlichen Regelmäßigkeit eintretender Zufall, daß zwei Ereignisse nur in einer unter den zahllosen Be- dingungen, die ihren Eintritt begleiten, verschieden sind. Anderseits führt die Isolierung der Umstände notwendig von der bloßen Be- schreibung der Tatsachen zu der kausalen Auffassung derselben. Denn sobald die isolierte Veränderung eines Umstandes regelmäßig be- stimmte Veränderungen in dem Ablauf der Ereignisse nach sich zieht, so sehen wir uns durch das logische Prinzip von Grund und Folge ge- nötigt, jener isolierten Veränderung einen kausalen Wert beizulegen. In Wahrheit ist jedoch nicht die kausale Betrachtung aus dem experi- mentellen Verfahren hervorgegangen, sondern sie hat umgekehrt mit Notwendigkeit zu jener willkürlichen Isolierung und Variierung der Umstände geführt, in denen das Wesen des Experimentes besteht. Die UmständeeinerErscheinung werden uns nun stets durch die Beobachtung gegeben. Sie bestehen aus allen den Tatsachen der Beobachtung, die den Eintritt und Verlauf der Erscheinung beglei- ten. Der Umstand unterscheidet sich hier von der Bedingung dadurch, daß die letztere in einer kausalen Beziehung zu der unter- suchten Erscheinung steht, während solches bei dem Umstande vor- läufig dahingestellt bleibt. Es ist gerade die Aufgabe des Experimentes, nachzuweisen, ob und inwiefern irgend ein das beobachtete Ereignis begleitender Umstand eine Bedingung desselben sei oder nicht. Indem die Umstände isoliert und variiert werden, erweisen sie sich zum Teil als gleichgültig, zum Teil als wesentlich für den Eintritt eines Ereig- nisses, und durch die weitere Anwendung jener Verfahrungsweisen wird dann die spezielle Beziehung ermittelt, in der die einzelnen Um- stände zu den verschiedenen Bestandteilen einer Erscheinung stehen. Dabei sind es die früher erörterten allgemeinen Regeln der induktiven Methode, welche dem Experimente den Weg zeigen. (Abschnitt I, S. 20 ff.) Eine gewisse Einschränkung erfährt die experimentelle Methode notwendig dadurch, daß ihr nur die Gegenstände unserer Umgebung unmittelbar zugänglich sind. Gleichwohl überschreitet sie gelegentlich diese Grenzen, indem sie, statt die untersuchten Erscheinungen selbst, andere, die ihnen ähnlich oder künstlich nachgebildet sind, willkür- lichen Einwirkungen aussetzt. So bildet man bei dem Plateauschen Ver- such die Bedingungen, unter denen mutmaßlich die Abplattungen der Planeten nebst dem Ringsystem des Saturn entstanden sind, künstlich 360 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. nach, indem man eine Ölkugel in einem Gemisch gleicher spezifischer Schwere durch Drehung einer Kurbel in schnelle Rotation versetzt*). G. Bischof zeigte durch Schmelzen einer Basaltkugel, deren Temperatur- verhältnisse er mehrere Stunden nach dem Gusse untersuchte, daß (das Gesetz, nach welchem die Temperatur des Erdinnern mit der Tiefe zunimmt, der Annahme eines dereinst feuerflüssigen Zustandes ent- spreche**). Durch spektroskopische Versuche mit bekannten irdischen Körpern sucht man über die physische Konstitution der Gestirne Auf- schluß zu gewinnen, oder durch chemische Versuche im kleinen unter Anwendung physikalischer Hilfsmittel, wie höherer Druck- und Tem- peraturgrade, die Bedingungen für die einstige Bildung gewisser Gesteine zu ermitteln***), u.s. w. Diese indirekten Experimente im Gebiet der Astrophysik und Geologie sind natürlich von umso größerem Werte, je mehr es gelingt, die Bedingungen des Versuchs denjenigen der wirk- lichen Erscheinungen ähnlich zu machen. Aber da dies niemals voll- ständig möglich ist, weil wir in unseren Laboratorien über die Massen und Kraftgrößen, die bei den zu erklärenden Erscheinungen vorkommen, nicht verfügen können, so sind die Ergebnisse immer bis zu einem gewissen Grade hypothetisch. Sie bleiben dies namentlich dann, wenn solche indirekte Versuche unmittelbar zur induktiven Erforschung gewisser Naturerscheinungen verwendet werden, wie z. B. bei der Untersuchung der physischen Konstitution der Gestirne oder der geologischen Bedingungen bei der Entstehung von Mineralien. Gün- stiger ist es, wenn das indirekte Experiment, im Dienste der Deduktion stehend, bloß zur Bestätigung von Ergebnissen dient, die aus anderwei- tigen Voraussetzungen abgeleitet sind, wie bei den Versuchen von Plateau und Bischof. Dagegen besitzt es in diesen Fällen insofern einen geringeren Wert, als die Sätze, die es bestätigt, häufig schon ohnehin eine zureichende Sicherheit besitzen, so daß es sich manchmal sogar, wie bei dem Plateauschen Experiment, mehr um eine sinnreiche Ver- anschaulichung als um einen wirklichen Beweis handelt. Infolge dieses geringen Wertes indirekter Experimente wird in allen den Gebieten, in denen sie vorkommen, eine ungleich größere Beteiligung der kom- parativen Methode erfordert als in den eigentlichen Experimental- gebieten. So sind insbesondere die Astrophysik, Geologie und Meteoro- logie zunächst vergleichende Beobachtungswissenschaften, die nur für *), Plateau, Poggendorffs Annalen, Ergänzungsband II, 1848, S. 249, **) Naumann, Lehrbuch der Geognosie, 2. Aufl., I, S. 54 £. ***) A. Daubre&e, Experimentalgeologie. Deutsche Ausgabe, S. 12 fi. ‚Experiment und Beobachtung. 361 gewisse Fundamentalfragen die experimentelle Methode in ihrer in- direkten Anwendung zur Ergänzung herbeiziehen. Zugleich gehört dabei stets das experimentelle Verfahren selbst anderen Gebieten, nämlich der Physik oder Chemie, an und wird daher in seiner Durch- führung von den hier gültigen Prinzipien geleitet; immerhin gewinnt es durch die besonderen Probleme jener vergleichenden Wissenscha’ten einen eigenartigen Charakter. Die isolierende Abstraktion, die in den grundlegenden Disziplinen vorwaltet, wird hier wieder aufgehoben, indem man untersucht, wie sich unter komplexen Bedingungen, di» von mehreren Naturkräften gleichzeitig abhängen, bestimmte Einzel- erscheinungen verhalten. Trotz der aushilfsweisen Anwendung der hierbei vorkommenden Experimente bilden diese übrigens einen charak- teristischen Bestandteil der oben genannten vergleichenden Wissen- schaften; denn sie legen ein sehr beredtes Zeugnis dafür ab, daß die Aufwerfung konkreter Kausalprobleme mit unwiderstehlicher Gewalt zur experimentellen Methode drängt, daher diese in solchen Fällen selbst da sich indirekte Anerkennung verschafft, wo ihrer unmittelbaren Verwendung unwiderstehliche Hindernisse im Wege stehen. b. Die vergleichende Methode. Jede Beobachtung, die darauf ausgeht, die Naturerscheinungen in ihrem Zusammenhange aufzufassen, bedarf der Vergleichung, der Verbindung des Ähnlichen und der Unterscheidung des Widerstreitenden, wie es überall schon den einfachen Methoden der Analyse und Syn- these, der Abstraktion und Determination zu Grunde liegt. In diesem Sinne ist die Vergleichung ein unerläßlicher Bestandteil auch des experimentellen Verfahrens. Dagegen reden wir von einer Anwendung der vergleichenden Methode nur da, wo die Vergleichung zum logischen Prinzip der Methode wird. Wie also der Schwerpunkt des Experiments in der willkürlichen Abänderung der Erscheinungen liegt, so besteht das Wesen des vergleichenden Verfahrens darin, daß die vergleichende Beobachtung, die Sammlung übereinstimmender Erscheinungen und die Abstufung der nicht übereinstimmenden nach den Graden ihres Unterschieds zur Gewinnung allgemeiner Ergebnisse benützt wird. Auf diese Weise angewandt ergänzt die vergleichende Methode die experimentelle in doppelter Hinsicht: erstens ist jene bei allen den Gegenständen anwendbar, welche dieser unzugänglich sind; und zweitens dient überall da, wo eine Verbindung beider möglich ist, die vergleichende Beobachtung zur Ausfüllung der Lücken des experi- 362 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. mentellen Verfahrens. Beide erschöpfen aber zugleich die allgemeinen Formen naturwissenschaftlicher Methodik. Willkürliche Veränderung der Erscheinungen und vergleichende Beobachtung derselben unter den Verhältnissen, in denen sie unmittelbar uns gegeben sind, bilden zu- sammen die einzig möglichen Hilfsmittel einer wissenschaftlichen Bearbeitung der Natur. Da die experimentelle Methode in ungleich höherem Grade geeignet ist, die kausalen Bedingungen der Erscheinungen zu erforschen, so steht sie überall, wo sie überhaupt anwendbar ist, in erster Linie. Ihr aber tritt die vergleichende Methode in doppelter Weise ergänzend zur Seite: erstens, indem sie die Probleme für die experimentelle Behand- lung vorbereitet, durch die Sammlung einer genügenden Anzahl zu- sammengehöriger exakter Beobachtungen; und zweitens, indem sie die experimentellen Resultate ergänzt durch die Anwendung derselben auf eine große Anzahl einzelner der Beobachtung gegebener Erschei- nungen. So hat die Astronomie von ihren frühesten Anfängen an bis auf Kepler die vergleichende Methode in bloß vorbereitender Weise benützt. Noch die Keplerschen Gesetze, mit denen diese Periode ab- schließt, bestehen nur in Verallgemeinerungen der durch die Verglei- chung erzielten Ergebnisse. Das zweite Stadium beginnt mit Newtons Gravitationstheorie, die eine kausale Interpretation der Keplerschen Gesetze an der Hand der Fallversuche Galileis gibt. Seitdem dient die vergleichende Methode zur Vervollständigung und feineren Ausarbei- tung der auf die Gravitationstheorie gegründeten Mechanik des Himmels. Die Astronomie bildet zugleich für diese letztere Form der Anwendung ein besonders günstiges Beispiel, weil sie die einzige Wissenschaft ist, in welcher, obgleich sie ein direktes Experiment nicht zuläßt, dennoch die Resultate der Vergleichung einen experimentellen Wert gewinnen. Diese günstige Lage verdankt die Astronomie zwei Umständen: der relativ großen Einfachheit der Erscheinungen und der Existenz des Mondes. Wäre unserer Erde nicht dieser fortwährend gegen sie fallende Trabant beigegeben, der sich unmittelbar mit den zu irdischen Fall- versuchen verwendeten Körpern vergleichen läßt, so würde die Gravi- tationstheorie für immer eine unverifizierbare Hypothese geblieben sein. In der Tat fehlt in den meisten andern Fällen, wo die Wissen- schaft auf die vergleichende Methode angewiesen ist, diese unmittelbare Bestätigung; doch kann auch dann bald mittels der Anwendung be- kannter physikalischer Tatsachen, bald durch indirekte Experimente, bald auch durch die bloße Verwertung der Vergleichungsresultate zur Hypothesenbildung eine theoretische Anschauung gewonnen werden, Experiment und Beobachtung. 363 die einen ähnlichen Umschwung in der Benützung der komparativen Methode herbeiführt. So ist Dove zu seinem Drehungsgesetz der Winde zunächst bloß durch statistische Beobachtungen geführt worden; er hat es dann aber durch die rein theoretische Erwägung der Wechsel- wirkungen der Erdrotation mit den durch Temperaturdifferenzen ver- ursachten Luftströmungen in ein meteorologisches Gesetz umge- wandelt, welches nun wieder umgekehrt die Beurteilung der Wind- beobachtungen leitet. So ist ferner Kirchhoff bei seiner Theorie des Sonnenspektrums von den seit Fraunhofer vielfach ausgeführten Beobachtungen über die dunkeln Linien ausgegangen, mit denen er experimentelle Untersuchungen über die Spektra irdischer Elemente verband; hierauf ist aber die vergleichende Beobachtung des Sonnen- spektrums wiederum von dieser Theorie geleitet worden. Dagegen hat Darwins Theorie der organischen Entwicklung auf keinerlei all- gemeingültige Gesetze oder indirekte Experimente von entscheidender Bedeutung sich stützen können, sondern sie war genötigt, ausschließlich auf die Resultate der komparativen Methode selbst eine Hypothese zu bauen, die sie dann den weiteren vergleichenden Untersuchungen zu Grunde legte. Deshalb ist nun aber auch die so entstandene Theorie selbstverständlich dem Angriffe ausgesetzt, und es fehlt namentlich an den geeigneten Hilfsmitteln zur Bestätigung und Widerlegung der speziellen Voraussetzungen, die in sie eingehen. Unter solchen Um- ständen ist es begreiflich, wenn manche Forscher es vorziehen, vor- läufig überhaupt auf eine theoretische Verwertung der durch die Ver- gleichung festgestellten Tatsachen zu verzichten. Es entsteht s> eine rein beschreibende Form der Wissenschaft, wie sie überall der Erklärung vorangeht, namentlich aber auf solchen Gebieten längere Zeit bestehen bleibt, denen die Hilfe des Experimentes gänzlich ver- sagt ist. In beiden oben geschilderten Stadien der vergleichenden Methode, die durch das Auftreten einer bestimmten, meist auf experimentellem Wege vermittelten theoretischen Anschauung sich scheiden, ist zwar die Verwertung der Ergebnisse eine abweichende; der logische Charakter der Methode selbst bleibt aber der nämliche. Er besteht im allgemeinen überall in der schon hervorgehobenen Sammlung übereinstimmen- der Erscheinungen und in der Abstufung der nicht übereinstimmenden nach den Graden ihres Unterschieds. In dieser Beziehung stimmen die Vorschriften, die Bacon in seinem neuen Organon für die naturwissen- schaftliche Forschung überhaupt aufstellt, am meisten mit dem Bild der vergleichenden Methode überein. Denn die Tatsache, daß 364 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. jede Vergleichung aus der Verbindung des Übereinstimmenden und der Trennung des Verschiedenen besteht, findet in Bacons Tafeln der posi- tiven und negativen Instanzen ihren Ausdruck. Freilich aber wird die Vergleichung von vornherein allzusehr von bestimmten allgemeinen, durch vorangegangene Analyse und Abstraktion entstandenen Gesichts- punkten geleitet, als daß übereinstimmende und unterscheidende Beobachtungen in der Baconischen Weise systematisch sich trennen ließen; und die weiteren Vorschriften, die Bacon in seinen Tafeln der Grade und prärogativen Instanzen zusammenstellt, enthalten ein buntes Gemisch von Gesichtspunkten, die teils unter die komparative, teils unter die experimentelle Methode gehören. Vollends verschoben wurde das Verhältnis dieser beiden Methoden durch diejenigen neueren Logiker, die nach Baconischem Vorbild Regeln des experimentellen Verfahrens aufzustellen suchten und dazu nun vorzugsweise die Instanzen der Übereinstimmung und Unterscheidung benützten. Es konnte nicht fehlen, daß darüber die charakteristischen Eigentümlichkeiten des experimentellen Verfahrens, wie sie besonders in der physikalischen In- duktion zur Ausbildung gelangt sind, völlig verloren gingen. (Vgl. unten Abschn. IV, Kap.I.) Aber auch die komparative Methode wird durch die Baconischen Regeln in unzureichender Weise bestimmt. Weit be- deutsamere Anwendungsformen als in der Übereinstimmung und Unter- scheidung, die überall sich begleitende Denkakte und eben darum nicht besondere Methoden sind, begegnen uns hier in den Formen der individuellen und der gen’erischen Vergleichung. Beide schließen sich zum Teil an die Arten der Abstraktion, die isolierende und die generalisierende, an, und beide stehen zueinander in einem ähn- lichen Verhältnis wie diese: die individuelle muß überall der generischen Vergleichung vorausgehen, aber sie besitzt außerdem eine selbständige Bedeutung. Die individuelle Vergleichung sammelt nämlich die Beobachtungen, die irgend ein einzelner Gegenstand oder eine einzelne Naturerscheinung in Bezug auf sämtliche koexistierende Bestandteile und einander folgende Zustände darbietet, um so ein vollständiges Gesamtbild des Beobachtungsobjektes zu gewinnen. Analyse und Synthese, Isolation und Kolligation kommen hierbei als logische Hilfs- methoden zur Anwendung. Die generische Vergleichung dagegen verwertet Beobachtungen, die von verschiedenen, jedoch zusammengehörigen Gegenständen oder Erscheinungen gewonnen sind, und ordnet dieselben nach den miteinander verwandten Erscheinungs- gebieten. Ihr Zweck ist, auf diesem Wege ein vollständiges Bild der Experiment und Beobachtung. 365 mannigfachen Gestaltungen zu gewinnen, in denen eine Teilerscheinung oder ein einzelnes Merkmal eines Objektes auftreten kann, und von den begleitenden Umständen Rechenschaft zu geben, unter denen solche Variationen vorkommen. Neben der Analyse und Synthese, der Isolation und Kolligation werden hier noch die Generalisation und Spezifikation als elementare Methoden herbeigezogen; und häufiger als bei der in- dividuellen Vergleichung befähigt die Prüfung der Beobachtungen zur Ausführung mehr oder minder umfassender Induktionen. Demnach dient die individuelle Vergleichung mehr der reinen Beschreibung, und sie gehört dem vorbereitenden Stadium der Untersuchung an; die ge- nerische Vergleichung kann zwar ebenfalls noch auf dem deskriptiven Standpunkt verbleiben, es liegt aber in ihr stets die Tendenz, denselben zu überschreiten und zum Versuch einer kausalen Erklärung der Er- scheinungen zu gelangen, worauf dann in der Anwendung der kompara- tiven Methode der oben (S. 362f.) bezeichnete Wendepunkt eintritt. Infolge dieser Beziehung der beiden Formen der Vergleichung zu den logischen Funktionen der Beschreibung und Erklärung bilden nun aber beide nicht bloß aufeinanderfolgende Stadien einer und der- selben Methode, sondern es kann auch zu bestimmten wissenschaftlichen Zwecken die eine oder die andere bevorzugt werden, ohne daß dabei freilich jemals eine vollständige Trennung durchführbar ist. Es sind besonders die sogenannten deskriptiven oder systematischen Natur- wissenschaften, in denen die individuelle Vergleichung überwiegt, während die generische bloß insoweit herbeigezogen wird, als es zu den Zwecken der Klassifikation erforderlich ist. Dennoch zeigt es sich gerade hier, daß die bloße Beschreibung das wissenschaftliche Bedürfnis nicht auf die Dauer befriedigt. Im Zusammenhange mit derfrüher (Abschnitt 1, S. 47 fi.) geschilderten Entwicklung der Systematik, die an die Stelle der deskriptiven genetische Klassifikationen treten ließ, sind daher neben den auf dem Boden der individuellen Vergleichung stehenden Wissenschaftsgebieten andere entstanden, in denen die generische Ver- gleichung vorherrscht. So haben sich neben der Zoologie und Zootomie die vergleichende Anatomie, neben der Botanik die allgemeine Mor- phologie der Pflanzen, neben der Mineralogie die Geognosie erhoben. Das jüngere Alter der an zweiter Stelle genannten Disziplinen zeigt hier, wie selbst in der allgemeinen Entwicklung der Wissenschaft die ge- nerische der individuellen Vergleichung nachfolgt. Zugleich ist aber überall zu bemerken, daß es sich immer nur um ein Übergewicht der einen oder andern Methode handeln kann, da beide auf das innigste ineinander eingreifen. So sucht die Zootomie von jeder Gattung oder 366 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Familie des Tierreichs ein vollständiges anatomisches Bild zu gewinnen, und sie beschränkt sich zu diesem Zweck nicht selten auf die Auswahl einer oder mehrerer charakteristischer Spezies, an denen sie die Unter- suchung ausführt. Die vergleichende Anatomie dagegen verfolgt eine und dieselbe Organgruppe womöglich durch das ganze Tierreich oder mindestens durch eine größere Anzahl verwandter Tierklassen, um die verschiedenen Entwicklungsformen derselben nachzuweisen. Dort waltet also die individuelle, hier die generische Methode vor. Aber der Zootom kann offenbar bei der Anordnung der von ihm untersuchten Formen ebensowenig der letzteren wie der vergleichende Anatom bei der Einzeluntersuchung, der er das Material für seine allgemeineren Vergleichungen entnimmt, der ersteren entbehren. Alles dies weist darauf hin, daß auch die Zwecke dieser Wissenschaften, die Beschreibung der Naturobjekte und die Erklärung ihrer Entstehung, höchstens vor- übergehend zu sondern sind. 3. Naturbeschreibung und Naturerklärung. Beschreibung und Erklärung sind zwei Funktionen, die in keiner naturwissenschaftlichen Untersuchung und Darstellung entbehrt werden können. Es ließe sich ihnen, der dritten Grundform des Urteils entsprechend, auch die Erzählung noch anschließen (Bd. I, S. 172). Aber die in der Zeit verlaufenden Naturereignisse fordern, sobald sie sich unserer eigenen Beobachtung darbieten, un- mittelbar eine kausale Erklärung heraus; gehören sie dagegen einer entfernten Vergangenheit an, so läßt sich auf sie nur aus einer Reihe von Momenten zurückschließen, die zunächst durch die Beschreibung festgehalten werden müssen. Mit Rücksicht auf diese letztere Ver- bindung sind daher lange Zeit die Namen Naturgeschichte und Natur- beschreibung in fast übereinstimmender Bedeutung gebraucht und der Naturerklärung gegenübergestellt worden. Ohne Zweifel wird nun auch diese Scheidung eine gewisse praktische Bedeutung bewahren, da es fortan Gebiete der Natur- wissenschaft geben wird, in denen, wie z. B. in der Geographie, in der systematischen Mineralogie, Botanik und Zoologie, die Funktion der Beschreibung vorherrscht. Aber als eine prinzipielle Trennung ist sie nicht aufrecht zu erhalten. Jede Naturwissenschaft hat schließlich die Aufgabe der Erklärung, und keine kann hierbei der Hilfe der Be- schreibung entbehren. Teils dient diese als Vorbereitung für die kausale Interpretation der Erscheinungen, teils sucht sie auf Grund einer Naturbeschreibung und Naturerklärung. 367 solchen die Erkenntnis‘ der einzelnen Naturobjekte zu vermitteln. In diesem Sinne bestehen insbesondere die systematischen Naturwissen- schaften, sobald sie die Stufe der genetischen Klassifikation erreicht haben, lediglich in Anwendungen der ihnen entsprechenden erklärenden Zweige der Naturlehre auf die Einzelerscheinungen, und sie suchen aus diesen das Material zu vervollständigen, mittels dessen eine Ein- sicht in die Entstehung der Objekte ermöglicht wird. Treffend weist der Name „Naturgeschichte“ auf diese Aufgabe der systematischen Naturwissenschaften hin: sie sollen nicht bloß über die Fülle der Natur- gegenstände einen Überblick verschaffen, sondern über deren Ent- stehungs- und Entwicklungsbedingungen Rechenschaft geben, und die Prinzipien der Systematik sollen daher zugleich Erklärungsgründe der Objekte selbst sein. Im Gegensatze zu diesem in der Geschichte hervorgetretenen Streben, die Naturbeschreibung der Naturerklärung dienstbar zu machen, hat nun eine oben (S. 299 ff.) bereits gekennzeichnete Richtung der neueren Naturforschung umgekehrt geglaubt, eine einheitliche Auffassung der wissenschaftlichen Aufgaben dadurch herbeiführen zu können, daß sie diese überall auf de exakte Beschreib ung der Erscheirungen beschränkte. Schon der Mechanik wurde so die Aufgabe gestellt, „die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben“*). Trotzdem beginnt diese Darstellung der Mechanik selbst nicht bloß mit dem mathematischen Punkt, der nirgends in der Natur vorkommt, sondern sie zerlegt auch sofort die Geschwindigkeit in drei Komponenten nach den Richtungen des Raumes und führt den Begriff der bewegenden Kraft ein; sie operiert also, statt die Erscheinungen zu beschreiben, mit Abstraktionen und Konstruktionen, und sie vermeidet nicht einmal den logischen Hilfsbegriff der Naturerklärung, der einer rein deskriptiven Auffassung der Dinge völlig fremd bleibt, den Kraftbegrifi. Hier, wie in anderen Fällen, ist die skeptische Tendenz aus einer dunkeln Furcht vor metaphysischen Gespenstern entsprungen. Man meint, die Naturerklärung wolle irgend etwas Unsagbares, was in keiner Er- fahrung entdeckt werden könne, entschleiern; und in Wahrheit be- zweckt sie doch nichts anderes, als die regelmäßigen Relationen fest- zustellen, die zwischen den Erscheinungen stattfinden, und zu deren Ausdruck sich der Kausalbegriff als das einfachste Hilfsmittel bietet. Nun läßt sich natürlich jede Relation von Erscheinungen auch in die *, Kirchhoff, Mechanik, 1876, S. 1. 368 Die allgemeinen Prinzipien und Methoden der Naturforschung. Form einer Beschreibung bringen, wenn man dieser die Bemerkung beifügt, daß die beschriebene Relation eine ausnahmslos gültige sei. Aber dieser Zusatz selbst ist eben keine bloße Beschreibung mehr, und das Wort Naturerklärung soll gar nichts anderes ausdrücken als die Feststellung der regelmäßigen Beziehungen, welche sich durch die experimentelle und vergleichende Untersuchung zwischen den Objekten der Beschreibung ergeben. Da nun auf dem Streben, die gegebenen Tatsachen nach ihren wechselseitigen Beziehungen in einen logischen Zusammenhang zu bringen, alle Wissenschaft beruht, so ist auch die Naturwissenschaft nur insoweit eigentliche Wissenschaft, als sie bestrebt ist, Naturerklärung zu sein. Dieser Aufgabe kommt die Naturwissenschaft nach, indem sie die Hilfsmittel der Analyse und Synthese, der Induktion und De- duktion in den besonderen Modifikationen anwendet, die durch den Charakter der Erscheinungen in den Hauptgebieten der Naturforschung gefordert werden. In dieser Beziehung sondern sich namentlich drei Gebiete voneinander: de Physik, Chemie und Biologie. Die logische Methodenlehre kann sich auf die Betrachtung der Me- thoden, Hilfsmittel und leitenden Prinzipien dieser drei Fundamental- wissenschaften beschränken, da in den spezielleren Teilen der Natur- erklärung keine wesentlich neuen Gesichtspunkte zur Geltung kommen. Hinsichtlich der systematischen Prinzipien der Naturforschung aber darf hier auf die allgemeine Erörterung der Formen der systematischen Darstellung verwiesen werden. Vierter Abschnitt. Die Hauptgebiete der Naturforschung. Erstes Kapitel. Die Logik der Physik. 1. Die physikalischen Methoden. a. Die Analyse der Naturerscheinungen. Die physikalische Untersuchung entspringt überall aus der Wahr- nehmung bestimmter Naturerscheinungen. Sobald diese in ihrer eigenen Beschaffenheit oder in ihrem Zusammenhang mit anderen Beobachtungen Eigenschaften darbieten, die zu irgend einer Frage- stellung Anlaß geben, so ist damit auch der erste Antrieb zu einer Zergliederung gegeben, welche die Absicht verfolgt, die zusammen- gesetzte Erscheinung auf ihre einfachen Bestandteile zurückzuführen. Diesen allgemeinen Ausgangspunkten der physikalischen Forschung entsprechend können die nächsten Anlässe derselben doppelter Art sein. Entweder wird sie durch zufällige Wahrnehmungen oder durch Resultate, die verwandten Erfahrungen entnommen sind, angeregt und zugleich in ihrer Richtung bestimmt. Im ersten Fall pflegt auch die Untersuchung zunächst den Charakter des Zufälligen an sich zu tragen; sie wird, ehe sie selbst bereits zu Resultaten geführt hat, mehr durch ein instinktives Taktgefühl als durch einen festen Plan ge- leitet. Im zweiten Fall ist dieser Plan, in seinen allgemeinsten Zügen wenigstens, durch die anderwärts gewonnenen Ergebnisse vorgezeichnet, und er ist darum auch umso bestimmter, je nähere Beziehungen die sich beeinflussenden Untersuchungsgebiete zueinander besitzen. Im Beginn der wissenschaftlichen Entwicklung ist natürlich die erste Entstehungsweise der Probleme vorherrschend. Mit der Ausbildung der physikalischen Forschung nehmen die Motive der zweiten Art immer mehr zu; doch hören jene zufälligen Anlässe niemals ganz auf: wo sie nicht mehr völlig neue Untersuchungsgebiete eröffnen, da Wundt, Logik. IL. 3. Aufl. 24 370 Die Hauptgebiete der Naturforschung. lassen sie wenigstens neue Gesichtspunkte und Methoden entstehen. Die durch den Luftzug bewegten Kronleuchter im Dom zu Pisa ver- anlaßten, wie man erzählt, Galilei zuerst, über die Gesetze der Bewegung nachzudenken. Die Beobachtung, daß ein starker und ein schwacher Schall in der nämlichen Zeit in der Entfernung zu hören waren, brachte Gassendi auf den Gedanken, die Fortpflanzungs- geschwindigkeit des Schalls in der Luft zu messen. Auf das Phänomen der Beugung des Lichtes wurde Grimaldi durch die Wahrnehmung der Ausdehnung des Schattens und seiner farbigen Säume aufmerk- sam gemacht*). Zuweilen ist es auch nur eine spezielle Problemstellung, die auf solche Weise angeregt wird. So berichten die Gebrüder Weber, daß ihre Untersuchungen über Wellenbewegung infolge einer Beobach- tung geplant wurden, die einer von ihnen machte, als er durch einen Papiertrichter Quecksilber goß und dabei die verwickelte, aber regel- mäßige Figur bemerkte, die der auslaufende Strahl auf der Quecksilber- oberfläche verursachte**). Als Röntgen die bei der elektrischen Entladung in luftverdünnten Glasröhren von der Kathode ausgehenden und ins Freie geleiteten Strahlen zufällig bei ihrem Zusammentreffen mit undurchsichtigen Körpern beobachtete, entdeckte er die nach ihm genannte neue Gattung von Strahlen***). In einen gewissen Gegensatz zu diesen durch die nicht beabsich- tigte Wahrnehmung entstandenen Ausgangspunkten der Untersuchung treten nun jene Fälle, wo die Tatsachen erst aufgesucht werden, an welche die weitere Analyse anknüpfen soll, und wo daher zur Vermutung derselben irgend eine Voraussetzung geführt hat, die sich auf bereits gewonnene Resultate stützt. Dabei können freilich Voraussetzung wie Vermutung die verschiedensten Grade der Klarheit und Bestimmt- heit besitzen, so daß in manchen Fällen kaum ein Unterschied von der zufälligen Entdeckung zu bestehen scheint, während in anderen eine präzise Voraussage von vornherein den Gang der Untersuchung regelt. So hat man häufig Oersteds Entdeckung der Wirkung des galvanischen Stromes auf die Magnetnadel als eine zufällige bezeichnet. Dennoch hat Oersted selbst gegen diese Behauptung protestiert, und gewiß mit Recht, obgleich die ihn leitenden naturphilosophischen Ideen sehr vager Natur waren, und daher das Gelingen des Versuchs immer- hin der Gunst des Zufalls bedurfte. Denn je unbestimmter eine *) Fischer, Geschichte der Physik, I, S. 41 u. 471; II, S. 103. **) Weber, Wellenlehre. 1825. Vorrede S. VI ***) H.C. Röntgen, Die X-Strahlen, 1896. Die physikalischen Methoden. 371 Vermutung ist, umso leichter wird natürlich die Aufsuchung der ver- muteten Tatsache zu einem unsicheren Umhertasten, welches dann in umso höherem Maße Geduld und Ausdauer von seiten des Beobach- ters erfordert. In dieser Beziehung ist Faraday ein hervorragendes Beispiel glücklicher Begabung. Keine seiner Entdeckungen verdankt ihren Ursprung dem blinden Zufall. Aber die Voraussetzungen, von denen er ausging, waren meist sehr allgemeiner Art, und er gelangte daher oft erst nach manchen Mißerfolgen zu einem günstigen Ergebnis. Seine Entdeckung der magnetoelektrischen Erscheinungen wurde durch den allgemeinen Gedanken geleitet, daß jeder Wirkung eine Gegen- wirkung entsprechen müsse. Da der Nachweis erbracht war, daß der elektrische Strom die Fähigkeit besitzt, Eisen und andere des Magnetis- mus fähige Körper zu magnetisieren, so schloß er, daß umgekehrt auch der Magnet die Eigenschaft besitzen werde, einen elektrischen Strom zu erregen, eine Vermutung, die das Experiment vollkommen be- stätigte. Noch unbestimmter war der Anlaß, dem er die Entdeckung der Wirkung des Magnetismus und galvanischer Ströme auf das po- larisiert> Licht verdankte. Da ihm die Versuche über elektrische Induktion die Annahme wahrscheinlich machten, daß die elektrische und magnetische Fernwirkung, ähnlich der des Schalls und des Lichtes, auf der Fortpflanzung durch ein Medium beruhe, so vermutete er, daß Elektrizität und Magnetismus von Einfluß auf die Lichtbewegung sein würden. Erst als seine Versuche, das gewöhnliche Licht durch einen starken Elektromagnet zu verändern, erfolglos geblieben, nahm er polarisiertes Licht zu Hilfe, das er durch eine Flüssigkeit leitete, und so entdeckte er die magnetische Drehung der Polarisationsebene. Weit planmäßiger kann natürlich von Anfang an die Unter- suchung verfahren, wenn aus irgendwelchen Gründen sogleich eine präzise Fragestellung möglich ist, die den Beobachtungen ihre Richtung anweist. Nachdem man längst die Schwingungsknoten tönender Saiten beobachtet und außerdem bemerkt hatte, daß die Bewegungen leichter Körperchen auf schwingenden gespannten Mem- branen an verschiedenen Stellen mit sehr verschiedener Energie er- folgen, konnte die Entstehung der von Chladni entdeckten Klang- figuren im allgemeinen mit Sicherheit vorausgesagt werden, wenn auch die einzelnen Formen und Bedingungen dieser Erscheinung erst durch den Versuch festzustellen waren. Nicht minder war den Ver- suchen Mellonis über die Reflexion, Brechung und Beugung der Wärmestrahlen der Weg vorgezeichnet, da die Probleme durch die entsprechenden Gesetze der Fortpflanzung des Lichtes in vollkommen 372 Die Hauptgebiete der Naturforschung. bestimmter Weise gegeben waren, so daß die Aufgabe hauptsächlich in der Erfindung der Apparate und Methoden bestand, mit deren Hilfe die Erscheinungen nachgewiesen und gemessen werden konnten. Wie in den zwei letzten Beispielen von gewissen Erfahrungen aus andere Erfahrungen, die mit jenen in naher Beziehung stehen, vorausgesagt wurden, so können sich aber auch aus rein theoretischen Betrachtungen Folgerungen ergeben, die auf noch unbekannte Tat- sachen hinweisen, deren Bestätigung dann Aufgabe der Untersuchung wird. So folgerte W. R. Hamilton aus den Voraussetzungen der Un- dulationstheorie des Lichtes die Tatsache der konischen Refraktion durch zweiachsige Kristalle, und Lloyd gelang es hierauf, die ent- sprechenden Erscheinungen am Arragonit experimentell aufzufinden*). Ohm hatte sein Grundgesetz der galvanıschen Kette, wonach die Intensität des Stromes der durch die Verschiedenheit der Metalle be- stimmten elektromotorischen Kraft direkt und dem Strömungswider- stand umgekehrt proportional ist, zunächst als eine Hypothese auf- gestellt. Diese Hypothese gab aber exakte Gesichtspunkte für die Untersuchung der Gesetze des Stromes an die Hand, eine Untersuchung, die zur Bestätigung des Ohmschen Gesetzes, zugleich aber zu einer genaueren Bestimmung der Begriffe von elektromotorischer Kraft und Widerstand geführt hat**). Eines der glänzendsten Beispiele dieser Art ist endlich Clerk Maxwells elektromagnetische Lichttheorie. Von den Beziehungen geleitet, die Faraday bereits zwischen Licht und Elektrizität gefunden, entwickelte Maxwell mathematische Formeln, in denen die Bewegung der Elektrizität als eine Wellenbewegung dargestellt war, deren Fortpflanzungsgeschwindigkeit derjenigen der Lichtwellen gleichkomme. Entsprachen diese Formeln der Wirklich- keit, so mußte die Elektrizität, gleich dem Lichte, die Erscheinungen der Reflexion, Interferenz, Brechung und Polarisation darbieten. Indem nun H. Hertz nachwies, daß diese Voraussetzung zutrifft, und indem er fand, daß die aus den Interferenzversuchen berechnete Fortpflanzungs- geschwindigkeit der elektrischen Wellen derjenigen der Lichtwellen hinreichend nahekommt, bestätigte er Maxwells Theorie***). Wo die Untersuchung, wie in den zuletzt angeführten Bei- spielen, von der Folgerung aus anderen Erfahrungen oder von be- *) Poggendorffs Ann. Bd. 28, $. 91. **) Fechner, Maßbestimmungen über die galvanische Kette. 1831. ***) Clerk Maxwell, A Treatise on Electricity and Magnetism. 1873. H. Hertz, Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft. Wiedemanns Ann. Bd. 31—4l, 1892. (Ges. Werke, Bd. 2.) Die physikalischen Methoden. 373 stimmten theoretischen Ergebnissen ausgeht, da ist von selbst auch die Fragestellung gegeben, die zur Aufsuchung der geeigneten Methode überführt. Wenn dagegen irgend eine zufällige Wahrnehmung oder eine unbestimmte Vermutung die erste Anregung bietet, so sind stets verschiedene Fragestellungen möglich. Denn jede Naturerscheinung ist zunächst vieldeutiger Art. Sie tritt uns als Glied eines verwickelten Kausalzusammenhanges entgegen. Ob die Umstände, die sie be- gleiten, kausale Bedingungen sind, und wie diese Bedingungen unter- einander zusammenhängen, zur Entscheidung dieser Fragen bedarf es vor allem der planmäßigen Analyse der Erseheinungen. Die einzelnen Fragen, deren Beantwortung diese Analyse vermitteln soll, können nun teils vor dem Beginn der Untersuchung entwickelt werden, teils kommen sie erst während ihres Verlaufs dem Beobachter zum Bewußtsein. Nach der Natur der aufeinander folgenden Frage- stellungen zerfällt aber die ganze Untersuchung wieder inzwei Stadien. Eine erste Reihe von Fragen bezieht sich auf die allgemeinen Bedingungen der beobachteten Erscheinung, eine zweite auf die spezielleren Eigenschaften und kausalen Bezie- hungen derselben. Das erste Stadium können wir als das der Vor- untersuchung, das zweite als das der eigentlichen Untersuchung bezeichnen. Die Beschaffenheit der Aufgaben bringt es mit sich, daß die Voruntersuchung vorzugsweise quali- tativer Art ist, während in die eigentliche Untersuchung quanti- tative Bestimmungen eingehen; doch ist dieses Kriterium nicht ent- scheidend, da auch schon in der Voruntersuchung zur Beantwortung einzelner Fragen Messungen erforderlich sein können. Aus den Re- sultaten der Voruntersuchung gewinnt die eigentliche Untersuchung die Gesichtspunkte für ihre Fragestellungen und für die Methoden und Hilfsmittel, deren sie sich zur Lösung der Probleme bedienen muß. Die praktische Vorprüfung dieser Methoden und Hilfsmittel pflegt daher ebenfalls noch, und meistens sogar vorzugsweise, der Voruntersuchung zugerechnet zu werden, obgleich sie schon den Übergang zur definitiven Untersuchung bildet. Beide Stadien unterscheiden sich übrigens sehr augenfällig durch die Art der in ihnen herrschenden Fragestellungen. Auf die Fragen der Voruntersuchung wird ein Ja oder Nein als Antwort erwartet. Indem sie eine Reihe möglicher Bedingungen A, B, C..., welche bei einer Erscheinung X wirksam gedacht werden können, durchgeht, zerfällt sie in ebenso viele Einzeluntersuchungen, als solche Bedingungen in Erwägung gezogen werden. Fällt die Antwort ver- neinend aus, so hat die Voruntersuchung ohne weiteres zu einer ferneren 374 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Frage überzugehen. Ist sie bejahend, so bildet das Resultat einen Ausgangspunkt für die definitive Untersuchung. Diese kann nun, anknüpfend an die positiven Ergebnisse der Voruntersuchung, zunächst bestätigende Tatsachen aufsuchen, die jene Ergebnisse völlig sichern sollen. Hier bleibt das Verfahren noch ein ähnliches; der Unterschied besteht nur darin, daß jede Frage schon von einer bestimmten An- schauung über die Natur der beobachteten Erscheinung geleitet, und daß daher eine bestimmte Antwort im voraus erwartet wird. Nach dieser Verifikation der Ergebnisse der Voruntersuchung, die den Beginn der eigentlichen Untersuchung bildet, wendet sich die letztere ihrer wichtigsten Aufgabe zu: der Ermittlung derquanti- tativen Eigenschaften der Erscheinungen. Während bis dahin das experimentelle Verfahren wesentlich in einer Variation der äußeren Umstände bestanden hatte, betätigt es sich nunmehr in der genauen Messung der einzelnen Elemente der Erscheinungen unter den für ihre Herbeiführung günstigsten Bedingungen. Die Art der Fragestellung ist in diesem abschließenden Teil der Analyse eine völlig andere. Sie geht nicht mehr auf ein Ja oder Nein, sondern auf die besondere Art oder den Grad der unter den gegebenen Bedingungen eintretenden Veränderungen. Die Antwort selbst ist daher stets eine bejahende, aber sie enthält zugleich die näheren qualitativen oder quantita- tiven Verhältnisse, auf deren Ermittlung die Untersuchung gerichtet war. Sind auf diese Weise alle wesentlichen Fragen erledigt, die sich auf die Beschaffenheit einer beobachteten Erscheinung beziehen, so werden dann in der Regel die Resultate unmittelbar oder in Ver- bindung mit den Ergebnissen anderer Analysen zur Ableitung eines allgemeinen Gesetzes verwertet, das die Erscheinung als speziellen Fall in sich enthält. Hiermit tritt die Analyse in den Dienst der physikalischen Induktion. Ehe jedoch diese beginnt, pflegt das gewonnene Ergebnis durch eine Umkehrung des Unter- suchungsweges einer nochmaligen Prüfung und Vervollständigung unterworfen zu werden, wenn nicht etwa dieses umgekehrte oder synthetische Verfahren schon gelegentlich in die Analyse der Erschei- nungen eingegriffen hat. Bevor wir hierzu übergehen, sei der hier dargestellte Gang der analytischen Untersuchung an einem möglichst vollständigen Beispiele erläutert. Ich wähle hierzu Newtons Unter- suchung der Farbenzerstreuung des Lichtes bei der Brechung im Prisma. Newton selbst hat zwar in der späteren Ausführung seiner Optik infolge seiner Vorliebe für die synthetische Darstellung den wirklichen Gang der Analyse verdeckt; dieser läßt sich aber mit Hilfe der voran- Die physikalischen Methoden. 375 gegangenen einzelnen Arbeiten über den Gegenstand unschwer wieder- herstellen*). Wenn bemerkt worden ist, die Optik sei das schwächste Produkt des Newtonschen Geistes**), so mag diesem Ausspruch hinsichtlich des bleibenden Erfolgs der Theorien eine gewisse Wahrheit zukommen; für die experimentelle Analyse verwickelter Erscheinungen aber ist sie noch heute ein mustergültiges Beispiel. Die Entdeckung der Farbenzerstreuung hat aus einer zufälligen Wahrnehmung ihren Ursprung genommen. Das Farbenspiel eines dreiseitigen gläsernen Prismas beobachtend, geriet Newton auf den Gedanken, dieses vor die Öffnung eines Fensterladens zu halten, durch welchen das Sonnenlicht fiel. Zu seiner Überraschung bemerkte er, daß die an der gegenüberliegenden Wand des verdunkelten Zimmers erscheinenden Farben nicht ein der Gestalt der Ladenöffnung ent- sprechendes kreisrundes, sondern ein längliches Bild mit geraden Seiten- linien darboten. Er vermutete zunächst, Unterschiede in der Dicke oder in der Gestalt des Glases möchten die Erscheinung veranlassen; er ließ daher das Licht durch verschiedene Stellen des Glases fallen, veränderte die Größe der Ladenöffnung, brachte das Prisma außerhalb statt innerhalb derselben an, ohne daß sich jedoch die Erscheinung veränderte. Nunmehr legte er sich die Frage vor, ob Unregelmäßig- keiten in der Struktur des Glases die Ursache der Lichtzerstreuung sein könnten. Demgemäß stellte er dicht hinter dem ersten Prisma ein zweites ihm völlig gleiches auf, dem aber eine entgegengesetzte Lage gegeben war. Er schloß, die regelmäßigen Wirkungen der Pris- men würden auf diese Weise sich aufheben, während irgendwelche irreguläre Wirkungen nicht aufgehoben, sondern möglicherweise ver- stärkt würden. Es zeigte sich, daß das durch das zweite Prisma ge- brochene Licht eine vollkommen kreisrunde Form annahm; die Frage nach der Existenz jener irregulären Wirkungen war also in verneinendem Sinne entschieden. Nun war noch die Vermutung möglich, es könnten die von verschiedenen Punkten der Sonnenscheibe ausgehenden Strahlen unter verschiedenen Winkeln in das Prisma eintreten und dadurch eine abweichende Brechung erfahren. Newton maß daher alle bei dem Versuch in Betracht kommenden Linien und Winkel; es fand sich, daß die Breite des prismatischen Bildes genau dem scheinbaren Durch- *) Neben der Optik kommen hier in Betracht die Abhandlungen in den Philos. Transact. von 1672—1688. Die letzteren sind auszugsweise ins Deutsche übersetzt in dem Werk: Abhandlungen aus den Philosophical Transactions. 1779, S.-192 ff. **) Vgl. Poggendorff, Geschichte der Physik. 1879, S. 691. 376 Die Hauptgebiete der Naturforschung, messer der Sonnenscheibe entsprach, daß dagegen die Länge um mehr als das Fünffache größer war. Außerdem zeigte sich, daß sehr geringe Veränderungen in den Neigungen des Prismas ebenfalls nur sehr geringe Verschiebungen des prismatischen Bildes bewirkten. Dadurch war die vermutete Wirkung einer verschiedenen Neigung der einfallenden Licht- strahlen beseitigt. Endlich blieb eine letzte Annahme zu prüfen: die Lichtstrahlen könnten, analog einem elastischen Ball, der einen schrägen Schlag erhalten hat, nach dem Durchtritt durch das Prisma infolge einer möglicherweise stattfindenden Kombination fortschreitender und drehender Bewegung krumme Linien beschreiben, wodurch die Licht- teilchen infolge ihres Zusammenstoßes von den Orten größten nach denen kleinsten Widerstands abgelenkt würden. Newton maß demnach die Gestalt des prismatischen Bildes in verschiedenen Entfernungen vom Prisma; dabei ergab sich aber, daß sich alle gebrochenen Strahlen geradlinig fortpflanzten: auch diese Frage war also verneinend ent- schieden. Nun blieb als einzige Auskunft die übrig, anzunehmen, daß das Sonnenlicht in Strahlen von verschiedener Brechbarkeit zerlegt werde, und daß diese verschieden brechbaren Strahlen zugleich von ver- schiedener Farbe seien. Um dies zu prüfen, fing Newton das prismatische Bild auf einem Schirm auf, in welchem ein kleines Loch angebracht war, durch das nur ein kleiner Teil des gebrochenen Lichtes hindurch- treten konnte. Hinter dem Loch befand sich ein zweites Prisma, in welchem der hindurchgetretene Strahl abermals gebrochen wurde. Verschob man nun den Schirm so, daß sukzessiv die einzelnen Farbe- strahlen nach dem zweiten Prisma gelenkt wurden, so zeigte es sich, daß sie in diesem eine verschieden starke Brechung erfuhren, das rote Licht die schwächste, das violette die stärkste. Hiermit war die letzte Frage bejahend entschieden: nach Ausschluß aller anderen Möglichkeiten war bewiesen, daß das Sonnenlicht Strahlen von verschiedener Farbe und Brechbarkeit enthält. Mit Recht hat Newton den Versuch, der diesen Beweis erbrachte, und der im wesentlichen die noch heute ge- läufige Form für die Darstellung der verschiedenen Brechbarkeit der Farben ist, ein Experimentum crucis genannt. Wenn irgend einem, so kann am ehesten demjenigen Versuch, der die Voruntersuchung ab- schließt und der eigentlichen Untersuchung ein erstes allgemeines Resultat zur näheren Analyse überliefert, die Rolle eines entscheidenden Experimentes zuerkannt werden. Zunächst suchte nun Newton das gewonnene Ergebnis durch ver- schiedene Versuche zu bestätigen. Er kombinierte zwei Prismen in solcher Weise, daß das erste, wie gewöhnlich, ein vertikal stehendes Die physikalischen Methoden. 377 Farbenband entwarf, das zweite, das gegen jenes um 90° gedreht war, das Spektrum nach der Seite ablenkte. Wären andere Bedingungen als die verschiedene Brechbarkeit der verschiedenfarbigen Strahlen wirksam, so würde in diesem Fall eine horizontale Verbreiterung des Bildes durch das zweite Prisma zu erwarten sein; eine solche trat aber nicht ein, und sie blieb auch dann aus, als durch ein hinzugefügtes drittes und viertes Prisma sehr starke seitliche Ablenkungen des Bildes er- zielt wurden. In einem weiteren Versuch brachte er zwei Öffnungen übereinander in dem Fensterladen und vor jeder derselben ein Prisma an, so daß zwei vertikal übereinander stehende Spektren entworfen wurden. Ließ er nun aus beiden Prismen die gebrochenen Strahlen durch ein drittes gehen, dessen brechende Kante vertikal gestellt war, so wurden beide Spektren vollkommen gleichmäßig nach der Seite abgelenkt. Eine weitere Modifikation des Versuchs mit zwei Spektren bestand darin, daß er den zwei vor die beiden Öffnungen gestellten Prismen eine Lage gab, bei der auf einem weißen Papier das rote Ende des einen Spektrums dicht neben das violette des anderen zu liegen kam. Be- trachtete er nun dasBild durch ein drittes Prisma, so erschienen das Rot und Violett wegen ihrer verschiedenen Brechbarkeit durch einen Zwischenraum getrennt. Von hier aus schritt Newton endlich zur quantitativen Bestimmung der einzelnen Elemente der beobachteten Erscheinung. Zu diesem Zweck mußten möglichst günstige Ver- suchsbedingungen für die deutliche Entwerfung des Spektrums ge- troffen werden. Das Zimmer wurde stark verdunkelt, das durch eine Ladenöffnung eintretende Sonnenlicht durch eine Linse gesammelt und unmittelbar hinter dieser das Prisma aufgestellt, welches, am Rand mit schwarzem Papier bedeckt, einen brechenden Winkel von 65—70° hatte und aus reinstem Glase oder aus Spiegelglasplatten, zwischen welche Bleizuckerlösung gebracht war, bestand. In dem auf einem weißen Papier aufgefangenen Spektrum wurden dann die Grenzen der einzelnen Farben durch gerade Linien bezeichnet. Die Distanzen dieser Linien konnten den Unterschieden des Brechungssinus propor- tional gesetzt werden. Nachdem das Brechungsverhältnis der am stärksten und der am wenigsten brechbaren Strahlen für sich ermittelt war, ergab sich daher nun das aller anderen. Nicht immer ist es nötig, daß alle Fragen, die sich im Laufe der Untersuchung ergeben, so wie in dem erörterten Beispiel auf experimen- tellem Wege erledigt werden. Zuweilen lassen sich gewisse Vermutungen a priori beseitigen, da sie zu Folgerungen führen, die mit bereits be- kannten Erfahrungen im Widerspruch stehen. Für solche Teile der 378 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Untersuchung pflegt dann die mathematische die Stelle der experi- mentellen Analyse zu vertreten. Insbesondere kann auf diese Weise die Voruntersuchung teilweise oder ganz vom Gebiete der Physik auf dasjenige der mathematischen Spekulation verlegt werden. Natürlich findet dies namentlich in jenen Fällen statt, wo neue Tatsachen auf Grund bereits bekannter vermutet oder vorausgesagt werden. Über- haupt aber liegt hierin ein großer Vorzug, den der analytische Scharf- sinn vor dem bloßen Beobachtungstalente voraus hat, daß er zur Er- ledigung gewisser Fragestellungen gar nicht des Experimentes bedarf und dadurch eine Menge unnützer experimenteller Arbeit zu ersparen weiß. Es kann dann geschehen, daß der Beobachter sogleich mit der richtigen Vermutung an die Untersuchung herantritt und diese mit einem Experimentum crucis beginnen läßt. So beseitigte Galilei die zu seiner Zeit verbreitete und anfänglich von ihm selbst geteilte Annahme, die Geschwindigkeit frei fallender Körper nehme im Verhältnis des zu- rückgelegten Weges zu, einfach durch den Nachweis, daß nach dieser Voraussetzung die Körper beliebige Höhen von verschiedener Größe in der nämlichen Zeit durchlaufen müßten. Ebenso aber prüfte er die schließliche Annahme, daß die Geschwindigkeit im Verhältnis der ver- flossenen Zeit zunehme, zuerst in Bezug auf alle ihre Folgen, ehe er zu der Bestätigung durch den Versuch schritt. In noch anderen Fällen kann der Gang der Analyse deshalb scheinbare Abweichungen darbieten, weil die einzelne Untersuchung nur einen Teil einer zusammenhängenden Reihe von Arbeiten bildet, die sich unter Umständen über lange Perioden der wissenschaftlichen Forschung erstrecken. Hier füllt dann natürlich die Arbeit des einzelnen Forschers nur eine einzelne Lücke in dem größeren Zusammenhang aus, durch dessen Betrachtung sich erst ein Überblick über den Gang der Analyse im ganzen gewinnen läßt. Nimmt man zu dieser historischen Kontinuität der wissenschaft- lichen Entwicklung noch das schon berührte Eingreifen der mathema- tischen Analyse sowie die oft sich ereignende Tatsache hinzu, daß zur Erreichung des nämlichen Zieles nicht selten verschiedene Wege bald neben, bald nacheinander eingeschlagen werden, so wird es begreiflich, daß es nicht wenige Analysen physikalischer Erscheinungen gibt, deren vollständige Schilderung die geschichtliche Darstellung ganzer Gebiete der Physik voraussetzen würde. b. Diesynthetische Erzeugung der Naturerscheinungen. Die Analyse der Erscheinungen kann für sich allein genügen, um eine exakte Beschreibung derselben möglich zu machen. Ein Bei- Die physikalischen Methoden. 379 spiel einer in dieser Beziehung vollständigen Analyse haben wir in New- tons Untersuchung der Farbenzerstreuung kennen gelernt. Es kann sich aber auch ereignen, daß diese Analyse ein mehrdeutiges Resultat liefert, und daß zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, die sie offen läßt, auf analytischem Wege keine Entscheidung zu gewinnen ist. So kann man z. B. bei der von Helmholtz gelehrten Analyse der Klänge mittels Resonatoren, die auf die in dem Klang vermuteten Partialtöne ab- gestimmt sind, sukzessiv jeden einzelnen der letzteren für das Ohr ver- stärken und auf diese Weise den ganzen Klang in seine Bestandteile zerlegen. Es bleibt aber hier der Einwand, der in der Tat erhoben worden ist, in dem mit dem Ohr verbundenen verstärkenden Resonatorrohr entständen möglicherweise erst die Töne, und sie seien also in dem ob- jektiven Klang gar nicht enthalten. Im ersten dieser Fälle, wo die Analyse für sich schon ein unzweifelhaftes Resultat liefert, wird die Hinzufügung der synthetischen Untersuchung erwünscht sein, da sie immerhin einen bestätigenden Wert besitzt und gegen etwa übersehene Einwände sichert; im zweiten Fall, wo das analytische Er- gebnis mehrdeutig ist, wird sie unerläßlich sein, da hier ein Ex- perimentum crucis eigentlich erst auf dem synthetischen Wege mög- lich ist. Zur Bestätigung des analytischen Ergebnisses seiner Unter- suchungen über das prismatische Spektrum hat Newton selbst schon zwei Versuche von synthetischem Charakter ausgeführt: er hob erstens die durch ein Prisma erhaltene Farbenzerstreuung wieder auf, indem er entweder dicht hinter dem ersten ein zweites von derselben Be- schaffenheit aber entgegengesetzter Lage anbrachte, oder indem er das zerstreute Licht durch eine in einiger Entfernung befindliche Sammel- linse treten ließ; in beiden Fällen wurde durch die Verbindung sämt- licher Farbestrahlen wieder Weiß erhalten. Zweitens mischte er pul- verige Pigmente in dem Verhältnisse, welches die Farben im Spektrum zeigten, und gewann auf diese Weise ein graues oder bei starker Be- leuchtung weißes Pulver. Diese Versuche enthalten nicht mehr als eine weitere Bestätigung der auf analytischem Wege gewonnenen Er- gebnisse. Der Hauptnutzen einer vollständig durchgeführten syntheti- schen Untersuchung besteht aber darin, daß sie es am leichtesten mög- lich macht, in willkürlicher Weise die qualitativen und quantitativen Bedingungen der Erscheinungen zu variieren. In dieser Beziehung hat zum Teil erst die auf Newton gefolgte Entwicklung der Optik seine synthetischen Versuche vervollständigt. Dies ist namentlich unter der Anwendung von zwei Methoden geschehen: erstens durch die 380 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Mischung von Spektralfarben in beliebiger Zahl und in beliebigen Intensitätsverhältnissen, und zweitens durch die Mischung von Farben- eindrücken mittels der zuerst von Musschenbroek angewandten rotieren- den Scheiben. Hierdurch ist es möglich geworden, eine Reihe von Tat- sachen zu ermitteln, die auf analytischem Wege niemals zu gewinnen waren. So fand man mittels der synthetischen Methode, daß durch Mischung zweier einander im Spektrum nahestehender Farben die zwischenliegende Farbe erhalten wird, daß jede Farbe zusammen mit einer bestimmten anderen, ihrer sogenannten Ergänzungsfarbe, Weiß erzeugt; und die Vergleichung der in Bezug auf die Ergänzungsfarben festgestellten Ergebnisse führte endlich zur Annahme der drei Grund- farben als derjenigen drei einfachen Farben, aus denen alle möglichen Farben samt dem Weiß durch Mischung entstehen können, eine An- nahme, die schließlich ebenfalls direkt auf synthetischem Wege be- stätigt wurde, indem man die drei Grundfarben in den verschiedensten Mengeverhältnissen am Farbenkreisel mischte. Man sieht aus diesem Verlauf, daß auch die synthetische Untersuchung aus einer Reihe von Fragestellungen samt den darauf gesuchten und gefundenen Antworten besteht. Diese Fragestellungen knüpfen im allgemeinen an zuvor ge- wonnene Ergebnisse an, und sie zerfallen wieder in zwei Klassen: in eine erste, bei der man einfach eine Umkehrung der vorher ausgeführten Zerlegung der Erscheinungen verlangt, und in eine zweite, bei der eine genauere Bestimmung und Messung der Erscheinungen mit Rücksicht auf ihre Faktoren gefordert wird. Dieses Verhältnis zwischen analytischer und synthetischer Methode wird nur in jenen schon oben (S. 370) berührten Fällen verschoben, wo nicht eine unmittelbar gegebene Erscheinung Gegenstand der Untersuchung ist, sondern wo die Existenz einer noch unbekannten aus irgendwelchen Gründen vermutet wird, und es sich nun vor allem um die Herstellung der Bedingungen zur Erzeugung der Er- scheinungen handelt. Hier ist der vermutete Erfolg in der Regel von zusammengesetzter Art, und er muß durch die Kombination be- stimmter, bis jetzt noch nicht in ihrer Verbindung beobachteter Be- dingungen hergestellt werden. So begannen Oersted, als er die Wirkung des elektrischen Stromes auf die Magnetnadel, und Faraday, als er die Wirkung des Magnetes auf das polarisierte Licht nachzuweisen ver- suchte, mit einem synthetischen Verfahren. In beiden Fällen schloß sich dann erst an die Entdeckung der Erscheinung die Analyse der- selben an. Die physikalischen Methoden, 381 c. Die physikalische Induktion. Bei der Analyse der Naturerscheinungen ist der Gegenstand der Untersuchung die einzelne Erscheinung. Die Analys: ist vollendet, wenn sie dieselbe in ihre sämtlichen Bestandteile zerlegt und damit alle bei ihr vorkommenden Bedingungen ermittelt hat. Ebenso bezieht sich die synthetische Erzeugung unmittelbar nur auf einzelne Tatsachen, jedoch mit dem Unterschiede, daß sie den Gang der Analyse umkehrt, indem sie durch die Kombination bestimmter Er- scheinungen andere hervorbringt, die entweder durch eine vorange- gangene Analyse in jene zerlegt worden sind, oder von denen man aus irgendwelchen Gründen vermutet, daß sie aus ihrer Verbindung ent- stehen können. Das Ziel beider ist daher die vollständige Kenntnis aller Einzeltatsachen, aus denen sich eine Erscheinung zusammensetzt, und der Art ihrer Verbindung. Hiermit ist nun aber der Zweck der physikalischen Untersuchung noch nicht erreicht. Diese will dem logi- schen Erklärungsbedürfnis Genüge leisten, indem sie aus den einzelnen Ergebnissen allgemeine Naturgesetze gewinnt, aus denen wiederum die Erscheinungen selbst als notwendige Folgen abgeleitet werden können. Letzteres Geschäft fällt nun nicht der Analyse und Synthese als solchen zu, sondern der physikalischenInduktion, welche dabei die ersteren als Hilfsmittel verwendet. Nichtsdestoweniger kann auch hier über die logischen Grenzen dieser Methoden kein Zweifel sein, da die Zerlegung oder Zusammensetzung einer Erscheinung und die Gewinnung allgemeiner Sätze aus einzelnen Tatsachen sehr ver- schiedene Prozesse sind, deren logisches Verhältnis es begründet, daß die beiden ersten dem letzteren vorausgehen müssen. Insofern die Gesetze, die sich als Resultate von Induktionen ergeben, die verschieden- sten Grade der Allgemeinheit besitzen können, ist es aber begreiflich, daß die Induktion nicht etwa bloß das Geschäft der Untersuchung ab- schließt, indem sie aus den Ergebnissen einer Reihe von Analysen und Synthesen einen allgemeinen Satz ableitet, sondern daß sie nicht selten schon ein einzelnes analytisches oder synthetisches Resultat in ein Gesetz umformt, dessen weitere Prüfung und Verallgemeinerung sie dann der ferneren Untersuchung überläßt. Doch ist in solchen Fällen das Resultat der Analyse von der daran geknüpften Induktion logisch immerhin leicht zu unterscheiden; auch hat der aufgestellte Satz, so lange die weitere Prüfung nicht eingetreten ist, immer nur einen hypo- thetischen Wert. So war es zunächst eine Hypothese, wenn Newton auf das analytische Resultat, daß das Prisma einen Sonnenstrahl in 389 Die Hauptgebiete der Naturforschung. farbige Strahlen von verschiedener Brechbarkeit zerlegt, den Satz gründete, daß das Sonnenlicht aus Farbestrahlen zusammengesetzt sei. Wäre z. B. der Versuch, durch die Mischung der Spektralfarben wieder Weiß zu erzeugen, dauernd mißlungen, so würde es nötig ge- worden sein, zu einer anderen Voraussetzung zu greifen und diese durch weitere Versuche zu prüfen. In diesem Fall bestand also der nächste Schritt zum Vollzug der Induktion in der Umkehrung des ana- lytischen Verfahrens, in der Synthese des weißen Lichts durch Farben- mischung. Weitere Unterstützung fand dann die Induktion in der be- reits von Newton selbst unternommenen Analyse der Körperfarben mittels des Prismas und späterhin in den Resultaten, welche die Unter- suchung der unter anderweitigen Bedingungen, wie bei der Beugung und Interferenz, auftretenden Farbenerscheinungen lieferte. Wie die Analyse der Erscheinungen nicht seiten von einer zu- fälligen Wahrnehmung ausgeht, so pflegt die Induktion an das Resul- tat einer ersten Analyse anzuknüpfen und von diesem aus den ganzen Gang der weiteren Untersuchung zu lenken. Die Induktion bestimmt so die Reihe der Fragestellungen und dadurch die Ordnung, in welcher die einzelnen analytischen und synthetischen Untersuchungen ausgeführt werden. Diese können an und für sich betrachtet sehr voll- kommen, und dennoch kann die daran geknüpfte Induktion fehler- haft sein — sei es, daß die Resultate in unrichtiger Weise verknüpft wurden, oder daß man nicht alle einzelnen Versuche ausgeführt hat, die zum Vollzug einer triftigen Induktion erforderlich sind. So ist Newtons Untersuchung der Farbenzerstreuung ein Muster vorzüglicher Analyse. Dagegen war es eine fehlerhafte Induktion, als erauf die Messung der Farbenbänder des prismatischen Spektrums den Schluß gründete, die Raumverhältnisse der sieben prismatischen Farben ent- sprächen den relativen Saitenlängen der phrygischen Tonleiter. Hier versäumte er es, das an seinen Prismen gewonnene Resultat durch Ver- suche mit verschieden brechenden Substanzen zu prüfen, d. h. die Analyse der einen Erscheinung durch weitere Analysen ähnlicher Er- scheinungen unter veränderten Bedingungen zu vervollständigen. In dieser Beziehung wurde die Untersuchung erst durch Dollond zu Ende geführt, der die Abhängigkeit der Farbenzerstreuung von der brechenden Substanz des Prismas und damit zugleich die Unrichtigkeit der Induktion Newtons nachwies*). Auch die physikalische Induktion kann sich in den drei Stadien *) Dollond, Philos. Transact. Vol. X, p. 733. Die physikalischen Methoden. 383 vollziehen, die wir als die Stufen einer vollständigen Induktion kennen lernten: in der Aufstellung empirischer Gesetze, der Verallgemeinerung der letzteren und der Ableitung von Kausalgesetzen zum Zweck der logischen Verbindung der Tatsachen. (Vgl. Abschn. I, S.25ff.) Aber die Tendenz der Erklärung, die von Anfang an die physikalische Wissen- schaft erfüllt, drängt hier rasch über die beiden ersten Stadien hinweg und verursacht, daß man namentlich bei den einfacheren Naturerschei- nungen sofort den empirischen Resultaten eine kausale Interpretation zu geben sucht. Diese Überholung der ersten Induktionsstufen ist natür- lich umso auffallender geworden, je mehr sich durch den Fortschritt der Wissenschaft überall in bereits festgestellten Kausalgesetzen Be- ziehungen darboten, an die neue Ergebnisse anknüpfen konnten. Wäh- rend daher in den vorangegangenen Jahrhunderten immerhin so ein- fache Gesetze wie das Snellsche Brechungsgesetz des Lichtes oder das Boylesche Gesetz der Zusammendrückbarkeit der Luft zunächst als rein empirische Formulierungen auftraten, besitzt gegenwärtig der Ausdruck empirisches Gesetz in der Physik geradezu die Nebenbedeutung einer regelmäßigen Beziehung, die wegen ihrer ver- wickelten Beschaffenheit vorläufig einer kausalen Analyse unzugänglich ist. Durch diesen raschen Übergang zur kausalen Betrachtung ist in der Physik weit mehr als in anderen Erfahrungswissenschaften die In- duktion in innige Verbindung mit der Deduktion getreten, von der sie sich nur durch den provisorischen Charakter der hinsichtlich der kausalen Beziehungen aufgestellten Hypothesen und durch die zur Prüfung dieser provisorischen Hypothesen eingeschlagenen Methoden unterscheidet. Die Hypothese schließt demnach nicht, wie zuweilen angenommen wird, das Geschäft der Induktion ab, sondern auf physikalischem Gebiete begleitet sie dieselbe in der Regel während ihres ganzen Ver- laufes. Die Aufstellung der Hypothesen wird schon vorbereitet inner- halb jener Analyse der Erscheinungen, welche die der eigentlichen In- duktion vorausgehende exakte Beschreibung der Tatsachen vermittelt. Denn hier bereits besteht die Analyse in der Prüfung von Vermutungen, die durch bestimmte experimentell zu lösende Fragestellungen an die Hand gegeben sind. Ein wichtiger Unterschied liegt nur darin, daß sich diese Vermutungen zunächst bloß auf das Wie, nicht aber auf das Warum der Erscheinungen beziehen. Die Vermutung wird erst in dem Augenblick zur Hypothese, wo sie die Frage nach den Ursachen des Geschehens in sich schließt. Die Erfordernisse einer brauchbaren provisorischen Hypothese bestehen nun darin, daß diese einerseits dem 384 Die Hauptgebiete der Naturforschung. durch die exakte Beschreibung gegebenen Inhalt der Erscheinung selbst oder (bei erst zu entdeckenden Erscheinungen) dem Inhalt des die Hypo- these liefernden verwandten Erscheinungsgebietes angepaßt ist, und daß sie anderseits mit den allgemeinen Prinzipien der Naturerklärung übereinstimmt. Hiermit bleibt immer noch für die Gestaltung der Hypothesen ein weiter Spielraum, und es ist daher begreiflich, daß namentlich im Anfang einer physikalischen Untersuchung verschiedene gegeneinander kämpfen können. . Gerade hierin liegt jedoch ein wesent- liches Hilfsmoment der Induktion, indem die widerstreitenden An- schauungen zur Aufsuchung von Tatsachen anregen, die zwischen ihnen entscheiden. So hat die Optik ihre größten Fortschritte gemacht in der Zeit, da die Emanations- und Undulationshypothese um die Herrschaft stritten. Voltas Fundamentalversuche über die Entstehung der Elek- trizität durch den Kontakt der Metalle verdanken ihre Anregung der Bestreitung der Hypothese Galvanis von dem tierischen Ursprung des galvanischen Stroms; später hat der Streit der Kontakt- mit der che- mischen Hypothese dem nämlichen Gebiet wichtige Untersuchungen zugeführt. Übrigens wird durch eine in rein deskriptiver Absicht unter- nommene vorläufige Analyse der Erscheinungen die Zahl möglicher Annahmen immer bereits erheblich eingeschränkt; darum ist es schon aus diesem Grunde wünschenswert, daß der eigentlichen Induktion wo möglich eine bis zur exakten Beschreibung des Tatbestandes führende Analyse vorausgehe. Die Prüfung der provisorischen Hypothesen besteht sodann aus einer Reihe analytischer und synthetischer Untersuchungen, die zunächst einen vorwiegend qualitativen Charakter besitzen. Ist für ein bestimmtes Gebiet von Erscheinungen eine größere Anzahl sich gegenseitig ausschließender Hypothesen aufgestellt, so repräsentiert jede derselben einen als möglich angenommenen Kausalkomplex. Um unter diesen ursächlichen Momenten das geeignete wählen zu können, genügt es im allgemeinen, bestimmte Bedingungen einzuführen oder hinwegzulassen; und wo dabei eine quantitative Abstufung der Be- dingungen nötig wird, da ist immerhin eine genaue Messung in diesem Stadium der Untersuchung noch nicht erforderlich. Die hauptsäch- lichste Schwierigkeit bei der Ermittlung der ursächlichen Bedingungen einer Erscheinung liegt daher inder Komplikation der Be- dingungen. Die Umstände, unter denen eine Naturerscheinung zur Beobachtung kommt, sind meistens sehr zahlreich; die wichtigste Aufgabe des induktiven Verfahrens besteht deshalb in einer Variation dieser Umstände, welche darauf gerichtet ist, die wesentlichen von Die physikalischen Methoden. 385 den unwesentlichen zu sondern und für die ersteren wiederum die Beziehungen nachzuweisen, in denen sie zu den einzelnen Teilen des beobachteten Phänomens stehen. Die allgemeine logische Regel, die hierbei maßgebend ist, läßt sich hieraach folgendermaßen aus- sprechen: UnterdeneineErscheinungbegleitenden Um- ständen sind diejenigen als wesentliche Bedin- gungen derselben anzusehen, deren Beseitigung dieErscheinung selber beseitigt,und deren quan- titative Veränderung eine quantitative Verän- derung der Erscheinung herbeiführt. Diese Regel weist auf zwei experimentelle Methoden hin, die wir kurz als Elimination und als Gradation der Bedin- gungen bezeichnen können. Die Eliminationsmethode wird, wo es möglich ist, zuerst angewandt, und die Gradationsmethode dient dann zur weiteren Bestätigung der Ergebnisse. Die erstere Methode kann wieder in zwei verschiedenen Formen zur Anwendung kommen: ent- weder direkt, indem man die zu eliminierenden Umstände völlig beseitigt, oderindirekt, indem man diese konstant erhält, während alle anderen Bedingungen sukzessiv verändert werden*). *) Abweichend von dem oben aufgestellten Induktionsgesetz und in näherem Anschlusse an die Baconischen Vorschriften haben JohnHerschel und John Stuart Milleine größere Zahl logischer Regeln für die experi- mentelle Forschung entwickelt. (Herschel, Über das Studium der Natur- wissenschaft. Deutsch vonHenrici. Göttingen 1836, S.156f.;Mill, Logik, I, S. 453 ff.) Millnamentlich hat fünf Methoden angegeben, von denen die erste und zweite, die er als Methoden der Übereinstimmung und des Unterschieds bezeichnet, den positiven und negativen Instanzen, die fünfte, als die Methode der begleitenden Veränderungen, der Tabula graduum bei Bacon entspricht. Die dritte und vierte Regel dagegen sind nur Spezialisierungen der zweiten, so daß diese Vorschriften im wesentlichen auf die Baconischen zurückführen, mit dem Unterschiede, daß sie nicht eine streng sukzessive Anwendung der drei Grund- regeln verlangen, sondern ein wechselndes Ineinandergreifen derselben zugeben, während sie freilich, wie schon Bacon, die maßgebende Bedeutung provisori- scher Hypothesen verkennen. Prüft man nun aber die Beispiele, die die An- wendung dieser Methoden erläutern sollen, so zeigt es sich sogleich, daß die Regel der Übereinstimmung in keiner Weise zu einer Induktion verhelfen kann, sondern daß bei ihr immer schon zugleich eine Anwendung der Unterscheidungs- methode stattfindet. So soll in dem von Herschel angeführten, der Inter- pretation nach Baconischen Regeln besonders günstigen Beispiel der Theorie der Taubildung die Methode der Übereinstimmung darin ihre Anwendung finden, daß man als übereinstimmende Eigenschaft aller betauten Körper ihre Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 25 386 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Nachdem die Ursachen festgestellt sind, die sich bei dem Eintritt der Erscheinungen wirksam erweisen, müssen nun diese Ursachen in genau meßbarer Weise quantitativ variiert und gleichzeitig die quantitativen Veränderungen der untersuchten Vorgänge durch messende Beobachtungen ermittelt werden. Diese Aufgabe gestaltet sich verhältnismäßig einfach in den Fällen, wo eine Erscheinung auf eine einzige ursächliche Bedingung zurückgeführt werden kann; sie kältere Beschaffenheit im Vergleich mit der umgebenden Luft feststellte. Das Wesentliche dieses Verfahrens ist aber offenbar gar nicht die Ermittlung einer Übereinstimmung, sondern die eines Unterschieds, nämlich des Temperatur- unterschieds, der eine konstante Bedingung der Taubildung ist. Daß diese Bedingung an vielen Körpern beobachtet wurde, ist von verhältnismäßig unter- geordneter Bedeutung; am allerwenigsten läßt sich aber eine solche Sammlung übereinstimmender Beobachtungen als eine besondere Methode der Überein- stimmung auffassen, da hier die Häufung von Beobachtungen lediglich das Mittel ist, um die Konstanz der betreffenden Bedingung festzustellen, und daher bei jedem methodischen Verfahren wiederkehrt. Ebenso zeigt dieses Beispiel, daß sich mit der Methode der Unterscheidung meistens von selbst diejenige der gradweisen Abstufungen verbindet, da sich hier unmittelbar an die Konstatierung des Temperaturunterschieds die Beobachtung der steigenden Effekte dieses Unterschieds anschließt. Elimination und Gradation sind eben zwei nicht nur nach ihrem logischen Zweck, sondern auch in Bezug auf ihre äußere Anwendung einander nahe verwandte und bei einem bestimmten Punkte völlig ineinander übergehende Methoden. Aus diesem Grunde erscheint es angemessen, beide, wie es oben geschehen ist, einer einzigen Grundregel der Induktion unterzu- ordnen. Wie in dem hier angeführten, so läßt es sich bei allen andern von Mill benützten Beispielen leicht zeigen, daß in die Methode der Übereinstim- mung bereits die Differenzmethode hereinreicht, und daß aus ihr (oder viel- mehr teils aus der Elimination, teils aus der Gradation der begleitenden Um- stände) immer die eigentliche Induktion entspringt. So ist für Liebigs Theorie der schädlichen Wirkung der Metallgifte das nächste Motiv nicht dies, daß die Lösungen schwerer Metalle innerhalb des Organismus ebenso wie außer- halb desselben mit den Gewebsstofien Verbindungen eingehen, welche der Fäulnis widerstehen, sondern die Tatsache, daß solche Verbindungen erfahrungsgemäß zu den Funktionen des Stofiwechsels unfähig sind. Bei der Feststellung der Gesetze der Induktion durch statische Elektrizität soll das Verfahren der Über- einstimmung darin bestehen, daß man nachwies, wie in allen Fällen, in welchen ein Konduktor mit einer bestimmten Elektrizität geladen ist, eine in der Nähe befindliche leitende Fläche die entgegengesetzte Elektrizität annimmt. Hier liegt das Wesen der logischen Induktion abermals nicht in der Sammlung über- einstimmender Fälle, sondern einerseits in der Vergleichung des durch Influenz geladenen Leiters mit seinem vorherigen neutralen Zustande, anderseits in dem Nachweis, daß es niemais möglich ist, eine der beiden Elektrizitäten abzuleiten, ohne daß zugleich die andere entladen wird. Das erste beruht aber so gut wie das zweite auf einer Anwendung der Differenzmethode. Die physikalischen Methoden. 387 wird verwickelter, wenn mehrere Ursachen ineinander eingreifen. Hier muß dann jede einzelne Ursache für sich unabhängig verändert und ihr Einfluß quantitativ bestimmt werden. Es findet dabei abermals das Eliminations- und Gradationsverfahren seine Anwendung, das erstere meistens in der Form der Konstanterhaltung der übrigen Be- dingungen. Wo es nicht möglich ist, eine einzelne Ursache isoliert zu ver- ändern, da ist auch die Induktion für sich nicht ausreichend, das kom- plexe Gesetz der Erscheinung in die einfacheren Gesetze aufzulösen, aus denen es sich zusammensetzt. In solchen Fällen müssen dann ent- weder hypothetische, wo möglich an anderweitige Erfahrungen sich anlehnende Voraussetzungen über die Verbindung der Ursachen ein- geführt werden, oder man ist genötigt, das komplexe Gesetz lediglich als einen die zusammengesetzte Erfahrung repräsentierenden Ausdruck stehen zu lassen. Derartige Gesetze pflegen, wie schon oben be- merkt, speziellempirische Gesetze genannt zu werden. Wegen ihres verwickelten Charakters ist in der Regel bei ihnen eine Verall- gemeinerung durch Verknüpfung mit Induktionen verwandten Inhalts unausführbar. Denn wenn es sich auch leicht ereignen kann, daß ver- schiedene empirische Gesetze eine ähnliche Form besitzen, so weist dies doch immer nur auf eine ähnliche Entstehung aus einfacheren Gesetzen hin; es ist aber darum nicht gestattet, die einzelnen kom- plexen Gesetze als Spezialfälle einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit auf- zufassen. Dies ist dagegen regelmäßig der Fall, wenn die durch Induktion gewonnenen Gesetze vermöge der isolierten Variabilität der Bedin- gungen einen einfacheren Charakter besitzen. So lassen sich die Gesetze der Reflexion, Beugung, Brechung und Interferenz des Lichtes ohne weiteres mit den entsprechenden Schallgesetzen vereinigen. Wenn dagegen eine beliebige zusammengesetzte Klangbewegung durch eine ähnliche Reihe dargestellt werden kann wie die Fortpflanzung der Wärme durch die Erdrinde, so läßt sich daraus über die innere Bezie- hung der physikalischen Vorgänge nicht das geringste entnehmen. Doch kann es geschehen, daß ein komplexes empirisches Gesetz dieser Art durch eine weiter eindringende Analyse noch in einfache Gesetze von kausaler Bedeutung zerlegt wird. Dies hat sich z. B. bei der Dar- stellung der Klangbewegungen durch eine Sinusreihe ereignet, wo sich ergab, daß die Glieder der letzteren als wirkliche Repräsentanten ein- facher Schwingungsgesetze zu betrachten sind. An einer solchen Zer- legung komplexer empirischer Gesetze pflegt dann die deduktive Methode schon wesentlich beteiligt zu sein. Denn meist ist es die mathematische Analysis, die in dem Funktionsausdruck des empirischen Gesetzes 383 Die Hauptgebiete der Naturforschung. einfachere Beziehungen nachweist, deren Übereinstimmung mit physi- kalischen Gesetzen von allgemeinerer Bedeutung unmittelbar erkennbar ist. Der experimentellen Untersuchung bleibt hier nur noch die Bestäti- gung der etwa in die Voraussetzungen eingehenden Hypothesen oder die Ermittlung bestimmter physikalischer Konstanten überlassen. So zeigt es sich auch hier, daß vermöge der umfassenden Grundlagen, die in den mechanischen Prinzipien und in den einfacheren Gebieten der Physik für die Deduktion der Naturerscheinungen gegeben sind, bei dem heutigen Zustande der Wissenschaft nur selten das Induktionsver- fahren unvermischt angewandt wird. Am ehesten ist dies natürlich noch bei solchen Untersuchungen der Fall, bei denen es sich zugleich um die Entdeckung bisher unbekannter Erscheinungen handelt. Es mag daher an einem klassischen Beispiel dieser Art der oben ge- schilderte allgemeine Verlauf der physikalischen Induktion erläutert werden: ich wähle hierzu die elektrische Induktion, mit be- sonderer Rücksicht auf Faradays grundlegende Untersuchungen über dieselbe. Bei der Erzeugung statischer Elektrizität durch Reibung hatte du Fay zuerst beobachtet, daß die Beschaffenheit der Elektrizität je nach der Natur des geriebenen Körpers eine verschiedene sein könne, da leicht bewegliche Körperchen sich abstießen, wenn die ihnen mit- geteilte Elektrizität von einerlei Quelle herstammte, dagegen sich an- zogen, wenn die Elektrizität verschiedenen Ursprungs, z. B. durch Reiben von Glas und von Harz hervorgebracht war. Als man dann weiter- hin beobachtet hatte, daß regelmäßig das Reibzeug eine andere Elek- trizität annimmt als der geriebene Körper, so schloß Franklin, das Wesen der Elektrizitätserregung bestehe in einer Übertragung von Elektrizität, wobei der eine Körper, der positiv elektrische, einen Über- schuß derselben aufnehme, der andere, der negativ elektrische, solche abgebe; eine Bestätigung dieser Ansicht fand er darin, daß der Funke nur von dem positiv auf den negativ elektrischen Körper übergehe, nicht umgekehrt. Dagegen erhoben sich zunächst Bedenken aus Anlaß der Anziehungs- und Abstoßungserscheinungen. Konnte man auch nach Franklins unitarischer Hypothese allenfalls begreifen, daß positiv und negativ elektrische Körper sich anziehen und positiv elektrische sich abstoßen, so war es doch kaum einzusehen, warum auch negativ elektrische einander fliehen sollten. Diese Erwägungen bestimmten Robert Symmer zur Aufstellung der dualistischen Hypothese, welcher dann die zuerst von Wilke und Aepinus beobachteten Influenz- erscheinungen vollends zum Sieg verhalfen. Diese zeigten, daß ein Die physikalischen Methoden. 389 elektrischer Körper auf einen in seine Nähe gebrachten neutralen Leiter derart einwirkt, daß auf der dem Körper zugewandten Seite ein ent- gegengesetzter, auf der abgewandten ein gleichartiger elektrischer Zustand entsteht. Hierdurch wurde man veranlaßt, die Anziehungs- und Abstoßungserscheinungen elektrischer Körper auf die Anziehungen und Abstoßungen der beiden Elektrizitäten zurückzuführen, die man als eine neue Art unwägbarer Fluida ansah. Es lag dann aber auch die Vermutung nahe, daß Erscheinungen, die der elektrischen Influenz entsprächen, überall da auftreten würden, wo überhaupt eine Quelle von Elektrizitätserregung gegeben sei. Diese Vermutung fand eine Stütze in Oersteds Entdeckung der bewegenden Wirkung des galva- nischen Stromes auf die Magnetnadel und in den an diese Entdeckung sich anschließenden Beobachtungen im Gebiet des Elektromagnetismus. Nachdem zuerst durch Aragos und dann besonders durch Faradays Versuche nachgewiesen war, daß Stahl und Eisen durch einen elektri- schen Strom in den magnetischen Zustand übergeführt werden können, nachdem ferner Ampere gezeigt hatte, daß ein bewegter Magnet auf einen in der Nähe befindlichen beweglichen Stromleiter, und daß ebenso zwei bewegliche Stromleiter aufeinander eine bewegende Wirkung äußern, die von der Richtung der Ströme bezw. der Bewegungsrichtung der Magnetpole abhängt, war die Vermutung gerechtfertigt, daß auch ein elektrischer Strom oder ein Magnetpol in benachbarten leitungs- fähigen Körpern eine elektrische Verteilung hervorbringen werde. Diese Vermutung gründete sich demnach teils auf das allgemeine Prinzip der Korrespondenz von Wirkung und Gegenwirkung, teils auf eine erwartete Analogie mit den statisch-elektrischen Erscheinungen. War der elektrische Strom fähig, Magnetismus zu erregen, so konnte man annehmen, daß auch umgekehrt der Magnetismus auf einen benach- barten Leitungsdraht stromerregend wirken könne. Da man ferner auf statisch-elektrischem Gebiete von den Anziehungs- und Abstoßungs- erscheinungen elektrischer Körper aus zu der Fähigkeit der letzteren auf umgebende Leiter eine verteilende Wirkung zu äußern gelangt war, so war auch zu erwarten, daß der wechselseitigen bewegenden Wirkung von Magneten und durchströmten Leitern eine verteilende Wirkung elektrischer Ströme und Magnete auf benachbarte Konduktoren entsprechen werde. Dies waren die Gesichtspunkte, von denen Faraday bei seiner Untersuchung ausging, bei der es sich demnach zunächst um eine Aufsuchung der vermuteten Erscheinungen und dann um die nähere Analyse derselben handelte. Die Untersuchung selbst zerfällt wieder in zwei logische Induktionen, von denen sich die eine auf die 390 Die Hauptgebiete der Naturforschung. volta-elektrische, die andere auf die magneto-elektrische Induktion bezieht*). Um verteilende Wirkungen durch den galvanischen Strom nach- zuweisen, wickelte Faraday einen Kupferdraht in mehreren vonein- ander isolierten Windungen auf einen Holzzylinder, überzog denselben mit einer isolierenden Schichte und umgab dann die letztere mit einem zweiten Kupferdraht: die Enden des ersten Drahts wurden mit einer Voltaschen Säule, die des zweiten mit einem Galvanometer verbunden. Es zeigte sich aber zunächst keine Wirkung auf die Magnetnadel. Erst im Moment der Schließung und ebenso, als eine stärkere Batterie ge- wählt wurde, im Moment der Öffnung derselben zeigte sich eine schwache Ablenkung der Magnetnadel; dagegen blieb diese während der Dauer der Schließung völlig ruhig. Diese Erscheinungen blieben auch bei noch stärkeren Strömen ungeändert; zugleich erfolgte regel- mäßig die Ablenkung bei der Öffnung in entgegengesetztem Sinne als bei der Schließung, und sie war etwas schwächer. Faradays an- fängliche Vermutung, daß der Strom während seiner Dauer eine ver- teilende Wirkung ausüben werde, schien also der Berichtigung zu be- dürfen; es handelt: sich aber noch darum, die sicher beobachtete Schließungs- und Öffnungsinduktion durch weitere Versuche zu be- stätigen. Zu diesem Zweck brachte Faraday die Enden des induzierten Drahtes statt mit dem Galvanometer mit einer auf eine Glasröhre gewickelten Drahtrolle in Verbindung: befand sich nun, während eine Schließung oder Öffnung des Batteriestromes erfolgte, eine unmagnetische Stahlnadel in der Glasröhre, so war dieselbe magnetisch geworden, und zwar nahm sie bei der Öffnung entgegengesetzten Magnetismus an als bei der Schließung; wurde aber die Nadel während der Dauer des Stromes in die Glasröhre gebracht und vor der Öffnung wieder ent- fernt, so zeigte sie keine Spur von Magnetismus. Ebenso ließ sich an der Nadel des Galvanometers keine Ablenkung wahrnehmen, wenn die Verbindung während der Dauer des Stromes erfolgte. Zur weiteren Bestätigung der sich hieraus ergebenden Bedingungen der Induktions- wirkung wurden endlich zwei Kupferdrähte in langen Zickzackbie- gungen auf zwei getrennten Brettern befestigt; der eine Draht wurde mit der Batterie, der andere mit dem Galvanometer verbunden: als nun das eine Brett dem anderen rasch genähert wurde, zeigte das *) Vgl. namentlich die erste und zweite Reihe von Faradays elek- trischen Untersuchungen. Philos. Transact. 1832. Poggendorfs Annalen d. Physik, Bd. 25, S. 91 u. 142 ff, Die physikalischen Methoden. 391 Galvanometer einen Strom an, einen entgegengesetzten bei der Ent- fernung; solange dagegen beide Drähte in konstanter Nähe blieben, war kein Strom wahrzunehmen. Bei der Näherung der Drähte war die Richtung des induzierten Stromes die nämliche wie bei der Schließung, und in beiden Fällen hatte der erregte Strom die entgegengesetzte Richtung wie der erregende. Umgekehrt verhielt es sich bei der Ent- fernung der Drähte oder der Öffnung der Kette. Aus allen diesen Tat- sachen ergab sich demnach durch logische Induktion der Satz: das Entstehen eines galvanischen Stromes erregt in einem benachbarten geschlossenen Leiter einen kurzdauernden elektrischen Strom von ent- gegengesetzter Richtung, das Verschwinden eines Stromes erregt einen ähnlichen Strom von gleicher Richtung. Um nun die Fundamentalerscheinungen der magneto-elektrischen Induktion aufzufinden, umwickelte Faraday einen starken Ring aus Schmiedeeisen mit zwei von isolierenden Hüllen umgebenen Kupfer- drähten, die einander so gegenüberlagen, daß zwischen ihnen eine zolllange Strecke Eisen unbedeckt blieb. Die Enden des einen Drahtes konnten mit einer galvanischen Batterie, die des anderen mit einem Galvanometer verbunden werden. Auch hier zeigte sich im Moment der Schließung und Öffnung eine Wirkung, und zwar war dieselbe weit stärker als bei der volta-elektrischen Induktion, so daß, wenn an den Enden des zweiten Drahtes Kohlenspitzen angebracht waren, zwischen denselben bei ihrer Näherung ein starker Funke übersprang. Zum Behuf der genaueren Vergleichung der volta-elektrischen und der magneto-elektrischen Induktion wurde jetzt ein hohler Pappzylinder mit zwei isoliert gewundenen Drahtlagen umgeben, von denen wieder eine mit einer Kette, die andere mit dem Galvanometer in Verbindung stand: es erfolgte beim Schließen und Öffnen der Kette eine kaum merkliche Wirkung; als aber ein Zylinder von weichem Eisen in die Pappröhre gesteckt wurde, war diese Wirkung sehr bedeutend. Ähn- - liche Wirkungen wie die Elektromagnete übten natürliche Magnete sowie der Erdmagnetismus aus, und zwar zeigte es sich, daß, wenn ein Kupferdraht einem Magnete genähert wurde, die Richtung des indu- zierten Stromes derjenigen entgegengesetzt war, die nach Amperes Theorie in dem Magnete selber anzunehmen ist. Unter diesen Voraus- setzungen ließen sich also die Tatsachen der magneto-elektrischen einfach dem Gesetz der volta-elektrischen Induktion unterordnen. Beide Ent- stehungsweisen der Induktion variierte endlich Faraday, indem er ver- schiedene Metalle zur Verfertigung des induzierten Leiters wählte: es ergab sich, daß in allen Fällen die Erscheinungen in gleicher Weise auf- 393 Die Hauptgebiete der Naturforschung. traten, abgesehen von den Intensitätsunterschieden, die durch das verschiedene Leitungsvermögen der Metalle für den Strom bedingt waren. Noch zu einer weiteren Folgerung gaben aber die Beobachtungen über die Induktion eines vom Strom durchflossenen Leiters auf einen anderen, der von ihm räumlich getrennt ist, Anlaß. Offenbar war man nämlich berechtigt zu vermuten, daß die einzelnen voneinander iso- liertten Windungen eines Kupferdrahtes auch eine wechselseitige In- duktionswirkung ausübten. In der Tat glaubte Faraday, auf eine solche Wirkung schon aus der Beobachtung schließen zu dürfen, daß ein in vielen Spiralwindungen aufgerollter Schließungsdraht beim Öffnen der Kette einen viel stärkeren Funken gibt als ein kurzer Schließungsdraht, und er wies dann den durch Induktion des Leiters auf sich selbst ent- stehenden Strom, den er den Extrastrom nannte, direkt nach, indem er eine Induktionsspirale gleichzeitig mit einer galvanischen Batterie und einem Galvanometer verband und die Einrichtung so traf, daß die Magnetnadel desselben an der Ablenkung durch den Batteriestrom durch eine angebrachte Hemmung verhindert wurde, während der Extrastrom, dessen Wirkung in entgegengesetzter Rich- tung erfolgte, auf sie einwirken konnte*). Der hi:rauf folgende letzte Schritt aller auf die elektrische Induktion sich beziehenden Untersuchungen, die Feststellung der quantitativen Ge- setze der Erscheinungen, war bei der statisch-elektrischen Induktion mit verhältnismäßig geringen Schwierigkeiten verbunden gewesen, da hier der zeitliche Verlauf der Vorgänge außer Betracht bleiben konnte und es also genügte, die Gesetze zu ermitteln, nach denen mit der Verän- derung der Stärke der Ladung des Influenzerregers einerseits und der ver- schiedenen räumlichen Bedingungen (Gestalt, Größe, gegenseitige Stellung und Entfernung der Körper) anderseits die beobachteten Wirkungen sich änderten. Diese Gesetze wurden bereits von Coulomb in seinen für die quantitative Induktion mustergültigen Untersuchungen im wesent- lichen vollständig erledigt. Nachdem er in der Drehwage ein zur Messung anziehender oder abstoßender Wirkungen geeignetes Hilfsmittel auf- gefunden, ermittelte er den Einfluß der Stärke der Ladung, indem er dieselbe quantitativ variierte, alle übrigen Umstände aber konstant erhielt; ähnlich stellte er den Einfluß der Entfernung der Körper fest, ihrer Gestalt, der Existenz einer isolierenden Zwischensubstanz u. s. w., *) Faradays Untersuchungen, neunte Reihe. Philos. Transact. 1834. Poggendorffs Ann. Bd. 35, S. 413. Jacobi, ebend. Bd. 45, S. 132, Die physikalischen Methoden. 393 wobei er überall in gleicher Weise die Eliminationsmethode mit der Gradationsmethode verband, nämlich die zu eliminierenden Einflüsse konstant erhielt, während die speziell zu untersuchende Bedingung in meßbarer Weise variiert wurde*). Ungleich schwieriger war die Unter- suchung der volta-elektrischen und der magneto-elektrischen Induktion, da es sich hier um einen Vorgang handelt, der in sehr kurzer Zeit ab- läuft, in dieser Zeit aber stetige Veränderungen seiner Intensität er- fährt. Faradays Untersuchung war daher auch im wesentlichen auf den qualitativen Nachweis der Erscheinungen beschränkt geblieben. Wollte man von hier aus zu quantitativen Bestimmungen übergehen, so konnte an eine unmittelbare Messung des ganzen zeitlichen Verlaufs der Induktionswirkung nicht gedacht werden, weil die Magnetnadel eines Galvanometers ein allzu träges Werkzeug ist, als daß sie momen- tanen Veränderungen zu folgen vermöchte, und es nur möglich schien, den Gesamteffekt eines einzelnen Induktionsstromes durch ihre Ab- lenkung zu messen. In diesem Falle ist es daher nötig gewesen, aus den sonst bekannten Tatsachen erst ein hypothetisches Gesetz in mathe- matischer Formulierung über den Verlauf der Induktionswirkung zu entwickeln und dieses dann durch Messungen zu prüfen. Im Gegensatze zu dem induktiven Weg, auf welchem Coulomb die Gesetze der stati- schen Induktion feststellte, bildet daher diese allgemeinere Unter- suchung der Induktionsgesetze ein Beispiel für jene Fälle, wo die Auf- stellung quantitativer Gesetze zunächst ganz ein Problem der Deduk- tion wird, und der experimentellen Untersuchung nur die Aufgabe der Bestätigung und der Ermittlung der in der Theorie unbestimmt ge- lassenen numerischen Werte zufällt. Blicken wir auf die Gesamtheit der Untersuchungen zurück, die dieses ganze Erscheinungsgebiet allmählich der Erkenntnis zugänglich ge- macht haben, so bietet dieselbe beinahe für alle Variationen der logischen Induktion, die oben erwähnt wurden, Belege dar. Die Untersuchung der statisch-elektrischen Induktion geht aus von zufälligen Wahrneh- mungen, die zu verschiedenen Hypothesen Anlaß geben, unter denen allmählich die dualistische, verbunden mit der Annahme der Ferne- wirkung der elektrischen Flüssigkeiten, den Sieg davonträgt. Auf Grund dieser Hypothese unternimmt dann Coulomb die Feststellung der quantitativen Gesetze der Influenz. Der Nachweisung der übrigen Formen der Induktion ist ihre hypothetische Annahme vorangegangen. Da man auch hier zunächst einen dauernden Einfluß des Stromes oder *) Coulomb, Memoires del’Acad. Paris 1775. Vgl. Gehlers physi- kalisches Wörterbuch, 2. Aufl., Bd. 3, 2. Abt., S. 690 fi. 394 Die Hauptgebiete der Naturforschung. des Magnetes auf den benachbarten Leiter vermutete, so fand die provisorische Hypothese sofort in der Beobachtung der wirklichen Erscheinungen ihre Berichtigung. Immerhin bedurfte es dazu einiger Zeit. In Faradays anfänglicher Annahme, daß der induzierte Leiter auch in der Zeit zwischen der Schließungs- und Öffnungsinduktion in einem veränderten Zustand verharre, welchen er den „elektrotonischen Zustand“ nannte, ist ein Reflex jener ursprünglichen Vermutung er- halten geblieben; infolge der Erkenntnis, daß sich in dem genannten Zustand die Eigenschaften der Metalle in nichts von ihren gewöhnlichen unterscheiden, hat Faraday selbst später jene Annahme aufgegeben, An die Nachweisung der qualitativen Erscheinungen der Induktion schloß sich dann sofort die Verknüpfung der einander nahestehenden volta- und magneto-elektrischen Induktion, die überdies durch die Ampere- schen Beobachtungen und Theorien von anderer Seite her vorbereitet war. Zur statisch-elektrischen Induktion blieb dagegen die Beziehung so lange eine sehr allgemeine, bis eine eindringendere theoretische Untersuchung der Induktionsgesetze vorgenommen war, und die letztere hat in diesem Fall auch erst eine Bestimmung der quantitativen In- duktionsgesetze möglich gemacht. Die Anwendung der allgemeinen logischen Induktionsregel läßt sich durch alle diese Untersuchungen verfolgen. So greifen in Faradays Arbeiten das Eliminations- und das Gradationsverfahren fortwährend ineinander ein. Das letztere wendet er an, indem er die Stärke des erregenden Stromes oder Magnetes, die Zahl der Drahtwindungen verändert; das erstere, indem er eine un- magnetische Nadel in die induzierte Rolle bald während der Schließung oder Öffnung, bald nur während der Strom geschlossen ist bringt, oder indem er die Effekte der induzierten Rolle bald mit der Einfügung von Eisenstäben, bald ohne dieselbe prüft, u. s. w. Für die Anwendung beider Methoden bei quantitativen Untersuchungen ist Coulombs Fest- stellung der Influenzgesetze mustergültig. Er eliminiert die Bedingungen der Erscheinungen meistens dadurch, daß er sie konstant erhält, während die eine Bedingung, deren Einfluß ermittelt werden soll, gradweise verändert wird. Nur bei der Feststellung des allgemeinen Gesetzes der elektrischen Fernewirkung eliminiert er den Einfluß der Größe und Gestalt der Körper, indem er die Entfernungen so groß wählt, daß dagegen die Dimensionen der Körper verschwinden. d. Die physikalische Abstraktion. Nächst der Mechanik ist die Physik diejenige Naturwissenschaft, die von dem Verfahren der Abstraktion den ausgiebigsten Gebrauch ‚Die physikalischen Methoden. ? 395 macht. Schon die Trennung der physikalischen Forschung von anderen Zweigen der naturwissenschaftlichen Untersuchung ist ein spezieller Fall derisolierenden Abstraktion (8. 12£.). Die Naturgegenstände werden zu Objekten physikalischer Analyse, indem man übereinstim- mende Erscheinungen, absehend von den sonstigen Eigenschaften der Körper, an denen sie vorkommen, zergliedert. So können die Gesetze der Lichtbrechung an beliebigen festen oder flüssigen durchsichtigen Körpern untersucht werden; die Aggregatform, die elastischen, ther- mischen und anderen Eigenschaften der auf ihr Brechungsvermögen untersuchten Körper bleiben dabei zunächst ganz aus dem Spiele. Wie die Unterscheidung der Physik von anderen Wissenschaften, so beruht daher auch die Gliederung derselben in ihre einzelnen Zweige auf dem nämlichen Abstraktionsverfahren. Schwere, Schall, Wärme, Licht u. s. w. sind Klassen von Naturerscheinungen, bei deren jeder die übrigen so viel als möglich außer Betracht bleiben. Ursprünglich ist diese Isola- tion von den unmittelbaren Unterschieden der sinnlichen Wahrneh- mung ausgegangen. Schwere und Wärme entsprechen den Empfin- dungsqualitäten des Tastsinns, der Schall ist das Objekt des Ge- hörs, das Licht das Objekt des Gesichtssinns. Elektrizität und Mag- netismus legten zuerst eine Bresche in dieses System einer naiven physi- kalischen Abstraktion; denn die Wirkungen jener Kräfte äußern sich bald in diesem, bald in jenem Sinnesgebiet, während doch eine unmittel- bare Zurückführung auf die anderen Naturkräfte zunächst unmöglich schien. Dazu kamen die Beziehungen, die sich zwischen den verschie- denen Erscheinungsgebieten, wie zwischen Licht und Schall, zwischen diesem und den Wellenbewegungen der Flüssigkeiten, ergaben. Je mehr die Physik dazu gelangt ist, bestimmte Anschauungen über die Natur der den einzelnen Erscheinungen zu Grunde liegenden Bewe- gungsformen schon bei ihren fundamentalen Abstraktionen zu ver- werten, umsomehr haben daher jene ersten Gliederungen rationelleren Einteilungsversuchen Platz gemacht, wenn auch für die erste Auf- fassung des empirischen Tatbestandes die Scheidung nach den Sinnes- gebieten insofern eine gewisse Bedeutung behält, als den verschieden- artigen Sinneseinwirkungen tiefere Unterschiede der hypothetisch an- genommenen oder objektiv nachweisbaren Vorgänge selbst entsprechen. Auf die physikalische Abstraktion folgt ihre Umkehrung, die Kolligation derelementaren Erscheinungen. Nach- dem diese an einem gegebenen Objekt oder an einem bestimmten Zu- sammenhang von Objekten jede für sich erforscht sind, sucht man sich über die Art ihrer Verbindung Rechenschaft zu geben. In der 396 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Regel hat dabei eine Erscheinung den Vortritt, und die Untersuchung der übrigen schließt sich erst an infolge der Fragen, die von jener aus angeregt werden. Nachdem man z. B. die doppelbrechende Eigen- schaft eines Kristalls erkannt hat, geht man zu der Untersuchung der thermischen, elastischen und thermo-elektrischen Erscheinungen an demselben über. Auf diese Weise gelangt die Physik durch die Ver- bindung der Untersuchungen zu einer umfassenden Erkenntnis sowohl der komplexen Naturerscheinungen wie der einzelnen Naturobjekte, die auch als spezielle Formen komplexer Erscheinungen betrachtet werden können. Dadurch arbeitet sie einerseits der naturhistorischen Forschung in die Hände, der sich erst mit Hilfe der physikalischen Untersuchung eine tiefere Einsicht in die Beschaffenheit der Natur- objekte eröffnet; anderseits gewinnt sie Aufschluß über den Zusammen- hang der einzelnen Erscheinungsgebiete und wird so zu allgemeineren Vorstellungen über deren Substrat und zur Formulierung von Natur- gesetzen geführt. In allen diesen Beziehungen ist die physikalische Abstraktion eine Weiterführung der in der Mechanik geübten Abstraktionsmethode, und sie ist mit dieser der mathematischen Abstraktion am nächsten verwandt. Von der letzteren trennt sie nur jenes besondere Merk- mal des mathematischen Verfahrens, wonach dasselbe von dem physi- schen Objekt überhaupt abstrahiert und bloß auf die zur Auffassung desselben erforderliche intellektuelle Tätigkeit Rücksicht nimmt. Da- gegen haben beide Abstraktionen dies miteinander gemein, daß sie nicht generalisieren, sondern isolieren. Die Mathematik entnimmt den sinnlichen Erscheinungen die in sie eingehenden begrifllichen Ele- mente von allgemeingültigem Charakter, die Zahlwerte und Raum- konstruktionen. Die in den letzteren bereits enthaltene Bewegungsan- schauung aufnehmend, fügt dazu die Mechanik zwei auf alle physikalische Erfahrung anwendbare Begriffe, die der Kraft und derMasse. Die physi- kalische Abstraktion führt dann auf ihren verschiedenen Gebieten immer nur zu speziellen Formen dieser Begriffe. Diesem Umstand verdankt die Mechanik ihre Stellung als die allgemeinere, zunächst der Mathematik untergeordnete Disziplin. Hinsichtlich des Ursprungs ihrer Begriffe stehen aber Physik und Mechanik auf einem Boden: beide emp- fangen die Anregung zu ihren Abstraktionen aus der objektiven Erfahrung, und zwar ist hier die Physik die vorausgehende Wissen- schaft, weil sie die speziellere ist. Auf die einzelnen Begriffe, welche die Physik von den verschiedenen Formen der Materie und ihren Bewegungs- gesetzen gewinnt, gründet die Mechanik durch eine generalisierende Die physikalischen Methoden. 28397 Abstraktion jene allgemeinen Begriffe von Kraft und Masse, die sie zu den geometrischen und phoronomischen Anschauungen hinzufügt. Da sich diese Generalisation nur allmählich vollziehen konnte, so hat die Mechanik in ihren Anfängen noch ganz den Charakter eines Zweigs der Physik: sie fließt mit der Physik der Schwere zusammen und wird aus dieser Verbindung erst unter dem Miteinfluß geometrischer und phoronomischer Betrachtungen gelöst. Mit der isolierenden vereinigt sich aber auch in der Physik die generalisierende Abstraktion. Wie die Mechanik von allen einzel- nen Kraftformen und von den spezifischen Unterschieden der materiellen Substanz absieht, um bloß die allgemeinen Begriffe von Kraft und Masse zurückzubehalten, so vollzieht sich innerhalb der Physik selbst schon ein allmählicher Übergang von den besonderen zu den allgemeineren Begriffen und Gesetzen. Für die wissenschaftliche Entwicklung der Physik ist es charakteristisch, daß hier die Generalisation stets die nachfolgende Abstraktionsform ist. Die Galileischen Fallgesetze, die Keplerschen Gesetze sind Erzeugnisse einer isolierenden Abstrak- tion, das Newtonsche Gravitationsgesetz dagegen ist durch eine Generali- sation aus diesen Gesetzen hervorgegangen. Indem man das Gravita- tionsgesetz hinwiederum mit anderen einzelnen Gesetzen der Ferne- wirkung zusammennimmt, läßt sich daraus als letzte Verallgemeinerung das Gesetz der Abnahme der fernwirkenden Kraft mit dem Quadrat der Entfernung gewinnen. Der letztere Begriff gehört jedoch bereits der allgemeinen Mechanik an, da in ihm von den besonderen Bedingungen der einzelnen Naturerscheinungen abgesehen wird. Auf diese Weise führt überhaupt die physikalische Generalisation stets bei einem be- stimmten Punkte aus dem Gebiete der Physik in das der Mechanik. Dieser Grenzpunkt ist daran leicht zu erkennen, daß über ihn hinaus die Verallgemeinerung eine rein begriflliche wird, während, so lange sie sich auf physikalischem Gebiete bewegt, der allgemeinere Begriff zu- gleich eine reale Bedeutung besitzt, insofern er die gemeinsame Ursache für eine Anzahl verschiedener Erscheinungen bezeichnet. So ist die Gravitation die gemeinsame Ursache der irdischen Schwere und der Planetenbewegungen; die nach dem umgekehrten Verhältnis des Qua- drats der Entfernungen wirkende Kraft ist aber eine bloß begriffliche Konzeption, der in der Wirklichkeit keine gemeinsame Ursache der Er- scheinungen, die ihr subsumiert werden können, entspricht. Ebenso beruht die Annahme einer Wellenbewegung des Äthers auf Grund der Gesetze der Fortpflanzung des Lichts und der elektromagnetischen Fernewirkungen auf einer realen Generalisation, der allgemeine Begriff 398 [Die Hauptgebiete der Naturforschung. einer Wellenbewegung dagegen hat nur eine begriffliche Bedeutung, und die Untersuchung der abstrakten Gesetze dieser Bewegung fällt darum dem Gebiet der Mechanik anheim. In allen diesen Beziehungen bewährt die Mechanik ihre vermittelnde Stellung zwischen der Physik und den mathematischen Wissenschaften. Die Generalisationen der Physik werden in dem Momente zu mechanischen Abstraktionen, wo sie die unmittelbare Beziehung zu konkreten Erfahrungen verlieren, und nur jene Reflexion auf die intellektuelle Form zurückbleibt, die überall den Charakter der mathematischen Abstraktion ausmacht. Von der reinen Mathematik unterscheidet sich aber die Mechanik wiederum dadurch, daß ihre Abstraktionen nicht schon bei den all- gemeinen Formen der Erfahrung beginnen, sondern erst an die spezifisch physikalische Erfahrung, an die Wahrnehmung der verschiedenen Formen natürlicher Vorgänge und ihre Beziehung auf gemeinsame Ursachen, sich anschließen. Mit Rücksicht auf ihr Verhältnis zur vorausgehenden isolierenden Abstraktion hat die Generalisation der physischen Gesetze eine ge- wisse Verwandtschaft mit der Umkehrung jenes ersteren Verfahrens, mit der Kolligation. Beide führen in verschiedener Richtung die Unter- suchung, die mit der Isolation begonnen, weiter, und beide sind Ver- bindungsformen ursprünglich getrennter Untersuchungsgebiete, deren charakteristischer Unterschied hauptsächlich darin liegt, daß nur die Generalisation zugleich Abstraktion ist. Während die Kolligation verschiedenartige Erscheinungen an demselben Objekt verbindet, ohne dabei irgend einen Bestandteil dieser Erscheinungen zu eliminieren, verknüpft die physikalische Generalisation gleichartige Erscheinungen an verschiedenen Objekten, indem sie zugleich diejenigen Elemente eliminiert, in denen sich die betreffenden Erscheinungen unterscheiden. Übrigens kann auch die Kolligation zu neuen Abstraktionen Anlaß bieten, indem sie aus der Regelmäßigkeit der Verbindung gewisser Vorgänge allgemeinere Voraussetzungen gewinnt, die über diese Ver- bindung Rechenschaft geben. So lassen sich z. B. die Erscheinungen der Kohäsion, der Lichtbrechung, der Leitung der Wärme und Elektri- zität, die ein Körper zeigt, vereinigen, um daraus ein allgemeines Schema seiner Molekularstruktur zu gewinnen. Wesentlich gefördert werden die auf solcher Grundlage ausgeführten Abstraktionen, wenn es möglich ist, die verschiedenen Erscheinungsgebiete auch experimentell zu verknüpfen, indem man also z. B. den Einfluß ermittelt, den die Erwärmung des Kristalls auf seine optischen Eigenschaften ausübt. In diesem auf die Kolligation folgenden Abstraktionsverfahren begegnet Die physikalischen Methoden. 399 uns der Charakter der isolierenden Abstraktion wieder, jedoch mit einer eigentümlichen Umgestaltung, die für die allgemeinsten Begriffe der Physik bezeichnend ist. In den Vorstellungen über die Kon- stitution der Körper, die zum Zweck der Erklärung der Erscheinungen entwickelt werden, abstrahiert man nämlich von allen denjenigen Eigenschaften der materiellen Substrate, die für die betreffende Er- klärung nicht notwendig in Rücksicht gezogen werden müssen. In diesem Sinne betrachtet die kosmische Gravitationstheorie die Welt- körper als Punkte, in denen die von ihnen ausgehenden Wirkungen konzentriert gedacht werden. Die Molekularphysik benützt schematische Vorstellungen, in denen die zur Ableitung der einzelnen Tatsachen notwendigen Voraussetzungen auf ihren einfachsten anschaulichen Ausdruck gebracht sind. Sie betrachtet die Körper bald als absolut homogene Massen, deren einzelne Teile Wirkungen aufeinander aus- üben, die nach einem bestimmten Gesetze von ihren Entfernungen ab- hängen, bald als Komplexe physischer Punkte, die anziehend oder ab- stoßend aufeinander wirken, oder für die bestimmte Bewegungszustände vorausgesetzt werden, u. s. w. In allen diesen Fällen ist man sich be- wußt, daß solchen Abstraktionen höchstens eine annähernde Gültig- keit für die Erfahrung zukommen kann. Die Abstraktion selbst ist eine isolierende, insofern bei ihr ausschließlich auf die für die Er- klärung der Erscheinungen wesentlichen Eigenschaften der Substanzen Rücksicht genommen wird. Sie unterscheidet sich von jener Ab- straktion, die den Anfang der physikalischen Untersuchung bildet, dadurch, daß sie sich nicht auf die Erscheinungen selbst bezieht, sondern auf die Voraussetzungen, die man zu ihrer Interpretation erforderlich hält. Es herrscht daher bei dieser Abstraktion eine viel größere Willkür; denn meist können abstrakte Voraussetzungen von verschiedener Be- schaffenheit den empirischen Forderungen genügen. Namentlich aber zeigt es sich, daß sich diese hypothetischen Abstraktionen unter dem Einfluß der Kolligation der Tatsachen verändern. Indem die letztere regelmäßige Beziehungen kennen lehrt zwischen ursprünglich getrennt gehaltenen Erscheinungsgebieten, müssen auch die abstrakten Begriffe über dasmaterielle Substratder Vorgänge jenen Beziehungen entsprechen. Auf diese Weise entsteht schließlich die Forderung, die letzten Abstrak- tionen der Physik so zu gestalten, daß in ihnen zwar keine überflüssige Voraussetzung gemacht ist, daß sie aber doch über alle Erscheinungen Rechenschaft geben, welche die wirklichen Naturkörper unserer Beob- achtung darbieten. Die Abstraktionen dieser letzten Stufe der physikalischen Unter- 400 Die Hauptgebiete der Naturforschung. suchung bilden nun die Grundlagen für die Deduktion der Natur- erscheinungen. So ist es die isolierende Abstraktion, die in ihren ver- schiedenen Formen zugleich den verschiedenen logischen Methoden der physikalischen Forschung parallel geht. Durch Trennung der Erscheinungen leitet sie die Induktion ein und begleitet sie auf allen ihren Stadien; mit der Bildung abstrakter Voraussetzungen über das Substrat der Erscheinungen eröffnet sie aber das deduktive Ver- fahren und bildet einen wesentlichen Bestandteil der theoretischen Naturerklärung. e. Die physikalische Deduktion. Nachdem durch Analyse, Induktion und Abstraktion die all- gemeinen Voraussetzungen über die Grundlagen bestimmter Natur- vorgänge sowie die Gesetze, denen sie folgen, gewonnen sind, beginnt das Geschäft der physikalischen Deduktion. Diese kann zwei Methoden einschlagen. Alssynthetische Deduktion vermittelt sie die Erklärung der zusammengesetzten Erscheinungen durch Verbindung einfacher Annahmen, die entweder aus der Erfahrung abstrahiert oder zum Zweck der Deduktion hypothetisch eingeführt werden. Alsanalytische Deduktion entwickelt sie die ein- zelnen Erscheinungen und deren spezielle Gesetze durch Zerlegung der allgemeinen Gesetze, unter denen sie als besondere Fälle enthalten sind. Da nun einfache Annahmen in der Regel durch eine Analyse der zunächst in einer mehr oder weniger verwickelten Gestalt gegebenen konkreten Erfahrungen gewonnen werden, und da umgekehrt die allgemeinen aus der Verbindung spezieller Gesetze zu entstehen pflegen, so setzt überall die synthetische Deduktion eine analytische Untersuchung und da- gegen die analytische Deduktion ein synthetisches Verfahren voraus; auch kann es vorkommen, daß beide Methoden teils miteinander, teils mit induktiven Erläuterungen abwechseln. Die synthetische Deduktion physikalischer Tatsachen ist in ihrer historischen Entwicklung wesentlich durch das Beispiel der Mathematik bestimmt worden. Die physikalische Untersuchung selbst würde niemals zu jenem Beweisverfahren geführt haben, wie es in den Arbeiten eines Newton und Huygens herrscht und lange Zeit als die mustergültige Darstellungsform auch in der Physik galt. Vielmehr ist es der äußere Einfluß der geometrischen Demonstrationsmethode Euklids, der sich hier das widerstrebende Material der physikalischen Deduktion dienstbar gemacht hat. Gerade das bedeutendste Werk dieser Richtung, Newtons „Prinzipien der mathematischen Natur- Die physikalischen Methoden. 401 philosophie“, zeigt dies in der augenfälligsten Weise. Die Definitionen und Axiome, die Euklid an die Spitze seiner Elemente und ihrer Haupt- abschnitte stellt, bieten für die Auffassung keinerlei Schwierigkeiten; sie erzwingen sich durch die anschauliche Beschaffenheit der Objekte, auf die sie sich beziehen, unmittelbare Anerkennung, so daß sie selbst für einen elementaren Lehrgang als naturgemäße Ausgangspunkte angesehen werden können. Ganz anders verhält es sich mit den Defini- tionen der Masse, der Geschwindigkeit und der Kraft und mit den drei mechanischen Axiomen, auf die Newton seine Entwicklungen gründet (8.314 fi.). Sie sind von so abstrakter Natur, daß an eine unmittelbare Nachweisung derselben in der Anschauung nicht zu denken ist, und sie stützen sich so sehr auf Induktionen, die erst auf dem Wege wissen- schaftlicher Zergliederung möglich sind, daß eine Begründung mittels dieser Induktionen nicht entbehrt werden kann. Dies macht sich denn auch in Newtons Darstellung geltend. Jene Begründungen, die ihm die gewählte systematische Form der Prinzipien voranzustellen verbietet, sieht er sich genötigt in ausführlichen Anmerkungen nachfolgen zu lassen. So schließen sich an seine Definitionen Auseinandersetzungen über absolute und relative Zeit, absoluten und relativen Raum, wirk- liche und scheinbare Bewegung, über den Begriff der Ursache und seine physischen Anwendungen; und die mechanischen Axiome er- läutert er, hinweisend auf die Versuche von Galilei, Wren, Wallis und Huygens, durch experimentelle Erfahrungen. Alle diese Betrachtungen besitzen einen induktiven und zugleich analytischen Charakter. In diesem Sinne bilden sie den näheren Beleg zu der von Cotes in der Vor- rede zur zweiten Auflage der Prinzipien gemachten Bemerkung, daß die Methode eine zweifache, eine analytische und eine synthetische sei: die Kräfte der Natur und ihre einfachen Gesetze würden aus einigen ausgewählten Erscheinungen mittels der Analyse abgeleitet und dann mittels der Synthese als Eigenschaften der übrigen Erscheinungen dargelegt. Wenn dies der naturgemäße Entwicklungsgang der syn- thetischen Deduktion ist, so wird aber augenscheinlich die Darstellung desselben durch die unveränderte Annahme der Euklidischen Demon- strationsform beeinträchtigt, da diese für jene grundlegende Analyse keinen Platz läßt, so daß die letztere an einer ihrer Bedeutung nicht ent- sprechenden Stelle Unterkunft suchen muß. Ein weiterer Übelstand dieser Demonstrationsform tritt in der Art der Verwendung von Hilfslehren hervor, die für die Deduktion nicht entbehrt werden können, aber doch dem Gegenstand derselben eigentlich fremd sind. Dieser Übelstand wird umso fühlbarer, je zahl- Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 26 402 Die Hauptgebiete der Naturforschung. reicher die Voraussetzungen werden. Schon Euklids Elemente bringen fast die ganze damals bekannte Arithmetik in der Form einer Ein- schaltung, die zu den geometrischen Messungsaufgaben, deren Lösung nur mittels der Kenntnis der Zahlen möglich ist, vorbereiten soll. In den physikalischen Darstellungen, welche die synthetische Methode wählen, nehmen solche Einschaltungen und Vorbereitungen noch einen größeren Raum ein. So eröffnet Newton das erste Buch seiner Prin- zipien mit einer rein mathematischen Abhandlung „über die Methode der ersten und letzten Verhältnisse“, und der ganze Inhalt der beiden ersten Bücher, der die reine Mechanik behandelt, namentlich des ersten, verfolgt sichtlich den Zweck, die Entwicklungen des dritten Buchs über das Weltsystem vorzubereiten. Denn mit Rücksicht darauf werden von Anfang an die mechanischen Probleme ausgewählt. Die Be- wegungen von Körpern durch Zentripetalkräfte, in exzentrischen Kegelschnitten, in beweglichen Bahnen, die Bewegungen kugelförmiger Körper, welche durch Zentripetalkräfte gegeneinander hingezogen werden u. s. w., alle diese Probleme sind so beschaffen, daß bei dem Übergang zu den speziellen Bedingungen des Weltsystems nur noch die Einführung einzelner durch die Erfahrung gegebener Data, nirgends mehr die Lösung einer neuen mechanischen Aufgabe erfordert wird. Wohl aber wird bei diesem abschließenden Teile der Darstellung von neuem das Bedürfnis nach einer Herbeiziehung der Induktion fühlbar; denn erst die durch sie ermittelten Tatsachen gestatten die Anwendung der zuvor gewonnenen allgemeinen mechanischen Sätze auf die konkreten Erscheinungen. Da nun solche einzelne Data der Erfahrung bei der synthetischen Methode in die Demonstration der einzelnen Lehrsätze nicht wohl eingeführt werden können, weil das gesamte Material, über das der Beweis des Lehrsatzes verfügt, als gegeben in vorangegangenen Sätzen vorausgesetzt ist, so sieht sich Newton genötigt, jenen Daten der Erfahrung eine ähnliche Stellung anzuweisen wie zuvor den De- finitionen und Axiomen: er stellt sie unter dem Titel „Erscheinungen“ neben einigen allgemeinen methodischen Regeln über die Erforschung der Natur an die Spitze des dritten Buchs der Prinzipien. Darin liegt freilich insofern keine Inkongruenz, als jene die Mechanik einleitenden Sätze ebenfalls durch Induktion begründet werden; immerhin handelt es sich dort um allgemeinste Prinzipien, hier um spezielle, meistens in einzelnen numerischen Werten auszudrückende Tatsachen. In vielen Fällen hat übrigens eine solche kurze und beiläufige Er- gänzung des synthetischen Ganges durch Ausführungen von induktivem Charakter dem Bedürfnisse nach anschaulicher Begründung, welches Die physikalischen Methoden. 403 besonders bei der Darstellung neuer physikalischer Lehren obwaltet, nicht Genüge geleistet, sondern die Urheber derselben sahen sich ge- drungen, induktiven Entwicklungen und analytischen Deduktionen einen größeren Spielraum zu lassen, wodurch diese nun als völlig selb- ständige Begründungen der synthetischen Deduktion, die ihnen ent- weder vorausgehen oder nachfolgen kann, gegenübertreten. Ein hervor- ragendes Beispiel hierfür bilden Galileis Discorsi*). Wie die Begabung dieses großen Physikers eine in eminentem Maße analytische ist, so bevorzugt er auch durchaus die analytische Deduktionsmethode, in die er jedoch teils induktive Entwicklungen, teils kritische und pole- mische Ausführungen einstreut. Dadurch erscheint der in der Zeit der Wiedererneuerung des Platonismus beliebt gewordene Dialog bei ihm als eine nicht bloß äußerlich angeeignete, sondern dem inneren Ge- dankengang vollkommen angepaßte Darstellungsform. Im dritten und vierten Tag der Discorsi wird aber diese Form durch synthetische De- duktionen in Euklidischer Weise unterbrochen, für die zugleich die lateinische Sprache gewählt ist, während der ungezwungenere Dialog in leichtem Italienisch dahinfließt. Dieser dritte und vierte Tag handeln von den Bewegungen schwerer Körper, und die einleitenden Worte Galileis verraten deutlich, daß er mit Absicht gerade den wichtigsten Teil seiner Forschungen in einer Anzahl streng formulierter Axiome und Theoreme zusammenfaßt. Aber der Dialog wird durch die so ge- änderte Form der Darstellung nicht ganz unterdrückt. Wo es nötig scheint, setzt er in der Form einer Unterhaltung über die vorgetragenen Sätze ein, um diese näher zu erläutern und dem Leser den analytischen Gedankengang vorzuführen, durch den sie gefunden sind. Übrigens wählte auch Newton, der die synthetische Demonstrationsmethode so hoch schätzte, in der früher von ihm verfaßten populären Abhandlung über das „Weltsystem “**) einen vorzugsweise analytischen Weg. Er war eben der Überzeugung, daß die synthetische Methode zwar die logisch strengere, aber deshalb die schwierigere sei, weil die Resultate selbst immer analytisch gefunden würden. In der Tat war diese Ansicht gegenüber jener Handhabung der analytischen Deduktion, wie sie noch zu Newtons Zeit auf physikalischem Gebiet herrschte, und für die uns Descartes’ Naturphilosophie ein augenfälliges Beispiel dar- bietet, vollkommen berechtigt. Gerade sie verzichtete nämlich fast ganz auf die Anwendung mathematischer Hilfsmittel. Höchstens be- *) Opere di Galileo Galilei, ediz. E. Alberi,t. XII. **) Sie ist von Wolfers seiner Übersetzung der Prinzipien beigefügt. 404 Die Hauptgebiete der Naturforschung. diente sie sich einfachster arithmetischer Operationen oder geometrischer Konstruktionen. Noch aber hatte sie sich die mathematische Analysis nicht dienstbar gemacht. Erst die mathematische Physik des 18. Jahr- hunderts vollzog diesen schon durch Descartes’ analytische Geometrie nahe gelegten und durch die Erfindung der Infinitesimalrechnung vollends unvermeidlich gewordenen Schritt. Hiermit war nun aber auch der einzige Grund hinweggefallen, der gegen die sonstigen Nach- teile der synthetischen Methode ins Gewicht fiel: die mit den Hilfs- mitteln der mathematischen Analysis ausgerüstete analytische Deduk- tion ließ an Strenge nichts zu wünschen übrig, und sie verband damit den großen Vorzug, daß sie nicht bloß fertige Resultate in eine beweis- kräftige Form brachte, sondern daß sie sich vor allem als ein wichtiges Hilfsmittel der Forschung selbst erwies. Die analytische Deduktion der Naturerscheinungen geht hiernach von Erfahrungsgesetzen oder von hypothetischen Vor- aussetzungen allgemeinster Art aus und sucht aus denselben sukzessiv die einzelnen Erscheinungen und die speziellen Gesetze, von welchen dieselben beherrscht werden, abzuleiten. Es geschieht dies durch die Zerlegung jener allgemeinen Sätze in die besonderen Fälle, die unter ihnen enthalten sind. Der Weg, der hier eingeschlagen wird, besitzt demnach den Charakter einer Begriffisanalyse. Er unterscheidet sich aber von Begriffsanalysen anderer Art durch die anschauliche Form, welche die Allgemeinbegriffe der physikalischen Deduktion vermöge der Forderung, daß sie zur Ableitung bestimmter Naturerscheinungen dienlich sein sollen, besitzen müssen. Schließlich enthalten nämlich jene Allgemeinbegriffe Voraussetzungen, die sich teils auf die Be- schaffenheit des materiellen Substrates, teils auf die kausalen Be- ziehungen der Teile dieses Substrates zueinander beziehen. Da nun die Materie von der Physik als die unveränderliche, in räumlicher Form gegebene Grundlage der Erscheinungen angesehen wird, die Gesetze der Wechselwirkungen ihrer Teile aber wegen der qualitativen und quantita- tiven Konstanz der Materie nur die Form von Bewegungsgesetzen be- sitzen können, so wird durch die Festhaltung dieser allgemeinen Voraus- setzungen jene Forderung der Anschaulichkeit bereits erfüllt, und im einzelnen haben die Prämissen der Deduktion nur noch der Maxime zu folgen, daß die aus ihnen abgeleiteten Folgerungen mit der Er- fahrung übereinstimmen müssen. Die Zergliederung der allgemeinen Voraussetzungen, in der das Wesen der analytischen Deduktion besteht, vollzieht sich nun, wie Die physikalischen Methoden, 405 bei jeder Begriffsanalyse, durch die Einführung spezieller Bedingungen, mittels deren man sich den in der wirklichen Erfahrung gegebenen Verhältnissen schrittweise zu nähern sucht. Eine solche Einführung besonderer Bedingungen kann stets als ein Verfahren der Substi- tution angesehen werden, indem man dabei für solche Begriffs- elemente, denen in den ursprünglichen Voraussetzungen eine un- bestimmtere und darum allgemeinere Bedeutung angewiesen war, speziellere Begriffe einführt, die irgend einem konkreten Fall der physikalischen Erfahrung entsprechen. Dieses Substitutionsverfahren zerfällt in der Regel wieder in zwei Akte: in einen ersten, durch den aus der allgemeinen Voraussetzung ein einzelnes Erscheinungs- gebiet nur in abstrakter Weise abgeleitet wird, so daß die konkreten Werte der Erscheinungen noch nicht in Betracht kommen, sondern die in den Ausdruck der Gesetze eingeführten Größen eine unbestimmte Bedeutung bewahren. Daran schließt sich dann als zweiter Akt die Einführung konkreter Werte in die abstrakt formulierten Gesetze und die damit zusammenhängende numerische Feststellung gewisser konstanter Größen, die für die messende Vergleichung der Erschei- nungen wesentlich sind. Der erste dieser Akte fällt noch vollständig in den Bereich der reinen Deduktion. Wenn auch bei der Substitution spezieller Bedingungen eine Rücksicht auf die Erfahrung niemals fehlen kann, so ist doch diese hier keine andere als bei der Gewinnung der allgemeinsten Prämissen der Deduktion: es werden Annahmen aufgestellt, von denen man erwartet, daß sie sich als konform den in der Erfahrung gegebenen Bedingungen erweisen werden, wobei aber doch der wirkliche Nachweis dieser Konformität erst durch das Ge- lingen der Deduktion erbracht wird, zu welchem Gelingen immer auch noch der zweite Akt der Substitution, die Einführung konkreter Einzelwerte an Stelle der bis dahin festgehaltenen abstrakten Größen, erfordert wird. Demgemäß beruht dieser zweite Akt auf einer Herbei- ziehung der Induktion. Die fraglichen Einzelwerte sind nume- rische Data, die durch Beobachtung oder Experiment festgestellt werden müssen. Nun kann es freilich geschehen, daß sie schon vor dem Beginn der Deduktion durch eine derselben vorangehende Induktion gefunden wurden; aber ebenso oft ereignet es sich, daß sich die Induktion an die analytische Deduktion anschließt, oder daß mindestens eine Revision der früher gewonnenen experimentellen Data vorgenommen werden muß, weil die deduktiv abgeleiteten Gesetze erst die exakten Fragestellungen enthalten, deren empirische Beantwortung die Theorie der Erscheinungen abschließt. 406 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Die Induktion, die diese Vollendung der analytischen Deduktion bewirkt, verfolgt regelmäßig wieder zwei Ziele. Erstens sucht sie eine Bestätigung für die Voraussetzungen der Deduktion zu gewinnen, indem sie nachweist, daß die experimentell gefundenen Tatsachen mit den abgeleiteten Folgerungen übereinstimmen. Dies ist die veri- fizierende Induktion, in welcher wesentlich nur relative Größenbestimmungen vorkommen, da aus abstrakten Voraussetzungen zwar Schlüsse über die quantitativen Verhältnisse der Naturerschei- nungen, niemals aber solche über die absoluten Werte gewisser Wir- kungen gewonnen werden können. Sodann sucht man die abstrakten Werte, die in die abgeleiteten Naturgesetze eingehen, durch die Messung zu fixieren, um auf solche Weise die Konstanten zu ermitteln, in denen die Wirkung bestimmter Ursachen ihren quantitativen Ausdruck findet. Dies können wir die determinierende Induktion nennen. Beiihr handelt essich stetsuma bsolu te Maßbestimmungen, durch welche die konkrete Größe der Erscheinungen, über die der abstrakte Inhalt der Gesetze nichts aussagt, festgestellt werden soll. Überblicken wir demnach den ganzen Verlauf der analytischen De- duktion samt ihren Vorbereitungen und Ergänzungen, so läßt sich der- selbe in vier Stadien trennen, von denen jedoch nur die zwei ersten der eigentlichen Deduktion, die zwei letzten der auf sie folgenden In- duktion angehören. Sie sind: 1) die Aufstellung abstrakter Voraus- setzungen, 2) die Ableitung einzelner Gesetze aus diesen Voraus- setzungen, 3) die Verifikation der Gesetze, und 4) die Determination der in die Gesetze eingehenden Konstanten der Naturerscheinungen. Bei Deduktionen verwickelterer Art, bei denen die abgeleiteten Tatsachen meistens wieder in verschiedene Gruppen zerfallen, deren jede besondere Voraussetzungen erfordert, pflegt dieser regelmäßige Verlauf Abänderungen zu erfahren, die sich dadurch oft noch mannig- faltiger gestalten, daß eine möglichst vollständige Darstellung natur- gemäß auch jene vorbereitende Induktion, die dem Beginn der ana- lytischen Deduktion vorangeht, herbeizuziehen sucht, um durch sie von vornherein die Aufstellung der Voraussetzungen zu rechtfertigen. Da nun die Verifikation und die Determination der Größenwerte der Erscheinungen ebenfalls der Induktion zugehören, so kann es geschehen, daß die letztere der eigentlichen Deduktion nur einen verhältnismäßig kleinen Raum übrig läßt. Aber gerade hierin verrät sich nicht zum wenigsten, wie sehr die analytische Deduktion den Bedürfnissen der Naturerklärung angepaßt ist, indem sie es gestattet, einen solchenWechsel der logischen Hilfsmittel in jedem Augenblick eintreten zu lassen, Die physikalischen Methoden, 407 sobald er durch die Beschaffenheit des Gegenstandes gefordert ist, ohne daß dadurch der naturgemäße Gang der Entwicklungen unter- brochen wird. Ein hervorragendes Beispiel dieser Art ist schon das bahnbrechende Werk der neueren Naturwissenschaft, die Schrift des Kopernikus „De revolutionibus orbium coelestium“. Das erste Buch bringt die Begründung der allgemeinen Voraussetzungen des neuen Weltsystems. Abgesehen von spekulativen Betrachtungen, denen wir heute keine bindende Kraft mehr beimessen, und die sich hauptsächlich auf die Forderungen der Vollkommenheit und der Symmetrie in der Anordnung der Gestirne beziehen, besteht diese Begründung aus einer Reihe von Induktionen. Die erste bringt den Nachweis für die kugel- förmige Gestalt der Erde, eine zweite stellt fest, daß die Erde nicht den Mittelpunkt der Planetenbahnen bilde, und eine dritte zeigt, daß die Größe der Erde verschwindend im Verhältnis zu der Entfernung der Fixsterne sein müsse. Teils auf diese Gründe, teils auf die Darlegung der Unzulänglichkeit der Ptolemäischen Anschauung stützt dann Kopernikus seine im 10. und 11. Kapitel aufgestellte neue Hypo- these von der Ordnung der Himmelskreise und von der dreifachen Bewegung der Erde. Hiermit ist die allgemeine Voraussetzung für die Deduktion der Erscheinungen gewonnen. Doch setzt die letztere noch einige geometrische Hilfsmittel voraus, die in den letzten Kapiteln des ersten Buchs in der von der Entwicklung der astronomischen Lehren völlig abweichenden synthetischen Form der Euklidischen Demonstration auseinandergesetzt werden. Nun beginnt erst mit dem zweiten Buch die eigentliche Deduktion. Diese gliedert sich aber wieder in mehrere Teile, bei deren jedem sich sofort die Verifikation und die Determination der Erscheinungen mit der Ableitung aus der vorangestellten Grundhypothese verbinden. In dieser Weise umfaßt das zweite Buch die Theorie der täglichen Bewegungen der Erde, das dritte die der jährlichen Bewegungen und der sekularen Veränderungen, das vierte die Bewegung des Mondes, das fünfte und sechste die Planetenbewegungen. Man findet hier überall das Beobachtungs- material an den geeigneten Stellen eingefügt in die Darstellung. Den- noch bringt es der logische Gang der letzteren mit sich, daß in der Auseinandersetzung der einzelnen Lehren die verschiedenen Stadien der analytischen Deduktion meistens ihre normale Stellung bewahren. Haben wir hier das Beispiel einer Naturerklärung vor uns, die sich auf das engste an Tatsachen der Erfahrung anschließt und darum eines reichen Unterbaues von Induktionen sowie einer fortwährenden 408 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Beihilfe derselben bedarf, so liefert dagegen Descartes’ Natur- philosophie den ersten umfassenden Versuch einer physikalischen Theorie, deren Voraussetzungen der induktiven Begründung fast ganz entbehren, so daß sie nur durch die nachträgliche Anpassung an die Erfahrung sich rechtfertigen können. Es wird gestattet sein, dieses Beispiel trotz seiner großen Mängel hier anzuführen, da es für eine bestimmte Klasse physikalischer Theorien eine vorbildliche Bedeutung gewonnen hat. In der Tat können wir zwei Hauptrichtungen unter- scheiden, in denen sich seit den Anfängen der neueren Naturwissenschaft die physikalische Deduktion bewegt. Die eine sucht im Sinne des großen Werkes des Kopernikus aus allgemeinen durch Induktion gefundenen Erfahrungssätzen die Erscheinungen abzuleiten. Die be- deutendste Leistung in dieser Richtung, die übrigens für die Darstellung den synthetischen Weg wählt, sind Newtons Prinzipien. Die andere sucht aus willkürlichen oder auf spekulativem Wege gewonnenen An- nahmen die Tatsachen der Erfahrung zu entwickeln. Hier ist Des- cartes’ Naturphilosophie das Vorbild, das später in zahlreichen mathematischen Theorien Nachfolge gefunden hat. Die Begründung, die Descartes im Eingang des zweiten Teils seiner „Prinzipien der Philosophie“ seinen Voraussetzungen über die Materie zu geben sucht, nimmt diesen, physikalisch betrachtet, kaum den Charakter willkürlicher Hypothesen, abgesehen von der strengen Leugnung des leeren Raumes und der Annahme der qualitativen Gleichartigkeit und Konstanz der Materie, für welche zwar nicht die von Descartes geltend gemachten Gründe, aber doch bestimmte Motive der An- schauung eintreten. (Vgl. Bd. I, S. 5095.) Zu dieser allgemeinen Hypo- these kommen dann neben dem teleologischen Prinzip der Erhaltung der Quantität der Bewegung drei Bewegungsgesetze, von denen die zwei ersten mit den Galileischen Prinzipien der Trägheit und der geradlinigen Bewegung identisch sind, während das dritte eine falsche Anwendung jenes teleologischen Prinzips ist. Aber diese Bewegungsgesetze spielen keine erhebliche Rolle in der nachfolgenden Deduktion. Indem diese sich auf qualitative Betrachtungen beschränkt, macht sie im wesent- lichen nur von den vorausgegangenen Annahmen über die Konstitution der Materie Gebrauch. Nacheinander werden so die verschiedenen Erscheinungsgebiete, die kosmischen Bewegungen, die geophysischen Tatsachen, Schwere, Wärme, Licht, Magnetismus, abgeleitet, indem Descartes, gemäß dem Prinzip der analytischen Deduktion, dar- zutun sucht, daß sie sich aus dem aufgestellten Begriff der Materie mittels der Einführung einiger besonderer Voraussetzungen über die Die physikalischen Methoden. 409 Lage- und Bewegungsverhältnisse der Elemente ergeben. Mit der Erklärung der einzelnen Erscheinungen verbindet sich außerdem noch eine Art von Verifikation, bei der auf die Übereinstimmung mancher Nebenumstände mit der angenommenen Grundhypothese hingewiesen wird, wogegen die determinierende Induktion in diesem Fall wegen der qualitativen Natur der Entwicklungen keine Stelle findet. Der wesent- lichste Unterschied dieser Anwendungsform der analytischen Deduktion von der vorigen besteht demnach offenbar darin, daß hier die vorberei- tende Induktion völlig hinwegfällt, da den aufgestellten Voraussetzungen eine ihnen vor jeder einzelnen physikalischen Erfahrung zukommende Notwendigkeit beigemessen wird. Die spätere Entwicklung der Physik hat darum spekulative Begründungen, wie sie zu diesem Zweck Des- cartes anwendet, allmählich ausgeschlossen. Die gemachten Voraus- setzungen wurden vielmehr entweder als willkürliche Hypothesen behan- delt, die ihre Rechtfertigung nachträglich erst durch die gelingende De- duktion erlangen müssen, oder man übertrug abstrakte Begriffe der reinen Mechanik unmittelbar auf das physikalische Gebiet, indem man das Prinzip der Einfachheit, das bei der Gestaltung dieser Be- grifie maßgebend gewesen war, auch auf die Modifikationen an- wandte, die mit ihnen zum Behuf der Anwendung auf bestimmte Er- scheinungen notwendig wurden. Erst durch die Einführung der mathematischen Analysis ist es der analytischen Deduktion möglich geworden, den Charakter der logischen Strenge, den bis dahin das synthetische Verfahren allein für sich in Anspruch nahm, mit den Vorzügen einer naturgemäßen, ebenso- wohl der Untersuchung wie der Darstellung dienenden Gedanken- entwicklung zu verbinden. Längere Zeit noch, nachdem die Analysis der Physik bereits völlig dienstbar geworden, dauerte es, bis das Vorur- teil, als ob die synthetische Methode allein die hier erforderliche Strenge gewähre, beseitigt war. Allmählich nur sprengte di» mit den Hilfs- mitteln der Analysis operierende Deduktion die Form der syn- thetischen Demonstration. In den mechanischen und physikalischen Schriften eines Euler, eines Johann und Daniel Bernoulli spielt noch immer die Beweisführung in Euklidischer Manier eine hervor- ragende Rolle. In der Vorrede zu seiner Mechanik hat Euler dem synthetischen Verfahren vorgeworfen, daß es zwar von der Wahrheit der vorgetragenen Sätze überzeuge, daß es aber keine hinreichend klare Erkenntnis derselben verschaffe, und er hat seine eigene Darstellung als eine analytische bezeichnet, was sie in der Tat nach dem vorherrschen- den Verfahren in der Behandlung der einzelnen Probleme auch ist. 410 Die Hauptgebiete der Naturforschung, Gleichwohl trennt er den Stoff in der hergebrachten Weise in eine Reihe lose aneinander gefügter Definitionen, Lehrsätze und Aufgaben und verkümmert sich dadurch gerade einen der größten Vorzüge der ana- Iytischen Methode, den Zusammenhang der Untersuchungen. Zugleich bemerkt man aber, daß diese Ähnlichkeit mit Euklid oder Newton nur eine äußerliche bleibt. Weitaus den größten Raum nehmen Auf- gaben und ihre Lösungen ein. Axiome fehlen ganz; dafür besitzen die wenigen Lehrsätze, die im Eingang der Hauptabschnitte vorkommen, zumeist einen axiomatischen Charakter, trotz der ihnen beigefügten ontologischen Scheinbeweise in Wolffscher Art. Nun läßt sich die analytische Deduktion eines einzelnen Falles aus den für ihn gelten- den allgemeinen Gesetzen selbstverständlich immer leicht in die Form einer Problemstellung bringen, wo dann die Auflösung des Problems die eigentliche Deduktion in sich schließt. Dieses Übergewicht der Aufgaben ist daher ein äußeres Zeichen dafür, daß hier eine Methode zu Grunde liegt, die sich nur gezwungen der synthetischen Form fügt. Das nämliche gilt von anderen analytischen Arbeiten des 18. Jahr- hunderts. Einer der ersten, die mit Erfolg die Fesseln einer überlebten Form abstreiften, ist Lagrange, dessen „Möcanique analytique“ von maßgebendem Einflusse auf die ganze nachfolgende Entwicklung der mathematischen Physik geworden ist. Obgleich sich dieses Werk nicht mit physikalischen Problemen im engeren Sinn beschäftigt, so mag wegen dieser mustergültigen Bedeutung für die jetzt herrschende Art der physikalischen Deduktion hier dessen Gedankengang kurz skizziert werden. Abgesehen von den historischen Einleitungen, die jedem der beiden Hauptteile, der Statik und Dynamik, vorangestellt sind, ist in diesen selbst die Entwicklung eine vollständig analoge. Zunächst wird auf dem Wege einer vorbereitenden Induktion dort ein allgemeines Gesetz des Gleichgewichts, hier ein allgemeines Gesetz der Bewegung mathematisch formuliert, aus dem nun in der nachfolgenden Dar- stellung alle einzelnen statischen und dynamischen Gesetze analytisch entwickelt werden. Der abstrakte Charakter der Mechanik bringt es in diesem Falle mit sich, daß die vorbereitende Induktion nicht auf experimentelle Erfahrungen, sondern auf allgemeingültige Anschauungen sich berufen kann. Die Begründung, die Lagrange von dem Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten gibt, hat durchaus den Charakter einer solchen Induktion. Dieses Prinzip liefert ihm aber unmittelbar die allgemeine Formel für das Gleichgewicht irgend eines Systems, und mittels einer weiteren Begrifisbestimmung über das Maß einer be- Die physikalischen Methoden. 411 schleunigenden Kraft, die sich auf eine ähnliche Induktion stützt, gewinnt er im Eingang des zweiten Teils aus dem nämlichen Prinzip die Grundgleichung der Dynamik. Der ganze Aufbau der Mechanik vollzieht sich nun in der Form einer Analyse der an die Spitze ge- stellten Grundformeln. In der Statik wird die allgemeine Gleichung des Gleichgewichts zunächst auf die fortschreitende, dann auf die dre- hende Bewegung eines Systems angewandt; es wird das Gleichgewicht in Bezug auf den Schwerpunkt eines solchen untersucht, und es werden die Fälle nachgewiesen, in denen die allgemeine Funktion, welche die Gleichgewichtsbedingungen ausdrückt, zu einem Maximum oder Mini- mum wird. Hierauf werden analytische Methoden entwickelt, mittels deren die verwickelten Bedingungen des Gleichgewichts irgend eines beliebigen Systems stets auf den einfachsten Fall eines freien Systems zurückzuführen sind. Daran reiht sich naturgemäß die Lösung der hauptsächlichsten einzelnen statischen Probleme, die wieder in dem verwickeltsten, darum aber in gewissem Sinne auch allgemeinsten ihren Abschluß finden, nämlich in der Aufzeigung der Gleichge- wichtsbedingungen eines festen Körpers von beliebiger Gestalt, auf dessen sämtliche Punkte irgendwelche Kräfte einwirken. Alle diese Entwicklungen der Statik sind, abgesehen von der zu Grunde liegenden Induktion, die sich auf die unmittelbare Anschauung beruft und insofern einen mathematischen Charakter besitzt, noch von einem zweiten Begriff beherrscht, der aus einer mathematischen Abstraktion hervorgegangen ist, von dem Begriff eines absolut festen Körpers. Wie dieser aus der empirischen Vorstellung der wirklichen festen Körper durch Verwandlung ihrer relativen in eine absolute Unveränderlichkeit entstand, so kann nun aber auch der flüssige Körper zu einer ähnlichen Abstraktion den Anlaß bieten, indem man die Flüssigkeit als eine Masse betrachtet, deren Teilchen absolut beweglich, jedoch nicht zusammen- drückbar sind. In der Tat entwickelt Lagrange aus dieser Voraus- setzung und aus der allgemeinen Formel des Gleichgewichts die Grund- gleichungen der Hydrostatik. In ähnlicher Weise werden aus der Grundgleichung der Dynamik zunächst die allgemeinen Eigenschaften der Bewegung abgeleitet, indem die früher vielfach als selbständige Ausgangspunkte aufgestellten dynamischen Prinzipien, wie das Prinzip der Erhaltung des Schwerpunktes, der Flächen, der lebendigen Kräfte u. s. w., analytisch aus jener Grundgleichung abgeleitet werden. Hierauf wird dieselbe in ein System von Differentialgleichungen zerlegt, durch welche die Anwendung auf die einzelnen Probleme, deren Behandlung den Schluß des ganzen Werkes bildet, erleichtert ist. Auch hier tritt 412 Die Hauptgebiete der Naturforschung. _ endlich die Anwendung der allgemeinen dynamischen Gesetze auf eine Flüssigkeit als ein absolut labiles und inkompressibles System von Teilchen hinzu. In dieser ganzen Darstellung besteht die Kunst der analytischen Deduktion wesentlich darin, daß die allgemeinen Gleichungen durch angemessene Substitutionen in Ausdrücke für speziellere Gesetze verwandelt werden. Indem diese Substitutionen sukzessiv den besonderen Bedingungen, die man sich eingeführt denkt, Rechnung tragen, vollzieht sich die gesamte Entwicklung in der Form einer Zerlegung eines einzigen aus ursprünglicher Induktion gewonnenen und in mathematische Form gebrachten Gesetzes. Es ist klar, daß eine derartige Ableitung einer umfangreichen Wissenschaft aus einem einzigen Grundgesetz ohne die Hilfsmittel der mathematischen Ana- lysis unmöglich wäre. Indem sie es gestattet, den gebrauchten Sym- bolen die umfassendste Bedeutung zu geben, macht sie es gleich- zeitig möglich, mit denselben alle Transformationen vorzunehmen, die durch die speziellen Probleme gefordert werden. Die analytische Mechanik ist nicht bloß durch ihre formale Aus- bildung das mustergültige Beispiel für die Anwendung der analytischen Deduktion in der Physik geworden, sondern sie hat auch durch ihren materiellen Inhalt die Grundlage aller auf diesem Wege entwickelten physikalischen Theorien gebildet. Das regelmäßig hierbei eingeschlagene Verfahren besteht darin, daß man die abstrakten Voraussetzungen der Mechanik in dem durch die betreffenden Erscheinungen geforderten Sinne abändert, zugleich aber sich gemäß dem Prinzip der Einfachheit stets mit der möglichst kleinen Abänderung begnügt, um erst, wenn diese durch die Prüfung an der Erfahrung als nicht genügend befunden wird, zu weiteren Voraussetzungen zu schreiten. So gibt die Elasti- zitätstheorie die von der Mechanik festgehaltene Annahme absolut starrer Körper auf, indem sie voraussetzt, daß äußere Kräfte eine Ver- schiebung der kleinsten Teilchen eines festen Körpers hervorbringen. Sie bleibt aber bei der einfachsten Annahme stehen, da sie diese Ver- schiebung als so klein betrachtet, daß sie gegen die Dimensionen der Körper verschwindet und daher durch eine lineare Funktion der Ent- fernung der Teilchen ausgedrückt werden kann, während alle höheren Potenzen verschwinden. Ebenso nimmt die Theorie der Kapillarität an, daß die in der Hydrostatik vorausgesetzte absolute Beweglichkeit der Teilchen durch Kohäsionskräfte der Moleküle und durch Ad- häsionskräfte gegenüber den Wandungen des Gefäßes modifizert werde; sie macht aber hier wieder die einfachste Annahme, die möglich ist, um den Erscheinungen zu genügen, indem sie voraussetzt, daß beiderlei Die physikalischen Methoden. 415 Molekularkräfte nur in unmeßbar kleinen Entfernungen wirken, und daß daher nur die Wandschichte und die freie Oberfläche einer Flüssig- keit unmittelbar der Kapillarattraktion unterworfen seien. Die Theorie der Schallschwingungen geht zunächst von der bereits für die Elasti- zitätslehre maßgebenden Vorstellung aus, daß die Teilchen eines Körpers durch bestimmte Kräfte in ihrer Gleichgewichtslage festgehalten werden; sie fügt derselben nur die einfache Annahme hinzu, bei der Entfernung aus der Gleichgewichtslage sei die beschleunigende Kraft dieser Ent- fernung proportional: Die so gewonnene Fundamentalgleichung kann dann in der verschiedensten Weise ergänzt, verändert und zerlegt werden, um auf kompliziertere Fälle Anwendung zu finden. Sind die Schwingungsamplituden groß, so ersetzt man jene Annahme einer Proportionalität der beschleunigenden Kraft mit der Entfernung aus der Gleichgewichtslage durch die nächst einfache einer Funktion, die neben der ersten auch die zweite Potenz der Entfernung enthält. Kommt der Widerstand der umgebenden Luft in Betracht, so fügt man der Fundamentalformel ein Glied bei, welches eine der Geschwin- digkeit proportionale Verzögerung in der Richtung nach der Gleich- gewichtslage ausdrückt, u. s. w. Wo die Deduktion nicht an bestimmte der Beobachtung gegebene einfachste Erscheinungen anknüpfen kann, wie dies bei den Theorien von Wärme, Licht, Elektrizität und Magne- tismus der Fall ist, da kann es dann leicht geschehen, daß ganz ver- schiedene abstrakte Voraussetzungen der reinen Mechanik die Aus- gangspunkte für die Erklärung des nämlichen Erscheinungsgebietes abgeben. So bediente sich Fourier für seine Theorie der Wärme- leitung in festen Körpern einfach der hydrodynamischen Voraus- setzungen, indem er die Wärme als eine bewegte Flüssigkeit betrachtete; Poisson verwertete die Gesetze der Licht- und Wärmestrahlung, indem er die Leitung als einen Vorgang intramolekularer Strahlung behandelte. In der Theorie des Lichtes suchte man, nachdem die Un- dulationshypothese rezipiert worden war, zunächst von der in der Mechanik bereits geläufigen Vorstellung der Schwingungsbewegung in einem kontinuierlichen Medium auszugehen. Als jedoch die Entdeckung der Polarisation die Annahme der Transversalschwingungen erforder- lich machte, führte diese auf die Voraussetzung von Äthermolekülen, die durch leere Zwischenräume getrennt seien. Die Bewegungsgleichun- gen eines solchen aus diskreten Teilchen bestehenden Mediums nahmen nun eine Form an, die sie zur Ableitung wenigstens einer großen Zahl der Lichterscheinungen besonders geeignet machte. Weiter noch wurde man im Gebiet der elektrischen und magnetischen Erscheinungen ge- 414 ‘Die Hauptgebiete der Naturforschung. nötigt, sich von den einfachen Voraussetzungen zu entfernen, welche die Mechanik aus den allgemeinsten Eigenschaften der Naturkörper abstrahiert hatte. Namentlich war dies der Fall, so lange man an der Annahme besonderer elektrischer Medien festhielt. Seitdem jedoch die elektromagnetische Lichttheorie und die Bestätigung einer großen Anzahl ihrer Folgerungen die Einheit der elektrischen, der magne- tischen und der Lichterscheinungen im höchsten Grade wahrschein- lich gemacht haben, reduzieren sich die in allen diesen Gebieten vorhandenen Schwierigkeiten wesentlich auf das allgemeine Problem der Ätherschwingungen und ihrer Fortpflanzung, ein Problem, dessen Lösung teils wieder mechanischer Art ist, teils aber auch, wie alle Aufgaben der Molekularmechanik, von dem endgültig wohl nie- mals zu schlichtenden Streit über die Eigenschaften und Kräfte der Materie abhängt. Auf diese Weise ist die physikalische Theorie auf allen Gebieten aus den mathematischen Voraussetzungen der Mechanik durch eine allmähliche Hinzufügung weiterer Annahmen hervorgegangen, in deren Aufstellung man sich einerseits durch den Wunsch möglichster Annäherung an die mechanischen Vorstellungen, anderseits durch die Forderung der Übereinstimmung der Folgerungen mit der Erfahrung bestimmen ließ. Hierbei ist es bezeichnend für die zwingende Gewalt, die die mechanischen Vorstellungen auf das physikalische Denken aus- üben, daß man sich eher dazu entschloß, irgendwelche mechanische Hilfsvorrichtungen zu ersinnen oder der Materie bezw. dem Äther Eigenschaften zuzuschreiben, die allen uns bekannten Eigenschaften wirklicher Körper widerstreiten, als die Allgemeingültigkeit der mechani- schen Gesetze aufzugeben. Ein sprechendes Beispiel hierfür bildet Maxwells elektromagnetische Lichttheorie, in der, um die Erscheinungen der elektrischen Induktion zu interpretieren, nicht nur reibungslos stattfindende Wirbelbewegungen in einem kontinuierlichen und in seinen sonstigen Eigenschaften einem starren Körper gleichenden Medium angenommen, sondern auch noch ein Zwischenmechanismus inter- poliert wurde, eigens um die Fernewirkung durch eine mechanische Kontakthypothese zu veranschaulichen. (Vgl. oben S. 305.) Setzt man voraus, wie es in allen diesen Fällen geschieht, die mechanischen Gesetze seien gültig für alle Naturerscheinungen, so kann nun eine Übereinstim- mung mit der Erfahrung offenbar nur dadurch bewirkt werden, daß die Physik an die Stelle der abstrakten Annahmen über das Substrat der Bewegungen, welche die Mechanik im möglichsten Anschlusse an die (eometrie aufstellt, andere Annahmen über jenes Substrat sowie spezi- Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 415 fische Voraussetzungen über die Bewegungszustände desselben treten läßt. Der empirische Inhalt der physikalischen Forschung findet so schließlich seinen allgemeinsten Ausdruck in den hypothetischen Voraussetzungen über die Materie und in den Ge- setzen für den Zusammenhang der Naturerschei- nungen. Gleichwohl geht schon aus jener gemischten Entstehungs weise der physikalischen Deduktionen hervor, daß sowohl der Begriff der Materie wie die allgemeinsten Naturgesetze nicht schlechthin Abstrak- tionen aus der Erfahrung, sondern daß sie diejenigen Abstraktionen sind, die den mathematischen und mechanischen Anforderungen in möglichst hohem Maße entsprechen. Insofern nun in Geometrie und Mechanik der Anteil der reinen Anschauung an der äußeren Erfahrung enthalten ist, finden in dieser Abhängigkeit zugleich die früher er- örterten erkenntnistheoretischen Beziehungen des Substanz- und Kausalbegrifis zu den Anschauungsformen ihren geläuterten wissen- schaftlichen Ausdruck. (Vgl. Bd. I, S. 532 fi., 586 ff.) 2. Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. Der natürliche Anfang aller physikalischen Beobachtung ist die unmittelbare Sinneswahrnehmung. So bewundernswert aber auch unsere Sinneswerkzeuge den praktischen Zwecken des Lebens an- gepaßt sind, so wenig genügen sie den Bedürfnissen exakter Beob- achtung. Durch die willkürliche Beweglichkeit des Auges, durch seine leichte Akkommodation für Nähe und Ferne, durch die kombinierte Funktion beider Augen bei der Tiefenwahrnehmung ist das Gesichts- organ in unübertrefllicher Weise dazu geschickt, uns eine rasche Orien- tierung über die räumlichen Verhältnisse der umgebenden Außenwelt zu ermöglichen. Vermöge der wunderbaren Vorrichtungen des inneren Ohrs zur Zerlegung des Schalls und zur Dämpfung der Schallschwin- gungen vermag unser Gehörorgan mit erstaunlicher Leichtigkeit eine große Zahl gleichzeitiger Klänge zu unterscheiden und dem schnellsten Wechsel aufeinander folgender Schalleindrücke ohne Verwirrung zu folgen. Aber hinsichtlich der Schärfe des Bildes, der Vermeidung der Farbenzerstreuung, der Feinheit der Einstellung ist das Auge ein optisches Werkzeug von mäßiger Güte, und zu genauen räumlichen Messungen schon deshalb ungeeignet, weil es meistens nicht gestattet, die zu messenden Objekte direkt zu vergleichen, sondern sich mit ihrer sukzessiven Schätzung begnügen muß. Ebenso verschafft uns das Gehör nur ungenaue Vorstellungen von der Stärke des Schalls, und 416 Die Hauptgebiete der Naturforschung. über die Form der Klangbewegungen gibt es unmittelbar keinen Auf- schluß. Noch weniger genügen die übrigen Sinne den Ansprüchen exakter Messung, und diese Mangelhaftigkeit der äußeren Werkzeuge . der Beobachtung wird schließlich verstärkt durch die Unsicherheit, mit der unser Bewußtsein den zeitlichen Verlauf der Erscheinungen quantitativ zu schätzen vermag. Dadurch bleibt aber eine der wich- tigsten Aufgaben der physikalischen Forschung, die Zeitbestimmung der Ereignisse, fast ganz unerledigt. So wird von allen Seiten her die Naturbeobachtung zur Erfindung künstlicher Werkzeuge an- getrieben, die unsere Sinne bei der Untersuchung der Erscheinungen unterstützen sollen. Dieses Bedürfnis ist dort am frühesten fühlbar geworden, wo die natürlichen Hilfsmittel am meisten zu wünschen übrig lassen, bei den schließlich von psychologischen Faktoren ab- hängigen Bestimmungen der Ausdehnung räumlich oder zeitlich ge- trennter Objekte und der relativen oder absoluten Dauer der Ereignisse. Maßstab und Zirkel, die einfachsten Werkzeuge räumlicher Messung, diese frühesten Hilfsmittel der Mathematik, sind daher zugleich die ersten Apparate physikalischer Forschung; ihnen zunächst kommt der Gnomon, die primitive Sonnenuhr, als Werkzeug der Zeitmessung. Daran schließt sich die Erfindung des Archimedes, die Wage, das In- strument der Massebestimmung der Körper. Viel später und zumeist unter dem direkten Einflusse der experimentellen Richtung der neueren Physik sind die mannigfaltigen Vorrichtungen entstanden, welche, wie Fernrohr und Mikroskop, unmittelbar die Leistungsfähigkeit unserer Sinne zu verstärken suchen. Die logische Betrachtung wird diese historische Reihenfolge einigermaßen umkehren müssen, indem sie die Hilfsmittel voranstellt, die derphysikalischenBeobach- tung dienen, und an sie erst jene anschließt, die beiderMessung derNaturerscheinungen wirksam sind. Beide greifen natür- lich vielfach ineinander ein, denn jede exakte Beobachtung wird zur Messung, die ihrerseits nichts anderes als eine Form der Beobachtung ist. Immerhin bezeichnet die Möglichkeit des bloß qualitativen Gebrauchs eine Grenze, welche die allgemeineren Hilfsmittel der Be- obachtung von den spezielleren der Messung scheidet. Die Unterord- nung der Messung unter die Beobachtung kommt aber darin zum Aus- druck, daß die Hilfsmittel der Beobachtung häufig unmittelbar oder mit geringen Abänderungen zugleich als Messungswerkzeuge Anwen- dung finden. Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung, 417 a. Diephysikalische Beobachtung. Mit Rücksicht auf den nächsten Zweck, dem die verschiedenen Hilfsmittel der Beobachtung dienen, lassen sich diese in zwei Hauptklassen bringen. Die erste enthält Vorrichtungen, welche die Leistungsfähigkeit unserer Sinne zu erhöhen streben; die zweite umfaßt Hilfsmittel, die dazu bestimmt sind, die Erscheinungen eines bestimmten Sinnesgebietes dergestalt umzuwandeln, daß sie der Wahr- nehmung eines anderen Sinnes, dem genauere Werkzeuge zu Gebote stehen, zugänglich werden. Die Hilfsmittel zur Analyse der Wahrneh- mungen teilen sich nach den zwei Sinnesorganen, die bei der Be- obachtung eine hervorragende Rolle spielen, in optische und in akustische. Unter ihnen sind die ersteren von überwiegender Be- deutung, der Herrschaft entsprechend, die der Gesichtssinn in unserer Auffassung der Außenwelt ausübt. Durch die optischen Hilfsmittel kann entweder eine bloße Schärfung der natürlichen Sinneswahrneh- mung erstrebt werden, oder es kann sich dabei um eine Zerlegung der Erscheinungen handeln, deren unsere Sinnesorgane an und für sich unfähig sind. Im ersten Fall ist die Analyse der Wahrnehmungen eine rein physiologische: die beobachteten Erscheinungen behalten vollständig den Charakter, den sie bei dem natürlichen Sehen besitzen; dieses wird nur befähigt, die Verhältnisse der räumlichen Anordnung der Objekte genauer zu bestimmen und daher Details dieser Anordnung zu erkennen, die der natürlichen Wahrnehmung entgehen. Fernrohr und Mikroskop sind die zwei wichtigen Werkzeuge, die diesen Zwecken dienen. Im zweiten Fall ist die Analyse der Wahrnehmungen eine physikalische: die Erscheinungen werden durch künstliche Hilfsmittel in Elemente zerlegt, die der physiologische Vorgang des Sehens niemals zu unterscheiden vermöchte, zu deren genauer Auf- fassung dann aber weiterhin die Mittel der ersten Klasse Anwendung finden können. Hierher gehören die Vorrichtungen zur spektroskopischen Zerlegung des Lichtes und zur Untersuchung der Polarisationserschei- nungen. Naturgemäß sind die Hilfsmittel der ersten Art früher als die der zweiten ausgebildet worden. Jene sind zwar aus experimentellen Erfahrungen hervorgegangen, dienen aber selbst noch ausschließlich der Beobachtung; bei diesen schließt jede einzelne Anwendung ein Ex- periment in sich, und nur durch die regelmäßige Form, in der sich das experimentelle Verfahren mit der Beobachtung verbindet, erhalten die in Rede stehenden Vorrichtungen die Bedeutung von Beobachtungs- Wundt, Logik. II. 3, Aufl. 27 418 Die Hauptgebiete der Naturforschung. instrumenten, die ebenso wie Mikroskop oder Fernrohr in jedem Augen- blick der Untersuchung zu Gebote stehen. Die Kenntnis der Wirkungen konvexer und konkaver Linsen- gläser und das an dieselbe sich anschließende Studium der Gesetze der Lichtbrechung führten so unmittelbar zu der Konstruktion des Fernrohrs und des Mikroskops, daß diese Instrumente fast gleichzeitig und, wie es scheint, unabhängig an mehreren Orten er- funden wurden, so daß über dem ersten Urheber der Idee ein ge- wisses Dunkel schwebt. Diese Idee ist bei beiden Instrumenten die nämliche. Wie schon ein einfaches konvexes Brillenglas das Auge be- fähigt, entfernte Objekte in größere Nähe zu bringen und sie dadurch deutlicher zu erkennen, so will das optische Instrument dies teils für die Objekte selbst, teils und vorzüglich aber für die Bilder möglich machen, die durch die Sammlung der von ihnen ausgehenden Strahlen entworfen werden. Unterstützt wird die so bewirkte Zergliederung durch die hinzutretende Ablenkung der Lichtstrahlen, die eine Ver- größerung des Bildes erzeugt. Die zergliedernde Kraft des Instru- mentes beruht ganz und gar auf der ersten dieser Bedingungen, auf der Annäherung des Bildes oder des Objektes selbst an das Auge. Die weitere Vergrößerung soll nur dem auf diese Weise gewonnenen Bilde die für die deutliche Auffassung der einzelnen Teile erforderliche Ausdehnung geben. Diese gemeinsamen Zwecke werden bei beiden Instrumenten nur durch die verschiedenen Aufgaben, denen sie dienen, modifiziert. Die Objekte des Fernrohrs stehen nicht in der Macht des Beobachters, Hier kann nicht der Gegenstand selbst, sondern nur das von ihm auf dioptrischem oder katoptrischem Wege entworfene Bild in beliebige Nähe gerückt werden; um ein klares Bild zu gewinnen, müssen ZU- gleich möglichst viele der von dem Objekt ausgehenden Lichtstrahlen durch Linsengläser oder Konkavspiegel von bedeutender Oberfläche gesammelt werden. Das mikroskopische Objekt dagegen steht ganz unter der Herrschaft des Beobachters. In den einfachsten Fällen (bei der Lupe oder dem einfachen Mikroskop) kann daher die durch eine Konvexlinse ermöglichte Annäherung des Objektes an das Auge den Zwecken der Zergliederung genügen. Bei dem zusammengesetzten Mikroskop wird, ähnlich wie bei dem Fernrohr, zunächst durch ein System von Sammellinsen ein reelles Bild entworfen, das dann erst durch ein direkt vor das Auge gebrachtes Konvexglas betrachtet wird. Aber da das Objekt beliebig genähert und in seitlicher Richtung ver- schoben werden kann, so genießt man hier den Vorteil, sich mit einer sehr kleinen Oberfläche der Objektivlinse begnügen und daher die Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung, 419 brechende Kraft derselben durch verstärkte Krümmung erhöhen zu können. Beiden Instrumenten gemeinsam sind dann wieder diejenigen Vorrichtungen, welche die Schärfe der entworfenen Bilder zu erhöhen streben, indem sie teils durch Ablenkung der Randstrahlen, teils durch geeignete Kombination von Linsensystemen die durch die Kugel- gestalt der Linsen bedingte Lichtzerstreuung sowie die prismatische Wirkung der Gläser beseitigen. Auf diesen großenteils dem späteren Fortschritt der Optik zu dankenden Verbesserungen beruht haupt- sächlich die Vervollkommnung der neueren Instrumente. Da sich aber die durch die unzureichende Sammlung der Lichtstrahlen ent- stehenden Übelstände aus naheliegenden Gründen bei den mikroskopi- schen Objekten in viel empfindlicherer Weise geltend machen als bei den teleskopischen, so gehört die umfangreichere wissenschaftliche An- wendung des Mikroskops erst einer verhältnismäßig neuen Zeit an. Das Fernrohr wurde sofort nach seiner Erfindung zu dem mächtigsten Werkzeug in den Händen der Astronomen. Nicht nur lieferte es in den Beobachtungen der Jupitermonde und der Lichtgestalten der Venus durch Galilei, der Rotationen des Mars durch Cassini die wichtigsten Beweismittel für das Kopernikanische System, sondern bald wurde es auch durch die Einfügung des Fadenkreuzes und in Verbindung mit dem Mikrometer ein Messungswerkzeug von bis dahin nicht erreichter Ge- nauigkeit. Als solches ist es dann zu terrestrischen und physikalischen Zwecken ein unentbehrliches Hilfsmittel geworden. Das Mikroskop hat nach der ersten Aufsehen erregenden Entdeckung, die es vermittelte, der Auffindung der Spermatozoen durch Leuwenhoek, durch die zahl- reichen Täuschungen, zu denen es verführte, zunächst nur geringe Fort- schritte gebracht. Erst dem 19. Jahrhundert war es vorbehalten, die große Wichtigkeit dieses Instrumentes für die verschiedensten Zweige der Naturlehre ans Licht zu stellen. Hand in Hand mit der Ausbreitung seiner Anwendungen gingen hier die Bemühungen der Optiker, durch fort- schreitende Vervollkommnung der Linsensysteme, der Beleuchtungsvor- richtungen und der Hilfsmittel zur vollkommenen Auswertung der von dem Objekt ausgehenden Strahlenbüschel die Leistungsfähigkeit des In- strumentes immer weiter zu treiben, damit sie den fortan sich steigernden Aufgaben namentlich auf dem Gebiet der Biologie zu folgen vermöge*). *) Für die Erfolge, die hier durch die Verbindung theoretischer Über- legung und praktischer Erfahrung erzielt worden sind, ist es bezeichnend, daß, kurz bevor Ernst Abbe die letzten großen Verbesserungen ins Werk setzte, manche Physiker geneigt waren, aus theoretischen Gründen anzunehmen, daß das seitherige Mikroskop die Grenze seiner Leistungsfähigkeit erreicht habe. 420 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Der neueren Entwicklung der experimentellen Physik gehören auch durchgehends diejenigen optischen Hilfsmittel an, die nicht eine Schärfung der Wahrnehmung, sondern eine physikalische Analyse der Erscheinungen bezweckn. Wie Teleskop und Mikroskop auf die Gesetze der Lichtbrechung durch Linsengläser, so stützt sich das Spektroskop auf die Gesetze der Farbenzer- streuung durch Prismen. Die instrumentelle Anwendung ist hier der physikalischen Kenntnis der prismatischen Wirkungen verhältnis- mäßig spät erst nachgefolst, da sich jene Anwendung nicht auf die Farbenzerstreuung als solche, sondern auf gewisse mit derselben ver- bundene Erscheinungen stützte. Diese Erscheinungen bestanden in den dunkeln Frauenhoferschen Linien des Sonnenspektrums sowie in den hell leuchtenden Linien und Bändern, welche glühende Metall- dämpfe durch das Prisma gesehen darbieten. Erst als durch Kirch- hoff und Bunsen diese beiden Tatsachen miteinander in Verbin- dung gebracht waren, als man erkannt hatte, daß ein dunkles Linien- spektrum aus einem hellen regelmäßig infolge der Absorption der Strahlen eines glühenden Gases durch die abgekühlten Teile des näm- lichen Gases entsteht, wurde die prismatische Zerlegung des Lichtes ein zu den verschiedensten Zwecken verwendbares Untersuchungs- hilfsmittel. Bald dient dieselbe einfach zur Erkennung der in einer gegebenen Lichtquelle enthaltenen Farbenmengungen; bald soll mit Hilfe der hellen oder dunkeln Linien entschieden werden, ob das aus- gesandte Licht zu einem Emissions- oder Absorptionsspektrum Veran- lassung gibt, um hieraus Rückschlüsse auf die physikalische Konsti- tution des lichtgebenden Körpers und die Beschaffenheit des Ver- brennungsprozesses zu machen; bald soll durch die Feststellung der Lage der hellen oder dunkeln Linien und ihre Vergleichung mit den Spektrallinien bekannter Stoffe die chemische Konstitution eines Körpers ermittelt werden. Endlich kann bei durchsichtigen Substanzen die Veränderung, die der Durchtritt des Lichtes durch dieselben in dem Spektrum einer bekannten Lichtquelle hervorbringt, teils zur Erkenntnis der Absorptionswirkungen, teils wieder zur chemischen und physi- kalischen Charakterisierung Verwendung finden. Während das Spektroskop das Licht unmittelbar in seine einzelnen Brechbarkeitsstufen zerlegt, sucht man bei den Polarisations- apparaten über die in einem Lichtstrahl vorhandenen Schwingungs- richtungen auf dem Wege der Ausschließung Aufschluß zu gewinnen. Der Grund hierfür liegt darin, daß wir Licht von verschiedener Brechbarkeitsstufe unmittelbar durch die Farbe zu unterscheiden ver- Die. Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 431 mögen, daß dagegen verschieden polarisiertes Licht dem Auge voll- kommen gleich erscheint. Objektiv kann daher die Schwingungs- richtung des Lichtes nur daran erkannt werden, daß ein Körper, der das Licht polarisiert, Licht von entgegengesetzter Schwingungsrichtung zurückhält. Da nun in dem gewöhnlichen Licht Schwingungen von allen möglichen Richtungen vorkommen, so ist es für die Entscheidung der Frage, ob irgend ein durchsichtiger Körper polarisierende Eigen- schaften besitze, stets erforderlich, daß das zu seiner Prüfung ver- wendete Licht durch eine polarisierende Vorrichtung bereits auf eine Schwingungsrichtung zurückgeführt sei. Weil aber außerdem die untersuchten Körper in den dünnen Schichten, in denen sie noch eine hinreichende Durchsichtigkeit besitzen, die polarisierende Eigenschaft nur in geringem Grad zeigen, so muß dem Polariskop eine solche Ein- richtung gegeben werden, daß es die geringste Veränderung in der Schwingungsrichtung noch deutlich angibt. Zu diesem Zweck wird also das gewöhnliche Licht durch zwei polarisierende Vorrichtungen geleitet, zwischen denen das Untersuchungsobjekt eingeschaltet ist. Sind nun beide Vorrichtungen so gegeneinander gedreht, daß die zweite das durch die erste polarisierte Licht vollständig auslöscht, so wird die leiseste Veränderung, welche die eingeschaltete Substanz in der Schwingungsrichtung hervorbringt, durch eintretende Licht- und Farbenerscheinungen angezeigt. Das Wesen dieses Verfahrens besteht also darin, daß es die Wirkungen, die ein Körper auf die Schwingungsrichtung des ihn durchsetzenden Lichtes ausübt, ermittelt, indem es zunächst einen Grenzzustand herstellt, von dem aus jede Veränderung leicht zu erkennen ist. Dadurch ist zugleich das Prinzip an die Hand gegeben, das eine Messung der polarisierenden Wirkung gestattet, da sich die eingetretene Veränderung der Schwin- gungsrichtung stets durch eine veränderte Stellung der Polarisations- apparate zueinander kompensieren läßt. Der Grad der zur Wieder- herstellung jenes Grenzzustandes erforderlichen Stellungsänderung läßt dann unmittelbar auf die polarisierende Wirkung zurückschließen. Durch die Anwendung dieses Prinzips ist der Polarisationsapparat das feinste Hilfsmittel für die qualitative und quantitative Untersuchung der Molekularstruktur der Körper geworden, das namentlich in solchen Fällen, wo diese bestimmte Richtungsunterschiede erkennen läßt, wie bei den Kristallen oder organischen Geweben, von unschätzbarem Werte ist. Sehr spät erst ist die Ausbildung akustischer Werkzeuge zur Analyse der Wahrnehmung den optischen Hilfsmitteln nach- 4223 Die Hauptgebiete der Naturforschung. gefolgt. Kaum läßt sich der einfachen Verwendung der Schallreflexion und der Leitung durch feste Körper, wie sie zum Zweck der Verstärkung des Schalls und seiner Übertragung in größere Ent- fernung seit lange im Gebrauch sind, die Bedeutung eines wissen- schaftlichen Hilfsmittels beilegen. Erst das Telephon und das Mikrophon haben, wie ihre Namen schon andeuten, für das Ohr das nämliche zu leisten gesucht wie das Teleskop und das Mikroskop für das Auge. Aber dabei zeigt sich freilich die Inferiorität des Schalls als physikalischen Hilfsmittels darin, daß bei diesen Apparaten Elektrizität und Magnetismus herbeigezogen werden müssen, um die erwünschte Fernewirkung und Verstärkung der Schallefiekte hervorzubringen. Auch ist es, so groß die praktische Bedeutung dieser neuen Hilfsmittel ist, kaum wahrscheinlich, daß sie für wissenschaftliche Untersuchungen weiter als zu gewissen nebensächlichen Zwecken An- wendung finden werden. Denn das Telephon kann unserm Ohr immer nur Schallquellen erschließen, die sich in zugänglicher Ferne be- finden, und das Mikrophon vermag nur Eindrücke zu verstärken, nicht neue Wahrnehmungen dem Ohr zuzuführen. Ebenso sind die Hilfsmittel zur physikalischen Analyse der akustischen Erscheinungen hier von verhältnismäßig unvollkommener Beschaffenheit, abgesehen von dem Sinnesorgan selbst, das durch seine natürliche Fähigkeit der Klanganalyse dem Auge überlegen ist. Einigermaßen läßt sich zwar die Unterstützung der Klanganalyse durch verstärkende Resonatoren, die auf bestimmte Töne abgestimmt sind, den spektroskopischen und polariskopischen Hilfsmitteln vergleichen. Mit den letzteren namentlich hat sie das Prinzip gemeinsam, gewisse Schwingungsarten vor andern zu bevorzugen. Aber da sie die übrigen Klangbestandteile nicht völlig ausschließen und die ursprüngliche Stärke des bevorzugten Tones in un- bestimmter Weise vergrößern, so sind die Resonatoren hauptsächlich Hilfsmittel, welche die Übung des Sinnesorganes in der Unterscheidung der Töne fördern. Verrät sich schon in dem Übergewicht der optischen Werkzeuge vor denen der übrigen Sinne die größere Bedeutung des Gesichtssinns, so tritt diese herrschende Rolle nun noch deutlicher hervor bei jenen Hilfsmitteln der physikalischen Beobachtung, welche die Erscheinungen eines bestimmten Sinnesgebiets dergestalt umwandeln, daß sie der Wahrnehmung eines andern, einer genaueren Auffassung fähigen Sinnes zugänglich werden. DieseHilfsmittelzurTransformation der Erscheinungen sind nämlich durchweg dahin gerichtet, andersartige Sinneseindrücke umzuwandeln in Eindrücke des Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 423 Gesichtssinns. So gewinnen wir die Vorstellung der Schwere der Körper ursprünglich durch den Tastsinn. Aber die Wage ersetzt diesen Eindruck durch ein Gesichtsbild, das eine genaue Schätzung des Gleichgewichts zweier schwerer Körper und auf diesem Wege eine quantitative Abstufung der Körper in Bezug auf ihre Schwere gestattet. Nur die Schwere gasförmiger Körper, wie der Luft, läßt sich, wie sie der Wahrnehmung durch den Tastsinn in der Regel unzugänglich ist, so auch auf dem gewöhnlichen Wege der Wägung im allgemeinen nicht be- stimmen. Doch das Barometer verwandelt den Druck der Luft wieder- um in eine Erscheinung des Gesichtssinns. Bei dem Quecksilberbarometer besteht diese in der in einer luftleeren Glasröhre emporsteigenden Quecksilbersäule, bei dem Aneroidbarometer in den durch den äußeren Luftdruck bewirkten Krümmungsänderungen einer kreisförmig ge- bogenen und luftleeren elastischen Röhre, welche Änderungen durch die Übertragung auf ein Zeigerwerk deutlicher sichtbar und meßbar gemacht werden. Ähnlich wird in dm Thermometer die Ausdehnung einer Flüssigkeit durch die Wärme benützt, um ein räumliches Maß der Temperaturänderungen zu gewinnen. Bei dem Thermogalvanometer wird der nämliche Zweck durch eine doppelte Transformation erreicht, indem man zuerst durch einen Temperaturunterschied einen elektrischen Strom erzeugt, der dann seinerseits wieder die Ablenkung einer Magnet- nadel hervorbringt. Für die praktische Beobachtungskunst ist die Wirkung des elektrischen Stromes auf den Magnet vor allem deshalb von unschätzbarem Werte geworden, weil es sich hier um die Herstellung eines sichtbaren Vorgangs handelt, der leicht wahrzunehmen und in seinen quantitativen Veränderungen zu verfolgen ist. Übrigens beruhen auch alle andern Hilfsmittel für die Beobachtung elektrischer Wirkungen auf irgend einer Umwandlung in sichtbare Bewegungsvorgänge, mögen nun diese, wie bei dem Elektrometer und der elektrischen Dreh- wage, Bewegungen der elektrisierten Körper selbst sein oder, wie bei der Voltaschen Wasserzersetzung, der Galvanischen Zuckung des Froschschenkels und der Beobachtung des elektrischen Lichtbogens, auf bestimmten Transformationen in chemische, physiologische und optische Erscheinungen beruhen. So bewundernswert die Fähigkeit des Ohres ist, eine Menge gleichzeitiger Klänge deutlich zu unterscheiden, so kann doch die physikalische Analyse der Schallschwingungen die Darstellung derselben in räumlichen Bildern nicht entbehren, wobei die Bewegungen schwingender Körper entweder unmittelbar oder mit Hilfe gewisser Wirkungen, die sie auf andere leicht bewegliche Körper hervorbringen, sichtbar gemacht werden. So liefert der Vibrograph, indem er die 494 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Aufzeichnung der Schwingungen eines starren Körpers auf einen mit gleichförmiger Geschwindigkeit rotierenden Zylinder besorgt, bleibende Bilder der vergänglichen Erscheinung, an denen sich sowohl die Schnel- ligkeit wie die Form der Schwingungen studieren läßt. Bei dem von Lissajous erfundenen Vibrationsmikroskop werden die schwingenden Bewegungen eines Körpers, z. B. einer Violinsaite, durch einen an ihm angebrachten lichtreflektierenden Punkt kenntlich gemacht, den man durch ein Mikroskop beobachtet, welches, an einer Stimmgabel befestigt, parallel der Saitenlänge in regelmäßige Schwingungen versetzt wird. Man erhält so das Bild einer aus zwei zueinander senkrechten Schwin- gungen resultierenden Bewegung, aus der sich, da die Schwingungsform der Stimmgabel bekannt ist, diejenige der Saite rekonstruieren läßt. Bei der Erzeugung von Klangfiguren endlich dienen die Formen, in denen sich der auf schwingende elastische Platten gestreute Sand grup- piert, zur Erkennung der Knotenlinien, aus denen dann Rückschlüsse auf die Schwingungsform der Platte möglich werden. b. Die Messung der Naturerscheinungen. Von dem Streben, die Wahrnehmungen der übrigen Sinnesgebiete in Gesichtserscheinungen umzuwandeln, ist nun die Beobachtung vor allem auch in allen den Fällen geleitet, wo sie Hilfsmittel zur Messung der Erscheinungen zu gewinnen sucht. Die exakten Maße, über welche die Physik verfügt, zerfallen mn Raummaße, Gewichtsmaße und Zeitmaße. Da aber die Feststellung der beiden letzteren stets auf räumliche Messungen zurückführt, so besteht jede exakte Messung in der Bestimmung der räumlichen Eigenschaften von Gewichtsob- jekten oder, da die geometrischen Elemente aller räumlichen Beziehun- gen die gerade Linie und der Winkel sind, schließlich in der Messung von geraden Linien und Winkeln. Diese vielseitige Verwendung der einfachen geometrischen Maßelemente würde freilich nicht möglich sein, wenn uns nicht durch die Empfindungen des Tast- und Muskelsinnes die Kraft- und Massenvorstellung gegeben wäre, und wenn nicht allen Wechsel der Wahrnehmungen die Zeitvorstellung begleitete. Aber diese Vorstellungen entziehen sich jeder genaueren unmittelbaren Messung. Sie sind gerade zureichend, um das Bedürfnis nach exakten Kraft- und Zeitmaßen zu erwecken; doch dieses Bedürfnis beginnt erst in dem Moment befriedigt zu werden, wo sich, vermöge jener Tendenz, unsere ganze Anschauung der Außenwelt in Gesichtserscheinungen umzuwandeln, die Zeit so- wohl wie das Gewicht in räumlichen Vorstellungen fixiert haben. Für Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 425 die Zeit fällt dieses Ereignis in die frühesten Anfänge des menschlichen Denkens, für das Gewicht, das uns noch heute der nächste unserer un- mittelbaren Wahrnehmung zugängliche Repräsentant sowohl des Kraft- wie des Massebegriffs ist, geschah der nämliche Schritt sogleich bei der ersten Begründung der wissenschaftlichen Statik durch Archimedes. Zu astronomischen und geodätischen Zwecken ist seit uralter Zeit das Längenmaß für die Messung der geradlinigen Entfernung und die Kreisteilung für die Messung des Winkels im Gebrauch gewesen. Auch nötigten jene Zwecke frühe schon, über das primitive Verfahren des ge- wöhnlichen Lebens, das nur mittels der unmittelbaren Anlegung des Messungswerkzeuges an den Gegenstand eine Messung auszuführen weiß, hinauszugehen, um mit Hilfe der Anbringung geeigneter Visier- punkte die Winkeldistanzen entfernter Objekte direkt zu ermitteln, und um ihre linearen Entfernungen durch die Kombination solcher Winkelmessungen mit der Ausmessung leicht zugänglicher näherer Lineardistanzen auf dem Wege der geometrischen Konstruktion und der Rechnung zu bestimmen. Gleichwohl befanden sich alle diese Messungsmethoden noch auf ihrer Kindheitsstufe, da man jede be- liebige Messungsaufgabe mit zureichender Genauigkeit erledigt glaubte, wenn sie auf die unmittelbare Vergleichung mit einem gegebenen Maß- stab zurückgeführt war. Ein erster Schritt zur Verfeinerung solcher Messungen geschah, als man durch verschiedene Hilfsmittel die Schät- zung der Bruchteile der Maßeinheiten zu verbessern suchte, was zuerst von den Astronomen nicht lange vor der Zeit Tychos durch die Ziehung von Transversalen zwischen den entgegengesetzten Endpunkten der benachbarten Teilungslinien eines Maßstabes versucht wurde. Aber es ist bezeichnend, daß das vollkommenere, noch jetzt gebrauchte Hilfs- mittel dieser Art, der Nonius, erst aufkam, als gleichzeitig auch das Fernrohr durch die Einfügung des Fadenkreuzes zu Messungszwecken Verwendung fand. Noch mehr ist die Einführung anderer Hilfsmittel zur Verfeinerung der Messungen direkt an die Benützung der optischen Instrumente, des Fernrohrs und des Mikroskops, gebunden gewesen. Die Erhöhung der Leistungsfähigkeit des Auges ließ nach einem Hilfs- mittel suchen, das die Genauigkeit der Einstellung auf die Visier- punkte vergrößerte. Dieses Hilfsmittel wurde in der Mikrometer- schraube gefunden, deren Vorteil auf der Transformation einer ver- hältnismäßig umfangreichen Kreisbewegung in eine sehr kleine lineare Bewegung beruht, so daß sie mittels der Vorbeiführung des Maßstabes an dem Objekte noch minimale Bruchteile der Maßeinheit abzulesen gestattet. Auf der Anwendung der Mikrometerschraube beruhen da- 496 Die Hauptgebiete der Naturforschung. her wiederum die Hilfsmittel zur Anfertigung der genauesten und fein- sten Maßstäbe, wie sie durch die Benützung der vergrößernden opti- schen Instrumente zu Messungen erforderlich geworden sind. Je emp- findlicher diese Hilfsmittel der Messung sich gestaltet haben, umsomehr mußte man zugleich bestrebt sein, die bei jeder Messung gleichwohl unvermeidlichen Fehler durch wiederholte Beobachtungen und durch die Ermittlung und Berücksichtigung der vorhandenen Fehlerquellen zu eliminieren. So wird es begreiflich, daß, während in der Periode Hipparchs die Fehler der astronomischen Messungen noch halbe Winkel- grade und zu Tychos Zeiten einige Minuten betragen konnten, sie heute höchstens um den Wert einer Sekunde zu schwanken pflegen. Ganz in entsprechender Weise hat sich aber die physikalische Messung auf allen Gebieten vervollkommnet, und mit Hilfe des Mikroskops und des Mikrometers ist überdies eine genaue Messung zahlreicher Objekte möglich geworden, die wegen ihrer Kleinheit für eine frühere Zeit unmeßbar und häufig selbst unsichtbar waren. Im Gegensatze zu diesen hauptsächlich durch die Verwendung der optischen Instrumente bedingten Umgestaltungen, welche die Längen- und Winkelmessung erfuhren, ist das Hilfsmittel für die Be- stimmung der bewegenden Kraft der Körper, die Wage, im Prinzip unverändert geblieben: sie ist nur in der technischen Ausführung ver- vollkommnet worden, und ihr Anwendungsgebiet hat sich stetig er- weitert. Zunächst lag es nahe, das Prinzip des Hebels mit dem ebenfalls von Archimedes gefundenen Gesetz der Gewichtsabnahme der Körper in Flüssigkeiten zu verbinden, um auf diese Weise die zur absoluten Gewichtsbestimmung dienende Hebelwage gleichzeitig als hydrostatische Wage zu spezifischen Gewichtsbestimmungen zu benützen. Beruht in beiden Fällen die Messung des Gewichts auf der mit dem Auge leicht erkennbaren Herstellung der Gleichgewichts- lage des Wagebalkens, so konnte nun aber auch umgekehrt der Grad der Ablenkung aus dieser Lage dem nämlichen Zweck dienen, ein Prinzip, welches bei der Zeigerwage und in verschiedentlich modifi- zierter Form auch bei der Federwage und dem Aräometer oder, unter Benützung von Flüssigkeiten zur Druckbestimmung, bei dem Baro- meter und Manometer Anwendung findet. Eine wichtige Umgestaltung der Wage für wissenschaftliche Zwecke ist endlich die Drehwage, bei welcher die Drehung eines elastischen Fadens, an dem ein gleich- armiger Hebel aufgehängt ist, zur Messung irgendwelcher anziehender oder abstoßender Kräfte, die an dem einen der beiden Hebelarme an- greifen, benützt wird. Auf das Prinzip der Drehwage führt die An- Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung, 427 wendung drehbarer Magnete für die Messung elektrischer und mag- netischer Fernewirkungen zurück. Während die gewöhnliche Hebel- wage wegen der Forderung des Gleichgewichtszustandes, die bei ihr erfüllt sein muß, nur für die Messung konstant bleibender Gewichte dienen kann, machen diejenigen Formen der Wage, die statt dessen den Grad der Abweichung aus einer bestimmten Gleichgewichtslage benützen, eine unmittelbare Verfolgung etwaiger Veränderungen in der Zeit möglich, und manche von ihnen, wie das Manometer, die Dreh- wage, der Magnetstab, gestatten außerdem eine ähnliche Verwendung der Gleichgewichtsmethode wie bei der gewöhnlichen Hebelwage. Alle diese Instrumente, die auf das Prinzip der Wage zurückführen, be- dienen sich, welcher Art die Naturkräfte auch sein mögen, deren Wir- kungen gemessen werden sollen, schließlich der Vergleichung mit be- stimmten Gewichtsgrößen fester oder flüssiger Körper. Teils geschieht dies unmittelbar, wie bei der gewöhnlichen Hebelwage, dem Baro- meter und Manometer, dem auf einer Spitze drehbaren Magnete, teils auf indirekte Weise, wie bei der Federwage, der Drehwage und dem an drehbaren Fäden aufgehängten Magnete. In diesen Fällen wird der elastische Widerstand, der zu überwinden ist, wenn Bewegungen von bestimmter Größe zu stande kommen sollen, zunächst in Gewichts- einheiten bestimmt. Auf diese Weise bildet die Schwere das gemein- same Maß für alle anderen einer exakten Messung zugänglichen Natur- kräfte. In der Tat ist sie dazu in bevorzugter Weise geeignet wegen ihrer absoluten Konstanz an einem gegebenen Beobachtungs- orte und wegen ihrer verhältnismäßig geringen und leicht zu bestim- menden Unterschiede in den verschiedenen Gegenden der Erde. Gerade aber weil das Gewicht das gemeinsame Maß abgibt für alle anderen Naturkräfte, kann durch dasselbe die Kraft der Schwere selbst nicht gemessen werden. Indem diese auf jedes Teilchen eines schweren Körpers die nämliche Wirkung ausübt, ist die Größe des Gewichts immer nur ein Maß der Masse oder des Widerstandes, den ein Körper einer bewegenden Kraft entgegensetzt. Will man dieses Maß außerdem unabhängig machen von den räumlichen Verschie- denheiten der Schwerkraft auf der Erdoberfläche, so muß es über- all auf die nämliche Größe reduziert werden. Darum dient in der rationellen Mechanik nicht das Gewicht P, sondern der Quotient = als Maß der Masse. Die Größe g, welche die Intensität der Schwere an einem gegebenen Ort bezeichnet, wird aber durch die Beschleunigung gemessen, die ein Körper in einer gegebenen Zeit durch die Wirkung 428 Die Hauptgebiete der Naturforschung. der Schwere erfährt. Bei diesem Punkte führt daher die Intensitäts- messung wieder zurück auf eine Längenmessung, mag man nun un- mittelbar den Weg ermitteln, der infolge der erlangten Beschleunigung von einem fallenden Körper in der Zeiteinheit zurückgelegt wird, oder mag man diesen Weg aus der Länge des einfachen Pendels berechnen, das eine Schwingung in der Zeiteinheit der Sekunde vollendet. Durch ihre Konstanz am Beobachtungsorte und durch die Leichtig- keit, mit der ihre Wirkungen in einfache räumliche Maße umgesetzt werden können, empfiehlt sich die Schwere in so hohem Grade als Maßstab aller Naturkräfte, daß eine andere für uns in dieser Rolle kaum denkbar ist. Dieses Verhältnis bedingt aber wieder eine eigen- tümliche Ausnahmestellung. Die Intensität der Schwere selbst kann, wie bemerkt, auf statischem Wege nicht ermittelt werden, da die Wage nur die Massen zu messen gestattet, auf welche die konstante Schwerkraft wirkt. Für andere Naturkräfte dagegen ist eine statische Messung ausführbar, indem man umgekehrt die schweren Massen be- stimmt, die durch sie im Gleichgewichte gehalten werden. In allen Fällen, wo die Intensität der Naturkräfte die zureichende Konstanz besitzt, macht in der Tat diese statische Methode die größte Ge- nauigkeit möglich, weil sie nur eine einzige räumliche Messung, nicht aber außerdem noch eine Zeitbestimmung erfordert. Auf diese Weise dient die Schwerkraft zu zwei Arten der Intensitätsbestimmung: zunächst ist sie bei der Gewichtsbestimmung der Körper das geläufige Maß für die Menge der ponderabeln Materie, und sodann wird sie, in- dem beliebige andere Naturkräfte in Gewichtsgrößen bestimmt werden, zum allgemeinen Maß der Kräfte, die außer der Schwere auf die pon- derable Materie wirken können. Dagegen ist bei der Messung der Schwere selbst nur die einer beliebigen Masse in einer gegebenen Zeit erteilte Beschleunigung verwendbar: darum muß in diesem Falle stets mit der räumlichen Messung eine Zeitmessung verbunden werden. Aber hier bietet nun die absolute Konstanz der Schwere an dem Be- obachtungsorte den Vorteil, daß die Zeit, während deren die Wir- kungen gemessen werden, beliebig lang genommen werden kann. Dies geschieht vornehmlich bei den Pendelversuchen, durch die daher der Nachteil der doppelten Messung wieder ausgeglichen wird. Durch die Zurückführung aller anderen Naturkräfte auf das Maß der Schwerkraft ist es nun der physikalischen Forschung erst möglich geworden, von den qualitativen Eigentümlichkeiten, welche die einzelnen Erscheinungen für die Sinneswahrnehmung darbieten, ganz zu ab- strahieren, und indem diese Reduktion auf die Schwere die Idee der Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 429 Einheit der Naturkräfte praktisch vorausnahm, hat sie nicht nur den Begriff der Transformation vorbereitet, sondern auch, nachdem sich dieser in der Erfahrung bestätigt hatte, demselben sofort die erforder- lichen Maßmethoden zur Verfügung gestellt. Außerdem ist durch die Reduktion auf die Schwere und die Erkenntnis der Transformationen ein neuer Begriff entstanden, der sich für viele Anwendungen geeig- neter erweist als der Kraftbegriff, der Begriff der Energie. Unter ihr versteht man allgemein die Fähigkeit zur Herbeiführung einer Ortsveränderung von Massen oder, da wir eine solche Ortsver- änderung als Arbeit bezeichnen, kürzer ausgedrückt: die Fähigkeit zur Leistung von Arbeit. Diese Fähigkeit ist notwendig immer selbst an bestimmte Massen gebunden, sei es dadurch, daß dieselben in einer Bewegung begriffen sind, die sie an andere Massen mitteilen können, sei es dadurch, daß sie in eine Lage gebracht sind, in welcher die Schwere oder eine andere Naturkraft eine bewegende Wirkung auf sie auszuüben strebt. Im ersten dieser Fälle wird die Energie als aktuelle oder kinetische, im zweiten als potentielle oder auch als Energie der Lage bezeichnet. Die kinetische Energie fällt in ihrer mechanischen Bedeutung mit dem früher erörterten Begriff der „lebendigen Kraft“ zusammen, und sie wird daher durch das der letzteren entsprechende Produkt = mv? gemessen (S. 321). Neben dem Begriff der Energie behält aber derjenige der Kraft die ihm seit der Begründung der Mechanik beigelegte Bedeutung, welche Newton in die Definition zusammenfaßte: „Kraft ist das gegen einen Körper ausgeübte Bestreben, seinen Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung zu ändern.“ Die Energie ist eine durch die Reduktion auf die Schwere veranlaßte Unterform dieses Kraft- begrifis. Wir nennen eine Kraft dann Energie, wenn wir von den Be- dingungen ihres Ursprungs absehen und nur auf ihre Messung durch das Gleichgewicht oder die Bewegung schwerer Massen Rücksicht nehmen. Die uniforme Messung ist es, die hier jene Abstraktion von den Entstehungsbedingungen veranlaßt hat, und die zugleich die Nütz- lichkeit des so gebildeten Begriffs bedingt. Bei der wirklichen Messung der Erscheinungen kann, eben weil dieselbe mittels der Schwere ge- schieht, immer nur die Energie in Betracht kommen. Aus diesem Grunde hat sich denn auch die Anwendung des allgemeineren Begriffs der Kraft auf diejenigen Fälle zurückgezogen, in denen wir bei der Bezeichnung der Bedingungen einer bestimmten Bewegungserscheinung 430 Die Hauptgebiete der Naturforschung. die Reduktion auf die Schwere außer acht lassen. Dies geschieht aber vorzugsweise dann, wenn wir ausdrücklich den spezifischen Charakter einer einzelnen Bewegungsursache oder des übereinstimmenden Grundes eines allgemeinen Erscheinungsgebietes hervorzuheben wünschen. In diesem Sinne unterscheiden wir etwa die Dampfkraft und die Wasser- kraft als verschiedene Motoren, oder bezeichnen wir ganz allgemein Licht, Wärme, Elektrizität und die Schwere selbst als verschiedene Naturkräfte. Insofern die Schwere nur eine Naturkraft unter anderen ist, kann man nun aber auch den so entstandenen Begriff der Energie verall- gemeinern, indem man die thermische, elektrische, magnetische, che- mische u. s. w. Energie der mechanischen Bewegungsenergie koordi- niert und die Aufgabe der physikalischen Forschung lediglich dar- auf richtet, die quantitativen Beziehungen zu ermitteln, in denen diese verschiedenen Energieformen ineinander übergehen können*). Diese Auffassung bietet den Vorteil, daß sie die Theorie der Transforma- tionen der Naturkräfte von den Voraussetzungen über die Beschaflen- heit der Materie, insbesondere auch von dem Postulat, daß alle Natur- vorgänge auf mechanische Bewegungsvorgänge zurückführbar seien, unabhängig macht. Dies ist bei dem gewöhnlichen, an den mechanischen Begriff der lebendigen Kraft sich anlehnenden Energiebegriff nicht der Fall. Denn dieser setzt nicht bloß voraus, daß die übrigen Formen aktueller Energie eventuell in Bewegungsenergie umgewandelt werden könnten, sondern daß sie selbst in letzter Instanz Bewegungsenergie seien. Er macht dadurch bestimmte Hypothesen über die materiellen Elemente, welche die Träger der Energie sind, sowie über die Be- schaffenheit ihrer Bewegungen erforderlich. Anderseits hat aber jene allgemeinere Auffassung des Energiebegriffs den Nachteil, daß sie auf eine jede anschauliche Darstellung desselben verzichtet, ausgenommen bei der Bewegungsenergie schwerer Körper. Nun kann zweifellos ein zeitweiliger Verzicht auf das Postulat der Anschaulichkeit, das, wie oben (5. 288 fi., 347 ff.) erörtert, von Anfang an das treibende Moment für die mechanische Naturanschauung gewesen ist, nützlich sein, nament- lich so lange die mechanischen Hypothesen über gewisse Naturvorgänge *) Eine solche allgemeinere Auffassung des Energiebegriffs wird bereits an- gedeutet von G. Helm, Die Lehre von der Energie, 1887. (Vgl-.auch Max Planck, Das Prinzip der Erhaltung der Energie, 1887, S. 96 ff.) Eingehender hat sie durch- zuführen gesucht W. Ostwald in seinen „Studien zur Energetik“, Sitzungsber. der Leipziger Ges. der Wiss. 1891, S. 271, 1892, S. 211 ff, und Lehrbuch der allgemeinen Chemie, 2. Aufl. II, S. 1—51. Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung.| 431 noch der zureichenden Sicherheit entbehren. Indessen ist es unleug- bar, daß gerade der Zusammenhang der verschiedenen Erscheinungs- gebiete, wie er in dem Prinzip der Erhaltung der Energie seinen näch- sten quantitativen Ausdruck findet, immer wieder zur Aufstellung mechanischer Vorstellungsweisen und eben damit auch zu einer Um- deutung anderer Energieformen, wie der thermischen, der elektrischen, in Bewegungsenergie herausfordert. So ist die mechanische Wärme- theorie zunächst durch die Beobachtung der Beziehungen zwischen Volum und Temperatur gasförmiger Körper veranlaßt worden, das Wesen der Wärme in mechanischen Bewegungen der Teilchen zu er- blicken*). So führt ferner die elektromagnetische Lichttheorie auf Schwingungsbewegungen eines materiellen Mediums zurück; oder für denjenigen, der dieser Theorie seine Zustimmung versagt, ergibt sich wenigstens aus dem gesamten Zusammenhang der Lichterscheinungen, vor allem aus der Existenz der Interferenzerscheinungen, die Notwendig- keit der Voraussetzung irgend einer oszillierenden Bewegung. Da aber eine Bewegung ohne ein Substrat, das sich bewegt, undenkbar ist, so ist damit auch die Ableitung der Lichterscheinungen aus einem mecha- nischen Vorgang ein unumgängliches Erfordernis**). Damit ist in allen diesen Fällen die Forderung einer Umsetzung der bloß begriftlich fixierten Energiewerte in die anschauliche Form der Bewegungsenergie von selbst gegeben, und wenn die Unsicherheit der Theorien eine ein- deutige Feststellung letzterer Art in manchen Fällen noch nicht möglich macht, so kann dies jene Forderung selbst nicht aufheben. Auch ist vom logischen Standpunkte aus hervorzuheben, daß man sich über den eigentümlichen Charakter der Evidenz, den das Energieprinzip mit gewissen allgemeinen Voraussetzungen der Mechanik teilt, nur Rechen- schaft zu geben vermag, wenn man sich alle Energie an ein bestimmtes unveränderlich im Raum gegebenes Substrat gebunden denkt, dessen Veränderungen in Lageänderungen seiner Teile, und dessen Wirkungs- fähigkeit demnach allein in Bewegungsenergien bestehen kann, wo- *) Vgl. das früher auf S. 73 ff. angeführte Beispiel eines analytischen Be- weises aus diesem Gebiete. **) Allerdings hat Ost wald der letzteren Annahme zu entgehen gesucht, indem er die „strahlende Energie“ nicht auf die Schwingungen eines materiellen Mediums zurückführt, sondern als eine in oszillierender Bewegung befindliche Energie definiert. Gerade dieser aus einem anschaulichen und einem rein be- grifflichen Bestandteil zusammengesetzte Doppelbegriff beweist aber, daß der Energiebegriff selbst eine Zerlegung fordert, die ihn in Elemente der Anschauung auflöst. Denn eine reale Bewegung kann nur als die Ortsveränderung eines im Raum gegebenen realen Substrates definiert werden. 433 Die Hauptgebiete der Naturforschung. gegen die rein begriffliche Fixierung des Energiebegrifis genötigt sein würde, die Triftigkeit der Gründe völlig zu leugnen, vermöge deren wir dem Energiegesetz vor seiner speziellen Nachweisung in jedem ein- zelnen Fall bereits eine allgemeine Wahrscheinlichkeit zugestehen. Dies würde aber wieder im Widerspruch stehen mit dem Einflusse, den jenes Prinzip tatsächlich als heuristische Hypothese von axiomatischem Charakter in der Entwicklung der Wissenschaft ausgeübt hat*). Jene Reduktion auf die Schwere, aus der mit dem Begriff der Energie auch das Prinzip der Erhaltung der Energie hervorgegangen ist, setzt übrigens voraus, daß die verschiedenen Formen der Energie, die gemessen werden sollen, den erforderlichen Transformationen zu- gänglich sind. Diese Bedingung trifit nun bei zwei Erscheinungsgebieten, *) Vgl. hierzu die Formulierung dieses Prinzips, Bd. I, S. 613. Freilich hat man geglaubt, den Satz von der Erhaltung der Energie aus anderen Sätzen, und zwar namentlich aus dem sogenannten Satz „von der Unmöglichkeit des Perpetuum mobile“ beweisen zu können: so Helmholtz (Über die Erhaltung der Kraft. 1847, S. 7 ff.), Mach (Geschichte und Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit. 1872, S. 36 fl.) und M. Planck (Das Prinzip der Er- haltung der Energie, 1887, S. 138 fl.). Dieser Beweis ist aber logisch betrachtet nicht ein induktiver Beweis, wie Planck meint, sondern ein Zirkelbeweis, da der Satz von der Unmöglichkeit des Perpetuum mobile in der allgemeinen physikalischen Bedeutung, in der er hier gemeint ist, vollständig den Satz von der Erhaltung der Energie bereits einschließt. In der Polemik, die Planck bei dieser Gelegenheit gegen die Behauptung führt, daß das Energieprinzip a priori gewiß sei, übersieht er gerade den Fall, der bei den allgemeinen Voraus- setzungen der Mechanik und Physik stattfindet: diese Voraussetzungen, vom Trägheitsprinzip an bis zum Satz von der Erhaltung der Energie, sind nämlich nicht Axiome im mathematischen Sinne, d. h. durch die unmittelbare Anschau- ung evidente Sätze, sondern sie sind Hypothesen von einem den Axiomen ver- wandten Charakter, insofern ihnen der Versuch, sie anschaulich verwirklicht zu denken, a priori eine größere Wahrscheinlichkeit verleiht als anderen etwa möglichen Hypothesen. Auf diese Weise erklärt sich ebensowohl die der Er- fahrung vorauseilende Entdeckung solcher Sätze wie die immer bestehen bleibende Forderung, daß sie mit der Erfahrung in Übereinstimmung stehen (vgl. Bd. I, S. 532 ff., 609 fi.). Den Bedenken, welche Edm. König (Die Ent- wicklung des Kausalproblems, II, 1890, S. 448) gegen eine axiomatische Auf- fassung des Energiegesetzes geltend gemacht hat, daß man vor der Entdeckung Rob. Mayers einen Verlust von Energie für möglich, einen Verlust von Materie aber für unmöglich hielt, und daß wir das Quantum der Materie nach dem Gewicht und nicht nach Energiewerten messen, kann man wohl entgegenhalten, daß als Prinzip a priori das Energiegesetz schon vor Mayer namentlich von Leibniz ausgesprochen wurde, und daß übrigens hier, ähnlich wie bei dem Beharren der Substanz, das Prinzip in dem früher (Bd. I, S. 616) ausgeführten Sinne axiomatisch und hypothetisch zugleich ist. Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 433 die an und für sich in hohem Grade zur Anwendung exakter Beob- achtungen geeignet sind, noch nicht zu, nämlich beim Schall und beim Licht. Die Messung von Schall- und Lichtintensitäten ist darum hinter der Messung der Intensität anderer Naturkräfte zurückgeblieben, und die wenigen Versuche, die gemacht worden sind, auch hier ob- jektive Maßmethoden zu gewinnen, haben bis jetzt zu einer allge- meinen praktischen Anwendung nicht geführt. In der Regel be- schränkt man sich daher darauf, aus theoretischen Voraussetzungen Werte abzuleiten, ohne sie durch Beobachtung zu verifizieren, oder man sieht sich auf die unmittelbare Vergleichung von Empfindungs- stärken, also auf das ursprünglichste und ungenaueste Verfahren der Intensitätsmessung angewiesen. Um die Unterscheidung unter diesen beschränkenden Bedingungen möglichst zuverlässig zu machen, wendet man dann aber das nämliche statische Prinzip an wie bei der gewöhnlichen Form der Gewichtsmessung durch die Wage: man bestimmt z. B. bei den photometrischen Vorrichtungen die Stärke zweier Lichtquellen, indem man durch Abstufung ihrer Entfernungen von einem auffangenden Schirm zwei einander gleich erscheinende Lichtintensitäten hervorbringt, worauf sich das gesuchte Intensitäts- verhältnis aus dem Verhältnis der Quadrate der Entfernungen der Lichtquellen ergibt. Da das Licht hierbei keine merkliche Trans- formation in eine andere Bewegungsform erfährt, so ist eine solche Bestimmung immerhin so genau, als es die Schätzung mit dem Auge gestattet. Es ist übrigens kaum zu zweifeln, daß sich mit dem weiteren Fortschritt der Physik auch die Messung der Schall- und Lichtstärken der allgemeinen Tendenz zur Messung der Kraftgrößen mittels der Bewegungen schwerer Massen nicht entziehen wird. Der Zeitpunkt dazu dürfte gekommen sein, sobald eine geeignete Transformation ge- funden ist, welche die Benützung des elektrischen Stroms und seiner Wirkungen auf den Magnet und dadurch abermals die Hilfe des Prinzips der Wage gestattet. Übrigens ist leicht ersichtlich, wie selbst jene un- vollkommene Form der Intensitätsmessung, die sich der unmittelbaren Vergleichung von Empfindungsstärken bedient, keine Ausnahme von der Regel bildet, daß die gerade Linie und der Winkel die Elemente aller exakten Messungen sind. Denn das wirkliche Maß für die Ver- gleichung wird hierbei immer erst durch die Abmessung der Entfernungen gewonnen, in denen sich die verschiedenen Licht- oder Schallquellen befinden müssen, wenn der subjektive Eindruck der gleiche sein soll. In einer neuen und eigentümlichen Form tritt uns schließlich diese Übertragung in das räumliche Maß bei der dritten und letzten Wundt, Logik. II. 3, Aufl. 28 434 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Klasse allgemeiner Messungshilfsmittel entgegen, bei den Zeit- maßen. Jede objektive Zeitmessung setzt eine Bewegung voraus, bei der in gleichen Zeiten gleiche Räume zurückgelegt werden. Ist diese Voraussetzung erfüllt, so liefert die Einteilung des durchlaufenen Raumes unmittelbar die entsprechende Teilung der Zeit. Eine dauernde Bewegung solcher Art ist aber schon vermöge der begrenzten Be- schaffenheit unseres Gesichtsraumes nur in periodischer Form mög- lich, so also, daß der bewegte Körper in regelmäßigen Zeitzwischen- räumen immer wieder zu dem nämlichen Ort zurückkehrt. Diese Bedingung bot sich für die Anfänge des menschlichen Denkens in den periodischen Bewegungen der Gestirne. Ihre Verwendung zu Zeitmaßen war daher eine so naheliegende Handlung, daß man sich der Willkür- lichkeit derselben nicht einmal bewußt wurde, sondern geneigt war, in der regelmäßigen Bewegung der Gestirne die objektive Existenz der Zeit selbst zu erblicken. Man kann es als ein Glück für die Wissenschaft betrachten, daß dieses sich alsbald mit einem zweiten Vorurteil ver- band, ohne das der Gedanke einer objektiven Zeitmessung kaum möglich gewesen wäre. Die Zeit einer Erdrotation ist viel zu groß, als daß sich aus unmittelbarer Anschauung eine Gewißheit darüber gewinnen ließe, ob jede solche Periode der anderen gleich ist, und die Bewegung der Gestirne erfolgt für unsere Wahrnehmung viel zu lang- sam, als daß sich ohne andere Hilfsmittel entscheiden ließe, ob sie eine gleichförmige ist. Nichtsdestoweniger ist bis in die neueren Zeiten niemals den Menschen ein Zweifel an der Regelmäßigkeit der täg- lichen Bewegungen der Gestirne gekommen, und selbst die Abwei- chungen, die sich schon frühe innerhalb längerer Zeiten der Beob- achtung aufdrängten, versuchte man alsbald abermals einer bestimm- ten Gesetzmäßigkeit unterzuordnen*). Erst diese Voraussetzung lieferte aber die Möglichkeit einerseits zur Einteilung des Tages in kleinere Zeitteile und anderseits zur Messung größerer Zeiträume. Für jene bot der Stand der Sonne, der aus der Länge oder Richtung des Schattens nach empirischen Regeln leicht zu bestimmen war, für diese boten die Perioden der Mond- und der Sonnenbewegung die nächstliegenden und zugleich wegen ihrer relativen Konstanz die bleibenden Hilfsmittel. Doch so gut diese im ganzen, nachdem sie nur erst durch die geeigneten Korrektionen in Übereinstimmung ge- bracht waren, den Zwecken der Zählung größerer Zeiträume ent- *) Über die dieser Voraussetzung zu Grunde liegenden logischen Postulate vgl. Bd. I, S. 475 fl. \ Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 435 sprachen, so wenig genügten sie dem Bedürfnis nach einer Messung kleiner Zeitteile, wie es sich einigermaßen schon im praktischen Leben und späterhin noch in viel höherem Grade bei physikalischen Beobach- tungen geltend machte. Die Sonnenuhr erlaubt im günstigsten Fall Unterschiede von einigen Minuten zu schätzen, und sie versagt ihre Dienste ganz, wenn die Sonne nicht sichtbar ist. Frühe schon verfiel man daher zu solchen Zwecken auf die Benützung der Schwerkraft. Die Wasser- und Sanduhren, deren sich bereits das Altertum be- diente, sind noch in den Anfängen der neueren Physik zu physikalischen Zwecken benützt worden, und im wesentlichen der nämliche Gedanke lag den um dieselbe Zeit aufkommenden Räderwerken zu Grunde, bei denen man Gewicht und Reibungswiderstände so gegeneinander ab- geglichen hatte, daß die Fallbewegung des ersteren zu einer annähernd gleichförmigen wurde. Eine rationellere Verwendung der Schwerkraft begann erst mit der von Huygens gelehrten Benützung des Pendels zur Regulation der Bewegungen. Hatten die Wasseruhren mit gleichem Niveaustand und die Räderwerke mit Widerständen der niemals in exakter Weise zu lösenden Aufgabe einer völlig gleich- förmigen Bewegung in unzureichenden Annäherungen zu entsprechen gesucht, so ersetzte die Pendeluhr die kontinuierliche durch eine stoß- weise Bewegung und begnügte sich mit der exakten Gleichheit der einzelnen durch die Pendelschläge abgetrennten Zeitteile. Alle neueren Chronometer und Chronoskope haben dieses Prinzip adoptiert, auch wenn sie sich nicht direkt eines Gewichts zur Erzeugung der Bewegung und des Pendels zur Regulierung derselben bedienen. Statt des Ge- wichts kann eine gespannte Feder das Räderwerk in Bewegung setzen, und statt des Pendels kann ein oszillierendes Schwungrad, dessen Be- wegungen ebenfalls durch Federkraft unterhalten werden, den Gang der Uhr regulieren. Ein anderes Hilfsmittel, das namentlich bei rasch ablaufenden, zur Messung sehr kleiner Zeitteile dienenden Chrono- skopen Anwendung findet, ist ein schwingender Stab oder eine Stimm- gabel, die durch ihre gleich bleibende Tonhöhe die Gleichmäßigkeit der Bewegung sichern. Nicht selten zieht man es aber auch für physi- kalische Zwecke vor, auf den gleichmäßigen Gang des Uhrwerks zu ver- zichten und mittels der Registrierung von Pendelschlägen oder Stimm- gabelschwingungen auf einer bewegten Fläche, auf welcher gleich- zeitig die Momente des Eintritts bestimmter Ereignisse markiert werden, deren absolute oder relative Zeitdauer zu messen. Auf diese Weise ist allen zeitmessenden Hilfsmitteln von der Bewegung der Gestirne bis zur schwingenden Stimmgabel die Eigenschaft des periodi- 436 Die Hauptgebiete der Naturforschung. schen Verlaufs der Bewegungen gemeinsam. Je kleiner aber die Zeit- teile sind, die gemessen werden sollen, umso kürzer muß die Periode der Bewegung sein, die als Maß dient. Mit der Feinheit des Hilfsmittels steigen ferner die Vorsichtsmaßregeln, durch welche die genauen Zeitangaben sichergestellt werden müssen; denn einerseits werden die objektiven Störungen der Bewegung bedeutender, und anderseits erreichen die subjektiven Fehler der Messungen relativ größere Werte. So bedürfen die periodischen Bewegungen des Pendels, der Unruhe, des schwingenden Stabes einer fortwährenden Berücksichtigung der Temperatur und wo möglich einer sorgfältigen Kompensation der Temperatureinflüsse sowie einer häufig wiederholten Reduktion auf das unveränderlich gegebene Maß der Sternzeit, wenn die An- gaben der Instrumente vergleichbar bleiben sollen. Die Messung kleinster Zeitteilchen endlich findet an den Schranken unserer sinn- lichen Wahrnehmung ihre Grenzen. Wir können diese Grenzen ver- engern, indem wir die Zeitbestimmung der Ereignisse dadurch, daß wir diese sich selbst registrieren lassen, unabhängig machen von der schwankenden Aufmerksamkeit des Beobachters, und wir können für die Ausmessung der auf solche Weise in eine Raumstrecke über- tragenen Zeit noch mikroskopische und mikrometrische Hilfsmittel herbeiziehen. Immer aber bleibt eine Grenze, die für uns unüber- schreitbar ist. Indem jede exakte Messung, auch die Gewichts- und die Zeitmessung, schließlich auf räumliche Messungen zurückführt, ist naturgemäß von der Schärfe, mit der wir eine räumliche Strecke durch das Auge unter Herbeiziehung optischer Hilfsmittel zu messen vermögen, alle Messung der Naturerscheinungen abhängig. c. Die mathematischen Hilfsoperationen der physi- kalischen Untersuchung. Auf die große Bedeutung, welche die mathematische Analysis als Werkzeug der physikalischen Deduktion besitzt, wurde bereits hingewiesen (S. 404 ff.). Die so entstandene rein mathematische Be- handlung der Physik, durch die sich diese fast zu einem Zweig der angewandten Analysis erhoben hat, ist aber allmählich aus der fort- währenden Benützung geometrischer und arithmetischer Operationen hervorgewachsen, deren die physikalische Untersuchung schon bei der induktiven Verarbeitung der durch die Beobachtung gegebenen Tat- sachen bedarf. Während die analytische Behandlung der physikalischen Probleme nur gewisse Voraussetzungen der Beobachtung entnimmt Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 437 und diese wieder zur Bestätigung gewisser Folgerungen sowie zur numerischen Feststellung bestimmter Größen herbeizieht, im übrigen aber durchaus in der Form einer selbständigen mathematischen Unter- suchung verläuft, greifen jene mathematischen Hilfsoperationen in wechselnder Weise in den Gang der Untersuchung ein; sie werden immer nur für einzelne Zwecke, die sich aus den Resultaten der Beobachtung oder des Experimentes ergeben, benützt, und ihre Anwendung gleicht hierin vollständig derjenigen der technischen Hilfsmittel, welche die genaue Messung der Erscheinungen ermöglichen. In der Tat bilden die mathematischen Hilfsoperationen eine unerläßliche Ergänzung der physikalischen Messungswerkzeuge, weil die selbstverständliche Be- dingung für die Anwendung der letzteren darin besteht, daß die zu messenden Erscheinungen unseren instrumentellen Hilfsmitteln un- mittelbar zugänglich sind. Wo dies nicht der Fall ist, da kann eine Messung nur dann ermöglicht werden, wenn die Erscheinungen mit anderen direkt meßbaren in bestimmten gesetzmäßigen Beziehungen stehen, die einen Ausdruck in mathematischer Form zulassen, und aus denen sie infolgedessen durch bestimmte mathematische Operationen abgeleitet werden können. Überall daher, wo physikalische Größen nur auf diesem indirekten Wege meßbar sind, bilden mathematische Hilfsoperationen die Werkzeuge solcher Messung. Weil aber nur an verhältnismäßig wenige unter den Erscheinungen, auf deren genaue Kenntnis es uns ankommt, unsere verschiedenen Maße direkt angelegt werden können, so fällt die Mehrzahl der physi- kalisch wichtigen Größen einer indirekten Messung anheim, die in der mathematischen Ableitung der gesuchten Größen aus anderen durch die direkte Messung gefundenen besteht. Da nun alle physikalischen Maße auf Raummaße zurückführen, so bildet die geometrische Konstruktion den natürlichen Ausgangspunkt dieser Hilfsoperationen, und erst an sie schließen sich die arithmetischen Verfahrungsweisen an, durch die es schließlich möglich wird, die gefundenen Größen in bestimmten Zahlwerten aus- zudrücken. Bei der Anwendung der geometrischen Hilfskonstruktionen stützt sich die Physik einfach auf die Sätze der Geometrie, die es mög- lich machen, aus gewissen Bestimmungsstücken eines Raumgebildes von bekannten Eigenschaften andere zu finden, die nicht unmittel- bar gegeben sind. Die wissenschaftliche Physik ist hier zunächst bei der Feldmeßkunst in die Lehre gegangen. Freilich aber bedurfte sie bald genauerer Methoden als diese, um die Beziehungen zwischen den Elementen aller räumlichen Messung, dem Winkel und der Geraden, 438 Die Hauptgebiete der Naturforschung. in ausgiebigster Weise zu verwerten. Aus diesem Bedürfnis sind zuerst innerhalb der Alexandrinischen Astronomie die trigonometrischen Methoden entstanden, die man bald auch zur Berechnung der Bogen und Winkel auf der Kugel anwenden lernte*). Indem die neuere Physik nicht bloß die bleibenden räumlichen Lageverhältnisse der Körper, sondern die mannigfaltigen Formen ihrer Bewegung vor das Forum ihrer Untersuchungen zog, konnten ihr aber die für den ersteren Zweck erfundenen trigonometrischen Methoden nicht mehr genügen, sondern sie mußte die reicheren Hilfsmittel verwerten, welche die Geometrie der Kurven, namentlich der Kegelschnittslinien, gewährte. Nichtsdestoweniger blieb noch lange Zeit, gemäß dem natür- lichen Entwicklungsgang dieser Hilfsoperationen, den geometrischen Konstruktionen die eigentliche Lösung der Probleme vorbehalten, und es wurde dadurch zugleich für die Darstellung der Untersuchungs- ergebnisse das Festhalten an der Euklidischen Demonstrationsform unterstützt. Erst jene Verwertung der Arithmetik, welche die analytische Geometrie geschaffen, eröffnete einem freieren Ineinander- greifen geometrischer und analytischer Methoden die Bahn; insbe- sondere wirkte in dieser Beziehung der herrschend gewordene ana- lytische Gang der physikalischen Deduktion auf die spezielleren Hilfs- operationen zurück, die gelegentlich in dem Verlauf einer induk- tiven Untersuchung benützt werden. Es konnte hier um so leichter eine der analytischen Deduktion verwandte Behandlungsweise Platz greifen, als jede durch die Rechnung vermittelte indirekte Messung eben nur insoweit auf Induktion beruht, als sie auf eine ursprüngliche direkte Messung zurückführt, wogegen das mathematische Verfahren selbst in diesen Fällen immer in einer Deduktion besteht. So ist es schließlich nur noch der Umfang, in welchem man die Deduktion hand- habt, und die Frage, ob sie bloß auf der sicheren Grundlage bestimmter Messungen, oder ob sie ausgehend von irgendwelchen hypothetischen Voraussetzungen geübt wird, wodurch sich die mathematischen Opera- tionen der physikalischen Untersuchung von der allgemeineren Form der mathematisch-physikalischen Deduktion unterscheiden. Ursprünglich beschränkte sich nun die Anwendung dieser Hilfs- operationen ganz und gar auf die Ermittlung indirekt gegebener Größen, indem man voraussetzte, daß jeder direkten Messung an und für sich unmittelbare Wahrheit zukomme. Eine solche Voraus- setzung ist natürlich irrig, weil dabei keine Rücksicht genommen ist auf *) M. Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, I, S. 312, 349. Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 439 die mannigfachen Fehlerquellen der Beobachtungen, die in der Be- schaffenheit unserer Sinnesorgane, in der Ungenauigkeit der tech- nischen Hilfsmittel sowie in der unzureichenden Aufmerksamkeit des Beobachters ihre Quellen haben. Die wiederholte Messung eines und desselben Gegenstandes mußte frühe schon durch die Schwan- kungen der Resultate diese Unsicherheit der einzelnen Beobachtung verraten, und sie führte zugleich auf jenes einfache arithmetische Hilfs- mittel, dessen wir uns noch heute zur Erzielung genauerer Ergebnisse bedienen, auf die Bildung des arithmetischen Mittels. Die gesteigerten Ansprüche der physikalischen Beobachtungskunst zeigten jedoch, daß dieses Verfahren für exakte Zwecke meistens unzureichend ist. Zunächst werden durch dasselbe alle die Fehler nicht eliminiert, die aus konstanten Fehlerquellen unserer Sinnesorgane oder Instru- mente entspringen. Auch nachdem durch eine genaue Kontrolle der letzteren sowie durch eine angemessene Variation der Beobachtungen diese Fehler möglichst eliminiert wurden, sind aber die übrig bleibenden zufälligen Schwankungen der einzelnen Messungen nicht immer von solcher Beschaffenheit, daß sie sich durch die Bildung des arithmeti- schen Mittels aus einer größeren Anzahl von Fällen zureichend aus- gleichen. Denn die Voraussetzung des arithmetischen Mittels, daß ein Fehler ebenso oft in positivem wie in negativem Sinne begangen werden könne und in beiden Fällen durchschnittlich gleich groß sei, kann nur dann zutreffen, wenn die einzelnen Messungen oder Messungsreihen unter genau gleichen Bedingungen ausgeführt sind. Demgemäß hat die mathematische Fehlertheorie Methoden entwickelt, nach denen auf Grund der Abweichungen der Beobachtungen der Grad der Präzision derselben oder der wahrscheinliche Fehler der gewonnenen Werte er- mittelt und auf diese Weise eine Korrektion dieser Werte gewonnen werden kann, die sie so weit wie möglich den wirklichen Werten der zu messenden Größen nahe bringt. Im wesentlichen die nämlichen Methoden können dann noch zu einem weiteren Zweck, der mit der direkten Größenmessung zusammen- hängt, Anwendung finden. Bei verwickelteren Erscheinungen, wie auf physikalischem Gebiete besonders die Meteorologie sie darbietet, können nämlich durch objektive Naturbedingungen ähnliche, nur meist noch umfangreichere Abweichungen der Einzelwerte einer Er- scheinung gegeben sein, wie sie bei der wiederholten Messung eines Gegenstandes infolge subjektiver Bedingungen stattfinden. Die Regen- menge eines Ortes wechselt von Tag zu Tag, die Temperatur, der Druck und Feuchtigkeitsgehalt der Luft sind fortwährenden Schwankungen 440 Die Hauptgebiete der Naturforschung. unterworfen. Nichtsdestoweniger können wir zum Zweck gewisser Vergleichungen nach Mittelwerten aller dieser Größen fragen. Hier entspricht der Mittelwert nicht einem wirklichen, sondern einem idealen Objekt, welches möglicherweise in keinem einzigen der be- obachteten Fälle verwirklicht ist. Auch hier beschränkt man sich zu- weilen auf die Bildung des arithmetischen Mittels. Erscheint dieses ungenügend, so wird nun aber, entsprechend der veränderten Be- deutung der Mittelwerte, die Art, wie die Beobachtungen weiter ver- arbeitet werden, eine wesentlich andere. Denn es handelt sich ja nicht darum, dem arıthmetischen Mittel eine Größe zu substituieren, die mit dem wahren Wert der physikalischen Erscheinung genauer zu- sammentrifft, sondern den idealen Durchschnittswert einer Summe von Erscheinungen mit ähnlichen Durchschnittswerten gleicher Art oder mit anderen begleitenden Erscheinungen, die meistens ebenfalls zuvor auf ideale Mittelwerte reduziert wurden, in Beziehung zu setzen. Auf diese Weise soll einerseits eine Übersicht über den gesamten Verlauf und Zusammenhang der Erscheinungen gewonnen, anderseits aber auch eine einigermaßen sicherere Vorausbestimmung derselben er- möglicht werden. Insoweit der letztere Zweck zur Geltung kommt, sind dann wieder mathematische Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen unerläßlich. Der zuerst genannte Zweck, die Kombination verschie- dener idealer Mittelwerte, erfordert dagegen die nämlichen mathe- matischen Hilfsmittel, die überhaupt bei der Kombination physikalischer Beobachtungen angewandt werden. Der nächste Schritt besteht hier darin, daß man den Verlauf einer Erscheinung oder den Zusammenhang der Erscheinungen gleicher Art an verschiedenen Orten auf geometri- schem Wege zur Darstellung bringt, indem man die beobachteten Mittelwerte als die Ordinaten einer Kurve betrachtet, deren Abszissen entweder der Zeit oder einer stetigen Folge von Beobachtungsörtern entsprechen. Jede solche graphische Darstellung hat die Bedeutung eines empirischen Gesetzes. In Ermanglung einer zureichenden Kennt- nis der Ursachen einer Erscheinung substituiert dieses empirische Gesetz hier wie überall den ursächlichen Bedingungen, als deren Funktion die Erscheinung anzusehen wäre, entweder den gleichförmigen Zeitverlauf oder eine stetige Abmessung im Raume, da alle Vorgänge, die über- haupt eine Gesetzmäßigkeit zeigen, eine solche durch eine gewisse Regel- mäßigkeit in ihrem zeitlichen Verlauf oder in ihrer räumlichen Ver- teilung verraten müssen. Aus der graphischen Darstellung kann dann immer auch, wenn es wünschenswert scheint, eine analytische Formel abgeleitet werden, welche die Berechnung des idealen Durch- Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 441 schnittswertes der Erscheinung für einen beliebigen Zeitpunkt oder Ort gestattet. Immerhin pflegt man zu einer derartigen analytischen Umformung der graphischen Darstellung nur in solchen Fällen zu schreiten, wo entweder die einzelnen Abweichungen von den idealen Mittelwerten nicht allzu groß sind, oder wo mit Herbeiziehung der Hilfsmittel der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu praktischen Zwecken Vorausbestimmungen für die Zukunft getrofien werden sollen. Die analytische Verwertung der graphischen Darstellungen ist überdies im allgemeinen dann eine schwierigere, wenn nicht die Zeit, sondern der Raum die unabhängig Veränderliche ist, auf welche die Erscheinungen bezogen werden. Da bei dem Raume in der Regel zwei und unter Um- ständen sogar drei Dimensionen berücksichtigt werden müssen, nach denen sich die Erscheinungen abstufen, so wird schon die graphische Darstellung eine verwickeltere, und sie vermag im allgemeinen nur durch unvollkommene Hilfsmittel, z. B. durch Farben- und Licht- abstufungen bei den kartographischen Versinnlichungen, die Gesetze der räumlichen Ausbreitung einer Erscheinung zum Ausdruck zu bringen. Eine analytische Formel aber würde sich in solchen Fällen so kompliziert gestalten, daß man die einfache Zusammenstellung der Durchschnittswerte in tabellarischer Gestalt vorzieht. Mit Hilfe dieser läßt sich dann unter Umständen auch eine vereinfachte graphische Darstellung gewinnen, indem man gewisse ausgezeichnete Werte heraus- greift, oder indem man einfach die Punkte, für die überhaupt der Durch- schnittswert einer Erscheinung der nämliche ist, durch eine Kurve ver- bindet. So hat z. B. Dana durch die sogenannten Isokrymen alle diejenigen Punkte der Meeresoberfläche verbunden, an denen die Tempe- ratur während 30 aufeinander folgender Tage gleich niedrig ist. Die Iso- thermen veranschaulichen die Verteilung der Temperatur an der Erd- oberfläche, indem sie als Monatsisothermen die Punkte gleicher mitt- lerer Monats-, als Jahresisothermen die Punkte gleicher mittlerer Jahrestemperatur verbinden. Die auf der Erdoberfläche nach allen Richtungen veränderliche Erscheinung ist auf diese Weise auf ein System linearer Veränderungen zurückgeführt, die sich unmittelbar leicht übersehen lassen. Dies ist aber nur durch einen Kunstgriff er- möglicht: an die Stelle der Abhängigkeit der Temperatur vom Orte setzt man eigentlich eine Abhängigkeit des Ortes von der Temperatur, indem man bestimmt, welche Bewegungen auf der Erdoberfläche aus- geführt werden müßten, wenn man immer nur Orte passieren wollte, für die gewisse konstante Temperaturverhältnisse existieren. 442 Die Hauptgebiete der Naturforschung. d. Die physikalische Konstantenbestimmung. Eine besonders wichtige Verwendung finden die mathematischen Hilfsoperationen bei der Bestimmung jener Größen, die als unver- änderliche Maße der einzelnen Naturerscheinungen dienen, und die man darum als physikalische Konstanten bezeichnet. Bei weitem in den häufigsten Fällen sind die Konstanten nicht selbst ge- geben, aber sie können aus bestimmten Daten der Beobachtung durch verhältnismäßig einfache arithmetische Operationen gefunden werden. Nun beziehen sich, wie früher bemerkt, alle unsere Messungen auf räumliche Größen, Gewichte und Zeiten, von denen die beiden letzteren wieder auf die ersteren, d. h. auf die Messung von geraden Linien und Winkeln, zurückführen. Dies findet auch in den Einheiten, die man für jene drei fundamentalen Begriffe festgesetzt hat, seinen Ausdruck. Diese Einheiten sind schließlich willkürliche, und wenn man unter ihnen das Meter zuweilen als eine „natürliche Einheit“ bezeichnet hat, so sollte dies nicht die willkürliche Feststellung ausschließen, sondern nur darauf hinweisen, daß die Erhaltung dieser Einheit als einer in der Natur objektiv gegebenen Größe, nämlich als des zehnmillionten Teils des Erdquadranten, nicht von der Aufbewahrung künstlicher Maß- stäbe abhängig sei. Übrigens ist diese Absicht durch die Ungenauig- keiten der Gradmessung, aus der die Feststellung des Metermaßes hervorging, vereitelt worden, so daß in Wahrheit doch nur durch die Aufbewahrung der Normalmaße die Erhaltung der Einheit verbürgt wird. Ähnlich ist die Zeitsekunde schließlich eine willkürliche Einheit, obgleich sie von der Tageslänge abhängt, deren Wahl zur Zeitmessung so nahe lag, daß sie wohl kaum zu umgehen war. Die Gewichtseinheit endlich, das Gramm als Gewicht eines Kubikzentimeter Wasser im Zu- stand seiner größten Dichte, ist einerseits auf die Längeneinheit, ander- seits auf die Wahl eines Körpers gegründet, der durch seine Verbreitung und die Konstanz seiner Eigenschaften ein besonders geeignetes Mes- sungshilfsmittel zu sein schien. Auf diese Weise führen die Längen- ‘und Zeiteinheit auf je ein Bestimmungsstück, die erste auf eine gerad- linige Strecke, die zweite auf einen Winkel, die Gewichtseinheit aber auf zwei Bestimmungsstücke, nämlich auf das Längenmaß und auf die spezifische Dichte des Wassers, zurück. Die meisten physikalischen Konstanten enthalten daher entweder Längen- und Zeitangaben oder Längen-, Zeit- und Gewichtsangaben, wobei diese Elemente in multi- plikativer Form verbunden und nach den angegebenen Einheiten ge- messen werden. Wegen der Beziehung, die zwischen dem Längen- Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 443 und dem Gewichtsmaß besteht, pflegt man hierbei übereinstimmende Einheiten beider zu kombinieren, also das Millimeter mit dem Milli- gramm oder das Zentimeter mit dem Gramm. Außerdem können aber auch noch Zahlen entweder für sich oder in Verbindung mit einer der genannten Maßeinheiten den Wert von Konstanten gewinnen. Solche Zahlen drücken bald die Häufigkeit einer gewissen Erscheinung aus, wie z. B. der Schall- oder Lichtwellen, und werden dann mit der Zeiteinheit verbunden, bald bezeichnen sie eine Winkelgröße, wie der sogenannte Randwinkel in der Theorie der Kapillarität, bald beziehen sie sich auf unveränderliche Relationen bestimmter Größen, wie die Brechungsindizes in der Optik. Das Gebiet der physikalischen Konstantenbestimmung ist ver- möge der Verschiedenheiten, die gewisse gleichförmig festzustellende Größen je nach der individuellen Beschaffenheit der Naturkörper darbieten, unermeßlich. Die Dichtigkeiten, Elastizitätskoeffizienten, Brechungsindizes, Kapillaritätskonstanten u. s. w. variieren in der mannigfaltigsten Weise; jede einzelne Bestimmung bietet darum ein verhältnismäßig beschränktes, meist nur gewissen praktischen Zwecken dienendes Interesse dar. Von weit größerer Bedeutung sind diejenigen Konstantenbestimmungen, bei denen man für die Wirkungen der un- veränderlich gegebenen Naturkräfte ein einheitliches Maß zu gewinnen sucht. Je nachdem von den drei wesentlichen Bestimmungselementen der räumlichen Strecke (bezw. des Winkels), der Zeit und der Masse nur eines oder zwei oder drei in Betracht kommen, lassen sich ein-, zwei- und dreidimensionale Konstanten unterscheiden. Die eindimensionalen sind allgemein einfache Raumgrößen, und zwar in der Regel Längen, seltener Winkel. Hierher gehören die Dimen- sionen des Erdsphäroids, die kosmischen Entfernungsbestimmungen, die Wellenlängen der Töne und Farben u. s. w. Man erhält sie durch Multiplikation der gewählten Längeneinheit oder irgend einer Potenz derselben mit einer Zahl, in deren genauer Ermittelung in diesem Fall die eigentliche Aufgabe der Konstantenbestimmung besteht. Die z wei- dimensionalen Konstanten enthalten in der Regel die Faktoren der Länge (seltener des Winkels) und der Zeit. Sie umfassen ale Geschwindigkeitsbestimmungen, welche durch Division der durchlaufenen Länge oder des Drehungswinkels durch die Zeit erhalten werden. Die so gewonnene Zahl bedeutet dann die in der Sekunde zurückgelegte Strecke und besteht demgemäß aus dem Produkt einer Zahl in die Längeneinheit dividiert durch die Zeiteinheit. Hierher gehören die Konstanten der Licht-, Schall-, Elektrizitätsgeschwindig- 444 Die Hauptgebiete der Naturforschung. keit u.s. w. Auch die Bestimmung des elektrischen Stromwiderstandes führt auf das Geschwindigkeitsmaß zurück. Zweidimensionale Kon- stanten, welche die Elemente der Länge und der Masse enthalten, be- sitzen dagegen nur eine beschränkte Bedeutung, und solche mit den alleinigen Elementen der Masse und der Zeit sind prinzipiell unmöglich. Zu einer Konstanten der ersteren Art führt nämlich bloß der Begriff des Trägheitsmomentes in Bezug auf Drehung, welcher durch das Produkt einer Masse in das Quadrat ihres kürzesten Abstandes von der Drehungsachse gemessen wird, also die Bestimmung einer Länge und einer Masse voraussetzt. Eine ähnliche Bedeutung besitzt der Begriff des magnetischen Momentes, der in analoger Weise zusammengesetzt ist. Doch ist leicht zu bemerken, daß in dem Begriff des Drehungs- momentes derjenige der Geschwindigkeit verborgen liegt, wenn auch wegen des vorausgesetzten statischen Verhaltens von einer Zeitbestim- mung abgesehen werden kann. Dadurch bildet derselbe den Übergang zu den Konstanten der folgenden, dritten Klasse, aus denen er durch Elimination des Zeitbegrifis hervorgegangen ist. Diese dreidimen- sionalen Konstanten enthalten neben den Elementen der Raumstrecke und der Zeit noch dasjenige der Masse. Bezeichnet man daher die Einheiten dieser drei Elemente mit /, t und m, so führt jede Konstantenbestimmung dieser Art bei der gewöhnlich gewählten Auf- einanderfolge der Elemente auf einen Ausdruck von der Form n.m? lt, worin n eine Zahl ist, deren Ermittlung das eigentliche Objekt der Messung darstellt, während x, y, z ganze oder gebrochene, positive oder negative Potenzen bedeuten können. Hierher gehören zunächst die Konstanten der verschiedenen Kraftformen, wie der Schwere, der Wärme, der elektrischen und der magnetischen Kräfte, außer- dem alle diejenigen Konstanten, durch die in irgend einer Weise die Wirkungen dieser Kräfte auf materielle Massen unter besonderen Bedingungen gemessen werden: so in der Mechanik die Energie einer bewegten Masse, die Arbeit einer Kraft, das Drehungsmoment bei einer drehenden Bewegung, der hydrostatische Druck einer Flüssig- keit, in der Elektrizitätslehre die Potentialfunktion eines elektrischen oder magnetischen Stromelements, die Intensität eines Stromes, die elektromotorische Kraft u. s. w.*). *) Vgl. Herm. Hertwig, Physikalische Begriffe und absolute Masse. 1880. Nimmt man den allgemeinen Energiebegriff in dem oben (S. 430) ange- Die Hilfsmittel der physikalischen Forschung. 445 Unter diesen Konstanten besitzen die der Naturkräfte selbst eine hervorragende Bedeutung, weil sie die unveränderlichen Größen darstellen, von denen schließlich alle anderen hier in Betracht kommenden Werte abhängen. Unter ihnen steht wieder dieSchwer- kraft in erster Linie, da sie allen Konstantenbestimmungen, welche das Element der Masse enthalten, zu Grunde gelegt wird. Zum Maß der Schwere dient aber die Fallbeschleunigung. Diese wird gemessen, indem man die Geschwindigkeit bestimmt, die in einem frei fallenden Körper durch die während einer Sekunde kon- tinuierlich einwirkende Schwere erzeugt wird. Diese gewöhnlich mit g bezeichnete Konstante der Schwerkraft beträgt unter dem Äquator 9781 Mm. und wächst von da nach den Polen stetig infolge der ab- nehmenden Zentrifugalbeschleunigung der Erde. Der Umstand, dab die Schwerkraft die Maßeinheit für alle anderen Naturkräfte abgibt, kommt hierbei insofern zur Geltung, als die für sie gefundene Zahl an und für sich nur jene auf die Zeiteinheit bezogene Länge bedeutet, und daß sie daher ungeändert bleibt, welche Gewichtseinheit man auch wählt. Die Konstante der Schwerkraft würde also ebenso gut durch das Produkt 9781 Grm.-Mm.-Sek. wie durch das andere 9781 Mgr.-Mm.-Sek. ausgedrückt werden können, und nur die Rücksicht auf die Gleich- mäßigkeit der Längen- und der Gewichtsdimension verleiht dem letz- teren Ausdruck den Vorzug, bei dem deshalb auch die Angabe der Ge- wichtseinheit hinwegbleiben kann. Dies ist nun nicht mehr gestattet bei den Maßangaben über andere Naturkräfte, denen man die Einheiten der Schwerkraft zu Grunde legt. Jeder Ausdruck besteht daher in diesem führten Sinne zur Grundlage der physikalischen Konstantenbestimmungen, so läßt sich, wie Ostwald ausgeführt hat, statt der Masse als drittes Bestim- mungselement neben Länge und Zeit die Energie selbst anwenden (Sitzungs- bericht d. Ges. d. Wiss. zu Leipzig, 1891, S. 283). Der abstrakte Charakter jenes allgemeinen Energiebegriffs bringt es dann mit sich, daß nur noch die zwei Dimensionen der Länge und der Zeit eine geometrische Veranschaulichung zu- lassen, während die Energie eine rein begriffliche Größe bleibt. Zugleich aber fordert in diesem Fall auf jedem einzelnen Gebiet das Maßelement der Energie eine Zerlegung, die derjenigen der Bewegungsenergie in Masse und Geschwindig- keitsquadrat analog ist. So zerfällt die Wärmeenergie in Wärmekapazität (oder Entropie) und Temperatur, die elektrische Energie in Elektrizitätsmenge und Potential u. s. w. Die Energie kann also zwar als Maßfaktor gewählt werden, sie kann aber niemals die Bedeutung eines wirklichen Maßelementes annehmen. Auch weist das erste der beiden Elemente, in die sie zerfällt, über- all auf besondere, in den Zuständen der Materie begründete Bedingungen hin, auf deren Analyse man bei einer solchen Voranstellung des Energiebegriffs Ver- zicht leistet. 446 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Falle aus vier Gliedern, nämlich aus einer Zahl und den drei Einheits- werten des Gewichts, der Länge und der Zeit. Die nach diesem Prinzip vorgenommenen Maßbestimmungen pflegt man absolute zu nennen, um sie von den für einzelne Zwecke nicht selten gebrauchten konven- tionellen Maßen zu unterscheiden. Eine strenge Durchführung des absoluten Maßsystems ist aber nur da möglich, wo die betreffenden Naturkräfte entweder eine unmittelbare Vergleichung mit der Schwer- kraft zulassen, wie dies z. B. bei der Konstanten der Newtonschen Gravitation stattfindet, oder wo eine Transformation der in irgend einer anderen Form gegebenen Energie in Energie der Schwerkraft möglich ist. In diesem Fall, der bei der Messung der Wärme nach absolutem Maß vorkommt, wird demnach das Prinzip der Erhaltung der Energie vorausgesetzt. Die Wärmeeinheit, die man meistens bei dieser Messung benützt, bleibt dabei insofern willkürlich, als man von einer be- stimmten Substanz, dem Wasser bei seiner größten Dichte, und in der Regel sogar von einer konventionellen Temperatureinheit, dem Grad der hundertteiligen Thermometerskala, ausgeht. Hierauf beruht die gewöhnliche Bestimmung des Wärmeäquivalents, nach welcher die Wärmeeinheit einer Energie der Schwere von 430 Kilogr.-Meter ent- spricht. Besser genügt es der Forderung eines absoluten Maßes, wenn man umgekehrt als Wärmeeinheit diejenige Wärmemenge bezeichnet, die der Einheit der Bewegungsenergie gleichkommt, und danach auch die Temperatureinheit als diejenige Temperaturerhöhung bestimmt, welche diese absolute Wärmeeinheit an der Gewichtseinheit des Wassers bei konstantem Druck hervorbringt. In noch höherem Grade werden jedoch willkürliche Festsetzungen bei anderen Naturerscheinungen erforderlich. So gehen die üblichen Maßbestimmungen elektrischer und magnetischer Wirkungen gegenwärtig noch von zwei Begriffen aus, für die sich nur willkürliche Einheiten finden lassen: von dem Begriff einer Quantität freier Elektrizität und dem einer Quantität freien Magnetismus. Als Einheiten dieser Quantitäten setzt man nicht, wie es sein müßte, die Einheiten der ponderomotorischen Wirkungen, denen sie äquivalent sind, sondern die Einheiten der ponderomotorischen Wirkungen, die sie in der Entfernung hervorbringen. In beiden Fällen dient demnach diejenige Menge von Elektrizität oder Magnetismus als Einheit, die in der Einheit der Entfernung der Einheit der Masse eine Beschleunigung Eins erteilt. Von diesen elektrostatischen und elektromagnetischen Einheiten unterscheidet sich dann die elektro- dynamische nur dadurch, daß sie an Stelle der Quantität der Elek- trizität oder des Magnetismus die Intensität zweier aufeinander wirken- Das Substrat der Naturerscheinungen. 447 der Stromelemente einführt. Die Einheit der Intensität wird dann aber wieder nach der Einheit der Elektrizitätsmenge bestimmt, indem man unter jener die Intensität eines Stromes versteht, in welchem in der Zeiteinheit durch jeden Querschnitt die Elektrizitätsmenge Eins sich bewegt. Diesen mechanischen Einheiten zieht man übrigens meistens die von Gauß eingeführte elektromagnetische Konstantenbestim- mung vor, bei der jede elektrodynamische Wirkung auf eine ihr gleiche magnetische reduziert wird. Alle diese Maßbestimmungen, zwischen denen feste Beziehungen stattfinden, stimmen wieder darin überein, daß sie die drei Dimensionen der Masse, der Länge und der Zeit enthalten. 3. Das Substrat der Naturerscheinungen. Die physikalische Deduktion stützt sich auf gewisse Fundamental- begriffe, die in den verschiedensten Erklärungsgebieten gleichförmig wiederkehren und darum eine prinzipielle, von den besonderen Bedin- ungen der einzelnen Erscheinungen unabhängige Bedeutung in An- spruch nehmen. Diese Fundamentalbegriffe beziehen sich teils auf das Substrat der Naturerscheinungen, teils auf die allen Natur- vorgängen gemeinsamen Gesetze. Beide werden durch die Induk- tion vorbereitet; sie bilden unter jenen Hypothesen, mit deren sukzessiver Prüfung sich das induktive Verfahren beschäftigt, die letzten und allgemeinsten. Sie unterscheiden sich aber von den spezielleren Hypothesen, die ihnen vorausgehen, dadurch, daß der Induktion selbst eine Bestätigung oder Widerlegung derselben un- möglich ist. Aus diesem Grunde bilden sie die Ausgangspunkte der Deduktion, deren Aufgabe nun in dem Nachweis besteht, daß die einzelnen durch Induktion gefundenen Gesetze mit jenen Voraus- setzungen übereinstimmen. Die Art dieser Verifikation bringt es mit sich, daß sie im allgemeinen keine vollkommen bindende ist. Denn ein derartiger Nachweis der Übereinstimmung schließt nicht aus, daß noch andere Hypothesen zu dem nämlichen Zwecke tauglich sein würden. Diese relative Unsicherheit der fundamentalen Begriffe macht sich aber bei den Hypothesen über das Substrat der Naturerscheinungen in höherem Maße geltend als bei den allgemeinen Naturgesetzen. Denn während die letzteren nur hinsichtlich ihrer Tragweite und speziellen Anwendungsweise einer unbegrenzten Vervollständigung fähig sind, be- wahren die ersteren fortwährend den Charakter willkürlicher Annahmen, die zwar durch die Prüfung an der Erfahrung mannigfache Korrekturen erleiden, niemals aber in zwingender Weise bestimmt werden können. 448 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Dieses Verhältnis ist in den Bedingungen der Erkenntnis begründet. Die Naturgesetze sind den Beziehungen des empirischen Geschehens entnommen, und ihre Allgemeingültigkeit wird durch den logischen Zwang des Kausalprinzips gefordert: hier kann daher nur die be- sondere Form der Gültigkeit noch Zweifeln begegnen; das Substrat der Erscheinungen dagegen bleibt uns notwendig stets unbekannt: wir können hier immer nur die Möglichkeit unserer Annahmen behaupten, insofern wir nachweisen, daß die Folgerungen aus den- selben mit der Erfahrung übereinstimmen. a. Kontinuitätshypotheseund Atomistik. Die logischen Motive, die zu der Aufstellung des Begrifis der Materie geführt haben, und die allgemeinen Postulate der Anschauung, die bei der Ausbildung dieses Begriffs wirksam gewesen sind, wurden bei der Untersuchung des Substanzbegrifis bereits erörtert*). Hier bleibt uns daher nur übrig, die methodologische Bedeutung der Hypothesen zu würdigen. Für die Deduktion der Naturerscheinungen sind diese nicht zu entbehren. Aber ihre Unentbehrlichkeit darf nicht dazu verführen, in ihnen mehr zu sehen als logische Hilfsmittel, deren wir uns zur Ausfüllung der vielfachen Lücken, die uns in der Verbindung der Tatsachen begegnen, bedienen müssen. Über das nicht in die Er- fahrung tretende Wesen der Dinge können sie niemals etwas aussagen, sondern sie können immer nur angeben, in welcher Weise die Her- stellung eines lückenlosen kausalen Zusammenhangs zwischen den Er- scheinungen für uns denkbar ist. Diese Aufgabe schließt die Forderung in sich, daß aus den Voraussetzungen über das Substrat der Natur- erscheinungen die in der Anschauung gegebenen allgemeinen Eigenschaf- ten der Naturobjekte sowie die Begriffe, die wir über ihre wechsel- seitigen Relationen uns bilden, abgeleitet werden können. Da man nun aber bald im unmittelbaren Anschlusse an die in der Wahrnehmung gegebenen Eigenschaften der Dinge, bald vorzugsweise geleitet von begrifflichen Forderungen die Voraussetzungen über die Materie zu gestalten sucht, so wird hierdurch nicht weniger als durch das tiefere Eindringen in den Zusammenhang der Erscheinungen ein Wechsel der Hypothesen veranlaßt. Von zwei entgegengesetzten Motiven der sinn- lichen Wahrnehmung ist dieser Wechsel bestimmt worden. Indem *) Bd. I, S. 592 ff. Über die Geschichte des Begriffs der Materie (bis auf Kant einschl.) vgl. BR. Abendroth, Das Problem der Materie. I, 1889, S. 172 f. Das Substrat der Naturerscheinungen. 449 einerseits de Raumerfüllungals die konstanteste Eigenschaft der Körperwelt erscheint, wurzeln hierin de Kontinuitätshypo- thesen, welche die Stetigkeit des Raumes zugleich als die Grund- eigenschaft der Materie ansehen. Indem anderseits die Existenz dis- kreter, in wechselnden räumlichen Verhältnissen stehender Objekte als die Bedingung aller Veränderungen in der Natur betrachtet wird, entspringen hieraus die atomistischen Vorstellungen, welche kleine unteilbare Körperchen von verschiedener oder von gleicher Form als Elemente voraussetzen. Beiderlei Hypothesen sind an sich in gleicher Weise vereinbar mit dem allgemeinen Grundsatz der Konstanz der Materie, der alle Ver- änderungen in der Körperwelt auf Bewegungen eines unveränderlichen Substrates zurückzuführen verlangt. Sie sind daher noch in neueren Zeiten für verschiedene Gebiete des physischen Geschehens neben- einander der Deduktion der Erscheinungen zu Grunde gelegt worden*). So sind namentlich die Arbeiten von Laplace über die Fortpflanzung des Schalls, von Navier und Poisson über die Theorie der Elastizität, von Fourier über die Fortpflanzung der Wärme von der Kontinuitäts- hypothese ausgegangen, die sie je nach Bedürfnis bald auf die ponderable Materie, bald auf ein imponderables Fluidum bezogen. Die atomistische Anschauung dagegen ist der neueren Physik zunächst von der Chemie entgegengebracht worden, in der die Motive zu ihrer Annahme die zwingendsten waren. Auch für die spezifisch physikalischen Phänomene hat jedoch vielfach schon frühe die Analyse der Erscheinungen zu atomistischen Vorstellungen geführt. So legen Huygens wie Newton atomistische Anschauungen zunächst ihrer Optik, dann aber auch der Erklärung anderer Erscheinungen zu Grunde**), Ebenso sah sich später Coulomb durch seine Analyse der Wirkungen des Magnets zu solchen genötigt. Auf Grund der Interferenz- und Polarisationser- scheinungen unternahmen dann Fresnel, Cauchy u. a. eine mathe- matische Behandlung der Undulationstheorie. Den Schlußpunkt dieser Entwicklung bildet Maxwells elektromagnetische Lichttheorie, die einerseits die bisher getrennten Erscheinungen des Lichts, der Elek- trizität und des Magnetismus miteinander in Verbindung brachte, ander- seits aber zugleich die Voraussetzungen über die Schwingungen des als Substrat dieser Erscheinungen dienenden Lichtäthers so allgemein *) Über die ältere Entwicklung dieser Hypothesen bis zu Newton vgl. Kurd Laßwitz, Geschichte der Atomistik. 2 Bde. 1890. **) Newton, Prineip. Lib. II, Sect. VIIL, 1. c. p. 329, Über Huygens vgl. Laßwitza.a. O. II, S. 341 fi. Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 29 450 Die Hauptgebiete der Naturforschung. gestaltete, daß sich dieses Substrat schließlich ebensogut als ein kon- tinuierliches wie als ein Staub von Atomen denken ließ. Da ging ein neuer Anstoß in der Richtung atomistischer Vorstel- lungen von den Erscheinungen der Kathoden- und Anodenstrahlen und der mit diesen in nahe Beziehungen tretenden Strahlungen des Radiums aus. Indem diese auf die Annahme rasch beweglicher negativer und positiver elektrischer Teilchen, der sogenannten Elek- tronen, führten, von denen die positiven im allgemeinen an ponderable Atome gebunden, die negativen von diesen trennbar und dann in gerad- linig fortschreitenden Bewegungen begriffen seien, machte dies wieder die Voraussetzung einer atomistischen Konstitution mindestens der Elektronen selbst wahrscheinlich. Dann lag es aber nahe, diese Voraus- setzung auf den Äther überhaupt, zu dessen konstituierenden Be- standteilen jene gehören, zu übertragen; und da für die ponderablen chemischen Elemente die atomistische Konstitution ohnehin durch alle diese Wandlungen der Ätherhypothesen hindurch festgehalten worden war, so konnte es sich nur noch um die Frage handeln, ob Elektronen und chemische Atome spezifisch verschiedene Elemente der Materie, oder ob nicht schließlich die chemischen Atome selbst aus Elektronen zusammengesetzt seien, eine Vorstellungsweise, die durch die Strahlungs- und Emanationserscheinungen des Radiums und der ihm verwandten Substanzen nahegelegt wurde*). Neigt sich so in diesem Streit der Hypothesen, im Hinblick auf die immer noch unentbehrlichen chemischen Atome einerseits und auf die Erscheinungen einer aus positiven und negativen Teilchen bestehen- den strahlenden Materie anderseits, das Übergewicht der Motive der atomistischen Ansicht zu, so findet nun diese überdies eine gewisse Stütze in den mathematischen Gesichtspunkten, die bei der theoreti- schen Behandlung der Probleme zur Anwendung kommen. Hier sieht sich nämlich auch die Kontinuitätstheorie genötigt, in gewissem Sinne atomistische Vorstellungen einzuführen. Da man in diesem Fall die kon- tinuierliche Materie in irgendwie gestaltete, sich unmittelbar berührende Teilchen zerlegt, so haben besonders die hierher gehörigen Formen der Elastizitätstheorie den Namen der Kontakthypothesen erhalten. Die Teilchen, in die man sich die Körper zerlegt dachte, wurden dann *) Vgl. J. J. Thomson, Elektrizität und Materie. Deutsch von G. Siebert, 1904. Über das Tatsächliche vgl. besonders die zusammenfassen- den Berichte von Rutherford u.a., Physikal. Zeitschr. 1892 fi., W. Wien, Vortrag zur Naturforscherversammlung in Meran, 1905, P. Lenard, Über Kathodenstrahlen, 1906. Das Substrat der Naturerscheinungen. 451 aber im allgemeinen nur in Bezug auf ihre Massenmittelpunkte in Be- tracht gezogen, so daß in den Entwicklungen der Kontakthypothesen eigentlich immer schon eine atomistische Anschauung verborgen lag. Diese Tendenz, die dem mathematischen Werkzeug der physikalischen Deduktion ihren Ursprung verdankt, erstreckt sich nun noch weiter. Indem die algebraische Analysis eine rein begriffliche Behand- lung der Naturerscheinungen ermöglicht, läßt sie die im Interesse der Anschaulichkeit vorausgesetzte räumliche Ausdehnung der materiellen Elemente als ein unwesentliches Attribut erscheinen. Was für die mathe- matische Betrachtung der Elemente in Rücksicht kommt, ist schlecht- hin nur der geometrische Ort. Waren von den beiden im Eingang erwähnten Bedingungen in den älteren Formen der Kontinuitäts- hypothese wie der Atomistik die anschaulichen die überwiegenden gewesen, so kamen daher unter dem Einfluß der mathematischen Abstraktion die begrifflichen immer mehr zur Geltung. Eine bedeutsame Rolle bei dieser Wendung spielte jener Begriff der ferne- wirkenden Kraft, wie er als allgemeinstes Ergebnis der Abstraktion aus der Gravitationstheorie Newtons hervorgegangen war. Bei der Annahme fernewirkender Kräfte verzichtete man auf jede Beziehung zu den aus der unmittelbaren Erfahrung geläufigen mechanischen Vor- stellungen; aber begrifllich hatte man den Vorteil, den aus der Ent- fernung aufeinander wirkenden Körpern in Anbetracht ihrer im Ver- hältnis zu dieser Entfernung verschwindenden Größe Massen- punkte substituieren zu können. Gebieterisch forderte dann diese Anschauung vermöge der leichten mathematischen Einkleidung, die sie zuließ, die Übertragung auf die verschiedenen Gebiete der Molekular- physik. So sind aus dieser rein begrifllichen Auffassung jene Ansich- ten hervorgegangen, die wir als dynamische Atomistik be- zeichnen können, weil sie sich auf den bereits von Leibniz ausge- sprochenen Satz berufen, daß uns die Materie nur durch die Kräfte gegeben sei, die von ihr ausgehen. So waren schon in den dynamischen Kontakthypothesen auch die abstoßenden Molekularkräfte zu fernewirkenden Kräften geworden, wo- bei nur vorausgesetzt wurde, daß sie nach einer Funktion der Entfernung abnehmen, die sehr rasch sinke und daher für jede meßbare Distanz verschwindend klein werde. Infolgedessen sahen sich aber diese Hypothesen meistens veranlaßt, die anziehenden und abstoßenden Kräfte überdies an verschiedene Substrate zu binden, die ersteren an die ponderable Materie, die letzteren an einen deren Zwischenräume erfüllenden Äther. So drängte diese Annahme, sobald man von der 452 Die Hauptgebiete der Naturforschung, schwer vollziehbaren Vorstellung einer Durchdringung dieser ver- schiedenen Materien absah, wiederum zu atomistischen Anschauungen. b. Diedynamische Atomtheorie. Wie die Kontinuitätshypothese, so ist nun auch die Atomistik ur- sprünglich von dem Bedürfnis nach einer anschaulichen Gestaltung des wirklichen Geschehens ausgegangen. Indem sie von dem Grund- satze der Konstanz der Materie bestimmt wurde, übertrug sie zugleich die geläufigen Vorstellungen vom Stoß der Körper auf die Atome, die sich, abgesehen von ihrer Kleinheit, nur durch die absolute Härte, die man ihnen zuschrieb, von den aus der Erfahrung bekannten festen Körpern unterscheiden sollten. Diese bereits durch die antike Atomistik entwickelten Vorstellungen sind von der neueren zunächst nur unerheblich modifiziert worden. Einerseits ließ man die verschiedene Gestalt der Demokritischen Atome fallen und begnügte sich mit der einfachsten Form kugelförmiger Atome; anderseits sah man sich ge- nötigt, zum Behuf der Ableitung der einzelnen Kräfteformen ver- schiedene Atome mit verschiedenartigen Eigenschaften einzuführen. Für die speziellere Gestaltung dieser Vorstellungen wurde aber die Annahme der fernewirkenden Kräfte maßgebend. Nach ihr schienen sich von selbst die Erscheinungen den zwei Klassen der Anziehungs- und Abstoßungskräfte unterzuordnen, wobei dann diese zwei Kräfte- formen an zwei Arten von Atomen gebunden wurden. So ent- stand die in der neueren theoretischen Physik, namentlich in der Elastizitätslehre und Optik, herrschend gewordene Unterscheidung der Körperatome und der Ätheratome. Den ersteren schrieb man eine Anziehungskraft unter sich und gegen die Ätheratome zu; die letzteren, deren Kräfte übrigens nur in Molekulardistanzen merklich seien, sollten sich wechselseitig abstoßen. Nachdem diese Vorstellungen in der Optik Eingang gefunden, versuchte man es, mit ihrer Hilfe die sonstigen imponderablen Fluida zu verbannen. Das Wärmefluldum machte infolge der Begründung der mechanischen Wärmetheorie den Öszillationen der ponderablen Teilchen Platz. Für die Elektrizität ließ sich der Lichtäther benützen, sei es nun, daß man mit W. Weber posi- tive und negative Ätheratome annahm, die sich rotierend um die pon- derablen Teilchen bewegten, sei es, daß man mit ©. Neumann die eine der beiden Elektrizitäten als eine unveränderliche Eigenschaft der pon- derablen Atome betrachtete. In diesen neueren Entwicklungen wurde im allgemeinen die Voraus- setzung leerer Zwischenräume zwischen den Atomen strenger fest- Das Substrat der Naturerscheinungen. 453 gehalten als in der antiken Atomistik, die in dem Stoß der Atome ein Ereignis angenommen hatte, bei dem jedesmal eine unmittelbare Be- rührung eintrete. Dort dagegen machte es das angenommene Gesetz der Wirkungen zwischen den Atomen unmöglich, daß diese über eine gewisse Grenze sich näherten. Auf diese Weise blieb das Prinzip der Stetigkeit aufrecht erhalten, indem sich jede Wirkung streng genom- men in eine Fernewirkung verwandelte. Der so zur Ausbildung gelan- gende Begriff der Wirkungssphäre des Atoms erlaubte es aber weiterhin, der Hypothese jene Wendung zu geben, die in der mathe- matischen Behandlung der Atomwirkungen vorbereitet war. Abstra- hierte diese schon völlig von der Ausdehnung der Atome, indem sie dieselben lediglich als Kraftzentren in Betracht zog, so schien die Umsetzung dieser mathematischen Abstraktion in eine physikalische Voraussetzung umso näher zu liegen, als damit die Fragen über Ge- stalt und Größe der Atome ohne weiteres hinwegfielen, Fragen, die sich im allgemeinen der Beantwortung entziehen, da das einzige, was eventuell einer Messung zugänglich sein kann, eben die Wirkungssphäre des Atoms ist. Hiermit war der Übergang zur einfachen Atomi- stik vollzogen, wie sie schon im 18. Jahrhundert zuerst von verschiedenen Naturforschern und Philosophen, z. B. von Kant, entwickelt und dann später in engerem Anschlusse an die mathematische Theorie von Am- pere, Cauchy u. a. ausgebildet wurde. Die Atome betrachtete man hier als ausdehnungslose Punkte, deren jedem eine Wirkungssphäre zukomme, die von der ihm inhärierenden Zentralkraft abhänge. Man verzichtete demnach auf jede Kongruenz mit den sinnlich wahrnehm- baren Eigenschaften der Naturobjekte und begnügte sich damit, die wesentlichen Eigenschaften der Materie rein begrifilich festzustellen*). Zuweilen verband sich aber mit dieser Annahme noch das Streben, auch die Verschiedenartigkeit der Atome zu beseitigen. Der physische Punkt, wie er an sich keine Verschiedenheiten erkennen lasse, sollte sich auch in seinen Wirkungen gleichförmig verhalten. In dieser Rich- tung haben namentlich Boscovich und in neuerer Zeit Fechner die Statthaftigkeit der einfachen Atomistik zu erweisen gesucht. Auch *) Fechner, Über die physikalische und philosophische Atomenlehre. 2. Aufl. 1864, S. 147 ff. Kant gehört nur in seiner älteren Schrift „Monadologia physica“ (1756) hierher. Die in seinen „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“ (1786) aufgestellte dynamische Kontinuitätstheorie bot der physikalischen Analyse keine brauchbaren Anhaltspunkte. Sie stimmt aber darin mit der früheren Schrift überein, daß sie die räumlichen Eigen- schaften der Materie aus Kraftwirkungen abzuleiten sucht. 454 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Cauchy legte die nämliche Annahme einem Teil seiner analytischen Untersuchungen zu Grunde. Selbstverständlich konnte jedoch hierbei die Einfachheit des Substrates nur auf Kosten der Einfachheit der angenommenen Wirkungen erreicht werden. Denn man mußte nun eine kompliziertere Form der Kräftefunktion einführen, welche an- ziehende und abstoßende Wirkungen als spezielle Fälle unter sich be- greift. Selbst mit derartigen Hilfsannahmen gelang es aber nicht, solche Erscheinungen abzuleiten, die, wie z. B. die Doppelbrechung des Lichtes in Kristallen, auf eine abweichende Anordnung der Teilchen nach verschiedenen Richtungen hinweisen. Für die Zwecke der analytischen Deduktion hielt man daher im allgemeinen an der Annahme eines so- genannten Doppelmediums aus Körper- und Ätherpunkten fest. c. Die kinetische Atomtheorie. Die zuletzt erwähnten Hypothesen wurden zunächst durch die Anschauungen erschüttert, die hinsichtlich mancher sonst auf eine Distanzwirkung der Atome bezogener Erscheinungen die mecha- nische Wärmetheorie herbeiführte.e Hatte man früher die Ausdehnung der Gase vom statischen Gesichtspunkte aus auf ein Übergewicht der Repulsivkräfte der Ätheratome bezogen, so lehrte nun die Auffassung der Wärme als einer Bewegung der Teilchen die nämliche Erscheinung weit befriedigender aus der unbeschränkten Beweglichkeit der Moleküle im gasförmigen Zustand erklären*). Waren damit für einen speziellen Fall die abstoßenden Kräfte direkt aus molekularen Stoßwirkungen abgeleitet, so schien es jedoch geboten, ähnliche Voraussetzungen auch für andere Fälle anscheinender Repulsiv- wirkungen zu versuchen. Und war erst einmal das Prinzip der Actio in distans für die Repulsivwirkungen beseitigt, so konnte es auch für die Attraktionserscheinungen kaum länger standhalten. Nicht bloß für Elektrizität und Magnetismus, für welche die Beziehungen zu Licht und Wärme solche Vorstellungen nahe legten, ging man daher wieder auf die Annahme von Kontaktwirkungen zurück, sondern auch für die Erklärung der Schwere begann man teils an ältere Hypothesen anzuknüpfen, welche die Schweranziehung durch unmittelbare Stöße *) Krönig, Grundzüge einer Theorie der Gase, 1856. Clausius, Abhandl. über die mechanische Wärmetheorie. Bd. 2, 1867. Weiter ausgebildet wurde diese Theorie namentlich von Maxwell, Theorie der Wärme. Deutsch von F. Auerbach, 1877. Eine zusammenfassende präzise Form gab ihr Boltzmann, Vorlesungen über Gastheorie, 2 Teile, 1896—1898. Das Substrat der Naturerscheinungen. 455 eines im Weltraum bewegten Äthers veranschaulicht hatten, teils suchte man die Gravitation mit den der elektrischen und magnetischen Ferne- wirkung zu Grunde gelegten Bewegungen in Beziehung zu bringen*). Mangelt es auch solchen Annahmen immer noch an dem Nachweis einer Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Gravitation, dem hier ent- scheidende Bedeutung zukommen würde, so läßt sich doch nicht ver- kennen, daß, sobald man nur erst die übrigen Naturkräfte den Ge- sichtspunkten der kinetischen Atomistik vollständig unterworfen hätte, auch die Gravitation sich dem Zwang der gleichen Anschauung kaum länger entziehen könnte, umsomehr, da das Gesetz der Abnahme ihrer Ih- tensität mit dem Quadrat der Entfernung unmittelbar auf die räumliche Übertragung einer Bewegung hinzuweisen scheint. Mit der Beseitigung der Actio in distans war aber gegenüber der rein begrifflichen Auffas- sung des materiellen Substrates wieder die Forderung der Anschau- lichkeit erhoben, während zugleich die Voraussetzung einer Berührung der Elemente beim Stoß die Rückkehr zu Kontinuitätsvorstellungen begünstigte. Denn es kann zwar die mechanische Gastheorie ihre Moleküle ebenfalls im Sinne der dynamischen Atomistik aus Kraft- punkten und Äthersphären aufgebaut und dadurch die Stöße der Gas- teilchen in molekulare Fernewirkungen umgewandelt denken. Immer- hin wurde durch den Grundgedanken der kinetischen Atomistik der Versuch näher gelegt, alle Naturerscheinungen wo mög- lich aus dem unmittelbaren Kontakt bewegter Atome zu erklären. Dies aber konnte nur geschehen, wenn man zugleich zur Kontinuitätshypothese zurückkehrte oder mindestens die Vorstellungen der letzteren mit denjenigen der kinetischen Atomistik verband. d. Rückkehr zu Kontinuitätsvorstellungen. Den entscheidenden Anstoß zur Ausbildung solcher Vorstellungen gab die elektromagnetische Lichttheorie. Sie bot neben dem großen Vorzug, daß sie die bisher getrennten und zuweilen immer noch auf verschiedene materielle Medien zurückgeführten Phä- nomene des Lichts, der Elektrizität und des Magnetismus vereinigte, noch den weiteren, daß sie die Schwierigkeiten beseitigte, die den Vor- *), Isenkrahe, Das Rätsel von der Schwerkraft, 1879. S. T. Pres- ton, Phil. Mag. (5) IV, 206, 364; V, 117, 297. A. Korn, Eine Theorie der Gravitation und der elektrischen Erscheinungen, 1892. Th. Schwartze, Elektrizität und Schwerkraft, 1892. 456 Die Hauptgebiete der Naturforschung. aussetzungen der theoretischen Optik anhafteten. Nachdem durch die Erscheinungen der Interferenz die Undulationstheorie sicher begründet und durch die Entdeckung der Polarisation die Wellenbewegung des Lichts als eine transversale, analog der Bewegung einer schwingenden Saite oder der Wellen an der Oberfläche des Wassers, nachgewiesen war, bereitete das Problem, diese transversale Form der Lichtwellen mit einer irgendwie wahrscheinlichen Konstitution des Äthers in Ver- bindung zu bringen, neue Schwierigkeiten. Betrachtete man mit Fresnel und seinen der dynamischen Atomistik huldigenden Nachfolgern den Äther als ein elastisches Medium, das aus einzelnen Atomen be- steht, deren Abstände im Vergleich zur Länge der Wellen hinreichend groß sind, so können sich zwar, wie Fresnel zeigte, in einem solchen Medium transversale Wellen fortbewegen. Immerhin würden auch longitudinale möglich sein, und sie würden bei jeder Reflexion oder Brechung aus den Transversalwellen hervorgehen müssen. Nur wenn man den Äther als inkompressibel voraussetzt, wenn man ihm also die Eigenschaften eines starren Körpers, nicht einer Flüssigkeit beilegt, können die transversalen Schwingungen in ihm unter allen Umständen erhalten bleiben. Die Vorstellung einer solchen Konstitution ist aber angesichts der Tatsache, daß die Weltkörper bei ihrer Bewegung durch den äthererfüllten Weltraum keinen merklichen Widerstand erfahren, schwer vollziehbar, und auch die Hilfshypothese, daß sich der Äther nur gegenüber den Lichtwellen wegen ihrer enormen Geschwindigkeit wie ein fester Körper, in allen anderen Beziehungen wie eine Flüssigkeit verhalte*), ist kaum geeignet, jenes Bedenken hin- wegzuräumen. Dies verhält sich nun anders bei der elektromagnetischen Lichttheorie. Sie geht von der Annahme aus, daß alle elektrischen und magnetischen Erscheinungen auf Schwingungen in zwei zueinander senkrechten Ebenen beruhen, so zwar, daß diese beiden Schwingungs- formen stets miteinander verbunden sind, indem die elektrischen Schwingungen senkrecht zur Polarisationsebene, die magnetischen inner- halb derselben erfolgen. Für das Verhältnis der Elektrizität zum Magne- tismus kann diese Voraussetzung als experimentell bewiesen gelten**). Die Erfordernisse der Undulationstheorie des Lichtes ergeben sich aber, sobald man annimmt, daß die Wellenlänge solcher Schwingungen auf Millionteile derjenigen Größe herabsinkt, die sie bei den gewöhn- *) Kirchhoff, Vorlesungen über mathematische Optik, 1891, S. 4f. **) Hertz, Untersuchungen über die Ausbreitung der elektrischen Kraft. S. 190 fi. Das Substrat der Naturerscheinungen. 457 lichen elektrodynamischen Wirkungen besitzt. Mit dieser Kleinheit der Lichtwellen läßt sich dann auch die Tatsache in Zusammenhang bringen, daß bei ihnen bleibende Verschiebungen des Äthers nicht nach- zuweisen sind, während die ponderomotorischen Wirkungen der Elek- trizität und des Magnetismus aus solchen Verschiebungen abgeleitet werden können. Im übrigen sind die Fortpflanzungsgesetze der Licht- wellen und der elektromagnetischen Wellen durchaus übereinstimmen- der Art: diese wie jene pflanzen sich nur im Äther, nicht aber durch eigentliche Fernewirkung fort, und die früher sogenannten Nichtleiter, die Dielektrika, die im allgemeinen auch die das Licht fortpflanzenden Medien sind, erscheinen als die wahren Träger der elektromagnetischen Schwingungen, während die Leiter, namentlich die Metalle, dieselben nur schwierig und nur bis in eine gewisse Tiefe aufnehmen: eben diese Eigenschaft macht sie aber gerade geeignet, die auf sie übergehenden elektrischen Schwingungen zusammenzuhalten und in sich fortzu- pflanzen, ohne sie merklich an die Umgebung zu übertragen*). Da nun nach dieser Theorie die Ätherschwingungen immer in zwei zu- einander senkrechten Richtungen transversal erfolgen, nicht, wie nach der elastischen Theorie, bloß in der einen, zur Polarisationsebene senkrechten Richtung, in der sie bei großer Wellenlänge als Elektrizität, bei sehr kleiner innerhalb gewisser Grenzen als Licht wahrgenommen werden, so kann ein Übergang der Transversal- in Longitudinalwellen nicht stattfinden, auch dann nicht, wenn der Äther ein zusammen- hängendes, absolut flüssiges Medium ist, welches den in ihm bewegten Körpern keinen Widerstand leistet. Denn jene beiden zueinander senk- rechten Transversalschwingungen lassen sich als die Komponenten einer Wirbelbewegung betrachten, die in der Richtung der Achse des Wirbels fortschreitet. Aus solchen Wirbeln läßt sich dann insbesondere auch jene drehende Wirkung der Magnete auf die Schwingungsrichtung des polarisierten Lichtes ableiten, aus der Faraday zuerst auf einen inneren Zusammenhang dieser Erscheinungen geschlossen hatte. Demnach gestattet diese Theorie, indem sie Elektrizität und Magnetismus aus der Reihe der fernewirkenden Kräfte verschwinden läßt und, ähnlich wie Licht, Schall und Wärme, auf schwingende Be- wegungen zurückführt, nicht nur eine einheitlichere Betrachtung der Naturvorgänge, sondern sie macht auch eine Reihe bis dahin unerklärter *) Über das Verhältnis der elastischen zur elektromagnetischen Licht- theorie vgl. P. Volkmann, Vorlesungen über die Theorie des Lichts, 1892, über das Verhältnis der Maxwellschen zu einigen anderen Elektrizitäts- theorien Poincar&, Elektrizität und Optik, deutsche Übersetzung I, II. 1892. 458 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Zusammenhänge begreiflich. Bleibt aber als einzige Naturkraft, die bis dahin nicht aus einem bestimmten Bewegungszustand der Materie ab- geleitet werden konnte, die Gravitation zurück, so wird dadurch die Vermutung verstärkt, daß dies auch für sie noch gelingen und damit die alte, dem Einheitsbedürfnis der Theorie längst widerstrebende Trennung des Äthers und der ponderablen Materie mit ihren verschiedenen Eigen- schaften gänzlich beseitigt werde, eine Vorstellung, die, wie wir oben sahen, von einer anderen Seite her auch die Strahlungserscheinungen der Elektroden und die mit ihnen zusammenhängenden Zersetzungs- vorgänge gewisser chemischer Elemente, wie des Radiums, nahe legen. Werden doch hier selbst die Tatsachen der Chemie, die vor allen an- deren auf atomistische Vorstellungen geführt hatten, in ein anderes Licht gerückt, indem die Konstanz der chemischen Atome nicht mehr als eine absolute, sondern nur noch als eine relative erscheint, wenn auch die Zusammensetzung der chemischen Atome aus einfacheren Elementen als eine sehr stabile angenommen werden muß*). Um über diese Stabilität Rechenschaft zu geben, sieht sich daher immerhin auch die Kontinuitätshypothese genötigt, alle der sogenannten ponderablen Materie zukommenden Eigenschaften in diesem relativen Sinne in dem Begriff des Atoms festzuhalten oder aber Vorstellungen zu entwickeln, die geeignet sind, die atomistische Hypothese zu ersetzen. Ein Versuch dieser Art ist zuerst in Analogie mit Maxwells Wirbeltheorie von W. Thomson gemacht worden**). Ein Wirbelfaden in einer vollkomme- nen, nicht zusammendrückbaren Flüssigkeit würde, wie schon Helm- holtz***) gezeigt hat, unzerstörbar sein; beim Versuch, ihn zu zerschnei- den, würde er in die verschiedensten Formen gebracht, nicht aber wirk- lich zerschnitten werden können, ausgenommen, wenn er irgendwo mit der Grenze der Flüssigkeit in Berührung käme, also, auf die Materie an- gewandt, niemals, da die Materie keine Grenze besitzt. Nach dieser Vor- stellungsweise würden demnach die Wirbel des Äthers das sein, was wir sonst die Atome der ponderablen Materie nennen. Damit würde zugleich das oben erwähnte Streben nach einer Vereinheitlichung des Begriffs der Materie befriedigt werden, indem nunmehr die verschiedenen schwingen- den Bewegungen des sogenannten Lichtäthers, sowie die fortschreitenden Bewegungen der freien Elektronen als Vorgänge in der zwischen den ponderablen Wirbelatomen befindlichen Materie gedacht werden können. *) Über die besonderen Erfordernisse der chemischen Atomistik vgl. übrigens unten Kap. II. **) Proceedings of the Roy. Soc. 1867. ***) Orelles Journ. 1858, Bd. 56. Das Substrat der Naturerscheinungen. 459 e. Logische Prüfungder Hypothesen. In der geschilderten Entwicklung der hypothetischen Voraus- setzungen über die Materie lassen sich deutlich zwei Bestrebungen er- kennen. Die erste besteht darin, daß man den Begriff der materiellen Elemente und ihrer Bewegungszustände in einer Weise zu bestimmen sucht, die eine einheitliche Ableitung der Naturerscheinungen gestattet; die zweite darin, das man sich diese Elemente in ihren Eigenschaften möglichst entsprechend den Eigenschaften der sinnlich wahrnehmbaren Körper denkt. Diese beiden Tendenzen treten aber in einen Kampf miteinander, indem die begrifflichen Forderungen gewisse aus der sinn- lichen Wahrnehmung stammende Vorstellungen unmöglich machen. So beseitigt das Bedürfnis, die Erscheinungen von Wärme, Licht, Schall u. s. w. im Zusammenhang abzuleiten, von vornherein die Vorstellung, daß den Atomen auch die optischen, thermischen, akustischen Eigen- schaften zukommen, die wir an den wirklichen Körpern beobachten. Wollte man dies annehmen, so würde ja ohne weiteres der Begriff der Materie mit der Vorstellung der Körper identisch werden, d. h. jener Begriff selbst würde damit aufgehoben sein. Darum beschränkte man sich zunächst darauf, den Elementen der Materie diejenigen all- gemeinen Eigenschaften zuzuschreiben, welche de Mechanik zum Gegenstand ihrer Untersuchungen nimmt: Masse und bewegende Kraft. Dies entsprach der allgemeinen Voraussetzung der neueren Physik, daß alle Naturvorgänge auf mechanische Prozesse zurückzuführen seien. (Vgl. oben S. 298, 347 fi.) Damit ist nun aber jener Kampf, in den das Postulat der Begreiflichkeit und das der Anschaulichkeit miteinander geraten sind, noch keineswegs geschlichtet. Wenn wir feststellen, die Eigenschaften der Materie seien so zu denken, wie sich die Mechanik die der Körper vorstellt, so ist damit zwar die Ausdehnung im Raume und allenfalls auch die Undurchdringlichkeit gegeben. Ob aber die Teilchen der Materie starr oder elastisch, absolut verschiebbar gegen- einander oder zusammenhängend seien u. dergl. mehr — alles dies bleibt dahingestellt, weil die Mechanik selbst bald diese bald jene Voraus- setzung macht, je nach der besonderen Gruppe mechanischer Phäno- mene, mit deren Untersuchung sie es zu tun hat. Nur eines ist allen ihren Untersuchungen gemeinsam: überall geht sie von Voraussetzungen aus, die sich bei den wirklichen Körpern niemals vollständig verwirk- licht finden, und ihre Resultate erhalten daher im allgemeinen auch für die wirklichen Körper erst Geltung, wenn nachträglich empirische Beschränkungen hinzugefügt werden. Diese pflegen dann wieder so 460 Die Hauptgebiete der Naturforschung. viel als möglich auf gewisse allgemeine Voraussetzungen zurück- zuführen, ohne daß sich jedoch hierbei jemals das wirkliche Ver- halten der Dinge völlig erschöpfen ließe. So untersucht die Mechanik absolut starre und absolut elastische, absolut feste und absolut flüssige Körper, aber gerade das, was der wirkliche Körper immer ist, ein Mittleres zwischen solchen abstrakt gedachten Zuständen, ver- mag sie nur durch eine nachträgliche Verbindung verschiedener ab- strakter Begriffe, und auch dann immer nur in Annäherungen, zu deuten. Ist die Interpretation der Erscheinungen aus irgendwelchen Be- wegungsvorgängen der Zweck aller Hypothesen über die Materie, so kann demnach von vornherein nicht erwartet werden, daß diese Hypo- thesen auch nur in Bezug auf die mechanischen Eigenschaften dem wirklichen Verhalten realer Körper entsprechen werden. In der Tat enthält daher jede der zur Geltung gelangten Hypothesen einen Widerspruch gegen die Anschauung, und sie alle unterscheiden sich nur dadurch, daß dieser Widerspruch bei jeder an einer anderen Stelle zum Vorschein kommt. Die dynamische Atomistik setzt in ihrer folgerichtigen Form Kraftpunkte voraus: der bewegte Punkt ist aber lediglich die einfachste begriffliche Konzeption der abstrakten Mechanik. Die kinetische Atomistik nimmt ausgedehnte, absolut starre Körper von willkürlicher, nach der verbreitetsten Annahme von kugelförmiger Gestalt an: der starre Körper ist aber zwar ein minder einfacher, doch ist er darum nicht weniger ein ebenso abstrakter Begriff wie der Punkt. Endlich die Hypothese der Wirbelatome setzt an die Stelle dieses Grund- begrifis der Mechanik fester Körper den der abstrakten Hydrodynamik: den Begriff der absolut reibungslos beweglichen Flüssigkeit. Besitzt in dieser Beziehung keine der gegenwärtig um die Herrschaft kämpfen- den Hypothesen einen Vorzug vor der anderen, so bleibt die dyna- mische Atomistik höchstens darin gegenüber der kinetischen und der Kontinuitätshypothese scheinbar im Nachteil, daß diese die Fernewirkung vollständig beseitigen, indem sie alle Vorgänge auf die Aktion und Reaktion bei der unmittelbaren Berührung zurückführen, während die dynamische Atomistik eigentlich alle Wirkungen als Fernewirkungen betrachtet. Auf der anderen Seite nötigt aber die Kontinuitätshypo- these zu auffälligeren Widersprüchen mit den wirklichen Eigenschaften der in der Erfahrung gegebenen stetig ausgedehnten Körper; und die Annahme starrer Atome führt zu der Vorstellung, daß ein gegen eine feste Wand stoßendes Atom momentan seine Geschwindigkeit in eine entgegengesetzt gerichtete umwandle. Wollte man auch, um dieser Das Substrat der Naturerscheinungen. 461 Schwierigkeit zu entgehen, elastische Atome voraussetzen*), so bliebe, sobald man den Begriff des Atoms im absoluten Sinne nimmt, wiederum das Bedenken, daß die Eigenschaft der Elastizität eine Verschiebung und Wechselwirkung der Teilchen des elastischen Körpers einschließt und daher, wie dies die Existenz der Elastizitätstheorien bezeugt, zu einer Zerlegung nötigt, die den Begriff des absoluten Atoms aufhebt. Hält man umgekehrt die Annahme starrer Atome deshalb für zulässig, weil auch bei einer plötzlichen Geschwindigkeitsänderung das Prinzip der Erhaltung der Energie gewahrt bleiben könne**), so kehrt hier der Versuch wieder, die Forderungen der Anschauung durch rein begriff- liche Feststellungen zu befriedigen. In ähnliche Widersprüche mit der Anschauung verwickelt sich endlich die Annahme von Wirbelatomen, welche die leicht vorstellbare Unvergänglichkeit kleinster Teilchen durch die immerhin schwerer vollziehbare einer widerstandslos in einem kontinuierlichen Medium fortdauernden Bewegung ersetzt. Demgegen- über bietet die dynamische Atomistik den Vorzug, daß sie auf das Be- streben, die Materie selbst mit anschaulichen Eigenschaften auszu- statten, von vornherein verzichtet, indem sie vielmehr von der Forde- rung ausgeht, die begrifflichen Voraussetzungen über dieselbe seien so zu gestalten, daß die Wirkungen jener Eigenschaften mit den in der Anschauung gegebenen Erscheinungen übereinstimmen. Dieser Vorzug war es, der denjenigen Physiker, der, wie kein anderer vor ihm, den endlichen Fernewirkungen den Boden entzog und von ihrer Unwahrscheinlichkeit auch auf dem Gebiet, wo sie noch an- genommen werden, bei der Gravitation, durchdrungen war, Faraday, bestimmte, an der Vorstellung von Kraftpunkten, die in unendlich kleinen Entfernungen wirken, festzuhalten. In der Tat sind diese beiden Fälle einer Actio in distans immerhin insofern verschieden, als die Fernewirkung zwischen Weltkörpern ein Vorgang sein würde, der unserer unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung angehört, während die Wechsel- wirkung der Atome in ihren unendlich kleinen Entfernungen, wie jede andere Voraussetzung über die Materie, ein hypothetischer Begriff bleibt, den wir nach Anleitung der mathematischen Postulate der ab- strakten Mechanik zu konstruieren haben, ohne daß wir für diesen Be- griff jemals eine völlige Übereinstimmung mit den Gegenständen der sinnlichen Wahrnehmung erreichen können. Gleichwohl hat das Wider- *) Helmholtz, Populäre wissensch. Vorträge, 3. Heft, S. 13. **) O. E. Meyer, Die kinetische Theorie der Gase, 1877, S.239 f. La Bß- witz, Atomistik und Kritizismus, S. 96 ff., Geschichte der Atomistik, II, 8. 384 ff. 462 Die Hauptgebiete der Naturforschung. streben, das Faraday mit so vielen Physikern gegen die endlichen Fernewirkungen teilte, zwar ein zureichendes Motiv in dem Versuch, die Voraussetzungen über die verschiedenen Kräftefunktionen mög- lichst übereinstimmend zu gestalten; es besteht aber darum noch keine Berechtigung, von der „Unmöglichkeit“ einer Fernewirkung zu reden. In der Tat würde eine durch keinerlei Zwischenvorgänge vermittelte Wirkung der Sonne auf die Erde an und für sich ebenso vorstellbar sein wie die hypothetische Wirkung eines Atoms auf ein anderes durch eine unendlich kleine Entfernung oder die Wirkung eines Körpers auf einen anderen in unmittelbarer Berührung. Auch die Wirkung des mechani- schen Stoßes erscheint uns ja nur deshalb begreiflich, weil sie sich in der Erfahrung immer und immer wieder darbietet. Wenn man diese Wirkung dadurch dem Verständnisse näher zu bringen sucht, daß man sie mit der Undurchdringlichkeit der Körper in Beziehung bringt, so wird damit eigentlich nichts weiter geleistet, als daß man.eine Er- fahrungstatsache durch eine Folgerung erläutert, die selbst aus jener Tatsache gezogen wurde. Wenn wir, wie es wissenschaftlich gefordert ist, den Begrifi der Erfahrung über das unmittelbar Wahrgenommene hinaus auf das aus Wahrnehmungen Erschlossene erweitern, so ist in der Tat die Wirkung der Sonne auf die Erde eine ebenso konstante und anschauliche Erfahrung wie die Wirkung des Stoßes auf den gestoßenen Körper. Davon also, daß die eine dieser Wirkungen a priori wahr- scheinlicher wäre als die andere, kann keine Rede sein. Vielmehr kann sich hier, wo verschiedene Voraussetzungen möglich sind, immer nur aus der Übereinstimmung mit anderen Tatsachen der Erfahrung eine Wahr- scheinlichkeit für die eine oder andere Annahme ergeben. Betrachtet man die Frage von diesem Gesichtspunkte aus, so bestehen nur zwei Gründe, die gegen eine endliche Fernewirkung geltend gemacht werden können: der erste liegt darin, daß, nachdem die elektromag- netischen Fernewirkungen auf die Bewegungen durch ein Zwischen- medium zurückgeführt sind, die Gravitation als einzige Erscheinung übrig bliebe, auf die der Begriff der Fernewirkung in jenem ursprünglichen Sinne anzuwenden wäre; der zweite, vielleicht gewichtigere, darin, daß sich auch für die Gravitation die nämliche Kräftefunktion bewährt, wie für diejenigen Kräfte, die sich, wie Licht und Schall, durch einen Bewegungsvorgang fortpflanzen. Dem steht vorläufig noch als ein freilich nur negatives Argument für die Fernewirkung die Tatsache gegenüber, daß jede Fortpflanzung einer Bewegung Zeit braucht, und daß eine Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Gravitation bis jetzt nicht nachgewiesen ist. Die Möglichkeit, daß dies noch geschehe, kann aber Das Substrat der Naturerscheinungen, 463 umsoweniger bestritten werden, als die Vorstellung, irgend eine Kraft erstrecke ihre Wirkungen momentan in unendliche Entfernungen, Schwierigkeiten bietet, die uns nötigen, hier den Tatbestand der Er- fahrung lediglich so auszudrücken, daß die Fortpflanzungsgeschwin- digkeit als unmeßbar groß für unsere bisherigen Hilfsmittel anzu- sehen sei. Hält man nun, wie es diese Entwicklung verlangt, an der Forde- rung fest, daß nur die notwendigen mathematischen Voraussetzungen, frei von zufälligen und willkürlichen Zugaben, in den Hypothesen über die Materie ihren Ausdruck finden, und daß nicht die Begriffe selbst, sondern nur die aus ihnen abgeleiteten Phänomene das Postulat der Anschaulichkeit erfüllen müssen, so entspricht zunächst die einfache dynamische Atomistik dieser Bedingung. Denn jede mathematische Theorie materieller Vorgänge ist genötigt, mit dem Begriff des Kraft- punktes zu operieren, insofern die Ausgangs- und Angrifispunkte be- stimmter Wirkungen stets als mathematische Punkte gedacht werden. Anderseits bietet die Kontinuitätshypothese den Vorzug, daß sie der Materie von vornherein diejenige Eigenschaft zuschreibt, die die Grund- bedingung für alle an sie geknüpften Bewegungsvorstellungen ist: die stetige räumliche Ausdehnung. Die auf den einfachen Massepunkten der Mechanik fester Körper beruhende dynamische Atomistik und die mit der abstrakten. Flüssigkeit der Hydrodynamik operierende Kon- tinuitätshypothese erscheinen so als die zwei entgegengesetzten, an rein begrifflichem Charakter sich nichts nachgebenden, wenn auch auf gänzlich abweichende Abstraktionen gestützten Vorstellungsweisen, die, so verschieden sie sein mögen, doch in der anschaulichen Ableitung der Erscheinungen schließlich zusammentreffen können. Darum ist die Zeit zur Ausgleichung aller in der Entwicklung der Hypothesen über die Materie hervorgetretenen Gegensätze augenscheinlich weder gekommen, noch ist es überhaupt wahrscheinlich, daß diese Ausgleichung jemals anders erreicht werde als in der Entwicklung verschiedener Hypothesen von äquivalentem Erklärungswert. Denn da der Begriff der Materie ein allezeit hypothetischer bleibt, so ist auch im allgemeinen stets eine Mehrheit von Voraussetzungen denkbar, die dem Zweck der Natur- erklärung genügen. Von logischer Seite läßt sich deshalb nur auf die allgemeine Rich- tung, in der sich die Anschauungen entwickeln, und auf die erkenntnis- theoretischen Forderungen hinweisen, denen jede Theorie nachkommen muß. Die Richtung der Entwicklung ist unzweifelhaft. Nachdem die rohen, vielfach mit überflüssigen Nebenvorstellungen belasteten älteren 464 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Hypothesen durch die Begriffe, die von der Newtonschen Gravitations- theorie und der mathematischen Abstraktion ausgegangen waren, ihre Läuterung erfahren, wird überall die Notwendigkeit fühlbar, die unter diesen Einflüssen entstandenen abstrakten Theorien im Interesse der konkreten Erfahrung umzugestalten, und an dieser Umgestaltung kommt dem Streben der neueren Physik, statische Verhältnisse auf Bewegungs- vorgänge zurückzuführen, ein hervorragender Anteil zu. Die hierin angedeutete Richtung entspricht zugleich den logischen Forderungen, die an eine Theorie der Materie als des Substrates der in der äußeren Anschauung gegebenen Erscheinungen zu stellen sind. Stimmt die physikalische Erfahrung mit dem logischen Trieb, alles Geschehen auf Bewegungsvorgänge dieses Substrates zurückzuführen, im allgemeinen überein, so müssen in den Voraussetzungen über dasselbe die für eine solche Zurückführung erforderlichen Bedingungen erhalten bleiben. Daraus hat sich das in verschiedener Weise in den einzelnen Theorien zu Tage getretene Streben entwickelt, die Teile der Materie so weit als nur immer möglich mit den gleichen Eigenschaften auszustatten, die wir an den wirklichen festen Körpern oder Flüssigkeiten wahrnehmen. Aber da die Materie selbst ein abstrakter Begriff und keine sinnliche Vorstellung ist, so lag darin zugleich das Motiv, solche Voraussetzungen völlig abstrakt und in diesem Sinne abweichend von den wirklichen Eigen- schaften der Körper zu gestalten. Den abstrakten Begriff des festen Kör- pers legten so die atomistischen Vorstellungen, den der Flüssigkeit die Kontinuitätshypothesen zu Grunde. In beiden Fällen sah man es freilich meist noch als eine unabweisbare Forderung an, daß das mate- rielle Substrat selbst eine anschauliche Beschaffenheit besitzen müsse. Auf die zweifelhafte Berechtigung dieser Forderung mußte jedoch schon der Umstand aufmerksam machen, daß man genötigt war, unter den verschiedenen Eigenschaften der wahrnehmbaren Objekte eine Auswahl zu treffen, wenn man die Atome schlechterdings nur als aus- gedehnte, undurchdringliche und je nach Umständen entweder als ab- solut harte oder als absolut elastische Körper ansah, ihnen aber Farbe, Wärme und andere Eigenschaften aberkannte, oder wenn man ein Kontinuum von absoluter, Reibung und wechselseitigen Widerstand ausschließender Beweglichkeit annahm. In der Tat ist ersichtlich, daß die Forderung der Anschaulichkeit in dieser Form immer noch auf der Voraussetzung beruht, die in der Anschauung gegebenen Natur- erscheinungen müßten auf letzte Bedingungen zurückführen, die eben- falls in der Anschauung gegeben seien. In dieser Form ist aber das Postulat der Anschaulichkeit nicht haltbar. Wäre eine durchgängige Das Substrat der Naturerscheinungen, 465 Übereinstimmung der Eigenschaften des Substrates der Erscheinungen mit diesen selbst vorhanden, so würden die Motive zur Bildung des Be- grifis der Materie überhaupt hinwegfallen. Die Nötigung zu dieser be- steht vielmehr nur deshalb, weil eine widerspruchslose Erklärung der Erscheinungen erst gelingt, wenn man sie als Wirkungen einer Substanz voraussetzt, die uns niemals selbst, sondern immer nurinihren Wirkungen anschaulich gegebenist. (Vgl. oben S. 290.) Man kann also umgekehrt behaupten: der Begriff der Materie verbietet jede unmittelbare Übertragung in die Anschauung, weil ihm als ein wesentliches Merkmal zukommt, daß nur die der Materie zugeschriebenen Wirkungen in die Anschauung treten. Darum ist man aber auch nicht berechtigt, der Anschauung zuliebe die Materie mit Eigenschaften auszuschmücken, zu denen die logischen Motive, welche die Bildung dieses Begrifis veranlaßt haben, an und für sich nicht nötigen würden. Diese Gesichtspunkte treten nun in der augenfälligsten Weise bei einer dritten, ursprünglich aus naheliegenden Gründen ganz vernach- lässigten Richtung hervor, in der sich die Abstraktionen bewegen können. Es ist nicht der feste Körper und nicht die Flüssigkeit in den abstrakten Idealen, welche die Mechanik von ihnen entwirft, sondern der Äther, dieses von unserer unmittelbaren Anschauung am weitesten abliegende, eben darum aber der Begrifisbildung von vornherein den weitesten Spielraum eröffnende Substrat, auf das in steigendem Maße die modernen Spekulationen über die Materie zurückgehen. So ent- spricht die Reihenfolge dieser Hypothesenbildungen der Physik durchaus dem Verhältnis, in dem sie in unserer sinnlichen Wahrnehmung, und in dem sie infolgedessen auch in der Ausbildung der entsprechenden Ge- biete der Mechanik zueinander stehen. Die festen Körper in ihren geometrischen und phoronomischen Eigenschaften bilden in beiden Fällen das nächste Substrat der Begriffe. Dann kommen die Flüssig- keiten, die vollends in den nach ihren allgemeinsten Eigenschaften ihnen zuzurechnenden Gasen bereits weiter dem Gesichtskreis der unmittelbaren Wahrnehmung entrückt sind. Nach dem Vorbild einer Flüssigkeit wird daher ursprünglich auch das dritte Substrat, das man zur Abstraktion des Begriffs der materiellen Substanz nimmt, der Äther gedacht. Aber indem die elektromagnetische Lichttheorie auf der einen und die in Ausbildung begriffene Elektronentheorie auf der anderen Seite diesem Medium neue, von den Eigenschaften der festen Körper wie der Flüssigkeiten gleich sehr abweichende Eigen- schaften zuzuschreiben nötigen, beginnt die Äthertheorie der Materie Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 30 466 Die Hauptgebiete der Naturforschung. zugleich einen spezifischen Charakter zu gewinnen. Dabei besteht ein besonderer Vorteil derselben darin, daß sie sich von vornherein auf die begrifflichen Attribute, welche die Theorie fordert, beschränken darf, ja beschränken muß, da der Äther in der Anschauung gar kein Korrelat hat außer den Wirkungen, die ihm in der Erscheinungswelt zugeschrieben werden, während das feste Atom und die Flüssigkeit der Kontinuitätshypothesen immer noch an die festen Körper und Flüssig- keiten der unmittelbaren Wahrnehmung denken lassen. Darum be- steht nun aber auch eine gewisse Schwierigkeit der Ätherhypothesen gegenwärtig noch darin, daß sie sich der Spuren ihres Ursprungs aus der Hypothese der idealen Flüssigkeit schwer entledigen können. Wie die Atomistik und die Kontinuitätshypothese in ihren älteren Gestalten darauf ausgegangen waren, auch die Bewegungserscheinungen des Äthers schließlich nach dem Vorbild der Mechanik der festen Körper oder der Flüssigkeiten zu interpretieren, so mußte sich jedoch mit dem Gedanken einer auf dem selbständigen Begriff des Äthers aufgebauten Theorie der Materie allmählich der andere einer selbständigen Mechanik des Äthers verbinden, die nun umgekehrt die Mechanik der schweren Körper als einen besonderen, je nach den Bedingungen der Aggregat- zustände wieder modifizierten Fall unter sich begreife. Dieser der traditionellen Mechanik von der Physik des Äthers her drohenden Um- wälzung ist schon oben gedacht, und es ist dort auch bereits die hier möglicherweise bevorstehende Elimination der Masse aus den kon- stanten Grundbegriffen der Mechanik erwähnt worden (S. 346). Nun hat man gelegentlich als eine Konsequenz dieser Elimination der Masse wohl auch die Beseitigung der Materie selbst bezw. ihren Übergang in ein „immaterielles Substrat“ bezeichnet. Diese Folgerung wird durch die Gewohnheit begreiflich, die uns mit dem Begriff der Materie den der Masse fest verbinden läßt, und die zu der alten, freilich prinzipiell falschen Definition der Masse als der „Menge der in einer Raumeinheit enthaltenen Materie“ geführt hat. In Wahrheit gibt es, wenn uns der Ausdruck, sie sei „das hypothetische Substrat der Naturerscheinungen“, nicht genügt, keine andere Definition der Materie als die Kantische, sie sei „das Bewegliche im Raum“. Da freilich in der Zurückführung der Naturerscheinungen auf Bewegungen jenes hypo- thetischen Substrats alle Naturerklärung besteht, so sind beide Defi- nitionen unter dem tatsächlich die Naturforschung beherrschenden Postulat der mechanischen Naturanschauung identisch. Weder würde aber dieses Postulat durch eine Mechanik beseitigt werden, in der der Massenbegriff irgendwie auf den der beschleunigenden Kraft reduziert Das Substrat der Naturerscheinungen. 467 wäre, noch würde die Materie beseitigt, wenn die Masse selbst in eine Er- scheinung umgewandelt würde, die jene unter gewissen Bedingungen der Bewegung darbietet. Immer würden auch in diesem Fall die Teile der Materie als wechselseitig aufeinander einwirkende und selbst im Raum bewegliche beschleunigende Kräfte übrig bleiben. Diese objek- tiven Eigenschaften genügen jedoch vollständig zu dem Begriff einer von dem wahrnehmenden Subjekt unabhängigen objektiven Substanz. Durch diese Bedingungen sind zugleich dem Postulat der Anschau- lichkeit die Grenzen angewiesen, die ihm als einem heuristischen Prinzip der Naturforschung zukommen. Auf den Begriff der Materie angewandt schließt dasselbe lediglich die Forderung in sich, daß die vorausgesetz- ten Elemente und elementaren Prozesse den Gesetzen unserer Anschauung konform seien. Diese Übereinstimmung hat aber hier durchaus den nämlichen Sinn wie in der realen Geometrie und Mechanik: sie verhindert eine Hinzufügung begrifilicher Elemente, die mit unseren Anschauungsformen im Widerspruch stehen; sie hindert nicht eine Abstraktion von solchen Bestandteilen, die in der sinn- lichen Anschauung die für die Begrifisbildung wesentlichen Elemente begleiten. Eine derartige Abstraktion wird vielmehr gefordert, so- bald es sich, wie bei den mathematischen Begriffen und bei dem Begriff der Materie, um Feststellungen handelt, die sich nicht auf die Erschei- nungen selbst, sondern entweder auf ihre formalen Gesetze oder auf ihre hypothetischen Grundlagen beziehen. Indem das Postulat der An- schaulichkeit in diese Grenzen eingeschränkt wird, bleibt es zugleich in Übereinstimmung mit der Forderung objektiver Begreif- lichkeit, die als das Prinzip angesehen werden darf, das an die Stelle des von der teleologischen Naturphilosophie zur Geltung gebrach- ten der subjektiven Begreiflichkeit zu treten hat. (Vgl. S. 287.) Durch die Berücksichtigung jener Forderung und durch die unter ihrer Anleitüng ausgeführte fortgesetzte Berichtigung der vorhandenen Hypothesen über die Materie und ihre Bewegungsformen wird nun immerhin der Spielraum, innerhalb dessen sich diese Hypothesen be- wegen, voraussichtlich immer mehr eingeschränkt, so daß schließlich mindestens als das ideale Endziel dieses Prozesses irgend eine Voraus- setzung angesehen werden darf, die unter den gegebenen Bedingungen der Naturerkenntnis allen anderen überlegen ist. Um diesem Ziel näher zu kommen, darf jedoch die theoretische Physik die zwei me- thodischen Regeln nicht aus den Augen verlieren: keine Hypothese ist im strengsten Sinne zulässig, die zwar für ein engeres Gebiet von Tatsachen ausreicht, aber dem weiteren Zusammenhang der Erschei- 468 Die Hauptgebiete der Naturforschung. nungen nicht Genüge leistet; und: alle Bestandteile einer Hypothese sind zu verwerfen, durch welche die Begriffe mit überflüssigen, zur Deduktion der Erscheinungen nicht erforderlichen Vorstellungen be- lastet werden. Von diesen beiden Regeln kann freilich die erste umsoweniger ausnahmslos befolgt werden, je mehr die Beschränkung der Unter- suchung zugleich im Interesse der zweiten eine Ausscheidung solcher hypothetischer Elemente veranlaßt, die bei der Erklärung ander- weitiger Zusammenhänge nützlich, für die gestellte Aufgabe jedoch überflüssig sind. Daneben kann aber auch solchen Hypothesen min- destens ein provisorischer Wert zukommen, bei denen man sich absicht- lich auf ein einzelnes Gebiet beschränkt, unbekümmert darum, ob sie anderen unter dem Einfluß dieser isolierenden Abstraktion entstan- denen Hypothesen widersprechen. Zwar drängt dieser Widerspruch immer zu Versuchen seiner Auflösung. Trotzdem können solche isolierte Hypothesen nicht nur den speziellen Nutzen einer zweck- mäßigen Zusammenfassung bestimmter Erscheinungen besitzen, sondern sie sind auch gerade durch den Widerspruch, in den sie treten, in be- sonderem Maße geeignet, das Bewußtsein von dem für alle Zeit hypo- thetischen Charakter des Begrifis der Materie zu wecken. In diesem Sinne haben überhaupt die starken Wandlungen, welche die theore- tischen Vorstellungen unter dem Einfluß wichtiger neuer Entdeckungen um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts erlebten, unverkennbar den großen erkenntnistheoretischen Fortschritt mit sich geführt, daß sie die dogmatische Vorstellung von der Materie als einem teils durch die Sinne teils durch die Analyse der Erscheinungen unmittelbar erkennbaren Gegenstand auch in den Kreisen der Naturforscher beseitigt haben, um ihr die ihr gebührende Stellung eines allezeit hypothetischen und in diesem Sinne metaphysischen Hilfsbegriffs der Naturwissenschaft anzuweisen. 4. Die allgemeinen Naturgesetze. a. Kraftgesetzeund Kraftfunktionen. Die allgemeinen Naturgesetze, auf welche die Physik bei der Kausal- erklärung der Erscheinungen geführt wird, lassen sich in zwei Klassen unterscheiden: erstens in Gesetze, die sich auf die Wirksamkeit des materiellen Substrates der Bewegungen beziehen, und zweitens in solche, die den Zusammenhang der verschiedenen Erscheinungsformen untereinander beherrschen. Wir können die ersteren als Kraft- Die allgemeinen Naturgesetze. 469 gesetze, die zweiten als Energiegesetze bezeichnen. Denn das Verhältnis dieser Gesetze zueinander wird durch die beiden wich- tigen Begriffe der Kraft und der Energie bestimmt, deren Ent- wicklung mit den oben besprochenen Entwicklungen des Begriffs der Materie in innigem Zusammenhange steht. Der Kraftbegriff der neueren Physik ist durch Galilei festgestellt und durch Newton weiter ausgebildet worden. Indem Galilei, aus- gehend von dem Beispiel der Muskelkraft, das Wesen der Kraftleistung in dem Bewegungsantriebe sieht, der einer Masse durch irgend eine Ursache, z. B. durch einen Stoß, mitgeteilt wird, gewinnt er als das heute noch gültige Maß der Kraft das Produkt der Masse in ihre Beschleuni- gung. Indem sich sodann im Gefolge von Newtons Gravitationstheorie der Begriff der Fernewirkung entwickelt, wird die Kraft zu dem nach eben diesem Maße zu bestimmenden Bewegungsantrieb einer Masse durch eine andere, wobei zugleich den räumlichen Relationen der Massen unter den entsprechenden Bedingungen diejenigen ihrer Mittelpunkte substi- tuiert werden können. Alle in der Natur wirksamen Kräfte werden darum Zentralkräfte genannt, und es wird als die allgemeine Eigenschaft dieser angesehen, daß sie in der Richtung der geradlinigen Verbindungslinien der Massenmittelpunkte Beschleunigungen der Massen zu erzeugen streben. So wird infolge der Wechselwirkungen zwischen allen Teilen der Materie diese zu einem großen Kraftreservoir. Jedem ihrer Teile bleibt die Fähigkeit, in anderen Teilen Beschleunigungen hervorzubringen, unveränderlich erhalten; diese Beschleunigungen aber sind teils wirkliche, teils, infolge der wechselseitigen Hemmungen ver- schiedener Bewegungsantriebe, potentielle. (Vgl. oben S. 349 ff.) Wenn man von dem auf solche Weise festgestellten Kraftbegriff ausgeht, so kann nun der Begriff eines allgemeinen Naturgesetzes nur die Bedeutung haben, daß man unter ihm die Funktion versteht, nach der sich die beschleunigende Wirkung mit der Größe der Massen und mit der Entfernung der Massezentren verändert. Das allgemeinste Gesetz dieser Art ist das Newtonsche Gravitationsgesetz, nach welchem die beschleunigende Wirkung dem Produkt der Massen direkt und dem Quadrat ihrer Entfernungen umgekehrt proportional ist. Da überein- stimmende Beziehungen auch für die elektrostatischen und mag- netischen Fernewirkungen Platz greifen, so pflegt man dieses Gesetz als das allgemeine Kraftgesetz für fernewirkende Kräfte zu betrachten. Es läßt sich demselben eine anschauliche Bedeutung geben, wenn man es dem Prinzip unterordnet, daß die Kraftleistung proportional ihrer räumlichen Ausbreitung abnimmt. Denn es muß dann in einer Ent- 470 Die Hauptgebiete der Naturforschung. fernung R die Wirkung auf einen einzelnen Punkt der Größe der zu R gehörigen Kugeloberfläche umgekehrt proportional sein. Dadurch tritt das Gesetz der fernewirkenden Kräfte in unmittelbare Analogie mit dem Gesetz der Fortpflanzung einer Bewegungsenergie, wie es z. B. theoretisch für die Ausbreitung der Licht- und Schallwellen gültig ist, wo die in einer Entfernung R von der Licht- oder Schallquelle vorhandene Wellenamplitude dem Quadrate von R umgekehrt pro- portional ist. Diese Analogie ist es, die den Versuch einer Zurück- führung der Fernewirkungen auf die Bewegungen eines Mediums und damit zugleich die Umwandlung des Begriffs der fernewirkenden Kraft in den der Bewegungsenergie wesentlich unterstützt hat. Wenn nun auch eine solche Umwandlung, wie es nicht unwahr- scheinlich ist, dereinst für die Gravitation ebenso gelingen sollte, wie sie mit Hilfe der elektromagnetischen Lichttheorie für die elektro- dynamischen und elektromagnetischen Fernewirkungen gelungen ist, so würde doch die mathematische Analyse der physikalischen Erschei- nungen in den meisten Fällen, wo es sich um die Untersuchung von Wirkungen handelt, die im Verhältnis des Quadrats der Entfernungen abnehmen, die vereinfachte Betrachtung, die der Begriff der ferne- wirkenden Kräfte gestattet, nicht entbehren können. Denn für die Analyse der in irgend einer gegebenen Distanz auftretenden Wirkungen kommen die etwa zu postulierenden Zwischenvorgänge nicht in Betracht, sondern es tritt an ihre Stelle eben nur die mathematische Funktion, welche die Beziehung von Abstand und Wirkung ausdrückt. Gerade für die Zwecke der Analyse erscheint aber noch eine weitere Zerlegung dieser ursprünglichen Kraftfunktion geboten, indem man von dem überall in der analytischen Mechanik angewandten Hilfsmittel einer Zerlegung nach bestimmten Koordinatenrichtungen Gebrauch macht. Wird diese Zerlegung nach drei zueinander senkrechten Raumkoordinaten x, y und z ausgeführt, so werden die drei Kraftkomponenten durch die Differen- 2 x N und Ai ausgedrückt, wo die Funktion V dx dy dz m m’ tialquotienten dem einfachen Verhältnis entspricht, wenn m und m‘ zwei in Wechselwirkung stehende Massen und r ihre Entfernung bedeutet. Diese vereinfachte Kraftfunktion V pflegt nach Green die Poten- tialfunktion oder nach Gauß das Potential genannt zu werden. Die analytische Bedeutung derselben liegt teils in ihrer Ein- fachheit, teils und hauptsächlich darin, daß in ihr auf die Zerlegung nach den drei Raumkoordinaten Rücksicht genommen ist, da das Die allgemeinen Naturgesetze. 471 Potential einfach als diejenige Funktion definiert werden kann, deren Differentialquotienten nach den drei Richtungen des Raumes die Kraftkomponenten nach diesen Richtungen sind. Der Begriff des Potentials hat demnach zunächst die Bedeutung einer mathematischen Hilfsfunktion, durch deren Differentialquotienten die Kraftkomponen- ten, d.h. die intendierten Beschleunigungen nach den drei Koordinaten- richtungen gemessen werden. Nichtsdestoweniger läßt sich auch dem Potential selbst ein bestimmter mechanischer Sinn unterlegen. Denkt man sich nämlich zwei Massen m und m’ zuerst aus unendlicher Ent- fernung in die Entfernung r und dann abermals aus unendlicher Ent- fernung in die Entfernung r’ voneinander gebracht, so verhalten sich die Arbeiten V und V‘, die beidemal durch die wechselseitige Ein- wirkung der Massen geleistet werden, umgekehrt wie die angegebenen Entfernungen, also V:V'=r‘:r. Demnach kann auch das Potential mm’ De mechanisch definiert werden als diejenige Arbeit, die infolge der Wechselwirkung zweier Massen geleistet wird, wenn dieselben aus unendlicher Entfernung in die vorhandene Entfernung r versetzt werden*). Doch besitzt diese Definition einen mehr sekundären Charak- ter und kommt daher in der Verwendung des Potentialbegrifis, gegen- über der ursprünglicheren rein mathematischen Bedeutung desselben als Hilfsfunktion, kaum in Betracht. Das Gesetz der Fernewirkung, das aus Newtons Gravitations- theorie abstrahiert worden ist, und für das zugleich das Potential die einfachste Form einer linearen Funktion annimmt, hat sich nun aber in zwei Erscheinungsgebieten nicht bewährt gefunden: erstens bei ‘ solchen Fernewirkungen , deren materielles Substrat in einer sehr raschen Bewegung begriffen ist, und zweitens bei den molekularen Entfernungen benachbarter Körperelemente. Der erste dieser Fälle kommt bei den elektrodynamischen Fernewirkungen vor. Hier weist das Amperesche Gesetz der Wechselwirkung elektrischer Ströme auf Fernewirkungen hin, die nicht bloß von der Menge der Elektrizitäten und ihrer Entfernung, sondern auch von ihrer Bewegung abhängig sind. Man hat sich daher genötigt gesehen, in diesem Fall kompliziertere Gesetze der Fernewirkungen aufzustellen, die außer der Masse und Entfernung auch noch die Bewegung der Stromelemente oder von ihr abhängige Größen, wie die Stromintensität, enthalten. Am direktesten ist dieser Einfluß der Bewegung in W. Webers elektrodynamischem * W. Weber, Poggendorfis Annalen, Bd. 156, 1875, S. 1 fi. 472 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Grundgesetz zum Ausdruck gebracht, in welches neben der Entfernung r sowohl die Geschwindigkeit (7) wie die Geschwindigkeitsänderung () eingeht, so daß dieses Gesetz die Form annimmt: mm‘ dr\2 d?r ee +] welche, wenn die beiden letzten Glieder null werden, in das gewöhn- liche Gesetz der Fernewirkungen, das auch für die elektrostatischen Wirkungen gilt, übergeht. Ein zweites Gebiet von Erscheinungen, das sich der Unterordnung unter das Newtonsche Gesetz entzieht, bilden die Molekular- wirkungen. So lange der Gesichtspunkt der Actio in distans und die statische Auffassung der Körperzustände herrschend waren, suchte man hier den Erscheinungen gerecht zu werden, indem man einfach die gewöhnliche Kraftfunktion durch eine andere ersetzte, welche die Eigenschaft besaß, bei der Vergrößerung der Entfernung über eine bestimmte Grenze hinaus sehr rasch abzunehmen und bald verschwin- dend klein zu werden, also z. B. durch eine Funktion von der Form: oe ’ in welcher r die Entfernung der in Wechselwirkung stehenden Masse- teilchen u pw‘, « den Zwischenraum zwischen je zwei benachbarten Teilchen und n und m zwei sehr große positive Zahlen bedeuten*). Diese Funktion bleibt nahezu konstant, so lange r nicht sehr viel größer als & ist; sie wird aber verschwindend klein, sobald » > na geworden ist. Es ist selbstverständlich, daß eine derartige Formel, die zwischen den Molekularkräften und den fernewirkenden Kräften gar keine Be- ziehungen statuiert, obgleich sie doch für beide auf das Prinzip der Actio in distans zurückgeht, nicht befriedigen kann. Es lag daher nahe, diesen Widerspruch dadurch zu vermeiden, daß man die spezifische Eigentümlichkeit der Molekularwirkungen aus der Kombination zahl- reicher Kraftzentren erklärte. So sprach Fechner die Hypothese aus, die Potenz der Kräftefunktion entspreche der Anzahl der Distanz- faktoren der in Wechselwirkung stehenden Elemente, für 2 Elemente sei sie also — 2, für 3= 6, für 4—= 12, für 5—=% u. s. w. Dabei läßt *) Poisson, Mem. de l’Acad. T. VIII, p. 357. Die allgemeinen Naturgesetze. 475 sich zugleich ein dem Gegensatz anziehender und abstoßender Kräfte entsprechender Wechsel des Ausdrucks gewinnen, wenn man ent- gegengesetzte Richtungen der mitgeteilten Bewegung mit entgegen- gesetzten Vorzeichen versieht. Die 2 Elementen entsprechende zweite Potenz, die eine anziehende Kraft repräsentiert, wäre demnach als Produkt+r.— r negativ zu nehmen, ebenso alle höheren Potenzen, welche aus einer ungeraden Zahl von Quadraten zusammengesetzt sind, wogegen diejenigen, die in eine gerade Zahl von Quadraten zerlegt werden können, positive Vorzeichen erhalten und demnach abstoßen- den Kräften entsprechen würden*). In ähnlichem Sinne hat Buys Ballot angenommen, die allgemeine Kraftfunktion werde durch eine Reihe repräsentiert, die nach reziproken Werten der aufsteigenden Potenzen von r fortschreite, und in welcher der Wechsel der Vorzeichen dem Wechsel anziehender und abstoßender Kräfte entspreche; für endliche Distanzen aber verschwänden alle Glieder dieser Reihe .mit Ausnahme des ersten, das r? enthalte**). Die erste dieser Betrachtungen scheitert jedoch an der praktischen Unmöglichkeit ihrer Durchführung; die zweite besteht lediglich in der Anwendung einer analytischen Form, die sich infolge ihrer Allgemeinheit zur Darstellung jeder möglichen empirischen Gesetzmäßigkeit eignet, eben darum aber nicht den An- spruch auf die Bedeutung eines allgemeinen Naturgesetzes erheben kann. Allen solchen Versuchen, ein gleichförmiges Gesetz für die Ferne- wirkung der Atome aufzufinden, wurde schließlich durch die von der neueren mechanischen Wärmetheorie ausgehenden Vorstellungen der Boden entzogen. Indem dieselbe die Äußerungen der sogenannten Molekularkräfte als Wirkungen auffassen lehrte, die aus der Be- wegung der Elemente resultieren, näherte sich für dieses Gebiet der Begriff der Kraft wieder seinem ursprünglichen Ausgangspunkte. Er verwandelte sich in die durch den direkten Anprall der Teilchen ver- ursachte Beschleunigung. Dadurch verlor er aber zugleich an un- mittelbarer physikalischer Bedeutung. Denn es konnte zwar voraus- gesetzt werden, daß die mechanischen Gesetze des Stoßes für den An- prall der Elemente ihre Gültigkeit bewahren würden; aber bei der un- geheuren Verschiedenheit der Bewegungszustände der Atome und ihrer räumlichen Verteilung war es unmöglich, an ein einfaches Prinzip zu denken, das die Gesichtspunkte zur Entwicklung einer gleich- *), Fechner, Über die physikalische und philosophische Atomenlehre, 2. Aufl., S. 303 £. **) Buys Ballot, Poggendorfis Annalen, Bd. 103, S. 241. 474 Die Hauptgebiete der Naturforschung. förmigen und für alle Fälle ausreichenden Kräftefunktion hätte dar- bieten können. Dafür trat zuerst im Gebiete dieser Untersuchungen der Molekularphysik ein neuer, dem der Kraft verwandter Begriff her- vor, der sich bald auch für das Ganze der Physik von großer Frucht- barkeit erwies: der Begriff der Energie. Seine Bedeutung liegt hauptsächlich darin, daß in allen den Fällen, wo die Aufstellung eines Kraftgesetzes ein Ding der Unmöglichkeit ist, die Gewinnung und Anwendung allgemeiner Prinzipien in Bezug auf das Verhalten der Energie immer noch möglich bleibt. In der heutigen Physik ist daher die Überzeugung zur Herrschaft gelangt, daß die allgemeinsten Natur- gesetze überhaupt nicht in irgendwelchen Kräftefunktionen, sondern allein in Energiegesetzen bestehen können. Im Zusammenhange mit dieser Umgestaltung der Anschauungen ist denn auch zuweilen die völlige Elimination des Kraftbegrifis als eine Aufgabe der Zukunft be- zeichnet worden, wobei man meistens zugleich auf die Dunkelheit dieses Begriffes hinwies*). Hiergegen ist jedoch zu bemerken, daß der Begriff der Kraft nur dann dunkel ist, wenn man ihn ohne Not dazu macht. Als Ausdruck für die durch irgendwelche Bedingungen entstandene wirkliche oder intendierte Beschleunigung ist er unentbehrlich, wenn man lästige Umschreibungen vermeiden will. Es ist aber auch klar, daß sich der Begriff in diesem Sinne, in welchem er durchaus dem von Galilei und Newton eingeführten Wortgebrauch entspricht, zur Aufstellung universeller Naturgesetze nicht eignet. b. Die Energiegesetze. Der Begriff der Energie unterscheidet sich in seiner mechani- schen Bedeutung von dem der Kraft wesentlich dadurch, daß bei ihm nicht, wie bei diesem, die bloße Veränderung in dem Bewegungs- zustand einer Masse, sondern der Effekt einer Bewegung, also die geleistete Ar beit berücksichtigt wird. Nun wird die Arbeit gemessen durch das Produkt der Größe der Kraft in die Länge des Weges, auf welchem sie eine Masse zu beschleunigen strebt. Unter der Energie versteht man dann die in einer Masse oder einem Massensystem vor- handene Arbeitsfähigkeit. Diese Arbeitsfähigkeit kann ent- weder darin begründet sein, daß bestimmte Massen in Bewegungen be- griffen sind, die sie auf andere Massen übertragen können, wodurch Arbeit geleistet wird; oder sie kann darin bestehen, daß sich eine Masse in einer Lage befindet, aus der sie in eine andere Lage überzugehen *) Vgl. oben $. 302, sowie die Ideen über eine allgemeine Energetik, 8.430 ff. Die allgemeinen Naturgesetze. 475 strebt, wie z. B. ein gehobenes Gewicht oder eine gespannte Feder. Im ersten Fall bezeichnet man die Energie als aktuelle oder kine- tische, im zweiten Fall als potentielle oder als Energie der Lage (S.324). Die kinetische Energie ist es, die man auch als leben- dige Kraft bezeichnet, wonach dann für die potentielle der Aus- druck Spannkraft gebildet wurde. Diese Ausdrücke sind deshalb minder geeignet, weil bei ihnen der Begriff der Kraft in einem seiner ursprünglichen Bedeutung entfremdeten Sinne gebraucht wird. Die lebendige Kraft, die durch das halbe Produkt der Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit gemessen wird, ist etwas von der wirklichen oder intendierten Beschleunigung durchaus Verschiedenes; sie entspricht der Arbeit, welche die bewegte Masse leisten kann, und deckt sich darum vollständig mit dem oben definierten Begriff der Energie. Auch diese wird gemessen durch das Produkt —m vo’. Es kann aber dabei die Geschwindigkeit v entweder eine aktuelle oder eine potentielle sein, insofern der Masse m auch dann diese Energie zukommt, wenn sie in eine Lage gebracht ist, aus der sie in eine Bewegung überzugehen strebt, durch die sie die Geschwindigkeit v erreicht. Im allgemeinen ist zu einer solchen Lageänderung eine gewisse, durch das Produkt der Kraft k in den zurückgelegten Weg s meßbare Arbeitsleistung erforder- lich. Die potentielle Energie kann daher ebensowohl durch die zu ihrer Erzeugung erforderliche Arbeit %.s gemessen werden wie durch die aktuelle Energie 307 mv’, in die sie überzugehen fähig ist. Sie selbst ist lediglich ein Hilfsbegriff zur Verbindung verschiedener zeitlich ge- trennter, aber kausal zusammenhängender Äußerungsformen aktueller Energie. Für sich betrachtet ist demnach die potentielle Energie eine Summe räumlicher Bedingungen, die beim Hinzutritt einer bestimm- ten Ursache die Entstehung eines gewissen Quantums wirklicher Energie herbeiführen. Auf diese Weise führt die begrifiliche Entwicklung der beiden Formen der Energie zum Prinzipihres Übergangs ineinander. Diesem ersten tritt nun infolge der Ausdehnung des Energiebe- grifis auf andere Naturvorgänge, Wärme, Licht, Elektrizität, chemische Verbindungen, ein zweites Transformationsprinzip zur Seite. Es besteht in dem Satze, daß qualitativ verschiedene Formen der Energie nach festen quantitativen Verhältnissen ineinander über- gehen; und dieses Prinzip der Umwandlung verschiedener Formen aktueller Energie erfährt endlich eine Einschränkung durch ein 476 Die Hauptgebiete der Naturforschung. drittes Prinzip, nach welchem die Energiemenge, die durch eine bestimmte Transformation entstanden ist, in die ursprüngliche Energie- form nur dann vollständig zurückverwandelt werden kann, wenn der erste Übergang in einer Erzeugung mechanischer Energie aus anderen Energieformen besteht, in welchem Fall neben der aktuellen Energie stets ein gewisses Quantum potentieller Lageenergie erzeugt wird, von denen die erstere direkt, die zweite, sobald sie in Bewegungsenergie über- gegangen ist, vollständig wieder in andere Energieformen, z. B. in Wärme, umgewandelt werden kann. Dagegen können die übrigen Formen aktueller Energie, z. B. die Wärme, immer nur derart in mecha- nische Energie zurückverwandelt werden, daß ein der Umwandlung sich entziehender Rest bleibt, dessen Größe durch die Erreichung der Grenze des Energiegleichgewichts zwischen den Teilen des Systems, in welchem sich die Transformation vollzieht, bestimmt wird. So kann durch die Einwirkung eines wärmeren auf einen kälteren Körper so lange mechanische Energie hervorgebracht werden, bis die Temperatur beider Körper gleich geworden ist. Ist die hierbei verwendete Wärme selbst aus mechanischer Energie hervorgegangen, so ist aber der auf solche Weise nicht wieder in mechanische Bewegung zurückzuver- wandelnde Rest zusammen mit der bei der Rückverwandlung wirklich gewonnenen Summe mechanischer Energie gleich der ursprünglichen Ennergiemenge. Das allgemeine Prinzip der Erhaltung der Energie ist nun nichts anderes als eine Zusammenfassung der erörterten drei Prinzipien: erstens des Prinzips der Umwandlung kinetischer Energie in Energie der Lage und umgekehrt, zweitens des Prinzips der Um- wandlung qualitativ verschiedener Energieformen ineinander nach äquivalenten Verhältnissen, und drittens des Prinzips der Gleichheit der aus irgend einer anderen Energieform gewonnenen mechanischen Energie mit der ursprünglichen Energiemenge plus dem mechanischen Äquivalent des infolge der Bedingungen des Energiegleichgewichts der Umwandlung unzugänglichen Restes. In dieser allgemeinen Form kann das Prinzip der Erhaltung der Energie zur Verknüpfung der Erscheinungen benützt werden, ohne daß man sich über die inneren Beziehungen der qualitativ verschiedenen Energieformen irgendwelche Rechenschaft gibt, und ohne daß man demgemäß über die Materie irgend eine andere Voraussetzung macht als die, daß sie das unbestimmte Substrat aller dieser Energien sei. Dennoch kann sich schon das Kausal- bedürfnis des Physikers bei einer solchen Auffassung nicht befriedigen. Die Tatsache der Umwandlung der qualitativ verschiedenen Energie- Die allgemeinen Naturgesetze, 477 formen ineinander fordert, daß man über das Wie dieses Übergangs Rechenschaft gebe. Dazu kommt ein zweiter logischer Grund von ent- scheidender Bedeutung. Es ist der gleiche, in dem die mechanische Natur- ansicht überhaupt wurzelt. Die logische Analyse der Widersprüche in den ursprünglichen Dingvorstellungen nötigte zur Elimmation der Quali- tätsunterschiede der Objekte und zu ihrer Reduktion auf im Raum denkbare quantitative Verhältnisse, also auf Lage- und Bewegungs- vorstellungen. Damit ist auch die Annahme gegeben, daß alle anderen Formen der Energie nur molekulare Formen der Bewegungsenergie seien, eine Annahme, die zugleich die zentrale Stellung, die bei der Anwendung des Transformationsprinzips die mechanische Energie ein- nimmt, verständlich macht. Daß die Theorien über die Beschaffen- heit der den verschiedenen Energieformen zu Grunde liegenden Mole- kularbewegungen noch nicht durchgängig zu übereinstimmenden An- nahmen gelangt sind und ohne Zweifel sogar niemals zu völlig eindeutigen Feststellungen gelangen werden, bildet dagegen umsoweniger einen Einwand, als sich immerhin der Weg der kinetischen Molekularhypo- thesen in der Verknüpfung verschiedener Erscheinungsgebiete fruchtbar erwiesen hat, während das Energiegesetz allein hier immer nur zur Aufstellung allgemeiner quantitativer Beziehungen ohne jeden vor- stellbaren Inhalt führen kann. Übrigens bezeugt zugleich die Ge- schichte des Energieprinzips, daß dieses selbst lediglich auf dem Wege jener logischen Elimination der Qualitätsbegriffe aus dem Objekt- begrifi, welche den der mechanischen Naturansicht entsprechenden Hypothesen ihren Ursprung gegeben hat, entstanden ist, ähnlich wie ja auch schon die allgemeinsten Abstraktionen der mathematischen Mechanik darauf zurückführen. Denn seit Leibniz ist das Energieprinzip trotz des scheinbaren Widerspruchs mit der Erfahrung immer und immer wieder als Postulat hingestellt worden, bis es sich endlich durch die Erweiterung und Berichtigung der Erfahrung siegreich die Bahn gebrochen hat. Wäre es aber als logisches Postulat nicht vorhanden gewesen, so würde es bei seiner Zusammensetzung aus mehreren zu- nächst unverbunden nebeneinander stehenden Transformationsprin- zipien mit ihrer Beschränkung durch das Prinzip der Reste vielleicht niemals entstanden sein, wie sich ja denn auch alle Begründungen des- selben von Leibniz bis herab auf R. Mayer und Helmholtz nicht oder doch nur in zweiter Linie auf die Erfahrung, in erster aber auf die ab- solute Konstanz der Eigenschaften der Materie berufen. In der Tat, sobald man zu der Erkenntnis durchgedrungen war, daß uns die Materie nur durch ihre Wirkungen gegeben sei, und daß sie demnach lediglich 478 Die Hauptgebiete der Naturforschung. als ds Wirkungsfähige im Raume definiert werden könne, so führte die der Begründung der Mechanik und mechanischen Physik zu Grunde liegende Übertragung der Konstanz und Kongruenz der Eigenschaften des Raumes auf die Materie von selbst zu der Forde- rung einer Konstanz ihrer Wirkungsfähigkeit oder Energie, die sich nun, wie vor allem die frühe Schöpfung des ergänzenden Begriffs der potentiellen Energie lehrt, gegen alle Widersprüche. der Erfahrung durchsetzte. Alle jene Vorteile, die man sich dereinst von einer universellen Kräftefunktion vergeblich versprochen hatte, bietet nun das allgemeine Energiegesetz in Wirklichkeit dar. Vermöge seiner Allgemeingültig- keit eignet es sich zur Verknüpfung der verschiedenartigsten Erschei- nungen, und vermöge seiner Allgemeinheit gestattet es noch solche Vorgänge festen quantitativen Beziehungen unterzuordnen, die uns hinsichtlich der elementaren Bewegungsformen, aus denen sie bestehen, völlig unbekannt sind. Vor allem aber gewinnt das Energieprinzip, in- dem es den Charakter eines allgemeinen Erfahrungsgesetzes mit dem- jenigen eines a priori gültigen Postulates verbindet, die Bedeutung eines für die Deduktion der physikalischen Erscheinungen geeigneten obersten methodologischen Grundsatzes, mit welchem alle einzelnen Sätze in Übereinstimmung bleiben müssen, sofern ihnen ein Anspruch auf wahrscheinliche Gültigkeit zukommen soll. e. Die physikalischen Grenzbegriffe. In den allgemeinen Voraussetzungen über das Substrat der Natur- erscheinungen liegt die Quelle zur Bildung zweier physikalischer Grenzbegriffe, die den beiden Zahlgrenzen auf mathematischem Ge- biete entsprechen. (Vgl. Abschn. II, S. 161 fi.) Der untere Grenzbegrifi bezieht sich auf das Element der Materie, der obere auf die Gesamtmasse derselben oder die Totalität des Uni- versums. Die Hypothesen über die Materie genügen für sich allein nicht, um diese beiden Begriffe widerspruchslos zu gestalten, sondern es sind neben ihnen die Kraft- und Energiegesetze zu berücksichtigen, die hier, wo es sich, wie bei allen Grenzbegriffen, nur um Postulate unseres Denkens handeln kann, diesem seine Richtung anweisen müssen. Bei dem unteren Grenzbegriff findet jene Wechselbe- ziehung darin ihren Ausdruck, daß der allgemeine Begriff des Atoms als des letzten Elementes der Materie unmittelbar durch die Beschaffen- heit der Kraft- und Energiegesetze bestimmt worden ist. Dies ver- Die allgemeinen Naturgesetze. 479 rät sich sowohl in den anschaulichen Gestaltungen der älteren wie in den mathematischen der neueren Atomistik. Dort verlangt man Ele- mente, zwischen denen Stoßwirkungen möglich sind; hier fordert man, daß die materiellen Elemente als Ausgangspunkte von Kräftefunktionen oder als geeignete Medien für die Aufbewahrung und Übertragung von Energie von der mathematischen Deduktion benutzt werden können. Darum ist im Bereich der mathematischen Physik der Gegen- satz zwischen Kontinuitätshypothese und Atomistik nur ein schein- barer: der Unterschied beider entspringt allein aus dem Streben, den Begrifi des materiellen Elementes zugleich philosophisch zu rechtfertigen, genau ebenso wie bei den entsprechenden Begründungen der mathe- matischen Infinitesimalmethode. Die Kontakthypothese nimmt an, die Elemente, deren sie bedarf, besäßen nur die Bedeutung mathe- matischer Konzeptionen, während physisch, der unmittelbaren sinn- lichen Erscheinung entsprechend, die Materie stetig ausgedehnt sei. Hier waltet also der nominalistische Standpunkt vor. Die Atomistik betrachtet die diskreten Elemente, die ihr als die Träger der Kraft- und Energiegesetze gelten, als die wirklichen Elemente der Materie. Sie ist realistisch in dem früher besprochenen Sinne. (Vgl. S. 113fi.) Dabei ist sie aber zugleich in sich mannigfach ge- spalten hinsichtlich der Frage, ob die Atome den empirischen Objekten der Anschauung zu gleichen haben oder nicht. Ursprünglich ganz und gar den Motiven der Anschauung folgend, hat sie sich allmählich mehr von denselben befreit und ist so in der dynamischen Atomistik zu einer begrifflichen Konzeption des Atoms gelangt, bei der dieses wieder einen rein mathematischen Charakter annimmt. Während nun die analogen Widersprüche über den mathematischen Infinitesimalbegrift in der Feststellung der eigentümlichen Form der mathematischen Abstraktion ihre Lösung fanden, liegt die logische Entscheidung dieser physikalischen Frage zum Teil auf anderem Boden. Wohl wird auch hier der Streit dadurch begünstigt, daß man geneigt ist, den Produkten begrifflicher Abstraktion reale Wirklichkeit zuzu- schreiben und darum die Begriffe mit den Attributen der sinnlichen Anschauung auszustatten. Aber daneben macht noch der Umstand seine Wirkungen geltend, daß die Materie ein hypothetischer Begriff ist, der zum Behuf einer widerspruchslosen Erklärung der empirisch gegebenen Erscheinungen gebildet wird, und daß hieraus das Streben entsteht, ihn so wenig wie möglich von den Erscheinungen selbst abweichen zu lassen. Dies Streben ist den entgegengesetzten Hypo- thesen gemeinsam, aber es bemächtigt sich verschiedenartiger Bestand- 480 Die Hauptgebiete der Naturforschung. teile derselben. Die Kontakthypothese nimmt neben den nominalistisch gefaßten Elementarbegriffen ein anschauliches Substrat an, das, für die mathematische Deduktion nicht erforderlich, nur jenem Streben der Übereinstimmung seinen Ursprung verdankt; die Atomistik stattet in ihren meisten Gestaltungen die Elemente selbst mit anschaulichen Eigenschaften aus. Nun haben wir oben gesehen, daß das Streben nach Anschaulichkeit in diesem Falle in unvermeidliche Widersprüche ver- wickelt (S.459fi.). Darin liegt das Zugeständnis, daß die Materie nur eine begriffliche Fassung zuläßt, d. h. daß sie nur als Substrat bestimm- ter Wirkungen zu denken ist. Mit der Beseitigung der überflüssigen anschaulichen Zugaben, mit denen Nominalismus und Realismus hier gleicherweise den Begriff der Materie versehen, verschwinden aberdie GegensätzedieserAnschauungenselbst. Der Kontakthypothese wie der Atomistik bleiben allein Kraftzentren und ihre Wirkungssphären als rein begriffliche Feststellungen, die erst in Verbindung mit den an sie geknüpften Kraft- und Energiegesetzen anschauliche Erfolge herbeiführen. Von wesentlich anderem Charakter ist der Gegensatz, in dem sich de philosophische Fassung der Kontinuitätshypothese zu den atomistischen Vorstellungen befindet. Da sie die Materie zu einem kontinuierlichen und zugleich ins unendliche teilbaren Kraftträger macht, hebt sie die allen physikalischen Hypothesen gemeinsame Voraussetzung auf, daß jeder endliche Teil der Materie aus einer end- lichen Anzahl von Kraftzentren bestehe. So entwickelt sich hier ein Streit, welcher dem nachher zu erörternden über die Endlichkeit oder Unendlichkeit der Totalität des Universums analog ist. In Bezug auf die Elementarbegriffe löst sich aber dieser Streit durch die Bemer- kung, daß sich beide Auffassungen auf verschiedene Gegenstände be- ziehen. Der philosophische Dynamiker hat die Körper unserer An- schauung im Auge; er behauptet, daß die räumliche Zerlegung eines Körpers nie bei einer Grenze anlange, bei der sie aufhören müßte. Der Begriff des Physikers dagegen bezieht sich auf das hypothetische Sub- strat der Erscheinungen; er behauptet, nicht dieses Substrat selbst, sondern die ihm beigelegten Wirkungen müßten in den Eigenschaften der Körper anzutreffen sein. So wird in diesem Fall durch eine selt- same Vertauschung der Rollen der Philosoph zum Empiriker und der Empiriker zum Philosophen. Es kann aber kein Zweifel darüber sein, wem die Schuld eines error loci der Begriffe hierbei aufgebürdet werden muß. Die Übereinstimmung mit den Kraft- und Energiegesetzen bildet die einzige Richtschnur für die Gestaltung des Begriffs der Materie. Die allgemeinen Naturgesetze. 481 Darin liegt zugleich, da sich jene Gesetze auf räumliche Wirkungen be- ziehen, die Übereinstimmung mit den allgemeinen Eigenschaften des Raumes. Insofern es sich aber hier überall nur um begriffliche Feststellungen handelt, kann nur eine Übereinstimmung mit den ge o- metrischen Raumbegriffen, nicht mit unseren Vorstellungen physischer Körper im Raume in Frage kommen. Wie schon die Mechanik an geometrische Abstraktionen anknüpft, so werden sich darum auch unsere hypothetischen Feststellungen über die Materie mit voller Frei- heit solcher Abstraktionen bedienen dürfen. Auf diese Weise wird die Antinomie zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit bei den physi- kalischen Elementarbegrifien durch die Erwägung beseitigt, daß die Abstraktion des physikalischen Kraftpunktes als eine rein begriffliche Konzeption sich unmittelbar anschließt an die Abstraktion des geo- metrischen Punktes, in welchem wir mit der Ausdehnung zugleich die Teilbarkeit aufgehoben denken. Wie der geometrische Punkt den durch unsere Gedankentätigkeit fixierten Ort im Raume, abgesehen von den objektiven Hilfsmitteln der Ortsbestimmung, so bezeichnet das Atom als Kraftzentrum den von unserem Denken postulierten kausalen Ausgangspunkt eines Bewegungsvorganges, Hat die Physik den Widerstreit zwischen Endlichkeit und Un- endlichkeit bei dem unteren Grenzbegrifil, gezwungen durch die For- derungen der Naturerklärung, praktisch gelöst, so treibt nun aber die nämliche Antinomie bei dm oberen Grenzbegriff noch immer ihr Spiel. Die Lösung wird hier durch den Umstand erschwert, daß in die Frage über Endlichkeit oder Unendlichkeit des Weltganzen der Gegensatz zwischen jenen beiden Formen der Unendlichkeit, der unvollendbaren und der vollendeten, sich einmengt, der uns schon auf mathematischem Gebiete begegnet ist. (Vgl. S. 161 ff., 236.) In der Tat handelt es sich in den von Kant aufgestellten kosmologischen Anti- nomien nur um diesen Gegensatz. Zugleich ist aber dort die wahre Natur des Streites verhüllt teils durch den Parallelismus, in den die Antinomien mit der Untersuchung der anderen transzendenten Ideen gebracht sind, teils durch den Umstand, daß Kant selbst den Unter- schied jener beiden Unendlichkeitsbegriffe noch nicht erkannt hat*). Tritt man, gestützt auf deren mathematische Unterscheidung, an Kants Antinomien heran, so fällt in die Augen, daß der Thesis jedesmal die *) Vgl. meine Abhandlung: Kants kosmologische Antinomien und das Problem der Unendlichkeit, Philos. Stud. II, S. 495 fi. Wundt, Logik. I. 3. Aufl. 3l 482 Die Hauptgebiete der Naturforschung. vollendete Unendlichkeit, das Transfinite, der Antithesis die unvollend- bare Unendlichkeit, das Infinite, bei ihrer Argumentation vorschwebt. Nun ist das Transfinite auf empirischem Gebiete ein unvollziehbarer Begriff. Der Durchschnittspunkt zweier Parallellinien hat geometrisch auch dann noch einen Sinn, wenn wir den Parallelismus als einen voll- kommenen und darum die Unendlichkeit der Entfernung als eine absolute auffassen. Unter parallelen Lichtstrahlen aber, die von einem physischen Punkt im Weltraume ausgehen, können wir immer nur solche verstehen, deren Divergenz für uns unmerklich ist; dem Fixstern, der sie aussendet, können wir daher höchstens eine relativ unendliche Entfernung zuschreiben. Irgend ein räumlich oder zeitlich noch so ent- fernter Ort oder Zustand des Universums gebietet unserem unter der Leitung der Anschauungsformen und des Kausalprinzips handelnden Denken, über denselben hinauszugehen; aber wollten wir uns diesen unendlichen Progressus wirklich vollendet vorstellen, so würde der Begriff in ein rein mathematisches Postulat verwandelt sein, von dem für physikalische Zwecke kein Gebrauch zu machen wäre. Denn unser naturwissenschaftliches Denken steht gleichzeitig unter der Herrschaft der Erkenntnisnormen und der Erfahrung. Verbieten uns die ersteren, den Zusammenhang der Erscheinungen bei irgend einem erreichbaren Punkte aufhören oder beginnen zu lassen, so verbietet es uns die letztere nicht minder, diesen unendlichen Zusammenhang anders denn als einen unvollendbaren zu denken. Die Thesis in den beiden ersten, auf Raum, Zeit und Materie sich beziehenden Antinomien (die dritte und vierte entspringen zum Teil anderen Motiven) hat darum leichtes Spiel, wenn sie der vollendeten Unendlichkeit gegenüber an der Endlich- keit der Welt festhält. Anderseits sind wir aber ebenso bei unserer räumlichen und zeitlichen Ordnung der Erscheinungen, ebenso wie bei ihrer kausalen Verknüpfung, aufgefordert, die jeweils erreichten Grenzen zu überschreiten und in diesem Progressus ohne Ende fortzu- fahren. Der Antithesis wird es daher wiederum nicht schwer, wenn sie den infiniten dem endlichen Weltbegrifi vorzieht. So ist der ganze Streit ein Scheingefecht, das aus der doppelten Natur des Unendlichen entsprungen ist. Darum ist nun aber auch die von Kant gegebene Lösung, die beiden Gegnern in gleichem Maße recht gibt, indem sie die Frage für unentscheidbar erklärt, nicht die richtige; sondern auf dem Boden von Kants eigener Beweisführung hat die Antithese den Vorzug. Ihre Aufstellungen werden durch die Beweisführungen der These gar nicht getroffen, während diese der Macht der Gegengründe nicht widerstehen kann. Durch diesen Ausgang ist jedoch für uns Die allgemeinen Naturgesetze, 483 die Sache noch nicht entschieden. Denn in Kants Erörterung sind nicht alle Momente berücksichtigt, welche die physikalische Betrach- tung dem Problem der kosmologischen Unendlichkeit entgegenbringt. Insbesondere bedürfen zwei Punkte einer näheren Erwägung: erstens sind die drei Beziehungen, in denen die Unendlichkeit des Universums angenommen werden kann, zeitliche Dauer, räumliche Ausdehnung und Masse der Materie, voneinander zu sondern; und zweitens muß in jeder dieser Beziehungen der Ein- fluß der Kraft- und Energiegesetze berücksichtigt werden. In der Geschichte der Physik hat sich sowohl die Annahme der Endlichkeit wie die der Unendlichkeit der Welt selten auf jene Bestand- teile sämtlich bezogen, sondern, wenn wir die Zeit als das zunächst maßgebende Element betrachten, so lassen sich auf jeder Seite wieder je drei Hypothesen unterscheiden. Die Endlichkeitshypothese nimmt entweder nur die Zeit endlich, Raum und Masse aber unendlich, oder sie nimmt Zeit und Masse endlich, den Raum unendlich an, oder sie postuliert ein nach Zeit, Raum und Masse endliches Universum. Ebenso existiert de Unendlichkeitshypothese als eine einfache, in Bezug auf die Zeit, als eine zweifache, in Bezug auf Zeit und Raum, oder als eine dreifache, in Bezug auf Zeit, Raum und Masse*). Die erste dieser sechs Hypothesen liegt den von Kant in seiner „Theorie und Mechanik des Himmels“ entwickelten Anschauungen zu Grunde, der zweiten scheint sich Laplace zuzuneigen, die dreifache Endlichkeit ist in den meisten neueren Spekulationen über die Erhaltung der Energie im Universum vorausgesetzt. Dagegen könnte die dreifache Unendlich- keitshypothese die populärwissenschaftliche genannt werden; sie pflegt in denjenigen Kreisen zu herrschen, in denen man den Vorurteilen, welchen der Endlichkeitsbegriff entsprungen ist, entwachsen zu sein glaubt, aber von den Schwierigkeiten des Unendlichkeitsbegrifis keine Vorstellung hat. Die Hypothese der einfachen Unendlichkeit findet sich in gewissen mystischen Anschauungen vertreten, die aus der Über- tragung transzendenter Raumspekulationen auf physikalisches Gebiet hervorgegangen sind. Die Annahme, daß das Universum nach Zeit und Raum unendlich, in Bezug auf die Masse der Materie aber endlich anzunehmen sei, hat in den kosmologischen Theorien kaum eine Berück- sichtigung gefunden. Dennoch ist sie es, die mit den hinsichtlich der *) Historische Erläuterungen zu dem folgenden finden sich in meinem Aufsatze: Über das kosmologische Problem. Vierteljahrsschrift für wissensch. Philosophie, I, S. 80 fi. 484 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Kraft- und Energiegesetze gegenwärtig angenommenen Voraussetzungen vielleicht am besten übereinstimmen würde. Dies zeigt sich, wenn man die Folgerungen erwägt, die sich aus den zwei einander am meisten entgegengesetzten Hypothesen der dreifachen Endlichkeit und der dreifachen Unendlichkeit ergeben. Die Annahme, daß die Materie nach Zeit und Raum und infolge- dessen auch in ihrer Masse begrenzt sei, stellt an unsere Anschauungs- formen wie an unser begrifiliches Denken gleich unerfüllbare Forde- rungen. Da Zeit und Raum konstante Bestandteile aller Erfahrung sind, so kann auch unser Denken in der Verknüpfung der Erfahrungen niemals von ihnen abstrahieren. Wollten wir aber eine Grenze von Zeit und Raum voraussetzen, so würde darin zugleich die begriffliche Fik- tion einer zeit- und raumlosen Erfahrung oder die Forderung eines Denkens von unvorstellbarem Inhalt gegeben sein. Aus der Annahme einer Zeit- und Raumbegrenzung des Universums folgt daher, daß auch das Kausalprinzip, die Form, in welcher unser Denken die Erfahrungen verknüpft, zwischen bestimmten Grenzen eingeschlossen wäre. In den älteren kosmologischen Anschauungen findet diese Begrenzung ihren Ausdruck darin, daß man die Idee der Schöpfung und des Weltunter- gangs aus dem Gebiet der religiösen Vorstellungen auf das der Wissen- schaft zu übertragen sucht. Beide Ereignisse werden dann als Glieder einer höheren Kausalreihe angesehen, zwischen denen die empirische Kausalität enthalten sei. Diese Auffassung krankt, wie der damit zu- sammenhängende Leibnizsche Begriff des „Übervernünftigen“, an dem Widerspruch, daß man die Formen unseres Denkens anwendet, während man sie gleichzeitig für unanwendbar erklärt. In der neueren Zeit hat im Gegensatze hierzu die physikalische Theorie meist an der An- sicht festgehalten, daß der auf dem Boden der Endlichkeitshypothese vorauszusetzende Anfang der Welt nur als ein bestimmter Anfangs- zustand gedacht werden könne, über dessen Entstehung keine Rechenschaft zu geben sei. Gewöhnlich gilt der Nebelball der Kant- Laplaceschen Hypothese als dieser Anfangszustand. Da die in ihm vor- handene Anordnung der materiellen Elemente die kausale Bedingung zu allen weiteren Veränderungen in sich enthält, so war es logisch, diesem Anfangszustand nun auch einen in endlicher Zeit erreichbaren Endzustand gegenüberzustellen, wo jede mögliche Veränderung ab- gelaufen und eine Stabilität des Kosmos eingetreten sei. Schon La- place hat ein solches Stabilitätsprinzip aufgestellt, das aber bei ihm bloß eine relative Bedeutung besaß, da es sich auf die Anordnung und die Bewegungen der Körper des Sonnensystems beschränkte und da- \ Die allgemeinen Naturgesetze, 485 gegen den physikalischen Einzelvorgängen, also namentlich auch den Lebenserscheinungen, einen unbegrenzten Spielraum weiterer Ent- wicklung ließ. Jene relative Stabilität meinte Laplace schon in dem gegenwärtigen Zustand des Sonnensystems erreicht zu sehen. Die aus den Energiegesetzen gezogenen Folgerungen haben jedoch diese An- nahme nicht bestätigt, und sie haben die Herstellung der kosmischen Stabilität zwar in eine beträchtliche Zeitferne gerückt, dafür aber den Stillstand des Ganzen zu einem umso durchgreifenderen gemacht. Die hierher gehörigen Folgerungen gründen sich nämlich auf jene Gesetze der Verwandlung der Energie, nach welchen die in der Natur vorkommenden Transformationen der Naturkräfte immer nur in einer Richtung unbeschränkt stattfinden können (vgl. S. 476). Hieraus ergibt sich, daß der Zustand der Welt sich fortwährend im Sinne der- jenigen Umwandlungen verändern muß, welche nicht ohne Rest umkehr- bar sind, und daß so schließlich eine Grenze erreicht wird, bei der überhaupt keine Umwandlung mehr stattfinden kann, weil ein all- gemeiner Gleichgewichtszustand eingetreten ist. In diesem Endzustand, in welchem der Verwandlungsinhalt der Energie, die sogenannte En- tropie der Welt, ihr Maximum erreicht hat, würde vollständige Temperaturgleichheit herrschen, und es würden demnach im Sinne der kinetischen Wärmetheorie alle Teilchen der Materie um stabile Gleich- gewichtslagen schwingen*). Wäre unter solchen Bedingungen noch ein menschlicher Zuschauer möglich, so würde aber dieser auch keinen Anlaß finden, den Kausalbegriff zu bilden, da sich keine Veränderung ereignete, welche die Frage nach ihrer Ursache erheben ließe. Diese physikalische Gestaltung der Endlichkeitshypothese führt daher eben- falls zu einer empirischen Begrenzung des Kausalbegrifis. Das logische Interesse der Deduktion liegt übrigens offenbar nicht darin, daß sie uns etwa eine Vorstellung von dem wirklich zu erwartenden Ende der Dinge erwecken könnte, sondern daß sie für ein begrenztes und während einer gewissen Zeit annähernd unabhängiges System, wie ein solches vielleicht unser Sonnensystem ist, in eben dieser Zeit die all- gemeine Richtung der Energieverwandlungen angibt, während zu- gleich die Ansicht, welche das Universum selbst für ein begrenztes System hält, an einer speziellen physikalischen Folgerung ad absurdum geführt wird. Stellt man sich nun dem gegenüber auf den Standpunkt der Hypo- these der dreifachen Unendlichkeit, so begegnet diese *), Clausius, Abhandlungen zur mechanischen Wärmetheorie, II, S. 42. 486 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Schwierigkeiten anderer Art. Wie die vorige an den Energiegesetzen, so scheitert sie an den Kraftgesetzen. Zwar wird bei allen Naturkräften, deren Wirkung eine gewisse Zeit zu ihrer Fortpflanzung bedarf, wie Wärme und Licht, die Unendlichkeit der Masse im unendlichen Raum durch die Unendlichkeit der Zeit kompensiert. So kann z. B. an einem Punkt die Menge der durch Strahlung fortgepflanzten Wärme schon deshalb nicht unendlich groß werden, weil es einer unendlich langen Zeit bedürfte, bis sich von den unendlich entfernten Massen des Weltalls die Wärme bis zu dem Punkt fortgepflanzt hätte, während überdies durch die Vorgänge der Emission und Absorption ein fortwährendes Streben nach Ausgleichung der Wärmeunterschiede stattfindet. Dagegen gibt es eine Naturkraft, für welche diese Kompensation nicht zutrifft, weil sie nach der gegenwärtig gültigen Annahme keiner Zeit zu ihrer Fortpflanzung nötig hat: die Gravitation. Merkwürdigerweise hat nun hier die Physik dadurch eine Kompensation zu erreichen vermocht, daß sie der momentanen Fortpflanzung durch den Raum die nämliche Abnahme der Wirkung zuschreiben mußte, die bei anderen Naturkräften im Gefolge der zeitlichen Fortpflanzung eintritt (vgl. S. 455). Trotz- dem bleibt die Schwierigkeit, daß ein unendliches System, solange man kein bestimmtes Gesetz der Verteilung der Massen voraussetzt, weder einen gemeinsamen Schwerpunkt, noch überhaupt einen Punkt hat, auf den die sämtlichen relativen Bewegungen schließlich zu be- ziehen wären*). Auch schließt die Hypothese, daß die Gravitations- wirkung keine Zeit zu ihrer Fortpflanzung bedürfe und daher einen unendlichen Raum nicht nur in einer endlichen, sondern sogar in einer verschwindend kleinen Zeit durchlaufe, offenbar eine vollendete Unendlichkeit ein. Die erste dieser Schwierigkeiten läßt sich durch die Hilfsannahme beseitigen, daß die Dichtigkeit der Materie von einem bestimmten Punkte an allmählich ins Unendliche abnehme. Die einfachste Voraus- setzung würde hier die Abnahme nach dem Verhältnis einer konver- gierenden unendlichen Reihe sein, so daß zwar die Ausdehnung der Materie unendlich, ihre Masse aber endlich bliebe. Denn nicht dieselben logischen Motive, die uns verhindern, eine endliche Größe von Raum und Zeit zu statuieren, nötigen uns, auch der Masse Unendlichkeit zuzuschreiben, da der materielle Substanzbegriff hypothetisch nach *) Über die Forderung eines solchen Punktes vgl. meine Schrift über die physikalischen Axiome, $S. 110, und C. Neumann, Über die Prinzipien der Galilei-Newtonschen Theorie, 1870, 8. 15. Die allgemeinen Naturgesetze. 487 Anleitung der Erfahrung gebildet wird, wobei wir der Regel folgen, nichts in unsere Voraussetzung aufzunehmen, was nicht durch das Be- dürfnis der kausalen Erklärung der Erfahrungen gefordert wird. Wie wir auf diese Weise dazu gelangen, bei der Anordnung der Materie im Kleinen leere Räume zwischen ihren Elementen anzunehmen, so könnten wir darum auch in Bezug auf ihre Anordnung im Großen ohne Wider- spruch zu einer Hypothese geführt werden, welche die Endlichkeit der Masse in sich schließt, indem sie entweder eine räumliche Begrenzung der materiellen Welt oder eine Verteilung derselben im unendlichen Raume voraussetzt, bei der die Masse endlich bleibt. Die erste dieser Möglichkeiten würde mit der physikalischen Annahme, daß die materiellen Atome vermöge ihrer Bewegungsenergie überall bestrebt sind den leeren Raum zu erfüllen, im Widerspruche stehen. Dagegen würde die zweite, wonach die Materie dergestalt um einen bestimmten Schwerpunkt verteilt wäre, daß ihre Dichtigkeit von einer gewissen Grenze an immer mehr und zuletzt ins Unendliche abnimmt, nicht nur mit den sonstigen physikalischen Voraussetzungen im Einklange sein, sondern sie würde auch der allgemeinen Forderung der kosmischen Mechanik nach einem festen Punkt, auf den alle Bewegungen bezogen werden, entsprechen. Zugleich könnte das Gesetz der Konstanz der Energie die Bedeutung eines universellen Naturgesetzes bewahren; denn es ist klar, daß der Begrifi einer solchen Konstanz nur bei einem endlichen System von Massen einen bestimmten Sinn besitzt. Auf der anderen Seite aber würde die aus dem Verwandlungsgesetz gezogene Folgerung in Bezug auf den Stillstand der kosmischen Veränderungen in end- licher Zeit hinwegfallen, da eine solche Folgerung nicht mehr statt- haft ist, sobald sich die Materie über einen unendlichen Raum ver- breitet. Sollte schließlich dieser Hypothese entgegengehalten werden, auch die Annahme einer Abnahme der materiellen Masse nach dem Ge- setz einer konvergierenden Reihe schließe eine vollendete Unendlich- keit ein, so würde dieser Vorwurf durch die Bemerkung zurückzuweisen sein, daß er auf einer Verwechslung des Endlichen mit dm MeBß- baren beruht. Eine Größe kann endlich sein, ohne daß es möglich ist, sie in einer bestimmten Zahl anzugeben. Wir könnten aus dem Gesetz der Verteilung der Materie schließen, daß sie von endlicher Masse sei, ohne diese Masse wirklich messen zu wollen. In der Tat hat ja in der obigen Voraussetzung der Begriff der Masse von den zwei Unendlichkeiten, die man in ihm vereinigt denken kann, der unend- lichen Größe und der unendlichen Ausdehnung im Raume, nur die erstere verloren, während die zweite in der nämlichen infiniten Be- 488 Die Hauptgebiete der Naturforschung. deutung erhalten geblieben ist, die Raum und Zeit selbst in allen ihren physikalischen Anwendungen besitzen müssen. So sehr nun aber auch die gegenwärtig gültigen physikalischen Vorstellungen einer solchen Gestaltung des kosmologischen Grenz- begrifis das Wort zu reden scheinen, so soll damit doch nicht behauptet werden, daß sie auch die logisch vorzüglichste sei, oder daß sie mut- maßlich physikalisch das Feld behaupten werde. Ist das Transfinite überhaupt ein physikalisch unzulässiger Begriff, so kann er auch nicht auf jenem indirekten Wege der zeitlosen Fortpflanzung einer Bewegungs- energie eingeführt werden. So ergibt sich auch von dieser Seite die Wahrscheinlichkeit, daß die Gravitation auf Fernewirkungen zurück- zuführen sein wird, die sich mit sehr großer, aber nicht unendlicher Ge- schwindigkeit fortpflanzen. Die empirischen Data für eine solche An- nahme müßten astronomischen Beobachtungen entnommen werden. Obgleich solche bis jetzt nicht vorliegen, so ist übrigens die Annahme einer unendlichen Geschwindigkeit der Gravitation zunächst nur in dem Sinne gefordert, daß sie jeden für uns meßbaren endlichen Raum in verschwindender Zeit durchdringt. Als eine weitere Folge der dreifachen Unendlichkeit würde dann noch die eintreten, daß von einer universellen Gültigkeit des Gesetzes der Konstanz der Energie, wenn man unter einer solchen die Gültigkeit für das Ganze der Welt versteht, nicht mehr geredet werden könnte. Eine physi- kalische Größe ist konstant, wenn sie niemals zu- oder abnehmen kann. Eine unendliche Zahl kann aber um beliebige endliche Größen vermehrt oder vermindert werden, ohne daß sie sich darum in ihrer Größe merk- lich verändert. Das physikalische Maß der Konstanz ist also überhaupt nur auf endliche Größen oder auf abgeschlossene Massensysteme an- wendbar. Da nun die einzelnen kosmischen Massensysteme niemals absolut abgeschlossen sein können, so würde unter der Voraussetzung eines dreifach unendlichen Universums das Energiegesetz nur eine relative, für gewisse nach Zeit und Raum abgegrenzte Teile der Welt annähernd zutrefiende Gültigkeit bewahren. Es versteht sich von selbst, daß hierin nicht im mindesten ein Widerspruch gegen jene Voraussetzung liegt. Vielmehr zeigt sich gerade an den aus dem Verwandlungsgesetz gezogenen Folgerungen, daß die an ein end- liches System geknüpfte absolute Gültigkeit der Energiegesetze einer Korrektur bedarf, die am wirksamsten durch den Übergang zu dem Begrifi der dreifachen Unendlichkeit herbeigeführt wird. Die chemischen Methoden. 489 Zweites Kapitel. Die Logik der Chemie. 1. Die chemischen Methoden. a. AllgemeineAufgabenderchemischen Untersuchung. Indem sich die Chemie die Aufgabe stellt, die Erscheinungen zu untersuchen, die mit den stofflichen Eigenschaften der Körper zusammenhängen, hat sie vor allem Rechenschaft zu geben von den Eigenschaften der einfachen Stofie, der durch unsere Hilfsmittel nicht weiter zerlegbaren Elemente, die in der Natur vorkommen. Sie hat sodann die Bedingungen, unter denen diese Elemente zu Verbindungen zusammentreten, sowie die Beziehungen zu ermitteln, in welchen die Eigenschaften der zusammengesetzten Körper zu denen ihrer Bestand- teile stehen. Damit Hand in Hand geht die Aufsuchung der Ursachen, durch welche die zusammengesetzten Stofie in ihre Elemente zerlegt werden, sowie die Feststellung der physikalischen Erscheinungen, von denen die Verbindungen und Zersetzungen der Körper begleitet sind. Das Ziel, das die Chemie durch die Ergebnisse aller dieser Einzelunter- suchungen zu erreichen hofit, ist somit im allgemeinen ein doppeltes: es besteht in der Kenntnis der Stoffe und ihrer Verbindungen, und in dem Studium der Verbindungs- und Zerlegungsprozesse und ihrer Begleiterscheinungen. Der erste Teil dieser Aufgabe findet seine Verwirklichung in einem System derchemischen Verbin- dungen, der zweite in einer Theorie der chemischen Stoffbewegungen. Die Existenz der chemischen Verbindungen legt unmittelbar die Annahme eigentümlicher Anziehungen zwischen den Bestandteilen derselben nahe. Diese Annahme findet in dem Begriff der chemi- schen Affinität ihren Ausdruck, einem Begriff, den die Chemie schon in ihren Anfängen gewonnen hat, und der eben deshalb an und für sich völlig unbestimmt ist, da er die Ermittlung der Ursachen che- mischer Verbindungen durchaus der näheren Untersuchung vorbehält. Von den beiden Teilen des chemischen Lehrgebäudes, in welchem diese Untersuchung abschließt, dem System der chemischen Verbindungen und der Theorie der chemischen Stoffbewegungen, ist es speziell der letztere, dem die Beantwortung der Frage nach dem Wesen der Affinität zufällt. Nun kann erst mit Hilfe dieser Theorie eine rationelle Klassi- fikation der Verbindungen gewonnen werden, während anderseits die 490 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Erkenntnis der Stofibewegungen wiederum eine gewisse Übersicht der Verbindungen voraussetzt. Hierdurch entsteht eine ziemlich ver- wickelte Wechselwirkung beider Untersuchungsgebiete. In den An- fängen und zum Teil noch in dem gegenwärtigen Zustande der Wissen- schaft war der Einfluß der systematischen Klassifikation auf die theo- retischen Anschauungen der vorwaltende; doch ist die umgekehrte Rückwirkung in der neueren Entwicklung der Chemie zu immer größerer Bedeutung gelangt. Insofern die Kenntnis der quantitativen Ver- bindungsverhältnisse der Stoffe, die das System bietet, an und für sich schon gewisse Aufschlüsse über die aus der Affinität der Elemente hervorgehenden Gleichgewichtszustände gewährt, pflegt man wohl auch die aus solchen Betrachtungen hervorgehenden theoretischen An- schauungen einer chemischen Statik zuzurechnen und dieser die eigentliche Theorie der Stoffbewegungen als chemischeDyna- mıik gegenüberzustellen. Da wir nun auf die Art der Stoffbewegungen hauptsächlich aus den begleitenden optischen, thermischen, elektrischen Erscheinungen sowie aus den Veränderungen, die bei den chemischen Umsetzungen in den physikalischen Konstanten der Körper, in ihrer Dichtigkeit, Wärmekapazität, ihrem Brechungs- und elektrischen Leitungsvermögen u. s. w., eintreten, Rückschlüsse machen können, so sieht sich bereits die chemische Statik, noch mehr aber die Dynamik genötigt, physikalische Untersuchungen zu Hilfe zu nehmen. Dies hat zunächst zur Abtrennung einer „physikalischen Chemie“ Ver- anlassung gegeben, einer Übergangsdisziplin, die jedoch, in dem Maße als sie auf die allgemeine Richtung der chemischen Wissenschaft Ein- fluß gewann, wieder in eine allgemeine oder theoretische Chemie sich umwandelte. Die Chemie ist diejenige Naturwissenschaft, in der die Methoden der Induktion ihre schärfste Ausprägung gefunden haben. Äußere und innere Ursachen wirken hierbei zusammen. Wie die deduktive Natur der Mathematik und theoretischen Physik wesentlich durch die klare Erkenntnis der mathematischen und mechanischen Prin- zipien bedingt ist, von denen die Erklärung ausgehen kann, so ver- dankt umgekehrt die Chemie ihre methodischen Eigenschaften zum Teil der Unsicherheit, in der man sich in ihr über die notwendigen prinzi- piellen Voraussetzungen befindet, noch mehr aber dem Umstande, daß in ihr das induktive Verfahren besonders günstige Bedingungen vorfindet. Während bei physikalischen Problemen alle Einzelaufgaben innig in- einander eingreifen, so daß sich meist bei einer und derselben Unter- suchung verschiedene logische Methoden kombinieren, sondern sich auf Die chemischen Methoden, 491 chemischem Gebiete deutlicher die einzelnen Verfahrungsweisen. Denn die Stoffbestandteile sind in gewissem Sinne stabiler als andere Natur- erscheinungen. Sie gestatten es der Forschung, die Probleme, die sich ihr in Bezug auf die materielle Zusammensetzung der Körper darbieten, in regelmäßig geordneter Folge von Stufe zu Stufe zu lösen, und selbst in solchen Fällen, wo die späteren Aufgaben noch nicht lösbar sind, bieten die zunächst zugänglichen ein hinreichendes Interesse dar, um sie selbständig in Angriff zu nehmen. So kommt es, daß schon die der Induktion als vorbereitende Hilfsmittel dienenden Methoden der Analyse und Synthese namentlich in Bezug auf ihre elemen- taren Formen innerhalb der chemischen Forschung klarer als in irgend einem anderen Gebiete entwickelt sind. b.Diechemische Analyse. Die erste Frage, mit der wir an die Untersuchung der stofllichen Eigenschaften eines Körpers herantreten, ist die nach seiner Zusammen- setzung aus einfacheren Bestandteilen. Die Analyse ist daher historisch die zuerst zur Ausbildung gelangte chemische Methode, und sie bleibt fortan diejenige, die bei einer konkreten Untersuchung allen anderen voranzugehen pflegt. In den alchemistischen Anfängen der Chemie war sie noch getrübt durch die aus der Aristotelischen Elementenlehre über- kommene Annahme einer Verwandlungsfähigkeit der einfachen Stoffe. Erst Robert Boyle stellte, indem er diese Annahme beseitigte, der chemischen Untersuchung das bestimmte Ziel, die unveränderlichen Elementarbestandteile der Körper nachzuweisen. Er wurde dadurch der eigentliche Schöpfer der chemischen Analyse, die er zum ersten Male mit diesem Namen in die Wissenschaft einführte*). Seine Analyse ist aber noch ausschließlich eine qualitative: sie begnügt sich mit dem Nachweis der Bestandteile einer Verbindung. Dennoch lag bereits in den korpuskularen Vorstellungen, die sich dieser Chemiker von dem Wesen der Verbindungen machte, der Keim zu der Entwicklung messen- der Untersuchungen. Indem er sich nämlich die Körper aus kleinsten und unveränderlichen Teilchen bestehend dachte, von deren wechsel- seitigen Anziehungen alle Verbindungs- und Zersetzungserscheinungen abhingen, wurde unmittelbar die Frage nahegelegt, in welchen Menge- verhältnissen sich die Teilchen verschiedener Elemente in den zusammen- gesetzten Körpern verbinden. Noch aber fehlte dem Zeitalter Boyles die bestimmte Idee der Verbindung der Elemente nach konstanten *) Vgl. Kopp, Geschichte der Chemie, II, S. 58. 492 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Gewichtsverhältnissen. Erst die Chemiker des 18. Jahrhunderts, ein Bergmann und Wenzel, die von dieser Idee ausgingen, wurden dadurch Urheber der quantitativen Analyse. Diese blieb jedoch in ihrem Fortschritt gehemmt, so lange die phlogistische Verbrennungstheorie durch die Annahme eines Stofis von negativer Schwere, des Phlogiston, die Ausbildung folgerichtiger Vorstellungen über die chemischen Ver- bindungserscheinungen unmöglich machte. Indem Lavoisiers Ver- brennungstheorie diese Unklarheit beseitigte, bestätigte sie zugleich nach vorübergehenden Kämpfen die Voraussetzung, daß die konstanten Gewichtsverhältnisse der Elemente einer Verbindung einfachen und regelmäßigen Zahlenverhältnissen entsprechen. Durch dieses Gesetz der multiplen Proportionen wurde nunmehr der quantitativen Analyse eine Reihe bestimmter Aufgaben gestellt und zugleich der Weg gezeigt, auf dem mit ihrer Hilfe ein auf die dauernden Affinitätswirkungen der Elemente gegründetes System der chemischen Verbindungen zu erreichen war. So ist hier von Stufe zu Stufe die Ausbildung der analytischen Methoden von Ideen ausgegangen, die ursprünglich einen hypothetischen Charakter besaßen, dann aber infolge der empirischen Bestätigungen, die sie erfuhren, den Wert von Prinzipien gewannen, die für alle ein- zelnen Verfahrungsweisen maßgebend wurden. Das Gesetz der Un- veränderlichkeit der Stoffelemente bildete die Grundlage einer rationellen qualitativen Analyse; aus dem Gesetz der Verbindung nach konstanten Gewichtsverhältnissen gingen die ersten Anfänge der quantitativen Analyse hervor, und das Gesetz der multiplen Proportionen lieferte endlich die stöchiometrischen Grundsätze, die für die Verwertung der Resultate dieser Analyse maßgebend wurden. Als sich die chemische Untersuchung in den Anfängen ihrer Ent- wicklung befand, lag ihre größte Schwierigkeit darin, daß die elementaren Bestandteile der Körper erst aufgefunden werden mußten, während doch die methodische Zerlegung einer Verbindung in ihre Bestandteile eigentlich schon eine Kenntnis der Elemente und ihrer Eigenschaften voraussetzt. Darum machen hier die frühesten analytischen Versuche in viel höherem Grade als im Gebiet der physikalischen Forschung den Eindruck eines unsicheren Umhertastens. Der einzige einigermaßen zuverlässige Weg war, daß man zunächst die Eigenschaften solcher Stoffe untersuchte, die sich den gewöhnlichen Trennungsmitteln gegen- über als unzerlegbar erwiesen hatten, und daß man nun nachforschte, welche unter den so gefundenen Elementen aus einer gegebenen Ver- bindung sich ausscheiden ließen oder an deren Eigenschaften wieder zu erkennen seien. Der Durchführung dieser Methode stand aber die Die chemischen Methoden. 493 mangelhafte Ausbildung der analytischen Operationen im Wege. Die früheste Chemie, von der Metalluntersuchung ausgehend, kannte fast nur die Schmelzung in der Hitze, meist unter Beihilfe zufällig als nütz- lich erfundener Zusätze zu den Metallerzen oder Legierungen, ein Ver- fahren, das ausschließlich der Ausscheidung des edleren Metalls aus Ver- bindungen oder Gemengen diente. Allmählich gesellte sich dazu die An- wendung der einfachsten physikalischen Hilfsmittel zum Behuf der Isolierung bestimmter Verbindungen von anderen, mit denen sie mecha- nisch gemengt vorkommen: so die Sublimation und Destillation für die Trennung flüchtiger Stoffe, der Gebrauch der Lösungsmittel zum Zweck der Scheidung der unlöslichen von den löslichen Bestandteilen. Zuletzt wurde die dritte und wichtigste Klasse analytischer Operationen ausgebildet, darin bestehend, daß man die zu untersuchenden Stoffe an den Erscheinungen erkennt, die sie infolge der chemischen Wechsel- wirkung mit anderen Stoffen von bekannten Eigenschaften, den so- genannten Reagentien, darbieten. Die chemische Einwirkung des Reagens kann hierbei wieder durch erhöhte Temperatur oder durch Lösung vermittelt werden. Diese dritte Methode ist für die analytische Chemie die weitaus fruchtbarste geworden; ihr gegenüber hat nament- lich die zweite mehr den Charakter eines vorbereitenden Hilfsmittels angenommen, welches dazu dient, die chemischen Verbindungen eines Gemenges in gewisse Gruppen zu trennen, die dann gesondert der näheren Analyse mittels der Reagiermethode unterworfen werden. Die letztere aber gestattet es teils durch die Niederschläge, welche die aus der Einwirkung der Reagentien hervorgehenden Verbindungen bilden, teils durch die charakteristischen Färbungen, welche die Ver- bindungen annehmen, die verschiedenen Bestandteile eines untersuchten Körpers zu erkennen. Ferner macht es die Kombination mit der Lösungs- methode möglich, allmählich aus einer komplizierten Stoffverbindung alle einzelnen Bestandteile teils direkt, teils mit Hilfe chemischer Bindung zu isolieren, indem man die zuerst erhaltenen Niederschläge mit Lösungs- mitteln behandelt, in den gewonnenen Lösungen wieder Niederschläge hervorbringt, u. s.w. Durch dieses Verfahren der sukzessiven Isolierung der Stoffe wird die Reagiermethode namentlich auch das wirksamste Hilfsmittel der quantitativen Analyse. Dagegen liegt es in dem Wesen dieser Methode, daß sie in der Regel nicht zu einer vollständigen Zerlegung der Körper in ihre ein- fachen Bestandteile zu führen vermag. Indem sie nämlich im allge- meinen die gegebenen Verbindungen in andere Verbindungen über- führt, deren Eigenschaften eine leichtere Isolierung gestatten, wird es 494 Die Hauptgebiete der Naturforschung. ihr nur in seltenen Ausnahmefällen möglich, die letzten Elemente der Körper direkt darzustellen. In dieser Beziehung treten ihr daher zwei physikalische Hilfsmittel ergänzend zur Seite, deren rationeller Be- nützung vorzugsweise die neuere Chemie ihre Kenntnis der elementaren Stoffe verdankt. Sie bestehen in der Zerlegung durch die Wärme und durch den elektrischen Strom. Obgleich, wie schon oben bemerkt, die Benützung erhöhter Temperatur, speziell zum Zweck der Reindarstellung der edeln Metalle, eines der frühesten analytischen Hilfsmittel bildete, so beginnt doch die bewußte, von der Einsicht in die physikalischen Wirkungen der Wärme geleitete Anwendung dieses Verfahrens erst mit Lavoisier, und es liegt darin zum Teil die epoche- machende Bedeutung der wissenschaftlichen Richtung, die er einschlägt. Während die vorangegangene Chemie an der Hand der Reagiermethode nur sporadisch mit elementaren Stoffen bekannt geworden war und sichere Hilfsmittel der Unterscheidung zwischen den zusammengesetzten und einfachen Körpern überhaupt noch nicht besaß, wird von Lavoisier und seinen Nachfolgern die Aufgabe der vollständigen Zerlegung der Körper in ihre Elemente mit Erfolg in Angriff genommen, an die dann unmittelbar die Frage nach der Gruppierung der Elemente in den Ver- bindungen oder nach der Elementarkonstitution der Körper sich an- schließt. Bei diesem Übergang kommt der Einführung eines weiteren chemischen Scheidemittels von physikalischer Natur, der Elektrizität, die größte Bedeutung zu. Denn die Ausscheidung der verschiedenen Bestandteile einer Verbindung an den beiden Polen des galvanischen Stromes erweckte zugleich bestimmte Vorstellungen über die Art der wechselseitigen Bindung der Elemente, wodurch, abgesehen von der Richtigkeit der so entstandenen Vorstellungen, jedenfalls das Problem der Elementarkonstitution zu klarerem Bewußtsein gebracht wurde. Hiernach können wir allgemein die Hilfsmittel der chemischen Analyse in solche von physikalischem und in solche von spezi- fisch cehemischem Charakter unterscheiden. Ein Teil der ersteren benützt ausschließlich Bewegungsvorgänge, an denen dieungetrenn- ten chemischen Moleküle beteiligt sind. Hierher gehören die seit alter Zeit geübten Verfahrungsweisen der Lösung, Filtration, Destillation und Sublimation, zu denen in neuerer Zeit noch, als ein die mechanische Scheidung gewisser Lösungsgemenge vermittelnder Vorgang, die Diffusion getreten ist. Alle diese Hilfsmittel, die sich auf die Aggregatverhältnisse der Körper stützen, besitzen im ganzen nur einen vorbereitenden Charakter: sie bezwecken nicht die Zerlegung der Verbindungen selbst, sondern deren Aus- Die chemischen Methoden. 495 scheidung aus Gemengen zum Behuf der nachfolgenden eigentlichen Analyse. Anders verhält es sich mit den physikalischen Methoden, welche die inneren Bewegungsvorgänge der chemischen Moleküle verwerten, wie de Wärme und den elektrischen Strom. Ihr Streben ist dahin gerichtet, durch diese Bewegungen eine chemische Verbindung in ihre Elemente zu trennen. Wie jene mechanischen Vor- bereitungsmittel den Anfang, so bilden daher sie in der Regel das Ende der Analyse. In der Mitte zwischen beiden liegen dann die chemi- schen Methoden im engeren Sinne, die Reagiermethoden, die in plan- mäßiger Weise von den Affinitätsverhältnissen der Körper Gebrauch machen, um teils die durch mechanische Mittel nicht trennbaren Stoffe eines Gemenges, teils die näheren Bestandteile einer chemischen Ver- bindung qualitativ und quantitativ zu bestimmen. Dabei kann übrigens diese chemische Methode in der mannigfaltigsten Weise mit den voran- gegangenen physikalischen verbunden werden. So pflegt die Anwendung der Wärme durch die Zerlegungen, die sie bewirkt, zugleich neue Affini- täten freizumachen, wodurch sie von selbst zur Kombination mit der Reagiermethode führt, ein Verfahren, welches dann noch durch die absichtliche Hinzufügung von Reagensstofien unterstützt werden kann. Ein augenfälliges Beispiel dieser Art bietet die gewöhnliche Methode der organischen Elementaranalyse, bei der durch die Hin- zufügung einer leicht reduzierbaren Substanz im Überschuß zu dem einer starken Temperaturerhöhung ausgesetzten organischen Stoff die vollständige Verbrennung des Wasserstoffs zu Wasser und des Kohlen- stofis zu Kohlensäure eintritt, worauf man dann beide in gasförmigem Zustand mit Stoffen in Berührung bringt, die zu den gebildeten Ver- brennungsprodukten eine starke Affinität äußern. Hierdurch werden beide Gase in fixe Verbindungen übergeführt, in denen sie leicht durch Wägung bestimmt werden können. Ähnlich pflegt sich die Zersetzung durch den galvanischen Strom sofort mit Affınitätswirkungen zu ver- binden. Bei der Einwirkung des Stroms auf wässerige Lösungen z. B. wirkt am negativen Pol der ausgeschiedene Wasserstoff reduzierend und am positiven der Sauerstoff oxydierend, sobald reduzierbare und oxydierbare Körper vorhanden sind. Mit den angeführten Hilfsmitteln ausgerüstet kann nun die che- mische Analyse zwei Ziele verfolgen. Das eine besteht in der Er- mittlung der Bestandteile eines gegebenen Kör- pers, das andere in dr Bestimmung der Elementar- konstitution einer chemischen Verbindung. Das erste Verfahren entspricht der allgemeinen Form der elementaren 496 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Analyse, das zweite ist ein spezieller Fall kausaler Analyse (Abschn. I, S.4 ff.). Auch hier muß selbstverständlich die erste der zweiten voraus- gehen; doch kann für manche praktische Zwecke und in solchen Fällen, wo die Konstitution der aufgefundenen Verbindungen bereits als be- kannt vorausgesetzt werden darf, mit der Lösung der elementaren Aufgabe die ganze Untersuchung abgeschlossen sein. Da es sich hierbei im allgemeinen nur um die Anwendung fest bestimmter Regeln handelt, die aus den bekannten Reaktionen der einzelnen Stoffe gewonnen sind, so trägt der gewöhnliche Gang der qualitativen und quantitativen Analyse bei dem heutigen in Bezug auf die allgemeine Unterscheidung und Nachweisung der Elemente vorläufig beinahe schon abgeschlossenen Zustande der Chemie mehr einen technischen als wissenschaftlichen Charakter an sich. Nur in solchen Fällen, wo neue Untersuchungs- methoden der Elementaranalyse zu Hilfe kommen, wird für diese so lange ein höheres Maß erfinderischer Tätigkeit in Anspruch genommen, bis sich auch hier bestimmte Regeln der technischen Ausführung ent- wickelt haben. Abgesehen von solchen Ausnahmefällen beginnt aber die eigentlich wissenschaftliche Aufgabe erst mit der an die Resultate der Elementaranalyse sich anschließenden Untersuchung der elemen- taren Konstitution einer Verbindung, also mit der Frage, in welcher Weise die Elemente infolge der Affinitätswirkungen aneinander ge- kettet sind. Die erschöpfende Beantwortung derselben gehört an und für sich nicht mehr in das Gebiet der bloßen Analyse, sondern sie fällt erst der auf Grund analytischer und synthetischer Untersuchungen operierenden chemischen Induktion anheim. Gleichwohl ist es jene Frage, die schon der Analyse ihre Richtung anweist, und die zur An- wendung bestimmter analytischer Methoden geführt hat, die für die bloße Kenntnis der elementaren Bestandteile der Körper nicht erforder- lich sein würden. Nur bei den einfachsten chemischen Verbindungen ist mit der Elementaranalyse alles erledigt, was die analytische Untersuchung überhaupt zu leisten vermag. Sobald aber mehr als zwei Elemente in eine Verbindung eingehen, tritt an die Analyse die Aufgabe heran, nicht bloß die letzten Elemente nachzuweisen, sondern zunächst dar- zutun, ob und in welcher Weise die zusammengesetzte Verbindung in einfachere Verbindungen zerlegt werden kann. Es tritt so der Elemen- taranalyse die stufenweise Analyse gegenüber als diejenige analytische Methode, die der chemischen Induktion die für die Auf- findung der Konstitution der Verbindungen zunächst maßgebenden Erfahrungen entgegenbringt. Diese Methode wird ein umso unent- Die chemischen Methoden. 497 behrlicheres Hilfsmittel, je verwickelter sich die Verbindungen gestalten. Darum ist es vorzugsweise das Gebiet der organischen Chemie, in dem sie zur Entwicklung gelangt ist. Die Hilfsmittel, deren sie sich bedient, sind im wesentlichen die nämlichen, die auch bei der Elementaranalyse zur Anwendung kommen. Nur bringt in diesem Fall der Zweck der Analyse gewisse Beschränkungen mit sich, da dieser Zweck eine all- mähliche Zerlegung fordert, bei der die Zwischenstufen einfacherer Verbindungen möglichst vollständig durchlaufen werden. Unter den physikalischen Einwirkungen ist es vor allem die Wärme, die sich, weil sie selbst eine sehr vollkommene Abstufung zuläßt, zur Einleitung stufenweiser Veränderungen besonders geeignet erweist, sei es, daß sie für sich allein angewandt wird oder, wie es gewöhnlich geschieht, in Verbindung mit gewissen chemischen Affinitätswirkungen, die man durch sie zu steigern sucht. Selbst in den Fällen übrigens, wo ohne die Zuhilfenahme einer äußeren Affinität die Wärme zur Verwendung kommt, pflegt es an solchen begleitenden Affinitätswirkungen nicht zu fehlen. Denn indem die Wärme durch die Zunahme der molekularen Bewegungen, die sie erzeugt, die komplexen Verbindungen spaltet, ruft sie zugleich zwischen den so entstandenen Bestandteilen neue Affinitätswirkungen hervor, aus denen einfachere Verbindungen ent- springen. So zerfallen die sauerstofireichen organischen Säuren unter dem Einfluß der Wärme einerseits in die noch sauerstoffreicheren binären Verbindungen der Kohlensäure und des Wassers und ander- seits in einfachere organische Säuren von geringerem Sauerstoffgehalt; die sauerstoffarmen Fettsäuren spalten sich in Kohlensäure und in flüchtige, völlig sauerstofifreie Produkte, die Kohlenwasserstoffe. Ähnlich wie in diesen Fällen der in den ursprünglichen Verbin- dungen vorhandene Sauerstoff unter dem Einfluß der Wärme Affini- tätswirkungen äußert, die auf die Art der Zerlegung von wesentlichem Einflusse sind, so spielen auch unter den äußeren Reagentien, welche Zerlegungen einleiten, die Oxydationsmittel, wie die Salpetersäure, die Hyperoxyde, die Hydrate der Alkalien, die hervorragendste Rolle. Durch die Oxydation der zusammengesetzten Fettsäuren z. B. ent- stehen einerseits einfachere flüchtige Fettsäuren, anderseits gewisse fixe Säuren, wie Bernsteinsäure, Oxalsäure u. s. w., beide von höherem Sauerstoffgehalt. Das tierische und pflanzliche Eiweiß liefert teils eine Reihe flüchtiger Fettsäuren, teils Ammoniakderivate, und diese zu- nächst entstehenden Produkte können durch weitere Einwirkung des Sauerstoffs schließlich vollständig in die binären Verbindungen Kohlen- säure, Wasser und Ammoniak übergeführt werden. Wundt, Logik. I. 3. Auf. 32 498 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Der Versuch, andere Elemente von starker Affinität in ähnlicher Weise wie den Sauerstofi zur Zerlegung der zusammengesetzten Kohlen- stoffverbindungen .zu verwenden, bildet einen wichtigen Wendepunkt in der Entwicklung der organischen Chemie. Insbesondere ist das Chlor in diesem Sinne benützt worden; neben ihm die nächstverwandten Elemente Brom und Jod, außerdem Schwefel, Phosphor, Arsen und die mit starken Affinitätswirkungen begabten Metalle. Die so bewirkten Veränderungen unterscheiden sich jedoch von den Sauerstofizer- setzungen organischer Substanzen wesentlich dadurch, daß, sofern nicht andere analytische Hilfsmittel, wie die Wärme und Oxydation, zu Hilfe gerufen werden, die Einwirkung des zersetzenden Elementes sich darauf beschränkt, daß es an der Stelle eines anderen Elementes, welches frei wird, in der Regel des Wasserstofls, in die Verbindung eintritt. Man be- zeichnet aus diesem Grund derartige Zersetzungen als Sub- stitutionen. Zugleich aber ist klar, daß sie ihrem allgemeinen Charakter nach den Übergang zu den synthetischen Methoden bilden. In der Tat kann man die Überführung einer Verbindung in ein Sub- stitutionsprodukt gleicher Stufe als einen Vorgang betrachten, bei dem sich eine einfache Zerlegung, z. B. die Ausscheidung von Wasserstoff durch die Affinität des Chlor, und eine einfache Synthese, der Eintritt von Chlor an die Stelle des ausgeschiedenen Wasserstoffs, unmittelbar aneinander anschließen. ce. Diechemische Synthese. Nachdem die chemische Analyse die zusammengesetzten Körper zerlegt hat, entsteht die umgekehrte Aufgabe: die Verbindungen aus ihren Elementen zusammenzusetzen. Durch die Lösung dieser Auf- gabe sollen die Entstehungsbedingungen der Verbindungen erkannt, zugleich aber die Resultate der stufenweisen Analyse geprüft werden, um auf diese Weise eine vollständigere Grundlage für die chemische Induktion zu gewinnen. Die äußeren Hilfsmittel der chemischen Synthese sind nun mit denen der Analyse völlig übereinstimmend. Wärme, Elektrizität und chemische Affinität sind auch hier die hauptsächlichsten Agentien. Dies hat seinen naheliegenden Grund darin, daß die synthetischen Opera- tionen immer analytische voraussetzen, die ihnen unmittelbar voran- gehen müssen. Die Elemente, die in eine neue Verbindung eintreten sollen, müssen aus anderen Verbindungen getrennt werden. Die che- mische Synthese stützt sich daher auf die Affinität, welche die Elemente im Status nascendi entwickeln, und ihre Hilfsmittel sind analytische; Die chemischen Methoden, 499 sie sind dazu bestimmt, durch die Zerlegung vorhandener Verbindungen einen Status nascendi herbeizuführen, durch den sich ohne weitere Bei- hilfe die beabsichtigte Synthese vollziehen muß. Das Verständnis der synthetischen Operationen, namentlich insoweit die elementaren Körper an ihnen beteiligt sind, ist deshalb wesentlich erst durch die Annahme einer wechselseitigen Bindung gleichartiger Atome in den einfachen Stoffen, sowie durch die Anschauungen der neueren Wärmetheorie über den Bewegungszustand der Körperelemente ermöglicht worden, und die synthetischen Prozesse haben ihrerseits zur Befestigung dieser theo- retischen Vorstellungen beigetragen. Eine Mischung aus 2 Volum- teilen Wasserstoff und 1 Volum Sauerstofigas kann bei mäßiger Tem- peratur eine beliebig lange Zeit aufbewahrt werden, ohne daß die Affinität der beiden Gase zueinander rege wird, während ein wieder- holtes Durchschlagen des elektrischen Funkens genügt, um in kurzer Zeit das Gasgemenge in Wasser zu verwandeln. Diese und zahlreiche ähnliche Erscheinungen werden vollkommen verständlich, wenn man voraussetzt, daß in dem Wasserstoff und Sauerstoff die gleichartigen Atome aneinander gebunden sind, aus dieser Verbindung aber durch die Erschütterung, die der elektrische Funke bewirkt, getrennt werden, so daß nun erst die Affinität der ungleichartigen Atome zur Wirkung gelangen kann. Auf das nämliche Prinzip läßt sich die Wirkung der Wärme zurückführen, die ein noch allgemeiner gebrauchtes Hilfsmittel zur Hervorbringung des für die chemische Synthese erforderlichen Ent- stehungszustandes ist. Die Einwirkung der genannten physikalischen Agentien genügt in der Regel, um die einfachen binären Verbindungen, wie z. B. die des Chlor, Jod, Sauerstoff, Schwefel u. s. w. mit dem Wasserstoff, die der meisten nichtmetallischen und metallischen Elemente mit dem Sauer- stoff, die einfachsten Kohlenwasserstoffe, auf synthetischem Wege zu erzeugen. Dagegen verlangen die zusammengesetzteren Verbindungen, namentlich des Kohlenstofis, außerdem noch die Zuhilfenahme be- stimmter Affinitätswirkungen, und es muß die Synthese eine stufen- weise sein, wenn sie in fundamentaler Form, d. h. von den Elementen ausgehend, durchgeführt werden soll. Diese stufenweise Synthese ent- spricht dann dem umgekehrten Verfahren der stufenweisen Analyse auch darin, daß sie neben ihr das hauptsächlichste Mittel ist, um einen Einblick in die Konstitution der Verbindungen zu erlangen. Eine be- sondere Wichtigkeit besitzt dabei die stufenweise Synthese der Kohlen- stoffverbindungen. In ihr spielt der Wasserstoff, als solcher oder in Verbindungen, eine ähnlich bedeutsame Rolle wie der Sauerstoff bei 500 Die Hauptgebiete der Naturforschung. der stufenweisen Zersetzung. Der Wasserstoff kann aber hierbei teils direkt an den Kohlenstoff gebunden, teils durch seine Affinität zum Sauerstoff wirksam werden, indem er sauerstoffreicheren organischen Stoffen Sauerstoff entzieht und dadurch sauerstoffärmere Verbindungen zurückläßt. Auf diese Weise verbindet sich die Synthese ähnlich mit dem Verfahren der Reduktion, wie die Analyse der organischen Substanzen die Oxydation zu Hilfe nahm. Direkte Wasserstoffbin- dungen kommen vor allem bei der Synthese der Elemente zu binären Verbindungen vor. So vereinigt sich der einfachste Kohlenwasserstoff, das Acetylen (C,H,), der unter dem Einfluß des elektrischen Funkens direkt aus den Elementen entsteht, in der Wärme mit weiteren Mengen Wasserstofis, indem aus ihm komplexere Kohlenwasserstoffe von höherem Wasserstoffgehalte hervorgehen. Ähnliche Umwandlungen vollziehen sich durch den Einfluß einfacher wasserstoffhaltiger Ver- bindungen, wie der Jodwasserstofisäure, in der Wärme. Wie in dem letzteren Fall die Affinität des Wasserstofis im Status nascendi benützt wird, so geschieht dies auch bei den Synthesen, die sich als Reduktions- vorgänge darstellen: so bei der Synthese der Ameisensäure (CH,O,) aus Kohlensäure und Wasser durch Einwirkung des metallischen Kalium, der Oxalsäure (0,H,O,) aus Kohlensäure und Natrium oder aus Cyan und Wasser, u. dergl. In den meisten dieser Fälle wird die starke Affinität der Alkalimetalle zum Sauerstoff als Reduktionsmittel ver- wertet. Da nun aber die einfachen Einwirkungen der elektrischen Ent- ladung und der Wärme genügen, um die binären Verbindungen des Kohlenstofis und Wasserstofis direkt aus den Elementen zusammen- zusetzen, so spielt bei der aufsteigenden Synthese der Kohlenstoffver- bindungen auch die Oxydation eine sehr wichtige Rolle; neben ihr kommt die Bindung anderer Elemente, wie des Chlors, der Alkali- metalle, sowie die direkte Aufnahme des Wassers zu mannigfacher Ver- wertung. So werden aus den Kohlenwasserstoffen auf synthetischem Wege Alkohole erzeugt, indem man zunächst durch Einwirkung von Chlor einen Chlorwasserstoffäther bildet und dann diesen durch Ein- wirkung von Kali oxydiert, wobei er in einen Alkohol und in Chlor- kalium zerfällt. Aus dem Alkohol läßt sich dann durch direkte Oxy- dation die zugehörige Säure gewinnen u. s. w. Indem sie auf diese Weise in der mannigfaltigsten Art die Affinitäts- wirkungen der Elemente benützt, stützt sich die chemische Synthese auf die bei der analytischen Untersuchung gewonnenen Ergebnisse über die Affinitätsverhältnisse der Stoffe. Die synthetischen Versuche selbst Die chemischen Methoden. 501 werden sodann durch Vermutungen über die Gruppierung der Elemente in den herzustellenden Verbindungen geleitet. Da durch die Aus- führung der Operationen solche Vermutungen bald bestätigt, bald widerlegt werden, so werden auf diesem Wege die mittels der Analyse gewonnenen Anschauungen über die Konstitution der Verbindungen berichtigt und die für die chemische Induktion und Deduktion erforder- lichen Voraussetzungen vervollständigt. d. Diechemischelnduktion. Die chemische Elementaranalyse begnügt sich mit der Nachweisung der unzerlegbaren Bestandteile einer Verbindung und ihres quantita- tiven Verhältnisses. Die stufenweise Analyse ermittelt die einfacheren Zwischenprodukte, die bei der allmählichen Zerlegung einer komplexen Verbindung entstehen. Die Synthese bestätigt und vervollständigt so- dann die hierbei erhaltenen Resultate, indem sie die Verbindungen teils aus ihren Elementen, teils aus einfacheren Verbindungen zusammen- setzt. Da nun aber die bei der stufenweisen Zerlegung entstehenden Zwischenprodukte in der Regel keineswegs in der Form, in der sie ge- wonnen werden, in der ursprünglichen Verbindung enthalten sind, und da ebenso bei der stufenweisen Synthese neue Stofigruppierungen sich bilden können, so geben diese Methoden niemals unmittelbaren Aufschluß über die Konstitution einer Verbindung. Vielmehr müssen zu diesem Zweck zahlreiche unter verschiedenen Bedingungen vor- genommene analytische und synthetische Untersuchungen kombiniert und mit den Untersuchungsresultaten an anderen verwandten Ver- bindungen verglichen werden. Diese Kombination der Resultate, bei der überdies die physikalischen Begleiterscheinungen der Zersetzungen und Verbindungen zu berücksichtigen sind, ist die Aufgabe der chemi- schen Induktion. Wie die physikalische Induktion, so bedarf auch die chemische irgendwelcher hypothetischer Voraussetzungen, die ihr zur Führung bei der Verknüpfung der Untersuchungsresultate dienen müssen. Diese Voraussetzungen werden irgend einer an sich noch unzureichenden Gruppe von Erfahrungen entnommen. Der weitere Fortschritt voll- zieht sich dann mittels der Bestätigung, Widerlegung oder Be- richtigung solcher Hypothesen, ein Entwicklungsgang, der zu einer immer vollständigeren Übereinstimmung der gewonnenen theoretischen Anschauungen mit den verschiedenartigen Erfahrungen führt. In der Chemie hat jedoch, wie in allen von der Physik abhängigen Zweigen der Naturlehre, diese Entwicklung dadurch einen eigentümlichen 502 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Charakter angenommen, daß vorwiegend durch die jeweils dominieren- den physikalischen Anschauungen zunächst den provisorischen Hypo- thesen, dann aber auch den definitiven theoretischen Ansichten ihre Richtung gegeben wurde. In dieser Beziehung lassen sich vier Perioden in der Entwicklung der neueren Chemie unterscheiden, in deren jeder eine eigentümliche Form der Induktion herrschend ist, wobei diese übrigens nur in einer jener vier Perioden ausschließlich von spezifisch chemi- schen Tatsachen, in den drei andern vorwiegend von physikalischen Anschauungen bestimmt wird. In der ersten Periode der chemischen Induktion ist es die Gra- vitationstheorie, welche die maßgebende Bedeutung besitzt. Schon der Umstand, daß sich die Chemie seit dem Beginn ihres quanti- tativen Zeitalters der W age als des einzig geeigneten Hilfsmittels zur Nachweisung der Mengeverhältnisse der Stoffe bediente, konnte auf die Schwerkraft als die nächste Ursache der chemischen Affinität hin- weisen, umsomehr, da auch diese als eine anziehende Kraft erschien. Denn das 18. Jahrhundert war unter der Nachwirkung der Newtonschen Gravitationstheorie ohnehin geneigt, alle Anziehungserscheinungen auf die allgemeine Schwere zurückzuführen. In zwei Formen hat nun die Idee der Gravitation auf den Begriff der Affinität Anwendung gefunden. Bei der ersten suchte man den Erfahrungen über die konstanten Ge- wichtsverhältnisse der in den Verbindungen enthaltenen Elemente un- mittelbar mittels bestimmter Voraussetzungen über die anziehenden Eigenschaften der kleinsten Teilchen der Körper Rechnung zu tragen; bei der zweiten suchte man die Abhängigkeit der Schweranziehung von der Masse direkt auch auf die chemische Anziehung anzuwenden und die mit dieser Voraussetzung im Widerspruch stehende Konstanz der Zusammensetzung gewisser Verbindungen aus physikalischen Neben- bedingungen zu erklären. Die erste Richtung ist durch Bergmann vertreten, der damit der Hauptbegründer des Begriffs der chemischen Affinität wird. Sie erscheint bei ihm als derjenige Spezialfall der Schwerkraft, wo diese zwischen den kleinsten Teilchen der Körper wirksam wird, so daß sie unmittelbar von deren Form und Stellung abhängig ist. Hierdurch soll es geschehen, daß sich gewisse Atome leichter anziehen als andere, und daß sie sich regelmäßig in be- stimmten Zahlverhältnissen aneinander lagern. So wird hier die allgemeine Anziehung zu einer „attractio electiva“, bei der alles von der ursprünglichen Natur der Elemente abhängt. Der Vertreter der zweiten Richtung ist Berthollet. Ihm gilt die Abhängigkeit der Anziehung von der Masse als ein festes Naturgesetz, das auch bei Die chemischen Methoden. 503 den chemischen Anziehungen keine wirklichen, sondern höchstens durch die Kombination mit anderen Naturgesetzen scheinbare Aus- nahmen erleiden kann. Als solche Nebenbedingungen, welche die Wirksamkeit der Massen in den kleinsten Entfernungen beschränken, betrachtet er die Unlöslichkeit mancher Verbindungen, die Kristallisier- barkeit anderer, den gasförmigen Zustand gewisser Stoffe. Aber mit so richtigem Blick er hierbei die von der starren Affinitätstheorie vernach- lässigte Bedeutung der physikalischen Bedingungen der Verwandt- schaftsäußerung vorausahnen mag, so ist er doch allzu sehr in der Gravitationsidee befangen, um der spezifischen Eigentümlichkeit der chemischen Erscheinungen gerecht werden zu können. Das Gesetz der konstanten Gewichtsverhältnisse der Elemente in den Verbindungen bleibt ihm eine Ausnahme, während es sich mehr und mehr durch die Fortschritte der quantitativen Analyse als die ausnahmslose Regel be- stätigt, die demnach auch den Hypothesen über das Wesen der che- mischen Verbindungen ihre Richtung anweist. So erringt die Berg- mannsche Affinitätslehre den Sieg, und sie führt zugleich, indem das Gesetz der konstanten Gewichtsverhältnisse durch Dalton zum Gesetz der multiplen Proportionen, d. h. der konstanten und einfachen Gewichtsverhältnisse, eingeschränkt wird, mit innerer Notwendigkeit zur atomistischen Hypothese. Die An- ziehungen zwischen den Atomen werden nun zwar vielfach noch als Anziehungen kleinster Massen gedacht. Nachdem aber der spezifische Inhalt des Gravitationsgesetzes verschwunden ist, steht der Unter- ordnung unter eine andere Naturkraft, die den Affinitätswirkungen homogener erscheint, nichts mehr im Wege. Eine solche Naturkraft bietet sich nun in der galvanischen Elek- trizität dar. Die zweite Periode der chemischen Induktion, zu welcher die auf das Gesetz der multiplen Proportionen gegründete atomistische Vorstellung den Übergang bildet, gehört daher derelektrochemi- schen Hypothese an. Zwischen den Erscheinungen der Volta- schen Säule und der chemischen Wahlverwandtschaft besteht an sich schon eine gewisse Analogie. Wie die entgegengesetzten elektrischen Spannungen der Pole sich ausgleichen in dem elektrischen Strom, so neutralisieren sich Stoffe von entgegengesetzten Eigenschaften, wie Säure und Basis, indem sie sich durch chemische Wahlverwandtschaft verbinden. Die im Jahre 1800 von Nicholson und Carlisle ent- deckte Wasserzersetzung durch die galvanische Kette, der bald die Nachweisung der zerlegenden Wirkung des Stromes auf andere Ver- bindungen nachfolgte, mußte daher sofort die Idee einer näheren Be- 504 Die Hauptgebiete der Naturforschung. ziehung der elektrischen Kraft zu der chemischen Affinität nahe legen. Auch diese Idee fand in zwei verschiedenen sukzessiv entstandenen hypothetischen Anschauungen ihren Ausdruck. Daß die Affinität auf den entgegengesetzten elektrischen Eigenschaften der chemischen Elemente beruhe, war die Überzeugung, von der beide ausgingen. Der Gegensatz der Elemente selbst konnte aber wieder entweder als eine bloße Folge ihrer Berührung betrachtet oder auf ursprüngliche Eigenschaften bezogen werden. In der ersten unmittelbar an die physi- kalische Kontakthypothese Voltas anknüpfenden Weise dachte sich Humphry Davy den elektrochemischen Vorgang, in der zweiten, welche die elektrischen Gegensätze in direkte Beziehung zur chemischen Affinität bringt, faßte Berzelius die Erscheinungen auf. Während dort die elektrischen Vorgänge immer noch als Begleiterscheinungen der chemischen Wechselwirkungen betrachtet werden können, werden hier beide einander gleichgesetzt: die chemische Affinität selbst ist der elektrische Gegensatz der Atome. Diese aber dachte sich Berzelius, nach Analogie der einfachen Kette oder des Magnetes, jedes mit einem positiven und einem negativen Pole versehen; nur sollte für die ver- schiedenen Elemente die absolute Elektrizitätsmenge und bei jedem einzelnen Elemente die relative der beiden Pole eine verschiedene sein, beim Sauerstoff also z. B. die negative, beim Wasserstoff die positive überwiegen. Die absolute Elektrizitätsmenge der Atome wurde dann als maßgebend für die Größe, das relative Übergewicht der einen oder anderen als maßgebend für die Richtung der Affinität betrachtet. Die aus dieser Hypothese hervorgegangenen Vorstellungen haben während einer längeren Zeit die chemische Induktion geleitet. Auch in solchen Fällen, wo nicht etwa die wirkliche Zerlegung durch den galvanischen Strom diese Betrachtungsweise unmittelbar rechtfertigte, gewöhnte man sich, die Resultate der chemischen Analyse nach dem dualistischen Schema zu interpretieren, das sich aus der elektrischen Spannungsreihe der Elemente ergab. Das Gebiet der sogenannten unorganischen Chemie fügte sich leicht diesem Schema. Die meisten zusammengesetzten Körper ließen sich hier unmittelbar entweder als binäre Verbindungen aus einem elektropositiven und einem elektro- negativen Bestandteile betrachten, wie die Säuren, Basen und Haloid- salze, oder als quaternäre Verbindungen, die wieder aus zwei binären bestünden, wie die Salze der Sauerstofisäuren. Zugleich hat diese ein- fache und gleichförmige Betrachtungsweise der chemischen Forschung zweifellos die größten Dienste geleistet, wenn auch einzelne Erschei- nungen sich nur gezwungen der Voraussetzung fügten. So erregte es Die chemischen Methoden. 505 frühe schon Bedenken, daß den Haloid- und den Sauerstoffsalzen trotz ihres ähnlichen Verhaltens eine ganz verschiedene Konstitution zu- geschrieben wurde, und daß gewisse Säuren, wie die Phosphor- und Arsensäure, mit verschiedenen Mengen einer Basis neutrale Salze bilden können*). Größere Schwierigkeiten ergaben sich jedoch erst innerhalb der Chemie der Kohlenstoffverbindungen. Hier wurde man mehr und mehr gezwungen, sich von den tatsächlichen Grundlagen der elektro- chemischen Hypothese zu entfernen, indem nicht mehr die wirkliche Zersetzbarkeit durch den elektrischen Strom, sondern die äußere Ana- logie der Verbindungsformeln mit denjenigen der unorganischen Chemie fast ausschließlich maßgebend wurde. Um diese Analogie herzustellen, sah man sich genötigt, zu einer Hilfshypothese zu greifen, die übrigens abgesehen von dem Gesichtspunkte, der zunächst auf sie führte, der chemischen Forschung wichtige Dienste geleistet hat. Es ist dies die Hypothese der Radikale oder der Existenz gewisser Verbindungen, die in zusammengesetzteren die Rolle von Elementen übernehmen. Mittels dieser Voraussetzung wurde es leicht möglich, die binären Formeln der unorganischen Chemie auf die Kohlenstofiverbindungen zu übertragen. Man betrachtete also z. B. den gewöhnlichen Äther als ein Oxyd des hypothetischen Radikals Äthyl, den Alkohol als das Hydrat dieses Oxyds und dachte sich die verschiedenen Ätherverbin- dungen analog den Salzen der Metalloxyde zusammengesetzt; um die in die nämliche Reihe gehörende Essigsäure abzuleiten, war man dann freilich genötigt, zu einem neuen wasserstoffärmeren Radikal seine Zu- flucht zu nehmen, als dessen Sauerstofiverbindung nun diese Säure erschien. Abgesehen von der hypothetischen Natur der angenommenen Radikale war hier die Analogie mit den unorganischen Basen, Hydraten und Salzen vielfach nur noch in den Formeln, nicht mehr in dem che- mischen Verhalten der Stoffe vorhanden, und noch weniger konnte an eine Durchführung des elektrochemischen Grundgedankens der dua- listischen Hypothese gedacht werden. Diese letztere Tatsache kam in besonders augenfälliger Weise zum Vorschein, als man auf die um- fangreiche Substituierbarkeit gewisser Elemente organischer Verbin- dungen durch andere aufmerksam wurde, Umwandlungen, bei denen die Verbindungen ihren chemischen Charakter beibehielten, obgleich dabei sehr häufig der elektropositive Wasserstoff durch elektronegative Elemente, wie das Chlor, ersetzt wurde. So ging denn auch von der Untersuchung der Substitutions- *) Liebig, Ann. d. Chem. u. Pharm., Bd. 25, 1838, S. 138 fi. 506 Die Hauptgebiete der Naturforschung. erscheinungen der Sturz der elektrochemischen Hypothese aus, und es eröffnete sich damit die dritte Periode der chemischen In- duktion, deren charakteristische Eigentümlichkeit in ihrer spezi- fisch chemischen Richtung besteht, insofern man nun die chemische Affinität nicht mehr als die Äußerung irgend einer allge- meineren Naturkraft, wie der Gravitation oder der elektrischen An- ziehung, sondern als eine den chemischen Atomen spezifisch zukom- mende Kraft anzusehen begann. Durch die Substitutionserscheinungen wurde man aber zugleich zu der Anschauung gedrängt, daß die Eigen- schaften einer Verbindung nicht sowohl von den Eigenschaften der in ihr enthaltenen Elemente als von der Gruppierung dieser Elemente abhingen. Das Hauptinteresse konzentrierte sich daher nun auf das Studium der Struktur der Verbindungen. Es entstand so jene hauptsächlich von Dumas, Gerhardt und Laurent eingeschlagene Richtung, die man als die der Strukturchemie bezeichnet hat. Zur Erkenntnis der Struktur einer Verbindung dient deren stufen- weise Analyse und ganz besonders das Verfahren der Substitution. Jedes Element, das einem anderen, und jede Atomgruppe, die einer anderen substitutiert werden kann, muß eben darum als denselben äquivalent in ihrer Affinitätswirkung angesehen werden. Die Haupt- aufgabe der chemischen Forschung ist es demgemäß, alle chemischen Verbindungen auf gewisse Haupttypen zurückzuführen, aus denen sie entweder wirklich durch sukzessive Substitution entstehen können, oder aus denen man sie wenigstens auf diesem Wege entstanden denken kann. Als solche Typen wurden zunächst Chlorwasserstofisäure (HC]), Wasser (H,O) und Ammoniak (H,N) aufgestellt, denen dann später noch das Sumpfgas (H,C) sich anreihte. Es läßt sich nicht verkennen, daß diese Auffassung, so unbefriedigend sie auch hinsichtlich der Frage nach dem Wesen der chemischen Affinität ıst, doch für die Entwick- lung der chemischen Induktion von großer Bedeutung, und daß sie selbst in dieser Entwicklung notwendig begründet war. Das ungeheure Material der Chemie, namentlich der Chemie der Kohlenstoffverbin- dungen, bedurfte dringend einer systematischen Ordnung, die es zu- gleich möglich machte, die etwa noch bestehenden Lücken des Systems zu erkennen und durch die Darstellung neuer Verbindungen auszufüllen. Diese Aufgabe hat die Strukturchemie in vollkommener Weise gelöst. Sie hat zum ersten Male eine Übersicht über die Gesamtheit der Verbin- dungen gegeben, in der die Methoden der stufenweisen Analyse und Synthese zur Herstellung natürlicher Gruppen möglichst verwertet wurden, und sie hat außerdem mit Hilfe der Substitutionsmethode Die chemischen Methoden. 507 das chemische System mit einer Fülle neuer Verbindungen bereichert. Aber der große Mangel dieser Richtung war, daß unter ihren Händen die Chemie völlig den Charakter einer erklärenden Naturwissenschaft verlor. Sie war eine deskriptive und klassifikatorische Wissenschaft geworden, in der selbst das Experiment nur zu systematischen Zwecken, zur Herstellung von Verbindungen, die das System voraussehen ließ, nicht zur Auffindung der Ursachen der Erscheinungen diente. Darum ist auch der in der Chemie meistens gebrauchte Ausdruck Typentheorie für die hier zu Grunde liegende Auffassung kaum ein geeigneter. Jede Theorie verlangt eine Hypothese, die über den Grund der untersuchten Erscheinungen Rechenschaft gibt. Eine der- artige Hypothese ist aber in der Annahme der Typen ebensowenig enthalten wie etwa in den Klassifikationsprinzipien des Linneschen oder Decandolleschen Pflanzensystems. Dennoch weist die sogenannte Typentheorie auf eine Affinitäts- hypothese hin, die denn auch in folgerichtiger Entwicklung aus ihr hervorgegangen ist. Trotz mancher Willkürlichkeiten leitete nämlich das von ihr aufgestellte System nicht bloß die chemische Induktion, sondern es wurde auch umgekehrt von ihr geleitet, da man die Resultate der stufenweisen Zerlegung und Substitution bei den aufgestellten Strukturformeln verwertete. So war das System zwar in den Haupt- gliederungen ein künstliches, in Bezug auf die Zusammenfassung der einzelnen Gruppen der Verbindungen aber im wesentlichen ein natür- liches. Notwendig mußten daher an den typischen Formeln die wirk- lichen Affinitätsverhältnisse der in sie eingehenden Atome und Atom- gruppen irgendwie zum Vorschein kommen, und es bedurfte im Grunde nur einer geeigneten Interpretation jener Formeln, um zu einer rein chemischen Affinitätshypothese zu gelangen. In der Tat ist auf diesem Wege aus den Anschauungen der Strukturchemie die sogenannte Valenzhypothese hervorgegangen, in welcher der von der ersteren angebahnte rein chemische Standpunkt seinen theoretischen Ausdruck fand. Die Valenzhypothese stützte sich auf die im allgemeinen schon aus den Strukturformeln ersichtliche Tatsache, daß die verschie- dene Affinitätsgröße der Elemente an den verschiedenen Atommengen anderer Elemente, die sie zu binden vermögen, gemessen werden kann. So lehrt schon der Anblick der Formeln für die vier Haupttypen Chlorwasserstoff, Wasser, Ammoniak, Sumpfgas, daß, wenn man die Affinität des in allen diesen Verbindungen enthaltenen Wasserstofts als Einheit annimmt, das Chlor eine, der Sauerstoff zwei, der Stickstoff drei und der Kohlenstoff vier Affinitätseinheiten besitzt. 508 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Demnach werden diese vier Elemente von der Valenzhypothese als 1-, 2-, 3- und 4-wertig bezeichnet. Die meisten anderen einfachen Stoffe zeigen entsprechende Affinitätsverhältnisse; nur einige der seltenen Ele- mente ist man genötigt als 5- und 6- oder selbst 8-wertige aufzufassen. Die nähere Betrachtung dieser Hypothese zeigt freilich, daß sie nur in unzureichender und einseitiger Weise von den Eigenschaften der chemischen Verbindungen Rechenschaft gibt. Sie berücksichtigt nur die quantitativen Verbindungsverhältnisse der Elemente, läßt aber die Abhängigkeit der Eigenschaften der Verbindungen von den Eigenschaften der in sie eingehenden Grundbestandteile, den größeren oder geringeren Grad der Zersetzbarkeit der Körper sowie ihr physi- kalisches Verhalten ganz außer Betracht. Dazu kommt, daß sich manche Verbindungen, wie das Kohlenoxyd, viele Kohlenwasserstoffe, dem Maßstab der konstanten Wertigkeit nicht fügen, und daß es nötig sein würde, für die meisten Elemente mehrere Valenzwerte anzunehmen, von denen in der Regel einer als die Hauptvalenz, die anderen als Neben- oder Kontravalenzen bezeichnet worden sind*). Diese Tatsachen weisen darauf hin, daß der Affinitätswert keine konstante, sondern eine mit äußeren Bedingungen, wie Temperatur, Einfluß anderer Stoffe, einiger- maßen variable Größe ist. Nur ist diese Größe nicht stetig, sondern, gemäß dem Gesetz der multiplen Proportionen, nach bestimmten ein- fachen ganzen Zahlenverhältnissen veränderlich, und außerdem scheint es für jedes Element einen bestimmten Maximalwert der 2; zu geben, der nicht überschritten werden kann. Diese Erwägungen leiten unmittelbar zu den Gesichtspunkten über, die in der vierten Periode der chemischen Induktion maß- gebend werden, in der die Mitberücksichtigung der physikalischen Bedingungen chemischer Wechselwirkungen im Vordergrund steht. Zunächst waren es hier die begleitenden Wärmeerscheinungen, die ebensowohl durch den Einfluß der Temperatur auf die Entstehung der Verbindungen und auf ihre Eigenschaften wie durch die Tempe- raturänderungen, welche die chemischen Vorgänge selbst hervorbringen, der Untersuchung eine Reihe von Fragen stellten, deren Beantwortung dann der chemischen Induktion neue Gesichtspunkte an die Hand gab. Dabei wurden diese außerdem durch die theoretischen Vorstellungen bestimmt, auf welche die mechanische Wärmetheorie in der neueren Physik an der Hand des Energieprinzips geführt worden war. Jene theoretischen Vorstellungen schienen zugleich eine gewisse Recht- *) Werner, Neuere Anschauungen auf dem Gebiete der anorganischen Chemie, 1905. Die chemischen Methoden. 509 fertigung für die überwiegende Berücksichtigung derthermischen Vorgänge gegenüber anderen die chemischen Prozesse begleitenden physikalischen Erscheinungen zu enthalten. Indem nämlich die mecha- nische Wärmetheorie die Wärmeerscheinungen auf die Bewegungen der ponderablen Teilchen der Körper zurückführt, muß sie die chemi- schen Zerlegungen und Verbindungen, die ebenfalls auf solchen Be- wegungen beruhen, als gleichartige Vorgänge auffassen, und sie wird von vornherein erwarten dürfen, daß jedem chemischen Vorgang ein bestimmter thermischer entsprechen werde, so zwar, daß beide als innig miteinander zusammenhängende Bestandteile eines und des- selben Prozesses erscheinen. Auf solche Weise trat diese vierte Periode in ihrem ersten Stadium den die erste und zweite beherrschenden physikalischen Ideen als eine Periode thermochemischer Theo- rien gegenüber. Dabei waltete auch hier noch ein Standpunkt vor, den zu verlassen die früheren Richtungen kein zwingendes Motiv vor- fanden, dessen Festhaltung aber namentlich durch den starren che- mischen Affinitätsbegriff, wie ihn die Valenzhypothese zur Geltung gebracht, gefordert war: der Standpunkt der statischen Betrach- tung chemischer Vorgänge. Er besteht darin, daß bei jeder Zersetzung oder Synthese nur der Anfangs- und Endzustand der in Wechselwirkung tretenden Stoffe in Betracht gezogen wird, ohne Rücksicht auf die etwa durchlaufenen Zwischenzustände, und ohne Rücksicht auf die Ge- schwindigkeit, mit der die Prozesse vor sich gehen. Auf die Untersuchung der thermischen Vorgänge ließ sich diese Beschränkung leicht über- tragen. Denn die bei der Oxydation eines Körpers entwickelte Verbren- nungswärme, die bei den meisten Zerlegungen eintretende Wärmebindung, die Wärmekapazität eines einfachen oder zusammengesetzten Körpers, endlich die unter Berücksichtigung der Temperatur und des Drucks eintretenden Volumänderungen gasförmiger Stoffe bei ihrer Verbindung oder Zerlegung sind statische Größen, insofern es sich bei ihrer Bestim- mung lediglich um die Vergleichung zweier Gleichgewichtszustände handelt, nicht um die Frage, wie der eine dieser Zustände in den anderen übergegangen sei. Gleichwohl liegt diese Frage hier so nahe, daß sie nicht auf die Dauer umgangen werden konnte. So entstand die Notwendigkeit, teils die einseitige thermische Betrachtung zu einer Untersuchung der gesamten die chemischen Prozesse begleitenden physikalischen Vorgänge zu erweitern, teils das bisher bei dem Studium der Prozesse meist völlig vernachlässigte Element der Zeit mit in Betracht zu ziehen. Auf diese Weise trat jener chemischen Statik eine chemische Dynamik mit neuen Aufgaben gegenüber. Indem diese 510 Die Hauptgebiete der Naturforschung. den chemischen Vorgang lediglich als Teilerscheinung eines Zusammen- hangs physikalisch-chemischer Vorgänge auffaßte, wurde nunmehr die chemische Induktion genötigt, auf alle Nebenbedingungen der Prozesse, wie die Massen der in Wechselwirkung tretenden Stoffe, die Vorgänge der Diffusion, der Lösung und der Dissoziation, endlich auf die optischen und elektrischen Begleiterscheinungen sorgfältig Rücksicht zu nehmen. Während so der Gesichtspunkt einseitig thermischer Betrachtung allmählich zurückgedrängt wurde, mußte notwendig der allgemeine physikalische Begrifi, auf den die thermochemische Untersuchung bereits hingewiesen hatte, noch mehr in den Vordergrund treten: der Begriff der Energie. So gewann denn diese vierte Periode der chemischen Induktion in einem zweiten Stadium vornehmlich den Charakter einer chemischen Energetik. Das Prinzip der Er- haltung der Energie, wie es eine wichtige Grundlage physikalischer Forschung ist, gilt hier als die letzte Voraussetzung auch der chemischen Induktion, und diese sucht die sämtlichen chemischen Affinitäts- wirkungen samt ihren Begleit- und Folgeerscheinungen aus ihm und aus dem ihm beigeordneten Prinzip der Verwandlungen der Energie abzuleiten. Wie die physikalische Wärmelehre die nächste Grundlage für die Gewinnung der allgemeinsten Energiegesetze gewesen war, so bildete die Thermochemie das natürliche Mittelglied zwischen den Affinitätsbegrifien der älteren Chemie und der energetischen Betrach- tung der chemischen Verbindungs- und Zersetzungsvorgänge. Beider- lei Vorgänge erschienen dabei unter dem durch das Energieprinzip nahe gelegten teleologischen Gesichtspunkt eines Haushalts der Natur- kräfte als die Hauptformen der Konservierung und Konzentrierung der Energie auf der einen und der Überführung aufgesammelter poten- tieller in aktuelle Energie auf der anderen Seite. Damit wurde die energetische Behandlung der chemischen Prozesse zugleich das ein- fachste Hilfsmittel für die allgemeine Betrachtung des Energiewechsels beim Lebensprozeß der Organismen wie bei der Arbeitserzeugung der auf die Umwandlung chemischer Energie in mechanische Arbeit gerich- teten Maschinen. Überall gestattete es hier der energetische Stand- punkt, von der Beschaffenheit der Molekularvorgänge und den zu ihrer Interpretation ersonnenen Hypothesen ganz zu abstrahieren, was umso wertvoller war, je unbekannter in manchen Fällen jene Vorgänge, oder je unsicherer die zu ihrer Erklärung ersonnenen Hypothesen waren*). *, W.Ostwald, Sitzungsber. der sächs. Ges. d. Wiss. 1891, S. 283, Grundlinien der energetischen Chemie. 1900, S. 17 ff. Abhandlungen und Vor- träge. 1904, S. 59ff. Leitlinien der Chemie. 1906, S. 216. Die chemischen Methoden, SIE Doch so nützliche Dienste die energetische Betrachtung bei der Untersuchung der äußeren Maßbeziehungen der chemischen Vorgänge zu den sie begleitenden physikalischen Erscheinungen leistet, so ver- sagt sie doch gerade da, wo es sich um das Studium der Affinitäts- wirkungen selbst und um die Analyse der inneren Beziehungen handelt, in denen diese Wirkungen zu bestimmten physikalischen Vorgängen stehen. So ist schon das Gesetz der multiplen Proportionen aus irgend- welchen energetischen Voraussetzungen nicht abzuleiten, sondern es weist dringend auf molekulare Gruppierungen der Stoffe hin, von denen sowie von deren Beziehungen zu thermischen, elektrischen, Diffusions- und anderen Vorgängen man sich notwendig ein anschauliches Bild machen muß, das aus den Betrachtungen über das wechselseitige Verhältnis der Energieformen nicht zu gewinnen ist. Das zeigt sich vor allem auch bei dem für die energetische Theorie hauptsächlich maßgebenden Verhältnis der chemischen Vorgänge zu den Wärme- erscheinungen. So sind denn die Versuche einer rein energetischen Behandlung ungefähr gleichzeitig mit der einseitig thermochemischen Betrachtungs- weise, mit der sie ursprünglich zusammengingen, in dem dritten und bis dahin letzten Stadium dieser physikalischen Periode chemi- scher Forschung zurückgetreten, um einer Richtung Platz zu machen, diein mancher Beziehung wieder in diejenige zurücklenkt, die in der klassi- schen zweiten Periode der chemischen Induktion die Wissenschaft be- herrscht hatte. Wie hier das Vorbild der Voltaschen Säule und der Vorgang der Zersetzung chemischer Verbindungen durch den galvani- schen Strom zu der Auffassung der chemischen Affinität als einer elek- trischen Anziehungskraft zwischen Elementen von entgegengesetzten elektrischen Eigenschaften geführt hatte, so gewann unter der Fülle physikalischer Beziehungen, die die energetische Behandlungsweise der chemischen Vorgänge teils weiter verfolgt, teils zum ersten Male auf- gedeckt hatte, mehr und mehr die Beziehung zu den elektrischen Vorgängen die Oberhand über alle anderen, indem sich die elektrische Affinitätsmessung als die den übrigen, insbesondere auch der thermi- schen gegenüber, bevorzugte erwies, und indem sich bei ihr überdies die nächsten Beziehungen zu den sonstigen physikalischen Begleiterschei- nungen sowie zu der rein chemischen Seite der Erscheinungen darboten. Als wichtiges Motiv kam hier natürlich der Aufschwung hinzu, den in der Physik selbst die Theorie der elektrischen Erscheinungen genommen, und durch den diese Theorie insbesondere auch den entscheiden- den Einfluß auf die Vorstellungen von der Materie errungen hatte. 12 Die Hauptgebiete der Naturforschung. So mußten sich denn notwendig die Interessen der chemischen und der physikalischen Forschung bei diesen letzten, die Grundlagen aller Naturerscheinungen berührenden Problemen begegnen. Das Mittelglied zwischen jener alten, durch Berzelius für lange Zeit zur Basis des chemischen Systems erhobenen und in ihrer Aus- führung vorzugsweise systematischen Phase der elektrochemischen Theorie und dieser neuen, in ihrer allgemeinen Tendenz der Statik und Dynamik der Prozesse zugewandten Richtung bilden die Untersuchungen Faradays über die Elektrizitätsleitungen in Elektrolyten. Sie waren noch im direkten Anschluß an die der älteren elektrischen Affinitäts- theorie zu Grunde liegenden Versuche von Nicholson und Carlisle aus- geführt; aber in ihrer Deutung hatte der weitschauende Blick dieses Physikers bereits eine wesentliche Grundlage der neueren elektrochemi- schen Anschauungen vorausgenommen. Indem er die Vorstellung von der sukzessiven Polarisation der Teilchen einer elektrisch durchströmten Flüssigkeit mit positiven und negativen Ladungen entwickelte, legte er den Grund zu der Theorie der Wanderung der Ionen, wie man jetzt diese elektrisch geladenen Teilchen nannte. Indem diese Theorie mit den aus der mechanischen Wärmetheorie entstandenen Vor- stellungen über die fortwährende Beweglichkeit der Moleküle der Flüssigkeiten in Verbindung trat, erweckte sie zugleich neue An- schauungen über den Gleichgewichtszustand chemischer Verbindungen und über den Verlauf der Reaktionsvorgänge. Von da aus eröff- neten sich dann weitere Ausblicke auf die Lösungs-, die Diffusions-, die osmotischen Prozesse. Die Beziehungen zur Valenztheorie, zu den über die Volumverhältnisse der Elemente und ihrer Verbindungen im gasförmigen und flüssigen Zustand, über Siedepunkte und spezifische Wärme gefundenen Gesetzen traten hinzu, wobei mindestens in vielen Fällen die elektrochemischen Verhältnisse diejenigen Gesichtspunkte abgaben, die vor anderen geeignet waren, die verschiedenartigen Erscheinungen zu verknüpfen. Schließlich hat die an die Vor- stellungen von der Wanderung der Ionen sich anlehnende physi- kalische Elektronentheorie in ihrer Anwendung auf die Strahlungen des Radiums auch noch die bisherigen Anschauungen über die Konstanz und die Einfachheit der chemischen Atome erschüttert. Wiederum hat hier das neue elektrochemische Stadium ältere Vorstellungen über die Beziehungen der chemischen Atome aufgegriffen, sie aber zu- gleich verschiedenen Versuchen einer Vereinheitlichung physikalischer und chemischer Betrachtung entgegengeführt. Solche sind vor allem von der Elektronentheorie aus unternommen worden, um die chemische Die chemischen Methoden. 513 mit der physikalischen Atomistik zu verbinden und auf dieser Grund- lage über die Verhältnisse der chemischen Affinität Rechenschaft zu geben*). e. Diechemische AbstraktionundDeduktion. Die Erhebung der Chemie zu einer selbständigen Wissenschaft ist aus dem nämlichen isolierenden Abstraktionsverfahren hervor- gegangen, das die Trennung der verschiedenen Zweige physikalischer Forschung veranlaßt hat. Auch wird hinsichtlich der letzten Probleme der chemischen Untersuchung diese Abstraktion stets aufrecht erhalten bleiben, da die elektrischen, optischen, thermischen und sonstigen physikalischen Begleiterscheinungen der chemischen Vorgänge von der Chemie nur insoweit in Betracht gezogen werden, als sie mit den Verbindungen und Zerlegungen der Stoffe, diesem eigentlichen Objekt chemischer Forschung, in kausalem Zusammenhange stehen. Ein unmittelbares Ergebnis dieser Abstraktion ist die Aufstellung eines Systems von Zeichen für die einfachen Stoffe, das durch Kombination zugleich die symbolische Darstellung jeder beliebigen chemischen Verbindung gestattet. Die Anwendung solcher Zeichen geht bis in die alchemistischen Anfänge der Chemie zurück; alle früheren Versuche sind aber durch die von Berzelius eingeführten Buchstaben- symbole verdrängt worden. Sie vereinigen drei Eigenschaften, deren einleuchtender Zweckmäßigkeit sie ihre rasche Einführung verdanken. Erstens gestattet das hier benützte Prinzip der Bezeichnung ohne weiteres die Anwendung auf neu entdeckte Elemente; zweitens ergibt sich aus den den Symbolen beigefügten Zahlen unmittelbar die stöchio- metrische Zusammensetzung einer Verbindung; drittens lassen sich die Anschauungen über die Struktur der Verbindungen durch Gruppierung der Symbole, diejenigen über synthetische und analytische Vorgänge durch Gleichungen versinnlichen, indem man von dem Plus-, Minus- und Gleichheitszeichen mit einer durch die chemische Anwendung nahe gelegten Modifikation der Bedeutung Gebrauch macht. Bei allem dem aber wird von den physikalischen Begleiterscheinungen der chemi- schen Vorgänge vollständig abstrahiert. Die chemischen Verbindungs- und Operationsformeln veranschaulichen uns nur den rein chemischen *) Eine allgemeine Übersicht über das ganze Gebiet der physikalischen Chemie vom heutigen Standpunkte aus geben J. T.vant’Hoff, Vorlesungen über theoretische und physikalische Chemie, I—III?, 1898—1903, und $. Ar- rhenius, Theorien der Chemie, 1906. Wundt, Logik. I. 3. Aufl. 33 514 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Teil des Vorgangs; über die thermischen und elektrischen Erschei- nungen, den Einfluß der Aggregatzustände oder die Anwesenheit anderer, nicht direkt bei dem betreffenden Prozeß beteiligter Stoffe geben sie gar keine Auskunft. Dieser abstrakte Charakter der chemischen Formeln darf umsoweniger aus dem Auge verloren werden, als er zugleich eine zureichende Berücksichtigung der ursprünglichen Bedingungen eines Vorgangs ausschließt. Von einer algebraischen Gleichung, der sie äußerlich ähnlich sieht, ist darum eine chemische Operationsformel wesentlich verschieden. Während jene unter allen Umständen richtig ist, sobald sich beide Seiten zu Null aufheben, ist die chemische Gleichung selbstverständlich nur dann richtig, wenn die linke Seite den Anfangs- zustand, die rechte den Endzustand eines Vorgangs in Bezug auf die tatsächliche Gruppierung der Elemente richtig darstellt. Da nun die chemischen Bedingungen für den eintretenden Erfolg in der ur- sprünglichen Konstitution der in Wechselwirkung tretenden Stoffe ent- halten sein müssen, so enthält jede Operationsgleichung zugleich den Hinweis auf diejenige symbolische Darstellung der einzelnen in sie eingehenden Verbindungsformeln, die von vornherein den wirklichen Erfolg als den unter allen möglichen wahrscheinlichsten erscheinen läßt. Auf diese Weise gehen aus den bloß die stöchiometrischen Ver- hältnisse der Elemente berücksichtigenden empirischen Formeln mit Hilfe der die Verbindungs- und Zersetzungserscheinungen zum Ausdruck bringenden Operationsgleichungen rationelle Formeln her- vor. Hierbei kann es sich nun aber ereignen, daß unter verschiedenen physikalischen und chemischen Bedingungen abweichende Operations- gleichungen gewonnen werden, aus denen sich auch verschiedene rationelle Formeln für eine und dieselbe Verbindung ergeben können. Unter allen diesen Formeln die wahrscheinlichste zu finden, ist die Aufgabe der chemischen Induktion. Es erhellt ohne weiteres, ein wie mächtiges Hilfsmittel derselben hier die chemische Symbolik ist, in- dem sie eine große Anzahl analytischer und synthetischer Ergebnisse schnell übersehen läßt. Ihr Mangel liegt darin, daß sie, der Schrift sich anschließend, genötigt ist, die Verbindungen in Gruppen zu zerlegen, die in einer Ebene und so viel als möglich sogar linear angeordnet werden, während doch die Elemente in den wirklichen Verbindungen jedenfalls nach drei Dimensionen geordnet sind. Darin liegt zunächst eine deut- liche Warnung, daß man der hypothetischen und beschränkten Bedeu- tung der durch die gewöhnliche Symbolik ausgedrückten Beziehungen eingedenk bleibe, zugleich aber auch eine Aufforderung, zu versuchen, ob sich nicht über bestimmte, sowohl chemische wie physikalische Die chemischen Methoden. 515 Eigenschaften der chemischen Verbindungen durch eine körperlich gedachte Anordnung der Atome Rechenschaft geben lasse*). Je weniger demnach überhaupt die Betrachtung der rein chemischen Seite der chemischen Wechselwirkungen eine ausreichende Erklärung derselben zu liefern vermag, umsomehr bedarf auch hier die Abstraktion des ergänzenden Verfahrens der Kolligation. Diese besteht im vorliegenden Falle darin, daß die Untersuchung den spezifisch chemi- schen Standpunkt mit dem physikalischen vereinigt, indem sie sukzessiv über die einzelnen physikalischen Phänomene, welche die ‚Verbindungen und Zersetzungen der Stoffe begleiten, Rechenschaft gibt. Ist auch der nächste Erfolg dieser Umkehrung des ursprünglichen Abstraktionsver- fahrens eine größere Verwicklung der Untersuchungsmethoden und eine Vermehrung der in Rücksicht gezogenen Tatsachen, so wird doch schließlich im allgemeinen auf diesem Wege eine Vereinfachung der Gesichtspunkte herbeigeführt. Denn indem jene Kolligation die Sub- sumtion der chemischen Erscheinungen unter physikalische Prinzipien ermöglicht, sucht sie zugleich die chemische Statik und Dynamik zu einem Bestandteil der Molekularmechanik zu machen, wobei die chemi- schen Vorgänge auf verhältnismäßig einfache mechanische Anschauungen zurückgeführt werden, die gleichwohl nicht bloß über den spezifisch chemischen Inhalt der Erscheinungen, sondern auch über alle anderen begleitenden Prozesse Rechenschaft ablegen. Von der jeweiligen Stufe der chemischen Abstraktion ist nun die Form der Deduktion der chemischen Tatsachen wesentlich abhängig. Je isolierender noch die Abstraktion verfährt, umsomehr herrscht als die fast ausschließliche Deduktionsmethode die Analogie vor. Jede der grundlegenden Anschauungen, die während der Entwicklung der Chemie maßgebend waren, stützte sich auf eine meistens nicht sehr große Anzahl von durch Induktion gefundenen Tatsachen. Nach Analogie dieser Tatsachen wurden dann alle übrigen Erfahrungen beurteilt, und in der Regel wurden die Experimente, die man zur Zerlegung bestimmter Verbindungen oder zur Herstellung neuer unternahm, von eben solchen Analogieschlüssen geleitet. So konstruierte die dualistische Richtung der Chemie alle Verbindungen nach Analogie gewisser binärer Zusammensetzungen. Von einer Analogie mit dem Verhalten der Elemente, namentlich der Metalle, ausgehend, *) Vgl.J.H. van t’Hoff, Die Lagerung der Atome im Raume, deutsch von F. Hermann, 1877. J. Wislicenus, Über die räumliche Ausdehnung der Atome etc., Abh, d. kgl. sächs. Ges. d. Wiss., math.-phys. Kl. XIV, 1888, S. 1 ff. 516 Die Hauptgebiete der Naturforschung. bildete man den Begriff des Radikals.. Während der Herrschaft der Strukturchemie war dieses Verfahren nicht einmal mehr, wie bei der elektrochemischen Hypothese, von gewissen physikalischen Gesichts- punkten geleitet; umsomehr aber verdrängte es jetzt sogar die Induktion, da oft genug Analogien für die Anschauungen über die Struktur einer Verbindung bestimmender wurden als die unmittelbaren Resultate der stufenweisen Analyse und Synthese. Die Valenztheorie vertiefte zwar diese lediglich von der chemischen Gruppierung ausgehenden Analogien, indem sie den Affinitätswert der Elemente zur Geltung brachte. Aber nachdem letzterer für jedes Element aus einer beschränk- ten Anzahl von Verbindungen durch Induktion gefunden war, wurde er nun wieder der Ausgangspunkt zahlreicher Analogiebildungen. Erst infolge der umfassenderen Berücksichtigung der physikalischen Bedingungen und Begleiterscheinungen der chemischen Vorgänge ist zu diesem Analogieverfahren teilweise die vollkommenere Form der phy- sikalischen Deduktion hinzugetreten, die nicht wie die Analogie von dem einzelnen auf das einzelne schließt, sondern aus bestimmten allgemeinen Prinzipien die speziellen Tatsachen ableitet. Zunächst hat auch hier unter dem Einfluß der thermochemischen Studien das Prinzip der Energie seine allgemeingültige Bedeutung bewährt. Neben ihm sind einige andere Voraussetzungen, die aus der Anwendung speziellerer Vorstellungen der mechanischen Wärmetheorie auf die chemischen Prozesse entsprangen, fruchtbare Ausgangspunkte für die Deduktionen der chemischen Statik und Dynamik geworden. In erster Linie steht hier die aus dem Gesetz der gleichen thermischen Ausdehnung der vollkommenen Gase abgeleitete Voraussetzung, die unter dem Namen des Avogadroschen Gesetzes bekannt ist, sowie das von Dulong und Petit für den festen Aggregatzustand der Körper aufgestellte Gesetz der gleichen Wärmekapazität der Atome, woran sich dann in neuerer Zeit die allgemeine Nachweisung der Abhängigkeit der physikalischen Konstanten, wie des Gefrier- und Siedepunktes, des Lichtbrechungs- vermögens, der elektrischen Leitungsfähigkeit, von der chemischen Konstitution und der Versuch der Zurückführung dieser Abhängig- keiten auf bestimmte Gesetze anschloß. Während diese Gesetze die Grundlagen der chemischen Statik abgeben, stützt sich die chemische Dynamik teils unmittelbar auf das allgemeine Energiegesetz, teils auf die Erforschung der gesetzmäßigen Verände- rungen, welche die physikalischen Konstanten, insbesondere die thermischen Eigenschaften und bei den Elektrolyten die elektrische Leitungsfähigkeit, bei den chemischen Vorgängen erfahren. Die chemische Statik und Dynamik. 517 2. Die chemische Statik und Dynamik. a. DiePrinzipienderchemischen Statik. Die Entwicklung der Prinzipien der chemischen Statik hat von dem Gesetz der multiplen Proportionen ihren Ausgang genommen. Dasselbe stellt fest, daß diejenigen Gewichtsmengen zweier Elemente A und B, die sich mit einer und derselben Menge eines dritten Elementes C verbinden, entweder die nämlichen sind, in denen sich A und B auch untereinander verbinden, oder zu ihnen in dem Verhältnisse einfacher ganzer Zahlen stehen. Dieses Gesetz führt fast unvermeidlich zu ato- mistischen Vorstellungen. Denn es legt die Deutung nahe, daß die einfachsten Gewichtsverhältnisse, in denen sich die Elemente verbinden können, dem Gewichtsverhältnisse ihrer Atome entsprechen. Auf diese Weise hat in der Tat Dalton, der Entdecker des Gesetzes der multiplen Proportionen und der Begründer der chemischen Atomistik, den Be- griff des Atomgewichts geschaffen. Dieser Grundbegriff der chemischen Statik läßt nun zwei verschiedene Deutungen zu. Man kann ihn erstens im nächsten Anschlusse an das Gesetz der multiplen Proportionen einfach als einen hypothetischen Ausdruck für die tat- sächlichen Verhältnisse der Verbindungsgewichte der Stofie auffassen; es lassen sich aber auch zweitens unter Hinzunahme des Begriffs der chemischen Affinität die Atomgewichte als diejenigen rela- tiven Mengen einfacher Stoffe betrachten, die bei der chemischen Bin- dung einander vertreten körfnen, also hinsichtlich ihres Affinitätswertes einander äquivalent sind. Auf diese Weise geht der Begriff des Atomgewichts in den des Äquivalentgewichts über. Man hat längere Zeit diesen Ausdruck deshalb vorgezogen, weil er nicht, wie der des Atomgewichts, eine hypothetische Voraussetzung enthalte. Es ist aber leicht zu sehen, daß, wenn man das Atomgewicht lediglich in der ihm durch das Gesetz der multiplen Proportionen gegebenen tatsächlichen Bedeutung auffaßt, das Umgekehrte der Fall ist. Dann nämlich bedeutet das Atomgewicht nichts weiter als das relative Ge- wicht der kleinsten Menge eines Elementes, die in Verbindungen eintreten kann. Diese Menge wird nur deshalb ein chemisches Atom genannt, weil sie bei allen chemischen Verbindungs- und Zersetzungs- erscheinungen als eine nicht weiter teilbare Menge in Betracht kommt. Das Atomgewicht bezeichnet also eine aus dem Gesetz der multiplen Proportionen unmittelbar zu folgernde Tatsache. Der Begriff des Äquivalentgewichts dagegen verbindet diese Tatsache mit der weiteren 518 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Voraussetzung, daß jene kleinsten Verbindungsgewichte in Bezug auf ihren Affinitätswert einander gleichwertig seien, einer Voraussetzung, die nicht nur hypothetisch, sondern in dieser Fassung sogar unrichtig ist. Nichtsdestoweniger hat diese Umwandlung in den Begriff des Äquivalentgewichts das nächste vom rein chemischen Standpunkte aus zu erlangende Hilfsmittel zur Bestimmung der Atomgewichte oder einfachsten Mischungsgewichte dargeboten. Denn das Gesetz der multiplen Proportionen gab darüber keinen sicheren Aufschluß. Wenn man z. B. fand, daß das Kaliumoxyd auf 1 Teil Sauerstoff 4,9 Kalium enthält, so blieb unsicher, ob das Atomgewicht des Sauerstofis zu 1, 2, 3..., und demgemäß dasjenige des Kaliums zu 1, 2,3... mal 4,9 an- zusetzen sei. Als man aber fand, daß der dem Kalium in seinen Affini- tätsverhältnissen analoge Wasserstoff sich mit Sauerstoff im Verhältnis von 1:8 zu Wasser verbinde, so sah man sich, sobald das kleinste Ver- bindungsgewicht des Wasserstofis als Einheit des Atomgewichts be- trachtet wurde, genötigt, das letztere für den Sauerstoff=8 und für das Kalium = 39,2 anzunehmen. Ebenso konnten dann die Atomge- wichte der übrigen Metalle aus ihren analogen Sauerstoffverbindungen bestimmt werden. Diese Ermittlung der Äquivalentgewichte empfing außerdem eine Stütze an der quantitativen Bestimmung der durch die Elektrolyse gewonnenen Zersetzungsprodukte der Verbindungen, da nach dem von Faraday gefundenen Gesetze der festen elektrolytischen Aktion gleich große Mengen strömender Elektrizität die Elemente aus analog zusammengesetzten Verbindungen in Mengeverhältnissen ausscheiden, die ihren Atomgewichten entsprechen. Gleichwohl gab diese Bestimmungsweise, namentlich in solchen Fällen, wo zwei Elemente mehrere Verbindungen miteinander eingehen, keine unzweideutigen Werte für die Atomgewichte. Auch beruhte sie auf der Annahme, daß die im freien Zustand existierende einfachste Verbindung zweier Elemente die einfachste überhaupt mögliche sei, eine Voraussetzung, die an sich durchaus nicht gerechtfertigt ist, und gegen die sich späterhin namentlich aus der Konstitution der organischen Verbindungen gegründete Bedenken ergaben. So war z. B. nur unter jener Voraussetzung für das Wasser die Formel HO (1 Atom Wasser- stoff auf 1 Atom Sauerstoff mit dem Gewichtsverhältnis 1 : 8) gerecht- fertigt. Sobald aber in irgend einer zusammengesetzteren Verbindung eine Atomgruppe anzunehmen war, in der das Gewichtsverhältnis von H zu O 1:16 betrug, so mußte offenbar für diese die einfache Formel HO reserviert, also das Atomgewicht des Sauerstofis verdoppelt und demnach das Wasser=H,O angesetzt werden. Die chemische Statik und Dynamik. 519 Bevor jedoch diese Gesichtspunkte zur Geltung kamen, war es eine bei den Verbindungen der gasförmigen Elemente zu beobachtende Regelmäßigkeit, die eine Verwertung für die Bestimmung der Atom- gewichte nahe legte. Nach einem von Gay Lussac entdeckten Gesetze verbinden sich nämlich die Gase entweder nach gleichen oder den nächst- stehenden einfachen Volumverhältnissen. Dieses Gesetz veranlaßte bereits Berzelius zu der Vermutung, daß die Gewichte gleicher Volumina gasförmiger Elemente im selben Verhältnisse stehen wie ihre Atom- gewichte oder, mit anderen Worten, daß die Atome aller Elemente im gasförmigen Zustand den gleichen Raum einnehmen. War diese Hypo- these richtig, so entsprachen die Volumteile der in einer Verbindung enthaltenen gasförmigen Elemente unmittelbar den Atomzahlen. Die Chlorwasserstoffsäure erhielt also die Formel HCl, weil sich 1 Volum Wasserstoff mit 1 Volum Chlor verbindet, das Wasser dagegen die Formel H,O, weil in ihm 2 Volumina Wasserstoff auf 1 Volum Sauer- stoff enthalten sind. Bedeutsamer für die chemische Statik wurde dieses Berzeliussche Volumgesetz erst, als Avogadro neben den Volumverhält- nissen der einfachen auch diejenigen der zusammengesetzten Gase in Rücksicht zog und dabei insbesondere die etwaigen Volumverände- rungen beachtete, die infolge der chemischen Bindung eintreten. Diese Erwägungen führten ihn zu dem neuen wichtigen Begriff des chem i- schen Moleküls als der kleinsten für sich bestehenden Atom- gruppe und zu der Hypothese, daßingleichenRaumteilen aller Gase bei gleichem Druck und gleicher Tem- peratur dienämliche Anzahl von Molekülen ent- halten sei. Als ein Korollarsatz hierzu hat dann der Satz zu gelten, daß auch in den einfachen Gasen die Moleküle zusammengesetzt sind, indem die einfachen von den zu- sammengesetzten Körpern nur dadurch sich unterscheiden, daß in jenen die Moleküle aus gleichartigen, in diesen aus verschiedenartigen Atomen bestehen*). Dieser Satz ergab sich, sobald die Berzeliussche Hypothese von den Atomen auf die Moleküle der zusammengesetzten Gase übertragen wurde, ohne weiteres aus der Vergleichung der Volum- verhältnisse der Verbindungen und ihrer Bestandteile. Da sich z. B. 1 Volum Chlor und 1 Volum Wasserstoff verbinden, um 2 Volumina chlorwasserstofisaures Gas zu bilden, so müssen notwendig, wenn in jedem Volum dieser Gase gleich viel Moleküle enthalten sein sollen, die *) Zur Geschichte der Avogadroschen Hypothese vgl. H. Kopp, Die Entwicklung der Chemie in der neueren Zeit, 1873, S. 349 ff., und Lothar Meyer, Die modernen Theorien der Chemie, 5. Aufl., S. 22 fi. 920 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Moleküle des Chlors und des Wasserstoffs aus zwei Atomen zusammen- gesetzt sein. In doppelter Beziehung bildet die Avogadrosche Hypothese einen bedeutsamen Wendepunkt in den chemischen Anschauungen. Einerseits erweiterte sie im Anschlusse an den neu gebildeten Begriff des chemi- schen Moleküls den Affinitätsbegriff, indem sie dessen Anwendung auch auf die chemisch unzerlegbaren Stoffe veranlaßte; anderseits gab sie ein unzweideutiges physikalisches Maß ab für die Bestimmung der Atomgewichte der Elemente und der Elementarkonstitution der Ver- bindungen. Beide Rückwirkungen gelangten aber erst dann zu ihrer Bedeutung, als der Avogadrosche Satz selbst durch die mechanische Wärmetheorie seine theoretische Begründung empfangen hatte. Die Vorstellung der gleichen Molekülzahl aller Gase im gleichen Volum er- schien nun als eine notwendige Folgerung aus den Grundbedingungen des molekularen Bewegungszustandes der Gase, und sie trat in un- mittelbare Beziehung zu den aus denselben Bedingungen entspringenden einfachen Gesetzen von Boyle und von Gay Lussac über das Verhältnis des Volums gasförmiger Körper zu Druck und Temperatur. (Vgl. S. 74 f.) Weiterhin wurde nun aber auch der Übergang zur Erklärung des chemischen Verhaltens flüssiger Körper aus ihren physikalischen Eigenschaften durch die Erwägung nahe gelegt, daß sich der Bewegungs- zustand der Gasmoleküle notwendig in dem Augenblick ändern müsse, wo infolge eines äußeren Drucks oder innerer Konstitutionsbedingungen die Teilchen einander so nahe kommen, daß zwischen ihnen Attraktions- kräfte wirksam werden. Es wird dann ein kritischer Punkt anzunehmen sein, wo diese Attraktionskräfte im ganzen über die aus den Wärme- bewegungen resultierenden Repulsivwirkungen überwiegen. Von der Annahme ausgehend, daß die nämlichen Kräfte in gewissem Grade auch schon im gasförmigen Zustande vorhanden sein müssen, stellte demnach von der Waals für Gase und Flüssigkeiten eine einzige Zustands- gleichung auf, deren Konstanten nur von der Beschaffenheit der Mole- küle abhängen, und nach welcher daher die Eigenschaften der Stoffe in beiden Zuständen gesetzmäßig an einander gebunden sind*). Aus diesen Betrachtungen konnten einerseits die wahrscheinlichen Werte von Volum, Dichte und Zahl der Moleküle in einer Flüssigkeit er-. mittelt werden, anderseits war es nahe gelegt, den Grundgedanken der kinetischen Gastheorie auf die Lösungen zu übertragen, also anzu- nehmen, daß die Bewegungen der in einer Lösung oder einem Lösungs- *, W. Ostwald, Lehrbuch der allgemeinen Chemie. 2.:Aufl. I, 1891, S. 224, 289 ff. Die chemische Statik und Dynamik. 521 gemisch enthaltenen Moleküle denselben Gesetzen gehorchen wie die Bewegungen der Gasteilchen (Prinzip von van t’Hoff)*). Eine Be- stätigung dieser Annahme lag darin, daß der Druck, den eine Lösung auf eine den direkten hydrostatischen Druck abhaltende permeable Wand ausübt, der sogenannte osmotische Druck, unabhängig von der Natur des Lösungsmittels gefunden wird, und daß er dagegen der Konzentration der Lösung und der absoluten Temperatur proportional geht, eine Beziehung, die sich unmittelbar dahin interpretieren läßt, daß man Lösungen von gleichem osmotischem Druck erhält, wenn man in einem und demselben Lösungsmittel eine gleiche Anzahl von Mole- külen verschiedener Substanzen zur Lösung bringt, und daß für den aus der kinetischen Energie der gelösten Moleküle resultierenden osmo- tischen Druck das Boylesche und das Gay Lussacsche Gesetz gilt. Entsprechend tritt bei gleichem Molekulargehalt an gelöster Substanz immer auch die gleiche Gefrierpunktserniedrigung des Lösungsmittels ein. Erscheinen auf diese Weise für den gasförmigen und den flüssigen Aggregatzustand die Beziehungen zwischen den physikalischen und den chemischen Eigenschaften auf die gleiche Gesetzmäßigkeit zurück- geführt, so ist dies für den festen Aggregatzustand nur unter den beschränkten Bedingungen möglich, daß eine allmähliche Diffusion zwischen zwei sich berührenden Körpern stattfindet**). Übrigens steht auch hier das thermische Verhalten der Körper in einer bestimm- ten Beziehung zum Atomgewicht, indem nach einem schon 1818 von Dulong und Petit aufgefundenen Gesetze die Wärmekapazität oder diejenige Wärmemenge, die erforderlich ist, um die Temperatur der Gewichtseinheit einer Substanz um 1 Grad C. zu erhöhen, ein reziprokes Verhalten zeigt zu dem Atomgewichte, so daß die Produkte aus den Wärmekapazitäten in die Atomgewichte innerhalb bestimmter, für die verschiedenen Elemente etwas wechselnder Temperaturgrenzen an- nähernd einander gleich sind***). Dieses Verhalten läßt nur die Deutung zu, daß die Atome der einfachen Körper im festen Zustand die näm- liche spezifische Wärme besitzen, oder daß ihnen, mechanisch aus- gedrückt, bei gleicher Wärmezufuhr die gleiche Energie der Schwin- gungsbewegung mitgeteilt wird, daß also im starren, ähnlich wie im gasförnigen und flüssigen Zustande, das physikalische Verhalten der Körper ein gleichförmiges, nur von der Anzahl, nicht von der *), van t’Hoff, Ostwalds Zeitschrift für physik. Chemie, I, 1887, S. 481 ff. **) vant’Hoff, Ebenda V, 1890, S. 322. ***) Vgl. H. F. Weber, Poggendorffs Annalen, 1875, Bd. 154, S. 367. 522 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Beschaffenheit der Atome abhängiges ist. Unter dieser Voraus- setzung liegt es aber zugleich nahe, die Bedeutung des Gesetzes von den Atomen auf die Moleküle zu übertragen. In der Tat ist dies in einem von F. Neumann aufgestellten Theorem geschehen, nach welchem die Molekulargewichtswärmen analog zusammengesetzter Verbindungen annähernd einander gleich sind*). Wie bei den auf die Gesetze von Dulong und Petit und F. Neumann gegründeten Beobachtungen die Effekte der Wärmezufuhr benützt werden, um über das Verhalten der Atome und ihrer Verbindungen Aufschluß zu gewinnen, so kann nun aber überhaupt das gleichartige oder verschiedene physikalische Verhalten der Körper zu Rückschlüssen auf ihre chemische Konstitution dienen. So schließt man bei Verbin- dungen, bei denen man aus chemischen Gründen eine Analogie der Zu- sammensetzung annehmen darf, aus der Gleichheit der Kristallform auf ein korrespondierendes Verhalten der Atomzahl ihrer Elemente, so daß, wenn das Atomgewicht des einen Elementes einer binären Ver- bindung bekannt ist, dasjenige des anderen daraus abgeleitet werden kann. Insbesondere sieht man sich zu einer solchen Folgerung dann berechtigt, wenn die analoge Zusammensetzung der isomorphen Ver- bindungen darin ihren Ausdruck findet, daß die eine Verbindung in die andere lediglich durch Ersetzung eines bestimmten Elementes durch ein anderes umgewandelt werden kann. In ähnlicher Weise lassen sich aus dem analogen Verhalten bestimmter physikalischer Konstanten, wie des Siedepunkts, der Schmelzwärme, der Verbrennungswärme, des Brechungs- und elektrischen Leitungsvermögens, sowie aus der regelmäßigen Veränderung einzelner unter diesen Konstanten bei gleichartigen chemischen Änderungen Rückschlüsse machen auf die atomistische Konstitution der Körper**). Indem die chemische Statik von diesen Konstanten Gebrauch macht, stützt sie sich aber bereits zum Teil auf dynamische Gesichtspunkte. b. Die Prinzipien derchemischen Dynamik Durch die Benützung der erörterten Prinzipien sucht die chemische Statik die Bedingungen der wechselseitigen Bindung der Atome zu er- mitteln. Doch gewinnt sie auf diesem Wege keinen Aufschluß über das Wesen der chemischen Affinitätskräfte, ja sie vermag nicht einmal ein zureichendes Maß für deren Wirksamkeit in verschiedenen Fällen auf- *) F. Neumann, Poggendorfis Annalen, Bd. 23, S. 1. **) van t’Hoff, Vorlesungen, III, S. 42 fi. Die chemische Statik und Dynamik. 533 zufinden. Insbesondere enthält der aus der Struktur der Verbindungen abgeleitete Begriff der Valenz ein solches Maß durchaus nicht, da durch ihn nur ein verhältnismäßig beschränkter einzelner Effekt der Affinitätskräfte bestimmt wird. Denn die Größe der wirklichen Affinität hängt zunächst von der Festigkeit ab, mit der die Atome aneinander gebunden sind, während der Valenzbegriff bloß für die relativen Zahlenwerte der Atome im chemischen Molekül Maximalgrenzen feststellt. Dagegen stehen gewisse unter den oben erwähnten physi- kalischen Konstanten der chemischen Vorgänge zu der Größe der Affinität in einer so nahen Beziehung, daß sie unter geeigneten Be- dingungen ein Maß für die Intensität der Affinitätswirkungen abzu- geben vermögen. Hierher gehört zunächst die Verbrennungs- wärme oder diejenige Wärmemenge, die infolge der Verbindung der Atome frei wird und auf kalorimetrischem Wege bestimmt werden kann. Indem sie die Energie der schwingenden Bewegungen mißt, die während eines durch die Wirkung der Affinitätskräfte stattfindenden Überganges aus einem gegebenen Zustand chemischer Bindung in einen anderen stattfinden, gestattet sie einen Rückschluß auf die Größe des Kraftaufwandes, der zur Herbeiführung dieser Zustandsänderung er- forderlich ist. Aber auch hier kann diese Größe nicht etwa unmittelbar aus der beobachteten Verbrennungswärme erschlossen werden, sondern es ist dazu außerdem die Erwägung des vorangegangenen Zustandes der Atome sowie der sonstigen die thermischen Vorgänge beeinflussen- den Veränderungen, insbesondere also der etwa gleichzeitig eintreten- den und regelmäßig von Wärmebindung begleiteten Dissoziationen erforderlich. Auf diese Weise stellt sich die wirklich als Maß einer Affinitätswirkung verwertbare Verbrennungswärme als Glied einer thermischen Gleichung dar, in der sich auf der nämlichen Seite noch weitere, teils positive, teils negative Glieder befinden, während die andere als einziges Glied die gesamte bei dem betreffenden chemischen Vorgang beobachtete thermische Veränderung enthält. Man bezeichnet jede solche Veränderung als Wärmetönung und nennt diese positiv, wenn sie einem Freiwerden von Wärme, negativ, wenn sie einer Bindung derselben entspricht. Hiernach ist die gesamte in einem Versuch beobachtete Wärmetönung im allgemeinen einer Summe positiver und negativer Wärmetönungen gleichzusetzen, deren Einzel- bestimmung erfordert wird, wenn der thermische Wert einer gegebenen Affinitätsäußerung gemessen werden soll. Diese Messung wird mög- lich, sobald es gelingt, eine hinreichende Zahl thermischer Gleichungen 524 Die Hauptgebiete der Naturforschung. zu gewinnen, um aus ihnen das gesuchte Glied berechnen zu können*). Mittels der Vergleichung der so erhaltenen thermischen Affinitätswerte lassen sich dann zuweilen auch Rückschlüsse machen auf die Grup- pierung der Atome. Doch ist im Auge zu behalten, daß die chemischen Kräfte nicht bloß Wärme, sondern auch andere Formen der Energie hervorbringen können, wobei keineswegs eine der Größe der Leistung entsprechende Änderung der Temperatur einzutreten braucht, ein Fall, der z. B. bei den Arbeitsleistungen der galvanischen Batterien in augenfälliger Weise verwirklicht ist. Die zuweilen gemachte Vor- aussetzung, daß die sämtlichen Affinitätswirkungen in thermischen Veränderungen ihren Ausdruck fänden, ist also im allgemeinen nicht zulässig**). Als weitere Vorgänge, die zu den chemischen Affinitätswirkungen wichtige Beziehungen darbieten, treten so besonders die ihrer Natur nach mit den chemischen Verbindungserscheinungen enge zusammen- hängenden Dissoziationen in den Vordergrund. Eine Disso- ziation, d. h. eine zeitweise Zerlegung zusammengesetzter Moleküle in ihre Bestandteile, kann entweder durch Erwärmung oder durch die Einwirkung des elektrischen Stromes zu stande kommen. Die thermische Dissoziation wird allein bei Gasen, die elektrische bei Flüssigkeiten, namentlich bei flüssigen Lösungen beobachtet. Die Untersuchung der Gase hat nun gezeigt, daß unter geeigneten Be- dingungen des Drucks und der Temperatur alle mehratomigen Moleküle mehr oder minder dissoziiert sind***). Bei den Flüssigkeiten hatten die Erscheinungen der Elektrolyse längst schon die Vorstellung einer näheren Beziehung der elektrischen Kräfte zur chemischen Affinität wach- gerufen (S. 503£.). Nicht minder forderten aber die auf Grund der mechanischen Wärmetheorie gewonnenen Anschauungen über die Kon- stitution der Flüssigkeiten unmittelbar eine Übertragung der kineti- schen Hypothese auf die Theorie der elektrolytischen Aktionen her- ausy). Von solchen Ideen geleitet, suchte man nun nach Beziehungen *) Vgl. Berthelot in zahlreichen Aufsätzen der Comptes rend. de l’Acad. des Sciences, Julius Thomsen, Thermochemische Untersuchungen, 1882 bis 1886 und W. Ostwald, Lehrb. der allgemeinen Chemie, 2. Aufl. 1893. 31,71.78 218; **) Helmholtz, Zur Thermodynamik chemischer Vorgänge. Sitzungs- ber. der Berl. Akad. 1882, S. 22. ***) ViktorMeyer(undC. Langer), Pyrochemische Untersuchungen. 1885. 7) Clausius, Abhandlungen zur mechanischen Wärmetheorie, II, S. 202 ff. Die chemische Statik und Dynamik. 525 zwischen dem Leitungsvermögen, dem chemischen Verhalten und den sonstigen physikalischen Eigenschaften der gelösten Stoffe. Den nächsten Hinweis auf derartige Beziehungen gab die Tatsache, daß das Prinzip van t’Hofis von der Übereinstimmung des gelösten mit dem gasförmigen Zustande (S. 521) volle Geltung nur für elektrolytisch unwirksame Lösungen besitzt, daß sich dagegen erhebliche Abwei- chungen darbieten, wenn die Lösung den Strom leitet und, was damit immer verbunden ist, durch ihn zersetzt wird. Denn in diesem Falle, also namentlich bei Säuren, Basen und Salzen in wässeriger Lösung, ist der osmotische Druck stets größer, als gemäß dem Molekularvolum der Stoffe zu erwarten ist, und er kann sich in gewissen Fällen einem Werte nähern, der dem Volum der chemischen Bestandteile der Molekeln entspricht. Hieraus schließt man, daß die Elektrolyte in ihren Lösungen an und für sich schon teilweise dissoziiert sind, analog einem durch hohe Temperatur dissoziierten Gase, während zugleich die chemisch verschiedenen Teilmolekeln entgegengesetzte elektrische Ladungen besitzen, wodurch dann bei der Durchleitung eines elektrischen Stromes die entgegengesetzt gerichtete Bewegung dieser Ionen entsteht (Prinzip von Arrhenius). Dieses Prinzip hat nicht nur die elektrochemischen Wirkungen in eine neue Beleuchtung gerückt, sondern es hat auch manche wichtige Aufschlüsse über die Beziehungen der elektrolytischen Eigenschaften zu den osmotischen Eigenschaften, den Gesetzen des Gasdrucks, des Siede- und Gefrierpunkts, sowie zu der Affinitäts- größe der Stoffe ergeben*). Da in den Satz von der Erhaltung der Energie ebenso wie in das mit ihm verbundene Transformationsprinzip die Zeit, während deren sich ein Energiewechsel vollzieht, nicht eingeht, so geben die Zustands- gleichungen, die nach dem früher (S. 350) erwähnten allgemeinen Prinzip die Transformationen der chemischen Energie darstellen, über die Zeitdauer der chemischen Vorgänge keine Rechen- schaft. Die chemische Dynamik bedarf darum hier der Ergänzung *) Vgl. Ostwald, Über die Affinitätsgröße organischer Säuren, Abh. der sächs. Ges. d. Wiss. XV, S. 95 ff., ferner Zeitschr. f. phys. Chemie IX, S.533 ff.u.a. Arrhenius, Theorien der Chemie, S. 134 ff, vant’Hoft, Vorlesungen, I, S. 97 fi. Eine Zusammenstellung der hierhergehörigen Tat- sachen gibt W. Ostwalds Lehrbuch der allgemeinen Chemie, 2. Aufl., 1891 bis 1893, namentlich in dem die Affinitätslehre behandelnden 2. Bande. Eine kürzere Übersicht vom Standpunkte der kinetischen Theorie W. Nernst, Theoretische Chemie, 1893. 526 Die Hauptgebiete der Naturforschung. durch die Feststellung der Gesetze drReaktionsgeschwindig- keit unter den verschiedenen sie beeinflussenden physikalischen Be- dingungen. Den Ausgangspunkt haben hier jene katalytischen Wir- kungen gebildet, die durch die Beschränkung der Reaktion auf einen der Fermentation unterworfenen Körper besonders einfache Bedingungen darbieten. In dieser Beziehung hat namentlich das früher (S. 353) er- wähnte, von Wilhelmy abgeleitete Gesetz für die Geschwindigkeit der Umsetzung des Rohrzuckers die Grundlage für die dynamische Be- trachtung aller weiteren, unter komplizierteren Bedingungen statt- findenden Reaktionsvorgängen gebildet*). Die hier maßgebenden Gesichtspunkte hat die Chemie zunächst der physikalischen Wärme- theorie und den von ihr entwickelten Vorstellungen über die Molekular- zustände der Körper, namentlich der Gase und Flüssigkeiten, entnommen. Hiernach besitzen die chemischen Stoffbewegungen die Eigenschaft aller Molekularbewegungen, daß sie auch im Zustand des chemischen Gleich- gewichts fortwährend andauern, daß sie aber für uns erst meßbar werden, wenn bestimmte bleibende Veränderungen in dem bestehenden Gleich- gewichtszustand eintreten, und daß sie sich sofort wieder der Messung entziehen, wenn ein neuer Gleichgewichtszustand entstanden ist, ohne daß darum dieser als ein wirklicher Ruhezustand der Atome und Mole- küle aufzufassen wäre. Die nächste Analogie zeigen in dieser Beziehung die chemischen Stofibewegungen mit den durch gewisse äußere Be- dingungen beschränkten Änderungen der Aggregatzustände, z. B. mit der Verdampfung einer Flüssigkeit in einem abgeschlossenen Raume. So lange dieser nicht bei der vorhandenen Temperatur mit Dampf ge- sättigt ist, findet eine meßbare Molekularbewegung statt, indem sich innerhalb eines jeden Zeitteilchens eine bestimmte Flüssigkeitsmenge in Dampf verwandelt. Ist dagegen der über der Flüssigkeit befindliche Raum mit Dampf gesättigt, so hört die Molekularbewegung auf un- mittelbar meßbar zu sein, ohne daß sie darum aufhörte zu existieren. Vielmehr besteht der eingetretene Gleichgewichtszustand eben darin, daß jetzt in jedem Zeitteilchen ebenso viele Moleküle aus der Flüssigkeit in den umgebenden Raum übergehen, als umgekehrt aus diesem wieder zur Flüssigkeit zurückkehren. Nun verwandeln sich bei dem allgemein- sten Fall chemischer Wechselwirkung zwei Verbindungen A und B durch zwischen ihnen stattfindende Affinitätsbeziehungen in zwei neue *) Rücksichtlich der Umformungen, die hierbei die Gesetze der Reaktions- geschwindigkeit bei wechselnder Komplikation der Bedingungen erfahren, vgl. besonders van t’Hoff, Vorlesungen über theoretische und physikalische Chemie, I’, S. 170 ff. Die chemische Statik und Dynamik. 527 Verbindungen A’ und B’. Da aber auch in den ursprünglichen Stoffen A und B die Elemente durch bestimmte Kräfte zusammengehalten sind, so werden sich nun umgekehrt A’ und B’ wieder in einem gewissen Grade in die Verbindungen A und B umzuwandeln streben. Es werden also im allgemeinen zwei entgegengesetzte Verwandlungen erfolgen, und Gleichgewicht wird eingetreten sein, sobald die in der Zeiteinheit stattfindende Rückbildung von A+ B der Neubildung von 4’-+ B* gleich geworden ist. Von diesem Augenblick an hört die chemische Molekularbewegung auf meßbar zu sein, während, so lange die Reaktion stattfindet, die Größe der chemischen Affinitätswirkung durch die in der Zeiteinheit gebildete Menge der neuen Stoffe 4’ und B’ gemessen werden kann. Es erhellt ohne weiteres, daß die so bestimmte Affinitäts- kraft nicht bloß von dem allgemeinen chemischen Verhalten der Stoffe, sondern auch von den relativen Massen, die in Wechselwirkung treten, abhängig ist; auch ist die Anwesenheit fremder Stoffe auf die Größe der Affinitätswirkungen von einem gewissen Einfluß, wie sich das in der augenfälligsten Weise bei den Erscheinungen der sogenannten Katalyse zeigt, wo ein Körper, z. B. fein verteiltes Platin, die unter gewöhnlichen Bedingungen nur sehr langsam erfolgende Ver- bindung zweier Stoffe, wie Wasserstoff und Sauerstoff, enorm be- schleunigt. Das erwähnte Prinzip der Massenwirkung, welches, in freilich verändertem Sinne, den Gedanken Berthollets (S. 502) erneuert, zeigt nun aber vor allem wesentliche Abweichungen bei Veränderungen der Temperatur und des Drucks, indem durch Temperaturzunahme bei konstant erhaltenem Druck stets die- jenigen chemischen Kräfte, die eine Wärmeentwicklung bedingen, geschwächt, und diejenigen, die eine Wärmeabsorption bedingen, verstärkt werden, während umgekehrt eine Zunahme des Drucks bei konstant erhaltener Temperatur jene chemischen Kräfte steigert, deren Wirkung mit einer Volumverminderung verbunden ist. Die nähere Verfolgung dieser Gesichtspunkte hat eine Reihe gesetz- mäßiger Beziehungen ergeben, die auf die Äußerungen der Affini- tätskräfte unter verschiedenen Bedingungen Licht werfen, während sie zugleich zur Charakterisierung der einzelnen Gruppen chemischer Stoffe beitragen*). *) Vgl. Guldberg und Waage, Journ. f. prakt. Chem. N.F., Bd.19, 1879, S.69ff. Lothar Meyer, Theorien der Chemie’, 8.479 ff. van tHoff, Vorlesungen? I, 8.185 ff, Über Katalyse Ost wald, Abhandlungen und Vor- träge, 1904, S.71 fl. Bredig, Ergebnisse der Physiol. von Asher und Spiro, 1,102, 8. 177.4, 528 Die Hauptgebiete der Naturforschung, 3. Der chemische Atombegriff. a. Entwicklung der chemischen Atomistik. Hypothese der Uratome. Früher als die Physik ist die Chemie durch zwingende Gründe zur Annahme atomistischer Vorstellungen geführt worden. Darum fehlt hier fast vollständig jener Kampf der Atomistik mit der Konti- nuitätshypothese, der die physikalische Naturerklärung entzweit. Seit man überhaupt das Prinzip der Konstanz der Materie festhielt, mußte man das Wesen der chemischen Verbindungserscheinungen auf wechselnde Gruppierungen an sich unveränderlicher Elemente zurück- zuführen suchen. Seit Boyle waren daher korpuskulare Vorstellungen, die den Keim der späteren Atomistik Daltons in sich schlossen, in der Chemie verbreitet. Für Dalton selbst wurde die Aufstellung des Prin- zips der multiplen Proportionen das Motiv zur weiteren Ausbildung dieser Vorstellungen. Er zuerst entwickelte jenen folgenreichen Be- griff ds Atomgewichts, der sich als unmittelbarer theoretischer Ausdruck des Gesetzes der multiplen Proportionen ergab und zur Grund- lage aller folgenden stöchiometrischen Untersuchungen geworden ist. Auch Daltons Atome besitzen eine korpuskulare Beschaffenheit: er schreibt ihnen der Einfachheit wegen kugelförmige Gestalt zu. Da aber dieser Atombegriff aus dem Begriff des chemischen Elementes hervorgegangen ist, so werden ebenso viele qualitativ verschiedene Atome angenommen, als es verschiedene Elemente gibt. Das Atom- gewicht gilt nur als diejenige unter den Eigenschaften der Elemente, die für die quantitative Untersuchung die größte Wichtigkeit besitzt; doch finden neben ihm noch weitere, namentlich das elektrische Ver- halten und die spezifische Wärme, ihre Würdigung. Alle diese Eigen- schaften des Atoms werden aber als letzte nicht weiter erklärbare Tatsachen betrachtet. In dieser Form ist der chemische Atombegrifi im wesentlichen bis in die neueste Zeit bestehen geblieben. Hervorgegangen aus dem Prinzip der Konstanz der Materie und aus dem Gesetz der Verbindung der Elemente nach einfachen Gewichtsverhältnissen, ermöglichte er eine anschauliche Darstellung der Erscheinungen, die in jenen Prinzipien ihren Ausdruck finden. Nichtsdestoweniger suchte man fast von dem Moment der Begründung der chemischen Atomistik an zu einer tieferen Ein- sicht in die Natur der chemischen Atome zu gelangen, die nicht bloß die Eigenschaften der Verbindungen aus denjenigen ihrer Elemente, Der chemische Atombegriff. 529 _ sondern auch die Eigenschaften der Elemente selbst in ihren gegen- seitigen Verhältnissen begreiflich mache. Damit verband sich zu- gleich die Hoffnung, auf diesem Wege möge eine nähere Beziehung des chemischen zu dem allgemeinen physikalischen Atombegriff mög- lich werden. In methodischer Beziehung war es hierbei wichtig, daß, während der bisherige Atombegriff einfach aus dem Motiv der Um- setzung der analytischen Fundamentalgesetze in eine anschauliche Vorstellung hervorgegangen war, nunmehr jene Versuche einer Weiter- bildung zunächst auf die Nachweisung von Analogien in dem Ver- halten verschiedener Elemente sich stützten. In erster Linie richtete sich hier die Aufmerksamkeit auf die Analogie in dem chemischen Ver- halten gewisser Elemente mit demjenigen von Verbindungen, eine Analogie, aus der mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die zusammen- gesetzte Natur der gewöhnlich als elementar angesehenen Stofie ge- schlossen werden konnte. Neben diesem auch in anderen Teilen der chemischen Theorie einflußreichen Verfahren der Analogie war dabei zugleich das allgemeine Streben nach Vereinfachung der Voraus- setzungen wirksam, das sich durch die auf den ersten Blick sehr zufällig erscheinende Reihe chemischer Elementarstoffe nicht befriedigt finden konnte. Die größte Einfachheit in Bezug auf die letzten Elemente der Erklärung würde aber offenbar erreicht sein, wenn es gelänge, alle chemischen Erscheinungen aus den wechselnden Gruppierungen und Bewegungen eines einzigen Urstofies abzuleiten. Indem die Annahme irgendwelcher qualitativer Unterschiede für diesen hinwegfiele, würde dann das nämliche Prinzip der Reduktion aller Erscheinungen auf die Bewegungen eines nur durch seine Wirkungen für uns wahrnehmbaren Stoffes Platz greifen, das in der physikalischen Naturerklärung längst zur Geltung gelangt ist; und damit würde auch für die Chemie der Über- gang aus der qualitativen in eine quantitative Atomistik vollendet sein. Die Versuche einer derartigen Umgestaltung des chemischen Atombegrifis beginnen in der Tat alsbald nach den ersten quantitativen Bestimmungen der Atomgewichte. Sie finden ihren Ausdruck in der Hypothese Prouts, die Atomgewichte aller Elemente seien Multipla vom Atomgewicht des Wasserstofis, einer Hypothese, die von selbst dazu führte, in dem Wasserstoff das Urelement zu vermuten. Während längerer Zeit zurückgedrängt, hat diese Annahme schließlich in den genauesten Atomgewichtsbestimmungen der neueren Zeit wenigstens eine approximative Bestätigung empfangen, die aber freilich, eben weil sie keine vollkommen genaue ist und die Abweichungen die Grenzen der Beobachtungsfehler überschreiten, darauf hinwies, daß das Prout- Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 34 530 Die Hauptgebiete der Naturforschung. sche Gesetz höchstens eine Annäherung an die Wahrheit enthalten könne. Zu der Tatsache, daß die Atomgewichte fast sämtlicher Elemente nahezu durch ganze Zahlen ausgedrückt werden, wenn man das Ge- wicht des Wasserstoffatoms der Einheit gleichsetzt, trat nun aber weiterhin eine Reihe von Analogien zwischen den Atomgewichten und den sogenannten Molekulargewichten chemischer Verbindungen, auf die zuerst der russische Chemiker Mendelejeft hinwies*). Unter dem Molekulargewicht versteht man die Summe der Atomgewichte, die ein Molekül als kleinster, ohne Zersetzung isolierbarer Teil eines Körpers enthält. Das Molekulargewicht des Radikals Methyl (CH,) besteht also z. B. aus 1 Atomgewicht Kohlenstoff und 3 Atomgewichten Wasser- stoff. Die Molekulargewichte solcher Verbindungen, die homologe Reihen bilden, werden demnach in regelmäßigen Verhältnissen zu- einander stehen. So bilden die organischen Radikale von der all- gemeinen Formel C,H, +1, wie Methyl (CH,), Äthyl (C,H,), Propyl (C,H), Butyl (C,H,), eine homologe Reihe. Denn jedes Glied dieser Reihe unterscheidet sich von dem vorangehenden durch die Atom- gruppe CH,, also auch jedes Molekulargewicht von dem voran- gehenden durch die dem Molekulargewicht von CH, entsprechende kon- stante Zahl. Nun finden sich aber zwischen den Atomgewichten chemisch verwandter Elemente ähnliche konstante Differenzen. So unterscheiden sich Lithium, Natrium und Kalium je durch eine Atomgewichtsdifferenz 16. In dieselbe Reihe gehören Rubidium und Caesium, wo annähernd die Differenz Rb—Ka und ebenso Cs—Rb=3.16 ist. Solche kon- stante Differenzen, die noch zwischen anderen Elementen wiederkehren, legten daher die Vermutung nahe, die Atomgewichte besäßen in Wahr- heit die Bedeutung von Molekulargewichten höherer Ordnung, und die Verwandtschaft gewisser Elemente beruhe also auf ähnlichen Überein- stimmungen in der Gruppierung ihrer Atome, wie die Verwandtschaft der durch die analytischen Hilfsmittel zerlegbaren Verbindungen. Auf diese Weise erfuhr die früher (S. 505) hervorgehobene Analogie zwischen den Radikalen organischer Verbindungen und den Elementen eine An- wendung in umgekehrter Richtung: die Elemente erschienen nun ana- log den Radikalen, so daß man in ihnen Radikale aus einfacheren Elementen vermuten konnte. Zur Aufsuchung weiterer Analogien zwischen Elementen und *) Vgl. zu dem folgenden Lothar Meyer, Die modernen Theorien der Chemie°, S. 129 fi. Der chemische Atombegrifi. 531 Verbindungen ist endlich noch der Begrifi ds Atomvolums neben dem des Atomgewichts herangezogen worden. Wie wir allgemein durch die Vergleichung des Gewichts eines Körpers mit dem spezifischen Ge- wicht sein Volum bestimmen können, so läßt sich das Atomvolum eines Elementes gewinnen, indem man das Atomgewicht durch das spezifische Gewicht dividiert. Da das Atomgewicht nur in Bezug auf seinen relativen Wert festgestellt werden kann, so ist das nämliche mit dem Atomvolum der Fall: dieses mißt das Volum irgend eines Atoms, wenn das Volum eines bestimmten Atoms, z. B. des Wasser- stoffatoms, zur Einheit genommen wird. Nun ist von vornherein zu erwarten, daß dem Verhältnis zwischen Atomgewicht und Molekular- gewicht ein analoges Verhältnis zwischen Atomvolum und Molekular- volum parallel gehen werde. In der Tat lassen die unter gleichen Be- dingungen von Druck und Temperatur ausgeführten spezifischen Ge- wichtsbestimmungen einfacher und zusammengesetzter Körper den Schluß zu, daß das Volumen eines Moleküls der Summe der Volumina seiner Atome entspreche. Wäre das chemische Atom eine Verbindung aus einfachen und gleichartigen Uratomen, so würde demnach zunächst erwartet werden können, daß das Atomvolum dem Atomgewicht pro- portional sei. Nun bestätigt sich allerdings diese Erwartung selbst nicht. Wohl aber ergibt sich zwischen Atomvolum und Atomgewicht ein ge- setzmäßiges Verhältnis, das die Annahme einer molekularen Kon- stitution der chemischen Atome nahelegt. Trägt man nämlich die Atomgewichte der Elemente auf einer einzigen Abszissenlinie auf, und stellt man die Atomvolumina durch die zugehörigen Ordinaten dar, so wachsen diese nicht proportional den Abszissen, sondern man erhält durch Verbindung ihrer Endpunkte eine in mehreren aufeinander- folgenden Wellenlinien auf- und absteigende Kurve. Die Elemente von verwandtem chemischem Verhalten entsprechen dann nicht etwa benachbarten Punkten, wohl aber entsprechen sie solchen Punkten in verschiedenen Teilen der Kurve, die in Bezug auf den ganzen Verlauf eine übereinstimmende Lage besitzen. So bilden z. B. die leichten Metalle Lithium, Natrium, Kalium, Rubidium die Maxima der Wellen- kurven, während Kohlenstoff, Silicium, die schweren Metalle die tief gelegenen Stellen einnehmen. Dort ist also die Substanzverdichtung am kleinsten, hier am größten im Verhältnis zu dem Atomgewicht oder zu der in dem chemischen Gesamtatom vorauszusetzenden An- zahl von Uratomen. Zusammen mit der Tatsache der regelmäßigen Differenzen zwischen den Atomgewichten scheinen demnach auch diese Erfahrungen die Anschauung zu unterstützen, daß die Unterschiede 533 Die Hauptgebiete der Naturforschung. der chemischen Atome auf gesetzmäßigen Gruppierungen einfacherer Urbestandteile beruhen. Ist aber diese Voraussetzung richtig, so werden dann wiederum die sonstigen physikalischen Eigenschaften der unzer- legbaren Stoffe, wie Aggregatzustand, elektrisches Verhalten, Licht- brechungsvermögen, in einem gewissen Zusammenhang mit der Ver- bindungsweise der Uratome und mit der etwa stattfindenden Sub- stanzverdichtung stehen müssen. In der Tat war es möglich, einige Beziehungen dieser Art insofern aufzufinden, als auf der das Verhält- nis zwischen Atomvolum und Atomgewicht darstellenden Kurve den Punkten von entsprechender Lage analoge physikalische Eigenschaften der Elemente korrespondieren. Nur eine physikalische Eigenschaft macht in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Ausnahme: die spezifische Wärme, deren Verhältnis zu dem Atomgewicht, wie wir oben (S. 516, 521) sahen, nach dem Gesetze von Dulong und Petit ein konstantes ist, eine Tatsache, die darauf hinzuweisen scheint, daß die im gewöhnlichen Sinne angenommenen chemischen Atome selbst die Träger der Wärme- schwingungen sind. Auch bliebe es möglich, daß die Abweichungen, welche die Atomwärmen verschiedener Elemente bei wechselnden Temperaturen darbieten, aus der mit wachsender Temperatur zu- nehmenden Beteiligung der Uratome an den Wärmeschwingungen zu erklären wären, wie schon lange vorher Kopp in Bezug auf die Elemente Kohlenstoff, Brom und Silicium, deren Atomwärme in besonders hohem Grade mit der Temperatur schwankt, angenommen hatte. Dieses zumeist auf die Analogie zwischen chemischen Atomen und Molekülen zurückgehende Beweismaterial suchte man noch durch eine Analogie anderen Ursprungs zu verstärken. Sie bestand darin, daß die Spektra der Elemente beim Übergang von niedrigeren zu höheren Temperaturen ähnliche Veränderungen wie die Spektra der Verbin- dungen unter der nämlichen Bedingung darbieten. Da nun die Tem- peratursteigerung die allgemeinste Ursache der chemischen Dissoziation ist, so erweckt dies Verhalten die Vermutung, daß auch die Elemente dissoziationsfähig, also zusammengesetzt seien*). Unterstützt wird eine solche Folgerung durch die Vergleichung der Fixsternspektren, welche zeigt, daß, je wärmer ein Stern, desto einfacher sein Spektrum ist, und daß mit abnehmender Temperatur der Gestirne die metallischen Elemente in der Reihenfolge ihrer Atomgewichte erscheinen. Auch die Untersuchung der sogenannten planetarischen Nebel trat für die näm- *, J. N. Lockyer, Studien zur Spektralanalyse, deutsche Ausgabe, 1879, S. 172. Der chemische Atombegrift. 533 liche Vermutung ein, da die Spektralanalyse nachwies, daß viele der- selben vorwiegend aus einfachen Gasen von niedrigem Atomgewichte, besonders aus Wasserstoff und Stickstoff, bestehen. b. Die Elektronentheorie und die Hypothese der Zusammen- setzung der Atome. Diese Folgerungen haben schließlich eine wichtige Stütze in einer noch weit über die einstige Hypothese Prouts hinausgehenden Richtung durch die Beobachtungen empfangen, die sich an die früher (S. 458) erwähnte Entdeckung der Strahlungen des Radiums anschlossen und den engen Zusammenhang dieser mit den Kathoden-, Anoden- und Röntgenstrahlen erwiesen. Die unter Wärmeentwicklung erfolgende Strahlung des Radiums beruht, wie besonders die Beobachtungen Rutherfords lehren, auf einer Mischung von Vorgängen, bei denen sich die Materie in den verschiedensten Graden der Dissipation zu be- finden scheint. Denn sobald diese Strahlung der Einwirkung elektrischer oder magnetischer Kräfte unterworfen wird, sondert sie sich durch die verschiedene Ablenkung, die die Strahlen erfahren, in mehrere charak- teristisch verschiedene Teile. Vor allem sondert sich hier eine Gattung solcher Strahlen als die leichtbeweglichste, die in allen Eigenschaften den negativen Elektronen gleicht, welche von der Kathode einer evakuierten Röhre ausgehen (Rutherfords ß-Strahlen). Daran schließen sich träger bewegliche, die den positiv elektrisch geladenen Atomen des Radium- metalls entsprechen und demnach, ähnlich den von der Anode der gas- verdünnten Röhre ausgehenden Strahlen, als positive Ionen im Sinne der bei der Elektrizitätsleitung in Elektrolyten gebildeten Begriffe be- zeichnet werden können («-Strahlen).. An die letzteren schließt sich eine dritte Gattung, die durch elektrische und magnetische Kräfte gar nicht abgelenkt wird und die sich im übrigen ähnlich den Röntgen- strahlen verhält (y-Strahlen). (Vgl. oben S. 345 £.) Außer diesen Elek- tronen und Ionen scheidet sich endlich noch ein chemisch indifferentes Gas aus, die „Emanation“, das nach seinem spektroskopischen Verhalten mit einem zuerst in sehr kleiner Menge in der Sonnenatmosphäre, dann in größerer in den Spektren der heißesten Fixsterne und spurweise auch in der irdischen Atmosphäre und in einigen Mineralien von W. Ramsay gefundenen Helium identisch ist, und das selbst wiederum positive Ionen (a-Strahlen) aussendet. So bieten sich hier Elektronen, elektrisch geladene Atome (Ionen) und Atomgruppierungen nebeneinander und zum Teil im Übergang ineinander, Damit eröffnet sich ein Ausblick auf Anschauungen, nach denen die bisher angenommenen chemischen 534 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Atome nur noch eine relative Konstanz beanspruchen können, während in dem Maße, als sich hier engere Beziehungen zu den physikalischen Vorstellungen über die Konstitution der Materie gestalten, zugleich neue Probleme sich auftun, unter denen das der chemischen Affinität mit dem ihm eng verbundenen der Valenz wiederum im Vordergrund steht. Als die nächste unter diesen Folgen erscheint aber die Reform des Atombegriffs. Hatten die seit Prout schwebenden Spekulationen über die Verhältnisse der Atomgewichte und der chemisch-physikalischen Eigenschaften der für einfach gehaltenen Stoffe die Frage, ob diese Stoffe als die wahren Elemente anzusehen seien, nicht zur Ruhe kom- men lassen, so schien nun das wesentlichste Erfordernis jener An- nahme, die Konstanz der chemischen Atome, unmöglich geworden. Das Radium, obgleich nach allen bis dahin gültigen Kriterien ein ein- facher Körper, erwies sich, wie die Emanation zeigte, als eine zusammen- gesetzte Substanz, und es erwies sich, wie überdies seine fortwährende, ohne Ersatz stattfindende Wärmeabgabe lehrte, als ein vergänglicher Körper. So konnten die bisher für konstante Elemente der Materie gehaltenen chemischen Atome nur noch als relativ stabile Gebilde gelten, stabiler im allgemeinen als die bekannten chemischen Ver- bindungen, aber nicht von absoluter Dauer, wie man bis dahin an- genommen und als eine empirische Bestätigung des Gesetzes der Kon- stanz der Materie angesehen hatte. Die Anzahl der während einer bestimmten Zeit ausgesandten Ionen und der beobachteten Helium- entwicklung ließ sogar die Lebensdauer des Radiums und seiner Mutter- substanzen, des Uran und Thorium, annähernd berechnen. Mochte diese Zeit selbst für die zersetzbarsten Elemente noch so lang sein, die Vermutung ließ sich nicht abweisen, daß die Stabilität der che- mischen Elemente überhaupt nur eine relative sei, und daß daher der Satz von der Konstanz der Materie wenigstens für die bis dahin ange- nommenen Elementarstoffe nicht gelte. Zugleich mit diesem negativen Ergebnis eröffnet aber die Stufen- folge der Produkte, die jene auf dem Weg der Strahlung und Emanation erfolgende Selbstzersetzung eines chemischen Elementes darbietet, unmittelbar die Aussicht auf eine weitere Reihe von Problemen, die das Wesen der chemischen Affinität und ihren Zusammenhang mit den elektrischen Kräften berühren. Jene Reihenfolge der Strahlungs- erscheinungen, Elektronen, Ionen, Heliumemanation, führt anschei- nend direkt von dieser als der elektrisch neutralen Atomgruppe zurück zum Atom mit elektrischer Ladung und endlich, als zu dem letzten nicht weiter zerlegbaren Bestandteil, zu der Ladung selbst, Der chemische Atombegrift. 535 dem isolierten negativen und dem wahrscheinlich nur vorübergehend im isolierten Zustand existierenden positiven Elektron. Schon diese Reihenfolge legt die Vermutung nahe, in den negativen und positiven Elektronen selbst seien die letzten Bestandteile der Materie zu sehen, aus deren Zusammensetzung relativ stabile Gebilde dann hervorgehen können, wenn die positiven und negativen Ladungen sich kompen- sieren. Solche relativ stabile Verbände würden dann die gewöhnlich sogenannten chemischen Atome sein. Sie würden aber natürlich nicht minder geeignet sein, sich unter ihrem Bilde die beweglichen Teil- chen zu denken, deren die Physik bei der Erklärung der Eigenschaften der Gase und Flüssigkeiten oder der Wanderung der Ionen in den Elektrolyten bedarf. Die lange gesuchte Einheit der chemischen und der physikalischen Atomtheorie würde also damit auf dem neutralen Boden einer elektrischen Elementartheorie erreicht sein, die es je nach Bedürfnis erlaubte, die Zusammensetzung wie die Stabilität der Gebilde von wechselnder Beschaffenheit zu denken. Für die chemischen Atome würde sich aber mit einem solchen hypothetischen Aufbau aus Elektronen auch das Problem der Affinität und der Valenz in ein elek- trisches umwandeln, ein Ziel, auf das schon längst von den Erschei- nungen der Elektrolyse aus die Vorstellungen über die Bewegungen der Ionen hinwiesen. Der Elektronentheorie würde dann zugleich die Auf- gabe gestellt sin, über die Valenz der chemischen Elemente auf der Grundlage der von ihr entwickelten Vorstellungen über die Konstitution der Atome Rechenschaft zu geben. Die Zukunft muß lehren, ob die Ver- suche, die in dieser Richtung gemacht worden sind, dieses Ziel einer alle Erscheinungen der chemischen Affinität zusammenfassenden Theorie erreichen. Die Mittel dazu liegen einerseits in den durch das verschiedene Verhalten der positiven und der negativen Elektronen gegebenen Bedingungen, anderseits in den in einem ziemlich weiten Spielraum möglichen, selbst ihre Direktive durch das chemische Ver- halten der Stoffe empfangenden Voraussetzungen, die über die Grup- pierungen der Elemente in den einzelnen chemischen Atomen je nach ihren Affinitätseigenschaften zu machen sind*). Der nächste Schritt freilich, der hier zu tun wäre, um solchen Spekulationen einen sicheren Boden zu bereiten, würde in dem Nachweis bestehen müssen, daß jene bis jetzt nur bei einigen seltenen Metallen beobachteten Strah- lungserscheinungen in irgend einem Grade auch bei den stabileren chemischen Atomen nicht fehlen. *)J.J. Thomson, Elektrizität und Materie, 1904, Phil. Mag. (6), Vol. VII, 1904, p. 237 ff, besonders 255 ff. Arrhenius, Theorien der Chemie, S.77ft. 536 Die Hauptgebiete der Naturforschung. @ Die chemischen Elemente und das Prinzip der Konstanz der Materie. Wie es sich nun aber hiermit verhalten möge, in einer Be- ziehung wird die Möglichkeit einer allgemeinen Durchführung der Elektronentheorie und der Nachweis der zusammengesetzten, nur relativ stabilen Beschaffenheit der chemischen Elemente unsere Vor- stellungen von der Materie selbst ungeändert lassen. Diese wird, auch wenn sich alle bis dahin für einfach gehaltenen Stoffe als zu- sammengesetzt erweisen, in den letzten Elementen, in die die relativ stabilen Atome zerfallen, selbst wieder als unveränderlich vorausge- setzt werden. Falls die Elektronen diese letzten Elemente sein sollten, so würden daher sie die vorauszusetzenden absoluten Atome sein; sollte sich aber irgend einmal die Nötigung ergeben, auch die Elektronen wieder zusammengesetzt anzunehmen, so würde der Begriff der letzten unteilbaren Elemente nur abermals um eine Stelle weiter zurückrücken. Auch wird diese Situation nicht wesentlich ver- ändert, wenn man, wie es in einigen der mathematischen Ausge- staltungen der Theorie geschehen ist, den Voraussetzungen der Elek- tronen- und denjenigen der elektromagnetischen Lichttheorie gleichzeitig gerecht zu werden sucht, indem man den für die letztere angenom- menen Äther als ein kontinuierliches Substrat betrachtet, in welchem sich die Elektronen bewegen*). Vielmehr kommt damit nur jener abstrakt begriffliche Charakter, der sich in der Verschiedenheit der Materie von dem Verhalten wirklicher Körper und Flüssigkeiten äußert, abermals darin zum Vorschein, daß sich nun auch die Elektronen wiederum widerstandslos in diesem Äther bewegen. (Vgl. oben $. 459 fi.) Darum hat hier die Annahme eines letzten Elementes überhaupt nicht die metaphysische Bedeutung einer niemals zu überschreitenden Grenze. Würde doch der Begriff eines absoluten Elementes in diesem metaphysischen Sinne selbst die Grenze möglicher Erfahrung über- schreiten, so daß er als Grenze der Erfahrung niemals vorkommen kann. Vielmehr kann für die empirische Analyse der Erscheinungen das letzte immer nur das für den gegebenen Zustand der Erfahrung letzte Element bezeichnen, dem als weitere relative Elemente alle jene Einheitsbegrifie gegenüberstehen, die, wie die gewöhnlichen chemischen Atome oder in gewissen physikalischen Zusammenhängen die für sich isoliert beweglichen Teilchen, durch eine unter anderen *), H.A, Lorentz, Sichtbare und unsichtbare Bewegungen. Deutsch von Siebert. 1902. Ergebnisse und Probleme der Elektronentheorie. 1905. Der chemische Atombegriff. 537 Gesichtspunkten unternommene physikalisch-chemische Analyse sehr wohl weiter zerlegt werden können. Wie auf diese Weise jede Theorie der Materie letzte Elemente voraussetzen muß, ohne jemals behaupten zu dürfen, daß die bei dem gegenwärtigen Stand der Erfahrung gefundenen für alle Zeit die letzten bleiben werden, so muß sie auch zu jeder Zeit solche Elemente als unzerstörbar in dem Sinne denken, daß, wenn in der Zukunft eine weitere Zerlegung möglich sein sollte, die resultieren- den neuen Elemente abermals als unzerstörbar angenommen würden, Denn diese Voraussetzung gilt in Wahrheit für die Elemente nur insofern, als sie für die materielle Substanz überhaupt gilt. Sie ist eingeschlossen in dem aller objektiven Erkenntnis zu Grunde liegen- den Prinzip, daß alle Veränderungen der Objekte nicht in den qualitativen Veränderungen, die unserer subjektiven Empfindung an- gehören, sondern daß sie allein in den wechselnden objektiven Be- wegungen oder Gruppierungen eines von unserer Empfindung unab- hängigen und erst bei der Wirkung auf unsere Sinne Empfindungen auslösenden Substrates bestehen können. Die Elemente der Materie sind also konstant, weil sie als solche auch in ihren Verbindungen konstant sind und jede Veränderung zusammengesetzter Gebilde in räumlichen Änderungen der sie konstituierenden Elemente bestehen muß. Nicht die Voraussetzung letzter absoluter Elemente führt also zur Annahme der Konstanz der Materie, sondern umgekehrt: die von vorn- herein postulierte Beharrlichkeit der Materie führt zur Voraussetzung letzter, an sich keiner Veränderung fähiger Elemente; und in jedem Stadium wissenschaftlicher Analyse werden daher diejenigen Be- standteile, die sich als unzerlegbar erweisen, im empirischen Sinne als letzte Elemente betrachtet. Aber da im Hintergrund dieses empi- rischen Elementes der Begriff des nie in der Erfahrung erreichbaren metaphysischen Elementes steht, so kann damit die Möglichkeit eines künftigen weiteren Regressus niemals negiert werden. Dieses Verhältnis hängt durchaus mit der allgemeinen Entwicklung des Sub- stanzbegrifis zusammen, wie er aus den Bedingungen der Anschauung auf der einen und den besonderen Bedingungen der Verknüpfung der in der Erfahrung gegebenen Erscheinungen auf der anderen Seite her- vorgegangen ist (Bd. I, S. 525 fi.). Abgesehen von jeder einzelnen Er- fahrung ist, nachdem der Empfindungsinhalt der Erscheinungen sub- jektiviert wurde, der Raum mit den in ihm möglichen Lageverhält- nissen der Raumgebilde das Substrat, aus dem die Naturforschung ihren Substanzbegriff zu bilden hat. Damit ist die Beharrlichkeit der 538 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Substanz als eine Eigenschaft gegeben, die sich auf jeder Stufe der weiteren Entwicklung dieses Begriffs wiederfinden muß. Die Art jedoch, wie die Elemente der Substanz, ihr Verhältnis und ihre Wechsel- wirkungen bestimmt werden, ist innerhalb dieser durch die Raum- und Zeitanschauung gegebenen formalen Bedingungen ganz und gar von der Erfahrung und von dem Stadium abhängig, in dem sich jeweils die Analyse der Erscheinungen befindet. Dies ist der Grund, weshalb der Begriff der Substanz in seinen allgemeinsten Bestimmungen, seiner Konstanz und seinen nur in wechselseitigen Bewegungen der Teile bestehenden Veränderungen, nachdem erst einmal das Stadium der Abstraktion vom Empfindungsinhalt erreicht ist, unabänderlich der- selbe bleibt, während doch innerhalb dieses allgemeinen Umfangs formaler Bestimmungen die konkreten Vorstellungen von der Materie sich nicht nur fortwährend mit dem Fortschritt der naturwissenschaft- lichen Analyse verändern, sondern selbst in einem gegebenen Stadium je nach den besonderen Gesichtspunkten der Betrachtung verschieden sein können. In dieser Zusammensetzung aus relativ apriorischen, konstant bleibenden und empirisch veränderlichen Faktoren gleichen die Voraussetzungen über die Materie vollständig den allgemeinsten Naturgesetzen, insbesondere den Prinzipien der Dynamik mit ihrer Zusammensetzung aus einem der reinen Bewegungsanschauung an- gehörenden phoronomischen und aus einem empirischen Faktor. Auch die Substanz ist in allen den Eigenschaften, die aus der Raum- und Bewegungsanschauung in sie eingehen, maßgebend für alle speziellen Voraussetzungen und in diesem Sinne ein a priori bestimmter Begriff. In allem aber, was die besondere Gestaltung jener Voraus- setzungen angeht, ist sie nach der Erfahrung orientiert, und ist sie zu- gleich, insofern innerhalb jener fest bleibenden formalen Bedingungen verschiedene Gestaltungen möglich sind, mehrdeutig bestimmt. Eben deshalb bleiben die Voraussetzungen über die Materie, so nützlich und notwendig sie sind, allezeit Hypothesen. Es ist schlechter- dings gar keine Aussicht vorhanden, daß jemals irgend eine spezielle Hypothese als die alleingültige erwiesen werden könnte. Gerade die Entwicklung des chemischen Atombegrifis hat daher, abgesehen von ihrer besonderen Bedeutung für die chemische Wissenschaft, auch noch die allgemeinere erkenntnistheoretische, daß sie dieses Verhältnis des definitiv Hypothetischen zu dem Allgemeingültigen in dem naturwissen- schaftlichen Substanzbegrift mit besonderer Klarheit ins Licht stellt. Die biologischen Methoden. 539 Drittes Kapitel. Die Logik der Biologie. 1. Die biologischen Methoden. a. Allgemeine Aufgaben der biologischen Forschung. Schon der rohesten Beobachtung treten die spezifischen Eigen- tümlichkeiten der Lebenserscheinungen so augenfällig entgegen, daß die Unterscheidung der lebenden von den leblosen Körpern in die ersten Anfänge der Wissenschaft zurückreicht. Die hierdurch bedingte Abzweigung der biologischen Forschung von dem Gesamtgebiet der Naturlehre ist für die Ausbildung der systematischen Teile der ersteren ohne Zweifel förderlich gewesen. Doch mit den wachsenden Kenntnissen der beschreibenden Naturgeschichte konnte die physiologische Er- klärung der Lebenserscheinungen nicht gleichen Schritt halten. Bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts war daher fast das ganze Material, über das die Physiologie zu ihren Schlüssen verfügte, der naturgeschicht- lichen Forschung entlehnt, indem auch die Anatomie, diese Haupt- stütze der Physiologie, ganz und gar im Sinne einer beschreibenden Naturwissenschaft betrieben wurde. Die Versuche Harveys und seiner Nachfolger über den Blutkreislauf, Hallers und Fontanas über die Sen- sibilität und Irritabilität der tierischen Teile, Spallanzanis über die Bedingungen der Befruchtung sind fast die einzigen Anfänge experi- menteller Untersuchung aus älterer Zeit, die eine bleibende Bedeutung in Anspruch nehmen können. Umso freier ergingen sich Physiologie und Pathologie in den willkürlichsten Hypothesen. Vitalistische und mechanistische Anschauungen wechselten in bunter Folge. Während jene von vornherein einer Einordnung der Lebenserscheinungen in den allgemeinen Kausalzusammenhang der Dinge entsagten, meinten diese die Prinzipien der exaktesten physikalischen Disziplin, der Mechanik, hier sofort anwenden zu können. Der Erfolg war in beiden Fällen ein Gebäude von Hypothesen, dem die sichere Basis der Beobachtung mangelte. Diese Umstände, die in der Schwierigkeit der biologischen Auf- gaben begründet sind, machen es begreiflich, daß die Biologie weiter als irgend ein anderer Zweig der Naturforschung zurückgeblieben ist, und daß noch jetzt, obgleich man sich mehr als früher der methodologi- schen Forderungen bewußt geworden, der Streit der Hypothesen in ihr eine bedeutsame Rolle spielt. Sogar die Anordnung und die wechsel- 540 Die Hauptgebiete der Naturforschung. seitige Abhängigkeit der einzelnen Disziplinen beginnt erst allmählich eine logisch korrektere Form anzunehmen. Je mehr die systematische Naturgeschichte in ihrer Ausbildung von der Physiologie eingeholt wird, umso energischer erhebt diese den Anspruch, als das Fundament der gesamten Biologie zu gelten. Auf der einen Seite zieht sie die ana- tomische Untersuchung in ihre Dienste und verleiht ihr eine erhöhte Fruchtbarkeit durch die Verbindung mit dem physiologischen Experi- mente; auf der anderen Seite reformiert sie die Grundbegriffe der Naturgeschichte und sucht dem Zusammenhang ihres Systems ein genetisches Verständnis abzugewinnen. Gleichzeitig beginnt man das Gebiet der abnormen Lebenserscheinungen nicht mehr als ein dem normalen Leben fremdartiges zu betrachten. Die Pathologie sucht sich in eine pathologische Physiologie umzuwandeln, indem sie auf Grund physiologischer Tatsachen und Gesetze ein Verständnis der Krankheitsformen und ihres Verlaufs zu gewinnen strebt. In diesen Betrachtungen über die Entwicklung der biologischen Aufgaben sind die Gesichtspunkte enthalten, nach denen die Gliederung der biologischen Wissenschaften zu beurteilen ist. Wie die Gesamtheit der Naturwissenschaften auf der Physik, so ruht die Biologie auf der Physiologie als derjenigen Disziplin, die sich mit der Erklärung der Lebenserscheinungen beschäftigt. Während hier deallgemeine Physiologie die Probleme der Organisation und des Lebens über- haupt zu untersuchen hat, sind die verschiedenen Gebiete der spe- ziellen Physiologie bestrebt, den besonderen Gestaltungen nachzugehen, die diese Probleme infolge der Existenz- und Organisations- bedingungen der verschiedenen Klassen lebender Geschöpfe annehmen. Mit jenem glücklichen Instinkt, mit dem so manchmal die Unter- scheidungen der Sprache der wissenschaftlichen Zergliederung vorauseilen, wurden von Anfang an Pflanze und Tier als die beiden Haupt- objekte der speziellen Physiologie hingestellt. Die tiefer eindringende Untersuchung hat, so sehr es infolge der Bemühungen um eine genauere Begriffsbestimmung an Grenzverschiebungen nicht fehlte, doch im ganzen daran nichts zu ändern vermocht. Auch die Annahme von Zwischenwesen zwischen Pflanzen- und Tierreich würde, wenn sie sich sollte rechtfertigen lassen, die Haupteinteilung in Pflanzen- und Tierphysiologie kaum berühren, da gerade infolge ihrer systematischen Stellung derartige Zwischenwesen dem Untersuchungsgebiet der all- gemeinen Physiologie zugewiesen werden müßten. Dagegen steht nichts im Wege, die beiden Teile der speziellen Physiologie nach theoretischen oder praktischen Rücksichten noch weiter zu gliedern. So nimmt ın Die biologischen Methoden. 94l der Tat die Tierphysiologie in ihrer heutigen Gestalt vorwiegende Rücksicht auf den Menschen, so daß sie ein Aggregat aus spezieller Tierphysiologie und Physiologie des Menschen bildet, zu dem außer- dem noch einzelne Entlehnungen aus der allgemeinen Physiologie zu kommen pflegen. In weiterem Umfange als, wie hier, das praktische Bedürfnis dürfte in der Zukunft das theoretische Interesse eine Ab- lösung speziellerer physiologischer Untersuchungen fordern. Denn nur durch die Erforschung der einzelnen ÖOrganisations- und Ent- wicklungsbedingungen kann die Physiologie den Anspruch, für die Systematik des Pflanzen- und Tierreichs eine erklärende Grundlage zu schaffen, mit Erfolg zur Geltung bringen, ähnlich wie in der Chemie das System der chemischen Verbindungen sich stützt auf das Studium der chemischen Affinitätswirkungen. In der Tat hat in diesem Sinne die Entwicklungsgeschichte bereits eine umfassende Verwertung gefun- den. Doch wird die Bedeutung ihres Einflusses, so hoch sie an sich zu stellen ist, bis jetzt noch beeinträchtigt durch die geringen Kenntnisse, die wir von den Bedingungen der Entwicklungsvorgänge besitzen. Während auf diese Weise die Physiologie durch ihre fortgesetzte Spezialisierung die systematische Naturgeschichte der Organismen aus sich hervorgehen läßt, führt auf der anderen Seite von selbst die normale zur pathologischen Physiologie, indem die Beeinträchtigung der Lebens- funktionen durch willkürlich gesetzte Störungen überall schon in der normalen Physiologie als eines der wirksamsten Hilfsmittel Ver- wendung findet. Wie dort zwischen Physiologie und Systematik eine vergleichende Physiologie, so tritt darum hier zwischen Physiologie und Pathologie eine experimentelle Patho- logie als vermittelnde Hilfswissenschatft. b. Die morphologische Analyse. Die Anatomie hat sich zwar aus praktischen Ursachen speziell als Anatomie des Menschen eine selbständige Stellung errungen. Theo- retisch betrachtet ist sie aber keine besondere Wissenschaft, sondern eine mit eigentümlichen Hilfsmitteln arbeitende physiologische Methode und eine Darstellung der Resultate, die mittels dieser Methode gewonnen wurden. Zwar scheint sie sich auf den ersten Blick dadurch von der Physiologie zu unterscheiden, daß sie am toten, diese am lebenden Körper ihre Studien macht*). Aber gerade dies ist nur ein Unterschied *) Vgl. Cohnheim, Vorlesungen über allgem. Pathologie, 2. Aufl., LSs.8R , 542 Die Hauptgebiete der Naturforschung. der Methode, und ein solcher, der nicht einmal überall standhält. Es gibt eben physiologische Tatsachen, die sich auch noch an der Leiche feststellen lassen; und sie sind es, welche die Anatomie mit den ihr ver- fügbaren Methoden untersucht. Aber im einzelnen findet diese Regel mannigfache Ausnahmen. Wo wir Grund haben anzunehmen, daß unmittelbar nach dem Tode erhebliche Veränderungen eintreten, wie bei der Elementarstruktur jugendlicher Zellen, der Nervenfasern u. dgl., da verlangt auch der Anatom, daß die Teile während des Lebens unter- sucht werden. Er gestattet sich also die Untersuchung des toten Orga- nismus nur insoweit, als die Voraussetzung erlaubt ist, daß keine durch die anatomischen Methoden nachweisbaren Strukturveränderungen in- folge des Todes eingetreten sind. Es gibt nur ein Merkmal, das klar und scharf die Anatomie von den übrigen Gebieten der Physiologie trennt. Es liegt darin, daß sich die Anatomie allein mit jenen Eigenschaften und Vorgängen beschäf- tigt, die in der Form der lebenden Wesen und ihrer Teile zum Aus- druck kommen. Aber auch dies beruht bloß auf einem Unterschied der Methode. Denn es ist begreiflich, daß die Untersuchung der Form- verhältnisse eigentümliche Methoden verlangt, die z. B. von den zur Untersuchung der Stoffbestandteile, der mechanischen, thermischen, elektrischen Eigenschaften benützten Methoden wesentlich abweichen. Die Form ist deshalb kein von diesen anderen Eigenschaften isoliertes oder wenigstens auf die Dauer zu isolierendes Objekt. Vielmehr wird ein Verständnis der Formen schließlich nur durch die Berücksichtigung aller anderen physiologischen Faktoren zu gewinnen sein. In der Tat ist dieser Standpunkt der Betrachtung in der Pflanzenphysiologie be- reits allgemein zur Anwendung gelangt. Nur in der animalischen Physio- logie taucht der Gedanke einer Morphologie, die es mit eigen- tümlichen, allen sonstigen physiologischen Erscheinungen fremd- artig gegenüberstehenden Gestaltungsgesetzen der tierischen Körper zu tun habe, zuweilen noch auf. Er ist hier als ein Rest jener Ver- wechslung ästhetisierender Naturbetrachtung mit wirklicher Natur- erklärung zurückgeblieben, die als eine Nachwirkung der Schelling- schen Naturphilosophie in der systematischen Naturgeschichte lange noch einen bedeutsamen und während einer gewissen Zeit in mancher Beziehung fruchtbaren Einfluß ausgeübt hat*). *) Es sei hier erinnert auf botanischem Gebiet an die morphologischen Arbeiten von C. Schimper und Alex. Braun, und an die großenteils der tierischen Morphologie gewidmeten Betrachtungen von H. G. Bronnin seinen „Morphologischen Studien“. Vgl. Abschn. I, S. 56 fi. Die biologischen Methoden. 45 Schon bei der anatomischen Methode kommt nun sofort eine Eigentümlichkeit der biologischen Methodik zur Geltung, die in der Schwierigkeit und Verwicklung der Probleme ihren naheliegenden Grund hat. Sie besteht in dem großen Übergewicht des analy- tischen Elementes. In dieser Beziehung steht der gegenwärtige Zustand der Biologie noch um eine Stufe zurück hinter dem der chemi- schen Forschung. In der Biologie geht die Untersuchung fast völlig auf ineiner AnalysederErscheinungen. Innerhalb dieser nimmt die anatomische oder morphologische Analyse die erste Stelle ein, nicht nur, weil sie am frühesten und unmittelbarsten sich darbietet, sondern auch, weil ohne sie ein fruchtbarer Übergang zu den anderen Methoden nicht zu gewinnen ist. Die morphologische Analyse zerfällt aber wieder in verschiedene Stadien. Nach den Hilfsmitteln, mit denen sie operiert, lassen sich deren drei unterscheiden. Das erste be- steht in der Zerlegung des zusammengesetzten Organismus in seine Organe und Gewebe. Es erledigt diejenigen Aufgaben, die man, weil sie sich zumeist ohne die Hilfe des Mikroskops erledigen lassen, häufig der „gröberen Anatomie“ zurechnet; wir ziehen es vor, die hierher ge- hörigen Methoden, weil sie durchgängig mechanischer Art sind, als die der mechanischen Morphologie zu bezeichnen. Das zweite Stadium sucht, an das erste anknüpfend, die Organe und Gewebe in ihre Formelemente zu zerlegen. Es bedarf dazu des Mikroskops und seiner Hilfsapparate und mag daher das Stadium der optischen Morphologie genannt werden. Endlich das dritte begnügt sich nicht mit einer Analyse der vorhandenen Form- elemente, sondern es sucht auf diese durch physikalische und chemische Hilfsmittel verändernd einzuwirken, um über ihre funktionelle Bedeu- tung Aufschluß zu gewinnen: das Stadium der experimentellen Morphologie. Man darf sich nun aber nicht vorstellen, daß diese Stadien strenge zu sondern seien. Vielmehr finden sich im einzelnen mannigfache Abweichungen von jener regelmäßigen Reihenfolge. Einer- seits sehen sich die früheren Stufen genötigt, gelegentlich die Hilfsmittel der späteren zu ihren Zwecken herbeizuziehen; und anderseits werden die Hilfsmittel und Resultate der früheren in die späteren hinüber- genommen. So gewinnen mechanische Gesichtspunkte eine große Be- deutung in der optischen Morphologie, und die Hilfsmittel dieser bilden fortan einen integrierenden Bestandteil der experimentellen morpho- logischen Untersuchung. Sehen wir ab von solchen Übergängen und Wechselwirkungen, so ist drmechanischen Morphologie in der Untersuchung 544 Die Hauptgebiete der Naturforschung. der Lage- und Formverhältnisse der unmittelbar sinnlich wahrnehm- baren Organe und Gewebe ihr Arbeitsgebiet klar vorgezeichnet. Sie hat keineswegs eine bloße Beschreibung der Teile zu geben, wie dies in der älteren Anatomie geschah, sondern, so weit sie es mit ihren Hilfsmitteln vermag, hat sie in die Bedingungen der Formeigentüm- lichkeiten einzudringen, die sich ihr durch die anatomische Zergliede- rung erschließen. Eine Beschreibung des Skeletts, die auf die Wachs- tumsbedingungen und die mechanische Bedeutung der Knochenformen keine Rücksicht nimmt, eine Untersuchung des Muskelsystems, die den Zusammenhang der Elastizität, Form und Anordnung der Muskeln mit ihrer Funktion mit Stillschweigen übergeht, eine Darstellung der Kreislaufsorgane, die von den hydraulischen Prinzipien, die ein Ver- ständnis derselben erschließen können, nichts zu sagen weiß — eine Anatomie dieser Art würde eine Wissenschaft sein, aus welcher der Geist der Wissenschaft verschwunden wäre. Nun liegt es in der Natur der anatomischen Probleme, die mit denen der praktischen Mechanik die größte Verwandtschaft haben, daß die anatomische Untersuchung zunächst von teleologischen Prinzipien geleitet wird*). Der nächste Standpunkt der mechanischen Morphologie ist daher der, daß sie in dem Organismus einen natürlichen Mechanismus sieht, dessen Ein- richtungen sie mit Rücksicht auf seine Leistungen zergliedert. Aber es ereignet sich von selbst im Verlaufe dieser Untersuchung, daß sich die teleologische in die kausale Betrachtung umkehrt. Indem der Orga- nismus bestimmte mechanische Leistungen verrichtet, sind die Organe, die sich daran beteiligten, selbst mechanischen Bedingungen unter- worfen, die zu einem großen Teil in der Funktion ihre Quelle haben und verstärkend auf die Leistungsfähigkeit der Organe zurückwirken. Die Anordnung der absorbierenden und saftführenden Zellen in der Pflanze ist in eminentem Sinne zweckmäßig für die Mechanik des Stoflaus- tausches, und der letztere erzeugt wieder Wachstumsbedingungen, welche die Zweckmäßigkeit der Struktur befestigen und vergrößern**). Die Gelenkenden der Knochen sind vortreflliche Hilfsmittel für die Mechanik der tierischen Bewegungen, diese Bewegungen aber ver- leihen ihrerseits den Gelenken die zur Funktion günstigste Beschaffen- heit, indem die in Kontakt tretenden Flächen sich abschleifen, der Muskelzug die Angrifisstellen der bewegenden Kräfte zweckmäßig ge- staltet, und schließlich der mechanische Druck selbst auf die Ernährung *) Vgl. hierzu die allgemeinen Erörterungen über das Zweckprinzip, Bd. I, S. 619 fi. **) W, Pfeffer, Pflanzenphysiologie?, II, Kap. I—-VII. Die biologischen Methoden. 545 in solcher Weise zurückwirkt, daß die Ablagerung der Knochenmasse den mechanischen Bedingungen sich anpaßt. Dieser mechanischen Analyse der Entstehungsbedingungen der Funktion tritt dann die ihrer Wirkungen zur Seite, indem man teils auf theoretisch- mechanischem, teils auf experimentell - physiologischem Wege ihre funktionelle Bedeutung zu ermitteln sucht. Ihre glänzendsten Erfolge hat diese mechanische Funktionsanalyse begreiflicherweise in der Anatomie des menschlichen Skeletts und seiner Gelenke aufzuweisen*). Vielfach zeigt es sich jedoch, daß die mechanischen Hilfsmittel zur Lösung schon der einfachsten morphologischen Aufgabe, der ge- nauen Beschreibung der Teile, nicht ausreichen, sondern daß die Unter- suchung zur optischen Morphologie ihre Zuflucht nehmen muß. Nach ihrem logischen Charakter ist die mikroskopische Er- forschung der Gewebe und Organe eine bloße Fortsetzung der mechani- schen. In nicht anderer Weise als diese sucht auch jene die Organismen in die durch ihre äußere Form unterscheidbaren Bestandteile zu zer- legen. Aber durch die Herbeiziehung optischer Werkzeuge gelingt es ihr, was für das bloße Auge homogen erscheint, in weitere Teile zu trennen; dadurch erhebt sie sich zu der Untersuchung der Form- elemente und ihrer Beziehungen, bei der sie übrigens selbstverständlich die Hilfsmittel der mechanischen Zerlegung mit verwendet, indem sie nur, der Kleinheit ihrer Objekte entsprechend, durchgehends einer feineren Technik bedarf. Teils weil diese Technik immer noch verhältnismäßig roh ist den zarten und leicht zerstörbaren mikroskopischen Objekten gegenüber, teils weil für die optische Zer- gliederung nur solche Formbestandteile unterscheidbar sind, die verschiedenes Lichtbrechungsvermögen besitzen, sieht sich nun die optische Morphologie genötigt, zahlreiche weitere Hilfsmittel herbei- zuziehen, die irgendwie verändernd auf die untersuchten Formelemente einwirken und so Gegenstände zur Anschauung bringen, die dieser sonst mehr oder minder entgehen würden. Hierher gehören die zahl- reichen Härtungs- und Färbungsmethoden, von denen die ersteren hauptsächlich dazu bestimmt sind, den Lagezusammenhang der Ele- mente weicher Gewebe sichtbar zu machen, während die letzteren die Unterschiede der Gewebe oder Formelemente erkennen lassen, daher sich diese Färbungsmittel besonders dann nützlich erweisen, *) W. und Ed. Weber, Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge, 1836. W. Braune und O. Fischer in den Abh. der kgl. sächs. Ges. d, Wiss., math.-phys. Kl., Bd. 14, 15, 17 und 18. Wundt, Logik. II. 3. Aufl, 35 546 Die Hauptgebiete der Naturforschung. wenn sie sich infolge chemischer Einwirkungen nur mit einzel- nen Bestandteilen verbinden, während andere unverändert bleiben. Je mehr es bis jetzt fast ausschließlich das Glück des Zufalls ist, das den Mikroskopiker bei der Wahl solcher Mittel leitet, umso reicher ist der Vorrat möglicher Hilfsquellen, und umso leichter scheint es denkbar, daß auf diesem Wege trotz der unzähligen Versuche, die schon gemacht sind, auch in der Zukunft noch manches erreichbar sei. Viel wichtiger aber als eine Vermehrung dieser sekundären Hilfs- mittel würde es sein, wenn die Leistungsfähigkeit des Mikroskops selber noch weiter vergrößert werden könnte. Denn gewiß mit Recht hat man bemerkt, daß die Entdeckungen der mikroskopischen Anatomie in erster Linie den Optikern zu verdanken sind*). In der Tat, wie die Ein- führung des zusammengesetzten Mikroskops in das Arbeitszimmer des Biologen unmittelbar gefolgt war von der Entdeckung der Formelemente des Pflanzen- und Tierkörpers, so ist in der neuesten Zeit die Auffindung einer feineren Struktur dieser Formelemente eine unmittelbare Rück- wirkung der Einführung der Linsenimmersion mit ihrer stärkeren und lichtreicheren Vergrößerung und den sich an sie anschließenden wich- tigen Verbesserungen der optischen Technik durch Ernst Abbe ge- wesen**). Eine bedeutsame Hilfe entsteht der unmittelbaren optischen Zergliederung außerdem durch die Herbeiziehung von Polarisations- instrumenten, die teils über kristallinische Strukturen der mikro- skopischen Objekte, teils über ungleiche Spannungsverhältnisse der festen Gewebe Aufschluß geben, wobei freilich die Beobachtung häufig zwischen diesen beiden Deutungen die Wahl läßt***). So wenig wie die mechanische kann sich aber die optische Morpho- logie auf eine bloße Beschreibung des Gesehenen beschränken. Viel- mehr wird sie von selbst dazu gedrängt, über die mechanischen Be- dingungen Rechenschaft abzulegen, denen die einzelnen Formelemente eines Gewebes vermöge ihrer Wechselwirkungen ausgesetzt sind. Bei zahlreichen pflanzlichen und tierischen Geweben genügt ein Blick in das Mikroskop, um dem Beobachter die Überzeugung zu geben, daß die Form der Elemente wesentlich durch die Art ihrer Koexistenz be- stimmt wird. Bei der Pflanze nehmen dadurch die Grenzlinien der Zellwände und ihrer Komplexe nicht selten geometrisch regelmäßige Formen an, die unmittelbar Rückschlüsse auf die mechanischen Wachs- *) Flemming, Zellsubstanz, Kern und Zellteilung, 1882, S. 9. **) Q, Wiener, Nekrolog auf E. Abbe, Berichte der sächs. Ges. d. Wiss,, 1906. ***) Nägeliund Schwendener, Das Mikroskop, 1867, 8. 307 ff. Die biologischen Methoden. 547 tumsbedingungen gestatten*). In tierischen Geweben sind die Ver- hältnisse durchweg verwickelter; doch begegnen uns auch hier, wie z. B. in den Epithelial- und Drüsengeweben, gewisse regelmäßige An- ordnungen**). Alle derartige Untersuchungen über die wechselseitige Formbestimmung der morphologischen Elemente müssen jedoch ge- wisse Fundamentalbedingungen als gegeben hinnehmen, weil deren kausale Verfolgung der mikroskopischen Zergliederung als solcher ver- schlossen bleibt. Diese Bedingungen bestehen vor allem in der un- gleichen Wachstumsgeschwindigkeit der verschiedenen Elemente und Elementenkomplexe. Über sie lassen sich nicht oder doch nur zum allergeringsten Teil durch die bloße Beobachtung Aufschlüsse gewinnen. Hier muß sich daher die mikroskopische Untersuchung mit den anderen biologischen Methoden verbinden. Für dieses wie für manche ähnliche Probleme ist daher die Kombination mit der experimentellen Ein- wirkung fruchtbringend geworden. Die Methoden der aus einer solchen Kombination hervorgehenden experimentellen Morphologie bilden, diesem gemischten Ursprung gemäß, nicht eigentlich selbständige Verfahrungsweisen, sondern sie sind Verbindungen der mikroskopischen Beobachtung mit verschiedenen Formen des physiologischen Experimentes. Dabei werden aber diesem durch die Verhältnisse der ersteren Schranken auferlegt, die hier dem Experiment eine eigentümliche Stellung sichern. Vor allem sind zwei Bedingungen für dasselbe charakteristisch. Erstens kann es sich nur auf solche Vorgänge beziehen, die an den mikro- skopischen Gebilden isoliert zur Erscheinung kommen, und zweitens ist es im allgemeinen nicht möglich, die Elemente, deren experimentelle Beeinflussung beabsichtigt wird, allein zu verändern. Beide Bedingungen stehen miteinander und zugleich mit den schwierigen, nur in entfernter Annäherung erreichbaren Aufgaben der experimentellen Morphologie im Zusammenhang. Diese bezweckt schließlich eine experimentelle Untersuchung der elementaren Lebensprozesse. Bis jetzt ist es aber nur möglich die letzteren zu verfolgen, insoweit sie sich in unmittel- baren Veränderungen des mikroskopischen Bildes oder allenfalls noch derjenigen Eigenschaften zu erkennen geben, die sich der Untersuchung mit dem polarisierten Lichtstrahl verraten; alle sonstigen physi- *) J. Sachs, Vorlesungen über Pflanzenphysiologie, S. 531. Pfeffer, Pflanzenphysiologie?, II, S. 52 ff. **) W. Roux, Der Kampf der Teile im Organismus, 1881. Gesammelte Abhandlungen über Entwicklungsmechanik der Organismen, 2 Bde., 1895. Vor- träge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik, I, 1905. 548 Die Hauptgebiete der Naturforschung. kalischen und chemischen Veränderungen bleiben ausgeschlossen. Ein wichtiger Unterschied solcher Experimente von den an größeren Organen oder am ganzen Pflanzen- und Tierorganismus auszuführenden besteht nun darin, daß das mikroskopische Experiment eine räumliche Isolierung der Einwirkungen nur in sehr unvollkommener Weise vor- nehmen kann. Dadurch beschränken sich wesentlich seine Aufgaben. Sein hauptsächlichstes Gebiet blieben bis jetzt de elementaren Bewegungsvorgänge, wie Protoplasma-, Wimper- und Muskel- bewegungen, letztere namentlich mit Rücksicht auf die etwaigen Ver- änderungen der doppelbrechenden Muskelelemente. Daran schließt sich das Studium der kapillaren Kreislaufserscheinungen und der in das pathologische Gebiet der Entzündungs- und Exsudationsprozesse herüberreichenden Effekte experimenteller Einwirkungen. Auch die Regenerations-, Befruchtungs- und Entwicklungserscheinungen sind in mannigfacher Weise Objekte der experimentellen Morphologie ge- worden. Gegenüber diesem Umfang wachsender Aufgaben ist das Inventar experimenteller Methoden ein verhältnismäßig beschränktes: mechanische Einwirkungen, Licht und Wärme, chemische Stoffe und der elektrische Strom, sie alle — namentlich bei mikroskopischen Objekten — im Verhältnis zur Zartheit derselben in ziemlich roher Form, bilden neben dem Polarisationsapparat und den Färbemetho- den die Hilfsmittel, über die der mikroskopische Versuch gebietet*). c. Diephysiologisch-chemische Untersuchung. An die Untersuchung der Formbestandteile schließt sich diejenige der Stoffbestandteile am unmittelbarsten an. Die Physiologie ver- wendet hier keine ihr eigentümlichen Methoden, sondern sie entlehnt diese der Chemie, aber sie bedient sich ihrer allerdings unter wesentlich anderen Gesichtspunkten. Die Eigenschaften der organischen Stoff- bestandteile sind für sie nur insofern von Interesse, als sie auf die Lebenseigenschaften der Organismen, ihrer Gewebe und Organe Licht werfen. Da nun an und für sich sowohl die Eigenschaften einer chemi- schen Verbindung wie ihre Entstehungsbedingungen in der rationellen Zusammensetzung ihren Ausdruck finden müssen, so ist die Kenntnis der Konstitution der organischen Stoffe auch für die Physiologie von unschätzbarem Werte, und nicht minder lassen sich reiche Aufschlüsse *) M. Verworn, Allgemeine Physiologie”, 1901, S. 218 ff. Jacques Loeb, Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen, 1906, S. 89, 163 fi. Die biologischen Methoden. 549 über die chemischen Vorgänge im Tierkörper erwarten, wenn es ge- lingt, dessen Stofiverbindungen auf synthetischem Wege aus den Elementen oder aus einfacheren Verbindungen herzustellen. Leider ist die chemische Analyse und Synthese noch weit von diesem Ziele entfernt. Gerade von den physiologisch wichtigsten Stoffen, den Bi- weißkörpern und ihren Verwandten, kennen wir mit Sicherheit nur die elementare Zusammensetzung; auch die für die Lebensfunktionen so wichtigen pflanzlichen und tierischen Farbstoffe, wie das Chlorophyll und Hämoglobin, sind uns noch dunkel in Bezug auf ihre Konstitution. Dementsprechend ist man zwar im allgemeinen im stande, die ein- facheren organischen Stoffe, welche die Bestandteile tierischer und pflanzlicher Exkrete bilden, auch auf künstlichem Wege durch Oxy- dation und Spaltung zu erzeugen. Für die zusammengesetzteren Gewebsbestandteile aber sind bis jetzt nur die Organismen selbst, namentlich die Pflanzen, als Erzeugungsstätten bekannt. Dieser Um- stand hat die Folge mit sich geführt, daß die chemischen Prozesse im Tierkörper unserer Erkenntnis verhältnismäßig zugänglicher sind als die in der Pflanze. Da die Untersuchung der chemischen Stoffbestandteile für die Physiologie nur das Mittel bildet, um zu einem Verständnis der chemi- schen Lebenserscheinungen zu gelangen, so verwendet sie neben der chemischen Analyse hauptsächlich noch zwei Methoden: 1) die ver- gleichende Beobachtung der die chemischen Prozesse begleitenden morphologischen Vorgänge, und 2) die Nachbildung der physiologisch- chemischen Prozesse außerhalb des Organismus. Bei allen synthe- tischen Prozessen im Pflanzen- und Tierkörper, deren künstliche Nach- erzeugung unmöglich ist, wie der Bildung des Amylon, der Zellulose, des Chlorophyll, der Eiweißstoffe in der Pflanze, oder der Rückbildung des Verdauungseiweißes in genuines Eiweiß, der Bildung von Hämo- globin, Protoplasma- und Kernsubstanzen der Zellen im Tierkörper, ist man zu einem großen Teil auf die erste dieser Methoden angewiesen. Hier ist es besonders die Pflanzenphysiologie, in der auf das glücklichste die mikroskopische Beobachtung der chemischen Analyse zu Hilfe gekommen ist, indem es ihr gelang, die Sukzession des Auftretens der einzelnen Zellbestandteile mit einiger Sicherheit zu ermitteln*). Zu- rückgeblieben ist in dieser Beziehung die animalische Physiologie wohl deshalb, weil sich hier einige der wichtigsten Stoffbildungsvorgänge, *) Vgl. Jul. Sachs, Vorlesungen über Pflanzenphysiologie, S. 357 fl. W. Pfeffer, Pflanzenphysiologie, I, S. 266 fl. 550 Die Hauptgebiete der Naturforschung. wie die Regeneration des genuinen Eiweißes, der morphologischen Untersuchung entziehen; nur über die Bildung der Blutbestandteile besitzen wir zahlreiche, allerdings chemisch noch schwer zu deutende Beobachtungen. Überhaupt ist es ein Nachteil dieser Methode, daß sie nur über die äußere Sukzession der Erscheinungen Auskunft gibt, und daß daher die eigentlich chemische Seite des Vorgangs zumeist der Hypothese überlassen bleibt, die natürlich umso unsicherer ist, je weniger wir von der wahren Konstitution der in Frage kommenden Verbindungen unterrichtet sind. Hier ist daher die Methode der Nach- bildung der Prozesse außerhalb des Organismus ungleich fruchtbarer; ihr Nachteil besteht nur darin, daß sie im allgemeinen bloß auf die organischen Zersetzungsprozesse, und auch auf diese nicht in allen Fällen, anwendbar ist. So können wir zwar durch Einwirkung von Mineralsäuren, Alkalien und Fermenten Eiweißkörper in Peptone und andere albuminoide Substanzen, ebenso die komplexeren Kohlehydrate in einfachere verwandeln, wir vermögen ferner die meisten tierischen Exkretionsstoffe künstlich aus Gewebebildnern auf demselben Wege zu erzeugen. Aber da in diesen Fällen die Produkte quantitativ und zum Teil auch qualitativ von denjenigen abweichen, die bei der natür- lichen Zersetzung im Körper selbst entstehen, so lassen sie zwar auf die allgemeine Richtung zurückschließen, in welcher die im lebenden Organismus stattfindende Zersetzung der gewebebildenden Stoffe ver- läuft; doch gestatten sie es nicht, die Vorgänge dieser Zersetzung selbst mit Sicherheit zu erkennen, und sie gestatten es im allgemeinen noch weniger, den bei der Gewebebildung stattfindenden Aufbau komplexer chemischer Moleküle aus einfacheren zu rekonstruieren. Gleichwohl vermag dieses Studium der außerhalb des Organismus durch willkür- liche chemische Einwirkung erzeugten Umwandlungsprodukte der Gewebestoffe offenbar tiefer in die chemische Werkstätte desselben einzudringen, als die direkt am lebenden Körper selbst ausgeführte Statik und Dynamik des Stoffwechsels, die im wesentlichen auf eine qualitative und quantitative Vergleichung der eingeführten Nahrungs- stoffe und der Ausscheidungsprodukte beschränkt bleibt. Da es natür- lich unendlich viele Wege gibt, auf denen diese Anfangs- und End- produkte des Stoffwechsels ineinander übergehen können, so muß sich hier notgedrungen die Untersuchung auf die Schlüsse beschränken, die bei mannigfacher Variation aller Bedingungen und unter gleich- zeitiger Kontrolle der Gewebezunahme, sowie der Ausgaben des Körpers an Wärme und mechanischer Arbeit über die Beteiligung der einzelnen komplexen Gewebestoffe an diesen verschiedenen Funktionen zu ziehen Die biologischen Methoden. 551 sind. Die Schwierigkeiten, die hier einer sicheren Entscheidung im Wege stehen, erhellen deutlich aus dem langen, noch immer nicht ab- geschlossenen Streit über die Frage nach den chemischen Quellen der tierischen Muskelarbeit, insbesondere darüber, inwieweit diese aus- schließlich in der Spaltung und Verbrennung der Proteinstoffe oder außerdem zu einem wesentlichen Teil in derjenigen der eingeführten Fette zu suchen seien*). Dagegen hat uns die außerhalb des Organis- mus im Laboratorium durchgeführte stufenweise Zersetzung der Ei- weißstoffe in deren Spaltungsprodukte, die zunächst zu den primären Albuminoiden und löslichen Peptonen, zu den einfacheren Verbindungen der Fettsäure und der Benzolreihe (Aminsäuren, Tyrosin, Indol u. s. w.), und schließlich zu den letzten Zerfallsprodukten Kohlensäure, Wasser und Ammoniak herabreichen, wenigstens gewisse Leitlinien an die Hand gegeben, nach denen man sich die verschiedenen Proteinsub- stanzen als Kombinationen komplexer Kohlenstoffkerne zu deuten hat, an die sich dann durch freie Affinitäten weitere, namentlich auch schwefelhaltige Atomgruppen anlagern können**). Indem unter diesen Spaltungsprodukten diejenigen, die durch die lebenden Fermente der Gärung und Fäulnis erzeugt werden, den im Organismus durch die in ihm vorkommenden Enzyme (Pepsin, Ptyalin, Trypsin) er- zeugten am nächsten kommen, ist der Chemismus des tierischen wie des pflanzlichen Lebens unter den Gesichtspunkt jener katalyti- schen Vorgänge gerückt worden, wie sie mannigfach schon in der unorganischen Natur beobachtet werden, in den Organismen aber eine ungleich tiefer greifende Bedeutung gewinnen. Die in ihnen ent- stehenden Enzyme, die selbst zu den regelmäßigen Spaltungsprodukten der Proteinstoffe gehören, vermitteln zugleich deren allmähliche Selbstzersetzung. Diese aber ist derjenige Teil des organischen Stoff- wechsels, an den hauptsächlich der Übergang der chemischen Energie in andere Energieformen, namentlich in Wärme und mechanische Arbeit, gebunden ist. So ist das Problem des organischen Chemismus auf das engste an das Problem der katalytischen Vorgänge geknüpft. (Vgl. oben S. 551.) Darum hat sich die Physiologie genötigt gesehen, den Bereich *) Vgl. über diese Frage Voit in Hermanns Handbuch der Physiol., Bd. 6, I, 1881, S. 26 fi. Pflüger in seinem Archiv, Bd. 50, 1891, S. 98 fi. Speck, Über Kraft- und Ernährungsstofiwechsel, Ergebnisse der Physiologie von Aster und Spiro, II, 1903, S. 1 ff. **) FF Hofmeister, Über den Bau des Eiweißmoleküls, Vortrag vor der Naturforscherversammlung in Karlsbad, 1902. (Naturw. Rundschau, 1902, S. 259 ff... E. Fischer, Sitzungsber. der Berliner Akad. 1907, 8. 35 ff. 552 Die Hauptgebiete der Naturforschung. dieser katalytischen Vorgänge von den engeren Gebieten der diastatischen Umsetzungen der Stärke innerhalb der Pflanzenzelle und der Ver- dauungsfermente im Magen und Darmkanal auf die chemischen Vor- gänge im Inneren der Organe, namentlich der Drüsen, und auf den Chemismus der Atmung bei Tieren wie Pflanzen zu übertragen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden hierdurch in naher Zukunft schon die bisher noch gebrauchten allgemeinen Begriffe der „Assimi- lation“ und „Dissimilation“ aus dem Wörterbuch des Physiologen ver- schwinden, um den einzelnen synthetischen und analytischen Enzym- wirkungen zu weichen, die dann freilich in jedem einzelnen Fall eine Untersuchung der besonderen chemischen Reaktionsvorgänge und ihres Verlaufs erheischen. Noch steht dem die Schwierigkeit im Wege, daß, gemäß dem allgemeinen Vorsprung der analytischen vor den synthetischen Methoden der Chemie, fast nur die Spaltungswirkungen der Enzyme die Aufmerksamkeit gefesselt haben, und daß man daher meist die Existenz katalytischer Synthesen überhaupt bezweifelte. Nachdem aber eine Reihe umkehrbarer Spaltungsprozesse nachgewiesen ist, bei denen komplexe Moleküle aus ihren Spaltungs- produkten unter der Wirkung von Enzymen wieder aufgebaut werden können, ist die Aussicht vorhanden, daß auf ähnlichem Wege auch dereinst noch die Synthese der komplexen gewebebildenden Stoffe und ihrer nächsten Derivate möglich sein werde*). Damit ist zugleich die früher verbreitete Annahme hinfällig geworden, daß die organischen Assimilationsvorgänge spezifischer, nur in der lebenden Zelle wirksamer Kräfte zu ihrer Entstehung bedürften. Vielmehr sind sie offenbar nur chemische Synthesen, die aber in den lebenden Geweben besonders gün- stigen Bedingungen begegnen, und die hier, ebenso wie die künstlichen Synthesen, als Umkehrungen bestimmter katalytischer Spaltungs- prozesse vorkommen. d. Die physiologisch-physikalische Untersuchung. Wie die chemische Untersuchung der Lebenserscheinungen der Chemie, so entlehnt die physikalische der Physik ihre fundamentalen Methoden. Auch hier gliedert sich die Untersuchung in eine Analyse der Eigenschaften und in eine solche der Vorgänge. Wir unter- suchen, um die Leistungsfähigkeit der einzelnen Organe und Gewebe zu würdigen, die Elastizität und Kohäsion der Knochen und Muskeln, *) Beispiele bis jetzt gelungener Umkehrung der Spaltungswirkungen der Enzyme vgl. bei Bredig, Ergebnisse der Physiologie, 1903, I, S. 191. Die biologischen Methoden. 959 die osmotischen Eigenschaften pflanzlicher und tierischer Membranen, die Wärmeverhältnisse der verschiedenen Organe, die elektrischen Eigenschaften bestimmter Gewebe. Manche dieser Untersuchungen, wie die der Elastizität und Kohäsion, berühren sich mit den Aufgaben der mechanischen Morphologie, andere, wie die der optischen Eigen- schaften, werden, von der Prüfung der brechenden Medien des Auges abgesehen, fast ganz von der optischen Morphologie in Anspruch ge- nommen. Überall da bleibt aber die Untersuchung der physikalischen Eigenschaften der spezifisch physikalischen Untersuchung vorbehalten, wo diese nur die Vorbereitung bilden soll für die Erforschung der Veränderungen, welche die Teile bei ihrer Funktion erfahren. In diesem Sinne prüfen wir zunächst die elastischen Eigenschaften des Muskels im Ruhezustand, um dann deren Veränderungen während seiner Kon- traktion zu ermitteln, oder wir vergleichen die elektrischen Eigen- schaften der Nerven und Muskeln vor und während der Reizung. Ähn- lich bildet die thermische Untersuchung der Teile in ihrem gewöhnlichen normalen Zustand die Vorbereitung, um die mannigfachen Abweichungen davon infolge bestimmter innerer Vorgänge oder äußerer Einwirkungen messend zu verfolgen. Auch die physikalische Untersuchung versucht es, wo irgend möglich, Erscheinungen, die im lebenden Körper zur Beobachtung kommen, außerhalb desselben nachzubilden, um sie auf diese Weise vollständig in ihren Entstehungsbedingungen zu erforschen. Aber diese Nachbildung gelingt noch viel schwieriger als die der chemischen Prozesse. Denn gerade die physikalische Seite der Lebensvorgänge ist nicht nur an jene zusammengesetzten organischen Stoffe gebunden, deren synthetische Erzeugung unabhängig vom Pflanzen- und Tier- körper bis jetzt nicht gelang, sondern sie hängt sogar von bestimmten physiologischen Eigenschaften der Stoffe ab, die außerhalb des lebenden Organismus unwiederbringlich verloren gehen. Dadurch ist das Gebiet der synthetischen Untersuchungen der physiologischen Physik außer- ordentlich eng umgrenzt. Es beschränkt sich fast ganz auf einige Fälle, in denen sich die dem toten Körper entnommenen Gewebe noch zu Versuchen verwerten lassen, aus denen auf die physiologischen Pro- zesse, an denen jene Gewebe beteiligt sind, Rückschlüsse gemacht werden können. Ein wichtiges Gebiet dieser Art bilden die osm o- tischen Versuche. Hier werden pflanzliche und tierische Membranen oder andere poröse Scheidewände benützt, um über die allgemeinen Gesetze der unter ähnlichen Bedingungen jedenfalls auch innerhalb des Organismus stattfindenden Diffusion von Flüssigkeiten oder Gasen 554 Die Hauptgebiete der Naturforschung. durch feuchte Membranen Aufschluß zu gewinnen. Ein anderes Gebiet bilden die kalorimetrischen Versuche, die den Zweck verfolgen, aus der Verbrennungswärme der Nahrungs- und Gewebs- bestandteile auf den Wert, den diese für die Wärmebildung und Arbeitserzeugung innerhalb des lebenden Körpers besitzen, zurück- schließen zu lassen. In anderen Fällen versucht man eine schematische Nachbildung physiologischer Vorgänge, indem man von der Voraus- setzung ausgeht, daß ähnlichen Wirkungen auch ähnliche Ursachen entsprechen werden. So konstruierte z. B. du Bois-Reymond durch Verlötung von Kupfer- und Zinkstücken Elemente, die, in eine leitende Flüssigkeit getaucht, Effekte hervorbrachten, die den von ihm be- obachteten Nerven- und Muskelströmen ähnlich waren*). Engelmann suchte seine Annahme, daß die Kontraktion des Muskels eine durch die plötzliche Wärmeentwicklung in den Disdiaklasten entstehende thermische Quellung sei, an einer in Wasser gequollenen Darmsaite, die sich bei der Erwärmung energisch verkürzt, zu veranschaulichen**). Bei Versuchen dieser Art darf jedoch die logische Regel, daß zwar mit dem Grund die Folge, keineswegs aber mit der Folge der Grund gegeben ist, nicht übersehen werden. Der schematische Versuch kann höchstens die allgemeine Möglichkeit einer Hypothese beweisen; ihre Verifikation muß auf anderen Wegen gesucht werden. e. Die physiologische und pathologische Funktions- analyse. Die Hilfsmittel der morphologischen, chemischen und physikalischen Untersuchung reichen, so unerläßlich sie sind, doch für sich allein niemals zu, um einen zureichenden Einblick in den Zusammenhang der Funktionen des lebenden Organismus und seiner Teile zu gewinnen, son- dern sie müssen zu diesem Zweck durch eine experimentelle Ana- lyse der Funktionen ergänzt werden. Unter dieser verstehen wir aber jeden willkürlichen Eingriff in die Lebensvorgänge, der nachweis- bare Veränderungen derselben herbeiführt. In den meisten Fällen bringt es ein solcher Eingriff mit sich, daß der Zusammenhang der Teile durch mechanische Gewalt verändert werden muß, indem man bald einzelne Organe völlig eliminiert, bald sie irgendwelchen instrumen- tellen Einwirkungen zugänglich macht. Das häufigste und unerläßlichste *), E.Edu Bois-Reymond, Untersuchungen über tierische Elektri- zität, I, S. 577 ft. **) Th.W.Engelmann, Der Ursprung der Muskelkraft. 1893. Die biologischen Methoden. 555 Hilfsmittel der Funktionsanalyse ist daher die Vivisektion; aber sie ist keineswegs das einzige, da zu ähnlichen Zwecken auch Ein- wirkungen auf den ganzen Organismus oder dessen einzelne Organe vorkommen können, bei denen keine Visisektion stattfindet. Die physiologische Funktionsanalyse kann entweder von der Frage nach der Funktion gewisser Organe oder Organkomplexe oder aber von der Frage nach der Wirkung bestimmter äußerer Agentien auf den Organismus oder auf einzelne Teile desselben ausgehen. Die erste dieser Fragen ist die nächstliegende und kommt bei der Unter- suchung der normalen Lebensvorgänge zur Anwendung; wir wollen die aus ihr entspringenden Methoden als die der direkten Funk- tionsanalyse bezeichnen. Die zweite Frage erhebt sich vor- zugsweise in solchen Fällen, wo die funktionellen Erscheinungen im allgemeinen bereits bekannt sind, und wo ihre Veränderungen unter bestimmten ungewöhnlichen Einwirkungen erforscht werden sollen. Die so entstehenden Methoden, die wir als die Influenzmetho- den bezeichnen können, dienen teils zur näheren Untersuchung be- stimmter normaler Lebenseinflüsse mittels der Abänderung derselben, teils bilden sie, unter Zuhilfenahme abnormer Einwirkungen, das haupt- sächlichste Inventar der experimentellen Pathologie. Übrigens ist es selbstverständlich, daß sich beide Methoden nur an ihren Ausgangs- punkten unterscheiden, in der Durchführung aber fortwährend inein- ander eingreifen. Die direkte Funktionsanalyse henützt zwei Funda- mentalmethoden, die meistens nach- oder nebeneinander zur Anwendung kommen, wenn nicht aus bestimmten Gründen die eine von ihnen unmöglich wird. Sie lassen sich als spezielle Fälle der allgemeinen Methoden der Elimination und der Gradation der Be- dingungen betrachten (8.385 ff). Die erste besteht in der Funk- tionsaufhebung, die zweiteinderquantitativenFunk- tionsänderung. Eine Funktionsaufhebung wird bald durch die völlige Entfernung eines Organs, bald durch die Lösung seiner funktionellen Verbindungen bewirkt. Es ist besonders der Anfang der Funktionsanalyse, bei dem es sich nur um die Feststellung der all- gemeinen Funktion bestimmter Organe handelt, der diese Hilfsmittel verwendet. So hat die Pflanzenphysiologie die Wege der Saftströmung in den dikotylen Holzpflanzen durch die Beobachtung des Einflusses, den Partialdurchschneidungen des Stengels auf die Ernährung der einzelnen Teile ausüben, zu ermitteln gesucht. Die animalische Physio- logie hat zur Bestimmung der Funktionen der Nervenwurzeln, der 556 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Nervenfasern des Rückenmarks, der einzelnen Teile des Gehirns Durch- schneidungs- und Exstirpationsversuche angewandt. Ebenso sind einzelne Drüsen, wie die Milz, bei niederen Tieren die Leber, zum Behuf der Feststellung ihrer physiologischen Bedeutung ganz aus dem Körper entfernt worden. Eine weit mannigfaltigere Anwendung lassen die Methoden der quantitativen Funktionsänderung zu. In den einfachsten Fällen bedient man sich ihrer zum Behuf der Be- stätigung der auf dem Weg der Aufhebung der Funktion gewonnenen Resultate. Hier verlangt dann der Gegensatz, daß die Änderung in einer Steigerung der Funktion bestehe. Dahin gehören nament- lich die qualitativen Reizversuche der animalischen Nervenphysiologie. Bei Reizung einer Nervenwurzel z. B. müssen die eintretenden Schmerz- äußerungen oder Muskelkontraktionen den bei der Durchschneidung beobachteten Ausfallserscheinungen entsprechen. Kompliziertere Auf- gaben für diese Methode ergeben sich, wenn die allgemeine Beschaffen- heit der Funktion ermittelt ist und es sich nun darum handelt, sie ın ihren einzelnen Bedingungen näher zu verfolgen. Hier wird es erforder- lich, die Veränderungen bei bestimmten äußeren Einwirkungen zu be- stimmen und unter steter Vergleichung mit der quantitativen Ab- stufung jener äußeren Einwirkungen messend zu prüfen. Da nun die letzteren stets physikalischer und chemischer Art sind, so sieht sich die Funktionsänderung in der Regel genötigt, die physikalisch- und chemisch- physiologische Untersuchung zu Hilfe zu nehmen. So untersucht die Pflanzenphysiologie die vegetabilischen Ernährungsvorgänge, indem sie in willkürlicher Weise die chemische Beschaffenheit der die Wurzel um- gebenden Ernährungsflüssigkeiten oder der umgebenden Luft verändert und nun teils das Wachstum der Pflanze, teils die Beschaffenheit ihrer Stoffwechselprodukte quantitativ ermittelt; so seit den berühmten Ver- suchen von Knight den Einfluß der Schwere auf das Wachstum, indem man teils die Pflanze in eine von ihrer Normalstellung abweichende Lage bringt, teils die normale Wirkung der Schwere in einem bestimmten Grade durch die Wirkung einer zentrifugalen Beschleunigung kompen- siert*). Die animalische Physiologie verfolgt die Schwankungen des Blutdrucks, indem sie gleichzeitig bald das Herz, bald die Blutgefäße, bald die Atmungsmechanik bestimmten verändernden Bedingungen aussetzt, u. s. w. Je exakter in allen diesen Fällen die physikalischen oder chemischen Reize sich variieren und abstufen lassen, die eine be- stimmte Steigerung oder Hemmung der Funktionen herbeiführen, *) Pfeffer, Pflanzenphysiologie”, II, S. 127 ff., 566 ff. Die biologischen Methoden. 557 umsomehr ist natürlich Aussicht dazu vorhanden, daß die äußere Funktionsanalyse in eine kausale Analyse der Erscheinungen über- geführt werden könne. So verdankt die Nerven- und Muskelphysiologie ihre verhältnismäßig frühen Erfolge wesentlich der Sicherheit, mit der sich die Einwirkungen des elektrischen Stroms auf diese Gewebe vari- ieren lassen. Nicht minder sind hier Beziehungen, die zuerst den Cha- rakter zufälliger Entdeckungen besaßen, durch die Fortschritte der physikalischen Elektrizitätstheorie dem Verständnis näher gerückt worden. So hat schon Galvanis zuckender Froschschenkel, wie er selbst den Weg zur Voltaschen Säule gezeigt hatte, in der in der neueren Physiologie wieder eingetretenen Rücklenkung zu seinem physiologischen Ausgangspunkt das Studium der sogenannten „Zuckungsgesetze” er- öffnet, das zu Pflügers Entdeckung des Ausgangs aller erregenden Wirkungen von der Kathode und zu dem Nachweis einer außerdem von der Anode ausgehenden, mit sehr viel langsamer fortschreitenden Quellungserscheinungen verbundenen Hemmungswelle geführt hat*). Stehen einerseits diese Beobachtungen mit den gegenwärtig in der physi- kalischen Ionentheorie zusammengefaßten Erscheinungen in engem Zusammenhang, so sind sie anderseits durch die Vermittlung der letzteren zugleich in nähere Verbindung mit den Versuchen über chemische Reizung getreten, indem sich die negativen Ionen hier stets als die Träger der Reizwirkung betrachten lassen**). Beruht schon in den bisherigen Fällen die Funktionsanalyse zu- weilen auf der Beobachtung von abändernden Wirkungen, die will- kürlich eingeführte Bedingungen in dem Verlauf gewisser Erscheinungen hervorbringen, so gilt dies nun vor allem auch bei denjenigen Ver- suchen, die dem Gebiet der Entwicklungsgeschichte und der formativen Kräfte der einzelnen Zellen, Gewebe und der Organismen selbst an- gehören: bei den Regenerations-, Generations- und Vererbungsver- suchen. So bestehen bei den Regenerationsversuchen die möglichen Variationen des experimentellen Eingriffs lediglich in der Verschieden- heit des Orts und des Umfangs der willkürlich gesetzten Organverluste oder eventuell, wie bei den Versuchen von J. Loeb, in der Wahl ver- schiedener Stellen, an denen bei gewissen niederen Tieren eine künst- liche Bildung, z.B. eine künstliche Mundöffnung, die natürliche funk- *) Pflüger, Untersuchungen zur Physiologie des Elektrotonus, 1859. Wundt, Archiv für Anatomie u. Physiol., 1862. Untersuchungen zur Mechanik der Nerven, I, 1871, S. 25 ff. **) J. Loeb, Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen, 1906, S. 112 ft. 558 Die Hauptgebiete- der Naturforschung. tionell vertreten kann*). Bei den Vererbungsversuchen hat die willkür- liche Bastardierung zur Feststellung der empirischen Gesetze gedient, unter denen die Anlagen des einen der beiden Eltern über die des anderen das Übergewicht erlangen, sowie der relativen Unabhängigkeit, mit der sich verschiedene Merkmale vererben können**). Schon in manchen der bisher erwähnten Beispiele verbindet sich die direkte Funktionsanalyse mit der zweiten, indirekten Methode der experimentellen Beeinflussung oder geht in sie über: mit der Influenz- methode. Die Frage, welche Wirkung ein bestimmtes Agens auf den Organismus ausübt, ist an und für sich ebensogut möglich wie die andere, welche Leistungen der Organismus selbst oder ein einzelner Teil vollbringt. Aber in dem Zusammenhang physiologischer Unter- suchungen wird man doch nur unter zwei’ Bedingungen zu jener ersten Fragestellung kommen: erstens in den Anfängen der Forschung, in denen noch ein unsicheres Umhertasten nach den zweckmäßigsten Hilfsmitteln der Funktionsanalyse stattfindet, und wo sich nun die Influenzmethode mit der Funktionsaufhebung kombiniert, um der tiefer eindringenden quantitativen Funktionsänderung den Weg zu bereiten; und zweitens in dem speziellen Fall, wo es sich darum handelt, teils die Bedingungen des Übergangs der normalen in die abnormen Lebenserscheinungen, teils aber auch die Heilsamkeit oder Schäd- lichkeit gewisser äußerer Einwirkungen zu erforschen. Mit diesen Problemen befinden wir uns aber schon auf dem Boden der experi- mentellen Pathologie, in deren Diensten daher auch vorzugsweise die Influenzmethode Verwendung gefunden hat. Natürlich können in diesem Sinne alle möglichen Einflüsse, mechanische, thermische, elek- trische, chemische, in Frage kommen. Doch sind es vorzugsweise zwei Arten der Einwirkung, die das physiologische und pathologische Interesse in Anspruch nehmen: erstens gewisse Intoxikationen, d.h. Einwirkungen chemischer Stoffe, die auf bestimmte Funktionen einen störenden und im äußersten Fall einen die Funktion aufhebenden Einfluß ausüben, und zweitens gewisse Einwirkungen niederer Organismen auf höhere, unter denen die unter dem Namen der Infektionen bekannten Einwirkungen von Spaltpilzen oder andern Mikroorganismen eine hervor- ragende Stellung einnehmen. Beide Formen der Influenz sind offenbar nur *) J. Loeb, Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen, S. 281 ff. **) Qorrens, Über Vererbungsgesetze, 1905. (Mendels Bastardierungs- methode.) Die biologischen Methoden. 559 in ihrer äußeren Erscheinungsweise, nichtihrem Wesen nach verschieden. Auchdie infizierenden Bakterien stören und verändern die normalen Funk- tionen durch Gifte, die sie selbst bei ihrem Lebensprozeß erzeugen; und wie die gefährdende Wirkung einesanderen Giftes durch ein neutralisieren- des Gegengift aufgehoben werden kann, so können auch die giftigen Wirkungen gewisser Bakterien durch andere Mikroorganismen beseitigt werden, oder es können die infizierenden Pilze selbst Produkte erzeugen, die antitoxisch gegen die von ihnen produzierten Gifte wirken, oder sie können endlich den infizierten Organismus zur Erzeugung solcher Gegengifte anregen. Diese Reaktionen, die im allgemeinen den ver- schiedenen Methoden der Immunisierung zu Grunde liegen, haben die Infektion und die Intoxikation einander umso näher gebracht, als die Vorstellung, die von solchen niederen Organismen ausgehenden Wirkungen seien an das Leben derselben gebunden, der Analyse sowohl der allgemeinen Fermentwirkungen außerhalb des Organismus wie den bei den Immunisierungsmethoden gemachten Erfahrungen gegen- über nicht mehr aufrecht erhalten werden konnten. Bei jenen zeigten die Versuche von E. Buchner, daß die Alkoholgärung des Zuckers nicht bloß durch lebende Hefezellen, sondern auch durch den aus diesen ausgepreßten, aller organisierten Elemente entbehrenden Saft ein- geleitet werden kann. Nicht minder zeigten aber die Immunisierungs- versuche, daß die von Bazillen erzeugten Gegengifte auch dann wirken, wenn sie in Flüssigkeiten, die keine organisierten Elemente enthalten, und die überdies durch besondere Reagentien von beigemengten Gift- stoffen befreit sind, in die Blutbahn gebracht werden. Die überein- stimmenden Gesichtspunkte, die sich so für die verschiedenen Formen der Influenzmethode ergaben, lassen auf diese Weise auch die Reaktion des Organismus gegen die Giftwirkung wiederum als ein Problem er- scheinen, das nur im Zusammenhang mit den allgemeinen Vorstel- lungen über den Chemismus der organischen Gewebe zu lösen ist. Giftige und antitoxische, aufbauend und zerstörend wirkende Fermente erscheinen dabei meist zugleich als fließende Begriffe, die unmittelbar mit dem Wechsel äußerer Bedingungen oder durch sehr geringe Ver- änderungen der Molekularstruktur der Stofle ineinander übergehen können. So eröffnet sich hier im Anschluß an die Subsumtion der In- fluenzerscheinungen unter die allgemeinen Gesetze des organischen Chemismus die Aussicht auf eine mögliche Prüfung der durch die Unter- suchung der allgemeineren katalytischen Vorgänge der Dissimilation und Assimilation gewonnenen Ergebnisse, eine Prüfung, die sich freilich vorläufig noch durchaus in dem Stadium provisorischer Hypo- 560 Die Hauptgebiete der Naturforschung. thesen über das Wesen der toxischen wie der antitoxischen Wirkungen bewegt*). Neben diesem experimentellen Weg der toxischen und antitoxischen Influenz gibt es endlich noch eine zweite, der unmittelbaren Funktions- analyse angehörende Methode, bei der die pathologische der normalen Physiologie Dienste leistet: sie besteht in der Beobachtung der durch Krankheitsbedingungen herbeigeführten Funktionsstörungen und ihrer Vergleichung mit den sie verursachenden Strukturveränderungen. Die Resultate der klinischen und der pathologisch-ana- tomischen Beobachtung können so in ihrer Vereinigung einen Wert gewinnen, welcher dem der Vivisektion äquivalent ist. Dabei findet lediglich eine Umkehrung der bei dieser befolgten Methodik statt, indem die Beobachtung der anatomischen Läsion derjenigen der funktionellen Veränderungen nicht vorangeht sondern nachfolgt. Doch ist oft genug auch das physiologische Experiment genötigt diesen Gang einzuhalten, da eine genauere Untersuchung selbst der willkürlich ge- setzten anatomischen Störungen nicht immer während des Lebens möglich ist. Der größte Nachteil der pathologischen Beobachtung liegt darin, daß sie von der Gunst des Zufalls abhängt. Aber für die meisten Gebiete der Physiologie ist sie das einzige Hilfsmittel, das den Menschen selbst zum Objekt der funktionellen Analyse zu machen ge- stattet. Unschätzbar ist sie darum namentlich in solchen Fällen, wo die Bedingungen der menschlichen Organisation erheblich abweichen, wie z. B. bei den Funktionen der höheren Nervenzentren. Außerdem hat hier die Beobachtung am Menschen noch den besonderen Vorteil, daß sie eine zuverlässigere Prüfung der psychischen Verände- rungen gestattet, welche die physischen Störungen begleiten. 2. Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. a.Die biologischen Richtungen. Auf anderen Gebieten der Naturforschung sind die Gegensätze der Zweck- und Kausalerklärung gegenwärtig beinahe verschwunden, oder sie haben doch aufgehört Gegensätze zu sein, da man den teleo- logischen Prinzipien stets zugleich eine kausale Bedeutung zugesteht. (Vgl. oben S. 318 ff.) Anders in der Biologie. Hier ist der Kampf jener Anschauungen noch immer nicht erloschen. Zugleich aber hat *) S. Arrhenius, Immunochemie Anwendungen der physikalischen Chemie auf die Lehre von den physiologischen Antikörpern. 1907. Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 561 vermöge der besonderen Natur des Gegenstandes die teleologische Auffassung eigentümliche Formen angenommen, die, historisch aus- einander hervorgegangen, unter den Namen des Animismus und Vitalismus bekannt sind. Ihnen gegenüber hat die kausale Auf- fassung der Lebensprozesse stets die mechanische Natur derselben behauptet und demnach die Forderung aufgestellt, die Physiologie habe den Organismus unter dem Gesichtspunkt einer natürlich ent- standenen Maschine zu betrachten*). Der Streit dieser Anschauungen reicht bis in die frühesten Anfänge der Spekulation zurück. Indem der Hylozoismus der ältesten Natur- philosophie das menschliche Bewußtsein in die äußere Natur hinein- trägt, denkt er sich vor allen andern Naturerscheinungen die Lebens- vorgänge nach Analogie der zweckbewußten Willenshandlungen. Um- gekehrt unterwirft die Atomistik dem der äußeren Natur entnommenen Prinzip der mechanischen Bewegung das eigene Sein des Menschen: das Leben entspringt ihr, wie alles Geschehen, aus dem Stoß der Atome. Gerade wegen der Ausschließlichkeit, mit der diese Richtungen ihre Prinzipien anwenden, stehen sie sich aber näher als die später aus ihnen hervorgegangenen Entwicklungen. Dem antiken Atomis- mus gilt schließlich ebensogut wie dem ursprünglichen Hylozoismus die Seele als der Grund des Lebens. Erst die Platonisch-Aristotelische Philosophie hat durch den Gegensatz, in dem sie sich zu dem Materialis- mus der älteren Naturphilosophie entwickelte, die animistische An- schauung in ihrer engeren Begrenzung auf die eigentlichen Lebens- erscheinungen durchgeführt. Auch sind in ihr die höheren geistigen Kräfte von den niederen, an die Materie gebundenen Lebenskräften zum erstenmal scharf geschieden. Als daher späterhin die peripa- tetische und die stoische Schule den Platonischen Dualismus zu be- seitigen suchten, lag es nahe, diese Lebenskräfte selbst als materielle Prinzipien zu denken und auf diese Weise dem kausalen Materialis- mus der Atomistiker einen teleologischen gegenüberzustellen. Er- zwangen sich nun vollends innerhalb des letzteren wiederum die Bewußtseinsvorgänge die Anerkennung einer Selbständigkeit, die ihre Trennung von den übrigen Lebenserscheinungen rechtfertigte, so war damit jener Vitalismus fertig, den hauptsächlich Galen in die Biologie einführte, der aber die Herrschaft der Galenischen Medizin lange überdauert hat. *) Über die allgemeinere Bedeutung der genannten Richtungen vgl. Bd. I, S. 621 fi. Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 36 562 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Dieser Entstehung gemäß bildet der Vitalismus eine Art Mittel- glied zwischen Animismus und Mechanismus. Mit jenem nimmt er in den lebenden Wesen zwecktätige Kräfte an, mit diesem setzt er voraus, daß die Ursachen des Lebens an die lebende Materie als solche gebunden seien. Eben deshalb läßt sich die vitalistische Anschauung leicht mit einer mechanistischen und atomistischen in Bezug auf die leblose Natur vereinigen. Gerade in dieser Form hat der Vitalismus die neuere Physiologie von Albrecht Haller bis auf Johannes Müller beherrscht. Dann ist während einiger Jahrzehnte infolge des Auf- schwungs der physikalischen und chemischen Forschungsmethoden die mechanistische Anschauung in den Vordergrund getreten, bis in der neuesten Zeit durch die Beschäftigung mit den Entwicklungs- problemen abermals teleologische Erklärungsprinzipien zu größerer Geltung gelangten. Diese moderne Teleologie scheidet sich aber in zwei Richtungen. Die eine schließt sich offen und mit ausdrücklicher Bekämpfung einer rein mechanisch-chemischen Theorie des Lebens an den alten Vitalismus mit seinen spezifischen Lebenskräften an, die sie meist unter Anlehnung an gewisse philosophische Weltanschau- ungen neu zu stützen sucht*). Die andere Richtung bekennt sich an- geblich selbst zu einer physikalisch-chemischen Theorie des Lebens. In Wirklichkeit huldigt sie aber, trotz ihrer Versicherung, eine neue Mecha- nik des Lebens anzubahnen, mit ihrer Annahme dominierender Kräfte, die das Spiel der mechanisch-chemischen Wirkungen im Organismus beherrschen sollen, einer Teleologie von vitalistischem Gepräge**). Beide Richtungen vermeiden übrigens unter der sichtlichen Nach- wirkung der vorangegangenen Periode meist geflissentlich die Form des früheren Vitalismus. Hierdurch gewinnen dann zugleich die gegenwärtig in der Biologie herrschenden Anschauungen ihren eigen- tümlichen, deutlich einen Übergangszustand der Wissenschaft ver- ratenden Charakter. An verschiedenen Erscheinungen gibt sich dieser Übergangs- zustand zu erkennen. Die auffallendste besteht in dem weitverbreiteten Vorkommen einer unbewußten Teleologie, indem gewisse teleo- logische Erklärungen von ihren Urhebern oder Anhängern für kausale *) Hierher gehören N. Cossmann, Elemente der empirischen Teleologie, 1899, Hans Driesch, Analytische Theorie der organischen Entwicklung, 1894, Die organischen Regulationen, 1901, und Die „Seele“ als Naturfaktor, 1906, K.C. Schneider, Vitalismus, 1903. **) Vgl. J. Reinke, Die Welt als Tat, 1899, und besonders dessen Ein- leitung in die theoretische Biologie, 1901. Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 563 gehalten werden. So wenn es in Schriften über die Darwinsche Theorie nicht selten als ein besonderes Verdienst Darwins gepriesen wird, daß durch ihn eine „mechanische Kausalerklärung“ der Lebensformen durch die Gesetze der Vererbung, der Anpassung und des Kampfes ums Dasein gewonnen sei*). Nun wird das Verdienst Darwins nicht im geringsten geschmälert, wenn man zugesteht, daß diese Gesetze an sich einen teleologischen Charakter besitzen. Die Bedeutung seiner Theorie besteht vielmehr darin, daß sie eine unfruchtbare durch eine fruchtbarere Teleologie ersetzte, indem die von ihr aufgestellten teleologischen Prin- zipien mehr Aussicht zu einer künftigen Kausalerklärung bieten mochten als die Lebenskräfte der älteren Biologie. Dieser Nutzen würde aber wieder in Frage gestellt, wenn man sich bei den Begriffen der Vererbung und Anpassung beruhigen wollte. Beide Formen der Teleologie, die unbewußte, die den Zweckbegriff bekämpft, um ihn in gewissen spezielleren Formen selbst zu verwenden, und die bewußte, die zu formbildenden zwecktätigen Kräften ihre Zu- flucht nimmt, stimmen in der Tat in der Verkennung der wahren Natur des Zweckprinzips durchaus überein. Sie betrachten den Zweck als ein der Kausalität entgegengesetztes oder mindestens als ein von ihr gänz- lich verschiedenes Erkenntnisprinzip, so daß, wo eine kausale Erklärung möglich sei, die teleologische von selbst hinfällig werde, und daß, wo man Zweckprinzipien zulasse, von kausaler Interpretation nicht mehr die Rede sein könne. Beides ist falsch. Das zeigt ebenso der logische Cha- rakter des Zweckprinzips wie seine Anwendung in dem für die exakte Ausbildung dieser Begriffe wichtigsten Gebiet, in der Mechanik. (Vgl. Bad. 1, S. 629 ff. und oben S. 317 fi.) Da die Verknüpfung nach Zweck und Mittel die reine Umkehrung der von Ursache und Wirkung ist, so kann jede Kausalbeziehung prinzipiell in eine Zweckbeziehung umgewan- delt werden. Eben deshalb ist aber auch mit der Aufstellung irgend einer Zweckformulierung an und für sich die logische Forderung verbunden, daß die Verknüpfung als eine umkehrbare zu betrachten sei, wenngleich wegen unserer mangelhaften Kenntnis der Bedingungen der Erscheinungen eine solche Umkehrung im einzelnen Fall nicht immer vorgenommen werden kann. Daraus erhellt, daß es in der Biologie, wie in der Naturwissenschaft überhaupt, eine doppelte Form berechtigter Anwendung des Zweckprinzips gibt: eine der kausalen Betrachtung äquivalente, die dieser nur aus Gründen logischer Zweckmäßigkeit *) Vgl. z. B. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, Bd. 1, S.97 ft. 564 Die Hauptgebiete der Naturforschung. substituiert wird, und eine provisorische, die als Ersatz einer end- gültig noch nicht zu leistenden Kausalbetrachtung dienen soll. Die erste Form ist von der künstlichen Maschine ausgegangen, bei der sich das Ineinandergreifen beider Gesichtspunkte ebenso aus der der Erfindung der Maschine vorausgehenden logischen Über- legung wie aus ihrem Gebrauch von selbst ergibt. Sie ist von da aus teils in die theoretische Mechanik, teils aber auch in die biologische Betrachtung der natürlichen Mechanismen, wie z. B. der Gehwerkzeuge, der Herz- und Atmungsbewegungen, übertragen worden. In der theoreti- schen Mechanik und den an sie sich anlehnenden Gebieten der Physik dient so die teleologische Formulierung als ein Mittel der Zusammenfassung einer Mehrheit einfacher Kausalbeziehungen in eine einheitliche Form. In der praktischen Mechanik und ihren biologischen Analogien bildet sie eine nützliche und in vielen Fällen unentbehrliche Vorbereitung der diesem regressiven Verfahren entgegengesetzten progressiven Kausalbetrachtung. Anders verhält es sich mit der zweiten, der provisorischen An- wendung des Zweckprinzips. Sie hat zu ihrem Schauplatz heute fast nur noch die Biologie, was aus der komplexen Natur der biologischen Prob- leme begreiflich ist, aber wegen dieser Beschränkung auch die Gefahr eines Rückfalls in die wissenschaftlich überlebten Zweckursachen des Vitalismus mit sich führt. Zu solchen provisorischen Zweckbe- trachtungen gehört z. B. die Vorstellung von einer auf dem Gleichge- wicht zwischen Assimilation und Dissimilation beruhenden Erhaltung der Lebenseigenschaften der Zellen, von der Selbststeuerung der Atmung und der Herzbewegungen, von der Anpassung der Organismen an ihre Lebens- bedingungen und anderes mehr. Alles dies sind teleologische Begriffe, die durch die Funktionen unmittelbar nahe gelegt werden, die aber ebenso viele kausale Probleme enthalten, wie denn auch in manchen Fällen, z. B. bei dem Stoffwechselgleichgewicht und den Selbststeue- rungen, die kausale Analyse teilweise mit Erfolg bereits durchgeführt ist. Wenn sie zur Zeit noch nicht in allen Fällen gelingt, so liegt darin natürlich nicht der mindeste Grund, hier die teleologische Be- trachtung für die endgültige zu halten. Vielmehr führt uns jeder weitere Schritt in der physikalisch-chemischen Analyse der Lebenserscheinungen neue Fälle besonders in dem Chemismus der Lebensvorgänge vor Augen, die wenigstens die Richtung anzeigen, in der auch hier die provi- sorische Teleologie in eine substitutive und vereinfachende Umkehrung eines aus dem Zusammenfluß zahlreicher kausaler Elemente resultieren- den Verlaufs der Erscheinungen übergeht. Dabei ist aber das Ver- Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 565 hältnis nicht so aufzufassen, als wenn, so lange diese Umkehrung in irgendwelchen Fällen nicht gelungen sei, immer noch die Annahme zwecktätiger Lebenskräfte erlaubt wäre, da in dieser Annahme vor allem ein logischer Irrtum über das Wesen des Zweckprinzips selbst verborgen liegt. Insofern das letztere die Umkehrung einer Kausalität ist, enthält eben jede Zweckerklärung zugleich ein Problem, das endgültig nicht durch seine Hypostasierung zu einer Zweckursache, die selbst in umgekehrter Richtung wirksam sein soll, sondern nur durch die wirklich vollführte Umkehrung der Zweckreihe in eine Kausalreihe gelöst werden kann. Darum ist der Vitalismus, wie er sich auch hinter metaphysischen Ideen verschanzen mag, nicht bloß die vorzeitige Fixierung eines bei einzelnen Fragen noch provisorischen Zustandes der Forschung, sondern er beruht zugleich auf einer falschen Auffassung des Zweckprinzips selbst. Noch gibt es jedoch eine Form des Zweckbegrifis, die diesem bei gewissen Lebensvorgängen eine Ausnahmestellung anzuweisen scheint: das geschieht in jenen Fällen, wo der Zweck in dem früher (Bd. I, S. 633) erörterten Sinne eine objektive Bedeutung gewinnt, weil die Zweckreihe tatsächlich nicht bloß die logische Umkehrung einer Kausalreihe ist, sondern wo der Zweck, wie dies bei den Willenshand- lungen des Menschen und der Tiere geschieht, als Zweckvorstellung das primum movens zu sein scheint, von dem ein ursächlicher Zu- sammenhang ausgeht. In der Tat ist es ja diese zwecktätige Willens- kausalität, die bewußt oder unbewußt schließlich überall dem Begriff der Vitalkräfte zu Grunde liegt. Stützt sich doch auch der neueste Vitalismus im wesentlichen auf die Annahme eines unbewußten Willens in den Lebenserscheinungen*). Gleichwohl macht sich gerade hier die Naturphilosophie, wie man auch im übrigen über das Recht oder Un- recht dieser Konzeption eines transzendenten Willensprinzips denken mag, der unzulässigen Vermengung einer die Grenzen aller Erfahrung überschreitenden Spekulation mit der Erfahrung selbst schuldig. Die empirische Forschung hat das Wollen da anzuerkennen, wo es vorhanden ist, und sie hat es da abzulehnen, wo es eine willkürlich zu der Wirk- *) Vgl.z.B. H. Driesch, Analytische Theorie der organischen Entwick- lung, 1894, S.161 ff. K.C. Schneider, Vitalismus 1903, S. 242ff. Philo- sophisch haben besonders Ed. v. Hartmann, zum Teil auch vor ihm bereits Schopenhauer diese Anschauung von einem unbewußten zwecktätigen Willen ausgebildet. Auf beide Philosophen berufen sich daher vielfach die Vertreter des Vitalismus in der neueren Biologie. (Ed. v. Hartmann, Philosophie des Unbewußten’, S. 51ff.) 566 Die Hauptgebiete der Naturforschung. lichkeit hinzugedichtete Idee ist. Aber auch den wirklichen Willen hat die Wissenschaft in das Gebiet zu verweisen, zu dem er ge- hört: in das der Bewußtseinsvorgänge, nicht in das der physischen Lebenserscheinungen. Die Physiologie, die es allein mit diesen zu tun hat, kann darum hier nur in demselben Sinne aushilfsweise auf psychische Phänomene zurückgreifen, wie sie noch bei manchen anderen Problemen, z. B. bei den Sinnesempfindungen, den Gehirnfunktionen, das Psychische als vikariierendes Zwischenglied benützt, wo die ent- sprechenden Glieder des physischen Geschehens der Beobachtung ent- gehen, während umgekehrt bei der Analyse der psychologischen Übungs- und Erinnerungsvorgänge die psychologische Analyse die der Untersuchung leichter zugänglichen physischen Parallelerschei- nungen zu Hilfe ruft. Hier überall macht es sich eben geltend, daß die Physiologie, wie im Grunde jede Wissenschaft, in ihrer Son- derung von anderen Gebieten auf einer Abstraktion beruht, die aber in diesem Fall nicht bloß anderen Naturgebieten, die in das ihre eingreifen, sondern auch der Psychologie gegenüber geübt werden muß, obgleich sie mit dieser schließlich den gleichen Gegenstand, näm- lich das belebte Wesen, gemein hat. Nun werden wir später sehen, daß eben jene Kausalverknüpfung, die mit einem subjektiven Zweck- motiv beginnt und mit dessen objektiver Verwirklichung endet, eine wesentliche Eigenschaft derjenigen psychischen Vorgänge ist, die vor anderen in die psychophysische Entwicklung der Tiere eingreifen, der Willensvorgänge. Es ist daher unvermeidlich, daß, wo immer man aushilfsweise den physischen Gliedern einzelner Lebensvorgänge die uns zugänglicheren psychischen substituiert, die Betrachtung den Cha- rakter einer objektiven Teleologie gewinnt, bei der irgend eine organische Form als das Produkt zwecktätiger Willenshand- lungen und ihrer äußeren Wirkungen erscheint. So gelten uns in der Tat schon die durch willkürliche Einübung auf gewisse Be- wegungen erworbenen technischen Fertigkeiten zu einem wesentlichen Teil als physiologische Erfolge, deren letzte Ausgangspunkte wir aber nur innerhalb der psychologischen Erfahrung nachweisen können. Doch wie diese vom Psychischen zum Physischen fortschreitende Betrach- tung gleichzeitig unter der Voraussetzung steht, daß die physischen Effekte als solche auf physikalisch-chemischen Lebensvorgängen beruhen, ganz so hat auch die Physiologie jene psychologischen Ausgangspunkte selbst immer nur als Substitutionen für physische Prozesse anzusehen, die der allgemeinen Kausalität der körperlichen Lebenserscheinungen angehören. So schließt also auch diese aushilfsweise Benutzung des Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 567 den begleitenden psychischen Prozessen entlehnten objektiven Zweck- prinzips, so sehr sie den verwickeltsten Problemen des Lebens der höheren Organismen gegenüber als eine endgültige erscheinen mag, immer zugleich das allgemeine Postulat ein, daß auch hier der teleo- logischen eine kausale Verknüpfung entspricht, deren Auffindung das Problem einer teleologischen Mechanik ist, für die Zweckerfolg und mechanisch notwendige Wirkung zusammenfallende Begriffe sind*). b. Die teleologische Mechanik der Lebenserscheinungen. Daß die Biologie zu jener Umkehrung der kausalen Betrachtung, in der alle Zweckerklärung besteht, in bevorzugter Weise veranlaßt wird, ergibt sich aus der Beschaffenheit ihrer Objekte. Niemand hat dies, ohne sich dessen bewußt zu sein, so nachdrücklich anerkannt wie die mechanistische Richtung der Physiologie, indem sie den Organismus als eine „natürliche Maschine“ bezeichnete. Werden doch die Leistungen einer Maschine vor allem nach ihren Zwecken beurteilt, daher auch nächst der Biologie gerade die Mechanik am reichsten an teleologischen Prin- zipien ist. In ihr ist zugleich für alle anderen Naturwissenschaften ein Vorbild für die Beziehung gegeben, in welche die teleologischen zu den kausalen Prinzipien treten müssen, wenn beide in fruchtbarer Weise zusammenwirken sollen. Nach diesem Vorbild sucht denn auch die morphologische Methode als Entwicklungsmechanik die mechanische *) Der Grundsatz, daß die physiologische Analyse der Lebenserschei- nungen die Glieder ihres Verlaufs gemäß dem Standpunkte objektiver Natur- betrachtung, den sie einnimmt, wo immer möglich auf physischer Seite zu suchen hat, kann als das „Prinzip der Ausschaltung des Psychischen“ bezeichnet werden. Diesem Prinzip läßt sich jedoch entweder ein absoluter oder ein relativer Sinn beilegen. Versteht man es im absoluten Sinne, wie dies von manchen neueren Tierbiologen geschehen ist, so erweist es sich nicht nur als undurchführbar, sondern es setzt sich auch in Widerspruch mit der Erfahrung und nötigt zu physiologischen Hilfsgriffen von teleologischem Charakter, die in Wirklichkeit nur den psychologischen Tatbestand verschleiern, statt ofien die Unmöglichkeit zuzugestehen, die ihm entsprechenden physiologischen Zwischenglieder auf- zufinden. Man kann eben das Psychische selbst unmöglich aus der Erfahrung ausschalten, und wo daher das Physische, das ihm entspricht, seinerseits noch unserer empirischen Nachweisung unzugänglich ist, da läßt es sich auch nicht aus der Physiologie ausschalten, wenn man nicht gleichzeitig auf das Maß von Verständnis verzichten will, das uns überhaupt zu Gebote steht. Wie würde es z. B. mit unseren Vorstellungen über die optischen Netzhauterregungen beschaffen sein, wenn man nach dem Prinzip der absoluten Ausschaltung des Psychischen von den Licht- und Farbenempfindungen deshalb, weil sie psychische Elemente sind, keinen Gebrauch machen wollte? 68 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Zweckmäßigkeit der organischen Formen, und sucht die chemische Methode in der Nachwirkung der antagonistischen Enzymwirkungen die Teleologie des Stoffwechsels kausal verständlich zu machen. In analogem Sinn darf man dann aber von einer „teleologischen Mechanik * auch in solchen Fällen sprechen, wo die Zweckmäßigkeit als gegeben in den vorhandenen Eigenschaften der Organismen vorausgesetzt wird. So z.B. wenn man darauf hinweist, daß trockene Stoffe die Nerven der Mundschleimhaut erregen, wodurch die für das Verdauungsgeschäft äußerst wichtige Speichelabsonderung bewirkt werde, oder daß Sauer- stofimangel die Atembewegungen in Gang bringe, die diesen Mangel wieder beseitigen, u. s. w.*). Hier fehlt zwar zum vollen Verständnis der mechanischen Zweckmäßigkeit die Kenntnis der ursächlichen Be- dingungen, durch die jene Einrichtungen der Organisation entstanden sind, vermöge deren, wie Pflüger sich ausdrückt, „die Ursache eines jeden Bedürfnisses eines lebendigen Wesens zugleich die Ursache der Befriedigung des Bedürfnisses ist“. Dieser Satz selbst berechtigt aber, unter Voraussetzung der gegebenen Organisation, das Zweckprinzip immerhin nur in dem Sinne zu verwenden, in dem jeder Zweckzu- sammenhang zugleich ein Kausalzusammenhang ist. Auf diese Weise hat sich in der Tat der Gedanke der mechanischen Zweckmäßigkeit, den William Harvey zuerst für die Mechanik des Kreislaufs verwertete, allmählich über alle anderen Funktionen ausgebreitet. Und zwar hat dies die neuere Physiologie vollbracht, indem sie bei ihrer Bekämpfung des vorangegangenen Vitalismus zuerst jede Teleologie verwarf, um schließ- lich doch selbst, gezwungen durch die Natur ihrer Untersuchungsobjekte, in der mechanischen Teleologie zu endigen. Dabei wirkte jener Be- griff der „natürlichen Maschine“, der sich in den alten iatromechani- schen Schulen ausgebildet hatte, zunächst noch insofern nach, als man den letzten Grund der zweckmäßigen Mechanik des Lebens, den Orga- nismus, meist als gegeben voraussetzte. Erst mit dem Problem der Entwicklung der Arten wurde dann in neuerer Zeit auch die Frage nach der Entstehung des Lebens, die seit dem Streit der vitalistischen und mechanistischen Schule des 17. und 18. Jahrhunderts in der Phy- siologie fast völlig geruht hatte, wieder in den Vordergrund gerückt. Hier übernahm zunächst der Natur der Sache nach die morphologische Methode die Führung, neben der dann allmählich die übrigen Hilfs- mittel der Experimentalphysiologie der Entwicklungsgeschichte dienst- bar wurden. Ob freilich eine teleologische Mechanik, die nicht bloß *) Pflüger, in seinem Archiv für Physiologie, Bd. 15, S. 57 ff. Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 569 die gewordenen, sondern auch die werdenden Organismen umfaßt, jemals zur Vollendung gelangen wird, mag zweifelhaft scheinen, und schwerlich wird sich eine solche ganz der Herrschaft unverifizierbarer Hypothesen entziehen können. Auch wird hier an entscheidenden Punkten die teleologische Mechanik wohl die Ergänzung durch das der Psychologie entlehnte objektive Zweckprinzip, dessen oben gedacht wurde, wohl niemals entraten können. Wenn aber die Biologie darin dem Vorbilde der Mechanik nachstrebt, daß sie die teleologische und die kausale Betrachtung in äquivalentem Sinne verwendet, so ergibt sich daraus, daß auch sie, je nach Bedürfnis, teleologische oder kausale Prinzipien verwenden kann, wobei sie sich nur des logischen Zu- sammenhangs dieser Prinzipien bewußt bleiben muß. c. Teleologische Prinzipien der Biologie. Das Entwicklungs- gesetz. Der Begriff des Zwecks läßt auf die lebenden Wesen im allgemeinen in doppelter Weise eine sachliche Anwendung zu: entweder indem ihre Eigenschaften, oder indem die an ihnen beobachteten V or- gänge unter dem Gesichtspunkt jenes Begriffs betrachtet werden. Die erste dieser teleologischen Auffassungen ist im ganzen die ältere, doch geht sie ohne deutliche Grenze in die zweite über. Was uns in die Augen fällt, ehe wir uns noch den Zusammenhang der einzelnen Lebensprozesse klar gemacht haben, ist die Zweckmäßigkeit der Orga- nisation. Verbindet sich auch eine solche stets mit der Rücksicht auf die Leistungen, zu denen die lebenden Wesen befähigt sind, so ist man doch meist geneigt, für jene Leistungen sofort in den voraus- gesetzten dauernden Lebenseigenschaften die zureichende Erklärung zu finden. Dies geschieht, indem die Eigenschaften ohne weiteres in zwecktätige Kräfte umgewandelt werden. In diesem Sinne pflegt der Vitalismus an die Stelle einer Erklärung der Lebenserscheinungen eine Klassifikation der Eigenschaften lebender Wesen zu setzen, wobei er jeder fundamentalen Eigenschaft das Prädikat einer Kraft bei- legt. Am augenfälligsten gibt sich diese Verwechslung von de- skriptiver Klassifikation und Erklärung darin zu erkennen, daß gewisse Generalbegriffe aufgestellt werden, die für sehr differente Erscheinungen den gemeinsamen Erklärungsgrund enthalten, während man doch außerdem für jede eigentümlich geartete Leistung noch eine spezifische Kraft annimmt. So tritt hier an die Stelle des Prinzips der Kräfte- komposition, wie es in der physikalischen Mechanik Geltung be- ansprucht, eine Art von Kräftehierarchie. Der allgemeinen 570 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Lebenskraft sind einzelne Lebenskräfte, der Bildungs- und Wachs- tumstrieb, die Assimilations- und Organisationskraft, die Sensibilität und Irritabilität, untertan, und unter diesen teilt sich z. B. wieder der Bildungstrieb in eine Generations- und Reproduktionskraft*). Wir können in diesen Klassenbegriffen keine Erklärungsprinzipien mehr sehen. Immerhin können sie in einer berichtigten Bedeutung teils zur abkürzenden Bezeichnung für gewisse komplexe Eigenschaften und Vorgänge dienen, teils aber auch deshalb nützlich sein, weil hinreichend sicherstehende Kausalbegriffe noch nicht existieren. Wenn wir beob- achten, daß ein abgeschnittener Körperteil in seiner ursprünglichen Beschaffenheit wiedererzeugt wird, oder daß das Wachstum der Organe bei der Entwicklung nach einer gewissen Norm vor sich geht, so ver- binden wir zwar mit solchen Erscheinungen den Gedanken, daß sie aus bestimmten physikalischen und chemischen Ursachen entspringen. So lange uns aber diese Ursachen dunkel sind, befinden wir uns mit der Deutung der Vorgänge notgedrungen auf der teleologischen Stufe. Nicht anders geht es mit dem Begriff des Lebens selbst. Nicht bloß für die Unterscheidung des Lebendigen und Toten pflegen wir uns noch heute dieses Begrifis zu bedienen, sondern wir können insbesondere die verschiedenen Grade der Resistenzfähigkeit, die ein Organismus gleichen äußeren Einwirkungen gegenüber darbietet, kaum anders als durch die Statuierung gradweiser Verschiedenheiten der Lebenskraft ausdrücken**). Aber selbst wenn es einmal gelingen wird, die physi- kalischen und chemischen Bedingungen der Lebenserscheinungen tiefer zu durchschauen, so werden jene Begriffe zur abkürzenden Bezeichnung der komplexen Vorgänge kaum zu entbehren sein. Es kann darum hier nur die Aufgabe sein, die teleologische mit der kausalen Erklärung in dem Sinne zu verbinden, in weichem der Zweck in letzter Instanz überall nur als Umkehrung gegebener oder noch aufzufindender Kausal- beziehungen erscheint. Eine solche Verbindung wird nun angebahnt durch die zweite Form biologischer Zweckerklärung, durch die Aufstellung tele o- logischer Gesetze der Lebensvorgänge. Nachdem sich für die Funktionen des fertigen Organismus durchgängig das Prinzip der Kausalerklärung praktische Geltung errungen, ist es nur *) Vgl. J. F. Blumenbach, Über den Bildungstrieb, 1791, S. 92. **) Auch der Ausdruck „konstitutionelle Kraft“, den man in der Gene- rationslehre gebraucht hat, um damit die Fähigkeit der Arterhaltung bei der Fortpflanzung zu bezeichnen (V. Hensen, Physiologie der Zeugung, Her- manns Handbuch, VI, 2, S. 175), ist offenbar synonym mit Lebenskraft. Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 571 noch das Gebiet der Entwicklungserscheinungen, in welchem der Hauptsache nach die einseitig teleologische Form der Erklärung nicht überschritten ist. Dennoch hat die neuere Biologie darin einen Fort- schritt gemacht, daß sie das allgemeine Entwicklungs- gesetz, das man früher für jede organische Spezies annahm, ohne damit etwas anderes auszudrücken als den gesamten Erscheinungskom- plex regelmäßig aufeinander folgender Entwicklungszustände, in eine Anzahl von Teilgesetzen zerlegte, die einer kausalen Deutung zugänglicher zu sein scheinen. Einer solchen Zerlegung mußte zuerst eine Verallgemeinerung des Entwicklungsgesetzes selbst vorausgehen. Sie bestand darin, daß sich neben drindividuellenEntwick- lung, welche die frühere naturwissenschaftliche Tradition allein anerkannte, de EntwicklungderArten Geltung errang, wor- auf sich dann notwendig auch die mannigfachen Beziehungen zwischen individueller und genereller Entwicklung der Beobachtung aufdrängten. Dieser Standpunkt, schon vorbereitet in der spekulativen Naturphilo- sophie des 19. Jahrhunderts, und in Bezug auf den Parallelismus der generellen und individuellen Entwicklung namentlich durch die palä- ontologischen Arbeiten von Louis Agassiz nahe gelegt, hat in der Darwinschen Theorie seinen epochemachenden Ausdruck gefunden. Die Bedeutung dieser Theorie besteht jedoch, wie schon oben bemerkt, keineswegs darin, daß sie eine Kausalerklärung der Entwicklungs- erscheinungen gibt oder auch nur zu geben versucht. Vielmehr sucht sie nur ein teleologisches Gesetz von komplexem Charakter, das Ent- wicklungsgesetz, in einige einfachere teleologische Prinzipien zu zer- legen. Das Entwicklungsgesetz sagt aus, daß alle organischen Wesen aus der Differenzierung einfacher Formen von gleichartiger Beschaffenheit ursprünglich hervorgegangen sind und bei der indivi- duellen Entwicklung noch fortwährend hervorgehen. Dieses Gesetz ist ein teleologisches, denn es faßt die Differenzierung der einfachen Formen als einen Prozeß auf, der die Erzeugung der zusammengesetzten zu seinem Zweck hat. Auch wo dies nicht ausdrücklich gesagt ist, da tritt doch der Zweckgedanke darin hervor, daß jener Differenzierungs- prozeß zunächst nicht in Bezug auf seine Kausalbedingungen, sondern nur mit Rücksicht auf seinen Erfolg untersucht wird. Die Darwinsche Theorie zerlegt in diesem Sinne das Entwicklungsgesetz in zwei speziellere Gesetze: in das Vererbungs- und dass Anpassungsgesetz. Zwischen beiden sind die Entwicklungsprobleme dergestalt verteilt, daß auf das Vererbungsgesetz alle Vorgänge zurückgeführt werden, 572 Die Hauptgebiete der Naturforschung. die einer konstanten Wiederkehr unterworfen sind, auf das Anpassungs- gesetz alle Erscheinungen, in denen die Regel der konstanten Wieder- kehr Ausnahmen erfährt. Das Vererbungsgesetz sucht daher haupt- sächlich die individuelle, das Anpassungsgesetz die generelle Entwick- lung begreiflich zu machen. Denn jene wiederholt sich nicht nur von Generation zu Generation, sondern es wiederholen sich in ihr auch außer- dem die Hauptzüge der generellen Entwicklung. Die letztere dagegen hat sich wahrscheinlich nur einmal vollzogen, und sie kann daher nur aus Abänderungen erklärt werden, denen die Individuen bei ihrer Entwicklung unterworfen waren. Aber eine Befestigung und Häufung solcher Abänderungen wird doch nur verständlich, wenn man auch hier das Vererbungsgesetz zu Hilfe nimmt. Auf diese Weise wird es beiden Prinzipien durch ihr Ineinandergreifen möglich, die wechselvollen Vorgänge der Entwicklung teleologisch zu deuten. d. Das Vererbungsgesetz. Stofftheorien und dynamische Theorien. Hierbei ist es nun ein mißlicher Umstand, daß die Hauptlast der Erklärung dem Vererbungsgesetz zufällt, das einer kausalen Interpretation am schwersten zugänglich ist. Indem es nicht bloß die Wiederkehr bestimmter Erscheinungen, sondern auch deren regel- mäßige Zeitfolge verbürgen soll, ist es von dem Entwicklungsgesetz eben nur darin verschieden, daß es die auf Anpassung bezogenen Aus- nahmeerscheinungen abgestreift hat. Zur Deutung des Entwick- lungsgesetzes hatte schon die ältere vitalistische Physiologie zwei Anschauungen ausgebildet, die der Epigenesis und der Evolu- tion, deren wesentlicher Gegensatz darin lag, daß die Wiederkehr der gleichen Erscheinungen bei der Epigenesis auf die Wiederkehr der nämlichen äußeren Bedingungen, bei der Evolution auf ein Freiwerden innerer latenter Kräfte zurückgeführt wurde, die von den Erzeugern auf ihre Nachkommen übergehen und daher in den Stammeltern einer jeden Spezies ursprünglich enthalten sein sollten. Ihre naivste Gestaltung fand die evolutionistische Hypothese in den Lehren der „Ovulisten“ und „Animalkulisten“ des 17. Jahrhunderts, nach denen die Eier oder die Spermatozoen die seit Anfang der Schöp- fung in den Ureltern der Spezies eingeschachtelten, aber noch nicht ausgewachsenen Tiere sein sollten. Diesen zum Teil von den Trug- bildern unvollkommener Mikroskope unterstützten Theorien gegen- über war die von Casp. Friedr. Wolff ausgebildete epigenetische Theorie, welche die Entwicklung als eine der Kristallisation ähnliche Kontakt- Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 573 wirkung organisierter Elemente auf unorganische Stoffe betrachtete, ein wichtiger Fortschritt*). Gleichwohl kann man auch in ihr heute nur noch eine unzureichende Analogie sehen; und es ist darum kaum ge- rechtfertigt, neu auftauchende Erklärungsversuche immer noch den alten Begriffen unterzuordnen. Vielmehr besitzen die heutigen Hypo- thesen im allgemeinen ebensowohl epigenetische wie evolutionistische Elemente. So vertritt Darwins „provisorische Hypothese der Pan- genesis“ zunächst den Standpunkt der Epigenesis; aber sie erweitert ihn, indem sie nicht, wie es bei Wolff geschehen war, von einem Punkte sukzessiv alle Teile des Körpers sich organisieren, sondern aus jedem Teil, aus jeder einzelnen Zelle organisierende Elemente ent- springen läßt, die zuerst in die Sexualzellen und dann aus diesen in den Embryonalkörper übergehen, in welchem sie, wachsend und sich ver- mehrend, das Wachstum aller Organe veranlassen sollen**). Durch diese Verallgemeinerung nähert sich nun die Pangenesis der Evolution. Denn insofern zu allen Organanlagen die Keime in dem elterlichen Organismus enthalten sind, ist der Vorgang der Vererbung zugleich eine Evolution vorhandener Anlagen***). Doch setzt sich diese anderseits wieder aus einer Summe epigenetischer Elementarvorgänge zusammen, indem den Keimchen die Fähigkeit zugeschrieben wird, unorganisierten Stofi zu organisieren. In Wahrheit ist es daher ein anderer Unterschied, der an Stelle jener nur noch in gewissen Anklängen weiterlebenden Gegensätze in den neueren Entwicklungstheorien in den Vordergrund tritt. Auf der einen Seite begegnen uns Deutungsversuche, die darauf ausgehen, die Vererbungs- und Entwicklungserscheinungen aus der Konstitution eines ursprünglichen Stoffs, eines Keimplasmas oder kleinster Keim- moleküle und -molekülgruppen (Keimchen, Pangene, Biophoren, Iden u. s. w.) abzuleiten: wir wollen sie die Stofftheoriennennen. Auf der anderen Seite treten Anschauungen auf, die in der regelmäßig periodischen Wiederholung des Formenwandels das wesentliche Merk- *) Zur Geschichte dieser Theorien vgl. His, Arch. für Anthrop., IV, S. 197, 317, V, S. 69. Rädl, Geschichte der biologischen Theorien seit dem Ende des 17. Jahrh., 1905. **) Darwin, Das Variieren der Tiere und Pflanzen. Deutsche Ausgabe, II, S. 470 fi. Noch mehr nähern sich der epigenetischen Theorie Wolffs die Anschauungen Herbert Spencers (Prinzipien der Biologie, Deutsche Ausg. I, S. 440 ff., II, S. 1 fi... Doch nimmt auch er eine unzählige Menge „Pphysiologischer Einheiten“ an, deren jede die Eigenschaft besitzen soll, auf geeignete Stoffe eine „polarisierende“ Wirkung auszuüben. ***) In der Tat zählt A. Weismann (Das Keimplasma. 1892, S. 3 ff.) Darwins Lehre zu den evolutionistischen Hypothesen. 574 Die Hauptgebiete der Naturforschung. mal aller Entwicklung erblicken und ihre Betrachtung daher an die anderer regelmäßig periodischer Naturvorgänge anlehnen: wir können sie als de dynamischen Theorien bezeichnen. Die Stofftheorien, zu denen die größte Zahl der in neuerer Zeit ausgebildeten Vererbungshypothesen gehört, sind im allgemeinen Modifikationen der oben skizzierten Darwinschen Pangenesis, die ihrer- seits schon in den Vorstellungen der Atomistiker des Altertums ihr Vorbild hat. Mag noch so sehr anerkannt werden, daß man in den ver- schiedenen Gestaltungen der pangenetischen Stofitheorie bemüht ge- wesen ist, teils dem Zusammenhang der Entwicklung mit den übrigen Lebensvorgängen, wie Ernährung und Wachstum, Rechnung zu tragen*), teils die Aufschlüsse, die wir der mikroskopischen Beob- achtung über die Prozesse der Kernteilung und Befruchtung verdanken, in eine nähere Beziehung zu den Erklärungsversuchen zu bringen**), so leiden doch alle diese Stofihypothesen an dem nämlichen Mangel: das Problem der Entwicklung wird von dem Ganzen hinweggenommen, um es auf hypothetische Elemente zu übertragen. Weder erfahren wir, wie das Wachstum und die Vermehrung der Keimchen geschehen soll, noch wird begreiflich gemacht, durch welche Wahlverwandt- schaft die aus allen Körperteilen in die Sexualzellen übergegangenen Elemente in der gehörigen Weise sich anordnen, oder durch welche Bedingungen die vererbten Eigenschaften in einer bestimmten zeit- lichen Reihenfolge auftreten. Um auf diese Fragen zu antworten, müßte die Stofitheorie die Eigenschaften, die sie an ihren Keimelementen voraussetzt, irgendwie auf bekannte Eigenschaften chemischer Ver- bindungen zurückführen oder sie wenigstens durch solche verständlich machen. Dies geschieht aber nicht, sondern die Hypothesen bleiben im Kreise rein biologischer und teleologischer Betrachtungen***). *) So besonders Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Ab- stammungslehre. 1884, **) Hierher gehören namentlich Hugo de Vries, Intrazellulare Pan- genesis, 1889, und A. Weismann, Das Keimplasma, 1892. ***) Eine große Rolle hat in dem Kampf der Theorien dieser Richtung die Frage gespielt, ob, wie Darwin annahm, eine Vererbung erworbener Eigenschaften stattfinde, oder ob dies nicht möglich sei, alle individuellen Differenzen also, insofern sie nicht in äußeren Einwirkungen ihren Grund haben, aus der Vermischung verschiedener Keimstoffe bei der sexuellen Fortpflanzung entspringen, wie Weismann nachzuweisen suchte. Natürlich ist dies zu- nächst eine tatsächliche Frage. Gleichwohl steht sie in enger Beziehung zu den theoretischen Vorstellungen. Vererben sich erworbene Eigenschaften, so muß man eine fortwährende Veränderlichkeit der Keimelemente durch äußere Ein- Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 575 Wie die Stofitheorien bei der Erklärung der Entwicklung auf die Vererbung der Eigenschaften, so stützen sichnundiedynamischen auf den zeitlichen Verlauf der Entwicklungen. In diesem Sinne hat vor allen W. His auf die Periodizität der Reizungserschei- nungen hingewiesen. Seine Anschauungen sind dann von W. Roux u. a. zu einer „Entwicklungsmechanik“ weitergebildet worden. Im An- schluß an allgemeine energetische und teilweise vitalistische Anschau- ungen haben endlich J. Reinke, K. C. Schneider, H. Driesch u.a. Vor- stellungen entwickelt, die im weiteren Sinne ebenfalls dynamische genannt werden können*). Davon ausgehend, daß die Entwicklung als eine Folge sukzessiv ausgelöster Bewegungen zu deuten sei, be- trachtet man hier im allgemeinen das Ei als eine erregbare Substanz, in welcher durch die Befruchtung oder (bei ungeschlechtlicher Zeugung) durch andere ihr entsprechend wirkende Vorgänge die Wachstums- erregung ausgelöst werde, um nun in einer gewissen, von den ur- sprünglich bestimmenden Faktoren abhängigen Regelmäßigkeit in Raum und Zeit zu verlaufen**). Diese Theorien fügen sich der erweiter- ten Bedeutung ein, die in der neueren Physiologie der Begrifi des Reizes gewonnen hat. Bot hier zunächst das Nervensystem der Tiere Fälle dar, wo der endliche Reizeffekt von dem ursprünglichen Reizimpuls räumlich wie zeitlich weit getrennt sein können, und wo sich dann ein zusammengesetzter Reizungsvorgang stets in eine Folge einzelner Reizübertragungen zerlegen läßt, so lag es nahe, das Schema dieses zusammengesetzten Reizverlaufs auf alle jene verwickelten Lebensvorgänge, die eine periodische Wiederkehr darbieten, wie z. B. flüsse annehmen. Ist das Gegenteil der Fall, so ist eine Kontinuität des Keim- plasmas vorauszusetzen, die während der ganzen Lebensgeschichte einer Spezies dauert. Die erste Ansicht ist daher epigenetischen, die zweite evolutionistischen Vorstellungen zugeneigt. Vgl. zu diesem Streit Weismann, Das Keimplasma, S. 515 ff., Die Kontinuität des Keimplasmas, 1855, und im entgegengesetzten Sinne Th. Eimer, Die Entstehung der Arten, I, 1888, S.84ff. E. Rignano, Über die Vererbung erworbener Eigenschaften, 1907, S. 173 ff. *) W. His, Unsere Körperform, 1875, S.145f. W. Roux, Die Entwicklungsmechanik ein neuer Zweig der biologischen Wissenschaft, 1905, J. Reinke, Einleitung in die theoretische Biologie, 1901, S. 139 ff. K. C. Schneider, Vitalismus. Elementare Lebensfunktionen, 1903, S. 1 fl. **) Ähnliche Anschauungen hat Haeckelentwickelt, wobei er besonders die Ähnlichkeit der periodischen Entwicklungserscheinungen mit den Wellen- bewegungen hervorhob, eine übrigens so äußerliche und entfernte Analogie, daß sie eigentlich nur ein anderes Wort für die Periodizität der Entwicklung ist. (Haeckel, Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenzeugung der Lebens- teilchen, 1876.) 576 Die Hauptgebiete der Naturforschung. auf die Reifung der Eier im Eierstock, auf den Wechsel von Wachen und Schlaf, zu übertragen*). Einen noch weiteren Schritt vollzog die Pflanzenphysiologie, da sie, von den einfachsten Reizbewegungen aus- gehend, mehr und mehr genötigt wurde, ein Ineinandergreifen von Reizungen anzunehmen, durch das selbst räumlich weit entfernte Organe in Verbindung gesetzt werden können, und die Lebenserscheinungen besonders der niederen Tiere, der Protozoen und Cölenteraten fügten sich überall dem gleichen Schema der Reizübertragung, während Schwere, Licht, Wärme, mechanische und chemische Reize sich als die schon unter den natürlichen Lebensbedingungen hauptsächlich wirk- samen Reize erwiesen. Um den im letzten Grunde mechanischen Charakter aller dieser Bewegungen anzudeuten, bezeichnet man sie als Geotropis- mus, Chemotropismus, Heliotropismus, Thermotropismus oder auch als Barotaxis, Chemotaxis u. s. w.**). In der Tat legt der Begriff des Reizes in allen diesen Fällen eine Interpretation aus physikalisch- chemischen Wirkungen nahe. Die Übertragung auf zusammengesetz- tere, eine Vielheit von Organen und einen längeren Zeitverlauf umspan- nende Vorgänge wird dann im Hinblick auf die zähflüssige Kon- stitution der reizbaren Substanzen wohl verständlich. Das physikalische Mittelglied, das hier den Gesichtspunkt zur Erklärung solcher Prozesse abgibt, ist der Begriff der Auslösung. Jeder Reizungsvorgang ist, physikalisch gesprochen, ein Auslösungsprozeß. Das physikalische Merkmal der Auslösung besteht aber darin, daß bei ihr eine geringe lebendige Kraft, wenn sie nur an geeigneter Stelle einwirkt, latente in aktuelle Energien überführt, die an Größe die auslösende Kraft weit übertreffen können. Wahrscheinlich sind es auch hier wieder kata- lytische Vorgänge, die bei den Auslösungen wirksam werden. Greifen nun solche Auslösungen mehrfach und regelmäßig ineinander ein, indem ein Teil der ausgelösten Energie wieder fernere Auslösungen bewirkt, so kommt dadurch ein regelmäßiger Verlauf von Erscheinungen zu stande, der sich über immer weitere Strecken des Raumes und der Zeit ausdehnen kann. Es ist klar, daß diesem allgemeinen Charakter der Auslösungsvorgänge auch die Entwicklungserscheinungen ent- sprechen. Indem die dynamische Hypothese die organische Entwick- *) Pflüger, Untersuchungen aus dem Bonner physiol. Laboratorium, 1865, und Archiv für Physiologie, Bd. 10, S. 468. **) Vgl. W. Pfeffer, Die Reizbarkeit der Pflanzen. Verh. der Ges. deutscher Naturforscher und Ärzte. Allg. TI. 1893. Pflanzenphysiologie, I?, S. 516 fl. Verworn, Allgem. Physiologie”, S. 380 ff. J. Loeb, Dynamik der Lebenserscheinungen, S. 204 ff. Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen, 577 lung auf den Begriff der Reizung und mit dieser auf den der Auslösung zurückführt, steht sie also einer kausalen Erklärung der Erscheinungen näher als die Stofihypothese mit ihren lediglich die Lebenseigenschaften im kleinen wiederholenden Keimelementen. Aber so lange der Begriff des Reizes selbst nur als der teleologische Ausdruck für eine Summe von Auslösungsvorgängen anzusehen ist, für deren Erklärung wir lediglich physikalische und chemische Analogien zu Hilfe nehmen können, steht auch hier zunächst noch der teleologische Begriff im Vor- dergrund. Zugleich bezeichnet jedoch der Hinweis auf den Mechanismus oder Chemismus der Auslösungen eine kausale Aufgabe, die bei einzelnen Punkten direkt, bei anderen wenigstens mit Hilfe bekannter physi- kalisch-chemischer Beispiele in Angriff zu nehmen ist. e. Das 'Anpassungsgesetz. Mechanische, chemische und funk- tionelle Anpassungen. Mehr als das Vererbungsgesetz erscheint das zweite teleologische Gesetz, das Anpassungsgesetz, in manchen Fällen einer direk- ten kausalen Interpretation zugänglich, Dabei kann nach den Vorgängen, die sich dem Begriff der Anpassung unterordnen lassen, eine mechanische, eine chemische und eine funk- tionelle Anpassung unterschieden werden. Unter ihnen ist de mechanische Anpassung die verständ- lichste. Sie bezieht sich fast ausschließlich auf das wechselseitige Ver- hältnis der Teile im Einzelorganismus. Bei dem Wachstum der Gewebe und Organe formen und ordnen sich die Elemente teils unter dem Einfluß der durch ihr eigenes Wachstum erzeugten Spannungen, teils unter der Wirkung äußerer Druck- und Zugkräfte. So scheint bei der Bildung von Zellennetzen durchweg das „Prinzip der kleinsten Flächen“ befolgt zu sein, nach welchem sich die Oberflächen der einzelnen zäh- flüssigen Zellkörper derart ins Gleichgewicht setzen, daß die Summe der Oberflächen unter den gegebenen Bedingungen ein Minimum wird*). Bei der Pflanze hinterlassen infolge des festen Gefüges der Zellwände und der Regelmäßigkeit des Wachstums die Wachstums- spannungen deutliche Spuren sowohl in den Schichtungen der Zell- wände wie in den Anordnungen der Zellreihen, indem sich regelmäßige Kurvensysteme bilden, die auf die nach den verschiedenen Richtungen stattfindenden Wachstumsgeschwindigkeiten schließen lassen. Charak- teristisch ist in dieser Hinsicht besonders das Verhältnis der zu dem Umfang des wachsenden Pflanzenteils konzentrischen, meist kreis- *) G. Berthold, Studien über Protoplasmamechanik, 1886, Kap. VII, Wundt, Logik. I. 3. Aufl. 37 578 Die Hauptgebiete der Naturforschung. förmigen oder elliptischen Kurven zu den sie senkrecht durchschneiden- den hyperbolischen oder parabolischen Linien, ein Verhältnis, für das die Jahresringe und die sie durchsetzenden Markstrahlen ein bekanntes Beispiel abgeben*). Ebenso läßt sich die regelmäßige spiralige An- ordnung der Blattstellungen auf die mechanischen Folgen des wechsel- seitigen Drucks zurückführen, den die Blattanlagen an den Vegetations- punkten ausüben**). Am Tierkörper sind wegen der meist verwickelteren Wachstumsbedingungen mechanische Wirkungen von ähnlicher Regel- mäßigkeit von vornherein nur bei relativ einfachen Verhältnissen der Organisation zu erwarten. Unter solchen, wie z. B. bei der Anordnung der Furchungszellen in den Schichtungen epithelialer Gewebe, treten sie aber in völlig analoger Weise auf***). Wo dagegen die durch das Wachstum entstehenden Formen von so komplexer Art sind wie die ent- wickelteren Tierformen, da können wir natürlich auch nicht mehr einfache geometrische Anordnungen der Elemente erwarten. Immer- hin werden selbst dann gewisse Gestaltungen als mechanische Folgen voraufgegangener Wachstumsbedingungen zu deuten sein. So hat man die Faltungen der Keimscheibe aus einem ungleichen Flächenwachstum derselbenf), so den Verlauf der Gehirnfurchen der Säugetiere aus den verschiedenen Verhältnissen des Längen- und Breitenwachstums der Hirnmasse abzuleiten gesuchtff). So wertvoll jedoch die Mechanik der Wachstumsbewegungen für das Verständnis der organischen Formen sein mag, so ist nicht zu übersehen, daß dabei das Prinzip der mechanischen Anpassung immerhin nur unter der Voraussetzung gegebener Wachstumsbedingungen einer kausalen Erklärung zugänglich gemacht wird. In dieser Beziehung befinden wir uns bei der zweiten Form mechanischer Anpassung, bei der äußere Druck- und Zugkräfte als die ursächlichen Faktoren auftreten, in einer günstigeren Lage. Hierher gehören die für die bleiben- den oder vorübergehenden Formgestaltungen der Pflanzen maßgeben- den Richtungsbewegungen, für die teils die Schwere, teils äußere mecha- nische Einwirkungen bestimmend sindfff). Eine bedeutsame Erscheinung *) Schwendener, Monatsber. der Berl. Akademie, 1880, S. 412. **) Schwendener, Mechanische Theorie der Blattstellungen, 1878 Pfeffer, Pflanzenphysiologie?, IIRES. 267m ***) A. Rauber, Tier und Pflanze. Akadem. Programm. 1881, S. 34. W. Roux, Der Kampf der Teile im Organismus, 1881. 7) W. His, Unsere Körperform, S. 45 £. -r) Vgl. meine Grundzüge der physiol. Psychologie’, I, S. 142 fi. tr) Pfeffer, Sitzungsber. der sächs. Ges. der Wiss., math.-phys. Kl., 1891, S. 638. Pflanzenphysiologie?, II, 8. 76 fi. Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 579 gleicher Art ist ferner die Ausbildung mechanischer Struk- turformen, d.h. solcher Anordnungen von Gewebselementen, die einerseits bestimmten mechanischen Zwecken dienen, anderseits aus mechanischen Ursachen entspringen, die mit diesen Zwecken in un- mittelbarer Verbindung stehen. So bilden die durch größere Kohäsion und Elastizität sich auszeichnenden Bastzellen der Pflanze ein mecha- nisches System, das im allgemeinen nach den Richtungen der stärksten Zug- und Druckkräfte angeordnet ist, während die weicheren Parenchym- zellen die Lücken dieses Systems ausfüllen*). Unter den tierischen Geweben zeigt am augenfälligsten die spongiöse Substanz gewisser Knochen, wie des menschlichen Oberschenkels, eine solche mechanische Struktur. Indem der Gelenkkopf samt Hals einen nahezu horizontalen, etwas schief nach oben gerichteten Träger bildet, auf dem eine sehr bedeutende Last ruht, ordnen sich die Knochenbälkchen der spongiösen Substanz nach einem genau den statischen Druck- und Zugkurven entsprechenden Kurvensystem**). Schwieriger ist der Zusammenhang der chemischen An- passungen zu durchschauen. Zwei Wege sind im allgemeinen zur Erforschung der hierher gehörigen Erscheinungen eingeschlagen worden: erstens die experimentelle Beeinflussung der Lebensvorgänge durch von außen zugeführte chemische Stoffe, bei denen nach einer gewissen Zeit ein neuer Gleichgewichtszustand des Stofi- und Kräfte- wechsels eintritt; und zweitens die Untersuchung der in den Geweben stattfindenden Assimilations- und Dissimilationsvorgänge durch das Studium der außerhalb des Organismus zu beobachtenden Reaktionen der bei der Analyse gewonnenen Gewebsbestandteile. Auf dem ersten dieser beiden Wege sucht man über die allgemeinen Einwirkungen der Umgebung auf die lebenden Wesen, ihr Wachstum und ihren Stoff- wechsel Aufschluß zu gewinnen, teils indem direkt die Zusammensetzung des Wassers oder des Bodens durch den Zusatz von Salzen und von anderen Stoffen verändert wird***), teils indem die Organismen aus einer bestimmten Umgebung in eine andere verpflanzt werden. Im ersteren Fall sucht man die Bedingungen künstlich nachzuahmen, die bei dem natürlichen Vorgang der Akklimatisation verändernd auf die *) Schwendener, Das mechanische Prinzip im anatomischen Bau der Monokotylen, 1874. **) G, H. Meyer, Die Statik und Mechanik des menschlichen Knochen- gerüstes, 1873. Jul. Wolff, Virchows Archiv, Bd. 50, S. 398 ff. ***) Pfeffer, Untersuchungen aus dem botan. Institut zu Tübingen, I, II, 1884—88. Ber. der sächs. Ges. der Wiss., Bd. 41, 1889, Bd. 47, 1895. 380 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Organisation einwirken, um auf diese Weise die im letzteren Fall großen- teils noch unbekannten Ursachen der Veränderungen zu ermitteln*). Auf dem zweiten der oben angedeuteten Wege hat man namentlich die katalytischen Vorgänge zu erforschen gesucht, die durch die Gegen- wirkungen der verschiedenen in den Sekreten und Körpersäften vor- kommenden Enzyme ebenso die Zersetzung der Gewebsbestandteile wie ihren Aufbau und infolge wechselseitiger Kompensation ver- schieden gerichteter Enzymwirkungen ein Gleichgewicht des organischen Stoffwechsels erhalten können. Dabei ist die Erforschung des Chemismus dieser Vorgänge besonders auch durch die Beobachtung der toxischen Enzymwirkungen und ihrer Aufhebung durch die Erzeugung antito- xischer Stoffe (sogenannter Antikörper) angeregt worden. Denn in der Infektion und ihrer Aufhebung summieren sich jene elementaren kata- lytischen Wirkungen, die im normalen Organismus in unendlich mannig- faltigen, aber wegen der fortwährenden Auslösung kompensierender Vorgänge im allgemeinen in verborgener Weise tätig sind. Unter dem Einfluß der toxischen Enzyme steigern sie sich so zu intensiven Reak- tionen und Gegenreaktionen, die nun ein verstärkter Ausdruck des Che- mismus der Lebensvorgänge überhaupt sind**). Die Anpassungen, die oben als funktionelle bezeichnet wurden, können nach sehr verschiedenen Richtungen gehen. Sie stim- men aber sämtlich darin überein, daß die Ausübung irgendwelcher physio- logischer Funktionen auf den Körperbau oder auf andere Funktionen, sei es des nämlichen Organismus, sei es anderer mit ihm in Wech- selbeziehungen stehender Wesen irgend einen Einfluß ausübt. Ver- hältnismäßig am klarsten gestalten sich diese Anpassungen dann, wenn sie sichinnerhalbeineseinzigen Wesens vollziehen. Die einfach- sten Fälle, die zugleich in das Gebiet der mechanischen und chemischen Anpassungen herüberreichen, bestehen hier in der Ausbildung der Organe durch Übung, ihrer Verkümmerung durch Nichtübung***). Andere individuelle Anpassungen werden durch das Nervensystem vermittelt, dessen Zentralteile wichtige Einrichtungen zur wechselseitigen Regu- *) Vgl. Beispiele solcher Akklimatisationseinwirkungen bei Darwin, Das Variieren der Tiere und Pflanzen, II, S. 369 ft. **) FF Hofmeister, Die chemische Organisation der Zelle. Naturw. Rundschau, 1901, S. 581 ff. C. Weigert, Neuere Arbeiten zur Theorie der Anti- toxinimmunität, 1899. P. Ehrlich, Berliner klin. Wochenschrift. 1898 ff, Ge- sammelte Abhandlungen, 1903. S. Arrhenius, Immunochemie. 1907. ***) Vgl. Darwin, Das Variieren der Tiere und Pflanzen etc., I, S. 91, 153 ft. Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 581 lation der Funktionen enthalten. Die Wechselwirkungen zwischen Herz- und Gefäßinnervation, die Selbststeuerung der Atmung, die Wärmeregulierung durch Haut und Lungen sind Beispiele dieser Art. Indem so schon der normale Ablauf der Lebensprozesse überall auf einer wechselseitigen Beeinflussung der Funktionen beruht, wird es zugleich begreiflich, daß bei der Einwirkung abnormer Verhältnisse durch die nämlichen Hilfsmittel eine Ausgleichung der Störungen geschehen kann, welche die Widerstandsfähigkeit des Organismus vergrößert. So werden Zirkulationsstörungen zunächst durch gesteigerte Herzaktion und dann durch die eintretende Vergrößerung des Herzens kompensiert; die Abnahme der atmenden Oberfläche bei Lungenerkrankungen gleicht sich aus durch gesteigerte Respirationsfrequenz, u. Ss. w. Liegen in allen diesen Fällen in bestimmten Reflexmechanismen des zentralen Nervensystems oder anderen verhältnismäßig leicht übersehbaren Wechselbeziehungen der Organe die Quellen der funk- tionellen Anpassung, so wird dagegen das Verständnis dieser erschwert, wenn sie sich zwischen verschiedenen Wesen vollzieht, die nicht selten in ihrer Organisation weit voneinander abstehen. Wie sollen wir es deuten, wenn Insekten und die Blüten, die sie besuchen, die Form der Mundteile und die Gestaltung der Blütenorgane ein- ander angepaßt sind, oder wenn in einer den Zufall ausschließen- den Anzahl von Fällen die Färbungen der Tiere mit ihrer Um- gebung übereinstimmen, ja wenn manchmal Form und Färbung umgebende Gegenstände, wie ein Blatt oder einen Baumzweig, nach- zuahmen scheinen?*) Darwin suchte diese Erscheinungen hauptsäch- lich durch zwei Voraussetzungen zu erklären: erstens durch die An- nahme einer unbegrenzten Variabilität der Individuen, und zweitens durch den „Kampf ums Dasein “, der den alleinigen Fortbestand solcher Varietäten sichere, deren Eigenschaften den Lebensbedingungen am meisten angepaßt seien. Von diesen Voraussetzungen läßt sich aber nur die zweite einigermaßen durch die Beobachtung bestätigen. Dagegen bewegt sich die Variabilität der Individuen erfahrungsgemäß nur zwischen engen Grenzen, wie dies ja auch die Gültigkeit des Ver- erbungsgesetzes mit sich bringt. Nun steht es allerdings frei, eine bei- nahe beliebig lange Zeit für die Ausbildung einer dauernden Ver- änderung zu Hilfe zu nehmen. Doch es bleibt die Schwierigkeit, daß bei jedem einzelnen Vorgang dieser Art ein Anfang gegeben sein muß, *) Herm. Müller, Befruchtung der Blumen durch Insekten, 1872. Wallace, Beiträge zur Theorie der natürl. Zuchtwahl, 1870, S. 51 fi. 582 Die Hauptgebiete der Naturforschung. der die bestimmte Richtung zweckmäßiger Anpassung bereits besitzt, und der doch noch nicht durch den Kampf ums Dasein bedingt sein kann. Wenn z. B. Farbe und Geruch für viele Blüten nützlich sind, weil sie dadurch aus der Ferne den sie besuchenden Insekten, die den Samenstaub von einer Blüte zur anderen tragen, kenntlich werden, so ist damit nicht im geringsten begreiflich gemacht, durch welche Be- dingungen ursprünglich bestimmte Farb- und Geruchstoffe in jenen Blüten entstanden sind. Kennten wir aber die Ursachen dieses Vor- gangs, so wäre uns damit auch für die weitere Steigerung desselben eine von dem Insektenbesuch ganz unabhängige Erklärung an die Hand gegeben, und jener würde vielleicht zu einem sekundären Moment von bloß unterstützendem Charakter. Ebenso ist es verständlich, daß der Schmuck gewisser männlicher Tiere durch die Bevorzugung, welche die Weibchen den damit ausgestatteten Bewerbern gewähren, befestigt und gesteigert werden kann. Aber es bleibt nicht nur unerfindlich, wie das Liebesbedürfnis einer primitiven Henne im stande gewesen sein soll, den Hahn mit den Anfängen von Kamm und Sporn auszustatten, sondern es spricht auch alle psychologische Wahrscheinlichkeit dagegen, daß jemals dem Ungewohnten freiwillig der Vorzug vor dem Gewohnten gegeben worden sei. Darwin selbst hat sich diesen Bedenken wohl nicht ganz ver- schlossen, da er in den späteren Auflagen seines Werkes „Über die Ent- stehung der Arten“ gegenüber der unbegrenzten Variabilität und Kon- kurrenz die Bedeutung der. direkt verändernden Wirkung der Lebens- bedingungen stärker betonte. Freilich aber sind hier gerade die funk- tionellen Anpassungen zwischen verschiedenen Wesen in ihrer ersten Entstehungsweise noch beinahe völlig dunkel. Vorläufig steht nur die eine Forderung fest, daß deren Ursachen zunächst individuelle sein müssen, und daß daher durch Wechselbeziehungen der Individuen zwar gewisse Wirkungen verstärkt, niemals aber solche hervorgebracht werden können. Diese Erwägungen legen die Vermutung nahe, der erste Anstoß zu neuer Artbildung müsse durch irgend ein einmaliges und plötzliches Eingreifen äußerer oder innerer Einflüsse entstehen, wobei dann natürlich auch die Abänderung selbst nicht allmählich, sondern plötzlich und stoßweise erfolge. Begünstigt wird diese Vermutung sowohl durch die Erscheinungen der Bastardbildung wie durch die Abänderungen in der Entwicklung, die durch mechanische oder che- mische Einwirkungen auf die Keimzelle herbeigeführt werden. In beiden Fällen vollzieht sich aber die Abweichung plötzlich; und da solche momentane Veränderungen der Lebensbedingungen eines Keimes Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 583 auch in der Natur leicht vorkommen können, so kann möglicherweise eine solche Mutation, wie man nach Hugo de Vries diesen plötzlichen Vorgang im Gegensatze zu der allmählich erfolgenden Ent- wicklung neuer Formen durch Variation nennt, sehr wohl als Ausgangs- punkt neuer Artbildung gedacht werden*). In der Tat hat de Vries bei mehreren Pflanzenarten solche plötzlich eintretende Abweichungen, die sich bei der Selbstbefruchtung der abgeänderten Individuen als erb- lich erwiesen, beobachtet. Denkt man sich nun derartige Mutationen im Laufe langer Zeiträume mehrmals nacheinander eintreten, so würde sich auch hier eine wachsende Divergenz der Arten ergeben. Aber der Prozeß würde dann kein stetiger, sondern ein stoßweiser, katastrophen- artiger sein. Auf diese Weise erneuert sich in der Variations- und der Muta- tionstheorie ein Gegensatz, der weit über das biologische Gebiet hinaus- reicht. f. Das Prinzip der Summation kleiner Wirkungen und die Kata- strophenlehre. Variations- und Mutationstheorie. Indem Darwin Vererbung und Anpassung derart miteinander verband, daß die wachsende Differenzierung der organischen For- men begreiflich werden sollte, brachte er ein Prinzip zur Anwendung, das sich, von den allgemeinsten nach und nach auf die beschränkteren Erfahrungsgebiete übergehend, in der neueren Naturwissenschaft über- haupt eine hervorragende Bedeutung als heuristisches Hilfsprinzip er- rungen hat: das Prinzip der Anhäufung großer Veränderungen durch die langsame Entstehung kleiner Abweichungen oder, wie wir es kürzer nennen können, das Prinzip der Summation kleiner WirkungeninlangerZeit. Seinen Ursprung hat dieses Prinzip in der Astronomie genommen, in der durch die ungeheuren räumlichen Größen, über die sich ihr Beobachtungsgebiet erstreckt, der Gedanke, auch mit unermeßlichen Zeitgrößen zu rechnen, nahe gelegt wird. Die durch den biblischen Schöpfungsmythus genährte Vorstellung einer einmaligen, in wenigen aufeinanderfolgenden Akten verlaufenden Schöpfungsgeschichte wurde so zuerst durch die Nachweisung überaus langer Perioden für gewisse astronomische Vorgänge, wie z. B. für die Präzession der Tag- und Nachtgleichen, die Störungen der Planeten- bahnen, und dann durch die großen kosmogonischen Theorien des *, Hugo de Vries, Die Mutationstheorie, 1901. 584 Die Hauptgebiete der Naturforschung. 18. Jahrhunderts aus der Wissenschaft verdrängt*). In der Folgezeit begann nun das nämliche Prinzip auf die Betrachtung der irdischen Vorgänge, zunächst der geologischen Veränderungen an der Erdober- fläche ausgedehntere Anwendung zu finden. Hier erwies es sich deshalb überaus fruchtbar, weil es die Annahme gestattet, die nämlichen Kräfte, die wir noch jetzt bei der Bildung unserer Erdrinde tätig sehen, seien stets in ähnlicher Weise wirksam gewesen, im Gegensatze zu der voran- gegangenen Katastrophentheorie, die umgekehrt kurzdauernde Umwälzungen durch außergewöhnliche gewaltige Naturkräfte ange- nommen und so namentlich in ihrer Anwendung auf die lebenden Wesen meist nur dem Schöpfungsmythus eine wissenschaftlichere Form zu geben versucht hatte**). Die Mutationstheorie nimmt nun in einer durch das Prinzip der Anhäufung kleiner Abweichungen modifizierten Form *) Eine bezeichnende Stelle inKants „Naturgeschichte des Himmels“ lautet: „Die Schöpfung ist nicht das Werk von einem Augenblicke... Es werden Millionen und ganze Gebirge von Millionen Jahrhunderten verfließen, binnen welcher immer neue Welten und Weltordnungen nach einander in den entfernten Weiten von dem Mittelpunkte der Natur sich bilden und zur Voll- kommenheit gelangen werden.“ (Werke, Ausg. von Rosenkranz und Schubert, Bd. 6, S. 160.) Auf die Erwägung, „daß, wenn man bei der Berechnung der Planetenbahnen bloß auf die Ungleichheiten von sehr langen Perioden sieht, die Summe der Massen aller Planeten, wenn sie stückweise durch die großen Achsen ihrer Bahnen dividiert werden, immer sehr nahe be- ständig ist“, gründete ferner Laplace seine früher erwähnte Stabilitäts- hypothese (Vgl. Laplace, Darstellung des Weltsystems, deutsch von Hauff, S. 51, und oben S. 484 ff.) **) Darwin hat es selbst ausgesprochen, daß das vornehmlich von Lyell in der Geologie durchgeführte Prinzip der langsamen Veränderungen seinen eigenen Ideen über die Entstehung der organischen Arten durch all- mähliche Anpassung ihre Richtung gegeben habe. Der erste, der den Gedanken der langsamen geologischen Veränderungen aussprach, scheint übrigens K.E.A.vonHoff gewesen zu sein, in einem Werke, dessen Kenntnis ich der Güte Fr. Ratzels verdanke: Geschichte der durch Überlieferung nach- gewiesenen natürlichen Veränderungen der Erdoberfläche, 1. Teil, Gotha 1822. Sehr klar hat schon von Hoff ausgeführt, daß der wesentliche Unterschied des neuen geologischen Standpunkts vom alten nur darin bestehe, daß dieser mit unermeßlichen Kraftgrößen, jener mit unermeßlichen Zeiträumen operiere (Einl. S. 4 ff.), daß aber durch diese Verschiebung des Begriffs die Vorgänge eigentlich erst aus unbegreiflichen in begreifliche und natürliche sich umwandeln. vonHoffs Werk ist erst in neuester Zeit der Vergessenheit wieder entrissen worden. Lyell hat daher in seinen „Principles of Geology“ (zuerst 1830—33 erschienen) unabhängig von ihm das Prinzip der langsamen Transformationen zur Geltung gebracht. Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 585 den Grundgedanken der Katastrophentheorie wieder auf. Unter der Mithilfe jenes Prinzips sieht sie daher nicht mehr, wie L. Aggassiz in seiner Lehre von der Artbildung, eine selbständige, auf einem transzen- denten Weltplan beruhende Neuschöpfung, sondern eine stufen- und stoßweise erfolgende Evolution, die so gut wie die stetige Entwicklung auf natürlichen Bedingungen beruht. Damit stellen sich nunmehr beide Theorien auf den gleichen Boden kausaler Betrachtung, und nur die Erfahrung kann darüber entscheiden, welche von ihnen über den wirklichen Verlauf der Artentwicklung am vollständigsten Rechen- schaft gibt. Hier stehen aber der Mutationstheorie die Versuche über Bastardierung und Selbstbefruchtung stark abgeänderter Individuen, der Variationstheorie die Erfahrungen über die Entstehung von Varie- täten bei künstlicher Züchtung zur Seite. Angesichts dieser Ver- schiedenheit und doch unbestreitbaren Zuverlässigkeit der Beobach- tungsgrundlagen gewinnt man den Eindruck, daß die Mutationstheorie zwar eine wichtige Ergänzung, daß sie aber nicht im geringsten eine Widerlegung der in der Darwinschen Theorie enthaltenen Prinzipien ist. Vielmehr verhält es sich in dieser Beziehung mit den biologischen Theorien offenbar nicht anders als wie mit den entsprechenden der Geologie. Wie hier einzelne plötzliche Katastrophen neben langsamen und stetigen Veränderungen der Erdoberfläche vorkommen, so auch wahrscheinlich bei der Entwicklung der lebenden Wesen. Zugleich aber scheinen sich diese Formen des Verlaufs einigermaßen abweichend auf die verschiedenen Stufen der Organisation zu verteilen. In dieser Beziehung ist es schon bemerkenswert, daß die Beispiele der Mutation vorzugsweise dem Pflanzenreich, die der stetigen Variation dem Tier- reich entlehnt sind. Die Pflanzen und die einfacheren Lebensformen überhaupt sind, wie auch der starke Einfluß willkürlicher experimen- teller Einwirkungen lehrt, augenscheinlich in höherem Grade durch äußere Einflüsse bestimmbar, während sie doch zugleich durch rasche Anpassung an veränderte Lebensbedingungen sich leichter erhalten können als die Organismen mit größerer Differenzierung der Funktionen. Anderseits können bei den letzteren bis herauf zum Menschen all- mähliche Änderungen anscheinend leichter eintreten und sowohl in- dividuelle Unterschiede wie eine stärkere Divergenz einzelner Varietäten erzeugen. So gehören die auffallendsten Anpassungen, wie die durch spezifische Schutzorgane für den Kampf ums Dasein oder die merk- würdigen Erscheinungen der sogenannten „Mimiery“, die die Um- gebung oder einzelne Objekte derselben nachahmenden Färbungen und Formen, ausschließlich dem Tierreich an. Solche Eigenschaften anders 586 Die Hauptgebiete der Naturforschung. als auf dem Wege langsamer und durch den Schutz, den sie gewähren, geförderter Abänderungen zu erklären, scheint kaum möglich. Dazu kommt noch ein weiteres Moment, welches innerhalb des Tierreichs für ein mit steigender Organisation zunehmendes Über- gewicht der langsamen und stetigen über die plötzlichen Abänderungs- bedingungen spricht: es besteht in dem Einfluß, den schon auf verhält- nismäßig niederen Stufen und dann in immer steigendem Grade die eige- nen Triebhandlungen der Tiere auf ihre Organisation gewinnen. Folgen wir dem oben (S. 567 Anm.) erörterten physiologischen Prinzip der „Ausschaltung des Psychischen “, nach dem wir, wo immer es möglich ist, psychologische Zwischenglieder als Ersatzmittel für gewisse uns noch unbekannte Glieder einer physiologischen Funktionsreihe mehr und mehr auszuschalten suchen, so ist eine solche Ausschaltung, abgesehen von den Pflanzen, zweifellos bei den niedersten tierischen Lebewesen im allgemeinen am ehesten durchführbar. So sehr die Bewegungen hier vom psychologischen Standpunkte aus als Triebhandlungen erscheinen mögen, die als Ausgangspunkte der Willensentwicklung gelten können, physio- logisch lassen sie sich unschwer als chemische, thermische und andere Tropismen deuten. Je höher wir aber in der Reihe der Organismen aufwärts gehen, umsomehr versagt diese Deutung, während die ihr dort schon parallel gehende psychologische uns immer noch zu Gebote steht, ja in dem Maße gefordert wird, als die Erscheinungen auf zusam- mengesetztere Bewußtseinsreaktionen und eine längere Kontinuität der psychischen Vorgänge hinweisen. Indem nun gerade bei den höheren Tieren solche nur psychologisch zu motivierende Handlungen immer stärkere Rückwirkungen auf die Organisation ausüben, werden jene unentbehrlichen psychologischen Zwischenglieder immer mehr zu Aus- gangspunkten solcher Veränderungen, die zu der Verdrängung der minder widerstandsfähigen und zum Übergewicht der durch ihre psychischen und physischen Eigenschaften überlegenen Individuen führen. In der Tat hat daher auch die Darwinsche Theorie diesen psychologischen Motiven insofern Rechnung getragen, als sie den Kampf ums Dasein vorzugsweise als einen in Triebhandlungen der Tiere sich äußernden Kampf um die Nahrung und um die Fortpflanzung betrachtete. Den- noch ist der Kampf selbst nur der Ausgangspunkt tief greifender Ver- änderungen, die infolge der physiologischen Korrelation der Organe und durch den Einfluß der in den Handlungen sich fortwährend steigernden Funktionsübung auf den höheren Stufen des Tierreichs vielleicht den wesentlichsten Teil der generellen Entwicklung aus- machen. Sie sind es daher, die hier, unter dem Gesichtspunkt der mit Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 587 dem psychologischen Hilfsprinzip zugleich eingeführten teleologischen Wertbegriffe, der Entwicklung selbst den Charakter der „Vervoll- kommnung“ verleihen*). g. Kausale Prinzipien der Biologie. Das Regulations- und das Energieprinzip. Der Biologie ist die Forderung einer kausalen Erklärung der Lebens- erscheinungen zunächst von außen, von den exakteren Gebieten der Naturlehre aus, entgegengebracht worden, und lange sind die Nachteile dieses fremden Ursprungs fühlbar gewesen. Die iatromechanischen Richtungen erschöpften sich in mechanischen Deutungen, ohne meist nach einer Bestätigung ihrer Hypothesen zu fragen. Nur wenige Er- scheinungen von verhältnismäßig einfachem Charakter, wie der Kreis- lauf des Blutes und die tierischen Ortsbewegungen, waren schon frühe dem Verständnisse zugänglich geworden. Für die meisten anderen Lebensvorgänge eröffnete sich erst dann die Möglichkeit einer kausalen Analyse, als die Chemie in das Stadium ihrer wissenschaftlichen Entwicklung getreten war. Denn nicht lange konnte es verborgen bleiben, daß die Lebensprozesse entweder selbst in chemischen Ver- bindungs- und Zersetzungsvorgängen bestehen oder innig an solche gebunden sind. Nichts bezeichnet deutlicher diese nahe Beziehung, in der die neuere Entwicklung der physiologischen zu derjenigen der chemischen Forschung steht, als die Tatsache, daß beide von einer und derselben Entdeckung ausgegangen sind: von der Erkenntnis des Wesens der Verbrennung. Lavoisier, der Entdecker des Sauerstofis, ist zugleich der erste, der die tierische Atmung als einen Verbrennungsvorgang auffassen lehrte und damit auf die Quellen der tierischen Wärmebildung hinwies. Lavoisier und Laplace unter- nahmen es, die Intensität dieses Verbrennungsprozesses an der erzeug- ten Wärmemenge zu messen. Sie eröffnen damit die Reihe jener kalori- metrischen Versuche, die im 19. Jahrhundert die Hauptgrundlagen für die Erkenntnis des tierischen Kräftewechsels gebildet haben. Bald schloß sich an die chemische Erforschung der tierischen Atmung die durch die Untersuchungen von Ingenhouss, Senebier und Saussure ver- mittelte Erkenntnis des reduzierenden Gaswechsels der grünen Pflanzen- teile und ihrer Beeinflussung durch das Licht. Damit war der erste Schritt zu jener Statik des organischen Stoffwechsels getan, deren Be- *) Mit Rück sicht auf die psychologische Seite dieser in die biologische Entwicklungstheor ie eintretenden Zweckbegriffe vgl. Bd. 3, Abschn. I, Kap. 2. 588 Die Hauptgebiete der Naturforschung. gründung die erste glänzende Leistung des chemischen Teils der neueren Physiologie ist. Die Beziehung zwischen Pflanzen- und Tierwelt, die der Kreislauf der Stoffe eröfinet, ist aber weniger an sich von Interesse, da dieser Kreislauf selbst nur eine beschränkte Geltung hat, als deshalb, weil sie das erste klar erkannte Beispiel einer wechselseitigen Regulation von Lebensvorgängen war. Je mehr es in- folge des Fortschritts der physikalischen und chemischen Methodik der Physiologie gelingt, die Erscheinungen in ihre physikalischen und chemischen Elementarprozesse zu zerlegen, umso klarer stellen sich solche regulatorische Vorgänge innerhalb des Organismus als eine wesent- liche Eigentümlichkeit des Lebens heraus. So wird die Nahrungsauf- nahme bestimmt durch den Wärme- und Kraftverbrauch, die Blutzufuhr zu den Verdauungsdrüsen und die sekretorischen Prozesse in diesen werden angeregt durch die mechanischen und chemischen Bedingungen, welche die Nahrungsaufnahme begleiten, u. s. w. Ebenso gehören hierher die oben besprochenen funktionellen Anpassungen, die nament- lich durch das Nervensystem der Tiere in vielseitigster Weise vermittelt werden, für die es aber auch der Pflanze keineswegs an mannigfaltigen Vorrichtungen fehlt, endlich die chemischen Korrelationen, die vornehm- lich durch das Ineinandergreifen und die wechselseitigen Regula- tionen der katalytischen Prozesse bedingt sind. So erweist sich der Organismus selbst als ein aus einer unabsehbaren Anzahl ineinander- greifender Selbstregulierungen zusammengesetzter Apparat, der, so- bald er mit anderen gleich- und verschiedenartigen Organismen in Wechselwirkung tritt, nun alsbald auch auf das so entstehende Ganze das Prinzip der Selbstregulierung übertragen muß. Mit dem Umsichgreifen dieser Betrachtungsweise, durch welche die von den alten Iatromechanikern gehegte Idee der „natürlichen Maschine“ in die richtige Beleuchtung rückt, ist die Physiologie schließ- lich auch dem allgemeinen Prinzip nahe getreten, das sie ihren Kausal- erklärungen zu Grunde legen kann, auf so verschiedenen physikalischen und chemischen Bedingungen diese im einzelnen auch beruhen mögen, Dieses allgemeinste Prinzip ist das der gesamten Naturlehre: das PrinzipderKonstanzderEnergie. Es ist, wie oben be- merkt wurde, an sich ein teleologisches Prinzip, aber es weist, ähnlich den teleologischen Prinzipien der Mechanik, mit denen es nahe ver- wandt ist, unmittelbar zugleich auf die kausalen Zusammenhänge hin, auf die es stets bei einer vollständigen Analyse der Erscheinungen zurückgeführt werden kann. Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 589 Die Biologie gebraucht das Energieprinzip bald als ein Gesetz, in welches die durch Induktion gefundenen Tatsachen als spezielle Fälle sich einfügen, bald als ein Postulat, das sie einem Zusammenhang noch zu zergliedernder Erscheinungen entgegenbringt. Als ein Gesetz hat es sich im allgemeinen für alle jene Erscheinungen des Kräftewechsels in der organischen Natur bewährt, die an die Vorgänge des Stofiwechsels gebunden sind. Die Verhältnisse wechselseitiger Regulierung in der Statik des Stofiwechsels wiesen von Anfang an auf eine ähnliche Kon- stanz, wie sie der Austausch der Stoffe der Beobachtung bietet, auch für die dynamische Seite des Vorgangs hin. In der Tat bildet schon der einzelne Organismus vermöge der Vorrichtungen der Selbstregulierung, mit denen er ausgestattet ist, ein bis zu einem gewissen Grade in sich geschlossenes System des Stoff- und Kräftewechsels, wie es ähnlich nur entweder an künstlichen Maschinen oder im großen und hier frei- lich zugleich viel vollkommener an unserem Sonnensystem verwirk- licht ist. Ebenso nähert sich einem solchen geschlossenen System ein Komplex verschiedenartiger, pflanzlicher und tierischer Organismen, der einen vollständigen Stofiwechselkreislauf zu bilden vermag, und den man daher schon bei der Entdeckung der komplementären Formen des respiratorischen Gasaustausches einem „Mikrokosmus“ verglich. Aber in der Unerläßlichkeit des Sonnenlichts für die chemische Werk- stätte der Pflanze tritt zugleich die Gebundenheit einer solchen Welt im kleinen an den allgemeinen Zusammenhang kosmischer Wirkungen zu Tage. So ist es denn wohl kein zufälliger Umstand, daß Physio- logen die ersten Verkünder des Energieprinzips gewesen sind, und daß der Kräftewechsel der Organismen zu dessen ersten Anwendungen gehörte*). Die physiologische Durchführung des Energieprinzips trennt sich nun in zwei verschiedene Aufgaben. Die erste besteht in der Beur- teilung des gesamten Wechsels der Energie in einem einzelnen Organis- mus oder in einem gegebenen Zusammenhang organischer Wesen. Diese Untersuchung, die bis jetzt allein in einigermaßen zureichender Weise durchgeführt ist, geht vollständig der allgemeinen Statik des Stoff- wechsels parallel. Sie frägt nicht nach den speziellen Umwandlungen der Energie im Verlauf der Lebensvorgänge, sondern sie sucht nur, ähnlich *) J. R. Mayer, Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur. Liebigs Annalen, 1842. Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhange mit dem Stoffwechsel. Heilbronn 1846. (Abgedruckt in: Die Mechanik der Wärme, 2. Aufl, S.13 ff.) H. Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft, 1847. 590 Die Hauptgebiete der Naturforschung. wie es bei der Beurteilung des Nutzeffekts einer Arbeitsmaschine geschieht, die Zu- und Abfuhr der Energie und die Umwandlungen der Energie- formen quantitativ zu schätzen. Die Schwierigkeiten, die sich hier bieten, gehören mehr der thermochemischen als der physiologischen Unter- suchung an. Es führt zu falschen Resultaten, wenn man, wie es ur- sprünglich geschah, den Energiewert der im Pflanzen- und Tierkörper enthaltenen organischen Verbindungen bloß nach der Kohlenstoff- und Wasserstoffimenge bemißt, ohne Rücksicht auf die Art, wie die Atome aneinander gebunden sind. Denn eine Verbindung repräsentiert einen umso größeren Vorrat an potentieller Energie, je loser, einen umso ge- ringeren, je fester ihre Atome aneinander gekettet sind. Eine voll- ständige Beurteilung des Energiewechsels in einem Organismus setzt also nicht nur voraus, daß die Zu- und Abfuhr an aktueller Energie in der Form von Licht, Wärme und mechanischer Arbeit bekannt seien, sondern daß außerdem der Verbrennungs- oder Energiewert aller Stoffbestandteile sowie die Veränderungen, die er infolge der statt- findenden Verbindungen und Zersetzungen erfährt, gemessen werden. Dieses umfassende Problem ist, obgleich es keine erheblichen metho- dischen Schwierigkeiten bietet, dennoch wegen der zahlreichen Einzel- untersuchungen, die es voraussetzt, erst teilweise gelöst. Die zweite Aufgabe bei der physiologischen Anwendung des Energie- prinzips besteht in der unter seiner Führung vorgenommenen Unter- suchung der einzelnen Lebensvorgänge. Hier handelt es sich darum, nicht bloß im allgemeinen die Bewegung der Energie quantitativ zu verfolgen, sondern ihre speziellen Umwandlungen mit Rücksicht auf die daraus hervorgehenden physiologischen Leistungen nachzu- weisen. Es ist klar, daß dabei die eingehendste physikalische und chemische Zergliederung der Prozesse vorausgesetzt wird. Infolge der methodischen Schwierigkeiten, die sich einer solchen bieten, ist darum diese Seite der Anwendungen des Energiegesetzes erst wenig fortge- schritten. So sind z. B. die Physiologen noch keineswegs darüber einig, auf welchen speziellen Vorgängen jene Oxydationsprozesse be- ruhen, durch die das Blut die bekannten Veränderungen aus der arte- riellen in die venöse Beschaffenheit erfährt, ja an welchen Orten, ob im Blute selbst oder in den Geweben, diese Oxydationen stattfinden. So hat uns ferner das Studium der elektrischen, thermischen, elasti- schen und sonstigen Eigenschaften des Muskels noch kaum der Lösung des Problems nach dem Wesen der Kontraktionskraft viel näher geführt. Immerhin hat sich in solchen Fällen eine Art provisorischer Anwendung des Energieprinzips fruchtbar erwiesen, indem man, von der näheren Die allgemeinen Gesetze der Lebenserscheinungen. 591 Beschaffenheit der Energieformen abstrahierend, die Vorgänge ledig- lich als Bewegungen irgendwelcher Art ansah, auf die das Energie- gesetz anwendbar sei, ähnlich wie dies schon auf physikalischem Gebiet in den allgemeinen Untersuchungen der mechanischen Wärmetheorie zu geschehen pflegt. Namentlich die Zergliederung der Innervations- vorgänge fordert zu einer derartigen Betrachtung heraus*). Alle diese Anwendungen des Energieprinzips beziehen sich noch, ebenso wie die speziellen physikalisch-chemischen Kausalerklärungen, zu denen bestimmte einzelne Lebensvorgänge herausfordern, auf die Verhältnisse des entwickelten Organismus, bei welchem die oben erörterten Bedingungen des Stoffwechsels die Annahme gestatten, daß innerhalb gewisser Grenzen der Zeit und der funktionellen Leistung jede Abgabe aktueller Energie nach außen durch eine äquivalente Zu- fuhr potentieller Energie kompensiert und so ein Zustand der Stabilität des Kräftewechsels hergestellt werde. Diese Voraussetzung hört nun aber auf gültig zu sein bei den Vorgängen der Entwicklung, für deren Beurteilung wir, wie oben erörtert, vorläufig auf komplexe teleologische Prinzipien, wie das Prinzip der Vererbung und der An- passung, angewiesen sind, die eine kausale Umdeutung noch nicht oder nur mit Hilfe unsicherer, auf allgemeine Analogien gestützter Hypothesen zulassen. Dennoch gehören die Entwicklungserscheinungen zu denjenigen Lebensvorgängen, die, ähnlich wie etwa die einzelnen Ernährungsprozesse oder die Reizbewegungen, speziellere Erklärungen verlangen, bei denen man sich mit der allgemeinen Subsumtion unter das Energiegesetz nicht begnügt, sondern über die physikalische oder chemische Natur der Vorgänge Rechenschaft zu geben sucht. Bietet sich doch die Entwicklungsgeschichte eines organischen Wesens der Beobachtung als eine Reihe von Formwandlungen dar, die auf Stoffbewegungen, also zunächst auf mechanische, und dann, da diese Bewegungen wesentlich von chemischen Affinitätswirkungen bestimmt sind, auf chemische Vorgänge zurückgeführt werden müssen. Für die kausale Interpretation der Entwicklung wird daher viel weniger die allgemeine Anwendung des Energieprinzips von Bedeutung sein, das sich vorzugsweise für Stabilitätszustände fruchtbar erweist, als die Ermittlung der Kräfte, die jene Stoffbewegungen hervorbringen. *) Anwendungen des Energieprinzips auf pflanzenphysiologische Probleme vgl. bei Pfeffer, Studien zur Energetik der Pflanzen, Verh. der sächs. Ges. der Wiss., math.-phys. Kl., XVIII, 1892, auf nervenphysiologische in meinen Untersuchungen zur Mechanik der Nerven und Nervenzentren, I, S. 261 fi.; II, S. 108 ff., im Auszug Physiol. Psych, 5. Aufl., I, S. 49 ff. 5993 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Die Unzulänglichkeit des Energieprinzips in diesem besonderen Fall ist übrigens nur eine Folge der allgemeinen Eigenschaft desselben, überhaupt nur gewisse, in Zustandsgleichungen darstell- bare Beziehungen herauszugreifen, ohne den kausalen Verknüpfungen im einzelnen nachzugehen, durch die, insofern eine exakte Darstellung derselben möglich ist, in der Form von Kraft- und von Transformations- gleichungen erst eine erschöpfende Interpretation der Erscheinungen gewonnen werden kann*). Die vorherrschende Geltung allgemeiner Energiebetrachtungen in der Physiologie ist daher unverkennbar zu- gleich das Symptom einer noch unzureishenden Analyse der Erschei- nungen. Daß dieser Zustand als ein definitiver zu betrachten sei, ist aber umso unwahrscheinlicher, als gerade das letzte und wichtigste physiologische Problem, das der Entwicklung, als eine eminent dyna- mische Aufgabe bei den vorzugsweise für die Statik des Stofi- und Kräftewechsels fruchtbaren Energiebetrachtungen leer ausgeht. Diese Tatsache findet schließlich auch darin ihren Ausdruck, daß namentlich das Entwicklungsproblem zunächst zur Bildung eigentümlicher bi o- logischer Grundbegriffe und dann im Anschlusse an sie zur Aufstellung spezieller physiologischer und psychophysischer Hypo- thesen herausfordert, die zwar nicht eine Kausalerklärung im einzelnen, aber doch ein zusammenhängendes Verständnis für das Ganze der Lebensvorgänge eröffnen sollen. 3. Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen über den Zusammenhang der Lebensvorgänge. a. Das organische Individuum und der Elementarorganismus. Die unmittelbar gegebenen Objekte der biologischen Forschung sind deindividuellenÖrganismen. Sie erweisen sich nach Bau und Funktion zumeist als höchst zusammengesetzte Gebilde, und es erhebt sich daher notwendig die Frage nach den biologischen Elementen, aus denen sie aufgebaut sind. Diese Frage entspricht vollständig der innerhalb der physikalischen und chemischen Forschung entstehenden nach dem elementaren Substrat der physikalischen und chemischen Vorgänge. Aber wenn schon in diesen beiden Fällen die Elementarbegrifie gewisse Unterschiede zeigten, die aus ihrer ver- schiedenen Anwendung entspringen, so trennt eine noch größere Kluft *) Vgl. oben Kap. I, S. 349 fi. Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 593 die biologischen Elemente von den analogen Einheiten der unorganischen Naturlehre. Diese, die physikalischen und chemischen Atome und Moleküle, müssen sich wiederfinden in den Organismen, und jede physi- kalische oder chemische Untersuchung der letzteren muß auf sie zurück- greifen. Aber außerdem ist es eine naheliegende Forderung, daß die Erscheinungen, in denen die charakteristischen Unterschiede des Lebendigen und Leblosen bestehen, in ihrer elementarsten Form an gewissen Einheiten von spezifischer Beschaffenheit verwirklicht seien. Solche Erscheinungen sind die Funktionen ds Wachstums durch Assimilation,derspontanenBewegung und der Fort- pflanzung. Die Elemente, an denen sie auftreten, besitzen die physiologische Bedeutung von Elementarorganismen, und die Analyse ihrer Lebenserscheinungen muß gemäß dem Prinzip der Einfachheit der erste Schritt zur Erforschung der kausalen Bedingungen des Lebens überhaupt sein. Die Biologie genießt nun den großen Vorteil, daß ihre Elemente nicht bloß aus den Erscheinungen an zusammengesetzten Körpern er- schlossen, sondern direkt mit Hilfe des Mikroskops gesehen werden können. Dennoch hatte man auch die Elementarorganismen aus all- gemeinen Gründen vorausgesetzt, noch ehe sie beobachtet waren*). Ihre wirkliche Entdeckung beginnt mit dem hauptsächlich durch Schleiden geführten Nachweis, daß alle Pflanzen aus Zellen ent- stehen und aus solchen zusammengesetzt sind. Nach diesem Vorbilde bezeichnete Schwann auch die tierischen Elementarteile als Zellen und schrieb ihnen eine analoge, aus Kern, Membran und flüssigem In- halt bestehende Zusammensetzung zu**). Seit dieser Zeit hat die Auf- fassung von dem Bau der Zelle so gewaltige Umwandlungen erfahren, daß der Name „Zelle“ nur noch die Bedeutung einer gleichgültigen Ge- samtbezeichnung beanspruchen kann, die ihre Bevorzugung vor dem an sich zutreffenderen und bereits von Schwann gebrauchten Wort „Elementarorganismus“ nur ihrer Kürze verdankt. Diese Umgestal- tungen sind teils durch die Vervollkommnung der morphologischen Methoden, teils durch die eindringendere Erforschung des Chemismus *) Vgl. in dieser Beziehung besonders O ken, Lehrbuch der Naturphilo- sophie, II, 1809, S. 25 fi. Trotz der leeren Analogien zwischen dem Kosmo- logischen und Organologischen, welche Okens Darstellung durchzieht, läßt sich nicht verkennen, daß die Konstruktion seiner „Urbläschen“ nebenbei auf den oben angedeuteten biologischen Forderungen beruht. *) Th. Schwann, Mikroskopische Untersuchungen über die Überein- stimmung in der Struktur und in dem Wachstum der Tiere und Pflanzen, 1839. Wundt, Logik. I. 3. Aufl. 38 594 Die Hauptgebiete der Naturforschung. der Zelle herbeigeführt worden, wobei die letztere freilich nur zum aller- geringsten Teil an dem einzelnen Elementarorganismus möglich, son- dern hauptsächlich auf die Untersuchung großer Zellenkomplexe und ihrer Produkte angewiesen ist. Frühe schon ist in der Morphologie der Zelle die Frage nach dem Verhältnis des organischen zu dem unorganischen Individuum, der Zelle zum Kristall erörtert worden. Schwann hielt die Zellen- bildung für eine Kristallisation imbibitionsfähiger Stoffe, die infolge der Bildung einer den zuerst ausgeschiedenen Kern umgebenden Membran, die von außen Flüssigkeit einsauge, in der Form von weichen kugel- förmigen Massen erfolge. Wenn diese Vorstellungen in der Folgezeit aufgegeben wurden und vielleicht mehr als sie es verdienten in Ver- gessenheit gerieten, so trug daran teils der Wert, den Schwann unter dem Einfluß der pflanzenanatomischen Entdeckungen auf die Existenz der Zellmembran legte, die Schuld; teils aber traten seiner Analogie mit der Kristallbildung die Anschauungen in den Weg, die man sich nach dem Vorgang Grahams von der Natur der sogenannten „Kolloidsubstanzen“ bildete, zu denen vor allem auch das Protoplasma der Zelle gezählt werden muß. Auf die sekundäre Bedeutung der Zellmembran und ihren häufigen Mangel selbst an den ausgebildeten Zellen wies besonders Max Schultze hin*). Als das wesentliche Merkmal der Kolloide betrachtete man aber im Sinne des von Graham eingeführten Unterschieds zwischen ihnen und den „Kristal- loiden“ neben dem festflüssigen Aggregatzustand vor allem ihre völlige Unfähigkeit zu kristallisieren**). Dennoch begannen sich an dieser letzteren Anschauung hauptsächlich aus Anlaß der mikroskopischen Untersuchung der Zellen und Gewebe im polarisierten Licht allmählich Zweifel zu regen. So wies Nägeli auf die doppelbrechenden Eigen- schaften der Zellmembranen und vieler Niederschläge innerhalb der Zellen hin. Er betrachtete daher diese Elemente als kleine, regelmäßig orientierte Kristalle, die sich infolge der Verwandtschaft ihrer Substanz zum Wasser nicht zu größeren Kristallen verbänden. Während also der eigentliche Kristall aus vollkommen gleichartigen Molekülen oder Molekülgruppen bestehe, seien in der organisierten Substanz die kristallinischen Moleküle und Molekülgruppen durch veränderliche Wassermengen zu kolloiden Körpern vereinigt***). Auch die Tatsache, *) Max Schultze, Archiv f. Anatomie und Physiol., 1861, S. 17 ff. **) Graham, Philosophical Transactions, Vol. 151, 1861. ***) Nägeli, Theorie der Gärung, 1879, S. 121 fl. Mechanisch-physio- logische Theorie der Abstammungslehre, 1884, S. 30 ff. Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 595 daß die Lösungen der Kolloide, ähnlich wie die asymmetrisch gebauten kristallisierbaren Kohlenstofiverbindungen, z. B. die Weinsäure, der Traubenzucker, die Ebene des polarisierten Lichtes drehen, läßt sich vielleicht hierher beziehen. Noch näher wurden endlich die sogenannten Kristalloide und Kolloide einander durch den von O. Lehmann geführten Nachweis gerückt, daß der Unterschied zwischen der Grundgestalt der letzteren, dem zähflüssigen kugelförmigen Tropfen, und der nach be- stimmten Richtungen orientierten Form des Kristalls selbst ein fließen- der sei, so daß die mannigfachsten Zwischenstufen zwischen diesen Formen vorkommen und unter bestimmten Bedingungen bald der Tropfen sich zum Kristall verdichten, bald umgekehrt dieser sich zum Tropfen verflüssigen kann*). Danach erscheinen die Kolloide nicht mehr bloß als amorphe zähflüssige Körper, die aus kristallinischen Mole- külen aufgebaut sind, sondern die Kugelformen des Kolloidtropfens selbst als Grenzformen, in denen die Kohäsionskräfte nach allen Rich- tungen ausgeglichen sind, so daß sie nun auch die weiteren Eigen- schaften annehmen, die sie von dem Kristallzustand unterscheidet: die Fähigkeit des Zusammenfließens und der wechselseitigen Diffusion, Eigenschaften, die vor allem für die Funktionen der kolloidalen Protoplasmamassen von Bedeutung sind. Auf diese Weise haben sich die Anschauungen über die physikalische Natur der Elementarorganis- men ihrem Ausgangspunkte, wo Schwann in ihnen Kristalle in zäh- flüssigem Zustande sah, in gewissem Sinne wieder genähert. Umso weiter haben sie sich freilich in anderer Beziehung von jenem entfernt. Dachte man sich einst die einfache Zelle aus drei und eventuell, wenn die umschließende Membran fehlte, aus zwei homogenen und wenig voneinander verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt, dem Inhalt, der Zellhaut und dem Kern, so hat die tiefer eindringende morphologische und chemische Analyse nicht bloß den Protoplasma- inhalt und Kern als höchst komplexe Körper kennen gelehrt, die von- einander wie nicht minder von den genuinen Eiweißstoffen abweichen, und von denen namentlich das Protoplasma auch morphologisch eine sehr zusammengesetzte Beschaffenheit besitzt. Darum ist diese Substanz keinesfalls unmittelbar einem homogenen Kolloidkörper zu vergleichen, sondern, mag auch das Protoplasma in seiner Hauptmasse von kolloidaler Beschaffenheit sein, so hat es daneben doch den Charak- *), OÖ. Lehmann, Annalen der Physik und Chemie, Bd. 40, 1900. Flüssige Kristalle. (Mit Figuren und Tafeln.) 1904. Flüssige Kristalle und die Theorien des Lebens, 1906, 596 Die Hauptgebiete der Naturforschung. ter eines organisierten und morphologisch differenzierten Gebildes. Daß man die Frage nach dem Wie dieser Organisation zunächst un- mittelbar nach dem mikroskopischen Eindruck zu beantworten suchte, ist begreiflich. Hier trat nun aber die Analyse des mikroskopischen Bildes schließlich ergänzend und berichtigend ein. Sie ging von der Erwägung aus, daß das mikroskopische Bild als eine ebene Projektion eines körperlichen Objektes an und für sich vieldeutiger Art ist. Um die Form des wirklichen Objektes zu finden, das in diesem Fall jener Projektion entspricht, beschritt daher O. Bütschli den experimentellen Weg: er suchte künstliche Gemische herzustellen, die ein der Proto- plasmasubstanz entsprechendes Bild darboten; und er fand sie in den Schaum- und Wabenbildungen zähflüssiger Stoffe, wie sie ähnlich die Wachszellen eines Bienenstocks mit ihrem Inhalt zeigen*). So lenkte auch hier die Untersuchung wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück, zu Experimenten von Ascherson und M. Traube über künstliche Zellenbildung, die sich unmittelbar an die Schwannsche Zellentheorie angeschlossen hatten**). Aber für den indessen eingetretenen Wandel der Anschauungen ist es zugleich bezeichnend, daß in diesen älteren Versuchen, ähnlich wie bei der Vergleichung mit der Kristallisation, die Zellmembran die vorherrschende Rolle spielte, während es sich jetzt um den Aufbau des Protoplasmas handelt. Hier wies nun zugleich die komplizierte Struktur, die sich der Analyse der vollkommneren Mikroskope eröffnete, mochte sie mit Bütschli als eine „Wabenstruktur“ mit von Flüssigkeit erfüllten Vakuolen oder mit anderen Beobachtern als eine von Röhren, Fäden und Körn- chenreihen durchsetzte Masse gedacht werden, den Vorstellungen über den Chemismus des Protoplasmas eine neue Richtung an. Mußte doch der Zelle selbst, in der man dereinst nicht bloß eine organische Einheit, sondern auch ein relativ einfaches Gebilde gesehen hatte, eine zusammengesetzte Organisation zugeschrieben werden, vermöge deren sie zu einem Nebeneinander und einem teilweisen Ineinandergreifen zahl- reicher chemischer Prozesse befähigt sei. Damit eröffnete in physi- kalischer Beziehung der kolloidale Aggregatzustand, in chemischer der allgemeine Charakter der katalytischen Wirkungen einen Ausblick auf die Verwieklung der hier in einem für unsere Wahrnehmung verschwindend kleinen Raum stattfindenden Prozesse. Schon Ber- *) O. Bütschli, Untersuchungen über mikroskopische Schäume und das Protoplasma, 1892. **) M. Traube, Archiv für Anatomie und Physiologie, 1867. Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 597 zelius hatte, als er den Begriff der Katalyse einführte, bei einem der einfachsten Fälle katalytischer Wirkung, bei der Zersetzung des Wasser- stofisuperoxyds durch fein verteiltes Platin, auf den, wie wir ihn heute nennen, kolloidalen Zustand des Metalls als eine wesentliche Bedingung der Wirkung hingewiesen. Dieser physikalische Zustand macht aber die Katalyse verständlich, weil diese nun als eine durch die ungeheure Vergrößerung der Oberfläche des katalysierenden Körpers bewirkte Verstärkung einer sonst verschwindenden Reaktion erscheint, bei der die lose gebundenen zweiten Sauerstoffatome des Hyperoxyds vom Metall angezogen und dann wieder abgegeben werden. In gesteigertem Maße muß nun eine solche Wirkung bei der vorausgesetzten Wabenstruktur des Protoplasmas vorhanden sein, wo der Oberflächenvermehrung auch noch die zahlreichen Vakuolen zu statten kommen, in denen sich die Produkte der Enzymwirkungen ansammeln können. Die hoch zusammengesetzte chemische Struktur des Protoplasmas, das, wie die Verschiedenheit seiner Eigenschaften von denen des genuinen Ei- weißes zeigt, offenbar eine Eiweißverbindung höherer Ordnung ist, steht daher wahrscheinlich in Beziehung zu der Mannigfaltigkeit der nebeneinander wirksamen Enzyme, wie sie in Anbetracht der zahlreichen Stoffwechselprodukte der Zellen anzunehmen ist. Dabei können dann die verschiedenen Fermente wieder bald fördernd, bald hemmend auf- einander wirken*). Ergeben diese Betrachtungen schon den Zustand des Stoffwechsel- gleichgewichts, wo der Elementarorganismus ruhend erscheint oder das Protoplasma nur in langsamen Bewegungen seiner Teile begriffen ist, als einen überaus zusammengesetzten, so gestalten sich nun natürlich die Ver- hältnisse noch verwickelter, wenn jene Prozesse der Teilung und Ver- mehrung der Zellen eintreten, die den Wachstums- und Entwicklungs- erscheinungen zu Grunde liegen. Sie sind freilich bis dahin fast nur der morphologischen Untersuchung zugänglich, während die chemische Seite derselben, so sehr der zu beobachtende Formenwandel selbst auf sie hin- weist, noch im Dunkel liegt oder auf unsichere Analogien und Hypothesen angewiesen bleibt. Alle diese Entwicklungsvorgänge sind, wie die mikro- skopische Untersuchung lehrt, daran geknüpft, daß zu jenen im Stoff- wechselgleichgewicht stattfindenden Prozessen neue Wirkungen hinzu- treten, bei denen der aus besonderen, phosphorhaltigen Eiweißderivaten, den Nukleinen, bestehende Kern der Zelle eine Rolle spielt. Plötzlich *), FF Hofmeister, Die chemische Organisation der Zelle, 1901. 598 Die Hauptgebiete der Naturforschung. scheinen hier von der Kernsubstanz Wirkungen auf den Protoplasma- inhalt auszugehen, infolge deren, während der Kern sich im Proto- plasma auflöst, dieses meist mit geometrischer Regelmäßigkeit in einzelne Inhalte zerfällt, ın denen sich neue Kerne bilden. Dieser bei der Entwicklung des Eies unter dem Namen der „Furchung“ bekannte Ver- mehrungsprozeß erweckt unmittelbar die Vorstellung eines Reizungsvor- ganges, der von der durch irgend einen äußeren Anstoß in Zersetzung geratenen Kernsubstanz ausgeht und nun von einzelnen Punkten des Protoplasmas aus Kontraktionen anregt, die als die Ausgangsorte neuer Zellbildungen erscheinen. Dies sind physiologische Vorgänge, denen vor- aussichtlich entsprechende chemische Prozesse von umkehrbarer Natur, Spaltungen und Synthesen durch die infolge der Reizwirkung in Tätigkeit tretenden Fermente, zu Grunde liegen werden. Bei der Befruchtung ist es offenbar das in die Eizelle eindringende Sperma, von dem jene primäre Reizwirkung ausgeht. Betrachtet man hiernach den Entwicklungs- prozeß unter dem Gesichtspunkt der Auslösung einer Reihe von Be- wegungen durch einen einwirkenden Reiz, so wird es nun aber auch verständlich, daß der normale Befruchtungsreiz unter Umständen durch irgend einen anderen chemischen Reiz ersetzt werden kann, den man auf das unbefruchtete Ei einwirken läßt. So beobachtete Jacques Loeb bei seinen Versuchen über „künstliche Parthenogenese“, daß ver- schiedene Stoffe, namentlich Salz- und Säurelösungen, die unbefruch- teten Eier des Seeigels und anderer niederer Wirbellosen zur Furchung und in manchen Fällen zur Entwicklung brachten*). Jene Übereinstimmung der Zeugung des zusammengesetzten Or- ganismus mit der Vermehrung der einfachen Zellen hat nun zuerst den für die genetische Auffassung der organischen Welt bezeichnenden Be- griff der Zelle als des Elementarorganismus nahegelegt. Nimmt man hierzu die Tatsache, daß, so weit unsere sichere Erfah- rung reicht, keine Zelle anders als aus einer vorhandenen älteren ent- steht, so gewinnt daher der Satz „omne vivum ex ovo“ William Harveys, und die neue Form „omnis cellula e cellula“, die Virchow ihm ge- geben, eine identische Bedeutung. Mit dieser hängt aber zugleich die wichtige Frage nach dem Verhältnis des Elementar- organismus zum Gesamtorganismus nahe zusammen. *) J. Loeb, Untersuchungen über künstliche Parthenogenese, 1906. Dy- namik der Lebenserscheinungen, 1906, S. 239 ff. Furchungserscheinungen durch chemische Reize wurden zuerst von R. Hertwig beobachtet (Festschrift für K. Gegenbaur, 1906, II, S. 23). Vgl. auch dessen Bemerkungen zu Loebs Versuchen, Sitzungsber. der Berliner Akad., 30. März 1905. Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 599 Nun sind über dieses Verhältnis im allgemeinen zwei Anschau- ungen möglich. Entweder denkt man sich, der Gesamtorganismus sei potentiell in dem Elementarorganismus, in der Keimzelle, aus der er unter bestimmten Bedingungen, in der Regel infolge der Wechsel- wirkung mit einer anderen Keimzelle, hervorgegangen ist, enthalten, seine Entwicklung beruhe also auf den ursprünglich in dieser latent liegenden Kräften. Oder man nimmt an, jede einzelne Stufe der Ent- wicklung sei eine notwendige Folge der teils unmittelbar in dem Keime selbst vermöge seines gerade vorhandenen Zustandes, teils in äußeren Verhältnissen gegebenen Bedingungen, und es sei demnach auch der Gesamtorganismus ein Produkt aller der einzelnen Wirkungen, die der Keim im Laufe der Entwicklung erfährt. Es ist klar, daß diese Anschau- ungen wieder auf die Gegensätze der Evolution und der Epigenesis hinauskommen (8. 572). Doch scheint es auch hier, daß sie sich mit dem zunehmenden Streben nach kausalem Verständnis der Vorgänge all- mählich ausgleichen. Durch den Nachweis, daß der Keim die morpho- logische Natur der Zelle besitzt, wird nämlich zunächst die Auffassung nahe gelegt, alle Unterschiede organischer Entwicklung seien auf latente Differenzen der Keimzellen zurückzuführen. Sie hat in der Vererbungstheorie eine Unterstützung gefunden, da man es in der Regel als einen selbstverständlichen Korollarsatz des Vererbungsgesetzes betrachtete, daß die vererbten Charaktere in einer bestimmten zeit- lichen Reihenfolge entstehen, indem jeder nur während einer gewissen Zeit latent bleibe. Dem gegenüber wurde besonders durch die mecha- nischen Anpassungen der Gewebe die Ansicht begünstigt, ein wesent- licher Faktor bei der Gestaltung des Gesamtorganismus sei in den un- mittelbaren Wechselwirkungen der Teile gegeben. Die erste dieser Vor- stellungen mußte nun für sich allein zu einer teleologischen Auffassung des Vererbungsgesetzes führen. Denn die Kausalerklärung kann einen gegebenen Zustand immer nur aus dem unmittelbar vorangegangenen ableiten, und die Beziehung voneinander entfernter Entwicklungs- zustände kann daher nur durch die sukzessive Verfolgung der vor- handenen Zwischenstufen ermittelt werden. Da aber, wie die Erschei- nungen der mechanischen Anpassung lehren, bei dem Übergang jeder Stufe in die nächstfolgende äußere Einflüsse und Wechselwirkungen koexistierender Elemente zur Geltung kommen, so wird die Annahme, daß in der Keimzelle selbst alle aus ihr hervorgehenden Entwicklungen als latente Energien enthalten seien, unmöglich. Vielmehr erscheint jetzt vom Standpunkte kausaler Betrachtung aus die ganze Entwicklung der Keimzelle zum fertigen Organismus als eine Reihenfolge von A us- 600 Die Hauptgebiete der Naturforschung, lösungen, deren Erfolge außerdem unter dem Einfluß der Bedin- gungen stehen, die durch die unmittelbaren Wechselwirkungen der Teile sowie durch die Einflüsse der Außenwelt hervorgebracht werden. Wenn gleichwohl gewisse Entwicklungskreise einander so ähnlich sind, daß die Beobachtung kaum merkliche Unterschiede zwischen ihnen aufzufinden vermag, so beweist dies eben nur, daß selbst so verwickelte Vorgänge in Bezug auf die bei ihnen wirksamen Faktoren und die Art ihres Ineinandergreifens eine große Konstanz darbieten können. Des- halb ist aber doch die Befruchtung des Eies in nicht anderem Sinne Ursache des entwickelten Organismus, als etwa das Sonnenlicht die Ursache für die Existenz der lebenden Wesen auf unserer Erde ist. Nicht einmal in der Periodizität der Entwicklungserscheinungen kann, angesichts der zahlreichen Beispiele periodischen Wechsels der Energie in der unorganischen Natur, eine spezifische Eigentümlichkeit gesehen werden. Wohl aber weist diese Eigenschaft darauf hin, daß mit jenen Auslösungsprozessen, die wir bei der Entwicklung des Keimes zum Ge- samtorganismus voraussetzen, Bedingungen verbunden sein müssen, die schließlich einen Stillstand des Prozesses herbeiführen. Da Ver- mehrung und Wachstum der Zellen die elementaren Vorgänge sind, die das Wachstum des gesamten Organismus zusammensetzen, so lassen sich jene Bedingungen dahin formulieren: Jeder Elementar- organismusist nureinerbegrenzten Vermehrung und einer begrenzten Massezunahme fähig. Daß die hier gemeinten Grenzen nicht völlig feste, sondern infolge meist noch unbekannter Ursachen variable sind, lehren die individuellen Unter- schiede der Wachstumsgröße und die Fälle von Bildungsmangel und -exzeß. Die Existenz jener Grenzen aber ist eine Teilerscheinung der allgemeinen Tatsache, die in der Begrenzung des Lebens selbst uns entgegentritt. b. Diesystematischen BegriffederBiologie. Da unserer unmittelbaren Beobachtung überall nur das Indi- viduum gegeben ist, so sind die Begriffe von Art, Gattung, Familie u. s. w. Erzeugnisse einergeneralisierendenAbstraktion. Die Bedingungen und Zwecke derselben sind in der allgemeinen Methodenlehre erörtert worden. (Abschn. I, Kap. II, S.53ff.) Hier bleibt uns übrig, die Bedeutung zu untersuchen, die diese Begriffe für die Probleme der erklärenden Biologie besitzen. In den wissenschaftlichen Anschauungen hat sich in dieser Be- ziehung eine eigentümliche Wandlung vollzogen. Die ältere Natur- Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 601 geschichte legte den oberen Klassenbegriffen einen umso geringeren theoretischen Wert bei, je mehr sie sich bei ihrer Feststellung logischer Willkür bewußt war. Nur die Spezies galt als ein natürlich gegebener Zusammenhang, mochte man sie nun rein morphologisch definieren als die Individuen, die in allen wesentlichen Merkmalen übereinstimmen, oder physiologisch als diejenigen, die bei sexueller Verbindung einer unbeschränkten Fortpflanzung fähig seien. Die vergleichende Rich- tung der Naturgeschichte fügte zu der Spezies noch den Typus als einen ebenfalls durch die Natur selbst gebildeten allgemeineren Gat- tungsbegriff, der zwar nicht auf gemeinsame Abstammung, aber doch auf irgend eine tiefere Beziehung der unter ihm enthaltenen Formen zurückschließen lasse. Darwin beseitigte die bisherige Form des Spezies- begrifis, indem er auf die fließenden Übergänge der Art in die Varietät und dieser in die individuelle Änderung sowie auf die Unhaltbarkeit der physiologischen Kriterien der Fortpflanzungsfähigkeit aufmerksam machte. Die Spezies rückte dadurch unter die willkürlichen Kategorien der Systematik. Die Mutationstheorie bezeichnet, in welchem Um- fange man ihr auch Geltung zuschreiben mag, nur eine für die Syste- matik unwesentliche Modifikation dieser Anschauungen, da sie lediglich den stetigen durch einen sprungweisen Übergang ersetzt. Umsomehr scheiden sich die ältere, polyphyletische und die monophyletische Form der Abstammungstheorie, der die Entwicklungslehre mit Notwendig- keit zustrebte. Die erstere ließ dem Begriff des Typus noch seine ihm durch die vergleichende Morphologie zugewiesenen Rechte. Nur ihren Charakter der Ursprünglichkeit hatte die Spezies so dem Typus ab- getreten. Mit dem Übergang der polyphyletischen in die monophy- letische Anschauung wurden aber alle: Typen auf einen einzigen oder mindestens auf unerhebliche Variationen eines einzigen, der Keimzelle gleichenden Urorganismus, wenn nicht auf eine formlose Protoplasma- masse eingeschränkt. Die entwickelteren Typen behielten nur die Be- deutung abgeleiteter Stammformen für die einander näheren Gattungen, womit sie übrigens immer noch der auf dieser Stufenleiter tiefer stehen- den Spezies weit überlegen blieben. Mit dieser Umkehrung, die sich durch die Entwicklungstheorie in der biologischen Wertschätzung der systematischen Begriffe vollzog, verband sich mit innerer Notwendigkeit eine bestimmtere Auffassung von der Bedeutung der Merkmale, die für die Zwecke der syste- matischen Einteilung verwendet werden. Auf dem Standpunkt der älteren Naturgeschichte erschienen zwei Formunterschiede als gleich- wertig, sobald sie für die Beobachtung ungefähr mit gleicher Deutlich- 6023 Die Hauptgebiete der Naturforschung, keit bemerkbar waren. Gerade bei verwandten Formen waren dies nicht selten solche Eigenschaften, die mit den Lebensbedingungen der Spezies und der Funktion bestimmter Organe in nahem Zusammen- hang standen. Mit dem Vorwalten des genetischen Gesichtspunktes mußte nun diesen physiologischen oder Anpassungsmerk- malen gegenüber bei der Beurteilung der systematischen Stel- lung den rein morphologischen oder Vererbungsmerk- malen der Vorzug eingeräumt werden. Der Charakter eines solchen kommt aber einer bestimmten Formeigenschaft umso gewisser zu, je weniger eine unmittelbare physiologische Bedeutung derselben er- sichtlich ist. In der Tat stellt daher Darwin die Regel auf, je weniger ein Teil der Organisation für bestimmte physiologische Zwecke geeignet sei, umso wichtiger sei er für die Beurteilung der systematischen Stel- lung; insbesondere wird aus diesem Grunde den rudimentären Organen ein hoher genetischer und systematischer Wert beigemessen*). Auch in dieser Beziehung ist übrigens die genetische Auffassung Darwins in der vergleichenden Richtung der Naturgeschichte vorbereitet. Denn bereits Cuvier und Decandolle bevorzugen in ähnlicher Weise die morpho- logischen oder „homologen“ vor den physiologischen oder „analogen“ Charakteren. In beiden Fällen ist dies eine Folge des Vorrangs, den sich der Begriff des Typus vor dem der Spezies errungen. Gerade die Darwinsche Auffassung läßt jedoch jenen Unterschied der Charaktere wieder als einen fließenden erscheinen, da es nach ihr kein Merkmal geben kann, das nicht irgend einmal ein physiologisches Bedürfnis er- füllt hätte. Die rein morphologischen sind also lediglich solche physio- logische Merkmale, die sich überlebt haben. Dabei ist nun nicht ein- zusehen, warum sich ein Merkmal überlebt haben muß, um einen syste- matischen Wert zu gewinnen, und so erfährt denn auch jene Regel zahlreiche Ausnahmen, in denen gewisse Eigenschaften der Organisation gleichzeitig genetische und funktionelle Bedeutung beanspruchen. Wie auf solche Weise die Entwicklungstheorie die unteren Be- grifie der Systematik, vor allen den Speziesbegriff, ihrer Unveränder- lichkeit beraubt hat, so sind schließlich unter ihrer Einwirkung auch die obersten Begriffe, die schon in der gemeinen Wahrnehmung verhältnismäßig sicher fixierten Unterschiede von Pflanze und Tier, schwankend geworden. Nachdem durch das theoretische Ein- heitsbedürfnis die ursprünglichen Stammtypen auf einen einzigen ein- fachsten reduziert waren, erhob sich die Frage, welches Verhältnis *), Darwin, Entstehung der Arten, 6. Aufl., S. 495 fi. Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 603 zwischen diesem Urorganismus und den beiden Hauptformen organischer Wesen anzunehmen sei. Die nächstliegende Antwort lautete: der Ur- organismus ist weder Pflanze noch Tier, aber er enthält in sich die Anlage zu beiden, ähnlich wie auch die Zelle bei ihrer ersten Entstehung die spezifischen Unterschiede von Pflanzen- und Tierzelle noch nicht ausgebildet hat. Aus dieser Reflexion ist Haeckels Reich der Pro- tisten hervorgegangen, das alle diejenigen niedersten Lebens- formen vereinigt, die nicht mit Sicherheit zum Pflanzen- oder Tier- reich gerechnet werden können. Sucht man jedoch nach einer scharfen Begriffsgrenze, so läßt sich eine solche zwar für die Unterscheidung von Pflanze und Tier, nicht aber für die Abtrennung jener indifferenten Zwischenorganismen feststellen. Derartige fundamentale Unter- scheidungsmerkmale können nämlich wieder morphologischer oder physiologischer Art sein. Nun ist es im gegenwärtigen Falle eine selbstverständliche Folge der genetischen Überein- stimmung zwischen pflanzlicher und tierischer Organisation, daß zwar die ausgebildeten Formen sofort rein morphologisch nach den Struktur- und Wachstumsverhältnissen der Zellen unterschieden werden können, daß dies aber in den Anfängen der Entwicklung, gerade da also, wo es sich um die Abgrenzung der Protisten von den niedersten Pflanzen und Tieren handelt, nicht mehr möglich ist. In der Tat suchte darum Haeckel ene physiologische Charakteristik der drei Reiche zu geben, und er benutzte dazu, weil die früher angewandten Merkmale der Empfindung und Bewegung teils unsicher, teils hinfällig sind, die Erscheinungen des Stoff- und Kräftewechsels*). Da die Pflanzen organische Verbindungen produzieren und die lebendige Kraft des Sonnenlichts in potentielle chemische Energie überführen, während die Tiere jene Verbindungen zersetzen und aus chemischer Energie Wärme und Bewegung erzeugen, so schien ihm dieser Gegensatz ein entscheidendes Kriterium zu sein. Doch bei den Protisten geraten wir sofort in Verlegenheit. Wenn Haeckel behauptet, daß sich bei ihnen Reduktion und Oxydation das Gleichgewicht halten, daß sie bald Wärme binden, bald mechanische Arbeit erzeugen u. s. w., so ist diese Definition offenbar nur zum Behuf der Konstruktion eines „indifferen- ten Organismus“ erfunden. Nach allem, was wir von dem Stoffwechsel dieser Organismen wissen, ist er mit demjenigen der Tiere identisch, denen sie auch durch ihre Bewegungs- und anscheinende Empfindungs- fähigkeit gleichen. Damit gerät aber gleichzeitig die Unterscheidung *) Haeckel, Generelle Morphologie, I, S. 232, 604 Die Hauptgebiete der Naturforschung. zwischen Pflanze und Tier ins Wanken. Sie ist dem Stoff- und Kräfte- wechsel bei der Chlorophyllatmung entnommen. Doch diese ist immer nur ein transitorisches Phänomen und überdies bei der zusammen- gesetzten Pflanze an einzelne Organe gebunden, während die übrigen Teile fortwährend und die ganze Pflanze in der Zeit, wo sie dem Lichte entzogen ist, in ihrem Stoffwechsel dem Tiere gleichen. Von diesem Ge- sichtspunkte aus müßte also, wie Pflüger mit Recht bemerkt hat, das Tier als der Urorganismus und die Pflanze als ein einseitig entwickeltes Tier betrachtet werden*). In Wahrheit aber wird man in dieser Un- möglichkeit, überall zutrefiende Unterschiedsmerkmale aufzufinden, nur eine Bestätigung der Tatsache sehen können, daß auch die all- gemeinsten Begriffe der organischen Systematik künstliche Grenzen bezeichnen, um die sich die Natur selbst nicht kümmert. Zwar ent- sprechen selbstverständlich jenen Grenzen natürliche Unterschiede, doch diese werden, wie jede Entwicklung, in allmählichen stetigen Übergängen erreicht. In der Ausbildung solcher Unterschiede kommt dann jedem der physiologischen Momente, die man meist einseitig bevorzugte, seine relative Bedeutung zu. Empfindung und Be- wegung besitzt, wie wir nach den Zeugnissen der generellen und in- dividuellen Entwicklungsgeschichte annehmen dürfen, jedes ursprüng- liche organische Wesen. In der Pflanze gehen jene Eigenschaften in- folge der eigentümlichen Assimilations- und Wachstumsverhältnisse, die sich in ihr ausbilden, frühzeitig verloren. Dies Schicksal muß aber wieder auf die ganze Richtung der Organisation verändernd zurück- wirken. Es ist augenfällig, daß der innere Bau der Pflanzen ein weit gleichförmigerer ist, und daß unter den äußeren Organen diejenigen, die den unmittelbaren Wirkungen der Außenwelt am meisten aus- gesetzt sind, wie Blüte, Blätter, Wurzeln, die größten Variationen dar- bieten. In diesen Unterschieden dürfte eine Tatsache ihren Ausdruck finden, auf die überdies der ganze Bauunterschied beider Lebensformen hinweist: die Pflanze verhält sich fast durchaus passiv gegenüber den Wirkungen der Außenwelt; das Tier steht ihr mit seinem Wollen aktiv gegenüber. So liegt es denn nahe, die verwickeltere Zweck- mäßigkeit der tierischen Organisation zu einem großen Teil auf die Zweckmäßigkeit der eigenen Handlungen der Tiere zurückzuführen, und die Vielgestaltigkeit der tierischen Triebe hinwiederum abzuleiten aus der größeren Mannigfaltigkeit der Organisation. Damit sind wir bei einer Grenzfrage der Systematik angelangt, *) Pflüger, Arch. f. Physiologie, Bd. 10, S. 305. Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 605 die zugleich eine Grenzfrage der Biologie selbst gegenüber dem sie hier berührenden und in sie übergreifenden Gebiet der Psychologie ist. Wo sollen wir anfangen, die Reaktionen der Organismen auf äußere oder innere Reize, abgesehen davon, daß sie in dem Kausalzusammen- hang der physischen Lebensvorgänge eingeschlossen sein müssen, da- neben auch als psychische Symptome, als Bewegungen, die mit Ge- fühlen, Empfindungen, Willensvorgängen verbunden sind, zu deuten? Die naive Anschauung ist geneigt, in jeder Reaktion eines lebenden Wesens, bei der nicht eine äußere mechanische Übertragung in die Augen fällt, eine Willenshandlung zu sehen. Die vitalistische Physio- logie substituierte auch hier der Seele eine Lebenskraft. So dachte man sich nach dem Vorgange Hallers die Sensibilität und die Irritabilität als zwei der lebenden Substanz zukommende Eigenschaften, die als solche noch keineswegs eine psychische Bedeutung besäßen. Als der Vitalismus gestürzt war, empfand man natürlich die Nötigung, diese Eigenschaften der lebenden Substanz auf bestimmte physikalisch- chemische Bedingungen zurückzuführen. Damit erhob sich jedoch eine Schwierigkeit infolge der nun einmal nicht wegzuleugnenden Tatsache, daß der Mensch und die höheren Tiere doch nicht bloße Mechanismen, sondern daß gewisse, die äußeren Handlungen begleitende Bewußtseins- vorgänge beim Menschen direkt zu beobachten, bei den Tieren wenigstens mit der größten Wahrscheinlichkeit anzunehmen sind. Wo sollte also hier das Psychische beginnen, und wie sollte man sich sein Verhältnis zu den begleitenden physischen Reaktionen denken? Die Antwort auf die letztere Frage kann hier einstweilen dahingestellt bleiben, da bei ihr schließlich der Psychologie das entscheidende Wort zufällt, und da das systematische Problem unmittelbar von ihr nicht berührt wird. Umso wichtiger ist für das letztere die Frage, ob es eine sicher zu be- stimmende Grenze für das erste Auftreten psychischer Elemente in der organischen Welt überhaupt gibt, und wo, wenn es eine solche geben sollte, diese anzunehmen ist. Die Tierphysiologie und Tierpsychologie hat bei ihren Versuchen, diese Frage zu beantworten, in der Regel von jenem Prinzip der „Ausschaltung des Psychischen“ Gebrauch gemacht, dessen relative Berechtigung für die physiologische Betrachtung der Lebenserscheinungen oben ausdrücklich anerkannt wurde (S. 567). Aber dieses Prinzip wurde vielfach nicht in dem Sinne angewandt, daß die Physiologie von den psychischen Lebensvorgängen, die etwa die physischen begleiten mögen, abstrahieren solle, sondern sie wurde als eine „Lex parsimoniae“ in dem Sinne aufgefaßt, daß überall da, wo irgendwelche Reizerscheinungen mit Sicherheit oder Wahrschein- 606 Die Hauptgebiete der Naturforschung. lichkeit auf physiologische Ursachen zurückgeführt werden können, psychische Vorgänge überhaupt nicht existierten. Dadurch wurde man, da nun einmal nicht zu leugnen ist, daß gewisse Tiere Handlungen aus- führen, die wir, abgesehen von ihrer physiologischen Herkunft, als Bewußtseinsreaktionen deuten können, in die schwierige Lage versetzt, nach dem Grenzpunkt zu suchen, wo in der organischen Welt das Psychische überhaupt beginne. Die Beobachter, die sich von diesem Standpunkte aus mit den Lebensäußerungen der Tiere beschäftigten, blieben uneins, wo hier die Grenze zu ziehen sei. Während die einen sie dicht über den Hydroidpolypen ansetzten, waren andere geneigt, bis nahe an die Wirbeltiere heranzugehen*). So blieb man schließlich nicht allzu weit mehr hinter Descartes und manchen Iatromechanikern des J8. Jahrhunderts zurück, die überhaupt nur dem Menschen ein seelisches Leben zuschrieben und in den Tieren samt und sonders reine Reflex- maschinen erblickten. Dadurch geschah es, daß man im Bestreben, das Prinzip der Ausschaltung des Psychischen so konsequent wie möglich durchzuführen, ein anderes, wichtigeres Prinzip verletzte, nämlich das der Ausschaltung des Wunders. Descartes konnte ein solches Wunder noch behaupten, da er an eine besondere Schöpfung des Menschen glaubte. Die heutige Naturwissenschaft, die ohne die Deszendenztheorie in irgend einer Form nicht auszukommen weiß, kann das nicht mehr. Sie muß das Prinzip der Kontinuität auch auf diesen Fall übertragen. In Wahrheit steht dem aber auch nicht das geringste im Wege, wenn man die Ausschaltung des Psychischen selbst in jene Grenzen einschränkt, in denen sie überhaupt nur Gültigkeit bean- spruchen darf, nämlich in die der rein physiologischen Betrachtung, wo sie nun, wie wir oben sahen, jene aushilfsweise Herbeiziehung eines psychophysischen Standpunktes der Betrachtung nicht ausschließt, ohne die sich schließlich keine Interpretation der Lebenserscheinungen durchführen läßt. Unter diesem Gesichtspunkt wird man daher ohne weiteres zugeben können, daß die verschiedenen Bewegungen der Pro- tozoen sämtlich auf irgendwelche Tropismen, d. h. auf rein physiologische Reizwirkungen zurückgeführt werden können. Umso bemerkenswerter ist es dann jedenfalls, daß die gleichen Reizbewegungen außerdem durchaus den Charakter einfacher Triebhandlungen, also von mit Empfindung und Gefühl verbundenen Willensreaktionen besitzen. *) F.Luka s, Psychologie der niederen Tiere, 1905, S.124ff. A.Bethe, Dürfen wir den Ameisen und Bienen psychische Qualitäten zuschreiben? Pflügers Archiv, Bd. 70, 1898, S.15 fl. Vgl. dazu meine Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele*, S. 373 ff. Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 607 Natürlich läßt sich das Vorhandensein von Empfindungen und Gefühlen hier so wenig wie in irgend einem anderen Fall selbst bei höheren Geschöpfen zwingend beweisen, sondern wir sind ledig- lich auf die Ähnlichkeit mit unseren eigenen Handlungen angewiesen. Wenn man aber auf Grund des Prinzips der Stetigkeit diese Analogie zuläßt, so erscheint es umso wertvoller, daß nun schon die einfachsten psychischen Lebensäußerungen zugleich als physiologische Reaktionen, ohne auf die begleitenden psychischen Elemente Rücksicht zu nehmen, interpretiert werden können. Das ist eben augenscheinlich so lange der Fall, als nicht mit der Organisation Einrichtungen verbunden sind, die eine über längere Zeiten sich erstreckende Kontinuität durch die Ausbildung psychophysischer Dispositionen möglich machen*). In systematischer Beziehung unterstützt endlich diese Betrachtung, da sie die Kontinuität der Entwicklung als eine doppelseitige, eine physische und psychische, erscheinen läßt, die Annahme eines einheitlichen Ur- sprungs alles Lebendigen. Freilich bleibt hier die Biologie, so gut wie ihrerseits die Psychologie, bei dem Elementarorganismus als der letzten psychophysischen Einheit stehen, die sie zu erreichen vermag. Wie in dieser letzten empirisch gegebenen Lebenseinheit psychophysische Reaktionen entstehen können, das bleibt eine metaphysische Frage, die jenseits des Gesichtskreises der hier sich begegnenden Einzelwissen- schaften überhaupt liest. c. Die UrsachendesLebens, Leben und Tod unterscheiden sich vor allem durch die Fähigkeit des lebenden Körpers, während einer längeren Zeit das Gleichgewicht seiner Stofizusammensetzung bewahren zu können. Er gleicht darin den stabilen Stoffverbindungen der unorganischen Natur. Während aber hier das Gleichgewicht die Folge der Unveränderlichkeit ist, resultiert es dort aus einer Summe unablässiger Veränderungen. Noch ist die Kon- stitution des Protoplasmas und der anderen gewebebildenden Stoffe zu wenig bekannt, als daß über die spezielle Natur der elementaren Stoff- wechselvorgänge, deren Ergebnis jenes physiologische Gleichgewicht ist, andere als relativ unsichere Vermutungen möglich wären, die sich teils auf den Charakter der hier vorwiegend wirksamen katalytischen Pro- zesse, teils auf die allgemeinen Prinzipien des Energiewechsels stützen. Durch Pflüger wurde der Nachweis geführt, daß ein Tier ohne *) Vgl. hierzu das Schema der hypothetischen Bewußtseinsentwicklung im Tierreich in meinen Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele 2.8.38, 608 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Sauerstoffzufuhr während einer gewissen Zeit fortzuleben vermag). Damit ist die einst durch Lavoisier zur Geltung gebrachte Annahme, daß das Leben ein Verbrennungsprozeß sei, nicht vereinbar. Ebenso widersprechen dieser Auffassung die der Stabilität zersetzbarer Ver- bindungen entnommenen allgemeinen Gesichtspunkte. Beruht das Gleichgewicht der Zusammensetzung des lebenden Protoplasmas dar- auf, daß es einzelne Teile seines komplexen Moleküls verliert und wieder aus seiner Umgebung ergänzt, so ist damit vor allem eine fortwährende Selbstzersetzung als die chemische Bedingung des Lebens ge- fordert. Sie bewirkt, daß sich neue Moleküle der Nahrung dem Proto- plasma aggregieren, worauf dann erst die abgestoßenen allmählich durch den zugeführten Sauerstoff verbrannt werden. Soll Gleichgewicht bestehen, so müssen daher in einer gegebenen Zeit ebenso viele Moleküle aggregiert als abgestoßen und unter Kraftausgabe oxydiert werden. Dieser Zustand des Gleichgewichts kann nun aber entweder durch ein Übergewicht der Erneuerung über die Zersetzung oder umgekehrt durch ein solches der Zersetzung über die Erneuerung gestört sein. Auf der ersten dieser Gleichgewichtsänderungen beruhen alle Wachs- tums- und Zeugungserscheinungen, die beide eng mit- einander zusammenhängen, da das Wachstum der zusammengesetzten Individuen zum Teil aus der Zellenfortpflanzung entspringt, und da die einfachen Formen der Zellenvermehrung als unmittelbare Folgen des Zellenwachstums auftreten. Für die Auffassung dieser Vorgänge ist es aber von größter Bedeutung, daß sie in hohem Grade unabhängig von den Bedingungen der äußeren Stofizufuhr zu sein scheinen. Hört auch der lebende Körper zu wachsen auf, wenn ihm der Stoff mangelt, so bleibt dieser doch wirkungslos, wenn die günstigen inneren Bedingungen in dem lebenden Protoplasma fehlen. Darum ist das Wachstum keines- wegs ein Prozeß einfacher Aggregation, ähnlich etwa der Vergrößerung eines Kristalls. Vielmehr setzt bei dem organischen Wachstum jede Ansetzung neuer Masse eine neue chemische Umwandlung voraus, durch die das leblose Nahrungseiweiß in lebendes Protoplasma übergeht. Eine solche Umwandlung kann, ähnlich wie im stationären Ernährungs- zustand, nicht das ganze Eiweißmolekül auf einmal ergreifen, sondern sie vollzieht sich wieder nur an einzelnen Molekülteilen, die dem leben- den Protoplasma aggregiert werden. Hier greifen daher jene Spaltungen *) Pflüger, in seinem Archiv für Physiologie, Bd. 10, 8. 251 und Bd. 11, S. 222. Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 609 der Eiweißstoffe ein, die mit der Wirkung der Enzyme des Nahrungs- kanals beginnen und in den Geweben selber sich fortsetzen, wo sie sich nun sofort mit synthetischen Prozessen verbinden, aus denen die Ge- websstoffe hervorgehen. Aber während beim Gleichgewicht auf diese Weise nur der abgehende Ausfall gedeckt wird, müssen in diesem Fall mehr Teilmoleküle aufgenommen werden, als verloren gegangen sind. Dies kann man sich nach sonstigen chemischen Analogien auf doppelte Weise geschehend denken. Zunächst ließe sich mit Pflüger eine Ent- stehung polymerer Verbindungen annehmen, bei der die Größe des Gesamtmoleküls durch die Aggregierung neuer Teilmoleküle von gleicher Zusammensetzung zunimmt*). Da polymere Verbindungen meist analoge chemische und physikalische Eigenschaften besitzen, so ist es denkbar, daß auf diese Weise das Protoplasma wächst, ohne daß sich die Zahl seiner Gesamtmoleküle vermehrt. Man kann aber auch an Spaltungsprozesse denken, aus deren Teilungsprodukten unter Mitwirkung der Moleküle des Nahrungseiweißes mehrere Gesamt- moleküle wieder entstehen können. Sucht man diese chemischen Vorgänge mit den morphologischen Veränderungen in Beziehung zu bringen, so kann man annehmen, daß die Zunahme durch Polymeri- sierung dem einfachen Wachstum, die Zunahme durch Spaltung aber allen denjenigen Formen des Wachstums und der Zeugung entspreche, die auf Zellenteilung beruhen. Wollte man alles Wachstum auf die Aggregation polymerer Moleküle zurückführen, so würde man, um eine Beziehung zu den morphologischen Tatsachen herzustellen, genötigt sein, schließlich den ganzen Organismus als ein einziges chemisches Riesenmolekül anzusehen. Betrachtet man dagegen die Zellenteilung als das morphologische Bild einer chemischen Spaltung, so wird damit von selbst die Größe des Protoplasmamoleküls auf den In- halt der einzelnen Zelle beschränkt. Die häufig mit der Zellenteilung ver- bundene Erscheinung einer Ausscheidung von Bestandteilen, die teils in die Exkretionsstofie übergehen, teils zur Bildung sekundärer Erzeug- nisse, wie der Membran und vielleicht auch des Kerns, verwendet werden, läßt sich leicht mit dieser Anschauung in Verbindung bringen, da die chemische Spaltung in der Regel mit der Bildung von Nebenprodukten verbunden ist. Manche andere Begleiterscheinungen aber, wie die oft vorausgehenden Bewegungen des Protoplasmas, die Anordnung der *) Man erinnere sich z. B. an folgende einfache Reihe: CH,.CO.HO Essigsäure, CH,.CH,.CO.HO Propionsäure, CH,.CH,.CH,.CO.HO normale Buttersäure u. s. w. Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 39 610 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Körnchenreihen desselben in Strahlenform und die Zerlegung des Kerns, würden nun unmittelbar als ein Ausdruck der Molekularbewegungen anzusehen sein, die den chemischen Vorgang begleiten*). Über den Grund der eigentümlichen Periodizität der Wachs- tums- und Entwicklungsvorgänge geben jedoch diese chemischen Ge- sichtspunkte noch keinen Aufschluß. Völlig irreführend ist hier die physikalische Analogie mit der Wellenbewegung. Diese ist ein kon- tinuierlicher Bewegungsvorgang mit periodisch wiederkehrenden Phasen, die Fortpflanzung ist bloß ein periodisch wiederkehren- der Vorgang. Darin gleicht sie anderen physiologischen Funktionen, wie der Herzbewegung, der Atmung, dem Wechsel von Wachen und Schlaf. Von diesen physiologischen Analogien ist His ausgegangen bei seiner Annahme, daß die Anregung zur Entwicklung in einem Reizungsvorgang bestehe. (S. 575 £.) Nach den oben erörterten An- schauungen wird diese Voraussetzung auf den Vorgang der Zellen- teilung beschränkt werden können, wodurch, abgesehen von der größeren Länge der Perioden, die Analogie mit der Theorie der Herz- und Atembewegungen vollständiger ist. Hiernach ließe sich annehmen, daß sich in jeder entwicklungsfähigen Zelle während des Stoffwechsels Reizungsstoffe anhäufen, die, sobald sie in zureichender Menge ent- standen sind, den Vorgang der Reizung, den wir in diesem Fall Zellen- teilung nennen, auslösen. Vom chemischen Standpunkte aus würde daher die Reizung als eine Spaltung, der Reizungsstoff als ein Spal- tungsferment zu deuten sein. Diese Hypothese dürfte vor allem in den Erscheinungen der sexuellen Fortpflanzung eine Stütze finden. Rein morphologisch betrachtet besteht diese darin, daß eine Zelle, die für sich selbst die Fähigkeit der Spaltung verloren hat, sie wiedererlangt durch die Ein- wirkung eines aus einer fremden Zelle hervorgegangenen Elementes. Das Fermentartige des Vorgangs ist augenfällig; zugleich ist aber dessen stellvertretender Charakter nicht zu verkennen. Nachdem das Wachstum des Gesamtkörpers zum Stillstand gekommen ist und in den meisten Geweben auch die Regeneration durch Zellen- *) Über die erwähnten morphologischen Erscheinungen vgl. O. Hert- wig, Morphol. Jahrbuch, I, III u. IV (1875—78), Flemming, Zellsubstanz, Kern und Zellteilung, S. 191 fi, und Th. Boveri, Art. „Befruchtung“ in Merkel und Bonnet, Ergebnisse der Anatomie etc. I, 1891. Über die oben angedeutete Theorie der Entwicklungsvorgänge vgl. ferner mein System der Philosophie, 3. Aufl., II, S. 84 ff., und den Aufsatz „Biologische Probleme“, Philos. Stud. V, S. 327 fi. Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 611 teilung ganz aufgehört hat oder nur noch unter ungewöhnlichen Be- dingungen erfolgt, beginnt in den Sexualorganen erst jene Zellen- produktion, die meist in periodischen Zwischenräumen zur Reifung und Abstoßung der Sexualzellen führt. Die Ei- und die Spermazelle sind beide Träger des Zeugungsfermentes. Aber jedes dieser Elemente enthält das Zeugungsferment in einer wirkungsunfähigen Form. Die Rolle, die nach den Beobachtungen von Hertwig, Fol u. a. der Spermakern und der Eikern bei der Befruchtung spielen, ihre attraktive Bewegung, Verschmelzung und Teilung in die Kerne der Furchungs- zellen, machen es im höchsten Grade wahrscheinlich, daß der Kern zunächst der Sexualzellen und dann der Zellkern überhaupt der Träger der Zeugungsfermente ist. Die Eigenschaft eines Spaltungs- fermentes gewinnen aber diese erst durch ihre Vereinigung, und die Fermente der Zellkerne entwickeln jene Eigenschaft im allgemeinen umso energischer, je näher ihre Entstehung noch dem Stadium der unmittelbaren Verbindung der ursprünglichen Fermente liegt. Alle diese Tatsachen rechtfertigen die Vermutung, daß der Zellkern über- haupt ein Produkt der sexuellen Entwicklung sei, in welchem sich das in dem ersten Furchungskern enthaltene Spaltungsferment immer wieder erneuert. d. Untergang und Erneuerung des Lebens. Wie kommt es nun aber, daß diese Erneuerung allmählich ab- nimmt und endlich erlischt? Mit dieser Frage nähern wir uns dem zweiten Problem der dem Gleichgewicht gegenüberstehenden Lebensvorgänge, dem Problem der abnehmenden Verände- rungen. Die Abnahme der Wachstums- und Entwicklungsfähig- keit ist nur die Teilerscheinung eines allgemeineren, der aufsteigenden Entwicklung entgegengesetzten Prozesses. Zwischen beiden steht das Gleichgewicht eigentlich nur als ein idealer, auf die Dauer wenigstens niemals vollkommen verwirklichter Zustand. Man würde jedoch die richtige Auffassung jener Abnahme der Lebenskräfte von vornherein trüben, wenn man hier auf- und absteigende Bewegung als zwei Vor- gänge ansehen wollte, die sich ablösen, wie das die ältere Evolutions- theorie mit ihrer Annahme einer sukzessiven Aus- und Einschachte- lung getan hat. Vielmehr sind die Hemmungen der Lebensprozesse von Anfang an wirksam; wie wäre es sonst denkbar, daß die Fähigkeit der Zellenvermehrung schon bald nach der ersten Furchung der Eizelle wieder erlischt? Und anderseits steht die Produktionskraft des leben- den Organismus niemals ganz stille; wie wollte man es sonst deuten, 612 Die Hauptgebiete der Naturforschung. daß bis ins höchste Alter einzelne Gewebe sich regenerieren, und daß die krankhaften Geschwülste der Greise manchmal die üppigste Zellen- wucherung zeigen? Das Aufhören des einfachen, nach unserer Voraussetzung auf Poly- merisierung beruhenden Wachstums ergibt sich als eine unmittelbare Folge dieses hypothetischen Vorgangs. Je komplizierter polymere Mole- küle werden, umsomehr sind sie im allgemeinen geneigt, wieder in ihre Bestandteile zu zerfallen, und bei einer gewissen Grenze hört darum das polymere Wachstum überhaupt auf. Befremdender erscheint auf den ersten Blick der Stillstand der Spaltungsvorgänge. Hier wird man offenbar dazu gedrängt, die Ursache nicht in das Protoplasma selbst zu verlegen, das sich ja unverändert regeneriert, sondern in jene ferment- artigen Stofle, die wir als die äußeren Ursachen der Regeneration an- sehen. Am nächsten liegt es, nach der Analogie mit anderen Gärungs- vorgängen, an eine Entstehung und Anhäufung von Zersetzungsproduk- ten zu denken, die den Spaltungsprozeß zuerst verlangsamen und dann völlig aufheben. Haben wir die Spaltungsfermente reizende Stoffe genannt, so können diese Gegenfermente als hemmende bezeichnet werden. Nun haben wir gesehen, daß das Spaltungsferment jedenfalls in dem Augenblick am wirksamsten ist, wo es direkt aus der Verbindung der beiden sexuellen Zeugungselemente hervorging, wo also voraus- sichtlich beide dem Verhältnis des Gleichgewichts am nächsten kommen. Demgemäß würde die einfachste Annahme sein, daß das Spaltungs- ferment in dem Maße an Wirksamkeit einbüßt, als der eine oder andere seiner Bestandteile im Überschusse vorhanden ist. Hiermit steht in Übereinstimmung, daß die wahrhaft zwittergeschlechtlichen Pflanzen und Tiere, beidenengleichzeitig männliche und weibliche Sexual- zellen zur Reife gelangen, nicht selten ein unbeschränkteres, haupt- sächlich nur durch die Ernährungsbedingungen oder äußere Schädlich- keiten gehemmtes Wachstum darbieten. Dennoch würde ein Baum wahrscheinlich sogar dann allmählich aufhören zu wachsen, wenn der Stamm den neuen Trieben immerfort gleichmäßig den Ernährungssaft zuführen könnte. Da die Begegnung der heterogenen Zeugungselemente notwendig lokalen Beschränkungen unterworfen ist, so wird dadurch auch die aus den inneren Bedingungen der vitalen Prozesse resultierende Grenze des Lebens immer nur um gewisse endliche Größen erweitert werden können. In irgend einem Grad wird aber jene Erschöpfung des Lebens, die uns die Folgen der sogenannten Inzucht in vielen Fällen verraten, auch dann nicht fehlen, wenn der Kreis der Lebenden, zwischen denen sich der Austausch vollzieht, ein noch so großer sein sollte, da er Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 613 eben ein unendlicher niemals sein kann. Die Annahme, daß der Tod der Individuen und der Gattungen im letzten Grunde eine Folge der äußeren Störungen sei, denen das Leben begegnet*), ist daher mit einer kausalen Auffassung der Entwicklungserscheinungen kaum vereinbar. Die eigentümliche Stufenfolge der letzteren wird vielmehr nur unter Voraussetzungen verständlich, in denen das Ende des Prozesses zugleich eingeschlossen ist. Den Keim des Todes trägt jede Entwicklung von Anfang an in sich. Auf der anderen Seite bedürfen die für die sexuelle Fortpflanzung entwickelten Annahmen nur gewisser Erweiterungen, um über die dem Untergang gegenüberstehenden Prozesse der Erneuerung des Lebens im allgemeinen Rechenschaft zu geben. Noch aus anderen Gründen müssen wir voraussetzen, daß die stoflliche Zusammensetzung der Organismen Unterschiede bietet, die den Unterschieden der Ab- stammung parallel gehen. Demnach sind die Gattungen ofienbar ver- schiedener voneinander als die Arten, diese verschiedener als die engeren Stammesgemeinschaften; und als die letzten Unterschiede werden die der Individuen bleiben, bei denen die genetischen außerdem noch von den sexuellen Eigenschaften begleitet sind. Wenden wir diese Voraussetzung auf die Fortpflanzungsvorgänge an, so läßt sich unschwer verstehen, daß eine nahe Verwandtschaft der Organismen erfordert wird, wenn sich ihre Zeugungsfermente zu einem wirksamen Spaltungsferment vereinigen sollen, daß aber doch auch dauernde Gleichartigkeit der Elemente die Entwicklung beeinträchtigt. Schon die allgemeine Bedingung der ge- schlechtlichen Fortpflanzung, die Begegnung verschiedener Zeugungs- stoffe, zeigt ja, daß eine gewisse Verschiedenheit der Komponenten zur Einleitung der Entwicklung notwendig ist. Wir haben also nur anzu- nehmen, daß die nämliche Regel, welche die sexuelle Fortpflanzung be- herrscht, auch für die begleitenden Nebenbedingungen individueller Befähigung gültig sei. Ähnlich wie wir den Einfluß der individuellen Eigentümlichkeiten auf die Fortpflanzung zunächst aus den sexuellen zu begreifen suchen, so läßt sich dann umgekehrt von den dort ge- wonnenen Anschauungen aus der Geschlechtsdifferenz selbst ein ge- wisses Verständnis abgewinnen. Fassen wir, wie oben geschehen, den Zellenkern als den Träger der Geschlechtsstofie auf, in welchem die ursprüngliche Wirkung der Befruchtung für die ganze Lebenszeit nachwirkt, so werden wir, worauf auch andere Tatsachen hinweisen, die Anlage zur Geschlechtsdifferenz in eine sehr frühe Zeit der *), A. Weismann, Über die Dauer des Lebens, 1882, 614 Die Hauptgebiete der Naturforschung. organischen Entwicklung, wenn nicht mit Hensen*) in den Anfang derselben zurückverlegen müssen. Von mehr als von der Ausbildung verschieden gearteter Zeugungsstoffe wird aber auf der frühesten Stufe nicht die Rede sein können. Hier liegt daher die Annahme nahe, daß die ersten Spaltungsfermente überhaupt aus der Verbindung individuell ver- schiedener Protoplasmamassen ihren Ursprung nehmen. In der Kopu- lation gewisser Algen und Protozoen scheinen uns heute noch Zeugungs- vorgänge jener elementarsten Form bewahrt zu sein, wo diesexuelle lediglich mit der individuellen Differenz zusammenfällt und bei ihr zugleich in dem Sinne reziprok ist, daß jedes Individuum für ein anderes von differentem Geschlecht ist. Auf einer weiteren Stufe, welche durch die Fortpflanzungsverhältnisse der meisten Infusorien repräsentiert wird, bilden sich die getrennten Zeugungs- fermente in dem Protoplasma eines und desselben Elementarorganismus als Ausscheidungsprodukte, die in kernähnlichen Gebilden (Nucleus und Nucleolus der Infusorien) abgelagert werden, bis sie durch Selbst- zersetzung oder durch Einwirkung von Zersetzungsprodukten des Proto- plasmas in den Zustand der sogenannten Reife gelangen, der zugleich die physikalischen Bedingungen zu ihrer Verbindung mit sich führt. Wie nun von diesen Anfängen aus sich die unendlich vielgestaltigen Formen der Fortpflanzungsvorgänge bei Pflanzen und Tieren entwickelt haben, läßt sich nicht weiter verfolgen. Bei der Frage nach der Er- neuerung des Lebens kann es sich aber überhaupt nur darum handeln, daß man sich auch hier über die Entstehung der einfachsten Lebens- erscheinungen Rechenschaft gebe. Der weiteren Differenzierung wird man dann nur auf Grund einer allmählichen Ermittlung der Entwicklungs- bedingungen näher treten können. Dagegen dürfen wir dem entgegen- gesetzten Problem, obgleich es unserer positiven Erkenntnis mindestens ebenso unzugänglich ist, dem der Urzeugung oder der ersten Ent- stehung lebender Substanz, hier nicht aus dem Wege gehen. Denn der Gesichtspunkt, unter dem dasselbe betrachtet wird, ist für die Frage nach dem Wesen des Lebens von ebenso entscheidender Bedeutung wie die Interpretation der einfachsten Lebensvorgänge. e. Das Problem der Urzeugung. Die Schwierigkeiten dieses Problems hat man entweder dadurch zu beseitigen gesucht, daß man annahm, das Leben sei niemals ent- *) Physiologie der Zeugung, Hermanns Handbuch der Physiologie, VI, 2, S. 147. Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 615 standen, es sei ebenso ursprünglich wie die Materie selber, oder daß man sich die Urzeugung als einen Vorgang dachte, der den Formen ein- fachster Fortpflanzung analog sei. Die erste dieser Anschauungen hat in etwas verhüllter Form noch in neuerer Zeit in der Hypothese sich er- halten, organische Keime seien durch Meteore von einem auf den anderen Weltkörper übertragen worden, und es habe sich also das organische Leben gewissermaßen auf dem Wege der Ansteckung übertragen*). Daß diese Hypothese das Problem zurückschiebt, statt es zu lösen, liegt auf der Hand. Die lebensfähigen Substanzen sind chemische Verbin- dungen von bestimmten Affinitätseigenschaften. Mit dem nämlichen Rechte, mit dem man die Erforschung ihrer Entstehung durch eine solche Hypothese abwehrt, könnte ein Geologe der Frage nach der Bildung des Granits mit der Antwort begegnen wollen, der Granit sei immer in der Welt vorhanden gewesen. In einer hiervon wesent- lich verschiedenen Form hat zu allen Zeiten der philosophische Hylo- zoismus die Ewigkeit des Lebens gelehrt. War es ihm zunächst auch mehr darum zu tun, das Leben für die ganze Natur zu retten, als es zu erklären, so galt doch das letztere oder vielmehr die Möglichkeit, eine solche Erklärung entbehren zu können, meist als ein erwünschter Nebenerfolg. Aber je mehr diese Anschauung es versuchte, mit sonstigen Erfahrungen im Einklang zu bleiben, umsomehr zeigte es sich, daß in ihr der Begriff des Lebens den Inhalt verloren hatte, den ihm die Physio- logie gibt. So soll nach Fechner das Organische das frühere, das Unorganische das spätere, ein Ausscheidungsprodukt der lebenden Materie sein, wobei dann diese infolge solcher Ausscheidungen und Reinigungen immer mehr sich vervollkommne**). Hierdurch wird dann alles, was die Physiologie lebende Materie nennt, das Protoplasma mit seinen Entwicklungsformen, zu einem sekundären Erzeugnis. Das ur- sprüngliche Leben ist die einst in der glühenden Masse unseres Planeten enthaltene, der Trennung des organischen und unorganischen Stofis vorausgehende Bewegung. Der so gebildete Begriff des Lebens ist aber *) Da der erste, der diese Hypothese aufstellte, ein Arzt war, der sich mannigfach mit der Verbreitung der Infektionskrankheiten durch Pilzsporen beschäftigt hat, nämlich H. E. Richter (Schmidts Jahrbücher der Medizin, Bd. 126, S. 248), so wird man in der Tat nicht fehlgehen, wenn man die Idee der Ansteckung als die eigentliche Grundlage derselben betrachtet. Übrigens haben auch W.Thomson und Helmholtz unabhängig vonein- ander und von Richter die nämliche Hypothese angedeutet. (Helmholtz, Wissensch. Vorträge, 3. Heft, S. 138 £.) **) G. Th. Fechner, Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungs- geschichte der Organismen, 1874, S. 41 fi. 616 Die Hauptgebiete der Naturforschung. ein vollkommen willkürlicher, für den die wesentlichsten Merkmale, die der empirische Begriff des Lebens darbietet, nicht zutreffen. Somit hätte auch diese Anschauung immer noch zu erklären, wie das Leben im physiologischen Sinne entstanden ist. Von der zweiten der oben unterschiedenen Hypothesen sind daher bis jetzt auch alle Versuche, eine Urzeugung auf experimentellem Wege zu stande zu bringen, ausgegangen. Wie jedes organische Wachstum mit der Zersetzung schon vorhandener organischer Substanzen verbunden ist, so hoffte man in sich zersetzenden, der Fäulnis unterworfenen Gemischen organischer Stoffe die günstigsten Bedingungen für eine Generatio aequivoca vorzufinden. Nähere Auskunft über die hierbei vermuteten morphologischen oder chemischen Vorgänge ist zwar von keinem der An- hänger einer Urzeugung aus Infusionen gegeben worden. Doch scheint es, daß man dabei die heftige molekulare Bewegung in einem faulenden Gärungsgemisch für besonders geeignet hielt, um die Synthese eines lebenden Protoplasmamoleküls zu bewirken. Überdies ist es ersichtlich, daß die einfachsten Fäulnisorganismen in faulenden Massen leicht sich ernähren und fortpflanzen können; und man glaubte wohl annehmen zu dürfen, die für das Wachstum eines organischen Wesens günstigsten Bedingungen seien auch für die Entstehung eines solchen die besten. Die experimentelle Widerlegung einer Urzeugung aus Infusionen hat den letzteren Gedanken als die schwache Seite des Beweisverfahrens herausgegriffen. Denn es läßt sich ihm offenbar mit größerem Rechte die Vermutung entgegenhalten, daß die Infusionsorganismen umso leichter in eine Flüssigkeit von außen eindringen werden, je bessere Ernährungsbedingungen sie ihnen darbietet. Von dieser Erwägung aus- gehend und unter gebührender Rücksichtnahme auf die außerordentliche Lebenszähigkeit niederer Keime ist in der Tat der Beweis, daß auf dem angenommenen Wege eine Urzeugung nicht stattfindet, als geliefert zu betrachten, insoweit negative Resultate beweisend sein können. Auch findet dies Resultat darin eine Stütze, daß die hier vorausgesetzten Bedingungen nach unseren sonstigen Erfahrungen durchaus nicht solche sind, unter denen sich eine ursprüngliche Synthese organischer Ver- bindungen vollzieht. Wäre aber selbst die Infusionshypothese im Rechte, so würde damit dennoch für die Frage nach dem Ursprung des Lebens nicht viel gewonnen sein. Denn die Substanzen, die man zu den In- fusionsgemischen verwendet, sind selbst schon Produkte des Lebens- prozesses. Wie bei der Theorie der Meteorinfektion, so wird darum auch hier das Problem selbst nicht gelöst, sondern zurückgeschoben. In Wahrheit sind es nun zwei Momente, die in einer unter sich Die biologischen Grundbegriffe und die Hypothesen etc. 617 übereinstimmenden, aber von den drei hier besprochenen Anschauungen abweichenden Weise die Richtung unserer Vermutungen bestimmen müssen. Die Entstehung lebenden Protoplasmas aus unorganischen Materien vermögen wir in der jetzigen Natur nirgends nachzuweisen; und wir müssen doch die Tatsache einer solchen Entstehung voraus- setzen, da in früheren Zuständen unseres Planeten eiweißartige Körper nicht existieren konnten. Es bleibt also allein die Annahme übrig, daß die Bedingungen zum Eintritt jenes Ereignisses nur während einer ge- wissen Übergangsperiode existierten, nach der sie wieder verschwunden sind, ähnlich wie ja auch die Bedingungen für die Bildung gewisser Gesteinsarten, wie Flußspat, Feldspat, Quarz u. s. w., ofienbar vorüber- gehender Art waren. Zweitens haben wir nach dem, was uns die künstliche Synthese organischer Verbindungen lehrt, allen Grund zu vermuten, daß eine so verwickelt konstituierte Verbindung wie das Protoplasma allmählich entstanden sei, wobei die noch jetzt in der Glühhitze bei Gegenwart reduzierender Metalle leicht aus unorgani- schen Verbindungen entstehenden einfachsten Kohlenstofiverbindungen, wie Acetylen, Ameisensäure, Cyan, vermutlich die ersten Stufen gebildet haben werden*). Gesetzt aber auch, die hier postulierten Kausalbeziehungen seien zutreffend, und es gelänge sogar lebendes Protoplasma im chemischen Laboratorium hervorzubringen, so würde damit das Problem des Lebens immer erst nach seiner physischen Seite gelöst sein. Aus den Eigenschaften, die wir den chemischen Atomen beigelegt, würden wir die Gruppierungen der Stoffe und ihre Zersetzungen, vielleicht auch die damit verbundenen physikalischen Erscheinungen erklären können. Sobald aber diese Erscheinungen zugleich das Vorhandensein von Empfindungen oder von sonstigen psychischen Elementar- vorgängen verraten, sind diese als Tatsachen anzuerkennen, die in den für die physikalisch-chemische Erklärung gemachten Voraus- setzungen nicht mit enthalten und darum auch unmöglich aus ihnen abzuleiten sind. Darin liegt schon für den physiologischen Stand- punkt die Nötigung, die einfachsten Formen des psychischen Geschehens nicht erst mit der Erzeugung der lebenden Substanz entstehen zu lassen, sondern die Anlage zu diesem Ge- schehen den ursprünglichsten Substanzelementen beizulegen. Daß *) Diese Annahme habe ich schon in den verschiedenen Auflagen meines Lehrbuchs der Physiologie entwickelt. (Vgl. 3. Aufl., 1873, S. 169.) Dann ist auch Pflüger durch seine Betrachtungen über das Wesen der Lebensvor- gänge auf sie geführt worden (a. a. OÖ. Bd. 10, 1875, S. 339 £.). 618 Die Hauptgebiete der Naturforschung. Leben und Beseelung innig zusammenhängen, und daß beide nicht entstehen könnten, wenn nicht die Bedingungen zu ihnen in dem Substrat der Naturerscheinungen gegeben wären, dies ist der wahre Gedanke, der die hylozoistischen Ansichten leitet, den sie aber ver- fälschen, indem sie das potentielle in ein aktuelles Leben umwandeln, und indem sie das Bild des Organismus, das den entwickelten Lebensformen entnommen ist, willkürlich auf zusammenhanglose Sub- stanzkomplexe der leblosen Natur übertragen, in deren letzten Teilen vielleicht nur der Lebensfunke glimmt. Denn wenn der biologischen Beobachtung irgend ein Wert beizumessen ist, so kann dies eine Resultat als feststehend gelten, daß, so notwendig es auch scheinen mag, schon in den Eigenschaften der leblosen Körper die Bedin- gungen des Lebens anzunehmen, doch die zusammengesetzten Formen desselben erst die Erzeugnisse einer langen, unter den verwickelt- sten Kausalbedingungen stattgefundenen Entwicklung sind. Diese Ent- wicklung ist aber gleichzeitig eine physische und eine psychische. Daher ist es auch insbesondere deren psychische Seite, die die objek- tive Zweckmäßigkeit der Lebensformen begreiflich macht. So er- fährt hier für eine psychologische Betrachtung die der Physiologie geläufige Anschauung über die Wechselbeziehung der körperlichen und geistigen Vorgänge ihre vollständige Umkehrung: nicht das geistige leben erscheint als ein Erzeugnis der physischen Organisation, son- dern diese wird in allem, was sie an zweckvollen Einrichtungen der Selbstregulierung und der Energieverwertung vor den Substanzkom- plexen der unorganischen Natur voraus hat, eine geistige Schöpfung. Hier führt die Biologie bei ihren letzten Aufgaben unmittelbar hinüber zu den Grundproblemen der Psychologie*). 4. Störungen der Lebensvorgänge. a. Der Begriff der Krankheit In der Pathologie, dem verwickeltsten und schwierigsten Zweig der Biologie, hat jene mit mythologischen Vorstellungen zusammen- hängende Form naturphilosophischer Betrachtung, die der selbst- ständigen Entwicklung der Naturwissenschaften auf allen Gebieten *) Vgl.oben S.586 und Bd. III, Kap. III, wo auch auf die Voraussetzungen einzugehen sein wird, die sich aus dieser Wirkung psychischer Kräfte auf mate- rielle Vorgänge einerseits und aus dem oben S. 354 entwickelten Postulat der in sich geschlossenen Naturkausalität anderseits ergeben. Störungen der Lebensvorgänge. 619 voranging*), am dauerndsten nachgewirkt. Reichen doch die An- schauungen, zu denen auf dieser naturphilosophischen Grundlage die Heilkunde der Griechen gelangt war, in ihren letzten Aus- läufern noch bis in unser Zeitalter hinein. Der Gegensatz, der die Philosophie der ionischen Physiker entzweit, ob die Mannigfaltigkeit der Dinge von einem einzigen Prinzip oder von einer Mehrheit quali- tativer Urstoffe, die dann wieder als Gegensätze zu denken seien, her- komme, — dieser im letzten Grund aus rein logischen Gesichtspunkten entsprungene Streit trennt auch die ärztlichen Schulen der Griechen. Für die Anhänger eines einzigen Urstofis steht hier die Lehre des Ana- ximenes, der die Luft für diesen Stoff hält, infolge der Bedeutung des Atmungsprozesses für alle Lebensvorgänge begreiflicherweise im Vordergrund. Eine gründlichere Untersuchung der Krankheitser- scheinungen dagegen mußte bemüht sein, den mannigfachen Unter- schieden derselben durch die Feststellung der Veränderungen im ein- zelnen, namentlich der symptomatisch wichtigen Veränderungen des Blutes und der flüssigen Sekrete, besser gerecht zu werden. So entstand, jener Richtung der „Pneumatiker“ gegenüber, die von dem größten der griechischen Ärzte, von Hippokrates, vertretene „Humoralpatho- logie“**). Indem diese die Krankheiten, wie überhaupt die wichtigsten organischen Vorgänge, auf die wechselnde Mischung der vier Kardinal- säfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle zurückführt, erinnert sie zweifellos nicht bloß durch die Vierzahl an die Empedokleischen Elemente, sondern sie ist eine Übertragung derselben auf den Organismus, wie solches später namentlich von Galen nachdrücklich betont wurde, und sie beruht demnach gleich jenen auf dem Prinzip des logischen Gegensatzes. Nachdem im Mittelalter die Hippokratische Auffassung in der ihr durch das Galenische System gegebenen dogmatischen Ge- staltung die Pathologie durchaus beherrscht hatte, regte sich erst vom Beginn der Neuzeit an wieder das Streben, auch auf diesem Gebiete zu einer selbständigen Beobachtung der Erscheinungen zurückzu- kehren, wie sie dereinst Hippokrates gelehrt; zugleich aber begann nun, von den exakten Wissenschaften und der in ihr wurzelnden mechanischen Weltanschauung ausgehend, die Tendenz nach einer mechanischen Er- klärung herrschend zu werden. Diese iatromechanische Richtung nahm gewissermaßen die Anschauungen der alten Pneumatiker wieder auf, in- *) Vgl. oben S. 271. **) H. Diels, Über die Exzerpte von Menons Jatrike in dem Londoner Papyrus 137. Hermes, Bd. 28, S. 407. Im Auszug in den Preuß. Jahrbb. Bd. 44, S. 412. 620 Die Hauptgebiete der Naturforschung. dem sie bemüht war, aus einerin den Nerven angenommenen feinen und leichtbeweglichen Materie, den „Nerven-“ oder „Lebensgeistern “ die wich- tigsten Funktionen des gesunden wie des kranken Organismus zu erklären. So erneuerten sich in dem Kampfe der Humoral- und der Soli- darpathologie, die der Gegenüberstellung des soliden Nerven- systems und der flüssigen Säfte des Körpers ihre Namen verdankten, die uralten naturphilosophischen Gegensätze. Zugleich begannen aber teils innerhalb dieser Gegensätze, teils unabhängig von ihnen mannig- fache Einflüsse von anderen naturwissenschaftlichen Gebieten aus auf die Biologie und durch diese auf die Auffassung der Krankheitserscheinungen einzuwirken. Auf diese Weise ist die Pathologie bis in die neueste Zeit von animistischen und vitalistischen, mechanischen und chemischen Hypothesen mit wechselndem Glück beherrscht worden. Vielfach haben aber auch die allgemeinen biologischen Anschauungen in der Pathologie ihre Hauptstütze gefunden. Vor allem gilt dies von denjenigen Lehren, die im Beginn der Neuzeit als eigentümliche Neugestaltungen uralter Anschauungen den überkommenen Systemen entgegentraten. So schöpften ein Paracelsus und van Helmont ihre animistisch-chemischen Ideen zumeist aus der Beobachtung der Krankheitserscheinungen. Für den Vitalismus konnte es keine augenfälligere Bestätigung geben als der anscheinend so deutlich auf einen Kampf der Lebenskraft mit äußeren oder inneren Schädlichkeiten hinweisende Verlauf der Krankheiten. Selbst die mechanische Auffassung des Lebens gewann aber aus der pathologischen Beobachtung fruchtbare Anregungen. Ergab sich doch der für diese Lehre so wichtige Begriff der Selbstregulierung am leichtesten aus denjenigen im Gefolge der Krankheit auftretenden Reaktionen, die entweder auf eine Beseitigung der Störung oder auf die Herstellung eines neuen, die Störung kompensierenden Gleichgewichts- zustandes gerichtet sind. Der Kampf aller dieser Anschauungen dreht sich auf dem Gebiete der Pathologie hauptsächlich um einen Punkt: um die Frage nach der Krankheitsursache. Daß in den meisten Fällen die Krankheit durch &u ßere Einwirkungen verursacht werde, konnte von frühe an der Beobachtung nicht verborgen bleiben. Als die eigentliche Bedingung der Störung betrachtete man dabei aber doch die Ver- änderung, die in den Säften oder Geweben des Organismus entstehe, und die nun weitere Störungen und Ausgleichserscheinungen nach sich ziehe. Diese Ansicht paßte ebensogut in die mechanistische wie in die vitalistische Lehre. Ihr gegenüber führte Paracelsus eine in dem Volks- aberglauben längst verbreitete Vorstellung in die wissenschaftliche Störungen der Lebensvorgänge. 621 Medizin ein: die Vorstellung, daß die Krankheit selber ein Wesen sei, in dessen Bekämpfung teils das natürliche Heilungsbestreben des Organismus bestehe, teils das künstliche Heilverfahren des Arztes bestehen müsse. So treten von nun an eine ontologische und eine funktionelle Auffassung einander gegenüber. Schon Para- celus hat seine Lehre von den krankmachenden Wesen, von der Keimung und Entwicklung derselben besonders auf die Beobachtung der konta- giösen Krankheiten gestützt, deren Entstehung und typischer Verlauf auch in späterer Zeit immer wieder solche Ideen nahe legte*). Trotzdem ist lange die funktionelle Auffassung die fast allein herrschende ge- blieben, und wenn man auch nicht umhin konnte, bei den Kontagien und Miasmen den Einfluß äußerer krankmachender Stofie zuzugeben, so war man doch mehr geneigt, in ihnen die Wirkungen unbekannter chemischer Substanzen als die organisierter Elemente zu sehen. Das Hauptaugenmerk blieb dabei immer auf die funktionellen Verände- rungen des erkrankten Organismus gerichtet, und je nachdem man hier den Ernährungsflüssigkeiten oder dem Nervensystem den ent- scheidenden Wert beilegte, siegte wieder die humoral- oder die solidar- pathologische Auffassung, Richtungen, die in ihrer Einseitigkeit an die wechselnde Herrschaft des Vulkanismus und Neptunismus in der Geologie oder der Gravitations- und der elektrischen Spannungstheorie in der Chemie erinnern. In der Tat, wie diese chemischen Theorien aus einer Übertragung von Begriffen entstanden, die anderen Wissens- gebieten entnommen waren, so hatte sich auch im Wechsel der Zeiten die humoralpathologische Lehre immer mehr einer einseitig chemischen, die solidarpathologische der mechanischen Richtung in der Physiologie angepaßt. Denn das Blut, das allmählich die übrigen Kardinalsäfte in den Hintergrund drängte, galt als der Hauptsitz der chemischen Lebens- vorgänge; die Bewegung des in den Nerven eingeschlossenen hypothe- tischen Fluidums, der „Nervengeister“, war namentlich seit Descartes ein Lieblingsgegenstand iatromechanischer Spekulationen geworden. Daneben spiegelt sich übrigens in den epochemachenden Systemen des 17. und 18. Jahrhunderts deutlich der besondere Einfluß der Zeit: so in der von Sydenham auf humoralpathologischer Grundlage unter- nommenen Wiedererneuerung der Hippokratischen Beobachtungs- methode der Geist der Baconischen Induktion, in seinem Begriff der Krankheitsspezies das beginnende Zeitalter der systematischen Natur- *) Vgl. Kurt Sprengel, Geschichte der Arzneikunde, 3. Aufl., III, S. 449 ff. 622 Die Hauptgebiete der Naturforschung. geschichte; so in Browns solidarpathologischem „Irritabilitätssystem “ die Bedeutung, die der Begriff der Reizbarkeit in der Physiologie ins- besondere durch Hallers Irritabilitätslehre gewonnen hatte. Gegenüber solchen von außen in die Pathologie hineingetragenen Vorstellungen konnte die Aufgabe einer selbständigen Erforschung der im Organismus gelegenen Krankheitsursachen und Krankheitswirkungen erst von dem Augenblick an in den Gesichtskreis einer strengeren Metho- dik treten, als durch die systematische Zergliederung der erkrankten Organe an die Stelle der bisherigen äußeren allmählich ene innere Symptomatologie der Krankheiten trat. Für die Auffassung des Wesens der Krankheit gewann aber die pathologische Anatomie einen entschei- denden Einfluß, namentlich seit die mikroskopische Untersuchung eine tiefere Einsicht in die elementare Beschaffenheit der krankhaften Veränderungen gewährte. Ihren Ausdruck fand die so entstandene neue Richtung in Virchows Zellularpathologie. Im Gegen- satz zu jenen älteren humoral- und solidarpathologischen Lehren, die zumeist nur von der Beurteilung allgemeiner Krankheitsbilder aus- gegangen waren, suchte die Zellularpathologie die Elementar- teileder Gewebe, insbesondere die letzten Lebenseinheiten, die Zellen, überall als die Träger der Krankheit darzutun, während sie zu- gleich an dem im Grunde bereits von Sydenham aufgestellten Postulat festhielt, daß es spezifische Unterschiede der elementaren Lebensvor- gänge im normalen und im krankhaft veränderten Zustande nicht geben könne, und daß daher der letztere lediglich ein unter störenden Bedingungen, im übrigen aber nach allgemeingültigen physiologischen Gesetzen ablaufender Prozeß sei*). Der so gewonnene Standpunkt ging demnach darauf aus, die Pathologie in eine „pathologische Physio- logie“ umzuwandeln, die in ähnlicher Weise der mikroskopisch-ana- tomischen Untersuchung des krankhaft gestörten Körpers bedürfe, wie die normale Physiologie die normale Anatomie zu ihrer Grundlage habe. In dieser Forderung lag jedoch bereits die Tendenz zu einer Er- gänzung und Erweiterung der zellularpathologischen Auffassung. Denn eine pathologische Physiologie mußte sich notwendig die Auf- gabe stellen, mit der mikroskopischen Untersuchung das Experi- ment zu verbinden, und die Lösung dieser Aufgabe führte nun weiter- hin zu Ergebnissen, die an verschiedenen Stellen die zellularpatholo- gischen Anschauungen verdrängten. Hierdurch wurde die bereits von der Zellularpathologie angebahnte Überzeugung befestigt, daß #\ BR. Virehow, Zellularpathologie*, 1871. Störungen der Lebensvorgänge. 623 es überhaupt unmöglich sei, den Begriff der Krankheit einem einzigen allumfassenden Allgemeinbegriff unterzuordnen, sondern daß, ent- sprechend der großen Mannigfaltigkeit der Lebensbedingungen, mannig- fach verschiedene und oft ineinander eingreifende Formen der Störung und ihrer Ausgleichung anzunehmen seien. Eine entscheidende Rolle spielte hierbei wiederum das Studium der Infektionskrank- heiten, indem es auf diesem wichtigen Gebiete zu einer partiellen Wiederherstellung des ontologischen an Stelle des rein funktionellen Begriffs der Krankheit führte. Der nächste, an sich freilich unzureichende Grund zu dieser Um- wälzung bestand in der Beobachtung der Lebenszyklen niederer Organis- men. Hatte bereits van Helmont die Krankheit als eine „Fermen- tation“ bezeichnet, so wurde in der neueren Zeit die genauere Kenntnis der bei den Gärungen organisierter Stoffe wirksamen Spaltpilze und ihrer weiten Verbreitung die Hauptquelle ähnlicher Hypothesen*). Zu dieser inneren kam bald noch eine äußere Analogie, die Ähnlich- keit mit den durch parasitische Wesen hervorgerufenen Erkrankungen. Schönlein, der Entdecker des Favuspilzes, hatte schon mit den Borken desselben die Darmabschorfungen im Typhus verglichen. Noch mehr erinnerte später die Trichinosis durch ihren typischen Verlauf an die Entwicklung kontagiöser Erkrankungen. Ohne durch solche Analogien vorbereitet zu sein, würde man schwerlich den entscheidenden Schritt getan haben, der in der direkten mikroskopischen Nachweisung der Infektionsbakterien, ihrer künstlichen Züchtung und Übertragung be- stand. War auf diese Weise nachgewiesen, daß die an gewissen Orten haftende oder von erkrankten Individuen ausgehende Ansteckung sowie der typische Verlauf gewisser Krankheiten auf der Übertragung und Entwicklung bestimmter Bakterien oder anderer Mikroorganismen, namentlich Protozoen beruhe, so knüpfte sich aber hieran sofort eine abermalige, jetzt berechtigtere Analogie: es konnte angenommen werden, daß auch in anderen Fällen, wo der direkte Nachweis noch nicht gelungen war, Infektionsfähigkeit und typischer Verlauf für das Vor- handensein krankmachender Organismen beweisend seien. Von diesen beiden Merkmalen mußte die Infektionsfähigkeit wieder als das wert- vollere erscheinen, weil hier die Übertragung eines Krankheitsstofies außer Frage stand, andere Krankheitsstoffe als organisierte aber, ab- gesehen von den im allgemeinen leicht zu unterscheidenden eigent- lichen Giftwirkungen, nicht bekannt waren. Der typische Verlauf für sich *) J. Henle, Handbuch der rationellen Pathologie, II, 2, S. 424 fi. 624 Die Hauptgebiete der Naturforschung. dagegen konnte ebensogut bloß in den Lebenseigenschaften des er- krankten Organismus seinen Grund haben; auch war aus dem Mangel eines solchen Verlaufs noch nicht ohne weiteres auf das Fehlen einer Infektion zu schließen, da jener außerdem eine regelmäßige Entwick- lung der Infektionsorganismen voraussetzt. Wie diese, so hat sich noch eine andere Analogie nicht als überall zutrefiend erwiesen. Bei vielen Infektionskrankheiten von ausgeprägt typischem Verlauf, z. B. bei den akuten Exanthemen, verleiht die einmalige Erkrankung, auch wenn sie, wie bei der Schutzpockenimpfung, in einer milderen Form verläuft, eine gewisse Immunität gegen künftige Infektionen. Diesen stehen aber andere Fälle gegenüber, wo im Gegenteil die Erkrankung zu künftiger Infektion geneigter zu machen scheint: so die Tuberkulose, die Lungenentzündung, der Rheumatismus. Für diese beiden einander entgegengesetzten Fälle bieten sich jedoch abermals Analogien in den verschiedenartigen Vege- tationsbedingungen der Pflanzen, unter denen es manche gibt, die rasch den Boden erschöpfen, so daß eine zweite Kultur erst nach längerer Zeit gelingt, indes andere solchen Beschränkungen nicht unterworfen sind. Es konnte kaum ausbleiben, daß die überraschenden Entdeckungen der Bakteriologie zunächst zu einer Überschätzung der Bedeutung dieser mikroskopisch nachweisbaren Krankheitserreger führten, die in der Verschiedenheit ihrer Formen und Entwicklungsbedingungen in vielen Fällen wenigstens der typischen Verschiedenheit bestimmter Infektionskrankheiten parallel gehen. Bald machte sich daher eine kritische Reaktion fühlbar. Man konnte sich der Einsicht nicht ver- schließen, daß der krankheitserregende Pilz immer nur als ein Faktor unter mehreren betrachtet werden könne. Ein zweiter Faktor mußte in jenen noch rätselhaften Bedingungen, die wir deindividuelle Disposition nennen, ein dritter in den teils unbekannten, teils wenigstens in ihrer Wirkungsweise unverstandenen lokalen Ein- flüssen gesehen werden. Wo die letzteren auffällig hervortraten, wie bei den endemischen Krankheiten, stellte man in älterer Zeit den eigentlichen Infektionen die „miasmatischen“ Erkrankungen als beson- dere, ausschließlich aus solchen lokalen Bedingungen entspringende Epi- demien gegenüber. In dem Kampf der „Grundwassertheorie“ Max Pettenkofers mit Robert Kochs Bazillentheorie über den Ursprung der Cholera hat diese Scheidung ihren letzten Ausdruck gefunden. Sie hat mit dem unbedingten Sieg der Bazillentheorie geendist. Allerdings behielt aber dabei der Einfluß lokaler Bedingungen insofern recht, als neben der Infektion von Mensch zu Mensch die Verbreitung der Mikro- organismen, welche die Träger des Krankheitsgiftes sind, durch die Störungen der Lebensvorgänge. 025 Umgebung, durch Pflanzen, Tiere, namentlich aber auch durch das Trinkwasser, in vielen Fällen sich als die entscheidende Bedingung der Verbreitung herausstellte. b. Funktionsstörungen und Infektionen, Unter dem Eindruck dieser Ergebnisse konnte sich die Vorstel- lung ausbilden, die längere Zeit in der Tat die herrschende war und es zumeist wohl noch ist, die Gesamtheit der Krankheiten zerfalle, ab- gesehen von den direkt durch äußere mechanische oder chemische Mittel erzeugten Schädigungen, in zwei Klassen: in die durch irgendwelche innere Veränderungen der organischen Prozesse, namentlich der Stoff- wechselvorgänge, erzeugten Funktionsstörungen, und in die durch von außen eingedrungene Mikroorganismen entstehenden Infek- tionen, die entweder bei begrenzter Lebensdauer der Infektionsorganis- men akut oder bei ihrem Verbleiben im Körper chronisch verlaufen. Eine Kombination der funktionellen Theorie der Humoralpathologen und der vitalistisch-ontologischen, in der die Ideen des Paracelsus in neuer Gestalt wieder auflebten, schien dieser Situation zu entsprechen. Aber diese Gegensätze der Pathogenese ließen sich dem erreichten Stand- punkte der physiologischen Chemie gegenüber auf die Dauer nicht aufrecht erhalten. Die Humoralpathologie wies an und für sich schon auf die Erforschung der chemischen Gleichgewichtsstörungen bei den Krankheitsprozessen hin. Für die Bakteriopathologie lag es nahe, die Wirkungen, welche die Spaltpilze außerhalb des von ihnen infizierten Organismus ausüben können, also die Vorgänge der Alkoholgärung, der Fäulnisprozesse und andere ähnliche herbeizuziehen. So wurde die Pathogenese der Infektion auf das allgemeinere Gebiet der Gärungs- chemie hingewiesen. Gleichwohl bildeten die Gärungsvorgänge noch lange insofern ein von den sonstigen katalytischen Prozessen abgeson- dertes Gebiet, als man bei ihnen das Vorhandensein lebender Fer- mente für ein wesentliches Erfordernis hielt. Indem Pasteur durch seinen Nachweis der weiten Verbreitung der Mikroorganismen und ihrer Mitwirkung bei den Gärungs-, Fäulnis- und Verwesungserschei- nungen das Mittel zur endgültigen Widerlegung einer Urzeugung niederer organischer Wesen aus sich zersetzenden Gemischen organischer Stoffe gefunden hatte, war er gewillt, nun auch rückwärts zu schließen, daß umgekehrt solche Zersetzungsprozesse nie ohne bereits organisierte Fermente vor sich gehen könnten*). Dieser Schluß war logisch natür- *) Pasteur, Theorie der Gärung, 1872. Prüfung der Lehre von der Urzeugung, 1862. In Ostwalds Klassikern, Heft 39, 1892. Wundt, Logik. II. 3. Aufl. 40 626 Die Hauptgebiete der Naturforschung. lich keineswegs berechtigt. Aber der unter dem Eindruck der Pasteur- schen Versuche festgewurzelten Überzeugung von der Unentbehrlich- keit organisierter Fermente wurde doch erst durch E. Buchners Ent- deckung der katalytischen Kraft des ausgepreßten Saftes der Hefe- zellen der Boden entzogen. In gleichem Sinne wirkten zudem die theoretischen Betrachtungen, zu denen die nach dem Vorbilde der Schutzpockenimpfung vorgenommenen und dann nach verschiedenen Richtungen modifizierten Versuche der Immunisierung gegen die Mikroorganismen anregten. Damit änderten sich die Anschauungen über das Wesen der Infektion abermals in einer Richtung, in der sie sich den Vorstellungen über die Wirkung sonstiger Krankheitsursachen wiederum näherten. Diese Entwicklung der neueren pathologischen Anschauungen ist auch in logischer Beziehung umso bemerkenswerter, als es ganz zufällige Beobachtungen oder fast planlose, bloß durch das praktische Interesse angeregte Versuche waren, von denen man zunächst ausging. Die Methode der Schutzpockenimpfung verdankt man bekanntlich der Beobachtung Jenners, daß die Mägde, die sich beim Melken eine Infektion durch die wenig gefährliche Kuhpockenlymphe zugezogen hatten, bei Epidemien der gefährlichen menschlichen Pockenkrankheit verschont blieben. Der Versuch, eine solche Immunisierung auch auf andere Infektionsgifte zu übertragen, lag daher nahe. Auch scheint es, daß namentlich gegen den Schlangenbiß ähnliche Mittel seit alter Zeit schon bei manchen Völkern im Gebrauch waren. Von einer wissen- schaftlich geregelten Übertragung bei den eigentlichen Infektionskrank- heiten konnte aber doch erst die Rede sein, als die Gifte selbst in der Gestalt von Reinkulturen der infizierenden Mikroorganismen isoliert und so in einen der beliebigen Verdünnung fähigen Zustand gebracht waren. Dieser Schritt ist vor so kurzer Zeit erst getan worden, daß die Bemühungen um die Erforschung und Bekämpfung der auf diesem Wege ermittelten und weiter zu ermittelnden Krankheitsgifte noch mitten im Flusse sind. Nichtsdestoweniger hat sich bereits in doppelter Hinsicht eine wichtige Entwicklung der Anschauungen und in ihr eine wachsende Annäherung an die Auffassung der normalen Lebensvorgänge vollzogen. Der erste Fortschritt betraf das Wesen der Immunisierung; der zweite bestand in der eindringenderen, wenn auch immer noch viele Probleme ungelöst lassenden und neue anregenden Erkenntnis der Prozesse, die der Infektion und ihren Gegenmitteln zu Grunde liegen. Das Vorbild der Jennerschen Schutzimpfung, das selbst vielleicht an den Gedankengängen Hahnemanns, des Stifters der Störungen der Lebensvorgänge. 627 Homöopathie, nicht ganz unbeteiligt gewesen ist, ließ die Immunisierung gegen die künftige Infektion durch einen geringeren Grad der gleichen Infektion fast wie eine Bewährung des Grundsatzes „Similia simi- libus“ erscheinen. Auch die von den Homöopathen gelehrte Um- kehrung der Giftwirkung in Heilwirkung bei kleinsten Gaben ent- sprach einigermaßen jenem Vorbild. Indem man nun aber weiter- hin durch Variation des Immunisierungsverfahrens, bei der zugleich die Erfahrungen über sonstige Fermentwirkungen wegweisend waren, die günstigsten Bedingungen der Heilwirkung zu ermitteln suchte, fand sich, daß die lebenden Mikroorganismen durchaus nicht zu einer solchen Wirkung erforderlich seien, sondern daß die Veränderungen, die die Infektion in den Körpersäften, z. B. in dem Blutserum eines infizierten Tieres erzeuge, eine Schutz- oder Heilwirkung ausüben könne. Noch einen für die Theorie wie für die Praxis der Immunisierung wich- tigen Schritt weiter führten aber diese Versuche, als sich bei der Therapie des Diphtherieheilserums ergab, daß die eine Infektion paralysierende Wirkung der Körpersäfte infizierter Tiere auch dann noch erhalten blieb, wenn man die schädlichen Stoffe der Infektion durch antitoxische Mittel, z. B. durch die Behandlung des Blutserums mit Jodoform, un- schädlich gemacht hatte. Damit war nun völlig ausgeschlossen, daß der infizierende und der immunisierende Stoff ein und derselbe seien, sondern die Folgerung ließ sich nicht mehr abweisen, das Infektionsgift selbst erzeuge ein Gegengift, das bei jeder Immunisierung das eigent- lich wirksame Agens sei. Das „Similia similibus“ war damit wieder in den verständlicheren Grundsatz des „Contraria contrariis“ überge- gangen, der nun auch die Angrifispunkte bot, um den bei solchen Wirkun- gen und Gegenwirkungen stattfindenden Prozessen auf die Spur zu kommen. Denn jetzt traten die Erscheinungen in eine Beleuchtung, die sie anderen bereits bekannten nahe brachte. Dabei konnten sich aber solche Analogien wieder nach zwei Richtungen erstrecken, je nach- dem man von physiologisch-morphologischen oder von rein chemischen Betrachtungen ausging, wenn man sich auch von vornherein auf beiden Seiten bewußt war, daß in letzter Instanz das Problem ein chemisches sei und daher beide Wege schließlich zusammentreffen müßten. ec. Die Theorie der Immunisierung. Die physiologisch-morphologischen Hypothesen über die Ursachen der Immunisierung knüpften direkt an die allge- meine Dynamik der Lebenserscheinungen an. So ging Metschnikoffs 628 Die Hauptgebiete der Naturforschung Theorie der „Phagozyten* von der Beobachtung aus, daß die Lymph- körper des Blutes die in dieses gelangten Bazillen in sich aufnehmen und zerstören könnten, daher ihm diese Körperchen als die Stätten eines der Verdauung analogen Gärungsprozesses erschienen, bei der durch abgeschiedene Fermente die geformten Infektionsstoffe ver- nichtet würden. Aus einer Verbindung chemischer Analogien mit den physiologischen Begrifien der Assimilation und Dissimilation der Gewebsbestandteile entwickelten sich dann die Vorstellungen von C. Weigert und P. Ehrlich, nach denen die loseren Atomgruppen des komplexen Protoplasmamolekels der Gewebszellen einerseits die aus dem Nahrungseiweiß stammenden Albuminoide fortwährend bin- den und an die Grundbestandteile der Zelle abgeben, anderseits aber eben darum auch, wenn sie mit toxischen Substanzen Verbin- dungen eingehen, die Nahrungswege der Zelle unwirksam machen und so deren Tod herbeiführen sollen, während die immunisierenden Sub- stanzen die Gifte neutralisieren und dadurch die „Empfänger“ der zuge- führten Stoffe ihrer Funktion zurückgeben. Diese Hypothese, die offen- bar den oben (S. 597 ff.) angedeuteten Vorstellungen von den normalen Prozessen des Wachstums, der Vermehrung und des Verfalls der organi- sierten Elemente verwandt ist, macht es denn auch verständlich, daß neben den eigentlichen, selbst zu den Enzymen gehörenden Gegen- giften noch andere Stoffe, sei es durch Aggregatänderung, z. B. Koagulation, oder durch bloße Umlagerungen der Molekularstruktur, antitoxisch wirken können, wie denn überhaupt die Grenze zwischen den Infektions- und anderen Giftwirkungen und endlich zwischen beiden und den normalen Zersetzungsvorgängen im Organismus als eine fließende erscheint. Ähnlich verhält es sich aber, wenn der rein chemische Gesichtspunkt in den Vordergrund gestellt wird. Hier bietet dann einerseits der große Einfluß, den geringe Änderungen der Mole- kularstruktur chemischer Verbindungen auf ihre Eigenschaften und ins- besondere auch auf ıhr Verhalten zu den Gewebestoffen ausüben können, nahe Beziehungen dar. Durch solche Änderungen kann ein Gift bei gleich bleibender elementarer Zusammensetzung in ein Gegengift oder in eine indifferente Substanz übergehen. Anderseits besitzen die Fermente und unter ihnen wieder in erster Linie die organischen oder organisierten Enzyme in hohem Grade die Eigenschaft, daß die von ihnen eingeleiteten Spaltungsprozesse durch die Ansammlung der Spal- tungsprodukte allmählich gehemmt, oder daß andere Fermente erzeugt werden, die die Wirksamkeit der ersteren kompensieren. Bedenkt Störungen der Lebensvorgänge. 629 man, daß die Menge der in der lebenden Zelle vorhandenen Enzyme von verschiedener Wirksamkeit an und für sich schon sehr groß ist (S. 558 fi.), daß aber unter irgendwelchen hinzutretenden Bedingungen neue Enzyme entstehen können, so bietet sich hier ein vorläufig noch unübersehbares Spiel für die Wechselwirkungen der in den Organis- mus von außen eingedrungenen oder in ihm selbst erzeugten toxischen und antitoxischen Substanzen. So erinnern diese pathologischen Er- scheinungen dadurch, daß jede toxische Substanz Reaktionen auslöst, die auf ihre Vernichtung und damit zugleich auf die Beseitigung der von ihr gesetzten Störungen gerichtet sind, an den Satz des Paracelsus, daß jedes organische Wesen seinen eigenen „Alchimisten“ in sich trage, der die Stoffe scheide und den kranken Körper heile, indes der Arzt nur dazu berufen sei, diesen „natürlichen Alchimisten“ in seinem Streben zu unterstützen. Indem aber dabei das nämliche Prinzip der Selbst- regulation, wie es in allen physiologischen Vorgängen als die Bedin- gung der Erhaltung des Lebens sich darstellt, auch die Erscheinungen der Krankheit hervorbringt, bestätigt sich nicht minder der von Virchow ausgesprochene Satz, die Erscheinungen der Krankheit selbst beruhten ganz und gar auf den physiologischen Lebensvorgängen, wie sie sich nach den ihnen immanenten Gesetzen unter den gegebenen Bedingungen der Störung notwendig gestalten*). d. Die Selbstregulierungim kranken Organismus. Die für die allgemeine Biologie wichtigste Bedeutung der bei der Infektion erzeugten Toxine und Antitoxine liegt nun schließlich darin, daß sich ihre Wirkungen nicht sowohl von den normalen physiologi- schen Elementarprozessen selbst unterscheiden, als daß sie in gewissem Sinne nur ein vergrößertes und zeitweise in ungewöhnlichem Grade von dem normalen Gleichgewicht abweichendes Bild jener Vorgänge vor Augen führen. So beruht schon der Zerfall des Organismus bei den dem Tode folgenden Prozessen der Fäulnis und Verwesung wesentlich darauf, daß er den vom Körper selbst erzeugten und den von außen in der Form zahlreicher Mikroorganismen in ihn eindringenden Fermenten widerstandslos preisgegeben ist, weil die Gegengifte und die anderen antitoxischen Reaktionen, über die der lebende Körper verfügt, hier versagen. Mit der Auflösung der Gewebe durch die nicht mehr neutrali- sierten Verdauungsfermente beginnt daher dieser Prozeß der Ver- *) Metschnikoff, L’iimmunite, 1891. P. Ehrlich, Die Kon- stitution des Diphtheriegiftes, 1898. Gesammelte Abhandlungen zur Immuni- tätslehre, 1903. S. Arrhenius, Immunochemie, 1907. 630 Die Hauptgebiete der Naturforschung. nichtung. Eine wichtige Seite der pathologischen Selbstregulierungen, die dieser Vernichtung entgegenwirken, besteht aber darin, daß jene elementaren Gleichgewichtsstörungen, sobald sie eine gewisse Grenze überschreiten, den Gesamtorganismus in Mitleidenschaft ziehen, indem nun dessen Vorrichtungen umfassender Selbstregulierung im selben Sinne in Wirksamkeit treten, in welchem schon die elementaren Kompensationen arbeiten. Charakteristische Erscheinungen dieser Art sind die Fieberreaktionen, deren durch Blut und Nervensystem ver- mittelte Allgemeinwirkungen ähnlich den Elementarvorgängen auf die Kompensation der Störung gerichtet sind, wobei dann freilich auch hier wiederum, ebenso wie bei den elementaren Prozessen, die Gefahren der Unter- wie der Überkompensation entstehen können. So kann der Typhuskranke sterben, weil die vermehrte Verbrennungswärme nicht zureicht, um das Krankheitsgift zu zerstören; er kann aber auch der allzu starken Wärmeentwicklung und ihren Rückwirkungen erliegen. Dasjenige Gebiet der Pathologie, das durch den allgemeineren Charak- ter der Erscheinungen in gewissem Sinne einen gemeinsamen Boden für die Betrachtung der durch spezifische Infektionsgifte erzeugten Störungen abgibt, ist die Theorie der Entzündung. Denn die Entzündung ist eine Reaktion, die stärkeren Eingriffen in den Zusammenhang der Gewebe und ihrer Funktionen zu folgen pflegt, und die sich daher sehr häufig auch mit den durch spezifische Infektionen verursachten Stö- rungen verbindet. Hatte die alte Pathologie in der zunächst der Be- obachtung sich bietenden Stauung des Blutes und ihrem Produkt, dem Exsudat, und in dem diesen Erscheinungen vorausgehenden inneren oder äußeren Reiz die Ursachen der Entzündung gesehen, so verlegte die Zellularpathologie das Wesen der letzteren in die Gewebe selbst und vor allem in die durch den Entzündungsreiz erzeugte Wucherung der Gewebszellen. Als dann die Wanderung der farblosen Blutzellen durch die Wände der Kapillargefäße und die Zunahme dieses Wande- rungsprozesses infolge der Entzündungsstauung entdeckt wurde, be- gann man die eigentliche Ursache der Störung in der Vermehrung der im Blute enthaltenen Leukozyten zu sehen. Als die Ursprungsstätten des entzündlichen Exsudates erschienen aber infolgedessen wiederum nicht mehr die entzündeten Gewebe, sondern die allgemeinen Organe der Leukozytenbildung: die Milz, die Lymphdrüsen, das Knochenmark*). Die fortschreitende Beobachtung hat dann freilich zwar nicht die *) Virchow, Zellularpathologie*, S. 371 ff. Cohnheim, Virchows Archiv f. pathol. Anatomie und Physiologie, Bd. 40, 1867. Störungen der Lebensvorgänge. 631 Beobachtungsgrundlagen dieser Theorie erschüttert, aber doch die Erscheinungen in dem erkrankten Gewebe nicht vollständig aus ihr abzuleiten vermocht. So ist allmählich eine vermittelnde Auffassung zur Vorherrschaft gelangt, die neben jenen Wanderungserscheinungen eine Umwandlung der Eigenschaften des entzündeten Gewebes statuiert, die als eine Art Rückkehr der Zellen und wahrscheinlich auch der aus den Zellen hervorgegangenen und mit ihnen fortan in lebendiger Wechselwirkung stehenden Interzellularsubstanz auf eine embryonale Stufe der Entwicklungsfähigkeit gedeutet werden kann*). Auch hier zieht nun aber der lokale Prozeß, wenn er nicht selbst schon auf der Grundlage einer allgemeinen Intoxikation entstanden ist, sobald er eine größere Ausdehnung gewinnt, den Gesamtorganismus in Mit- leidenschaft. Auf der einen Seite werden die Entzündungsprodukte in die Lymph- oder in selteneren Fällen in die Blutgefäße aufgenommen, um entweder in den Lymphdrüsen einer langsamen, durch die hier er- regte Funktionssteigerung bewirkten Assimilation anheimzufallen, oder aber hier wie in weiteren Organen sekundäre Entzündungsprozesse an- zuregen. Auf der anderen Seite kann die Entzündung den den Organis- mus überall umgebenden und namentlich auf seiner Körperfläche lebenden Mikroorganismen die Wege in die Blut- und Lymphbahn öffnen und auf diese Weise eine septische Allgemeininfektion hervor- rufen, die wiederum mit den einer solchen sich beigesellenden febrilen Allgemeinreaktionen verbunden ist. So fügen sich auch diese Erschei- nungen in das Schema jener mit den lokalen Ausgleichungen durch Exsudaterguß und vermehrte Leukozytenbildung beginnenden und mit der fermentzerstörenden Temperatursteigerung endenden Selbst- regulierungen ein, die das Wesen eines jeden akut verlaufenden Krank- heitsprozesses ausmachen. e. Die abnormen Neubildungen. Wie in diesen Fällen durch Unter- oder Überkompensation das Leben bedroht wird, so ist nun jedes chronische Siechtum im letzten Grunde gleichfalls eine durch allgemeingültige physiologische Bedin- gungen gesetzte Störung in dem Gleichgewicht antagonistischer Pro- zesse, das mit reaktiven Selbstregulierungen verbunden zu sein pflegt. Aber solche Selbstregulierungen sind in diesem Fall unzulänglich, bis sie schließlich völlig versagen. Ein für die Entwicklung der patho- *) Vgl. Julius Weiß, Beiträge zur Entzündungslehre. Eine histo- rische Studie, 1893. 632 Die Hauptgebiete der Naturforschung. logischen Anschauungen besonders bezeichnendes Beispiel bietet hier das Gebiet der bösartigen Geschwülste. Nach ihren Ursachen wie nach der morphologischen Bedeutung ihrer Elementarstrukturen bilden sie noch immer ein Gebiet streitender Hypothesen, auf dem bis jetzt im wesentlichen wiederum Analogien mit anderen, bekannteren Er- scheinungen maßgebend sind. Die mikroskopische Untersuchung lehrt die Karzinome als Ge- websformen kennen, die den embryonalen Bildungen verwandt erscheinen. Nimmt man nun als Ursache des oft enormen Wachstums dieser Neu- bildungen eine embryonale Spaltungsfähigkeit der Zellen an, so liegt es nahe, die Anlage zur Erkrankung entweder in wirklich persistierenden Embryonalzellen zu sehen, die in irgend einer späteren Periode des Lebens, namentlich etwa unter dem Einfluß verminderter Resistenz der umgebenden Gewebe, zur Entwicklung gelangten, oder aber eine Störung des normalen Zellenstoffwechsels im Sinne einer durch irgend- welche Reize verursachten Wiederkehr der embryonalen Spaltungs- fähigkeit zu vermuten. Eine Bestätigung der ersten dieser Hypothesen glaubte Cohnheim darin zu finden, daß die Geschwülste in dem all- gemeinen Typus ihrer Gewebsform meist dem umgebenden Gewebe homolog sind und vorzugsweise an solchen Orten des Körpers auftreten, an denen wegen bestimmter Komplikationen der Entwicklung eine überschüssige Ablagerung von Embryonalzellen begreiflich erscheine*). Auf der anderen Seite kann schon die äußere Form der Geschwülste leicht den Gedanken an eine parasitische Bildung erwecken, und diese früher unter dem Einfluß vorherrschend humoral- und zellularpatho- logischer Anschauungen zurückgedrängte Analogie erhob sich natur- gemäß mit verstärkter Macht, als durch die Fortschritte der Bakterio- logie und der Protozoenkunde die Mikroorganismen mehr und mehr die Bedeutung allgemeiner Krankheitserreger zu gewinnen schienen. Auch die embryonalen Zellenformen der meisten Geschwülste standen dieser Deutung nichtim Wege, da ja die embryonalen Elemente des Organismus morphologisch von Protozoen nicht wesentlich verschieden sind. Welche dieser Hypothesen aber recht behält, steht dahin, so lange die als Träger der Infektion vermuteten Mikroben noch nicht nachgewiesen sind, wäh- rend die Möglichkeit einer Übertragung durch Impfung und Transplan- tation ebensogut im einen wie im anderen Sinne gedeutet werden kann. *) Cohnheim, Vorlesungen über allgemeine Pathologie?, I, S. 744. Über diese und andere noch immer weit divergierende Theorien orientiert die Übersicht derselben kei von Dungernund Werner, Das Wesen der bös- artigen Geschwülste, 1907, S. 126 ft. EEE EEE EUR Störungen der Lebensvorgänge. 633 Eben darum ist aber wohl auch die praktisch wichtige Frage, ob der zerstörenden Wirkung der Neubildung durch irgendwelche antitoxische Mittel begegnet werden könne, von dem Streit dieser Theorien nicht unbedingt abhängig. Wie der normale Organismus giftige Enzyme erzeugen und durch die von ihm gebildeten Antitoxine oder durch andere Selbstregulierungen wieder zerstören kann, so ist es auch nicht ausgeschlossen, daß in dem Körper gegen die in ihm entstehenden ab- normen, ebensogut wie gegen die durch eingedrungene Mikroorganis- men hervorgerufenen Neubildungen Gegengifte gefunden werden, die die schädlichen Stoffe neutralisieren und die Gewebebildung wieder zu ihrem normalen Gleichgewichtszustand zurückführen. Vergegenwärtigen wir uns nochmals die hauptsächlichsten logischen Hilfsmittel, die bei der Ausbildung der pathologischen Anschauungen wirksam waren, so fällt, der Physiologie gegenüber, vor allem die große Rolle der Analogie in die Augen. Dieser überwiegende Gebrauch des im naturwissenschaftlichen Erfahrungsgebiet unvollkommensten logischen Verfahrens beruht teils auf der Schwierigkeit der Probleme, teils auf der verspäteten Einführung der experimentellen Beobachtung am Tiere. Immerhin macht sich in dem Analogieverfahren selbst ein deutlicher Fortschritt von der Aufstellung vieldeutiger Ähnlichkeiten zur allmählichen Erkenntnis bestimmterer Beziehungen geltend, und diese nehmen zugleich eine Form an, in der sie sich zu konkreten Fragen gestalten, die Beobachtung und Experiment herausfordern. Auf diese Weise schließt das Verfahren ab mit der Verifikation und Vervoll- ständigung der ursprünglich nur durch Analogien gestützten Hypo- thesen. Obgleich in keinem Gebiet der Pathologie dieser Weg ganz voll- endet ist, so bietet doch namentlich die Infektionslehre schon jetzt einzelne Beispiele, in denen die Methode wenigstens in Bezug aufeinen der ursächlichen Faktoren, den äußeren Krankheitserreger, und in manchen Fällen auch hinsichtlich der antitoxischen Gegenwirkungen wohl einen gewissen Abschluß gefunden hat, während freilich gerade hier andere Momente, wie die lokale und die individuelle Disposition, noch der näheren Untersuchung bedürfen. Die Auffassung vom Wesen der Krankheit hat sich jedoch in- folge der wachsenden Berücksichtigung aller dieser ursächlichen Fak- toren dergestalt erweitert, daß nur noch der allgemeine Begriff der Störungundihrer Ausgleichung für sie übrig geblieben ist. Liegt die Ursache eines von der Norm abweichenden Verlaufs der Lebensvorgänge stets in irgend einer äußeren oder inneren Störung, 634 Die Hauptgebiete der Naturforschung. die diese Vorgänge erfahren, so setzt sich dann der Krankheitsverlauf selbst aus der Summe aller der Reaktionen zusammen, die vermöge der natürlichen Lebenseigenschaften der Gewebe, Organe und ihrer Elemente teils von selbst, teils infolge willkürlicher Einwirkungen, denen sie ausgesetzt werden, entstehen. Diese Reaktionen sind im all- gemeinen Selbstregulierungen, die, den überall während des normalen Lebens stattfindenden gleichend, der durch die Störung gesetzten Ver- änderung angepaßt sind. Ein Teil derselben ist daher auf die allmähliche Überwindung und Beseitigung der störenden Agentien, ein anderer auf die dauernde Anpassung des Organismus an diese gerichtet. Jenach dem Verhältnis der Selbstregulierungen zueinander und zu den Störungs- ursachen kann so entweder der gestörte wieder in den normalen Lebens- vorgang einmünden, oder, sei es auf die Dauer, sei es für eine gewisse Zeit, einen mit dem allgemeinen Fortbestehen des Lebens verträglichen neuen Gleichgewichtszustand erreichen. Endlich können aber auch die Selbstregulierungen ihrerseits Funktionsstörungen herbeiführen, durch die sie die Bedeutung sekundärer Krankheitsursachen annehmen, die sich mit den primär erzeugten verbinden oder, falls diese be- seitigt sein sollten, einen neuen selbständigen Krankheitsverlauf be- dingen. an ar m u un de Register. Bearbeitet von Dr. Hans Lindau. 1. Namenverzeichnis. Abbe, Ernst, 419. 546. Abendroth, R., 448. Ägyptische Mathematiker 127. Aepinus 388, Agassiz, L., 57 f. 571. 585. d’Alembert 98. 217. 236. 246. 302. 318. 320. 330 fi. 339 f. 344 f. Alexandrinische Astronomen 438. Ampere, A. M., 87. 95. 389. 453. 471. Anaxagoras 283. Anaximenes 619. Apelt 23. Arabische Mathematiker 103. 105. 169. Arago 389. Archimedes 188. 190. 242. 270. 272. 306 ff. 416. 425 f. d’Arcy 325. 327. Aristoteles 20. 23. 53. 64. 270. 272 f. 283 ft. 292 f. 295 ff. 491. 561. Arrhenius, S., 513. 525. 535. 560. 580. 629. Ascherson 596. Avogadro 516. 519 f. Bacon, Francis, 20 fi. 86 f. 96. 98. 295 fi. 364. 385. 621. Baumann, J.J., 120. Bentham, J., 87. 95. Bergmann 492. 502 f. Berkeley 114. 121 fi. Bernoulli, Daniel, 319. 325. 409. —, Jakob, 319. —, Johann, 213. 313. 409. Berthelot 524. Berthold, G., 577. Berthollet 502 f. 527. Berzelius 504. 512 £. 519. 596 f. Bethe, A., 606. Bischof, G., 360. | Blumenbach, J. F., 570. Bois Reymond, E. du, 554. —, P. du, 114. 213. 236. Boltzmann, L., 338 f. 342. 454. Bolzano, B., 163. Boscovich 453. Boveri, Th., 610. Boyle, Robert, 27. 74. 273. 383. 491. 520 f. 528. Braun, Al., 56 f. 542. Braune, W., 545. Bredig 527. 552. Bronn, H. G., 57. 542. Brown 622. Buchner, E., 559. 626. Bunsen 420. Bütschli, O., 596. Buys-Ballot 473. Cantor, G., 154. 163 £. —+.M.;7.105.2128 8. 150.178. 87 308. 438. Carlisle 503. 512. Carnot, L. M.N., 340. Carus 63. Cassini 419. Cauchy 449. 453 f. Cavendish 73. Chasles 195. Chladni 371. Clausius 75. 454. 485. 524. Cohnheim 541. 630. 632. Comte, Auguste, 87 ff. 95. 138. Correns 558. Cossmann, N., 562. 636 Namenverzeichnis. Cotes 401. Coulomb 392 ff. 449. Cuvier 56. 58. 602. Dalton 26. 503. 517. 528. Dana 441. Darwin 59. 363. 563. 571. 573 f. 580 ff. 601 f£. Daubree, A., 360. Davy, Humphry, 504. Decandolle 53. 57. 507. 602. Dedekind 154. Demokrit 283. 285. 288. 292. 297. 452. Descartes 96. 102. 106. 108 f. 114 ff. 119. 121. 169. 172 fi. 176. 202 ff. 207. 210: 273. 3197. 8322734312405 408 f. 606. 621. Diels, H., 619. Dirichlet 75. 83. 134. 137. 143. Dolloud 382. Dove 363. Driesch, Hans, 562. 565. 575. Dühring, E., 309. Dulong 516. 521 f. 532. Dumas 56. 506. Dungern, von, 632. Ehrenberg 63. Ehrlich, P., 628 £. Eimer, Th., 575. Eisenlohr, A., 127. Empedokles 283. 297. 619. Endlicher 56. Engel, Fr., 202. Engelmann, Th. W., 554. Epikur 284. Euklid 10. 41. 67 ff. 76. 80. 83 fi. 107 fi. 116. 118. 120. 130. 134. 143. 179 ft. 187 f. 200. 313. 400 ft. 407. 409 f. 438. Euler, Leonhard, 116. 217. 235 f. 248. 254. 315. 325. 327. 409 f. Faraday 371 f. 380. 383 ff. 457. 461. 512. 518. du Fay 388. Fechner, G. Th., 372. 453. 472 f. 615. Fischer, E., 551. —, 0. 545. —, 370. Flemming 546. 610. Fol 611. Fontana 539. Fourier 413. 449. Franklin 388. Fraunhofer 363. 420. Fresnel 294. 449. 456. Galen 561. 619. Galilei, Galileo, 30. 270. 272 f. 287. 294 fi. 301. 304. 308 ff. 315 f. 320. 330 f. 342 f. 347. 362. 370. 378. 397. 401. 403. 408. 419. 469. 474. 486. Galvani 384. 423. 557. Gassendi 370. Gauß 328. 470. Gay-Lussac 74. 519 ft. Gehler 393. Geiser, C. F., 193. Gerhardt 506. Gilbert 272. Graham 594. Grasserie, Raoul de la, 88. 95. 98. Graßmann, H., 103. 208. Green 470. Grimaldi 370. Guldberg 527. Haeckel, E., 563. 575. 603. Hahnemann 6% f. Haller 539. 605. 622. Hamilton, W.R., 153. 159. 328 f. 345. 372. Hankel, H., 129. 147. 178. Harnack 84. Hartmann, E. v., 565. Harvey, William, 273. 539. 598. Hauff 584. Hegel 10. 64. 164. 288. Helm, G., 430. Helmholtz, H., 323. 379. 432. 458. 461. 477. 524. 589. 615. Helmont, van, 620. 623. Henle, J., 623. Hensen, V., 570. 614. Heraklit 283. Herbart 238. Heron von Alexandrien 272. Herschel, John, 385. Hertwig, Herm., 444. —, 0, 610 £. —, R., 598. Hertz, H., 329. 342. 345. 372. 456. Hettner, Alfr., 88 f. 98. Hipparch 270. 272. 426. Hippokrates 619. 621. His, W., 572. 578. 610. Hobbes, Th., 119 f. 1227 en on Namenverzeichnis, Hoff, K.E. A. von, 584. zei vmt, 352: 513 515: 521£ 525 ff. Hofmeister, F., 551. 580. 597. Humboldt, A. v., 127. Hume, D., 122 f. Huygens 293. 313. 315. 318 f. 322. 342. 400 f. 435. 449. Indische Mathematiker 105. Ingenhouss 587. Isenkrahe 455. Jacobi 262. 328. 392. Jenner 626. Jevons 23. Jussien 53. Kant 23. 82. 96. 117 ff. 121. 126. 138. 142. 153. 165. 177. 448. 453. 466. 481 fi. 584. Kaufmann, W., 346. Kepler 27 ff. 77. 273 f. 295 f. 324. 358. 362. 397. Kirchhoff 302. 334. 363. 367. 420. 456. Klein, Felix, 202. Knight 556. Koch, Rob., 624. König, Edm., 432. Kopernikus 273. 294 ft. 407 f. 419. Kopp, H., 491. 519. 532. Korn, A., 455. Körner, Reinh., 58. Kossak 137. Kronecker, L., 152. Krönig 454. Lagrange 116. 235 ff. 249 ff. 256. 265. 318. 322. 325. 327. 330 fi. 339. 341. 354. 410 ff. Langer, C., 524. Laplace 449. 483 ff. 584. 587. Laßwitz, Kurd, 449. 461. Laurent 506. Lavoisier 492. 494. 587. 608. Lehmann, O., 595. —, H.O,, 98. Leibniz 96. 110. 115 f. 118 fi. 203. 210 f. 235 f. 241 ff. 319 f. 342 ff. 346. 432. 451. 477. 484. Lenard, P., 450. Leuwenhoek 419. Liebig 386. 505. Linne 43. 51 ft, 507. Lissajous 424. Lloyd 372. 637 Locke 120 f. 123. Lockyer, J. N., 532. Loeb, Jacques, 557. 576. 584. 598. Lorentz, H. A., 536. Lotze 831. Lukas, F., 606. Lyell 584. Mach 301 f. 432. Maclaurin 246. Matthießen, L., 169. Maupertuis 326. Maxwell, Clerk, 304 f. 372. 414. 449 £. 454. 457 f. Mayer, Ad., 326. —, G. H., 579. —, Robert, 432. 477. 589. Melloni 371. Mendelejeff 530. Mersenne 272. Metschnikoff 627 ff. Meyer, W.Fr., 202. —, 0. E., 461. —, Lothar, 519. 527. 530. —, Viktor, 524. Mill, John Stuart, 22 f. 42. 119. 123. 126. 138. 144. 385. Moebius, A. F., 208. Müller, Herm., 581. —, Joh., 562. Musschenbroek 380. Nägeli 546. 574. 594. Naumann 360. Navier 449. Nernst, W., 525. Neumann, C., 452. 486. —, F., 522. Newton 10. 28 ff. 36. 73. 76 f. 103. 109 f#. 195. 235ff. 246 f. 273. 293. 313 f. 322. 324. 329. 331. 342. 362. 374 fi. 379. 381 f. 400 ff. 407. 410. 429. 446. 449. 451. 464. 469. 471. 474. 486. 502. Nicholson 503. 512. Nikomedes 188. Oersted 370. 380. 389. Ohm 372. Oken 593. Ostwald, W., 430 f. 445. 510. 520. 524. Paracelsus 273. 620 f. 625. 629. Pascal 200. Pasteur 625 f. Peripatetiker 561. 638 Namenverzeichnis. Petit 516. 521 f. 532. Spinoza 82. 84. Pettenkofer, Max, 624. Sprengel, Kurt, 621. Pfeffer, W., 352. 544. 547. 549. 556. | Staudt, K. G. Chr. v., 191. 576. 578 f. 591. Steiner, Jakob, 186. 193. 199 f. Pfüüger 551. 557. 568. 576. 604. 607 ff. | Steinthal 63. 617. Stoiker 561. Planck, Max, 430. 432. Sydenham 621 f. Plateau 359 f. Symmer, Rob., 388. Plato 15. 58. 102. 107. 109. 114. 179. 272. 283. 403. 561. Tait 323. 328. Poggendorff 375. Thomsen, Julius, 524. Poincare 457. Thomson, J.J., 323. 328. 346. 450. 535. Poinsot 337. —, W., 458. 615. Poisson 449. 472. Traube, M., 596. Preston, S. T., 455. Trendelenburg 79. 81. Protagoras 292. Tycho 425. Prout 529 f. 533 f. Ptolemäus 272. 294. 407. Verworn, M., 548. 576. Pythagoras 70. 102. 129. 181 £. Virchow, R., 598. 622. 629 £. Voit 551. Rädl 572. Volkmann, P., 457. Ramsay, W., 533. Volta 384. 390 f. 423. 504. 557. Ratzel, Fr., 584. Voß,A. 287 Rauber, A., 578. Vries, Hugo de, 574. 583. Reinke, J., 562. 575. Richter, H. E., 615. Waage 527. Rickert 95. Wallace 581. Riemann, B., 103. 217. 262. Wallis 321. 401. Ritter, Karl, 54. 93 £. Weber, Gebr., 370. Röntgen, H. C., 370. 533. —, Ed., 545. Roux, W., 547. 575. 578. —, H. F., 521. Rutherford 450, 533. —, W., 452. 471. Weierstraß 137. 213. Sachs, Jul., 57. 547. 549. Weigert, C., 628. Saussure 587. Weismann, A., 573 ff. 613. Schelling 288. 542. Weiß, Julius, 631. Schimper, C., 56 f. 542. Wenzel 492. Schleiden 593. Werner 508. 632. Schneider, K. C., 562. 565. 575. Whewell 18. 271. Schönlein 623. Wien, W., 346. 450. Schopenhauer 565. Wiener, O., 546. Schröder, Ernst, 135. Wilhelmy 352. 526. Schröter, H., 186. Wilke 388. Schultze, Max, 594. Windelband 95. Schwann, Th., 593 ft. Wislicenus, J., 515. Schwartze, Th., 455. Wolff, Caspar Friedr., 572 f. Schwendener 546. 578 f£. — , Christian, 315. 410. Senebier 587. —, Julius, 579. Sigwart 23. 81. Wren, 321. 401. Snell 272. 383. Spallanzani 539. Zeller, E., 152. 270. Speck 551. Zeno 238 f. Spencer, Herbert, 88. 573. Zeuner 350. Sachregister. II. Sachregister. Abhängigkeit 7. 11. 67. 210. 212 f. 217. 233. 237. 255. 441; vgl. Funktion. Abortus (Decandolle) 57. Absolute Größe 162 ff.; absolute Maß- bestimmungen 406. Absorption 486. Abstammungstheorie, polyphyletische und monophyletische 601. Abstraktion 1f. 4. 11 ff. 22. 24. 27 f. 38. 49. 65. 356. 361. 367; isolierende A. 12 f. 30. 38. 49. 361. 364 f. 395. 397 ff. 468. 513.515; generalisierende A. 12f. 26 f. 38. 49. 132. 137. 142 ff. 364 f. 397 f. 463 600; mathema- tische A. 107. 113 ff. 120. 236. 481; physikalische A. 394 ff.; chemische A. 513 ff. Abstufung 21 f. 497 ff. 506. 516. 555 f. Abszissen und Ordinaten 241. 244. Abzählen 149. Addition 101. 111. 132 ff. 138. 144. 147. 155. 157. 161 f. 167. 206 ff. 211. 209. 254. 1.:257..305. Affinität 489. 492. 495 ff. 520. 523. 525 fl. 534 f. 541. 551. 591. 615; Größe und Richtung 504. Aggregation 608. Akklimatisation 579 f. Aktives und passives Verhalten, Tier und Pflanze 604. Akustik, Grundlagen 272; akustische Instrumente 417. 421 f. Alchemie 513. Algebra 103. 108; Symbolik 109; A. und Anschauung 116; algebraische Operationen 165 ff. ; algebraische Geo- metrie 202 ff. Algorithmus, mathematischer 104. Alibibeweis 79. Allgemeinbegriffe 15 f. 19. 21. 45. 60. Allgemeingültigkeit 68. 113. Allgemeinheit, Grade 25. 381; mathe- matische A. 262. 267; A. der Zahl- gesetze 166. Analogie 515 f. 522. 529 f. 573. 577. 593 f. 597. 607. 623 f.; exakte A. 143 ff. 160f.; analoge und homologe Charaktere 602. Analyse 1 ff. 11. 356. 361. 364. 368 ff. 588 f. 592. 627 f. 632 f.; elementare ‚A. 3f. 7; kausale A. 4 ff. 8. 496; logische A. 6 ff.; mathematische Ana- lysis 39. 61. 103. 105 ff. 112. 156. 166. 176. 200 ff. 210. 387. 404. 409 ft. 436. 438. 451; A. bei Leibniz 116. 119; morphologische A. 541 ff.; A. der Wahrnehmung, Hilfsmittel 417 ff. ; qualitative A. 491. 495 f.; quanti- tative A. 492 f. 495 f. 503; stufen- weise A. 496 tf. 506. 516. Anatomie 539. 543 f. 622; A. u. Bio- logie 279; vergleichende A. 365 f.; Pflanzena. 594. Anfangszustand der Welt 484. Angeborene Ideen 115. Animalkulisten 572. Animismus 274. 561 f. 620. Anlagen 573; Anlage zum Seelischen 617. Anodenstrahlen 450. 533. Anorganische Chemie 505. 508. Anpassung 563. 571 f. 591; mecha- nische A. 577 ff. 599; chemische A. 577. 579 f.; funktionelle A. 577. 580 ff. 588; A.smerkmale 602. Anschaulichkeit 237 ff. 297. 304 ff. 348. 401 ff. 430 f. A51f. 459f. 463 ff. 479 f.; A. überflüssig 300; A. als heuristi- sches Prinzip 467. Anschauung, Postulate 340; mathe- matische A. 132 f. 135. 142; A. und Algebra 116; A.sformen bei Kant 117 ff. 121. 126. 138. 177. Ansteckung 615 f. 623. Anthropogeographie 278. Antikörper 580. Antinomien, kosmologische 481 ft. Anziehungserscheinungen 502 f. Apagogischer Beweis 69. 78 ff. 108. 432. Apperzeption 11. 45. 140; A. und Ideen 282. Apriorismus bei Kant 117. 119. Äquivalentgewicht 517 f. 529. Aräometer 426. Arbeit 323; A. bei Leibniz 320 f.; A. u. Energie 429. 444. 474 f. 510; A, und Wärme 551. 554. 590. 603; A.smaschine, Nutzeffekt 590; A.stei- lung 279. Argumente der Funktion 210. 214. 219 ff. 640 Sachregister. Arithmetik 102 ff. 111. 113; A. u. Geo- metrie bei Leibniz 116; arithmetische Methoden 147ff.; arithmetisches Mittel und Beobachtungsfehler 439 f. Art 60. 600; Konstanz 58; Entwicklung 6. 583. 585 f.; Erhaltung 570. Assimilation 552. 559. 564. 579. 604. 628. 631; A.skraft 570; Wachstum durch A. 593. Assoziationsgesetz 134 f. Ästhetik 98 f. Astronomie, Grundlagen 270. 272 f.; Aufgabe 277f.; A. und Fernrohr 419; älteste Hilfsmittel 425; alexan- drinische A. 438; Zeitgrößen der A. 583. Astrophysik, Aufgabe 277 f. Äther 345 f. 397. 414. 450 f. 465 f.; positive und negative Atome (W. We- ber) 452; Körper- und A.-Atome 452. 454; Ä. als elastisches Medium 456; als inkompressibel 456; Ä.-theorie der Materie 465 f. Atmung 589. 604. 610. 619; Chemismus 552; Selbststeuerung 564. 581; A. als Verbrennungsvorgang 537. Atom als unterer Grenzbegriff 478; Atomistik 282 ff. 287. 297. 513. 561. 574; Atomistik und Kontinuitäts- hypothese 448 ff.; dynamischeA. 451 ff. 460 f. 463. 479 f.; kinetische A. 454 f. 460; chemische A. 528 ff. 593; Hypo- these der Uratome 528 fi.; Atom- gewicht 517 ff. 528. 531; Atomvolum 531; Atomgruppierung 533 f. Aufgaben und Theoreme bei Euklid 184. Aufhebung der Funktion 558. Auge 553. Ausdehnung 269; stetige A. 105; A.s- lehre 103. Ausgleichung und Störung 581. 633 f. Auslösung 576 f.; 599 £. Ausschachtelung 611. Ausschaltung des Psychischen 567. 586. 605 f.; A. des Wunders 606. Ausschließung 78f.; ausgeschlossenes Drittes 78 f. Axiome 22. 33f. 66 f. 70. 75. 78 f. 108. 113. 116. 118. 120. 123£. 131 £. 143 ff. 179 f. 401 ff. 410. 432; A. bei Galilei 296. 301. 304. 311£.; A. bei Newton 314. 322. Bakteriologie 623 fi. 632. Barometer 423. 426 f. Basis der Exponentialfunktion 225. Bastardierung 558. 582. 585. Bazillen 559. 624. 628. Bedeutungswechsel 16 f. Bedingung und Umstand 359; Kompli- kation der Bedingungen 384; Grada- tion 555; Elimination und Gradation 385 f.; B.surteil 8. 25 f. 109. Befruchtung 539. 548. 574 f. 598. 600. 611. 613. Begreiflichkeit 459; subjektive B. 287 £. 290. 292; objektive und subjektive B. 467. Begriff und Abstraktion 39 f.; begriff- liche Behandlung der Naturerschei- nungen 451. 461. 463. 466f. 480; b. Natur der mathematischen Ideen bei Leibniz 116; B.sanalyse 34 ff. Beharrungsprinzip 295. 309 ff. 314 ff. 320. 324. 340. 408. 432. Benennung 16. Beobachtung 633; exakte B. 415£.; physikalische 417 ff. Beschreibung 3. 45. 302ff. 345. 358. 363. 365 ff. 507. 546: B. und Klassi- fikation 50 ff. 58. 62; B. und gene- tische Definition 188; exakte B. 367. 378. 384; beschreibende Wissenschaft g1f. 365. 507. Beseelung und Leben 618. Beugung 382. 337. Bewegung zur Figurenerzeugung 189f.; wirkliche und scheinbare B. 401; absolute und relative B, 317. 340; periodische B. 434 ff.; spontane B. 593; B. u. Empfindung 604 f.; B. der Protozoen 606; B. bei Aristoteles 286; bei Galilei und Newton 316 £.; bei Kant 117; bei Zeno 238 £.; B. u. Difte- rentialbegriff bei Newton 235. 237 ff.; Erhaltung der Quantität der B. 408; B.senergie 349f. 430 ff.; B.sgesetze 396; vgl. Mechanik, Dynamik, Phoro- nomie. Beweis 2. 10. 40. 65 ff. 108. 112. 133. 181; direkte B.formen 69 ff. ; indirekte B.formen 69. 78ff. 108. 432; syn- thetischer Deduktionsbeweis 70 ff. 108f.; analytischer B. 70ff. 108 £.; kategorisch analytischer B. 71£.; hypothetisch analytischer B. 71 ff.; Induktionsbeweis 72. 75 ff. 79; theo- Sachregister. retischer I. 75 ff.; praktischer I. 75. 77f.; gemischtes Verfahren 76£.; disjunktiver indirekter B. 79 ff.; kon- trärer i. B. 79 ff.; kontradiktorischer i. B. 79 ff. 84; ontologische Beweise 410; Zirkelb. 432. Vgl. auch Demon- stration. Bewußtseinsvorgänge 565 f.; 605 f. Beziehungen, Variation der B. 175 f. Bildungstrieb 570. Binäre chemische Verbindungen 497. 499 f. 504. 515. Biologie 100. 368. 419. 539 ff.; Aufgabe 276 f.; Gliederung 279; B. und Pflanzen- und Tiergeographie 278; B. und Psychologie 605 f. 618. Biophoren 573. Biquadratische Gleichungen 176. Blattstellung 578. Blutkreislauf 539. 587. Botanik 365 f. Brechung 372. 383. 387; B.sindizes 443. Bruchzahlen 150. 153. 155. 267. Chemie 100. 368; Grundlagen 273; Aufgabe 276 f. 489 ff.; systematische undphänomenologischeUntersuchung 280; Gliederung 278 ff.; organische Ch. 497f.; anorganische Ch. 505. 508; wissenschaftliches Stadium 587; Logik 489 ff.; chemische Analyse 3. 491 ff.; chemische Synthese 491. 496. 498 ff.; Ch. u. Geologie 278; chemische Anpassung 577. 579 £.; Typen 56. 59. Chemismus des Protoplasma 596 ff. Chemotropismus 576. Chlorophyllatmung 604. Cholera 624. Chorologie 93. 278. Chronometer 434 f. Chronoskop 435. Darstellungs- und Forschungsmethoden 110f. Vgl. Demonstration. Deduktion 1 ff. 23. 30 ff.; 49. 65 ff. 107. 112. 356. 368. 383. 387 f. 393. 400 ff. 438. 448 f. 451. 454. 468. 478f. 485; synthetische D. 32ff. 400 ff.; ana- Iytische D. 32 ff. 400. 404 ff.; mathe- matische D. 113. 116. 133£. 137. 143 ff.; chemische D. 501. 513 fl. Definition 1. 7. 33f. 40 ff. 66 £. 70. 84. 108. 113. 116. 118. 120. 123£. 131. 142. 179. 181. 204. 345. 401f. 410; Wundt, Logik, I 3. Aufl, 641 analytische D. 45f. 60; synthetische D. 45ff.; genetische D. 46f. 188; deskriptive D. 45 ff.; gemischte D. 47; D.sgleichung 349; D. beiNewton314ff. Demonstration 2. 65 ff. 400 ff. 407. 438; D.en Euklids 116. 118; vgl. auch Be- weis. Derivierte Funktion (Lagrange) 235. 249 ff. 268. Deskriptiver Zweck der elementaren Analyse 3; deskriptive Definition 45 ff. ; d. Klassifikation 50ff. 58. 62; d. Wissenschaft 91f. 365. 507. Vgl. Beschreibung. Destillation 493 f. Deszendenztheorie 606; vgl. Entwick- lungslehre. Determination 1f. 17 ff.; 151. 356. 361; generalisierende D. 12ff.; determi- nierende Induktion 406 f.; Kolligation 18f. 364f. 395. 398f. 515; Spezi- fikation 18. Dezimalsystem 148 ft. Dialektik 10. 285. 238. Dialogform 403. Dichotomie 62 ff. 87£. Dichtigkeitsabnahme, 456 f. Dielektrika 457. Differentialbegriff 213. 233 ff.; phoro- nomischer D. (Newton) 237f. 251; geometrischer D. (Leibniz) 235. 241 ff. 251; arithmetischer D. 247 ff. 251. 254; Differentialgleichung 411. Differenz, sexuelle und individuelle D. 614; Differenzierung 571; D. der Funktionen 585; Differenzmethode 385 f. Diffusion 494. 510 ff. 553. 595. Ding 44f. Disjunktives Urteil 7. 47. 78ff.; dis- junktiver Schluß 23; d. indirekter Beweis 79 ff. Diskrete Zahl 105. Dissimilation 552. 559. 564. 579. 628. Dissipation 533. Dissoziation 510. 523 ff. 532. Distributionsgesetz 135. Division 111. 127. 137. 145. 149. 157. 161. 167. 170. 203. 207. 211. 222. 257. 267; D. bei Euler 248. Doppelbrechung 594. Doppelmedium; Körper- und Äther- punkte 454, unendliche D. 4l 642 Drehwage 426 f. Dreiteilung 62. 64. 88f. Dualismus 561. Dualität der Gebilde 199. Duodezimalsystem 149. Durchschneidung 188f. 193. 556- Durchschnittswert, idealer D. 440 f. Dynamik 410 f£.; D. bei Galilei 308 ff. 331; bei Lagrange 331 ff. 339; bei d’Alembert 331 ff. 339 f. 344; physi- kalische (konkrete) D. 342; chemische D. 490. 509 f. 512. 515 ff.; dynamische Atomistik 451ff. 460f. 463. 479f.; d. Theorie der Entwicklung 574 ff. Dynamis bei Aristoteles 237. Ei, Furchung 598; omne vivum ex ovo 598; Eiweißkörper 549 ff.; genuines Eiweiß 595. 597; Eizelle 611. Eigenschaft und Vorgang 552f. 569; E.sbezeichnung 43. Einbildungskraft, reine 118. 126. Einfachheit 125. 295 ff. 300f. 342 ff. 348. 409. 412. 454. 470. 593; lex simplieitatis in der Mathematik 125. Einheit 125. 229; E. und Zahlsystem 155 £.; willkürliche Messungseinheit 442. Einschachtelung 611. Einteilung 47ff.; E.sgründe 48f. 52. 60 ff. Vgl. Klassifikation. Einzelwissenschaften undPhilosophie 99. Elastizität 449. 452. 457. 461. 5521. 579; Kontakthypothese 450. Elektrizitätstheorie 557; E. und Chemie 511f.; Geschwindigkeit der Elektri- zität 443; Stromwiderstand 444; Elektrizität und Lichtäther 452; E. und Affinität 498 ff.; Zerlegung durch den elektrischen Strom 494 f.; elektrische Induktion (Faraday) 388 ff. Elektrochemie 503 ff. 516. 525- Elektrodynamische Einheit 446 £.; elek- trodynamisches Grundgesetz 471. Elektrolyse 512. 516.518. 524f.533. 535. Elektromagnetismus 370 ff. 380. 384. 389 ff. 397. 413. ; elektromagnetische Lichttheorie 372. 414. 431. 449. 455 ff. 465. 470. 536; e. Einheit 446 f. Elektrometer 423. Elektronen 346. 450. 465. 512f. 533 ff. Elektrostatische Einheit 446 f. Elementarorganismus 592 f.; Gesamt- organismus und E. 598 ff. Sachregister. Elemente der Materie 478 ff; Elementen- lehre 491; chemische E. 273. 528 £. Elimination 11. 385 ff. 393 f. 555. Ellipse 62. 190. 194. 197; elliptische Funktion 266. Emanation 534; E.serscheinungen 450; E.shypothese 384. Emission 486. Empfindung und Bewegung 604f.; E. und Gefühl 605 £. Empirismus, mathematischer E. 114. 121. 123; empirische Entstehung der mathematischen Begriffe 139; empi- rische und rationelle Formeln 514; empirische Unvollziehbarkeit des Transfiniten 482. 488; empirisches Gesetz 383. 387. 440; e. G. und all- gemeinere Erfahrungsgesetze 25 ff.; Empirie u. Spekulation 283. Endemische Krankheiten 624. Endlichkeit und Unendlichkeit 480 ff.; E. und Meßbarkeit 487 f.; endlos und überendlich 164. Energetik, chemische 510 f. Energie 429. 444f. 474; E. bei Ari- stoteles 287; aktuelle (kinetische, lebendige Kraft) 321. 324. 429 f. 475 f. 590 f. 603; potentielle (E. der Lage, Spannkraft) 324. 349f. 429. 475 f. 478. 590 f. 603; E.gesetze 469. 474 ff. 483 f. 486. 508 ff.; Erhaltung der E. 319. 323. 411. 431 f. 446. 461. 476. 483. 437 £. 510. 588 ff.; strahlende E. 431; E. und Arbeit 474 f.; E.glei- chungen 349. 352 ff.; E. nicht Maß- element, aber Maßfaktor 445. Entdeckung und Zufall 369 f. Entropie 485. Entwicklung 6. 15. 94. 548. 591; E.s- fähigkeit 611; E.sgeschichte 541; E.slehre 59. 601 f.; E.smechanik 575; stetige Übergänge 604; E. der Arten 568; E.sgesetz 571ff.; Periodizität 575. 600. 610. Entzündung 630 f. Enzyme 551 f. 568. 580. 597. 628 f. 633. Epidemien 624. Epigenesis 572 f. 575. 599. Erdrotation, Zeit 434. Erfahrung und Mathematik 124. 127; E.standpunkt 273. Vgl. Empirismus. Erhaltungsprinzipien 319 ff.; Erhaltung der Energie 319. 323. 411, 4311. 446. 461. 476. 483. 487 f. 510. 588 ff. ; Sachregister. E. der Flächen 323f. 411; E. des Schwerpunkts 321 f. 325. 411; E. der Quantität der Bewegung 321£. 325. Erkenntnisnormen 482; Erkenntnis- theorie 97. 538; subjektivistische E. 299 f.; E. u. Materie 463. 468. Erklärung 4. 19. 91 f. 280. 303. 365 ff. 507. 540. 542. 570. 600 ff.; genetische E. 59; E. abgelehnt 302. Ernährung 574. 591; E.sflüssigkeiten 621. Erneuerung des Lebens 613f.; E. und Zersetzung 608. Erzählung 366. Erzeugung des Unendlichen 164. Ethik 98 f. Evidenz, mathematische 122. Evolution 572 f. 575. 599, 611. Ewigkeit des Lebens 615. Exaktheit und subjektive Willkür 114; exakte Beobachtung 270 ff. 356 ff. 415 f.; e. Beschreibung 367. 378. 384; e. Messung 424. 427. 433. 436; e. Naturwissenschaft 275. 295 ff. Exemplifizierender Subsumtionsschluß 24. Exhaustionsmethode 164. 242. Exkretion 609. Experiment 4. 7. 34. 69. 73. 133f. 294. 297. 307 £. 345. 356 ff. 368. 372. TA ff. 385. 388. 405. 416f. 420. 437. 507. 5l5. 554 f. 557 ff. 568. 585. 596. 616. 622. 633; experimentum crucis 376. 378; experimentelle Methodik 21; E. und Willkür 34f.; analytische Form 5; synthetische Form 9f.; ex- perimentelle Physik 275f.; e. Mor- phologie 543. 545 ff. Exponentialfunktion 244 ff, 253. 257. 266. 268. Exstirpation 556. Fadenkreuz 419. 425. Fall 30; bei Galilei 311. 313. 362. 378. 397; F.beschleunigung als Maß der Schwere 445. Familie 600. Farbenlehre, Altertum u. Neuzeit 293 £.; F.mischung 379 f. 382; F.zerstreuung 374 ff. 382. 420; pflanzliche und tierische Farbstoffe 549; Färbungs- methoden 545. 548. Fäulnis 551. 616. 625. 629. Federwage 426 f. 643 Fehlerquellen der Beobachtung 439. Feldmessung 105. 437. Fermentation 526. 559. 597 f. 610. 628.; organisierte Fermente 625 f. Fernewirkung 397. 414. 451. 453. 455. 457. 460 ff. 469 ff. Fernrohr 416 ff. 425. Filtration 494. Fläche 193 f.; Erhaltung der Flächen 323 f. 411. Flaschenzug 335 ff. 341. Fluenten 237 ff. Fluidum, bypothetisches F. 621. Flüssigkeiten 553 f.; chemisches Ver- halten flüssiger Körper 521. Fluxionsmethode (Newton) 235. 238 ff. 247. 253 f. Form 284 f.; F. bei Bacon 21; Form- wissenschaft 90; Formenlehre 103. Formeln, empirische und rationelle F, 514. Forschungs- und Darstellungsmethoden 110 £. Fortpflanzung 570. 574. 593. 601. 608. 610. 613 f.; Kampf um die F, 586. Fraunhofersche Linien 420. Funktion 11. 46. 137. 168 ff. 351 X. 387. All ff. 440. 451. 454. 469 ff. 553; Theorie 146; willkürliche F. 216 f. 233. 351 f.; implizite und explizite 219, transzendente F. 203. 210. 224. 231. 233 f. 268; analytische F. 210 f.; primäre und derivierte F. 235. 249 ff. 256. 268; homogene ganze F. 62; algebraische F. 222 f.; ganze und gebrochene F. 222. 267 f.; logarith- mische F, 226; komplexe F. 267 f.; zyklometrische F. 253; trigonometri- sche F. 253. 268; zahlentheoretische F, 212; eindeutige und vieldeutige F. 213 ff. 229 ff.; periodische F. 228; Umkehrbarkeit 226; mechanische F.s- analyse 545; physiologische und pa- thologische F.sanalyse 554 ff.; funk- tionelle Anpassung 577. 580 ff. 588; f. und genetische Merkmale 602; F.sübung 586; F.sstörungen 625 ff.; Steigerung 556, Aufhebung 558; f. Anpassung 621. 623. 625. Furchung 598; F.skern 611; F.szellen 978. Gärung 551. 559. 612. 616. 625. 628. Gase 454 f. 519 f. 524 f. 553; Wägung 644 495; Ausdehnung der vollkommenen Gase 516; Gaswechsel der grünen Pflanzenteile 537. 589. Gattung 13. 15. 17. 25. 28. 43. 60. 600; determinierende Merkmale und Ab- straktion von Bestimmungen 262. Gefühl und Empfindung 605 ft. Gegensatz, kontradiktorischer G. 62 ff. 78; konträrer G. 63; Einteilung nach Gegensätzen bei Aristoteles 285; Prinzip des logischen Gegensatzes 619 f. Gegenstände und Vorgänge 91. Geisteserzeugnis und Naturobjekt 95; geistige Schöpfung 618; Geistes- wissenschaften 37 f. 46. 90f. 94 ft. 99 f. 277; Vergleichung 54; Geistes- wiss. und Anthropogeographie 278. Generalisation 12 ff. 26 f. 38. 49. 132£. 137. 142 fi. 364 f. 397 f. 468. 600. Generatio aequivoca 616. Generation 557. Generationskraft 570. Generationslehre 570. Genese, konstruktive und rekonstruktive 58; genetische Auffassung 16; g. De- finition 46; g. Klassifikation 45 £. 50. 53. 62; g. Wissenschaft 94; g. Kon- struktion 180. 187 fi.; g. und funk- tionelle Bedeutung 602. Geodätik 425. Geognosie 365. Geographie 366; Aufgabe 277 f.; physi- kalische G. 278; Pflanzeng. 278; Tierg. 278; Anthropog. 278. Geologie 278; langsame Veränderungen 584 f. Geometrie 102 £. 104 ff. 111 ff. 397. 400; analytische G. 39. 61. 103. 105 f. 112. 156. 166. 176. 200 ff. 210. 337. 404. 409 fi. 436. 438. 451; synthe- tische G. 10. 131f. 196 ff.; algebrai- sche Behandlung 116. 202 f£.; met- rische G. 200 f. 402; praktische G. 127 £.; geometrische Methoden 177 ff.; g. Konstruktion 437 f.; g. Abstraktion 481; G. als Naturwissenschaft 138, geometrisches Objekt und Differential- begriff (Leibniz) 235. 241 f.; G. in- tensiver Raumgrößen (Statik) 308. Geophysik, Aufgabe 277 f. Geotropismus 576. Gerade 125f. 140 f. 189 ff. 195 ff. 206 ft. Sachregister. 289; G. und Winkel als Maßelemente 424 f. 433. 437 ff. 442 f. Gesamtorganismus und Elementarorga- nismus 598 ff. Geschichte 95. 278; Philosophie d.G.98 £. Geschlechtsdifferenz 613 f. Geschwindigkeit, momentane G. 239 £. 253 f.; G.sbestimmung 443 ff.; Prin- zip der virtuellen G. (Lagrange) 410 f. Geschwülste 632. Gesetze 13. 21. 25. 92; G. und Induk- tion 39 f.; Formulierung 41; empiri- sche G. 383. 387. 440; G. und Vor- aussetzungen 406. Gestaltungsgesetze (Bronn) 57. Gewebebildung 550. 552. 632 f. Gewichtsmessung 424 ff. 433. 436. 442 ff. Gift und Gegengift 559 f.; G.wirkungen 623. 628; Homöopathie 627. Gleichförmigkeit, Axiom 22; G. der Zahlgesetze 144. Gleichgewicht 411, vgl. Statik; physio- logisches G. 607 f. Gleichungen 166 ff. 348 ff.; algebraische G. und chemische Operationsformel 514; thermische G. 523 £. Gliederung s. Klassifikation. Gnomon 178. 416. Gradation 385 ff. 393. 555; Grade bei Bacon 21 f. Gradmessung 442. Gramm 442 f. Graphische Darstellung 440 f. Gravitation 28 f. 40. 73. 273. 306 f. 315. 358. 362. 397. 399. 446. 464. 469; fernewirkende Kraft 451. 454 £. 469; endliche Fernewirkungen 461 f.; Zeitfaktor der Fortpflanzung 455. 462f. 486. 488; Einfluß der G.stheorie auf die Chemie 502 f. 506. 621. Grenzbegriffe 60. 236 f. 478 ff.; Grenz- methode 246 f. 254 f.; Grenzen der Vermehrung des Wachstums 600. Größe 44. 131. 138. 143. 151. 165; ver- änderliche G. 162. 168. 170; unend- lich kleine G. (Leibniz) 241 ff.; G.n- lehre 102; direkte und indirekte G.n- messung 101 f£. Grundform 56. Härte, absolute H. 452; Härtungs- methoden 545. Hebel 286. 307. 312 f. 335. 426; H.wage 496 f. Sachregister. Heilkunde 618 ff. Heliotropismus 576. Helium 533 f. Hemmung und Reizung 612. Herzbewegung 610. Heuristische Prinzipien der Naturfor- schung 281 ff. 299 ff. Hilfskonstruktion 183 ff. Himmelsmechanik 278. Homologe und analoge Charaktere 602. Homöopathie 627. Humoralpathologie 619 ff. 625. 632. Hydraulisches Prinzip 544. Hydrodynamik 341. 413. 460. 463. Hydrostatik 411f. 521; hydrostatische Wage 426; hydrostatischer Druck 444. Hylozoismus 561. 615. 618. Hyperbel 62. 190 f. 193 f. 197 £. Hyperelliptische Integrale 266 f. Hypostasierung 565. Hypothesen 24. 29 f. 34. 38. 47. 58 f. Bat. 71.83. 97. 134. 177.278. 275 f. 284. 287. 290 f. 294. 296 ff. 345. 347. 354. 360. 362 f. 372. 381. 388. 393. 395. 399. 407 ff. 430 ff. 438. 447 f. 492. 501 ff. 512. 515 fl. 528 ff. 500. 554. 569. 574 ff. 587. 592 ff. 597. 615 f. 620 f. 623. 628. 632 f.; allge- meine Regel 467 f.; Vermutungen und H. 383 f.; H. und Tatsachen 297 f£.; provisorische H. 383 ff. 394. 559. 573; definitive H. 291. 538; hypothetischer Charakter der Mathe- matik 114. 123 f.; Streit der H. 539. Iatromechanische Schule 273. 568. 587 £. 606. 619. 621. Idealismus, mathematischer 114. Ideen und Apperzeption 282; I.lehre Platos 15. 58. 114. Iden 573. Identität 167. 221. Imaginäre Größen 145. 152. 156 f. 159. 171. 209. 230 ff.; i. Spekulation der Mathematik 123 f. Immunität durch Impfung 624. 626 fi. 632; Methoden der Immunisierung 559 f. Impfung 624. 626 ff. 632. Imponderabilien 345 f. 389; imponde- rables Fluidum 449. 452. Individuum 60. 600; algebraischer In- dividualbegriff 61. 645 Indizienbeweis 66. 78. Induktion 1 ff. 13. 20 ff. 49. 65 ff. 307. 356. 365. 368. 447. 621; I. bei Bacon 296; I.sbeweis 66; Stufen 25; vollständige I. 20. 22f. 134. 137. 143; verifizierende I. 406 f. 409; determi- nierende ]J. 406 f.; mathematische I. 107. 113 ff.; physikalische I. 374. 381 ff.; elektrische I. 388 ff.; chemi- sche I. 490 f. 496. 498. 501 ff. 514. Infektion 558 f. 615 f. 623 ft. Infinit (unvollendbar unendlich) 164. 236. 479 fi. 482. 487 ff. Vgl. Trans- finit. Infinitesimalbegriff und Irratio- nalbegriff 251; Infinitesimalmethode 210 f. 258 fi. 333. 404. Influenzerscheinungen, elektrische |. 388 f. 393. Influenzmethode 555. 558 £. Infusorien 614. 616. Innervation 591. Instanzen, prärogative I. 21. Integration 253 ff. 263 ff. 268. Intensitätsmessung 433. Interferenzerscheinungen 372. 382. 337. 431. 449. 456. Interzellularsubstanz 631. Intoxikation 558 f. 631. Intuition und Induktion 133; intuitive Gewißheit 116. Invarianten 201 f£. Inzucht 612 £. Ionen 512. 525.533 & 597. Irrationale Größe 145. 152. 154 f. 224. 233. 267 £.; Entdeckung des Irratio- nalen 130; Irrationalbegriff und In- finitesimalbegriff 251. Irritabilität 539. 570. 605. 622. Isokrymen 441. Isolierende Abstraktion 5. 14.f. 17. 29. 38. 49. 142. 361. 364 f. 395. 397 ff. 468. 513. 515; Isolierung der Um- stände 358 f.; sukzessive Isolierung der Stoffe 493. Isothermen 441. Jahres- und Tageseinteilung 149. Jupitermonde 419. Kalorimetrik 523. 554. 587. Kampf ums Dasein 563. 581 f. 585 f. Kapillarität 412 f. 443. Kardinalsäfte 619. 621. Kartographische Versinnlichung 441. 646 Sachregister. Karzinome 632. Katalyse 526 f. 551 f. 580. 588. 596 f. 607. 625 f. Katastrophenlehre 583 ft. Kategorien bei Kant 23. Kathodenstrahlen 450. 533. 557. Kausalgesetz 22f. 25f. 340. 347 ff. 415. 448. 484; Ableitung 27 f.; psycho- logische K.e 28 f.; biologische K.e 587 ff.; Kausal- und Zweckzusammen- hang 231 ff. 568; kausale Analyse 4ff. 496; Kausalerklärung 599; Kausal- gleichung 348 ff.; Kausalbegriff und Veränderungen 485. Kegel 188; K.schnitte 61f. 190 ff. 197 £. Keimplasma 573.601; Kontinuität 574f.; latente Differenzen 599. Kernteilung 574. Kettenschluß 33. Kinematik 339; kinetische Atomistik 454 f. 460; k. Gastheorie 520; k. Hypo- these und elektrolytische Aktionen 924. Klanganalyse 9. 379. 422 f.; Klang- bewegung 337 ;Klangfiguren (Chladni) 371. 424. Klarheit bei Descartes 115. Klasse 60; K.nbegriffe als Erklärungs- prinzipien 570; K.nbegriffe der älte- ren Naturgeschichte 601. Klassifikation 2. 13. 19. 24. 40. 47 fl. 365; analytische K. 49 f. 60 ff.; syn- thetische K. 49 ff.; deskriptive K. 50 ff. 62; künstliche K. 51; genetische K. 53 ff. 367; chemische K. 489 f. 507. Klimatologie 278. Klinische Beobachtungen 560. Koagulation 628. Koeffizienten, Methode der unbestimm- ten K. 176. Kohäsion 552 f. 579. Kohlenstoffverbindungen 505 ff. Kolligation 18 f. 364 f. 395. 398 f. 515. Kolloidsubstanzen 594 ff.; kolloidaler Zustand des Metalls 597. Kombination 48. 440; K. und Trans- formation 36. Kommutationsgesetz 135. 143. 163. Komparative Methode s. Vergleichung. Komplexe Zahl 106. 152. 155 ff. 171. 173. 209. 213 fi. 230 ff. 267 £. Komplikation der Probleme 39; K. der Bedingungen 334. Konchoide 188. Kongruenz 132. 134. 146. Konstanzprinzip 146. 151 f. 160 £.; Konstanz der Arten 58; K. der Energie 319. 323. 411. 431 f. 446. 461. 476. 483. 487 f. 510. 588 ff.; K. der Materie 348. 408. 449. 452. 477 f. 528. 534 ft.; K. der Merkmale 44; Konstanten der Einteilung 60 ff.; Konstanterhaltung von Bedingungen 387; physikalische Konstantenbestimmung 388. 442 ff. 523; konstante Erfahrungselemente 289; Konstanz der anschaulichen Er- fahrungsbestandteile 119. Konstitutionelle Kraft 570. Konstruktion 9 f. 16. 34 f. 41. 46 £. 59. 58 fi. 69. 105 f. 112. 118 2IE 128 ff. 138. 142. 177 &. 367. 437 £. Kontagien 621. Kontakthypothese 384. 414. 450 f. 454. 479 f. 504. Kontaktwirkung 572. Kontinuität 453. 606 f.; K.shypothese 528; K. und Atomistik 448 ft. Kontinuum 238. 260. Vgl. Stetigkeit. Kontradiktorischer Gegensatz 62 ff. 78; k. indirekter Beweis 79 ff. 84. Konträrer Gegensatz 63 f.; k. indirekter Beweis 79 ff. Konvergierende unendliche Reihe 486 f. Koordinaten, unendlich kleine Diffe- renzen 241; K.geometrie 192. 201. 204 f. Kopulation 614. Korollarsatz 67. Körper 193; korpuskulare Vorstellungen 491. 528. Korrelationsgleichungen 351 f. Korrespondierende Veränderungen 175. Kosinus 223 f. 231 £. Kosmogonische Theorien 583 f. Kosmologische Antinomien 481 ft. Kotangente 229. Kraft 340 f. 343 #. 396 f. 401. 459. 466; lebendige K. 321. 324. 429 f. 475 f. 590 f. 603; K.- und Energiebegriff 429 f.; K.begriff und Beschreibung 367; K.vorstellung 424 f.; K.gesetze 468 fi. 483 f. 486; K.begriffe 28; K.- formen 444 f.; K.begriff bei Galilei 309 ff. 316. 331; bei Newton 314 ff. 331. 429; Kräftemaß 424. 433; bei Descartes 320. 343 f.; bei Leibniz 319 f. 320. 343 f. 346. 451; beid’Alem- Ar Zu Sachregister. bert 331. 339 f.; K.punkt 463; Kräfte- paar (Poinsot) 337 ;organischer Kräfte- wechsel 587 ff.; Stabilität 591 £.; Kräfte- und Stoffwechsel 603 f.; Er- haltung der lebendigen K. 319 ft. 323; K.gleichungen 349. 352 ff. 592; Kräftekomposition und -hierarchie 569 f. Krankheit 618 ff.; K.sursache 620. Kreis 62. 190 f. 194 f.; Quadratur 128; K.funktion 233; K.lauf der Stoffe 588. Kristall und Zelle 594 ff. 608; flüssige K.e 595; kristallinische Struktur 546; Kristallisierung 503. Kristallographie, Grundformen 56. Kristalloide und Kolloide 594 f. Kugel 188; K.oberfläche und komplexe Zahlen 157 ff. Kurven zweiten Grades 190; Kurve im unendlich Kleinen linear betrachtet (Leibniz) 241. Lage, Energie der L. 324. 349 f. 429. 475 f. 478. 590 f. 603. Länge vgl. Gerade. Langsame Veränderungen 584 ff. Leben, Begrenzung 600; Ewigkeit 615; Untergang und Erneuerung 611ff.; | L.sgeister 620; L.skräfte 570. 605 vgl. Vitalismus; Ursachen 606 ft.; Chemismus der L.svorgänge 580; Stö- rungen 618 fi.; Verbrennungsprozeß 608; L.sfähigkeit niederer Keime 616; Ursprung 614 ff.; L. und Beseelung 618. Leere Zwischenräume 452 f. 487. Lehrsätze 69. 79; fundamentale und abgeleitete L. 67. Lese bei Bacon 21. Leukozyten 630. Licht, Fortpflanzung 371 f. 397. 443. 462; Messung 433; Zerstreuung 374 fi. 382; Brechung 516; Doppelbrechung in Kristallen 454; elektromagnetische L.theorie 372. 414. 431. 449 f. 455 ff. 465. 470. 536; Undulationshypothese 413; L. und Pflanze 587. 589. Linie bei Hobbes 120; bei Mill 123. Logarithmen 228. 253. 257; logarith- mische Funktion 226 ff. 266. Logik und Metaphysik 96 ff. Lösung 493 f. 503. 510. 512. 520 f. 525. Luft, Zusammendrückbarkeit (Boyle) 383; L.druck 423. 647 Magnete, drehbare M. zur Messung 427, Magneto-elektrisca Erscheinungen 370 ff. 380. 384. 389 ff. 397. 413 f. Mannigfaltigkeitsbegriff 202; Mannig- faltigkeitslehre 103 f. 146. 151. 154. 157. 160. Manometer 426 f. Marsrotationen 419. Maschine 510. 564; natürliche M. 567 f. 588 f.; künstliche M. 589 £. Masse 309 ff. 319 ff. 340 f. 343 ff. 396 £. 401. 443 fi. 459. 466 f. 469 ff. 510; M. und Wage 416; M.nvorstellung 424 f.; Maß d. M. 427 f.; M.npunkte 451; Endlichkeit oder Unendlichkeit 483 ff. Materie 447 ff.; strahlende M. 450; Konstanz 348. 408. 449. 452. 477 f. 528. 534 ff.; Probleme der M. 290 £.; hypothetische Voraussetzungen 414f.; Elemente 478 fi.; Ausdehnung und Masse 483. 486 f.; logische Prüfung der Hypothesen 459 ff.; metaphysi- scher Hilfsbegriff 468; lebendige M. 615. Mathematik, konstruktive Methoden 59 f.; M. als reine Formwissenschaft 90; Logik der M. 101 #.; Hilfsmittel 416; mathematische Analysis 39. 61. 103. 105 ff. 112. 156. 166. 176. 200 ff. 210. 337. 404. 409 ff. 436. 438. 451; allgemeingültige Elemente 396; M. und Mechanik 398. 415. Maximal- und Minimalprinzipien 325 ff. Mechanik 539. 563; M. als analytische Geometrie mit Zeitdimension 37; synthetische Behandlung 112; analy- tische M. 112; M. ohne Figuren 116; mechanische Linien 203; m. Kurven 203; M. und Geometrie 204 f.; ra- tionelle M. 427; Fundamente 272. 306 ff.; Fundamentaltheoreme 314 ff. ; M. des Himmels 273; Abstraktionen 396 fi.; Stellung 274 ff. 290; mecha- nische und teleologische Auffassung 273 f. 281 ff. 563; m. Morphologie 543 ff.; mechanistische Schule 562, 568; m. Deutungen 587; m. und che- mische Hypothesen 620; mechanische Anpassung 577 ff. 599. Medizin 618 ff. Mehrdeutige Schlüsse 24. ı Merkmale 16. 601 f. | Messungsaufgaben 101 f. 104 f. 201. 648 Sachregister. . 402. 416; Werkzeuge 419. 421.423 f.; direkte und indirekte Messung 438 f.; Meßbarkeit und Endlichkeit 487 f. Metalle, Reindarstellung 494; Metall- gifte (Liebigs Theorie) 386. Metaphysik 367. 607; M.und Logik 96 ff. Meteore, Hypothese der Lebensüber- tragung 615 f. Meteorologie 278; meteorologische Mes- sung 439 f. Meter 442. Methoden der Untersuchung 1ff.; M.- lehre 97; mathematische Methode bei Hobbes 120. Miasmen 621. Mikroben 632. Mikrokosmus 589. Mikrometer 419. 425 f. 436. Mikroorganismen 558. 623 ff. Mikrophon 422. Mikroskop 416 ff. 424 ff. 436. 543. 545 ff. 572. 593 f. 622 ff. 632; Analyse des mikroskopischen Bildes 596 f. Milligramm 448. Millimeter 443. Mimicry 585 f. Mineralogie 365 f. Minimal- und Maximalprinzipien 325 ft. Mittelwerte 439 f. Moleküle 593 ff. 608; chemische M. 519 ff. 523. 526 f.; Molekulargewicht | 530 f.; Molekulargewichtswärme 522; | Molekularphysik 398 f. 412 ff. 451; M.distanzen 452; M.wirkungen 472 f. 477; M.vorgänge 510 ff.; M.struktur 421. 628. Momentane Veränderung 235 f. 242. Momente der Geschwindigkeit 239 f. Monade 242 f. Morphologie 365; morphologische Ana- lyse 541 ff.; optische M. 545 f. 553; m. Methoden 567 ff. 593 f.; verglei- chende M. 601 f.; m. und physio- logische Merkmale 602. 604. Multiple Proportionen 492. 503. 508. 511. 517 f. 528. Multiplikation 111. 134 f. 144. 147. | 197.:. 170. -173.5:1776.1203.. 2072209: 211. 219. 222. 225. 229. 257. 305. Muskel 552 ff.; M.arbeit 551; Kontrak- tion 590. Mutation 583 ff. 601. Mystik mit Zahlsymbolen 273. Mythologie 269. Nachbildungsmethode 549 f. Näherungsmethoden 105. 164. 242. Nahrung, Kampf um die N. 586; N.s- aufnahme 588. Namen 16. Nationalökonomie und Synthese 10 f. Natur, Gleichförmigkeit 22; Substrat der N.erscheinungen 447 ff.; N.ge- schichte 280; N.geschichte und N.- beschreibung 366 ff.; N.gesetze 448, 468 ff.; N.kausalität in sich geschlos- sen 618; N.kräfte 430. 444 f.; N.- objekt und Geisteserzeugnis 95; N.- philosophie 271. 281 ff. 542. 561. 571. 593. 618 fi.; N.wissenschaften 90 f. 94 ff. 99 ff. 269 f. Negative Definition 63; n. Sätze 79 f. 84; n. Größe 145. 152. 173 f. 257. 267; n. Schwere (Phlogiston) 492. Neptunismus 621. Nervengeister 620 f.;N.physiologie 556f.; N.system 588. 621. Neubildung, abnorme N. 631 ft. Nominaldefinition 42. Nominalismus 304. 479 f.; mathemati- scher N. 113 ff. 235 £. Nonius 425. Nukleine 597. Null 148. 150. 161 f. 229. 238 ff. 246. 248 f.; N. bei Euler 255. Ökonomie des Denkens 300 ff. Ontologische Beweise 410; o. und funk- tionelle Auffassung 621. 623. 625. Optik 452. 456; Grundlagen 272; New- tons Analyse 374 ff.; Emanations- und Undulationshypothese 384; optische Morphologie 545 f. 553; o. Instru- mente 417 fi. 424 fi. Ordinaten und Abszissen 241. 244. Organisationskraft 570. Organische Chemie 497 f. Organismus 618; Elementaro. 592 ff.; Gesamto. und Elementaro. 598 ff.; indifferenter O. 603. Ort, geometrischer O. 191. 193. 196. Ortsbewegung, tierische O. 587. Osmotische Prozesse 512; osmotischer Druck 521; osmotische Eigenschaften 908. Ovulisten 572. Oxydation 497 f. 500. 509. 549. 590. 603. 608. ee al a ln an a 5. Sachregister. Pangenesis (Darwin) 573 f. Parabel 62. 190 f. 193 ff. 197 f. Parallelenaxiom 145 f.; Parallelprojek- tion 195; psychophysischer Parallelis- mus 566. Parthenogenese, künstliche P. 598. Partialtöne 379. Passives und aktives Verhalten, Pflanze | | Polarisation 371. 380. 413. 449. 456 f.; und Tier 604. Pathogenese 625. Pathologie 539 f. 618 ff.; experimentelle P. 541. 548. 558 ff.; pathologisch- anatomische Beobachtungen 560. Pendel 313. 319. 323. 423; P.uhr 435 f. Perigenesis 575. Periodizität 610; periodische Funktion 228. 232; imaginäre p. F. 232. 266; p. Bewegung 434 ff.; P. der Reizungs- erscheinungen 575; P. der Entwick- | | Präzision und Fehlermethoden 439. lungserscheinungen 575. 600. 610. Permanenzprinzip- 146 f. 150f. 160. | Produktionskraft 611 f. | Projektionsmethode 186 f. 189. 194 ff. Proportionale, geometrische P. 156; 163. 201. 245. 267. Perpetuum mobile 432. Perspektivische Projektion 194 ff. Pflanze, Gaswechsel der grünen Teile 587. 589; P. und Licht 587. 589; P. und Tier 540. 602 ff.; passives und aktives Verhalten 604 f.; Pflan- zenanatomie 594; Pflanzengeographie 278; Pflanzenphysiologie 279 f. 540. 555 f. Phagozyten 627 f. PhänomenologischeWissenschaften 91ff. 95; ph. Naturforschung 280 f.; ph. Betrachtung 304 f.; ph.r Grundsatz der Bewegung 317. Philosophie 95 f. 99. 269 ff.; Ph. der Geschichte 98 f. Phlogiston 492. Phoronomie 317. 330. 339 ff. 397. Photometer 433. Physik 100. 368 ff.; Stellung 275 fl.; experimentelle, theoretische, mathe- matische Ph. 275 f.; kosmische Ph. 277; partielle Differentialgleichung zwischen drei Veränderlichen 262; Einfluß physikalischer Hypothesen auf die Chemie 502 f.; ph. Bedin- gungen chemischer Wechselwirkun- gen 508 ff.; ph. Hilfsmittel 415 ff.; ph. Konstanten 523; ph.-chemische Analyse der Lebenserscheinungen 564. 649 und Tiere 279 f.; Pflanzenph. 540. 555 f.; Ph. des Menschen 540; ver- gleichende Ph. 541; physiologisch- chemische Untersuchung 548 ff.; ph.- physikalische U. 552ff.; ph. und mor- phologische Merkmale 602. Plastidule 575. Pneumatiker 619 f. polarisiertes Licht und Zelle und Ge- webe 594 f.; P.sinstrumente 546 ff. Polariskop 417. 420 f. Polymere Verbindungen 609. 612. Positionssystem der Zahlen 148 ff. Physiologie 539 f. 604; Anfänge 273f.; | allgemeine Ph. und Ph. der Pflanzen | Positive Zahlen 152. 155. Positivismus 124. 299 ft. Potential 470 f. Potenzierung 111. 167. 202. 225. 257. Prärogative Instanzen 21. Probleme 69. 108. mittlere P. 203. Protisten 603. Protoplasma 601. 609. 612. 614 ff. 628; Aufbau 595 fi. 607 f.; P.mechanik 577. | Protozoen 606. 623. 632. Psychische Kausalgesetze 28 f.; ein- fachste Formen des ps.n Geschehens 617. Psychologie, Stellung 277; Ps. und Bio- logie 605 ff. 618; psychologischer Standpunkt 606 f£. Punkt 125. 140. 189 ff. 207 f. 290 f. 341. 367. 458. 460. 463. 481; arith- metische P.e 151; Massenp. 451; Kraftp. 463; P. bei Hobbes 120, bei Hume 122, bei Mill 123; ausgezeich- nete Werte in Kurvendarstellungen 441; Beziehungsp. der Bewegungen 487. Pyrochemie 524. Quadratrix 188. Quadratur des Kreises 128. Qualitative Voruntersuchung 373. 384; qu. Analyse 491. 495 f. Quantität bei Kant 117; Erhaltung der Qu. der Bewegung 319. 322 f. 343; quantitative Untersuchung 373 f. 384 ff.; qu. Analyse 492 f. 495 f.; 650 qu.s Zeitalter der Chemie 502 f.; qu. Funktionsänderung 555 f.; Abstufung 21 f. 497 ff. 506. 516. Quaternäre chemische Verbindungen 504. Quaternionen 159. 209. Quinäres System 149. Radikale, chemische 505. 516. 530. Radium 450. 458. 512. 533 f. Radizierung 111. 156. 167. 257. 267. Rationelle und empirische Formeln 514. Raum 125. 131 f. 138. 143. 160; R.- anschauung bei Kant 117. 119. 121. 177, bei Berkeley 121; R. und Be- wegung 237 ff. 253 f.; konstante Er- fahrungselemente 289; R.konstruk- tion 396; absoluter und relativer R. 401; R.maße 424 f. 433 f. 437 f. 442 ff. ; Antinomien 421 f.; Endlichkeit und Unendlichkeit 483 ff. Reagiermethode, chemische R. 493 f.; Reaktionsvorgänge 512. 552; Reak- tionsgeschwindigkeit 526. Realdefinition 42 f. Reale Disziplinen 90 f. Realismus, mathematischer R. 113 ff. 138. 235 f. 479 £. Rechtsbegriffe 7. Reduktion 500. 603. Reflexion 372. 387. Regeldetri 169. Regeln, abstrakte R. 13. Regeneration 548. 550. 557. 610. 612. Reibungselektrizität 388. Reife 614. Reihenentwicklung 137. Reizbarkeit 622. Reizung 598. 605 f. 610; R. und Hem- mung612; Periodizität der R.serschei- nungen 575 f. Regulationsprinzip 5853 f. Relative Größenbestimmungen 406. Religionsphilosophie 98f.; religiöse Vor- stellungen 484. Reproduktionskraft 570. Resistenzfähigkeit 570. Respiration s. Atmung. Resonatoren 379. 422. Richtung und Zahl 152. 156. 159. Röntgenstrahlen 533. Rotation 188. Rudimentäre Organe 602. Sachregister. Sanduhr 435. Sauerstoff 587; S. und Leben 607 f. Schall, Geschwindigkeit 370. 443. 449. 462; Messung 433; Theorien 413. Schattenprojektion 194 f. Schaum- und Wabenbildung 596 f. Scheidemittel 494. Schlaf und Wachen 610. Scholastik 64. Schwere 28 f. 40. 73. 273. 306 f. 315. 358. 362. 397. 399. 446. 464. 469; Schwerpunkt 208. 307; Erhaltung des Schwerpunkts 321f. 325. 411; Schwere und Tastsinn 423; Sch. als gemeinsames Maß 427 ft. 445; Kraft- und Energiebegriff 429 f.; Schwer- anziehung und Äther 454 f.; nega- tive Sch. (Phlogiston) 492; Sch. und Wachstum 556. Sekunde (Zeit) 442. Selbstbefruchtung 583. 585. Selbstregulierung 564. 581. 583. 618. 620. 629 ff. 634. Selbstzersetzung 608. Sensibilität 539. 570. 605. Sexagesimales System 149. Sexualzellen 611 f.; sexuelle Fortpflan- zung 610. 613; s. und individuelle Differenz 614. Singuläre Erscheinung 5 f. Sinneswahrnehmung 231. Sinus 218 f. 231 £. Skelett 544 f. Solidarpathologie 620. 622. Sonnensystem 589. Sonnenuhr 435. Spaltpilze 558. Spaltung 549. 551 f. 609 f. 612. 628. 632; Sps.ferment 610 ff. Spannkraft 475. Spannungstheorie, elektrische Sp. in der Chemie 621. Spektralanalyse 9. 533. Spektroskop 417. 420. Spekulation und Empirie 283. Sperma 598; Spermatozoen 419. 572; Spermazellen 611. Spezies 601 f. Spezifikation 18 f. 365. Spirale des Archimedes 188. 190. Spiraltheorie 56 f. 59. Sprache 16. Stabilität 484 f. 584. 591. 607 £. Statik 410 f.; Grundlagen 270. 272. Sachregister. 306 ff. 425; Messung 428. 433; che- mische St. 490. 509. 512. 515 ft.; St. und Dynamik bei Lagrange 331 ff. 339; bei d’Alembert 331 ff. Statistik 29. Steigerung der Funktionen 556. Stetige Ausdehnung 105; st. Größe 154 233 fl.; Stetigkeit 453. 606 f.; St. bei Leibniz 242 f.; st. Veränderung 211 ff. 227. 585 f.; st. Übergänge 604; stetig veränderliche Funktion bei Lagrange 251; Kontinuum 238. 260; Kontinui- tätshypothese 528; K. und Atomistik 448 ff. Stimmgabel und Chronoskop 435. Stöchiometrie 492. 513 f. Stoff 284 f. 290; Stofftheorien der Ent- wicklung 573 f. 577; stoffliche Eigen- schaften 489 fi.; Stoffwechsel 579 £. 587 ff. 592. 597. 603 f. 607. 610. 625. 632; Statik und Dynamik 550. 564. 568. Störungen der Lebensvorgänge 618 ff. Stoß 282. 234. 287. 297. 310. 320 f. 326. 343. 452 ff. 462. 469. 473. 479. Strahlenbüschel 196 ff. Strahlungserscheinungen 450. 458. 512. 933 ff. Strukturchemie 506 f. 516. Subjektivistische Erkenntnistheorie 299 ff. Sublimation 493 f. Substanz 44. 289. 340. 415. 448; ob- jektive S. 467; Beharrlichkeit 538; substantielle Kausalität 349. Substitution 36 f. 405. 498. 506 f. Substrat der Naturerscheinungen 447 ff. Subsumtion 70; S. bei Aristoteles 20. 23; exemplifizierende S. 24. Subtraktion 101. 111. 144 147. 156 f. 161. 167.211.222. 248 f. 254. 257. 267. Summation kleiner Wirkungen 583 f. Syllogismus 20. 22. 33. Symbolik, mathematische S. 36; alge- braische 8. 73. 109. 202. 205. 210. 212; arithmetische 8. 147 ff.; logische S. 212; chemische S. 513 ft. Symmetrie 64. 88. 407. Synthese 1. 18. 356. 361. 364. 368. 379 ff. ; mathematische S. 107. 111 £.; syn- thetische Geometrie 10. 131f. 196 f.; stufenweise S. 499 fi. 516; s. Urteile a priori 118 f. 121. 138; s. Mechanik 312 #.; chemische $. 491. 496. 498 #. | 651 Systematische Darstellung 1. 40 ff.; System der Wissenschaften 85 ft.; systematische und phänomenologische Wissenschaften 91 ff. 95; naturwissen- schaftliche Systematik 274 ff.; s. Na- turwissenschaften 365. 367 f.; bio- logische Systematik 600 ff. Tabelle und analytische Formel 441. Tag, Einteilung 434. Tangente 228 f.; T.ngebilde 198; T. und Kurve 241 ff. 252. 259. 262 f. Taubildung (Methodenbeispiel) 385 £. Teilbarkeit 236. Teilung der Figuren 180 ff. Teleologie 300 ff. 317 ff. 544. 561 ff. 587 f. 591. 599; unbewußte T. 562 ff.; objektive T. 566; T. und mechanische Auffassung 273 f. 231f.; teleologische Prinzipien der Biologie 569 ff. Telephon 422. Teleskop 416 ff. Terminologie 17. Tetratomie 62. 64. Theoreme 33. 41. 66 f. 7Of. 84. 108. 184. 403; Th. und Probleme 69; Th. der Mechanik 314 ff. Thermochemie 509 ff. 516. Thermodynamik 524. Thermogalvanometer 423. Thermometer 423. 446. Thermotropismus 576. Tier und Pflanze 540. 602 f.; aktives und passives Verhalten 604 f.; Tier- geographie 278; Tierphysiologie 540 f. 556 f. 605; Tierpsychologie 605. Tod 607. 613. 628. Toxine und Antitoxine 629; toxische und antitoxische Wirkungen 559 f.; t. Enzymwirkungen 580. Trägheitsgesetz 295. 309 ff. 314 ff. 320. 324. 340. 408. 432. Transfinit (vollendete Unendlichkeit) 482. 486. 488; t.e Größen 163 f. 236. Transformation 422 f. 429 f. 432 f. 475 fi. 485. 487 f. 525; durch ver- änderte Verbindungsweisen 36; T.s- gleichungen 350 f. 353 ff. 592; lang- same T. 584 ff. Transzendentale Ästhetik 119. Transzendenz 15 f.; transzendente vor- bildliche Welt der Typenlehre 57 ff.; t. Funktion 203. 210. 224. 231. 233 £. 267 £. 652 Triangulum characteristieum (Leibniz) 241 f. 246. Trichotomie 62. 64. 88 f. Triebhandlungen 585. 606. Trigonometrische Funktion 228 ff. 253. 266. 268; t. Methoden 438. Tropfen und Kristall 595. Tropismen 606 f. Typentheorie, chemische T. 506 f.; Typus 55 ff. 601 £. Übereinstimmung 364; Ü.smethode 385f. Überendlich und endlos 164. Überordnung, mathematische Ü. und Allgemeinheit, besonderer Fall 262. 267. Übervernünftiges 484. Übung 580. 586. Uhr 435. Umstand und Bedingung 359. Unbewußt, Annahme eines unbewußten Willens 565 f. Undulationstheorie 372. 384. 413. 449. 456. Unendlich 161 f#. 236 f. 480 fi.; Para- doxien 163; vollendete und unvoll- endbare Unendlichkeit 161 ff. 236. 481 f. 486. Universum, Totalität 478. 480 fi. Unlöslichkeit, chemische U. 503. Unruhe (Zeitmessung) 436. Unterscheidung 63f. 364; Unterschieds- methode 385 f. Untersuchungs- und Demonstrations- methode 110 f.; Untersuchung und Voruntersuchung 373 f. Uratome 532. Urbläschen 598. Urorganismus, Tier und Pflanze 603 f. Urstoff 619. Urzeugung 614 ff. 625. Utilität 301. Vakuolen 596 £. Valenztheorie 507 f. 512. 516. 523. 534 f. Variabeln, logische V. 48. 60 f.; alge- braische V. 61£. Variabilität der Individuen 581 fi. Variation der Elemente 5; V. der Be- ziehungen 175 f.; Vs.rechnung 264 f. 327; V. der Umstände 358 f. 374. 384 ff. 393; V. der Beobachtungen 439. Sachregister. Varietät 601. Venus, Lichtgestalten 419. Veränderliche Größe 162. 168. 170; Anzahl der Veränderlichen und Ge- setz 262; korrespondierende Verän- derungen 175. Verbindung und Zersetzung 587. 590; Verbindungsschluß 24; V.sgewicht 517. Vgl. Synthese. Verbrennung 492. 551. 587. 590; V.s- wärme 523. 554; V. und Leben 608. Verdauungsfermente 629. Vererbung 557. 563. 571 ff. 581. 591. 599; V.smerkmale 602; V. erworbe- ner Eigenschaften 574 f.; V. und An- passung bei Darwin 583. Vergleichung 5. 14. 20 f. 356. 361 ff. 368. 549; V.sschluß 24; V. und Ab- messung 433; vergleichende Wissen- schaften 54; v. Morphologie 601 f.; v. Naturgeschichte 601 f. Verifikation 356. 374. 406 f. 409. 433. 447. 504. 633. Verkümmerung durch Nichtübung 580. Vermögenslehre (Bacon) 87. Vermutung und Hypothese 383 f. Vervollkommnung 587. Verwandlung s. Transformation. Verwesung 625. 629. Vibrationsmikroskop 424. Vibrograph 423 f. Vierteilung 62. 64. Vigesimales System 149. Virtuelles Moment bei Galilei 331. Vitalismus 274. 561 f. 564 f. 568. 605. 620. 625. Vivisektion 555. 560. Völkerkunde 278. Vollkommenheit 407. Voraussetzungen, abstrakte V. und Ge- setzableitung 406. Vorgänge und Gegenstände 91; V. und Eigenschaften 552 f. 569. Voruntersuchung 373 £. Vulkanismus 621. Wabenstruktur 596 £. Wachen und Schlaf 610. Wachstum 544. 546 f. 573 f. 575. 577 f. 597. 600. 603 f. 608 f. 616. 628. 632; W. durch Assimilation 593; Perio- dizität 610; Schwere und W. 556; W.strieb 570; W.sfähigkeit 611. Wage 416. 423. 426 fi. 433. 502. Sachregister. Wahlverwandtschaft s. Affinität. Wahrnehmung, Hilfsmittel der Analyse 417 fi. Wahrscheinlichkeit 66. 72. 432; W.s- rechnung 440 f.; W.sschluß 23. Wärmetheorie 73 fl. 350 ff. 413. 452. 454. 473. 485. 499. 508 ff. 512. 516. 520 f. 591; Fortpflanzung der Wärme 449; Zerlegung durch Wärme 494 f.; Abstufung 497 f.; Wärmetönung 523; Wärme und Arbeit 551. 554. 603; Wärmebildung 587. Wasseruhr 435. Wechselbestimmung 8. Wechselwirkung 26. 237. 290. 504. 508 ff. 515; W. der Teile 600. Wellenbewegung 370.372.395. 397 f. 610; Wellenzeugung.d. Lebensteilchen 575. Weltschöpfung und Untergang 484. Wertigkeit 507 £. Widerspruch, Satz des W.s 136; wider- spruchslose Naturerklärung 347. Wiedererinnerung der mathematischen Ideen 114 f. Wille,transzendentesW .nsprinzip 565f.; W.nsentwicklung 586; W.und Zweck- mäßigkeit 604; W.nsreaktionen 606. Willkür und Konstruktion 34 f. 46 f., W. und Klassifikation 5l; W. und Ezaktheit 114; W. und mathemati- sche Ideen 120. Winkel und Gerade als Maßelemente 289. 424 f. 433. 437 f. 442 f. Wirbeltheorie 458. 460. Wirkungsfähigkeit s. Energie. Wirkungssphäre des Atoms 453. Wissenschaftliche Arbeitsteilung 85 ff. Worterklärung 42. Wunder, Ausschaltung des W.s 606. Wurf 310. 313. Wurzelgleichungen 173 fl.; vgl. Radi- zierung. X-Strahlen 370. Zahl 44 f. 131 ff. 138 ff. 143. 147 ff. 237. 269. 396; Z. bei Kant 117; bei Hume 122; diskrete Z. 105; kom- plexe Z. 106; Z.entheorie 103. 111 ff.; Z.formeln 131 f£.; Z.arten und Z.- systeme 150 ff.; Z.grenzen 161 ff.; 2. und Eulers Differentialbegriff 235; Z.enkultus 102; Z.enmystik 273. Zählen 140; Art und Richtung 152; Zählmethoden der Naturvölker 127. 653 Zeit 125. 160; Z.anschauung bei Kant 117. 119; bei Berkeley 121; Z. und Mechanik 37; astronomische Z.größen 583; Z. und Bewegung 237 ff. 253 f.; konstantes Erfahrungselement 239; absolute und relative Z. 401; Anti- nomien 482; Endlichkeit und Unend- lichkeit 483 ff.; Z.einteilung 434; Z.- messung 416. 424 f. 428. 434 fi. 442 ff. Zelle 552. 564. 573. 593 f£.; Chemismus 593 ff.; zusammengesetzte Organi- sation 596; Zellmembran 594 ff.; künstliche Z.nbildung 596; Z.nteilung 609 ff.; omnis cellula e cellula 598; Prinzip der kleinsten Flächen 577. Zellularpathologie 622 f. 630. 632. Zentralkräfte 469. Zentralprojektion 195. Zergliederung s. Analyse. Zerlegung durch Wärme und den elek- trischen Strom 494 f. Zersetzung, organische Z. 550; Z. und Verbindung 587. 590; Z. und Er- neuerung 608. Zeugenbeweis 66. 78. Zeugung 598. 608 f. 612; Z.sferment 611. 613. Ziffernsystem 147 ff. Zoologie 365 f. Zootomie 365 f. Zuckungsgesetz 557. Zufällickeit, scheinbare Z. bei Euklid 130; Zufall bei Aristoteles 286; Z. und Entdeckung 369 ff. Zusammenhang der Erfahrung 25 f. Zustandsgleichungen 350 f. 353. 355. 592. Zwang, kleinster 328 f. Zweck 282 ff. 587; Umkehrung der kausalen Beziehung 288. 563 ff. 570; Z.zusammenhang zugleich Kausalzu- sammenhang 568; Z.vorstellung 565; Z.mäßigkeit 544; Z. und Wille 604; Z. der Lebensformen 616; zweck- tätige Kräfte 300 ff. 317 ff. 544. 561. 537 f. 591. 599. Zweifel, kritischer Z. 292 ff.; absoluter Z. 300. Zweiteilung 62 ff. 87 f. Zwischenorganismen 603. Zwischenräume, leere Z. 452 f. 487. Zwittergeschlechtliche Pflanzen 612. Zyklometrische Funktionen 229 f. 253. Zylinder 188. Se k ER. BT 2 4 A RT Damm. a P + 77 rin, s a A Y ’ .| ii Al N» T is NR N TEE 1e% \ ü . i ' \ i “ ö v N B r j “ ' N BL j Knie bes la Kö k I TRIER ji . SDUSTEN nr; iR h r“ ERen > (IE u KarzafayN Dr Aue At In TR BL % AR I AN BR he ri al . "2 4 fr L 1 Bu ANe uf u en BR IR en nn A > Dr { ’ N & r 1 > are Ya vwz L u “ Bi rd s 77 a) ;2) ses Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart. Ssos Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens. Von Geh.-Rat Prof. Dr. W. WUNDT. Dritte umgearbeitete Auflage. Zwei Bände. gr. 8°. 1903. geh. M. 21.—; in Leinw. geb. M. 24.20. Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung. Von Geh.-Rat Prof. Dr. W. WUNDT. Dritte umgearbeitete Auflage. Drei Bände. I. Band. Allgemeine Logik und Erkenntnistheorie. gr. 8°. 1906. geh. M. 15.—; in Leinw. geb. M, 16.60. Tolstois Weltanschauung und ihre Entwickelung. Von Dr. E. L. AXELROD., gr. 8°. 1902. geh. M. 4.— Epictet und die Stoa. Untersuchungen zur stoischen Philosophie. Von Prof. Dr. A. BONHÖFFER. gr. 8°. 1890. geh. M. 10.— Die Ethik des Stoikers Epictet. Von Prof. Dr. A. BONHÖFFER. Anhang: Exkurse über einige wichtige Punkte der stoischen Ethik. gr.8°%. 1894. geh. M. 10.— Die natürlichen Grundlagen des Strafrechts. Von A. BOZI, Oberlandesgerichtsrat. 8°. 1901. geh. M, 3.20. asoss Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart. ssos Philosophisches Lesebuch. Von Prof. Dr. M. DESSOIR und Prof. Dr. P. MENZER. Zweite vermehrte Auflage. 8°. 1905. geh. M. 5.60; in Leinw. geb. M. 6.40. Inhalt: I. Plato. — II. Aristoteles. — III. Sextus Empiricus. — IV. Seneca. — V. Plotin. — VI. Thomas von Aquino. — VII, Meister Eckhart. — VIII. Francis Bacon. IX. Descartes. — X. Spinoza. — XI. Locke. — XII. Berkeley. — XII. Leibniz. — XIV. Hume, — XV. Kant. — XVI. Fichte. — XVII. Hegel. — XVII. Herbart. — XIX. Schopenhauer. — XX. Comte. — XXI. J. St. Mill. — Namenverzeichnis. — Sachregister. Aus G.C. Lichtenbergs Korrespondenz. Von Dr. ERICH EBSTEIN. Mit Tafel- und Textabbildungen. kl.8°%. 1905. geh.M. 2.40. Moderne Philosophie. Standpunkte und Probleme. Ein Lesebuch. Herausgegeben von Privatdoz. Dr. M. FRISCHEISEN-KÖHLER. gr. 8°. 1907. geh. und in Leinw. geb. Ziele, Richtpunkte und Methoden der modernen Völkerkunde. Von Prof. Dr. S. GÜNTHER. gr. 8°. 1904. geh. M. 1.60. Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Von Dr. ALFRED LEHMANN. Deutsche autorisierte Ausgabe von Dr. PETERSEN. Mit 75 in den Text gedruckten Abbildungen. gr. 8°. 1898. geh. M. 12.—; in Leinw. geb. M. 13.— Bibelstunden eines modernen Laien. : Von JULIUS LIPPERT. Mit einem Kärtchen. ki.8°. 1906. geh. M. 3.—; in Leinw. geb. M. 4.-— Neue Folge (Neues Testament). 8°. 1907. geh,M. 3.—; in Leinw. geb. M. 4,.— a ee a ee Se ass Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart. ssos Die Geschichte der Familie. Von JULIUS LIPPERT. 8°. 1884. geh. M. 6.— Einführung in die Philosophie des Strafrechts auf entwicklungsgeschichtlicher Grundlage. Von Prof. J. MAKAREWICZ. gr. 8°. 1906. geh. M. 10.—; in Leinw. geb. M. 11.60. Ludwig Feuerbach. Yes Dr; C.N. STARCKE. gr. 8°. 1885. geh. M, 9.— Die soziale Frage im Lichte der Philosophie. Vorlesungen über Sozialphilosophie und ihre Geschichte. Von Prof. Dr. LUDWIG STEIN. Zweite verbesserte Auflage. gr. 8°. 1903. geh. M. 13.—; in Leinw. geb. M. 14.40. Naturgeschichte des Menschen. : Grundriß der somatischen Anthropologie. Von Dr. C. H. STRATZ. Mit 342 teils farbigen Abbildungen und 5 farbigen Tafeln. gr. 8°. 1904. geh. M. 16.—; in Leinw. geb. M. 17.40. Inhalt: I. Überblick über die anthropologische Forschung. — II. Die phylo- genetische Entwickelung der Menschheit. — II. Die Ontogenese des Menschen. a) Die embryonale Entwickelung. b) Das Wachstum des Menschen. c) Die ge- schlechtliche Entwickelung. — IV. Die körperlichen Merkmale des Menschen (Kranio- logie, Anthropometrie, Proportionen). — V. Die Rassenentwickelung. — VI. Die menschlichen Rassen. ı. Die Australier. 2. Die Papuas. 3. Die Koikoins. 4. Ameri- kaner und Ozeanier. 5. Die melanoderme Hauptrasse. 6. Die xanthoderme Haupt- rasse, 7. Die leukoderme Hauptrasse, Schlußwort, asss Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart. asas Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. In den Grundzügen dargestellt von Max Dessoir. Mit 16 Abbildungen und 19 Tafeln. 30 Bogen. Lexikon-Format. 1906. Geheftet M. 14.—; in Leinwand gebunden M. 17.— INHALTSÜBERSICHT. Erster Hauptteil. Ästhetik. Einleitung. — I. Die Geschichte der neueren Ästhetik. Grundlegung im Altertum. Französische Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts. Englische und schottische Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Die Ästhetik der deutschen Aufklärung. Die Ästhetik der deutschen Klassiker. Romantische und spekulative Ästhetik. Forma- listische und eklektische Ästhetik. Anmerkungen. — Il. Die Prinzipien der Ästhetik. Der Objektivismus. Der Subjektivismus. Das Problem der Methode. Anmerkungen. — Ill. Der ästhetische Gegenstand. Der Umkreis ästhetischer Gegenstände. Harmonie und Proportion. Rhythmus und Metrum. Größe und Grad. Anmerkungen. — IV. Der ästhetische Eindruck. Zeitverlauf und Gesamt- charakter. Die Sinnesgefühle. Die Formgefühle. Die Inhaltsgefühle. Anmerkungen. — V. Die ästhetischen Kategorien. Das Schöne. Das Erhabene und das Tra- gische. Das Häßliche und das Komische. Anmerkungen. Zweiter Hauptteil. Allgemeine Kunstwissenschaft. I. Das Schaffen des Künstlers. Zeitverlauf und Gesamtcharakter. Die Unter- schiede der Anlagen. Die Seelenkenntnis des Künstlers. Die Seelenverfassung des Künstlers. Anmerkungen. — II. Entstehung und Gliederung der Kunst. Die Kunst des Kindes. Die Kunst der Naturvölker. Der Ursprung der Kunst. Das System der Künste. Anmerkungen. — Ill. Tonkunst und Mimik. Die Mittel der Musik. Die Formen der Musik. Der Sinn der Musik. Mimik und Bühnenkunst. Anmerkungen. — IV. Die Wortkunst. Die Anschaulichkeit der Sprache. Rede und Drama. Erzählung und Gedicht. Anmerkungen. — V. Raumkunst und Bild- kunst. Mittel und Arten der Raumkunst. Die plastische Bildkunst. Die malerische Bildkunst. Die graphische Bildkunst.e. Anmerkungen. — VI. Die Funktion der Kunst. Die geistige Funktion. Die gesellschaftliche Funktion. Die sittliche Funk- tion. Anmerkungen. — Sachverzeichnis. sses Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart. ses Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Herausgegeben von Max Dessoir. I. Band. 37 Bogen. Lex. 1906. geh. M. 19.40. MH. Band. 1. Heft. 10 Bogen. Lex. 1907. geh. M. 5.— 2. Heft. 79 Bogen. ‘Lex. 1907. 3. Heft. 9 Bogen. Lex. 1907. geh. M. 4.60. Die Zeitschrift erscheint in Heften von acht bis zehn Druckbogen, wovon je vier einen Band bilden. Der Preis der Hefte wechselt nach dem Umfang, die Berechnung Der Sinn für die ästhetischen Fragen und die allgemeine Theorie der Künste hat in den letzten Jahren ebenso zugenommen wie die Zahl derer, die auf diesem Gebiet wissenschaftlich tätig sind; die Probleme besitzen einen Umfang und eine Tiefe, die ein besonderes literarisches Organ für ihre weitere Bearbeitung geradezu notwendig machen. Es ist ein Übelstand, daß sachlich Zusammengehöriges gegen- wärtig in viele und verschiedenartige Zeitschriften verzettelt wird, daß jeder, der sich mit ästhetischen und künstlerischen Dingen beschäftigt, die neuen Forschungen mühselig sich zusammensuchen und aus der Verbindung mit anderen Angelegenheiten lösen muß, daß nirgends durch Berichte ein umfassender Überblick über die so mannigfaltigen ästhetischen Untersuchungen geboten werden kann. Aus solchen Erwägungen heraus ist die obengenannte Zeitschrift begründet worden. Sie erscheint in Heften von S—ıo Bogen Umfang; jährlich werden etwa vier Hefte, die einen Band bilden, ausgegeben. Jedes Heft enthält außer einem systematisch geordneten Verzeichnis der neu erschienenen Bücher und Aufsätze eine Anzahl von Abhandlungen und Besprechungen. Nur wissenschaftlich wert- volle Beiträge kommen in Betracht, doch werden sie im Hinblick auf die er- hoffte Anteilnahme aller ernstlich Interessierten ohne übertriebene Gelehrtenhaftig- keit abgefaßt sein. Studien zur Geschichte der Ästhetik, experimentelle Unter- suchungen über die elementaren Verhältnisse, Analysen der ästhetischen Wirkungen, exakte Forschungen über die Kunst der Naturvölker und der Kinder, über das Schaffen des Künstlers und die allgemeinen Fragen der Poetik, der Musikästhetik und der Theorie der bildenden Künste, endlich auch inhaltreiche Erörterungen der Stellung, die die Kunst im geistigen und gesellschaftlichen Leben einnimmt — das wären die Arbeiten, die hier gesammelt werden sollen. Auf dasselbe, nur ungefähr umschriebene Feld beziehen sich auch die Berichte, ass Verlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart. asos Kulturgeschichte der Menschheit in ihrem organischen Aufbau. Yon. Julius Lippert. Zwei Bände. gr. 8°. 1886 u. 1887. geh. M. 20.-;; in Haibfrz. geb. M. 25.— Inhalt: Einleitung. — Die Lebensfürsorge als Prinzip der Kulturgeschichte. — Die Urzeit. — Ausblick auf die Verbreitung der Menschheit. — Die ersten Fort- schrittsversuche der Lebensfürsorge. — Die Zähmung des Feuers. — Die Fortschritte des Werkzeugs als Waffe. — Ausblick auf die Entwickelung differenzierter Geräte. — Fortschritte der Speisebereitung. — Fortschritte des Schmuckes und der Kleidung und ihr sozialer Einfluß. — Der beginnende Anbau und die Verbreitung der jüngeren Völker in Europa. — Das Nomadentum und die Verbreitung der Zugtiere. — Die Nahrungspflanzen im Gefolge der Kultur. — Die Genußmittel engeren Sinnes und ihre kulturgeschichtliche Bedeutung. Lipperts leitender Grundgedanke ist, die Lebensfürsorge als das trei- bende Agens in der Entwickelung der menschlichen Kultur anzusehen; er geht von dem Grundsatz aus: unsere Bedürfnisse sind unsere treibende Kräfte, und von diesem Ausgangspunkte aus deduziert er in streng logischer, von echt philosophi- schem Geiste getragener Weise den ganzen Aufbau unserer Kultur. In der geistvoll Klaren Einleitung zeichnet er uns den Urmenschen, so wie er sich uns noch im Wilden der heutigen Welt darstellt, als ein Wesen, welches beinahe ohne Phantasie und Ge- dächtnis auch den erschütterndsten Naturerscheinungen seiner Umgebung im ganzen fast gleichgültig gegenüberstand und die höchsten Glieder der Tierwelt nur um weniges überragte. Die an den Urmenschen herantretenden Anforderungen der Lebensfür- sorge weckten in dem Menschen Tätigkeiten, welche zunächst als unbewußt vorhan- dene »Reflexbewegungen« sich geltend machten, sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzten, sich mit der Zeit anhäuften und so den »vererbten Instinkt« bildeten. Die Lebensfürsorge oder der darwinische Kampf ums Dasein führte zur Erweckung, Entwickelung und allmählichen Vervollkommnung der Geisteskräfte des Menschen, welche uns so hoch über alle anderen Glieder der organischen Schöpfung erheben. Aus der Sorge für das Notwendigste entstand die Sorge für das Nützliche, dann für das Angenehme; aus Eitelkeit und wirklichem Bedürfnis entstand die Sorge für Kleidung, Nahrung und Obdach, aus der Not das sittliche und das Pflichtgefühl, die Schamhaftigkeit, die Rechtsbegriffe, die Idee der Religion, die Fürsorge für die Zu- kunft, der Mensch wurde erfinderisch und haushälterisch und er lernte sich den An- forderungen anbequemen, welche das einfache physische Dasein an ihn, den Wehr- losen und Schwächeren, machte, So entstanden in ihm Erinnerungsvermögen oder Gedächtnis, Ideen, Vorstellungen, Gewohnheiten, Begriffe, Sprache u. s. w. Dies ist der Entwickelungsgang der Kultur, wie ihn Lippert mit logischer Schärfe und in echt philosophischem Geiste im vorliegenden Buche schildert, und zwar in so streng logi- schem Gedankengang, in solcher Klarheit und Faßlichkeit, daß jeder Denkende und Strebsame auch ohne philosophische Vorbildung seinen Ideen und Darlegungen mit höchstem Interesse zu folgen vermag. Lipperts Buch ist ein Werk ersten Ranges, von höchstem Interesse und größter Lehrhaftigkeit für jeden Gebildeten. (Ausland 1886, Nr. 24.) > r . 3 5 5 Pr Fur m. ._ ar j e n ra RE lan P 8 ‘ ‘ Pl = Be 5 u 8 2 = ge . j P Mn u u - ’ R i . » ur i u ’ ' se „ N = . Pe u ‘ . j . r i e * * » . 4% > » . x \ 5 . 5 P “ au * * 5 i . = . 5 i j j j PR ö De - Pr AAN » u = ’ . j | . — u . R — 5 h u; B i ' ’ j . Fi .. ‘ { i ü EZ bu j ı r b & I & J 2 \ s - D y i « . : . % . ” ö D . j , ” fi ee in af j . . ns \ a j , | . u >. j Fi N - Fi ‘ A wi D 2 . 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