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Sihanis,

1817

er SCIENTIA VERITAS

£Quife von Frangoig SGefammelte Werte in fünf Bänden

Zweiter Band

Frau Erdmutheng 3willingsfühne

Bon

Louife von Frangois

Im Anfel-Berlag zu Leipzig

338 F825 IS18 vr

2 2321 Erfter Abſchnitt

Was paßt, das muß ſich ränden, Was ſich verfteht, fich finden, Was gut iſt, fih verbinden, Was liebt, beifammenfein.

Ä Rovalis. ein Vater ftand in dem Amte, das ich heute noch befleide, wie denn auch fein Bater und Großvater, das heißt unfere gefamte Gefchlechtsfolge, bie ſich die- felbe in den Wirren der Religionskriege verliert, in dem nämlichen Amte geftanden hatten.

Ein derartiges Pfarrerbe war in vielen ritterfchaftlichen Patronatspfründen meiner fächfifchen Heimat, wennirgend tunlich, Obfervanz. Der Pfarrfohn erhielt durch Ver⸗ mittlung des Gutsherrn in einer der drei Klofterfchulen des Kurfürftentumsd ein Alumnat; er bezog auf einer der beiden Randesuniverfitäten ein Stipendium, dad der Patron oder einer feiner Sippe zu gewähren hatte, feßte ſich allda befcheidentlicd, an einen Freitifch im Konvikt, begleitete darauf feinen Sunfer, wenn ed einen gab, auf hohe Schulen und Reifen, trat ald Subftitut feinem Bater zur Seite und wurde, oft erft bei ergrauendem Haar, deflen Nachfolger, fobald die Mutter das enge Witwenhaus der Kommune bezog.

Alſo war ed auch in der Familie der Bleibtreu die Ordnung gemefen, und, wie mid) duͤnkt, zum Segen aller drei: ded Dominiums, der Gemeinde und der Pfarrei. Wo nad) Gefeg und Sitte die beiden erften unwandel⸗ bar an eine Scholle gebunden waren, follte auch die dritte nicht das Neft eined Wandervogeld fein. Einer gab dem anderen gleidyfam einen Faden in die Sand,

an welchem er in ererbter Liebe weiterfpann. Und weil RR. 1.

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6 Frau Erdmuthens Zwillingefähne

auch ich dieſe heimatliche Liebe in meinem Lebenserbe empfangen hatte, darum habe ich mich nie einen Augen⸗ blick aus jenem Heidewinkel herausgeſehnt, deſſen wei: terer Umkreis unter den deutſchen Gauen am wenigſten eines gedeihlichen oder gar reizenden Rufes genoß.

Habt ihr etwa auf einer Reiſe von Dresden oder Leip⸗ zig nach Berlin das rechte Elbufer betreten, ſo wandert ihr meilenweit in dem muͤrriſchen Schweigen des Kiefern⸗ waldes, der alldort Heide heißt. Muͤhſam ſchleppen ſich die Fuͤße durch eine bodenloſe Sandſchicht, mit braunen, toten Nadeln uͤberſtreut; in gleicher Höhe ragen die urs alten Stämme, von weißgrauen Flechten überzogen; die ſchwaͤrzlichen Kronen verbreiten einen mißmütigen Däms mer, im Winter ohne Licht und im Sommer ohne Schat⸗ ten; die Fahlen Reifigäfte neigen fi zu Boden wie Ges rippenarme. Da ift fein Hügel, kein Unterholz, fein Wechfel der Farbe und Geſtalt, faum dann und wann in einer Lichtung ein duͤrftiger Birkenbuſch; felten ein Wäfferchen, das eine ſchmale Moos⸗ oder Rafenfchicht beriefelt; da findet ihr dem Auge feine Labe und Feine dem lechzenden Gaumen ald die herbe blaue oder rote Heidelbeere.

Wo aber von Zeit zu Zeit der Menfch mit Art und Spaten dieſe Eindde durchbrochen hat, da ftoßt ihr auf dürren Sandader, mit faum fußhohen, einzeln ftehenden Halmen ded Haferd oder Buchweizens beftellt; zwifchens durch auch wohl auf ein überftaubtes Kartoffels oder Nübenfeld. Himmel und Erde, Natur und Kultur, alles grau in grau. Endlich auch ein Dorf oder Fleden mit halbverfaulten Strohdächern über den von Lehm zus jammengeflitfchten Hütten, mit ftehenden Pfügen und

Erfter Abfchnitt 1

mageren Dunghaufen vor jeder Tür; zwifchen wandel⸗ baren Planfen klapperduͤrres Weide: und Zugvieh, hart arbeitend gleich dem Menfchenfchlag, der von Gefchlecht zu Geſchlecht in fauerem Schweiße ſich pladt, das Fleck⸗ chen Erde, auf welches die Ungunft ded Himmels ihn gefegt hat, den Nachfahren um kaum ein Werkliches wohnlicher und nährender zu hinterlaflen.

So der Wanderer, und nicht der grieögrämlichfte feiner Art, wenn er zur Zeit, da ich jung war, auf der noͤrd⸗ lihen Grenzmark bed Kurfürftentums gleichfam das Fußgeftell der berüchtigten Sandbüchfe des heiligen römifchen Reiches deutfcher Nation betrat. Wie anders aber wir, die wir fie Heimat nannten! Feierlich ges ftimmt, wie die Bewohner am nordifchen Dünenftrand, empfanden wir ein Ewiges in diefem unüberfehbaren, ernften Einerlei, und wenn die Windsbraut durch die Kiefernwipfel rafte, uralte Baumriefen fällte wie dürre Splitter, da beugten wir und vor der Gewalt der götts lihen Natur und haben die Hand bed Meifters in diefer feiner rauhen Wertitatt nimmer vermißt.

Dann aber die Föftlichen Stunden, in welchen auch unfer Simmel und unfere Landfchaft Tächelten, wie danfbar genoffen wir fie juft, weil wir fie zählen konn⸗ ten. Sa, heute, nach länger als einem halben Sahrhuns dert, fpüre ich noch den Wonnefchauer, der mich übers riefelte, al8 ich nach der erften Fangen Abwefenheit wieder meine Heide betrat. Auf einem Fleckchen Erde, das von Natur ein gefegneter Garten it, war ich vom Knaben zum Iüngling geworden, der Geift getränft mit Bildern aus einer hefperifchen Götter: und Menfchen» welt. Nun raufchte mein Wald im Abendwehen; das

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Summen der Snfeltenfhwärme Fang mir wie Muſik, ich ſchluͤrfte die würzigen Harzduͤnſte, ald wären es Drangenbüfte, und die Sonne, deren Ießte Strahlen farminrot durch die fchlanfen Schäfte gligerten, oben die weißen Flechten verfilbernd, unten die braunen Na- dein übergoldend vor der Dichtergruft am Pofilipp würde fie mir nicht glorreicher gefunfen fein.

Und wie die Heide nun immer mehr und mehr in unferen Forft überging; wie die Droffelfchwärme, für den Winterzug gefammelt, fi in den Wipfeln zur Nachtraft niederließen, Hirfche und Rehe mich munter umfprangen, wie endlich, vom Erlenbach durchficert, die MWaldwiefe fich öffnete, die meinen Ort im Halbkreis umrahmt, wie der fpiße Kirchturm, das Schieferdach des Edelhofed auftauchten und endlich dad alte, gute Mond- geficht diefe Fleine Welt mit ftillem Glanze überzauberte: da jubelte ich wie das Kind vorm heiligen Chrift und hätte Heide und Sandfeld, famt jeglicher dürren und ſchmutzigen Kreatur, die auf ihr weidet und wandelt, an mein Herz drüden mögen.

Der Ort, deffen Kirchturm ich ragen fah, heute fich ftolz eine Stadt titulierend, damals war er ein Fleden, will fagen nicht mehr, fondern weniger ale ein Dorf, in welchem ſich eine anfäffige Bauernfchaft gefammelt hat. Mühfam erholt von der Verwuͤſtung der Religions⸗ friege in den beiden früheren Sahrhunderten, hatte der der fieben Sahre jüngft von neuem die befcheidene Wohl- fahrt zerftört. Das weitläufige Areal, großenteils Forft, eignete faft ohne Ausnahme dem Gutsherrn; die Be⸗ wohner waren Fröner ded Hofes, denen faum eine Handbreit Scholle für den eigenen Nutzen übrig blieb.

Erfter Abſchnitt 3 Neben dieſen Armlingen hockte und hungerte von Vater auf Sohn eine Weberanſiedlung, deren Grundſtock, wie ſchon der Name des Ortes und einiger ſeiner Nachbarn andeuten, auf eine flamlaͤndiſche Einwanderung zur ſaͤch⸗ ſiſch-askaniſchen Zeit zuruͤckgefuͤhrt worden iſt. Der zuchtloſe Kriegszuſtand hatte dem Forſtfrevel Tor und Tuͤr geoͤffnet, waͤhrend die Fridericianiſche Regie zum Schmuggel uͤber die nahe preußiſche Grenze verlockte. Wie ein Maͤrtyrer kaͤmpfte mein Vater gegen dieſe ſitt⸗ liche Verwilderung; denn nichts iſt dem Volke ſchwerer begreiflich zu machen, als daß Betrug gegen den Staat Suͤnde iſt ſo gut wie der gegen einen einzelnen Menſchen.

Die Pfarrſtelle, heute die reichſte der Ephorie, war ſchon damals auskoͤmmlich dotiert und wuͤrde auch in jenen boͤſen Zeiten die Verſorgung einer zahlreichen Fa⸗ milie geſtattet haben. Wir waren ihrer acht; eines je um einen Jahrgang juͤnger als das andere. Aber ein paar zehrende Maͤulchen werden in einer laͤndlichen Wirtſchaft nicht allzuſcharf gezaͤhlt, zumal wenn, wie bei uns, die beiden Hauptſtuͤcke haͤuslicher Ordnung durch verſchiedene Betonung ſich gedeihlich ergaͤnzen. Denn mahnte der fromme Herr Vater: „Bete!“, klein⸗ laut hinzuſetzend: „und arbeite“, ſo heiſchte die fleißige Frau Mutter: „Arbeite!“, und das „Bete“ lallte nur ſo eben hinterdrein.

Weil aber der fromme Vater ein Mann, dem das ſelige Geben eine Naturnotwendigkeit war, ein Genuß, den herrlicherweiſe dad Wort ſeines Meiſters zum Geſetz er- hoben hatte, und weil er nach Gottes Willen als Pfarr⸗ herr in einer Gemeinde ſtand, die der handgreiflichen Beweiſe fuͤr ſeine barmherzigen Lehren bedurfte, darum

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famen wir wohl aus von Tag zu Tag, aber zu einer Sparbüchfe für die Zufunft fonnte ed die praftifche Pfarrmutter nicht bringen. „Jedwede Lage ift eine Bes rufung zu unferem Heil und anderer Dienft”; es vers ging fein Tag, an weldem, in Freude oder Leid, ung diefer vaͤterliche Wahlfpruch nicht ind Gedächtnis ges rufen worden wäre.

Ich war der Ältefte von den achten und in einer Aus⸗ nahmsöftellung, deren Vorzüge ich mir fonder Scham ge- fallen ließ, wie die jüngeren fie fonder Neid gewährten, denn nicht der Perfon, dem vorbeftimmten geiftlichen Erben famen fie zugute. Mir folgten vier Schweltern; ein eines brüderliches Dreiblatt: Gottlieb, Gottlob, Gotthold ſchloß die Reihe. Sch hieß Gottfried, wie der Bater, und mir allein wurde der unverfürzte Namens: lang zuteil, während die anderen, Zeiterfparnie halber, ſich die fchöne Anfangsfilbe ftreichen laſſen mußten. Für mich allein wurde der abgetragene väterliche Kafı- mir und Manchefter kunſtgerecht aufgeftugt, mir allein von Mein auf das Haar in ein Zöpfchen zufammengefloch- ten: alle anderen ſchor die mütterliche Hand rattenfahl und hüllte fie in hausmachenden Drell von naturalifti- (her Form und Farbe. Sie ftanden unter der Zucht der Mutter und in der Lehre des Schulmeifterg; ihre Zufunft war eine Werfftatt, ein Pachthof, dag Seminar und nur gelegentlicdy, durchaus nicht obligatorifch, ein Alumnat und Plak im Konvift. Die Pflichten des Seel- forgerd und die Studien des Gotteögelehrten ließen dem Bater nicht die Muße, fich der Heranbildung feiner jugendlichen Herde zu widmen.

Für den Erben im Amte dahingegen durften, ja mußten

Erſter Abſchnitt 5 diefe Studien und Pflichten um reichliche Tagesftunden verkürzt werden. Mein Lehrer von der Fibel ab war der teure Dann felbft, er allein. Als künftigen Pors tenfer führte er mich ftrifte die Wege, durch welche er fih felber einft gewunden hatte.

Wie aber die beftbereitete Koft abftändig wird, wenn: fie einem allein gereicht wird von einem allein, fo teilte, zum Anreiz für Lehrer wie Schüler, ſich in unfer tägliches geiftiged Mahl zwar nicht ein Kamerad -, aber doch eine Kameradin, die gar mandye harte Nuß geſchickter zu fnaden verftand, ald der Präparand für dag priefters liche Amt. Diefe Kameradin war die Tochter unferes Patrond, das Feine Freifräulein Erdmuthe von Fels.

Und fo trete ich denn mit diefem Namen in den Kreis, deffen Schickfal einen romantifchen Faden in mein ein- fached Leben gewoben hat. Die Hand ded alten Mannes zittert. Wird es feine Seele befreien, wenn die nimmer ruhende Erinnerung zur Enthuͤllung wird?

Ich weiß nicht, ob das Gefchlecht derer von Fels in anderen Zweigen ale in diefem fächfifchen etwa noch heute blüht. Unfer Freiherr Hand Herrmann fümmerte fih nur um den leßteren, hielt fich für deſſen einzigen Bertreter und die Burg im Heidewinfel für feinen ur- prünglichen Sig. Das Gut, ein Allodium, war feit zwei Sahrhunderten um mehr ald dad Doppelte an- gewachſen; an der Grenze feined Areale hatte ein Klo- fter geftanden, der Sage nach von einem Bruder des Burgherrn gegründet, und waren diefer weltliche und geiftliche Herrfcherfig während des ganzen Mittelalters die gebietenden meilenweit in der Runde geblieben. ‘Der legtere ftürzte infolge der Reformation; das Kloftergut

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wurde eingezogen, ber Klofterbau während ber Religions: friege beftenteild zerſtoͤrt.

Burg und Burgherr flanden auf feiteren Füßen; ja, e6 glücte dem legteren, einem tapferen Kämpen für die gereinigte Lehre, den fäfularifierten Grund durch Kauf und Schenfung der Familie, von der er ftammen follte, wieder anzueignen. Daß ritterfchaftliche Dominium be⸗ ftand demnach aus zwei zufammenhängenden, aber felb- ftändigen Anteilen, Burghof und Klofterhof genannt; weil der Stamm der Fels feit Öenerationen jedoch regel: mäßig nur einen Sproffen, und zwar einen männlichen, getrieben hatte, fo war das Doppelgut in der nämlichen Hand geblieben, die Bewirtfchaftung auch lediglich vom Burghofe aus betrieben worden.

Zum erften Male fah ber gegenwärtige Namensträger eine weibliche Blüte dem alten Stamme entfeimen, und ba fie, wie früherhin die männlichen, eine einzige blieb, wird man unferem edlen Patron einen heimlichen Miß- mut nicht übelnehmen. Er hatte bie Gattin, die er ge- mäß feiner Stammes⸗ und Sinnedart gewählt, von Herzen geliebt, nichtödeftoweniger gehörte er aber zu den Erdenherren, welche dad Regiment allein für das ftarfe Sefchlecht in Anfpruc; nehmen und dem ſchwachen feine höhere Beſtimmung einräumen, als ihre Gebieter ausreichend mit Erben zu verforgen.

Der frühe Tod der Dame vor ber Erfüllung ihrer wefentlichften Lebensaufgabe bewirkte indeffen einen be- deutungsvollen Umfchlag. Die Kamilienchronif wußte von feinem Feld, der zu einer zweiten Ehe gefchritten wäre, und auch unfer Kerr dachte nicht daran, auf biefem natürlichiten Wege feinen Namen in die Zukunft

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zu leiten. Er liebte die Mutter weiter in dem Kinde; ſein Dichten und Trachten verſenkte ſich allmaͤhlich in die Pflege dieſer fremdartigen Knoſpe an dem alten Baum; ja, er gelangte dahin, in dieſer Wandlung eine ſegensreiche Fuͤgung zu verehren: eingeimpft auf einen fremden Stamm, getraͤnkt mit friſchem Safte, ſollte das edle Reis von neuem und um ſo kraͤftiger erbluͤhen. Sah er denn nicht an hoͤchſter Stelle, daß ein uraltes Geſchlecht glaͤnzend, wie die Sonne, nach einem wolken⸗ duͤſteren Tage zur Ruͤſte ging? Die Tochter, in welcher geiſtig und leiblich die Grundeigenſchaften ſeiner Sippe ſich zur Vollkommenheit entwickelten, ſollte das Muſter⸗ bild einer regierenden deutſchen Edelfrau werden, wie die letzte Habsburgerin das einer regierenden deutſchen Fuͤrſtin war.

Denke ich zuruͤck an unſeren Herrn von Fels, ſo ſteht er vor mir, wie der aus dem Lande Uz: „ſchlecht und recht, gottesfuͤrchtig und meidete das Boͤſe.“ Ein Ehren⸗ mann, dem ja ja, nein nein hieß; auch eine ritterliche Natur, trotzdem er niemals das Schwert gegen einen Feind gezuͤckt; Geſtalt und Habitus nach dem Urbild eines Germanen, ohne einen Tropfen jener ſorbiſchen Beimiſchung, welche dem oberſaͤchſiſchen Stamme die bewegliche Spezialitaͤt verliehen haben ſoll. Eine gewiſſe Schwerfaͤlligkeit und Zaͤhigkeit dahingegen nannte er ſcherzweiſe ſelber, eingedenk der hollaͤndiſchen Einwan⸗ derung, „ſeine flaͤmiſche Ader“. Er liebte derartige Kombinationen und pflegte zu ſagen: „Willſt du einen Menſchen kennen, mußt du ſeinen Stammbaum kennen.“

Einfach, nuͤchtern, verſtaͤndig, wie er war, hatte er ſich ſchon in der Jugend dem erſchoͤpfenden Hoͤflingstreiben

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fern und als Schugherr ruhig auf feiner Scholle ges halten. Auch jeßt, wo ein Regiment feiner Sinnesdart gemäß die hundertjährige Wüftlingsherrfchaft auf und neben dem Throne abgelöft hatte, blieb er, bie auf bie Gelegenheiten einer aufrichtigen Huldigung, ber alten Burg im Heidewinkel treu, bemüht, den durch die Krieges zeit arg gefchädigten Grund für fruchtbarere Ernten vor; zubereiten; bi8 denn im Verlauf die Heranbildung feiner Tochter zu dem nämlichen Berufe das große Ziel ſeines Lebens wurde.

Er erzog fie aus diefem Grunde von Haufe aus anders, als Töchter ihres Standes, zumal einzige Erbtöchter, er- zogen wurden, widelte fie nicht in Seidenpapier, vers ſchmaͤhte die Kunftfertigfeiten des weiblichen wie bie Berfeinerungen des refidenzlicdyen Tageslaufes, fondern hielt fie fletig unter den Iandfchaftlichen und wirtfchaft- lichen Eindrüden ihres künftigen Regierungsbezirks. Eine franzöfifche Gouvernante mußte ſich darauf be⸗ fchränfen, die nun einmal gültige höhere Umgangs⸗ fprache im Kaufe zu pflegen; für alles, was Unterricht hieß, forderte er einen Mann, und zwar vor allen an- deren den heimifchen Mann, mit welchem ein von den Vätern ererbted Vertrauen ihn von Kindeöbeinen an verband.

„Richt? ‚ihr‘ den Kopf wie deinem Portenfer,“ fagte er zu meinem Vater. „Es ift aud) eine alma mater, vor der ‚fie‘ eined Tages beftehen fol.“

Und fo wurde auf der Gelehrtenbant des Pfarrhaufes bis zu Ovidius und Dezimalbrücen die weltliche Erbin des geiftlichen Erben Kamerad.

Wenn beide nun aber nad) den faueren Stunden der

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Arbeit auch die jüßen der Freiheit ald Kameraden treu zueinander hielten, fo war dies gleichfalls nach unſeres Herrn Sinn, denn: ‚fie‘ wird eined Tages mehr mit masculina al& mit feminina umzufpringen und einen Freund nötiger als eine Freundin haben.

Das, was man Tändelzeug nennt, wurde für das Burgfräulein fo wenig wie für die Pfarrfinder beliebt und von jenem fo wenig wie von diefen vermißt. Denn, wenn unfere Tinen und Phinen die Fleinen Brüderchen warteten, wenn der Lieb und Lob Gänfe und Ziegen auf den Anger trieben oder wenn fie Reifig und Zaun: zapfen fammelten, Erdäpfel puddelten, Winterd Holz fpalteten, Löffel und Quirfe fchnigten, fo habe ich nie- mals bemerft, daß fie fih um ihr Kindheitsrecht, um Wicelpuppe und Stedenpferd betrogen fühlten. Das Kind arbeitet ja immer, wenn es fpielt, und ed kommt nur auf eine Methode wie die der anftelligen Pfarr; mutter an, um ihm die Arbeit zu einem heiteren Spiel zu machen.

Student und Studentin trabten während deffen Sand in Hand durch Feld und Flur, durch Scheuer und Stall; am liebſten aber in Winter: und Sommerzeit, bei Regen und Sonnenfchein über das Klofter hinaus in die Felsſche Heide. „Sie muß fich in ihrer Schagfammer audfennen lernen”, fagte unfer Herr. Und fie lernte fich darin aus⸗ fennen, unter Förftern und Wildhätern, Holzfchlägern und Kohlenbrennern, unter den Armen, die Reifig und Beeren fammelten, unter Hirfchen und Rehen, Schnepfen: und Droffelfhwärmen, auf Weg und Steg. Sie wußte jede Schonung, jeden Baum, der reif war für Die fällende Art.

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Nun muͤßt ihr aber, ihr Unbekannten, denen dieſe Er⸗ innerungsblaͤtter dereinſt in die Haͤnde fallen koͤnnten, unter meiner kleinen Schul- und Waldfreundin beileibe nicht ein wildes Hummelchen vor Augen haben, keinen Emil mit langen Zoͤpfen, keine angehende Jaͤgerin und Amazone, oder wohl gar die gelehrte Frau, wie ſie in der Fabel ſpielt. Mein Muthchen war von Natur das ſittigſte Maͤgdlein, das ihr euch malen koͤnnt; echt und recht eine Fels, reines Sachſenblut, verſtaͤndig, ohne Traͤumerei, ernſthaft, eine kleine große Dame, doch die Freundlichkeit ſelbſt. Vor allem aber entfaltete ſie ſchon als Kind jenen erſten Reiz des Weibes, den ich nicht deutlicher als den muͤtterlichen zu nennen weiß. Sie ſpuͤrte jedes Beduͤrfnis der Kreatur und wußte Hilfe fuͤr alles Fehlende und Verkommende. Ein wurzelkranker Baum, ein lahmendes Tier, ein ermatteter Arbeitsmann entging ihren Blicken ſo wenig, als ein durchbrochenes Gehege, eine wandelbare Felge, ein unſauberer Milch⸗ eimer, eine ſtumpfe Egge oder Axt. Dabei hatte ſie eine linde, geſchickte Hand, ein mildes und doch feſtes Wort, einen klaren Schluß. Jedwedem, der ihr nahe kam, wurde wohl. Ihr Kamerad aber fuͤhlte bei jedem Blick und Laut, daß ſie anders war, als die Beſten ihrer Art. Und die Beſten, wo haͤtte er ſie ſuchen ſollen, als unter den Knoͤſpchen, die neben ihm dem Pfarrgehege ent- fproßten? Sie blühten weiß und rot, die Zöpfe glänzten goldig und die blauen Augenfterne blidtten treu wie die meines Muthchend vom Burghof; groß und fräftig waren fie nicht minder; ihre Tränen ftrömten noch reichlicher bei anderer Weh, und das Lachen bei anderer Luft lang noch viel heller: warum war mein Muthchen nun dennoch

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andere fchöner oder befler nannte ich ed nicht - warum fchien fie mir anders als die lieben Tinen und Phinen daheim? Ich hätte diefe Frage mir nicht bes antworten können; aber ich ftellte mir diefe Frage auch nicht. Sch fand ed in ber Ordnung, daß das Muthchen vom Burghof anders war, als die Tinchen und Phinchen in der Pfarre.

So war ich vierzehn Jahre alt geworden; fie fünfzehn und einen Kopf größer ald ich. Zum Winter gedachte unfer Herr mit ihr zum erftenmal nadı Dresden zu gehen und ihr den Schliff geben zu laſſen, deſſen eine Geld bedurfte, wenn fie ihrer Kurfürftiin die Hand zu füffen hatte. Für die nämliche Zeit war meine Aufs nahme in Pforta anberaumt. Zuvor follten wir nod) gemeinfchaftlid; das erfte heilige Mahl von väterlicher Hand empfangen.

„Laß fie ihr Ehriftengelübde mitfammen fprechen, wie wir ed mitfammen gefprochen haben, daß fie ſich werben, was wir und geworden find, mein Freund,” hatte ber Freiherr gefagt und nicht nachgelaffen, bis mein Vater das Bedenken überwunden, feinen Erben außerhalb feiner Kirche und feiner Gemeinde zum Chriften einzufegnen.

Unfere Kirche, vor Jahrhunderten eingeäfchert und nur als bürftiger Holzbau wieder hergeftellt, war nebft der Pfarre abfeiten des Fleckens inmitten der beiden Güter gelegen. Nordwärts zog der Pfarrgarten fich bid an die Umhegung der Burg, füdwärts der angrenzende Gottes⸗ ader bis an bie Heide, nur durch die mit uralten Ulmen bepflanzte Fahrftraße von der Klofterruine getrennt. Selten habe id, für die Stätte der Bergänglichkeit einen

anfprechenderen Hintergrund gefunden ald diefe wald» xx. 9

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umhegten Trümmer, die nur eines Felfenpoftamentd und etwa eined MWafferfpiegeld bedurft hätten, um neben dem Altertümler audy den Romantifer herbeizuloden. Eine Fleine Kapelle, das hohe Chor der einftigen Klofterfirche, war noch leidlich erhalten und würde einen trefflichen Abſchluß für einen Neubau abgegeben haben.

Auch der Burg hatte das Alter mitgefpielt, und unfer Herr fchon feit dem Frieden fidy mit dem Plane ges tragen, den fchwerfälligen Steinfaften mit feinen uns heimlichen, Tichtlofen Winkeln wohnlich auszubauen. Allcd Neue indefjen ging, wie die Saat im ſchweren nordifchen Boden, langfam in unferem Herrn auf, dann aber, um tiefgewurzelt und fräftig beftodt den Stürmen ſtandzuhalten. Eo waͤhrte ed denn auch viele Jahre, bis jener Plan, dann jedoch nicht ald ein Ausbau, fondern ald Neubau zur Vollendung kam. Die Wälle waren geebnet, die Gräben zu Gärten ausgefüllt, die riefigen Quadern, welche in unvordenflicher Zeit, Gott weiß wie und woher, für die Burg im Heidefande herbeigefchleppt worden waren, gaben den Untergrund für einen Herrenfig: einfach, folide, ftattlich und behag⸗ lich wie das Gefchlecht, das darin Plag nehmen follte. Der Name Burg verfchwand und der „dad Schloß“ ers ftand in der Leute Munde. Die wenigen Freunde des Altertums ſchrien Zeter, aber die vielen Freunde der Gegenwart fühlten ſich heimifch in den neuen Räumen,

Das Erdgeſchoß enthielt reichlich Gelaß für eine Familie, die eined Tages ftärfer fein durfte, als die jegeitige; der Oberbau Gafts und Feltgemächer, unter denen der große Ahnenfaal in der gefuppelten Mitte einen gar vornehmen Eindrud machte. Sahrhunderte

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hinab zog ſich die Reihe der Bildniffe eines Fräftigen und felber in den Frauen wefentlic, gleichgearteten Ges fchlechte; feine beiden erften proteftantifchen Bekenner, vielbewundert, waren von der Band der Cranachs Bater und Sohn. Eine Familientradition, welche die malenden Bürgermeifter der unfernen Lutherftadt und die ritters lichen Burgherren von Feld zu Seelenfreunden machte, trägt eine natürliche Glaubwürdigkeit in fich. Mit dem Pinfel und mit dem Schwert haben beide feit zu ihrer Sache geftanden.

Die Ahnenreihe, fo zahlreich fie war, füllte nur eine ber beiden Langfeiten ded Saaled, die andere blieb dem erhofften Fünftigen Oefchlechte vorbehalten. Die Schmals feite, dvem Kaupteingange gegenüber, bildete ein Halbs rund, in welchem die zwei Geftalten unferes Herrn und feiner vielbetrauerten Gemahlin nur noch für die der Tochter einen Raum übrig ließen. Denn als Befchließerin der alten und Begründerin der neuen Reihe müffe ‚fie zweimal vorhanden fein, meinte unfer Herr.

Unfer Herr war von einem Typus, welchen auch ein mittelmäßiger Künftler nicht gar leicht verfehlen konnte; er brauchte nur feinen Herrn Bater oder Großvater abs jufonterfeien und ihn modifch mit Zopf und goldgeftichtem Seidenrod auszuftatten, und jedermann würde gerufen haben: „Unfer Herr!” Seine Frau Gemahlin, die eine anmutsvolle Dame gewefen fein foll, hatte der Dresdner Hofmaler mit anfchaulicher Würde im Brautftaate dar- geftellt. Das Perlenkroͤnchen, ein Erbftüd der Fels, thronte über dem Myrtenkranze auf dem hochgepuderten Toupetz den weißen Brofat meinte man raufchen zu hören, wenn man zu der Trägerin in die Höhe blidte,

20 Srau Erdmuthens Swillingeföhne

Unter diefen beiden Bildern war am Michaelidtage 1780, meined Muthchens Geburtsfefte, ein Altar aufs gerichtet, und vor demfelben fnieten die beiden Erben von Burg und Pfarrei zur feierlichen Erneuerung ihres Ghriftenbunded. Der neue Schloßbau wurde mit diefem Akte eingeweiht, eine zahlreiche Gefellfchaft des Lands adels und dad gefamte Gutsperfonal waren ihres Treu⸗ ſpruchs Zeuge. Sie wie er fprachen ihr Bekenntnis in heiligem Ernft; aber feine Stimme zitterte in der fremd⸗ artigen, ftolzen Umgebung, während die ihre hell wie eine Glocke den Raum durchhallte, in welchem Ahnen, Gleiche und Diener die Blicke auf fie richteten. Als wir und von den Knien erhoben, um die Gluͤckwuͤnſche der Verfammlung entgegenzunehmen, wagte ich zum erften- mal die Augen zu meiner Schwefter in Chrifto auf- zufchlagen. Wie von einem Blige geblendet, ließ ich fie aber wieder zu Boden finfen. Denn ald id) fie fo an meiner Seite ftehen fah im fchwarzen, ſchleppenden Gros de Tours, Fopfeöhoch mid; überragend mit dem funtelns den Erbfrönchen auf dem Toupet, zu welchem man heute zum erftenmal die reichen Flechten aufgetürmt und ihren goldigen Glanz mit dichtem Puder gedämpft hatte, da durchzuckte mich die Kellficht, daß mit dem Belenntnig, welches die Menfchen zu Brüdern machen foll, unfere Geſchwiſterſchaft abgefchloffen, daß fie eine andere für mich, ich ein anderer für fie geworden fei. Bon diefem Augenblice an duzte ich fie nicht mehr und nannte fie nicht mehr mein Muthchen, jondern mein Fräulein Erdmuthe.

Daß heißt, ich nannte fie fo in Gedanken; vernehmlich habe ich den neuen Würbdentitel nicht ausgeſprochen. Wir fapen mit gefenften Blicken nebeneinander am

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Ehrenplatz der feſtlichen Tafel, die dem Weiheakte folgte; wir redeten kein Wort weder mitſammen, noch mit anderen, beruͤhrten keinen Biſſen nach dem heiligen Brot und nippten nur zum Schein, als der Freiherr den alten Felsſchen Humpen auf das Wohl der jungen Chriſten leerte. Nach der Tafel trennten wir uns mit einem ſtummen Haͤndedruck.

Noch bei Sternenſchein am anderen Morgen wanderte ich, das Raͤnzchen auf dem Ruͤcken, durch unſere Heide der naͤchſten Poſtſtation entgegen. Der Vater gab mir das Geleit.

„Jedwede neue Lage iſt eine neue Berufung zu unferem Heil und unferer Nächften Dienft”“, mit diefem feinem täglichen Wahrſpruch riß fih der teure Mann aus meinen Armen. Unter ftrömenden Tränen fletterte idy in die gelbe Kutfche, die mich aus dem Schuge des Vaterhaufes unter den der alma mater führen follte.

Die väterliche Vorfchule bewährte ſich. Ich überholte im Antrittderamen die unterfte Klafle; verlief alles, wie es verlaufen follte, durfte ich in fünf Jahren ftatt ſechs die Straße, auf der ich herangezogen war, zurüdziehen und mich in den KHörfälen der ehrwürdigen Lutherſtadt niederlaffen. „Solch ein wohlbeftallter Unterfetundaner koͤnnte mein Fräulein Erdmuthe nun aud fein,” feufzte ih, als ich mid, zum erftenmal in dem Schlaffaale der alten Pforte zur Ruhe begab. „Ach wäre fie doch ein Junker und noch mein Kamerad!“

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In einer der englifchen Klofterfchulen, denen die unfrige

in mancher Hinficht ähnlich gebildet ift, wird an einem

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beſtimmten Fruͤhlingstage in feierlichem Aktus eine lateiniſche Hymne geſungen, welche die Suͤßigkeit des Heimlebens preiſt.

Die Sage fuͤhrt dieſen Jahrhunderte alten Brauch auf einen Schuͤler zuruͤck, der aus Sehnſucht nach dem Vater⸗ hauſe an gebrochenem Herzen ſtarb. Er war ſeit ſeinem Eintritt in die Schule nicht wieder heim geweſen und hauchte den letzten Seufzer aus, nachdem er den Refrain der Strophe: „dulce domum“ in eine Baumrinde ein⸗ gegraben hatte.

Die Hymne Contiamus ift meiner Zeit im Shore ber Pförtner nicht gefungen worden; aber auch in der deut⸗ ſchen Klofterfchule hat es einen Zögling gegeben, weldyer in feiner fünfjährigen Lehrzeit die füße Heimat nicht wiederfah. Eine mehrwöchentlihe Sommervafanz war jener Tage noch nicht eingeführt, und für kurze Feſtferien wurde eine Reiſe von der füdlichften zur nördlichften Spitze des Kurfuͤrſtentums der Zeit und der Koften nicht verlohnend erachtet. So ift der Alumnus Bleibtreu mehr denn einmal der einzige zwifcdhen den alten Mauern zurücdgeblieben, hat wohl häufig den Nebel der Sehn⸗ fucht über feinen Augen gefpürt, hat wohl manchen teuren Heimatsnamen in junge Baumrinden eingefchnigt, aber dag Herz ift ihm keineswegs gebrochen, im Gegen⸗ teil, ed hat ſich ihm gefeftigt und gefüllt.

Denn ed war eine reihe Sand, welche feine zweite Mutter dem armen Heidefohn bot, und wenn er an der rauhen Stchrfeite fid) dann und wann ein wenig wund gerieben hatte, ei nun, half denn da nidıt der Wahr: ſpruch, der aus jeder Not eine Tugend madıt?

Wenn Winterd lange vor Tagesgrauen die Glode

Erfter Abſchnitt 23

wecte, während der Sandmann noch hart auf die ſchweren Lider drüdte, oder wenn am Abend bei dem einzigen Talglichte für den Tifch von ihrer zehn die ents zündeten Augen zuftelen über den feinen Lettern der alten Autoren, dann dadıte er an den Mann fdhmwers erfämpfter Wiffenfchaft, feinen Vater, und wurde wach. Wenn higköpfige Kameraden an dem friedfeligen Pedanten ihre Weütchen fühlten, ihm den Rüden bläuten, ihn kopf» über in den Waflertrog ftürzten, den Fuchs mit ihm prelften, das heißt ihn im Bettlafen aufs und nieder: ſchnellten, da dadıte er an den Wann der Liebe, wieder feinen Bater, an all den Hohn und Unbill, die er in feiner armen Schädhyergemeinde erbuldete, und wurde froh. Aber auch, wenn ihm auf den Tafeln des Zoͤnakels die Fleifchtöpfe von Ägypten entgegenlachten, dann dachte er an die magere Spittelfuppe daheim, dachte daran, daß auf die fetten Sahre die dürren folgen würden, auf den Kloftertifch der Zifterzienfer dad reformatorifche Konvikt, und er fchob den dritten Kloß, den er fidy zugelangt, auf den Teller feines Landsmanns Guſtel Hecht, der von diefem allfeitigen Teibgericht, zumal wenn ed mit „Schars wenzen” (fauren Kaldaunen) begleitet war, ein Dugend ohne Befchwernis in fid, aufzunehmen vermochte.

Daß mir im übrigen zu herzbredyenden Stimmungen gar nicht einmal die Zeit verblieb, wird jedem billig Denfenden einleudhten, der in dem nachfolgenden Briefe die mütterlichen Vorfchriften mit den väterlichen in Ver⸗ bindung bringt. Es ift der einzige Brief, die Waſch⸗ zettel ungerechnet, den die fleißige Frau Mutter mir in die Fremde gefchrieben hat, denn „ein Wort fo viel wie taufend“, das war auch eine von den weifen Regeln,

> Frau Erdmuthens Swillingsfähne

nach welchen fie ihr Tagewerk eingeteilt hatte. Der Brief lautet:

„Du ftudierft anjeßo aufd Amt, mein Sohn, und das wirft Du fertig bringen. Denn warum? E38 liegt Dir im Geblät. Aber Ämter und gebratene Tauben fliegen nicht in der Luft. Erhält der Allmächtige den Herrn Bater nad) dem Laufe der Natur, wie ic, felbiges alle Tage auf meinen Knien von ihm erflehe, fo ift Dein Spatium bis zur Erbfanzel weit. Was alfo vornehmen in der leeren Zeit? Ein Subftitute ift ein weißer Sperling. Solange ihm die Zähne nicht ausfallen, ißt jedweder fein Stud Brot für ſich allein. Der Herr Bater hat ed auf unferen Schulmeifterpoften für Dich abgefehen. Denn „Bimmeldfamen muß in der Kindheit gelegt worden fein,‘ ift ded Herrn Vaterd Wort. Ich habe nichtd dawider, Gottfried, der Herr Vater muß das am beften wiffen, aber für Dich paßt dieſe Profeffion nicht. Weit eher für unferen Hold, der ein Zimmer- mann werden will. Wer fich in jeglichen Menfchen apart hineintüfteln und jeglichem Stridy ein Pünktchen auffegen möchte, daß auch ja richtig ein J daraus wird, und fo einer bift Du mein Sohn, der mag felber erft beim Schafhirten in die Lehre gehen. Für jedweden ein Leiften heißt für feihen ein Schuh, und wer unter fo einer Rotte Korah nicht aufgebracht ift, verfteht ſich nicht aufs Traftement.

„Bleibt alfo der Hofmeifter in einem adligen Baus, ober fonftwo bei feinen Leuten. Und darum, feitbem Du fort bift, mein Gottfried, rumort’s in mir Tag und Nadıt und fpähe ich mit Augen und Ohren, was anjetzo in diefer Branche die Anforderung iſt. Denn für fo ein

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Junkerchen oder $räulchen, wer fragt da viel, ob einer auf dem Cicero, oder gar auf den Kirchenvaͤtern fattels feſt fist? Weit eher auf einem vierfüßigen Geblät. Einlöffeln fol ex Keinen Abce-Schägen, und mit Sirup beftrichen obendrein, was er in der Regel felber nicht eingelöffelt, oder auf gelehrten und hohen Schulen lange wieder audgefchwigt hat; neue Entdedungen fol er machen, mit der Zeit fortfchreiten, die Welt auf ben Kopf ftelen, wie das anjego auf die Tablatur ge- fommen ift.

„Aber das ift nur Numero eins; die Nullen kommen hintennach, die erft die Trefferzahl ausmachen. Feine Conduite fol er haben; wohlreden fol er in eigner und wälfcher Zunge; einen Carmen fol er reimen können, zum Tanze auffpielen, felber in einem Taͤnzchen aus» helfen, ein fchöner Geift fol er fein und derlei Kleinig- feiten mehr. Darum, mein Sohn, fooft Du einen freien Augenblid haft, Sonntags und während ber Vakanzen, da benfe an den Informator, und wenn Du die Goldmuͤnze der Wiffenfchaft, wie der Herr Vater ee nennt, in Deine Sparbüchfe geſteckt haft, dann geize auch nach dem Basen, der im Handel und Wandel gilt. Bergiß Dein Franzöfifch, vom Schloffe her, nicht, und wenn Du nur mit Dir felber parlieren follteft; übe Dich auf dem Klavier auch in weltlichen Weifen; befleißige Dich der Tanzkunft, daß Du mit Deinen Gliedmaßen fein fteifer Peter bleibft und weil ein Informator, der fein Tänzchen verfteht, auf Iändlichen Stellen eine ge- ſchaͤtzte Perle ift.

„Und ganz zulegt, mein Sohn, nun noch eine Offen⸗ barung, die genau genommen für Deine Jahre noch nicht

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paßt. Nur von wegen, daß jedweder Menſch eine fterb= liche Kreatur und nichts, mein Sohn, ich fage nichts, auf die lange Bank zu fdyieben iſt. Merke Dir alfo, lieber Gottfried: wo ein Kofmeifter im Kaufe gehalten wird, da foll er anjeßo auch der Borlefer und Ausleger, wohl gar an langen Abenden ein Geſchichtenerzaͤhler fein. Die feinen Damen, fo heißt es, lefen und hören aber alleweile am liebften Kiftorien, die fie Romane nennen: aus dem Römifchen, denk ich mir, von wannen ja fhon fo mancher Heiden⸗ und Teufelsſpuk in deutfche Lande gedrungen ift. Es follen gar abfonderliche Terta in derlei römischen Gefchichten zur Abhandlung fommen; Terta, die nur mit Namen zu nennen meiner Zeit die Zunge ſich gefträubt haben würde, felber bei einem Ehemann gegen feine angetraute Frau. Aber die Mode ändert fi), mein Sohn, audy im Punkte der Schams haftigfeit; und felber da, wo und dad Alte befler ges fallen hat, follen wir dem Neuen zu Gefallen leben, denn alle Zeit fommt von dem Herrn. Studiere alfo auch auf die roͤmiſchen Geſchichten, mein Gottfried, lege Dich auf die feine Damenwelt; Du wirft ein feufcher Süngling dabei bleiben. Des bin ich getroft.“ Als id, diefen Brief zu Ende gelefen hatte, würden mir ohne Zweifel die Haare zu Berge geftiegen fein, wenn fie mir nicht im Haarbeutel feitgebunden gewefen wären. „Ach,“ feufzte ich, „warum ift mein Fräulein Erdmuthe nicht ein Junker, wie unfer Herr einer gewefen ift! Ich zöge mit ihm auf die Akademie und dann ultra montes, und alled wäre gut!“ „Kindskopf!“ brummte der große Bär, vor deffen Ohren ich dieſes Klagelied ausgeftoßen hatte; über fein graues

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Geficht lohte eine Flamme wie allemal, wenn id) unferes Herrn und feiner ‚fie vor ihm Erwähnung tat. Und das gefchah oft.

Bär war mein Obergeſell und Stubenfenior! Mein Freund, würde ich gefagt haben, wenn zum Freundfein nicht auch gehörte, daß einer den anderen, welchen er berät und fchügt, in irgend einem Stüde doch auch wieder ein wenig nötig haben muß. Albrecht Bär wollte auf der Welt aber feinen Menfchen nötig haben, und weil er vor der Hand doch noch zwei Nährmütter nötig hatte, eine leibliche, die etwas weichmütiger, und eine geiftige, die etwas rauhmütiger, als feiner Bärenhaut angenehm, ihre Gaben fpendeten, darum ift er auf der Schule und anderwärtd wohl der große Bär geworden, aber audy der Drummer geblieben, der er von Mutterleibe an ges wefen fein fol.

Er ftammte, wie Guftel Hecht, aus meinem Ort. Hecht, ein Patrizier, denn fein Vater war Feldfcher Gerichtds direftor; Bär ein Plcbejer, denn feine Mutter war Aus» geberin und Witwe ded Kammerdienerd von unferem Herrn, ihres Sohnes Alumnenftelle aud) Felsſches Pas tronat. Ob dem jungen Bären wohl auch dad Fell fo widerborftig gewachſen und die Stimme in einen Brumms baß umgefchlagen wäre, wenn er ald Freiherr auf die Welt gefommen und ald Ertraneer in der Pforte gefeflen hätte? Des Menfchen Schickſal wird in feiner Wiege großgefchaufelt, war ein Felsſcher Sprud,.

Die Kandeleute Bär und Hecht konnten für Gegenfäße gelten. Der eine: „groß, ftarf und freydig”, wie ed im alten Zierbuche von feinen Namensvettern gefchrieben fteht, rauh und grau, Der andere: Flein, rund, glatt,

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rot und nur dem Magen nach ein Hecht. Baͤr galt fuͤr ein Lumen; fuͤr ein Lumen galt Hecht nicht, aber fuͤr einen guten Kerl. Er hatte immer einen Troß um ſich; Baͤr ging allein. Waͤhrend der Vakanzen rannte er in die Thuͤringer Berge nnd kehrte immer mit einem geleckteren Geſicht zurüd, aber nur für ein paar Stunden geledt und immer allein. Und doch gab es in der Pforte einen, mit dem er Hand in Hand hätte wandeln können, der fein Nebenmann in der Klaffe und auch ein Lumen war, ein Lumen, das dereinft weithin geleuchtet hat in die deutfche Welt, aus welcher Albrecht der Bär verſchwand.

Das Lumen Numero zwei hieß Johann Gottlieb Fichte, und hat der Fleine Pfarrerbe in der Nachbarftube damals leider wenig von feinem Schein gemerft. Kat aber das Lumen Numero eind den Schein des Numero zwei denn auch nicht bemerkt? Warum ging das eine rechts, das andere links? Iſt das aller Lumen Art?

Das Nichtlumen Hecht ftand unter dem Lumen Fichte, wie dad Nichtlumen Bleibtreu unter dem großen Bär. Wie der mid, Kindsfopf nannte, nannte jener den Hecht - - -; die Welt verliert nichtd dran, wenn ich ben Namen verfchweige, fichtiſch lang er nicht, er hatte auf feine einzige Hechtähnlichfeit Bezug.

Bär lachte laut über die mich fo lebhaft beunruhigende Epiftel der Klügften der Jungfrauen mit dem Ölfräglein. Überhaupt lachte er oft, aber fein Lachen Fang wie Ges brumm, und man wurde nachdenflich, wenn er lachte. Hecht lachte niemals fo, daß man es hörte oder fah; aber dad Herz im Leibe lachte ihm, zumal bei Tafel; ein jeber wurde Iuftig, der ihm gegenüber faß, und felber fein ernfthaftes Lumen lachte mit.

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Was den Informator anbelangte, fo tröftete mich Bär. Er ſtecke mir in der Wirbelfäule wie das Pfarramt im Geblüt, meint er, und im Punkte der feinen Damenwelt, da könnte ichs dermaleinft leicht noch bie zum Schreiber einer römifchen Gefchichte bringen. Ald Landemann, Obergeſell und Stubenältefter fühle er indeflen ſich ger drungen, an den Organen, welche außer dem Gebluͤt und der Wirbelfäule an einem Menfchenfinde noch aus⸗ zubilden feien, einen Kunſtverſuch zu wagen.

Zunaͤchſt an dem Untergeftell, auf welchem ein jeglicher, fo gern er fich buͤcke, fidy doch unvermeidlich durch die befte aller Welten zu fchieben habe. „Auf eignen Füßen,“ war fein Lebensſpruch und „wehre dich deiner Haut“ wurde das caetera censeo feiner KHunftmethode an dem zu Heil und Dienft berufenen Zögling der Orthopädie.

Sooft wir fortan im Wirtfchaftöhofe nebeneinander fpazierten, drängte er midy vom Pflafter fo lange, bie ich in der Entenpfüge watete; er trieb mir die Maifäfer, die ich nicht leiden fonnte, ind Geficht und hette bee Rentmeiſters Kläffer, die ich noch weniger leiden konnte, mir zwifchen die Beine. Oder, er fchnippte mir wie von ungefähr das Abendbrot aus der Hand, daß es auf die Butterfeite fiel. Einmal, da er mir beim Auf» und Abgehen zwifchen den Scheitholzreihen und dem Saal⸗ arm einen Vortrag über fein Lieblingsthema hielt, ſtemmte er die Ellenbogen in die Hüften, ſchob und fchob, daß der Raum zwifchen mir und dem Waffer immer fchmäler ward. Sch fprang an feine rechte Seite; er mit einem VBärenfage wieder an meine rechte und fo fort, bis end⸗ lich nur noch eine Band breit Ufer für mich übrig blieb. Ein Steinchen brödelte, und ich rutfchte in den Fluß.

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Er holte mich rafch wieder heraus, hielt auch getreulich in der Sranfenftube bei mir Wacht, bie der Fuß, den id mir beim Fallen verftaudht hatte, wieder gangbar war, und wenn ein anderer mit ähnlichen Mandvern in fein Erziehungswerf pfufchen wollte, hat er fih und mid, tapfer gewehrt oder geraͤcht. Er hoffte bei feiner Methode ed weit mit mir zu bringen; zu einer hierarchifchen Geſtalt, einem Meinen lutherifchen Papft. und dergleichen mehr. Jedenfalls weiter ald das Lumen in der Nebens ftube mit der Philofophie bei unferem Landsmann Guſtel Hecht, da er ihm eines Mittags den zehnten Kloß, wel: chen Hecht ſich mit feinem Testen Kreuzer eingehandelt hatte drei Klöße famen gefeglich nur auf den Mann - fonder pädagogifche Kunft aus dem Munde fchlug, ohne ihm dadurch den Appetit auf Klöße herauszuſchla⸗ gen, oder, gettlob! feinen braven Hechtsmagen mit Galle zu verſetzen.

Wie weit ed der Inftruftor mit feiner Methode ber Mehrhaftigfeit bei dem Kindskopf gebracht haben würde, laßt fich leider nicht feftftellen, da der Kurfus ſchon im nämlichen Semefter jach unterbrochen, Bär von der Schule relegiert wurde, trogdem er mit feiner fchrifts lichen Eramenarbeit über die Schlacht an den Thermos pylen den Preis noch über dem Lumen in der Nebenftube erhalten hatte. Freilich er trieb ed arg. Mit aufgelöftem Haarbeutel, eine Tonpfeife im Wunde, wandelte er im Primanergarten fo lange auf und ab, bid das Auge des gewaltigen Reftord wie ein Donnerfeil auf den Frevler niederfanf. Das Haar war glatt gefämmt, und in der Pfeife ſteckte unangezuͤndet nur ein Eichenblatt, denn Albrecht Bär hat bis an fein Ende Wirrwarr und Qualm

Erfter Abſchnitt sa

mit Ausnahme von Pulverqualm verabfcheut wie die Sünde. Aber was half ihm das, wenn er franf und frei in hoher Synode ed ald ein unveräußerliched Mens ſchenrecht erflärte, feine Mähne wallen zu laffen und kalt zu rauchen? Solche Menfchenredhte fonnten auch an einem Lumen nicht geduldet werden, ohne die Fürften» fchule in ihren Grundfeften zu erfchüttern. Bär mußte fort.

Sch, aber ich ganz allein, war ber Meinung, Bär wollte fort. Er hatte auf ein paar kurze Ferientage feine franfe Mutter, die Kammerdienerwitwe, befudht und war mit zwei feltfamen Purpurrofen auf den grauen Wangen zurüdgefehrt. Bei der bloßen Frage nad) uns ferem Herrn und Fräulein Erdmuthen fchüttelte ihn gleichfam ein Ficberfroft. Was koſtete es ihn als ein bißhen Magenfnurren und ein paar Nadıtftunden ger lehrter Korrektur, um es ald Thomagfchüler in Leipzig ohne danfbarlichen Kragfuß vor einem gnädigen Patron und feiner ‚fie‘ vollends zum Bruder Etudio zu bringen? So fchied er, und außer den meinen wurden feine Abe fhiedstränen dem Brummer nachgeweint.

Ich aber, ohne fernerweitige Dreffur zu einer hierardhis fhen Geftalt, bildete mich befcheidentlich weiter für die beiden Ämter, die mir in Geblät und Wirbelfäule eine geimpft fein follten, Das Streben zum Pfarrerbe blieb Numero eins, da aber gewiffe Erinnerungen mir zu Hilfe famen, frönte aud) das zum Wuftermagifter ein gewiffer Erfolg. Ich vergaß mein Franzdjifch nicht, denn ed waren meined Muthchens Lippen, von denen ich es aufgefangen; ich blieb der edlen Muſika treu, die mein Bater, feinem großen Meifter nad, eine Prophetenkunft

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genannt, auch manch Foftbare Stunde für Orgelfpiel und Choralgefang mit mir geopfert hatte; wenn ich nun zurüd daran dachte, wie mein Muthchen ernften Auges, mit gefalteten Händen und gegenüber gefeflen und zum Schluß ihre Klare, volle Stimme in unfere Übungen ges mifcht hatte, ba war ed wahrlich feine Hexerei, e& bis zum Organiften und Vorfänger im Chore der Portenfer zu bringen. Auch dad Carmen ift mir flott vom Kerzen gegangen, dad ich alle Sahre zum Midhaelidtage in kunft- volle Reime fchmiedete und fo lange in meiner Welten tafche verborgen trug, bie ein neuer Jahrgang es darin ablöfte.

Klaͤglich dahingegen, ach, mehr als klaͤglich blieb es mit jener anderen Rhythmik beftellt, welche die kluge Frau Mutter ald Perle eines Informators gepriefen hatte und in welcher auch die weife alma mater dad Bollfommenfte zu erreichen trachtete. Nun und nimmer bin id) in diefem einzigen Punkte aud dem Zuftande heimlicher Rebellion gegen beider Satungen herausgefommen! Die Teicht- füßige Mufe war und blieb mir ein Heidenfind, und ber Dienft, weldyen ein Jünger des heiligen Pfarramts ihr zollen mußte, war und blieb mir ein Gögendienft. Ja, wenn allenfalls, ftatt des Heinen Guftel Hecht, mein - Fräulein Erdbmuthe mir in dem Menuett gegenüberge- ftanden hätte - wer weiß? Aber nein, nein, dreimal nein! Die fittige, beutfche Maid, im fchleppenden Gros de Tours, mit dem Erbfrönden auf dem Toupet, fie fonnte weder mir nod) einem anderen jemals in einem pas seul gegenüberftehen; ed war fchlechthin unmöglich, fie fidy in einem Chafle und Balance in Pirouette und Entrechat auszudenken, und es läßt fich in Worten nicht

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ausmalen, welch fteifer Peter ich mit meinen Gliedmaßen geblieben bin.

Dahingegen darf ich mid; rühmen, mit Eifer, Gewandts heit und Gluͤck das Feld kultiviert zu haben, auf welchem die mütterliche Weltfiugheit fo fichtbarlich mit der Mo⸗ ralität in Fehde lag. Denn wenn die Allgemeinheit uns ferer Elaffifchen Bildner auch aus olympifcher Ferne auf das Gewühl der modernen Belletriſtik herabblidte, das zarte Geſchlecht an ihrer Seite hatte den Samen der Zeitblüte liebreich gefammelt und ftreute ihn aus in emps faͤngliches Jugendland. Mich aber hatte des Schickſals Gunſt juft in die Richtung geftellt, von welcher der blu⸗ menfchwangere Wind am duftigften wehte.

Die Gemahlin des Tutord, an welchen mein Vater mich empfohlen hatte, zählte fi, felber wenigftend zu den Auserwählten, die man dazumal ſchoͤne Seelen hieß. Das Prädikat „Gelehrte“, welches in der Kulturgefchichte zurüdgebliebene Spötter über fie verhängten, belächelte fie mit einem mitleidsvollen Blick auf ihren Gatten, der ein grundgelehrter Herr, aber allerdings nichts weniger als eine fchöne Seele war. Sch für mein Teil verehrte die Dame ald ein Wefen höherer Art, bezeigte meine Bewunderung in den ehrerbietigften Huldigungen und erntete für meine Pagendienfte unſchaͤtzbar reichen Kohn. Sch wurde der Amanuenfis der ſchoͤnbeſeelten Frau - förperlich fchön war fie nicht und jung nicht mehr -, wurde ald Hausfreund an den Teetiſch geladen, den fie, feit die Elariffa Mode geworden war, an Stelle des bis derben deutfchen Abendbrotd wenigftend Sonntage eins geführt hatte. Ich erhielt das wichtige Amt, die Bücher: ballen aufzufchnären, die mit jeder Poft, ald Kauf oder xx. 3

34 Frau Erdmuthens Bwillingefähne

Widmung an die Gönnerin der Mufen einpaffierten, ich ſchnitt fie zum erften Durchblick auf, ordnete fie nach dem Einband in den zierlichen Glasſchraͤnkchen des weiblichen Sanftuariume und hatte fomit den Genuß alled Neuen und Schönen in jener fruchtbaren Zeit und die Koms mentare einer fchönen Seele in den Kauf.

Aber damit nicht genug. Die fchöne Seele war natürs lich auch eine Freundin der Natur. Täglich wandelte fie mit flatterndem Gelock und einem Strauß am Bufens tuch, in ein Buch vertieft, die bewaldeten Pfade des Knabenberges auf und ab; ein weißes Lämmchen, ges leitet an rofenrotem Bande, hüpfte biöfend hinterdrein. Sehnfüchtig folgten die Blicke des Juͤngers vom Spiels plage aus dem rührenden Bilde; während feiner einfamen Feiertage aber wagte er fid) dann wohl demütiglidy auf feine Spuren. Bemerfte er ein Steinchen, er flog her⸗ bei, e& zu entfernen, bevor der Sinnenden Fuß darüber ftolperte; verweilte ihr Auge auf einem Waldblümlein, er ftürzte, es für fie zu pflüden, voran; entwand fich das Lamm dem Gängelbande, er fing es ein; entglitt ihr das Bud, er hob ed auf. Sie erreichte den Quell, deſſen Gemurmel dem gefeiertiten Sohne der alma mater, dem Lieblinge ihrer Seele, die erften Klänge feines heiligen Epos erwect haben fol. Sie nannte den Quell Caftafia. Welch eine Weiheftatt! Und fie fenkte fich nieder auf das weiche Moog, das Sinnbild der Unfchuld zu ihren Füßen; der Junger, auch ein Unfchuldsbild, ihr gegen» über, an den Stamm eines ehrwuͤrdigen Waldriefen ges lehnt; mit entzuͤcktem Ohr laufchte er dem Duett des laͤmmlichen Geblöfs und des wohligen Nedefluffes feiner Pythia.

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Tränenlodende DOffenbarungen flöteten nun zum nach⸗ mittägigen Himmel empor, Efftafen raufchten, frifch ges fhöpft aus dem Born, ich meine nicht den Born, der dem buchenbewaldeten Berge, fondern den anderen, der den beiden Pappendedeln in Pythiad Hand entquoll; Enthüllungen über Gott, Univerfum und Unfterblichkeit, erotifche Geheimniſſe in keuſcher, dichteriicher Blumen⸗ hälle; Venus Urania fächelnd mit Dimofenzweigen. Die Stunden flogen. Weh! Da hallte der Glodenfchlag, ber die begeifterte Muſe unerbittlich ihrem Sünger entriß, um fie dem mitfchwefterfichen Auditorium im Kaffees fränzchen zuzuführen. Schöne Seelen haben eine weit- verbreitete Miſſion. Seufzend erhob fie fichz fie fchwebte heimmärts, das Lamm hinter ihr drein. Der Juͤnger aber firedte fich auf ihre Spur in dem fühlen Moos, träumte oder fchlürfte die Föftliche Labe, die fie zwifchen den beiden Pappendedeln in feiner Hand zurüdgelaffen hatte. Eine Welt von Erfcheinungen ſchwebte an feinen Blicken voruͤber.

Brauche ich nun aber die Leibhaftige zu nennen, in welche wie durch Zauber auch das duftigſte der Ideal⸗ gebilde ſich verwandelte? Ob es Minona oder Meta, Amalia oder Laura hieß, ob ſein Rabenhaar im Nacht⸗ winde flatterte oder der Zephir durch ſeidenweiche Locken ſaͤuſelte, immer wurde jach das Dichterbild „ſie“ im ſchwarzen Stoff, mit dem Erbkroͤnchen im gepuderten Toupet, „ſie“, die unter poetiſchem Schleier des Juͤn⸗ gers Traͤume durchgaukelte. Er wuͤrde kein Ende in der Schilderung dieſer Metamorphoſen finden, will aber nur uͤber eine derſelben berichten, weil ſie die Vorſchule des Informators unter dem Blumenzepter der ſchoͤnen Seele zum Abſchluß brachte.

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Es war Pfingften, das legte der Alumnenzeit, die Ka meradfchaft in Nähe und Ferne audgeflogen. Ganz allein fchlenderte id; am Nachmittag durd, den Wald. Mir war weich zu Sinne; halb fehnfüchtig nad) der Zu⸗ funft, halb wehmütig ob des Scheidend und der Wonne der Gegenwart. Das mütterliche Tal hatte fein Feſt⸗ fleid übergeftreiftz die Nachtigallen Iodten im knoſpen⸗ den Buchengruͤn, Waldmeifter und Maiglocden dufteten. Wie anmutig ruhte das Klofter im Blütenfranze feiner Gärten, wie fonnig gligerte der Fluß, vom Frühlings: wafler der Berge gefchwellt. ber gelbgefprentelte MWiefenbreiten hınmeg ſchweifte der Blick bis zu den jen- feitigen Höhen, auf welchen das Rebenlaub fproßte. Ich gedachte jenes erften Eindrucks, wo der Sohn der Heide ebene vor diefem rötlichen Felfenufer ftarrte wie vor Ti⸗ tanengebilden, und die Trauben, die auf ihm reiften, Auge und Gaumen gleich hefperifchen Früchten labten. Nun war ed zum legten Male in diefer Heimat Mai für ihn geworden, und wenn je, fo friedlich fchön und reichge- ſchmuͤckt würde ich die alma mater fchwerlich wiederfehen.

Ich blieb allein. Pythia hatte eine Feftfahrt nad) Dorn- burg angetreten. Sch warf mid) auf den moofigen Grund am Didıterborn und zog nad) einigem Widerftreben ein Bändchen hervor, welches fie am Morgen nad) dem Kirch⸗ gange mir verftohlen unter das Chormäntelchen gefchoben hatte.

„Sin Evangelium für empfindende Seelen, eine Offen: barung der heiligften Natur! Trefflicher Süngling, Sie find reif dafür!“ hatte fie gelifpelt, und diefe Einflüfte- rung unmittelbar nach der Predigt vom heiligen Pfingft- munder mich fchier wie eine Gottesläfterung überriefelt.

Erfler Abſchnitt 97

Nun hielt ich das gepriefene Dokument in meiner Band. Die Neugier fiegte über den Reſt von frommer Ent; rüftung. Ich fhlug das Titelblatt auf. Es trug einen mir noch wenig befannten Namen, trogdem dad Datum fein neues war. Mich wunderte, daß ich es niemals in dem Glasfchränfchen meiner Gönnerin bemerft hatte; ed mochte wohl felten genug darin geraftet haben. Die Farbe des Einbands, rofenrot wie das Kenffeil des Lamms, hatte fih nur -an wenigen Stellen erhalten; die Blätter waren zermürbt und befprenfelt, fo als ob fie von taufend Händen in Fieberglut gewendet worden, ald ob Ströme heißer Tränen darauf niedergetröpfelt wären.

Und nun lad ich und las, ohne aufzubliden, bie das legte Wort verfchlungen war; in Fieberglut wurden die Blätter gewendet, Tränenftröme tröpfelten darauf nieder, vielleicht die leßten, die es befeuchteten. Die Schläfen Hopften, die Nerven zucten bis in die Fingerfpigen. Und ich war nidyt mehr Gottfried Bleibtreu, der Pfarr: fohn und Pfarrerbe im Heidewinkel; ich trug nicht mehr Strümpfe und Schnallenfchuhe, fchwarze Schalaune und fpanifches Barett; ich trug fteife Stiefeln, gelbe Weite und blauen Frack; ich war Diplomat und hieß Wilhelm Werther. Die aber, für welche die Liebe mir den Tod gab, war nicht ein Burgfräulein, fondern meinedgleichen von einem Amtögehöft, wenn aud) die braunen Locken fi) unvermerft in helles Gold und die fchwarzen Augen blau wie Kornblumen färbten. Sie fehmierte Butter; brote, loͤſte Pfänder, änderte mit mir nedifch und Iuftig, wie ich die mit dem Erbfrönchen nimmer gefehen hatte.

Es daͤmmerte im Wald; ich hörte eine Glocke. Aber

38 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne

das war nicht dad Gebimmel, das täglich einer Schar lüfterner Sungen die Hoffnung auf ein Leibgericht er» wedte; ed war das Sonnenuntergangsläuten von Wahl⸗ heim, ed war Grabesläuten. Mechanifch taumelte ich heim, faß mutterfeelenallein im Halbdunkel des Zönafels; ich berührte feinen Biffen, ftürzte nur mit Gier den Becher hinab, fooft der Aufwärter ihn füllte. O Wunder von Kanaan! Es war nicht fchäumendes Dünnbier, es war Wein, Wein golden und feurig gleidy dem, welcher den todentfchloffenen Süngling beim legten Lebewohl durchglühte. Beraufcht ſchwankte ich zum Schlaffaal hinauf, die langen Bettreihen grauften mid) an wie leere Wertherſaͤrge; ich rafte zwifchen ihnen auf und ab, bie Fäufte gegen die haͤmmernden Schläfen geballt. Der Mafchmann trat ein, der wachthaltende Pedant! Er mahnte, dad Ficht zu Iöfchen, und wünfchte wohl zu ruhen. Zu ruhen! Als ob ich jemald wieder ruhen würde!

Dennoch - die Efftafe handelt nicht immer folgerichtig - dennoch legte ich das zerlefene Bändchen unter das Kopf⸗ fiffen, auf daß fein Genius meinen Traum regiere, und ſchon wollte ich die blafende Talgkerze Löfchen, um im Dunfeln weiter auf und ab zu rennen, da gewahrte id einen Brief, den der Wafchmann unbemerkt zurücgelaffen hatte; ich erfannte die väterliche Kandfchrift und o, du gewohnheitsmäßige Mafchine, Menſch genannt! - ich erbrad) das Siegel und lag; las eine Pfingftoffenbarung weit anderer Natur ald die, welche mid; am Dichter- born durchſchauert hatte. Und nachdem ich gelefen und wieder von vorn an gelefen, zog ich das tränenfeuchte Bändchen unter dem Kopffiffen hervor, legte das Wort

Erſter Abſchnitt 89

aus dem Heimatsherzen an feine Stelle, blied das Talg⸗ licht aus, legte mich, betete und fchlief ein; ja, wahrlich, ich fchlief ein vor dem naͤchſten Stundenfchlage und ers wachte nicht früher, ald bis die Kirchenglode zum erften Male läutete.

Ob ich geträumt habe, weiß ich nicht; das aber weiß ih, daß am Morgen der Legationdrat in der gelben MWefte mir wie ein Traumgefpinft in Gedanken lag, daß ich ehrbar in Schalaune und Spanier zur Kirche ging und bei der nädıften Begegnung am Dicdhterborn meiner Pythia eine Erklärung gab, die idy aus meinem fhüchternen Alumnenftil in den Spruch eined Freundes umfchreiben will, der mir wie tus Batermunde gefluns gen hat:

„Es gibt eine Tugend, die auch wie die Liebe durch Leib und Leben geht und in jeder Ader zuckt und ftdrt; nur daß fie mit vielem Ernfte errungen werden muß. Wer fie aber errungen hat, dem wird fie reichlich lohnen bei Regen und Sonnenſchein und wenn der Düftere Freund mit der Senfe fommt.“

Ich bin an diefem Tage zum legten Wale nady dem Dichterborngewandelt,unddastränengetränfte Bändchen war das legte, das id; in die Hand meiner Gönnerin zuruͤcklegte. Was ich aber mit diefer Abfchweifung, die mit meiner Gefchichte nicht das Entferntefte zu fchaffen hat, eigentlich habe fagen wollen, bas ift: Gottfried Bleibtreu, der Pfarrerbe aus dem Heidewinkel, hat wohl auch fein Luftfchiffchen fteigen laſſen, aber einen Fall⸗ ſchirm mit ſich geführt, der ihn rechtzeitig auf feinen Grund zurücgetragen. Er hat ein Traumbild und eine Heldin in feiner Seele gehegt, aber in ber verwegenften

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Laune ift ihm nicht beigefommen, daß audy er hinwieders um zum Spdeale feines Sdeald und zum Helden feiner Heldin berufen fei. Wenn aber - falld heutzutage ich weiß es nicht - noch Traumbilder gehegt und Heldinnen in dem Herzen getragen werden follten, wenn dann dein Traumbild ein Erbfrönchen trägt, und wenn du deiner Heldin nur bis zur Schulterhöhe reichft, fo rate ic) dir, lieber Süngling, tu dedgleichen!

Der Balediftiondtag war vorüber; mein Herz klopfte wie ein Hammer gegen das Zeugnis, dad den treueften der Väter wohl erfreuen durfte; dad Stammbuch war vollgefchrieben die Kreuz und Quer bis aufs legte Blatt. „Wackrer Süngling, mögen Sie grünen und blühen wie ein Olbaum!“ mit diefen Worten hatte meine Gönnerin den legten Haͤndedruck begleitet. Die Abfchiedstränen firömten, als ich das Raͤnzchen auf dem Rüden durch das enge Pfortentor fchritt: acht Tage noch, acht Wan⸗ dertage, und ich war heim, heim!

Sch hatte in den fünf Sahren wenig Tatfächliches aus dem geliebten Heideflecken erfahren; von Fräulein Erds muthen ftand immer noch ein Gruß den mütterlichen Waſch⸗ zetteln angehängt; die Briefe des Vaters waren lediglich erziehender Natur. Nun ängftete e8 mich, in den Ent» fheidungstagen fein ftärfendes Wort aus feinem Herzen erhalten zu haben.

Die Pfortentür war eben zugefallen, ald mir der Fa⸗ mulus meines Tutors nachgefprungen fam, mit einem Briefe, der vor etlichen Tagen ald Einfchluß für mid, angelangt, von dem grundgelehrten Herrn abzugeben aber vergeffen worden war.

O, diefer väterliche Segensſpruch über das Kind, das

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aus den Mutterarmen fcheidet hinaus in eine unbefannte Welt. Er Hang mir wie ein Pfalter. Dreimal, viermal lad ich ihn vom erften bie zum legten Wort; und erft nachdem ich ihn mit gefalteten Händen aus dem Ges dächtniffe wiederholt hatte, fiel mein Blick auf eine Rand⸗ bemerfung, die ich bisher überfehen. „Während deiner Anwesenheit wird, fo Gott will, auch dad Ehebündnie unferes lieben Fräulein Erdmuthe gefeiert werden.“

Das war ein Bombenſchlag! Ich ftand ftarr und fteif, das Geficht hart an dem alten Gemäuer, lange, ich weiß gar nicht, wie lange ich fo geftanden haben mag, bis die Frau Tanzmeifterin über mir ihren Rofengeranium bes goß, und die abfallenden Tropfen mir in den offenen Mund ſpritzten. Deine Heldin war Braut, mein Ideal nahm einen Mann! Sch rannte vorwärts, ald würde ich gehegt. -

Und, nicht wahr, nun fpufte wohl gar hinter mir drein der felige Legationgfefretär mit der geladenen Piftole? Ei beifeibe nicht folchen Aberglauben, meine Freunde! Der arme Süngling blieb tot und begraben am Dichter; born. Ich kann nicht einmal fagen, daß ed eigentlich Schmerz gemwefen fei, der in mir rumorte, weit eher Schred, - oder was empfändet ihr denn, wenn jach etwa der liebe Mond oder fonft ein fchöner Stern zu euren Füßen niederrollte?

Almählicdy mäßigte fih der Schritt. Adıt Wandertage in Wind und Heidefand, dann und wann aud ein Re: genfchauer, das ift nichts Leichtes für einen, der fünf Sahre lang auf der Schulbanf ftillgefeffen hat; bie Schuhe drücdten, das ſchwere Felleifen rieb die Schultern wund, wer weiß, ob nicht felber der felige Legations— fetretär, hätt er in feinen fteifen Stiefeln die Tour mit

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mir gemacht, zu einem vernuͤnftigen Schluſſe gekommen waͤre?

Freilich hatte ich mir mein Muthchen niemals in einer anderen Verfaſſung vorgeſtellt, als der, wo ich ſie zum erſten Male Fraͤulein Erdmuthe genannt. Aber haͤtte ich ſie mir ihr Lebtage als Fraͤulein und ſchließlich als altes Fraͤulein vorſtellen ſollen? Nennt Doktor Martin Luther nicht die Ehe das große Wunder der Welt, und ſollte einem Juͤnger Doktor Martin Luthers nicht frauliches, hausmuͤtterliches Walten das Ideal eines chriſtlichen Weibes erſt recht in Erfuͤllung bringen? O ſuͤße, drei⸗ mal ſuͤße Heimat, in welcher dieſes Traumbild vollen⸗ deter Schöne wandeln und wirken wird! Seine Strah⸗ lenfrone wuchs Schritt für Schritt, den ich mich feinem Bereiche näherte, und ihr Glanz wetteiferte mit der Zauberfönigin Sonne, um über die graue Heide ben Purpur des Südens auszuſtreuen.

Ich war rüftig zugefchritten, auf daß ich mein Haus noch an dem Tage erreichte, der mir vor fünf Jahren zu einem Doppelfefte geworden war. Sie mochten mid) fhon geftern erwartet haben; nun redjnete ich darauf, daß alt und jung mir jubelnd, mit audgebreiteten Ars men, entgegenfommen werde. Die erften Sterne taudıten auf, als ich aus dem Walde trat. Schon am Klofter fpähte ich nad) den lieben Gefichtern. Niemand da. An der Kirchhofdmauer wieder niemand. Auch am Pfarrs zaun alles feelenftill; das alte, liebe Neft lag wie aus⸗ geftorben. Atemlos Feuchend ruhte ich einen Augenblid auf der Schwelle; da rief von der Dachluke herab eine Stimme: „Gottfried! Bruder Gottfried!” und es ſtuͤrmte einer die Stiege herab in meine ausgefpannten Arme.

Erſter Abſchnitt 48

„Lieb, mein Lich!” - fchluchzte id).

„Ei bewahre, nicht der Lieb, der —“

„Richtig, der Lob, Herzenslob!“

„Bott behüte, Bruder Gottfried. Auch nicht der Lob! Ich bin ja der Hold!“

Wahrhaftig; ed war das Neftfüfchen, der Heine Hold in nagelneuem, fafrangelbem Drell und mit Pausbaden fo rot wie ein Stettiner Apfel. - „Und du haft mid; gleich wiedererfannt, mein Hold?” fragte ich.

„Ei warum denn nicht, Bruder Gottfried,” lachte der Hold. „Der Mond fcheint ja, und du haft einen Ranzen auf dem Rüden und fiehft aus akkurat wie der Herr Papa!”

Sch konnte mich nicht fatt herzen an dem guten Geficht. Sch war gar zu glüdlich, alled-genau fo wiederzufinden, wie ich es verlafien hatte: den Kolunderzaun, das alte Haus, die Pausbaden, den Safrandrell und auch mich felber, ald Ebenbild des geliebten Herrn Papa.

„Aber nun mache, Gottfried!” fagte der Hold, indem er fi) meinen Armen entwand. „Fir, wafche did; und weil die Botenfrau deine Sachen erft morgen bringt, foüft du des Herrn Vaters guten Rod anziehn. ‚Unter dem Drnate brauche ich ihn nicht,“ hat der Herr Vater gefagt.“

„Aber wo ift denn der Herr Bater? Wo find fie denn alle, mein Hold?"

„Na, wo denn anders ald auf dem Schloffe zur Hoch⸗ zeit von Fräulein Erbmuthen?“

Zur Hochzeit von Fräulein Erdmuthen! Wie ein Blitz fuhr die Poft durch die müden Glieder. Hätt ich mird denn nicht denken fönnen am Michaelidtage? Aber „den

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Gottfried muß man mit der Naſe auf alles druͤcken“, hatte die Frau Mutter von jeher geſagt.

Nun gings haſt du nicht geſehn. Der Hold ſchlug Licht und wichſte die Wanderſchuhe, der Zopf wurde friſch in den Haarbeutel gebunden, der vaͤterliche Braten⸗ rock paßte auf den Leib wie angegoſſen. Dann im Trabe gings die Ulmen entlang. Von der Terraſſe ſtrahlte das Schloß in Lichterglanz; Equipagen rollten auf und ab; die Ortsleute draͤngten ſich Kopf bei Kopf. „Ich bin auch geladen! Fraͤulein Erdmuthe hat die ganze Pfarre geladen!“ jubelte der Hold und ſprang wie ein Boͤckchen um mich herum.

Das Portal war wie vor fünf Jahren mit Laubgewin—⸗ ben befränzt, die Treppe mit Blumen beftreut; im Ahnen: ſaale flimmerte eine Gefellfchaft noch zahlreicher und glänzender ald dazumal. Ich ſchob mid; unbemerkt durch die Füllung der Kofinfaffen im Hintergrunde und die Wand entlang zwifchen eine Blumengruppe neben dem Altar. Mein Vater harrte bereit in ftillem Gebet auf der erhöhten Stufe; eben führte unfer Herr das verlobte Paar ihm gegenüber. PVielarmige Kandelaber breiteten Tageöhelle über Fräulein Erdmuthens Geftalt; fein Zuden ihrer Wimper entging meinen gefpannten Blicken. Sie war voller geworden, auch noch größer, ich mochte ihr eben wieder bis zur Schulterhöhe reichen; der fchleppende, weiße, filberfhimmernde Brofat, der bis zu den Füßen niederwallende Spitenfchleier über dem Myrtenkranze und Erbfröndyen auf dem Toupet erhöhten den Zauber jungfräuficher Majeftät; unverändert aber ruhte über dem ftillen Antlig jener Ausdruc von Kindesunfchuld und Muttergüte, der mir von der Wiege bid zum Grabe die

Erfter Abſchnitt | 45 Erfcheinung dieſes Weibes zu einer unvergleichlichen ge- madıt hat.

Die Trauung gefhah nad Doktor Luthers ftrengenn Ritual; ald Tertwort aber milderte ed die hohe Liebes—⸗ rede der Ruth, Mit gefalteten Händen und flüfternden tippen betete id; den goldenen Treufpruch nach bie zu dem letzten: „Nur der Tod foll dich und mich fcheiden.” Die Braut hatte die Lider nicht ein einziges Mal vom Boden erhoben, jett aber, da die bindende Frage an fie gerichtet ward, fchlug fie die Augen zu dem Mann an ihrer Seite in die Höhe; und ein Blick wie diefer mag die Ahnmutter des Weltenheilands verflärt haben, ale fie fich zu einer ewigen Liebe verlobte; dann aber hallte ihr Sa Mar und klangvoll durdy den Saal. Der alte Freiherr hielt beide Arme ausgebreitet, und mir denchte, ald ob die ritterlichen Ahnen ihre Häupter neigten, wähs rend der Priefter Segen und Amen fpradı.

Der Schwarm ber Gäfte drängte ſich zum Gluͤckwunſch um das vermählte Paar; auch ich ſchlich, meinen Ger fühlen Luft zu machen, aus meinem Verſteck hervor. MWährend ich nun fo im Hintergrunde auf der Lauer ftand, ſchoß mir ein fchlauer Einfall durch den Kopf: ich wollte meine Anrede Tateinifch halten; es dünfte mid, feierlicher ald die Mutterfprache, eine zartfinnige Ans Ipielung an die gemeinfame Schulbanf fchien ed mir auch; was aber doch wohl der Hauptgrund war: ich hatte ſolch ein Borgefühl, ald ob der junge Herr Gemahl meine Huldigung in der Mundart bes Horaz nicht verftanden haben würde, Eine Blumenlefe Haffifcher Sinniprüde fproßte während weniger Dinuten in meinem Hirne auf, die alma mater würde ftolz ihrem Zöglinge haben lauſchen

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dürfen. Sept endlidy ift der Moment gefommen; Aug in Auge ftehe ich dem hehren Weibe gegenüber, und - da ſtockt der Atem in meiner Bruft, ein Tränenftrom ers ftit die Stimme, und id) vermag weiter nichts als bie beiden Hände, die fie mit der liebreichiten Miene mir entgegenftrect, an mein Herz zu drüden.

In dem nämlichen Augenblicte wurden die Türen zum Speifefaal aufgefchlagen; das junge Paar eröffnete den Zug der Bäfte, um oben an der Tafel den Ehrenplag einzunehmen, an welchem vor fünf Jahren ich neben meiner Abendmahlgfchwefter präfidiert hatte. Wir, dem unerwarteten Gaſte im geborgten Frad, ward am ents gegengefegten Ende ein Gedeck zwifchen dem Verwalter und Frau Bär, der Ausgeberin, eingefchoben. Nach alter Felsfcher Sitte nahm, wie jeden Mittag, fo aud) bei bedeutenden Feltgelegenheiten, alles, was im Haus⸗ ftande nicht im ftrengften Sinne Dienftbote hieß, am Fa⸗ milientifche teil. Heute reihte zu beiden Seiten ber unteren Spige die muntere Pfarrjugend ſich an, bis dann gradatim die Standesperfonen in die Höhe rückten.

Wie hatte die Neugier nach allen Veränderungen in dem lieben Daheim ded wandernden Schülers Schritte beflügelt! Nun faß dad Chor der Neftlinge um ihn herum, herangewadhfen die, welche die Kinderfchuhe noch nicht ausgetreten hatten, ald er fchied; flügge geworden jene, weldye faum aus dem Ei gefrochen waren. Nun zwitfcherte e& links und rechts wie im Slanarienfchlag, einer den andern überbietend. Die merfwürdigften Poften wurden dem Heimgekehrten vorgetragen, aber fein Ohr war taub, die Zunge ſtumm. Mun fchimpfte der Vater feines kleinen Mitſchuͤlers, daß der Guftel im Examen

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durchgefallen, dahero ein Semefter nacdhzuererzieren und der Ferienbefuch verbeten worden fei, während die Mutter feined großen Mitfchülers, den er fo gerne Freund ges nannt hätte, leife weinte und klagte, daß ihr Student jede Einladung ihrer gnädigen Kerrfchaft, auch die zum heutigen Feite, barſch abgefcdylagen und fogar das gute theologifche Stipendium derfelben im Stich gelaffen habe, um fortan auf eigene Unfoften auf den Advofaten zu flus dieren. Was kümmerte den Gottfried Bleibtreu ber feine Hecht oder der große Bär? Was fümmerten ihn alle Mitfchüler und Landsleute, was alle Lumen und Nichtlumen der Welt? Nüchtern feit morgens, wie hatte der Magen ihm gefnurrt, der Mund ihm gewäffert nad) einem heimifchen Leibgericht, einem Grügbrei oder Kar: toffelpuffer; nun faß er an der ftrogenden Hochzeitstafel, gönnte fich feinen Tropfen noch Biſſen; nur die Augen fpannten mit Gier, um ja feine Regung, feinen Blick am Chrenplage zu verfäumen.

Der Nachtifch wurde aufgetragen, ber turmhohe Hoch⸗ zeitöfuchen zerlegt. Am unteren Ende raufchten die Pas pierbogen aus den Tafchen, in welchen der lieben Familie ein Xederbiffen heimgetragen werden follte; am oberen Ende fnallten die Champagnerpfropfen; eine Gefundheit jagte die andere; das Vergnügen wurde immer größer, will fagen lauter. Die Brautfräulein erhoben ſich, der Neuvermählten den Kranz abzunehmen; eine von ihnen ftülpte das Frauenhäubchen über die Fleine Erbfrone der Feld. Es war Fräulein Iduna, unverändert wie ich fie zulegt am Einfegnungstage gefehen hatte, über und über rofenrot. Der Gerichtödireftor Hecht, der, weil er taub war, auch große Geheimniffe nicht flüfterte, fondern fchrie,

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erzählte, daß Fräulein Iduna den nämlichen Dienft den mit dem Frauenhäubchen - fchon Fräulein Erbmus thend Frau Mutter erwiefen habe. Dem widerfprad in geziemender Befcheidenheit Frau Bär: Fräulein Iduna hatte der gnädigen Frau Mutter der jungen gnädigen Frau nicht ald Brautjungfer das Frauenhäubdhen aufs gefegt; fie hatte nur ald findlicher Engel Blumen auf ihren Bochzeitöpfad geftreut. Frau Bär mußte dad am beften wiffen, denn fie wußte ed von ihrem feligen Wann, welcher ja Kammerdiener bei dem gnädigen Herrn Hoch⸗ jeiter gewefen war.

Während diefe wichtige Zeitfrage am unteren Ende ver⸗ handelt wurde, war am oberen eine Paufe entftanden; die Blicke flogen hinüber und herüber. Dann allgemeine Bewegung. Die alten Damen ficherten hinter den Fächern, die jungen blinzelten durch das vorgehaltene Meffeltüchelchen; die Herren, alt wie jung, rieben fid) die Hände und ladıten, daß ihnen die Bäuche und Zöpfe wacdelten. Die Brautführer ftürzten nady dem Ehren- plage, wie zu einem begehrendwerten Dienft. Was be- deutete das alled? Ich fpannte mit angehaltenem Atem. Ich fah eine Blutwelle fi von den Wangen über Hals und Schultern der Braut ergießen: die Hände kreuzweis über der Bruft gefaltet, neigte fie fich flüfternd zu dem Ohr des Vaters, der den Pla zu ihrer Rechten hatte. War ed Sinnentäufchung, oder blickte fie wirklich an- deutend zu mir hinunter? Der Freiherr lächelte, nickte, erhob ſich; er fchritt die Tafel entlang, immer weiter und weiter. Gerechter Simmel! Da fteht er hinter meinem Stuhl! Ich fpringe auf, flarre ihm ins Geficht, wie vor den Kopf gefchlagen.

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„Grüß did, Gott, mein Junge!” fagt er, indem er mir herzlich die Sand ſchuͤttelt. „Sch komme als ihr Ab» gefandter. Du bift ihr alter Kumpan, und fie bittet dich, eine gute Hochzeitsfitte an ihr wahrzunehmen und ihr das Strumpfband abzulöfen.”“

O, du züchtige alma mater! Haſt du darum deinen Zögling den hohen Platon erponieren laffen, daß er feinem Ideale das Strumpfband Löfen fol? O, du mein frommer Kerr Vater, ift dad auch eine Berufung zu Heil und Dienft? Steht, ach, fteht ihm bei, eurem klaͤg⸗ lichen Sohn! Seht, da taumelt er feinem alten Herrn hinterdrein; feine Knie fchlottern, Falter Angftfchweiß tropft von feiner Stirn. Alle Blicke richten fidy auf ihn. „Gluͤckspilz!“ fchreit der alte Hecht. Schallendes Ges ächter durch den ganzen Saal.

Sept find wir am oberen Ende. „Courage, mein Zunge!” fagt der Freiherr, gibt dem Seffel der Tochter einen Seitenrud und dudt den armen Schächer auf das Kiffen zu ihren Füßen nieder, fein Kopf finft in ihren Schoß, und - und nun fragt ihn nicht, was weiter mit ihm gefchehen oder von ihm verübt worden, und wie er wieder auf feine Beine gefommen if. Die Augen fchwimmen ihm; wie durd einen ſchwarzen Flor fieht er die Schar der Junggefellen ſich reißen um ein rofen- roted Band in feiner Hand; der junge Gemahl erbeutet ed ald Sieger. Er preßt fein Weibchen in den Arm und entführt ed durch eine Seitentür.

Trompetengefchmetter und Gläferflirren, Subelgefchrei und Händellatfchen! „Und als der Großvater die Groß⸗ mutter nahm”, ſtimmt der Gerichtödireftor an. Der alte Kumpan aber drüdt ſich die Wände entlang aus xzX.4

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der Tür, ftürmt die Ulmen hinab und hinauf in das Bodenfämmerchen, in welchem vor wenig Stunden der Kleine in Safrandrelli nad) ihm ausdlugte, und meint ihr wohl, daß er die Nadıt auf Rofen gebettet lag?

Als der Morgen daͤmmerte, ftand er - fchon oder noch? - an der Luke und ftarrte in die Landfchaft hinaus, Die er geftern in Purpur hatte glühen fehen. Heute vers fhwammen Himmel und Erde grau in grau; in ihm und um ihn war es fterbensftille. Auf dem Schloffe wie im Wirtfchaftshof hatten fie Hochzeit gefeiert bie zum Hahnenſchrei. Nun fohliefen fie aus; felber das nüchterne Pfarrhaus lag noch im Schlummer.

Lange hatte ich fo geradeaus in den ftillen, unbemweg- lichen Nebel geftarrt; da regte ſichs mählich; vom Him⸗ mel herab fehimmerte es gelblich durch den weißen Schleier; von der Erde herauf Fang ed wie fernee Geroll. Smmer näher und näher der Hall, immer klarer das Tageslicht. Da bricht die Sonne durch den Nebel. Ihr erfter Strahl fällt in den vergoldeten Glaswagen, welcher das hodhzeitliche Paar zur Reverenz an den fur- fürftlichen Hof entführt. Die Hände von Mann und Weib find verfchräntt, die Augen blicken ineinander, wie in einen Himmel voll Seligfeit. Vorüber am Holunder⸗ zaun, vorüber am Klofterhof, hinein in die Heide! Der Nebel ift gefallen; die Landſchaft Teuchtet wieder. Sch breite meine Arme aus und rufe hinein in den Flaren Morgenhimmel: „Gott fegne dich, Frau Erdmuthe!“

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Das erfte Univerfitätsiahr war abgelaufen. Einem, der fid) im Joche ded Alumnats nidyt wund gerieben

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hat, wird auch die afademifche Freiheit nur mäßig zu Kopfe fteigen; außerdem forgte ſchon das Konvikt für ruhig Blut. Da ich einige Nepetitionen mit maroden Nachzuͤglern unter meinen Kommilitonen übernommen hatte, war idy während ber Zeit nicht im Elternhaufe eingefehrt und erft zur Herbſtvakanz wieder auf der Wanderung durd, die Felöfche Heide, um zunaͤchſt mor⸗ gen Frau Erdmuthens dreifachen Ehrentag in ihrer Heimat zu begehen.

Der Forft lag hinter mir; ich fchlug durch den Klofter- hof den naͤchſten Weg unter die Ulmen ein und ftand eine Weile zwifchen den Trümmern ftill. Vielleicht weil die tiefe, fcharfipigige Woͤlbung, durch die ich blickte, mich an das Portal meiner Pfortenkirche erinnerte, bes trachtete ich zum erften Male mit einer Art von archaͤo⸗ Logifchem Intereſſe die Umriffe der Kapelle, welche wie durch ein Wunder ber übrigen Zerftörung entgangen waren. Unter Schutt halb vergraben, ftand noch mir gegenüber der fleinerne Altar; ein fchwarzes Marmor: freuz lehnte fich an eine Pfeilernifche, die ein Heiligen⸗ bild, einen Weihfeffel oder eine Lampe enthalten haben mochte, In mir daͤmmerte eine Vorftellung von dem herrlichen Altarplaß, zu welchem dieſes Bruchftücd her- geftellt werden könnte, wenn hinter ihm aus den Klofter- trüummern ein Kirchenfchiff im gleichen Stile errichtet würde. In folchem Keiligtume dereinft meined Erbam- ted zu warten ach Schülertraum! Wie wenig ahnte ich Zeit und Schickſal, unter welchen er fidy zur Wirk lichkeit geftalten follte.

Ich wurde in diefer Betrachtung unterbrochen durch das Dreiblatt in Safrandrell; heute nicht mehr nagel-

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neu, fondern wochentägig abgeblaßt. Eine hochwichtige Poft wurde mir im Chore entgegengefchmettert: Auf dem Schloffe waren Zwillingsjunfer eingeflogen; „einer für den Burghof und einer für den Klofterhof“, hatte unfer Herr gefagt, und für morgen war die Taufe ans gemeldet. Wieder eine Michaelisfeier in der Heimat!

Als wir über den Gottesader fchritten, fiel eine Reihe frifcher Grabhügel mir auf. Es ftürben viele Leute, ers flärten die Brüder;_in der Pfarre wäre aber alles ge- fund und im Schlofle auch.

Doch fand ich meinen Vater bleich und tiefbefiimmert. Unfer regelmäßiges Kerbitfieber hatte heuer einen rapis den, bösartigen Charafter angenommen: bie Menfchen ftarben hin wie die Fliegen, die geiftige wie die leib- liche Not war groß. Der herrliche Mann gönnte Nadıt wie Tag fich feine Ruhe, zu erbauen und aufzurichten, zu fpenden, wad vom Eigenen irgend entbehrt, von Frems den irgend erbeten werden fonnte. Sch erfchien ald Bei⸗ ftand zur rechten Zeit; denn, da der Schulmeifter dar: niederlag, war nicht allein die Schule geſchloſſen, fons dern auch das Küfteramt verwaift. Mit diefem Nots poften follte der Pfarrerbe feine Laufbahn beginnen, und zwar zum erften Dale bei der Taufe der Zwillingsbrüder auf dem Edelhofe.

So trug ic denn am anderen Morgen, dad Küfter- mäntelchen über den noch einmal dargeliehenen fhwarzen Leibrocd gehängt, Taufbecken und Kanne unferer Kirche - eine Dotation ded erften lutherifchen Feld - dem Pfarr- herrn hinterdrein zum Schloffe hinan. Wie leblos war heute der Ulmengang, auf dem ed vor einem Jahre fo feftlich gewogt hatte. Die Gefahr der Anftedung hielt

Erfter Abſchnitt 58

die ftillfte eier geboten; der Großvater der Täuflinge hatte die erfte, der Bater die zweite Patenftelle über: nommen; zum vorfchriftömäßigen dritten Zeugen war der Gerichtedireftor Hecht erwählt. Auch die Hofdiener⸗ fchaft blieb von dem heutigen Afte ausgefchloffen.

Pfarrer und Küfter waren die erften im Ahnenfaal; bald folgte der junge Herr mit beforgter Wiene und der Bitte, die Zeremonie fo weit als tunlich abzufürzen, da fidy bei feinem Schwiegervater eine Anmwandlung gezeigt, die Ruhe zu fordern fcheine. In der Tat, ale unfer alter Herr jegt eintrat, mußten wir nicht, wieviel von feiner fteberhaften Erregung der Freude über ſeines Hauſes Glüd, wieviel böfen Vorboten zuzufchreiben fei. Zudem wurde eine neue Sorgenbotfchaft gebradıt: der Gerichtödireftor war plöglicdh von einem Schüttelfroft befallen worden; der dritte Zeuge fehlte demnad. Es gab ein Hins und Widerlaufen, bie dann endlich, im Namen Frau Erdmuthens, die Bitte an mich erging, ihrer Kinder Pate zu werden. Sch, der KüftersStudent! Das war ein anderer Freundeddienft ald der, zu welchem ih vor einem Jahre in diefem Naume berufen wurde. Ich fühlte mich ftolz wie einer, dem man eine Krone ans getragen hat.

Sobald die Täuflinge auf den Armen ihrer Wärterinnen hereingebracdht worden waren, öffnete ſich die Seitentür, durch welche frohlodend damals der Gemahl fein bräuts liches Weib entführt hatte. Heute rollte er den Seſſel in den Saal, in welchem die junge Mutter dem Weihe⸗ afte ihrer Kinder beimohnte. Im nämlichen Augenblid goß der Küfter das Waſſer in dad Beden, und der Ges vatter ftellte fi) an die Seite feines alten Herrn.

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Er hielt den Erftgeborenen feiner Enfel berfelbe hatte den Vorfprung einer Stunde -, feinen Namens⸗ erben, auf den Armen, zitterte aber bald fo heftig, daß er ihn in die meinen legen mußte, während das Brübder- chen von feinem Vater gehalten ward. Der Taufaft befchränfte ficy auf die Iutherifche Formel und ein Ge- bet; und allen war beflommen zu Sinn; der Freiherr hatte fein Ja kaum noch vernehmlich ſtammeln fönnen; wir atmeten erleichtert, ald er fich feßen durfte und nun die Kinder für den fohönen Brauch der Einfegnung in die Arme der Mutter gelegt wurden.

Wer fiebenzig Sahre Iebt im Laufe diefer Welt, der lernt gar manches begreifen von dem Erbteil, dem wir zur Stunde im Namen diefer Kindlein entfagt hatten, und lernt begreifend es entfchuldigen. Sch weiß daher heute, und ich wußte es vielleicht damals fchon, daß ein nicht ftarf gefeftetes Herz fich in begehrender Liebe zu dem Weibe eined andern verirren mag. Daß aber einer nach der Mutter von eined andern Kinde begehren könne, das habe ich niemals begreifen lernen und begriff ed am wenigften in der Stunde, da id; meine Freundin Erd⸗ muthe, bleicher als fonft, aber fchöner denn je, ihre Zwillingsföhne im Arm, für das Amt der Mutter den priefterlichen Segen empfangen fah.

Es waren ftarfentwicelte, wohlgebildete Knaben, beide unter dem Träufeln des Taufwaſſers erwadıt. Der ältere, ein Weißköpfchen, blickte, als ob er die ftillende Nähe fpüre,- unbeweglich zu der Mutter in die Hoͤh; der andere, ſchon mit kurzem, fchwarzem Gelock, zappelte und murrte; Frau Erdbmuthe wiegte ihn im Arm, um während des Gegend einem Ausbruch vorzubeugen.

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Schwankend, aber mit verflärendem Lächeln, Elammerte fidy der alte Freiherr an die Lehne des Seſſels, und der jugendliche Vater blidte freudetrunfen auf fein reiches Gluͤck; ja felber über die toten Zeugen vergangener Sahrhunderte zauberte das fcharfe Morgenlicht einen lebenswarmen Glanz; die Schwerter in der Kauft ber beiden proteftantifchen Kämpen funfelten wie zu Wehr und Schuß für dad neue Gefchledht. Frau Erdmuthens goldener Scheitel leuchtete wie eine Glorie über dem demäütig gefenkten Haupt. Mein Herz fchlug in hödhfter Befeligung: nicht die Sungfrau, nicht das Weib, die Mutter Erdmuthe hatte das Traumbild meiner Seele erfüllt.

Ach, ed waren büftere Schatten, welche auf lange Zeit diefes Sonnenbild verhüllten. Kaum daß die Mutter mit den Kindern den Saal verlaffen hatte, fahen wir den Freiherrn mit einem Schauder zufammenftürzen. Drei Tage fpäter war der athletifche, bis dahin kern⸗ gefunde Dann eine Leiche. Ich wandelte während diefer Zeit von Siechen⸗ zu Sterbebetten und von diefen hin- aus zur legten Ruheſtatt. Auch an dem Lager unferes Herrn und an feiner Bahre wachte idy mandje Stunde bei Tag und Nadıt; Frau Erdmuthen aber fah ich nicht wieder; man hatte ihr die Gefahr ihres Vaters bis zum Außerften verheimlicht und gegen den legten Abſchied ihre Mutterpflichten angeregt.

Mein Bater hatte mit faft übermenfchlicher Anftrengung bisher ftandgehalten; als er aber den Segen über dem Grabe feines alten Freundes gefprochen hatte, bradı auch er zufammen.

Wochenlang faßen wir nun an feinem langjamen

56 Frau Erdmuthens Swillingsfähne

Sterbelager; die milde Natur und Gemwöhnung bewährte fidh in dem Charafter der Krankheit: er rafte nicht in Fieberglut, er klagte über feinen Schmerz, feine Angft; fein Geift blieb Far und feine Seele freudig; fterben hieß ihm ja in die Heimat berufen werden. D! Wenn ich jemals gezweifelt hätte an dem Spruche: „Ihr wißt, wo ich hingehe, und ihr wißt auch den Weg“, an die: fem Zotenbette wäre mir der Glaube feft geworden.

Und nun war dad Legte vollbracht, der teure Mann zur Ruhe gelegt. Ahnungsſelig wie fonftmald am end⸗ ofen Sternenhimmel, hängt nun der Blick an dem frifchen Hügel, den die Arme umfpannen können; der Erdenftaub verweht, und der Klagelaut verftummt; eine heilige Sehnfucht fächelt und mit lindem Engelöflügel. Und heute noch fagt der Greid: einen reineren Schmerz, ale den des Sünglings, der einen Vater wie diefen verloren hat, nein, einen reineren Schmerz gibt ed nicht,

Sch hatte bis dahin nur das Loͤſen des ftärfften Blutes⸗ und Geiftesbandes empfunden; mir war, ald ob mein Leben verfiechen muͤſſe mit dem Quell, der ed genährt. Erft die Grabrede eined benachbarten Amtsbruders, dem der Gefchiedene das Vormundfchaftsamt übertragen hatte, erinnerte mid) daran, daß mit dem Vaternamen noch ein anderer Sinn, ald der des Erzeugerd und Bild» ner verbunden fei, daß eine Witwe und acht Waifen den Berforger verloren hatten.

Der treue Familienfreund verließ und vor dem friſch gefüllten Hügel mit dem Verfprecdhen, morgen zur Ord⸗ nung unferer Obliegenheiten zuräczufehren. Auch die Mutter, die ſchluchzenden Gefchwifter gingen heim, bie Gemeinde zerftreute fich, ein jeder in Tränen. In diefen

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armfeligen, verwilderten Gefchöpfen, von denen faum eined ohne Trauerzeichen um einen Begrabenen bed ei- genen Blutes gefommen war, regte fich eine Ahnung beffen, was fie an diefem Wanne verloren hatten, und manches Samentorn, das er ausgeftreut, ging auf in dieſer Schattengzeit.

Es war um die Mittagsſtunde, daß wir ihn hinauöge- tragen hatten; als aber die Sonne fant, faß ich noch immer auf dem einfamen Huͤgel in hartem Ringen zwi- fhen fehnfüchtigen Träumen und dem Bewußtwerden meiner Tagespflicht. Endlich war ich mir klar geworden, wenn auch nicht völlig über das, was ich zu tun, fo doch über das, was ich aufzugeben hatte. Ich legte das geiftliche Erbteil der Väter auf dem Grabe bes Mannes nieder, der mich dafür gebildet hatte, und in diefer Stunde duͤnkte ed mir fein Opfer, das ich brachte.

Mit ſolchem Abfchluß kehrte ich, als der trübe Oftober- tag fidh neigte, nad) dem verwaiften Vaterhaufe zurüd. In Tautlofer Stille war während der Krankenwochen darin gewaltet worden; das Schweigen des Todes hatte die jüngften Tage geweiht; nun graute mich fat vor dem erften lauten Wort, das ich fraft meined Vorfates in diefem Keiligtume erheben follte. Wie ftarrte ich daher auf der Schwelle beim Anblid der Verwandlung, die fi) binnen wenigen Stunden darin erhoben hatte. Der Fußboden fhwamm, das Herdfeuer praffelte und der Suppentopf brodelte; das feftliche Trauerzeug war abgelegt, hochgefchärzt und in Hemdsärmeln fchäffterte ein jeder am angewiefenen Pla. Die Mutter räumte die Sterbefammer auf; die eine Schweſter fcheuerte, die andere fochte, zwei fanden vor dem Buͤkefaß; Lieb und

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Lob klopften Betten aus, auch dem Juͤngſten waren Buͤrſte und Flederwiſch in die Hand gegeben. Keiner ſah auf, von aller Stirnen tropfte der Schweiß.

Mein Herz krampfte zuſammen vor dieſem Werkeltags⸗ bild nach der Sabbatſtille. Ein Blick jedoch von den rauhen Händen auf die geſchwollenen Lider und abge: zehrten Wangen meiner Mutter, und ich begriff, daß, wenn eine, diefe Frau gefchaffen fei, adıt Waiſen den Vater zu erfegen, und daß mein Teil fein anderer, als unter ihrer Führung ftil das Werkzeug in die Band zu nehmen.

So, zum Gehorfam gefaßt, trat ich an fie heran, bittend, die unerläßlichen Veränderungen unferer Rage miteins ander zu beraten.

„Erft unfere Mahlzeit“, fagte fie, indem fie mir in bie bligblanf hergerichtete Wohnftube voranfchritt. Die häusliche Ordnung war während unferer Angftwochen unterbrochen und die Sorge für das Leibliche verfäumt worden; nun fland die Tafel gedeckt wie zu einem Feft; zwei alte Kennen hatten „daran glauben müffen“; auf der Reisfchäffel waren Musfate und Safran nicht ges ſpart. Die Mutter fegte ſich an ded Vaters Platz, betete an feiner Statt und legte vor, mir das zarte Bruſtſtuͤck, bas fonft ihm zugute gefommen war; dann füllte fie ihren eigenen Teller; die Gefchwifter folgten ohne Nöti- gung. Mir widerflande. „IB!“ fagte die Mutter, „des Menfchen Notdurft ift Gottes Ordnung“.

Und wenngleich der erfte Biffen mich wie Wurmfamen wuͤrgte, ich fchlang dad Bruftftäc hinunter und auf ein zweited muͤtterliches „IB!“ auch eine reichliche Ladung Heid. Die Mutter entkorfte darauf eine Flafche, Die

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während ber Krankheit vom Schloffe geſchickt worden war, fchenfte jedem ein Spipgläschen voll ein und leerte das ihre mit den Worten: „Ihr follt eben, meine Kin» der!”

Noch zögerte ich; ald aber die Mutter fagte: „Trinke, mein Sohn”, tranf ich8 auf einen Zug.

Die legte eßbare Spur war von Tellern und Schüffeln verfchwunden, dad Dankgebet wie fonft vom Süngften gefprochen; die Schweſtern räumten ab; der muntere Schwarm flog aus der Stube, ein jedes an fein Ge⸗ ſchaͤft; ich war mit der Mutter allein. „Jetzt rede, Gottfried”, fagte fie, nachdem fie die Krümel für bie Hühner aus dem Fenfter gefchüttet und das Tiſchtuch forgfältig in die urfprünglichen Brüche gelegt hatte,

Die fräftige Nahrung hatte mir wirklich den Kopf auf: geräumt und den fehmebenden Plänen eine beftimmte Richtung gegeben. Ob der Grundgedanke der Leichen: ſchmaͤuſe etwa doch nicht fo ganz „ohne“ gewefen ift?

Sch erflärte der Mutter, daß ich entfchloffen fei, nicht nad Wittenberg zurücdzufehren, fondern hier am Ort mich um die durch den Tod erledigte Lehrers und Küfter- ftelle zu bewerben, und zwar nicht ald Übergangsftabium, wie der felige Vater es gewünfcht, fondern als Beruf für mein ganzes fünftiges Leben.

Die Mutter ſchwieg eine Weile; mir fchien, daß fie eine Träne niederfämpfte; dann brüdte fie mir die Hand und fragte: „Iſt Dir der Brief, den ich dir in die Pforte gefchrieben habe, noch gegenwärtig, mein Sohn?” Als ich die Frage bejahte, fuhr fie fort: „Nun denn, ein Wort fo viel, wie taufend, Gottfried: der Menfch fol alles wollen, was er fann, aber nichts, was er nicht

60 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne

kann. Im uͤbrigen werden wir die Sache morgen mit dem Herrn Vormund beraten. Erſt ausſchlafen! Ja, ſchlafen!“ wiederholte ſie, mein unglaͤubiges Kopfſchuͤt⸗ teln widerlegend. „Schlafen, um wach zu werden, mein Sohn. Wolle nur ſchlafen, und du kannſt auch das. Zuvor aber geh noch aufs Schloß; die liebe Gnaͤdige hat heute ſchon zweimal nach dir geſchickt.“

Sie nahm nach dieſer Rede das Staubtuch wieder auf, ein Zeichen, daß ich unwiderruflich entlaſſen ſei. Ich machte mich auf den Weg nad) dem Schloſſe. Die haͤus⸗ liche Szene hatte meine Lebensgeiſter merflich aufge: frifcht. Sch befann mid; darauf, daß der entlaubte Ulmengang noch grün geftanden hatte, als ich ihn zum legten Wale betreten, und fühlte wie einen Vorwurf, faum einmal in diefer Zeit der Freundin gedadıt zu haben, welche gleiche® Herzeleid wie ich erfahren hatte.

„Ihro Gnaden erwarten den Mosjoͤ Bleibtreu”, fagte der alte Feldfche Kammerdiener, indem er leiſe die Tür des Familienzimmersd öffnete und auf ein Kabinett an der entgegengefegten Seite wies.

Mit bangeflopfendem Kerzen ftand ich eine Weile un- bemerkt hinter den Falten der Portiere. Sechs Jahre hatte ich von den Lippen meiner Freundin feinen Laut vernommen, ald das Ta, das fie zur Gattin eines mir fremden Mannes machte. Alles in ihrer Umgebung war mir neu; felber die häusliche Einrichtung mit Ausnahme des Ahnenſaales.

Das Kabinett war matt durch eine Schirmlampe bes leuchtet; dem Eingang gegenüber auf dem Kanapee faß Frau Erdmutheintiefem Trauerkleid; die fchwarze Krepp- haube über dem goldenen Haar; ihre Züge hatten fidh

Erfter Abſchnitt 6

gebehnt; Tränen rannen über die blütenweißen Wangen. Meben ihr ftand die Wiege, in welcher die Knaben fchlummerten; jetzt regte ſichs in derfelben; fie fegte die Schaufel in Bewegung, beugte ſich nieder, haudıte einen Kup auf jede Stirn, und ald fie wieder ftill geworden waren, erhob fie ſich, ein Lächeln der Glüdfeligfeit auf den Lippen.

Mit ſchwimmenden Augen trat ich nun vor, druͤckte ihre Hände und rief: „Meine liebe, liebe gnädige Frau!“

Sie fah mid) bei diefer Anrede mit vermunderten Augen an und noch einmal flog es wie ein Lächeln über ihre Züge; dann fagte fie: „Du haft recht, mein Gottfried, unfer Äußeres Verhältnis ift ein andered geworden. Heute aber laß ed noch bei dem vertrauten Du; heute noch laß und nur die Kinder des teuren Mannes fein, ben wir beide beweinen.“

Und nun Iöfte fie mir die Seele mit linden Fragen uber meine große Erfahrung; Erinnern reihte fidh an Erinnern. Sie hatte die heilige Natur des Toten erfaßt wie feiner fonftz auch die Freundfchaft wurde berührt, die unfere Väter und fchon die Großväter verbunden hatte. Während dieſes gegenfeitigen Geflüfterd war eines der Sinäbchen laut geworden. „Meine kleinen Herren werden und nicht lange mehr Frieden laffen“, fagte fie, indem fie das Kind in ihren Armen wieder fill wiegte. „Sieh ihn dir einmal an, lieber Gottfried, den Heinen Unruhftifter. Du haft während ber Taufe nur Augen für fein Brüderchen gehabt; fie find aber beide deine Paten; bu wirft beide lieb haben, beide gleich lieb, mein Gottfried, nicht wahr?“

„Nun aber,” fuhr fie fort, nachdem fie ben Kleinen

62 Fran Erdmuthens Zwillingsföhne

wieder niedergelegt hatte, „nun laß und heute noch mit einander befprechen, worüber du vor dem Einfchreiten des Vormunds in dir felber Har fein mußt. Es ift mein innerfted Anliegen, wie dad meined Mannes, den fein Dienft in diefen Tagen leider ferne hält.“

Sch rücdte meinen Stuhl näher an die Wiege, die ich mechanifch fchaufelte. Frau Erdmuthe hob an:

„Sei überzeugt, lieber Gottfried, daß mein Mann, wenn deine Sahre ſich um zwei oder drei vorrücden ließen, feinen anderen ald dich in das Amt deines Vaters be- rufen würde, Deine wie meine Erziehung war ja auf diefen Fortlauf angelegt. Gott hat ed anders gefügt: wir müffen ung ein Mittelglied gefallen laffen. Weißt du nun einen in diefem Sinne zum Nadıfolger und Vor- gänger geeigneteren, ald unferen Nachbar Heidenreuter? Meinem Manne empfiehlt er fidy auch darum, weil er euer Bormund iſt; bejahrt und ohne eigene Familie; bald wird er eines Gehilfen, in berechenbarer Zeit eines Nachfolgers bedürftig fein. Diefer Gehilfe, diefer Nach⸗ folger bift du. Rede mir nicht darein, Gottfried, du!

„Wir find feit den Kinderjahren einander fern gewefen, aber, wie ald Kind, leſe ich heute noch in deiner Seele und ahne die felbftüberwindenden Pläne, mit denen bu dich trägft. Nicht immer aber foheint mir das Schwerfte auch das Richtige zu fein, und es ift felten weife, in rafcher Eingebung die Zukunft der Gegenwart aufzus opfern. Sch habe dies Fürzlich an mir felbft erfahren, als ich dem Freunde den Platz an meines lieben Vaters Lager überließ und an der Wiege meiner Kinder aus- harrte. Du wuͤrdeſt deines Heimgegangenen teuerfte Erbenhoffnung, deiner Mutter Zufunftötroft zerftären,

Erfter Abſchnitt 63

indem du den eingeborenen Beruf verleugneteft. Du mußt weiter ftudieren, mußt Pfarrer werden, Gottfried.

„Du haft did ſchon im erften Univerfitätsjahre faft allein erhalten, legſt deiner Familie feine Laften auf; als Neuling in jeder anderen Bahn wuͤrdeſt du ihr nur eine ſchwache Stüße fein; um fo zuverläffiger dereinft, wenn du auf deinem Wege ausgeharrt haft. Die Mutter, fo Gott will, wird den ſchweren Schritt in das Witwens haus nimmer zu tun haben. Wie follte der einfame Pfarrer nicht froh fein, die alte Freundin in den ge- wohnten Räumen fchalten zu fehen? Was aber unfere Schweitern betrifft, Tieber Gottfried, fo duͤnken vier mid) noch nicht genug für alle Hilfe, deren ich, feit meine fleine Herren eingezogen find, im Kaufe bedarf. Mit wem follte ich ihre Pflege wohl lieber teilen, als mit deiner Chriftine, die das geborene Mütterchen ift. Frau Bär Fränfelt; ihr Sohn befteht darauf, daß fie unfer Haus verläßt. Es ift eine ftolze Natur, diefer Albrecht; laß dich durch feine Herbigfeit nicht abfchreden, Tieber Gottfried. Er braucht einen Freund, und ich wüßte feinen, der ihm Freund fein könnte, wie du. Ich wüßte aber auch feine, die mir die treue Frau Bär erfegen könnte, als die Martha des Pfarrhofes, deine Ehriftophine. Wenn ich aber auf die Berge von Sandarbeiten, die vor mir liegen, blide, fo denfe ich mit Schreden daran, daß die gute Mutter eine unferer Süngften zu ihrem Veiftande behalten möchte. Und wie lange wird es denn dauern, ftellen, einer nach dem anderen, die Freier fich ein, um fich mit einem Weibchen von der beiten Sorte den ei- genen Herd zu begründen.

„Bleiben alfo die Brüder, von denen der Lieb ja reif

64 Frau Erdmuthens Iwiltingsföhne

zur Einfegnung ift. Er hat Luft zur Landwirtfchaft, und mein Mann, den fein Dienft fo vielfach an derfelben hindert, wird Gott danfen, wenn ihm unter unjeren Augen ein tüchtiger Verwalter erwaͤchſt. Die beiden Juͤngſten muͤſſen freilich noch Sahr und Tag auf ber Schulbank file halten; bleibt aber Lob, der Herums fireifer, der Liebe für Wald und Wild getreu, fo wird unferem alten Förfter die Gefellfchaft eines munteren Lehrlings willkommen fein, und wie werden wir bes Zimmermeifterd Hold bedürfen, wenn ed in unferem Heideflecken dereinft ein wenig wohnlicher werden fol. Alles das find Luftfchlöffer, Lieber Gottfried; die Neigung der Kinder kann ſich ändern; Mutter und Bormund haben auch ein Wort darein zu reden; das aber fiehft du heute fhon, daß in unferem Meinen Reiche mancher Poften eined Anwärterd harrt.“

Die herrliche Frau hatte im Eifer einen ftillaunigen Ton angefchlagen, ber ihrem Wefen fonft ferne lag; mir aber war er ein burchfichtiger Schleier, den die Liebe über nacdte Hilfe warf, und Gott weiß, wie mir bag Herz bei diefer feltenen Anmutögabe ſchwoll!

„Wenn wir nun aber“, fo fuhr fie nadı einer ftillbes wegten Paufe fort, indem fie mir noch einmal die Hand reichte, „wenn wir feinen einzigen unferer jungen Freunde miffen, fie alle recht feſt an unfere Heimat binden möchten, wieviel mehr noch den Bruder von der Wiege ab, den vorbeftimmten Erben der Freundfchaft, welche die Väter verbunden hat. Meinft du, mein Gottfried, dag wir dich Fremden überlaffen könnten, bis du ale Sorger für unfere Seelen in dad Amt der Bleibtreu aufgerächt bit? Nimmer, nimmermehr! Du kommſt zu

Erfter Abſchnitt 65

und. Schau dir meine Lieblinge nody einmal redyt an, mein Gottfried; fie werden in zwei, drei Sahren noch gar winzige Bürfchchen fein, aber der führenden Hand auch dann ſchon bedürfen. Wie verehre ich die Fügung, die fie zu deinen Paten machte! Ein Band mehr, das bir Mühen und Sorgen erleichtern wird. Du wirft fie hegen wie feiner fonft: Gott hat die Kinderliebe auf deine Stirn gezeichnet. Not genug werben fie dir freilich machen, Freund; der Fleine ſchwarze ift ein gar uns bändiger Gefel. Hörft du? Da fchreit er aus vollem Halfe. Dein Schaufeln verfchlägt nicht mehr; die ruhige Stunde ift um. Gute Nacht, mein Gottfried. Erft gib mir aber noch die Hand darauf, daß du zu und fommen willſt. Wir werden die Tage zählen, bis wir dich haben als den Unferen, den Unferen bis and Ende.“

Sie ſchwieg. Und ich? Was hätte ich tun Fönnen, als zu ihren Füßen niederfallen, ihre Hände an mein Herz druͤcken, dann aber mich über die Wiege beugen, meine Lippen auf die Stirnen ber Zwillingsbrüder preflen und aus dem Zimmer ftürzenz alles ohne ein Wort, dad ein anderer ald die im Himmel vernommen hätte Die aber, mein ewiger Vater und der ed hienieden gewefen war, fie werben es gehört haben, daß ich gelobte, dieſem Weibe und diefen Rindern mein Leben zu weihen, als wären fie mein eigenes Weib und meine leiblichen Kin⸗ der; und wundert ſich einer, daß ich, fie vor Augen, nies mald ein Begehren empfunden habe, ein eigenes Weib und leibliche Kinder im Herzen zu tragen?

Alles ruhte im Pfarrhaufe, als ich dahin zuruͤckkehrte. Sch taftete mich ohne Ficht in meine Kammer, legte mic), nach muͤtterlichem Befehle, augenblicklich nieder und xX.5

68 Fran Erdmuthens Iwillingsfähne

fchlief ein. Sa, ich, der vor wenigen Stunden von feiner Schlummerfüßigfeit mehr wiffen wollte, als der ewigen, die der Gerechte fchläft, ich befchloß meinen Tag mit einem Danfgebet für Gottes Herrlichkeit auch im diese feitigen Leben, und ic) fchlief fanft wie ein Kind, bis Der helle Morgen durch die Scheiben fiel.

Die Erbfchaftöregulierung am anderen Tage hielt nicht lange Zeit auf. Der Hausrat war muͤtterlich Einge- bradhtes, die Kaffe erfchöpft, die Bibliothek füllte einen fchmalen Raum, denn der Dann der Kiebe hatte ben der Wiffenfchaft ftreng im Zaum gehalten. Wäfche und Kleider wurden unter den jüngeren Nachwuchs verteilt. Ich erbat und erhielt nichts davon ald den euch ſchon bekannten feftlichen fchwarzen Rod. Es ift eine Wunders dauer in diefem Rod, der keineswegs neu war, als ich mich vor Frau Erdmuthens Hochzeit zum erften Male mit ihm im Spiegel fah. Nun habe id, ein halbes Jahr⸗ hundert lang bei jeder weihevollen Handlung ihn unter dem Talare getragen, und er ift heute noch fo ſchmuck und paßlich auf meinen Leib, daß ich midh feiner ale des würbdigften Sterbefleibes erfrene.

Im übrigen: wie die Freundin meines ganzen Lebens ed ausgefonnen, wie meine grundbrave Mutter es ge- billigt hatte: alfo geſchahs.

Zweiter Abſchnitt

Was krumm if, muß fich gleichen.

o hätte Gottfried Bleibtreu ſich denn wie ein Held Co Parade aufgepflanzt; fein heimifches Neft, die ererbte Schugherrfchaft und felber die fleinen Patrone der Zufunft aus dem Grundterte vorgeführt; den gegen» wärtigen Teilhaber ded Regiments, den Gatten der Seelenfreundin, deren braͤutliches Strumpfband er ges Löft, den Vater der Zwillingsbrüder, an deren Tauftifche er ald Küfter und Pate geftanden, den aber hat er big auf den Namen zu erwähnen vergeflen. Vergeffen? Ei, beileibe nicht vergeflen den vielmerten Gönner und Freund, mit deffen Eintritt ja erft der Keim zu meiner Bruders gefchichte gelegt worden ift. Alles Bisherige war Greifen, plauderei; ein Blick in blaue Ferne tut alten Augen fo wohl!

Eine römifche Geſchichte; traut ed dem Amanuenfis der gelehrten Frau nur zu, er wuͤrde allerfrüheftend fie begonnen haben.

„Nach zurücgelegten Eramina trat id; ald Hauslehrer in die Familie ded Furfürftlichen Dragonerleutnants, Baron Raul von Roc.“

Herr Raul von Roc entitammte einem hugenottifchen Geflecht, das nach Aufhebung des Edikts von Nantes bei dem damald noch proteftantifchen fächfifchen Hofe eine Zuflucht und, von Vater auf Sohn, in der fächfifchen Armee eine ehrenvolle, wenn auch befcheidene Stellung gefunden hatte. Die Familie nannte ſich dazumal Ches valiers de Saint Roc, rühmte fich, ihren Ritterfchlag in den Kreuzzügen erhalten zu haben, und erinnerte ſich eines reichen Edelfiges in ber Provence, der in die Hand

68 Frau Erdmuthens Zwillingefähne

eined dem Fatholifchen Glauben treugebliebenen oder zu ihm zuruͤckgekehrten Zweiggefchlechtes gefallen fein follte.

Da indeffen alle heimatlichen Verbindungen aufgehört hatten, verſchwammen diefe Traditionen je mehr und mehr in ein nebelhafted Sagengebiet, und feit in dem großen Belagerungsbrande von Wittenberg 1756 Di- plome und Familienpapiere verloren gingen, waren auch jene Legenden fo gut wie erlofchen.

Der Bater unfered Herrn Raul fiel während ber fieben Kriegsjahre, ohne den letzten deutſchen Namenderben der Saint Roc mit Augen gefehen zu haben. Auf An fuchen wurde leßterem vom Kaifer Franz ein neues Di- plom mit der für die Prärogative deutfchen Adels voll⸗ gültigen Ahnenzahl verliehen, und Herr Raul nannte fich, felbigem getreu, Baron von Roc.

Auch feine Mutter ftarb früh. Da fie, wie auch ihre Vorgängerinnen, gleichfalls einer refugierten Adels⸗ familie angehörte, hatte im Äußeren des verwaiften Knaben der Typus füdlicher Abftammung ſich unge: brochen erhalten, während dem geiftigen Naturell bag Sahrhundert wohl anzufpüren war, das vier Genera- tionen unter einem fälteren Simmel burchlebten. Das Temperament hatte fid) gemäßigt, der Geftus war leb⸗ hafter ald der Efprit, das Auge flammte kühner als die Leidenfchaft, das Herz aber fchlug fo kernbieder und treu wie das bes deutfchen Stammes, dem er das Gluͤck hatte, fich in aufrichtiger Kiebe zu verbinden. Auch fühlte er fi von Grund aus einen deutfchen Mann, hegte feinerlei Sympathie für die fränfifchen Stammesgenoffen, ald deren Verbündeter fein Vater gefallen war, ohne durch feinen Tod feinem fächfifchen Kriegsherrn ein

Zweiter Abfchnitt CL)

Lorbeerblatt zu erfaufen, fehnte fid) niemals aus dem norbifchen Heidewinkel nadı der holden Wiege feines Gefchlechtes. Weil aber fein Organ an dem Wohllaut der erften Heimat entwidelt war, klang die Sprache ber zweiten rein und gar verlodend für unfer ſaͤchſiſches Ohr.

Das Reiterregiment, dem er angehörte, garnifonierte in einem dem unfrigen benachbarten Bezirk. Dort hatte das junge Paar ſich fennen lernen und auf den Hof: bällen Dresdens die Befanntfchaft weitergeführt. (Denn ach! mein Fräulein Erbmuthe hatte getanzt, gern ge: tanzt, fchön getanzt und fogar rund!) Was Wunder, daß auf den erften Blick der feurige Kerr lichterloh für das Iiebliche, fittige deutfche Fräulein entbrannte und daß auch das liebliche, fittige, deutſche Fräulein an dem fchönften, Tebhafteften Kavalier ihres Kreifed, dem ver: wegenften Reiter, dem zierlichften Tänzer ein Gefallen fand, welches ſich allmählich in innigfte Neigung ver: wandelte. Die Liebe, fo fagt man ja, entzündet ſich am Gegenfag und behauptet fi am färkiten in Naturen abweichenden Scjlage®.

Auffälliger möchte es fcheinen, daß der alte Freiherr ſich den Wünfchen feiner Tochter fo bereitwillig fügte. Welchen ftichhaltigen Einwand hätte er indeflen gegen diefelben erheben können, ald daß unter der Schar ber Bewerber Herr Raul von Roc ber ärmfte war und bap er einem anderen Blute entflammte, ald dem, aus wels chem fein Gefchlecht fich bis dahin ergänzt hatte?

Juſt in letzterem Punkte jedoch, in dem des Blutes, hegte unfer Herr, feitdem feinem Stamm auch die her- koͤmmliche einzige männliche Blüte verfagt worden war, einen Zug befcheidener Selbfterfenntnig, der fi, nad)

70 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne

„flaͤmiſcher“ Weife, langſam, aber hartnädig, fei es zu einem Wahn, fei es zu einer Wahrheit entwidelte. Wenn er nach einem Gang durch feinen Ahnenfaal oder bläts ternd in der Familiendhronif die gleiche Artung an Leib und Seele zwar veredelt, aber doch Zug für Zug aud in der Erfcheinung feiner Tochter wiederfand; nod) mehr aber, wenn er an ſich felber inneward, wie fchwers fällig der Gedanke zum Entfhluß, der Entfchluß zur Tat gedieh, dann fagte er wohl zu feinem alten Freunde in der Pfarre:

„Ss muß ein rafcherer Saft in unfere Adern ergoflen werden, oder wir verfiechen. Wögen die niederen Schidhs ten fi in gleicher Gattung wie die Tiere der Weide fortpflanzen; die zur Führung berufen find, bedürfen ers frifchenden Wechſels. Warum hat der britifche Adel ſich fo herrfcherfähig behauptet, ald weil der normäns nifche Strom den fächhfifchen gefreuzt? Ein jedes Volt hat Tugenden, weldye dad andere entbehrt und unter beren Verfchmelzung die Mängel bed einen wie bee anderen ſich tilgen.”

„Bid dann endlich der Tag kommt,” fo pflegte der geiftliche Freund zu fchließen, „der Tag, wo allefamt, einzelne und Bölfer, fid) ald eine große Familie zum Segen vereinen, wo jede Zwietracdht ſchwindet und ein Reich ewigen Friedens in brüderlicher Liebe beginnt.“

Der lebhafte, fchwarzäugige Enkel der provenzalifchen Hugenotten war daher der rechte Mann, um die flä- mifche Ader aus dem Blute der fächfifchen Barone zu verdrängen, und daß fein Name verdeutfcht einen Feld bedeutet, ei nun, dad war ein Zufall von denen, die ald Wink für unfere Launen genommen werden. Der aber

Zweiter Abſchnitt 71

kennt unſern alten Freiherrn ſchlecht, der da meint, er werde einen Ehrenmann, bloß weil er arm war, von der Schwelle ſeines reichen Hauſes gewieſen haben. Der letzte der Fels war ein ſtolzer Herr, aber ſein Stolz war ritterlicher Art; eine Heirat um Geld nannte er pöbelhaft und feinen alten Namen ein Ehrenpfand, das nicht im Aufftridy verhandelt werden dürfe,

Sa, mehr noch: für die Stellung, zu welcher er feine Tochter erzogen hatte, paßte im Grunde nur ein uns vermögender Mann. Ein anfäffiger Eidam hätte ihm feine Erbin entführt; die Beſitzungen fchmolzen ineins ander, die der Feld traten in die zweite Reihe, wurden vernachläffigt, audgebeutet, wohl gar verkauft; die Ers innerung an das urfprüngliche Gefchlecht verlor fich auf dem Boden, der es großgezogen hatte. Dem armen Dragonerleutnant gegenüber blieb feine Erbin Numero Eins. Herr Raul hatte fein Roß und Schwert, Frau Erdmuthe das Regiment in Haus und Hof; Herr Raul, der feine Spur von Sinn für die Kandwirtfchaft offen» barte und feine Oattin zur Nugnießerin nur fehr bes fcheidener Würden machen fonnte, war für das Erbe im Seidewinfel der rechte Mann.

So fagte unfer Herr denn Ga und Amen zu dem Bunde, den die Herzen gefchloffen hatten, und wenns gleich ed ihm nur ein Jahr lang vergönnt war, Zeuge desfelben zu fein, konnte er fid) des erreichten Zieles nur erfreuen. Niemald hat ed eine glüdlichere Che gegeben, als die von Erbmuthe und Raul. Das Vers hältnis zu feiner Gattin war ohne Frage bie ftärfite Ceite ded jungen Mannes. Die Reize ded Liebhabers: feurige Erregtheit und ritterliche Galanterie fonnten für

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ein Erbteil feines füdlichen Stammes gelten; die ehe— lichen Tugenden: Treue und unerfchütterliched Vertrauen, mochte er im Norden eingefogen haben. Sie aber, Erd⸗ muthe, ihr Wefen gipfelte vielleicht nicht, aber es erblühte auf das holdefte in der Neigung zu dem erwählten Manne. Sie ahnte es felber nicht, und er ahnte es noch viel weniger, daß fie die beherrfchende Natur in ihrem Bunde war, daß er feinen Willen hatte neben dem ihren und ihrer Einficht niemals widerſtand. Schwoll einmal eine füdlich jache Ader auf feiner Stirn, und fie glitt mit ihrer etwas großen, aber ſchlanken weißen Hand darüber hin, und fagte nichts weiter, ald „Mein Raul!“, jo war die Wallung gedämpft, noch ehe fie aufgekocht. Ein zierlicher Handfuß, eine Umarmung, ein Lächeln fo feelenvergnügt, wie zuvor, befundeten den weiblichen Sieg. Beim Kleinften, was fie außer der Tagesordnung befchloß, fragte fie: „Iſt e8 dir recht, mein Raul?“ Und dem Herrn Raul würde e8 recht gewefen fein, wenn fie den Mond vom Himmel herunter hätte holen wollen. Traf fie eine Anordnung, gab fie einen Befehl, fo fagte fie niemals: „Sch wünfche, ich will,“ fondern „Unfer Herr wünfcht, unfer Kerr will”; alles das aber nicht mit der heimlich gefchulten Art, die ald Takt gepriefen wird, fondern faum bewußt, im Zartfinn eines liebenden Gemuͤts. Wer unter Frau Erdmuthend Dad, geheimft hat, konnte ſichs erflären, daß die Ehe unferer großen deutfchen Kaiferin mit ihrem Franzel eine fo glückliche gewefen und daß weiland ihred Herrn Vaters Majeftät, ber im übrigen ja nicht um eine Gluͤckshand zu beneiden war, mit feiner pragmatifchen Sanftion foldy einen Treffer gezogen hatte.

Zweiter Abfchnitt 73

So fügte ſich denn alles nach unferes Herrn Wunſch und Willen. Er hatte feinen Eidam adoptiert; berfelbe nannte fic mit Furfürftlicher Genehmigung jetzt Roc von Feld, ja er nannte fidy in danfbarer Vorliebe kurz⸗ weg Baron Fels, und die Zeit lag berechenbar nahe, wo der heimifche Feld den fremden Roc vollftändig verdrängt haben würde.

Als eine fernerweitige allerhöchfte Gunftbewilligung an unferen wohlaffreditierten alten Herrn ift ed angefehen worden, daß die Schwadron, welcher fein Schwiegerfohn angehörte und die er fpäter als Rittmeifter führte, gleich nach der Verlobung ded jungen Paared unferen Ort als Sarnifon bezog. Der Herr Offizier verfah demnach feinen Dienft vom Schloffe aus, und Wehr: und Nähr- ftand vertrugen fich friedlich unter einem Dach. Zwifchen unfer armes, verwahrloftes Heidevoͤlkchen aber Iegte der militärifche Zuwachs einen erften gedeihlichen Keim. Solch ein paar hundert Roffe und Reiter füllten die Stätten, die der Bauer feine Goldgruben nennt; die forgfältige Abwartung der Pferde wurbe zum Exempel für die des übrigen Getierd; man lernte an dem Loge: ment für die Mannfchaft auch die eigene Wohnung rein- licher im Stande halten; es fam ein Element von Zucht und Ordnung unter und, nachdem uns letztlich die boͤſe Seuche eine fo ftrenge Mahnerin geworden war. Wort und Beifpiel des Pfarrhaufes waren im Schlendrian verpufft, die flämifche Ader der Edelherren hatte diefem Schlendrian Borfchub geleiftet: nun griff mans mit Händen, wie bie beleidigte Natur fich rächt, ſchaffte Luft und Licht um fich herum, befreundete ſich allmäh- lich auch mit dem Element, das dem Heidebauer fonft

74 rau Erdmuthens Zwillingsföhne

nur in Tropfenform eine Himmelsſpende dünft; Iebte arbeitfamer, nüchterner und gradatim befler. Zwei Friedensjahrzehnte förderten dad Gedeihen; dad Gemeins gefühl wuchs mit der einzelnen Wohlbefinden, und dag weibliche Regiment auf dem Edelhofe förderte liebreich jeden zarten Trieb. Seit den Tagen Frau Erdmuthens erhob fich der wüfte.Beidefleden zu dem Range einer Stadt.

Ob der Sinn für diefen Fortfchritt auch unferem bes dächtigen alten Herrn erwachſen wäre? ch weiß es nicht. Als er inmitten der Krifid die Augen fchloß, hatte er in dem Doppeltriebe, der dem erneuten Stamme entfproß, das Ziel feines Strebens überholt gefehen. Selbft wenn diefe Knäbchen die einzigen blieben und fie blieben die einzigen -, fein Name und Erbe waren fefter als feit Jahrhunderten der Zufunft verbürgt.

Welch ein geebneter Pfad fchien diefen Kindern vors bereitet! Sie brauchten gar nichts weiter, ald gelaffen darauf hinzumandeln, um ſich felbft wie vielen anderen zu Luft und Segen ihre Tage abzufpinnen. Schön und kraftvoll geftaltet, erzogen in einem Haufe, wo nur Bers nunft und Liebe walteten; ein braver Vater, eine Mutter, deren Seelenfülle in dem mütterlichen Triebe gipfelte; ehrwürdige Familienerinnerungen; Wohlftand ohne Ups pigfeit; freie Augflucht in jeden anfprechenden Beruf und fichere Ruͤckkehr in eine Heimat, die beiden ein ges fondertes, doch in das Brüderliche greifende Feld der Tätigkeit öffnete; fo ihre Konftellation.

Und doch lag unter der blumigen Dede ein Keim vers fenft, der, in gewittervoller Zeit erftarfend, alle Heimats⸗ blüten überwuchern follte.

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Zweiter Abſchnitt 25

Im lieben, deutichen Baterlande hatte auch auf dem Felde der Pädagogif feit zwei Sahrzehnten ſich ein Sturm und Drang erhoben, um dad, was zwei Jahr⸗ hunderte lang in trägem Schnurrengange hingelaufen war, handumdrehende auf den Kopf zu ftellen und ein nagelneued Menfchengefchledht aus ſchmetternden Lehr⸗ trompeten zufammenzublafen.

An alle diefe Lehrtrompeten und Yaunenpfeifen und Engeldorgeln hatte ich mein Ohr gelegt; ed faufte und braufte in meinem Hirn, ich taumelte, wie voll füßen Weines, bis denn am Ende mein alter Zuchtmeifter in der Menfchenwürde mir wieder auf die Beine half.

„Zum Kudud, Kindskopf, mit deiner pädagogifchen Muſik! Die Erbnnatur - ja, ja, ich bin auch bibelfeft! - wirft du ihnen doch nicht aus dem Geblüte blafen. Pauke dir erft felber wieder ein, was du deinen Junkers rangen einpaufen follft, und außerdem, fagft du denn nicht, daß du fie liebſt?“

Als Albrecht der Bär diefen Rud in das Natürliche an mir verübte, war er im fünften Studienjahre, auf Kreuz⸗ und Querzügen durch gotteds und redıtögelehrte Labyrinthe, auf der heilwiffenfchaftlichen Verſuchsſtation angelangt; ohne indeffen, wie er bereits felber muts maßte, auch an diefem Leitfeile den NRuhepunft aus⸗ findig zu machen, auf welchem „die beiden Kläffer Kopf und Wagen ſich nicht in die Waden beißen”. Einft: weilen nagte er an der Rinde, weldye er ale Erbteil im Brotfchranfe der Mutter Bär vorgefunden hatte; als er aber mit diefem unbeftreitbaren Menfchenrechte beim Doftorfchmaufe auf die Neige gefommen war, vers fhwand der große Bär aus unferer KHeidezone, und

76 Fran Erdmuthens Zwillingsföhne

haben wir viele Sahre vergebens geforfcht, in welchem Urmalde er Freiheit und Honig fuchte.

Sein Informatorenrezept indeffen war nad meinem Geſchmack; ich däftelte mir ein Abcbuch aus, in der Hoffnung, bei Afchylos und Tacitus mit meinen Schh- lern zu enden, und außerdem liebte ich fie. Als ich aber in mein erfted Erbamt trat, waren bie Fleinen Herren netto drei Sahr und mehr noch der Muhme ale des Abcbuches bebürftig. So machte ich mich denn zu ihrer Muhme, rüdte mein Bett zwifchen die ihren und ergögte mich mit dem erften und lebten Tagesblick an dem wunderbaren Widerfpiel diefes Doppellebens.

Der alte Freiherr hatte den Saft feines Stammes auf: zufrifchen gedacht; ed war aber nicht eine Mifchung, die fihh in dem üppigen Erftlingstriebe vollzog: das alte wie das neue Reid hatte gefondert einen Sproffen feiner Art gezeitigt. Kein Auge würde in diefen Kindern Bruͤ⸗ ber, viel weniger Zwillingöbrüder vermutet haben.

Der Erftgeborene war ein Sadıfe, ein Feld, muskuloͤs, hell und blauäugig wie der Großvater, deffen Namen er trug, aber mit dem tieferen Ton und Blick, der von dem Bilde ded Bekenners in das Auge der Mutter übergefprungen fchien. Der Zweite war ein Romane, ein Roc, feined Vaters Ebenbild, aber mit dem ge- fhärften Ausdrud eines rafcheren Blutes. Sein Auge hatte den halbwilden Flimmer des jungen Falfen, dag feine Profil fennzeichnete eine frühe Entwidlung. Er blicfte und griff nad) den Gegenftänden, wo der andere noch lange in die Leere taftete;s er lachte mit hellem Klang, wo jener faum noc, die Tippen verzog; als Herrmann nody Tallte, artitulierte Raul ſchon verftänd-

Zweiter Abfchnitt 77

lich, und feltfam! am leichteſten in der väterlichen Sprache, die er doch weit feltener vernahm. Er fchoß auf allen Bieren durch bad Zimmer, richtete ſich an jedem Stuhl: bein auf, purzelte wohl oftmals, fprang wie ein Steh- auf aber immer wieder in die Hoͤh und fehnellte weiter, bi8 der Federdruck der zierlichen Gelenfe erlahmte. Bruder Herrmann faß währendbeflen unbewegt auf dem Teppich oder fchleppte ſich mühfam im Laufforbe vorwärts. Eines Tages aber erhob er ſich firamm auf die Beinchen, fohritt ohne Fehltritt auf feine Mutter zu und ift nicht ein einziged Mal gefallen.

Das war vor meiner Zeit. Als jedoch unfere Wande⸗ rungen durch den Wald begannen, da war Klein-Raul immer eine Strede voraus, jagte ſich mit Karnideln und Hafen, kletterte ver Eichkatze nach bis in die Wipfel. Bald hatte er einen Schmetterling, bald ein Bogelneft oder eine Eidechfe ergattert, und bei jedem Fund fchmetterte dad Stimmchen wie ein Trompetenftoß. Atemlos fam er zurüd, feine Beute zu zeigen, hebte dann wieder vorwärts mit dem Windfpiel, feinem Lieb- ling, um die Wette,

Gelaffen ging in der Zeit Groß-Herrmann an meiner Seite, aufmerffam horchend auf Namen und Eigen- heiten der Waldprodufte, die ic; im Wandeln erklärte; hatte Bruder Ungeſtuͤm ung aber einmal über das gefeß- mäßige Ziel hinausverlocdt, drüdte der Sonnenbrand oder überrafchte und ein Gewitterfchauer, fo hielt jener ohne Ermattung aus, während ber Kleine weinend bie Flügel hängen ließ und manches Mal hudepad auf dem Paten Magifter den Heimweg zurüdlegte, bis dad Hof: tor in Sicht und er dann jach wieder voraus war, um

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mit feiner Beute und feinen Abenteuern Parade zu machen. Ä

Der Heine Herr war eitel, puste die Nägel und fohniegelte vor dem Spiegel die ſchwarzen Loͤckchen, wo fein Bruder lange noch fidy gegen Kamm und Bürfte fträubte; niemals fonnte er zierlidy genug gekleidet fein, hatte feine Sachen aber aufgetragen in der halben Zeit, daß die ded Großen noch drall auf dem Körper faßen. Freund Raulchen war aud) leder, rafch, aber wenig wie ein Vogel, Herrmann langfam und viel, wie - ei nun, wie ein junger Stier. Surzum, aus taufenderlei fleinen Zügen ließe fich der Gegenſatz der Naturen ers weifen, und würde fein Ende zu finden fein, follte er auch auf geiftigem Gebiete verfolgt werden.

Auch hier war der Große fcheinbar vom Kleinen über, holt. Der hatte die Pointe erfaßt, wo jener noch muͤh⸗ fam an den Wurzeln flaubte. Herrmann wußte nichts, wenn er nicht dad Ganze wußte; Raul wußte mit einem Bruchteil alles, was er zu wiflen verlangte und weflen er zu wiffen fähig war. Herrmann griff ſtark an und hielt das Ergriffene feftz er fchaute fcharf zu, unterfuchte von Grund aus, fam nad) Überlegung zu Schlüffen, an denen er unbeugfam und ohne Entmutigung felthieltz er gelangte zu einem deal auf dem Wege der dee.

Seinem Bruder galt jeder ftarfe, perfönliche Impuls als Ideal; er ließ es fallen, fobald die Phantafie von einem neueren Gegenftand entzündet wurde. Nach jeder Lektion hatte er einen Helden, mit dem er fidy identis fijierte, bid ihm ein anderer noch heroiſcher entgegen, trat. Er fpielte immer einen Zweiten und war immer er felbft; aber immer ber Erfte, immer obenan. Dem

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Älteren genügte von vornherein felten ein Held; er fah die Mängel neben den Tugenden; fondierte die Quelle und forfchte nad) dem Gefege jedes Tuns. Er war immer er felbft und doch mitten in einem Zweiten. Seine Stärke war dad Gemwiflen, die ded anderen die Begeifterung; jener zügelte felber einen edlen Impuls, bis er ihn geprüft, diefer ftand jeden Augenblid unter der Herrfchaft eines Affekts.

Noch einmal: beide waren gleidhfam Typen ihrer Kaffen, Feine Urs und Normalnaturen, an denen dem gleichgültigen Befchauer nichts Sonderbares aufgefallen fein würde, als daß fie gleichzeitig unter einem Kerzen und unter einem Himmel ſich entwicdelt hatten. Ich aber hätete mich, die Grundfchrift der Natur mit uns haltbaren Lettern zu übertündhen, jenen ungelehrten Mönchen gleich, die eine unerſetzliche Handfchrift tilgten, um für den Elöfterlihen Kanon ein Blättchen Pergas ment zu gewinnen. Ein kraͤftiges Gepraͤge wird feine Malerkunſt verdrängen, wo aber die Urfchrift ſchwaͤch⸗ lich war, verläuft fie mit der Überfchrift, grau in grau, zu einem unverftändlichen Pfuſcherwerk.

Sch nahm meine Kinder fo, wie Gott fie gefchaffen hatte, und erftrebte nichts weiter, ald ihre Eigenart den ewigen Gefegen dienftbar zu machen, die für jede Naturs anlage die gleichen find. Welchem von beiden der Bor; zug gebührte, hätte id faum zu unterfcheiden gewußt. Wenn aber im Verlauf die Neigung mid) ftärfer zu dem Älteren zog, fo gefchah ed um der immer deutlicheren Ähnlichkeit mit feiner Mutter willen, deren Wefen id) feit dem Bewußtwerden meines Lebens im tiefiten Mits gefühl zuftimmte,

80 Frau Erdmuthens 3willingsſoͤhne

Aus gleichem Grunde erkläre ich mir die unverhehlte Borliebe des Vaters für diefen ihm fo unähnlichen Sohn. Ein gut Teil Bequemlichkeit mag hinzugezählt werben, denn Kinder, bie nur gefördert fein wollen, fallen uns weniger befchwerlich, ald die, welche jeden Augenblick einen Zügel herausfordern. Auch im Bereiche der Er- ziehung fehen wir in dem Guten, dad wir gedanfenlos verfäumen, ein geringeres Unrecht, als in dem Schlimmen, zu dem wir im Eifer und reizen laflen.

Die Mutter ftand zu diefem Älteften den fie vorzuge- weife ihren „Sohn“ nannte, von früh ab in einer Harmonie, wie eine Freundin zum Freund; zaͤrtlicher dahingegen neigte ſie ſich zu ihrem „Kinde“, ihrem Raul: ſei's, daß der Zauber des Vaters in ſeinem Ebenbilde fortwirkte, ſei's, daß ſie fuͤr die vaͤterliche Bevorzugung des anderen nach einem Ausgleich trachtete. Oder ſollte es ein Vorgefuͤhl des Herzeleids geweſen ſein, das ſie um dieſen Sohn einſt tragen ſollte? Die Lieblinge der Muͤtter ſind ja haͤufig ihre Schmerzenskinder.

Denn auch dieſe Erfahrung iſt mir zuerſt unter dem Dache der Roc von Fels aufgegangen: Nur die Liebe zwiſchen Mann und Weib ertraͤgt und verſoͤhnt den Widerſpruch der Grundnaturen; in jedem bruͤderlichen Verhaͤltniſſe, im Hauſe wie in der Schule, in der Ge⸗ meinde wie im Staat, ſtoͤrt und zerſtoͤrt der Gegenſatz die Harmonie. Die Skala der einzelnen mag hoͤher ſteigen oder tiefer ſinken, der ſimmende Tenor muß derſelbe ſein. Freunde ſind Gleichgeſinnte, Bruͤder Gleichgeartete.

Unſere Bruͤder ſtießen gegeneinander lange, ehe ſie be⸗ griffen, was Bruderſein heißt. Die Herausforderung gab allemal Raul. Bei jeder Gunſt, jedem Lob, die

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Herrmann erntete, ſchoß ihm das Blut zu Kopf, und im Nu hatte er ihn bei den Haaren. Er ertrug feine Ges meinfchaft; alled war fein und nur, was ihm belichte, dem anderen. Sein Teil follte immer das erfte, bei jedem Spiel wollte er Anordner, Bormann fein. „Ic bin der Größte!” fagte dann Herrmann. „Aber idy der Kluͤgſte!“ verfegte Raul, und wie ein Kampfhahn fuhr er auf den Bruder los.

Wenn dann die Mutter mit bem einzigen Worte: „Aber mein Raul!” dazwifchen trat, da war er freilich auch der erfte, feinen Nebenbuhler freizulaffen; ja, er fiel ihm um den Bald, füßte ihn, verfpradh, fortan jeden Lecker⸗ biffen oder Chrenpoften mit ihm zu teilen. In der nächften Stunde aber hatte er fein Wort vergeflen, und die Neckerei begann von neuem.

Anders Herrmann. Auch er hatte bei der mütterlichen Mahnung die Fäufte finten laffen, aber der Grimm des Beleidigten war nicht verraudyt wie der des Beleidigers. Er wehrte ded Bruders Liebfofung ab, und ed währte nach ftarfer Erregung flundenlang, daß er wie ein Träumender umherging, oder wie eine Heine Salzfäule, das Geficht gegen die Wand gekehrt, in einer Ede ftand. Hatte er fid) dann endlich beruhigt, fah er immer fchr bleich aus, die Lippen waren zufammengefniffen, die Augen glanzlod. Er vermied die Begegnung mit dem Bruder, und trat diefer, mad niemald ausblieb, mit einer neuen Reizung ihm gegenüber, dann floh er, um fein Friedendwort zu halten, unter den Schuß der Mutter oder den meinen, bis endlich dad Rachegefuͤhl ftärfer wurde ald der gute Wille und er dann regelmäßig als Sieger aus dem Kampfe ging.

xx.6

82 Frau Erdmuthens Swillingsföhne

Sc hatte dieſes Treiben lange Zeit erflärt mit der natürlichen Kinderart, die im Kampfe ihre Kräfte übt. Der Vater lachte darüber oder erbofte fich gegen den Bruder Ungeftüm. Selber Bruder Ungeftüm, erhob er wohl gar die Hand zu einer tätlihen Zurechtweifung, wo es dann freilich der Mutter immer leicht gelang, erft den großen, dann den Fleinen Liebling zu befchwichtigen.

Sie, die Mutter, war die erfte, weldye dem gefchwifter> lichen Antagonismug eine bängliche Deutung gab. Sie hatte feit der erften Lebensſtunde ihrer Kinder ein bes feligended Zraumbild brüderlicher Herzendeinigfeit ges hegt, wie es für Zwillinge als Poftulat gang und gäbe if. Nun weckte bei geringfügigem Anlaß ein grelles Licht fie aus dem mütterlichen Wahn, und was bis dahin frohe Zuverficht gewefen war, dad wurde zum Dichten und Trachten Tag für Tag.

Es war in der Dämmerung; ich plauderte mit den Eltern in der offenen Nebenftube, die Brüder fie mochten etwa vier Jahr alt fein faßen bei ihrer Veſpermilch, und Junker Raul hatte über irgend welchen Pappenftiel in die Kriegstrompete geftoßen.

„Sei doch ftil, Raul,” fagte Herrmann ernfthaft, „da oben gudt ja der große liebe Gott." Er zeigte dabei auf den Mond, der fich klar und vol über dem Wald⸗ horizonte erhob.

„Dummer Herrmann!“ rief Raul, „das iſt nur der Mond, die Sonne ift der liebe Gott!“

„Nein, der Mond ift der liebe Gott, die Sonne hat fein Geſicht!“

„Aber die Sonne glänzt wie lauter Gold!“

Und über dieſe metaphyfifche Streitfrage, der wir

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Tächelnd gelaufcht hatten, gerieten die Disputanten fo handgreiflich aneinander, daß im Mu beide Mildı- näpfchen Elirrend am Boden lagen.

„Daß haft du getan, Herrmann!” fchrie Raul.

„Nein du, Raul, du haft zuerft ausgeholt.“

„Aber du haft dich gewehrt!“

So fchrien fie durcheinander, hatten ſich bei den Ohren, und ehe wir hinzufpringen fonnten, lagen beide in der naffen Lache am Boden zwifchen den Scherben. Ein väterlicher Denfzettel, zum erftenmal audy an Herrmann audgeteilt, ftellte die Ordnung für heute wieder her.

Die Meine Szene würde nun nichts Außerordentliches gewefen fein, hätte Herrmanns grollended Brüten die Erinnerung nicht wochenlang feitgehalten. Ob das fleine Herz etwas Heiliges verfpottet fühlte? Ob die väters liche Strafe ihn wurmte? Er vermied jeden Streit, aber auch jeden Scherz, jedes Spiel mit dem Bruder, lange nachdem beiden klar gemadht worden war, daß weder Sonne noch Mond Gottvaterd Antlig fei. Als aber eined Morgens die fchmale Mondfichel in unfere Kammer blickte und Bruder Übermut wieder einmal nedte: „Bude, Herrmann, wie klein da oben dein großer lieber Gott geworden ift!”, da zudte ed grimmig in Herrmanns Augen, die Hände ballten fi), und ohne der Mutter rafches Dazwifchentreten würde zum erftenmal er der Angreifende geweſen fein.

Frau Erdmuthe war fchon feit jenem abendlichen Bors fall bleich und nachdenklich einhergegangen. Sept ſank fie wie gebrochen auf einen Stuhl und rief im tieflten Weh: „Nein, nein! Sie lieben fidy nicht. Wären fie nicht Brüder, fie würden Feinde fein!"

84 Frau Erdmuthens Swillingsfdhne

Seitdem diefer verzweifelnde Auffchrei der fonft fo ges faßten, linde befchwichtigeniden Frau mir ind Mark ges drungen war, wurde ed mein innerfted Anliegen, gegen die zwieträchtige Neigung der Brüder eigene, ftärfite Kräfte aufzubieten: das großmütige Feuer des einen, das ftätige Gewiſſen ded anderen; vor allem aber die Liebe zur Mutter, die beide, wenn auch in verfchieden temperierten Äußerungen, bis zur Anbetung beherrfchte, Die Tätigkeit wurde gefteigert; bei höher geftecften Zielen mußten die Vorzüge des einen fcharf in des anderen Augen fpringen. Mit der wachlenden Vernunft wuchs denn auch die wechfelfeitige Würtigung, und die Ges wöhnung eines bis ind Fleinfte gemeinfamen Tageslaufs wirfte an dem einigenden Band. Mochten fie nicht Freunde werden in jenem fympathifchen Sinne, den die Mutter geträumt: fie waren Brüder, edel von der Natur gebildet, durch Erziehung und Schickſal behätet, wie nur die Slüdlichften in der Kinderwelt es find, warum hätten fie nicht friedfertig nebeneinander ein gutes menfchliche® Ziel erreichen follen?

Sa, warum nicht? Weil ein Name, ein Begriff trennend zwifchen ihnen auftauchte, der andermwärte bie Kinder einer Heimat wie faum ein zweiter mit einem brüderlichen Bande umfpannt. Weil der Sturm der Zeit ein Bewußtſein aufwirbelte, dad Jahrhunderte lang in unferem Volk unter Schutt und Afche fchier bes graben gelegen hatte; ein fich kreuzender Strom, welcher die Söhne einer Mutter nach entgegengefegten Polen auseinander trieb

Zweiter Abſchnitt 85

Die erfte tiefgreifende Lebensſorge trat an die teure Familie heran, ald im Frühling 1793 der Nittmeifter von Roc mit dem fächfifchen Kontingent den am Äheine kaͤmpfenden deutfchen Heeren zugeteilt wurde. Frau Erdmuthe ertrug die fat dreijährige Trennung von dem geliebten Gatten mit der ftillen Würde, die ihr in böfen wie in guten Tagen eignete. Bon einem lebhaften Intereſſe für den Zwed des Krieges ift, nach der uns gehinderten Opferung der franzöfifchen Königsfamilie, bei Herrn von Roc fo wenig als bei und anderen die Rede gewefen; ebenfo wenig aber empörte ſich in ihm eine Ader urfprünglichen Bluts, ald er gegen feine Stammverwandten zum Schwerte griff. Er war Soldat und folgte feined Kriegsheren Befehl ohne Wahl von Freund und Feind.

Bon allen damaligen Lehrgebieten war Länders und Völkerkunde der Neuzeit dad am geringften kultivierte. Als meine Zöglinge bereitö den Cornelius Nepos über: festen, hatten fie noch feinen Bli auf eine Landkarte geworfen und von einem deutichen Reiche fo wenig wie von einem Frankenreiche gehört, bid neuerdings bie ftrittige Örenzzone beider Reihe dann und wann aud) zum Tagedgefpräch in häuslichen Kreifen ward. Hegten indeffen wir Alteren blutwenig Anteil an den Spfittern, die behauptet oder allenfalld verloren werden fonnten, wie hätte von acdhtjährigen Knaben diefer Anteil ers wartet werden follen?

Da nun aber mitunter durchaus nicht unvorhergefehene Urfachen durchaus unvorhergefehene Wirkungen haben, fo wurde unferem Bildungsſaͤumnis aus dem Stegreife nadıgeholfen, als auf einer ihrer Iandfchaftlichen Rund⸗

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reifen Fräulein Iduna, die rote Dame, bei un® eins fehrte; jene vielerprobte Familienfreundin, welche Frau Erdmuthen das rofiggebänderte Frauenhäubchen aufs geftülpt und, wenn nicht Frau Erdmuthens Frau Mutter denfelben Dienft erwiefen, fo doch, eingeftandenermaßen, im Flügelfleide Blumen auf ihren Hochzeitspfad ges ftreut hatte. Daß Fräulein Idunas Freundfchaft fo weit gereicht haben würde, ſich felber bag rofiggebänderte Frauenhäubchen aufzuftülpen, um den fo früh geräumten Platz der leßtgenannten Dame in Liebe wieder aud- zufüllen, diefer Aufopferung fich zu rühmen, tft ihrer Befcheidenheit nicht beigefommen, von unferem alten Herrn aber feinerzeit gebührentlich gewürdigt worden. Es war eine vielverbreitete Sage, daß der Jahreslauf unferer roten Dame ſich in regelmäßigen Etappen intra muros der furfächfifchen Ritterfchaft abzufpinnen pflege. Auch will ich im allgemeinen gegen biefe pünftlichen Aufmerkfamfeiten feinen Widerfpruch erheben. Wenn aber Herr Raul, der ein Fleiner gallifher nidht galliger Spottvogel war, fo weit ging, Fräulein Idunens vielgepriefened „trauted® chez moi” in der Refidenz für einen Sig in partibus infidelium zu ers flären, fo habe ich gegen ſolche Schlußfolgerung jeder> zeit nach Leibeskraͤften proteftiert. Nicht, daß ich mid) des Vorzuges rühmen dürfte, ein Eingeweihter des jung⸗ fräufichen Heiligtums gewefen zu fein, aber fühlt es mir nach, meine Freunde, eine Dame, obendrein eine Dame, die ſchon Großmuttern Rofen geftreut, ohne gelegentliched eigned Ruhekiſſen, wäre dad nicht eine gar zu weheleidige Vorftellung?

Welche Bewandtnig ed nun aber audy mit der Heim⸗

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fehr in das refidenzliche „traute chez moi“ gehabt haben mag, fooft dad Signal „der hochverehrten Lands trompete“ erfchallte, war Herr Raul der erfte und nicht ber einzige, der ihr ein frohes Willtommen entgegen: rief. In jenen Tagen, wo die Zeitung noch nicht fich zum Range einer Haudfreundin erhoben hatte, wußte man ſolch eine wandelnde Chronifa wohl zu fchägen. Und nicht bloß zu fchägen. Jung wie alt hatte die rote Dame lieb. Denn wie alled Sichtbare ja nur ein Ruͤck⸗ ftrabl des Unfichtbaren fein fol, jo war das, was an Fräulein Idunen, mit oder ohne Wahl, Außenmenſch genannt werden muß und dad war viel ein Durch⸗ fhimmern der innerlichen Couleur, die zwifchen Roſe und Flamme fluftuierte.

Heuer nun ftand Herr Raul im Feldlager am Rhein, und Fräulein Iduna wieder einmal zur Pfingftetappe in unferer Mitte, Die Reihe rund war an das hochflopfende Herz gedrüdt mit Ehren zu melden: auch der Pate Magifter -; die Zähre bed Wiederfehens dem Auge zwar nicht entitrömt, aber doc, darin aufgeftiegen; jene eine unverfiegbare Zähre, die fo befcheiden gebildet war, daß fie niemald ein trodnendes Tuch herausforderte, daher Herr Raul fie den „Tropfen für alles” zu nennen be- liebte.

Wir ſaßen um den Kaffeetiſch vor dem Portal, und naturgemaͤß war es die ſaͤchſiſch⸗kontingentliche Ver⸗ ſchanzung, durch welche der Redefluß der Freundin zuvoͤrderſt ſeine Richtung nahm. Maͤhlich ſchlaͤngelte er ſich um ein Gebuͤſch von Blutbuchen und Traͤnenweiden herum, ſtaute dann eine Weile und ſtrudelte uͤber die Klippe der nein, nicht der Politik und noch viel

88 | Frau Erdmuthens Zwillingsſoöͤhne

weniger uͤber die der Strategie, denn Fraͤulein Iduna verſicherte, ohne Widerſpruch zu finden, fie fei ein Weib - aber doch über jenes politifchsftrategifche Partikelchen, das in fächfifchen Gauen auch für zarte Damenfüßchen ald Stein ded Anftoßes im Wege lag, jened unholds deutfche Fragment, deffen Schlagbaum feit unvordent; lichen Zeiten mitten in unferem Heidegau aufgerichtet ftand, und daß feit falt einem Jahrhundert Preußen hieß und fogar Koͤnigreich Preußen!

Das Echo kurfürftlicher Ritterfchaft puftete und fächelte; die Couleur hatte einen bedenflichen Grad erreicht; die Sonne fhien warm, Galle und Kaffee find erhigende Säfte. Ich ruͤckte den Tifch unter den fühlenden Ulmen⸗ fchatten, hätte diefe Vorficht aber faum noch nötig ges habt, denn befagten Stein preußifcher Perfidie pflichts fhuldigft audgeftoßen, fchlug der Strom bereits einen furzen Bogen nach jener romantifchen Ede hinüber, wo alles, was in Frankreich heute noch edel, ritterlich, hes roifch genannt werden durfte, einer Räuberbande „sans culottes“ gegenüberftand.

Es erlangte bei diefer Gelegenheit der Muftermagifter eine zweifache unbeftreitbare Beftätigung zwar nicht von hiftorifchem, aber doc, von pädagogifchsphuftologifchem Intereſſe. Einmal die des von manchen Puriften ans gezweifelten Nutzens fremder Spradhfenntnid, denn würde Fräulein Iduna den charafteriftifchen Gegenftand zwifchen den Gänfefüßchen in ihren Mutterlauten aus- zudrücden imftande gewefen fein? Zum anderen aber die, daß Ohr und Zunge viel fchamhaftigere Organe ale das Auge find, denn - idy will eben darum die Beweis⸗ führung einer errötenden Leferin doch Lieber erfparen.

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Nach jener romantifchen Schwenfung verbreitete fich nun aber der Fluß in wohligem Gefäll über dad anges bautefte feiner Kulturgebiete: Stammbaum, Genealogie, Geſchlecht, Familie oder wie die mannigfaltigen Glie⸗ derungen alle heißen, die ihren Urfprung daher leiten, daß über den bräutlichen Kranz ein Frauenhäubchen ges ftülpt worden ift.

„Es wäre doch wunderbar, Baronin,“ rief ploͤtzlich die Dame, „wenn Ihr Gemahl unter jenen edlen Bundes⸗ ‚genoffen auf ein Glied feiner franzöfifchen Berwandtfchaft ftoßen ſollte.“ | „Wiſſen wir denn,” antwortete Frau Erdmuthe Tächelnd, „ob ihm überhaupt noch eine Berwandtfchaft in Frank⸗ reich zurüdgeblieben ift?“

„Wiffen Sie es wirklich nicht, Belle? Fehlt Ihnen jede Kunde, haben Sie alle Verbindungen aufgegeben?“

„Nicht erft wir, liebe Iduna; die Verbindung hat aufs gehört mit dem Schritt, den vor einem Jahrhundert unfer Altervater über die deutfche Grenze getan.“

„Sie hätten Wiederanktnüpfungen fuchen müffen, Sie müffen ed noch, fchon aus materiellen Beweggründen, einzige Frau. Die Saint Roc waren ein reichbegütertes Gefchlecht, und wie viele reichbegäterte Gefchlechter find durdy die gegenwärtige Mordbande unter der Buillotine ausgetilgt worden. Die Religiondunterfchiede find auf- gehoben, die Konfifationen werden ed werden. Gie bürfen Erbanfprüche geltend machen. Ein herrlicher Be: fig, ein Beſitz ohnegleichen in dem reichiten Lande der Welt kann Shnen nicht entgehen.“

„Wir haben an dem befcheidenen Beftg in unferem ar- men Vaterlante genug, liebe Freundin.“

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„Gute, Liebe, Befte, man kann des Befiged niemals genug haben,” verficherte hoheitdvoll die Dame mit dem Siße in partibus infidelium, fügte aber fchnell in liebens⸗ würdiger Gefälligfeit hinzu: „Ich würde Ihnen beim Berfolgen Ihrer Rechtsanſpruͤche durch meine Verbins dungen gern die Hand bieten, Baronin. Das heißt, allerdings nicht im Augenblid, aber in beruhigteren Zei⸗ ten, die ja nicht lange mehr zögern können, wenn nur erft die hinterhaltige preußifche Heerführung durch uns feren fächfifchen Einfluß gluͤcklich befeitigt ift. Rechnen Sie dann durchaus auf mich, teure Frau.“

„Sie find fehr gütig, liebe Freundin,” fagte Frau Erd» muthe, die bargebotene Hand drüdend.

Es entitand eine Paufe; ein Engel fchwebte zwifchen dem Feldlager vor Mainz und Fräulein Idunens Luft: fhlöffern hin und wider.

„A propos, Baronin,“ fagte fie endlich, „welcher Pro: vinz entftammten die Saint Roc?“

„Aud das wiffen wir nicht mit Beftimmtheit, liebe Iduna, der Tradition nad) aus der Provence.“

Wenn Frau Erdmuthe Verlangen trug, die hochverehrte Landtrompete fernerweitige Signale aus dem befreuns beten Kontingent verfünden zu hören, fo muß ihre [eßte Andeutung eine unbedadıtfame genannt werden, denn die eleftrifhe Wirkung derfelben war vorauszufehen. „Aus der Provence!” rief Fräulein Iduna in die Höhe fahrend, indem fie ſich mit der Hand vor die Stirn fhlug. „Aus der Provence! Und dad wußte ich nicht! Ich Unglüdfelige, daran dachte ich nicht, da doch der Typus Ihres Gemahld und Ihres Süngften, Baros nin, handgreiflich auf den Provenzalen deutet? Aus

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ber Provence! Wer kann noch zweifeln, aus der Pros vence!“

So war denn unfere liebe rote Dame heute etwas vor der Zeit bei der Erinnerung angelangt, die fonfthin uns vermeidlich in ihr erft aufzutauchen pflegte, wenn der Stoff aus der Gegenwart auf die Neige ging. Ich meine bie Reife, die fie vor found fo vielen Jahren mit einer brufts franfen Coufine nach dem füdlichen Frankreich unters nommen hatte. Die Scilderei war von Baus aus fo büftes und farbenfatt aufgetragen worden, daß Barias tionen bei der Wiederholung dad Bild diefed Gartens Eden nur beeinträchtigt haben koͤnnten. Das Bild war und daher keineswegs neu.

Wenn aber Berr Raul das nämliche Bild Strich für Stridy in einem souvenir de voyage entdeckt haben wollte, was anderes als die vollfommene Naturwahrheit des Bildes oder der übereinftimmende Blick von Dichteraugen würde daraus zu folgern gewefen fein? Sa, ich wage noch einen Schritt weiter. Gefegt, wie gewifle Spott- vögel behaupteten, gefegt, aber beileibe nicht zugegeben, daß während der angeblichen Reifezeit Fräulein Iduna wirklich in irgendwelchem Dadyftübchen das Verharfchen böfer Blatternarben abgewartet habe, würden wir, ihre Zuhörer, reicheren Erinnerungsgenuß, oder würde bie DBlatternarben natürlich abgerechnet Fräulein Iduna felber ihn fo reich gefoftet haben, wenn fie mit der bruft- franfen Coufine anftatt mit der blühenden Phantafie in Hyères geweſen wäre?

„Und da ſitze ich nun an der Quelle,“ rief die Dame, ſchier an ſich ſelber verzweifelnd, „da ſtehe ich vor der Schwelle der Stammburg eines ehrwuͤrdigen Geſchlechts;

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es koſtet mich einen Blick, eine Frage, einen Maultier⸗ ritt, und meinen teuerften Freunden ift eine urfprüngliche Heimat wieder aufgefunden, ein koͤſtliches Erbteil vors bereitet; die intereffanteften Enthüllungen, ein romanti» fche8 Intermezzo, ein unberechenbares Nachſpiel - -“

Fräulein Iduna wurde unterbrochen; wenigſtens das unberechenbare Nachfpiel ihrer füdlichen Reife follte ihr nicht entgangen fein; denn mit Staunen waren meine Blicke ſchon eine Weile unferem Raul gefolgt. Er war wie eleftrifiert von feinem Plage aufgefchnellt, hatte fich atemlos fpannend dicht an die Rednerin gedrängt, die Augen funkelten, die Pulfe flogen, eine Blutwoge jagte die andere auf dem zuckenden Kleinen Geficht.

„Wir ftammen aus Frankreich”? Wir find Franzofen, Mama?” fragte er mit bebender Stimme.

„Nicht doch, mein Kind,” antwortete die Mutter. „Deines Vaters Vorfahren find vor langen Jahren aus Frankreich ausgewandert und Deutfche geworden. Du bift ganz und gar ein deutfched Kind, mein Fleiner Raul.“

Aber Junker Raul jubelte in die Hände klatſchend: „Wir find Franzofen, wir heißen Saint Roc!” Er ums armte feine Mutter, den Bruder, die alte Freundin, ben Paten Magifter. „Wir ftammen aus Frankreich, Bruder Herrmann, wir heißen Saint Roc!“

Bruder Herrmann blidte fo gelaffen wie zuvor. Er hatte diefe plögliche Veränderung noch gar nicht ges faßt. Fräulein Iduna nidte dem Erregten einftim> mend zu; die Mutter lächelte; fie hielt feine tolle Freude für eine jener Launen, welchen der Feine Beißfporn fdyon bei manchem früheren Anlaß verfallen war. „La

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mouche le pique!* fagten dann lächelnd die Eltern, und die Tarantel verbraufte fo jählings, wie fie heranges ſchwirrt war.

Heute aber war ed feine flüchtige Laune, heute war es das Blut der alten Provenzalen, das in ihrem Entel rumorte. Sooft er fortan den Namen Franfreich hörte oder ausſprach, da war ed, ald ob er über fich einen ewig blauen Himmel lächeln fähe, als ob linde, dufts fchhwangere Lüfte ihn umfächelten, ald ob die Erde blühte, juft wie Fräulein Sduna ihren Garten Eden gefchildert hatte. Bon felfigem Geftade fpiegelte ſich im fonnens goldigen Weere die Erbburg der Saint Roc, und ein Geſchlecht von denen, die edel, ritterlich, heroifch in Frankreich geblieben waren, breitete feine Arme nad) dem im Norden verlorenen Enkel aud. Was Wunder, dag im Vergleich zu diefen Sdealgeftalten das Voͤlkchen im unmirtlichen Heidewinkel ſich je mehr und mehr gar tölpifch und bärenhäutifch abhob und endlich nur noch die Mutter in ihrer holden Würde darin ftrahlte ald eine geborene Herzenskoͤnigin.

Meben ihrem Scattenriß über feinem Bette mußte eine Karte von Franfreich aufgehängt werden; er ftds berte nach franzöfifchen Büchern, wußte bald „Henriade“ und „Telemach“ auswendig, wurde ein eifriger Zeitungs» lefer, wobei der Artikel Frankreich einzig ded Interefles verlohnte was beiläufig weniger phantafiereichen Leu⸗ ten ebenfo ging. Er fegte ed durch, in die hiftorifchen Lektionen, die fich bisher auf das heilige und profane Altertum befchränft hatten, die Gefchichte Frankreichs aufgenommen zu fehen, und wenn ald Antidotum aud) die des deutfchen Reiches verabfolgt wurde, fo ift es

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nicht eben unerflärlich, wenn die beraufchende Wirkung der erfteren nur dadurch gehoben wurde.

Alles, was wir Herrliches zu bieten hatten, lag ja fo fern, gleichſam fadenlos für die zerftädelte Gegenwart; die glorreiche Epoche der Reformation ſchloß vor einer unaudfüllbaren Kluft; die edelften Beftrebungen ver- zudten wie Blige im Waffer; aus den KHeerzügen der dreißig Jahre leuchtete verflärend nur der König eine fremden Landes. Dann ein Säfulum dürrer Bradıe über dem todesmatten Volk: der genialfte Soldat un» ferer engeren Heimat mußte Franzofe werden und gegen Deutfchland kämpfen, um fich ein Xorbeerblatt zu er: werben. Nun ragte aud neuefter Zeit neben und aller> dings eine Geftalt, an welcher eine hefdenmäßige Phans tafie fich emporzurichten vermochte. Aber der Name Friedrichd von Preußen hatte für fächfifhe Organe einen zu mißliebigen Klang, als daß den unheldenmäßigen Inftrufteur danach gelüftete, ihn gebührend hervorzus heben, und war denn nicht durch das jüngfte, zweideutige oder Fägliche, kriegerifche Refultat - wie gewonnen, fo zerronnen! das Erbteil feines Ruhmes bereits aufge braucht?

Wie anders drüben! Welche Fülle der Erfolge feit jenem fernen Tage, wo Deutfchlands KHeldenfonne am Horizonte fanf! In der Zerriffenheit ded Parteienhas ders felber, hüben und drüben, eine Reihe chevaleresfer Geftalten, lebendig greifbar, entzündend heute noch; der Enkel Borbild und Ruhm. Wie verdichten fich dann die Strahlen zu einem überflammenden Stern; wie fammelt ſich alles, mad Geiſt und Sinnen fchmeichelt, um den blendenden Königsthron; wie wächlt Die Macht, während

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die unfere zerbrödelt! Dad wenig glorreiche folgende Halbjahrhundert verſchwimmt in dem Nebel, der den Helden von Roßbach vor unferen Blicken umdunftet; und die neuefte Epoche ded Graueng, des Martyriumg, heroifcher Todesveradhtung: ein Kitel der Imagination ift auch fie. Das Leben jagt im Sturmfchritt über Leis chen und Trümmerhaufen dahin; weitfchallende Schlag> worte begleiten das Volk, das gegen eine Welt in Ketten fich erhebt, um durch feine Niederlagen fiegen zu lernen: Meteoren gleich fteigen Helden auf und ab, um endlich, gebannt durch einen zweiten Caͤſar, den Erdteil fich unter: wärfig zu machen.

Die frühreife Anlage bes Knaben entwidelte ſich unter diefen Eindruͤcken, während der Bruder noch lange in gleichgältiger Läffigkeit verharrte. Sein Geift war noch nicht fchlüffig geworden, und was er nicht Far fah, das lag für ihn kalt und tot. Während ded Vaters Ab» wefenheit zeigte er nur Anteil an deſſen perfönlichem Geſchick; fpäter fpürte er wohl das Abftoßende, das für fein deutfched Blut in dem gewaltfamen Umfturz und jachen Wechfel alled lange oder faum Beftehenden lag. Aber ed empörte ihn nicht, wie ed jenen begeifterte; der Tummelplag lag zu fern für feine zögernde Phantafie; er hatte das Ideal nody nicht gefunden, das er dem Idol - des anderen gegenüberftellen konnte; feine Leidenfchaft gegen die ded Ruhms, mit weldyer fein Bruder ſich fchmwellte. Unbefümmert um die Gegenwart Elaubte er über Erpofitionen aus Platon und Tacitus, wo jener faum mehr über einer Aufgabe zu bannen blieb, jeder Puls ihn zur Tat ind Leben drängte.

So trat denn bei mancherlei Anläffen wohl bie abweis

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chende Richtung an den Tag, zu einer feindfeligen Bes rührung fam ed aber nicht, einfach, weil dem Aufges regten ein Widerpart fehlte. Haͤufiger ald der Bruder war ed der Vater, der ein Ärgernis an feiner Entzüdung nahm. Zorheit und Frevel nannte er die Vorliebe für eine Nation, die feine Väter audgeftoßen hatte und die er ſchlechthin haßte, feitdem er ihr ale Feind gegenüber geftanden. Der mütterlichen Liebe verblieb auch in dies fem Sinne gar vieled Audzugleichende, und fo hatte id denn das feltfame Schaufpiel: der Abftammung, dem Mamen, der Phyfiognomie nach Zug für Zug einen Frans fen feinen Sohn auf das härtefte aburteilen zu hören, weil das Grundweſen feines Volks ſich getreu in ihm widerfpiegelte; während eine deutfche Frau, wie fie reiner und edler nicht ausgeprägt fein fonnte, die na⸗ türlihen Vorzüge jened Volkes darzuftellen ftrebte in dem Lichte, dad ihre teuerften Menfchen überftrahlte. Es war in diefen halbwuͤchſigen Jahren meiner Zoͤg⸗ linge, ald durch den Rittmeifter Thielemann, feit dem Mheinfeldzuge Herrn von Rocs befreundetem Kameraden, und die Verſe mitgeteilt wurden, die ich wie einen Leits faden durch meine Erinnerungen gezogen habe. Kerr von Thielemann war der Schweftermann von Friedrid) von Hardenbergs Braut und begleitete die fympathifche Gabe durch eine genauere Kunde von dem Scheiden des Dichters, der auch ald Menſch der Familie nahe geftanden hatte. Wir alle waren tief bewegt. Nachdem Frau Erdmuthe mit bebender Stimme die zweite Strophe zu Ende gelefen, ruhten lange Zeit ihre Augen umflort auf ihren beiden Söhnen. Ich fand in warmer Eingebung eine kindlich Schöne Bachſche Welodie, die ſich wenig

Zweiter Abſchnitt 97

verändert dem Terte einen ließ. Gleich die erite Probe gab einen ergreifenden Zufammenflang. Ich präludierte; die Bruderſtimmen hoben an:

„Reich treulich mir die Haͤnde,

Sei Bruder mir, und wende

Den Blick vor deinem Ende

Nicht wieder ab von mir.“

Nun fielen auch die Eltern ein; ich begleitete:

„Sin Tempel, wo wir fnien,

Ein Fand, wehin wir ziehen,

Ein Glüd, für das wir glühen,

Ein Simmel dir und mir.“

„Dir und mir,” verhallten die Bruderfiimmen wieder allein. Sie ftanden Arm in Arm. Die Mutter drüdte beide gleichzeitig an ihr Herz.

„Sie lieben ſich doch!“ flüfterte fie mir zu mit ftrahlens dem Blid, „Sie werden Freunde fein hier und dort.“

Die Strophe wurde fortan jeden Abend vor dem Gutes nachtſagen gefungen. Wir nannten fie unfer Bundeslied.

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Die Brüder näherten ſich dem Alter, in welchem fe auf eigenen Füßen ind Leben treten mußten. Sie hatten bisher, mit Ausnahme ded Vaters, der in ritterlichen Künften Meifter war, mich allein zum Lehrer gehabt und die heimifche Gegend nur während furzer Ausflüge nach Leipzig und Dresden verlaffen.

Wil man in diefer Befchränfung einen Tadel für die Eltern finden, fo muß ich erflären, daß der Vater allers dings nur daran dachte, feine Kieblinge möglidıft lange als Herz⸗ und Augenweide zu hegen, daß aber die wiuts xx.7

98 Frau Erdmuthens Zwiltingsföhne

ter, die nie ein Opfer fcheute, wo ed das Wohl eines ihr von Gott anvertrauten Menfchen galt, nach geprüf- ten Plänen handelte. Eben weil die Naturen ihrer Söhne weit auseinanderftrebten, follten fie in Enge und Nähe miteinander verwachfen; die dauerhaften Eindrücke der erften Jugend follten fich ungerftreut an die Heimat fnüpfen, in welcher fie ald Männer auf einen feiten Pag geftellt fein würden.

Im übrigen war folcdye häusliche Erziehung junger Edelleute, zumal wo fein Fach⸗ oder Brotitubium beab- ſichtigt wurde, durchaus Feine Ausnahme jener Zeitz und e8 war ja beileibe auch fein einfeitiges oder ein- fiedlerifches Dafein, zu dem man bie unferen verdammte. Die Verwaltung eines großen Dominiums, wie die hu⸗ manen Aufgaben, weldye fid) Frau Erdmuthe innerhalb der Gemeinde geftellt hatte, boten über die Stubdierftube hinaus ein ernithaftes Intereffe; daneben liebte der Ritt- meifter die Gefelligfeit, und Gaftfreundfchaft war eine Erbtugend der Feld. Die Sarnifon brachte Wechfel in den täglichen Verkehr, der Begriff Nachbarſchaft er- ftrecfte fich weit über die Heide hinaus, und der Fami- lientiſch hatte eine dehnbare Eigentümlichkeit.

Schon im Knabenalter pürfchten die Sunfer im wohl- beftellten Revier; unter KHörnerflang und Meutengebell auf weitausgreifendem Renner wurde fpäterhin der Eber gehegt, und felber, einer Phantafie Junker Rauls zu Ge⸗ fallen, der ſchlaue Reineke, dem man bisher nur in Fallen und Netzen nachgeftellt hatte, unter die auderwählte Sagdbeute aufgenommen. Es gab reichliche Tafeleien, gab Wettrennen und Tanzpartien; bei mangelndem Ors chefter half der Pate Magifter ald Muſikant, auch darf

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der Pate Magifter ſich rühmen, ald Partner Fräulein Idunens mehrfach in einer Efoffaife bewundert worden zu fein; während unfer neuer Erbjuder, Guftel Hecht, der Philofophie, welcher er fid, feit jenem Dentzettel beim zehnten Kloße mit Leidenſchaft ergeben hatte, in einem Ländler untreu ward. Bon dem Erntefefte auf Arnheim, das regelmäßig am fechften September, dem Geburtstage der Zwillingsbrüder, gefeiert wurde, wiffen die Alten der Pflege heute noch zu erzählen.

Soll ich nun fchließlich noch erwähnen, welch waderer Borfänger mein Herrmann in dem Chore ward, das ich feit dem erften Wiederfußfaffen in unferem Heidewinkel aus deflen jugendlihem Nachwuchs herangebildet hatte, gebildet mit einem von Geſchlecht zu Geſchlechte tiefer- greifenden, nicht bloß mufifalifchen Erfolg, der das Her; des Greifes noch am Grabesrande erquidt? Oder darf ich, ohne der Wahrheit nahezutreten, unterdrüden, daß Junker Raul in bedenflicher Frühe anfing, der Held unferer winterlichen Spinnftuben zu werden, wiewohl unter Frau Erdmuthens züchtigem Walten in Diefem volks⸗ tuͤmlichen Inſtitut fich die entfittlichende Luft in fittigende FSröhlichkeit verwandelt hatte? Noch einmal und alles in allem: nur die Glüdlichften der Knabenwelt werden in einer fo ungetrübten Atmofphäre wie der unferen zu Sünglingen herangewadhfen fein. Sie hatten Zucht und Obhut, Freiheit und Freude, foviel fie irgend bedurften oder vertrugen, und wenn ihnen einzig allein bie Ges noffenfchaft fehlte, aus welcher fie fid) Kameraden und Freunde hätten wählen dürfen, fo gefchah es in der Ab- ficht, daß fie fich felber zuerft Kameraden und Freunde werden follten.

100 Grau Erdmuthens 3willingsſoͤhne

Hätte Frau Erdmuthe nur ihre eigene Auffaſſung von Gluͤck in Betracht gezogen, würde fie das Leben beider ihrer Söhne diefer einfachen Felsſchen Weife fich auch weiterhin haben abwideln laffen: ein paar Jahre auf der Univerfität, ein paar Reifen nad) Italien oder Engs land, da Paris feit dem jähen Übergang von blutigem Schreden zu ausgelaflenfter Luſt mehr denn je ald eine Stätte unverftändlicher Verwilderung erfchien; gelegents lihe Aufmwartung am furfürftlichen Hofe; bei jungen Jahren ein eigener Herd und eigene Bewirtfchaftung der beiden Güter, in welche das Erbe zerfiel. Das Kaufhaus, das wir aus der Ruine des Heidekloſters auffteigen ließen, ift eines unferer freundlichften Lufts fohlöffer in jenen Tagen gewefen.

Herrmanns Neigungen flimmten nun auch zu diefem alt⸗ väterlichen Programm; für feinen Bruder dahingegen fchien ein Ummeg, wenn aud) mit dem nämlichen Ziele, geboten. Man fürchtete, daß die flotte Junkerlaune ſich die akademi⸗ fche Freiheit mehr denn zutraͤglich zunuge machen werde, und zog ed vor, hm unter militärifchem Zügel eine Station des Austobens zu vergönnen. Zudem liebte der Rittmeifter feinen Stand, und fein Züngfter kannte feinen höheren.

Ich hatte meine Zöglinge ungefähr den Kurſus der Pors tenfer durchlaufen laſſen, und im Frühling 1805 wuͤrde ich dem ftätigen Herrmann ohne Bedingung, feinem bes weglichen Bruder allenfalld bedingungsmweife das Zeug: nis der Reife haben augftellen dürfen. Eine Sommer: reife follte den Übergang in die Freiheit vermitteln, und mit diefem Reifegeleit die Mentorrolle für mich zum Abſchluß kommen. Eie hatte fechzehn Jahre lang, aber feine Stunde mir zu lange gedauert.

Sweiter Abſchnitt 101

Und als hätte unfer Herrgott nur darauf gewartet, bie ih) dad Schulbuch zugeflappt, um mir die Pforte zu meinem Erbamte aufzufchließen, fand ich nach der Heim⸗ tehr den Greis im Pfarrhaufe zu feinen Vätern ver: fammelt. Die Waiſen, deren Bevormundung ihm wenig Not gemacht hatte, ftanden ald gute, zufriedene Mens fhen fämtlih am eigenen Herd: die Schweſtern als Pfarrersfrauen in der Nachbarfchaft, die Älteren Brüder ald Verwalter und Förfter in Frau Erdmuthens Dienft. Nur der Züngfte im Safrandrell haute und baute im Städtchen auf eigene Hand. In der teueren Heimſtaͤtte aber hat noch manches Jahr eine gluͤckliche Pfarrmutter gefchaltet.

Dritter Abfchnitt Was hindert, muß entweicen.

{r hatten und monatelang erft im Reich, dann im Benetianifchen umhergetrieben, ohne an das Ges munfel einer europäifchen Verbündung gegen den Ufur- pator ernfthaft zu glauben und von sfterreichifchen Rüftungen Bedenkliches zu merken. Weine Sünglinge, jeder in feiner Weife, hatten vollauf in einer neuen Schoͤnheitswelt zu ſchwelgen; ich alter Friedensfreund aber troͤſtete mich damit, daß Kaiſer Franz wohl ein Haar in Koalitionen gefunden haben moͤge. Was aber den neugekroͤnten korſiſchen Unband anbelangte, ei was, der ſtand vor der Hand im Lager von Boulogne, wie ſieben Jahre fruͤher in dem von Toulon, und ging, ich zweifelte nicht daran, einem zweiten Abukir entgegen. Nun, der ſaͤchſiſche Magiſter war kein Politikus; Gott ſei gedankt, daß er es zu ſein nicht brauchte. Daß aber andere Leute, die es zu ſein brauchten, die Lage nicht viel weniger vertrauensſelig angeſchaut haben —, hat denn nicht in letzter Inſtanz das den Ausſchlag gegeben für ſieben Jahre ſchmaͤhlichſten Elends über dem ge⸗ ſamten Vaterlande?

Erſt als wir uns Anfang Oktober uͤber Steiermark der deutſchen Kaiſerſtadt naͤherten, wurden wir des drohlichen Zuſtandes inne, der ſeit Macks Eindrang in Bayern heraufbeſchworen war; Etappe für Etappe ftürmten nunmehr die unerhörteften Poften auf un ein: Frankreichs Bündnis mit den füddeutfchen Fürften, Bruderfrieg auf urdeutfchem Grund, Bernadottes heraus⸗ fordernder Durchbruch über preußifches Gebiet!

Dritter Abſchnitt 108

Ein Siechtum Herrmannd, das id) dem ungewohnten Bergiteigen zufchrieb, zwang und von Graz ab zu häufigen Raſttagen und kurzen Reifeltunden. Immer deutlicher dämmerte jet der Mißftand der Dinge: die halbfertige Rüftung, das Zögern der ruffifchen Hilfe, Preußens Zweifelhaftigfeit, die Umzingelung der Hauptarmee in Schwaben. Stunde auf Stunde eine neue, haltbare oder unhaltbare Kombination, bie wir endlidh Wien erreichten, faft gleichzeitig mit der Schreckenskunde von Ulm.

Da hätte ich und nun Flügel anheften mögen, um mit meinen nunmehro allerfchwärzeften Gefichten hinter unferen heimifchen Heideſchirm zu flüchten, und ich mußte gleidhfam inmitten des Feldlagerd ausharren bie furzen und doch ewig langen Wochen, welche Rüdzug und Verfolgung der verbündeten Heere von Schwaben bis Mähren fülten.

Mein Herrmann war in einen Zuftand verfallen, den die Ärzte ein pathologifches Nätfel zu nennen beliebten. Es artete nicht, wie anfangs befürchtet, in ein Wienerifches Mervenfieber aus; der Puls im Gegenteil fchlidy nur allzuträge; das Hirn fchien unter einem bleiernen Drude gelähmtz; er fprach nicht, nahm nur mit Efel die nots dürftigfte Nahrung; bleich mit glanzlofen Augen und fchlaffen Gliedern faß er den lieben, langen Tag am Fenfter, ftierte ohne Verſtaͤndnis oder Anteil in das Wirrfal der Szenen, welche von Stunde zu Stunde auf der Straße wechfelten. Wenn eifrige Zungen Xüge und Wahrheit kraus durcheinander bis in unfer Kranfen- zimmer trugen, er horchte nicht auf, er blieb ftarr und ftumm.

104 Frau Erdmuthens Smwillingefähne

Hof und Regierung flüchteten aus der Stadt; die ges fchlagenen Truppen gaben fie preis; hart an ihren Ferfen überfchritten die Feinde den Strom, zogen durch die geöffneten Tore, ald wäre ed auf die Parade; wenige Stunden, und eine franzöfifche Garniſon fehulterte vor den Poften, welche die Landesfinder geräumt hatten; mächtige Waffenfchäge wurden ohne Umftände aus— geliefert, eine ungeheuere Brandfchagung fchmunzelnd eingeftrichen; flinf wie bei einer Theaterdeforation trat die fremde Mafchinerie an Stelle der hergebradıten; einem Heuſchreckenſchwarme gleich, jagte das feindliche Heer hinter dem der Freunde in dag Land hinein: der alte Pädagog fchlug die Hände uͤberm Kopfe zufammen, und dem Süngling zuckte nicht die Wimper.

Nun aber neben des einen ftarrfüchtiger Apathie bie fieberifche Elektrizität des anderen! Es ift kein feines Gleichnis, aber Junker Raul hatte Blut gelect und war auf der Fährte. Seine Augen fprühten, die Muskeln zucten, was er hörte und fah, wirkte auf ihn wie Sprit auf eine Flamme, Das Langerfehnte leibte und Iebte jegt vor feinen Augen gewaltiger ald alle Phantafie: diefe glorreiche Armee, dieſe tapferften Söhne des tapferften Menfchenvolfd, die Träger der Kultur, der Humanität! Nun hörte er es fchlagen, das Herz der Welt, nun fah er den Titanen, der die empoͤrten Wogen gebannt und fie als befruchtenden Strom über den Erd- ball geleitet hatte; den Säfar, den mehr ale Charlemagne und wie die Schlagworte alle lauteten, mit welchen, von jenen Tagen an, aud) gewichtigere Leute als unfer Junker die heimifche Kleinheit vor einer übertriebenen Größe Blindekuh fpielen ließen.

Dritter Abſchnitt 105

Tage vergingen, Nächte, in denen ich händeringend im Zimmer des Wadhfchlafenden auf und nieder trabte und vergeblich nad) den Schritten des Heißſporns aufhordhte. Er fchwärmte umher wo? In Gottes lieber Natur wirds nicht gewefen fein; ſchweifte mit der glorreichen Kameraderie; fraternifierte mit Heimatöfreunden aus dem lachenden Eden der Provence, nannte ſich flottweg wieder Chevalier de Saint Roc; und id, was blieb mir übrig, ald nur dem Himmel zu danfen, daß er mit den neuen Brüdern nicht über alle Berge entfloh und von Zeit zu Zeit doch einmal heimfehrte, um den Paten Magifter mit den Bildern aus feiner Zauberlaterne zu verblüffen. Ja, dazumal glic, ich dem richtigen Komödienhofmeifter, wie er in taufend Angſten ſich windet und kruͤmmt und feinem Leibe nicht Rat weiß, um getreulich dem einen als Falfchirm, dem anderen ald Springfeder - feine Rolle abzufchließen.

Herrmannd Zuftand änderte fich nicht; bie Ärzte, welts berühmte Profefforen, fchoben ihn jeder auf etwas anderes, was fichtbar oder unfichtbar in einem Menfchens leibe agieren foll: ftärften, reizten, ftillten dann wieder, ftärften von neuem, verordneten der Himmel weiß was, jedenfall® viel. Die Sorge der Eltern quälte mich auch: ich hatte ihnen Herrmanns Derfaffung fo glimpffich als möglich dargeftellt, aber wußte ich nicht, wie böfe Lagen in der Entfernung wadıfen? Zudem war der Termin von Rauls Militäreintritt bereits überfchritten, und die Ärzte prognoftizierten noch immer die Krife, vor welcher fie den Patienten nicht aud den Händen laffen wollten.

Sn der Lauer auf diefe Krife faß ich in den legten Novembertagen fill bei meinem Stillen, ald draußen,

108 Frau Erdmuthens Zwillingsſoͤhne

wo bisher alles wiſpernd auf Socken einhergeſchlichen war, das Stapfen eines Knotenſtocks die Treppe heran, dann die Tritte eiſenbezweckter Stiefeln im Vorſaal ers dröhnten. Die Tür wurde ohne Anflopfen aufgeriflen und zugefchlagen hinter einer hünenhaften Geftalt mit einem Matrofenhut über der graumelierten Mähne und einem dito Bart bis auf die Bruft hinab. „Salve!“ rief eine Stentorftimme.

Ich winfte abwehrend mit der Hand; aber: „Kindskopf! Speftafel ift auch Medizin“, brummte Albrecht Bär.

Ya, Albrecht der Heidebär, grau und rauh wie zur Stunde, da er die Heimatsfeſſeln fprengte, um dem Edelwilde nachzujagen, das feine Zeitgenoffen Freiheit nannten! Und, großer, alter Knabe, hätteft du, Hand aufs Herz, bei erbleichendem Haar beteuern fünnen, daß dich nicht eine Kata morgana genarrt? KHätteft du Ant- wort geben können, wenn ein heutiger Pilatus „Wo ift Freiheit?” dich gefragt?

„Sm Monde,” oder „um Buxtehude herum, auf Robin- fond Inſel,“ oder „fonft in einem noch wenig auf: geräumten Sagdgebiet,” würde Bär, wenn überhaupt, geantwortet haben, zwar nicht auf-die Frage des Pilatus, aber auf die eure: wo in aller Welt er fich diefe zirka zwanzig Sahre lang umbhergetrieben? Denn Bären brummen wohl, daß fie aber auch Gefchichten erzählen, davon ſteht im alten Tierbuche nichts; am wenigften Geſchichten, deren Helden fie felber find. Diefer Spezialität befleißigen ſich ihre Gegenfüßler, Die Magifter.

Auch der plaudernde Magifter kann euch indeffen nicht berichten, wie und wo und wann, nur daß der ruhelofe Sreiheitöjäger gar mandjed Mal die Himmeldgegend ge-

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wechjelt hat! Harfch unter dem Fallbeil hinweg, von dem blutroten Banner unter das ded Leoparden; über Meer und Land, bis in die Wüfte und in die Peltzone hinein, wo der „armfeligfte Pflafterfaften” zu einem Freiheits⸗ fämpfer wird; endlich auf krachendem Schiff unter Kugel» hagel und Pulverqualm, allüberall Eönnt ihr Albrecht den Bären fehen. Als er aber jegt, wenig Wochen nadı den ewig dauernden drei Stunden vor Trafalgar, wieder feften heimatlicyen Grund betrat, „bloß aus follegialifcher Neugier,“ wie er fagte, „um zu fehen, was in der los⸗ gelaffenen Bärenhege von deutfchem Geruͤmpel übrig- bleibt,“ da heilte wohl die Wunde, die feine Bruft am Bord ded „Siege“ getroffen hatte; die Herzenswunde aber blutete noch ungeheilt, denn er hatte den Sieges— beiden fallen fehen, unter dem er zehn Jahre lang feine Schuldigfeit getan, und wo er fortan die Freiheit fuchen follte, war ihm dunkel.

Zuverläfftger indeffen ald mit dem erften Menſchen⸗ rechte ſchien es unferem Bär mit jenem zweiten geglüdt, in deflen Beſitz fo mancher arme Kettenträger fich ein Freiherr zu fühlen pflegt. Dem englifchen Flotten⸗ phyſikus fehlte für theoretifche Anwandlungen nicht ein Ohnmachtsbiſſen und nicht der ftärfende Tropfen für die Tage, die feinem gefallen. So fommt er denn in die alte, felber im Elend noch Iuftige Kaiferftadt; der Zufall fpielt feine Rolle; er vernimmt durd, gelehrte Kollegen von der pathologifchen Kuriofität des nordifchen Heidefohns, hört den Namen, der ihn an verhaßtes Dienfts und Gnadenbrot und vielleicht nody an etwas anderes Unausſprechbares erinnert; er rennt herbei. Und da fteht er nun und blickt mit einem ganz abfonder:

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lichen Baͤrenausdruck in die wohlbefannten, jegt ach, fo weiten, glanzlofen Felsfchen blauen Augen.

Da fchüttelt er zuerft fich felbit, darauf den armen, müden, ftillen Jungen, rudt und rüttelt auch „moralifch“ ein bißchen an ihm herum, ftapft in der Stube auf und ab, und indem er bei jedem Gange eine Medizinflafche aus dem Fenfter wirft, horcht er geduldig zu, bie der alte Kindskopf das lange Freudens und legtlich Klages lied feined Magifterlaufd zu Ende gelungen hat. Er brummt ein Stüdchen, fchiebt ab, fpringt am Morgen wieder ein, macht auch die Bekanntfchaft des zweiten Heimatserben und läßt endlich fid) vernehmen wie folgt:

„Gebt Euch zufrieden, ewiger Magifter! Es müßte ja feine Öercchtigfeit über den Regenwolfen walten, wenn Euch Euer paͤdagogiſches Unikum fo im Nebel verpuffen follte. Sedyzehn Jahre auf einen Jungen! Denn den anderen, den Schießhund, den werdet Ihr doch wohl nicht auch für Euer Kunſtwerk ausgeben wollen? Gedhs zehn Jahre! In der halben Zeit wird Magifter Bonas parte mit der gefamten Sungfer Europa fertig geworden fein. In der anderen Hälfte fie vielleicht wieder mit ihm; denn alte Jungfern find zähe. Laßt Euren Gold» fohn nur duſeln; er dufelt ſich gefund. Wär er ein richtiged Wieneriſch Blut, ihm fehmedte fein Wurftel, und er fänge fein Kiedel feelenvergnügt wie die anderen auch. Er ift aber einer von der deutfchen Sorte, auf die fo eine Weltpauferei wirft wie ein Keulenfchlag vor die Stirn. Wir fchlafen ein und ſchwer wieder aus, Damit aber, flennt nur nicht gleich, Magifter, damit bilden wir juft das dauerhafte Element auf diefem wer, wölfifchen Erdrevier. Wenn der große Sagdherr droben

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zum legten Halali zufammenblafen laſſen wird, bleibt drunten einer zurüd, der den Speftafel verfchnardit, und diefer zweite Adam ift ein deutfher Menſch. Eures Jungen Kranfheit nennt fid) deutſche Natur! Bringt ers zum Ausfchlafen, wird er ein Mann geworden fein. Den anderen, den laßt laufen. Ihr haltet ihn nicht. Ein Siebenfchläfer wird der nicht; aber audy fein Mann; will fagen, was Bären und Magifter unter einem Danne verftehen.” So Doftor Bär. Am nämlichen Tage fhrieben audy die Eltern: „Sciden Sie Raul zurüd und warten Herrmanns Genefung gründlich ab.“ Die KHauptftadt war ruhig, ja, für den Aufgeregten langweilig geworden; der Weg durdy Böhmen lag frei. Ich gab meinen Segen und ließ ihn ziehen.

Sunfer Raul hatte das Siechtum feined Bruders cavalierement behandelt. „Der Baͤrenhaͤuter!“ fagte er lachend. „Das Blut eines Fifches müßte wallen. Seines ftodt. Er nimmt ſich nicht einmal die Mühe, die Augen zuzufchließen, wenn er fchläft.“

Jetzt trat er zum Lebewohl an ded Kranken Bett. Es war in der Frühe des legten November. Herrmann ſchlug die trägen Lider in die Höhe und lallte mühfam: „Keim zur Mutter -— Bruder!“

Es waren die erften Laute feit Wochen; der erfte Abfchied, den die Brüder voneinander nahmen. Hätte id ahnen können, in welcher Stunde und mit welchem Gruße fie ſich wieder begegnen würden!

Aber feltfam! Seit diefer Trennung datierte in meined Patienten Zuitand eine merfliche Belebung. Oder hätte bed alten Freiheitsdoftord Laͤrmmethode wirklich als Stimuland gewirft? Er horchte auf, wenn jener feinen

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Brummbaß anftiinmte, er foitete fogar von dem Brats hahnel und dem Ausbruchflafchel, die fid) der Doftor an unferer Tafel fchmeden ließ; fein Puld belebte ſich; er ging auf meinem Arm geftügt im Zimmer auf und ab, und als faum eine Woche fpäter der alte Ifegrimm die längft prophezeite Schreckenspoſt von Aufterlig in das Kranfenzimmer brüllte, da faß der Juͤngling wohl eine Viertelftunde lang unbeweglich, die Hände vor dem Gefiht zufammengefchlagen; dann erhob er ſich und fprach mit fefter Stimme: „Seßt heim auch wir! Ic bin gefund.”

Sc gedachte der Stunde, in der er ald Kind ohne fhüchternen Verſuch auf feine Füßchen trat und ficheren Scritted feiner Mutter in die Arme Tief. Ach, wie danfte ich Gott!

Anderen Tages ftanden wir zur Abfahrt bereit, als der Phyſikus er fand den englifchen Phyfifus etymologifch für feine Gaben fchicflicher al den deutfchen Doktor - fich unerwartet zur Mitreife einftellte. Ob er fich wirflich vor den Spitzeln fürdıtete, die bald genug im deutfchen Wien auf den Invaliden von Trafalgar vigilieren würben? Ob der Verlauf der pathologifchen Kuriofität ihn fo unmwiderftehlich intereffierte? Oder ob auch Bären in alten Tagen einen Kigel der Neugier fpüren nad dem Zwinger, in welchem fie an das Tageslicht gefrochen find? Kurzum, der Doftor reifte mit.

Wie vor zwei Monaten durch Steiermarf, fo ging es nun in furzen Tagesfahrten durchs VBöhmerland, und wie damals die unheimlichen Vorboten, fo erwarteten ung jest von Station zu Station die fchmachvollen Nadhs zügler des zweiten Dezembertags. Während des legten

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Öfterreichifchen Borfpanns famen wir für eine immerhin denfwürdige Begegnung nur um Minuten zu fpät. Die Reiſewagen zweier preußifchen Emiffäre rollten an uns vorüber. Der eine wie fpäterhin befannt wurde - General Phul, von Berlin mit dem Vorſchlag eines Friedensproviforiums, der andere, Haugwitz, von Wien mit dem Friedensdefinitivum kommend, waren hier aus Zufall aufeinander geftoßen. Bär erfannte den legteren,

„weil er ihn im Wurftelprater. mit dem Freiheitsftempel der Ehrenlegion auf der Bruft habe fpazieren fehen.“ Er verfuchte auszufpucken, obgleich ihm die Kehle trocken war. „Bor Gaudium,” fagte er, „über das Meifterftüd, das diefer große Deutfche in der Tafche unter dem Ehren- ftern nach Haufe trägt.” Preußens Abfall von der Koalition galt dem Doktor als Tatfache, fein Buͤndnis mit Napoleon nur eine Frage der Zeit. Der englifche Phyſikus fchöpfte Schon Damals aus politifchen Quellen, die der fächfifche Magifter niemals ergründet hat.

Der Pferdewechfel verzögerte fih. Wir verließen die laute, dumpfe Paffagierftube, in der ed von beängitigenden Gerüchten ſchwirrte. Schweigend gingen wir in bie Winterlandfchaft hinein. Der erfte Schnee gliterte im Sonnenfchein auf dem blauumdufteten Gebirge. Wir hätten kein ſchoͤneres Abfchiedebild von unferer Reife ultra montes heim in die Heide tragen fünnen. Wer aber freute fich der ewig verfühnenden Natur, wo bie Unnatur der Geifter fo fchnöde höhnte?

Der alte Friedensprediger war der erfte, dem die fächfifche Galle überfchwoll. D Freundin Iduna! Kalt du ed denn in feiner Seele gelefen, wie er in bitterlicher, grimmer Eiferfucht auf den glücklichen Nachbar, der dem

412 Fran Erdmuthens Swillingafdhne

Staate Martin Luthers das Primat im proteftantifchen Morden entriffen hatte, von jeher dein heimlicher Sozius gewefen ift? Heute aber fchmähte und fehmälte er ohne Kehl, nad Herzendluft. Bär brummte zwifchendurd mit einem luftigen Grimm, der fid,, Wort um Wort, zu übermannendem Pathos fteigerte. „Noch lebt Pitt, der große Leopard, noch gibt ed eine See und einen ‚Sieg‘, Deutfchland, fahre wohl!“ rief er, daß es zwifchen den Bergen widerhallte. „Deutfchland, fahre wohl! Das war dein Lepted.“

„Nicht das Kette!” entgegnete Herrmann, der bisher ſchweigend mit feinen Elaren, tiefen Augen in die Weite gefchaut hatte. „Erft noch die Strafe, dann die Sühne. Der Kreislauf in unferen Adern ift feit Sahrhunderten unterbunden. Aber dad Blut eines Volkes, das fchon in der Wiege den Eroberern der Welt Halt geboten hat, fol ein Blut zerfegt fich nicht in Sahrtaufenden. Im Kampfe für unfere Natur werden wir den legten Tropfen retten oder verftrömen.“ |

Er faßte nad) diefen Worten unfer beider Bände und hielt fie lange feitgepreßt in den feinen. Mit Staunen blicfte ich zu meinem Süngling in die Höhe. Die lange bleihen Wangen blühten in gefundem Rot, die legte Mattigkeit fchien gefhwunden. Er ftand aufrecht, ftirns breit höher ald der Hüne Bär. Der Neunzehnjährige war in den beiden Krankheitsmonden noch gewachfen. Mit fcherifhem Etrahl fchweifte fein Auge über bie weißverfchleierten Berge.

Ohne weitered Wort gingen wir, Herrmann voran, nadı dem Pofthaufe zurüd. „Gratulor!“ fagte der Doftor zu mir. „Öratulor, Magifter! Euer Zunge ift ein Dann

Dritter Abſchnitt 113

geworden, und diefer Dann hat ein Ziel gefunden, für ‚das er lebt und ftirbt.“

Ich ahnte ed, und ich ahnte noch mehr. Diefer Mann hatte auch einen Freund gefunden, der ihn auf der Bahn zu feinem Ziele leiten und begleiten konnte, „ftärfer und freidiger” ald der alte Pate Magifter. Und der eins fame, freidige Freund hatte einen Sohn gefunden.

% * *

Am Weihnachtsabend trafen wir im Elternhaufe ein. „Herzenserdmuthe, unfer heiliger Chrift!” rief Herr von Roc, und der Sohn ward gleich einem Neugeborenen von ben elterlichen Armen umfangen.

Der Doktor machte Miene, fid) unbemerkt zu entfernen. Aber wo war ba ein Entlommen? Herr Raul umarmte ihn wie einen alten Freund, Frau Erdmuthe ftredte ihm wie einem Bruder beide Bände entgegen. Über Albrecht Baͤrs großes, graues Geficht flog ed wie ein Roſen⸗ ſchimmer der Jugend. Er fagte fein Wort, aber er blieb.

Sindeffen, dad waren nicht nur Freudentränen, welche die Lider meiner Freundin gerötet hatten, und auch eine böfe Kalte auf ihres Gatten Stirn, im Moment des MWillfommend geglättet, grub fich verdrießlich von neuem wieder ein. Der Lichterbaum wurde angezündet, allein ed wehte fein Weihnachtögeift wie fonft in dem glüc- lichen Hauſe. Beamte und Diener, Witwen und Waifen erhielten reichlich befchert, auch jeder von ung eine vor- bereitete Gabe; das Tiſchchen aber fehlte, vor welchem bisher das fröhlichfte Kind gejubelt hatte, und bie Mutter flüfterte mir zu; „Stil über Raul!“

Die Chriftferzen waren niedergebrannt, bad Habdank XX.8

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war verflungen. Ein jeder trug fein Bündelchen heim. Die Altvertrauten, heute zum erftenmal mit einem Sechſten - als Fünfter natürlich der heimifche Kommili- tone Guftel Hecht -, fegten ſich um den Familientifch, der heiligabendliche Heringsſalat eröffnete den Bewill⸗ fommnungsfchmaus.

„Harmloſer, Kleiner Meerbewohner, wie fommft du zu der Ehre, mitten im Heidefande ald Fortunatus verzehrt zu werden?" Mit diefer erften Tifchrede verfuchte der Doktor die bängliche Stimmung abzulenken.

Und wie es in häuslichen Krifen oftmald weniger auf einen gefchickten ald auf einen gutgemeinten Verſuch anfommt, fo ward auch heute der eingefalzene Fremd⸗ ling wirklich zum Fortunatus, der das Eis der Zurüd: haltung brach. Ein Wort lockte das andere hervor, Die dampfende Bowle taute bald des Nittmeifterd gute Laune wieder auf. „Daß der Teufeldjunge uns die Schöne Freude fo verfümmern mußte!” rief er aus.

Ein flehender Blick der Gattin fenfte fich in den feinen; er reichte ihr über den Tifch hinüber Die Hand und fagte lachend: „Warum nod) länger hinter Dem Berge halten, mein Engel? Sprechen wir und die Seele frei von dem drüdenden Verdruß. Sa, Magifter, heute morgen ift er fort. Zwei Wochen lang habe ich den Tollfopf unter Schloß und Riegel gehalten. Ich denke, die Lektion wird gefruchtet haben. Aber Blut und Galle hat fie mir weiblich in Wallung gebracht, und wieviel Tränen find aus diefen guten, lieben Mutteraugen gefloffen.“

So fam denn nun Wort um Wort, unter Lachen und Meinen, Anfchuldigungen und Entfchuldigungen die un- erbauliche Gefchichte zutage, die dad Vorfpiel der herz-

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brechendften Kämpfe in dem Haufe friedlichen Gluͤcks geworden ift.

Sunter Raul war nadı dem Abfchied von Wien nicht geradeswegd nach Haufe geeilt, fondern in das mährifche Feldlager abgeſchwenkt juft zur Stunde, um Zeuge der neuen Glorie feiner Heldenbrübder zu werden. Nach dem MWaffenftillftande ftürmte er heim und, ohne Atem zu fchöpfen, dem Vater unter die Augen mit der unums wundenen Forderung, ihn ftatt in die fächfifche in die franzöfifche Armee eintreten zu laffen.

„Zaufende von Franzofen,“ fo hatte er ausgerufen, während der Bater noch ftarr vor Überrafchung mit feinem auftochenden Zorne rang, „Taufende, deren Väter unter dem Mordbeile gefallen find, rädyen ſich an ihrem Baterlande, indem fie ihr Blut für feinen Ruhm vers gießen. Auch ich will in feinem Dienft mir dad Heimats⸗ recht wiebererobern, das unferen Ahnen geraubt wurde, Dorthin gehöre ich. Ich bin zum Soldaten geboren. Aber nur unter Helden kann ich felber zum Helden werden; hier bei euch bleibe id} ewig ein Paradeknecht!“

In dem Auftritt, der dieſer Apoſtrophe folgte, mag es hart hergegangen ſein. Frau Erdmuthe konnte auch ſpaͤterhin feiner nicht ohne Beben gedenken. Das gleich⸗ artige Blut wallte gegeneinander auf; das des Vaters um fo fchäumender, da ed nur felten auf den Siedepunkt kam. Dit den fchärfften Worten geißelte er den Uns dankbaren, ber ſich dem Dienfte feined Heimatlandes ent» ziehen, ja, früher oder fpäter unzweifelhaft die Waffen fehren wolle gegen ein Bolt, das ihm zehnfältig alles erfest habe, was das andere feinen Vätern fchnöde geraubt.

„Ein Bolt?" entgegnete höhnend der Sohn. „Meinft

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du das deutfche Volk, Vater? Nun, find ed etwa nicht Deutfche, welche in diefen Tagen unter Frankreichs Fahne wieder fiegen gelernt haben? Nennen nicht aud) Deutfche ſich diefe Preußen, die, wie die Sperlinge auf dem Dache ſich erzählen, nädıfter Tage im Bunde mit Franfreich wieder fiegen lernen wollen? Meinft du -“

„Sc meine uns Sachſen!“ fchrie der Vater, durch den fpöttifchen Widerfprud, aufs Außerfte gebradıt. „ch meine deinen fächfifchen Landesherrn und die fächfifche Fahne, unter der deine Väter geblutet haben. Ich meine diefen fächfifchen Heimatsgrund, dem du alles, was Gluͤck heißt, zu lohnen haft: ©efeß und Ordnung, Religion und Freiheit, Haus und Hof, Hab und Gut und zuerft und zulegt deine unvergleichliche Mutter. Hier find deine Landeshrüder, hier find die, deren Sprache du redeft, beren Ölaube der deine ift; hier find die, in deren Reihen ber Landöfnecht eines fremden Defpoten eined Tages feinem Bater und Bruder gegenübertreten würde. Wie weit willft du, Narr, denn die Stammesgemeinfchaft zurücdatieren? Warum nicht gleich bis in die Arche Noah und zu dem Elternpaare im Paradies? Gottlob, daß du nody ein Knabe bift und ich dich zwingen fann, wo ich dem Manne fluchen müßte.“

Er padte nad) diefen Worten den ſich Sträubenden bei den Schultern und fchleppte ihn in fein eigenes Zimmer, das er hinter fid) verfchloß. Nur der Mutter wurde Einlaß geftattet, und deren guten, Fugen Worten, ihren Tränen gelang denn auch allmählich eine Vermittlung, wenn fie aud) weit davon entfernt war, eine Verſoͤhnung zu fein. Die erlittene Demütigung hatte die mühlam gerflegte Geimatsliebe in dem Süngling nahezu ertötet;

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er grollte dem Vater, dem er fich gezwungen unterwarf; der einzige Bruder wurde ihm ein Fremder. Nur die Liebe zur Mutter blieb aufrecht in feinem Herzen, und die Mutterliebe wuchs unter dem wedhfelfeitigen Zerfall.

Frau Erdmuthend Werk war ed denn auch, daß dem Gefangenen die befchämende Begegnung mit und Heim⸗ fehrenden erfpart wurde. Ohne den Bater wiederzufehen, brach er nadı Dresden auf, um anftatt, wie früher be⸗ abfichtigt, in das väterlicye Neiterregiment in eines der Garde einzutreten. Bielfeitige Kameradfchaft, fereng Ioyale Familienverbindungen, refidenzliche Gefelligkeit und vor allem die Gegenwart des verehrten Landesherrn follten, fo hoffte man, eine gemütlidye Gewoͤhnung, gleich» fam eine Ausdehnung des verfümmerten Heimatsſinnes, bewirken, unter welcher die weitfchweifenden Ruhmess bilder ſich verwifchten.

Und diefe Abficht fchien erreicht zu werben. Unfer Junker lebte flott und froh; wenn dann und wann ein wenig über dad Maß von flott und froh; „jung Blut hat Mut!” Der Bater lachte darob und die Mutter lächelte. Beider Beängftigungen gingen auf anderer Fährte Wurde er rafcher ale feitgefegt mit feinem Wechſel fertig, ei nun, fo hatte ja fchon fein Großvater fuͤrſorglich Haus gehalten. Verdrehte er den Epigoninnen der fchönen Koͤnigsmark und Konforten die Köpfe: ei nun, warum ließen fie fich von einem Mildybart in Uniform die Köpfe verdrehen? Hatte er mit feinem Degen einen Denkzettel auögeteilt, trug er den Denk⸗ zettel eines gleichartigen Hitzkopfs an feiner Stirn: ei nun, ed war beim Kautrigen geblieben und höheren Ortes vertufcht worden; es gehörte quafi zum Stand,

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und ſolch ein Nitterzeichen machte den Helden aller Friedenskünfte um fo intereffanter. Der Liebling der Spinnftuben rücdte zum Coqueluche in Hofdamenkreiſen empor. Fräulein Idunas Couleur fteigerte fich zur Höhe des Karmın, wenn fie fidy mündlich wie fchriftlich über die zauberifche Wirkung des glutäugigen Kornetts ergoß. Die erften Partien Furfächfifcher Nitterfchaft fanden, nach ihrer Beteuerung, auf der Lauer, den Flatterling mit goldenen Ketten feftzubinden. Frau Erdmuthend füßefter Traum würde erfüllt worden fein, wenn in “früher Sugend das Feftbinden an einer Roſenkette ge- lungen wäre.

Auf der anderen Seite rühmten die Vorgefegten, rühmte vor allem Freund Thielemann, der den Sunfer häufig in den angefehenften Berwandtenfreifen fah, feine militärifche Begabung: Gewandtheit und raſches Erfaffen; bei fran- zöfifcher Geläufigkeit die in feinem Stande feltene klaſſiſche Bildung. „Hört, hört, Pate Magifter!” rief der eng- liſche Phyſikus. Eine glänzende Karriere wurde in Aus- ficht geftellt; das nächfte, heißerfehnte Ziel der Epauletten durfte fchon im Sahreslauf erreicht werden. Da ein Urlaubsbefuch von feiner Seite gewuͤnſcht ward, konnte die Mutter ſichs nicht verfagen, einen Blick in das freie Treiben ihres behüteten Kindes zu werfen; fie fam heiterer zurüd, ald fie gegangen war.

Während diefer Zeit faß fein Bruder unter emfigen juriftifchen und damals nicht häufigen hiftorifchen Studien in Leipzig ftill; hielt fidy vom herfömmlichen Studenten: treiben und felber von gefelligen Zerftreuungen fern, wenn fchon die leßteren von den Eltern warm empfohlen worden waren. Alles was einen durch die Vernunft ge-

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regelten Lebenslauf ftört, fchien diefem Juͤngling fern zu liegen; während feiner Ferienbefuche nahm auch wohl die Mutter die frühreife Befonnenheit für ein Erbteil der flämifchen Ader in ihrem Gefchlecht, und der Vater fagte befümmert: „Er hat die Braufezeit überfprungen und kommt um ein guted Teil Lebensfreude zu kurz. Erft gären, dann langfam ſich Elären, fcheint mir der ficherfte Weg zum Gluͤck.“ Die Freunde aber, weldhe den Haͤndedruck ded Juͤnglings in der Stunde von Peterdwaldau empfunden hatten, fie wußten, daß er ein großes, felbitlofes Streben in feiner Seele barg und daß fein Glü darum auf fiherfter Bafid gegründet war.

Die Brüder fahen ſich in diefem Sahre nicht, und Freundesbriefe mögen fie fi auch nicht gefchrieben haben. Erſetzt aber wurde feinem von beiden die leere Stelle. Dem einen nidyt, weil er der Kameraden zu viele; dem andern nicht, weil er ftatt eined Jugend⸗ genoffen einen Mentor gefunden hatte, der ald Freund an feiner Seite ging. Diefer Mentor war Albredıt Bär.

Denn, hatten wir von Woche zu Woche gefürchtet, unferen Bär mit feinem britifchen Honigvorrat das Weite wieder fuchen zu fehen er blieb; ohne Erklärung, vielleicht ohne Plan, aber er blieb. Er richtete fidy feine Höhle, mit Büchern und Inftrumenten auögeftopft, in einem Pavillon des Schloßgarteng ein, in welchem felten ein Menfchentritt oder Menfchenlaut widerhallte, außer dem eined alten Faktotums Bedienten halten doch wohl Bären nicht? -, das auf Soden ging, und, wenn ed nicht ſtumm war, wenigftend deutfch zu reden nicht verftand oder liebte, Wegen feined Nanfinghabitd und feiner Nanfinghaut nannten wir den ftillen Mann den Chineſen;

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ob ers war, autochthon oder nachgeahmt, weiß ich nicht. Der Gelbe bereitete ſich feine Nahrung felbft nach uns heimifchen Rezepten, der Graue fchob fich gelegentlich an Frau Erdmuthens dehnbare Tafel. Er fpradı und ſchwieg, gab Rat und verfagte Rat, wann und an wen ihm bes liebte, niemals jedoch innerhalb feiner Höhle, fondern an einem Tag wie Nacht geöffneten Fenfter, vor welchem, muͤndlich oder fchriftlich, Die Heildgefuche einer zahlreichen Klientel angebradyt wurden. Da aber des englifchen Phyfitus wohlgelaunte Stunden vorzugsweife von denen getroffen wurden, die feine englifcye Fee in der Tafche hatten und von welchen auch eine deutjchbefcheidene Tar- gebühr der Einklagekoften nicht verlohnt haben würde und deren waren viele -, fo wurde feine Einbürgerung zum Gipfelpunft, gleichſam zum Tuͤpfelchen über dem J der heilfamen Umwandlung in unferem Heidewinkel unter Frau Erdmuthens mildem Regiment. Ein ftätiger Bürger wie wir wurde der Doktor indeffen nicht; er ging und kam zurüd, feiner wußte, wohin oder woher; tage: lang, wochenlang war er fort und wieder da. Häufig wird das Studentenftübchen feines „Manns“ das Ziel gewefen fein. Wäre er ein Sahr fpäter bei und ein- gefprungen, wohl möglich, daß er ald englifcher Emiffär verdächtigt und überwacht worden. Da er vor ber Fran: zofenfreundfchaft fich niedergelaffen, war aber und blieb der englifche Doktor nur eine Kuriofität weit über unferen Heidewinfel hinaus. Mit feiner eifengrauen Mähne und den eifengrauen Augen, die hinter eifengrauen Brauen⸗ büfchen vergraben lagen, im eifengrauen Rogquelaure, auf eifengrauem Hengſt ward er von jedem Kinde gefannt und blieb einem jeden fremd und fern. Wenige wußten,

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und feiner dachte daran, daß er ein Sohn unferer Heimat war. Er galt ale Ausländer und fon darum ale Prophet. Dem Haufe, in welchem feine Mutter ihn mit Dienftbrot aufgezogen hatte, wurde jeßt nidyt nur um feiner Gaftfreundfchaft willen zugefprochen. Man rühmte fich de intereflanteften Erfolgs, wenn man unter feinem Dache auf das englifche Original, den weltberühmten Doftor, ftieß.

So hatten wir denn, neben dem Fleinen roten einen großen grauen Kauz, den ernfthaften Humoriſten Bär neben dem drolligen Philofophen Hecht; „Frau Erd: muthens drei Knechte“ nannte - meine Wenigfeit ein- gefchloffen - Herr Raul, ohne Eiferfucht, dad Kleeblatt der Sunggefellen an feinem häuslichen Herd. Und in der Tat, wie verfchiedenartig die Natur in Weite und Enge die heimifchen Kommilitonen ausgewirkt hatte, im Dienfte ihrer lieben Frau und deren Bereiche ftanden Phyfitus, Judex und Magifter wie ein einiger Mann.

Albrecht der Bär, welcher der Freiheit nadhgelaufen war, harfch unter dem Fallbeil weg, bis in die Peftzone hinein und unter Nelfond Todesflagge, er fand fie in dem heimatlichen Heidewinkel ald Frau Erdmuthend Knecht!

* + *

Nach Pitt Tode verficherte unfer Politifus, daß die ehrenwerte Dame Europa ohne fernerweitige Sperenzien vor ihrem ungeftimen Bewerber zu Kreuze friechen und alle Zurbulation vor der Hand ein Ende nehmen werde, Wir unpolitifchen Beideleute ließen diefe Ausficht und gern gefallen, vorausgefegt, Daß, wie bisher, unfere furfürftlichen Reize die feurige Sultandlaune nicht entzündeten.

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Der Politifus fchien recht zu behalten. Das heilige römifche Reich deutfcher Nation Löfte ſich in Wohlgefallen auf, ohne daß ein Hahn vernehmlich darum gefräht hätte. Auch wir Kurfächfifchen ließen uns fein graued Haar darum wachfen; wir hatten ald Schüger, wie ald Schuͤtz⸗ linge des Reichs der weheleidigen Erinnerungen genug, um ed nicht audy einmal gern auf eigenen Füßen zu ver: fuhen; und am irdifchen Firmament, fo tröftete ber Doktor, ginge ja auch fein Rad dem Faiferlichen Wagen verloren, der fidh im gefegneten Anno Bier vom Fleinen zum großen Bären aufgefchwungen habe, Denn fein Freund, der fchwarze Jakob drüben, mache die maje- ftätifche Sieben voll. Bemerften wir nun im Verlauf, wie der Allgewaltige Kate und Maus mit unferem Nachbar im Norden zu fpielen beliebte, fo wäre unter den Freunden Fräulein Idunas hoͤchſtens ein behaglicher Kigel zu regiftrieren. Zwei Großhänfe bemühten ſich um unfere furfächfifche Gunft; beide wurden abgewiefen, und wir blieben neutral.

Im Spätfommer erhielt der Rittmeifter Die Beförderung zum Major, gleichzeitig mit der Verſetzung in ein Thüringifches Regiment. Sein Entfchluß war raſch ges faßt. „Die Zeit ift friedlich,” fagte er, „der Schwindel unferes Raul verflogen. Wir haben wieder einen Vers treter in der Armee; nun ſchon die fünfte Generation, die ihrem Schugherrn den Zoll der Dankbarkeit ent- richtet. Ic darf mich zur Ruhe fegen und bei dir bleiben, meine Erdmuthe.“

Am nämlichen Tage reichte er fein Abfchiedögefuch ein; ehe er ed aber betätigt erhalten, hatte der Kurfürft dem preußifchen Drängen nachgegeben. Die Armee wurde

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mobilifiert, Herr von Roc zog fein Geſuch zurüd. Sein Sohn, zum Leutnant aufgericdt und dem väterlichen Regiment zugeteilt, wurde erwartet, um nach dem Abfchied von der Mutter in Begleitung des Vaters nad Thüringen aufzubrechen.

Durch diefe Unterhandlungen zog ſich nun aber, ale Nachſpiel der vorjährigen Szene, eine gar higige Korre⸗ fpondenz unferes Helden in spe. Anfänglich rechnete er mit Entzüden auf Sachſens Beitritt zum Rheinbund; fpäter tröftete er ficy zur Not mit unferer Neutralität, endlich aber behauptete er, Die immer nähertretende MWahrfcheinlichkeit eines Biündniffes gegen Franfreich nicht ertragen zu fünnen, und drohte mit Defertion oder gar Rebellion. „EL wäre Selbftmord,” fo fchloß fein legter, zum erften Male direft an den Vater gerichteter Brief, „Selbftmord auch in Deinem patriotifchen Sinne, Bater. Alle Madıt, die Sadıfen verloren, hat ed an Preußen verloren. Ald es unter Preußens Führung fein Fahnlein gegen das neue, noch cdhaotifche Frankenreich ftellte, hat es fein Blut umfonft verftrömt. Du kaͤmpf⸗ teft unter diefem Fähnlein, Vater. Kannft Du ed er- tragen, daß unfer Herzblut noch einmal und ftärfer ver- firömen fol, heute, wo unfere natürliche Schugmadht unter einem Haupte fteht, dad zum Drdnen audy in diefer Fäglichen deutfchen Plunderfammer von der Vorfehung berufen iſt? Noch ſchwankt die Wage; noch fann der Wille der Armee die Schale des Ruhmes finfen laffen. Du haft Freunde, Verbindungen, Vater. Viele Offiziere fühlen wie ich; alle verabfcheuen dad Bündnis mit Preus Ben, alle! Es ift die legte Stunde. Nie wirft Du Deine danfbare Treue gegen das Kurhaus ruͤhmlicher bezeigen

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tönnen. Erhebe Deine Stimme, Bater, handle, bridy dem Strome eine Bahn, rette dad Land, dad Du Tiebft, rette Dich felbft und mid. Wir, die in die Irre ges triebenen Söhne jenes Vorvolks alles defien, was groß auf Erden ift - der Arm müßte uns ja erlahmen, wenn er dad Schwert gegen unfere Brüder züdte, unfere Brüder dem Blute und dem Geifte nad. Der Wahn⸗ finn wirbelt in meinem Hirn. Mit Füßen getreten werben von denen, die ich bei Aufterlig fiegen fah! Komme was will: ich kann, idy will, ich werde es nicht ertragen!“

Der Bater zerfnitterte „den Wiſch“ in der Fauſt und entfandte an feinen rebellifhen Junker einen reitenden Boten mit dem fummarifchen Befehl, stante pede Dres: den zu verlaflen und unter väterlicher Eöforte in das Lager zu rüden, in weldyes ihr Kriegöherr die Armee befohlen habe.

Nach diefer Sommation hatte der Major fchon mehrere Tage auf den Sohn, den Untergebenen, gewartet. Am folgenden Tage mußte die Armee an der Saale erreidht fein.

Es war das Geburtstagäfeft feiner Gattin, welches der Major ald Außerften Termin für die Abreife feitgefegt hatte. Ein Sceidegruß an diefem guten Tage follte ihn wie ein Segensſpruch feiern, und die Erinnerung an zwanzig Sahre faft ungetrübten Gluͤcks das frohefte Weg⸗ geleit fein. Für den Abend hatte er fidh bei Herrmann in Leipzig angemeldet. Die nahende Mefle erforderte einige gefchäftliche Abwiclungen, die er dem Sohn über- tragen wollte.

Bon früh ab ftanden die Pferde zum Anfchirren bereit:

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Stunde auf Stunde verrann in der Ermartung von Raul. Mehrmals hatte der Major den Befehl des Ans ſpannens gegeben und nach einem flehenden Worte feiner Gattin wieder verfchoben. Immer dunkler ſchwoll die Ader auf feiner Stirn, immer bleicher wurden die Wans gen der Mutter. Die Mittagdftunde fam heran; feiner dachte" an das harrende Mahl. Die Uhr in der Hand, rannte Herr von Roc im Zimmer auf und ab; böfe, bitterböfe Worte drängten fi) über feine Lippen; er wehrte die geliebte Frau von fich, die fich bebend und fchluchzend in feine Arme warf. Endlich: „Vorfahren, und fort!“ :

Da hörten wir Huffchlag vom Hofe herauf. „Raul!“ rief die Mutter, an dad Fenfter eilend. Der Reiter war ſchon abgeftiegen; ftarfe Schritte fhallten im Korridor. War dad Rauls leichter, elaftifher Gang? Die Tür wurde geöffnet. Raul? - Nein, Herrmann!

„Sch habe vergeblidy deinen Ruf erwartet, Vater,“ fagte er. „Nun komme ich dir zuvor, um mid) als freis williger Mitfämpfer unter deinen Befehl zu ftellen.“

Die Dutter war während diefer Worte zum Schatten erblaßt. „Alle drei!” hauchte fie, indem fie fidy an die Fenfterbrüftung klammerte. Der Vater aber riß den Füngling ftürmifh an feine Bruft und rief, funfelnde Tränen in den Augen: „Sohn meined Herzens! Rocher d’honneur! Mein Ehrenfels!“

Herrmann entwand fich feinen Armen; er beugte das Knie vor der Mutter, deren zitternde Hände er an feine Lippen drüdte. „Muß es fein, mein Sohn?“ fragte fie leiſe.

Er neigte das Haupt und ſagte ruhig: „Es gilt den

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Kampf, der über den Reſt von Deutfchlande Ehre ent: fcheiden wird.“

Keine Gegenrede wurde weiter laut.

Der Wagen war vorgefahren; die Mutter ruhte am Kerzen ihres Sohned, Der Major ftand am Fenfter, Moment für Moment das Abfchiedewort verzögern. Eine Totenftille fchwebte durch das Zimmer.

„Schmady über den Deferteur!” fchrie endlich der Vater auf, ſtuͤrzte nach der Tür und fließ auf den Doftor, der nach mehrmöchentlicher Abmwefenheit unbemerkt einge- treten war; der Gerichtödireftor hinter ihm.

„Rabenvater!” rief Bär, mit einem Blick auf die Mut- ter und einer Grimaffe, die wohl ein Lächeln bedeuten folte. „Darf ein fächfifcher Leutnant nicht mehr die Freiheit haben, fich mit einem preußifchen Kameraden herumzupaufen?“

Damit reichte er dem Major einen Drudbogen, mit dem Finger auf einen Paffus deutend.

„Stimmts?“ fragte er, nachdem der andere gelefen hatte.

Es war das Wochenblättchen unferer Amtöftadt, wels ches der Doktor, frifch unter der Preffe hinweg, mit- gebracht hatte. Der Paſſus Tautete:

„Geſtern hat nahe der Grenze ein Säbelduell ftattge- funden zwifchen einem preußifchen und fächfifchen jungen Offizier, legtwelcher einen in diefer Gegend hochgefchägten Namen trägt. Die Herren hatten ſich auf der Dresdener Straße überholt, und fol der Streit politifcher Natur gewefen fein. Beide Duellanten wurden verwundet, indeffen wohl unbedenflicdh, da beide ihren Ritt fort: fegten, nadhdem unfer Herr Amtsphyfitus ihnen den Verband angelegt hatte.”

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Der Doktor hatte die Stadt während der noch allfeitigen Aufregung über das geftrige Ereignis paffiert, auch den Kollegen geſprochen, der die erforderliche Hilfe geleiftet. Doch wußte er Aufflärendered gar nicht und nur, für die Mutter beruhigend, hinzuzufügen, daß die Armmwunde ihres Sohnes ohne alle Gefahr, auch auf die Diskretion des Arztes der überdies, dem Namen nach, Felöfcher Hausarzt war zu rechnen fei. „Ber freilich kann dem Wochenblättchen fo einen feltenen Biffen vom Munde ſchnappen“, fagte Bär. Die heutige Nummer hatte er, „zur Bereicherung fämtlicher Bibliothefen Europas”, vor der Ausgabe an ſich gebradıt. Er hatte den Sohn im Elternhaufe vermutet und war eilig dahin aufge: brochen.

Sn des Vaters Flammen war durch diefe neuefte Kunde Ol gegoffen. Warum hatte Raul mit dem Aufbruch von Dresden fo lange gezögert, bis er den Vater bereits fern im Lager vermuten durfte? Wie durfte er fi, in Er- wartung des Zufammenftoßed mit dem Feinde, eined po⸗ litiſchen Handels mit einem verbindeten Kameraden unterfangen? Wo war der Widerfpenftige während der vierundzwanzig Stunden, die feit dem gefahrlofen Zweis fampf abgelaufen waren? Der Argwohn der Defertion verftärkte fich. Ein entfegliches Wort, ein Wort, das durch feinen Widerruf zu tilgen ift, unterbrad) die Mut- ter, indem fie mit dem Auffchrei: „Er ift tot!“ ihre Stirn auf ded Gatten Lippen preßte.

Der Major fchritt nach der Tür; die Mutter ihm nad. „Vergib ihm, fegne ihn im Geifte, ehe du fcheideft, mein Raul,” fagte fie. „Du wirft ihn niemald wiederfehn.“

Er umſchlang das unglüdliche Weib, legte die Rechte

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auf ihr Haupt, und wenn er heimlich einen Segensſpruch gebetet hat, fo war ed der tote, nidyt der lebende Sohn, dem der Segen galt. Dann riß er ſich los; Herrmann verfuchte ihn zurüdzuhalten; aber die Mutter winfte, daß fie fcheiden follten. Der Wagen rollte von dannen. „Auf Wiederfehn!” rief der Doktor feinem Manne nad). Noch ftanden wir unter dem Portale, mit unferen Blicken dem Wagen folgend, bid er hinter dem Klofter in der Heide verjchwunden war, ald von der Stadtfeite her von neuem ein Hufſchlag gehört wurde. „Sein Pferd und ohne ihn!” rief die Mutter, in die Knie zufammen- brechend.

Wirklich war es der prächtige Nappe, welchen der Ma- jor feit Jahr und Tag mit Vorliebe geritten und dem Sohne bei deffen Fürzlicher Beförderung ald Zeichen ber Berföhnung gefendet hatte. Die Zügel fchleppten am Boden, an Nüftern und Weichen hing weißer Schaum. Ein Fröner hatte das Pferd irrend auf einem Heide⸗ pfade, nahe der Landftraße, eingefangen.

„Er ift tot!” Achzte die Mutter. Sie raffte ſich auf und eilte in der Richtung voran, in welcher der Mann das Pferd gefunden haben wollte.

„Er hat ſich eine Kugel vor den Kopf gefchoffen!“ fchluchzte händeringend der ehrliche Hecht. Bär aber verfegte ruhig:

„Sung und toll genug wäre er zu dem Coup; fo in der Stille aber, ohne dramatifchen Effekt, würde er ihn nicht ausgeführt haben, Es ift ihm ein Unfall zugeftoßen; irgendwo in der Heide werden wir ihn finden.“

Damit traf er die erforderlichen Anordnungen. Den Gerichtödireftor fchickte er eilend& nach der Stadt, um

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von dort aus die Spur ded Berfchwundenen aufzufuchen; die Sagdhunde, alte Freunde des Junkers, wurden los⸗ gelaffen, ſaͤmtliche Schloßdiener nad) verfchiedenen Rich⸗ tungen in die Heide dirigiert. Am Cingange derfelben, vor der Ruine, follte eine Tragbahre bereit halten. Noch holte er in feiner Wohnung Snftrumententafche und bes lebende Medikamente und fam mir nad, ale ich bis auf wenige Schritte die Mutter in der eingefchlagenen Rich⸗ tung erreicht hatte. Wir fahen und fühlten mit ihr die Schauer, unter denen fie das geliebte Kind ohnmädhtig feit vierundzwanzig Stunden, verblutend, zerfchmettert, vielleicht als Leiche, in jedem Winkel ihrer Heide fuchte.

Wir folgten den Tritten der Hufe, welche dem weichen Sandboden eingeprägt waren. Bald gingen fie hinter einer Nadelftreu, bald hinter Wurzeltnorren verloren, bann zeigten fie fid) wieder auf einem freugenden Wege; immer eine weitausgreifende Spur, die das wildeſte Jagen andeutete. Weiter und weiter! Die Spur wurde eine doppelte; der rundliche Huf war vorwärts und ruͤck⸗ wärts dem Boden eingedrüct; vereinzelte Blutstropfen leiteten im Zickzack und nahe an den Punft zurüd, von welchem aus wir den Wald betreten hatten. Das ſin⸗ fende Tageslicht fchimmerte durch die dünner werdenden Stämme; die Blicke der Mutter irrten verzweifelnd nad) allen Seiten, die Hunde fchnüffelten mit zum Boden ge> fenftem Kopf und Schweif.

Da, jählings, dicht vor der Ruine, ein fcharfed Gebell. Hinein, hindurch, zwifchen Geröll und Geftrüpp, bie Mutter voran! Endlich, dort am Kapellenpfeiler, den fie fich einft ale Abfchluß ihres „Raulhauſes“ geträumt hatte, da warf die jammervolle Frau ſich zu Boden, und 1X. 9

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ihre Arme umfpannten ihres Herzens Liebling mit Blut überfchwemmt, eine Flaffende Wunde in der Stirn, kalt, ftarr, totengleich oder tot?

Ehe Albrecht Bär diefe Frage zu entfcheiden vermochte, war die Sonne gefunfen. Ein jeder von uns ahnte, daß mit ihrem Scheideftrahl der gute Stern fid) geneigt, der einundzwanzig Sahre über dem Kaufe unferer lieben Frau geftanden hatte. |

Doch war es Leben, nicht Tod, das fein nädhfter Schein ‚verfündete. Ein wildes Fieber hatte die Ohnmacht ab- gelöft. Tage und Wochen lang hing das Auge der Mut: ter ohne bannende Gewalt an den irre fladernden Blicken, raftlofe Wahnbilder besten den Flüchtling über Berge und Gee, ftarfe Mannedarme hielten ihn faum. „Fort, fort!“ fchrie er, „Brudermörder! Kain, Kain!“ Der Phyfitus fand Methode in diefen Halluzinationen des Fiebers.

„Habe ichs euch nicht gleich damals beim Herings⸗ ſalat geſagt?“ brummte er auf mich ein. „Laßt das Windſpiel los, ihr haltets nicht. Heute bellts, morgen beißts.“ |

Nun ja, er hatte es gefagt, ſchon vor dem Herings⸗ falat und hernadh immer wieder: „Laßt ihn los!“ Er allein hatte ed gefagt. Die Winpdfpielöfreiheit war feiner Bärenfreiheit Widerpart; aber ed war nun ein- mal fein Drang, „jedem Inftrument ein Luftlody aufzu- drehen, daß es Klinge nach feiner Art.“

Adıt Tage und Nächte hindurdy hatte er als treuefter Knecht unferer lieben Frau zur Seite geftanden. Am neunten Morgen reichte er ihr die Hand zum Lebewohl. Der Puls gehe zwar noch ftarf, meinte er, und die Wunde

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brauche nun erft recht einen gefchictten Verband. Er habe aber feine Luft, fich von feinem alten Kollegen eine Entfhädigungsflage wegen beeinträchtigten Hausrechts an den Hals hängen zu laffen, und darum Gott befohlen! Nun, wir fühlten, Daß der Puls ſich gemäßigt hatte, und fahen, daß die Stirnwunde heilte; wir hatten aber auch ge- hört, Daß der Doktor den fcheidenden Freunden: „Auf Wie: derfehen!” nachgerufen hatte, und ahnten, daß es hohe Zeit zum Worthalten geworben fei. Am Morgen des achten Oktober war unfer Bär aus der Heide verfchwunden. Durch den alten Hausarzt, der nun an feine Stelle wieder einrückte, erfuhren wir einiges Nähere über den böfen Han⸗ del, der unferer Sorgen Anlaß war. Der Gegner, ein junges Blut wie unfer Raul, fol Adjutant oder wenig- ftend im Gefolge des Generals Phull, des legten preu: Bifchen Unterhändlers am fächfifchen Hofe gewefen fein; vermutlich einer von den Sunfern Obenaus, die und damals als yreußifche Typen galten. Beide junge Kampfhähne, die ſich vielleicht nur in der Farbe ihres Federſchmucks unterfchieden, hätten, fo hieß es, bereits in Dresden aufeinander losgehackt; ob eine hübfche ita- Tienifche Choriftin ihren Anlaßteil daran gehabt, foll dahingeftellt bleiben. Nun fließen fie, beide durch einen nächtlichen Ritt überreizt, auf der Landſtraße wieder zufammen: der eine, wie er mit irgendeiner Botſchaft in das preußifche Hauptquartier nad) Naumburg eilte, der andere, wie er in fopflofem Grimm, in dußerfter Stunde feiner Soldatenpflicht Folge Ieiftete. So bei Wege frifcht der Streit fidy auf; man erhigt ſich, be- leidigt, fordert fich, gibt ſich in aller Eile Satisfaktion, laͤßt im nächften Städtchen feine Wunden verbinden,

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verföhnt ſich vielleicht aud) wieder und fprengt, ein jeder feine Straße, weiter. Der Held aus Friedrichs Schule wird, willd Gott, im Hauptquartier glüclich einges troffen fein, und auch an dem Hirnfieber des Napoleo» nifchen Bewundererd mag der Hieb ins Fleifch geringe Schuld getragen haben. Aber die lange fochende Wut, der Parforceritt bis in die tiefe zweite Nacht hinein, der Blutverluft infolge des im Sagen fich Löfenden Verbands: fo geſchah ed wohl, daß Kraft und Befinnung ſchwan⸗ den, dad Pferd ohne Leitung quermwaldein rannte und im jachen Anprall gegen dad Gemäuer der herabftürzende Reiter bedrohlich verlegt und erfchüttert ward.

Im Drange der Zeit ift Genaueres auch fpäterhin nicht befannt geworden. Raul hat nach feiner Genefung ein flared Bewußtfein von der Stunde ab, wo er aus den Toren Dresdens jagte, weder gefunden noch geſucht. Ein Fahnenflüchtiger, wie der Vater ihn befchuldigt hatte, war er nicht; aber er folgte mit Wut und In⸗ grimm dem Zwange der Pflicht und rechnete bid zum legten auf ein befreiendes Ohngefähr. In kommenden Tagen dahingegen nahm er feinen Unfall nicht als ein Ohngefähr und nody viel weniger als eine Schuld; er fah in ihm die Hand der Vorfehung, die den natur: widrigften Zwang gehindert hatte.

Während die arme Mutter an diefem Krankenbette freier zu atmen begann, fteigerte fidy nun aber die Sorge um ihre beiden anderen Bedrohten. Shre Briefe hatten und Schritt für Schritt ihnen folgen Iaffen bis zu dem vorgefchobenen Poften, den ihr Regiment unter dem preußijchen Prinzen im oberen Saaltale innehielt. Des Majors letztes Schreiben datierte vom neunten Oktober

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in Erwartung ded Zufammenftoßed mit bem vorbringen» den Feind. Frau Erdmuthe, fonft fo gefaßt und Mars fichtig, rang mit unheilvollen Vorgefühlen; fie fah ein Opfer fallen zur Sühne ber feindfeligen Trennung» ftunde in dem Kaufe, das auf Liebe und Frieden ges gründet war.

Und das Opfer fiel. Am verhängnisvollen vierzehnten Dftober bradıte eine Stafette zwei Briefe. Einen an die Mutter vom Kommandeur des Regiments, den ans deren an mid, von Doftor Bär. Sie hatten gleichen Inhalt. Der Doktor fchrieb:

„Unfere Frau ift Witwe. Tragts mit ihr. Ihren Sohn nehme ich auf mid, Er hat eine Kugel im Leibe, aber nicht durch und durch.“

Der Major von Roc war bei Saalfeld gefallen, waͤh⸗ rend jenes letzten Reiterſturmes, den aud) der verzwei⸗ felnde preußifche Prinz mit dem Leben büßte. Eine Kugel hatte ihm das Herz durchbohrt. Für die Sinnes⸗ art feines jüngeren Sohnes blieb es bedeutungsvoll, daß Marichall Lannes, gegen deſſen Kohorten er feine wanfenden Hufaren in hoffnungslofer Wut zum Sturme antrieb, ein Sohn der alten provenzalifchen Heimat war.

Herrmann, im dunflen Studentenfleide, wurde für tot an ded Baterd Seite gefunden und durdy Doktor Baͤrs Obhut der Mutter gerettet. Warum er ihr nicht auch die legten Reſte des geliebten Gatten für ihre Heimſtaͤtte gerettet hat? „Würmer daheim nagen wie Würmer in der Fremde. Ein Phantafiehügel gibt den nämlichen Troft,” würde er geantwortet und auf der bereitgehalte: nen Bahre einen noch zudenden Stüdfnedht ftatt des toten Freundes von dannen getragen haben.

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Was fol ich weiter fagen? Taufende von Frauen haben in jenen Tagen das gleiche Herzeleid getragen, feine ficherlich tiefer, treuer, verflärender ald meine Freundin Erbmuthe. Der Sonnenglanz über ihrem Leben war entwichen, und in faum geminderter, nur entwidelter Schöne trat fie bei vierzig Jahren in den Schatten der Matronenftille. Sie tat ed ohne ermatten> den Klagelaut. Ihr Herzendgrund und Boden war ja der Hafen, in welchem zwei auseinandertreibende Schiff: lein Anker werfen follten.

Für den Augenblick galt ed die Beherrfchung, welche die Wacht am SKranfenbette heifcht. Ald Raul nad Wochen das Schiefal feined Hauſes zugleich mit ber politifchen Wandlung in feinem Geburtslande erfuhr, will ich ed unentfchieden laffen, was in dem erregbaren Süngling überwog: der Schmerz der Berwaifung, oder die Befriedigung, die Fahne, an welche fein Eid ihn band, wehen zu fehen auf der Bahn, für die fchon vor der SKataftrophe feine Neigung fich fo Teidenfchaftlich entfchieden hatte. Neue über das Zerwürfnis mit dem Gefchiedenen trübte ihm die Empfindung feinerfeits. Nachdem der Erfolg fein Vorgefühl gerechtfertigt, hatte die Erinnerung an jenen Zwieſpalt alle Herbigfeit ver- loren. Raul, Bater wie Sohn, waren feine dauernden Konfliktönaturen.

Die jugendlichen Kräfte hoben fich wunderfchnell, feit- dem ein ruhm⸗ und glückverheißendes Feld dem Blicke vorgezaubert lag. Es wäre fein Halten für ihn geweſen, und wer hätte den verpflichteten Offizier auch länger ala geboten von feinem Poften ferne halten mögen? Zu Neujahr ftand er in den Reihen der Armee, die ſich bei

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Wittenberg fammelte; ald aber fein Bruder, bleich und erfchöpft, in das Haus der Mutter zurüdtehrte, da folgte er bereits mit dem fächftifchen Kontingent dem kaiferlichen Siegesheere nach Preußen. Sein erfter Brief datierte aus dem Belagerungsrayon von Danzig; ein fpäterer, nach der Schlacht von Friedland, verkündete mit Jubel: gefchmetter einen Ritter der Chrenlegion. Nach dem Tilfiter Frieden ward der gewandte, tapfere Sachſe dem Kaifer perfönlich befannt und durch ihn dem väterlichen Freunde Thielemann attacdhiert, den gewiffe die Bildung des neuen Herzogtums betreffende Aufträge über Jahr und Tag in Warfchau fefthielten.

Der damalige Oberftleutnant Thielemann galt in weiten Kreifen als die bedeutendfte und intereffantefte Perfönlichs feit unferer fächfifchen Armee. Wie ſchon der ältere Herr von Roc fein Freund geweſen war, fo trat von jegt ab der jüngere zu ihm in einen fympathifchen Verkehr; es walteten zwifchen beiden Bezüge und Ähnlichkeiten fogar in der Äußeren Erfcheinung, nad) denen man fie für Bater und Sohn hätte halten dürfen; nur daß dem ritterblätigen Halbfranzoſen vor dem fächfifchen Bürger: fohne ein glutvolleres Gepräge und nicht erft angeeignete Turnuͤre zuftatten kamen. Er ftrid von jest ab den deutfchen Adoptionamen und nannte fid) einfach Baron Roc. Lebhafte polnifche Sympathien vertrugen ſich gar wohl mit den vorwaltend franzöfifchen und traten zu den heimatlich fächfifchen fozufagen in eine Perfonalunion, die den lesteren zugute famen. Cine glänzende Lauf: bahn fchien dem Strebenseifrigen geöffnet; er fhmwamm in einem Element von Freude, Ehre und Hoffnung.

Während diefer Zeit rang fein Zwillingsbruder mit dem

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doppelten Schmerze um einen Bater und um ein Vaters land; aber mit einem Schmerze, der, in fo reiner Tiefe empfunden, noch jeden, der ihn trug, geadelt hat. Bei der Unvorbereitetheit feines freiwilligen Kampfesanteils war er durd, feinen Fahneneid gebunden und durfte daher ohne Skrupel fagen: „Ich gehöre fortan jedem deutfchen Stamme, ber für unfer verwirftes Recht, für unfere deutfche Natur in die Schranfen tritt.”

Kraͤnkelnd noch, blieb er während des preußifchen Feld⸗ zugs in der Heimat, deren Verwaltung mit der Mutter teilend; auch der alte Bär verhielt fich ruhig in feiner Höhle und Heide. Ohne die Liebe zu feinem „Mann“ würde er es ſchwerlich fertig gebracht haben, die Feinde, noch von unferem Blute triefend, mit dem nämlichen Blute gegen unfere geftrigen Waffenbrübder fchalten und ung, als zärtliche Freunde, mit Katzenpfoͤtchen ftreicheln zu fehen. |

Nach dem Tilfiter Frieden bat Herrmann die Mutter, feine Studien in Königsberg fortfegen zu dürfen, ber einzigen deutfdysproteftantifchen Hochſchule, die außer dem Sprengel direkter frembherrlicher Beeinfluffung lag. Im Herbſt 1807 ging er, gefolgt von feinem treuen Bär, nad; Preußen ab. Indem er ſich einfad; ald „Herrmann von Feld“ immatrifulieren ließ, trennte er fich felber dem Namen nad von dem Zwillingsbrubder, der, wie er felbft auf fernem, nordiſchem Boden ftehend, fein eignes Heil und das des Weltteild auf einer der feinen fchnurs ftradö zumwiderlaufenden Straße verfolgte.

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So blieb denn die Mutter in der alten Heimat allein, und für mein innerfted Empfinden waren es gar lieb: liche Jahre, in denen ich der herrlichen Frau ale nädıfter Freund und Berater zur Seite ftand, diefe nahezu ſechs Fahre zwifchen dem tieflten Fall und der Erhebung des Baterlandes.

Für ihre Söhne waren es bie erften freien Mannsjahre, und werden biefelben naturgemäß nach innen und außen reichgefüllt und ftrahlenwechfelnd verfloffen fein, wie die Zeit der Reife weiterhin ed nur den Seltenften unter und noch gönnt. Da ich aus dem Leben der Brüder aber nur das erzähle, woran ich als Augenzeuge teils genommen habe, werden in meiner Gefchichte jene Jahre einen fchmalen Raum einnehmen. Sollten felbft die vorftehenden Skizzen doch nur zu erflären fuchen, wie zwifchen dem einigen Strome gleidhfam ein Delta ſich bilden durfte und wie auf dieſem immer breiter werbenden, trennenden Raume gefchehen Fonnte, gefchehen vielleicht mußte, das was jenfeit jener Sahre gefchehen ift.

Frau Erbmuthe wußte, daß es eine Zeit vorbereitender Sühne war, in die wir getreten. Sie fpürte in ihren Adern den Fortlauf reinen, deutfchen Blutd. Unter dem Banner der Überwältigten, dort wo ihr Erftgeborener ftand, wo ihre Ahnen, von den Tagen des Bekenners an, geftanden haben würden, da ftand auch fie mit ftarfem Herzenspuls.

Aber fie war beider Söhne Mutter; und in einem Zwies fpalt, wie dem ihres Hauſes, ift ed dem Weibe ein Segen, durdy das Gemüt in feltgezogene Schranfen ges wiefen zu fein. Wie fie beide Söhne mit gleicher Liebe umfaßte, mußte fie in gleichem Verftändnid beider

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Strebungen gerecht zu werden fuchen. Sie flammerte ſich an die Hoffnung und mühte fidy ab in der Aufgabe, daß in der Zwietracht der Schickſale die Eintracht der Herzen ſich behaupten möge.

Es war died ein Irrtum der von Natur fo hells und tiefblidenden Frau, ein Irrtum der MWutterliebe, der fich zu einem Wahnbild raftlofer Seelenängfte ausbilden follte. Zwietradht der Schicfale heißt von Haus aus Zwietracht der Herzen. Eintracht der Herzen führt auf Brudermwege.

Eines aber, ein Seltened, wurde bei diefem Streben der edlen Frau unverfümmert gewahrt: fie blieb die Freundin, die Vertraute beider ihrer Söhne. Durfte in der Beflemmung der Zeit das Trachten ded einen nur verftohlen angedeutet werden, dad des anderen in feiner Siegerfreiheit wurde fchallend verkündet. Dort galt es zu ermutigen, hier zu dämpfen; den perfönlichen Trieb dort zu pflegen, hier niederzuhalten.

Erft im Frühling 1809 fah Frau Erbmuthe ihre Söhne wieder; den jüngften nur, um Abfchied zu nehmen für einen neuen Siegeszug. Er hatte ſich zu einer Schön: heit, fage ich doch, zu einer männlichen Grazie ent- wickelt, die ein Künftlerauge entzuͤcken konnte, um wies viel mehr dad Wutterauge, das zum Entzüden ber Künftlerfchöne nicht bedarf. Mit ftürmifcher Zärtlichkeit umfing er die angebetete Frau, mochte fie nad) dem langen Entbehren faum aus feiner Nähe, aus feinen Armen laſſen.

Schwach dahingegen äußerte fich das Verlangen nadı einem Wiederfehen des Bruderd, den er noch länger entbehrt und mit dem nur ein Gelegenheitöbriefwechfel

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den Faden Außerlich erhalten hatte. Schwädher aber noch ald diefes Verlangen, ja, zu fchwächlich felbft für einen Widerfpruch, erwies ſich der Anteil an Herrmanns innerlihem Weben und Streben, das die Mutter lieb⸗ reich enthüllte. Ein halb zerſtreutes, halb mitleidiges Lächeln war der einzige Proteft, und ein Berftändnis auch der möütterlichen Richtung damit ausgefchloffen. Als fie dem Schmerze Ausdrud gab, einen Sohn ihres Hauſes mit einer fächfifchen Hilfsmacht ausziehen zu fehen zur Unterwerfung des deutfchen Stammes, für den fie, nächft dem eignen, die ftärffte Neigung ererbt hatte, geriet er mit einem echt Raulfchen Sprunge auf feine alten Wünfche zuräd,

„Sch fühle es, Mutter,” fagte er, „fühle es dir nad, wie viel leichteren Herzens du deinen Sohn ald Frans ofen, der er ja ift, gegen Öfterreich siehen laffen wuͤrdeſt. D, warum mußte mein früheftes Sehnen fo graufam vereitelt werden? Nun iſts die legte Stunde, aber viels leicht noch nicht zu fpät, um diefem Sehnen Genüge zu tun. Der Kaifer will mir wohl; idy werde ihm bes gegnen, er wird mich verftehen, mid) erhören. Sch liebe dieſe befcheidene fächfifche Fahne; fie hat mir Gluͤck ge: bracht. Aber es bleibt immer ein Vafallendienft. Mein Herz fchlägt bei denen, die an der Spige fchreiten. Nicht in ihrem Gefolge, Schulter an Schulter mit ihnen möchte ich die Friedenspalmen erfämpfen, die über dem Welt: teil wehen werden, wenn die Pläne des Titanen in Er: füllung gegangen find. O, nur dein Sa, meine Mutter, dein befeligendes Ia, und ich trage fortan den fran- zöfifchen Degen.“

Da die Mutter indeflen diefes befeligende Ja nicht über

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die Lippen brachte, die Stunde auch wirklich fuͤr einen Fahnenwechſel zu ſpaͤt ſein mochte, nahm der junge Herr auch fernerhin mit einem, wenigſtens dem Namen nach, deutſchen Degen fuͤrlieb, um die Plaͤne des Titanen er⸗ fuͤllen zu helfen. Zunaͤchſt wieder in der Region, in welcher ihn vor vier Jahren die glorreiche Sonne zum erſtenmal angeſtrahlt hatte.

Kaum eine Woche nach Rauls Aufbruch kehrte Herr⸗ mann aus Preußen zuruͤck; gleichfalls nur auf Tage, zu ernſter Verſtaͤndigung und einem tiefſchneidenden Lebe⸗ wohl. Seine Spannung war ſo groß, daß auch er das Verfehlen des Bruders nicht mit Kummer empfand.

Aus Herrmanns Erinnerungsmappe und mehr noch aus der ſeines treuen Baͤr, wuͤrde ich, laͤge es in meinem Zweck, gar manchen Charakterkopf jener Zeit als den eines Befreundeten und Beweiſe davon vorfuͤhren koͤnnen, was die in Koͤnigsberg dazumal neben dem Studieren getrieben haben. Ob ſie tatſaͤchlich einer der weitverzweigten Verbindungen, die unter dem Namen Tugendbund zuſammengefaßt wurden, angehoͤrten, kann ich indeſſen nicht behaupten; der hohe Ausdruck min⸗ deſtens wuͤrde unſerem Baͤr nicht mundgerecht geweſen ſein. Unbeſtritten dahingegen ſtanden ſie in den Reihen der Eingeweihten, die ſeit Jahr und Tag eine befreiende Volkserhebung vorbereitet hatten. Wenn nun aber der alte uͤberallundnirgends Baͤr nicht ſtark genug, um ihm das Handwerk zu legen, im Geruche ſtand, die Faͤden der Patrioten nach Steins boͤhmiſchem Aſyle und weiter nach England hinuͤberzuſpinnen, ſo dankte er das zunaͤchſt allerdings ſeiner ungenierten Sonderlingsfreiheit, die ſchon vor der beargwoͤhnenden Zeit weit⸗ und breithin

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eine gewohnte geworden war. Nicht zum geringften aber verdanfte er es feinem Mentorverhältnid zu dem jungen fächfifhen Baron. Denn wohl niemals hat ein Dann, felber ein deutfcher Wann, weniger als dieſer die Ele: mente eines Agitatord oder gar Verſchwoͤrers in ſich ge- hegt und deren aͤußerliche Merkmale an fich getragen: feine flar befonnene Natur, der etwas fchmerfällige Habitus, fein Studienernft, die fähfifche Abftammung und für die Vertrauteren wohl auch feines Bruders napoleonifche Begeifterung Ienften von vornherein bag fpähende Mißtrauen von ihm ab und machten ihn eben darum zu einem gefchictten Vermittler für die zerftreuten Patrioten.

Er hatte bis zum legten auf einen fräftigen Entfchluß in Preußen gerechnet; unter denen wollte er fich erheben, deren Sturz er vor Augen gehabt, deren Schmach er feit zwei Jahren mitgetragen. Bol bitterer Enttäufchung fehrte er zurüd. Auf der Höhe war mit Stein dad mutige Vertrauen gefunfen, und das Volk hatten Kattes wie Dornbergs Verfuche nicht aufgerüttelt. Nun fam Schill.

Iſt mir recht, fo war ed am dreißigften April, daß er dicht an unferer Heide vorüber gen Wittenberg zog; die Augen der Mutter hingen mit Spannung an ded Sohnes Schritten, und ed mag ein harter Kampf gewefen fein, ben fein Verlangen mit feinem nüchternen Klarblick bes fand. Der Doftor, deffen Ruͤckkehr von ihm erwartet worden war, entfchied. Er fam aus Böhmen und bradıte die Kunde von dem Mißgeſchick an der Donau, das den Öfterreichern, ohne Entſcheidungsſchlacht, ein Dritteil ihres Heeres gefoftet hatte. „Es ift hier im Norden zu fpät, oder noch zu früh,” fagte Bär. „Unfer Wann vers

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diente, den Siegestag der Freiheit zu erfämpfen; er foll nicht fruchtlog ald Märtyrer enden.“

„Nach Ofterreich denn!“ fagte Herrmann. Die Mutter legte ſchweigend die Hand zum Segen auf fein Haupt. In den naͤchſten Tagen gewahrte id) den erften weißen Faden in ihrem Scheitel und um die Augen einen dunklen Ring, der nie wieder wid. Dad drohende Phantom ihrer Witwenjahre war zu Fleifch und Bein geworden: ihre Zwillingeföhne follten ſich Auge in Auge und Fauft um Fauft ald Feinde gegenübertreten.

Es wird kein Zufall gewefen fein, der die Freunde - denn zweifelt ihr, daß der freiwillige Pflafterfaften dem freiwilligen Degen auch bei diefem zweiten Zuge zur Seite ftand? - fein Zufall, der fie beimege dem Braun: ſchweiger ind Garn führte, welcher um diefe Zeit in Böhmen mit der Bildung feines fchwarzen Korps be- fhäftigt war. Kaum mochte es zwei ungleichartigere deutſche Naturen geben, ald den ftarrföpfigen, rache- glühenden Guelfenfürften und den ruhig befonnenen fächfifchen Freiherrn, mit dem flämifchen Tropfen in feinem Blute. Beider Liebe und Haß aber waren die nämlichen; beide hatten einen Bater auf dem Felde fallen fehen, auf welchem des Vaterlandes Ehre begraben warb. So ließ fi denn Herrmann nicht ungern zurüdhalten und verweilte, folange der Operationsplan ded Herzogs noch zweifelhaft fchmanfte, fidh und andere im Waffen: dienft übend, in dem Lager von Nachod. Ale der Fürft fidh aber unwiderruflich für den Einbruch in Sachſen entfchied, trennten die Freunde fic von den alten und neuen Gefinnungdgenoffen. Sie fannten Charafter und Stimmung ihrer Landsleute genau genug, um nicht auch

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diefen Verſuch von vornherein für eine Fehlgeburt zu halten; vielleicht, daß ed aud) Herrmann widerftand, mit dem erften Schritte gleihfam ale Empoͤrer in feine Heimat einzudringen. Sie eilten dorthin, wo bie ent- fcheidende Aktion geliefert werden mußte, und famen nur um Stunden zu fpät, um an ber alle Hoffnungen bes lebenden Pfingftfchlacht von Afpern teilzunehmen.

Bon Tag zu Tag wartete Herrmann nun auf einen rafchen Vordrang, in weldyem die Früchte des blutigen Abfchlagd geerntet werden durften; nach vergeblichem Harren aber erhielt er von hoher Stelle, an die er be- hufs feines Eintritts warm empfohlen war, eine Weifung, die feine gefpannte Sehnſucht tief herabftimmte.

„Wir wiffen einen tapferen Willen zu fchägen,“ fagte man ihm. „Was und aber vom hödhften Werte fein muß, ift, daß der ziindende Funken unfered Sieges nad Preußen getragen werde. Es ift und befannt, wie miß- trauifch, fpröde der König ſich gegen uns verhält; er muß durch feine Umgebungen zu einer Entfcheidung ge- drängt werden. Der Gouverneur von Pommern ift Feuer und Flamme; viele der Jüngeren fühlen ihm gleich. Unſer befondered Augenmerk jedoch ift auf General Bülow gerichtet, einen. feingefchulten Militär, deſſen Stimme nicht hoc, genug angefchlagen werden fann. Eilen Sie nach Preußen zuruͤck; in Schlefien wirken andere im nämlichen Sinne. Schildern Sie, was Sie ald Augenzeuge wahrgenommen haben; fpornen Sie die Schwankenden an; Sie find Sachſe; nichts wirft ergreifender ald die Zuverficht eines LUnbeteiligten. Schüren Sie das Feuer der Eifrigen, und wäre ed bis zu einem offnen Eflat. Englands Hilfsmittel find bereit.

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Ein preußifches Korps, oder zwei, die raſch in Hannover und Sachſen einbrecdhen, fchaffen und an der Donau Luft; die Freiheit des Kontinents wird durch einen zweiten fräftigen Schlag gerettet.“

Herrmann war gefommen mit dem Verlangen nadı frifcher Tat; er hielt dad Ziel jened Auftrags, fo heiß er felber es erfehnt hatte, nidyt mehr erreichbar, und der Weg zum Ziel widerftand feiner eigenften Sinnesart; auch machte er fein Hehl daraus, daß für ein Pronunciamento eifriger Generale Preußen ihm nicht der Boden feine. Dennod; mußte er ſich dem Auftrage fügen, wie es ein jeder muß, der ſich ald Werkzeug einer Sache zu eigen gegeben hat. Daß er nicht mehr ausrichtete als andere, welche in amtlicherer Stellung die gleiche Miſſion ver- folgten, braudyt nicht erſt verfichert zu werden. - Be⸗ deutungevoll aber für fein perfönliched Schickſal und darum in dieſe Gefchichte gehörig wurde jene Sendung, weil fie ihn in einen dauernden Zufammenhang mit dem Manne brachte, auf welchen fein Augenmerk fpeziell ge- richtet worden war. Sie wurde ed aber auch für die friedlichen Heimatöfreunde, weil fie auf Sahre hinaus die Angftgefichte der Mutter in den Hintergrund treten ließ. Denn als der Abgefandte, faum enttäufcht, wenn auch tief gebrochen, nach Oſterreich zurüdfehrte, um als einzelner Mann in den Entfcheidungsfampf zu treten, war die Schladht von Wagram gefchlagen, und zum zwei⸗ ten Male binnen vier Jahren die Armee auf dem Rüd- zuge nadı Mähren. Der Waffenftillftand von Znaim wurde gefchlofien, der heldenmütige Erzherzog legte dag Kommando nieder die Zwillingöbräder traten fich nicht als Feinde gegenüber.

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Und nun, Staupe um Staupe, fiel der Hagel in die Frühlingsfaaten der Patrioten. Es fteht in hundert Büchern aufgezeichnet: aber ihr Nadhgeborenen von 41809, ihr ahnet es nicht, was die Männer von 1809 gelitten haben, ſei's daß fie, wie von den unferen der Alte, Die Freiheit allerorten, ſei's daß fie, wie der Juͤngere, deutfches Land und Wefen über alles liebten. Welches Schickſal freilich unferes proteftantifihen Nordens ge- harrt haben würde, wenn ohne preußifche Hilfe - und felber mit diefer fpäten preußifchen Hilfe die Frucht von Afpern eingeheimft, behauptet und der Kern für neue Ernten geworden wäre?

Sollte einer der damaligen Patrioten diefe Frage ſich vorgelegt haben, fo war ed nach der erften Betäubung der junge fächfifche Freiherr, der eine ftarfe Ausdauer - in ſich fpürte und dem ein gründliches Entwiceln Not- wendigfeit war.

„Was uns zu tun bleibt”, fagte er, ald er im Herbſt zu ung zuruͤckkehrte, „ift, daß ein jeder in feinem Kreife geduldig und treu an dem Damme baue, an welchem, früher oder fpäter, die Überflut fid) brechen muß; daß wir den Willen eined Volks gegen den Willen eines eins zelnen gewaltig machen. Wie unvergleichlich würde Friedrich der Große, wie unerfchütterlid, fein Staat in der Gefchichte ragen, wenn es ihm gegeben gewefen wäre, Steind heutige Geſetzgebung ſchon bei feinem Leben durchzuführen! Aber unfere nordifchen Geifter gleichen der Winterfaat, die erft unter Stürmen erftarft, und Gottes Mühlen mahlen langfam, aber fein.”

Sn diefem Sinne, nachholend und vorbauend, wirfte er von jet ab unter und in der unfcheinbaren Stellung xx. 10

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eined Landwirts, ald Adminiftrator der Mutter mit deren unbefchränftem Vertrauen. Er führte im großen aug, was fie in Fleinerem Maße angebahnt; fie hatte ed in barmherziger Liebe getan, um ihren Heimatsbrüdern die Mühfal des Daſeins zu erleichtern. Nun faßte fie in patriotifher Sympathie, daß mit den äußerlichen Schrans fen dem inneren Sinne Kette um Kette bricht. Zweifelt ihr aber daran, ob auch die drei Knechte dem Sohne ihrer lieben Frau nad) Kräften beigeftanden haben? Ob der Phyſikus auf feinem Plate war, da wo es in erfter Linie galt, gefunde Menfchenleiber aufzurichten, ftarf zum Waffentragen in einem Freiheitöfampf? Ob ber rechtfchaffene Suder dort, wo es fidy handelte um Be- freiungen, Ablöfungen, Bobdenverteilung zum Zmede von Haus und Hof für viele, die ihn bis dahin entbehrt? Ob auch der friedfertige Magifter auf der Kanzel und in der Schulftube das Seinige zur Erweckung der Geifter getan? Sie alle arbeiteten von jegt ab mit Doppeltem Eifer daran, den Erdenfled, auf welchen Gott fie gefegt hatte, menfchlicher ausgefüllt, als fie ihn vorgefunden, zu verlaflen; wert, ald Heimat mit Gut und Blut vers teidigt zu werden und ſich eines Tages einem befreiten, großen Baterlande einzureihen.

Diefe patriarchalifche Emfigfeit unferes Freundes er- ſtreckte ſich indeſſen nicht auf die fächfifche Erbftätte allein, ja auf fie im Grunde erft in zweiter Ordnung. Frau Erdmuthe hatte beim Tode ihres Gatten ihre Söhne felbftändig gemacht, indem fie die Erfparniffe ihrer Ehezeit, ohne eignen Anſpruch, als Erbe unter fie verteilte. Was nun dem forglofen Süngeren in flottem Zagerleben durch die Finger glitt, dad wurde dem haus⸗

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hälterifchen Alteren zum Mittel für feinen allesbeherr⸗ ſchenden Zweck.

Seit Öfterreiche notorifcher Erfchöpfung wendeten alle Hoffnungen Herrmanns fich wieder dem Stamme zu, unter dem er zum Wanne gereift war. An diefen auf der Grenzwacht gegen die Barbarei des Oſtens hart ge- ftählten Nerven und Sehnen fah er die uniformierende Barbarei des Weſtens fid) brechen und ahnte die Zeit, in der er felber fich auf ein anderes Bürgerrecht ale dag in feiner eingeflemmten Heimat zu berufen haben dürfte, In diefer Vorausficht war ed bei der Entwertung der Immobilien in der bid auf die Neige ausgezehrten Pros vinz ihm leicht, einen beträchtlichen Grundbefiß jenfeits von Königsberg zu erwerben und in diefer fernen Fi- liale die Theorien feiner Sünglingszeit nahe der Stätte, wo er fie eingefogen hatte, ind Praftifche umgefegt, zu verwerten.

Meine beiden Brüder, ber Verwalter und Förfter, folg- ten ihrem Herrn und Freunde in dieſes neue Gebiet und vertraten ihn dort, fooft er ferne war; wie fie denn mit Sud und Pad in blindem Vertrauen dem über alleg verehrten Manne in die Hölle gefolgt fein und ihn all: dort vertreten haben würden, wenn er deren Ur- und Wehrbarmachung von ihnen gefordert hätte. Gelang es nun aber den beiden fächfifchen Heideföhnen gar bald, fi) an den fcharfen, preußifchen Oftwind zu gewöhnen, was Wunder, wenn von Zeit zu Zeit auch unfer welt- bürgerlicher Sfegrimm in dem mafurifchen Bärenwinfel ein urmwäldliched Behagen fand? Die Freunde fprangen aus und ein; für die alte Heimat waren fie in der neuen, für die neue in der alten; in Wirklichkeit vielleicht

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ganz anderdwo. Mehr denn je bedurften jene Tage der Männer, welche den legten Glauben nicht verloren hatten.

Bei diefem Wechfel von Kommen und Gehen, von ges fprochenem und gefchriebenem Wort gefchah ed nun aber faft unmerflich, daß auch die ftillfipenden alten Heimats⸗ freunde ſich in eine Randfchaft eingewöhnten, in welcher fie bisher mit Grauen die Fuͤchſe ſich hatten Gutenadıt fagen hören. Selber der Erzſachſe in unferem Kreife, den bei dem bloßen Namen „Preußen“ jederzeit ein Ohrenzwang befallen hatte, gelangte dahin, ſich fein Stedenpferd in der neuen Heimat feines fünftigen Pas trond behaglicy umzufatteln. Der Sünger der Welts weisheit, dem fein großer Landsmann in Perfon und lange zuvor ald dem übrigen Menfchengefchleht ihr wißt, es gefchah damald beim zehnten Kloß - die Eri- ftenz des Nicht-Ichs handgreiflich demonftriert hatte, hing Ich und Nicht⸗Ich ganz fachte an den Nagel, ins dem er den Fategorifchen Imperativ für gar feine uns ebene preußifche Erfindung erflärte. Unfer Mann des Gefeged fand Geſchmack an Königsberger Marzipan und wurde Kantianer.

Wenn wir auf diefe Weife nun ohne allzu fchweren Aufwand der Phantafie uns aus der fächfifchen in die preußifche Heide verfegen lernten, wollte es ung dahin gegen um fo weniger gelingen, Pofto zu faſſen in einem der romantifchen Zaubergärten, zwifchen welchen ber andere unferer künftigen Patrone während diefer Sahre fehmwelgte und ſchweifte. Der sfterreihifche Feldzug hatte dem tapferen Raul das Patent zum Nittmeifter und den Heinrichsorden eingetragen; in den fiebenten Himmel aber veriegte ed ihn, daß fein Kaifer, der fe

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fehr die Kunft verftand, ſympathiſche Naturen zu ver: werten, ihn zu einer Sendung an den brüderlichen Hof nadı Spanien auserfor. Stante pede aus dem Lager von Wagram ging ed in das von Talavera, in welchem zur Stunde der arme Schattenfönig Joſeph, von Welling- ton übel zugerichtet, auf ſchwachen Füßen taumelte, Aber auch nach dem baldigen Siege über Venegas, an welchem der ritterliche Deutfchfranzofe flott mit teils genommen hatte, möchte der fpanifche Aufenthalt für jeden anderen ziemlich ſchwuͤler Natur geworden fein und würde auch einen bedeutenden Schwärmer für das römifche Reich unferer Zeit, für das eine Volk, mit einer Sprache, unter einem Willen zur Genüge haben ernüchtern können. Unſer Held gehörte nun aber einmal zu den Glüdlichen, welche die Dinge fchauen, wie fie diefelben zu fchauen verlangen. Der heiße füds Tiche Simmel und die heißen füdlichen Menfchen feiner Träume find in der Wirklichkeit Herrn Raul nicht allzu hisig vorgefommen.

Dem flüchtigen fpanifchen Streifzuge folgte ein Ab: ftecher nadı Italien und ein gründliched Durchftöbern der Provence, die er von vornherein feine Heimat nannte und in welcher er die Zuftfchlöffer feiner Zukunft in die Höhe fteigen ließ. Zwar blieben die Forfchungen nad etwaigen Geſchlechtsnachkommen ohne Erfolg; der Name Saint Roc war rings im Languedoc fpurlos verflungen. Auf einem olivenbefäumten Felfen, am blauummogten Strande hatte der Forfcher jedoch eine Bergruine ent» deckt, die er ald den untrüglichen Stammfig der Saint Roc in Anfpruch nahm, weil über dem zerbröcdelten Portal, in den Trümmern eined Scildes fich ein ab»

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geſtoßenes Etwas erhalten hatte, das nichts anderes als den Gipfel des goldenen Felſens, des Wappenzeichens ſeiner Familie, bedeuten konnte. Der Skeptiker Baͤr ſah freilich nicht ein, warum ſotanes Etwas nicht ebenſogut den Zipfel einer heraldiſchen Nachtmuͤtze bedeuten ſollte.

„Hier alſo,“ ſo ſchrieb der gluͤckliche Entdecker, „hier hat die Wiege meiner Ahnen geſtanden, hier ſoll dereinſt die Wiege deiner Enkel, meine Mutter, von deiner ſuͤßen Hand geſchaukelt werden. Ja, das iſt die Heimat meiner Seele! Das iſt das Land, um das ich geworben habe wie um eine Braut; wie Jakob um Rahel, als man ihm die unholde Lea an die Seite draͤngen wollte.“ |

Wir waren an folcherlei Bilderfprache unferes jungen Freundes gewöhnt, und nahm diefelbe, in zierlichem Frans zöfifch abgefaßt, ſich aud; lange nicht fo überfchwänglich wie hier in unfer braves Deutſch umfchrieben aus. Mit dem legterwähnten Gleichnis fchoß er überdies nicht eins mal weit über dad gewollte Ziel hinweg. Sa, er erfor fich ein Heimatdland wie ein fchönes Weib. Wir an- deren, und fein Bruder zumal, wir liebten das unfere ohne Wahl, wie einer den Vater liebt, welchen Gott ihm gegeben hat; und wenn ed ein firenger Bater ift, dann erft recht. Die Erbtodhter der fächfifchen Freis herren aber fah von ihren Zwillingsföhnen den einen als naturalifierten ‘Preußen, den anderen ald Franzofen der Zufunft der ftaatlichen Befchränfung ihres Geburts» landes und ſich gegenfeitig als traditionelle Widerfacher entfremdet. Als fie ubigen Brief zu Ende gelefen, fagte Frau Erdmuthe mit wehmütigem Lächeln: „Wo unfer Raulhaus ftehen follte, wollen wir dereinft unfere Fries dendfirche bauen.“

Dritter Abfchnitt 181

Aus dem Süden ging unfer Glüdlicher - nun erft recht ein folcher nach Parie. Dort unter irgendweldyem fchmeidhlerifchen Titel feftgehalten, fchwanden in beraus fchendem Taumel zwei Jahre, die dad Gepräge des Voll franzofen vollendeten. Selber den urfprünglichen Namens» fang hatte er ſich voll wieder angeeignet. Erft im Frühling 1812, in Ausſicht des ruffifchen Feldzuges, fehrte Baron Raul von Saint Roc audy diesmal nur im Fluge im Mutterhaufe ein, um ſich darauf gegen fein Hoffen wieder ald Sadıfe - der Reiterbrigade ans zufchließen, welche General Thielemann zu dem Korps von Latour Maubourg in Kalifch ftoßen ließ. Der Mas jorsrang und die Führerfchaft des altwerehrten Freundes mußten für den verlängerten Bafallendienft entfchädigen.

Raul betrachtete den Zug des neuen Alerander mit deffen eignen ruhmgeblendeten Bliden, deutete ihn nahes zu mit deſſen eignen fpäterhin fundwerdenden Worten. „Antizipierte Bulletins“ nannte der Phyſikus feine Briefe und den Schreiber: „Monfteur Bulletin.”

„Wer hätte Europa von den drängenden Barbarens horden befreien, wer fie in die afiatifche Steppe zurück ftoßen fönnen als der verförperte Genius der zivilifierten Welt?” rief er aus; dann aber ſchweifte die Phantafie über das bewältigte Rußland hinweg; über Schneefelder und Eisberge, Taufende von Meilen weit ind Herz der Tropenzone hinein, um an den Ufern bes lotosbluͤhen⸗ den Ganges, die fchnödefte Krämerherrfchaft der Ges ſchichte zertrümmernd, den Dreizad ded Neptun an das Schwert des Mars zu fefleln.

Und die Mutter, vor deren Ohr diefe Schallmellen ſich ergoffen? Wohl Hangen fie ihr nicht unähnlich denen,

159 ran Erdmuthens Swillinasfähne

welchen fie mit zitterndem Herzen vor Jahren am Bette des Fieberrafenden gelaufcht hatte; wohl fah fie im Geifte jene unzähmbaren Mächte, welchen der Wahnfınn eined Defpoten Kohn zu bieten wagte: aber der, über deffen Lippen die geflügelte Rede glitt, deffen Blicke in begeifterndem Siegertraume glühten, er war ihr Kind, ihr fchönes, zärtliches, glüdliched Kind; er füßte ihre Hände und ftreichelte fchmeichelnd über Die weißen Fäden, weldye die Sorge um ihn auf ihrem Haupte gebleicht hatte. Hätte fie dem Entfremdeten ihrer Heimat grollen fönnen? verbammen den Kämpen gegen alles, was ihre Väter heilig gehalten hatten, was ihr Erftgeborener, was fie felber heilig hielt? Hätten ihre Tränen fpar- famer fließen follen, weil fie in jenen Mächten, welche ihren Liebling bedrohten, die Nettung ihrer Heilig- tümer ahnte? Ich habe mandhe gekannt, welche in jenen gewalttätigen Zeiten für Gatten, Brüder und Söhne in entgegengefegten Lagern gezittert haben: feine Mutter aber wie Frau Erdmuthen, welcher der Zwiefpalt des Blutd das Herz durchbohrte gleich einem Schwert.

Und wenn ihre Söhne vor dem Kampfe, der mehr als ein früherer dem einen ein Todeskampf zu werden drohte, fi mindeftend noch fehen fonnten; wenn fie gefchieden wären mit einem Händedrud, mit einem brüderlichen Lebe- wohl! Aber Herrmann hatte ung fchon um Neujahr ver- laffen in jener höchften Spannung, welche, in der Schwebe der preußifchen Krife zwifchen Unterwerfung und Er: hebung, alle Vaterlandsfreunde in Fieber verfegte. Die Entfcheidung war feitdem gefallen; das Volk, auf welches fie ihre letzte Hoffnung gebaut hatten, folgte ald wehr: und willenlofes Scylachtopfer den Fußfpuren des Unter:

Dritter Abſchnitt 158

jochers, anftatt ſich aufzurichten und, wie fein erfter Minifter vor faum Sahresfrift ftolz verkündet hatte, Außerftenfalld mit dem Schwerte in ber Fauft zu fter ben. - In diefem Lichte fahen die Patrioten von damals den Februarvertrag, den wir heute ald eine Tat ber Selbftverleugnung und Selbiterhaltung würdigen. Denn fein Herrfcher hat das Recht, und wäre ed aus dem höchften Motiv, den ihm anvertrauten Staat einer vors ausfichtlichen Vernichtung preiszugeben. Hier aber war es mehr ald die Eriftenz eines einzelnen Staatd, ed war die Gefamtnatur eines zerfplitterten Volks, die auf dem Spiele ftand, wenn der bisher unüberwundene Gewalt: haber auf feinem fzythifchen Zuge den Reſt von Preu- Ben als eroberte Provinz in feinem Rüden liegen ließ. Auch Herrmann hat fpäterhin des Könige Entfchluß als folch ein zwingendes Verhängnis aufgefaßt. In jenen Wintertagen aber würbe fein perfönliches Erleb> nis ihn mit Ääßenderer Schärfe getroffen haben. Noch rang er mit der Verzweiflung, welche viele Geſinnungs⸗ genoffen, ihrem Kaffe Luft zu machen, auf die Pläbe fremden Widerftandes im Norden oder Süden trieb, und zeugt ed von ber Unvermwüftlichfeit feines deutfchen Glaubens, daß er diefe Berfuchung überwunden hat. Raul Tächelte audy heute, ald ihm die Mutter den ſchweren Kampf ded Bruders zu deuten fuchte. „So nimmt er noch immer den Kleinen Mond für feinen gro- Ben Gott!” oder: „So fpielt er noch immer Vercinge- torig!” fagte er, Mit diefen Kindheitsbildern war die Erinnerung an den Bruder abgetan. Sonft fein Ber- ſtaͤndnis, fein Verlangen, aber auch fein Groll. Zwifchen- durch ein Anflug von Geringfchägung des germanifchen

154 Frau Erdmuthens Swillingsfähne

Phlegmas gegenüber dem zündenden Genius ber Zeit und außerdem Bergeffen.

Die Mutter hatte nad) allen Seiten Boten und Briefe ausdgefendet, um ihres Sohnes KHeimfehr zu befchleus nigen. Raul konnte diefelbe nidyt erwarten, da fein Res giment bereitö aufgebrocdyen war.

„Grüße Herrmann, meine Mutter,” fagte er beim Ab» fchied. „Unfere Seifter fteuern gegeneinander im Strome ber Zeit, und wenn fein Schifflein nicht gottlob im Nothafen feftgebunden läge, hätten wir barfch gegen- einander rennen fönnen. Das ift Männer Art, auch wenn fie Brüder find. Operari sequitur esse! - Gie fehen, daß ich Shrer Schulftube nody Ehre mache, Pate Magifter. - Aber dad Blut, das in ungleidhem Tempo durch unfere Adern treibt, ift ein Blut, dein Blut, Mutter, und welche Madıt könnte fich zwifchen Herzen drängen, weldye die Mutterliebe eint?“

Welche Macht? Ad, war denn das ungeheure Elend bed Baterlanded nicht allein ſchon eine Macht, welche die Kluft der Geifter bid zum Herzgrunde vertiefte? Übertrug fi) nicht willenlo8 von dem Haſſe gegen den Unterdrüder eine Regung auf beffen begeifterten Afos lythen? War nicht der einzelne mit fchuldig an dem allgemeinen Weh? Selten mißadhtet man den Glück; lichen, den man beneiden dürfte; aber audy der Gerech⸗ tefte haßt ihn in Momenten, wo dad Bemwußtfein des Frevels, mit welchem fein Gluͤck erfauft ward, unfere Bruft zerreißt. Und in einem folchen Momente wurde die Frage aufgeworfen: Welche Macht kann ſich zwifchen Herzen drängen, welche die Liebe eint?

„Unfer Geift dringt in die ewige Gerechtigkeit wie das

Dritter Abſchnitt 155

Auge in dad Meer. Es fieht den Grund am Ufer, aber ed fieht ihn nicht auf hoher See. Und doch ift ein Grund, und nur die Tiefe verbirgt ihn.”

Diefed Gleichnid des großen Florentiners, mit deffen Sinn in jenen Tagen der Bruderfehde ich oftmals die Löfung des tiefſten Lebensrätfeld gefucht habe, diefes Gleichnis fchliege die lange Einleitung in meine Bruder: geichichte.

Vierter Abfchnitt

Was fern, muß fich erreichen.

8 war im Mai; wir faßen im milden Sonnenfcein En Kaffeetiſch vor dem Portal: Frau Erdmuthe, ihr Sohn, ihre drei Knechte und, nicht zu vergeſſen, die hochverehrte Familienfreundin, welche auf einer ihrer ſtoffreichſten Ritterſchaftstouren ſchwer beladen bei uns eingekehrt war.

Wie lange iſt es doch her, daß ich Fraͤulein Idunen zu einem kritiſchen Anſtoß auf ihrer Pfingſtetappe vor⸗ gefuͤhrt habe? Die beiden Kaſtanien, welche der alte Freiherr am Tage der Geburt ſeiner Zwillingsenkel zu ſeiten des Portals gepflanzt hatte, waren damals zarte Staͤmmchen; heute ſind ſie ſtattliche Baͤume, uͤber und uͤber der eine mit weißen, der andere mit roten Bluͤten⸗ kerzen bedeckt. Sie geben ſchon angenehmen Schatten, wir brauchen den Kaffeetiſch nicht mehr unter die alten Ulmen zu ruͤcken, wenn Fraͤulein Idunen ihre fliegende Hitze uͤberfaͤllt.

Ja, es iſt eine Weile her; eine Maͤdchenjugend koͤnnte auf⸗ und laͤngſt wieder abgebluͤht fein in der Zeit, und Fräulein Iduna nunmehro allenfalls fchon Urgroßmüt- tern Blumen auf ihren Hochzeitspfad geftreut haben. Fräulein Iduna ift aber ohne Wandel unfere liebe, rote Dame, und dad, was an ihr Außenmenfc genannt wer: den muß - jeßt noch etwas mehr ald viel -, fpiegelt uns getrübt wider die innerliche Couleur, die zwifchen Roſe und Flamme fluftuiert.

Heute jedoch ftrahlt Fräulein Iduna in Purpur und fprudelt über in eitel Gloria und Subelhymnen. Sie

Vierter Abfchnitt 157

war der Faiferlichen Monarchencour in ihrer Refidenz- ftadt Zeuge gewefen, und muß das traute chez moi wohl mit einem Lugefenfterden in die höchften und allers hödhften Appartements eingerichtet gemefen fein, denn fie hatte Kenntnis von dem leifeften diplomatifchen Räufs pern bei diefer erhebenden Gelegenheit und wußte auf Linienbreite anzugeben, wie niedrig fich diefes und jenes gefrönte Haupt vor der Majeftät des Weltgebieterd ge: fenft hatte.

„Bottlob, daß wir Fleinen Leute und nicht fo tief zu bücen brauchen“, fagte Herrmann lächelnd, als die echauffierte Dame eine Paufe madıte, um ihren Kaffee nicht völlig erfalten zu laffen, dann aber Ienfte er die Rede von dem majeftätifchen Kapitel ab; wohl aus fchonender Rüdficht auf das Nervenfyftem feines Freuns des Bär, der vor gewiſſen Klangwellen deutfchen Or- ganen fonfthin anmutend geläufig eine abfonderliche Reizbarfeit offenbarte; heute zumal, wo Bär nach wochen⸗ langer Ausflucht erft vor einer Stunde zu und zurüd; gefehrt war, müde, oder doch mit verdroffenerer Miene als fonft, wenn er „der niemals fattfam zu bewundern⸗ den Göttin der ewigen Jugend“ an Frau Erdmuthens Tafel gegenüberfaß.

„Daft du Beforgungen in Leipzig, liebe Mutter?“ fragte Herrmann, „id denfe morgen hinzureifen.“

Der Gerichtödireftor machte die erläuternde Bemerkung, daß der zahlmächentliche Termin vom Herrn Baron ver: abfäumt worden, dahero eine perfönliche Verhandlung mit der Firma Frege und Sohn abfolut nicht länger zu verfchieben fei.

Es hatte nämlich diefer niemald genugfam belaftete

158 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne

Knecht unferer lieben Frau zu der Jurisdiktion auf der einen Schulter, während Herrmanns häufiger Abweſen⸗ heit, die gutöherrliche Kaffenprofura auf die andere ge- nommen, und griff er jedwede paffende oder unpaflende Gelegenheit beim Schopf, um von feiner gedeihlichen Amteverwaltung mit Adam Rieſeſcher Weltweisheit Rechnung abzulegen.

Frau Erdmuthe ließ ein leiſes Räufpern vernehmen. Auch Doktor Bär hatte feinen Baß geftimmt. „eben Sie für Ihre Sparfumme uns einen Schmaus zu Ehren der welthiftorifchen Kaiſer- und Königsparade, Frau Mutter,” fiel er ein. „Oder befler noch, fchenfen Sie fie mir, daß ich mir einen Adelöbrief beftelle. ‚Bär von Pflafterkaften‘, was meinen Sie dazu, Freundin der Kitterfchaft? Nach fo königlich anerkannten Verdienften fönnte mir der königliche Grandfordon der Ehrenmänner nicht entgehen. Sie erfüllen meinen glühendften Wunfch, Frau Mutter, und fich felber befreien Sie für ein Weil- chen von einer endlofen Turbulation. Wahrlich, ich meine ed gut mit Ihnen. Diefer Tag und Nacht kriegs⸗ bereite Stammhalter läßt Ihnen ja doch feine Ruhe, bis er Ihren legten Dufaten in Eifen umgefchmolzen haben wird. Kaum daß er eine heroifche Refrutenfchar für diefes allerdings ehrenvolle Grawertfche Heer: gefolge aufgefüttert hat, fo rüftet er hinter Ihrem Rüden fchon wieder für die zivilifatorifche Miſſion, die, fobald fämtlicye zweibeinige Barbaren mit Samafchen und Es⸗ farpind in.den Kulturzuftand eingetreten fein werden, gegen meine biderben vierfüßigen Kollegen auf Spip- bergen und anderwärtd ind Werk gefegt werden fol. Denfen Sie, wie Shre Enfel, Frau Mutter - -“

Vierter Abfchnitt 4159

„Meine Enkel!“ unterbrach Frau Erdmuthe den Red⸗ ner. Sie tat es laͤchelnd und gewiß nur in der Abſicht, mit einem aufgegriffenen Wort fernerweitigen Hechtſchen Rechenexempeln und Baͤrſchen politiſchen Phantaſien in den Weg zu treten. Ob nun aber die beſcheidenen vier Silben, „meine Enkel“ mit einer beſonderen Modulation ihren Lippen entſchluͤpften oder ſonſt aus welcher ploͤtz⸗ lichen Ideenverbindung, genug, dem Politikus blieb die Ausfuͤhrung der ziviliſatoriſchen Miſſion fuͤr das zu⸗ kuͤnftige Geſchlecht in der Kehle ſtecken, und Fraͤulein Iduna ließ vor Erſchuͤtterung den braunen Mokka in ihre rote Buſenſchleife troͤpfeln.

Auch Herrmann hatte betroffen zu der Mutter hinuͤber⸗ geblickt, und als dieſelbe nach einer allſeitigen kurzen Stille zu einer haͤuslichen Beſorgung ſich erhob, ging er ihr nach, indem er ihren Arm in den ſeinen legte.

Fraͤulein Iduna hatte ihre Buſenſchleife abgetrocknet. Ihre Couleur bekundete einen vielverſprechenden Sprung der Phantaſie: Kaiſer und Koͤnige waren ploͤtzlich mit dem Schwamme ausgeloͤſcht. „Meine Enkel!“ fluͤſterte ſie, anfaͤnglich traͤumeriſch, dann mit wehmuͤtigem Floͤten; „meine Enkel! Hoͤrten Sies, Magiſter? Meine Enkel, hat ſie geſagt und laut geſeufzt!“

Ich hatte das Seufzen nicht gehoͤrt; laͤngſt aber ſchon hatte ich in der Seele meiner Freundin den Wunſch ge⸗ leſen, der wohl einen Seufzer hervorgelockt haben koͤnnte. Ihr zweiter Sohn, wenn er in einer Friedenspauſe ein⸗ mal eine häusliche Anwandlung fpüren follte, nicht unter ihren Augen, fie wußte es, in unheimifcher Ferne würde er einen Herd fich gründen. Alle Hoffnung, Erbe und Namen der Fels in die Zufunft tragen zu ſehen, beruhte

160 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne

auf Herrmann; Herrmann aber hatte noch niemals eine zärtliche Herzensbewegung gezeigt, und weder Vernunft noch Gewiſſen fchienen ihn an die Pflichten des Stamm- halters zu mahnen.

Wie der Mutter nun aber jede Andeutung widerftand, welche das freie Gefühl ihres Sohnes beirren Fonnte, fo hatte auch ich, ihrem Sinne gemäß, mid, derfelben enthalten und bemühte mid, jegt redlich, in dem am Kaffeetifche zurücdgebliebenen Konvivium der Ehelofen die Kaifer und Könige anftatt der Enkel wieder auf das Tapet zu bringen.

Armer Schwachmatifus jedoch, aufd Tapet bringen zu wollen, felber Kaifer und Könige, wenn unfere liebe, rote Dame in dad Kapitel eingefprungen war, das ihrer neidlofen Seele über alle Kaifer- und Königskapitel ging! „Meine Enkel!“ wiederholte fie mit herzbeweg- lichem Schluchzen; „meine Enfel! Diefer Engel von einer Frau, diefe Heilige, diefe beflagenswerte Witwe, diefe Mutter nach Gottes Herzen! Tränen, helle Tränen hatte fie in den Augen. Gerichtödireftor, haben Sie die Tränen gefehen?“

Der ehrliche Gerichtsdireftor hatte die Tränen nicht gefehen. Aber, wenngleic, feine runden Augen, die wie himmelblaue Brillengläfer unter den ftrohgelben Loͤck⸗ chen der Perücde lagerten, Eurzfichtig waren, Die Träne mußte er ja wohl fehen, die eine unverfiechbare Träne, die jegt in Fräulein Idunens Antlig ihren Aufzug hielt. Der gerührte Hecht war nahe daran, eine weniger be- fcheidene Schwefterzähre überlaufen zu laſſen.

Schon aber hatte der Tropfen ded Mitgefühls feinen Ruͤckzug angetreten, Fräulein Iduna ihre Faflung wieder-

Vierter Abfchnitt 161

gewonnen. Ein heroifches Feuer Iohte in ihren Augens fternen empor. Sie fprang vom Stuhle in die Höhe, ſchlug mit beiden Händen gegen den Raum, auf wels chem nach damaliger Mode die Gürtelfchnalle zu ruhen pflegte, und rief mit Energie: „Baron Herrmann muß heiraten! Er mag Luft haben oder nicht, er muß, er muß!” Da aber der Baron juft während diefes Rufes aus dem Kaufe zurüdfehrte, ohne die Mutter und in merfbar nachdenflicher Stimmung, ftürzte fie ihm uns erfchrodenemit der nämlichen Forderung beinahe in Die Arme.

„Sie müffen heiraten, Baron!” erflärte fie. „Es hilft nichts, Sie müffen. Wir, Ihre treueften Freunde, die Berehrer Shrer herrlichen Mutter, haben und in diefer unumftößlichen Forderung geeint. Fragen Sie den Mas gifter, ob die edle Frau ſich nicht in der Sehnſucht nad) Entelfreuden verzehrt? Es kann ihr and Leben gehen, Baron. Bei Gott, and Leben! Doktor, fagten Sie ed nicht? Sie find ihr diefe Befriedigung fchuldig, Baron. Auch der Gerichtödireftor meint, daß Sie ed find. Es ift Shre Pflicht. Sie müffen heiraten, ohne Bedenken, ohne Verzug, Sie müffen!“

Die feurige rote Dame hatte dad Netz über den hage- ſtolzen Käuptern zufammengezogen, und fo bei Gelegens heit diefem Fategorifchen Imperativ gegenübergeftellt, trug mein friedfertiged Gemüt fein Verlangen zu Oppo⸗ fition. Sc trat mit offenem Pifier unter dad Banner der Roſe und der Flamme, Aud) Freund Bär brummte nicht8 weiter ald: „Sch wüßte nicht, was ihm anjego Klügeres zu tun verbliebe.”

Schwerer waren die Skrupel, welche dad richterliche xx. 11

162 Frau Erdmuthens Zwillingefähne

Gewiffen zu überwinden hatte. Als Philofoph und Phis Iofophenfreund konnte Guftel Hecht die Ehelichkeit nicht befürworten. Saͤmtliche Weltweife feiner geiftigen Ber fanntichaft waren nicht oder fchledht beweibt. Daß der jüngfte unter ihnen, ber einzige ihm perfönlidy Bekannte, der große Landsmann und nftruftor, ausnahmsweiſe für einen Gutbeweibten galt, konnte die Regel nicht um⸗ ftoßen. Es mußte im Gegenteil zugeftanden werden, daß juft diefes unfpefulative andere Ich, neben dem überfpefulativen Nicht-Ich, den ſpekulativen Jünger des Ich aus den Armen des fächfifchen Kommilitonen rüdwärtsd getrieben habe in die Fußfpuren des preußis fhen Vorlaͤufers, der neben anderen ftandfeften Eigen» fhaften auch die befaß, ein ftandfeftes Einzeln⸗Ich zu fein. Nein, Hecht, der Kantianer, konnte ſchlechterdings zur Ehelichkeit nicht feine Zuftimmung geben.

Auf der anderen Seite dahingegen in Anbetracht, daß der Kantianer Hecht neben der Weltweisheit und noch vor der Weltweisheit die Jurisdiftion eines koͤniglich fächfifhen Patrimoniumd zu verwalten und die Ehre hatte, fidy bei Gelegenheit als feiner gnädigen Patri⸗ monialherrin allergetreueften Knecht und Freund unter: zeichnen zu dürfen; in fernerweitigem Anbetracht, daß der Kantianer Hecht auf dem Wege der reinen Vers nunft ſich der phyfiologifchen Schlußfolgerung nicht ver: fchließen durfte, daß ed mit fämtlicher Surisdiftion und Philofophie auf dem Erdenrund in die Pleite gehen müffe, wenn jedweder Mann ein Kantianer, will fagen ein Unbeweibter fei, folchergeftalt gelangte auch der Ges richtödireftor Hecht zu dem abfchließenden Votum, daß ber junge Kerr Baron nichts Philofophifcheres zu unters

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nehmen vermöchten, als ſich den Wünfchen feiner hoch⸗ verehrten Frau Mutter findlich zu fügen und bei ans fprechender Gelegenheit zu beweiben.

Waͤhrend diefer gründlichen, weltweifen Deduktion am oberen Ende des Kaffeetifched war nun aber audy am unteren Ende der nämlicdhe Gegenftand im Flüftertone zur Abhandlung gefommen. Unfere Zeit bedürfe der ledigen Männer, hatte der Patriot gefagt, und fein alter Pate Magifter ihm ermwidert, daß im Gegenteil diefe Zeit ded Zornd und Haders zur Pflege dränge jeden ges mütlichen Keims. Wo fo tiefe Tücken bis in die natür> lichiten Ordnungen geriffen feien, müflen die Reihen um fo dichter und dichter gefchloffen werden. Da ftatt der Gegenrede nur ein Kändedrud erfolgte, fehien auch am unteren Ende die objeftive Vorfrage erledigt.

Die fubjektive Nachfrage erregte lebhaftere Debatten. Herrmann erflärte ſich für das altfelsfche Gleich und gleih; Fräulein Iduna für den Kontraft. Herrmann verlangte von einer Gattin nichts Geringered ald die zweite Auflage einer Frau Erdmuthe. „Nach dem Tert in Folio einen in Duodez“, fpottete der Phyſikus. Auch der Suder urteilte, daß gnädige Frauen dieſes Kaliber nicht auf den Bäumen wachſen. Zuftimmung der Mit- fnechte. Begeifterter Applaus Fräulein Idunas. Eins helliger Chorus: Frau Erdmuthe hatte nicht ihresgleis chen, Frau Erdmuthe war unerreichbar!

Warum geftattete fie ſich aber unvergleichlich zu fein,

. wenn fie ihre Söhne zu Stammhaltern erziehen wollte? wendete ernlchternd der Phyfifus ein. Gute Ehemänner müffen von Stiefmüttern gefchult worden fein. Unvers gleichliche Mütter produzierten Junggefellen.

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Der Gerichtödirektor beftritt diefe Togif, weniger aus Philofophie ald aus leidiger Erfahrung. Sooft er ſich in jungen Sahren mit einer matrimonialen Anwandlung - er geftand diefe Menfchlichfeit ein niedergelegt habe, fei das Gefpenft feiner feligen Stiefmutter ihm im Traum erfchienen und er am Morgen vor lediger Jung⸗ gefellenluft mit beiden Beinen zugleich aud dem Bette gefprungen. Dahingegen die Erinnerung an die Strei⸗ chelfinger einer liebevollen Mutter ihn am Ende doch an Hymens Altar verlocdt haben würde.

Bär fchüttelte, ich nickte obgleich ich das Bild einer gütigen Mutter im Herzen trug. Es wäre feine Eini- gung abzufehen gewefen, hätte nicht Fräulein Iduna, mit Hilfe einer neuen Taſſe Kaffee zur ftärfften Flamme angefacdht, die Debatte von der Abfcdyweifung ind urs fprüngliche Geleis zurücdgelenft und durch ſchlagende Beweiſe die Liebesregel der Kontrafte gegen die der Harmonie zum Siege geführt. Fräulein Iduna war ein Weib, das heißt eine Freundin der Farbe, und die Fürs bung ihr ftärffted Argument.

„Wählte nicht unfere Baronin“, fo fchloß fie, „einen Gemahl, weldyer der Gegenfag ihres Selbft genannt werben fonnte, und würde fie durch einen Gleichartigen ergänzt worden fein, wie durch ihn? Könnt ihr des fchwarzen Othello heißgeliebte Desdemona euch anders vorftellen ald mit blondem Haar? Freilich erwuͤrgt fie der Wüterich, aber er erfticht fich doch audy gleich hinter» drein, weil er nicht ohne fie zu leben vermag. Und habe ich denn nicht felber einen milchweißen Mylord gefannt, ber, nadıdem ihm feine Dame hell genug gewefen war, um fie zu der Seinen zu machen, in plöglicher Glut für

Bierter Abſchnitt 105

eine Mohrenkönigin entbrannte und der feligfte der Sterblidyen in ihren Armen geworden ift.”

„Sie haben den Lord gekannt?” fragte ber ehrliche Hecht, feine verwunderten Augen ftarr auf die Dame gerichtet. „Geleſen habe ich die Gefchichte, aber Gnaͤ⸗ digfte, Sie haben ihn gefannt?”

„Böttin der rofenfarbenen Jugend,” führte der Phys ſikus die Frage weiter, „war ed im Garten Eden oder in Shrem trauten chez moi, wo Sie die intereffante Befanntfchaft gemacht?” Fräulein Iduna nahm den Scherz nicht übel.

Sie nahm überhaupt nichts übel, fondern alles gut, will fagen für wahr. Sie verftand Spaß, juft weil fie ihn nicht verftand. Ihre Phantafie hatte mit der Phi: Iofophie unfered Hecht die Verwandtſchaft, alles, was auf dem Erdenrunde kreucht und fleucht, mit ernfthaften Augen betrachten zu können. Herzſtaͤrkender Erſchuͤtte⸗ rungen bes Zwerchfelld bedurften weder fie noch er. Eben darum aber erzeugten alle beide diefe Erfchütterungen fo herzftärfend in anderen, und fühlten alle beide in ihrer Haut fich fo feelenvergnügt.

Bär, der Spötter, der immer auf dad Zwerchfell zu wirken fchien, wirfte immer auf den Ernft, und wohl in feiner Haut fühlte er fich doc; nur den beiden Men- fchen gegenüber, die feinen Humor in Frieden ließen: Frau Erdmuthen und ihrem Sohn.

Die Stimmung am Kaffeetiſch wurde immer audges laffener; felber der weife Richter ein wenig zum Schalf. Wir fuchten nach den verfehlten Mohrenföniginnen, die und beflagenswerte Sunggefellen zu glücfeligen Lords gemacht haben würden. Bär erfor ſich die fchöne Seele

——

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feiner einftmaligen Zutorin, die leider fchon längft zu ihren Schwefterfeelen über den Wolfen aufgeflogen war.

„Sie würde midy neben dem Lamm am blaßroten Leit⸗ ſeile durchs Leben gegängelt haben, und id; werde fie ewig beweinen”, fagte er. Für den Kindskopf Magifter wollte er höher hinaus. Die ruffifche Katharina mußte aus ihrer Kaifergruft auferftehen, um feine ideale Hälfte abzugeben. Des Philofophen Hecht fand er aber aud) die gefröntefte Sterbliche nidyt würdig genug. Nur eine Eifin, die fid mit dem Tropfen aus einem Kilienfeld, nährt, würde als Nicht⸗Ich dem Ich fich verfchmelzen haben dürfen.

„Sp hätte denn jeder fein Zeil,” fagte Herrmann lachend. „Mid; aber, zu deffen Zurechtweifung doch all diefe Liebesweisheit entfaltet worden ift, mid; Armen wollt ihr, fo fcheints, ohne ergänzendes Vorbild auf Freiersfuͤße ftellen.“

Bär runzelte die Stirn, ftrafte feinen Zögling mit einem verächtlichen Blick und fpradh, indem er feine Hand auf Fräulein Idunas flammendes Lodenhaupt legte: „Seid Ihr mit Blindheit gefchlagen, Mann? Wer anders ald diefe blühende Phantaſie?“

„Sie?“ widerhallte Hecht. Herrmann verbeugte fidh gegen die Dame. Wir lachten, was wir lachen konnten. Nur Fräulein Sduna lachte nicht. Sie firedte abweh⸗ rend die Arme gegen den idealen Bewerber aus und entgegnete in feierlichftem Ernft: „Nein, Baron. Keine Täufchung zwifchen und. Sa, es find in mir Elemente, welche die Ihrigen ergänzen könnten. Dennoch: nicht ich für Sie, nicht Sie für mich. Ich habe Sie lieb, Sie wiffen ed; von Herzen lieb, was man fo fagt - -“

Vierter Abfchnitt 167

„Eßlieb!“ ergänzte der Judex, der ſich immer auf das zartefte auszudruͤcken pflegte. Freund Bär würde es fräftiger getan haben.

„Beliebt aber,” fuhr die Dame unerfchüttert fort, „mit Leidenfchaft geliebt, hätte ich Sie nie, nie! Das Wefen, das mich ergänzt haben würde, meine ftärfere Bälfte- -“

„Biel behauptet!” murmelte Bär.

„nur das ideale Weib der ideale Mann waren nicht Sie, Baron, fondern Ihr Bruder Raul!“ -

„Armer Dann!” feufzte Bär.

Auch Fräulein Idunen fchmerzte der erteile ideale Korb. Doch gab fie Troft. Auf eine, für welche ihr teuerfter Freund nicht paßte, wußte fie zehn, die für ihn paßten. Ga, im rechten Fichte betrachtet, war feine edle Natur eine von denen, bie für jede Gattin paßten, jeder Herz gewinnen, jede beglüden mußten. Am Ende audy felbft ein Wefen wie fie, Fräulein Idunen. Wiewohl fie nadı vielfältiger Erfahrung und aus wahrhafter Anhaͤnglich⸗ feit ihm raten müffe, fein Augenmerf mehr auf eine ſolche zu richten, deren Kolorit ein ftärfered Tempera⸗ ment ale das feine befunde. „Nicht blond und blond, blond und fchwarz gibt —“ |

„Fuͤchſe!“ ergänzte Bär. Zweifelsohne eine indezente Andeutung, die das dezente Fräulein trog feiner Güte für ungut hätte nehmen können, wenn nidyt im nämlichen Augenblid Frau Erdmuthend Kammerfrau mit einer Anfrage in Padangelegenheiten herzugetreten wäre. Denn Fräulein Iduna hatte es dDiedmal von wegen der Kaifers und Königspoften mit ihrer Rundreife eilig. Schon morgen wollte fie weiter, und war vorhin zwifchen und eine gemeinfame Fahrt bi zu ihrer nachbarlichen

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Etappe verabredet worden. Herrmann dadıte von dort ab feine Leipziger Reife anzutreten, ich meine Chriftos phine zu befuchen, die an den Zmwölfprediger der naͤchſten Poftftadt verheiratet war.

Fräulein Iduna hatte fich erhoben. Berrmann bot ihr den Arm, um fie ind Haus zurüdzuführen. Auc Bär und ich brachen auf. Unfer Judex dahingegen war nadı der ungewohnten Schelmerei in tiefes Brüten verfunfen. Die roten Fleifchftreifen, die, wenn fie behaart find, Brauen genannt werden, bis an die gelben Tödchen in die Höhe gezogen, ftarrten die blauen Augen hinauf in die grünen Ulmenwinfel.

„Eine grundgätige Kreatur, dieſes fozufagen Altliche Fräulein!“ aͤußerte er endlich, den Doftor beim Roc» zipfel zurückhaltend. „Jedennoch obgleich, wiewohl - infonderheit nad) Gelegenheit eine verteufelte Ge⸗ ſchichte, Bär.“

„Welche Gefchichte, Hecht?“

„Die mit der Mohrenkönigin.“

„Sa fo, wegen ded Nicht-Ichs mit dem Elfenmagen.“

„Spaß beifeite, Doftor. Wir drei find feuerfeft, denke id. Kediglicd; von wegen unfered Barond. Wenn fie den Teufel an die Wand gemalt hätte, Bär!”

„Schämt Euch, Kantianer!” verfegte Bär, ſich losrei⸗ Bend. „Zweimal in einem Atem den Erzfeind aller reinen Vernunft. Den überlaßt doch und Gottesgelahrten, dem Magifter und mir. Hier Euer Problem! Zufunfts- philofophie, Mann!” Er deutete auf die nur halbges leerte Kaffeefanne und den nur halbverzehrten Rofinens fuchen auf dem Tifch. „Soll diefer edle Stoff in Ather verpuffen? Zwei Taler Foftet das Pfund. Nach dem

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erften Siege über die Barbaren wirds dad Doppelte foften. Sollen die Sperlinge diefed liebe Gut aufpiden, das auf der Welt fein Menfch wie unfere Frau einzu- rühren verfteht? Laßt fich8 in Eurem Magen in Weis- heit verwandeln, und ed wird nicht teuer genug be> zahlt und nicht Funftgemäß genug eingerührt worben fein.“

Des Doftord Metaphyſik fand Gehör, Freund Hecht ruͤckte wieder an den Tifch, brodte fich das Oberkoͤpfchen voll, ftecdte ein paar Zuderftücdchen hinein, goß Kaffee und Sahne darüber und ftülpte den Kegel in die Unter; fchale um. Wir verließen ihn ILöffelnd. Die Zeufele- geifter der Mohrens und Elfenköniginnen werben über dieſem Tatendurft entflohen, und der füße Stoff in Ger Danfenfraft verwandelt worden fein.

Als wir vor dem Oartenhaufe angelangt waren, fragte Bär: „Apropos Mohrenkönigin, Wagifter, führte bie Familie unfered weiland Major vor der Ketzerhetze in Wahrheit den Heiligentitel, den fein Süngfter fich wie⸗ der angehängt hat?“

„Sch habe es immer fagen hören“, antwortete ich.

„Hat fie Rudera drüben zuruͤckgelaſſen?“

„Die Sache ift lange genug her, um zur Mythe ge: worden zu fein. Aber feit wann legft du dich auf Fa⸗ miliengefchichten, Bär, und was hat fie mit der Mohren⸗ fönigin zu fchaffen?“

„Seit Euer Herr Vater felig mir das fünfte Kapitel Mofes eingebleut hat, und was die Mohrenfönigin ans belangt, Näheres morgen in der Stadt im ‚Rautenfrany‘. Gott befohlen.“

Damit fchob er in feine Höhle. Was mochte er haben?

170 Frau Erdmuthens Swillingsfähne

Eine Schrulle; idy erfuhr fie morgen bei Ehren-Strobel früh genug. Mein Herz hüpfte vor Luft. Herrmanns Gewiſſen hatte Feuer gefangen, und wo ein Wille ift, hat fidy ja noch immer ein Weg gefunden. Idylliſche Friedenebilder umgaufelten meinen Traum. Ein Hoch⸗ zeitöfarmen fchwebte auf meinen Lippen. Wie Tange noch, und unfere liebe Frau würde nicht mehr nad) Enfelfreuden zu feufzen haben!

Am anderen Morgen fchleiften wir alle drei durd die Felsſche Heide; nicht wie gewöhnlich in Herrmanns leichtem Korbwägeldhen; denn Fräulein Iduna liebte eg, ftandedgemäß in den Kreifen der Ritterfchaft aufzutreten, und Frau Erdmuthe gönnte ed denen, welchen nur Schu- fterd Rappen zur Verfügung ftanden, fic, dann und wann in einer Staatdfaroffe zu ſchaukeln. Es war die näm- liche, die fie vor fiebenundzwanzig Jahren auf der Hoch⸗ zeitsreife durch Die Heide entführt hatte, aber heute faft nod) wie neu; daß filberne Roc-Felsfche Allianzwappen an den Schlägen bligend blanf.

Die grundgütige Kreatur war gleich wieder Feuer und Flamme bei dem geftrigen Kapitel. Eine Teuchtende Idee war über Nacht in ihr aufgefchoffen, eine Idee, die unfere Pläne zum rafchen Abfchluß bringen mußte. Da die Oftermeffe der militärifchen Durchzuͤge halber ſchwach beſucht gewefen, würden viele Herren ber Ritters ſchaft jegt, nach eingetretener Ruhe, zur Abwickelung ihrer Gefchäfte in Leipzig anmwefend und von Gemahlinnen und Töchtern begleitet fein. Galt es zunächft auch nur, fid} mit den Moden ded Sommers zu verforgen, wer wußte denn nicht, wie gern Cupido, der Schelm, ſich hinter derlei Zierlichfeiten verbirgt. Ihr teuerfter Freund

Vierter Abſchnitt 173

brauchte nur die Augen aufzufchlagen, um zu finden, zu ſiegen und die Herzenswuͤnſche feiner treueften Freundin zu erfüllen.

„Morgens zwifchen elf und eind ein Gang durch Auer» bachs Hof, Baron,“ belehrte die Dame. „Notieren Sie fich bitte die Firmen: Mathias, Putz; Dallencourt, Quins caillerien. Table d’hote im Hotel de Sare oder Baviere. Nachmittags im Rofental bei der Kalten Madame. Dort treffen Sie die Elite. Bei den Unbekannten haben Sie fi) nur mit einem Gruß von mir einzuführen und wer; den mit offenen Armen aufgenommen fein.“

Mit diefem Programm nicht genug, entwidelte die hilfs⸗ bereite Dame aus ihrem rofenbefticten Pompadour ein Schriftftüd, das fie ihrem teuerften Freunde im felfen- feften Vertrauen auf feine ritterliche Diskretion zu Händen gab. Sie hatte der Abfaffung den Schlummer der legten heurigen Fruͤhlingsnacht unter dem Dache ihrer Alteften Freunde geopfert, und enthielt e& nichtö Geringered ald eine Lifte des ritterfchaftlichen weiblichen Blumenflorg, der dem Brautfahrer bei Wege oder auf Ummegen ers blühen Fonnte. Reize wie Tugenden follten gewiffenhaft regiftriert und ich weiß nicht unter welchen von beiden Rubriken dad, was man gemeinhin Kühner und Gaͤnſe nennt, bis zu den Gefpinften im mütterlichen Linnen⸗ ſchranke hinab diplomatifch feftgeftelt fein. Die Reihe war lang, und den Wertanfchlag wird man auch nicht tief gegriffen haben. Hinter etwelchen fchmachtenden Blondinen war, wie Schreiberin befürmwortete, in Pa- renthefe mit roter Tinte angebradht: „Eignet ſich beffer für den Bruder Major.”

Herrmann gelobte pflichtfchulbige Beruͤckſichtigung aller

172 Srau Erdmuthens Bwillingeföhne

Freundfchaftslehren, füßte der gütigen Dame die rötlich rundliche Sand, und fo ſchieden wir.

Aber auch nachdem wir beide allein den Weg nach der Stadt fortfeßten, von welcher aud Herrmann mit der Poft die Reife nad) Leipzig antreten wollte, fonnten wir aus dem eingefchlagenen Geleife nicht herausfommen. Nur daß Liebe und Ehe jegt mehr in dilettantifch Iehrhaftem Sinne audgebeutet wurden. Während Herrmann die foftbare Handſchrift, ungelefen in Fleine Stücke zerzupft, in die Heide verftreute - ein unerfeßlich hiftorifch ftatifti- fcher Berluft -, kehrte er mit neuen Argumenten zu der Behauptung zurüd, daß, wie in allen anderen Verhaͤlt⸗ niffen, auch in dem zwifchen Mann und Weib nur gleich: geartete Naturen ſich zu dauerhaften Glüd verbinden könnten.

MWenn nun ich, der von Haus aus doc; gewiß nicht ein Streithorft genannt werden fonnte, diefem meinem eis genften Fundamentalfage bis zu einem gewiffen Grade widerſprach, fo geſchah es aus einem jener Nüglichkeitss gründe, die felten um vieles beffer als offene Lügen find. Weil ich mic, auf eine baldige Hochzeitsfeier meines Herzensſohnes ſpitzte und die Ausleſe unter denen, die feiner Mutter und ihm felber nicht glichen, mir reicher dünfte als die unter denen, welche beiden glichen, darum verteidigte ic; Fräulein Idunens Theſe von den befon- deren Wegen und felber den abrupten Sprüngen, bie der Liebe eigen fein follen.

Unter derlei ernfts und fcherzhaften Hin- und Wider; reden traten wir, in Erwartung der Perfonenpoft, im wohlbefannten ‚Rautenfranze‘ ein. Die Gaftitube war leer; wir nahmen Plag im Fenfterbogen, Herrmann bes

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ftellte eine Flaſche Mofelblümchen, meinen Fieblingswein. Beim eriten Glafe ftieß er mit mir an, indem er lächelnd den Anfang unferes Bundesliedes zitierte. Ach, wie lange hatte id) es nicht von feinen Tippen gehört!

„Reich treulich mir die Bände —“

„Das ift Freundfchaft,“ unterbrady ich ihn, „Sympa⸗ thie!“

„Daß ift Liebe!” fiel er ein, „Liebe, wie fie unferm deut⸗ fhen Wefen frommt und ziemt. Was ald Leidenfchaft - wahrlich nicht zum Überfluß! - in und glimmt und zündet, möge auf anderem Gebiete zum Austrag fommen. Aber fehen Sie doch, Freund,” fuhr er darauf ablenfend fort, „was treibt denn da draußen unfer Wirt? Er umfchleicht unferen Wagen, klemmt die Brille auf die Nafe, ftudiert die Wappen an den Schlägen, vergleicht, Buchftaben für Buchftaben mit dem Finger weifend, Die Rocſche Devife mit einem Gegenftand in feiner Hand, wohl gar einem Ring. Er wiegt dad weife Haupt, fcheint in höchfter Berwunderung. Nun faßt er gar bes Kutſchers Rockſchoß und ftellt die nämliche Prüfung mit feinen Fivreefnöpfen an. Sollte Meifter Strobel die Ab⸗ fiht haben, ſich adeln zu laſſen?“

„Beileibe nicht diefe Vermeffenheit, mein gnädiger Herr Baron!“ fiel der würdige Herr Strobel ein, der während der legten Worte in das Zimmer getreten war, „ch bin und bleibe ein befcheidener Bürgerdmann und möchte, bei meiner geringen Bildung, nur an hochfreiherrlidhe Gnaden mir die untertänige Anfrage zu ftellen erlauben, ob bei einem hohen Adel ed Gefeg und Sitte fei, bloß innerhalb der Stammesgenoffenfchaft die nämlidyen Mappenzeichen zu führen? Oder ob, wie bei einem ge-

174 Frau Erdmuthens Zwiltingsfähne

ringfügigen Publifum, jedwedes Individuum auf fein Petſchaft ftechen Laffen darf, was ihm beliebt? Ich zum Erxempel einen Rautenkranz; ohne dadurch zu den vielen, die von Sr. Majeftät unferem allergnädigften König, den Gott erhalten möge, big zum Schuhpuger hinab das gleiche Zeichen führen, ein verwandtfchaftliches Verhält- nid anzufprechen.“

„Petſchieren dürfen auch wir, mit welchem Zeichen und beliebt,“ entgegnete Herrmann lachend. „Ich tue es häufig mit einem Sechſer. Ald Wappen führen wir jes body nur das, was der Familie mit dem Adelsdiplom verliehen worden ift. Aber feit wann befchäftigen Sie fih mit Heraldik, alter Freund?“

„Seitdem mir heute morgen gegenwärtiges Kleinodium an Zahlungs Statt zu Händen gegeben worden ift, gnä- biger Herr. Es trägt die nämlidye Gravierung wie die Knöpfe Ihrer Livree und die eine Wappenhälfte auf Dero Wagenfchlag. Die Sache würde von mir unbe merft geblieben fein, wenn nicht der Name der Dame, bie mir den Ring verpfändet hat, an den von Ihro Gna- den väterlicherfeits erinnerte. Es hängt allerdings vorn noch etwas daran: hinten aber ift ed ganz der nämliche Rod."

Herrmann betrachtete währenddeflen das erwähnte Kleinodium und reichte ed mir in fichtbarer Überrafchung, ja Bewegung. Einen altertümlicy gefchnittenen und gefaßten Siegelring, vorliegendem zum Verwechſeln ähnlich, hatte fein feliger Vater, als einziges Familien- erbftüd, feiner Braut zur Verlobung an den Finger ges ſteckt. Der Stein war ein Saphir, dad Wappen das der Roc, ald Umfchrift die Devife rocher d’honneur. Nach

Vierter Abfchnitt 175

bed Vaters Tode überließ Frau Erdmuthe den Ring ihrem jüngften Sohne, und ſchaͤtzte Raul diefes Geſchlechts⸗ andenken fo hoch, daß er, glaub ich, leichter als dasſelbige die Anwartichaft auf den Klofterhof aufgegeben haben würde. Daß wir den eigenen Erbring vor Augen haben follten, war demnach nicht anzunehmen.

„Eine Dame gab Ihnen den Ring?“ fragte Herrmann. „Wer ift die Dame?“

„Die kranke Gemahlin eines franzäfifchen Offiziers, welche felbigem nad, Polen zu folgen und ihn nody in hiefiger Gegend zu erreichen gedacht hatte. Da die Dame nicht deutfch fpricht und ich eben nur ein paar kauder⸗ welfche Brocken aufgefchnappt habe - ich bin und bleibe ein deutfcher Mann, mein gnädiger Herr! - muß ich wegen näherer Auskunft auf Hochdero Freund, den englifchen Herrn Doktor verweifen, der, geftern auf der Durchreife mein geringes Haus beehrend, von unferm Herrn Amtes phyfitus über den Zuftand befagter Dame zu Rate ges zogen worden ift. Leider zu fpät, mein Herr Baron. Kraͤnkelnd fchon bei der Abreife von Paris, hat das Übel fidy auf der weiten Tour verfchlimmert, bie fie, Gott feid geklagt, feft bei mir liegen geblieben ift. Der Herr Doftor haben mir zu verftehen gegeben, daß fie ‚mein Baus nicht mit lebendigem Leibe verlaflen werde. Ein graufamer Schlag, mein Herr Baron! Obendrein bei der handgreiflichen Entblößung der Dame. Urteln Ihro Gnaden felbft, ob fie ohne rattenfahle Entblößung mir fotaned Wertſtuͤck ald Pfand angeboten haben wuͤr⸗ den, bis die erwartete Sendung von ihrem Gemahl aus Polen eintrifft? Aus Polen! Ihro Gnaden wiflen, was felber in Friedengzeiten in Polen zu holen iſt. Die

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Fremde muß fort, heute noch partoutement aus meinem Haus. Ich bin ein menſchenfreundlicher Mann, mein Herr Baron. Aber die Zeiten ſind flau, und ein Wirt muß ſich zu helfen wiſſen.“

„Und wie nennt ſich die fremde Dame?“ fragte Herr⸗ mann.

Der Wirt holte eine leere Medizinflaſche herbei, auf deren Etikette geſchrieben ſtand: Frau Baronin von Saint⸗ Roc.

Herrmann ſah mich betroffen an. „Es waͤre doch wun⸗ derlich,“ ſagte er in franzoͤſiſcher Sprache zu mir, „wenn wir in dieſem heilloſen Landſtaͤdtchen und in ſo klaͤg⸗ lichem Zuſtande ein Glied der fremden Vetternſchaft auffinden ſollten, die in unſerer Familienſage ſolch eine geheimnisvoll glaͤnzende Rolle ſpielt.“

Ich hoͤrte auf Herrmanns fernere Unterhandlungen mit dem Wirt nur noch mit halbem Ohr, denn auf der Straße dicht unter meinen Augen hatte ſich eine Szene entwickelt, die mit der Erzaͤhlung des Wirts in offen⸗ barem Zuſammenhange ſtand und meine innigſte Zeils nahme in Anſpruch nahm.

Aus der Torfahrt ſtuͤrmte unſer Phyſikus in merklich baͤrbeißiger Laune, wie es ſchien, auf der Flucht vor einem Perſoͤnchen, das ſich mit leidenſchaftlichen Gebaͤr⸗ den an ſeinen Arm klammerte und ihn mit Fragen oder Bitten uͤberſchuͤttete. Nun las und ſchrieb zwar unſer Phyſikus in ſieben Sprachen wie in ſeiner eigenen; Deutſch aber ſprach er mit engliſchem und Franzoͤſiſch dafuͤr mit ſaͤchſiſchem Akzent. Es mochte der kleinen Fremden wohl wie chaldaͤiſch klingen, denn ſie zeigte ziemlich ungebaͤrdig, daß ſie des Doktors Antworten nicht

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verftand. Möglich auch, daß der Doftor fie nicht vers ftanden haben wollte. Sie fhüttelte zornig das ſchwarz⸗ gelodte Köpfchen, runzelte die Stirn und ftampfte mit den niedlidhften Füßen, die id; jemals gefchen habe, auf den Boden.

Wer war dad fleine Geſchoͤpf? Ein Landeskind offens bar nicht. Konnte fie die franfe Frau fein, die der Doßs tor ald rettungslos aufgegeben hatte? Konnte fie übers haupt eine Frau fein? Weit cher ein halbflügged Bad; fiſchchen, wenngleich die Geftalt völlig entwidelt ſchien und hier und da ein Zug, eine Miene oder Gefte auf die Erfahrungen reiferen Lebens deuteten.

Ihr Anzug, ein wenig vertragen, war von eleganterem Stoff ald dem, in weldyen deutfche Damen ſich haͤuslich fleiden, und von einem freieren, graziöferen Schnitt, ale er felber unferen Modeheldinnen gelingt. Naden und Arme entblößt, zeigten fid) bei den lebhaften Bewegungen unter dem kurzen, enganfchließenden Kleide alle Umriffe in dem reizendften Ebenmaß. Schön war fie nidıt, am wenigften für einen an Frau Erdmuthens heute nod) plaftifche Regelmaͤßigkeit und Farbenblüte Gemwöhnten. Alles an dem Dämchen war flein: die Geftalt, die Glie⸗ der, der Kopf famt Ohrchen, Stumpfnaͤſchen und den weißen Perlenreihen unter dem halbgeöffneten Mund, Nur die Augen waren groß, größer ale ich jemals Frau⸗ enaugen gefehen, in der dunflen Umrahmung der Lider und bis unter die Locken hochgefchwungener Brauen. War ed nun aber der bligartige Wechfel in diefen fchwarzs blauen Augen, der den Befchauer fo rafch und feflelnd in Anfprudy nahm? War es ihre ausdruddvolle Korre⸗ fpondenz mit den fchwellenden, farminroten Lippen, mit xx. 12

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der fammetartigen Bräune der Haut, die bei jeder Er; regung durch eine Blutwelle verbunfelt ward? Mein, der verführerifche Reiz der belebten Phyfiognomie, der lag in dem Gepräge - ja, wie fage ich nun? - nicht von Sungfräufichkeit, die und an deutfchen Frauen in diefer Jugend am hödhften entzüct, aber von bewußter oder unbewußter Naivetät, wie jene fie faft immer entbehren und für die wir in dem Worte Kindlichfeit nur eine halbe Bezeichnung haben. Kinder und Weltfinder vers tragen ſich bei und nicht; ihre Verbindung madıt uns die Fremden reizend.

Die gegenwärtige reizende, Eleine Fremde blickte wie in Verzweiflung nad) einem Dolmeticher umher; dabei fiel ihr Auge auf unfere vor der Tür entipannt ftehende Karoffe. Ein angenehmes Behagen, vielleicht die Er- innerung an glüdlichere Tage, überflog das Fleine Ge- fiht. Sie trat dicht an den Wagen heran; da id) das Fenſter geöffnet hatte, konnte ich die Flangvoll vibries rende Stimme deutlidy vernehmen. „Wem gehört diefe Equipage?“ fragte fie.

„Einem benachbarten Gutsbeſitzer,“ brummte der Doftor.

„Kurios! Daß eine diefer Wappen ift das meines Papa.“

Der Doftor ließ fih nicht in Erflärungen ein. Er ftand in Gedanfen, während die Kleine den Wagen ums tänzelte. Endlich fchien er fidy zu einem kurzen Prozeß entfchloffen zu haben. Er fchüttelte die Mähne und fchnitt ein Geſicht, ald ob er eine Dofis Aſafoͤtida nicht ver- fchreiben, fondern felber verſchlucken follte. Mit feiner gewaltigen Hand umfpannte er die beiden zierlichen der Fremden, Eniff die Augen zu und raunte ein paar Worte in ibr Ohr, die fie wie ein fengender Blig durchzuckten.

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Ein gellender Schrei, ein Zittern über den ganzen Leib! Sie klammerte ſich an ded Mannes Bruft: „Bilfe, Hilfe!“ aͤchzte fie.

„Kein Menfch kann helfen,” verfeßte der Doftor.

Sie ließ die Arme finfen und ſprach ihm medanifch nad: „Kein Menſch!“ Sie ftand erftarrt; jählinge aber fuhr fie zufammen wie eleftrifiert und rief triumphierens den Blicks: „Aber Gott!" Dann mit zum Himmel ers hobenen Armen auf die Knie ftürzend: „Mutter Gottes, hilf! Sende einen Engel, einen Engel deinem armen Kind!“

Der Doftor hob fie ohne Umftände in die Höhe und fchob fie in das Tor. Er felber rannte in die gegenübers liegende Apothefe. Mir am Fenfter madıte er ein Zeis chen, daß fo viel heißen Fonnte ald: „Seht, wie Ihr mit dem Unband fertig werdet, laßt aber erft Euren Pofts paſſagier abgefahren fein.“

Audy Herrmann war bei dem Auffchrei der Fremden ans Fenfter getreten. „Wer ift diefe Dame?“ fragte er haftig den Wirt.

„Mamfell Lisfa, die Tochter der kranken Franzöfin, gnädiger Herr.“

„Liska!“ fagte Herrmann, „wel ein wohlflingender Name!“

Unfer Wirt fchien abweichenden Geſchmacks. „Meine Spreewälder JZungmagd wollte partoutement auch Liska gerufen fein,” meinte er. „Aber id) bin ein bdeutfcher Mann, Herr Baron; ed blieb bei der Lieſe.“

Die Poftfutfche rüttelte in diefem Augenblick durch die Straße, aber Herrmann von Feld dadıte nicht mehr daran, feine Reife fortzufegen.

ꝛ* x *

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„Kein Zweifel länger,” fagte Herrmann zu mir, „Dies ſes ſchoͤne Mädchen gleidyt unferem Raul wie eine Schweſter dem Bruder.”

Ich fand nun dieſe überzeugende Ähnlichkeit keines⸗ wegs, freute mich aber, daß Namen und Wappen hin⸗ reichend fuͤr die Stammgenoſſenſchaft ſprachen, um der gebotenen Wohltat ein ſtandesgemaͤßes Maͤntelchen uͤber⸗ zuwerfen, ließ mich auch gern bewegen, kraft meines Alters und Amts die verwandtſchaftlichen Beziehungen einzuleiten. Gern haͤtte ich die delikate Miſſion bis nach einer Ruͤckſprache mit Freund Baͤr verſchoben, da Herr⸗ mann aber draͤngte, wurden in Eile ein paar Zeilen abgefaßt, in welchen Geoffroi Bleibtreu, curé d’Arnheim, um die Ehre bat, der Frau Baronin von Saint-Roc aufwarten und ihr feine Dienfte anbieten zu dürfen.

Ehren-Strobel übernahm die Beſorgung. Diefer deuts fhe Biedermann und Wirt ich darf es, ohne feiner Kundfchaft zu ſchaden, jegt wohl verraten hatte, als id) vor ein paar Wochen mit unferem Raul bei ihm eins fehrte, gefagt: „Ich bin ein guter Sachfe, ich ſchwaͤrme für Ihren Kaifer, mein Kerr Major,“ item unfer ku⸗ lanter Wirt fchnellte wie auf Federn, feitdem der junge Baron für alle bisherigen und künftigen Zehrfoften gut gefagt und dafür das altmodifche Kleinodium in Beſitz genommen hatte,

Herrmann ging ſchweigend im Zimmer auf und ab; auch ich dachte ftumm über die zu fpielende Rolle nadı, als nad) etwa zehn Minuten Mademoifelle Liska in atems Iofer Spannung in dad Zimmer und, ohne meinen Bes gleiter auch nur zu bemerfen, auf mid zuftürzte.

„Sie find ein Pfarrer, mein Herr,“ rief fie aus. „D,

Mierter Abfchnitt 181

Gott ift gut. Maman hat den ganzen Morgen nadı einem Pfarrer gefeufzt. Ihr Gebet ift erhört. Folgen Sie mir rafch, mein Herr. Mama ift frank, fehr franf. Der Doktor, der fchredliche alte Doftor, fagt, daß fie fterben müffe. Aber ich glaube ed nicht. Das heilige Sakra⸗ ment wird fie ftärfen. Sie wird wieder gefund werden. Wir werden weiter reifen zu Papa nad) Polen. Ges fhwind, geſchwind, mein Herr!“

Ich ftand wie verblüfft. Ich bin gewiß ein banfbarer Juͤnger Doftor Luthers, in diefem Augenblid aber hätte ich mid; allenfalls in einen Sünger Loyolas verzaubern mögen, um die Hoffnung ded armen Kindes nicht fo graufam zu enttäufchen.

„Barum zögern Sie, Herr Pfarrer?” drängte die Kleine, indem fie ungeduldig meine Hand ergriff, um mid) fort» zuziehen. Ä

„Sch zoͤgere,“ ftammelte ich endlich, „weil ich ein Miß⸗ verftändnis befürchte, Mademoifelle; weil ohne Zweifel Ihre Frau Mutter nach einem fatholifchen Pfarrer vers langt, und ich Proteftant bin,” faft hätte id) gefagt: „nur Proteftant.”

Das Daͤmchen ftand wie aus allen Himmeln geftürzt. „Proteſtant!“ murmelte fie. „Ein Keger!” Ich glaube, fie ſchauderte. Nach einer Weile aber fragte fie mit zornig zufammengezogenen Brauen: „Aber Sie meldeten fih bei und an. Wenn Sie nit ein Diener unferer Kirche find, was wollten Sie von ung, mein Herr?“

„Sch wollte,“ erwiderte ich, „da ich ale Proteftant die Snadenmittel Shrer Kirche nicht verwalten darf, als Shrift mit Ihrer armen, franfen Wutter beten, ihr den Troft des Evangeliums fpenden, auf weldyem Ihre wie

182 Fran Erdmuthens Iwillinasfähne

unfere Seligfeitöhoffnung beruht. Ich wollte ihre viels leicht legten Erdenwünfche vernehmen und ihr den Beis ftand edler Freunde antragen, den Gott Ihnen in der Berlaffenheit entgegenfendet.“

Ob ed nun der Sinn meiner Worte war oder nur der lang entbehrte Heimatdflang, genug, der unwillige Auds druck verſchwand, und es flimmerte wie Sonnenfchein in den großen, felt auf mich gerichteten Augen der Frans zöfin. Sie reichte mir die Hand und fagte zutraulich: „Le bon Dieu ne damne pas les bonnes gens. Sie find ein guter Mann. Ich danfe Ihnen, mein Herr.“

Sch erzählte ihr nun, daß ein Zweig ihres väterlichen Geſchlechts vor langen Fahren in diefer Gegend heimifch geworden fei und daß ein Nachkomme dieſer Ausge⸗ wanderten, ald zufälliger Zeuge ihrer Unterredung mit dem Arzt, durch Mademoifelled bedeutende Yamiliens aͤhnlichkeit den Beweis eines verwandtfchaftlichen Zus fammenhangs gefunden zu haben glaube, ſich nun aber auch auf diefen Zufammenhang berufe, um den Damen im fremden Lande feine Dienfte anzutragen.

„Aber daß Flingt ja wie aus einem Roman!” rief Fräus lein Liska, indem fie vergnügt in die Hände Flatfchte.

„Ich meine,” entgegnete ich, „ed klingt wie aus einer alten Legende, daß unfer Vater im Himmel die Gebete findlicher Herzen erhoͤrt.“

Mein junger Freund hatte, abfeits ftehend, Fein Auge von dem neuen Bäschen verwendet. Sept ftellte ich ihn vor, und er begrüßte fie mit einem herzlicdyen Händedrud und der Vitte, für fi) und ihre Kranke den Schug feines mütterlichen Hauſes anzunehmen.

Das Fräulein mufterte den ſich fo vertrauensvoll An-

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fündigenden von oben bis unten mit den halb gleich: gültigen, halb mißtrauifchen Blicken eines Weltkindes weit eher ald eined Kindes. „Sie fehen nicht aus wie ein Saint Roc, Monfteur“, fagte fie.

„Aber Sie fehen aud wie eine echte Saint Roc, Mades moifelle,” verfegte Herrmann. „Auf den erften Blick habe ich Sie ald Verwandtin an der Ähnlichkeit mit meinem Vater und Bruder erkannt.“

„Mit einem Vater und Bruder?” fragte dad Fräulein, jegt wieder vollftändig Kind. „Es ift bisher nur von einer Mutter die Rede gewefen. Der Wutter gleichen wohl Sie, nidyt wahr? Wo find Ihr Vater und Bruder, mein Herr?”

„Mein Bater ift tot Mademoifelle, und mein Bruder Raul fteht unter den Fahnen Ihres Kaifers in Polen.“

Fräulein Liska hüpfte vor Freuden in die Höhe. „Der Bruder heißt Raul, wie mein Papa!” rief fie aus. „Er ift frangöfifcher Soldat; er fteht in der Heimat Mamans in Polen, das der Kaifer wieder zu einem großen Reiche machen will; in Polen, wohin wir auf dem Wege find und wo ic) ihn treffen werde!* O, jegt vertraue ich Ihnen, mon cousin. Und wie wird Maman glüdlich fein!“

Fräulein Liska fprang wie ein Eichfägchen die Treppe zu dem Siranfenzimmer hinan, ohne den ſchrecklichen Doktor zu beachten, der während der legten Unterredung eingetreten war. Bär brummte ftarf; vielleicht zum erften Male dem jungen Freunde, den er über alle Berge glaubte, unverftändlihd. Da er bie Überfieblung der Kranken nach Arnheim für nicht mehr ausführbar ers flärte, wurde, zur Ausflucht für die Tochter, ein zweites Zimmer in der Nähe der Kranfenftube beftellt. Der

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Doftor und idy folgten dem Fraͤulein langfam die Treppe hinan.

„An die Vetternfchaft glaube, wer Luft hat,” fagte Bär. „Die fleine Schwarze gleicht dem Major nicht mehr noch weniger, wie jede richtige Judentrine jedem richtigen Sudenjungen gleicht. Hand von der Butter wäre befler gemwefen. Nun meinethalben, verfudhe, ob unfere Frau noch ein bißchen Schi in die Fleine Here bringt. Ein Glück, daß die polnifhe Mama heute nody unwiderrufs lich ihr Lebenslicht audfladfern wird. Ihren, will Gott, erſchoͤpfenden Erguß mögt Ihr allein mit ihr aushalten, Magiiter. Die verwandtfchaftliche Temperatur würde fidh unter demfelben bedeutend abgefühlt, ohne Qua⸗ drillenmufit mit obligater Verlobung unfer Mann die Sterbeftube aber dennoch nicht verlaflen haben.“

Diefe Erpeftoration auf der Schwelle eined Sterbes zimmerd dünfte mid, felber aus Bärenmunde nahezu gottedläfterlich. ine Stunde fpäter jedoch, und auch ich pried den Himmel, daß mein junger, fittenftrenger Freund die Aufflärungen über feine neue Familie wähs renddeflen von reineren Rippen empfangen hatte.

Welch ein Bild fchon dieſes SKranfenzimmer! Das Bett der Tochter war noch ungemadıt, Koffer und Schubs laden ftanden geöffnet; ihr Inhalt lag auf Stühlen und Tiſchen wirr durcheinander geworfen, ein Überfluß von Trödel, und an dem Notwendigften Mangel; die Luft war ſchwer und ſchwuͤl, fein Fenfter aufgemadht, fein Roulcau in die Höhe gezogen. Das kam nun freilich auf Redynung der jugendlichen Pflegerin. Welche Mut⸗ ter aber wäre nicht haftbar für den Mangel an Pflege, den die Tochter an ihrem Kranfenbett verfchulder?

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Neun aber die Leidende felbit. Sie war noch zur Stunde ein fchöned Weib, größer, ftattlicher, regelmäßiger als die Tochter; eine Brünette wie diefe, aber von jener mattweißen Färbung, die den nordifchen Urfprung ver; riet. Und daß ichs von vornherein fummiere, aud) inners lich war fie nicht eine Franzofın, fondern eine Polin. Erregbarer noch, ſchwung⸗ und glutvoller, als jene es find, aber ohne den praftifchen Ordnungsſinn, welcher dem fränfifhen Stamme aus ſchweren Berirrungen immer wieder zurecht geholfen hat, während fein Fehlen das reichbegabte Sarmatenvolf dem Untergange entgegen» führte.

Die Frau wußte, daß fie den Tag nicht überleben werde, und ich bemwunderte die ftoifche Selaffenheit, mit welcher fie ihrem fläglichen Ende entgegenfah. Daß hatte fie aber nicht abgehalten, für die legte Szene und den letz⸗ ten Beſucher hienieden fich fo ſtattlich als möglich auf: zuputzen. uͤber ein zweifelhaftes Untergewand war ein reichgeſtickter Peignoir geworfen; um das uͤppige, aber ungefämmte ſchwarze Haar ein tuͤrkiſch bunter Schal als Turban gewunden, ein ähnlicher Schal lag ald Hülle ‚über den blauwürfligen, groben Bettbezug gebreitet. Noch ftand auf dem Nadıttifche das Becken, in welchem fie fi) vor unferem Eintritt die Hände gewafchen hatte, und fein Inhalt bezeugte, daß die Prozedur nicht von Überfluß gewefen. Die Kranfe war in fortwährender Bewegung, fidy mit einem Fächer aus Straußenfedern Kühlung zuzumehen, oder mit einer ftarf duftenden Effenz den Atem zu beleben und die ficberheißen Lippen zu negen. Arme, fterbende Fremde! Wie gern hätte ich dich für deine legten Stunden in einen der lichten, luf⸗

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tigen Räume gebettet, in welchen Frau Erdmuthe die Pflege aud) des geringften ihrer franfen Diener übers wadıt. Ein Fühlender Waffereimer ftcht zu Füßen dee Bettes, auf dem weiß verhängten Tiſche der immer frifch gefüllte Krug von Kriftall und die Schale mit Feldblumen und Waldfräutern, die dad Auge erquicken und mit würzigem Hauch, ohne zu betäuben, den Atem beleben. Zu Haͤupten des Bettes aber figt fie felbft, die hehre, ftille Frau in ihrem weißen Matronengewande, glättet dir die fchneereinen Kiffen, reicht dir die Früchte, die fie felber für did) gezogen, den Trank, den fie felber für dich bereitet hat. Sie legt ihre fühle Sand auf deine fieberglühende Stirn, und jeder ihrer milden Blicke fagt: „Scylummre getroft, mein Kind, ich wache über did) und Gott über uns beide.”

Arme, ambraduftende Fremde, würdeft du den ftummen Frieden einer deutfchen Krankenmutter aber aud) vers ftanden haben?

Es bedurfte eined entjchicdenen Befchld der Mutter, um die Tochter zu bewegen, fidy aus ihren Armen zu reißen und das Zimmer zu verlaffen. Der Toftor folgte ihr, nachdem er der Kranken noch einen Trank, „potio moriforum* raunte er mir zu, gereicht hatte. Wir waren allein.

Frau von Saint Roc begrüßte mid wie wenn ben Scyreibern roͤmiſcher Gefchichten zu glauben ift wie eine Pariferin von Diftinftion einen weltgeiftlichen Haus⸗ freund in ihrem Altoven begrüßt haben würde. „Ic erwartete einen Priefter,“ fagte fie mit einem felbft in biefer Stunde nod) bezaubernden Lächeln. „Nun fol mir ein Menfchenfreund ald der Gottgefandte willfoms

Mierter Abſchnitt 187

fommen fein. Statt der Abfolution empfange id; ben Troft einer guten Tat.“

Sie ftrecfte mir bei diefen Worten beide ſchlanke, bleiche, abgezehrte Hände entgegen und blickte mid) einen Mo— ment verwundert an, vielleicht weil ich, ftatt fie an die Lippen zu ziehen, fie nur leife drüdte. Als ich fie nun aber bat, ihre der Ruhe bedürftigen Lungen zu fchonen, unterbrach fie mich mit lebhaften Kopffchätteln. „DO, laſſen Sie mid) reden, mein Herr. Es fchadet mir nicht; nicht mehr. Widerfprechen Sie mir nicht. Ich weiß ee: feit heute erft; aber ich weiß es.“

„Der Arzt kann irren in der Berechnung von Zeit und Kraft, Madame”, tröftete ich.

„Der Arzt?” fiel fie ein, „der Arzt hat mir nichts ge fagt, oder ich habe ihn nicht verftanden. Und hätte er ed, Sie haben recht; er konnte irren. Sie find alle Schwachkoͤpfe, alle! Und diefer ungefchlachte deutfche Bär, verzeihen Sie, mein Herr! Sie find audy ein Deutfcher. Aber Sie hören und fprechen wie ein Frans sofe. Gewiß, gewiß; Sie haben ein franzöfifches Ohr und eine franzöfifche Zunge und dann, Sie haben ein gutes Geficht, ein gutes Freundsgeſicht. Ich liebe Sie, mein Herr!”

Nun, was wollte ich mehr? Sch drüdte ihr noch eins mal die Hand, fette mid, an die Bettfeite und machte aus der Not eine Tugend, indem ich fie ungehindert plaudern ließ. Sie hatte ja recht, es fchadete ihr nicht, nicht mehr, und daß fie Wichtigeres zu erfahren ale zu erzählen haben könne, fchien ihr nicht einzufallen. |

Ich hatte ein Fenfter geöffnet; die frifche Luft und bie potio moriforum fachten den Lebenggeift an. Die Kranfe

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atmete freier. Bon Minute zu Minute wuchs mein Staunen. Es gibt audy deutfche Frauen, die fich einer bedeutenden Fertigfeit der Spradyorgane rühmen dürfen. Bor diefer fterbenden Franzoͤſin aber hätte felber Fräus fein Iduna in ihrer Lebensfuͤlle befchämt die Segel ftreis chen müffen. Dachte idy aber gar an meine ftille, liebe Frau Erdmuthe!

„Es ift mir,“ fo hob fie an, „bis heute nicht ein eins ziged Mal eingefallen, daß ich fterben könnte. Auch in diefer Krankheit nicht. Niemald. Mein Leben war voll Sonnenfcein gewefen; id) zweifelte nicht, daß ed wieder fonnig werden müffe; bald wieder, fange noch. Din id) doch noch nicht vierzig Jahr. Hätten Sie mid) für Alter gehalten, mein Kerr?"

Mein aufrichtiged Kopfichätteln genügte ihr. Sie fuhr fort:

„Seit ich aber diefen Morgen ermwachte, fehe ich wie durch einen böfen Zufall alles im Schatten. Grau in grau, das was hinter mir und was vorwärts meiner Tochter liegt. D, meine Liska, ma mignonne! Arme Sonnenblume, die ich in dieſem dunflen Lande zurüdlaffen muß, allein, ganz allein, ohne einen Sou, mein Kerr, ohne einen Sou! Ich habe fo viele Menfchen gekannt, fo viele Freund genannt. Ich habe mit fo vielen ges ladıt, bin mit fo vielen glüdlicdy gewefen. So viele haben mich geliebt, heiß geliebt, ewig geliebt, wie fie fagten, fo viele! -— Und nun weiß ich nicht einen, in deſſen Händen ich mein Kind laſſen fönnte; feinen, ald eine wildfremde Frau von der falten Nation, die id, feitdem id) von meinem Leben weiß, wie den Erzfeind gehaßt habe. Alles fort, alles hin, Plunder, Raub, fchauer-

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liche Nacht, und mein Kind, mein Kind eine bettelnde Waiſe! Ja, das ift der Tod, der erbarmungslofe, nadte Hellfeher Tod!“

Ein fonpulfivifcher Anfall, halb Schluchzen halb Lachen, zwang fie zu einer Paufe. Mich überriefelte ein Fröfteln, meine Zunge war wie gelähmt. Sie roch an ihrer Eſſenz und war rafcher erholt ald ih. Noch heute brauft vor meinem Ohr diefe Hegjagd Wort gewordener Gedanfen bis zum legten Atemzuge.

„Sie haben meiner Kleinen gefagt, mein Kerr,“ hob fie von neuem an, „und Gie find gefommen, mir zu fagen, daß in diefer Gegend eine blutövermandte Fa⸗ milie aufgetaucht fei, die für meine Tochter Sorge tragen wolle, bis der Vater über ihre Zukunft beftimmt haben werde. Sc weiß von diefer Familie nichtd; habe nie ein Wort von einem audgewanderten. Stamme gehört, und mein Raul, wenn befragt, wird nicht mehr ale id eine Spur von jened Stammes einftmaligem Dafein haben. Sclöffer in der Provence! Bah, Luftſchloͤſſer, mein Herr. Mein Raul hatte nicht Eltern nody Brüder, nicht Gut noch Geld, als ich ihn fennen lernte. Seine Heimat war das Eril; dad Patent ald Garde du Corps und fein Ludwigefreuz, für die er in der Schreckensnacht von Berfailled geblutet hat, dad waren feine Diplome. KHugenottifcher Zwielpalt in der Familie? Ach, Seifens blafen, mein Kerr, längft zerplagt. Mein Raul ift Kas tholif fo gut wie ich felbft. Voilà tout. Sie find der erfte Keger- pardon, mein Herr! - der erfte Anderdgläubige, mit dem ich ein Wort gewechſelt habe, und id) zweifle, daß mein Raul, armer, angebeteter Raul! - Aber halt, mein Herr! Seit zwei Monaten habe id) feinen, den id) einen

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Menſchen nennen könnte, gefprochen, feinen Brief ers halten. Es gibt feine franzöfifche Zeitung unter diefem barbarifchen Voll, Ich weiß nichts, nichte. Sch bin wie eine Begrabene, wie verfchlagen an einen wüften Strand. Sagen Sie, mein Herr, hat der Krieg mit den

Ruffen begonnen?“ |

„Ich glaube nicht, Madame. Nach den neueften Nach⸗ richten ftand der Kaifer noch diesſeit des Niemen.“

„Hat er die Polen zum Kampfe aufgerufen? Sein Kaiferwort für Polend Wiederherftellung verpfänder?“

„Mir ift nichts davon zu Ohren gefommen, Madame.“

„Er iftein......, wenner ed nicht tut. Sagen Sie, wird er ed tun? So reden Sie doch. Glauben Sie, daß er ed tut?“

„Öeftatten Sie mir, Madame, die Kombinationen eines Napoleon audy nicht im entfernteften mutmaßen zu wollen.“

„Dedant!” rief fie ärgerlich. „Ic fage Ihnen, er wird Polen wiederherftelen oder mit Polen zugrunde gehen, und ed wird aber zu was daß alle? Sie haben Blut fo wenig und fo fühl, wie Shre ganze Nation, und es ift viel, viel anderes, das ich Ihnen noch fagen muß. Seitdem ich Paris verlaffen, habe ich feine Nachricht von meinem Raul. Auf drei Briefe, die ich ihm während der Reife fchrieb, blieb die Antwort aus. Lebt er noch? Iſt er krank? Wo ftcht er? Ich weiß ed nicht. Hier, feine legten Worte find vom Marſche aus Teipzig datiert. Sie erfahren daraus feine Adreſſe.“

Sie ſchlug ihr Neglige auseinander und zog ein zers fnitterted Papier hervor, aus dem fie ein Amulet ents widelte. Das Amulet verbarg fie wieder in ihrem Bus fen, den Brief legte fie in meine Hand und ſprach:

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„Nehmen Sie, mein Kerr. Dad Blatt ift von vielen Küffen zerbrüdt, von vielen Tränen zerwaſchen. Es hat auf dem Herzen feines fterbenden Weibes geruht. Ich habe ihn glühend geliebt bis zum legten Atemhauche. Das fchreiben Sie ihm, wenn id) tot bin, melden ihm, wo unfere Tochter ein Afyl gefunden, fragen ihn, welche Spuren er von meiner Familie in Polen entdedt hat. Wenden Sie fid) um Kunde von ihm an Ihren König, an dad Gouvernement in Warfchau, an feinen Mar; fhal, an den Kaifer, an Gott und die Welt, aber, aber - -“

Sie ftocte, ihre Kippen bebten, Nach einer Paufe be- gann fie von neuem, mehr wie zu fid) felbft als zu mir. „Armer, vielgeliebter Mann! Selber wenn du diefe Bots [haft erhalten follteft; felber wenn du diefen mörderifchen Krieg überftändeft, wenn du noch Tage des Friedens erlebteft - was würdeft du fagen fönnen, was tun? Der Kaifer liebt junge Marfchälle und alte Kapitäns. Du wirft nicht Marfchall werden, armer alter Kapitän! Südlich genug, wenn du alle Tage deine Flafche fauren Cider zu trinfen und dein Radies dazu zu beißen haft. Was folft du für dein lebensluſtiges Fräulein übrig behalten? Armer, armer, teurer Raul!”

Die Dame feufzte, fchüttelte den Kopf und fog aus dem Duft ihrer Effenz die Kraft, ihre Umfchau fortzufegen. „Und meine polnifchen Verwandten, in deren ftolze Schlöffer wir und fo zuverfichtlich einquartierten wenn fie noch eben und Schlöffer ihr eigen nennen: fie haben feit zwanzig Jahren nicht nad) mir gefragt, ich nicht nad) ihnen, - die Grafen Golchonsky find großmädhtige Herren - alle Polen fühlen ſich großmächtige Herren, audy bie

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ed nicht find, Monſieur - die Grafen Golchonsky werden ſich nicht fo viel“ - fie fchnippte mit den Fingerfpigen „nicht fo viel um Mademoifelle Liska, die Tochter des armen Slapitäne der Linie kümmern.“

Ich würde lange fein Ende finden, wollte ich die Ges danfenfprünge der fterbenden Fremden weiterhin Wort für Wort überliefern. Es fei daher nur in der flürze sufammengeftellt, was von ihrem Schickſal zu erfahren wefentlich ift für das verlaffene Kind, dag fie ald Schuͤtz⸗ ling in den Händen der unbefannten Namensverwandten zuruͤcklaſſen follte.

Graf Golchonsky, ihr Vater, aus reichbegütertem Ges Schlecht, hatte fid) nadı der erften polnifchen Teilung mit bedeutenden Summen abfinden laſſen, um in Franfreid) heimliche Rachepläne zu fchüren, während feine Brüder ſich fcheinbar der neuen ruffifchen Oberhoheit unter» warfen. Die Gräfin war im Kindbett geftorben, die einzige Tochter begleitete noch ald Wiegenfind den Vater ind Exil. Die Heine Lodoiska wurde in einem Parifer Klofter erzogen und verbradhte die erfte Jugend in Marie Antoinetted damald noch glänzenden Kreijen. Als die mit dem Tode ringende Frau mir jene Iuftvollen Zeiten ſchilderte, padte fie buchftäblich ein Erinnerungsfieber. Ic, fah fie im Schäferhütchen über der Frifur à l'ingé nue, mit Schürze und Gänfeblümchenftrauß vor dem Buſentuch, bei den ländlichen Feften in einem Tempel der Natur, den ihr Vater, der Mode gemäß, in feinem Parke errichtet hatte.

„Ic war umſchwaͤrmt von Verehrern,“ fagte fie; „jeder Tag bradıte neue Bewerber. Papa war reich, und id) war fchön, fehr fchön, mein Kerr. Die Perle Sarmas

Vierter Abſchnitt 4198

tiens hieß ich auf den Bällen von Trianon, und nod) vor einem Jahre galt ich in Madrid für eine beaute erften Manged. Nur erft feit der Reiſe in diefem moͤrderiſch rauhen Lande —“ Sie unterbrad, fi, um von ihrem Nachttifche einen Fleinen Handfpiegel aufzunehmen und einen Blick hineinzumerfen. Ein Schauer überlief fie; fie fchleuderte dad arme wahrheitsgetreue Glas von ſich, daß es in Scherben zu Boden klirrte. „O, diefes graus fame Scheufal Tod“, rief fie mit einer Gebaͤrde des Ents ſetzens, und ed währte eine Weile, bis fie ihre Erzählung fortfegen konnte.

Frau Lodoiska geftand, daß fie gar nicht ungern diefen oder jenen ihrer zahlreichen Adorateurd erhört haben würde, daß fie aber allzu vergnügt gelebt habe, um an Herzbrechen zu fterben, als ihr Vater ihre Hand einem jeden von ihnen verweigerte. Der Graf rechnete bis zum legten auf eine Slataftrophe, die ihm die Heimkehr geftatten würde, und wollte nur einen Landsmann mit feinen Dufaten und der Perle Lodoiska beglüden.

„Papa war ein galant-homme felber gegen feine Tochter,“ meinte diefe. „Ic, habe ihn angebetet, und ich habe mein Vaterland geliebt fo feurig wie er felbft. Aber id) danfe doch dem Himmel, daß feine Pläne vereitelt wors den find. Die Herzen in Polen fchlagen heiß wie die im Süden, aber das Land ift falt und oͤde wie dad Shre, mein Herr. Sch würde viel Froft und Langeweile in Polen gehabt haben, und Froft und Langeweile find Dinge, die ich nun einmal durchaus nicht vertrage.”

Beim Ausbruch der Revolution folgte der Graf mit feiner Tochter dem Emigrantenfchwarme nad) dem Rhein. Unterbrochen wurde das Freudenleben auch hier nicht, xx. 13

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aber freilich Koblenz und Trier waren fein Parid. Es famen die Wirren ded Champagne-Feldzuges, die Hins richtung ded Königs, der Terrorismus, Entiegen und Greuel allerorten. Der Graf fränfelte, flüchtete mit feiner Tochter nach Italien, fuchte in den Bädern von Pifa Genefung und fand Erlöfung.

In diefer freudenlofen Paufe geſchah ed nun, daß ein anderer Flüdhtling, Herr Raul von Saint Roc, fid) der fchönen Waiſe präfentierte, ihr Cicerone, ihr VBefchüger und bald genug ihr Liebhaber und gluͤcklicher Eroberer ward, „Er befaß nicht den Sou,“ verficherte lachend feine Gemahlin; „er hat um Brot Fedytftunden gegeben, mein Herr. Auch habe ich feinen Herold nad) dem Alter feines Wappenfchildes befragt. Mir genügte der Ritters fchlag, den er als einer der bie zum Tode Getreuen in der Nacht des zehnten Auguft erhalten hatte. Er trug eine Wunde an der Stirn und das Ludwigskreuz auf der Bruft. Und er war ein fo fchöner Mann, mein Serr. Er hatte das Auge des jungen, wilden Falfen, und er hatte —“ ich will es doch lieber franzöfifch ausdrüden - „la jambe, ah, la jambe d’un Apollel Er hatte aber auch ein großes Herz, mein Herr. Ob er fie haßte, die Häfcher und Mörder feines Könige! Doch blieb er in eriter Ordnung Franzofe und gab lieber Fechtftunden, ald daß er, wie viele feinedgleichen, unter dem Banner von Frank⸗ reich8 Feinden dad Schwert gegen feine eigenen Feinde in Frankreich gezogen hätte. Und ich war eine Polin, mein Kerr. Aber warum fo viel Gründe für ein grunds loſes Ding wie das Herz? Enfin, ich verliebte mich in Raul von Saint Roc, idy heiratete ihn und zog mit ihm aus dem traurigen Pifa weiter nach Süden.

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„Zunädft nad Rom. Aber Rom ift eine Stadt für Künftler oder Heilige, und da weder Raul noch ich das eine oder andere waren, ennuyierte und Rom. Wir gingen nad) Neapel, Und dort iſts, wo meine Liska geboren ward. Mein einziges Kind. Die. Sonne hat hoch über ihrer Wiege geftanden; o, fie wird frieren, bitterlich frieren in diefem falten Land. Ma mignonnel Mein Sommertind!“ |

Frau Lodoiska zerdrüdte eine Träne; die erfte und eins zige, mit der fie von dem Leben, das ihr fo fchön ges duͤnkt hatte, Abfchied nahm.

Die erften zehn Sahre verbrachte Fräulein Liska im Süden, abwechſelnd im Elternhauſe und Klofter. „Sie war mein Kleinod,” verficherte die Mutter; „mein Leben pulfierte in dem ihren. Aber was wollen Sie, mein Herr? Kinder find unbequem; und id, bin nervoͤs. Und dann: ich hatte fo wenig Zeit. Niemand hat Zeit in dieſem paradiefifchen Lande, mo feiner etwas anderes zu tun hat als glüclidy zu fein. Sooft die Geduld mir riß, brachte ich fie zu den Urfulinerinnen und holte fie wieder, wenn die Sehnſucht nad, ihr mid) verzehrte, herzte fie ein paar Wochen oder Monde und fchidte fie dann wieder zu ihren Nonnen. Sie ift ein fröhliches Kind gewefen, ma mignonne, und, oh! nie gab es eine fo gluͤckliche Mutter, ald ich es war, mein Herr!“

Einen vollfommeneren Zuftand ald den Frau Lodoiskas in diefer Zeit ließ fih, nad) ihrer Anficht, von Feiner Phantafie erfinden. Zehn Jahre in einer Gefellfchaft fo gut wie die von Parid, unter dem Himmel ded Paras diefes, ein fchöner, zärtlicher Gemahl als immer bevors zugter Rivale eined Schwarmes galanter Cicisbeen, ein

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Engel von Kind, deflen Laft gefälige Nonnen ihr ab» nahmen, alled, was dad Herz ſich wuͤnſchte, in Fülle zehn Jahre lang! Aber leider! Diefer befeligende Zus ftand foftete Geld. Man hatte ed mit vollen Bänden audgeftreut. Die verwöhnte Magnatentochter fo wenig ald der arme Leutnant, der nichts gefannt hatte ald feine Gage und Schulden, hatte jemald daran gedadıt, daß ihre Kaffette leer werden könne, und eines Tages tafteten fie ganz erftaunt nahezu auf den fahlen Boden.

Was follte man tun? Es war die Zeit ded jungen Napoleonismud. Der lange gehaßte, emporgefommene General hatte fidy in einen Kaifer umgewandelt, einen Hof, Adel, Orden, alles, was das zertrümmerte Königs tum verlodend umgeben hatte, unter neuen Titeln wies der aufgerichtet; mehr denn jemals beherrfchte den Welt: teil Frankreichs Glorie, Frankreichs Macht. Der Ex⸗ leutnant der Koͤnigsgarde durfte Hand uͤber Herz legen und ohne Unehre ſeinen Degen dem Gewaltigen zu fer⸗ neren Siegen offerieren. Zaͤhlte er auch nahezu vierzig Jahre, bei ſeinem Tatendurſt konnte er es noch zum Ge⸗ neral, ja zum Marſchall bringen.

So wurde denn der Ruhmespfad eingeſchlagen; chemin faisant noch wohlgemut, wo es ſchoͤn zu raften war, ge raftet, und das nächte Ziel, Paris, anfangs 1807 ers reicht, gleichzeitig mit dem Bulletin, nad) welchem der Kaifer feine fiegreihen Waffen bie Warfchau getragen und die edle polnifche Nation zum Kampfe für ihre Freiheit aufgerufen hatte.

Frau Lodoiskas Herz wallte hoch. Der letzte Skrupel fhwand. Dort in ihrem Baterlande wuchſen Ehren, Dotationen, Dekorationen, alle Herrlichkeiten der Welt

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für ihren tapferen Helden Raul. Wie durch Zaubers ſchlag lebte jählinge auch die Tradition von der unber fannten und bis dato unbeachteten väterlichen Sippe wieder auf. Trotz lauerndem Froft und Langeweile rüftete man ſich zu einer Expedition in die reichen, gafts Iihen Sarmatenfchlöffer. Bevor der Marfchall in spe aber noch das Patent eines befcheidenen Leutnants ber Linie erwirft hatte, war die Schlacht von Friedland ges fhlagen, der Tilfiter Friede gefchloffen, die gewaltige Republik in ein Herzogtum Warfchau zufammenges ſchmolzen; der Leutnant von Saint Roc aber wurde mit feinem Regiment nad) Spanien gefchict und alldort bes laſſen, bis 4811 die große Heereswanderung nad) dem Morden begann. Er hatte allerorten tapfer wie Hektor gekämpft, weiter aber als bis zum Kapitaͤn hatte er ed zur Stunde nicht gebradıt; nicht einmal nody das Kreuz ber Ehrenlegion gegen das des heiligen Ludwig eingetaufcht.

Die Familie folgte dem friegerifchen Herrn nadı Mas brid, nachdem der Kaifer mit gewohnter Siegfertigfeit den wanfenden Thron feines Bruders befeftigt hatte, und trat Fräulein Lisfa, wieder unter einem füdlichen Himmel, rafch die Kinderfchuhe aus; Lenz und Nadhs fommer wurden in gleichen Kreifen genoſſen. Freilich ftachen die Fefte an König Joſephs Hofe gegen die von Groß⸗ und Kleintrianon ab: aber doch nur im Verhälts nid der Jugendreize von Tochter und Mutter und der daraus abzuleitenden Anfprüde. „Ich war zum Glüd präbdeftiniert,” fagte Frau Lodoiska, „ich fah die Kleine fi) amüfieren, ohne mich zu verdunfeln. Sie hatte die Jugend, ich die Schönheit voraus. Der häßliche mütters liche Neid wurde mir erſpart.“

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Schmerz und Sorgen der Trennung von dem angebe- teten Raul erleichterte man ſich, indem man ſich zeits weife in feine Nähe unter den lachenden Simmel Ans balufiens verfegte. Das bisher fo glatte Gluͤck begann einige abenteuerliche Blafen zu treiben, die indeffen eines romantifchen Schimmers nicht entbehrten. Auch machte Frau Lodoiska fein Kehl daraus, daß fie diefes vergnügs liche fpanifche Treiben, nach abfofut leer gewordener Kaffette, nur mit dem Opfer bes reichen Golchonskyſchen Schmuckkaͤſtchens erfaufen fonnte. Unterflügungen des Hofes, der feinen Zirkel nicht aus Eingeborenen wählen fonnte, wurden felbftverftändlich ſtolz verfchmäht; ein forglofes Kreditfyftem nach unten hin erweckte geringere Sfrupel, bis fein Zufammenbrud; nach dem nordifchen Vormarſch ded Gemahld auch die Damen jadh zurüd über die Pyrenden trieb. Moch wurden in aller Eile einige Tuilerienfefte, in aufrichtiger Huldigung einer ge: borenen Kaifertochter, mitgefeiert; dann vis-A-vis de rien wachte zum zweiten Male der polnifche Patriotismus und tauchten zum zweiten Male die reichen Sarmatens ſchloͤſer am Horizonte der KHoffnungsfeligen auf. Der Gemahl zog der Weichfel entgegen. Wan folgte ihm in dem Glauben, ihn nod) in Dresden, fpäteftens in War: ſchau zu erreichen.

Wie nun auf der Reiſe erfranft und nad) unberedhne- ten, häufigen Stationen endlich liegen bleibend, daß letzte Kleinodium, das einzige, gering gefchägte „Kleinodium“ ber Saint Roc verpfändend, bie vielgefeierte Frau in bie Lage geriet, ald Abenteurerin zu enden und ihr eins siged Kind an der Schwelle des Armenhaufes zu vers laffen, vor dieſem Umfchlag von Licht zu Nacht ftockte

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fchließlich der Atem der raftlofen Erzählerin. Sooft ich den Berfuch machte, ihr Einhalt zu tun, rief fie uns gedufdig: „Laſſen Sie mich. Ich will, daß die, welche Sie meine deutfchen Verwandten nennen, wiffen, aus welchem Schoße das fremdartige Kind in den ihren vers fegt worden ift.“

Sie fagte das mit der unbefangenften Genugtuung. Diefe Frau achtete ehrlichen Herzens Schönheit und Ers folg als ihr Verdienft, die forglofe Lebensweiſe für eine Naturnotwendigfeit. Sie hielt ſich allen Ernftes für ein tugendhaftee Weib, weil fie den Gatten ihrer Wahl einen Grad heißer geliebt hatte, ald die Schar ihrer Gicisbeen. Nur fehr verfchleiert dDämmerte in ihr dag Bemwußtfein, daß die hilflofe Lage ihrer Tochter eine Berwahrlofung und nicht bloß das erfte Unglüd in ihrem, der Mutter, dem Gluͤck geweihten Leben fei.

Mehr ald einmal während diefer langen Erzählung war Lisfa in das Zimmer und an die Bruft der Mutter ges ftürzt, von diefer aber immer wieder hinaus befchieden worden. „Was ich Ihnen mitteile,“ fagte fie, „iſt fein Geheimnis, auch für die Kleine feind. Aber warum ihren Schmerz fteigern durdy den Bergleidy von fonft und jest. Die legten Erinnerungen ihrer Mutter würs den die eriten ihres eigenen Lebens auffrifchen. Sie fol fie vergeffen, fie fol audy) mid) vergeſſen lernen.”

Die belebende Wirkung des Sterbetranfd war erfchöpft, die Kranke rang nur noch mühfam nad) Atem. „Es ifl vorüber!” feuchte fie, und ich widerfpradh ihr nicht. Doc, fragte ich nach den Wünfchen, die fie für die Zufunft ihrer Tochter mir etwa noch zu offenbaren habe.

„Wünfche?“ ypreßte fie hervor, von eifigen Schauern

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gefchüttelt, ein unbefchreibbares Lächeln auf den bläus lichen Lippen. „Wünfche? - Sie ift glüdlicdy gewefen - fiebzehn Jahre lang - fie it arm nicht ſchoͤn eine große Leidenſchaft und dann den Nonnenfcleier!”

Bei dem legten, ftarf betonten Worte ftürzte Liska von neuem in das Zimmer. Gie fah die Verheerung der Kranfenzüge und warf ſich mit einem gellenden Schrei über das Bett. Der Doktor und Herrmann waren ihr gefolgt. Die fterbende Frau bemerfte die Geftalt dee jungen Mannes unter der Tür. Mit auffladerndem Les ben winfte fie ihn haftig zu fich heran. Ihrem legten Worte zum Trog ſchien eine Hoffnung anderer Art fie zu durchzucken.

Herrmann trat an dad Bett und ergriff die ſchon er- faltete Hand. Die andere wühlte in den Locken ihres Kinded. Mit weitgeöffneten Augen ftarrte fie in die ruhigen Felöfchen Züge. Sie fchüttelte den Kopf; die jähe Hoffnung war verſchwommen.

„Armes Kind! -" röchelte fie, „armes Kind den Non⸗ nenfchleier!“

Und dieſes Freudenleben war ausgehaudht.

* * ꝛᷣ⸗

Liska lag, ohne unſerer zu achten, uͤber der toten Ge⸗ ſtalt. Sie kuͤßte die falten Lippen, ald ob ihr jugend⸗ heißer Atem das erftarrte Leben erweden könne. „Hoͤrſt du mich, Maman? Sprid, Maman!” fchrie fie und ftierte mit wildem Blick in das weiße Gefiht. „Du bift nicht tot, du wirft leben, du mußt leben! Du mußt bei mir bleiben, Maman!“ Sie klammerte ſich immer fefter an die Leiche.

Vierter Ahfchnitt 201

„Austoben laſſen!“ fagte fi entfernend der Doktor zu mir. „Die Limonade, die ich ihr drüben eingerührt habe, wird ftarf genug wirfen, der neuen Vetterſchaft die noͤ⸗

tige Gedanfenruhe zu verfchaffen.”

Auch ich ging, die gefchäftlichen Abmachungen zu erle: digen und meine Schweſter zur Nachtwache herbeizuhos len. Herrmann fegte ſich ſchweigend and Fenfter und blickte hinuber auf die tote und auf die lebende Geftalt.

Als ich nad) ein paar Stunden mit Ehriftophinen zus rüdfehrte, fand ich beide noch auf Dem nämlichen Plage: den ftummen Wächter mit verfchränften Armen in der Fenfternifche, die Waife mit ausgebreiteten quer über dem Totenbett. Aber ftil war fie geworden. Die Li⸗ monade und die Tränen hatten ihre Schuldigfeit getan. Das arme Kind fchlief, fchlief, ohne zu erwachen, als ed Herrmann auf feinen Armen in dad Nebenzimmer trug, wo meine Schwefter die Obhut übernahm.

Herrmann fuhr unverzüglich nach Arnheim zurüd, um feine Mutter von dem Erlebten in Kenntnis zu fegen. Ihrer Zuftimmung zu unferen VBefprechungen war er fo gewiß, als hätte er in ihrem Auftrage gehandelt.

Der Abend war auf diefe Weife herangebrochen. Meine braven Gefchwifter übernahmen die legten Dienfte, die ein armes Menſchenkind hienieden beanfprudht, Dienfte peinvollfter Art in dem gegenwärtigen Falle. Denn gibt ed etwas, das die Majeftät ded Todes fo entwürbdigte, ald den Widermwillen, den ein Leichnam in einem Gaſt⸗ hofe erregt? Der Wirt drang auf die rafchelte Ents ledigung des abfchredenden Gaſtes; eine Leichenhalle eriftierte im Städtchen nicht. Was blieb übrig, als die Beerdigung fchon für morgen abend anzuordnen! Ein

202 Frau Erdmuthens Swillingsfähne

Sarg von fchwarzladiertem Tannenholz wurde zum Gluͤck vorrätig gefunden. Der Amtsphyſikus fonnte ohne Sfrus pel die Befcheinigung ausftellen, daß dieſes Leben big auf die Neige verbraucht worden fei, Freund Bär fchlug zum Überfluß eine Ader. Herrmanns Wunſche, den Leich⸗ nam zur legten Ruhe nach Arnheim zu überfiedeln, widers fegte er fi) aber. „Um Eurer Seelenruhe willen feine weitere Szene,“ fagte er. „Wenn die Kleine Here wirt ich fo ein Stüdchen Tochter von unferer Frau Mutter werden fol, muß fie fi) Madame Maman fo bald ale möglicdy aus dem Sinne fchlagen.“

Sch fonnte nur beipflichten. Hatte das fterbende Welt: find doch felber gefagt: „Sie fol mid, vergeffen lernen.” Ein Grabhügel ift ein ewiges Erinnerungszeichen.

Ein guted Teil Mühe hatte meine Chriftophine. Nach⸗ dem fie die noch immer betäubte Waife entfleidet und zu Bett gebradht hatte, Tieß fie mich ald Wächter bei derfelben zurüd und ging, im Totenzimmer Ordnung zu fchaffen. Als richtige Pfarrerdfrau wußte fie an diefen traurigften Erdenftätten Beſcheid. Zunaͤchſt wurde die Leiche gewafchen und angezogen; wobei man feine liebe Not hatte, unter all den Kinferligchen dag Material zu einem reputierlichen Sterbehemde zufammenzuftoppeln. Dann ginge an die Verwandlung der Kranfenftube in eine reinliche Totenfammer, nad) welcher Prozedur meine Chriftel erflärte, eines Seifenbades bedürftig zu fein. Zulegt wurden nod Koffer und Schachteln eingepadt, welche mit dem Fräulein am Morgen nad) Arnheim übers fiedeln follten, und hat fich die deutiche Pfarrfrau ihr kebtag nicht darüber zufrieden gegeben, daß gewiſſe frangöfifche Damen mit Ballfächern und fünftlichen Blu⸗

Vierter Abfchnitt 208

men anftatt mit Xederftiefeln und wollnen Unterröcen ihren Herrn Angehörigen in die ruffifhe Kampagne nachgezogen find.

Der Tag war weit vorgefchritten, ald die arme Feine Schläferin erwadıte. Etliche Minuten währte noch die helldunfle Befangenheit; der legte fürchterliche Eindrud ſchien mit einem lieblichen Traumbilde zu ringen, denn ein Lächeln umfpielte die geöffneten Tippen. Sept aber fiel ihr Blick auf mid, und die jammervolle Wirklichkeit ftand Elar vor ihrer Seele. Mit dem herzzerreißenden Rufe: „Maman!” fprang fie aus dem Bette und in nad» ten Füßen mit aufgelöftem Saar hinüber in das Sterbes zimmer; faum daß ich Zeit hatte, ihr die Reifeenveloppe über das leichte, fpigenberänderte Nachtkleid zu werfen.

Und da ftand fie nun vor der toten Geſtalt, die fie „Maman”, das heißt, alled was fie bie dahin lieb ges habt, genannt hatte! Die erfien Stunden, zwifchen dem Entatmen und Erftarren, die Stunden, welche dem Antlig häufig einen fo tröftlichen Ausdruck der Seligfeit übers hauchen, waren vorüber; der Tag heiß und ſchwuͤl; Spuren der Auflöfung zeigten fich bereits; mir felbft wurde es ſchwer, unter diefer Verzerrung und Berfärs bung die von heftifchem Rot gehobenen, im Todesfampfe noch fehönen Züge der fremden Frau wiederzuerfennen.

Die unglüdliche Tochter aber, die wohl nie einen Leich- nam gefehen hatte, ftand vor Entfegen felber Teichen- weiß und ftarr, wie in den Boden gewurzelt. Dann aber fchauderte fie zufammen, ſchwankte und fanf in die Arme Frau Erdmutheng, die mit ihrem Sohne angelangt und unbemerft eingetreten war.

Hätte das verlaffene Kind den Ieifeften Sinn für feine

204 Fran Erdmuthens Iwillingsföhne

Umgebung behalten, die Erfcheinung der fremden Frau, die ihm am Sarge der Mutter die Arme entgegenbreitete, müßte ed wie Himmelstroͤſtung ergriffen haben. Frau Erdmuthe war weiß gefleidet, wie immer, feitdem fie die Witwentrauer abgelegt hatte; ein leichter Schleier ums rahmte das Gefichtz fie hielt einen Rofenfranz in ihrer Sand, und warme Tränen riefelten über ihre Wangen. Sch fah es ihr an, daß fie, wie ihr Sohn, eine ÄAhnlich⸗ keit zwiſchen der Waiſe und ihrem Raul erkannte; ja, ſie hat mir ſpaͤterhin geſtanden, daß ſie in dieſer ſelt⸗ ſamen Fuͤgung ein Band geahnt habe, welches die Gegen⸗ ſaͤtze der Bruͤder ausgleichend vermitteln werde. Selt⸗ ſam jedoch, waͤhrend ich ſo frohe Hoffnung in den Mut⸗ teraugen las, ſchwirrten mir baͤnglich vor den Ohren die Worte, mit welchen Raul von der Heimat geſchieden war: „Welche Macht koͤnnte ſich zwiſchen Herzen draͤngen, die die Mutterliebe eint?“

Von dieſem liebreichen Entgegenkommen ſpuͤrte die Waiſe nun aber nichts. Die Frauen zogen ſie in das Nebenzimmer, belebten ſie mit den uͤblichen Mitteln, kleideten ſie an, noͤtigten ihr ſogar ein leichtes Fruͤhſtuͤck ein. Sie ließ alles mit ſich geſchehen wie ein hilfloſes Kind; ſie ſprach nicht, ſie weinte nicht, ihre Seele ſchien vor dem grauſigen Totenbilde erſtarrt. Als ſie auf dem Wege nach dem Wagen am Sterbezimmer voruͤber kam, riß ſie ſich von Frau Erdmuthens Arme los, oͤffnete die Tuͤr, ſtand einen Augenblick ſchwankend auf der Schwelle, ſchauderte dann aber entſetzt wie vorhin zuſammen und ließ ſich ohne Widerſtand weiterfuͤhren.

Ich begleitete die Damen. Herrmann verweilte in der Stadt, bis am Abend der letzte Akt voruͤber war. Er

Vierter Abfchnitt 205

Leben ſo viel umgebenen Frau; der Roſenkranz der un⸗ bekannten Namensverwandtin lag als einziger Schmuck auf ihrem Sarge.

Noch in der Nacht ſetzte Herrmann ſeine Geſchaͤftsreiſe fort; daß ſie zugleich eine Brautfahrt hatte werden ſollen, daran dachte von uns keiner wieder, und er ſelbſt gewiß am wenigſten.

Still und ernſt wurde waͤhrenddeſſen die fremde Waiſe der neuen Heimat entgegengefuͤhrt. Keines ſprach ein Wort. Der ſchwere Wagen ſchleifte langſam im fuß⸗ hohen Sande; die Sonne brannte ſengend zwiſchen den kahlen Kiefernſtaͤmmen auf uns herab. Mich verdroß es ſchier, nicht ein lockenderes Landſchaftsbild vor den Augen des unheimiſchen Kindes ſich entrollen zu ſehen. Doch ſchien ſie ſelber keinen Eindruck von unſerer Heide⸗ oͤde zu empfangen. Sie blickte ſtarr und ſtumm vor ſich hin; nur der ſtarke Kiengeruch, der uns anderen eine Wuͤrze deuchte, beruͤhrte ſie widerlich; beim erſten Strom, den ein Lufthauch in den Wagen trieb, ſchauerte ſie zu⸗ ſammen, winkte unruhig mit der Hand, bis ich das Fenſter niedergelaſſen hatte, und ſooft ich es wieder hob, er⸗ neuerte ſich das Unbehagen. So in ber gluͤhenden Mits tagsfchmwüle, mit beflemmtem Atem eingefchloffen im engen Gehäus, dünfte die zmweimeilige Keidefahrt mir eine Ewigfeit.

Die Stimmung unferes Gaftes hob ſich indeflen, fobald wir auf dem Gute anlangten. Der wohnliche Eindrud des Hauſes, die Kühle der großen, blumenduftenden Zimmer, die einfache Fülle der Einrichtung und Bedie⸗ nung wedten ein heimatliched Behagen, wie die Tochter

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der beiden Emigranten ed noch niemals empfunden haben mochte, dahingegen bie Erinnerung an dad glänzend Überflüfft ige in ihrer früheren Umgebung durch die der troftlofen Reifemonate getilgt worden war.

Sie ſprach auch jegt noch nicht, allein die jähe Wand⸗ fung ihres Zuftandesd malte ſich in den ausdrucevollen Zügen wie ein angenchmer Traum. Sie mufterte lächelnd das freundliche Kabinett, dad Frau Erdmuthe neben ihrem eigenen Schlafzimmer für fie hatte einrichten laffen, und genoß mit lange Zeit ungeftilltem Appetit von den Früchten und Süßigfeiten, die ihr ald Imbiß gereicht wurden. Ein Glas füdlichen Weines, mit Waſſer ge⸗ miſcht, roͤtete die blaſſen Wangen.

Das Laͤuten hob an, das Sonnenuntergang verkuͤndete; es war die fuͤr die Beſtattung der Fremden feſtgeſetzte Stunde. Frau Erdmuthe trat an das offene Fenſter mit gefalteten Haͤnden. Auch die Waiſe horchte auf. Ob ſie es ahnte, daß eine Mutter ſich ihr an Stelle der ver⸗ lorenen in ſtillem Gebet verlobte? Oder war es nur der Glockenklang, der fie an die ernſte Handlung mahnte? Eine Erinnerung, vielleidt im Kalbfchlummer aufges fangen? Sie brad, in einen Tränenftrom aus, und als der legte Laut verhallt war, ftürzte fie zu den Füßen ihrer Wohltäterin nieder, umflammerte ihre Knie, bes deckte ihre Hände mit heißen Küffen und Tropfen.

Frau Erdmuthe z0g fie neben fi auf den Sofaplatz, hielt fie mit ihren Armen umſchlungen und ftreichelte ind das Köpfchen, dad an ihrem Kerzen ruhte. Da taute allmählich denn auch die Sprache auf, die diefem Kinde fo lieblich eignende Sprache, welche leicht franzoͤ⸗ fifche Form mit fonorem italienifchen Wohllaut verband.

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Fe mehr und mehr plauderte die Kleine im warmen, phans tafievollen Ausdrud die Erinnerungen ihres jungen Les bens aus. Auch fie, wie die Mutter, fchwelgte in einem Himmel von eitel Seligkeiten. Wieviel weniger trüges rifch aber, ald daS der Abendfonne, erfcheint das Licht, dad der Zauberer Morgen über die Welt unter unferem Horizonte ergießt. Die leidvollen jüngften Monate waren dem Gedächtnis entſchwunden bis auf die legte graufige Todesfzene; und den Sammer über dad Sceiden der angebeteten Maman verflärte eine ſchwaͤrmeriſche Dank, barkeit gegen die Schugheilige, weldye die Himmelsmut⸗ ter dem verlaffenen Kinde gefendet habe. Unaufgefors dert nannte fie Frau Erdmuthen ihre Wutter, ihre Seelenmutter. „Mere de mon äme!“ rief fie aus, „mein ganzes Leben foll ein Gottesdienft für deine Liebe fein.“

Die großen Augen leuchteten während diefed Geplaus ders, die Lippen färbten fi) purpurn, auf und ab wos gende Blutwellen gaben den bernfteingelben Wangen den wirfungsvollen Ton ded Suͤdens.

Die Mutter mußte endlicd, der fieberhaften Steigerung Einhalt tun und an die Ruheftunde mahnen. Sie führte fie in ihr Kabinett, entfleidete, bettete fie wie ein Kind und faß, die Hand auf der fehmalen, glühenden Stirn, bis die Lider ſich fanft gefchloffen hatten.

Am andern Morgen war Frau Erbmuthe bereits ftuns denlang in ihrem Haushalte befchäftigt, ald ihr Pfleg⸗ ling aus füßem Schlummer erwadıte. Fräulein Liska fchlürfte ihre Schofofade und überlich fi mit Tange entwöhntem Behagen der Bedienung einer Kammerfrau; dann aber flatterte fie wie ein Schmetterling der Mutter nach; umgaufelte fie mit kindlichen Zärtlichfeiten auf

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Schritt und Tritt, treppauf, treppab vom Boden bie zum Keller. Alled war ihr neu, alles intereflant, alle® wollte fie lernen. „Ich will dir den ganzen Tag hel⸗ fen, du fleißige Mutter“, fagte fie, und Frau Erbmuthe lächelte.

Erſt ald die Hausfrau die große Leuteftube betrat, um wie alle Tage der Hauptmahlzeit der Diener und Arbeiter bed Hofes vorzuftehen, prallte fie fcheu zurüd. Sie floh in den Garten, erfchien auch nidyt am Familientifche, der präzis um Mittag angerichtet ward und an weldyem Berwalter, Audgeberin, Förfter, kurz alles teilnahm, was, ohne Gefinde zu heißen, zum Gute gehörte und feinen eigenen Haushalt bildete. Auch jeder auswärtige Bes fucher und regelmäßig zwei von den Knechten unferer lieben Frau, Judex und Magifter, feitdem des leßteren gute Mutter ihm den Tifch nicht mehr richtete. Der dritte Mitknecht, wir wiflen es fchon, fam nur ad libitum. Das einzige, aber ftoffreiche Gericht wurde auf altges wohntem Zinngefchirr aufgetragen und verzehrt. Ges fprochen wurde wenig, gegeflen viel. Es war nidht ein Mahl, das man hielt, weit eher ein wichtiger, gefchäfts licher Akt.

Die Mutter dachte weder heute noch fpäter daran, ihr neued Töchterchen zur Teilnahme an demfelben zu nötis gen. Sie ließ fie fchweifen, fidy nach Neigung befchäfs tigen, Siefta halten und ſich an leichten Näfchereien bes friedigen, bi8 die Abendtafel fubftantiellerer Natur ald der damals nody wenig eingeführte Teetifch den engeren Kreis der Angehörigen, mit gelegentlichen Gäften untermifcht, zu gefelliger Erholung vereinigte. Man weilte dann nod) ein Stündchen beieinander, je nadı der

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Jahreszeit im Familienzimmer oder unter den Kaftanien vor dem Portal, trennte fid) aber bei guter Zeit, um bei guter Zeit wieder rege zu fein.

Am heutigen Tage aber und an den folgenden ver: längerte ſich unwillfürlich unfer abendliches Beieinander. Die Kleine blickte und plauderte fo verlodend; ihre Lebensgeifter hoben ſich mit dem Abendfchatten; unter taufend Liebfofungen wußte fie ihre Engelömutter und ihren bon petit cur& feftzuhalten; fooft man an bie Hausordnung erinnerte, war es ihr immer viel, ach viel zu früh, und als endlich doch der Ruͤckzug angetreten ward, gefchah ed mit dem Vorſatz, noch die ganze Nacht hindurch ihrem lieben fernen Papa von ihrem großen Unglüd und ihrem großen, großen Gluͤcke zu erzählen.

Die naͤchſten Tage glichen diefem erften. Unter dem neuen Behagen fchienen die leidvollen Erinnerungen wie mit dem Schwamme ausgelöfcht. Der Borfchrift des Bergeffenfollend ungeachtet, brachte ich es nicht über dad Herz, ein Mutterleben fo ohne Spur verfchwinden zu fehen; ich mahnte zu einem Befuche des einfamen Grabe. Liska fluste einen Augenblid, fie geftand, noch nie einen Begräbnisplag gefehen zu haben, außer dem ihrer Nonnen am Pofilipp, der aber nur ein fchöner Garten gewefen fei. Dann aber wurde fie plöglich Feuer und Flamme. E3 fonnte nicht rafch genug angefpannt werden, und da Frau Erdmuthe zur Stunde im Haufe nicht abkoͤmmlich war, defretierte fie ohne weiteres die Begleitung ihres guten, Kleinen Pfarr’d. Die fchönften Blüten im Garten und Treibhaus wurden mit vollen Händen zufammengerafft. Wir festen und in en manns Heidekutfchchen und fuhren ab.

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Ald wir über den Ulmengang hinaus den Forft erreichs ten, erneuerte fich der nervoͤſe Widermwille gegen den Kiefernduft, den Liska fchon bei der ‚Herreife gezeigt hatte. Sie nannte ihn Leichendunft und glaubte allen Ernftes, fo weit fie ihn fpürte, fich auf einem Totenfelde zu befinden, weil der naͤmliche Dunft ihr beim legten Abfchied von Maman die Befinnung geraubt habe. Wie ich ihre nun aber erflärte, daß Särge aus Nadelholz ger zimmert werden und daß Nadelhölzer diefen Duft auds ftrömen, der mir, wie fein anderer, eine herzftärfende Würze fcheine, da rief fie entrüftet: „OD, diefer barbarifche Geſchmack! Den Sinn der Phantafie nannte Maman den Geruch, und Sie fchredlicher, deutfher Mann! fchlürfen mit Entzäden, was Ihnen die Schauer bes Grabes in Erinnerung bringt.”

Indeſſen hatte meine technologifche Aufflärung doch ges wirft; Fräulein Liska konnte den Heidebrodem vertragen, nachdem fie wußte, daß ed Fein Keichenfeld war, dem er entdunftete; fie fing fogar an, ſich für den gefürchteten cimetitre zu intereffieren, feitdem ich ihr den Sinn uns ferer deutfchen Benennung zu verbolmetfchen fuchte. „Cour de la paix, champ du bon Dieu, das ift ſchoͤn!“ fagte fie. „Ihr adelt das Sterben, ihr Deutfchen. Champ du bon Dieuf" Sie verfucdhte die Namen im Deutfchen nadızus fprechen, und das Wort „Gottedader” ift faft das eins jige geblieben, deffen Laut ihr geläufig wurde.

Der friedlicdye Anbli des Grabes verfcheuchte die lets ten bänglichen Apprehenfionen. Auf Herrmanns Ans ordnung war ed mit Raſen belegt und mit blühenden Monatörofen bepflanzt worden. Es war die Jahreszeit, in welcher ed auch auf dem Armften Hügel blüht; ringe

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um buftete ed wie in einem Garten. Das Feine Gehege glich einer Dafe in der Steppe, durch welche der Weg und geführt hatte.

Die Augen der Waife füllten fi mit Tränen. „Der Leib unter Nofen, die Seele bei Gott!“ fläfterte fie, ftreute ihren Blumenkorb über dem Hügel aus, kniete nieder und betete ihren Roſenkranz. Ald wir zum Was gen zurüdfehrten, gab fie mir den Auftrag, ein Monus ment für ihre füße Maman zu beftellen, reich und kunſt⸗ voll wie für eine Prinzeffin. Sie befchrieb mir das Vor⸗ bild, deffen fie fid) aus einer fpanifchen Kirche erinnerte. Ich war gutmätig genug, fie nicht zu fragen, auf weffen Boͤrſe ich den Künftler anweiſen follte; wußte ja auch, daß der Einfall verfliegen werde, rafch, wie er angeflogen.

Während der Rücdfahrt bemühte ich mich, die angereg- ten ernften Borftellungen in dem beweglichen Sinne feft- zuhalten; freilich aber war die Xehre von dem Kampfe des Lebens und dem Siege im Tote eine herbe Pille für dag freudedurftige Herz. Sie nannte mid) einen graus famen Freund und blieb während des ganzen Weges wie ein eingefchüchterted Kind. Die großen, ftrahlen- wechfelnden Augen fchweiften zwifchen den büfteren Kie- ferwipfeln und der duͤrren Nadelfchicht am Boden auf und nieder. „Traurig, todestraurigl” murmelte fie.

Als wir aber zu Haufe anlangten, war Eoufin Erman von feiner Meßreife heimgefehrt, und ein Kichterglanz breitete fich über das Fleine, betrübte Geſicht. Sie ber grüßte ihn wie eine Schwefter den Bruder, reichte ihm Hand und Wange zum Kuß, hängte fich plaudernd an feinen Arm und verlocte ihn zu Fleinen Medereien, die fonft wenig in feinem Weſen lagen.

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Andern Tages wurde das Trauerzeug ausgepadt, das ber galante Eoufin - auch gegen feine fonftige Art - dem Bäschen aus KleinsParid mitgebracht hatte. Und nun ginge, haft du nicht gefehen! Wer nur im Haufe eine Nadel zu rühren vermochte, durfte nicht aufblicken, bis nad; Mademoifelled Angabe ein paar Anzüge zu⸗ Rande gebracht waren, die nach beutfcher Anfchauung fid, allerdings mehr fpanifch als trauermäßig ausnahmen, dafür aber die kleine Suͤdlaͤnderin um fo reizender Mei- deten.

In dieſer anmutigen Weiſe vergingen etliche Wochen, wenig an die Truͤbſal erinnernd, welche die fremde Waiſe in unſere Mitte gefuͤhrt hatte. Sie zeigte ſich, als waͤre ſie zu Hauſe; nahm Dienſt und Hilfe an, wenn auch nicht als ein Recht, fo doch als natürliche Gabe; für Wohltaͤter wie die ihren die anfprechendfte Art, Wohl- taten anzunehmen. Sie war froh und machte froh. Die häusliche Ordnung wurde durd; ihre Gegenwart nicht unterbrochen, aber fie wurde durch diefelbe belebt und gleichfam übergoldet. Ein jeder fühlte den Zauber, den diefe impulfive Natur um fich verbreitete.

„Mir ift, ald wäre ein Sonnenftrahl in unfer Haus ge- brungen,“ fagte Frau Erdmuthe, „ein u aus dem blauen Simmel meines Raul.“

Ihr Sohn fagte mit Worten nichts; aber ber rafchere Taktſchlag feines Weſens ſprach beredt genug für die, welche gewohnt waren, in feiner Seele zu Iefen. Bär brummte unverhohlen über fpanifche Eotterwirtfchaft, und der Sünger der reinen Vernunft fürchtete allen Ernftes, daß Fräulein Iduna mit ihrer perfönlich gefannten Mohrenfönigin den Teufel an die Wand gemalt habe.

Vierter Abſchnitt 213

In Sn Wahrheit: hätte ed auf Erben eine geben fönnen, die weniger ald diefes Mädchen feiner Mutter glich? Noch wagte ich den Folgeſatz nicht auszudenfen, aber bangevoll fragte auch ich mid; im ftillen, wie Tange dies fes kindliche Getändel in dem Haufe firenger Pflichters füllung währen könne?

Fünfter Abſchnitt Was fern, muß fih errcichen.

[8 ich Ende Juli von einer PVifitationgreife zurück- fehrte, merkte ic) Die Spuren der Ernuͤchterung, welche ich vorausgefehen hatte, zwar nicht an Mutter und Sohn, aber an der Tochter, die mir wie ein flügellahmes Bögelchen entgegenſchlich. Ein bläulicher Schatten ums zirfelte die Augen, die Lider waren müde auf die bleichen Wangen gefenft. „Sind Sie krank, Liska?“ fragte id}.

Sie fchüttelte langſam den Kopf.

„Nun, was fehlt Ihnen danı?“

„Nichts mehr,“ verfegte fie Tächelnd und meine Baden ftreichelnd; „mein gutes Vaͤterchen ift ja wieder ba.“

„Dante fchön, Heine Schmeichelfage. Aber ernfthaft, was fehlt Ihnen, Kind?“

„Maman!“ feufzte fie.

Dagegen war nun freilich nichts einzuwenden. Die Trauer, die im leidenfchaftlichen Triebe jach abgebrochen worden war, mußte ja wohl nachwachſen. Aber ed war nicht diefe natürliche Empfindung allein, und id) fpürte gar wohl, was ed war.

Die Ernte hatte begonnen, die ödefte Zeit in unferem Heideboden. Sn der durdhhitten Sandfchicht verdorrt der frifche Frühlingsfaft rafch, Buſch und Wiefe ent» färben fich, die Felder deden kahle Stoppelhalme, felber das Kraut ber Kartoffeln ftirbt ab; alles verftäubt, alles verläuft grau in grau. Im Garten welfen die Blumen fo früh, als fie aufgeblüht; die Sommerfrächte, die er erzeugt, Kirſchen und Beeren find vorüber; die Vögel find verftummt, bie Bäche ausgetrocnet, Fein Waffers

Fünfter Abſchnitt 215

Tüftchen kühlt den glühenden Sonnenbrand. Die Men: ſchen aber fchleichen abgefpannt vom mühfeligen Tages werf; es gibt frühere Arbeitds und darum frühere Ruhes ftunden; die gleichbefchäftigten Nachbarn bleiben aus, die mäßigen find auf Reiſen; die gefellige Plauderei hört auf. Die arme Liska war den ganzen Tag allein, fie fehnte fich nach Zerftreuung und Wechfel, und weil fie zu Frau Lodoiskas Zeiten nach beiden ſich niemals gefehnt hatte, nannte fie das, was ihr fehlte: „Maman!“

„Sehen Sie Ihre Freunde an, Liska,“ mahnte ich, „bie Mutter und Herrmann —“

„D bie großen, großen Leute,” unterbrady fie mich, in» bem fie den Mund zu einem Scippchen zufammenzog. „Wer kann ohne Unterlaß in die Höhe blicken?“

„Bemühen Sie fich, an ihrer Tätigfeit teilzunehmen, und Sie werden zu gleicher Höhe mit ihnen heranwachſen.“

Wiederum fehüttelte fie mit einem Seufzer den Kopf und zeigte dann lädhelnd auf die gepflegten Hände, an denen fie mit einem Mefferchen pugte.

Doch verfprad, fie Gehorfam und ftellte ſich zunaͤchſt am. anderen Mittag, nad) kaum vollendeter Toilette und noch fatt von ihrer Schofolade, an der gemeinfamen Tafel ein.

Aber ſchon während ich das Tifchgebet ſprach, gähnte fie; fie rungelte die Stirn, ald Freund Hecht die Suppe ſchluͤrfte, und ald er fpäter gar einmal das Meffer zwifchen ben Lippen hindurchzog, wurde fie blaß. Sie wendete die Augen von den fchwieligen Händen unferer Vers walter, der bloße Anblid des ſchwarzen Broted erregte ihr Efel; daß fie Rippefpeer und Puffbohnen ungefoftet ließ, braucht nicht verfichert zu werden.

216 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne

„Unfere Tiere äßen nicht, was euch Deutfchen fchmedt,“ fagte fie mir nad) Tiſch. Den braven Judex nannte fie Monfieur Averfion und den Doktor Monſieur Antipathie, obgleich der Doftor nicht bloß bei Tiſche ein Gentle- man und, glaubt cd nur, es nicht erft auf Nelfond Ad⸗ miralöfchiffe geworden war. Fräulein Liska Eonnte es ihm nicht vergeffen, daß er ihr den eriten Schmerz im Leben angefündigt hatte. Im übrigen war die Anti- pathie gegenfeitig.

Wie aber beim Genuß, fo beim Gefchäft. Sie folgte Frau Erdmuthen in Wildhfeller und Vorratöfammer, aber fie ftand fteif wie eine Puppe vor allem, was fie darin hantieren fah, und floh mit einem danfbaren Hand⸗ kuß, ald die Mutter fie freundlicd; ihres Freiwilligendien- fted entband. „Das Kind ift nicht gefchaffen, um zu nügen, aber um zu erfreuen,” fagte Frau Erdmuthe laͤchelnd. „Laffen wir es bei feiner Art, ed tut und genug, wenn es gluͤcklich ift.“

Fraͤulein Liska aber ſagte, als ſie mir den gelobten Dienſt auffündigte: „Zu was dieſe Dual? Die Mutter braucht mic) nicht, und ich werde nie ein deutſches Gut zu bewirtſchaften haben.“

„Warum nicht, Liska? Wenn Sie nun einen deutſchen Gutsbeſitzer heiraten?“

„Ich heirate aber keinen, oder halte mir Maͤgde, welche die Milch abſahnen und Schinken einpoͤkeln. Die Ein⸗ geweide wenden ſich mir um, wenn ichs nur ſehe und rieche.“

Sie haͤtte nun ein Stuͤck Zeug und die Inſtrumente aufnehmen koͤnnen, mit welcher Hilfe eine Deutſche, auch wenn ſie Dame iſt, viel Gram und Sorge verwin⸗

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den und in einer Einoͤde heimiſch werden kann. Aber fie hatte, wie überhaupt wenig, fo auch von Handar⸗ beiten nur gewiſſe Klofterftickereien gelernt, für weldye in ihrer Hiefigfeit Material und Zweck gebrachen. Sie hätte fich des Gartens und Gewaͤchſshauſes annehmen fönnen: aber fie liebte ed wohl, ſich mit Blumen zu fhmüden und von den Früchten zu nafchen, doch fie langſam und mühfam heranzupflegen, dazu fehlte ihr die Geduld.

Alles in allem, fie hatte weder Neigung noch Humor für unfere Natur und für unfere Menfchen mit ihrer Laft und Luft. So gingen wir denn ein jeder feinem Pflichtenfreife nad) und geftatteten der Fremden, eine Fremde darin zu bleiben. Man hätfchelte fie wie ein Kind, und juft die Kinderlaune war ed, welche über Mutter und Sohn einen fo mächtigen Zauber übte. Der alte Paͤdagog aber fühlte wohl, daß eine ftrenge, gefegmäßige Zucht vonnöten fein würde, wenn man im Ernfte daran dachte, das unheimifche Neid in unferem Gehege Wurzel fchlagen zu Iaffen. Wußte er aber nicht auch, wie felten folche Zucht Direkt von Menfchen und obendrein von fremden Menfchen geübt werden kann? Nur der mähliche Fluß der Zeit und ihrer Niederfchläge wandelt unfere Eigenart um. „Und gar oft zu einem Zerrbilde um”, feßte Albrecht Bär hinzu.

Im übrigen bemerften wohl auch Mutter und Sohn bie Umftimmung ihres Schüglingd, nur daß fie in Gram und Sorge die hinlängliche Erklärung dafür fanden. Liska hatte ihrem Vater mehr als einmal gefchrieben und Herrmann die Briefe durd, die dringendften Emp⸗ fehlungen des Öouvernemente zu fichern geſucht, auch

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218 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne

Frau Erdmuthe ſich nicht nur an ihren Sohn Raul, ſondern direkt an General Thielemann gewendet, um Auskunft uͤber den Kapitaͤn von Saint Roc zu erhalten. Wie nun aber Woche um Woche ohne Erwiderung ver⸗ lief, da beſchwichtigte die Kleine ihre Ungeduld, indem ſie die Briefe ſtudierte, welche Raul ſeit dem Eintreffen in Kaliſch geſchrieben hatte, und wie ſie den Zuſtand ihres lieben Papas aus dem des fremden Vetters ab- leitete, identifizierte fie fich in Gedanfen mit dem Wanne, ald deffen Ebenbild fie die Herzen einer fremden Familie in Sturm genommen hatte. Sprad; er doch nidyt nur mit ihren eigenen Lauten, fondern auch mit dem Aus⸗ druck ihres eigenften Gemuͤts. Stolz, Hoffnung, Lebens⸗ freude quollen aus feiner Bruft in die ihre. In den erften Briefen, bis zum Eintreffen des Kaiſers in Wilna, brannte er vor Ungeduld nad) der Eröffnung bes Feld- zugd, der Europa von ber Bedrohung afiatifcher Bar⸗ baren befreien ſollte. Das Seelenbäschen glühte nach⸗ träglidy mit. Er fchalt die Polen, weil fie nicht mit der erwarteten Begeifterung ſich dem größten zivilifatorifchen Unternehmen der Gefchichte in die Arme warfen und an die Herſtellung ihres armfeligen Vaterlandes mehr ald an den weltgebietenden Ruhm Frankreichs und feis ned Kaiſers dachten. Mademoifelle Liska ftimmte in dies fed Schelten ein, obgleich die Geſcholtenen die Landes leute waren ihrer angebeteten Maman.

Während des Vormarfched der großen Mittelarmee ſchrieb Raul von Station zu Station in ungebrochener Siegeszuverſicht. Und das nicht etwa aus militärifcher Rücficht oder aus Schonung der Familienforge. Seine elaftifche Natur empfand eben wenig von den Strapazen,

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dem Sonnenbrand, dem Mangel, ber ungeheuren Er» mattung, welchen faft ein Dritteil der Armee fohon vor dem Kampfe erlag. Es ging ihm wie dem Jaͤger, ber in blinder Leidenfchaft ein flüchtiges Wild verfolgt und aus dem blutigen Rauſche erft erwacht, wenn er, vers ſchmachtend inmitten einer Wildnis, den zurädleitenden Pfad verloren hat.

Während der Ruhepaufe in Witebsk hatte er ben Brief der Mutter erhalten, der ihm den Eintritt der fremben Verwandtin in ihr Haus mitteilte. Er begrüßte fie mit den wärmften Worten, o, mit wieviel wärmeren als ben eigenen Zwillingöbruder. Über das Schickſal des Kapi- taͤns von Saint Roc verfpracdh er die umfaffendften Er: fundigungen einzuziehen.

Doc, hatte er noch nicht einmal aber den Stand beffen Regiments etwas Zuverläffiges erfahren können, ald er am 20. Auguft unmittelbar nad) den Gefechten um Smo- lensk zum legten Male fchrieb. Seine Seele ging höher denn je. Er nahm die Erfolge der Seinigen und ben fortgefegten Ruͤckzug der Gegner für bad, was der letztere zu jener Zeit wohl auch wirklich noch war, für die Tat der Notwendigkeit, nicht eined Syftems; er phantafierte von dem nahen Siegeds und Friedendfefte in der Ka- pitale des Zarenreichee.

Liskas Wangen glühten nad, biefer jubelvollen Kund⸗ gebung unſeres Monſieur Bulletin. Die Zweifel über ihren Papa fchlug fie ſich aus dem Sinn; fie war ges wohnt, ihn in Kriegsgefahr zu wiffen, und vorahnende Sorge lag nicht in ihrem Naturell. Mädhtige Hoffnungen waren in ihr angefacht; Hoffnungen nicht bloß auf ben Stern des Kapitänd. Sie hoffte für ſich ſelbſt; unbe:

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ſtimmt, unbewußt vielleicht, wie einer hofft, der das Bruchteil eines Lofes in einer großen Lotterie befißt und unter taufend Nieten auf einen Treffer zahlt. Möglich, daß die reichen Sarmatenfchlöffer wieder erftanden, in welche Frau Lodoiskas Phantafie ſich geflüchtet hatte. Vielleicht rechnete fie auch auf eine baldige Ruͤckkehr nad Frankreich, furzum auf einen ihre Gegenwart ver- ändernden Wechfel; hier aber oder dort zog die Begeg- nung mit dem feelenverwandten Raul fid) wie ein roter Faden durch ihre Träume.

Die nämlichen Ereigniffe nun aber, welche unfer frän- fifcher Ruhmesritter als weltbezwingende Siege feierte, diefelben Rüdwärtöbewegungen der ruffifchen Armee belebten das Freiheitähoffen unferer deutfchen Patrioten, ja, fie wuchfen zur unerfchütterlichen Zuverficht, als Schritt für Schritt die anfängliche Notwendigkeit zu einem ftrategifchen Plane wurde, in dem man bie Seele bed großen beutfchen Agitatord zu erkennen glaubte. Das Gold ded Schweigend war von zweifachem Wert in jener Zeit; den aufmerfenden Freunden aber fpradı ein ftetiges Handeln beredt genug für den eines ficheren Zieled bewußten Willen.

Das fächftfche wie preußifche Gut wurden verprovian- tiert, ale hätte ein Prophet die fieben mageren Jahre nach ben fetten vorausgefündet; hier wie Dort waren längft fräftigende Leibesübungen eingeführt, unter Ber- gnuͤgungsvorwaͤnden Schießftände errichtet, aus England und Schweden eingefchmuggelte Büchfen verteilt worden. Schlug die Stunde, nad) welcher feit ſechs Sahren jede Fiber diefes anfcheinend fo ruhigen Herzens pulfierte, dann durfte der Junker vom Burghof ein wohlgefchultes

Fünfter Abfchnitt 221 Faͤhnlein dem neuen Kreuzzuge zufuͤhren, und die drei Neſt⸗ linge in weiland Safrandrell wuͤrden ihm als treue Schild⸗ knappen zur Seite ſtehen. Sie bildeten ſchon jetzt gleich⸗ ſam ſein Stabsquartier; gingen, kamen, redeten, ſchwiegen, handelten blindlings auf ſeinen Wink, bereit, Gut und Blut mit ihm und fuͤr ihn zu wagen. Durch die Hand dieſer unverfaͤnglichen Leute verbreiteten ſich weit uͤber unſere Heimat hinaus die erweckenden Schriften, die, zu⸗ meiſt von Arndt in Rußland ausgehend, heimlich in Deutſchland gedruckt und kolportiert wurden. Es war ein ſtumm gefchäftiged Weben und Walten um uns herum, deffen Sinn wir zu deuten wußten.

Rauls letzter Brief, der durch einen Kurier an den König ungewöhnlich rafch befördert worden war, er: reichte und am Vorabend des Geburtötages der Zwillings⸗ brüder, des fechften September, und erwähnte ich wohl ſchon, daß es Sitte geworden war, mit diefem Freuden: fefte das unferes Erntedanfed zu vereinen. Wenn nun in früherer Zeit diefe Feier ſich auf das Gut befchränfte, da ed in der Gemeinde blutwenig zu ernten gab, fo be> zeugten fi weiterhin Danf und Freude auch im Orte Hans für Haus, feitdem durch Frau Erdmuthens men> fchenfreundliche Verwaltung und mehr noch durch ihres Sohnes meliorierende Neuerungen der Zuftand der Bür- gerfchaft fich fo viel gedeihlicher geftaltet hatte, Meben dem Ahrenkranz der Gutsarbeiter wurde auch der der Gemeinde in feſtlichem Aufzug in den Burghof gefahren; an den vollen Tafeln, die darin aufgeſchlagen waren, nahmen, außer Dienern und Feldarbeitern ſamt Kind und Kegel, von den Ortsangehoͤrigen Platz, wer Luſt und Appetit empfand; am Nachmittag ſammelten ſich in den

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befränzten Schloßräumen Freunde und Bekannte aus der weit ausgedehnten Nachbarfchaft, um das Doppel: feft miitzufeiern. Daß Fräulein Iduna zu diefem ihrem Herbfttermine niemals gefehlt hat, braudyt wohl nicht verfichert zu werden.

Das Triebwerk ded Tages rollt, gleichviel ob die Herzen in Entzüden oder in Angſten klopfen, und Frau Erd⸗ muthe war die letzte, redlichen Arbeitern eine wohlver⸗ diente Erholungsſtunde zu entziehen, weil ihre eigene Seele Leid trug. Sie wußte um die ſtuͤndliche Gefahr, die ihren Lieblingsſohn bedrohte, ſie ahnte das Unheil, dem er, wenn er noch lebte, ſorglos entgegentaumelte; ſie kannte auch die heimlichen Ruͤſtungen, mit welchen der Sohn, welcher ihr Freund war, der Sache ſeines Bruders entgegenzutreten trachtete; das Haar auf ihrem Haupte bleichte die Sorge, aber auf ihrem Herde lo⸗ derten maͤchtige Kiefernkloben, die Keſſel brodelten, in Kuͤche und Keller waltete jenes geſchaͤftige Treiben, das bei jedem Volke, und unſerem lieben deutſchen zumal, die Baſis alles Vergnuͤgens wie aller Gaſtfreundſchaft bildet und in Ewigkeit bilden wird.

Seit ihrer Verwitwung war es Frau Erdmuthens Lieblingsplan, an Stelle unſeres armſeligen Kirchleins ein dem Wohlſtande des Patronats entſprechendes Got⸗ teshaus aufzurichten. In einer traurigen Stunde hatte ſie ja ſchon einmal an die Kloſterruine gedacht, die ſich fuͤr dieſen Zweck ſo ausgeſprochen eignete. Die politiſche Unſicherheit und Herrmanns Kulturanlagen ließen den Plan jedoch in den Hintergrund treten. „Erſt unſer gutes Recht, dann die Friedenskirche“, ſagte ihr Sohn, und ſie neigte in ſchweigender Zuſtimmung das Haupt.

Fünfter Abſchnitt 223

Mir für mein Teil war der Auffchub eben recht. Ich liebte unfere Kirche fo, wie fie war; wie ich den alten keibroc liebte, den mir mein Vater vererbt hatte, In einem neuen Rock und in einem neuen Hauſe wuͤrde id mein Amt nicht mit fo viel Wohligfeit verwaltet haben. Mir begnügten und daher mit einer forgfältigen Säu: berung, und da man vorderhand nicht tun konnte, was den Sinn erhebt, tilgten wir mindeftend, was die Sinne beleidigt.

Der befcheidene Tempel hatte für die morgende Feier ein Feftgewand übergeftreift. Gruͤne Gewinde ringelten fih um die hölzernen Träger; der braune Ziegelboden war mit einem Teppich von Tannenreid und duftigem Kalmusrohr belegt, um das dunkle Kreuz über dem Altar ein voller Ährenfranz gefchlungen. Ich hatte mit meinem Jugendchor eine Motette vom alten, lieben Vater Badı probiert und ftand bei einbrechender Dämmerung unter dem Portal, deffen roh gezimmerted Gewaͤnde fich hinter einem Rahmen von Sonnenblumen verftedte. Mit Vers gnügen überblickte ich noch einmal ben wohlgelungenen Schmuck.

Da kam Liska von der Kloſterſeite her. Es war ihr Lieblingsweg. Das an Schoͤnheit gewoͤhnte Auge hatte in der waldumrahmten Ruine den einzigen romantiſchen Punkt der Gegend ausgefunden, und die kleine Kapelle, die noch die Kennzeichen des katholiſchen Kultus trug, weckte ihr heilige Erinnerungen. Der Jubel uͤber Rauls juͤngſten Brief war in eine elegiſche Stimmung umge⸗ ſchlagen. „Ihr bereitet Freudenfeſte, und ich ano eine Trauermeffe hören“, klagte fie.

Gie at mir IapR Be Mal bie Sehnſucht nach

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einem kirchlichen Opfer fuͤr die Seelenruhe ihrer Mutter ausgeſprochen. War dieſelbe doch ohne den Segen der Sakramente geſtorben und nicht in geweihter Erde be⸗ graben. Welchen beſſeren Troſt aber haͤtte ich ihr zu geben vermocht, als daß es Gottes Wille ſei, der ihr zur Zeit dieſe Entbehrung auferlege, und daß das Gebet eines liebenden Herzens die Kraft eines wundertaͤtigen Opfers in ſich trage. Heute wie fruͤherhin ſchuͤttelte ſie den Kopf und ſagte unwillig: „Was verſteht ihr da⸗ von?“

Eine beſſere Wirkung erzielte ich, indem ich die Lebens⸗ hoffnungen, welche der Brief unſeres Sanguinikers er⸗ regt hatte, von neuem in ihr anfachte. „Wie wuͤrde Ihr Vater, wie würde auch Ihr unbekannter Bruder, Liska, ſich freuen,“ fagte ich, „wenn fie bei der Heimkehr Sie den Freunden, die Ihnen fo liebreich die Hände bieten, innig verbunden fähen. Empfinden Sie mit ihnen den Segen ihrer Arbeit, für den wir Gott öffentlichen Dank zu fagen im Begriff find; ed ift eine Gnade, die auch Ihnen zugute kommt.“

Freundliche Bilder fchienen während diefer Worte in ihr aufzutauchen. „Sch will mit Ihnen Danf fagen,“ verfegte fie, indem fie einen heiteren Blick in das ges fhmüdte Bethaus warf. „Auf Wiederfehen morgen in Shrer Kathedrale, mon bon petit cur&!“ Laͤchelnd ſchwebte fie voran. Sie war mir nody nie fo liebenswuͤrdig vor- gefommen. Am Abend zuvor hatte Frau Erdmuthe zum erften Male den Wunfch einer Verbindung Liskas mit ihrem Sohne gegen mid) audgefprochen. Die Liebe vers blendete die fonft fo hellfichtige Frau; nicht nur die Mut—⸗ terliebe, fondern mehr noch die zu dem unvergeßlichen

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Gemahl, deffen Abbild fie in dem fremden Kinde erfannte. Daß ed nur ein Außerliched Abbild war, daß nadı Er⸗ ziehung, Religion, Sprache, Lebensweiſe und Heimats⸗ gefühl, ja felber der Sinnesart nach der Gatte ihr ein Gleicher gewefen war, dag wollte fie ald Einwand nicht gelten laffen. „Lieben fie fi nur, wie wir ung liebten, fo werden fie glüdlich fein, wie wir ed waren,” fagte fie. „Herrmann liebt fie, ich fühle ee, und follte fie fein

Herz zu diefem herrlichen Freunde faſſen können?” Ich hatte beflemmt gefchwiegen; nun aber, fo wenig ich auf eine Profelytin rechnete, fah ich in Liskas Zuges ſtaͤndnis eine Näherung, die mich weiteres hoffen lief. Ich folgte ihr nach dem Schlofle, fand fie im Wohns zimmer mit Herrmann allein und zögerte nicht, Die gute Botfchaft mit einem Trompetenftoße zu verfünden.

„Dank, Liska,“ fagte Herrmann bewegt, indem er ihre Sand an fein Herz drüdte. „Werden Sie die unfere je mehr und mehr, werden Sie ed ganz.“

Nun, das war deutlich. Und fie?

Da ftand ein Mann vor ihr, jung, untadelig an Geift und Geftalt, mit einem Blick der innigften Liebe in den treuen Augen und einer Fülle zeitlich guter Gaben, bie er zu ihren Füßen niederlegte. Ein Lächeln, ein Laut, ein leifer Gegendrud der Hand, und er war ber Ihre fürd Leben. Wenige oder feine von Fräulein Sdunas langem Regifter würde ſolchem ungweideutigen Werben gegenüber die Spröde gefpielt haben, felber die Günftigfts geftellte faum. Und diefe heimatslofe Waife, der welt: verlaffene Schügling feines Hauſes, fie riß fi) von ihm [08 und fagte lachend: „Dröles d’Allemands! kommen . Sie, Couſin, fragen wir die Mutter, ob auch fie ein XX.15

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Heldenopfer darin ficht, daß die Dumme Liska ein Stünds chen ftillfigen und geduldig mit anhören will, wovon fie feine Silbe verftcht.“

Damit z0g fie ihn aud dem Zimmer. Nehmt ed aber beileibe nicht für ein gefallfüchtiges Spiel, halb Ja und halb Nein, das fie in diefer Weife tried. Sie errötete nicht, ihre Augen glänzten nicht, fie feherzte im Ernſt; fie ahnte fein Begehren, weil ihm dad ihre nicht ent gegenfam, fie verftand nur dad, was fie empfand. Die fleine Franzöfin war manches, was fie nicht hätte fein follen, aber kofett, wie Franzoͤſinnen fein follen, war fie nicht. Sie liebte ed zu gefallen, aber nicht mit beredy- neter Keuchelei. AU meine Siegedhoffnung war in den Brunnen geftärzt, und eine bittere Aufgabe dafür heraufs gezogen. Den lieben Freunden mußte ihre Täufchung benommen werden und bald, ehe fie zum Schmerze ward.

Wie häufig in bemegter Stimmung feßte ich mid) ans Klavier; ich phantafierte eine Weile und fchlug dann unwillfürlich die Melodie unfered Bundeslieded an. Nach einer Weile fühlte ich Serrmannd Hand auf meiner Schulter, ich hatte ihn nicht wieder eintreten hören.

„Sie hatten recht, treuer Mentor, das ift Freundfchaft“, fagte er.

„Und wenn ich heute nun fagte, Herrmann, daß ich ale ein Tor Ihnen widerfpracdh; wenn es dennod) Liebe wäre, Liebe, wie fie und ziemt und frommt und allein ung dauernd beglüdt?“

„So würden wir fie beide erffärt haben, ich damals und Sie heute, wie der Blinde die Farbe erflärt, die er denkt, ftatt fieht“, fagte er, drücte mir die Hand und verließ das Zimmer.

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„Ad, er Tiebt fie, und fie liebt ihn nicht.“ Diefe alte Gefchichte, Gott verzeih ed mir, war ftatt des Evange⸗ lientextes der Inhalt meiner feftnächtlichen Betrachtung, und mein Herz hämmerte gegen die Bettdede, ald wenn id) felber der ungeliebte Liebhaber wäre. Für meinen Herrmann freilich fah ich in einer Abweifung nur einen glüdbringenden Schmerz; was aber wurde aus der hei- matlofen Waife, nachdem die Abweifung einmal ausges fprodyen war. Konnte Liska noch länger unter dem Dache ihrer Beſchuͤtzer mweilen? Fertig gebracht hätte ſie's allenfalls. Aber Mutter und Sohn? Ich fchlief endlich ein mit dem tröftlichen Verlaß auf die flämifche Felsſche Ader, die eine Entfcheidung hinausfchieben werde, bis irgendeine Ausflucht fich gefunden habe.

Am anderen Morgen faß Liska zwifchen Frau Erd⸗ muthen und Herrmann mir gegenüber in der gutsherr» lichen Empore, und zum zweiten Male fagte ih: „Gott verzeihe mir die Sünde,” ich fchielte zu ihr hinüber wie der Schüler zum Rektor, wenn er ein Examen zu be- ftehen hat. Schon während ded Morgenliedes fchnitt fie ein Geficht, al ob fie den biederen Judex die Suppe fchlürfen höre; auch die Fugenfäge meines Jugendchors fchienen ihr nichts weniger als ein Ohrenfchmaug zu fein. Dann fam die Liturgie mit obligatem Stirnrungeln und Händeballen. Nun dad Erntelied, Es hatte freilich dreizehn Verſe; als ich dem Küfter den Sirchenzettel dik⸗ tierte, fonnte ich da aber vorausfehen, daß wir eine Zu- hörerin haben wuͤrden, die immer bläffer und bläffer wurde und ſich fchüttelte wie jemand, der etwa Kork fchneiden oder ein Meffer auf dem Teller quietfchen hört? Sch betrat die Kanzel mit dem gottlofen Vorſatz, ed fo

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kurz zu machen, als meine langatmige Gemeinde es ir⸗ gend vertrug. Unter vier bis fuͤnf Geſichtspunkten, aus welchen wir den Text betrachteten, konnte ich es indeſſen durchaus nicht tun, ohne der Wichtigkeit des Tages zu nahe zu treten. Noch ſchmeichelte ich mir mit der Hoff⸗ nung, daß die Fremde in das rhythmiſche Heben und Senken der Haͤupter meiner frommen Kirchenmuͤtterchen einfallen werde. Aber ſie nickte nicht ein; im Gegenteil, ſie ſchnellte von ihrem Platze empor und ſtand, die Haͤnde an den Rand der Galerie geklammert, mit zuſammen⸗ gezogenen Brauen und zuckenden Mienen mir drohend Auge in Auge gegenüber von X bie 3. Nur als zum Schluß beim Gebet für die herrfchaftlichen Zwillings- föhne die Gemeinde aufftand und mit Anteil zur Mutter in die Höhe blickte, war ed der Name „Raul“, der aus dem bisherigen Chaldäifch ſich ihrem Ohr verftändlich abzuheben fchien. Ich fah fie die Hände falten und die Lippen bewegen. Nun fprad) id; den Segen und ent- floh, während der Schlußgefang verhallte, ohne gewohn- termaßen die Gutöfreunde zu begrüßen, durch die Sa⸗ Friftei in meinen Garten,

So war von den Häuptern meiner Lieben wenigſtens das Unwetter abgeleitet; auf das eigene platte ed um fo ungeftümer nieder. Ic, hatte mein Haus noch nicht erreicht, ald die Fleine Here an meiner Seite ftand, um vor ihrem guten Fleinen Pfarr’ die volle Schale der Ems pörung über und Feterifche Barbaren und unfere ſtupide, falte, plumpe, Tangweilige Verehrung bed Heiligen aus⸗ zugießen. | . Ich werde mich wohl hüten, die kindliche Merkuriale zu wiederholen, verfichern aber will ich, baß die Übers

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fchwenglidhfeiten der kleinen Suͤdlaͤnderin ſich weit vers ftändlicher anhoͤrten als die wortverwandten, welche von romantiſchen Neubekehrten der eigenen Zone dazumal in die Mode kamen. Es klang zwar nicht neu, aber doch natuͤrlich, was die purpurnen Lippen und funkelnden Augen mir ausmalten. Ich ſah die hohen Kathedralen und die ſchoͤnen Gläubigen zu Füßen ber ſchoͤnen Ma— donnenbilder; ich atmete Orangen und Weihraudybüfte, hörte die Seraphschoͤre, unter denen der Priefter im weißgoldenen Gewand bad Opfer der Wandlung volls zieht und ben fichtbaren Gott über den Haͤuptern bei anbetend nieberfinfenden Schar verkündet.

Und wenn nun unter den dünnen Klängen unferer Orgel und dem nÄfelnden Gefang der armen Heidege⸗ meinde, unter der chaldäifchen Predigt des Fleinen Pfarre jene entfchwundenen Herrlichkeiten in dem wiberwilligen Fremdling Iebendfrifch wieder aufgewacht waren, fo würde ich ihm dieſes religiöfe Heimweh ohne proteftan- tifche Skrupel nachgefühlt und nachgefehen haben, hätten nur die nordifchen Barbaren, die ich liebte und die dem alleinigen Gott im Herzen feinen Tempel bauten, nicht allen Ernfted daran gedacht, den Frentdling auch durch religiöfe Bande unter unferem firengen Himmel heimifch zu machen.

Sp ließ ich denn Drangens und Weihrauchbüfte ohne Abwehr über mich ergehen. Bor dem, was aber nun folgte, verwandelte aller Wohlgeruch fich in eitel Pech⸗ und Schwefeldunft.

„Und biefem Gefang, und dieſer Predigt: zuliebe,” rief Liska mehr und mehr aufgebradjt, „biefem Falten Gottesdienft zuliebe Fonnte ein Saint Roc feine fonnige

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Heimat und feine heiligen Stätten verlaffen und in einer nordifhen Wüfte ein Geſchlecht begründen, froftig und nüchtern wie der Himmel, zu dem ed aufblidt, und wie die arme Erde, die ed ernährt.“

„galten Sie ein, törichtes Kind!” rief ich ihr entgegen.

Aber da war fein Halt. Das Mädchen war außer fid. „Und unter diefen Himmel bin ich ausgeſtoßen,“ fchrie fie händeringend,. „und unter diefen Menfchen foll ich leben und fterben, und Gluͤck und Seligfeit opfern - und ich bin noch nicht achtzehn Jahr!“

Ein konvulſiviſches Schluchzen unterbrad; fie; ich fonnte zu Worte kommen. Auch mein Blut war ind Kochen geraten. „Sind Sie endlich fertig, heillofe Toͤrin?“ rief ich empört. „Und wenn Sie die Sünde nicht fcheuen, einen Gotteödienft zu Iäftern, deffen Höhe und Tiefe Sie nicht ermeflen innen, fhämen Sie ſich nicht des Uns danks gegen die Menfchen, deren Liebe -“

„Liebe!“ unterbrach fie mich, indem fie verächtlich die Achſeln zuckte, „Liebe! Wiffen diefe Menfchen, was Liebe iſt?“

„Nicht, etwa nicht?“ donnerte ich. „Nun gut; ed mag Mitleiden gewefen fein, Erbarmen, dad die Waife des fremden, hilflofen Weibes von der Schwelle des Armens fpitteld unter den Schuß eined edeln Hauſes gerettet hat; was Sie aber darin feſthaͤlt ohne Gegendienft, fefls halten möchte lebenslang mit einem Zartfinn, einer Scho> nung, die der eigenen Tochter nicht gewährt worden wäre, das ift nicht bloß Mitleiden, das ift Liebe, Liebe, die fo rein und freudig Shre leibliche Mutter, undank⸗ bare Kreatur - -"

Ich ſtockte; in fehr undhriftlichem Zorn hatte auch ich

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über mein Ziel hinausgefchoffen, und fchon wurmte mich die Wahrheit, die ich fo ſchnoͤde ausgeſprochen. Aber weld; ein Umſchlag in dem fchäumenden Gegenüber! Was nicht die mildefte Mahnung hätte vollbringen koͤn— nen, der gifchende Eifer hatte ed vollbradht. Liska blickte mich an mit einem Ausdrud von Wehmut, ja faft von Vernunft; wie ich ihn niemals an ihr wahrgenommen hatte.

„Mein“, entgegnete fie fanft. „Mein, reiner hätte Mas man mich nicht geliebt, aber freudiger, Vaͤterchen. Ich bin nicht undanfbar, nur ungluͤcklich, adh, fo fehr. Deine MWohltäterin ift eine Heilige, ich beuge meine Knie vor ihr. Wenn idy fie Mutter nenne, denke ich an die Gnas denmutter, bie nicht in Sünden geboren if. Maman, meine füße Maman fchalt mich, wenn id; unartig war; fie jagte mich von ſich, fie hat mich gefchlagen, ja, ges fchlagen, Bäterchen. Aber dann küßte fie mid) wieder: ich fühlte ihre glühenden Tränen und hörte ihr goldenes Lachen. Sch war Blut von ihrem Blut, und Herz von ihrem ‚Herzen, ich war ihr Glüd, ihr Leben; mein Tod würde ihr Tod gewefen fein: und das iſts, was ich lies ben heiße, Bäterchen, und was eure großen, fühlen Mens fchen nicht verftchen. Diefe Mutter fieht ihren liebften Sohn in Todesgefahr ed ift eine Einbildung, die fie nun einmal hat. Raul lebt, er wird leben! Aber wer hat einen Klagelaut aus ihrem Wunde gehört? Ihr Herz weint, und fie feiert Freudenfeite. Und Erman -" Sie brach ploͤtzlich ab.

„Und Herrmann?” fragte ich gefpannt.

Jaͤhlings wie die Wetter der Tropen, ziehen in folchen Naturchen die Stimmungen auf und ab. Jetzt Blig und

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Schlag, dann kurze graue Stille, und Sonnenfdein wie zuvor. Dem Parorysmus folgt die Apathie. Made moifelle unterdräcdte ein Gähnen.

„Und Herrmann? Was wollten Sie von Herrmann fagen, Liska?“ wiederholte ich.

„Bon Erman?“ antwortete fie gebehnt. „Von Erman? Nichte. Il m’ennuie, voilä tout.”

Mir fuhre wie Geißelhiebe über den Leib. Die Kehle war mir zugefchnürt; id) fehrte dem Unhold den Rüden und ging meinem Haufe zu. Noch hatte ic) feine Schwelle aber nicht erreicht, als Fisfa mir nachfam und mit bei- den Händen nad) den meinen faßte.

„Zuͤrnen Sie mir, Vaͤterchen?“ fchmeichelte fie. „Nun ja, Erman ift Ihr Herzengfohn, und er ift feiner Mutter Ebenbild, ein Ideal. Aber was wollen Sie? Sch bin eben fchlechter Laune heute, und er interefjiert mid) nicht. Und wiffen Sie, was Maman einmal gefagt hat, Bäterchen? ‚Sch danke den Menfchen, die mich inters effieren, mehr als denen, die mir dad Leben gegeben haben‘, hat Maman gefagt.”

Diefe Phrafe, Frau Lodoiskas würdig, fleigerte nur meinen Grimm gegen ihre Tochter, die einen Mann wie Herrmann langweilig fand und weiter nichts. Hätte das Schwert des Engeld mir zu Gebote geftanden, ich. würde ohne Erbarmen dieſes Evchen aus meinem Para- dies verjagt haben.

Wir fprachen fein Wort weiter, bis wir das Schloß erreicht hatten. Die Erntefränze wurden eben mit Muſik in den Hof gefahren, und mein Fleiner Widerpart blickte nicht ohne Vergnügen auf das buntbelebte Bild. Auch der Feftgenofjen Sang und Redenwechſel Iegterer vom

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unintereffanten Coufin Erman erwidert fchienen ihr unter Gottes freiem Himmel gefälliger anzuhören, als in einem fegerifchen Tempel. Während nun aber die vollen Schuͤſſeln und Krüge aufgetragen wurden, die Gefell- fchaft fi an den weißgededten langen Tafeln nieders ließ, der Herr Paftor das Tifchgebet ſprach, Gutsfrau und Gutsfohn mit freundlicher Nötigung die Runde machten, war das fremde Fräulein nach feinem Zimmer entflohen, um Siefta zu halten und für den herrfchaft- lichen Nachmittagsfreis, fo gut die Trauer es zuließ, fich zu toilettieren.

Mit der erften in ben Hof rollenden Kutfche ftellte Fräulein Liska fich wieder ein. Das morgendliche Pathos war verfchlummert und verpugt, verflogen ohne Spur, der Simmel weiß in welchen Winfel der Seele. Im fchwarzen Iuftigen Florfleide, eine weiße After über dem Ohr und eine vor der Bruft, fah fie ganz allerliebft aus. Pikant, fcharmant fanden fie die Gäfte, deren Mehrzahl fie heute erft kennen lernte. Man würde fie fharmant gefunden haben, ſchon weil fie eine Fremde war; aber fie war in der Tat fcharmant mit ihrer graziöfen Beweg⸗ lichkeit und unbefangenen SKinderlaune; felber der gifs tige Fleine Pfarr’ mußte ed zugeftehen, und feiner gewiß tat ed bereitwilliger ald der deutfche Coufin, der ihr langweilig war und weiter nichts.

Da faß und ftand nun eine Mufterfarte junger Landes männinnen aufgereiht, alle ftattlicher, wohlerzogener und im Grunde fchöner als die Fleine, ſchwarze Franzöfin; die geringfte von ihnen würde leichter ale fie dem Traums bild, das Herrmann gehegt hatte, entiprodyen haben; an jeder aber ſchweifte fein Blick gleichgültig vorüber, um

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dann einen Moment mit einem Strahl des Entzüdeng auf dem laͤchelnden Bäschen auszuruhen. Die Wutter teilte fein Wohlgefallen; Fräulein Iduna aber war ſchlechthin in Ekſtaſe. „Welch eine Afquifition, Baro⸗ nin!“ „Eine Delice, eine Charme, dieſe Couſine, Baron! Ganz Ihr Bruder Raul!“ rief fie ein über das andere Mal.

Nachdem der Kaffee gereicht worden, begann der Tanz, für welchen am Ausgang der Ulmen eine Bühne errichtet war. Maͤnniglich reihte man fid zu Paaren. Was Fraͤu⸗ fein Liska da für Augen machte, ald fie ihren ernfthaften Better auf die dicke Großmagd, Frau Erdmuthen an der Hand des Großknechts auf eine junge Komtefle zufchrei- ten fah, mit der Bitte, an ihrer Statt den Tanz zu ers öffnen. Die Muſik ftimmte einen rafchen Walzer an. Der Knecht legte feinen fchwieligen Arm um die Taille der Komteffe, die Magd ihre braunen Fäufte auf die Schultern ihres Junkers, und dahin ging ed im Wirbel über die klappernden Dielen unter dem Ulmenfchatten. Hoch und gering, alt und jung, felber die finder dreh> ten ſich hinterdrein, nicht als legte aud) Fräulein Iduna im Arm des weltweifen Juder. Ein paar freuzlahme Großmuͤtterchen, Säuglingdenfel auf den Armen, abges rechnet, bildeten Frau Erbmuthe, der englifche Doftor und felbftverftändlich der Herr Paſtor das einzige zus> fchauende Publikum. Nein, Liska noch: deren Trauers leid Kavaliere wie Bauernburfdyen refpeftiert hatten. Ich ſchaute nicht auf die Tanzgruppe, ich fchaute auf fie. Fin Schrei entfloh ihren Lippen, eine Glutwelle übers flog das Geficht, dann ftand fie mit offenem Munde wie zur Salzſaͤule verfteinert.

Die Tochter des armen Kapitänd, die ihre erften gefell-

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ſchaftlichen Eindrüde in den Hoffreifen eined Empors koͤmmlings empfangen hatte, verftand nichts von patris archalifcher Sitte; ebenfowenig aber hegte fie die Stans deöbegriffe, welche für fämtliche anwefende Damen und Herren, Frau Erdmuthen und felber meinen Serrmann faum ausgenommen, ein Koder waren. Sie wiirde lies ber einem Majo ald einem ungierlichen Granden im Tanze wie im anderweitigen Leben gegenübergeftanden haben - aber folch einem tölpelhaften, deutfchen Bauerns Inecht! Dazu der Rundtanz! Sie hatte noch niemals walzen fehen, Arm in Arm, Bruft an Bruft, Atem gegen Atem in diefem rafenden Wirbel! Waren das die näm> lichen Menfchen, die fie heute morgen beten fah? Waren das die züchtigen, beutfchen Fräulein, von denen Doftor Bär behauptete, daß fie nicht, ohne rot zu werden, einem Manne gute Nacht fagen koͤnnten? Dröles d’Allemands! Sept war ed die Tochter Frau Lodoiskas, welche errötete,

Sobald dem Ehrentanz genügt war, zogen „bie Herr⸗ fhaften“ fi in die inneren Schloßräume zuruͤck; und lärmte unter den Ulmen die Luftbarfeit um fo zwang» Iofer bis in die Nacht hinein. Drinnen, wo feit der Schloßfrau Verwitwung die Ballfreuden ausgefchloffen waren, unterhielt bid zur Abendtafel ſich die alte Welt an Boftons und Taroftifchen; für die junge arrangierte Fräulein Iduna Gefellfchaftöfpiele, und hatte die reis zende Fremde heute viel Mühe und Laft ihren fräftigen Schultern abgenommen. Liska war die Königin des Feſtes; von der allfeitigen Bewunderung aufgeregt, fprühte fie Funfen wie ein geftreichelted Kägchen. Sämts lihe junge Herren ftanden in Flammen, und fämtliche alte wurden wieder jung; fie überließen, fooft fie konn⸗

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ten, die Karten einem Aide und laufchten dem melo⸗ difchen Geplauder der Fleinen Franzoͤſin; felber ihre hei- mifchen Mitfchweftern gaben fich, anfcheinend neidlog, dem fremden Zauber hin. Sie zeigte ihnen, wie die Spanierin die Mantilla im Haar befeftigt, gab franzoͤ⸗ fifche Nätfel auf, fang ohne Ziererei ein italienifchee Liebesliedchen, das fie mit der Gitarre begleitete, Bes hende holte fie die Kaftagnetten herbei, die fie nicht ver- geffen hatte, ihrem Reiſetroͤdel beizufügen, ſchwang fie zwifchen den Fingerfpigen und fummte die Melodie eines Fandango dazu, während die Füßchen nach ihrem wech⸗ felnden Tempo trippelten, ald ob auch fie ihrerfeits zu zeigen Luft hätten, was tanzen heißt. Kurz und gut, Mademoifelle Lisfa war allerliebft.

„Die Göttin der Tugend fchreit heute Hurra auf ſpa⸗ nifch”, fagte Freund Phyſikus. Eben wogte fie daher, unfere liebe, rote Dame, atemlos, eine praffelnde Flamme!

„Doktor!“ rief fie, „id bin wie berauſcht!“

„Erklärkich, himmlifche Hebe. Die Baronin hält auf einen guten Lunel, und Sie lieben auch diefen Franzofen.“

Fräulein Iduna war viel zu begeiftert, um empfindlich zu fein. Ä

„Magiſter!“ wendete fie fi zu mir, die heranfchwims mende Zähre zurücdirigierend, „Magifter, Sie haben die Hagebutte gekannt, als fie noch eine Roſe war. Sagen Sie, Bleibtreu, ſchauen Sie nicht den Widers ftrahl meiner achtzehn Jahre, wenn Sie in dieſes Kindes Auge bliden?“

Und fo ſchloß denn der Erntetag, der unter Sturmes-

großen begonnen hatte, mit einem heiteren Sonnenblid. % %

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Es war dad legte Auffladern für lange Zeit. Dem plöglichen Schwarme folgte eine dauernde Stille; auch Herrmann verließ und, um erft am Geburtötage ber Mutter auf ein paar Stunden wieder einzufehren. Er blickte ernfter ald je, obgleich er mit einem Freudenfchrei bewillfommnet wurde, denn er brachte den Iangerfehnten Brief vom Kapitän.

Liska öffnete und überflog ihn in unferer Gegenwart; plöglic; aber, in Tränen ausbrechend, reichte fie ihn mir, und fo brachte ich denn zum Vortrag, was das Mutter: herz bangevoll geahnt, der Bruder im geheimen hoff nungsverheißend erfahren hatte,

Herr von Saint Roc berichtete zunädhft, daß er, wäh- rend ded Marfched vom Fieber befallen, in einem weft preußifchen Flecken liegen geblieben fei, daher feinen der Neifebriefe von Frau und Toghter erhalten habe und, deren Aufenthaltes unfundig, fie nicht von feinem Zus ftande benachrichtigen Fonnte. Anfang Auguft wieder zum Regiment geftoßen, waren ihm erft nad) dem Auf: bruche von Smolensk die Briefe zugefommen, für welche Herrmann die befondere Empfehlung ded Gouvernements erwirft hatte. Die Antwort datierte vom fünften Sep⸗ tember, angefichtd der rufftifchen Hauptarmee auf der Straße nad Moskau; unter den einleitenden Gefechten der Bortruppen und in Erwartung einer Entſcheidungs⸗ fchlacht. Weit mehr als ich ed dem glüdlichen alter ego Fran Lodoiskas zugetraut haben würde, brüdte das Schreiben die Stimmung eines durch die Not zur Vers nunft gefommenen Mannes aus. Nur aber wenn er allen Ernftes mit dem Leben abgefchloffen hatte, fonnte ein Franzoſe fähig des ruͤckſichtsloſen Freimuts fein, der

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auch den Verblendeten unter uns Heidebewohnern, vor vielen anderen, die Augen uͤber den wirklichen Zuſtand der glorreich vorwaͤrtsdringenden Armee geoͤffnet hat.

„Deine Trauerbotſchaft, meine Tochter,“ ſo ſchrieb der Kapitaͤn, „war ein Todesſtreich fuͤr mein Herz. Ich blicke auf eine ſehr gluͤckliche Vergangenheit zuruͤck; meine Gegenwart aber heißt Elend, und fuͤr die Zukunft habe ich jede Hoffnung aufgegeben, ſeitdem ich dieſes Land betreten.

„Wenn ich indeſſen von meinem perſoͤnlichen Herzeleid abſehe, fo muß ich dieſes unvermutete Scheiden als eine Gnade der Vorſehung verehren. Die Verzweiflung, die Euch erwartet haͤtte, iſt unausdenkbar, denn der Schutz Deiner muͤtterlichen Verwandten, liebe Tochter, dieſer Schutz, auf den wir ſo zuverſichtlich rechneten, war eines von ben vielen Phantomen unſerer gluͤcklichen Zeit. Meine Nachforfchungen haben nur nod) einen einzigen Träger ded Namens Golchonsky ermitteln koͤnnen; Diefer eine aber hat ſich bereits nach der Revolution von 95 ber ruffifchen Regierung angefchloffen und damit ohne Zweifel das ficherfte Zeil erwählt. Ohne mid; bei dieſer Sache aufzuhalten, liebes Kind: die polnifche Nation Reht nicht in Flammen, wie man uns in Frankreich glauben gemacht hat; im Gegenteil, ich hoͤrte von man⸗ chem, der, ergrimmt gegen den Kaiſer, durchaus nicht gewillt war, die Kaſtanien fuͤr ihn aus dem Feuer zu holen. Selber im Falle unſeres Sieges, an den ich nicht glaube, wuͤrde dieſe Lauheit dem ungluͤcklichen Volke grauſam angerechnet werden.

„Verſetze Dich in ſolches Wirrſal, meine Tochter; male Dir das bittere Elend aus, das Euer in dieſem Lande

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geharrt haͤtte. Dort durfte die Mutter wenigſtens mit dem Troſt ſcheiden, ihr Kind auf eine faſt wunderartige Weiſe geborgen zu ſehen. In ihrer Heimat wuͤrde ſie irrend auf der Landſtraße geendet und Dich gluͤcklichſten⸗ falls im Hoſpitale hinterlaſſen haben. Und ich, ich, Dein Vater, Liska, wuͤrde Dich nicht haben daraus erloͤſen koͤnnen; auch meine Zeit iſt um. Widerſtaͤnde ich den Kugeln, die uns vielleicht morgen ſchon niederſchmettern werden, dem Wurme, der an meinem Marke zehrt, werde ich nicht widerſtehen. Nimm dieſen Brief zugleich als Beichte und als mein Teſtament. Ich werde Dich nies mals wiederfehen, meine Tochter.”

Es folgte nun die Gefchichte feiner Iugend und feiner forglofen Ehe: in größeren und ftrengeren Umriffen, wefentlich aber übereinftimmend mit den Erinnerungen feiner Gattin auf dem Sterbebette. Weiterhin hieß es: „Sch habe von einem ausgewanderten Zweige meiner Vorfahren niemals ein Wort gehört. Hätte in meinen glücklichen Tagen ein deutfcher Saint Roc ſich mir ald Verwandter vorgeftellt, ich würde ihm vielleicht als Keber denn ein guter, rechtgläubiger Chrift zu fein, auch das war eine meiner Einbildungen - ganz gewiß aber ald Abenteurer den Rüden gekehrt haben. Heute preife ich Gott auf meinen Knien für diefed Band dee Blutes und der Treue, und ich beſchwoͤre Dich, meine Tochter, verehre Deine Wohltäter mit der danfbaren Hingebung einer Waiſe; fie machen wieder gut, was der Leichtfinn Deines Vaterd an Dir verfchuldet hat.“

Den Schluß ded Briefed bildete eine Schilderung ber grauenvollen Drangfale, welchen die voranfchreitende Armee Tritt für Tritt erlag, eine Schilderung, welche

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feitdem Iängft geſchichtlich geworden ift, hier aber, unter dem erften frifchen Eindrud eined Augenzeugen, ung Die Haare firäuben machte und der vorwärtödrängenden Phantaſie ein Chaos unerhörter Widerwärtigfeiten ent⸗ huͤllte. Im Angeficht des Todes erlofch das Idol, das auch diefen Mann geblendet hatte, und die alten Heilig» tümer erwachten im Herzen des Kämpferd vom zehnten Auguft. Die Hellficht der Verzweiflung machte den leichts lebigen Kapitän zum Propheten. „Ich habe einmal“, das waren feine legten Worte, „in Bicetre einen Narren gefehen, der ſich einbildete, ein Adler zu fein, und fo lange in die Sonne geblidt hatte, bi er erblindet war. Dies fem Wahnfinnigen gleicht der gefrönte Soldat, der zur Stunde Blut und Saft des Kontinents in diefe nors bifche Steppe zum Untergange treibt. Sei er ein Ges neral fo groß wie Alerander, ein ebenfo großer Sgnorant der Natur wie Alerander und ihr noch größerer Ver⸗ Achter, wird er nicht einmal beffen Bruchteil von einem Heere in die Heimat zurücdführen. Die Satrapien, die er gegründet hat, werden ſich gegen den gewiffenlofen Menfchenfchläcdhter erheben, und eined Tages, wenn er den legten Franzofen von Hof und Herd, den lebten Füngling vom Herzen der Mutter geriffen hat, wird er, verlaffen von aller Welt, als flüchtiger Abenteurer enden. O Ludwig, mein Märtyrerkönig, ein Kaifer der Frans zofen hat an deinem verblendeten Volke dein ſchuldloſes Blut gerädht!“

Als ich den Brief zu Ende gelefen hatte, wanfte bie unglüdliche Mutter fchattenblaß aus dem Zimmer; Liska, in der Sofaede zufammengefauert, bebte und ſchluchzte unter bem Schal, den fie über den Kopf geworfen hatte;

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Herrmann ging fchweigend mit großen Schritten im Zimmer auf und nieder. Ic, aber finde unter dem Das tum des neunundzwanzigften September 1812 in meinem Kalender nichts als die Worte aufgezeichnet: „Ja, Flo⸗ rentiner, es ift ein Grund.“

Die Schlacht von Borodino war am fiebenten gefchlas gen worden. Herrmann hatte die Funde derfelben er; halten, gleichzeitig mit dem Briefe des Kapitän, der fie voraudverfündete. Noch ſchwankte im Widerfprudy der Parteiberichte die Sicherheit ded Erfolges; ald aber bald darauf die Nachricht von dem Einzuge in Moskau laut verfündet ward, daneben jedoch erft Ieife, dann immer deutlichere Gerüchte auftauchten von den Bränden, weldhe die einziehende Armee empfangen hatten, da täufchten wir ung freilich nicht mehr, daß ed ein Triumph gewefen war, den der Kaifer errungen, feit den Tagen der Völfers wanderung der biutigfte Triumph der Weltgefchichte, aber wir täufchten und auch nicht über das Verhängnis, das er heraufbefchworen.

Denn diefem Chaos von Leichen und Trümmerhaufen entfproßte nicht die fo zuverſichtlich verkündete Friedens⸗ palme. Alles fchwieg. Auch unfer junger, ftolzer Sie⸗ gedherold war verftummt. Sädjftfche und franzöfifche Scyladhtberichte nannten feinen Namen mit Auszeich⸗ nung; er hatte an der Spige feiner Dragoner ein feind» liches Schangenbollwerf erftürmt; fein König hatte ihm den Rang eines Obriftleutnantd, fein Kaifer den Adler ber Ehrenlegion verliehen. Und er eilte nicht wie fonft, feine Zorbeeren zu Füßen der angebeteten Mutter audzus fireuen. Wartervolle Wahrheit, welche diefed Schweis gen enthüllte!

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Herrmann und der Doktor hatten und am erften Ok⸗ tober verlaflen. Letzterer kehrte monatelang gar nicht, der Sohn nur in Paufen flundenweife zurid. Wir fragten nicht, woher er fam und wohin er ging. Es war eine Zeit, von welcher der Prophet fagt: „Ein jegs licher traue feinem Bruder nicht.” Bon ſolchen Zeiten aber ahnet man, daß fie mit wuchtigen Taten fchwanger gehen.

Dazu das Wetter. Aller Verkehr mit der Außenwelt war abgefchnitten, den ganzen Dftober Sturm und Strom; dann der vorzeitige Winter, der Schidfaldwinter von 1812, der in den Sagen der Bölfer nach taufend Jahren ald ein Gotteögericht fortleben wird. Schon Anfang November war unfere Heide fußhoch verfchneit, tauten von ben Fenftern die Eiszapfen nicht mehr ab. Als einer unferer Leute ftarb, mußten wir einen Kolzftoß nieberbrennen, um fein Grab ausfchaufeln zu können. Nur ftundenweife Flapperten die Drefchflegel; die Men: fchen hockten müßig im Ofenwinkel; dumpfe Vorgefichte von dem unerhörten Untergang im Norden zogen durch die Stille der furzen, trüben Tage. Wer aber möchte die Schauerbilder enthällen, welche in jachem Wechfel fihh im Herzen der Mutter zufammendrängten? Das Grauſamſte, was Bölferhaß erfinnen, was gewalttätig die Natur aufzubieten vermag, das durchlebte die ahnungs⸗ volle Seele mit dem Finde. Sie waltete vor wie nadı in ihrem hilfreichen Dienft; aber von Tag zu Tag immer mehr erftarb dad Wort auf ihren Tippen, beugte fich der ftolze Naden, Iugte aus den treuen Augen das Gefpenft der Angſt. Das Jahr war angebrochen, in welchem Frau Erbmuthend goldener Scheitel zur Silberwelle ers

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bleichte. Als unfer Erntedanffeit wiederfehrte, war fie eine Greifin geworden.

Auch Liskas Lage wurde beflagenöwert. Ohne Tätigs feit, ohne Umgang, ohne irgendwelche Anregung in das Zimmer gebannt, ftodte in ihren Adern dad Blut, fand das Leben gleichfam ftil. Sie, die nie eine Schneeflode gefehen, nie ein Winterfleid getragen hatte, lag einges mummt, zitternd und fchauernd auf ihrem Nuhebett, denn die Ofenwärme war ihr fait ebenfo widermwärtig als der Froft der Luft. Das Feuer der Augen, die fraftvolle Farbe erlofchen, die Lippen wurden bleich, welt die Haut, die Stimme immer Ileifer und träger. Was hätte ich für einen Parorysmus wie den am Erntes fefte gegeben! Aber fie widerfprad; nicht mehr, fie grollte nicht mehr, der nordifche Simmel hatte das füdliche Temperament befiegt. Sie war ftill und geduldig ges worden - um welchen Preis! Ich fürchtete allen Ernfteg, fie eined Morgens erftarrt zu finden wie ein armes Sing⸗ vögelchen, das fich auf dem Zuge nadı dem Süden vers fpätet hat.

Liskas Zuftand war ein Drud mehr auf Frau Erbds muthend Gemüt. Nach dem „Zeftamente” des Kapitäng - ob der Mann lebte oder tot war hatte nicht nur das Herz, fondern auch das Gewiflen fie zur Schugmutter einer Waife gemacht; fie fah fie Leid tragen, wie fie felbft ed trug, und tröftete fie mit Hoffnungen, bie fie felber faum noch hegte, deren die andere aber faum bes durfte. Die Kleine litt, aber nicht um den fernen Papa. Er hatte in melandholifcher Stimmung gefchrieben, aber follte er nicht mehr am Leben fein, darum weil er nicht wieder fchrieb? Konnten Poften durch dieſe Schneeberge

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dringen? Der Fruͤhling brachte einen zweiten, ſiegreichen Feldzug, brachte den Frieden, die Heimkehr. Im uͤbrigen hatte ſie zu wenig mit ihrem Vater gelebt, um ihn zu entbehren, wie ſie die Mutter entbehrte, hatte beider ſorgloſe Natur ererbt, und ſelber die Sehnſucht der Phantaſie war in ihr gleichſam eingefroren.

Wie aber blickte Herrmann auf das fluͤgellahme Voͤgel⸗ chen? Ei nun, er erblickte es eben nicht fluͤgellahm. Denn hatte die kleine uͤbermuͤtige auch geſagt: „Er inters eſſiert mich nicht”, er war immer ein Mann, ein junger, fhöner Wann, und denfelben Menfchen, wenn wir ihm felten begegnen, blicken wir günftiger an als im taͤg⸗ lichen Verkehr. Heißt ed doch fogar in der Ehe: Trennt euch zuzeiten, um euch neu und wert zu bleiben. Nach meiner Erfahrung freilich rate idy zum Gegenteil.

Couſin Erman, wenn er ald Gaft bei und einfehrte, zeigte immer einen frifhen Mut und jene gute Stim⸗ mung, welche dad Wiederfehen anregt; er bradıte eine ermunternde Neuigfeit, eine zierliche Gabe, allemal einen Mechfel in das trübe Einerlei. Die Augen des Pflegs lings leuchteten, Wangen und Lippen färbten ſich einen Tag oder Abend lang - am andern Morgen war ber Flüchtige ohne Abfchied verſchwunden, und Liskas Koͤpf⸗ chen hing wieder wie dad einer welfen Blume,

Kein Wunder nun, wenn die Wutter diefe merfliche Belebung nad) ihren Wünfchen deutete; felber ich ges langte dahin, die Entfcheidung, welche ich fo baͤnglich abzuwehren gefucht hatte, ald Rettungsweg für das hins fiehhende Kind zu betrachten. Während jedes VBefuches rechnete ich auf KHerrmannd Werbung. Ob er feine Hoffnungen nun aber aufgegeben, ob die patriotifche

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Spannung fie nur verdrängt hatte? Oder ob feine bes dachtſame Natur erft die letzten Zweifel überwinden wollte? Er ging, wie er fam, ohne das entfcheidende Wort. |

So war bie müde Kleine denn faft ausfchließlich auf den Berfchr mit ihrem alten Pfarrer angewiefen, und da er mit VBergnügungen leider nicht aufwarten fonnte, an Ermunterungsverſuchen hat er ed mindeſtens nicht fehlen laffen. Die Wirtſchaft blieb von vornherein außer Spiel; ed war zum Wirtfchaften zu kalt. „Und wozu auch?” war ihm ja fchon in den Hundstagen ermwidert worden. Auch um Puggegenftände zu fertigen, waren die Finger zu Hamm. Und wozu au? Wem geftel die Schöne, hatte fie ſich geputzt? Lohnte es felber doc, faum ber Mühe, die Augen aufzufchlagen, um einen Blid in den Spiegel zu werfen. Sie befaß eine angenehme Stimme und ein empfängliches Ohr. Aber üben, Sol» feggien und Triller? Und wozu? Wer erfreute ſich jetzt an Gefang und Spiel?

Die deutfche Grammatif wurde aufgeflappt. Der Eifer des Paten Magifterd erwachte und hielt ftand ein paar Wochen lang. Aber nur bei ihm. Denn wozu die Plage, da alle Welt franzoͤſiſch ſprach? Und eine ſchwere Plage iftd ja freilich mit unferem lieben Deutfc für jeden, der ed nicht von Mutterlippen erlernt hat.

„Ste werden heimifcher bei und werden, wenn Gie unfere Sprache verftehen“, fagte ich.

„Sch werde niemals heimifch bei euch werden, Väter, chen“, verfegte Liska, indem fie in die Kiffen zuruͤck⸗ fant.

„Sie werden unfere Dichter kennen lernen.”

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„Sch habe erft noch meine Dichter fennen zu lernen.”

Ihre Dichter, fie wußte felber nicht, ob fie Franzofen oder Staliener damit meinte. Bon Spaniern hatte ich dazumal faum mehr eine Ahnung, als fie ſelbſt. Mochte ich ed nun aber mit der Auswahl, die mir zu Gebote ftand, nicht glüdlich treffen, war das Kind zu lebens⸗ füchtig, um lefeluftig zu fein: - ich fand fie mehr als einmal über dem Befreiten Serufalem oder Racines Tras gödien eingefchlafen, und wundergenommen hat mid) die Wirkung im Grunde nicht.

Ganz zulegt glüdte mir ein Wurf ind Blaue hinein. „Schreiben Sie, Liska“, fagte ich.

„Schreiben!“ verfegte fie. „An wen denn, Väterchen? Ich habe ja niemand, an den id, fchreiben könnte.“

Das einfahe Wort ging mir durdy und durch. Sn Wahrheit, diefes junge, warmblütige Herz hatte feinen, feinen Menfchen, vor dem ed fich ausfprechen Fonnte, feinen, den ed verftand, Der ed wieder verftand bis auf den Grund. - „Wenn id) Maman einen Brief in den Himmel fohreiben Eönnte, oder wenn ich Sie nicht alle Tage fähe, Bäterchen, Ihnen ſchriebe ich auch.“

Ich drüdte ihre Hand; in diefem Augenblide und in mandyem ähnlichen hätte ich meine leibliche Tochter nicht zärtlicher lieben können.

„Fuͤhren Sie ein Tagebuch, Liska,“ fagte ich. „Gedenk⸗ blätter für die Zufunft. Schreiben Sie ſich die Seele frei von dem, was Sie bedrüdt. Wenn Ihr Vater heims ehrt oder dereinft eine Freundin Ihnen nahe tritt, ein Freund - -“

„Raul“, fiel fie ein, und ihre Augen blitzten.

„Run, meinetwegen Better Raul, den Sie ja gern Ihren

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Bruder nennen. Aber wer auch immer, es wird ihm Freude ſein, auf dieſem Stuͤck fremden Lebens Ihnen nachzugehen.“

Endlich gegluͤckt! Zum erſten Male wieder flackerte ein Verlangen und mit dem Verlangen das Flaͤmmchen Un⸗ geduld in der erſtarrten Seele auf. Liska wollte ein Tagebuch ſchreiben, und ihr altes Vaͤterchen konnte nicht hurtig genug mit Schere und Kleiſter fertig werden.

Zum Gluͤck fand ſich im Hauſe ein Stammbuch aus Rauls Knabenzeit, nur wenige Blaͤtter gefuͤllt mit Namen, deren er ſich heute ſchwerlich noch erinnern wuͤrde. Die Blaͤtter konnten herausgeſchnitten werden. Der Einband war verſtaͤubt; ich klebte einen Bogen Goldpapier darum, der fuͤr die Kettenbehaͤnge des Chriſtbaums vorraͤtig lag. Auf das Titelblatt ſetzte ich unter den Namen Raul, den eine erhaltenswerte Blumengirlande umgab, den von Liska de Saint Roc in kuͤhn geſchwungenen, rot und ſchwarz getufchten Miffalen. Nun noch fig ein Bund Krähenfedern aufs feinfte zugefpigt, den Schreibtiſch in rechtes Licht gerückt, zur Belebung der Infpiration ein paar duftende Blumenftöcde aus dem Treibhaufe herauf> geſchleppt - und die Finger der fremden Waiſe flogen über das erfte Blatt im goldenen Bud).

Und fo ziehe ich denn aus meinem Neliquienfchrein das goldene Bud und Iöfe die ſchwarze Schnur, die feit länger als fünfundzwanzig Sahren darum gefchlungen war. Die Blätter find vergilbt, die Schrift verbleidht; deutlich aber erfenne ich die Heinen, ungehbten und doch fo energifchen Züge, und ich frage mich, habe ich in dem Lebensbilde Frau Erdmuthens und ihrer Söhne die Epi⸗ fode des Fremdlings mit echten Farben gemalt? War

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es ſein Maßſtab und nicht mein eigener, an dem ich die unheimiſche Natur gemeſſen habe?

Die erſten Seiten fuͤllen kindliche Erinnerungen, kleine Genrebilder, die ihren Duft verlieren wuͤrden, wollte ich ſie in unſerer Sprache wiedergeben. Eine Ballſzene, Maman ſchoͤn wie eine Fee; ein Guerilla⸗Abenteuer auf einer Reife von Sevilla nady Madrid. Die Heine Liska fürchtete fidy nicht; die gefpannte Piftole bligt in ber Hand Mamand. in Bittgang nad) einem wundertäs tigen Muttergottesbild. Ein Einblid in Frau Lodoiskas Interieur: fpanifch genug kommt es dem alten, deutfchen Magifter vor. |

„Sc wußte nicht, daß das ſchoͤn war!” ruft die Tochter aus. „Ich dachte nicht, Daß man anders leben Fünne. Eine falte, weiße Dede ift über die Erde gebreitet. Mir ift, als hätte ich Tange, lange Jahre darunter gelegen und von dem fchönen Leben nur geträumt. Die Augen fallen mir zu, mid) fchläfert, mid friert. Und auch du, füße Maman, du liegft unter der falten, weißen Decke und fchläfft, ewig, ewig! Nein, nein, du bift wieder aufgewacht, dort oben im Sonnenfdein, und träumft von deiner Kleinen und bitteft für fie. Und du, Papa, fei nicdyt mehr traurig. Sch werde noch einmal meine Arme um dein Haupt fchlingen und mit dir ziehen und nicht mehr träumen, aber wieder leben.” _

Einen Tag fpäter.

„Beute, zum erften Male feit vielen Wochen, ift die harte, weiße Rinde, die fie hier ‚Blumen‘ nennen, von meinem enfter geſchmolzen. Die Mutter hat mir eine Pelzfaloppe umgehängt und meine Füße in ihre großen Stiefeln geſteckt. Sie waren mit Watte ausgeftopft; ich

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ſchwankte aber dody darin wie in zwei Filcherfähnen. Ich follte wieder einmal im Freien Atem holen, fagte fie. Dan fchaufelte und farrte eine Bahn durd) die Heide. Ich begegnete dem alten Scyäfer mit dem uns ausfpredylichen Namen, der alle Tage ftundenweit fommt, bloß um die Mutter zu fragen, ob fein Sohn in Ruß: land noch am Leben fei? Er fteht nämlidy bei Rauls Negiment und ift deffen Reitfnecht, glaube ih. Wie fol benn die Mutter, oder fonft wer, einen Brief erhalten, wenn auf einer Strede, weiter ald von hier bid Madrid, der Schnee in häuferhohen Kaufen liegt? |

„Wie mühfam es aber diefe Menfchen haben! Im Sommer arbeiten fie fid) aus dem Eand, im Winter aus dem Schnee. ‚Die Natur überwinden heißt leben‘, fagte diefer gute, Feine Pfarrer. Er meint damit aud) die innerliche Natur, und das nennen fie hier Religion. Sie glauben an Gott, aber ihre Gottheit hat wie die Luft, die fie atmen, feine Geſtalt. Der, welchen fie ald feinen Sohn verehren, ift ihnen doch auch nicht viel mehr ald ein Prophet, der jene formenlofe Religion und jenes ftrenge, unnatürliche Geſetz verfündet hat.

„Könnte ich auch nur ein menfchliches Wefen lichen, das id) nicht zu begreifen vermag? Das nicht fühlt wie ich, nicht denkt wie ich, nicht meinedgleichen iſt? Wies viel weniger das hoͤchſte Wefen, Gott, ohne die menſchen⸗ gleiche Gottesmutter, die feine Gnaden fpendet, ohne die fürbittenden Heiligen, welche die Gottesliebe in uns ferem Herzen fammeln und DIELIERIEAGEN, in des Welten» vaterd Schoß? |

„Sc bin bis zur Ruine gegangen. Es fon ein Klofte dort geftanden haben. Sch weiß nicht, ob Mönche oder

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Nonnen darin gelebt. Unfere heiligen Kennzeichen ver: achten, gehört auch in ihre naturüberwindende Religion. Ein Kapellchen ift noch erhalten, ein umgeworfener Als tar mit einem Marmorfreuz; ein Lampenfchrein. Wie lange ſchon mag dad ewige Licht darin erlofchen fein? Ich will die Mutter bitten, daß ich ed wieder anzünden darf und davor beten auch für ihren fernen Sohn, ber meine Sprache fpricht und meine Heimat liebt, gewiß, gewiß auch meine heitere, ewige Heimat liebt, für meinen Bruder Raul!

„Die grauen Mauern ragten wie Gerippe aus einem weißen Bahrtuche hervor. Dahinter der dunkle, ſchnee⸗ gefprenfelte Wald, darüber die mattgelbe Sonne, in einen Mebeldunft gehuͤllt. Ringsum Grabesftille. Den Sinnen diefer Menfchen gilt das für chin. Mauern und Schnee - o, du mein armes Leben!

„Den Nonnenfchleier! fagteft du, Maman. Zweimal fagteft du’, ich hörte ed, ed war dein leßted Wort; und du blickteft mich traurig an, ald du es ſprachſt, todes- traurig! Dachteft du denn nicht an das Klofter mit der Palme im Säulenhof und den DOrangengärten rund hers um, wo bu deine Kleine immer fo glücdlich trafft? Aber hier, hier! Auf dem eisbedeckten Boden habe ich vor dem Kreuz gelegen und meine Hände gerungen und die lieben Heiligen angefleht. Aber froh wie fonft, froh, daß fie mich erhört hätten, erhob ich mich nicht. Haben die Nonnen unter diefem Himmel gebetet, was uns beten heißt? Der Schleier, der und fächelt und fchügt gegen den Sonnen- brand, hüllte er fie nicht ein, gleich einem Leichentuch? Mein, nein, nicht hier zwifchen Mauern und Schnee! Und auch nicht jeßt, wo ich fo müde bin. Schlaftrunfen be-

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graben werden zwifchen Mauern und Schnee - fchredlich, ſchrecklich! Wutter Gottes, erft laß mich erwachen und dann niederfinten zu deinen Füßen, wo die Palme weht.“

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Woche auf Woche war hingefchlichen; öffentliche wie private Kunde audgeblieben. Auch Frau von Thielemann fchrieb, daß man in Dresden ohne Nachricht von den Bes freundeten fei. Alles zitterte in Sorge. Der alte Schäs fer - Kieß aus Rieß war fein unaugfpredhlidher Name - trat vergebens jeden Tag eine Spur in den Heidefchnee. Zeit hatte er dazu. Denn warum? Gelber die Schafe klapperten unter ihrem Pelz, und vom Schneeleden wur: den fie audy nicht fatt; darum blieben fie im Stall; der Schäfer aber brauchte feine Motion. Da fam er denn unverdroffen und fragte nach feinem Jungen, der bei dee Ohriftleutnantd Dragonern ftand und von dem Obriſt⸗ leutnant zum NReittnecht genommen worden war. Schreis ben konnte weder der alte, noch der junge Kieg aus Rietz; da aber die Gnaͤdige und ihr Sohn zu fchreiben verſtan⸗ ben, hatten jene ja auch nicht nötig, fchreiben zu können. Und alle Tage fchob der arme Alte wieder ab ohne ans dern Troft ald eine warme Suppe und die Wiederholung feines welthiftorifchen Klageliedd. Denn fo ein einfam „latſchender“ Heidefchäfer hat feine abfonderlichen Offen: barungen, und an Erfahrungen hatte ed dem Kietz aus Rietz ja auch nicht gefehlt. Seit Adams Zeiten, fo ver: ficherte er, fei die Menfchheit gefchoren und gefchunden worden. Zuerft vom Schwedenkoͤnig und dem alten Friß, dann in der Rheinfampagne, wo er felber unter die Schere gelangt, darauf wieder fein Bruder bei Sena anno Sechs.

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Aber fo ein Schinderhannes wie der Franzofenfaifer fei, folange die Welt beftche, nody nidyt an der Tablatur ges wefen. Seinen legten Jungen habe er auch fchon wieder eingefangen nad) Wittenberg zu den Depots. Aber wie lange werde ed dauern, daß er fertig mit dem Ruſſen fei, und dann ginge ed (od wider den Türken, und fein legter Junge müffe mit.

An jenem Tage nun, wo zum erften Male Liskas Fens fterblumen geſchmolzen waren, fuhr durdy unfer Still; leben eine Neuigfeit wie ein Blig in fchwüler Nacht. Die wohlbefannte Familienforrefpondentin, welche vor feche Monaten in hellem Keroenfteber die Faiferfiche Revue ges fhildert hatte, meldete vom fünfzehnten Dezember aus Dresden das plögliche Erfcheinen und Wiederverfchwins den ihres Helden. Sie tat ed unter myfteriöfen Schauern, aber mit einem Detail der Intimität, ald ob fie gewürs Digt worden wäre, aus ihrem trauten chez moi in bie Ode feiner großen Seele und feines Fleinen Kutſchkaſtens einen Bli zu werfen.

Wußten wir nun freilich, daß wir ein gutes Teil ges fpenftifcher Ode der Phantafie unferer Freundin zugute fchreiben durften, fo viel ſchien dennoch feftzuftehen: der Kaifer hatte die Armee verlaffen und, ohne Ankündigung, ohne Stab noch Seleit, heimlich, wie auf der Flucht, unfer Land paffiert. Welche Rüdfchluffe von dem Zuftande des Herrn auf den feiner Armee ſich und aufdrängten, brauche ich das auszumalen? Nur die Eleine franzöfifche Soldatens tochter fagte unbefümmert: „Was fol er in dem Falten Lande? Shn fror. Voild tout. Wenn die Vögel nady Norden ziehen, wird er wieder an die Spige feiner Braven treten.” Und im Tagebuche fteht gefchrieben: „Haͤtt ich

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mid) zwifchen die Falten feined Mantel verbergen und mit ihm nach Franfreich eilen können!“

Edyon am andern Tage bradıte die Allgemeine Zeitung dad letzte Faiferliche Bulletin, datiert von Molodecznos; für Frankreich den Borläufer des Kaifers, für ung feinen nadhhinfenden Boten. Zwar nur der Berluft der Rofle war der Erwähnung wert befunden worden, der Schluß auf den der Reiter aber nicht allzu fchwer zu zichen, und wie follte das Elend, welches Roß und Reiter dahinraffte, nicht noch vielmehr dem armen Kapitän der Infanterie zum Berderben geworden fein? Nun plöglicd, gähnte auch vor feiner Tochter Augen died unermeßliche Grab. Wie von Todegfroft durchſchuͤttelt brach fie neben der fchwans fenden Mutter zufammen.

In diefem Zuftand aufreibender Seelenfolter traf Herr⸗ mann am Tage vor dem heiligen Abend die beiden Frauen, Er fam aus Preußen und mochte wohl manches gefchen und erfahren haben, was er gern vor und verhüllte, Denn hatte der Patriotismus auch ftarf an feiner Brus derliebe gezehrt, die Liebe zur Mutter ftand in ihm aufs rechter denn je, ja, mehr denn je, feitdem er faum n daran zweifelte, ihr einziger Sohn zu fein.

Sobald er mit mir allein war, fagte er: „Es ift wohl feine Frage mehr, daß die arme Liska ihren Vater nies mals wiederfieht. Sie hat feinen Schug im Leben fo wenig empfunden, daß fie zwifchen Zagen und Hoffen ihn allmählich vergeffen lernen wird, wenn der Zuſpruch ihrer Kirche und einige Zerftreuung ihr zu Hilfe fommen. Ans derd die Mutter; fie bedarf einer Gewißheit. General Thielemann hat mit einem Häglichen Reſt der fächfifchen Reitereiönigsberg erreicht. Raul befindet fich nicht unter

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ben Geretteten. Ich erfuhr des Generals Eintreffen leider zu fpät, um ihn perfönlich zu fprechen. Er ift krank, wird aber in diefen Tagen von feiner Familie in Dresden er: wartet. Er, wenn einer, fann und über dad Schidfal meines Bruders Auskunft geben. Mein Plan ift, ich reife mit der Mutter und Liska nad) Dresden, und zwar ohne Berzug.“ |

Der Plan wurde mit Eifer angenommen. Die Mutter ſchmachtete nad der, wenn auch bitterften, Wahrheit; die Tochter elektrifierte die Ausficht auf eine Veränderung wie eine Hilfe aus aller Not. Sie umfchmeichelte den treuen Freund, der diefen Ausweg eröffnet hatte, mit ihrem fonnigften Lächeln, und als fie am andern Abend im Felsfchen Ahnenfaale einen deutfchen Chriftbaum brennen, die reiche Befcherung fah, welche für hoch und gering, für Hein und groß der Hofgenoffen, und für fie felber am allerreichiten, darunter ausgebreitet Tag, da jubelte fie hell und fröhlich wie ein Kind; die Lichtertanne verflärte die graue, deutfche Kiefernheide, und ich glaube wahrhaftig, in der Zobelenvelopye, die fi) warm und weich an die zierlichen Glieder fohmiegte, fah fie ein Sinn⸗ bild des warmen, weichen, deutfchen Gemuͤts.

„Ihre Freuden beginnen, wo die unferen aufhören, und wo wir unliebenswärdig werden, muß man fie lieben lernen.“

Mit diefer ethnographifchen Bemerkung fchließt das Jahr 1812 in dem jüngft geftifteten goldenen Buche. Es war ruhig daheim geblieben, ald am Chriftmorgen die drei Freunde ihre Reife nach der Nefidenz antraten.

Am Dreitönigstage empfing ich die Ruͤckkehrenden an der nächften Station; Berrmann hatte vom Haufe einen

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Schlitten beordert, um den für den Reifewagen bejchwer: lichen Heideweg abzufürzen. Der Doktor, der um Neus jahr angelommen war, hatte die Nachricht von Rauls Tode beftätigt, und ald ich der Mutter aus dem Wagen half, fühlte ich an ihrem Haͤndedruck und fah an ihren Blicken, Daß auch ihr Die letzte, ſchwache Hoffnung geraubt worben fei. „Still, bis wir allein find“, flüfterte fie mir zu.

Sch ſchluckte meine Tränen hinunter und begrüßte das jugendliche Paar. Welch ein Gegenfag! Ach, das Schick⸗ fal hatte es ja fo gefügt, daß Herrmann weniger den Bruder als den Sohn feiner Mutter beflagte: für diefe Gebeugte wußte er aber nur einen Erfag, der zugleich bag Gluͤck feines eignen Herzens in ſich fchloß: Hoffnung und milde Freudigfeit ftrahlten aus feinen Zügen.

Und fie, die fo zärtlich an feinem Arme hing, war es das erftarrte Vögelchen, das fich unter unferen rauhen, grauen Himmel verirrt hatte? Es ſchlug ja die Flügel und zwitfcherte wie die Xerche, wenn fie in den Sonnen himmel emporfteigt. War es die nämliche Waife, die vor wenigen Wochen unter Todesfchauern zufammenbrady?

Man hatte ihr von dem allgemeinen und perfönlichen Elend nur die Umriffe mitgeteilt, zwifchen welchen die Hoffnung immer noch hinreichenden Raum fand, und Lis⸗ kas Hoffnungsfraft war ſtark. Welcher Freudenraufc das hingegen, der fie zwei Wochen lang umfangen gehalten, er würde fie entzückt haben, auch wenn er fie nicht an das Land ihrer Sehnfucht erinnert hätte. Der reiche Dienft ihrer Kirche in Gegenwart eines glänzenden, andädıtigen Hofes, unter Strömen einer Muſik von nie geahnter Volls endung, Seraphöflänge nannte Liska die Stimmen der Italiener; Kunftgebilde, wie ähnliche fie noch niemals

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entzuͤckt hatten. Dann, unter Fraͤulein Idunas immer be⸗ reiter Ägide, gefellige Kreife, in welchen aus dem Jahrs hundert der Üppigfeit ſich ein heiterfreier Ton bie in die Gegenwart gezogen hatte und zur Stunde felber, wo rau Erdmuthens Todesängfte in vielen Familien wohlbegrüns det gewefen fein würden, einen ftarfen Anflang fand; in diefen Kreifen aber Beifall, Huldigung, Schmeicdheleien aller Art. Die reigende Fremde war zwei Wochen lang der Stern der Mode in einer Gefellfchaft, die Frau Los doiska Fleinftädtifch gefunden und fie beftenfalld an bie der Bäder von Pifa erinnert haben würde, für ihre Tochter aber, die nicht die Erbin ihrer vermwöhnenden Reize war, einen legitimeren Anftricy trug als die ded neuen Hofes in Madrid. Liska war entzüct und hatte entzüdt; in dem Gemiſch findlicher Befcheidenheit und dem Bedürfnis des Gefalleng, ohne zu entzünden, in ihrer bewußten Naivetät lag nun einmal ein Zauber, mit dem fie ihre Umgebungen unterjochte, fobald fie in ihrem Elemente war.

Diefes Element der Freude hatte ſich ihr nun aber völlig ungeahnt faum eine Tagesfahrt fern von dem geſchmaͤh⸗ ten Heidewinfel aufgetan; eine Heimat, die ſolche Aus⸗ flucht bot, verlor ihren unheimlichen Charafter; ja, in fo beglücfender Aufregung wurde felber der nordifche Wins ter .zu einem Stimulant. Augen, Wangen und Tippen glänzten, fie fprühte Funfen der Laune, tranf ein Glas heißen Weind und trat and Fenfter der Poftftube, die nach der Heide hinauslag.

Wir hatten einen jener Wintertage, die auch über unfere Landfchaft, und über fie befonders, einen Feenfchleier werfen. Der Himmel war Far, und die finfende Sonne hauchte einen rötlichen Schimmer über dad mafellofe Weiß

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des rundes, derweile über dem Walde im Often der junge Mond in die Höhe flieg.

An jedem Aſte gligerten phantaftifche Kriftallgebilde, Eiströpfchen funfelten an den Nadeln wie Diamanten, auf dunfle Schnur gereiht. Unten fchmetterte das Poft- horn, und die Schellen Täuteten. Auf Frau Erdmutheng Wunſch beſtieg ich mit ihr den gefchügten Wagen; Herr⸗ mann, an Liskas Seite, fuhr im Schlitten, den er felber lenfte, und voran. Am Eingang der Feldfchen Heide, an dem Förfterhaufe, wo früher mein Bruder geheimft hatte, follte das leichte Gefährt das fchwere erwarten.

Nun glitt im fußtiefen Schnee der Wagen langſam aͤch⸗ zend dahin; nun war id; allein mit meiner Freundin; nun hörte ich von den Tippen des mildeften Weſens die Schils derung jened grauenvollen Trauerfpield, in weldyem die Natur, ald Partnerin eines halbbarbarifchen, wutents brannten Volkes, unter allem erdenfbaren Elend eine Million von Menfchenopfern forderte, um den bandens [ofen Geift eines einzigen zu bredyen, - und ihn doch nicht brach.

General Thielemann hatte, vor der alten Freundin min⸗ deſtens, die letzte Zuruͤckhaltung fallen laſſen. Was huͤlfe auch dem nackten Augenſchein gegenuͤber laͤngeres Diplo⸗ matiſieren? Er war ein geiſtvoller Beobachter, ein Militaͤr von weltmaͤnniſcher Bildung. Bis zum ruſſiſchen Feld⸗ zuge Napoleons bewundernder Anhänger, dankte er dies fem Auszeichnung, wie faum ein anderer feiner Bafallens generale. Nach feinen jüngften Erfahrungen oder Be⸗ rechnungen? jedoch erflärte er ſich entichloffen, den ſaͤchſiſchen Dienft zu verlaffen, falls der König das frans zöfifche Bündnis aufrechterhalten oder erneuern follte xx. 17

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Die Stroͤmung der Zeit war gebrochen, er ſah es, er ſagte es. Warum zoͤgerte er, bis der Wirbelſturm ihn nur als Fluͤchtling unter das Banner der Zukunft trieb?

Auch uͤber das Schickſal ihres geliebten Sohnes hatte er der Mutter keine Taͤuſchung vorgeſpiegelt, keine Hoff⸗ nung uͤbriggelaſſen. Raul war bei jenem ruͤhmlich er⸗ waͤhnten Sturm der Schanzen von Borodino verwundet worden, anſcheinend ungefaͤhrlich, eine Fleiſchwunde im Oberarm. Auf ſein dringendes Verlangen hatte der Ge⸗ neral davon abſtehen muͤſſen, die Familie von ſeinem Un⸗ fall in Kenntnis zu ſetzen. Er hoffte auf rafche Herſtel⸗ fung, fobald die erfehnte Raftftation in Moskau erreicht fein werbe.

Man erwies dem tapferen Balbfranzofen, für welchen der Kaiſer wiederholt ein perfönliches Intereffe bekundet hatte, ausnehmende Berüdfichtigung. Im eigenen Fuhr- werf begleitete er die Armee, und zwar feinem Korps voran, im Gefolge der Tete, die am fünfzehnten Sep⸗ tember die Hauptſtadt erreichte. Hier hört nun jede Spur von dem Unglüdlichen auf. Dan weiß, welches Unbes hagen fchon am erften Abend die auflodernden Brände erregten, und in welches Entfegen ed umfchlug, ald die von Biertelftunde zu Biertelftunde auflodernden Feuer: faulen eine gewaltfame Tat verfündeten, wo man ſich bisher mit Zufälligkeiten getröftet hatte.

Am übernächften Tage rüdte die fächfifche Reiterbrigade in dieſes Feldlager zwiſchen rauchenden Truͤmmern ein, und war es eine der erſten Sorgen des Generals, ſich nach dem vorangegangenen jungen Freunde umzutun. Leider vergeblich. Alles, was uͤber ihn erkundet werden konnte, entſtammt dem Berichte ſeines Dieners des ehrlichen

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Kietz aus Nie -, der während der Reife nicht von feiner Seite gewichen war.

Erfchöpft von Blutverluften und der befchwerlichen Fahrt, hatte der Verwundete an einem freundlichen Haufe der weftlichen Borftadt haltmachen laflen. Das Haus trug ein Gafthoffchild, und zwar, wie der Burfche verficherte, eins mit dem deutfchen Namenszeichen Weber. Raul wollte in bemfelben verweilen, bis die Quartierverhält> niffe fi) geordnet haben würden.

Mit verdrießlicher Überrafchung fand man dad Haus ausgeräumt, menfchenleer, aller Mundvorräte bar. In der volfreichen Hauptſtadt hatte man dieſes Flüchten ber Bewohner, an das man in Dörfern und Hleineren Orten gewöhnt war, nicht erwartet. Ringsum Feine Seele zu errufen, zu erfpähen. Der Diener wurde ausgefchickt, Mein und Brot herbeizufchaffen. Sein Herr, den Mans telfad® unterm Kopf, ruhte auf der platten Diele.

Der ehrliche Burfche fand alle Läden gefchloflen, alle Käufer, an die er klopfte, verlaffen. Ratlos irrte er durch das Gewuͤhl der Truppen, welche erfchöpft, halb betäubt, zeternd und fluchend, ſich in den oͤden Straßen umher⸗ trieben. Ehe er fich, ohne die gefuchte Beute, in die Vor⸗ ftadt zuruͤckgefunden hatte, war die Nacht hereingebrochen. Mit Entfegen fah er, daß die ganze Gegend, in welcher nadı feinem Glauben das Wirtshaus geftanden hatte, in Flammen loderte. Niemand verfuchte zu Löfchen, niemand war da, Auskunft zu geben. Der treue Menſch rannte, den Namen ſeines Herrn fohreiend, durch die feurige Gaſſe. Er drang in jede Tür, in welcher er die des deutfchen Gaſthauſes zu erkennen glaubte, und ftürzte endlich, Haut und Baar verfengt, zu dem nächften Poften zuruͤck, um das

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Unheil zu melden, dann aber, zum Tode erſchoͤpft, zuſam⸗ menzubrechen und unter Mangel und Elend zu erliegen. Armer treuer Junge, und armer Vater Kietz aus Rietz!

Für feinen ungluͤcklichen Herrn kam jede denkbare Hilfe zu ſpaͤt. Wo die Vortruppen an einer einladenden Garten⸗ ſtadt voruͤbergezogen waren, fand die Hauptarmee nur rauchende Ruinen. Umſonſt forſchte, ſtoͤberte man nach dem Lebenden, umſonſt wurden die glimmenden Truͤmmer nach den Gebeinen durchwuͤhlt. Der Lokaleindruck des Dieners war ein zu oberflaͤchlicher geweſen, um einen Anhalt zu bieten, jede anderweitige Auskunft gebrach. Bei alledem konnte und wollte der General die Hoff⸗ nung nicht aufgeben, daß der gemandte, keineswegs hilf- loſe junge Dann ſich gerettet und in der meilenweiten Ausdehnung der Stadt oder ihrer ländlichen Umgebung ein Aſyl gefunden haben könne, in welchem er erfranft barniederliege, Einen Monat lang, bid zum endlichen Ruͤckzuge, fegte er die Nachforſchungen fort - ohne Spur. Das Entfegen dieſes Rüczuges, die ftündlichen Opfer der werteften Waffengefährten, der Eifer, einen Reft von Ord⸗ nung in feiner zufammengefchmolzenen Truppe zu erhal» ten, die Laft, welche der Kaifer ihm aufbürdete, indem er ihn zu einem Kommandanten der zufammengeftoppelten „Heiligen Legion“ ernannte, verdrängten endlich feine Er⸗ innerung an den werten jungen Freund; heute aber pried er ihn gluͤcklich, in ungebrochenem Siegerglauben, vor den entmenſchlichenden Eindruͤcken der letzten Monate und, ſo Gott wollte, ohne allzu ſchweren Kampf geendet zu ſein. „Sein raſches Blut“, ſo ſchloß der General, „wuͤrde auf dem Scheidepunkte, dem wir entgegentreiben, ſich ſchwer behauptet haben.“

Fünfter Abſchnitt 261

Ich habe diefe Mitteilungen nüchtern im Zufammen- hange dargeftellt. In jener Stunde waren ed nur Bruch⸗ ftüde, die ic) empfing. Mir war, ald trüge die unglüds lihe Mutter die glühenden Kohlen, die den Leib ihres Lieblings verfengt hatten, in ihren Händen herbei, ale wöge fie einen Stein um den anderen, deren Wudht ihn gerfchmetterte. Ich dachte nicht daran, eine Hoffnung an⸗ juregen, die ich felber nicht empfand. Sie wußte, daß ich mein Kind in dem ihren verloren hatte und daß ich freudig mein Leben gegeben haben würde, um ihr das feine zu erhalten.

Ich fchwieg, und fie verftummte; ihre Hand in der meis nen, faßen wir ohne Regung, bis das Förfterhaus erreicht war. Hier warteten der Schlitten und der Diener des Schloſſes, welche beiden Fuhrwerken durch die verfchneite Heide vorleuchten follten. Frau Erdmuthe blieb im Wagen fiten, ich flieg aus, die finder zur Weiterfahrt aufzus fordern. Herrmann ftand harrend unter der Tür, er hatte die Qual diefer aufflärenden Stunde dem Herzen ber Mutter nachgefühlt. Sept trat er an den Schlag, faßte ihre Hand und drüdte die Tippen auf ihre Stirn, Eine Träne aus feinen Augen glitt über ihre Wangen. Sie fchlang die Arme um feinen Hals, wie fie fonft nur den zärtlicheren Raul zu umfchlingen pflegte: „Mein Sohn, mein einziger Sohn!” fchludhzte fie.

Liska ſchwebte herbei, froh aufjubelnd über die koͤſtliche Fahrt. „So über die Erde zu fliegen!” rief fie aud. „DO, meine Mutter, fo glücdlicdy wie heute war ich noch nie!“

Wieder fchmetterte das Pofthorn, die Pechfackeln wurden angezündet; blutrot flackerte dad Licht über die Friftallis fiexten Zweige. Die Roſſe wieherten, die Schellen laͤu⸗

262 Fran Erdmuthens Iwillingsföhne

teten, der leichte Schlitten glitt voran, der ſchwere Wagen ſchwankte ihm nach.

„Es iſt ein Schmerz fuͤrs Leben,“ begann Frau Erd⸗ muthe nach einer langen Stille. „Aber ein Schmerz, der Frieden gibt uͤber das Leben hinaus. Er ſcheucht das Ge⸗ ſpenſt, das ſeit dem Tode meines teueren Mannes mich bedroht hat Tag und Nacht. Gott hatte mich mit zwei Soͤhnen geſegnet, wo ich einen erfleht. Er ſei gelobt, daß er mir einen nahm vor der Stunde, in der ich fragen mußte: war es des andern Hand, die ihm den Tod gegeben? Und zweifeln Sie, mein Freund, daß dieſe Stunde aus⸗ gehoben hat?“

Fuͤrwahr, es war eine große, eine heilige Liebe, die das Herz dieſer Mutter regierte!

Die Fahrt durch die Heide war muͤhſam; die Kinder mochten uns laͤnger als eine Stunde voraus ſein. End⸗ lich hielten wir. Der Schnee hatte das Rollen der Raͤder gedeckt; ehe unſer Kommen bemerkt ward, oͤffnete ich die Tuͤr des Familienzimmers, und nach dem ſchweren Ent- ſagungskampfe blickte die Mutter auf ein Bild der Er⸗ fuͤllung.

Ihr gegenuͤber, im Fenſterbogen, ſtand der Sohn; das Maͤdchen, das er liebte, ſchmiegte ſich an ſeine Bruſt, und ſein Geſicht ruhte geſenkt auf ihren Locken.

Mit einem Schrei der uͤberraſchung riß ſich Liska von ihm los und ſtuͤrzte ſich an den Hals der Mutter. Feuchten Auges druͤckte Herrmann beider Haͤnde an ſein Herz.

„Nimm ſie als Tochter fuͤr den Sohn, den du verlorſt, und ſegne deine Kinder, meine Mutter“, ſagte er.

Schweigend umfaßte ſie die Gluͤcklichen, ein Traͤnenſtrom loͤſte ihre Bruſt. Aber es war der Erſchuͤtterung zu viel;

Fünfter Abſchnitt 263 fie fchwantte; auf Herrmann geftügt, fuchte fie die Stille ihres Zimmers.

Ich ftand noch immer wie im Traum, und feltfam! in einem bänglichen Traum.

„Freuen Sie ſich denn nicht, Väterchen?” rief Liska, indem fie mich auf beide Baden füßte.

„Lieben Sie ihn, Liska?“ fragte ich.

„Wie meinen Schugengell“ antwortete fie.

Sechſter Abfchnitt

Was keimt, das muß gedeihen

ls ich am andern Morgen im Begriff war, aufs Schloß I, gehen, ftürmte der Doktor bei mir ein, blaß, atem⸗ [08, mit einem Blick, ald ob er, ftatt der unvermeidlichen Zeitung, dad Meffer zu einem Schnitt auf Tod und Leben in der Hand halte. |

„Wißt ihre ſchon?“ Feuchte er.

„Daß unfer Raul tot ift, leider!”

„Borauszufehen!“

„Und Serrmann verlobt - —“

„Eine Torheit mehr in der Welt, aber auch vorauszu⸗ fehen. Nein, das!“

Er breitete die Zeitung vor meinen Augen aus, und ich las - was freilich nicht vorausdzufehen war „die Kapis tulation von York!“

„Auf dem Schloffe ift auch fchon Alarm Bez rief Bar im Weiterrennen.

Sch eilte zu den Meinen. Das Wohnzimmer war leer; ich fand fie in Herrn von Rocs früherem Kabinett, jegt feiner Gattin ftillem Afyl, wenn fie um Frieden rang. Sie hatte den weißen Anzug mit einem trauerartigen vertaufcht und faß im Lehnftuhl am Ofen. Herrmann, in höchfter Bes wegung, ftand vor ihr, ihre beiden Bände in den feinen. Kein Wort mag gewechfelt worden fein; aber die Tippen der Mutter bebten wie damals, als fie fagte: „Alle drei!“

Liska lehnte im Fenfter gegenüber, mit großen Augen die Gruppe betrachtend. Die Mutter drüdte mir, auf die Tochter weifend, die Band; dann verließ fie das Zimmer; Herrmann folgte ihr.

Sechſter Abſchnitt 265

„Was bedeutet das?" fragte Liska.

„Es bedeutet, Liska, daß Sie die Braut eines beutfchen Mannes geworden find, und daß diefer Mann im Bes griffe fteht, für die Befreiung feines Baterlandes in den Kampf zu treten.“

„zur die Befreiung von ruffifcher Barbarei? Er tut recht daran.“

„Für die Befreiung von Napoleon, Liska.“

„Aber eure Könige find ja die Freunde des Kaiſers.“

„Sie waren gezwungen feine Bundesgenoflen und wers den, willd Gott, ed nidyt lange mehr bleiben“, vers ſetzte ich.

Sch erflärte hierauf in kurzen Worten die Tat in Ofts preußen und deren Rüdwirfung aud) auf Herrmanns Ges ſchick, ſoweit diefelbe im erften Moment zu überbliden war, Die kleine Franzöfin unterbrady mid Saß für Sag mit einem zornigen „Ah“ und „Oh“, „Feigheit! Berrat! Schande!” fchrie fie, ftampfte mit den Füßen, ballte die Hände und rollte die Augen wie ein Teufelchen. Herrmann trat wieder ein.

„Sit ed wahr, Erman,” rief fie ihm entgegenftürzend, „it es wahr, was diefer abfcheuliche, alte Mann bes hauptet, bift du ein Verfchwörer, ein Verräter, ein Res beil? Zichft du ind Feld gegen den Kaifer? Willft du dag Blut deined Bruders vergießen, der für den Kaifer fampft?“

„Noch ift der Krieg nicht ausgebrochen, in den ich ziehen müßte,” entgegnete Herrmann ruhig, „und mein Bruder - du fahft die Trauerfleider unferer Mutter, Liska —, mein armer Bruder ift tot.”

„Warum ſoll er tot fein?” rief Liska Teidenfchaftlich.

266 Frau Erdmuthens Swillingsfähne

„Er lebt, fo wahr, wie ich felber lebe. Auch mein Bater lebt. Auch gegen ihn willft du die Hand erheben!”

„Lied den Brief deines Vaters noch einmal, Liska,“ fagte Herrmann fehr ernft. „Wenn er dir einen zweiten fchriebe, würde er did mahnen: „Kerne gerecht fein gegen die Freunde, die du bis jegt nicht verftehft. Sie fämpfen den heiligften Kampf, den Menfchen kämpfen können. Seit dem Tode meines Vaters, Liska, lebe ich in der Er⸗ wartung diefer Kampfesftunde.“

„Monstre!“ fchrie die Fleine Furie, aus dem Zimmer fliegend.

Herrmann ftand lange unbeweglich, die Hände vor dag Geſicht gefchlagen. „Sie ift noch ein Kind,” fagte er endlich, mit einem Verſuche zu lächeln, „und ein frans zöfifches Kind. Es gilt auch hier einen patriotifchen Sieg. Ic redyne auf die Liebe und auf Ihren Beiftand, alter Freund.“

Lisfa erfchien nicht am Familientifche, wie man es von der Verlobten des Erbherrn hätte erwarten dürfen. Die Tafelrunde war einfilbiger denn je; der Phyſikus fehlte, und der Zufpruch der reinen Vernunft weckte feinen MWiderhall. Dem Weltweifen und den Feldweifen ſchmeckte ed wenigftend. Mutter und Sohn berührten feinen Biffen.

Nach dem Eſſen verfuchte ich Liska zu ſprechen. Sie fchlafe feit, fagte die Kammerfrau mit einem fpöttifchen Blick. Die Verlobung war rudybar, die Ausficht auf eine Frau Erbmuthen fo unähnliche Herrin aber mit wenig Beifall aufgenommen worden. Für den Hausgebrauch huldigt das Volk der Theorie von gleich und gleich, wenn ed in Sahrmarftsbuden audy gern nach einer Mohrenkönigin ausfchaut. Herrmanns Koffer wurden

Sechſter Abfchnitt 267

gepadt. Da der Kampfplag zwifchen Franzofen und Nuffen auf preußifches Gebiet verlegt war, konnte bie rafche Abreife des Gutsherrn von Ganditten, auch da er Bräutigam geworden, nicht befremden.

Am Abend hatte Mademoifelle ihren Zorn verfchlafen. Sie trat in dad Wohnzimmer rofig lächelnd wie - ei nun, wie eine echte Braut. Sie reichte dem abfcheulichen, alten Manne die Sand mit den Worten: „Querelle d’Alle- mands! Wie nennen Sie das auf deutfch, Väterchen?“

„Streiten um Kaiferd Bart“, antwortete id).

„Wie das paßt!“ rief fie beluftigt. „Der Kaifer hat feinen Bart, alfo Streit um nichts.“

Dann zufchwebend auf Herrmann, dem fie, wie fonft beim Kommen und Gehen, die Stirn zum Kuffe bot, fagte fie: „Auch wir find wieder Freunde, nidyt wahr, Erman? Der dumme General, - wie heißt er doch, der preußifche Romana? - fein König liefert ihn aus, der Kaiſer läßt ihn erfchießen oder auch nicht erfchießen. Wir lachen über ihn. Voilä tout!“

Die Mutter blidte ftill vor fi hin. Sonft fpann fie bei Abend an einem Nädchen von fchwarzem Holz mit Perlmuttereinlagen, noch einem Geſchenke des feligen Majors. Heute ruhten ihre Hände im Schoß. Herrmann druͤckte und küßte die Hände von Zeit zu Zeitz dann wieder die feiner Braut. Das wenige, was er fpradh, Fang mild und weich wie noch nie.

Liska funkelte von nedifchem Übermut. Vielleicht fteis gerte fie ſich felbft, um die Trauergeifter zu bannen, an die fie nicht glauben wollte. Raul lebte ja, und Papa lebte auch. Warum follten fie nicht leben? Zum erften Male wurde Frau Erbmuthen ihre Beweglichkeit zu viel.

268 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne

Sie erhob fidy mit den Worten: „Wir find geftern fpät zur Ruhe gefommen;z holen wir es heute nach, liche Tochter.“

Liska folgte nur widermillig, und wahrlich! mein Herr; mann zitterte. Zwei⸗, dreimal drücdte er fie an ſich, ald fönne er fie nicht laffen, big fie fich endlich Iachend von ihm losriß und ihren Arm in den der Mutter legte, von der fie fich jeden Abend wie ein Kindchen zur Ruhe bringen ließ.

„Bann reifen Sie, Herrmann?” fragte ich, nadıdem wir allein waren. |

„Diefe Nacht,” antwortete er. „Machen Sie ihr ver, ftändlich, warum es fein mußte. Sch ich vermochte nicht Abfchied von ihr zu nehmen.“

Können denn zwei, die fich lieben, voneinander gehen, auf lange Zeit, vielleicht auf ewig voneinander gehen ohne Lebewohl? dadıte ich und feufste.

Herrmann teilte mir mit, daß er durch vertraute Hand die Kunde von Tauroggen fhon im Moment der Abs reife von Dresden erhalten und daraufhin feine Wers bung befchleunigt habe; nicht nur, um die Mutter durdy Erfüllung eines Lieblingswunſches aufzurichten, fondern auch um Liska eine feftere Stellung im Haufe, in der Geſellſchaft und im eignen Bewußtſein zu gewähren. Er zweifelte nicht, daß die rufjifche Hauptmacht, raſch den Bortruppen folgend, ſich mit den Preußen vereinen, baß der Slönig jedes diplomatifierende Schwanfen fallen laffen, der klaͤgliche Reſt der Feinde bis zum Frühjahr über den Rhein gedrängt fein werde.

Die Mutter trat wieder einz ich wollte mich entfernen.

„Bleiben Sie, Freund,” bat fie, „wir bedürfen Ihres Rats,“

Sechſter Abfchnitt 269

Sie war fehr gefaßt. Ic nahm Platz an ihrer Seite,

Herrmann und gegenüber. Nach einer Paufe hob fie an: „Du gehft, mein Sohn, und ich widerfpreche dir nicht. Sch weiß, es ift dein innerfted Anliegen und deine heifigfte Pflicht. Aber die Entfcheidung kann jich ver zögern; warum morgen ſchon, Herrmann?“

Er ſchwieg, vielleicht einen Auffchub erwägend. Die Mutter blicfte ihn aufmerffam an, dann fuhr fie fort: „Sc bitte nicht um meinetwillen, mein Sohn; um Liskas willen. Zwei Wochen Auffchub, allenfalld nur eine, und du hätteft fie ald deine Gattin zurüdlaffen können.“

Der junge Dann fuhr zufammen wie. unter einem elek⸗ trifchen Schlag. Ein Glutſtrom übermwogte fein Geficht, die Adern der breiten Schläfen Flopften, aus den Augen bligte ein Verlangen, das ich nur während diefer einzigen Minuten in ihm wallen fah. Er fprang vom Stuhle in die Höhe und fchritt wohl eine Viertelftunde lang ſchwei⸗ gend im Zimmer auf und ab. Dann preßte er hervor, wie zu fich felbft: „Nein, nein, dad Gluͤck madıt laß.“ Und nad, einer Weile beruhigter: „Erft unfern guten Kampf -, dann den Preis - meine Mutter.“

„Du verleumbeft das Gluͤck, weil du es nicht Fennft, mein Sohn,“ wendete, ein wenig verftimmt, Frau Erd⸗ muthe ein. „Wir tun unfere Pflicht völliger nach einer fhönen Erfüllung, ald wenn und dad Sehnen darnadı zerftreut.”

„Möglich, daß du recht haft, liebe Mutter,“ verfegte Herrmann wieder vollfommen gefaßt. „Aber denfe an Liska. Im Bemußtfein ihrer Abhängigfeit würde fie faum widerfprechen £önnen, vielleicht auch nicht wollen. Allein der Umfchlag wäre zu jäh. Sie muß allmählich

270 Frau Erdmutheus Bwillingeföhne

das Fremde uͤberwinden, muß erſt die Unſere werden, ehe ſie ganz die Meine werden darf.“

Es war das erſte, das einzige Mal, daß der Sohn der Mutter widerſprach bei einem Anlaß, wo ſie ſein inner⸗ ſtes Begehren zu ſtillen dachte. War es die ererbte flaͤmiſche Ader, war es ſein Genius, der ihn im Banne hielt?

Mutter und Sohn ſaßen noch tief in die Nacht hinein beieinander. Sie hatten Bedeutendes feſtzuſtellen; Vor⸗ bereitendes fuͤr die nahende Zeit; zukuͤnftig Segenwirken⸗ des in einem weiten Bezirk. Sie machten auch ihr Teſta⸗ ment in wechſelſeitigem uͤbereinkommen, verbindlich fuͤr einen wie den andern der uͤberlebenden, wie ſonſt nur Ehegatten ſich in ſolchem Akt zu einen pflegen.

Am andern Morgen war Herrmann abgereiſt. Das Ab⸗ ſchiedswort, das er fuͤr Liska zuruͤckließ, iſt im goldenen Buche aufbewahrt:

„Sc ſcheide von Dir, Geliebte, ehe Du es ahnt. Ewig Dant, daß Du meine Liebe verjtandeft. Kerne auch vers ftehen, was außer diefer Liebe mein Herz regiert. Werde glüdlich, Lisfa, bei den Deinen und durch die Deinen.

Herrmann.”

* }:

Könnte ein Erzähler doch immer zu einem goldenen Buche feine Zuflucht nehmen, wenn der Faden des Ges fhehenden, das heißt die Wandlung in den Herzen, ihm entfchlüpft! Denn wer ermißt ohne Willfür die Ent- wicklung eined Menfchen im Kontakt mit feiner wechfelns

den Umgebung? Wer fchaut der Natur, felbft der eignen, bis auf den treibenden Grund? Wer bürgt auch mir

Schfter Abſchnitt 271

dafür, daß das Bild der fremden Waife nicht ſchon in der Anlage einen falfchen Zug erhalten hat, daß es weit gefälliger euch anlächeln wuͤrde, hätte ihre eigene, junge, weiche Hand den Griffel geführt, anftatt der welfen, fteifen des Paten Magifter?

Aber das ift ja eben ein Merkmal der Wandlung, die ich fchildern möchte, daß das mir vorliegende goldene Buch, nachdem ed ein paar Wochen lang die Schale ge: wefen, in welches ein Strom eigenften Lebens ſich ergoß, je mehr und mehr zur Mappe wurde, zu einem angeeigs neten Sammelfurium, das ein innerliched Stoden be> fundete. Nur über die Eindrüde der nächiten Tage finde ich eine Aufflärung, die mir manche Weitläufigfeit ers fpart. |

„Herrmann ift fort, und fie nennen mich feine Braut. Er felber hat mich nidyt Braut genannt. Er fagte zu mir: Sch liebe dich! Und vielleicht, ich weiß es nicht eins mal, fagte ich zu ihm das nämliche. Der Pfarrer be; hauptet, wir hätten dad Wort Braut in unferer Sprache nicht. Promise bedeute etwas Außerlicheres und viel weniger. Mir ift ſchon promise viel zu innerlich und viel zu viel. Heimlich, über Nacht, ift er fort, und bie Liebe einer Stunde ift mit ihm verflogen. Aber wie feltfam! Sonft, wenn er fort war, dachte ich niemalg an ihn, fam er aber wieder, dann freute idy mich. Kehrte er morgen zurüd, würde ich mich gar nicht freuen, aber ich denke über ihn nadıy den ganzen Tag. Sonft, da intereffierte er mich nicht, aber ich traute ihm. Er ift gut, fagte ich mir; alle andern fagtend ja auch. Und nun? Diefer ruhige Mann mit den Haren, treuen Augen, das ift ein Heuchler von Herzensgrund, ein Verſchwoͤrer,

272 Kran Erdmuthens Zwillingsföhne ein Empörer, gegen den die heißblütigen Spanier Kinder waren. Diefer gutmütige Mann hegt feit fieben Sahren nichts als Haß gegen das Volk, dem feine Väter ent⸗ ftammten, finnt feit fieben Sahren nichts ald Rache gegen das Genie, dem der Weltteil zu Füßen liegt.

„Und diefe milde, leife Frau, die ich Mutter nenne, in deren Nähe mir allezeit war, als liebte mid) Gott, deren Lieblingsfohn Ruhm und Gluͤck im begeifterten Kampfe mit feinen Stammgenoffen gefunden hat, vielleicht auch den Tod, nein, nein, nicht den Tod! diefe friedliche Frau ift die Bertraute, die Hehlerin, die Kelfershelferin jener argen Pläne, fie fegnet, was der Carbonaro, ber fid) Patriot nennt, will und was er tut.

„Run gar aber der Dritte in ihrem Bunde, diefer alte, fegerifche, Feine Pfarrer! Mit dem unfchuldigften Lamm⸗ geficht predigt er mir vor auf Schritt und Tritt von der deutfchen Treue und dem deutfchen Recht, für welche fein Herzensfohn das Blut vergießen will, Öffentlich aber auf der Kanzel betet er für feinen frommen, fatholifchen Landesvater, welcher der danfbarfte Anhänger des Kaiſers it! In welchen Hinterhalt bin ich denn geraten? Wo ift hier Wahrheit und wo Lüge? Wer Iöft mir dieſes dunkle, deutfche Menfchenrätfel?“

In folder Stimmung trat und Liska, feitdem fie Braut hieß, gegenüber. Wir waren nunmehr erft recht gründlich in den Winter hineingeraten; immer dichter trieb, immer höher lagerte der Schnee über der Heide, ed braufte und krachte zwifchen den Wipfeln. Aber Liska glich nicht mehr dem flügellahmen Bögelchen im Novemberfturm; weniger freilich noch dem freudes fprühenden Luftgeift vom Dreifönigsabend. Sie nahm

Sechſter Abſchnitt 278

auch jetzt nicht teil am haͤuslichen Treiben, aber ſie wall⸗ fahrtete auch nicht mehr ſehnſuͤchtig nach der Kloſter⸗ ruine. Von Tage zu Tage fand ich ſie gewachſen will ich nicht ſagen —, aber geſtreckter, ernſter, kaͤlter, ge⸗ meſſener; aus dem launenhaften Kinde wurde eine Dame, weit eher nach Frau Erdmuthens als nach Frau Lodoiskas Schlag. Sie nannte mich nicht mehr Vaͤterchen, und wenn ſie ihre Wohltaͤterin noch Mutter nannte, ſo merkte man, daß Madame oder ma tante ihr flotter vom Herzen gekommen ſein wuͤrde. Die großen, deutſchen Leute impo⸗ nierten ihr nicht mehr, ſeitdem ſie ihr ein Raͤtſel geworden waren, und ich erwartete mit Bangen, ob des Raͤtſels Loͤſung Liebe ſein werde oder Haß. Moͤglich auch, daß, trotz der Verleugnung ihres Brautſtandes, das Bewußt⸗ werden einer geſicherten Stellung ihr das Koͤpfchen ſo viel hoͤher richtete. Monſieur Antipathie wenigſtens ver⸗ ſicherte, ſie habe die Landſtraße nach Deutſchland einge⸗ ſchlagen, was natuͤrlich nicht ausſchloͤſſe, daß fie mit dem eriten beiten franzöfifchen Kurier wieder fehrt machen werde. Die alles begütigende Mutter dahingegen nahm die gemilderte Temperatur für den naturgemäßen Rüds ſchlag bräutlicher Wallungen, und zweifle ich nidht, daß fie durch diefe Bemerkung ihrem Sohne den Schmerz der jähen Trennung zu lindern fuchte,

Herrmannd nicht zahlreiche Briefe find im —— Buche aufbewahrt und allerdings nur ſchwach in den Liebhaberfarben aufgetragen, mit welchen ſein Vater noch als alternder Ehemann ſeine Erdmuthe bezauberte. uͤberdies lebte er zu viel, zu voll nach einer anderen Seite hin, um aͤngſtlich auszuſondern, was dem Ver⸗ ſtaͤndnis eine Bruͤcke ſchlagen konnte. Briefſchreiber xx. 18

274 Fran Erdmuthens 3willingsſoͤhne

muͤſſen gleiche Intereſſen hegen, wenn ſie nicht lang⸗ weilig wirken ſollen. Selber in Herrmanns Briefen an die Mutter waltete jetzt indeſſen eine nuͤchterne Zuruͤck⸗ haltung, welche die Zeitlage rechtfertigen mochte. Viel⸗ leicht, daß ed ihm aber auch peinlich war, dad Freunds fehafteverhältnig zu der einen zum Nachteil der anderen fo deutlic, zum Ausdrud zu bringen.

Eingehendered über fein Treiben erfuhren wir erft, ale Ende Februar mein Bruder Gottlieb flüchtig bei und einfehrte. Der bewährte Verwalter hatte ald Trains offiziant fid) dem Reſervekorps angefchloffen, das General Bülow an der Weichfel zufammengezogen und jegt, unter den Behelligungen von Franzofen und Ruffen, zur freien Verfügung feines Königs nach dem Innern führte. Nun fam der wadere Lieb, um auch im heimatlichen Aus⸗ ande zu fammeln und zu werben. Unfere beiden jüns geren Brüder find ihm fpäter in dad Bülowfche Korps gefolgt, fein Herr war bereitd dem Stabe ded Generals aggregiert.

In weld, gefpannter Stimmung Serrmann Bülow vor Jahren zum erften Male begegnet war, habe ich erwähnt; gewiß war ed aber nicht, wie zwifchen Raul und Thieles mann, die verwandte Eigenart, welche den jungen, ruhigen, deutfchen Patrioten mit dem alternden, rafch erregten Kriegskünftler aus Friedrich Schule dauernd verbunden hat; auch z0g ihn nicht die Ölorie einer heldenmäßigen Bergangenheit. Bülow wurde ja erft ald Greig der allers orten glücliche Sieger. So möchte ic) diefe Unterftellung aus freier Wahl und Neigung fchlechthin eine fataliftifche nennen; ruhmbringend für das foldatifche, verhängnids ſchwer für dag perfönliche Geſchick. Wie anders würde

Sechſter Abſchnitt 273

dereinſt die Erinnerung in Frau Erdmuthens Sohn ge⸗ waltet haben, wenn er, was damals nahe lag, in das Nationalkavallerieregiment oder in jedes andere von Yorks Heerteil getreten wäre! | Bevor Herrmann jedoch zu den Fahnen eilte, war er Zeuge und Teilnehmer der politifchen Vorgänge in Königs: berg. Der Gutöherr von Ganditten gehörte zu der Depus tation, welche den von feinem König verleugneten York unter die durch Stein zufammenberufenen Stände führte. Als aber jegt ein einfacher Landmann ung fchilderte, wie der alte, ftarrföpfige, rauhe General vor den ftaatlichen Megeneratoren, denen er fo lange gegrollt hatte, den Treuſpruch leiftete, den eigenmächtig erhobenen Kampf zu Ende zu führen und Außerftenfalld mit Ehren zu fterben; als jener mit bebender Stimme den hohen Schwung der Berfammlung fchilderte; den mannhaften Geift in der durch zwei drohende Heere, Die ſich beide Freunde nannten und beide wie Feinde gebärbeten, gleich einer Infel vom Mutterlande [osgeriffenen Provinz; den warmen Herzens⸗ puls über dem winterlich erftarrten Grund, den Opfers trieb in dem bis aufs Blut erfchöpften Volke: da zog ein Schauer der Dafeinsfuft durch die Taufchenden Hörer im fächfifchen Heidefchloß, und eine Friegerifche Ader rumorte felber in dem Kerzen des friedfeligen, alten Magifters. Nein, folch ein Auffhwung war noch auf feinem Blatte deutfcher Gefchichte verzeichnet; felber dem herrlichiten der⸗ felben, der religiöfen Reinigung im fechzehnten Jahr⸗ hundert, fehlte die Volksgewalt, der Einklang, das felbft- Iofe Wollen von Recht und Freiheit um jeden Preis. Frau Erbmuthe ftand mit gefalteten Händen und zum Simmel erhobenem Blick; der weltweife Richter erflärte

276 Frau Erdmuthens Smwillingsfähne

fich, fozufagen der reinen Vernunft zufolge, für ein Koͤnigs⸗ berger Kind, und der alte Freiheitsphyſikus fchämte fich ber erften Tränen nidht, die ein Freund in feinen Augen ſchwimmen fah.

Auch die Kleine Franzoſi n war von unferer Bewegung ergriffen worden. Sc mußte ihr die Schilderung ber Junta im Schnee in ihre Sprache übertragenz fie reichte dem Don Amadeo die Hand mit einem Kächeln, das fie feit Wochen verlernt zu haben fchien, und ald wir in gutem, altem Malvafier auf das Heil des tapferen, deut» fchen Baterlandes anftießen, da leerte fie ihr Glas, ohne einen Tropfen Gift oder Galle in den feurigen Saft zu mifchen.

Don Amadeo wird diefen fympathifchen Empfang fei- nem Herrn zu rühmen gewußt haben; der Erfolg des deutfchen Brautftandes fchien im Borwärtäfchreiten, und bald erhielt er Sukkurs von einer Seite, da wir ihn am wenigften erwartet hatten.

Zum erften Male feit Liskas Anmwefenheit beherbergten wir anfangs März franzöfifche Quartiergäfte. Es war ber Zeil der Berliner Befagung, welche der Vizefönig vor Wittgenfteind nahender Vorhut nad, Wittenberg zus rücdzog; ein buntes Gemifch, zum Zeil erft kuͤrzlich aus . Stalien herbeigezogen. Mademoifelle ſchwelgte ein paar Tage lang, wie jedes Wefen, in feinem natürlichen Eles ment; das war ein Plaudern und Tachen, ein füdliches Erinnern und Haͤndedruͤcken, ein bien venu und A revoir! „Binge der Ruͤckmarſch weiter ald bis zur Elbe vor der Hand, wir hätten dad Glüd, eine Deferteurin aus dem bräutlichen Lager zu beweinen“, brummte Bär.

Um fo ernfter befchäftigt war Frau Erdmuthe. Es gab

ee, Schfter Abſchnitt 277

viele Verwundete unter der Truppe; Trümmer des ruſſi⸗ fhen Feldzugs, winterliche Grauenbilder zurüdrufend; auch Kranke, Opfer des mehrwoͤchentlichen Biwaks auf dem Berliner Straßenpflafter, feit dem erften Koſakenuͤberfall. Die, weldye am fchwerften litten, wurden zurüdgehalten, um fich in dem guten Haufe heil zu pflegen.

Unter diefen Halbinvaliden befand ſich eine Marketen⸗ derin, welche erft kürzlich aus Italien herbeigezogen, ſich feiner angenehmen Befanntfchaft mit deutfchem Schnee und Glatteis ruͤhmen durfte. Die Zehen erfroren, bie Knöchel verftaucht, humpelte fie noch an Krüden und ließ fich8 gern gefallen, dag Wieberflottwerden bei ung abzuwarten. Sie war eine Bretonin, nannte ſich Mas dame Barbe und verficherte, die Witwe eines Helden zu fein, der, den Marſchallsſtab in der Taſche, fich bereits zum Sousleutnant aufgefhwungen hatte, ald die moͤr⸗ derifche Kugel ihn bei Marengo traf. Eingefehen habe ich das Trauatteſt allerdings nicht, aber auch feinen pſy⸗ chologifchen Grund gefunden, dad Saframent vor der Trommel zu bezweifeln. Madame Barbe war die ehr: lichfte Haut und das Fraftreichite Menfcheneremplar, das mir von jenfeit ded Rheined zu Geſicht gefommen ift: hartfehnig, wetterbraun, in dem dicken fchwarzen Zopfe noch fein ergrauted Haar, und fein Zahn laͤdiert hinter den firfchroten, vollen Lippen. Gab es ihresgleichen drüben mehr, hätte der Kaiſer die Konffription für feinen nächften Feldzug unter dem ſchwachen Gefchlecht bewerk⸗ ftelligen und dem armen Sünglingeblut einmal Ruhe gönnen follen. Auch der Marfchallinnenftab würde in der rechten Hand gewefen fein, obgleich dad Kerrfchertalent fid, hinter tiefen Kuiren und einer durchaus nicht bres

278 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne

toniſchen Unterwuͤrfigkeit verbarg. Bewußt oder unbe- wußt uͤbte Madame Barbe eine hoͤfliche Diktatur.

Wie es nun aber in jedem energiſchen Menſchenleben, ſei es noch ſo rund und glatt entwickelt, eine Vertiefung oder einen Auswuchs gibt, in oder auf welchem das Licht ſich abweichend bricht, ſo hegte auch dieſes hartgeſottene Weltkind eine ſeltſam erbauliche Antitheſe. Die Witwe des Marſchalls in spe wuͤrde vor Teufel und Hoͤlle ſtand⸗ gehalten haben und dem großen Napoleon in das Fege⸗ feuer gefolgt ſein, wenn beſagte Inſtitutionen ſichtbar⸗ lich ſchon auf dieſer Erde eingerichtet worden waͤren; fuͤr die himmliſchen Angelegenheiten aber hatte ſie ſich aus ihrem eigenen Fleiſch und Blut gleichſam einen Stell⸗ vertreter herangezogen, Monſieur Anſelme Barbe, ihren einzigen Sohn. |

Sie erzählte gern, daß fie ihn fchon von der Wiege ab ferngehalten von dem Tourbillon, der ihr Element ges worden war; fpäter ließ fie ihn im Seminar erziehen, fparte und fammelte für fein „Seelenheil”. Gefehen hatte fie ihn nur wenigemal und auch dann nur auf wenige Momente: „Gekuͤßt habe ich ihn nie, um feiner Heiligkeit feinen Schaden zu tun”, fagte fie befcheident- lich. Seitdem er die Weihen empfangen hatte, beichtete fie ihm, das heißt brieflich, und trug feine Abfolution ftatt Amulett auf ihrer Bruft.

Bor kurzem war Kerr Anfelme nun Cure in einer Ge⸗ meinde der Dauphine, aber, o weh! gleichzeitig ein bitter: böfer Widerfacher des großen Kaiferd geworden, ſeitdem derfelbe in päpftlichen Angelegenheiten die Ießte Hülle bes Antichriftd abgeworfen hatte. Kraft des priefterlichen Amtes wurde der Frau Mutter anbefohlen, fich aus dem

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Dienſte des Faͤlſchers und Schwindlers am Heiligtume zuruͤckzuziehen. Idol und Ideal der braven Vivandieère lagen ſich in den Haaren; der Unfall auf dem Berliner Glatteis mußte ſchlechthin als providentielle Vermittlung betrachtet werden.

Nichts haͤtte ihr daher willkommener ſein koͤnnen, als in angemeſſener Beſchaͤftigung auf neutralem Boden ſich fuͤr den ſchließlich doch unvermeidlichen Ruͤckzug in die Sphaͤre der Heiligung vorzubereiten. Bald von ihrem Unfall erholt, nahm Madame mit empressement Frau Erdmuthens Einladung zu längerem Verweilen an.

Sie machte fein Hehl daraus, vor ihrer glorreichen Fahnenzeit auf einem Edelhofe der Vendée gedient zu haben; ob ald Milchmagd oder Köchin, oder in welcher anderen wirtfchaftlichen Stellung, ließ fich nicht präfus mieren. Madame war jedem Facje gerecht, „aller Prak⸗ tifen Großmutter” nannte fie Doktor Bär. Die idylli- fhen Jugenderinnerungen wachten auf in dem Kerzen der alten Heldin, nicht zum geringften die an ihre Chas telaine, für welche in der deutſchen Schloßfrau ein aufs richtig bewunderted Abbild gefunden ward. Nun fügte ed ſich aber günftig für ihre Wünfche, daß unfere bes währte Auggeberin plöglich an dad Kranfenbett ihrer Mutter berufen wurde. Madame Barbe bot fidh ald Stellvertreterin an, und Frau Erdmuthe fagte willig ja; Ge überließ ihr fogar umfaflendere Dienfte, als fie früher ihren Gehilfinnen eingeräumt hatte, da fie feit Diefem Trauerjahr gern die Hände ruhen ließ, fobald fie ihre Pflegebefohlenen nicht darunter leiden fah. Madame Barbe war aber raſch bei der Hand, jeded Herrſcherrecht auszubeuten.

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„Ein Teufelsweib!“ rief der Phyſikus, ſooft ſie beie einer Amputation oder anderweitigen ärztlichen Liebhabereien Chirurgendienſte leiftete.

„Sin Öötterweib!“ rief wonnefchnalzend der Kantianer, als fie ftatt Meerrettig oder Majoran die erfte frifche Morchelfauce auf die Tafel brachte. Unſere liebe Frau lief Gefahr, zwei ihrer Knechte an die Witwe ded Sous⸗ leutnants zu verlieren.

Den wichtigſten Umfchlag in unferer Hausordnung bes wirfte jedoch der Einfluß, den Madame Barbe auf ihre junge Randemännin gewonnen hatte. Liska fchloß ſich ihr an, wie ein Kind fich, idy will nicht fagen an die Teibliche Mutter, aber an die Nährs oder Pflegemutter fehließt, trogdem die Sympathie durchaus feine gegen feitige war. Bei aller hoͤflichen Form blickte die erfahs rene, alte Dame ziemlicd, von oben herab auf das Daͤm⸗ chen Ungeſchick. Des Daͤmchens zufünftige Stellung in dieſem Vorhofe der Heiligung war aber nicht zu unters fhägen, und die Erziehung für diefe Stellung fein Ges fchäft, vor dem eine Barbe zurüdichredte, wohl aber ein Dienft mehr, durch welchen ſich eine anftändige und feffelnde Dankbarkeit beweifen ließ.

So hing die junge Franzöfin denn am Rockſchoß der alten wie eine Klette; und wenn über die Bildungsforts fhritte in Keller und Vorratskammer mir fein gültiges Urteil zufteht, im Gewaͤchshaus und Treibbeet, fpäterhin auch in der Gartenfultur, waren diefelben nicht zu vers kennen. Seitdem die Witwe ded Sousleutnants mit Tranchiermeſſer und Vorlegelöffel an unferer Tafel res gierte, fehlte auch die Waife Frau Lodoiskas an derfelben nicht, trog Nachbarfchaft und Gegenüber von „Meffteurs

F Sechſter Abſchnitt 281

Anthipathie und Averſion“; des galliſchen Einfluſſes auf Menu und Konverfation möge dabei mit Rühmen gedacht werden. | | |

Alles in allem: die Braut bed deutfchen Mannes fchien nicht ohne Behagen fich in das Unvermeidliche fügen und in Haus und Herd die Löfung des deutfchen Raͤtſels finden zu lernen. Ihre Meifterin nannte - und aufrichs tigen Herzens dad Bereich der deutfchen Chatelaine eine Schule für das Himmelreich; Liebe und Ehe aber behandelte fie ald internationale Angelegenheiten.

Mid; freilid) wurmte ed, daß ich der Praris eines ders ben Berftandes gelingen fah, woran der Geiſt der Liebe und Wuttergüte gefcheitert war. Frau Erdmuthe dahins gegen freute fid, ohne Eiferfucht ded guten Erfolges. „Es ift ein Unterfchied, ob unfere Sprache natürlich oder gleihfam ald Kunft zu und geredet wird,” fagte fie. „Lehre und Beifpiel der beften Fremden würden auch auf und, mein Freund, nicht fo bildend gewirft haben wie Heimatslaut und Geſchick.“

Die legten Winterwochen vergingen ung auf dieſe Weife in einem leidlichen Ruhezuftande. Bon Herrmann hatten wir feit meines Bruders Abreife feine Kunde. Der Krieg war noch immer nicht erflärt; doch erfuhren wir, daß unfer Landesvater vor drängenden Entfchlüffen fidy ges rettet habe, erft an die Grenze, dann über diefelbe hins aus auf neutraled Gebiet. Er war ein gütiger, frommer Herr, und wir liebten ihn; an Heroenkultus machten wir feinen Anſpruch. Nur der alte Bär, der in diefen ges fpannten Monaten häufig bei und eingefprungen war, brummte ftärfer denn je und würdigte Freund Hecht feiner Entgegnung mehr, wenn derfelbe und Tag für

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Tag verficherte, ed widele fid) alles ganz ſachte wieder ab, da ja, vom Standpunfte der reinen Vernunft betrach⸗ tet, jeglicher Krieg ein vermeidbared Unding fei.

* *

Ald wir aber Frühlingsanfang fchrieben, ſenkte fich die friedfelige Peruͤcke, und die borftige Kriegermähne fträubte fich ftolz empor. Der Doktor fchmetterte die gewaltigen Poften vom fiebzehnten März im Schloffe aus: die Kriegs⸗ erflärung; ben Volksaufruf; des grimmen Entfcheidungss mannes von Tauroggen Triumpheinzug in das jauchzende Berlin. Aud) daß Vorf Herrmanns Hoͤchſtkommandie⸗ render geworden, war für die Mutter von Bedeutung; fie faß in Gedanfen und blickte fragend in die werdende Zeit.

Liska verftand von der reichen Botfchaft nur, was ihr übertragen ward durch die alte Franzöfin, deren Ohr und Zunge in ber kurzen Zeit ihred deutfchen Aufenthalte unferer Sprache bewundernswert mächtig geworden was ren. Keine von beiden zweifelte an dem raſch zerfchmet- ternden Siege ihres Kaiſers. Die Alte aber hatte den Takt, die Sunge die Nachahmung, zu fchweigen; bald machte auch die Tiſchglocke aller Politifa ein Ende.

Die Kohlfuppe auch eine franzöfifche Neuerung - war verzehrt, Madame am unteren Tafelende zerlegte einen faftigen Hammelruͤcken, Mademoifelle am oberen mifchte den erften Latticdyfalat des Jahres. Ploͤtzlich fchallte ein ftarfer Tritt vom Flur herein, und zwifchen dem Rahmen der Türe erfchien eine mächtige, blondbärs tige Geſtalt in blauer Litewka und hohen Veiterftiefeln, den Scyleppfäbel umgefchnallt, an der Müge das ſchwarz⸗

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weiße Landwehrfreus; das ganze Wefen durchleuchtet von froh bewußter Kraft; ein Freudenfchrei derZifchgenoffen: -— „Herrmann!“

Und da hielt er auch fchon die Mutter an feinem Herzen fchweigend ein paar Minuten lang; dann nahte er ſich feiner Braut. Sie war um einen Schimmer erblaßt, reichte ihm aber willig, wie fonft, die Stirn zum Kuß. Nun gings mit Händefchätteln und Willkommen die Tafel rund herum bis hinunter zu ihrem neueften Gaſte. Mas dame Barbe Enirte bis zur Erde mit dem Ausdruck ftaus nenden Entzüdend Ich ruͤckte an ihre Seite, den Platz zwifchen Mutter und Braut dem Freunde überlaffend.

„Welch ein Mann!“ rief Madame Barbe. „Ein Her⸗ fules! Mein feliger Leutnant reichte ihm nicht bis an die Schulter, und mein Eure, er ift groß an Geift, Monſieur, aber dem Leibe nach ift er zum Heiligen ges boren. Gibt es unter den Deutfchen viele ſolche Männer, Monfieur?“

„Sch habe feinen, der ihm gleich ift, gefehen, Madame”, antwortete ich ohne Prahlerei.

„Mademoifelle ift ein Sonntagefind, folhen Gemahl!“ fagte die Barbe, ihrer Landemännin eine Kußhand und einen Blick zuwerfend, die dieſe Tächelnd erwiderte.

Herrmann erzählte, daß er die Nacht hindurch geritten, um dad Feft der Sonnenwende mit feinen Lieben zu feiern, daß er vor Abend jedod) fchon wieder aufzubrechen ges zwungen ſei. Liska war gehalten, aber freundlich; fie verforgte ihn mit ungefannter Aufmerffamfeit, ſchaͤlte ihm einen Apfel und knackte Nüffe, die fie felber fehr liebte. Ahr Benehmen glidy dem jedes wohlerzogenen deutfchen Fräufeind in gleicher Lage. Nie aber werde

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ich das glüdfelige Lächeln vergeflen, mit welchem ber junge Dann dieſes hausfraufiche Walten betrachtete,

„Diefe Berliebten!” brummte Bär in mein Ohr. „Erft entzüct fie ihn, weil fie andere ift wie die anderen, und nun ſie's den anderen gleichtut, entzuͤckt fie ihn erft recht.“

Nach dem Danfgebet empfahlen fid) die Tifchgenoflenz audy Madame Barbe machte ihre Reverenz, um ihre Landsleute in den Kranfenftuben mittägig zu verforgen. Liska folgte ihr mit einer Schuͤſſel Krumen für den Huͤhner⸗ hof. Die Mutter, Bär und ich blieben mit dem Sohne allein, und ed fam nun zur Ausſprache, was fo mädıtig die Herzen bedrängt hatte. Sch will mich nicht mit der Wiederholung aufhalten: der junge Patriot fam von Bers lin, und wir fchrieben den einundzwanzigften März 1813!!

Nach einer Weile erhob ſich Herrmann, die Geliebte aufzufuchen. Er fand fie weder im Garten, noch in ihrem Kabinett; fie bereitete im Wohnzimmer den Kaffee, wir traten juft von der anderen Seite ein, und zu einem Bei⸗ einander unter vier Augen fam es nidht.

Mancherlei Geſchaͤftliches drängte fih darauf an den Sohn ded Hauſes heran, ed war ein ununterbrochenes Kommen und Gehen, bid dad Abenddunfel hereinbradh. Sein Korps zog, wie der Doftor gelegentlich verriet, weftwärtd der Elbe zu. Herrmann aber hatte fich ein Relaispferd ſuͤdwaͤrts aufden halben Weg nad, Torgau beftellt. In Torgau hielt Thielemann die reorganifierte fächfifche Armee konzentriert. Das Schickſal unferes Lans bes lag in diefed Mannes Hand. Traute man ihm, dem bevorzugten Bewunderer Napoleond,die Rolle eines York zu, noch jeßt zu, nadydem faft drei Monate feit der Tat von Tauroggen verlaufen waren und der Klaifer im Ins

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und Auslande ein gewaltiged Aufgebot mit Meifterfertig» feit zufammenfcjweißte? Hatte der junge Sadıfe aus Buͤlows Stab den Auftrag, mit dem alten Familienfreunde zu unterhandeln? Wer verfällt in foldyen Schwebezeiten nicht auf Kombinationen!

Herrmanns Pferd ftampfte unter dem Kenfter.

„Einmal noch unfer Bundeslied“, bat die Mutter.

Ich öffnete das Klavier, Hermann fah ſich nadı der Ges liebten um; fie war nicht im Zimmer. So faßte er der Mutter Hand und hob die traute Brudermeife feiner Sus gend an. Seit fieben Jahren war fie in diefen Räumen verhallt; zwei unferer Abendfänger waren vorangezogen in dag eine Land,

Aud) der Mutter noch immer Hangvolle Stimme ftodte. Herrmann allein mit gebämpfter Kraft führte die Strophe zu Ende, Dachte er an Verföhnung mit dem entfremdeten Toten? An das Entweichen des noch Fremden in der Seele des geliebten Weibes? Bei dem fchließenden „Dir und mir” beugte er das Knie vor der Mutter; fie legte fegnend die Hand auf das Haupt des einzigen Sohnes. Tränen riefelten auf ihr Trauerfleid hinab. Als er fich erhob, flanden die beiden Franzöfinnen unter der Tür. Er preßte die Braut an fein Herz und ſchritt haftig hinaus.

Madame Barbe fchaute ihm nach mit einem Blick, der fie zu Fräulein Idunens Schweſter madıte.

„Er ift Proteftant”, fagte fie zu mir. „Pardon, Mons fieur! Sie find ed auch. Aber glaubt er an Gott?“

„An Gott und feinen Sohn fo feit, wie Ihr Eure und auch wie ih, Madame.“

„Daß genügt!“ fagte fie, indem fie meine Sand drüdte.

286 Fran Erdmuthens Iwillingsfähne

„DMademoifelle wird glüdlich fein und felig werden mit diefem Mann.”

Die alte Franzdfin if, wenn auch nicht ohne einige be> rechnende Bintergedanfen, diefer Überzeugung treu ge⸗ blieben, troßdem diefer Mann ein Feind ihres Kaifers und in den Augen ihres Eure ein Keger war.

Auch auf Liska hatte das Abfchiedslied Eindruck gemadıt. Ich mußte ihr die Worte überfegen und ihre Bedeutung für unfer Haus erflärenz; oft fummte fie die rafch erfaßte Melodie vor ſich hin. Eine nadjklingende Wirkung finde ich im goldenen Buche aufbewahrt, das aus jener Zeit mit Ausnahme eines Nezeptes zu Croquant nur leere Blätter enthält. Mademoifelle hatte die Korrefpondenz mit dem heiligen Pfarrherrn in der Dauphine über- nommen, da die Feder eind von den wenigen Inſtru⸗ menten war, an welchen Madame die Erfahrung vom Hand und Händchen machte. Manch perfönlicher Erguß mag ſich dem mütterlichen Diftate angefchloffen haben. Eine Probe von den eingehenden Zurechtweifungen des fernen Beichtigerd aber geben die folgenden Zeilen, die einige Wochen nach Herrmanns Abfchied datiert find.

„Der diefe Strophe dichtete, Mademoifelle, ift einer, welcher mit vollem Herzen in den Schoß unferer ewigen Gemeinfchaft zurücgefehrt ift. Die edelften Geifter des deutfchen Nordend haben diefen Schritt vor ihm und nach ihm getan. Die Proteftanten verhöhnen die Heimkehr der Stolberg, fie leugnen bie des Novalid. Aber feine Poeſien bezeugen fie. Auch diefed Lied. So lieben nur die, welche unfere heilige Slirche vereint. So liebte Ruth, die gebenebdeite Ahnin der unbefleckten Gottesmutter. Sei das Lied Ihnen, Mademoifelle, eine mahnende Stimme

Sechſter Abſchnitt 287

aus der Hoͤh'. Sie ſind, wie durch ein Wunder, in das Haus der Abtruͤnnigen Ihres Geſchlechts gefuͤhrt worden, gefuͤhrt zu einer hohen Miſſion, zur hoͤchſten, die Men⸗ ſchen haben koͤnnen. Arbeiten Sie ſelbſtlos und treu, wenn auch mit uͤberwindung. Was iſt Erdengluͤck gegen Himmelsheil? Scheitern Sie dennoch, werden Sie ſich erinnern, wo die Heimſtaͤtte glaͤubiger Waiſen iſt.“

Alſo Mademoiſelle ſollte ihren ketzeriſchen Braͤutigam bekehren oder Nonne werden. Nun, fuͤr das erſte hatte ſie zunaͤchſt nicht die Gelegenheit, und zu dem anderen ſchien ſie auch kein ſtarkes Verlangen zu ſpuͤren, ſeitdem ſie ſo flink in Haus und Garten hantierte und ſeitdem der Fruͤhling ſich regte, der ſelbſt die Heide zu einem Paradiesgaͤrtlein macht. Auch die Loblieder, welche Muts ter Barbe unverdroffen auf den fchönen großen Baron und fein reiched Erbhaus anftimmte, bewirften Feine Elöfterlichen Geluͤſte. Beifall ift immer eine ftärfende Liebeswuͤrze.

Von dem geſamten haͤuslichen Treiben war es jetzt nur noch der ſonntaͤgige Kirchgang, an welchem die beiden Fremden nicht teilnahmen; die junge, weil er fie lang⸗ weilte, die alte, weil, wie fie ehrlich befannte, ihr Eure gefchrieben: fein Gottesdienft fei beffer als ein falfcher. Das praftifhe Weib hatte indeffen bald eine Aushilfe erfonnen, für deren Durchführung Frau Erdmuthe gern die Erlaubnis gab. Mit Hilfe etlicher Arbeiter ward die Feine Klofterfapelle binnen weniger Tage in ein gar ſchmuckes Tempelchen umgewandelt; der Schutt ent- fernt, der Boden reinlich mit Sand beftreut, in den nad) dem Kloftergarten führenden, leeren Türbogen ein ab⸗ fchließendes Gatter eingefügt. Über dem Altar ftand das

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umgefunfene Marmorkreuz aufgerichtet; im Nifchens fohrein brannte ein Lämpchen Tag und Nadıt. Wehten durch die fenfterlofen Steingemände auch die Winde, was tat ed, da es Frühlingswinde waren, die da wehten, und dunkler Efeu gleicd, einem Vorhang die Öffnungen verhüllte? Auch im Innern fehlte es nicht an grünem Schmuck; zunädhft konnten ed nur Tannenreifer fein, mit der Zeit aber wurdend Blumen, immer bunter und reicher.

Nach diefem Weihepläschen pilgerten bie unzertrenns lichen Landemänninnen nun Tag für Tag; die eine, um fchäffternd an ihren Sohn zu denfen, die andere, um ihren Roſenkranz abzubeten. Spurlos im Heideſande verweht war der Miffiondsauftrag meines rechtgläubigen Herrn Amtöbruderd daher nicht. Auch beziehe ich auf die Schilderung der Fleinen Kapelle folgende im goldenen Buche verwahrten Worte von feiner Band: „Solche wohls erhaltene Zeugniffe der Vergangenheit find Bürgen für die Zufunft; was war, kann wieder werden, muß werben, wird werden.” |

Mehrere Wochen vergingen ohne Kunde von und über Herrmann; um fo unbegreiflicher, da wir fein Korps nicht allzufern von ung, nahe der Elbe, wußten. Freund Bär hatte mindeftend den guten Gefchmad, die brummende Ungeduld in feine Höhle einzufchließen. Endlidy aber fam er mit einem Subelfignal und einem Blatt feines Manns, das den Erfolg von Möcern, den erften Erfolg bes glücklichen Bülow meldete. Herrmann hatte ſich den Dragonern angefchloffen, welche der General den Oppens fhen Bortruppen bei Zehdenid zu Hilfe fandte.

„Eine erſte Probe,“ fo ſchrieb er, „in jedem Sinne weit⸗

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ab von den Erwartungen, mit welchen ich im Winter von Euch fchied. Die Truppen des Bizefönigs find vom rechten Elbufer verdrängt; ficher nur für furze Frift.“

„Gleichviel, fie haben Blut geledt”, fagte der Phyſi⸗ tus. Am anderen Morgen erhielt id) von ihm daß fols gende Dlatt:

„Mich kigelts, ein paar Gliedmaßen abzufägen. Kommts Fieber, verlaßt Euch auf den lieben Kerrgott und die Brühen der Vivandiere. Ihr werdet ohne Doktor nicht mehr Leichenpredigten zu halten haben.“

* ® »

Der. Doktor war fortgegangen an dem erften wirffichen Frühlingstage, der nicht bloß im Kalender ftand. Auch und hatte der Sonnenfchein über den Garten hinaudges lot. Die Ulmen fprengten ihre bräunlichen Knofpen, und die Wiefe glänzte wie ein Smaragd; dazwifchen plätfcherte das Bächlein in ſtolzem Übermut, als ob feine Frühlingsfülle fein Ende nehmen könne; unter Erlen und Maienfproffen, hod) oben im Blau, allerorten Mufit und Iuftiged Bewegen. Sogar der langgefchnabelte Haus⸗ freund zeigte Happernd an, daß er die alte Sommers wohnung in der fahlen Pappel wieder bezogen- habe, „Was bedeutet das?" fragte Liska, die noch nie ein Storchenliebeslied gehört hatte.

„Es bedeutet, daß ein Kindchen vom Simmel in unferen Schornftein fällt“, antwortete ich lachend. Sie ladıte auch und tänzelte voran mit den Badhftelzen um die Wette. Während der Winterreife hatte fie das ſchwarze Kleid abgelegt; feitdem trug fie’d wieder; vielleicht aus Ruͤckſicht auf die trauernde Mutter; vielleicht aus ſpa⸗ xx.19

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nifcher Gewöhnung. Statt ded Hutes war ein Spitzen⸗ ſchal über den Kopf geworfen; der erfte Veilchenftrauß des Jahres ftecte über dem Ohr. Ich folgte ihr über die Ruine hinaus; Frau Erdmuthe und die Barbe bogen in den Kirchhof ein, auf den Die Kapelle ihren Ausgang hat.

Ein tätiges Treiben waltete hier, feitdem der Boden aufgetaut war. Der höderige Plag wurde geebnet, mit reinlichen Wegen durchkreuzt, in grüne Rafenfelder ein> geteilt; Lindenalleen waren bereitö gepflanzt, eine lebens dige Umzäunung angelegt. Die mwüfte Stätte follte fid} zum würdigen Empfang von Gäften vorbereiten, und dieſe Säfte follten Tote fein.

Mit dem alten Freiherrn war in der Felöfchen Erbgruft unter unferer Kirche der legte Plag ausgefüllt, und hatte feine Tochter von jeher dem neuen Öefchlechte eine Ruhes ftatt unter freiem Gotteshimmel beftimmt. Seitdem der Tod des Kloftererben zur Gewißheit geworden, ward nun der Umkreis der Kapelle zu biefer Stätte auderfehen, in ein Öärtchen umgewandelt und mit einer Roſenhecke von dem weiteren Raum getrennt, welcher der Gemeinde ald neuer Gottesacker überlaffen werden follte, wenn, berechenbar mit Abſchluß des Jahres, der gegenüberlies gende Ältere fich gefüllt haben werde. Eine Steinbanf dicht vor dem Slapellengatter bezeichnete den Platz, auf welchem unfere liebe Frau ihr Tettes Bett fich erwählt hatte.

Die Gegend bot feinen Blick fo freundlich ernft wie von diefer Bank. Vorwärts, über die dereinftigen Grab⸗ reihen hinweg, die Bachwiefe mit ihren Erlenbüfchen; zur Rechten der dichte Ulmengang, der Stadt und Schloß verhüllte, links ein junger Birfenwald, und im Hinter⸗

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grunde die Ruine, von den Wipfeln der Heide uͤberragt. Ein Vorhof, zur Beſchaulichkeit einladend, fuͤr unſere einſtige Friedenskirche.

Heute zum erſten Male ruhte Frau Erdmuthe auf ihrer Bank, und wie innig mag ſie an die beiden Graͤber ge⸗ dacht haben, die ſie ſo gern an ihrer Seite geſehen haͤtte: an das friedliche in den Thuͤringer Bergen und an das grauſige zwiſchen den verkohlten Truͤmmern der alten Zarenſtadt! Die Barbe putzte mit ihrem Gartenmeſſer an den Efeuzweigen, welche die Kapelle umrankten.

Liska und ich hatten die Heideſtraße bis zu den aͤußerſten Ruinenmauern verfolgt. Zwiſchen dem ſchuͤtzenden Ge⸗ ſtein ſproßten Straͤucher und Ranken in friſchem Laub; die Droſſeln lockten, die erſten Schmetterlinge hatten ſich entpuppt, auf dem durchwaͤrmten Boden regten ſich Kaͤfer und Gewuͤrm. Wir hatten Oſtern, ringsum herrſchte Seelenſtille. Landleute feiern in der freien Natur, die ihre Werkſtatt iſt, auch nicht am erſten wonnigen Jahres⸗ tag. Es war faſt ein Wunder, daß von weitem ein Leiter⸗ wagen langſam im Sande einherſchleifte. Jetzt hielt er an und lenkte zuruͤck. Ein Bauer, der ausgeſtiegen war, kam uns muͤhſelig am Stocke entgegen; er ſchien es eilig zu haben, mußte aber oftmals innehalten; er trug einen Schafpelz und tief in die Stirn gedruͤckt eine Pudelmuͤtze, auch kniehohe Juchtenſtiefel, die nicht unſere Bauern⸗ mode ſind.

Liskas Falkenaugen waren auf ihn gerichtet; als er noch etwa zehn Schritte von und entfernt war, ftärzte fie auf ihn zu mit audgebreiteten Armen. „Lisfal" „Raul!“ fchallte ed wie aus einem Wunde; fie lagen umfchlungen Herz an Herz. Dann zog fie ihn an ber Hand mitten

238 Grau Erdmuthens ISwiltimgsföhne

burd; die Ruine. Das Mark ded Mannes fchien plöglic, verjüngt. War ed denn Raul? Ich folgte fo haftig ich vermochte, meine Knie zitterten. War ed Raul? Noch immer erfannte ic) ihn nicht. Aber woran hatte fie ihn erkannt, den fie niemals gefehen?

Die Kapelle lag hinter ihnen; jegt fanden fie unter dem Öatter.

„Sin Kind ift vom Simmel gefallen, ba haft bus, Mutter, da haft du deinen Raul!“ rief Liska in Subels tönen.

Der Dunn warf ſich zu Boden, er umflammerte bie Knie der trauernden Frau; er bebte und fchluchzte, die Müge glitt von feiner Stirn. Ja, ed war Raul!

Mer hat die Freude in folder Erfchütterung gefehen ? Mer malt fie aus? Nicht Mutter noch Sohn gaben einen Laut; nur Liska hüpfte rund um die Bank herum, Hlatfchte in die Hände und lockte wie ein junger Pirol: „Raul, Maul, Raul!“

Die Mutter zog ihn vom Boden in die Höhe; num bes merfte er auch mid); er fprang mir an den Hals. Der alte, warmherzige Sunge füßte mir die Baden, den Kopf, die Schultern, die Hände, dann rannte er zuruͤck zur Mutter, zu Liska, alled wie im Taumel.

Nun rüdten fie auf der Banf zufammen Hand in Band, der Sohn zwifchen Mutter und Tochter. Sie blicten ihm in die Augen, in welchen noch viel von Krankheit und Elend gefchrieben ftand. Auch die Freudenblüte auf feinen Wangen erloſch wieder, jach wie fie aufgeblühtz er wurde immer weißer und matter, fein Kopf fant auf ber Mutter Schulter hinab. „Er ftirbtl” fchrie fie auf. ‘hr erftes Wort.

Sechſter Abſchnitt —283

„Monſieur wird noch nuͤchtern ſein“, beruhigte Madame Barbe, zog aus ihrer Schuͤrzentaſche ein Stuͤck Brot und ſchob es ihm ohne Umſtaͤnde in den Mund. Er verſchlang es mit Gier; ich ſprang nach Wein in die Pfarre; er ſog die Flaſche aus auf einen Zug. Nun war er erholt; er taumelte und lallte; aber das war vom Wein. Sie zogen ihn in die Höhe von dem Grabe der Zukunft- wer dachte daran? Die Mutter auf der einen Seite, Liska auf der anderen legten den Arm um feinen Leib; fo führten fie ihn die Ulmen entlang nadı dem Schloffe.

Die Mutter verfchwand mit ihm in ihrem Sabinett; früher hatte ihr Gemahl ed bewohnt, nun räumte fie ed dem Sohn. Wir waren im Wohnzimmer zurücgeblieben; Lisfa ausgelaflen vor Luft. Sie fprang vor den Trus meau und nidte lachend ind Glas, ald wärs einem ans dern ind Gefiht. Dann hüpfte fie hinaus und fehrte nach einer Weile umgefleidet wieder; fie trug ein weißes Kleid und eine Monaterofe in den Locken; fo fah fie body noch viel reizender aus ald mit den Veilchen im ernften Schwarz. Sie horchte an der Tür ded Kabinetts, Tief hin und herz ftreichelte ihre alte Barbe, nannte mid) wieder Vaͤterchen; horchte von neuem, fummte von dem Bundeslied immer nur die einzige Zeile: „Un bonheur que nous aspirons!“ und laufchte noch einmal. Sm goldenen Buche fteht unter dem Datum dieſes Frühlingsfonntags:

„Sc habe auf ihn gewartet wie auf meinen Stern und ihn erfannt an meinem Spiegelbild.“

Als nach dem Friedensſchluß fat bie halbe fächfifche Nitterfchaft eine preußifche geworden war, hatte Fraͤu⸗

291 Frau Erdmutheus Iwillingsföhne

lein Iduna die Haͤlfte ihres Wirkungskreiſes eingebuͤßt, und nehme ich an - obgleich es auch andere Auslegungen gibt -, daß fie freiwillig ein patriotiſches Opfer brachte, als fie, vor dem preußifchen Sohanniterfreuze über dem Herzen einftiger Freunde erfchaudernd, die abtrünnige KHemifphäre von ihrem Stationswechfel ausfchloß. Als Beleg aber, daß energifche Naturen aus einer bedeutenden Bahn ſchwer zu verdrängen find, werden von meinen Lefern diejenigen, welche Claurens Almanach und die Abendzeitung noch in Erinnerung haben, längft im Maren darüber fein, daß die fächfifche rote Dame für ihren Un⸗ terhaltungsberuf nur das Vehikel gewechfelt hatte.

So ift denn auch die wunderbare Rettung des Süng- lings, den fie mit Leidenfchaft geliebt haben würde, wenn fie nicht feiner Großmutter Blumen auf den Hochzeits⸗ pfad geftreut, von ihr novelliftifch behandelt worden. Sie hat in den Farben getufcht, die aus ihrem Innern durch das Äußere tranfpirierten, in der Zeichnung aber einen Aufwand der Erfindung als Überfluß erachtet; eit erotifches Zwifchenfpiel abgerechnet, zu welchem der Bis ftorifer ber Zwilliingsbrüber weber Ja, noch Nein zu fagen weiß, das aber die Unfchuld Feiner Mimofa fenfitiva jener Tage gefränft haben wird. Studiert alfo den „Ritter der Provence”, die Novelle ift wahr.

Nur eines fehlt in derfelben, das in ber Gefdyichte der Zwillingsbräder nachgetragen zu werben verdient. Zu ber Autorin Rechtfertigung fei befannt: ed durfte, ja es mußte darin fehlen, da ber provenzalifche Held dort ein Vollblut, hier ein Halbblut und weniger ift. |

Der arme, junge Schäferfohn Kietz aus Rieg hatte ber Wahrheit gemäß audgefagt. Ja, bie Herberge mit dem

Sechſter Abfchniti 293

anlodenden Schilde in der Vorftadt von Moskau war eined Deutfchen Haus. Ein deutfches Mütterchen hörte ben Hilferuf, der fich dem Unglüdlichen in feiner Mutter⸗ ſprache entrang, als er, aus betäubendem Schlummer erwachend, fid; von züngelnden Flammen umringt fah, bie ſchwelenden Balken über ſich frachen hörte. Einen fremden Motfchrei würde fie nicht verftanden ober ihr Dhr dagegen verftopft haben. Der alte Heimatslaut dringt in der ftumpffinnigen Greifin Herz. Sie zerrt den Sohn herbei, der verzweifelnd den Reſt feines Wohls ſtandes zu retten bemüht ift. Auch er hört das: „Wutter, lebe wohl!“, das der fremde Mann, halberftickt, unfähig, fih in die Höhe zu richten, mit zum Simmel erhobenen Händen hervorpreßt: „Mutter, lebe wohl!“

Und fie laffen ruhig die Habe verbrennen, um mit Les bensgefahr den Landsmann zu retten, ber ald Feind in ihre neue Heimat gelommen ift; zwiſchen Dualm und Trümmern ziehen fie ihn hervor, fchleppen ihn in den Garten, beleben ihn, hüllen ihn in ruffifche Kleider; dann unter Betten und Hausrat verpadt, fahren fie ihn im eigenen Karren, als ihren Sohn und Bruder, ſuͤdwaͤrts ind Sand hinein, wo in der Nähe von Tula, zwifchen deutfchen Anfiedlern, eine Tochter häuslich eingerichtet iſt; dort pflegen fie ihn heil von Typhus und Wunden, teilen ihre Armut mit ihm, und als die Gegend frei ift vom fremden wie eigenen Heere, da geleiten fie ihn, Strede für Strede, heimmärts bis an die galizifche Grenze.

Nun aber leſt es nach im „Ritter der Provence,“ wie er, von dort ab ganz allein, ſchwach, matt und doch wieder obenauf, einen ſpaͤrlichen uno immer ſpaͤrlicheren Not-

296 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne

pfennig in der Tafche, die heute Iuftigften, morgen fchauers lichſten Abenteuer befteht: in Paläften und Hütten, zwi⸗ fchen Schneebergen und Eidfchollen, unter Juden, Polen und ruffiihen Nachzuͤglern, bald ald Deutfcher, bald ald Franzofe, ald ZTafchenfpieler und Komddiant, als Tanzmeifter, dann und wann auch ald Bettler um einen Biffen Brot; wie er endlich in dem vom Feinde befegten fächfifchen Heimatslande kaum der Gefangenfchaft ents fhlüpft: alles das ift abenteuerlicy unterhaltend barges ftellt; aber Hunderte haben ſich ebenfo abenteuerlich durchgewunden. Seltſam, nein, wundervoll ift ed nur, daß es ein Notfchrei in feiner gefchmähten Mutterfprache, daß ed der Muttername war, der ihn gerettet hat, baß ed Menfchen aus feinem verleugneten Baterlande waren, die ihn dem Leben erhalten haben.

„Schone dich, mein Raul. Uns genügt für heute, daß du gerettet bift, heim bei deiner glüdlichen Mutter“, fo unterbrad, mehr ald einmal Frau Erdmuthe den uns ermüdlichen Erzähler, ald wir und am Abend im Familien zimmer wieder zufammengefunden hatten. Er hatte ein Bad genommen, ſich umgefleidet, Hunger und Durft ges ftillt, ein paar Stunden gefchlafen; nun faß er bläffer und fihmäler als fonft, aber der alte, fröhliche Raul, auf einem Schemel zu Füßen der Mutter, und ihre milde Hand ftreichelte die Töckchen, die nadı der fchweren Krank⸗ heit über der Stirn zu fproffen begannen.

Jetzt zum erften Male fragte er nach dem Bruder. Der Mutter hatte vor diefer Berührung gebangt. Raul wußte ja noch nicht, daß mit dem Blute von Mödern der Krieg eine Tatfache geworden und Herrmann unwiderruflich in das lager der Gegner getreten war. Doc) nahm er’s heiter.

Schfter Abfchnitt 297

„Bercingetorig!” fagte er lachend. „Es wird eine kurze Siegeöfreude fein.” Damit ward abgetan.

Während der Nacht fiel mir ein, daß von Liskas bräuts lichem Verhältnis gar nicht die Rede gewefen war. Ald ich am andern Morgen den beiden jungen Verwandten im Garten begegnete, fagte ich daher mit Abficht: „Ich habe Gelegenheit durd; den Doktor. Wollen Sie mir eine Einlage an Ihren Bräutigam geben, Liska?“

„Nein“, antwortete fie kurz angebunden. Raul fragte erftaunt:

„Du bift Braut, Liska? Weflen Braut?“

„Shres Bruders, lieber Raul”, fagte ich.

„Und das erfahre ich erft jegt? Ich habe euch freilich noch wenig zu Atem fommen laffen“, verfegte er lachend.

Liska aber fiel ein mit gefräufelter Stirn: „Ich bin nicht feine Braut; er hat fein Wort von der Zufunft mit mir gefprochen. Ich weiß von nichts.”

„Liska, Liska!“ mahnte ic, „Sie wiffen, wie Herrmann Sie liebt!“

„Bah! Eine Stunde lang. Heiratet man fi darum? Über Nacht war die Flamme verflogen. Die Sunta im Schnee hat fie ausgelöfcht.”

ch hielt eine Rede über der Mutter Wünfche und Herrs manns Gluͤck. Aber hörten fie darauf? Sie e Iherzten fchon wieder miteinander.

„Sc möchte wohl fehen, wie ihr miteinander Schritt haltet,“ fagte Raul; „das Heine, ſchwarze Affchen und ber große, weiße Elefant. Komm, Mignonne, laß und pros bieren, wie weit bu mir reichſt.“

Sie ftellte fich neben ihn. „Bis zur Schulter!“ rief fie ſtolz.

298 Fran Erdmuthens Bwillingsfähne

„Ihm alfo bis in die Magengegend, wo ja, nad) Freund Hecht und anderen, die Seele ded Menfchen ihren Sig haben fol,” erwiderte Raul. „Nun, ich gra⸗ tuliere, gluͤckliches Paar.”

Und fo unter Lachen und Neden war auch biefe Au⸗ gelegenheit abgetan.

Es folgten nun ein paar Wochen allſeitigen Behagens. Nach der leidenſchaftlichen Unruhe freuten wir uns der friedlichen Stunde, freuten uns des Lenzes nach dem ſchwer laſtenden Winter. Frau Erdmuthe war gluͤcklich, ſolange ihr Liebling ſchwach, pflegebeduͤrftig, vielleicht fuͤr allezeit kampfesunfaͤhig unter ihrem Dache weilte, ja, ſie atmete leichter, als ſie ſeit dem Tode ihres Gatten geatmet hatte. Oft rief ſie wohl mit einem Seufzer: „Herrmann!“, aber der Seufzer galt nur der Sehnſucht nach dem Wiederſehen und Wiederfinden der Bruͤder. Auf dem Kriegsſchauplatze war ja nach der erſten gluͤck⸗ lichen Tat eine Pauſe eingetreten und Herrmann uͤber⸗ haupt eine von den feſten Naturen, um welche auch der Liebendſte ſelten ein Bangen fuͤhlt. Seine reine Sache feite ihn in den Augen der Mutter. Und wenn im alten Tierbuche geſchrieben ſteht, daß ſchon das gedoͤrrte Auge des Baͤren „groß, ſtark und freydig“ als Schutzmittel wirkt gegen Furcht und Geſchrei, wieviel mehr noch wirkt ein lebendiges Baͤrenauge, wenn man es auf einen Sohn „groß, ſtark und freydig“ gerichtet weiß!

Ja, die Mutter war froh und getroſt. Oft ſprach ſie von einer Reiſe nach dem Suͤden, die ihrem Geneſenden die Kraͤfte wiedergeben und in einer Stunde, die ſie her⸗ anruͤcken ſah, ihn von dem Platze der Entſcheidung fern⸗ halten ſollte. Leider fehlte uns ein mutiger Griff, wie

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der unferes Doftord, um für diefen Plan die mandhers feitö auftauchenden Schwierigkeiten rafch zu befeitigen. Selber Rauls Einwände würden in jener Zeit nicht uns überwindlich gewefen fein.

„Barum reifen?” fagte er. „Bin ich nicht genug ums hergetrieben worden? Diefe köftlihe Ruhe tut fo gut. Nie habe ich mid; behaglicher gefühlt, Mama. Mir ift, als ob ich Kindermärchen erzählen, Kinderlieder fingen follte. Auch muß die Entfcheidung ja erft abgewartet werben. Zum Winter, Mama, wenn Frieben ift, dann!”

Er hatte gleich nach der Heimkehr fidy fehriftlich bei General Thielemann gemeldet und einen kurzen Erhos fungsurlaub erbeten. Umgehend erhielt er denfelben auf unbeftimmt ausgedehnte Zeit, zugleich mit der Augficht auf Einreihung in eines der neugebildeten Kavalleries regimenter. Bertraulic, hatte der alte Freund beigefügt:

„Sratulieren Sie ſich, während diefer defperaten Lage mit Ehren Invalide fein zu bürfen. Die Kataftrophe fann nicht zögern. Haben Sie Ihren trefflichen Bruder gefehen? Sch prophezeie ihm eine glänzende Karriere.”

Raul, zuverfichtlidy wie nur je ein Glüdlicher, fand in dieſem Nachſatz Fein Arg. Er, wie wir, erfuhr von der Außenwelt faum dad Allgemeinfte. Deutfche Zeitungen madhten in jener Zeit nicht den Anfpruch, Orakel zu fein, und ber Politifus unferes Kreiſes fehlte. Sachſen nannte fih neutral, obgleich Ruffen und Preußen das Land durchzogen und obgleidy oder weil? - fein König im Auslande refidierte. Raul fpottete darüber, beflagte es aber während feiner gegenwärtigen Hinfaͤlligkeit nicht. „Armer General!” fagte er, nachdem er Thielemannd Schreiben gelefen. „Wer möchte in feiner Klemme ſtecken?

800 Frau Erdmuthens Imiltingeföhne

Aber er ift der Dann, fidy hindurdhzuminden, und ber Alerander ja auch ſchon auf dem Wege, ber biefen fäch» fifhen Knoten durdhhauen wird.’

Herrmann, durch den Doftor benachrichtigt, fandte dem aus dem Grabe Erretteten einen brüderlichen Gruß. Er hielt ihn für hilfe» und fchonungsbedürftiger ald er war. Politifche oder militärifche Andeutungen waren ver» mieden. ‚Laß Dich”, fo fchloß er, „geduldig von ber Mutter heil pflegen und Dir von meiner Fleinen Lisfa die Zeit vertändeln. Sie wird glüdlic, fein, in Dir einen Bruder lieben zu können!”

„Alles mögliche,” fagte lachend Raul, „daß er auf bie Rolle ded Armin dem Bruder Flaviud gegenüber von vornherein verzichtet.”

Und die Eleine Tändlerin, wie fteht fie während diefer Frühlingswochen in der Erinnerung bed alten Mas giſters? Froh, ja, auch fie. Aber merfen wir ed denn genau, wie Tag für Tag ein Kinöfpchen zur Blume ſchwillt? Die Nacht, in der fie plöglich die Hülle ges fprengt hat, lag nod; fern. Liska war nicht mehr bie fchäffternde Wirtin und nicht mehr die werdende Dame aus der Winterzeit; noch viel weniger aber war fie dad fiechende Vögelhen und die ſchmachtende Nonne vom Herbft. Sie war wieder unfer Sommerfind; nur deffen Launen und heimatfüchtiger Eigenfinn fchienen ſpurlos verweht. Dad Nadelharz buftete im Frühlingsfchuß ſtark wie fonft; wenn fie aber am Arme ihred Kameraden durch die Heide fchlenderte, im leichten Wagen oder auf munterem Pferdchen an feiner Seite fie freuz und quer durchftreifte, da verlangte fie nicht nad; dem Orangen» weihrauch am Poftlipp, und wenn fie am häuslichen

Sechſter Abfhnttt 801

Mittagstifche ihrem Ebenbilde gegenüberfaß, da ſchmeck⸗ ten ihr Kohl und Nadieschen fo gut wie Dliven und Feigen. Ja, auch Liska war glüdlich, aber ed war ein fo offenes natürliches Gluͤck, daß auch ein Schwarzfeher nur Freude, nicht Arg aus feinem Anblick hätte ziehen können.

Zufpruc, von außen hatten wir in diefen Wochen wenig. Der Frühling ift für Landedelleute eine ungaftliche Zeit. Die Müpigen zögern im ftädtifchen Winterquartier; die Tätigen haben mit der VBeftellung die Hände voll zu fhaffen. Heuer zudem war die Spannung allerorten groß. Nur der zur Tat entfchloffene Wille treibt in fols chen Zeiten ded Hangend und Bangens zueinander; wir aber waren ja neutral, und ich täufche mid) wohl nicht, wenn Frau Erdmuthend gaſtliches Haus bedenklich ges mieden wurde, feitdem der politifche Zwiefpalt ihrer Söhne offenkundig geworden war. Die ed heimlich mit Herrmann gehalten hatten, blieben aus, da ein frans zoͤſſſches Buͤndnis noch immer in der Schwebe hing; Rauls gleichgefinnte Franzofenfreunde mochten für den Fall eines ruffifchen Sieges an einen preußiſchen Sieg dachte man nicht durch eine voreilige Verbrüderung fidy doch auch nicht fompromittieren. Ein jeder flammerte ſich an dad Wort Neutralität, obgleich ein jeder im ftillen eine Sänfehaut über feinen Leichnam riefeln fühlte, wenn er der Not gedachte, welche ftatt eines vor den Kopf geftoßenen Bewerbers ihrer zwei über unferen ſchutzloſen Heimatsboden bringen mußte.

Auf dieſe Weiſe ſaßen wir hinter dem gruͤnen Schirm unſerer Heide, vor Zugluft von außen geſchuͤtzt. Wir wußten, daß es vielleicht dis !eßte Gunſt einer friedlichen

802 Fran Erdmuchens Zwillingsföhne

Stunde war; eben darum aber fcheute fich ein jeder, an den Pendelfchlag zu erinnern, der dem anderen fagte: Sie ift abgelaufen. Und da ging ed und denn wie dem Älpler, wenn er angftvoll lauſcht auf ben Föhn, der die Lawine zu feinen Häupten in dad Tal herniedertreiben kann, indeflen der Flügelfchlag eines Vogels den Floden Löft, der, rollend und grollend und immer dichter fidh ballend, zum Sturze wird und des Taled Saaten begräbt.

5 ı$ *

Das Vögelchen, welches die Lawine über unferem Saufe zum Sturze bringen follte, war wieder einmal die vers ehrte Kamilienfreundin, die ihre Pfingftftation verfrüht hatte, um den zufünftigen Helden der Provence mit einer Jubelhymne zu begrüßen. Leider jedoch war es nicht Seligfeit allein, welche die Getreue ſchon am erften Maientage in unfere Arme führte. Kaum daß die De- amation der Hymne beendet war, die Wonnezähre fich ruͤckwaͤrts verlaufen hatte, fo entlaftete Fräulein Iduna ihr fchmwerbedrängtes Gemüt von der Wiffenfchaft um die ungeheuerfte Perfidie, welche die Weltgefchichte bis⸗ her gekannt hatte. Der Gouverneur von Torgau unter: handelte wegen Übergabe der nneinnehmbarften Feftung in Europa mit den - nein, nicht mit den Ruſſen, denn ed war die Rede von einer Perfidie! - er unterhandelte mit den Preußen.

Raul nahm die Sache fpaßhaft. Sein Gönner, fein Freund, der feurigfte, dankbarſte Anhänger bes großen Kaifers, mit gleichem Recht hätte er, er, Raul von Saint Roc, ald Abtrünniger verläftert werben fönnen. Er lachte ob der Phantafıe.

Sechſter Abſchnitt 803

Aber Fräulein Iduna beteuerte mit ihrem „Ehrenwort“, daß fie nicht ald Dichterin, nur ald Echo die Stimme ber Gefellfchaft wiedergebe; fie fdhilderte mit Rührung bie peinvolle Lage der armen, in Dresden weilenden Ges neralin und ihrer Kinder; fie führte Szenen vor der Bers legenheit, ber Entrüftung in den verwandten und bes freundeten Familien; fie nannte die Namen der Offi⸗ ziere, welche entfchloffen waren, in Öfterreichifche Dienfte auszuweichen. Einer von Thielemanns Adjutanten, Rauls naheftehendfter Kamerad, war unter diefer Zahl. Raul lachte nicht mehr. Er ging mit heftigen Schritten im Zimmer auf und ab; feine Hände waren geballt, die Bruft wogte.

Als nun aber auch unfer friedfertiger Philofoph mit dem Geftändnis hervorrücte, ähnliche Gerüchte auch in bürgerlichen Kreifen vernommen, aber nicht geglaubt zu haben, da fah ich, daß die Lawine im Rollen und der Verſchuͤttung nur durch rafche Flucht zu entkommen fei. Ich beftätigte, daß bie preußifchen Patrioten auf einen Entfchluß des fächhfifchen Generals rechneten, auf eine eigenmäcdhtige Tat, die ihrem Heere den Rüden decken würde.

„Nimmer! Nimmermehr!" rief Raul außer ſich. „Thies lemann ift fein Wallenftein, Fein York, fein Niederträchs tiger!“ |

„Und wenn er durch einen zwingenden Entfchluß uns ferem teuren König fein Land erhalten könnte, bad Land, das deine Heimat ift, mein Raul? Wenn er dem heutfchen Baterlande ein ftarker Helfer werben koͤnntef“ fagte mit bebender Stimme Frau Erdmuthe.

„Auch du, Wutter!” fchrie Raul wie ein Befeffener.

304 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne

„Auch du? Nun wohlan: den Sandhaufen dem Bers räter! Und den Untergang dem zagen, zähen, alten Mann, der ſich König ſchelten laͤßt! Ich aber werde der Stunde fluchen, in der ich dir und deiner, nidht meiner Hei⸗ mat zu Liebe Vafallendienfte nahm, wo id) Kerrendienfte nehmen durfte. ich werde dem König den Degen vor die Füße werfen, werde mich, und wärs ald Stüdfnecht, unter dad Banner derer ftellen, zu denen ich gehöre, ges hört habe, gehören werde bis zum legten Atemzuge.“

Er ftürmte hinaus, Liska ihm nad), Sie hatte nur feine Wallung, nicht die Worte, verftanden, denn jegt in der Wut, wie damals in der Todesnet, hatte er die Spradje geredet, die er ald die feine verleugnete.

„Weldy ein Charakter!” rief Fräulein Iduna begeiftert, ber fächfifchen Schmähung zum Trog. „Ein alter Römer: ein Goriolanus! Glüdfelige Gracchenmutter!“

Ach, die unglüdfelige Mutter war tödlidy getroffen in die Knie zufammengebrodhyen. Die alte Franzöfin hielt fie mit ihren Armen umfchlungen. Audy fie hatte den Sinn der wilden Rede nicht gefaßt. Aber fie fühlte, daß ein Frevel an der Natur begangen, ein Fauftfchlag auf das Mutterherz geführt worden war, und ed war ein böfer Blicd, den fie dem Ritter ihres Kaiſers nachfandte.

Sch ftand am Fenfter wie eingegraben. Ein Pferd wurde auf die Rampe geführt. Liska warf ſich an Raul Bruft, der fie ungeftüm von fich abmwehrte; er ftieg auf und fprengte die Ulmen entlang. Ich hätte ihn nicht zurüchalten mögen.

„Er geht nad; Torgau und dann zum Kaiſer!“ rief Liska jubelnd, als fie wieder in das Zimmer trat.

Die Aufregung, der jache Ritt fonnten den noch fo Sins

Sechſter Abſchnitt 305 faͤlligen toͤten; ſobald die Mutter wieder Herrin ihrer Sinne geworden war, ſchickte ſie ihm den treuen Joch⸗ mus, den alten Diener ihres Gemahls, zu Wagen nach. Er erreichte ihn erſt in Torgau.

Den Mitteilungen dieſes zuverlaͤſſigen Mannes entnehme ich die Erlebniſſe der naͤchſten Wochen. Raul war nicht, wie Herrmann, zuruͤckhaltend gegen Untergebene.

Er fand die Lage in Torgau verzweifelter, als er er⸗ wartet hatte; die Stimmung der Buͤrgerſchaft, die des Offizierkorps faſt durchgaͤngig antifranzoͤſiſch; den Gene- ral zwar entſchloſſen, dem koͤniglichen Befehle gemaͤß, die in jedem Sinne ungenuͤgend ausgeruͤſtete Feſtung wie bisher gegen beide Parteien abzuſperren, aber auch ſich bewußt, daß er dieſen Befehl nicht uͤber den erſten Zuſammenſtoß hinaus werde halten koͤnnen. Und der Kaiſer ſtand bereits an der Saale. Alles Unheil, das dem Koͤnig, dem Lande, ihm perſoͤnlich aus dieſer Zwitter⸗ ſtellung erwachſen mußte, ſah er klar vor Augen.

Vergebens beſchwor ihn Raul, dem zweifelloſen Ver⸗ langen des Koͤnigs zuvorkommend, das Buͤndnis mit Frankreich eigenmaͤchtig zu erneuern, mit den ſaͤchſiſchen Truppen Wittenberg zu entſetzen, im Ruͤcken der Feinde dem Kaiſer die Hand zu reichen. Er wendete ſich an jung und alt, hoch und gering, und fand nicht einen, der ihm zugeſtimmt haͤtte. Keiner ſeiner Kameraden wuͤnſchte die Ruͤckkehr unter den napoleoniſchen Oberbefehl; we⸗ nige würden aber auch zu einer Initiative in entgegen gefegter Richtung entfchloffen geweſen fein. Nur der Eintritt in die neutrale sfterreichifche Armee fchien einem und dem anderen der geftattete Ausweg.

Die legte Begegnung zwifchen dem jungen und alten XX. 20

306 Frau Erdmuthens Bwillingsfähne

Waffenfreunde war erfchütternd. Raul hatte dem Gene: ral angehangen wie einem Vater, war ihm gefolgt mit blindem Vertrauen. Er allein hatte ihm den Dienft in dem befcheidenen deutfchen Hilfäheere wert gemacht. Und ale er jest von ihm mit dem Bewußtſein ded Nimmer⸗ wiederfehens fchied, da war der geliebte Führer gebrochen an Leib und Seele, von zwei Seiten mit ſcheuem Miß⸗ trauen angeblickt, harfch an der Grenze der Wahl zwifchen Galeere und Defertion ind feindliche Lager.

Diefes abſchreckende Opfer einer Zwitterftellung vor der Seele, feiner felbft faum mächtig, verließ Raul Torgau an dem Abend, wo bei Lügen das Schidfal ſich erfüllte, an dem er feinen Augenblick gezweifelt hatte, In Dresden fand er die nämlichen Stimmungen, denen er voll Hohn und Grimm entwichen war. Er eilte weiter nach Prag. Bor einem noch, vor dem Höchften, wollte er an die Treue appellieren, die der Größe und dem Unglüc gebührt.

In der jachen Äußeren Bewegung, der ungeheueren innerlichen Aufregung brachen die kaum geheilten Wunden wieder auf. Er wurde zu Meinen Tagereifen gezwungen, mußte mehr ald einmal in einem elenden böhmifchen Dorfe übernachten; immer aber wieder vors wärts trieb ihn die fieberhafte Einbildung, der Entfcheis dung einen Anftoß zu geben oder ein verächtlich gewors denes Band mit Eflat zu Iöfen.

Sp langte er in Prag an, faft gleichzeitig mit der Siegesbotfchaft von Fügen und des Triumphators fum- marifcher Forderung der Heimkehr des Könige. Die Kunde wirkte wie Balfam auf Wunden; fie ftärfte die Glieder wie ein Zaubertrant. Die herrfcherifche Som⸗ mation demuͤtigte ihn nicht in der Seele des alten koͤnig⸗

Sechſter Abſchnitt 807 lichen Herrn, den er zag und zähe genannt hatte. Er wurde von demfelben mit faft väterlicher Güte empfangen. Der Einflang eines jungen, feurigen Landeskindes mit feiner innerlichften Herzensſtimmung tat dem Vielbe⸗ ftürmten wohl. Die lauwarmen Berater, die ihn bis zum legten an das unhaltbare öfterreichifche Buͤndnis gefeflelt, hatten ihn verlaffen. Es fchmerzte ihn. „Sch würde fie gefchügt haben,” fagte er. „Auch mein treuer Thielemann foll ruhig fein. Er hat nur nadı den Be- fehlen gehandelt, welche die Situation mir abndtigte. Sch werde feine Sache führen. Der Kaifer ift der groß- mütigfte aller Freunde,’

Raul kehrte im Gefolge des Königs nad) Dresden zu- rüd, und er war Zeuge des Triumphe, mit welchem Nas poleon feinen Bafallen durch die in Hecken gereihte Aller- weltdarmee in des Vaſallen Fönigliche Hauptftadt eins führte. So bewillfommnet ein galanter Hausherr einen hohen Saft. Die Bevölkerung jubelte ihr Willlommen unter den Obfervanzen, die nun einmal feiner neuen Erfindung Raum zu gewähren fcheinen. Drei Wochen früher hatte fie den befreienden Monarchen gleichfalls unter Ehrenpforten, Blumenftreuen und Lichterglanz ent» gegengejubelt, und waren ihre Vertreter darob redht ſchul⸗ bubenartig von dem großen Kaifer abgefanzelt worden.

Rauls franzoͤſiſches Naturell fühlte die Ironie diefer Zuftände fchärfer ald mancher unferer heimifchen Bieber- männer; aber er fühlte fie nur mit Spott, nicht mit Schmerz. Das „zappelnde” Kleine Heimatland feiner Mutter hatte ja nun feinen natürlichen Schwerpunft wieder gefunden.

Die fächfifche Armee wurde einem franzdfifchen Korps

308 Grau Erdmuthens Iwillingsfähne

einverleibt, und fo unter franzöfifcher Führung und mit franzöfifcher Ausfüllung konnte der Herzensfranzoſe ſich ben fernerweitigen Bafallendienft fchon gefallen Laffen. Die Ausſicht auf die erfte erledigte Stelle eines Regi⸗ mentskommandeurs und eine fchöne weiße Rüraffieruni- form waren auch Feine verächtlichen Zugaben.

Während bed Vormarfches nadı Baugen verfchlimmerte indeffen fein Gefundheitäzuftand ſich fo bedenklich, daß er trog allen Widerftrebens von General Gablen;, feinem neuen Brigadier, auf halbem Wege nach Haufe gefchickt wurde. Am Tage der Borfämpfe von Luͤtzen war ein Verzweifelnder daraus fortgeftürmt; am Tage des bluti- gen Treffens von Koͤnigswartha fehrte er heim, in Ber- bände und Deden gewidelt, aber mit dem Frohloden bed Siegers. Alle ftachelnde Erinnerung war wie weg- geblafen.

„Dein Sohn fommt ald dein Landsmann wieder, Mama!“ rief er diesmal franzoͤſiſch indem er die Mutter umarmte.

Sie lächelte mit wehem Kerzen; ihr Haupt war tief zur Bruft hinabgefunfen, feitvem der Furze Friedenstraum fo harfch durchriß.

Die arme Mutter trug ſchwer an den Schickſalswuͤrfen, die den einen ihrer Söhne befeligend in die Höhe fhnellten und die Manneshoffnungen des anderen tief banieberfchmetterten. In den Stunden, wo der Juͤng⸗ ling Bater und Vaterland vor feinen Augen zufammens brechen fah, war Herrmann nicht f chmerzhafter erſchuͤttert worden. Er täufchte fid nicht wie viele andere in jenen Tagen über die Bedeutung diefes erften Niederfchlags. „Wir find zuruͤckgewichen,“ ſchrieb er der Mutter, „haben

Sechſter Abſchnitt 809

nn

alles aufs und preiögegeben, auch die Siegeshoffnung für unberechenbare Zeit. Ich habe unfere Helden nicht fämpfen und fterben fehen; aber die fie kaͤmpfen und fterben fahen, bezeugen ed: wenn wir bereinft die Sieger bleiben, wird feine Schlacht von und gefchlagen worden fein fo treu und tapfer wie die erfte, die wir verloren.“

Und diefem Ehrenzeugnid des einen gegenüber mußte die deutfche Mutter ed erleben, daß unter ihrem eigenen Dache der andere ihrer Söhne ohne Erröten die Proflas mation verfündigte, in welcher der Kaifer die Befiegten von Lügen Verbrecher, Empoͤrer, Deferteure, die Hefe Europas nannte!

Herrmann hatte zu den Buͤlowſchen Truppen gehört, weldye am zweiten Mai Halle glüdlich erftärmten, nur um ed anderen Tage wieder zu räumen und fidy an die Elbe zurüdzuziehen. Er teilte darauf die angft- und laftvolle Arbeit zum Schuge Berlins, die Bülow, als Oberbefehlshaber der Marken, erft in fpäterer Zeit ges dankt worden ift. Wochen vergingen ohne Nachricht von dem Freunde, wenngleich er während der Schwens fung nach der Laufig feine Heimatögegend nahezu ftreifte.

Es war diefem flarf ausdauernden Wanne die Prüfung auferlegt, an ber Seite des Feldherrn, dem er fich in freier Neigung unterftelt hatte, in diefem Frühlings- feldzuge dreimal zu fiegen ohne Ernte. Auch der Erfolg des graufigen Brandfampfes von Luckau wurde hinfällig, da der Waffenftilftand den feindlichen Anſchlaͤgen auf Berlin vorläufig cin Ziel ſetzte. Die heimifchen Freunde nahmen, im Geifte der Patrioten, diefen glüdlichen Ab» fhluß als einen Strahl von Abendrot, der nach düfterem Wettertage einen heiteren Morgen verfündet. Für unfer

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310 Frau Erdmuthens Iwiltingsfähne

ſchwer heimgefuchtes Land aber, wie für unfer häus- liches Schidfal fegneten wir bie Waffenruhe, die beide Lager peinvoll überrafchte, ald Gnadenpaufe in einem lange drohenden Verhängnis.

Sch bin über die Maienfämpfe von 1813 fo rafdı hinweggefchlüpft, ald ich durfte. Leider gehörten fie in meine Familiengefchichte.

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Ende der erften Suniwoche fam der Doftor zurüd mit „einem Transport von Prachteremplaren von Verwun⸗ dung nebft obligater Verkohlung, die immer noch Menfch genannt werden konnten”. Er hatte fie aus den Laza⸗ retten von Luckau entführt, um fie feiner lieben Frau als Zeichen untertäniger Verehrung zu widmen und für feine Perfon exakte Brandftudien zu betreiben, da nady dem heidenmäßigen Gefchäft von Pläswig der Firma Freiheit und Kompagnie eine flaue Zeit in Ausficht ftehe. Der alte Politifus wußte befler als viele, daß das Ge⸗ fhäft von Plaͤswitz ein ſolches geweſen, welches die Firma Freiheit und Kompagnie vom Banferott gerettet hatte, aber jedes Tierchen hat fein Manierchen. Bären brummen, auch wenn fie Amen fagen.

Die Pradjteremplare wurden willtommen geheißen; ihr Führer fam erwünfcht. Rauls Wunden heilten fchlecht, da die Untaͤtigkeit während des neuen Faiferlichen Triumph: zuges ihn folterte. Nun aber, binnen der den Feinden gegönnten Galgenfrift, „einem Akte der Hochherzigfeit, deffen nur ein Halbgott fähig war”, durfte er in Seelen- ruhe fich ausfurieren, um beim legten Heldenſchlage

Sechſter Abſchnitt 311

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Wie der Kur. Der erprobte Berater ſollte entſcheiden.

Ich hatte beim Abladen der Verwundeten mit Hand an⸗ gelegt; nun fuͤhrte uns die Mutter in den Garten, wo Raul im Sonnenſchein ruhte. Liska leiſtete ihm Geſell⸗ ſchaft. Der Braͤutigam haͤtte ihr dieſen Dienſt gar nicht ausdruͤcklich anzuempfehlen gebraucht; fie verfah ihn frei⸗ willig. Und das muß wahr ſein, einer allerliebſteren Zeitvertreiberin hat noch kein Konvaleſzent ſich ruͤhmen duͤrfen. Sie ließ ſich necken und ein bißchen ſcheren, immer laͤchelte und plauderte ſie, immer ſtand ihr ein Einfall zu Gebote, ein Plaͤnchen, ein pikantes Wort, eine kleine taͤndelnde Szene. Heute hatte ſie ihm einen Kranz von Pfingſtroͤschen aufgeſetzt. Er lag ausgeſtreckt, ſie ſtand hinter ihm auf der Kante der Bank und beugte ſich uͤber ihn, um von oben herab ihrem Spiegelbilde in die Augen zu ſehen. Es war eine gar liebliche Gruppe: er zu ihr in die Hoͤh, ſie auf ihn niederblickend; beider ſchwarze Locken ſich beruͤhrend, beide laͤchelnd wie das Gluͤck und der blaue Himmel uͤber ihnen.

Liska wurde uns gewahr und huͤpfte von der Bank. „Wir ſpielen jeux floreaux mit verkehrter Welt,“ ſagte ſie unbefangen. „Sieh ihn an, Maman, ich habe ihn zum Roſenkoͤnig gekroͤnt.“

„Feuerkoͤnig und Schneekoͤnig gratulor!“ rief der Dok⸗ tor, indem er Raul die Hand reichte. Die Konſultation erforderte nicht viel Zeit. Der Gebrauch der Teplitzer Baͤder wurde angeraten, ſo bald und ſo energiſch als moͤglich. Dem neuen Charlemagne duͤrfe ja ſein Roland nicht fehlen, wenn er zum Henkerſtreich auf die deutſchen Barbaren ausholte.

312 Frau Erdmuthens Zwillingeföhne

Frau Erdmuthe erflärte, daß fie ihren Sohn begleiten werde und daß der Aufbruch ſchon morgenden Tages er- folgen fönne, da der Haushalt in Madame Barbed Hän- den wohlverforgt fei. Liska eilte ind Haus, die Barbe herbeizurufen.

Der Doktor empfahl ſich; die Sehnfucht nad) feinen Prachteremplaren ließ ihm feine Ruhe. ch begleitete ihn. Sobald wir aus dem Gehörkfreis der Freunde waren, fragte er: „Haben die Zwillinge ihre Schägchen getaufcht, oder teilen fie ſich brüderlich in das eine?”

„Ich verftehe dich nicht, Bär’, verfeßte ich.

„Der Simmel ftärfe Euere blöden Augen, alter Kinde- kopf!“ brummte der Bär. „Dieſe Rofenwirtfchaft ver- ftände Guftel Hecht, der Kantianifchen Philofophie zum Trog.”

„Wie das Vorurteil dich vergiftet,” fagte ich nach einer herzbrechenden Paufe. „Seines Bruders Braut! Schäme dich, Bär.”

„Wenn einem Franzmann feines Nachbars Weib ge- fällt, entführt er e& ihm, und will der Nachbar e8 wie- der haben, fchreit er: Raub! hat ſchon Weißfönig Theuer- danf gefagt. 's kann auch ein anderer gewefen fein. An der Sache aͤnderts nichts.”

„Sprich ernfthaft, Freund. Wie hätte ed der Mutter entgehen Eönnen, die fo angftvoll -— -”

„Sieht wo fie fliegen, aber nicht wo fie friechen! Wäre fie die erfte, die aus Angft vor dem einäfchernden Blitz nach der Wolfe über ihrem Haufe ftarrt, dermweile ein gemütliches Käschen aus der Herdafche ven Funken un- ter die Dachfparren trägt?”

„Und wenn bu recht hätteft, Bär, was müßte gefchehen %

Sechſter Abſchnitt 318

„Geſchehen laffı en, alter Magifter; je früher er er ben kleinen Teufelsbraten los wird, um fo beffer für unferen Mann. Dem anderen gönn ich ihn.”

„Sch befchwöre dich, ernfihaft, Freund! Denk an bie Mutter.”

„Barum hat fie Zwillinge auf die Welt gebracht. Sie fonnte an einem genug haben.” |

„Ihre Söhne auch noch Nebenbuhler! Sie ertrüg es nicht. Ich werde mit Raul reden.”

„Den Zeufel an die Wand malen - nn! ifch aus⸗ gedrüdt. Wohl bekomms!“

„Und was denn?”

„Die Sefchichte totfchweigen und das Volk auseinander; treiben. Die Sache ift im Gange. Der Roſenkoͤnig geht ind Bad, dann ind Feld.”

„Und Liska?“

„Bleibt bei Dame Barbe und läßt ſich vom Judex die Cour madyen.”

„Benn fie aber nicht zu Haufe bleiben, wenn fie gar mitreifen will?” ftöhnte ich, von der plößlichen Vorſtel⸗ lung gepadt.

Bär wurde rabiat. „Nun hört aber auf mit Eueren Wenns und Wies, alter Drangfalsfchlaudy!” rief er im Bondannenrennen. „Sperrt fie ein; bindet fie feft! Mit einem Fläfchchen Specucuanha, am Reifemorgen in die Scofolade zu gießen, ftehe ich auch zu Dienften. Mit darf fie nicht, wenn nicht durch den einen verübt werden fol, was, Gott fei Danf, über furz oder lang durch einen anderen dennoch veruͤbt werben wird.”

Einen Zentner auf der Bruft, taumelte ich zu den Freun⸗ den im arten zurüd. Die Barbe hatte fich zu ihnen gefellt.

314 Frau Erdmuthens Bwillingefähne „Ich reife mit, Väterchen, ich reife mit!” frohlockte mir Liska entgegen.

„Mit!“ ſtammelte ich. „Unmoͤglich!“

„Barum unmöglich, Freund?” fragte Frau Erbmuthe. „Das Kind bedarf einer Zerftreuung, auch eines Gottes- dienftes in feiner Kirche; nicht wahr, liebe Barbe?“

„zuverläffig, Madame,” antwortete Barbe mit einem Knix. „Mademoiſelle hat die öfterliche Zeit nicht inne- halten koͤnnen; Fronleichnam ift vor der Tür, und mein Eure fagt -”

„Gleichviel was Ihr Eure fagt,” braufte ich auf. „„Die Braut des Sohned muß ald Stellvertreterin der Mutter im Hauſe zurücdbleiben. Das fage ich.”

„Hausmuͤtterchen Liska!“ fpottete Raul, aus vollem Halſe lachend.

Auch die Mutter lächelte. „Meine Stelle ift durch die gute Barbe aufs befte vertreten”, fagte fie.

„Und an Herrmann denkt feiner?” wendete ich ein. „Wie wird er ſich nach einem Wiederfehen fehnen! Sein Korps bleibt in der Marf -”

„Bir gehören aber zu Sachſen, und Sachſen den Kai- ferlichen,” fagte Raul.

„Sr würbe, fäme er, feinen Verräter unter uns finden,” rief ich aufgebracht; „allenfalls eine Fahrt über die Örenze auch für uns ohne Schwierigkeit fein.”

„Seht mir den alten Liebesprokurator!“ rief Tachend Raul. Gottlob, er lachte!

„Sie wiflen ed noch nicht, Freund,” ſprach die Mutter darauf, indem fie einen Brief in meine Hand legte, „Da, fefen Sie. Doftor Bär brachte ihn mit. Gewiß würde auch ich mich nicht entfernen, ohne meinen Sohn gefehen

Sechſter Abfchnitt 815 zu haben, folange er mir irgend erreichbar blieb. Aber Herrmann iſt im Auftrage feines Generals auf dem Wege zum Kronprinzen von Schweden nadı Stralfund, und feine fpätere Beftimmung ungewiß.“

Ach, ich wußte ed ja; der Doktor hatte es mir erzählt. Ich hatte nur auf gut Gluͤck meinen legten Trumpf aus- gefpielt und - verloren. Nun hört ich nur noch das Fluchwort, welches Raul gegen den Gasfogner zwifchen den Zähnen nirfchte; fah, wie die Mutter den Sohn in das Haus zurädführte und Liska das Paar wie eine Li⸗ belle umfchwebte, feelenvergnügt, mit den anderen ziehen zu dürfen, während der eine, dem fie angehörte, in un⸗ erreichbarer Ferne war.

Sch war wie vernichtet auf die Bank gefunfen. Moͤg⸗ (ich, daß ich geächzt und die Hände gerungen habe. Sch achtete nicht darauf, daß ich einen Zeugen hatte. Die alte Franzoͤſin war zurüdgeblieben. Sie hatte den Grund meines Widerftrebend im Nu begriffen.

„Monfteur nehmen die Sadje zu ernft,” fagte fie, an mich heranfnirend. „Mein Eure würde fie ebenfo nehmen. Es liegt das im Amt. Aber beruhigen Sie fich, Monſieur; es ift feine Gefahr dabei.”

„Woher wiſſen Sie das?” fuhr ich auf. „Haben Sie mit Mademoifelle darüber gefprochen?”

„Keineswegs, mein Herr. Worte zünden öfter als fie löfchen. Aber man hat Augen, und man hat Erfahrung. Das wäre meine Paffion? Streiten fie fich, verfühnen fie fi)? Werben fie rot oder blaß? Und die Blicke, mein Herr, die Blide. Pardon, Monfteur, Sie find ein Hei⸗ figer, wie mein Cure; aber find das Liebesblicke? Stockt ihnen der Atem? Schlägt ihnen das Herz? Was tun fie

316 Frau Erdmutheus Zwillingsfähne

denn? Sie gucken ſich an, ſie lachen ſich an; ſie necken ſich; ſie ſchwatzen miteinander, ſcherzen, ſpielen mitein⸗ ander, wie Couſin und Couſine oder Bruder und Schwe⸗ ſter von gleich fröhlicher Natur”

„Um fo frevelhafter, wenn ed nur ein Spiel iſt!“ uns terbradh ich die franzöfifche Geläufigkeit. Madame vers neigte ſich und fchüttelte lachend den ſchwarzen Zopf. Zwifchen ihren roten Lippen und weißen Zähnen ftand deutlich zu Iefen: beutfcher Pedant! Warum follten fie nicht fpielen, wenn fie Kinder waren? Was fchadete es der Treue, wenn ein paar junge Kameraden miteinander lachen und Iuftig find?

Um es kurz zu machen: Kameradfchaft und Paffion fchlöffen einander aus wie Ol und Wein, erflärte die ftofffundige Vivandiere. Sie huldigte der Liebestheorie Fräulein Idunens infofern, als fie an Stelle des Fremd⸗ artigen, Gegenfäglidyen dad Impoſante treten ließ; das Staunenerregende, Atemverfeßende, Anprall und Abprall, Furor, Gewalt! Eine gelinde Züchtigung, die unfere Ge- ſetzbuͤcher doch nur als Liebes- und Ehehindernis nicht gelten laſſen, fchien ald Liebesbeweis und eheliches Binde- mittel betrachtet zu werden.

Der Eifer ihrer Erfahrungswiflenfchaft ließ die höfliche Dame alle fchuldige Rücficht aus den Augen fegen. Sie erflärte ed wie gegen Weltflugheit und Seelenheil, fo fchlechthin gegen das Naturgefeß, daß eine unbedeutende, prickelnde, Heine franzöfifche Mamſell, die nicht das Pfühl unter bem Kopfe ihr eigen nenne, dem ruhigen, großen, beutfchen Schloßherrn, dem fchönften Manne der Welt, einen Iufligen Offizier vorziehen follte, wie fie deren in ihrem Baterlande zu Dußenden auf der Straße begegnen

Sechſter Abſchnitt 317

koͤnne. Einen Viveur nannte Madame Barbe den Herrn Obriſtleutnant von Saint Roc, einen Viveur, der nie etwas anderes ſein als Soldat, im Feldlager ſein Hab und Gut durch die Finger laufen laſſen und in jedem Quartier eine andere Amourette haben werde. Aber Ma⸗ demoiſelle denke im Ernſt auch gar nicht an den kleinen Mann. Mademoifelle bewunderte ihren ſtattlichen Braͤu⸗ tigam und wuͤrde ſeinen Herrn Bruder keines Blickes würdigen, wenn fie den Herrn Baron tagtäglich, kopfes⸗ hoch über dem anderen ragend, an ihrer Seite figen fähe. Nur die Entfernung bed Herrn Barond und feine Lieb⸗ habermweife un peu trop allemand, nannte fie Madame Barbe - trügen die Schuld, daß die Flamme nicht bereits mit ftärferer Gewalt zum Ausbruch gefommen fei. Die Flamme werde aber zum Ausbruch fommen und mit fo übermwältigender Vehemenz, daß der aus der Ferne beidh- tigende Herr Curé das Seelenheil feiner jungen Lands⸗ männin in dringender Gefahr erachte und auf deren Heim⸗ fehr in rechtgläubige Umgebungen dringe.

Für die Beruhigung des Herrn Eure biete ein zeitweifer Aufenthalt im katholiſchen Böhmerlande nun die will- fommenfte Gelegenheit, wie denn auch gegen zerftreuende Velleltäten, welche die Empfindlichfeit deö fernen Herrn Bräutigamd erweden könnten, es fein vorbeugenderes Mittel gäbe, ald die Heilquellen, welche dem Beichtſtuhl - entftrömen. Madame werde dem Herrn Eure heute nod) von dem Reifeplan in Kenntnis und der Herr Cure ſich unverzüglich mit feinem böhmifchen Amtsbruder in Ver: bindung fegen. Denn in SHeildangelegenheiten wirken die Diener der Kirche in allen Ländern als wahrhaftige Brüder Hand in Hand, fage ihr Eure.

318 Frau Erdmuthens Iwillingsföhne

Wer hatte nun recht, der unerfahrene deutfche Hage⸗ ftolz, der ohne Beweisführung behauptete: „Sie lieben ſich“, oder die erfahrene franzöfifche Witwe, Die mit weits laͤufigen Argumenten verficherte: „Sie lieben ſich nicht?”

Die Witwe! tröftete ich mich, wie mich ſchon vorhin das harmlofe Lachen des Viveurs getröftet hatte.

Und dann: was war denn auch zu tun? Gewarnt hatte ich deutlic; genug; Raul aufmerffam madjen follte ich nicht; Herrmann zu Hilfe rufen konnte ich nicht. Liska mit Vernunft oder Gewalt in ihren Pflichtenfreis bannen, hätte auch wohl ein anderer als der arme, kindskoͤpfiſche Magifter nicht zuftande gebracht. E8 blieb nur der Appell an die Mutter. Auch nahm ich einen fchüchternen An⸗ lauf und wurde nicht verftanden. Sa, ald ich für eine verlobte Braut auf das bedenkliche und vielleicht nicht ganz fchicliche nahe Zufammenleben mit einem anderen jungen Manne deutete, beleidigte idy meine Freundin zum erftenmal im Leben. Wo konnte die Tochter geborgener fein, ald unter den Augen der Mutter, an der Seite des Bruderd? Frau Erbmuthe erflärte, eher felber von ber Neifebegleitung abzuftehen, ald die Braut ihres Sohnes unter dem augfchließlichen Schuß einer fremden Marke⸗ tenderin im Haufe zurüdzulaffen.

Und ich? ach, war ed mir denn unverftänblich, daß ein Menfchenherz das Gift, das Untreue hieß, nicht ahnt? Ad, war ed mir denn möglich, das Gift, das Argwohn heißt, in diefes reine Herz zu träufeln? Sch ließ fie ziehen.

Es gibt eine Reue des Unterlaffenen, die fchärfer nagt, ald manche böfe Tat. Die unfruchtbare Neue, für bie es feine Sühne gibt.

BB *

Sechſter Abſchnitt 319

Die zwei Monate der Waffenruhe ſchlichen hin in jener geſpannten, ruͤhrigen Stille, in welcher die Zwietracht deutſchen Strebens ſich zum, wolle es doch Gott, letzten blutigen Austrag ſammelte. Auch in den ſaͤchſiſchen Heidewinkel wehte ein Strom von dem Geiſte, der jen⸗ ſeits der Grenze regierte, und manchen unſerer Soͤhne hat dieſer Strom uͤber die Heidegrenze hinausgetrieben.

Im Hauſe ſchaltete die alte Marketenderin mit ſo viel Geſchick, daß es mich oftmals wurmte, das Reich der Liebe faſt ohne Luͤcke durch die Routine ausgefuͤllt zu ſehen. Nach jedem neu eingeführten Ragout verwandelte ſich der Suder immer treulofer aus einem Knecht der deutfchen in einen Sklaven der franzöfifchen Dame, und auch der Phyfitus wurde nach jeder gemeinfchaftlichen Dperation an den wertvollen Pradhteremplaren ihr immer feurigerer Berehrer.

„Gehts wieder los, ziehen Sie ald mein Amanuenſis 8 mit ind Feld. Chirurgie ift eine internationale Ange⸗ legenheit“, fagte er eined Taged. Ald Madame aber achjelzudend erflärte, daß ihr Eure fie unwiderruflich im Herbſt zur Ohrenbeichte in der Heimat erwarte, da ges riet dem armen Kantianer während eines tiefen Seuf- zers ein Huͤhnerknoͤchelchen in die unrechte Kehle, und er würde, wie Bär verficherte, in feinem Berufe geftorben fein, wenn die Hochverehrte nicht durch Fräftiges Klop- fen ing Genic feine Lebendretterin geworden wäre. Bär - und Hecht flanden auf dem Punfte, Nebenbuhler zu werden.

Bon unferen Reifenden erhielten wir beruhigende Kunde. Raul heilte fich nad) jedem Bade fihtbarer aus. Doc meldete die Mutter ed nur mit geteilter Freude; denn

320 Frau Erdmuthens Zwillingsfäöhne

ſchon pridelte ihm wieder der Degen in der Hand, und Frau Erdmuthens Hoffnungen auf ein friedliches Reful- tat ded Prager Kongrefles waren tief gefunfen, ſeitdem fie mit dem alten Freunde Thielemann zufammengetrof- fen war.

„Wie feltfam berührte ed mich,” fo ſchrieb fie mir unter anderem, „bie Lebendaufgabe meines älteften Sohnes warm vertreten zu fehen von dem Wanne, beffen Nach» eiferer der jüngfte bis vor wenig Wochen gewefen war. Heute vermochte Raul nicht einen Gruß über fih. Der General nahm ed entfchuldigend. ‚Sch habe fchwereren Unglimpf dulden müffen,‘ fagte er mit einem Lächeln, das mir wehe tat. ‚Ihr Sohn hat mich einen Yord! ge- fholten. Eine zu große Ehre für mid) und unfer Land. Ein Staat, der felbftändig fallen und felbftändig allen- falls fichh wieder erheben darf, kann einen Nord produs zieren. Einer der zum Anflammern berufen ift, leider nur einen Thielemann.‘

Das Verhältnis Rauls zu Liska erwähnte die Mutter mit Freude. „An ihrem gefchwifterlich heiteren Anfchluß lerne ich fennen, welch ein Gluͤck der Befig einer Tochter ift. Brüder gehen wohl nur felten einmätig Hand in Hand. Smmer drängt fidy mir der erfte Eindrud auf, daß das liebe Kind berufen fei, ein Band zwifchen den Entfremdeten zu weben.”

Auch Liska fchrieb etlichemal an ihre alte Barbe in der von der Mutter angedeuteten unverfänglichen Weife. Sie amäfterte fich, erzählte von reizenden Partien in die Um⸗ gegend, von eleganten Begegnungen während ber Pro- menabenftunden im Schloßgarten. „Ein paar Groß- fürftinnen ziehen an der Spite, die ganze Gefellfchaft

Sechſter Abfchnitt 321

hinterdrein. Es ift zu komiſch, Barbe, ‚deutfch‘ nennt es Raul. Aber fchön find diefe Ruffinnen, vollfommene Damen, Barbe. Du haft dir die Barbarenfrauen gewiß ganz anders vorgeftellt.”

„Ich bin Fein foldyes Kind”, murrte Madame Barbe.

Für ihr Väterchen hatte Mademoifelle Liska in einem Poftffriptum beigefügt, daß auch ein deutfcher Dichter mit ihr gefprochen und fie im beiten Franzoͤſiſch „ſchoͤnes Kind” genannt habe. Der größte deutfche Dichter, habe Raul gefagt, und der höchfte Verehrer des großen Kai⸗ ferd. Sein Kopf gleiche dem eines alten Heidengotteg, deffen Büfte Raul im Louvre geſehen habe. Auf den Namen des Dichters und feines göttlichen Urbildes be- finne fie ſich im Augenblicke nicht; doch habe er, der Dich⸗ ter nämlich, ihr den feinen zum Andenken auf ein Blatt gefchrieben, wie das in Deutfchland Mode fet.

Wirklich findet ſich auf einem Iofen Blatt im goldnen Buche eine Rauffche Überf etzung von Klärchend Soldaten lied die ich zugunften des Lieds wie bee Überfeßers aber lieber unveröffentlicht laſſen will -, darunter fteht in wohlbefannten großen Herrſcherzuͤgen: „Approuve, Goethe.“ So hätte das goldene Bud am Ende noch einen literarhiftorifchen Wert gewonnen!

Bon Liskas Hand enthält ed außer einem ſummariſchen „delicieux“| aus diefer Zeit fein Wort. Wie Frau Lo⸗ doiska vor zwanzig Sahren am Fuße des Poftlipp, fo hatte die befcheidenere Tochter im böhmifchen Mittelges birge zu nichts anderem Zeit gehabt, ald froh zu fein. Sie dachte an Luftbarkeiten, Raul an Krieg; beides bünfte mid) nicht Verliebtenlaune.

In einem fpäteren Briefe berührte Liska auch die fird)- xx. 21

322 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne

lichen Troͤſtungen, die ſo ſchwer fuͤr die Reiſebegleitung ind Gewicht gefallen waren. Aber, o weh! die Gottes⸗ haͤuſer glichen geſchmacklos aufgepugten Sahrmarftöbuden. Raul hatte die Bilder Klexereien und die lieben Heiligen Puͤppchen genannt.

„Mein Eure zelebriert auch nicht in einer Kathedrale”, fchaltete aufgebracht Madame Barbe ein.

Bon genoffenem Beichtfegen war nichtd erwähnt; da⸗ hingegen ftand weiterhin zu lefen: „Die Prozeffton zu Fronleichnam habe ich nicht mitgemacht. Kein Badegaft tut ed; nur geringes Volk und die Bauern der Gegend. Raul lachte, als fie über den Schloßplag zogen; und es war auch fo armfelig unfeierlich, daß man lachen mußte, wenn man zum Weinen feine Luft hatte. Das darfſt Du aber ja Deinem Cure nicht fchreiben, Barbe.“

„Ich werde es ihm aber doch fchreiben”, fagte Madame Barbe.

Sp der Tat feßte fie, obgleich fie felbigen Tages ein Rindsſchlachten angeordnet hatte, dad Inftrument in Be- wegung, das ihr von allen, die auch Frauenhände trafs tieren, das einzige ungeläufige geblieben war, und ein paar Stunden darauf trug ein Ertrabote einen Brief an den Herrn Pfarrer von Saint Marimin nach der naͤch⸗ ften Poftftation.

Am Abend fragte mich die Franzöfin: „Was ift ein Atheift, mein Herr?”

„Das Gegenteil von einem Ehriften, Madame,”

„And ein Kalvinift, mein Herr?”

„Das Gegenteil von einem Atheiften, Madame.”

Bon diefem Tage ab ſchien die Mutter des Herrn Cure von dem Vorwurf geplagt, in dem Heilsgeſchaͤft, deffen

Sechſter Abſchnitt 328 nur halb eingeweihter Sozius ſie war, einen Mißgriff getan zu haben. Gruͤndlicher eingeweiht, haͤtte ſie wohl gewußt, daß leichter als ein Kalviniſt ein Atheift - wenn unfer lachender Biveur nun einmal Atheift genannt wers den foll - in den Schoß der alleinfeligmacdhenden Kirche zurüdgeführt wird.

Über Herrmanns Kreuz und Querzuͤge während diefer zwei Monate hatte die Mutter nur die Kenntnis erhalten, die ich durd, den Doktor einfchmuggelte. Er war in vertraulichen Sendungen zwifchen dem ſchwediſchen und ſchleſiſchen Hauptquartier hin und her geeilt und erft Mitte Auguft in der Mark zu dem Heere geftoßen, um beffen preußifchen Kern ſich die ruffifchen und ſchwe⸗ difchen Truppenteile gruppierten. Troß der geringfügis gen Anzahl der letteren ftand der Volföglaube an den Dberfeldherrn, ald ehemaligen Napoleonifchen Mars fchall, fo hoch, daß die von ihm befehligte Nordarmee allgemein bie fchwedifche oder kurzweg der Schwede hieß, bid dann freilich bald genug die Siege Buͤlows und Tauengiend ihren preußifchen Charakter zur Geltung brachten.

Beim Abbruch der Friedensverhandlungen machte fich auch fchleunigft unfer Bär mit einem Halleluja wieder auf den Weg. ch begleitete ihn, um meinen Brüdern und meinem jungen Freunde vor dem Kampfe noch ein» mal die Hand zu drüden. Herrmann, zum Nittmeifter aufgerüdt, gehörte wieder zu Buͤlows Stab. Wadıts meifter Lieb ftand quaſi ald Adjutant bei dem Adjutans ten. Wir trafen fie vor Saarmund. Alles erwartete einen rafchen feindlichen Vorftoß auf Berlin.

Herrmann hatte den Niederfchlag feiner Frühlingss

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324 Frau Erdmuthens Zwillingsföhne

hoffnungen nur in fchwerem Kampf mit fich felbft über- wunden. Er, der rein und feft, der Beſten einer, eines großen Vaterlandes Wiederaufrichtung aus eigner Kraft ale Lebengziel erfaßt hatte, fah Deutfchland zerflüftet wie nur je vor der Unterwerfung und ermaß Haren Blicks die Opfer, die es dem befreienden Vorvolke Eoften werde, indem ed ald gering angefchlagener Teil nicht mehr eine beutfche, fondern eine europäifche Tat volls bringen half. Mochte deren Endziel für den gewaltigen Bund faum noch in Zweifel zu ziehen fein: die Nebens zwecke freuzten fich, die Wege waren verworren, und ber Siegerpreis für uns blieb beftenfalld ein Keim.

„Sch baue auf die flämifche Ader in unferem Bolt,“ fagte der Freund mit wehmütigem Lächeln. „Wir reis nigen den Boden und fireuen aus, auf daß die Enfel unfere Saaten ernten. Was treibt, das muß gebeihn.“

Sein ganzes Wefen war fo ſtark nad) diefer Richtung hin gefpannt, daß für das perfönliche Erlebnis kaum noch eine Dehnung übrig blieb. Noch arg- und neib- Iofer, ald e8 feiner treuen Natur allezeit eignete, vernahm er daher von dem gedeihlichen Frohleben der Seinen in der Ferne. Was auf den Anteil der Mutter davon ab- zuziehen war, wußte er ja; dem fremdgewordenen Brus ber gönnte er die Erholung, die Stimmung feiner Braut aber erflärte er aus ihrer elementaren Freudenfraft und entjchuldigte fie doppelt durd, die mangelnde: Vertrau⸗ lichkeit, die ihr Verhältnis zurzeit bedingte.

Als ich den Zwang beflagte, in welchen diefed Nicht- verftandenwerden ihn zu feinem nächften Weſen verfegte, fo gab er das einfach zu, fügte aber bei: „Nennen Sie mir ein Gluͤck, dad nicht mit der Befchränfung perfön-

Schfter Abfchnitt 325

licher Freiheit erfauft werden muß, wenn auch in ber Hoffnung, diefe Freiheit Schritt für Schritt zuruͤckzu⸗ erobern. Schranfenlofes Ausleben ift der gefährlichite Egoismus, weil er in eine Einoͤde führt. Liska und id, haben manches gegeneinander aufzugeben. Ihr Opfer ift das größere; dafür muß jegt meine Nachſicht und foll meine Dankbarkeit die größere fein, wenn die Zeit zum Gluͤcklichſein gefommen ift.“

Wie leicht hätte ich bei diefer refignierten Anfchauung ihn auf ein tieferfchneidendes Entfagen haben vorbereis ten koͤnnen. Alle meine früheren Angfte waren aber durch die harmlofen Reifebriefe von Mutter und Tochter eingefchläfert, und die Leifefte voreilige Spur ded Miß⸗ trauend würde mir ald Frevel erfchienen fein.

Bald ward denn aud) das Gefpräd; in die beherrfchende Richtung zurücgeführt. Es verlautete, daß der fran> zöftifchen Armee, weldye Dudinot durch die Lauſitz gegen Berlin heranführte, auch Reyniers Korps mit den Sachſen zugeteilt fei, und Herrmann fagte gedanfenvoll:

„Hundert Meilen weit gefpannt ift der Bogen der Arena, von den Quellen der Elbe bis zu ihrer Mündung; welch eine fonderbare Fügung wäre ed nun, wenn Raul und ich nad) acht Trennungsjahren, in denen die Knaben Männer wurden, und auf heimifchem Grund mit den Waffen in der Hand begegnen follten.“

Und faft mit den nämlichen, aber wehelautenden Wor⸗ ten empfing mid) daheim die Mutter, die während meiner Abmwefenheit zurücgefehrt war. Raul hatte fid) erft am Morgen auf der Poftftation von ihr getrennt, um fid) noch am nämlichen Tage bei dem Marſchall in Baruth zu melden. Die Sachſen waren wirklich Dem Nordheere

326 Frau Erdmuthens Zwillingefähne

gegenübergeftellt; der Tag bed Zufammenftoßes konnte nahezu berechnet werden.

„Es ift fein Zufall,“ flüfterte die Mutter fchattenbleich. „Auch das Unheil hat fein Gefeg. Was treibt, das muß gedeihn.“

Bon diefer Stunde an faß fie in lautlofer Spannung, die Hände im Schoß gefaltet, und ftarrte in die grauen Wolken, die zwifchen den Wipfeln niederhingen. Vom Himmel riefelte ed gleichfoͤrmig Nadıt und Tag. Bei jedem anderen Geraͤuſch zudte fie zufammen. War, was geichehen mußte, geſchehen? Der vernichtende Stahl hing über ihrem Haupte an einem Haar.

Liska fchien nicht forgenvoll; aber fie war verändert.

„Sie kommen mir gewachſen vor, Liska,“ fagte id). „Erzählen Sie, was haben Sie erlebt?“

„Großes!“ antwortete fie mit leuchtenden Augen.

„Etwas deutlicher, bitte. Welches Große?“

„Sc habe den Kaifer in Dresden geſehen.“

„Weiter nichts?“

„Sch bin auf Mamans Grabe gewefen.“

„Ganz allein?“

„Mit Raul.“

„Mit Raul? Sie famen geftern abend erft an, und früh am Morgen ging er weiter. Wann waren Sie am Grabe?"

Sie antwortete nicht, fie wich mir aus; aber nicht mit der Miene von Neue oder Angft, weit eher mit der eines überfrohen Herzens, das ein Machtwort im Banne hielt.

Sollte fie wirflicy nody gewachfen fein? Oder waren ed nur die Wangen, weldye die kindliche Rundung vers

Sechſter Abſchnitt 327

loren hatten, die Augen, die weiter geworden und mit einem Schatten umzogen waren? Sie ſprach nicht, aber bei jedem ſtillen Gedanken wogte die Farbe heller und dunkler unter der braͤunlichen Haut. Ruhelos wechſelte ſie den Platz. Dieſe Minute hinaus in den tropfenden Garten, in der naͤchſten zuruͤck an der Mutter Herz. Sie kuͤßte ihre Haͤnde, Traͤnen rieſelten darauf nieder. Aber es waren keine matten Kummertraͤnen. Ein Wort draͤngte ſich auf die Lippen, das ſie gewaltſam zuruͤckpreßte. Alle anderen vermied ſie, auch die Barbe, und nicht ein ein⸗ ziges Mal wallfahrte fie nach dem kleinen Heiligtum in der Ruine,

Ic fah über dem Haupte der Mutter noch einen zweis ten Stahl, der fchärfer gefchliffen als der erfte war.

** * *

In dieſem lauernden Zuſtande ſchlich die Woche hin. Wir hatten von keinem der Unſeren Nachricht erhalten, von einem erſten Zuſammenſtoß nichts gehoͤrt oder ge⸗ leſen. Ringsum ohne Wechſel breitete ſich das Truͤb⸗ ſalsbild der Heide im Regen.

Es war am zweiundzwanzigſten, Mittag voruͤber. Die Mutter ſaß ſtill am Fenſterplatz; Liska in der anderen Niſche ſchaute nach dem Himmel, an welchem die Sonne unter dichtgrauem Gewoͤlk um einen Durchblick rang. Pıöglich horchten beide Frauen auf. Huftritte fchallten weitwärtd von der freien Landfeite her in den Hof; Frau Erdmuthe Flammerte fich zitternd an den Sims, Liska fchrie auf: „Raul!“

Ja, Raul! Raul, den das Mutterherz im Bruderfampfe ſtehen jah, er Fam angefprengt auf halbtot gehegtem Raps

328 Frau Erdmuthens 3willingsſöhne

pen, im dunklen Reitermantel, kotbeſpritzt bis an den Hals, naß bis auf die Haut, aber heil und wohlgemut wie ein Fifch.

Raul war fein Geheimniöfrämer und würde ald Kund⸗ ſchafter ſchlechte Gefchäfte gemacht haben. Indeſſen, des Landes und der Leute fundig, ber verwegenfte Reiter, ber er war, hatte unmittelbar nadh feiner Meldung beim Marſchall derfelbe ihn auserfehen, auf dem möglicht ab⸗ gefürzten Wege einen Auftrag oder fonft dergleichen an dad Generallommando in Magdeburg zu befördern. Mitten durd, Hirfchfelde Stellungen hindurch war das fede Reiterftüd gelungen; Raul würde fchon vor Abend das Hauptquartier, das er in Trebbin annahm, wieder erreicht haben, wenn er nicht Durch die bereits bis über Zreuenbriegen hinaus plänfelnden Koſaken gezwungen worben wäre, einen Bogen füdwärts zu ſchlagen und in der Heimat Relais zu nehmen.

Sein halbtotes Pferd Fonnte notdärftig nur durch dag unferes Inſpektors erfegt werden. Doch bedurfte das⸗ ſelbe eines Hufbeſchlags, und bevor der Schmied, erſt vom Felde herbeigeholt, ſein Geſchaͤft vollendete, gingen ein paar Stunden hin. Auch dem Reiter, ſo ungeduldig er war, taten trockne Kleider und ein Ausruhen not. Ein nachtraͤgliches Mittagsmahl wurde von Madame Barbe angeordnet; doch zeigte ſie ſich bei Tafel nicht. Ein Brief ihres Sohnes, den ſie am Morgen erhalten hatte, ſchien ihr im Kopfe herumzugehen. Liska fragte nicht danach; ſie ſaß wieder ihrem Ebenbilde gegenuͤber und flammte mit ihren Augen in die ſeinen.

Raul, nuͤchtern ſeit geſtern und uͤberhungert, wenig, trank aber mehr und ſtaͤrkeren Wein als gewoͤhnlich.

Sechſter Abſchnitt 329

—— —— —— —— —— ——

Wir verweilten beim Nachtiſch, dann im Gartenſaal beim Kaffee, den Raul mit Kirſchwaſſer nahm. Anfaͤng⸗ lich in uͤbereile, um noch in der Nacht vor dem Aufbruch das Hauptquartier zu erreichen, duͤnkte es ihm jetzt zum Weiterritt vollauf Zeit. Er wollte das Zuruͤckdraͤngen der feindlichen Vorlinie am geſtrigen Tage erfahren haben und hielt einen Kampf diesſeits Berlins nicht fuͤr annehmbar, falls Bernadotte, den er nie ohne Fluch⸗ wort nannte, den Beſitz der preußiſchen Hauptſtadt uͤber⸗ haupt eines Kampfes wert halten ſollte. Es genuͤgte, wenn er im Lauf des morgenden Tages die vorruͤckende Armee einholte. Er dehnte ſich behaglich; Liskas Augen gluͤhten.

Die Mutter hatte ploͤtzlich Leben gewonnen; fie beſann fih auf Verbandzeug und Stärfungsmittel, welche in die Satteltafchen gepadt werden follten, ordnete, da die Barbe unfichtbar blieb, alles felbft, ging hin und wider.

Es dämmerte bereits, der graue Himmel verkürzte den Tag; doch hatte der Regen eine Paufe gemacht; milde Luft, ein weicher Refedaduft drangen von den Garten⸗ beeten durch die geöffneten Fenfter. Auch idy mußte mich in einem Amtsgefchäft entfernen; Raul und Liska blieben allein.

Eine unfagbare Angft beflemmte mir die Bruft; ich haftete meinen Schritt. Zufällig fiel im Gehen mein Blick auf die Fahle Pappel. Ihr treuer Sommergaft hatte fie geräumt, einen oder den anderen Tag früher, als es feine Regel war. Ich gedachte der Stunde, ald er und heuer zum erften Male daraus begrüßte. O, dag dad Kind nicht vom Himmel an unferen Herd gefallen wäre, ja, daß es heute lieber im Bruderlampfe ftände,

830 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne

ald unter feiner Wutter Dach! Ich fchalt mich einen Narren, einen Frevler, aber id) dachte fo.

Als ich zurüdkehrte, war es völlig Abend geworben. Raul und Liska ftanden aneinandergefchmiegt im Feniter- bogen. Sie bemerften mein Eintreten nicht; fchienen Gott und Menfchen vergeflen zu haben. Sie flüfterten fich ind Ohr und wendeten ſich nach der Tür.

„Soll ich Shr Pferd vorführen laſſen, Raul?” fragte ich.

„Es eilt nicht,“ antwortete er und wollte an mir vor⸗ über.

Auf der Schwelle trat ihnen die Mutter entgegen. Sie drang auf eine Ruheftunde für den Sohn. Haſtig ver- ſprach er, fid, hier im Gartenfaal aufs Sofa zu legen, um ohne Störung ded Hauſes um Mitternacht aufbrechen zu können. Das Pferd follte gefattelt im Stalle bereit ftehen. Es war in der Erntezeit, alled fchlafbedürftig; doch fiel mir diefe Rüdficht an dem Sorglofen auf. Lisfa ging ſchweigend in den Garten; das war feit der Heimkehr auch bei Abend ihre Gewohnheit. „Sch fehe dic noch, mein Raul”, fagte die Mutter und ging in ihr Kabinett. Raul gab mir zum Abfchied die Band und warf fid) aufs Sofa.

Sch nahm den Weg durch den Garten. Der Durftige Sand hatte die Regenmaffen raſch aufgefaugt. Es dun- ftete wie Weihraudy in der ſchwuͤlen, waſſerſchweren Luft. Ich fah mich nach Liska um; fie war nicht mehr im Garten; fie mochte vom Hofe her in das Haus zurüd- gekehrt fein. Ic lauſchte eine Weile, alles blieb ftin, Zögernd entfernte idy mid).

Aber ic; legte mich nicht. Auch an meinem Pulte fand ich feine Ruhe. Sch rannte im Zimmer auf und ab. Der

Sechſter Abfchnitt 831

Angſtſchweiß tropfte mir von der Stirn. Die Uhr fchlug elf. Ich hielt e& nicht länger aus; ich wollte nach dem Scloffe, Raul ein mahnendes Wort vor dem Abfchied fagen, die Mutter warnen, oder - Gott weiß, was fonft.

Da, - wo mein Weg unter die Ulmen einbog, fah ich von der Ruine her einen weißen Schimmer fich aus dem Dunkel abheben. Ich ftand ftil. Er ſchwebte näher und näher. Sie war ed, im weißen Kleid; den Kopf an feine Schulter gelehnt, den Leib von feinem Arm ums fchlungen. Sch trat ihnen in den Weg und padte feine Schulter. Er zudte zufammen. Sie flammerte fid) nur noch fefter an feinen Arm.

„Sehen Sie voran, Liska,“ preßte ich hervor. „Sie, Raul, folgen mir in meine Wohnung.“

„Sc werde meine Couſine nach Kaufe begleiten, dann ftehe ich zu Dienften,“ verſetzte Raul.

Sie fchritten weiter; ich ging in die Pfarre. Sch wars tete, mir fchien es eine Ewigkeit; vielleicht, daß es nur Minuten geweſen find. Schon zweifelte ich, daß er fommen werde; aber er hatte nur der Wutter Lebewohl gefagt und fein Pferd an meine Tür beitellt. Endlich trat er ein. Sch hatte Fein Licht angezuͤndet; unfere Worte wechfelten fich beffer im Duntel.

„Sneulpat ftellt ſich zum Verhör,” rief er mir lachend entgegen. „Machen Sie’d gnädig, Pate Magifter.“

„Affektieren Sie feinen Scherz,“ entgegnete id. „Er fteht Ihnen häßlich in einer Stunde, wo Sie Ihres Bruders Ehre mit Füßen getreten - -“

„Sie übertreiben!” unterbrach er mid).

„Bo Sie einen tödlichen Schlag gegen das Herz Ihrer Mutter geführt haben“, fuhr ich fort.

332 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne

Er madıte ein paar Gänge durchs Zimmer. Ich fegte mich, denn meine Füße trugen midy nicht. „Die Mutter, die Mutter!” murmelte er.

Dann trat er mir gegenüber und begann ernithafter, befonnener, als ich ihn jemals gehört: „Nun ja, bie Mutter! Um ihretwillen bin id; gefommen; um ihret- willen berühre id; einen Punkt, über welchen der Dann fonft auch feinem Vater nicht Rede fteht. Sie hat ein Traumbild brüderlicher Harmonie in fich groß gezogen, das fid in einen bämonifchen Quaͤlgeiſt verwandelte, ale die Wege ihrer Söhne ſich naturgemäß ſchieden. Nicht durch meine Schuld; ich bin auf legaler Bahn geblieben; Sie wiffen ed. Auch Elage ich Herrmann nicht an. Operari sequitur esse. Aber ich fehe feinen Untergang, und mid; jammert die Mutter. Nicht die . hartnädigfte Natur ertrüge auf die Dauer ſolche Folter: qual. Nun noc, diefer Konflift weit intimerer Art, - er würde ſich Iöfen Iaffen, leicht loͤſen, hätte ich Zeit, fie vorzubereiten, fie zu überzeugen; aber ich muß fort, und jeder Dritte, oder gar der Zufall - Sie haben recht: es könnte ihr Herz brechen.“

„Und wenn Sie dad mwußten, warum -" Er ließ mich nicht ausreden.

„So fragt, wer die Leidenſchaft nicht gekannt oder lange vergeſſen hat,“ rief er aus. „Will einer, was ihn uͤberwallt? Merkt er die heimlichen Schliche, mit denen eine Paſſion ſich unſerer bemaͤchtigt? Dachte ich daran? Ich ahnte es nicht einmal. Mir war wohl wie einem, der nach langer Kerkerhaft in einem ſonnigen Blumengarten erwacht. Ich habe ſchon manche Frau reizend gefunden, manche reizender als dieſe. Ich be⸗

Sechſter Abſchnitt 333

trachtete ſie nicht als die eines anderen, aber ich begehrte auch nicht nach ihr. Ich bin kein Schaͤfer, kein Werther von Natur; alles Verlangen war nach außen hin ge fpannt. So fpürte ichs im anderen Herzen früher als im eignen und aud) im anderen erft in der legten Stunde. Solchen füdlichen Kindern ift nicht wie euren deutſchen die Liebe eine Metamorphofe, aber ein natürliches Ele⸗ ment. Drüben am Grabe der Mutter, - in der Ber; zweiflung des Abſchieds -“

„Und fo in leichtfinnigem Spiel, dad nicht einmal bie Leidenfchaft entjchuldigt,” rief ich aus, „mit faltem Her⸗ zen ftehlen Sie das Lebensgluͤck Ihres nächften Menfchen, den Frieden —“ |

„Nicht mit kaltem Herzen,“ unterbrad) er mich. „Auch ftahl ich nichts. Sch fand bei Wege ein herrenlofes Gut. Da idy8 aber gefunden, ba ed fidy freiwillig mir zugeeignet hat, gibt e& Feine Macht, Die e& mir wieder abfordern dürfte, - auch die Mutterliebe nicht.“

Mir war die Kehle zugefchnärt. Es entftand eine Paufe. Dann fuhr er fort:

„Und Herrmannd Lebendglüd Hanıtent Sie ed. Zus geftanden, daß der Berluft feine Eigenliebe fränft. Aber, Hand aufs Herz: war Liskas Liebe wirflid fein Gluͤck? Er hat fie niemals beſeſſen.“

„Sie hat ihm das Gegenteil beteuert - -“

„Sn einem Moment der Überrafchung, der Erregung, bevor fie ahnte, was lieben fei.“

„Sie hat gelobt, fein Weib zu werden -”

„Mit nichten. Sie hat vom erften Tage ab gegen die Konfequenzen ihrer Übereilung proteftiert. Einft war er ihr gleichguͤltig, heute würde er ihr antipathifch fein.

834 Frau Erdmuthens Zwillingefähne

Und was böte er ihr ale Entgelt für ein leeres, wider: williged Herz? Das feine etwa? Liebt er fie? Mein, er liebt fie nicht.”

„Welches Urteil haben Sie darüber?“

„Leſen Sie feine Briefe; hören Sie Liska, felber die Mutter über ihn. Und welche Gegenfäte in ihrem ſuͤd⸗ lichen Blut und feiner flämifchen Ader? Klingen fie zufammen im einfacıften Sa oder Nein? Würde ich eine Frau nad feinem Schlage Tieben können? Weiß ein Deutfcher überhaupt, was Lieben ift? Mit Liebe Lieben, wie wir anderen es nennen?”

„Mit Hingebung lieben, mit Treue fürd Leben, mit Willen und Gewiffen keiner befler, als diefer deutfche Mann,“ fagte ich, und er ergänzte:

„Nun ja, mit alledem, was Kiebe nicht iſt.“

„Sparen Sie Ihr Raifonnement,” rief ich empört. „Woher ftammt denn unfer Unheil, ald daß Sie feinen Sinn haben für Ihres Bruders Wert?”

„Beſtreite ich feinen Wert?” verfeßte er. „Ich beftreite nur Ihren Gradmeſſer feiner Temperatur. Sch fehe ihn vor mir. Er fuchte unferer Mutter eine Tochter ald Er- faß für den Sohn, den fie verloren glaubte. Liska war ihm die Nächfte. Er tat an der Waife ein gutes Werk; er ift ja ein Menfchenfreund; Idealiſt in den realften Dingen. Sie mag ihm audy gefallen haben; wem geftele fie nicht? Dabei dachte er aber an eine Frau für Haug und Hof; an ein Mütterchen in der Kinderftube, an alles das, was Liska nicht ift, noch jemals werden kann. Gönnte er fidy Ruhe zur Prüfung, er würde feinen Irrtum eins fehen und fie dem überlaffen, den fie begluͤckt, fo wie fie ift und allezeit bleiben wird.”

Schfter Abſchnitt 835

„Wenn Sie fo ficheren Glaubens waren, warum vers ftändigten Sie ficy nicht mit ihm? Wer nimmt ohne Schenfung eined anderen Eigentum, fo wertlos oder gar ſchaͤdlich er es für ihn halten möge?”

„Wie follte ich ihn erreihen? Es war in der legten Stunde, id fagte ed ja. Schon fand er in Reih und Glied unferem Lager gegenüber.”

„Sie konnten ihm fchreiben, Sie können ed noch. Tun Sie es hier; gleich, aus vollem Kerzen. Ich übernehme die Beförderung.”

„Das fchriftliche Wort ift leblos,“ verfegte Raul, zum erftenmal merflicd, befangen. „Die Zeit drängt: wir find und fo lange entfremdet, würden ung fo ſchwer verftehen. Und dann und dann er liebt fie nicht, es ift wahr; es ift nicht fein Gluͤck, um das es fich handelt, aber, aber - e8 gibt einen Punkt - - Sie felber haben ihn zuerft genannt - und er ift mein Bruder! Er dürfte nicht Ges nugtuung von mir fordern nach Männerart; ich nicht fie ihm gewähren. Wir werden und mit den Waffen in der Hand gegenüberftehen, bald, vielleicht morgen ſchon. Sch fann fallen; er kanns. Soll er mein Todfeind fein, wenn fein Auge bricht ?”

Wieder eine Paufe. Er ging mit ftürmifchen Schritten im Zimmer auf und ab. In mir fochte ed. Heiliger Gott, heiliger Gott, diefer Mutter Sohn zog feine Rech⸗ nung auf feines Bruders Tod! Er fchien diefen Hoͤllen⸗ gedanken in meiner Seele zu lefen. „In beruhigter Stunde wird auch ein beruhigender Abjchluß zu finden fein”, warf er hin.

„And wie denken Sie ſich den Abfchluß des fchnöden Spield?” fragte ich nach einer langen Stille.

336 rau Erdmuthens Iwillingsföhne

Er antwortete fchon wieder unbefangen, ja mit einem Anflug von Beluftigung: „Verlobung und Hochzeit und - Hütten bauen, nicht wahr? Alles fein ehrbar und folge- recht nach guter deutfcher Art. Aber wer denft daran, wenn der Boden unter unferen Füßen zittert? Sat der Kaifer einmal in dieſem tollföpfigen Europa vollends aufgeräumt, kommts zum Frieden, - nun gut, dann wird fie die Meine, und Frankreich unfer Vaterland. Herr⸗ mann bleibe alles, was deutfche® Erbe heißt. Auch die Mutter wird ihm bleiben, ich fühle ed.” Er feufzte. - „Alles fein, und mein nur diefed fremde Kind. Sc denke: das ift Fein unbrüderlicher Tauſch. Bis dahin aber, bis ich felber, ich allein, die Mutter mit der Wand⸗ lung der Berhältniffe ausföhnen kann, bleibe ihr diefe Wandlung verhält. Stehen Sie mir darin bei, auch Liska gegenüber, der das Geheimnis das Herz abpreßt. Huͤten Sie Liskas Impulſe, und ſchweigen auch Sie.”

Sein Pferd wurde bei diefen Worten vorgeführt; er faßte meine Hand, ald ob er mir ein Berfprechen abneh- ‚men wollte. Sch erhob mich.

„Raul,“ fagte ich, „das urewige Band bed Blutes haben Sie zerriffen, und an eine jenfeitige Verantwortung, fo fcheint es, glauben Sie nicht mehr. Aber fo wahr es eine Gerechtigfeit gibt, Sie werden auch hienieden an biefem Frevel tragen, folange Shre Augen offen ftehen. Und mit Ihnen wir alle, die wir in deutfchem Glauben das Mutterhaus für eine Freiftatt der Treue und das Brudergut für ein Ehrenpfand gehalten haben. Nun ja, ich will bis zum Außerften den vernichtenden Schlag von Ihrer Mutter abzuwenden fuchen; eine kurze Gnaden⸗ frift! Ihrem Bruder aber werde ich die Wahrheit fagen,

Sechſter Abſchnitt 837

wann und wo id) ihn erreichen fann. Gibts aus dieſem Wirrſal der Suͤnde eine Löfung, fo iſts durch ihn, ber allein der Schuldlofe an demfelben ift. Als Ihr Tods feind vielleicht, aber nicht ald der Genarrte Ihrer Raus nen foll er Ihnen im Leben und Sterben gegenüber, ftehen.”

„Seid darum!“ verfegte Raul. „Es plädiert fich Teiche ter in einer fremden als in der eigenen Sache. Plädieren Sie für dad Natürliche vor dem Juͤnger der Idee. Schonen Sie midy nicht, aber fchonen Sie die Mutter.”

Dad Hang wohl leichtfertig, aber er war doch bewegt. Er drüdte meine Hand, und die feine zitterte. Ich glaube: den naͤchſten Triumph feines Kaiſers hätte er Darum ges geben, wenn er dad ‚„Natürliche” in dad Mebelreich der Ideen hätte verfegen koͤnnen. Nur daß es feine Sache wenig verbeflerte, wenn der feichtgepflanzte Trieb nicht bis in die Tiefe ded Muttergrundes drang.

In diefer Nacht zaufte ich mich herum, wie man fo fagt, mit Gott und der Welt. Bon dem Erzböfewicht rede id) nicht einmal, das war ja nur ein fortgefeßtes Gefchäft. Aber da hatte ich auch ein altes, franzoͤſiſches Kuppler⸗ mweib beim Schopf, das von einem winzig Fleinen, ſchwar⸗ zen Sefuitchen am Schürzenbande gegängelt wurde und die Ruine in der Heide mit Teufels Gewalt wieder in ein Klofter verwandeln wollte. Dann fanzelte ich einen flämifchen Ulanenrittmeifter ab, weil er yartout nur Trompete blafen und nicht audy ein bißchen Flöte fpielen lernen wollte. Selber mit der ftillen, weißen Frau, die ein Erbfrönchen trug, konnte ich nicht Frieden halten, wenngleich fie doc; ausfah wie der liebe Frieden felbft. Warum hatte fie Zwillinge auf die Welt gebracht? Was xX.22

838 Frau Erdmuthens Swillingsfähne

rum hatte ſie einen franzoͤſiſchen Viveur großgehaͤtſchelt? Warum ſtarrte ſie immerzu hinauf in den blitzenden Wolkenkegel, derweilen ein funkenſpruͤhendes, ſchwarzes Kaͤtzchen ganz unverſchaͤmt an ihrem Bettvorhange in die Hoͤhe krabbelte und ihr Haus in Flammen ſetzte? Am aͤrgſten jedoch ſpielte ich einem kindskoͤpfiſchen alten Ma⸗ giſter mit, der den Funken anglimmen ſah und, anſtatt „Feuer!“ zu ſchreien, nicht aus der Melodie „uͤb immer Treu und Redlichkeit“ herauszubringen war.

Seltfam, aber nur der unverfchämten, fchwarzen, Kleinen Kape, die doch den ganzen Schaden angerichtet hatte, der konnte ich gar nicht recht zu Leibe kommen, denn fie ku⸗ gelte fich feelenvergnügt im Kreife um mich herum und ſchnurrte in einem fort: „Raul, Raul, Raul!”

Am andern Morgen fühlte idy mic, zum erftenmal im Leben krank. Ic, fprang aus dem Bette und wollte firadö zu meinem Herrmann in Buͤlows Lager vor Bers lin, taumelte aber zurüd und blieb liegen, bis die Fieber⸗ angft mid, von neuem in die Höhe ſchnellte.

Aber audy, ald ich tags darauf ruhiger wurde, ja, je ruhiger ich wurde, um fo feſter wurde ich in der Er⸗ enntnis, daß Herrmann allein die Krife in feinem Kaufe beſchwoͤren könne. Ich fragte mid) faum nad) dem Wie und Wodurch, fo fiher war ich feiner -reinen, flarfen Natur. Eine weftliche Biegung entfernte mich von ber Marfchroute der franzöfifchen Armee, Mein Ziel war Berlin; vielleicht erreichte ich e& noch vor dem Zuſam⸗ menftoß. Pr a

%

Sc hatte am Morgen eben mein Bündeldhen gepackt

und grübelte nad) einem Vorwand, ber die befchloflene

Sechſter Abſchnitt 839

Irrfahrt Frau Erdmuthen begreiflich machte, dem erften Borwand in unferem Freundedleben. Da trat fie felber bei mir ein, Freudentränen in den Augen, verjüngt um ein Sahrzehnt.

Und wohl war ed eine verjüngende Kunde, die äber Nacht den Weg in unfere Heide gefunden hatte. Der Streid, auf Berlin war abgewehrt, der Sieg von Großs beeren errungen worden, felbftändig von Bülow - und das hieß und von Herrmann! errungen worden vor der Stunde, daß berechenbar fein Bruder ihm mit dem Schwerte in der Hand gegenüberftehen konnte.

„Der barmherzige Gott hat meinen Kleinglauben noch einmal befchämt,” fagte die edle Frau, „ich werde ihm. _ fortan demütiger vertrauen lernen, mein Freund.”

Und wirklich richtete fie fidy feit diefem Tage auf. Das quälende Phantom vieler Jahre wich einer tröftlichen Zuverfidht. Mir durdhfchnittd das Herz.

Mein Reifeplan ward durch biefe Kunde verzögert.

Dennoch belebte fie auch mich. Der erfte errungene Lors beer war ein fühlendes Blatt auf die Wunde, die dem Kerzen bed Freundes gefchlagen werden mußte. Im Laufe ded Tages erfuhren wir Näheres durch uns feren Inſpektor, der Rauls zurüdgebliebenen Rappen, zum Austaufch gegen das Gutöpferd, halben Wegs nad) Trebbin geritten, ihn dort aber nicht, wie verabrebet, einem Diener, fondern dem Herrn felbft übergeben hatte. Die Armee war in vollem Rüdzug auf Wittenberg; Raul fnirfchend vor Scham und Wut.

Die Sachſen hätten die Schlappe verfchuldet, fo fprus delte er hervor, die Sachſen allein. Durch eine franzss fifche Divifion fei das Gefecht zwar wieder hergeftellt,

340 Fran Erdmuthens Swillingsfähne

das Schlachtfeld behauptet worden; die Demoralifation der Sachſen aber fo groß, daß der Marfchall den Ruͤck⸗ zug geboten erachtete. Der handgreifliche Gewinn Ber⸗ lind wäre durch die Überrumpelung der Sachſen - vers eitelt nun freilich nicht aber doch verzögert worden.

Der ehrliche Inſpektor hatte einen Bruder beim Regis ment Low; noch wußte er nicht, daß berfelbe zu den Opfern dieſes tapferen Regiments gehörte; dennoch wies derholte er und jene naturmwidrige Schmähung, Tränen in den Augen und fchamesrot. War es denn aber wirks lich nur franzöfifche Eitelkeit, der fie herz- und gedanken⸗ [08 nachgefprochen wurde? Raul hätte in den verhängs nisoollen Stunden fchmwerlich noch ein Zeuge der Wahr: heit werden, ſicherlich an der Enticheidung nicht das geringfte ändern können. Aber dachte er an den Frevel, der ihn über Gebühr von dem Kampfplatze ferne gehals ten hatte? Das Gewiffen macht nidyt nur reuige Bes fenner, ed macht auch fchreiende Lügner aus und fün- digen Menfchen.

Das Kriegegetümmel hatte ſich während diefer Tage in unfere Nachbarſchaft gefchoben. Zwar dedte der dichte Heidefchirm und gegen Often vor der rüdwärts ziehen den Armee; bei Süterbog? wurde aber bereitd gefämpft. Der Inſpektor, der aus diefer Richtung fam, verficherte, daß ed nur noch Oudinots Nachhut fei, welche die vers folgenden Koſaken erreicht hätten; wir zweifelten nicht, daß das Gros der verbündeten Armee den Plänflern auf dem Fuße folgen werde, Seder Tag fonnte Herr⸗ mann in unfere Nähe führen.

In Schloß und Pfarre wurden Vorräte aufgeftapelt und Lazaretteinrichtungen getroffen, Tettere auch auf

Sechſter Abſchnitt 341

etliche geeignete Stadthaͤuſer ausgedehnt. Madame Barbe bewaͤhrte ein unuͤbertreffliches Organiſationstalent.

Als ich am ſiebenundzwanzigſten zum erſten Male nach dem Schloſſe ging, hielt im Hofe eine kleine Wagenburg zur Abfahrt bereit, um Verbandzeug und Nahrungsmittel auf den Kampfplatz, als Ruͤckfracht aber eine Ladung Verwundeter in unſere Pflegeſtaͤtten zu fuͤhren. Der Heidefoͤrſter hatte heute fruͤh erneuertes Feuern aus der Gegend von Juͤterbogk gemeldet.

An der Spitze der Kolonne, auf Herrmanns leichtem Korbwagen thronte zwiſchen Kruken und Kobern Madame Barbe, Zuͤgel und Peitſche in der Hand. Schon hatte ſie das Signal zum Aufbruch gegeben, als mit einem Heldenanlauf Freund Hecht an den Wagen trat und ſich zur Begleitung der Expedition gedrungen erklaͤrte.

Der brave Direktor war, ſeit geſtern die erſten Schuͤſſe jenſeits der Heide gehoͤrt worden waren, aus dem ein⸗ ſamen Gerichtshauſe in das Schloß uͤberſiedelt. Denn da bis dato noch kein weltweiſer Mann geleugnet hat, daß der Menſch ein Geſellſchaftsweſen ſei, ſo hatte unſer weltweiſer Mann bei einem Maſſaker was war Kinds⸗ braten liebenden Baſchkiren⸗ und Kirgiſenpulks nicht zuzutrauen!- doch die philoſophiſche Genugtuung, wenig⸗ ſtens in naturgemaͤßer Geſellſchaft maſſakriert zu werden. Beim Anblick der heroiſchen Amazone regte ſich nun aber der ritterliche Inſtinkt, den auch die reinſte Vernunft in gewiſſen Momenten nicht im Zaume zu halten vermag.

„Koͤnnen der Herr Direktor auch Blut ſehen?“ fragte Madame Barbe in bereits voͤllig fließendem Deutſch, indem ſie ſtatt der Knie die Peitſche eine devote Nei⸗ gung vollbringen ließ.

812 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne

Der Direktor erflärte, daß er zwar noch fein Blut ges fehen habe, mit Ausnahme etlidyer Tropfen, weldye ein ungefchidter Barbier feiner Oberlippe abgezapft, baß aber die Philofophie - -

„Die Nerven fpotten aller Philofophie,“ unterbrach ihn Madame Barbe. „Der Herr Direktor werden, unmaß⸗ geblich, wohler tun, über dero gelehrten Aktenſtoͤßen zu verbleiben.” Zu mir gewendet fette fie in ihrer eignen Sprache hinzu: „Der Herr Direktor erfreut ſich eines bedeutenden Appetitd; die Frau Baronin aber wünfct, ihre Erfrifchungen den Verwundeten zugute fommen zu laſſen.“

Das ritterliche Intermezzo hatte einen kleinen Aufſchub bewirkt. Ploͤtzlich ſtutzte die Amazone. Sie horchte ge⸗ ſpannt nach der der Heide entgegengeſetzten freien Land⸗ ſeite hin. Auch vor meinen Ohren brummte es wie fernes Wagen⸗ und Donnerrollen.

„Dorthin!“ kommandierte Barbe. Die Wagen lenken um; der der Dame ſetzte ſich wieder an die Spitze. Mich durchzuckte es. Wenn dort Buͤlow kaͤmpfte! Ohne Be⸗ ſinnen ſchwang ich mich an die Seite der tapferen Fuͤh⸗ rerin, wurde mit einem huldvollen Peitſchenneigen be⸗ gruͤßt, und dahin ging es, dem Schalle nach, auf dem

Belziger Wege. | Ich hatte vorhin zum erften Dale feit jenem verhäng- nisvollen Abend Liska wiedergefehen; verlegen etwa? Fa, ich Alter vielleicht. Sie leuchtete im Stolze ihrer Liebe; fie brannte danach, mit dem einzigen Vertrauten von ihrem Gluͤck zu reden. Ich war ihr ausgewichen. Daß ihr Herzendfieg ein Frevel fei, daß er den Frieden, ja, den Beftand einer Familie bedrohe, hätte fie ja doc,

Sechſter Ubfhnitt 813

nicht verftanden. Menfchen der Leidenfchaft meſſen mit dem leichteften und mit dem ſchwerſten Maße zu gleicher Zeit.

Und dennoch oder eben darum? - vermochte ich nicht mit diefer Natur zu rechten. Sa, unter ihrem freimuͤti⸗ gen Bezeigen überfiel mich plöglich eine Sorge, welche Die Pein unferer Lage noch verfchärfte. Die fremde Waife hatte auf der Gotteswelt feine andere Zuflucht, als das Haus der Mutter, deren Sohn fie verraten. Durfte fie unter feinem Dache weilen, nach der Stunde, die den Verrat enthüllte?

Zum erften Male im Leben wagte ich für die Hands Iungsweife meiner Freundin Erdmuthe nicht einzuftehen. Nun und nimmer aber, das wußte ich,-würbe fie einem erflärten Verhältnis zu dem Betrüger, eben weil er ihr Sohn war, ihren Schuß verliehen haben. Was wurde nun aus dem unheimifchen Kinde? Und follte ed ein gleiches Bedenken fein, welches Raul fo Aängftlich auf die Wahrung des Geheimniffes dringen ließ?

Sch glaube es nicht. Es gab nur einen Menſchen, fuͤr welchen Raul eines ſorgenden Vorgefuͤhls faͤhig war, und dieſer eine war ſeine Mutter. Alle ſeine Be⸗ rechnungen gruͤndeten ſich zudem auf einen Erfolg der franzoͤſiſchen Waffen, der ſeinen Bruder fuͤr lange Zeit von der Heimat ferne hielt. Dieſe Berechnung aber war mit dem Ruͤckzuge von Großbeeren hinfaͤllig geworden. Die Sieger konnten, ja mußten jede Stunde in unſerer Naͤhe erwartet, die heilloſe Lage konnte, ja mußte jede Stunde der Mutter offenbar werden. Auch die Ents fheidung über Liskas Zufunft fah ich daher in Herr⸗ mannd Hand gelegt, und audy"diefe mit Vertrauen.

844 Frau Erdmuthens Swillingsfähne

In ſolcher Stimmung trat ich, gedruͤckt und geſpannt zugleich, meine Schlachtenfahrt an. Ich hegte keine Luſt, mich zu unterhalten, und ſtellte mich angegriffener, als ich in Wahrheit noch war.

Indeſſen hatte ich bei dieſem Spiel den Spuͤrſinn meiner Nachbarin außer Rechnung gelaſſen. Kaum zehn Minuten, und ihre Zunge war in vollem Zuge, meine Ohren, und wenn ich ihrer ein Dutzend gehabt haͤtte, waren es aber auch.

Madame, in ihrer allerhoͤflichſten Manier, bat zuvoͤr⸗ derſt ums Wort; darauf um Entſchuldigung, mich, gegen ihr eigenes Dafuͤrhalten, in einer bewußten Angelegen⸗ heit leider nicht voͤllig der Wirklichkeit entſprechend be⸗ raten zu haben; endlich um die Erlaubnis, mir ihre un⸗ maßgebliche Meinung uͤber den gegenwaͤrtigen Stand und die allein moͤgliche Loͤſung der bewußten Angelegen⸗ heit vortragen zu duͤrfen.

Sie geſtand von vornherein zu, den kirchlichen Einfluß auf Mademoiſelles Seelenheil ein wenig zu hoch an⸗ geſchlagen zu haben; bei weitem zu niedrig aber den Reiz der Gelegenheit des ſtuͤndlichen Beieinanderſeins, und ſo weiter und ſo weiter. Indeſſen halte ſie auch heute noch die Sache fuͤr einen Zeitvertreib, fuͤr eine Belleite, gegen welche im Grunde ſelber ein ſtrupuloͤſer Eheherr wenig Erhebliches einzuwenden haben dürfte. Das einzige Gluͤck für Mademoifelle fei und bleibe ber Herr Baron.

„Sie fchütteln unmwillig den Kopf, mein Herr," fagte fie. „Der Herr Obriftleutnant meinen Sie? Sie fchäts teln wieder. Gut; fo find wir einig. Das heißt: Mon; fteur und mein Sure. Mademoifelle heiratet feinen von

nor Sechſter Abſchnitt 315

beiden. Sagen wir, vor der Hand feinen von beiden. Mademoiſelle begleitet mich zuruͤck nach Frankreich.“

„Das wäre ganz gut,“ verfeßte ich, „aber Mademoiſelle hat keine Angehörigen in Franfreich, und in den Schuß welches Hauſes würden Sie fie zu ftellen haben, Mas dame Barbe?“

„Monfteur werden mir die Genugtuung gewähren, vors anuszufegen, nicht unter den Schuß meines eigenen Haus ſes,“ entgegnete Madame Barbe mit einer Peitfchen: fenfung. „Sch weiß, was fich ziemt. Ich habe etwas übrig für Mademoifelle, in jedem Sinne übrig, mein Herr. Audy würde eine ſolche Einladung nicht unſtandes⸗ gemäß für die Tochter eines Kapitänd unferer Armee zu nennen fein. Monfieur Barbe war Offizier, er würbe ed hoch gebracht haben; und mein Sohn ift Cure. Aber Mademoifelle ift die Pflegetochter, die ermählte Schwie- gertochter der Chätelaine von Arnheim, und ich war Bivandiere. Mademoifelle wird meine Schwelle nicht be⸗ treten; Mademoifelle geht ind Kloſter.“

„Ind Klofter!” rief ich, trog aller Verlegenheit ents feßt. Der große Martin Luther bäumte fich auf in dem Meinen fächfifchen Magiſter. Raſch aber befann ich mich und verfegte lachend: „Schon recht, Madame Barbe. Nur leider, daß Sie in Frankreich Feine Klöfter mehr haben.“

„Berzeihung, mein Herr, noch nicht wieder haben, fagt mein Eure,” entgegnete Madame Barbe. „Aber Monfieur find im Recht; ich hatte mich voreilig auds gedrückt. Ich bitte daher um die Gnade, mich etwas außführlicher vernehmen laſſen zu duͤrfen.“

Sie erzählte darauf, daß fie infolge bedenklicher Wahrs

846 Fran Erdmuthens Smwiltingsfähne

nehmungen DMademoifelled Reifebriefe ihrem Sohne ges ſchickt und diefer feinen Befcheid nicht verzögert habe. „Er ift mein Beichtvater, mein Kerr, er erteilt mir die geiftliche Direktion. Bis jegt nur noch brieflich; bald aber, er dringt darauf, aud) von Mund zu Mund.“

Sie zog bei diefen Worten einen Brief hervor, den fie zur Beglaubigung mir überreichte, während fie feinen Inhalt Wort für Wort mir vorbeflamierte. Sie ver⸗ fiherte, alle Briefe ihres Cur& fo lange zu fludieren, bis fie ihren Inhalt auswendig wüßte.

(Beiläufig: ift das savoir par coeur nicht ein Ausdrud, um den wir unfere Nachbarn beneiden dürfen? Wenn der unfrige doc; wenigftend inwendig lernen oder ins wendig wiffen lautete.)

„Sn Ermanglung und in Erwartung vom Staate an erfannter Klöfter” fo fchrieb mein Fathofifcher Amts bruder, augenfcheinlich an eine andere Adreffe als die nominelle ſeines mütterlichen Beichtkindes gerichtet „haben fich freiwillige Gemeinfchaften gebildet mit halb⸗ geiftlicher, halbweltlicher Obfervanz. Damen jedes Als ters ziehen ſich zeitweife oder auch lebenslang in ſolch ein Afyl zurüd: Witwen, Getrennte von Tifch und Bett, Unverheiratete, Berlaffene, die den geziemenden Platz in Familie und Welt verloren oder nicht zu finden gemußt haben. Keine Gefellfchaft wird für die höheren Stände, deren Zuchtmeifter nicht die Arbeit ift, Derartige Zufluchts⸗ ftätten entbehren können, auch der Proteftantismus fich ihrer Notwendigkeit wie mancher anderen wieder beugen lernen. Die Damen find durd, fein Gelübde ges bunden, das ja überdies der erfte befte Gensd'arme zu annullieren dad Recht hätte: fie haben zu jeder Zeit Die

Sechſter Abſchnitt 347

Freiheit auszuſcheiden, leben in einem Penſionat und zahlen Koſtgeld nach ihrem Vermoͤgen.“

Es folgte hierauf eine Schilderung derartiger Laiinnen⸗ gemeinſchaften in verſchiedenen, dem Herrn Curé be⸗ kannten, ſuͤdoͤſtlich franzoͤſiſchen Plaͤtzen, die an Genauig⸗ keit nichts zu wuͤnſchen uͤbrig ließ. Ein Beweis mehr, daß noch andere als die aufs Wort glaubende Mutter von den Vorzuͤgen dieſer Inſtitute uͤberzeugt werden ſollten. Ein beſonderes Augenmerk aber war auf eines derſelben gerichtet, das die verwitwete Graͤfin von Saint Maximin in ihrem nach der Revolution wieder angeeig⸗ neten Schloſſe unter Mitwirkung des Herrn Curé An⸗ ſelme gegruͤndet hatte. Lokal⸗ wie Perſonalverhaͤltniſſe in demſelben waren anſchaulich und einladend dargeſtellt, auch ein eigenhaͤndiges Schreiben der Graͤfin douairière an die Frau Baronin Roc von Feld beigefügt, in wels chem fie, wie der Herr Curé bemerfte, ihrer verwaiften Landemännin den Schutz jened Aſyls zur Verfügung ftellte, fall& diefelbe ein geiftiged oder leibliches Heim⸗ weh empfinden und ihre großmütige Pflegemutter geneigt fein follte, die fehnfüchtige Stimmung zu befriedigen.

Sm Herzkaͤmmerlein des proteftantifchen Magifters hielt während diefes langen Vortrags der Ehegemahl Kathas rina von Boras einen gar bedenklichen Rüczug und bie Communaute von Saint Marimin Iodte verführerifch von bem weinumrantten Felfen der Dauphind. „Kommt Zeit, fommt Rat!“ fagte ich möglichft gleichgültig, ins dem ich bat, das Schreiben der frommen douairitre nicht ohne vorherige Ruͤckſprache mit mir an feine Adreffe ab» zugeben. Madame Barbe war damit einverflanden.

Die kluge Dame, ich merfte ed wohl, interpretierte die

348 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne

geiftliche Direktion ihres Seelforgerd nad; ihren eigenen weltlichen Wünfchen. Sie gedachte, in jenem wohl» anftändigen Afyle nur ein wenig Gras über die Velleite ihrer kleinen Landsmaͤnnin wachen zu Iaffen, um der- felben die deutfche Baronie und ihrer eigenen Perfon den anheimelnden Poften einer Schloßverwalterin für bie Zufunft offen zu halten. Ihr Sohn dahingegen, ob- ſchon er von unferen jüngften häuslichen Vorgängen noch nicht unterrichtet war, hatte die Miffion bei dem deutfchgewordenen Hugenotten ald ausſichtslos aufges geben, falls diefe Miffton jemals außerhalb einer ge- wiſſen proteftantifchen Phantafie gehegt worden fein follte. Mochte in letter Inftanz die geiftliche Heimführung bes franzöfifch gefinnten Saint Roc dem eifrigen Herrn ale Stufenbau in den Himmel vorfchweben, in erfter In⸗ ftanz war ed doch nur die Erhaltung des jungen Maͤd⸗ chens in feiner angeftammten Kirche, die ihn zu den be⸗ fannten Heilsvorſchlaͤgen trieb. Und wer hätte ihm das Recht zu benfelben beftreiten mögen, vorausgefegt , daß die Glaubenögenoffin im Herzensgrunde mit ihnen eins verflanden war? ein proteftantifcher Amtsbruder ges wißlich nicht.

Freilich mußte derfelbe fich fagen, daß der Heine Stoͤren⸗ fried unferes Hauſes in feiner gegenwärtigen Verfaffung weit eher unter bad Marketenderzelt der Witwe des Sousleutnants flüchten ald fich von deren Sohne über bie Schwelle eined Kloſters ber Zufunft führen Laffen werde. Es gab auf der Welt nur einen Menfchen, ver in einem aͤußerſten Kalle Lisfa zu diefer Ausflucht hätte bewegen können, und während ich fo gleichgültig: „Kommt Zeit, kommt Rat“ murmelte, überlegte ich bereits im

Schfter Abſchnitt J 349

ſtillen, wie ſich Rauls Einfluß zur Verwirklichung des katholiſchen Projektes gewinnen ließe. Das iſts, was man Konſequenz nennt, meine Freunde!

Ein immer naͤheres, ſtaͤrkeres Gewehr⸗ und Geſchuͤtz⸗ feuer hatte dieſe kloͤſterlichen Erwaͤgungen begleitet. Nun ſtanden wir vor dem Terrain, auf welchem der Kampf am Nachmittage entbrannt war, und wie Spinnweben, wenn eine Windsbraut uͤber die Erde fegt, wurde alles perſoͤnliche Herzeleid von der entfeſſelten Furie fort⸗ geriſſen.

Welche unheimlichen Gewalten hatte ich in meiner hei⸗ miſchen Heide doch ſchon wuͤten ſehen: Wolken⸗ und Windsbruch, Schneetreiben und Waldbrand; ich hatte die Bewohner aͤchzen hoͤren in Fieberſeuchen und Hungers⸗ not. Heute zum erſten Male ſah ich die Heide in Blut, und was ſind alle Naturgewalten neben der, welche Menſchen widereinander treibt ohne Wahl, mit Wut, mit Luſt; die den Haß zum Ruhm, den Mord zur Tugend macht! Iſt es in Wahrheit denn aber eine Elementar⸗ gewalt, die unuͤberwindliche Gewalt des eingebornen Bluts? Iſt es nicht vielmehr eine Ausgeburt, ein beſtiali⸗ ſcher Reſt aus dem Erſtlingsringen um die menſchliche Exiſtenz, welchen einſtige Geſchlechter nicht mehr ver⸗ ſtehen und doch beſtehen werden, wie wir Jetzigen manche Barbarei vergangener Geſchlechter nicht mehr verſtehen und erſt recht beſtehen?

Das blutige Handgemenge von Hagelsberg iſt hiſtoriſch; mit der Geſchichte der Zwillingsbruͤder hat es nichts zu ſchaffen; weder Buͤlow noch die Sachſen kaͤmpften in dieſen Stunden. Wohl aber ſtanden Deutſche gegen Deutſche auch hier; Neulinge in den Waffen auf beiden

850 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne

Seiten: märfifche Wehrmänner gegen rheinifcye Refruten. War ed Raul, der dem armen jungen Blut neulidy den Befehl zum Aufbruch gebradyt hatte? Zum Aufbruch in den Untergang, hart an ber Grenze feined mütterlichen Grundes?

Solange meine Augen offen ſtehen, wird es vor mir leben als ein Gleichnis der Hoͤlle, wie Menſchen von Menſchenhand, Chriſten von Chriſtenhand, Volkesbruͤder von Bruderhand gemetzelt wurden mit raſender Gier, zwiſchen Mauern zerquetſcht, mit den Kolben nieder⸗ geſchlagen; wie die Wut zehnfaͤltig wieder einbrachte, was das Ungeſchick an Wunden ſparte.

O, du Unendlicher! Die hier unten erſtarrt liegen, die Waffe feſt in der gekrampften Fauſt, Zorn und Haß in den Furchen der Stirn, iſt der Grimm mit ihrem Lebens⸗ ſafte verſtroͤmt? Werden ſie droben weiterleben als Bruͤder Hand in Hand? Werden ihre Enkel hienieden Maͤnnertugend ohne Blutesprobe erlernen?

Die Hilfe, die wir brachten, glich einem Tropfen auf gluͤhendem Stein. An keiner Einrichtung deutlicher als an denen der Verwundetenpflege ließ ſich erkennen, daß nie ein aͤrmeres Volk als das preußiſche von 1843 ſich fuͤr ſeine Freiheit erhoben hat. Rechnet dazu die duͤrf⸗ tige Landſchaft, die Ferne einer groͤßeren Stadt, und daß es zwei vereinzelte Truppenteile waren, die abge⸗ trennt vom Hauptquartier aus Zufall aufeinanderſtießen. Es fehlte an allem und jedem; im Umſehen waren unſere Wagen mit jammervollen Menſchentruͤmmern uͤberfuͤllt.

Unvergeſſen aber ſoll es ſein und laut geprieſen, wie beherzt und geſchickt in dieſem Wirrſal von Elend die alte Vivandiere ihre Haͤnde geregt hat ohne Wahl von

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Sechſter Abſchnitt 851

Freund oder Feind; wie fie hohen Hauptes einherfchritt zwifchen Krüppeln und Keichen, zwifchen fliegenden Kus geln und Kofafenpferden, zufammenftärzenden Mauern und brennenden Balken, würdig ded Marfchalld, der in dem Soudleutnant Barbe bei Marengo in die Grube geſenkt worden war. Haͤtte der fromme Kerr Eure bie Mutter im Belziger Bufche gefehen, er würde ihr als Vorftufe zum Himmelreich das Schlachtfeld auch ferners hin geftattet haben.

Es gab nun Arbeit volauf. Am anderen Tage wurde eine zweite Ladung herbeigeführt, jammervoller noch ala die erfte; denn vierundzwanzig Stunden hatten in den offenen Wunden gewählt. Mancher halb Verſchmach⸗ tende ſchleppte fich blutend in unfer Afyl. Der brave Direktor ließ mit philofophifcher Ergebung auch das Gerichtshaus in ein Lazarett umwandeln und ſich, famt Aktenbündeln und der Kritif der reinen Vernunft, auf ein Bodenkaͤmmerchen dicht neben dem feiner Keroine befchränfen. Der Doftor fehlte allerorten. Madame Barbe hätte jegt nicht an die Beichtreife denken dürfen; aber fie dachte auch nicht daran. Noch nie hatte ich den teueren Vaterrod fo oft angetan, als in diefen Tagen der Tröftung und Beftattung, und noch nie hatte das Herz mir fo frampfhaft darunter gezittert. Der alte Gottesacker ward gefüllt bis auf wenige Pläße, bald würde ein Afternbeet des Klofterhofd in ein erftes Grab verwandelt werben müffen.

Segen unfer Erwarten blieb alle Spur und Kunde vom Nachrüden der Sieger von Großbeeren noch tagelang aus; nur die von Hagelsberg hielten den behaupteten Poſten feft, und Kofafenhaufen fchwärmten bis in bie

852 Frau Erdmuthens Iwillingsfähne

Juͤterbogker Gegend. Ohne ed zu begreifen, - wir waren feine Strategen! vermuteten wir allen Ernfted ben Kronprinzen in bie fo widerwillig aufgegebene Stellung vor Berlin zurücigefehrt. Gerüchte von einem erneuten Anſchlag des Kaiferd auf die preußifche Hauptſtadt ließen und diefe Ruͤckwaͤrtsbewegung zwar nicht fiegerifch, aber doch erflärlich erfcheinen.

Auf diefe Gerüchte hin machte ich mich, bevor der Weg mir gänzlich verfperrt fein würde, an einem der nädhften Tage auf den Weg nach Wittenberg. Es mangelten ung manche Lazarettbebürfniffe, die ich dort einhandeln zu tönnen hoffte; der dringendfte Anlaß war mir aber eine Ruͤckſprache mit Raul, der fo wenig wie fein Bruder von ſich hatte hören laſſen.

Mein Neifebegleiter war der alte Schäfer Kietz aus Kieß, dem die Hirfchfeldfchen von feiner anvertrauten Herde feinen Schwanz, von feinem Privateigentum aber doch eine Wurft übrig gelaflen hatten. Die Wurft gönnte er ben Preußen nicht; Zeit hatte er auch; fo überfiedelte er denn, feinen Befigftand in der Tafche, zu und, wo Frau Erdmuthe, feitdem fie den Opfertod feines Sohnes für den ihren erfahren, ihm einen Ruheplatz eingerichtet hatte. Kann aber einer ruhig fißen bleiben, der fechzig Jahre lang von Sonnenaufgang bis ⸗untergang hinter einer Herde im Sande „gelatſcht“ iſt? Der Kietz aus Rietz latſchte ohne Herde weiter, aus purem Plaͤſier.

Heute zum erſten Male im Leben fuhr er aber ſtolz in einer Kutſche. Da er ſelber keine Nahrungsſorgen mehr hatte, gedachte er ſein Eigentum als Schenkung unter Lebenden ſeinem einzigen Leibeserben, der mit den Ep⸗ ſchelwitzſchen im Lager vor Wittenberg ſtehen ſollte, aus⸗

Sechſter Abſchnitt 353

zuhaͤndigen; gelegentlich auch dem „Wohltaͤter“ einen Dankbarkeitsbiſſen zu koſten zu geben. Der „Wohltaͤter“, das war der Sohn der Wohltaͤterin, die es dem Kietz aus Rietz fuͤr ſeine alten Tage ſo bequem gemacht hatte, daß er nur noch zum Plaͤſier im Sande zu latſchen brauchte, und wird der Kietz aus Rietz wohl der einzige Menſch geweſen ſein, der unſeren Raul, trotz ſeiner ſplendiden Soldatenlaune, „Wohltaͤter“ benamſet hat.

Hinter Kroppſtaͤdt, wo unſer Weg in die Wittenberger Chauſſee einbog, ſtieg der alte Schaͤfer aus. Die Kal⸗ daunen wendeten ſich ihm um, meinte er. Ob vom fixen Fahren, wie er ſelber dafuͤrhielt, oder von auf⸗ geregter Galle gegen den Schinderhannes, den er ſo bei Wege nach Herzensluſt wohl ein dutzendmal unter das Hackebeil geliefert hatte, waͤre der Diagnoſe unſeres Phyſikus zu uͤberlaſſen geweſen. Freund Kietz kam, auf Feldwegen latſchend, wohl auch noch zeitig genug an ſein Ziel, und wenn nicht, war morgen ja auch noch ein Tag und ein Stoppelacker, mit einer Rauchwurſt als Pfuͤhl, beileibe kein veraͤchtliches Schaͤferbett.

Ich hatte meine liebe, alte Lutherſtaͤtte ſeit dem Zers ftörungsbrande der Franzofen während der preußifchen Belagerung im April nicht wiedergefehen. Heute, ach, welch ein Elendebild! Die Univerfität war nach Schmiedes berg geflüchtet, dba der große Kaiſer ja defretiert hatte, daß die fächfifche Kurftadt ftatt eine Kochfchule der Wiffenfchaft eine der Kriegswaffen werden müffe, - Gott ſeis geflagt, daß ed nach dem Frieden, unter unferem neuen proteftantifchen Herrn, bei dem Dekret geblieben ift! die ehrwürbige Kirche war ein Vorratöfchuppen geworben, die Borftädte Tagen in Trümmern, Haus bei xx. 23

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Haus herrfchten Hunger, Seuchen, Verzweiflung in jegs licher Geftalt. Lazarettgegenftände wurden gebraudht, aber nicht verhandelt.

Die Armee ftand feit dem Rüdzuge zufammengebrängt diegfeitö der Stadt in einem Lager, das ich paſſieren mußte. So ftieß ich auf verfchiedene fächfifche Offiziere, die mir ald Quartiergäfte von Arnheim befannt waren, und erfuhr von ihnen, daß Raul zum Obriften und Koms mandeur eines Küraffierregimentsernanntworbenfei. Sch fpürte mandherlei Verftiimmung gegen ihn. Vielleicht nur aus Eiferfucht über feine unerhörte Bevorzugung, mögs lich aber auch wegen feiner rüdfichtslofen Befchuldigungen nach dem Unftern von Großbeeren.

Überhaupt fam mir vor, ald ob eine antifranzöfifche Gaͤrung zu brüten begänne; in der Stadt, die ich uns gehindert betreten durfte, war fie allgemein. Man mun⸗ felte von einem baldigen Wiedervormarfch, der fchon durch Mangel und Krankheiten geboten erfchien. Doms browskis Polen hatten die geriffene Luͤcke ergänzt, ber Herzog von Reggio war zum Korpsfommandeur eins gefchrumpftz der tapfere Ney, ja der Kaifer felber wurde als Oberanführer erwartet. Ob aber von neuem Berlin oder ob Dresden das Ziel fein werde, Bernadotte oder Schwarzenberg ber Gegner, dem man zu Leibe rüde, darüber herrfchten Zweifel.

Raul traf ich nach dem Mittagstifch noch im Wirtes haufe in der Stadt. Ich hatte wohlweislich den Paten Magifter zu Kaufe gelaffen und mir eine rein gefchäfts fihe Abmachung einftudiert; auch Raul fand diefen Ton bequem. Dennoch habe ich niemals wie in diefer Stunde erfahren, wie ſchwer es ift, felber für bewegliche Naturen,

Sechſter Abſchnitt 855 über eine Schicht hinwegzufeßen, die fich zwifchen zwei zur Vertraulichkeit berufenen Menfchen aufgetürmt hat.

Ich begann meinen Vortrag mit der Erwägung, daß die veränderte friegerifche Lage Herrmann jede Stunde auf dem Durchmarſch in feine Heimat führen könne. Raul bezweifelte ed. Der Kaifer werde früher an ber Spree ald der Gascogner an der Elbe ftehen, meinte er. Zu meiner Auffaffung, daß nach der Enthüllung, gleich⸗ viel von welcher Seite fie kommen möge, Fräulein Liska ihren Plag im Haufe der Mutter nicht länger werde bes haupten koͤnnen, zudte er fchweigend die Achſeln. Feuer und Flamme aber wurde er bei dem Plane von Mades moifelled Ruͤckkehr nad Frankreich und, in Ermangelung eines fchicklichen weltlichen Unterfommeng, des ihres Eins tritts in die Flöfterliche Communaute von Saint Marimin. Er kannte dem Namen nad die alte Familie der Gräfin, wußte im Lager einen Almofenier, der, aus jener Öegend ftammenbd, ihm zuverläffige Ausfunft über dag beſprochene Aſyl gewähren fünne, verfprach, was ja mein Haupt⸗ anliegen war, unverzüglich an hervorragender Stelle einen saufconduit für die reifenden Damen zu erwirfen und ihn ficher in meine Hand zu befördern. Er war wie eleftrifiert; am liebften hätte er die Geliebte heute noch in einen Luftballon gefegt und über Sura und Alpen in dad Klofter der Zukunft fliegen laſſen. Nur fort aus feiner Mutter Haufe, fo raſch als möglich fort! Liska zur Abreife zu bewegen, hielt er für finderleicht; auf eine Feine religiöfe Komoͤdie der Mutter gegenüber fam ed ihm nicht an.

Ic fragte, wie er es zu bewerfftelligen gebente, feinen Einflup für Liskas baldige Abreife geltend zu machen,

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356 Frau Erdmuthens Zwillingsfdhne

worauf er lachend entgegnete, daß troß der plänfelnden Kofaken ein Ritt von Wittenberg nad Arnheim ihm fein Heldenſtuͤck erfcheine.

Diefem durchaus nicht wünfchenswerten Intermezzo vor⸗ zubeugen, brachte id; eine briefliche Verftändigung und den Tag für Tag in diefer Gegend umbherftreifenden, unverfänglichen Schäfer Kieß aus Niet als Postillon d’amour in Vorfchlag. Derfelbe würde Brief und Ges leitfchein im Förfterhaufe niederlegen, von wo fie durch meine Vermittelung an ihre Adreffe gelangen follten.

„Tant mieux!* fagte Raul. Er zweifelte nicht, fchrift- lich ebenfo ficher zum Ziele zu fommen, und fchien nadı einem Wiederfehen der Geliebten nicht das leifelte Vers langen zu fpüren. Wie die Sprache, die er die feine nannte, ein Wort für Sehnfucht nicht befißt, fo war Raul eine von den Naturen, die den Begriff derfelben in ihrem Innern nie erfahren haben. Sie lieben, folange fie fehen, und lieben wohl auch wieder, fobald fie wieder fehen. In der Zwifchenzeit behelfen fie fich ohne Liebe, oder mit einer anderen Liebe, welche Ießtere durchaus nicht fchlechthin eine Untreue genannt werben fol; weit eher eine Liebhaberei. Auc, Rauld Entfremden von feinem Bruder war eine Folge der äußeren Trennung. Herrmanns Abfonderung dahingegen würde auch im Zufammenleben, ja da erft recht, unvermeidlich gewefen fein.

Mit diefem Abkommen fchieden wir. Wenn wir um einen Roßfauf miteinander zu verhandeln gehabt hätten, würden wir ung nicht nüchterner gegenüber gefeffen haben.

In der Nacht zuruͤckkehrend, fand ich unfern Ort plög- lich von Preußen überfchwemmt. Buͤlowſche Vortruppen,

Sechſter Abſchnitt | 837

die im Laufe ded Tages auf der Straße nad Witten berg weiterzogen. Oppenſche Schwadronen loͤſten fie ab. Bülow nahm für die Nacht Quartier im Schloß. Herrmann war nicht mit ihm.

Er habe bei Großbeeren mit Bravour gefochten, fein eifer> ned Kreuz verdient, meinte der General und bebauerte, daß er ihn juft in diefen Tagen habe abfommandieren und die verehrte Mutter eines kurzen, ſtolzen Wiederfeheng berauben müffen.

Durch meinen Bruder erfuhr ich fpäter, daß Herrmann, als Führer einer fliegenden Kolonne, den Auftrag hatte, mit dem von Often herbeiziehenden Tauengienfchen Korps Fühlung zu erhalten. Mich korrekt ftrategifdy auszu⸗ drücken, habe ich von dem Älteften in weiland Safran> drell gelernt) Als man dann fpäter den Aufbruch der Neyfchen Armee aus dem Lager vor Wittenberg erfuhr, da lag ed dem Landedfundigen ob, die eingefcdjlagene Richtung auszuforfchen.

Bei aller, ein wenig althöftfchen Galanterie gegen die Dame ded Haufes bemerften wir an unferes Herrmann hohem Gönner und Freund die unverhohlen allerübelfte Generaldlaune. In beißenden Anekdoͤtchen und Aperçus fprudelte er bei Tafel einen Hohn und Grimm gegen „den ſchwediſch gegerbten gascognifchen Bocksbeutel“ aus, wie ein franzöfifcher Kamerad fie faum in ftärferem Maße gegen den abtrünnigen Marfchall hätte aufbieten koͤnnen. Er bewirkte mit diefen Sarfasmen, daß uns früher als manchen anderen, die wie wir in Kriegs⸗ und Staats⸗ funft Stümper waren, ein Heldenglaube getrübt ward, Dem wir um bed Vaterlandes und um unferes Freundes willen doppelt hätten Raum geben mögen.

B58 Frau Erdmuthens Swiltingsfähne

Bei alledem tat ed indeffen doch gar wohl, bad Lob bes Freundes am anderen Tage auch noch aud dem Munde unferes geftärzten Helden zu vernehmen. Weldye Mutter wuͤrde ed nicht erquict haben, unter den Ahnenbildern ihres Hauſes ihren Erben von dem Erben eined Thrones „einen Typus germanifcher Straft und Schönhelt an Leib und Seele” nennen zu hören? Daß im Verlauf der Zafel der beredfame Hoͤchſtkommandierende nicht wie fein deutfcher General die Gutöherrin mit ftrategifch politi⸗ [chen Aphorismen unterhielt, fondern eine Parallele lands wirtfchaftlicher Betriebfamfeit zwifchen Schweden und Deutfchland zum beften gab, fanden wir in der Ordnung.

Tags darauf wurde aud) bad Hauptquartier weiter nach Süden hin verlegt; und verblieb nur ein Teil der ſchwe⸗ difchen Nachhut. Da General Hirfchfeld aber feine Stel⸗ lung im Norden beibehielt, von Oſten her Tauengien ſich näherte, faßen wir rings von einem feindlichen Wafs fenwall umfchloffen und erwarteten mit Herzklopfen, ob, wann und wo bie, zu welchen unfere Randesbrüder ges hörten, fich eine Straße brechen würden.

Die fonft im Gefelligen nicht ffrupulds wählende Liska verweilte während der Anmefenheit beider Feldherren ftill in ihrem Zimmer, und hielt Frau Erdmuthe der Frans zöfin zugute, was der Tochter des Hauſes verübelt wers den konnte.

„Es ift feine heuchlerifche Aber in dem Fleinen Herzen,“ fagte die Mutter lächelnd. „Würde es ihr fchon ſchwer angefommen fein, den fürzlichen Sieger über ein kaiſer⸗ liches Heer zu begrüßen, fo hätte Die Begegnung mit einem Abtrünnigen ihres Baterlandes fie geradezu empört. Takt genug, daß fie fich ſchweigend zuruͤckzog. Ich preife aber

Sechſter Abfchnitt 359

body meines Sohnes richtiges Gefühl, ald er gegen meis nen Wunfch das Kind nicht früher zu der Seinen machen wollte, bi8 e& annähernd die Unfere geworden ſei.“

„Liska wird in Herrmanns Sinne nun und nimmer die UInfere werden“, entgegnete id).

„Nicht früher wenigftend werden, bis wir in friedliche Zeiten dauernd eingelen?t find”, fagte die Mutter mit einem Seufzer.

Ich Tieß den Gegenftand fallen, wenngleich ich fpürte, daß Liska ſich mit feinem Atemzuge um befiegte oder abtrünnige Marfchälle kümmerte. Sie hatte nur noch einen Helden, und der hieß Raul; nur nody ein Vaters land, in welcher Zone ed liegen mochte, das ihres Raul; fie blickte nur nad) einem Sterne, dem Sterne Rauls. Ya, wenn fie überhaupt einen Schußgeift angerufen hat in biefer Zeit, fo trug ber Heilige den Namen Raul. Die Strahlen ihres Herzend zogen fidy in dem einen Bilde zufammen wie die Pupille vor dem Sonnenlicht. Leife und langſam ging fie in der Dämmerung nad) der Ka⸗ pelle, wo fie zulegt ihres Glüdes froh geworden war, faß fill für fi in der Gartenlaube oder in der Fenfters nifche. Bei Abend lag fie fchweigend in der Sofaede, bie Augen gefchloflen, die ſchwellenden Lippen halb ges öffnet; wadhend und fohlummernd träumte fie von Raul.

% * »

Es war am 4. September, ald die Mutter mir vors ftehende Bemerkung machte. Übermorgen würde nad) alter Regel dad Dank» und Freudenfeft auf Arnheim ges feiert worden fein. Heuer aber, wo unfere Ader von Hufen zertreten, Scheuern und Ställe auögeleert waren,

360 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne

wo nur der Tod eine reiche Ernte auf unferer Flur ges halten hatte und die Söhne des Hauſes ſich mit den Maffen in der Hand harſch gegenüberftanden, heuer dachten wir nicht an Feltefeiern. Nach dem Sonntagss gottesdienft ein Gebet für die Erhaltung der Zwillinge brüder und die Eintracht ihrer Herzen inmitten des Schick⸗ faldfampfes, fo hatte ed die Mutter verordnet, ehe ich mid; am Abend von ihr trennte. Arme Mutter! Noch ahnteft du den Zwiefpalt nicht, den nur ein Gotteswuns der in Wiedereintradhyt verwandeln fonnte. Mich fraß es wie eine Lüge, Unmögliches an heiliger Stätte erflehen zu follen.

Schweren Herzens ging id) durd; die Ulmen heim. Den Auguftfirömen war eine frühe Sturmzeit gefolgt; es braufte von der Heide herüber; am Simmel fcheuchten Wolken über die aufglimmenden Sterne. cd, grübelte, wie ich Herrmann erreichen könne, ehe fein Truppenteil diefe Gegend verlaffen habe.

Da, nahe meinem Haufe, fühlte idy mich jählings von ein paar gewaltigen Soldatenarmen eingepreßt, die Backen von einem urmwäldlichen Soldatenbarte zerkratzt.

„Hurra!“ fchrie Held Gottlieb mit jauchzendem Baß. „Hurra, Öruderherz! Vater Bluͤcher hat die Franzofen aus Schlefien hinausgeworfen!“

„Und wo fteht dein Herr?" fragte ich.

„Unverbefferlicher Magifter!” fchalt Tachend Ehrenlieb. „Sin Hurra auch unferem Herrn! Wo er zur Stunde aber fteht, fann bir und mir ja wohl gleichgültig fein. Auf dem Anftand gegen den Feind, des fei gewiß. Für morgen nachmittag bin ich zu ihm ind Quartier des Generals befohlen.“

Sechſter Abſchnitt 361

Morgen endlich, morgen wußte ich ihn zu erreichen und war entſchloſſen, nicht zuruͤckzukehren, bis ich die Laſt meines Herzens auf das ſeine gewaͤlzt. Morgen!

Der wohlbekannte Verwalter kam in die alte Heimat, wie er ſagte, als Bettelmoͤnch fuͤr ſeine Schwadron. Denn die Brotbeutel waͤren leer und eine wuchtige Fauſt taͤte in dieſen Tagen wieder not.

Ach, viel in den Bettelſack zu ſtecken hatte der nordiſche Heuſchreckenſchwarm bei uns freilich nicht uͤbriggelaſſen! Bei gutem Willen geht es ja aber heute noch wie mit den Broten und Fiſchen im Evangelium. Hatten wir keine Ochſen mehr und von Pferden nur noch einen knick⸗ ſchaͤligen Reſt, eine Kuh und ein paar Hammel konnten auf dem Schloſſe immer noch abgegeben werden, und auch in der Stadt ließ ſich manches Maß heimlich vergrabe⸗ ner Kartoffeln oder Ruͤben fuͤr den bittenden Heimats⸗ freund dem eigenen Munde entziehen. Wer aber Zeuge der maͤrkiſchen Schlachten geweſen iſt, der weiß, fuͤr wel⸗ chen Leckerbiſſen eine Handvoll in Aſche des Wachtfeuers geroͤſteter Kartoffeln galt, oder eine Mohrruͤbe, die im Sande ber zertretenen Äcker geſtoppelt wurde.

Bei Tagesgrauen machte unter Fuͤhrung unſeres In⸗ ſpektors eine kleine Proviantkolonne, mit den letzten Guts⸗ pferden beſpannt, ſich auf den Weg. Nach der Kirch⸗ ſtunde wollte mein Wachtmeiſter mit der Nachleſe und den indeſſen gebackenen Broten folgen, ich ihn begleiten.

Gottlieb hatte einen Brief ſeines Herrn an die Mutter mitgebracht, bei der er ſich in ſo ſpaͤter Stunde nicht perſoͤnlich einzufuͤhren wagte. So ging ich an ſeiner Statt nach dem Schloſſe zuruͤck.

Frau Erdmuthe ſaß mit gefalteten Haͤnden und las bei

862 Fran Erdmuthens Swillingsfähne

gebämpftem Lampenlicht in ber Felsfchen Erbbibel das Mocenevangelium im zehnten Lufasfapitel. „Wo ihr in ein Haus fommt, fo fprechet zuerft: Friede fei in diefem Haus.” Es war ihr eigenfter Kerzendtert, der mit diefen Worten feit fiebenundzwanzig Jahren am Fefte der Brüder verfündet wurbe.

Liska, Lächelnd mit müben Lidern, lag im Lehnſtuhl, der Mutter gegenüber. Läffig nahm fie die Einlage, weldye jene ihr reichte, und richtete fich zögernd auf, um fie zu erbredhen.

Während des Lefend bebte das Blatt in der Mutter Band; fchweigend legte fie ed in die meine. Ich warf einen Ölid darauf; ed wurde mir ſchwarz vor ben Augen; mir fchwindelte. Ich brady zufammen wie ein armer Sünder.

Ein gellender Aufichrei brachte mich wieder zu mir felbft. „Niemals! Niemals!" Freifchte Liska, indem fie aus dem Zimmer ftürzte.

Der Brief an Liska ift der einzige von Herrmanns Hand, der nicht im goldenen Buche aufbewahrt ift. Die Zeilen an die Mutter enthielten die Bitte um eine ftille Traus ung mit feiner Braut am morgenden Tage; ohne Forms licjfeiten, wie die kriegeriſche Zeit es geftatte.

„In patriotifchem Sinne”, fo lautete der Schluß, „wird Liska zu feiner Zeit mit und übereinftimmen lernen, und dürften wir mit ihr darum rechten, meine Mutter? Mit Entzuͤcken habe ich dagegen ſchon im Frühjahr den Eins fluß des deutfchen Haufes auf fie wahrgenommen; habe gefehen, wie lieblich fie fich unter Deinem Dache einges lebt hat. Ein Teil der vorgefegten Prüfung wäre damit erfüllt. Und auch ein guter Sieg ift ja erfämpftz längft

Schfter Abſchnitt | 563

noch nicht der, deffen wir bedürfen; aber binnen einer Woche zwei deutfche Provinzen vom Feinde befreit, das gibt frohen Mut zur Vollendung. Es wird, fo Gott will, nicht lange mehr in dieſer Gegend gezaudert wer; den, die Gunft eines flüchtigen Wiederfehens fo bald nicht wieberfehren. Ic aber würde fefteren Herzens den Wechſelfaͤllen der Zukunft entgegengehen, wenn id; bie Geliebte unauflöslich mir verbunden, wenn id) fie auch vor dem Geſetze, auch vor der Welt ald Tochter in dem teueren Mutterhaufe geborgen wüßte.”

Auf einem fpäter eingefügten Blättchen ftand: „Ich fann nicht vor Abend und hödhfteng für eine Stunde bei Euch fein. Vielleicht auch erft in der Frühe des fechften. Welch köftliche Geburtstagsfeier wäre das!“

„Sie müffen diefes Vorhaben hindern um jeden Preis!“ fagte ich, nachdem ich mich mühfam gefaßt hatte. „Schreis ben Sie Herrmann durch meinen Bruder. €8 ift eine Übereilung, ein Irrtum. Es würde ein Unglüd fein. Er darf nicht fommen. Er darf Liska jetzt nicht wieder, ſehen.“

Die Mutter blickte mich wie einen Unzurechnungsfaͤhi⸗ gen an.

„Sie haben ihren Widerſpruch gehoͤrt“, fuhr ich fort.

„Das uͤberraſchende erſchreckte fie”, wendete Frau Erd» muthe ein.

„Es war mehr ald Schred, ed war ein Proteft!“ fagte ih. „Wie fremd fie und geblieben ift, haben Sie felber heute abend ausgefprochen und Ihres Sohnes ridıtiged Gefühl gepriefen, als er ein unauflöslicyes Binden vers ſchob.“

„Wollen wir ſeinem richtigen Gefuͤhl nicht auch ver⸗

364 Frau Erdmuthens Swillingsföhne

trauen, wo er den Augenblid dazu gefommen glaubt?“ entgegnete die Mutter merklich verftimmt.

„Nein, nein,” rief id; verzweiflungsvoll. „Er war fern, er ift ihr fremd geworben. Es wäre zu fpät oder zu früh. Sie liebt ihn nicht - nicht mehr noch nicht wie⸗ der -”

„Er hat darüber zu entfcheiden, nicht wir“, unterbrad; mich die Mutter, indem fie dad Zimmer verließ. Sie hatte vieles zu ordnen in fich wie außer ſich und wird die Nadıt wenig Ruhe gefunden haben.

Ich ging zu Liska. „Niemals! Niemals!“ fchrie fie mir entgegen.

„Werden Sie dies harfche Wort aud) dem Manne ent- gegenfchreien, den Sie Ihren Schugengel nannten?“ fragte ich.

„Niemals! Niemals!” wiederholte fie.

„Wiffend und wollend, Liska, daß mit dieſem Wort ber Brand ded Bruberhaffes in das Haus Ihrer Wohltäter gefchleudert wird?“

Sie brach in Tränen aus. „Ich kann nicht anders - niemals!” ſchluchzte fie.

„Wiffend und wollend, daß diefed Wort das Herz ber beften Mutter, auch Ihrer Mutter, Liska, brechen wird?"

„st Raul nicht auch ihr Sohn?” entgegnete fie faft troßig. „Bleibe ich nicht ihre Tochter, werde ich nicht erft wahrhaft ihre Tochter, wenn ich den anderen liebe ftatt des einen, den id; nimmermehr lieben kann?“

„Niemals, Liska, niemald!" fagte nun auch ich. „Das Haus diefer Mutter ift gegründet auf Ehre und Treue von feinem Anbeginn. Niemals wirb die, welche e8 hütet mit reinen Händen ald ein anvertrauted Gut, nie:

Sechſter Abſchnitt 865

mald wird fie Verrat und Unehre unter feinem Dache dulden; am wenigften bulden, wenn der Verräter der Bruder bed Verratenen ift. In der Stunde, in welcher der Frevel fich offenbart, werden Sie dieſes Haus ver- laffen und niemals, niemals, Liska, wiederfehen.“

Sie ſchwieg; ich weiß nicht, ob fie betreten oder nur überrafcht durch meine Rede war. Nach einer Paufe fragte ich: „Wohin werden Sie ſich wenden, bevor oder nachdem morgen abend Ihre Weigerung unwiderruflich geworden ift? Sie find entfchloffen, Shre Freundin nad) Frankreich zuruͤckzubegleiten?“

„Ins Kloſter!“ rief ſie mit einem Schauder, der aber raſch durch helles Auflachen verdraͤngt wurde. „Ich danke ſchoͤn, Herr Pfarrer, ich danke ſchoͤn!“

Die Barbe hatte demnach ihren Plan zum Vortrag ge⸗ bracht und war, wie ich vorausgeſehen, geſcheitert. Uns fere Lage wurbe wenig dadurch geändert. Brief und Geleitfchein von Raul waren nicht abgegeben worden; die Kataftrophe war zu nahe gerüdt, um Liskas Abreife, freiwillig oder erzmwungen, durch irgend einen Vorwand noch zu ermöglichen. Ein Bekenntnis der Wahrheit war nicht Tänger zu verfchieben. Sch fchwieg. Liska fuhr fort, . dreiften Muts:

„Habe ich denn nicht den Sohn, wenn mid) die Mutter verftößt? Bin ich nicht Rauls? Ich gehe zu Raul!“

„zu Raul, wohin, Törin?“ fragte ich. „Raul fteht im Feldlager, geräftet zur Schladht. Er hat Ihnen Feine Heimftätte zu bieten. Sie find eine Waife, ohne Afyl als diefed Haus - -“

„Nun wohlan,“ rief fie, indem fie händeringend im Zimmer auf und niederrannte; „nun wohlan: fliehen bis

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ans Ende der Welt, betteln, fterben; aber einem anderen angehören, ald meinem Raul, niemals, niemals!"

Nach einer langen Paufe fagte ich: „Noch eined, das legte, Liöfa. Schreiben Sie an Herrmann; befennen Sie die Wahrheit und legen die Entfcheidung in bes edelften Mannes Herz.”

„Sch darf nicht“, antwortete fie.

„Sie haben nur gegen die Mutter Schweigen gelobt, und es ift die Außerfte Stunde.”

„Sch kann nicht, VBäterchen.”

„Sie können und müffen, Liska. Bringen Sie mir ben Brief bis morgen früh; ich werde ihn in Herrmanns Hand beforgen.“

Sie ſchwieg; aber ich wußte, daß ed nicht gefchah. Ich entfernte mich. Unter der Tuͤr hörte ich, daß fie fich zu Boden warf undrief: „Nette mich, Raul! Komm, komm!“

Im Korridor begegnete mir der Gaͤrtner, der mir ge- heimnisvoll zuflüfterte, daß Shro Gnaden zu morgen einen Myrtenfranz und eine Blumengruppe in den Ahnenfaal beftellt habe. Zitternd flieg ich die Treppe hinan; ich war entfchloffen, das Außerfte zu tun, die ganze Wahr- heit zu enthüllen, nachdem die halbe Wahrheit bezweifelt worden war, zu fagen: „Sie liebt ihren Verlobten nicht, weil fie feinen Bruder liebt.“

Die Tür nad) dem Ahnenfaal war offen. Frau Erb- muthe mit gefalteten Händen ftand in der Nifche und blickte zu ben Bildern ihrer Eltern in die Höhe. Ihr Gemahl war gefchieden, ehe er die neue Reihe eröffnet hatte, Sollte fie für allezeit uneröffnet bleiben? Kein Sohn in diefem Raume zu einem Vater in bie Höhe blicken?

Sechſter Abſchnitt 367

Ich ſchlich mich unbemerkt wieder zuruͤck. Vierundzwanzig Stunden noch, und die Enthuͤllung war unausweichlich, gleichguͤltig, aus welchem Munde ſie kam. Aber jede Stunde des Friedens, die Ruhe einer Nacht duͤnkte mich ein Gewinn. Ich wußte Herrmann zu finden. Er mußte der Lage Herr werden; er allein konnte, wenn nicht zur Verſoͤhnung, ſo doch mit Wuͤrde den Knoten loͤſen. Als ich an Liskas Zimmer voruͤberkam, trat eben die Kammer⸗ frau heraus und ſagte mir, daß Mademoiſelle mit Schrei⸗ ben beſchaͤftigt ſei und ſie vor dem Auskleiden entlaſſen habe.

Was aber Folterqual heißt, das habe ich erfahren in dieſer Nacht. Ich haͤtte mir Fluͤgel anheften moͤgen, mich von dem Sturmwind treiben laſſen, der draußen durch die Wipfel raſte, und ich mußte ausharren, ſtill⸗ ſitzen bis zur Mittagszeit. Nein, nicht ſtillſitzen. Mir lag ob fruͤh am Morgen die Beſtattung eines ſeinen Wun⸗ den Erlegenen, dann der Gottesdienſt mit dem Friedens⸗ gebet fuͤr die Bruderherzen. O Hohn! Gab es denn hie⸗ nieden wieder Frieden nach ſo ſchnoͤdem Raub? Konnte die Mutterliebe ihn bringen? Reue hier, Entſagung . dort? Kommender Tage Ungluͤck oder Gluͤck? Sa, die Gottesfurcht felber, die vergeben heifcht, fchaffte fie die Berfühnung, aus welcher Herzensfrieden fließt?

Daß. legte Grab auf dem alten Kirchhof war gefüllt; die Ehrenfalve der fchwedifchen Kompagnie Aber dem Hügel des fchwäbifchen Rekruten verhallt, eine Feind» fchaft, von welcher die Herzen nichtd gewußt hatten, vers fhüttet. Die Menge drängte vom Gottedader nad) dem Gotteöhaufe. Sch hatte, vor dem Grabe ftehend, eine weiße Geftalt ſich in der Richtung nad) der Ruine bes

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wegen fehen. Liska fo früh am Tage und in der Nähe eined Schaufpiel®, das fie bisher fo widermillig gemies den hattel Sollte fie dennod; den Brief an Herrmann in meinem Kaufe niedergelegt haben? Sudhte fie eine Ruͤckſprache mit mir? Oder war fie nur ber Mutter aus⸗ gewichen, die ihre Begleitung beim Kirchgang gewuͤnſcht haben würde?

Ich hätte ihr folgen mögen; aber fie war zwifchen Heide und Trümmern verfchwunden, und fchon mahnte der erfte Glockenruf. Zum Üherfluß wurde ich am Pförtchen noch von Freund Hecht aufgehalten, der doch fonft obgleid) oder weil ein Sünger der reinen Bernunft? diefer Stätte der Bergänglichkeit fo gefliffentlich wie das vers nunftfeindliche Naturfind aus dem Wege ging.

Er war in gewaltiger Aufregung und fam ale Abges fandter unferer lieben Frau, die ihn im füßeften Morgens fchlummer hatte wecken laffen. Sie wuͤnſchte feine Rechts⸗

anſicht über die Zuläffigkeit eines ein für allemaligen heutigen Aufgebotd der Verlobten, da ohne diefen öffent: lichen Akt die Bermählung des Erbherrn, zumal mit einer anderdgläubigen Ausländerin, von der Gemeinde ſchwer⸗ lich für vollftändig erachtet werden dürfte.

Nach dem Dafürhalten des weltweifen Nichterd würde die Gemeinde nun feine Hochzeit für vollftändig erachten, die nicht mit einem Schmaufe gefeiert worbem ſei. Im übrigen gehöre der Kafus vor das geiftliche Konfiftorium, fei in der Arnheimer Prarid noch nicht vorgefommen und fehle zur Forſchung in einfchlägigen Kompendien bie Zeit. Vom rechtsphilofophifchen Gefichtöpunfte aus betrachtet, muͤſſe jedoch das Urteil abgegeben werden, daß, wenn der Ausnahmezuftand des Krieges die Konfequenz der

Bu Sechſter Abſchnitt 865 Prämiffe, will fagen die Trauung, fonder Präliminarien ftatthaft werden Iaffe, die Prämiffe der Konfequenz, will fagen das ein für allemalige Aufgebot vor der Trauung, fonder Präliminarien, ald da find: Taufzeugnis, Toten» fchein der abgefchiedenen Eltern, Sonfenfus der noch lebenden, Conſenſus des geiftlichen Conſiſtorii et caetera et caetera, auch feine ftraffällige Übertretung involviere. Habe daher der vollziehende Paftor bereits die Trauung ohne Aufgebot famt Präliminarien auf feine Kappe ger nommen, fo dürfe er, der Paftor, infonderheit aus ges ziemender Willfährigfeit gegen eine gnädige Patronatds herrfchaft, hinterdrein audy noch das Aufgebot fonder Präliminarien auf feine Kappe nehmen und für den Fall einer Verantwortung feines, ded Antragitellere, richter⸗ lichen Beiſtandes gewärtig fein.

Ich fagte,. daß ich Die Sache mir Überlegen wolle. Wenn ich aber gehofft hatte, den gelehrten Argumentator das mit loszuwerden, hatte ich nur den halben Dann gezählt; der Rechtsphiloſoph zog fich zurüd, der Kavalier war erft im Anzuge: Madame Barbe wollte fort, partout, mutterfeelenallein, heute noch, wo alles Fuhrwerk mit dem Proviante abgerüdt war. Unfere gnädige Frau hatte das Heidekutſchchen bewilligt, aber auf dem Schloffe wie in der Stadt war fein Huf aufzutreiben. Madame hatte fich gleich felber auf die Suche nad, einem Roß gemacht und er, der Kavalier, fei auf dem Wege nad Dahnsdorf, den Paftor um feinen Schimmel anzugehen, der, weil mit Bfindheit gefchlagen, den räuberifchen Res quifitionen möglichermweife entronnen fein könne. In Brandenburg, fpäteftend Magdeburg wurde auf ie pferde gerechnet.

xx.M

870 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne

„Wir treiben nichts Vierfüßiges auf,“ fchloß der Freund in höchftem Alarm. „Aber Ihr werdets erleben, Was gifter, Ihr erlebts, dieſes außerordentliche Frauenzim⸗ mer ſetzt das Fortkommen durch, und wenn es fich in eige- ner Perfon vor das Wägelchen fpannen ſollte. Wale ich mir aber das Riſiko aus, ftehen mir die Haare zu Berge, Magifter. Vorwärts und rüdwärtd ber Preuße, von allen Seiten Kofaten! Und wenn fie zehnmal eine Leutnantswitwe ift, fie bleibt doch immer ein Mitglied des zarten Geſchlechts, und man bleibt ein Mann. Ich werde fie beſchuͤtzen müffen, Magifter!“

Wie war mir doch eben noch das Herz fo beflommen, als ich die Bilder der leidvollften Tage aus meiner Er- innerungsmappe zog, und wie herzlich habe ich geladıt, da der ritterliche Kantianer auf einmal mitten in die Gruppe tritt. O, großer Brite! Du haft das Menfchen- bebürfnis erfannt, wenn bu ein Haͤuflein närrifcher Käuze fich zwifchen deinen graufen Keldenfzenen tummeln Läffeft.

Zu jener Stunde freilich, wo ich von dem Grabe des Res fruten in meine traute, alte Kirche ging, da fpürte ich fein Flimmerchen von dem Silberblid des Humors, und felber das goldene Sonnenlicht der Religion lag hinter grauen Nebelfchichten verhüllt. Der Fluchtplan ber alten Franzoͤſin änderte an unferem Schickſale nichts. Was half ed, den Zankapfel zu entfernen, wenn juft durch diefe Entfernung das unheilbare Zerwuͤrfnis zutage kam?

Ja, Glaube und Hoffnung lagen wuͤſtenduͤrr in meiner Bruft, als ich die Kanzel betrat. Sch hatte mich nicht vorbereitet und wußte nicht, was ich predigen werde. Es muß aber doch ein Strahl aus dem ewigen Born ges weien fein, der mit dem alten Tageöfpruch in die Höhe

Schfter Abfchnitt 871

quoll. „Zretet ihr in ein Haus, fo faget zuerft: Friede fei in diefem Haus!” Meine alten Kirchenmütterdhen erwachten unter bem Schludyzen und Schnäuzen der Ju⸗ gend aus der wohlverdienten Sonntagsruhe und fchluchz- ten und fchnäuzten wie fie; die Augen der Männer ſtan⸗ den voll Tränen, als fie hinauf in die Kapelle blidten, wo die weiße, ftille Mutter, dad Haupt in ihre Hände ' vergraben, unbeweglicd; mir gegenüber faß.

Deflen aber erinnere ich mich deutlich, ald wäre es geftern erlebt, daß meine eigenen Augen überftrömten, als ich mid, beim Schluß zum erften Male in meinem Amte auf die Knie warf und betete um das Gotteswun⸗ ber ber Verſoͤhnung in den Bruderherzen. „Wenn fie mit den Schwerte in der Band fich gegenübertreten, wenn die Wogen der Leidenschaft über ihren Lebensfchiffen zus ſammenſchlagen, daß dann der Strom ded Bruderbluted fie in die Heimat der ewigen Liebe zurüdtreibe; daß fie ſich Hammern an den Anker ded Mutterherzend und auf: richten an dem Kreuze, an welchem ber göttliche Vers föhner für feine irrenden Brüder geftorben ift, daß fie leben lernen.“

Nun noch einen Blick auf die Empore, in welcher die Mutter, auch auf den Knien, das Aufgebot erwartete, bad heute vom Küfter am Betpult nicht wie fie hoffte, aus dem Kirchenregifter verlefen ward. Raſch ſtieg ich dann die Kanzel hinab und fehlüpfte durch die Sa- Friftei in meinen Garten, vor welchem mein Bruder mit dem bepackten Reiterwagen bereits wartete.

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Ich nahm mir nicht die Zeit, das Orna, und den teue⸗ ren Erbrod darunter abzulegen. (Ein Fuͤnkchen von bem, was man Aberglauben nennt, mag in diefem Anbehalten ber $riedendfleider mitgefpielt haben.) Zwifchen Brote laiben und Spedfeiten nahm ich Plag auf einem Kar⸗ toffelfac; Bruder Wehrmann hieb auf den knickſchaͤligen Baul, neben den er fein Dienftpferd eingefpannt hatte. Bevor dad Schlußlied in ber Kirche ausgeklungen war, bogen wir um die Ruine in die Heide hinein, und wies der war mirs, als fähe ich Liskas weißes Kleid zwifchen dem Gemäuer flattern. Sie hatte fein Wort für Herr⸗ mann bei mir niedergelegt. Sie verftedte ſich; vor mem? Bor der Mutter, der Barbe, vor Herrmann, vor mir?

Der Wind wirbelte Wolken von Sand und dürren Nas bein in die Höhe; die Fahrt ging bei der ſchweren La, bung langfam vorwärtd. Da die Orber des Eintreffene aber erft auf die zweite Nachmittagsſtunde lautete, Tief ber Kuhrmann ſich Zeit zum Plaudern. Er hatte vieles zu berichten, für das er meinen Anteil voraugfepte. Von meiner innerlichen Verfaffung ahnte er nichts; er wußte, baß id} feinen Herrn in einer wichtigen Privatangelegen» heit zu ſprechen verlange, dad genügte ihm.

Ald wir über die Förfterei hinaus ind offene Feld ges langten, hörten wir wieder, wie am Tage von Kagelds berg, ein ferned Rollen und Grollen. Auch ich wußte jest, Daß ed Kampf bedeute; mein Geleitömann aber fah plöglic, feine Dispofition verändert. Er vermutete, nad der Richtung des Schalld, Tauengiend Vortruppen im Gefecht; indeflen konnte feit vierundzwanzig Stunden auch von den Bülowfchen eine Bewegung und ein Zus fammenftoß mit den Feinden flattgefunden haben. Ohne

Sechſter Ubfhnitt 873

weiteres fchirrte er fein ‘Pferd aus und fprengte in der Richtung auf Marzahne voran. Indem er mir einfchärfte, die von Ruſſen und Schweden befegten Dorfidyaften zu vermeiden und die foftbare Ladung dem Freundedappes tite zu bewahren, überließ er ed mir, das ſchwere Gefährt querfeldein zu fchleifen. Er wollte Erktundigungen eins ziehen auch über den Verbleib feines Herrn, verfprad) nach Möglichkeit Beſcheid zu bringen oder zu fenden.

Und da vergingen denn Stunden, in welchen der alte Magifter, in Talar und Barett neben dem Karren her, trollend und den nichts weniger ald feurigen Saul vors wärtöpeitfchend, mehrmals zwifchen Stoppelädern irres gehend, ſich nur Iangfam feinem Ziele näherte, Noch hatte der Kampf ſich nicht bis in diefe Gegend erftredt, aber ber rechte Flügel der bei Großbeeren Gefchlagenen hatte fie geitreift, und die Hauptmaſſe ded Nordheeres feit einer Woche fid) darin ausgebreitet. Die Ernte war in dem Regenfommer verzögert worden, Erd» und Som⸗ merfrucht nody nicht eingeheimftz nun lagen bie bürfs tigen Felder von den Hufen zerftampft; die Fleinen zer» ftreuten Fichtenfchonungen, der legte Fruchtbaum, mühs fam im fargen Boden aufgezogen, die einzige Linde auf bem Dorfanger waren am Wachtfeuer verbrannt. Auch in einem Paradiefeögarten mag Krieg ein Orauen fein; wo aber bie Natur fo unguͤtig waltet, wie in unferem Heideland, da wirken ſchon die Vorboten ded Krieges ein Bild Ahnlidy dem, vor welchem das Weib bes Loth eritarrte.

Die Sonne fand tief, ald mein Bruder wieder zu mir ftieß, begleitet von ein paar Kameraden, bie ohne Um⸗ ftände fidy eine Spedfeite zu Gemüte führten und mit

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der uͤbrigen Ladung ſamt Karren und Gaul in das Lager zuruͤcklenkten. In meiner Privatangelegenheit erhielt ich den zweifelvollſten Beſcheid. Herrmann war gegen Mit⸗ tag eingetroffen mit einer Erkundung, die wohl von Wich⸗ tigkeit fein mochte, da ſich unverzüglich etliche Buͤlowſche Bataillone in ber Richtung auf Seyda in Bewegung festen. Man glaubte Tauengien dort angegriffen. Da dad Feuern inbeffen aufgehört hatte, war eine rechts zeitige Unterftägung fraglich geworden. Auch ber Gene» ral war aufgebrochen, wie ed hieß, zu einem Kriegsrat, der beim Kronpringen gehalten wurde, Bruder Stratege erwartete eine Aktion für den nächiten Tag, weil ber Bormarfch der Feinde nadı Norden hin unzweifelhaft geworben war. Ob Herrmann feinen Chef begleitet, ob er einen anderen Auftrag erhalten habe, konnte nicht ans gegeben werden. Im Lager anwefend war er zur Stunde nicht. Wit der Lektion: „Herr Bruder, ein Soldat im Felde hat feine Privatangelegenheiten“, fprengte mein MWachtmeifter wohlgemut feinem Proviantlarren nad).

Mir aber, was blieb mir übrig, ald nad) der Witten⸗ berger Straße abzubiegen und auf derfelben den Heim⸗ weg einzufcjlagen. Trat Herrmann vom Hauptquartiere aus den unfeligen Kodjzeitöritt an, mußte er mich auf derfelben überholen. Gefchah es nicht, durfte ich an- nehmen, daß die bevorftehende Aktion feinen Plan vers eitelt habe. ch betete zu Gott, daß dem fo fei.

Nun Fam ich durch die Dörfer. Ich Fannte fie alle meilenweit in der Runde. Wer fo wie ich auf einem Erbpoften altert, verwächft auch mit einer breiten Nach⸗ barichaft. Wie oft hatte ich einen Amtöbruder vertreten, wenn er franf banicderlag; wie oft feiner Gemeinde bag

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Abendmahl gefpendet, wenn er felber an dem Genuffe teilnahm. Wie manchem hatte ich die Einführungsrede, wie mandhem anderen die Grabrede gehalten; da war fein Gehöft, in welchem der Pfarrer von Arnheim nicht als Freund begrüßt worden wäre.

Nun ftanden die armen Lehmhuͤtten ohne Dadı; Ges baͤlk und Schindeln waren zu ben Wachtfeuern getragen, das Stroh den Pferden unterbreitet worden; in feiner Scheuer ein Halm, fein Biffen im Schranf. Die Dung- haufen ftroßten nach wie vor, aber feine Kenne gaderte darauf, und ftatt der flachshaarigen vierbeinigen Ferkel waren ed flachshaarige nadte Zweibeine, die ſchmutz⸗ ftarrend in den Kartoffelfchalen nach einem Hunger⸗ biffen wählten. Die Männer waren fhon am Morgen dem Kanonenfchalle nachgezogen. Was follten fie auch Nugbringenderes tun? Dort immer noch eher ald das heim fiel ein Brocken für ben fnurrenden Magen ab; und wenn nicht, gab ed was Erfchredliched zu hören oder zu fehen, über dem der Menſch ein Weildyen feinen Hunger vergaß. Vor den tärenlofen Käufern hodten Weiber und Iendenlahme Greife, die fidy um die Wette in Heulen und Schreien überboten. Die Not war groß, aber ihr Regifter kurz; die Litanei des einen war für den anderen fchier ſchon abftändig geworden. Da fam der fremde Paftor denn gleichfam ald Saugeſchwamm für die Zrübfal juft zurecht. An jedem Rodzipfel hing ihm ein Klageweib. „Ad, Kerr Paftor, meine Kuh! Weine Ziegen! Kerr Paftor, mein Schwein!” wehflagte und zeterte es im Chor.

„Herr Paftor, mein armer Junge!” wehllagte auch der alte Kieß aus Rietz, den ich fchon im Morgennebel vor

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meiner Pfarre hatte vorüberlatfchen fehen und den ich nun im Abenddunfel jenfeitd des letzten Dorfes, noch immer mit der Burft in feiner Tafche, auf der Retour überholte. Er hatte die Schenfung unter Lebenden auch heute nicht regulieren können. Keinen fehnlicheren Wunſch aber hegte er, ſeitdem die Schießerei nun losgegangen, als daß feinem legten Jungen redyt bald eine Kleinigs feit abgefchoffen werden möge, fo ein paar Zinten am linken Bein oder Finger an der linken Hand, die einer für das Haus nicht braudıt, die aber zu Napoleonifchen Gefchäften am Ende body unentbehrlich, find. „Denn los frieg id meinen Jungen fonften nicht, wenns auch zehn» mal mein einziger iftz Eleine friegen fie den Napoleon auch nicht, Ruhe hält er nicht, und ein ärgerer Schinder- hannes ift noch nicht an der Tablatur gewejen.”

Weiß denn nun aber die Welt, durdy wen, aller Mut⸗ maßung nach, die erfte zuverläffige Kenntnie nicht nur von dem Ausmarſch, fondern auch von der Marſchrich⸗ tung ded Meyfchen Heeres dem preußifchen Bülow zu Ohren gelommen ift? Durd, feinen geringeren, als den Exſchaͤfer Kietz aus Rietz, der zum Plaͤſier Iatfchend, fie fhon feit zwei Tagen beobachtet und durch gleichfalls latichende Kollegen feine Beobadjtungen vervollſtaͤndigt hatte. Er verlautbarte diefelben gegen den Bruder bes Mohltäterd, mit dem er heute morgen fo bei Wege zu« fammengeftoßen war. Auch daß es nicht bloß „ein paar“ waren, bie die Straße nadı Juͤterbogk eingefchlagen, ſon⸗ bern „die ganze Klerifei”; die Landesfinder mit ben Epfchelmigfchen juft in der Witte. Der Kietz aus Niet machte diefe Berlautbarung, ohne fich etwas dabei zu benfen. Hätte er ſich etwas babei gebadht, würde er fie

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nicht gemacht haben, und die Schlacht von Dennewig vielleicht nicht gefchlagen worden fein. Wenn aber nur bad, was gedadht worden ift, Geſchichte werben follte, würde gar manche ihrer Tafeln unausgefüllt geblieben fein. Buͤlows Wegmweifer, der Exſchaͤfer Kietz aus Rieg, gehört in die Weltgefchichte.

Daß er aber auch in die Gefchichte der Zwillingöbrüber gehört, follte ich zu meinem Entfegen noch in diefer naͤm⸗ lichen Stunde erfahren, nachdem der Alte ſich die Bruft von feinem täglichen Texte erleichtert hatte.

„Gluͤcklich angetroffen!” raunte er mir ind Ohr, indem er neben der Wurft aus feiner Zafche einen Brief her, vorzog und mir übergab.

„Wen angetroffen?” fragte ich, indem ich die Antwort voraudwußte, denn nur die Adreffe lautete an mich; ber Brief war an Liska, und der verfprochene sauf-conduit, von Marfchall Ney perſoͤnlich ausgeftellt, ihm beigefügt.

„Den Wohltäter angetroffen”, antwortete der Schäfer, „und alles richtig an ihn beftellt,“ fegte er mit einem felbftbewußten Lächeln hinzu.

„Was .beftellt, Kietz?“

„Den Brief von der fremden Mamſell, Kerr Paſtor.“

Ein Brief von Liska an Raul! An ihn flatt an Herr, mann hatte fie gefchrieben; ihn von ihrer heillofen Lage unterrichtet, ihn ohne Zweifel zur Hilfe herbeigerufen!

Mort um Wort erfuhr ich nun, daß die fremde Mam⸗ fell mitten in der Nacht fid, über den Hof in des Alten Kammer gefchlichen, ihn mit dem Mamen- bed Wohls täter& geweckt, den Brief der Frau „Mama“ nebft einem harten Taler in feine Hand gelegt und fo lange Zeichen gemacht habe, bie der Kietz begriff, was fein ſchlauer

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Kopf, wie er meinte, auch ohne Zeichen begriffen haben wuͤrde: daß er den Brief heimlich, von wegen des Schweden, und ſo raſch als moͤglich an den Wohltaͤter befoͤrdern ſollte.

Der Taler war leichter verdient, als der Alte gefuͤrchtet hatte. Daß er nicht bis ins Wittenberger Lager zu lat⸗ ſchen brauche, wußte er freilich ſchon ſeit geſtern, daß er aber ſchon diesſeits Seyda auf den Wohltaͤter ſtoßen ſollte, war einer von den gluͤcklichen oder unglüdlichen Zufällen, bei welchen der Kieß aus Rietz ſich ein für allemal nichts zu denken pflegte.

Raul war ganz allein, feinem Korps weit voran, in einen dunklen Mantel über der weißen Uniform gewidelt, querfeldein daher gefprengt. Als er den Schäfer bes merfte, übergab er ihm zur Beftellung an mid, das Schrift⸗ ftäd, deffen ich erwähnte, und empfing dagegen dag, was jener fo geheimnisvoll an ihn abzugeben hatte.

Beim erften Blid in dadfelbe war er, wie ber Alte meinte, weiß geworben wie eine Wand. Gefagt hatte er fein Wort; nicht einmal Hab Dank. Schon im Begriff, weiter vorwärts zu jagen, hörte er das beginnende Feuer in feinem Rüden. Er riß aus feiner Brieftafche ein Blatt, fchrieb zwei Worte mit Bleiftift darauf, die er dem Boten zur Beftellung an die fremde Mamfell, und einen goldenen Dukaten obendrein, in die Hand warf, und fprengte auf dem Wege, den er gekommen, zurüd, ohne von der Wurft Notiz zu nehmen, weldye der Kiek aus Rietz ihm zu gütiger Beftelung an feinen Jungen bei den Epſchelwitzſchen oder auch zu eigener Appetitös befriedigung darreichte.

Ehren⸗Kietz fpürte eine Anwandlung von Bequemlich⸗

Sechſter Abſchnitt 379

keit, ſeitdem er uͤber Nacht ein Kapitaliſt geworden war. Er hatte ſich muͤde gelatſcht, verlangte im Dorfe zu naͤch⸗ tigen und uͤbergab das Blatt, deſſen Beſtellung er uͤber⸗ nommen, dem zufaͤlligen Begegner, durch welchen es ja ebenſo ſicher und jedenfalls fruͤher als durch ihn, in die rechte Hand befoͤrdert werden wuͤrde. Ehren⸗Kietz ahnte nicht, daß ein Natternſtich ſeinen Boten nicht boͤsartiger haͤtte treffen koͤnnen als die beiden Worte: Je vien- drai!*

Er kommt! Mit diefem haarfträubenden Gedanken feßte ich meine einfame Wanderung fort. Als ich von der Landftraße in den Arnheimer Weg einbog, war es völlig dunfel geworden. Auch meine einzigen Begleiter, die Krähen, hatten ihr Nachtlied ausgefrächzt und waren zur Raft voran unter die Heidewipfel gefchwärmt. Alles feelenftil. Nur immer näher und näher das Braufen des Windes vom Forfte herüber; immer lauter in mir das Geftöhn: Er kommt! Immer fchwächer die Hoff⸗ nung, daß das friegerifche Spiel die heillofefte Begeg⸗ nung gehindert habe.

Da jählings fpritte ein Sandwirbel um mid) herum. Ein Reiter in geftredtem Karriere faufte an mir vorüber. Der leichte Boden hatte den Hufſchlag gebedt, Nacht und Staub hinderten das Erkennen. „Berrmann, Herr mann!“ fchrie ich und rannte fchreiend ihm nad), bis der Atem mir ftodte. Kein Gehör. Der Reiter war im Walde verſchwunden.

Jetzt blickte ein Lichtftrahl aus der Förfterei. Sch hörte Gewieher. „Herrmann, Herrmann!“ Ein Reiter jagte vor mir her. War ed der nämliche von vorhin, mußte er im Förfterhaufe Halt gemacht haben. Endlich ftand

880 Frau Erdmuthens Imwillingsfähne

ich vor der offenen Tuͤr. Die Foͤrſterin zuͤndete im Flur die Laterne an. „Der Baron?“ keuchte ich.

„Der Bruder!” fluͤſterte ſie. Die Antwort, die ich ers wartet hatte. Die Frau vor der Tür gewahrend, von ihr gewahr werbend, hatte er gefragt, ob das Schloß von Feinden befegt fei, und als fie ed bejahte, war er weiter geritten; ob vorwärts oder rüädwärts, wußte fie nicht, da ein Windftoß ibr die Lampe ausgeblafen hatte. Sch wußte, daß es vorwärts war.

Auf die Frage, ob audy Herrmann bed Weges gekom⸗ men fei, erhielt ich ein entfchiedened Mein. Die Foͤr⸗ fterin hatte bi8 zum Dunkelwerden mit ihrer Arbeit vor der Haustür gefeffen und auch feit der Lichtftunde im offenen Flur geweilt und nad) ihren Kindern audges fhaut, bie fi auf einem Gange nach der Stadt vers fpätet hatten. Auch ihr Wann war abwefend im Forft.

Meine legte Hoffnung beruhte auf diefem Mein. Diesfeitd des Förfterhaufes mündete nur ein einziger Weg in den Wald. Herrmann konnte nicht unbemerkt vorüber gefommen fein. Jenſeits des Hauſes freilich freuzten ſich mit der Fahrftraße mancherlei Pfade, bie auch ein Reiter einſchlagen konnte. Hier von Herrmann überholt zu werden, war zweifelhaft. Am Förfterhaufe auf ihn warten burfte ich nicht. So rafch als möglich dem Uinglädfeligen, ber einen fo weiten Borfprung vor mir hatte, zu folgen, fchlug ich den abkuͤrzendſten Seitens pfad nach dem Schloffe ein.

Die Zörfterin hatte mir ihre Laterne mitgegeben. Ich fteuerte dem Winde entgegen, ber immer heftiger zu rafen begann. Er trieb mir ben Sand in bie Augen; er entführte mir bad Barett, er verfing fich in dem fals

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tigen Gewande. Da neſtelte ſichs feſt an einen geknick⸗ ten Aſt, dort an eine flatternde Ranke. Schritt fuͤr Schritt ſtolperte ich uͤber Staͤmme, die der Sturm ge⸗ faͤllt, über Knorren, die er entbloͤßt hatte. Es krachte und kraͤchzte zwiſchen den Wipfeln. Und ſtel da nicht ein Schuß? Drang nicht Pferdegewieher, Stimmenlärm,

“ein Alarmfignal durd dad Didicht? Oder war alles sur Täufchung bed wogenden Blutd, der feuchenden Bruft, der Fibern, die ich in jeder Fingerſpitze klopfen fühlte? j

Sch grübelte mir aus und wählte in mich hinein, wie ‚daheim alles gefommen fein Eonnte, gefommen fein mußte, und wie ed in Wirklichkeit denn auch faft buchftäblich gefommen iſt. Die Angft, die Blinde macht, fann auch Hellſichtige machen.

Liska würde in ihrem Pindifchen Verſteck bald genug entdeckt worden fein, wenn fie vermißt worden wäre. Aber die Barbe war feit dem frühen Morgen fern, und Frau Erdmuthe, welche die Tochter felten am Vormittag fah, ohne Arg, felbft als jene bei Tifche fehlte. Sie hatte fidy neuerdings wieder häufig von demfelben fern ger halten, mochte auch mit der alten Barbe, die fie num fo bald verlieren follte, über Land gegangen fein. Die Mutter vermutete fie durch die Üübereilte Zeremonie bes unruhigt, verftimmt, vielleicht fchmollend; fie hatte ja ihre Kinderlaunen immer entfchuldigt; es fogar entſchul⸗ bigt, ald geftern am fpäten Abend fie noch einmal zu einer Ruͤckſprache bei ihr eingetreten war und auf ihr Zureden nichts ald Tränen und ſtumme Senfzer erwidert befam.

Diefe Hartnädigfeit, neben manchem anderen, nicht

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bloß Außerlichem, nahm die Gedanfen der Mutter in Ans fpruch. Schon geftern mein leidenſchaftlicher Widerfpruch, heute die von tiefer Erfchütterung zeugende Predigt neben dem Berweigern des Aufgebotd und endlich meine un⸗ erflärte Entfernung, da doc, fo Bedeutendes zwifchen und abzufpredhen war, alles das ftel ihr ſchwer aufs Herz. Sie befchloß eine ernfte, mahnende Vorſtellung an den Sohn, bevor fie den unwiderruflichen Aft ges fhehen ließ. Da nun am Nachmittage die Gerüchte eines unfernen Kampfes fie beftürmten, wurde fie von dem unartigen Kinde vollends abgezogen.

Erft als bei eintretender Dämmerung bie alte Franzsfin zuruͤckkehrte, wirklich mit etwas Vierfüßigem, das fie ein- gehandelt hatte, aber ohne Liska und ohne von ihr zu wiffen, als fie vergebend in Haus und Garten, in ber Pfarre, der Stadt gefucht ward, ald ohne Antwort ihr Name zwifchen die Trümmer der Ruine gerufen warb, - fein Menfch fie feit nachts, wo ein Knecht fie über den Hof ſchleichend bemerkt haben wollte, gefehen hatte, erft dann wurde die Sorge überwältigend und konnte die Enthuͤllung nicht länger verzögert werden.

Die Barbe hatte die Tage rafch überfchautz fie faßte fie fhärfer auf, als fie in Liskas Charakter begründet lag. Die Unglüdfelige war entflohen, heimlich, ſchon in der Nacht entflohen zu Raul, den fie noch in Wittenberg vers mutete. Sch hatte die Flucht entdeckt und verfolgte fie; ohne Zweifel würde ich fie auffinden und bald zurüd- führen; weit konnten ihre Füße fie ja nicht getragen haben, Helfershelfer hatte fie nicht, Raul war ununters richtet und voraugfichtlich in den ausgebrochenen Kampf verwidelt.

Sechſter Abſchnitt 883

So loͤſte fidy das Geheimnis nadter, fchroffer, graufamer, ald alle Furcht vorausgefehen hatte. Die Wirkung war erfchätternd, felber für das Herz des hartgeftählten Weis bes, das den Schleier lüftete. Zum erften Male im Leben fhwanden Frau Erdmuthen die Sinne, und ed mwährte lange, bis die entfegliche Wahrheit ihr klar vor Augen ftand. Dann aber handelte fie feft entfchloffen, ohne Wanfen. Sie traf alle Vorkehrungen zur fchleunigen Entfernung der beiden Frauen, fobald die Flüchtige auf- gefunden fein werde; Madame Barbe felber im fürzlic, eingehandelten Vehikel machte ſich auf den Weg, Liskas Spur in der Heide aufzuſuchen; der brave Gerichtöbirefs tor eilte bei Nacht und Mebel zu Fuß nad, Belzig, um von General Hirfchfeld einen Oeleitfchein zu erwirfen, der bie reifenden Frauen ungehindert die preußifche Linie paffieren ließ; er felbft, wenn nicht ich, follte fie begleiten, bis fie innerhalb der franzöfifchen Zone in Sicherheit fein würden. Alle Einleitungen wurden wie für eine fcheidende Tochter getroffen, aber wiederfehen wollte die Mutter fie nicht. - An Herrmann fchrieb fie einige Worte, in denen fie ihn befhwor, auf dem Wege nach Arnheim umzus fehren. Der zuverläffige Inſpektor, zur Hälfte in die Lage eingeweiht, zur Hälfte fie ahnend, wurde dem Ers warteten entgegengefendet; möglich, daß er noch das Förfterhausd erreichte, vor welchem ein Begegnen mit Sicherheit anzunehmen war.

Kaum aber hatte der Abgefandte ſich entfernt, ald von der Stadtfeite ein Alarmfignal gehört wurde. Auf dem. Hofe verbreitete ſich die Kunde, daß ein fächfifcher Spion in der Nähe der Ruinen entdeckt worden fei. Mit der Ahnung des Entfeglichften verließ die Mutter das Haus,

584 Fran Erdmuthens Swillingsföhne

Rauls vermegener Ritt bis an die Außerfte Grenze des feindlichen Rayons kann nur erflärt werden durch feine perfönliche kecke Sorglofigkeit und durch die allgemeine Untenntnis der verbindeten Stellungen. Hatte Raul am Morgen den alten Schäfer ja nicht einmal befragt, ob die Gegend feindlich befegt fet. Die nachmittägigen Bors poftengefechte erfolgten gegen dad Tauengienfche Korpg, das mit leichter Mühe noch weiter nad) Often zurüdges ftoßen werben würde. Die Hauptarmee vermutete man in weltlichen Stellungen, einen Elbübergang fuchend. Die Kunde von dem vernicdhtenden Faiferlichen Siege bei Dresden hatte überdied wie ein Raufch die legte Vorſicht eingeſchlaͤfert.

Die Feldwege, welche Raul beim zweiten Ausritt aus Seyda, ſchon in der Daͤmmerung, paſſierte, waren men⸗ ſchenleer. Es war eine faſt muͤßige Frage, welche er an die ihn bemerkende Foͤrſtersfrau ſtellte, wahrſcheinlich nur, um den eigentlichen Zweck ſeiner Gegenwart zu bemaͤn⸗ teln. Er haͤtte nicht Raul ſein muͤſſen, wenn er auf den unerwarteten Beſcheid hin, ſo nahe dem Ziele, umgekehrt wäre. uͤberdies, je tiefer in der Nacht er den Rückweg antrat, um fo ungefährdeter durfte er ihn vorausſetzen. Wuͤrde er aber das Schifal ded morgenden Tages von feinen Freunden abgewendet haben, wenn er fein perfün- liches Wagnis aufgebend, die Erfundigung vervollftändigt und jene rechtzeitig davon unterrichtet hätte?

Welches war denn nun aber fein Vorhaben, ald er auf Liskas Hilferuf bin fein Kommen verfprady und breift genug vollbradhte? Die Geliebte aufs Pferd nehmen und ind Blaue hinein entführen? Ja, in Polen oder in Spanien einft wärbe fold, ein Don Juanſtreich ihm zus

Sechſter Abfchnitt 885

zutrauen gewefen fein. In dem Haufe feiner Mutter - nimmer. Oder: der Mutter und dem beleidigten Bruder in der verhängnisvollen Stunde mit einem offenen Bes fenntnid gegenübertreten? Er würde nicht dad Herz dazu gehabt haben, auch wenn dad Schloß von Feinden unbefegt geweſen wäre. Er hattenur mit Einer zu unter⸗ handeln, und die Eine wußte er unentdedt zu finden. Konnte fie ſich verborgen halten, bis am Morgen durd; das gegenfeitige Vorrüden der Armeen eine entfcheidende Szene verhindert war, gut. Konnte fie ed nicht, nun fo mußte fie die halbe Wahrheit, das heißt ihren Wider⸗ willen gegen eine Verbindung mit Herrmann - ohne den Grund desfelben eingeftehen; unter allen Umftänden, womoͤglich ſchon am anderen Tage, mußte die Reife nadı Tranfreich auf Nimmerwiederfehr angetreten werben.

So die heimifchen Zuftände, wie fie ſich feit meiner fruchtlofen Entfernung geftaltet hatten. Würde meine Ans wefenheit die Kataftrophe gemildert, Neden und Schwei⸗ gen zu rechter Zeit fie gehindert haben? Entfcheidets. Es wäre nicht das erftemal, daß ein Knoten, der durch⸗ hauen werden mußte, in der Hand eined Schwaͤchlings zur Schlinge wurde, oder daß es fich rächt, wenn ein Tor fi, vermißt, in ein reif gewordenes Schickſal hemmend einzugreifen. Was treibt, das muß gedeihen!

Endlich, endlicd, lag die Heide hinter mir, die Heide im Sturm. Mein Weg mündete abfeiten der Ruine nahe der Pfarre. Zur Rechten blickten die Lichter der Stadt. Ich merfte eine lebhafte Bewegung, Hörnerruf ertönte; ein paar von der Befagung eilteri an mir vorüber.

Dicht vor meinem Haufe überholte mid) der ſchwediſche Leutnant, ber mein Quartiergaft war und ald Pommer IX 2%

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beutfch fprach. „Blinder Lärm!“ rief er mir lachend ent» gegen. „Unfere Leute wollten auf die Spur einer ſaͤchſi⸗ fhen Uniform gefommen fein, die in unferem Revier refognofzierte. Sie dadıten an eine Umgehung, eine Überrumpelung. Welche geographifche Unmöglichkeit fcheint denen nicht möglich, die nie einen Bli auf eine Landkarte getan haben! Der fächfifche Spion entpuppte ſich als ein preußifcher Adjutant, der ben Befehl zum ſo⸗ fortigen Aufbruch aus dem Hauptquartier brachte. Das omindfe Pferd, das innerhalb der Ruine angebunden war, hat der Gutsinfpeftor, der den preußifchen Offizier zu fennen fchien, für das feinige erfannt. Wie werden die Preußen uns auslachen, daß wir den tapferen Ney für einen Herenmeifter gehalten, der nahe daran war, feinem ci-devant Kollegen das Netz über dem Haupte zufammens zugiehen.“

„Und wann enthüllte ſich das Quiproquo?“ ftammelteidh.

„Bor zwei, drei Minuten, fo lange ald man braucht, um vom Klofter nad) Ihrem Haufe, Herr Prediger, zu eilen.“

„Und wiffen Sie, wohin der Adjutant fich gewendet hat, Herr von Mühlenfels?“

„Möglich, daß er unferen Hauptmann nad) dem Schloffe begleitet hat; wahrfcheinlicher, daß er unmittelbar in das Hauptquartier zurücgeritten if. Wir rechnen für morgen auf eine Aktion. Hören Sie, ed wird zum Sam- meln geblafen. Sch fehe Sie wohl noch vor dem Aus- marſch, Herr Pfarrer.“

Er eilte nach der Stadtſeite; ich hatte aufs Schloß ge⸗ wollt; aber ich ſah von dorther etwas Weißes ſich die Ulmen entlang bewegen; ich rannte dem Schimmer nach. „Liska, Liska!“ rief ich. Kein Einhalt, keine Antwort.

Sechſter Abſchnitt 387

Am Kloſterhof hatte ich die Geſtalt bis auf wenige Schritte erreicht. Es war nicht Liska, es war die Mutter. „Bleiben Sie zurüd“, flehte ich; aber fie hörte nicht; fie ftürzte voran, ich hinter ihr drein.

est ftand fie unter der Kapellenpforte, bleich wie ein Grabesbild. Sie wußte alles; und was ihr Auge jekt erfaßte, mit einem einzigen Blick, was ihr Ohr mit einem einzigen Laut, das war nur die Beftegelung.

Shr gegenüber unter dem erhellten Lampenfchrein ftan- den aneinandergeflammert Liska und Raul. Der Alarm vor der Ruine hatte fie in den äußerften Winkel gefcheucht. Er hielt den Degen gezogen und horchte gefpannt rüd- wärts nach dem Gemäuer; ald aber der Schein meiner Laterne von der entgegengefeßten Seite in dad Halb⸗ dunfel drang, rieß er fich aus den umſtrickenden Armen und flürzte und entgegen.

Es war bie Regung eined Augenblicks, nicht länger als die zwei Silben brauchten, die gleichzeitig, wie ein Don- nerfchlag, die Mauern durchhallten: „Schurfe!” Das erfte Wort, das nad) acht Sahren der Bruder in das Ohr des Bruders fchrie. Fahl wie ein Gefpenft ftand Kerr: mann zwifchen dem gottverlaffenen Paar.

Der Stahl eines Nafenden züdte auf feine Bruftz er würde fie durchbohrt haben, hätte der Arm der Mutter den Streich nicht aufgehalten. Sie lag am Halſe des Sohnes, Blutötropfen riefelten über ihr weißes Gewand. Den Tod, aber nicht die Todfünde hatte fie abgewehrt.

„Muttermörder!“ fchrie der Unglüdliche, der fie ge: troffen. Wie ein Spielwerf hatte Herrmann ihm den Degen aus der erfchlafften Band genommen, Im naͤch⸗ ften Moment ftärzte Raul ſich aufihn; hätte er die Waffe

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ihm entwinden können, nicht gegen ded Bruders Bruft, gegen bie eigene würde er fie gefehrt haben. Nun wand er fi am Boden wie ein Wurm. Auch Liska war auf die Knie gefunfen.

Mer zählte die erftarrenden Minuten, die dem jachen Augenblic folgten? Wer fchilderte fie? Herrmann war der erfte, fich zu faffen. Er Iöfte fi) aud den Armen ber Mutter, die ihn noch immer umfchlungen hielt, trug fie ruͤckwaͤrts und ließ fie nieder auf die Stufe unter dem Lampenfchrein. Ich wand ein Tuch um den blutenden "Arm. „Es ift nichts, mein Sohn, nichts!" hauchte fie.

Raul rutjchte auf den Knien nad) ihrem Site hin. Er wagte es nicht, ihr Kleid, ihre Füße zu berühren, aber er faugte die Spuren ihred Blutes vom Boden auf. Herr⸗ mann ftand ihr zur Seite, feine Hände ftägten ihr Haupt, bas ſich an feine Knie lehnte.

Wieder war ed minutenlang ftill; nur des Unglüdlichen Bruft ftöhnte in Todesqual. Die Mutter erhob fi: „Komm, mein Sohn.”, fagte fie mit bemühter Kraft. Sie wollte fidy entfernen; fie ſchwankte und zitterte nicht. Herrmann faßteihre Band. „Biſt du ftarf genug, meine Mutter, für die Entfcheidung, welche dieſe Außerfte Minute heifcht?“ fragte er.

Sie hielt den Schritt an und neigte befahend das Haupt. Sie und ich erwarteten einen Richterſpruch. Er ſchwieg einige Augenblide, dann fagte er fehr Ieife und langſam, jeded Wort gewogen, der Leidenfchaft abgerungen:

„Iſt ed noch dein Wille, Mutter, daß diefe Dame ald Tochter in deinem Haufe weile?“

Die Mutter fah ihm groß in die Augen; fie hatte ihn nicht verftanden.

Sechſter Abfchnitt 889

„Senehmigit du,” fuhr er noch leifer fort, auf bie beiden deutend, die vor ihr am Boden lagen, - „ges nehmigit du die Ehe zwifchen diefem Mann - und diefem Weib?“

„Mein Sohn!“ rief die Mutter mit einem Klang, idy weiß nicht, ob der Bewunderung oder des Entſetzens. Doch neigte fie nad) einer Paufe zuftimmend ihr Haupt und legte ed dann von neuem an das Herz ded Sohnes.

Liska fchien Herrmannd Worte und von dem Trauers fpiel vor ihren Augen, in voller Bedeutung, nur diefe Wendung zum Glüd verftanden zu haben. Sie fprang mit einem Freudenfchrei in die Höhe, preßte ihre Lippen auf den verwundeten Arm der Wutter und tat Herr⸗ mann entgegen einen Schritt mit dargebotener Band. Er zog die feine zurüd und führte die Wutter auf ihren vorigen Platz. Dann fagte er zu mir, indem ein felts famer Blick mein verwilderted Priefterfleid ftreifte:

„Bollziehen Sie Ihr Amt, wiedie brängende Lage es ges ftattet.”

Sch fühlte, daß der geforderte Weiheakt nicht eine Vers föhnung, aber Feindſchaft fürs Leben befiegeln werde. Nie konnte der eine dieſe geringfchägige Großmut vers geben, nie der andere die Unehre, die ihn zu diefer Tat ber Ehre trieb. Dennody ſchwankte ich nicht, und auch die Mutter neigte zum dritten Male dad Haupt tief herab auf ihre Bruft, ald beuge fie fid) dem ficherften Willen.

Ich näherte mid Raul, ihn vom Boden zu erheben. Er ſtieß mid, zuruͤck. „Ich will nicht!” knirſchte er.

„Mein Raul!” fagte Liska Fofend, indem fie mit beiden Armen feinen Kopf umfdhlang.

„Sch will nicht!” wiederholte er. Seine Züge waren

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verzerrt, die Hände geballt; Schaum ftand vor feinem Munde. Er glich einem Wahnfinnigen oder vom Krampf Defallenen.

„Raul, mein Raul!” jammerte die Geliebte. Er achtete nicht darauf.

Da fagte auch die Mutter: „Raul!“ Sie fagte ed mit gebietendem Ton, wie er ihn niemals von ihr vernommen hatte. Aber ſchon fein Name aus ihrem Munde elek⸗ trifierte ihn. Er ſchleppte fich Auf den Knien an fie her an, brücdte die Lippen auf ihre Wunde, erhob fidy und folgte meinem Wink an den feit kurzem wieder aufge- richteten Altar. Herrmann trat an ihn heran, ihm den Degen zurüdgebend, dann nahm er wieder feinen Plag hinter der Mutter. Liska ſchwebte an die Seite ded Ges liebten; das, was fie von der Qual des rafchen Vorgangs mitempfunden, zerfchmolz unter der Seligfeit des Beſitzes und einer unbefangenen Dankbarkeit gegen den, welchen fte fchon einmal ihren Schugengel genannt hatte,

Und fo gab ich denn unter den Trümmern und nach der ftrengen Regel von drei Sahrhunderten Liska und Raul von Saint Roc für Zeit und Ewigkeit zufammen ald ein ehes liches Paar. Laut und Form der Handlung war der einen fremd, dem anderen war fie eine zwingende Folter. Sie wechfelten die Erbringe ihres Gefchlechts, die fich auf fo feltfame Weife zueinander gefunden hatten; aus ber zudenden Hand Flirrte der feine zu Boden, und ald auch das bindende Wort gefordert wurde, vernahm ich von feinen Lippen nur einen Fnirfchenden Ton, während Liskas Fa freudig den Raum durdhfchallte. Sch ſprach das Ge- bet und blickte auf. Der Plag hinter der Mutter war leer. Herrmannd Schritte verhallten zwifchen dem Gemaͤuer.

Schfter Abſchnitt 394

Raul wehrte Liskas Umarmung ab; er flarrte auf die Mutter, der er nicht zu nahen wagte. Sie trat auf ihn zu ohne Segenöwunfch für den fträflichen Bund; aber mit reiner Wutterliebe reichte fie ihm die Hand, an der die Blutfpuren hafteten. Schaudernd brach er in einen ZTränenftrom aus. „Dein Blut, bein Herzblut, Mutter!“ fchluchzte er. Sie flüfterte: „Daß ich den legten Tropfen zu deiner Sühne vergießen dürfte.“

„Mutter, Mutter, fei wieder gut!“ bat Liska, ihre Hände küffend. „Was können wir dafür, daß wir und fo lieb gehabt?“

Bon der Stadt her tönte von neuem Hoͤrnerruf. „Eilen Sie, Raul," fagte ich. „Es ift feiner mehr hier, der Sie beſchuͤtzt.“

„Ach nein, ſie gehen ja fort. Bleibe, bleibe bis zum Morgen”, ſchmeichelte Liska, ihn umfaſſend.

„Geh, Raul!“ gebot die Mutter.

Er ſank noch einmal zu ihren Füßen, preßte noch eins mal die Lippen auf ihre Wunde, raffte fi) dann auf und ftürzte, ohne der Geliebten zu achten, von bannen. Wenige Augenblice, und wir hörten den Tritt feines Pferdes in der Beide verfchwinden.

Sch führte die Mutter über den Klofterhof nach dem Schloſſe zuräd, Kein Wort wurde gefprochen. Vor dem Portal überholte und Liska, die Dem Geliebten durch die Ruine nachgeflogen war, ohne ihn zu erreichen. Gie ftrahlte von Gluͤck und wirb niemals füßer geträumt haben, als in diefer Hochzeitsnacht. Als ich nad) der Pfarre zuruͤckging, verließen die Schweden die Stadt. Der feindliche Spion, den fie verfolgt hatten, entfam in der Aäußerften Minute.

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Dad Schwert über dem teuerften Haupte war gefallen, fchärfer, zerfchneidender, als die Ängfte ed geahnt. Aber ed war gefallen. Es gab fein Wenden und Winden mehr. In der vergangenen Nacht zitterte ich, in dieſer habe ich gefchlafen!

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Es Tiegt in der Frauenfeele ein Hort, der unter den Schlägen des Schickſals nicht zertrümmert, fondern nur immer ftärfer feine Süllen fprengt; wo Wunden zu heilen und Tränen zu trocknen find, wo es eine Bürde zu teilen gibt, da fteht aufrecht Die Liebe, welche ihre Freuden bes graben hat.

Und fo fand auch die Mutter, deren Herz in bdiefer Nacht ein fengender Strahl getroffen hatte, an demalten Freudenmorgen ihres Hauſes bleich und ftill, aber feit gerichtet auf ihrem Grund, waltend der Tiebe, die je mehr und mehr ihr Tagewerk werden follte; der Liebe, von der es heißt, fie wird dich tröften, wie eine Mutter tröftet. Die alte Franzöfin nahm an dem Herzeleid der Frau, die fie mit Überzeugung eine Heilige nannte, doppelten Zeil, weil ihr Mutterfinn ed nur zur Hälfte verftand; fie hatte feinen Sohn, der einen Bruder berauben Eonnte. Nachdem die nächtliche Kataftrophe ihr kecklich behaups tetes Entweder⸗Oder fo unerwartet vereitelt hatte, würbe fie am Morgen in mißmütigfter Stimmung ihre Beidht- und Heimfahrt ohne Begleitung angetreten haben.

Da aber ihr für die Schallwellen, welche der Pulvers dampf erzeugt, fein zugefpigtes Ohr fchon in der Frühe eine ftarfe Aktion gegen Oſten hin auefpürte, wurde {hr vergönnt, mit einem trefflichen Abfchluß aus dem

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liebgewordenen deutſchen Haufe zu ſcheiden. Ohne Bes finnen verfchob fie die Abreife, rüftete und ordnete mit erprobtem Geſchick und zog an der Spige der Fuhrwerke, die erft in der Nacht aus dem Bülowfchen Lager heim gelehrt waren, im eigenen, glüdlic, erhanbelten Vehikel dem Schalle nach durch die Heide.

Mid, hatten Amtögefchäfte zurücgehalten; um Mittag aber hielt der Infpektor zu unferer Abfahrt bereit in Herrmannd Wagen, den die Mutter mit ganz befonderer Sorgfalt ausgerüftet hatte. „Für das Opfer!” fagte fie leife zu mir, bad einzige Wort, das fie an diefem Tage fprady. Sie hatte die Schuld nicht geahnt, der harrenden Sühne war fie fich bewußt.

Liska kam in den Hof, in rofenfarbenem Kleid mit Blumen gefhmädt. Sie hatte ſchon die Barbe begleiten wollen; nun bat fie audy mich: „Nehmen Sie midy mit”, und als ich wie jene ed kurz verweigerte, fchalt fie mich „Barbar!" An Gamariterdienfte dachte fie natürlich nicht; fie dachte nicht einmal ernftlich an Gefahr für den Einzigen, beffen Wohlfein ihr werter ald das eigene Wohlfein galt. Er hatte ihr von dem ZTriumphe des Kaiferd gefprochen; fie nahm die geftrigen Vorftöße für gewonnene Schlachten, das heutige Feuer mochte ein kleines Nachfpiel bedeuten; für den tapferften der Mars fchälle gab es feinen Halt; die Straße nach der preußis ſchen Hauptſtadt lag offen ohne Widerftand, den Siegen folgte der Friede, dem Frieden die Seligfeit im Beſitze des geliebten Mannes. Gie wollte nur ihm näher fein, ihn, und wäre ed aus der Ferne nur, fehen, von ihm hören, vielleicht auf eine Stunde ihn mit fidy führen, ebe er an der heimatlichen Heide vorüberzog. Wie es

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Magnete gibt für das Sonnenlidht, fo war das Herz dieſes Weibes ein Magnet für das Freudenlicht. Sn der Glut der Leidenfchaft hatte fie ed aufgefogen, nun ftrahlte fie ed aus inmitten der Todesfchatten, die fie um⸗ fchmwebten.

Wir fuhren auf dem geftrigen Wege durch die Heide; wieder faufte und ftöhnte ed unter den Wipfeln, wieder wirbelten Staub und bürre Nadeln uns ind Geficht, wieder famen wir an zerftampften Feldern, an zerftörten Dörfern vorüber, und die hungernden Bewohner waren nicht müde geworben, zu aͤchzen und zu ſchreien. Auch das Knattern und Rollen der Salven drang aus der geftrigen Richtung zu und herüber, nur viel näher, ftärfer, dauernder. Weiter am Nachmittag zog es ſich vernehms lich nadı Welten hin; das war fein Treffen mehr, das war eine Schlacht!

Sn den von den Schweden befegten Ortfchaften wurde zum Aufbruch gefammelt, auch an ruffifchen Kolonnen famen wir vorüber; oftmald ward unferem Wägelchen ein Riegel vorgefchoben, wir mußten ausbiegen nach links und rechts.

Während foldy eines Aufenthalts führte ein Zufall unfere am Morgen audgerücdte Hilfskolonne an und vor; über, die, dem Schalle folgend, auf den Weg nad) Süter- bogf geraten war. Die fundige Führerin hatte Labſal ausgeteilt, Wunden verbunden und Blut geftillt nad) Kräften, nun leitete fie, fo viele ald die Fahrzeuge faßten, in die gute Herberge hinter dem Heideſchirm. Es waren Franzoſen und Italiener, alte Kameraden ber tapferen Barbe, Oftpreußen und Schlefier, auch ein rufftfcher Artillerift; aber von denen, die und zunächft am Kerzen

Sechſter Abſchnitt 395

lagen, von Oppens und Gablenzens Reitern, war keiner darunter.

Es iſt etwas Herzbeklemmendes, ſo im Nebel in ein gewaltiges Verhaͤngnis loszuſteuern. Heute weiß es jedes Kind, wie aus dem ſorgloſen Angriff auf Juͤterbogk, mit welchem ber glänzendfte Marfchall des Kaiferreichs auf feinem Zuge nach Berlin eine feindliche Abteilung beifeite ftoßen wollte, durdy das Standhalten und den entfchloffe> nen Eingriff zweier bis dahin unberühmter preußifcher Generale die Schlacht von Dennewitz gefchlagen worden ift, nad) Zweck, Entwurf und Ausführung die preußifchte Tat in dem Befreiungsherbftl. In jener Stunde aber, wo Sinn und Vorftellung fi in einem Chaos von Dualm und Schall verirrten, gab eine furze Schilderung der alten Vivandiere mir den erften Anhaltspunft.

Nun fah ich die Kämpfer und den Kampfplatz, auf welchem die Unſeren die blutige Leſe gehalten hatten. Dort zwifchen dem Badı und dem Fichtenbufch hielt Durutte, von Reynierd Korps, den Weg verfperrt, als Bülow mit der Hälfte feiner Brigaden dem vor der Stabt hart bedrängten Tauengien die Hand zu reichen Fam. Sch fah auch Herrmann an der Seite feines Generals, und als der Erfolg an diefer Stelle gefichert fchien, da fah ich beide ſuͤdwaͤrts ſprengen, wo jenfeitd des Baches, auf einem dritten Felde, der Reft ihres Korps mit dem Nefte Reynierd um den Preis ded Taged rang. Der Heft von Neynier aber, das waren die Sadıfen. Bruder gegen Bruder, Feind gegen Feind ftand in diefen Stunden auf engbegrenztem Raum!

„Aber woher wiflen Sie das alles?" hatte ich die alte Franzoͤſin gefragt, und fie mit höflichem Stolz geantwortet:

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„Sch bin die Witwe eines frangöfifchen Offiziere, ber ein geborener Stratege war. Und ich bin Wutter, mein Herr. Die Intereffen der Frau Baronin find meine eigenen Intereſſen, da ic, die Ehre habe, ald Dero Abge⸗ fandte auf diefer Stelle zu ftehen. Ich werde der Frau Baronin melden, daß idy wenigftend den einen ihrer Herren Söhne unverfehrt gefehen habe.“

„Sie fahen ihn, Madame Barbe!“

„Ich fah und fprady den Herrn Baron, mein Herr. Der Herr Baron jagten ventre & terre an mir vors über - -"

„Wann, wo, Madame Barbe?“

„Bor einer Stunde, und in ber Richtung der Witten berger Straße, von weldyer, wie man fagt, ein preußis fcher General zur Aushilfe erwartetwird. ‚Schaffen Sie Berbandzeug nach Goͤlsdorf, Sie finden dort Doktor Bär!‘ riefen der Herr Baron mir zu. ‚Sch werde dem Befehl des Herrn Baron gehorchen, fobald ich diefe Ungluͤcklichen unter Obhut Dero gnädiger Frau Mutter geftellt habe‘, antwortete ich. Der Kerr Baron hörten jedod; meinen untertänigen Einwand nicht zu Ende. Der Herr Baron fahen fehr blaß aus, mein Kerr. Eine finftere Falte lag auf der früher fo heiteren Stirn. Ob der Stand der Schlacht, ob perfönliche Erinnerungen fie eingegraben hatte, unterftehe ich mid) nicht zu deuten.“

Indem wir nun die von der Barbe bezeichnete Richtung nach Goͤlsdorf einſchlugen, gerieten wir in den Zuzug der Borftellfchen Bataillone. Wir vermuteten, daß Herr⸗ mann ausgefendet worden war, die Befchleunigung ihres Bormarfches zu betreiben. Er mochte längit zuräd fein. Trab, trab ginge, Inscheltief im Sande, Staubwirbel

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ins Geſicht. Menſchenhaufen wogten geſcheucht zuruͤck und neugierig wieder vorwaͤrts. Immer naͤher drang das Knattern und Droͤhnen, immer dichter der Qualm, lauter das Hurra der Stuͤrmenden, das Zetergeſchrei der ge⸗ fluͤchteten Bauern, das Gewimmer und Gewieher der ver⸗ ſtuͤmmelten Kreatur. Das Dorf ſtand in Flammen; bis in die Kirche zog ſich das Gemetzel; Borſtell hatte ſeine

erſten Bataillone vorgefuͤhrt.

Es gibt in der Gegend ein paar Sandwellen, die wir Heideleute Berge nennen; die Windmuͤhlen auf dieſen Bergen ſind auf dem waſſerarmen Flaͤming ein wichtiges Inſtitut. Auch um die ſaͤchſiſchen Batterien dort oben hatte der Kampf ſtundenlang gewuͤtet. Unten im Dorfe, oben auf den Hoͤhen, Sturm, Abſchlag und Wiederſturm.

Ruͤckwaͤrts der Hoͤhen, hart am Waldesſaum, ſtand eine weiße Flagge aufgepflanzt; unſeres Doktors Banner! Wir ſteuerten darauf zu. Bald ſahen wir die huͤnenhafte Geſtalt mit Imperatorenſchritten ſich hin und her bewegen; ſein langes, graues Haar flatterte im Winde.

Welches auch immer die Szene, es iſt immer ein froher Anblick, einem Menſchen auf feinem Gipfelpunkt zu be gegnen. Nicht im Eifer der Wiffenfchaft, in Hörs und Buͤcherſaͤlen; nicht über Land und Meer, wo er die Freis heit gefucht, nicht auf dem Siegesfchiffe, wo er den fremden Helden fterben fah, auch nicht im Dienfte der Menfchheit, an den Kranfenbetten der Armen, ald Frau Erdmuthend Knecht: hier in der Befreiungsfchladht auf heimifchem Grund ftand Albredit Bär, faft ein Greis, auf feiner Gipfelhöhe; hier waltete er fo frei und ficher in feinem Element, daß mir war, ald ob alle Wunden, die er berührte, heilen müßten.

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Er hatte ſchon daheim aus eigenen Mitteln eine Hilfs⸗ fompagnie angeworben und nadı eigenem VBerftande ge⸗ fchult; meiftenteild Studenten, die zu ſchwach waren, die Musfete zu tragen. Ed war aber eine Luft zu fehen, wie er auch unfer gaffendes, dickfelliges Heidevolk anftellig zu machen wußte. Nur Heimatöbrüder üben foldye Macht. Hohen Haupts, ein Scherzwort auf den Lippen, umging er unter einem Sugelregen den Huͤgel, tapfer die Ge⸗ hilfen, zaghaft die Bahrenträger hinter ihm. Bis in die lodernden Häufer hinein wurde gefucht und gefammelt, dann wieder ruͤckwaͤrts aufden Waldplag hinter der weißen Flagge, in das Bereich der Meffer und Zangen, und immer von neuem rüftig voran. Mein Begleiter und ich hatten und ihm angefchloffen.

Sein Aumor war in einem wilden Überlauf von Angft zu Luft; der wortfarge Spötter hatte fich in einen Schwäger verfehrt. Nicht einen Augenblid hielt er den Mund. „'s hing an einem Haar, Magifter,“ fagte er, „an einem Haar, daß die himmlifchfte Dispofition zum Teufel ging. Als der Dudinot anrüdte, ftanden hier unten ihrer fünf gegen eind. Schwereangft! Meine Hände habe ich aufs gehoben, gebetet wie Altvater Mofes wider den Amalef; gefchrien habe ich: Borftell, fomm, Borftel, fomm! Noch auf dem Marfche hat diefer gottverdammte Schwede ihn anf den zweiten Rang feiner Zufchauerbühne komman⸗ dieren wollen. Ein ewiges Gluͤck, daß diefe Preußen vom alten Sfegrimm gelernt haben, gelegentlich eine Inſub⸗ ordination zu veruͤben. Magifter, fo ein widerborftiger, preußifcher General, das ift Euch ein kuͤſſenswerter Gegen» ftand! Seht die ffandinavifchen Orgelpfeifen dort oben, bie haben auch contre ordre aufgeipielt. Die Hauptſache

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ift nun fertig. ZTauengien und Thuͤmen haben drüben reinen Tifch gemacht. Soldy eine Bande preußifchen Ges findels, den Bravften der Braven in den Sumpf zu fchmeißen - pfui Teufel! Hier unten ift freilich die Nuß nod hart, und fein renitenter Preuße mehr vorhanden, der fie knacken könnte. Aber was ift dag? O beätise, o göttliche betise der geiftreichften Nation! Magifter, feht, Snfpeftor, feht! Schaut doch nur, fchaut!“ Der alte Bär fprang wie ein junger Bod: „Monfteur Oudinot zieht ab, er zieht zu feinen glorreichen Brüdern in den Sumpf. Nun Gnade Gott unferen armen Sachſen!“

Wir fanden während der legten Worte neben dem MWindmühlenftumpf, vor welchem eine ſchwediſche Batterie ſich eigenmächtig einlogiert hatte. Das dreiteilige Schladhts feld im Aagrunde follte ſich von hier aus überfchauen laffen. Der Doktor fagte ed, indem er mir feinen Tubus vor die Augen hielt. Ich freilich fah nichts als die Feuer- faulen im Dorfe, das die Preußen zum legten Male ers ftürmt hatten. Qualm und Staub fraßen mir in ben Augen und herbe, herbe Tropfen! Sch mochte auch nichte weiter fehen, ich hatte an dem Graufen, zwifchen dem ich ftand, genug und an dem „Gnade Gott unferen armen, verlaffenen Sachſen!“

Da lagen fie zu Saufen über und unter den Preußen, verfchmachtend, zerfeßt, verbrannt, erfchlagen, durchbohrt. Zaufend Hände wären nur für die erfte Hilfe nicht zu viel gewefen. Der Doktor arbeitete wie ein Bär, und ftatt zu brummen, funsnte er dad Gaudeamus. Manches befannte Geſicht war unter denen, von denen ed hieß: „Borbei! In die Grube!“ Unfer armer Infpeftor erfuhr, daß fein Bruder vom Regiment Low fchon vor zwei

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Wochen hineingebettet worden war. Aber der Kieß von Nie erhielt das gewünfchte Teil. Seinem Jungen von den Epfchelmigfchen war ein Auge ausgefchoflen, und obendrein nur das linfel Der Alte ſchwenkte vor Vers gnügen die Pudelmüge in die Luft, zog feine Wurft aus ber Tafche, befah fie hin und her, fchob fie ſachte dem Doktor zu und ſteckte fie fchmunzelnd wieder ein, ald der Doftor feine Miene machte, fidy für die frohe Botfchaft belohnen zu laffen. Nach dem Verband Iud er feinen ungen auf einen Schiebfarren, um ihn zur Önädigen in das Schloß zu fahren. Seelenvergnügt, denn mit einem Auge würde der Schinderhanned den Jungen doch nicht wiederhaben wollen, wenns auch das rechte Auge war.

Es dunfelte bereits. Das Dorf war zum legten Dale von den Preußen erftürmt. Was von unten herantobte, war fchon die Flucht, die wilde, kopflofe Flucht. Bon den Brüdern nicht eine Spur, nicht eine Kunde. Kein einziger preußifcher oder fächfifcher Reiter lag auf dem Felde, wo wir „geftoppelt” hatten. Der Doktor, wie nad, ihm die alte Franzöfin, hatte Herrmann gefehen, als er, mit feinem General von dem Kampfe bei Nieder- görsdorf eingetroffen, in der Richtung voranjagte, von welcher Borftell fo fehnfüchtig erwartet wurde. Es war in dem Ffritifchen Moment, wo das Dorf zum zweiten Male verloren, die Mannfchaft erfchöpft, Fein Erſatz mehr vorzuführen war und Oudinots Heranzug fich immer ftärfer entwickelte.

„Ihr hättet unferen Dann nicht wiedererfannt, Mas gifter,” fagte der Doftor. „Die Scylachtenfurie über» pinfelt aus einem preußifchen Topf. Geſtern nachmittag

Sechſter Abſchnitt 401

roſenrot wie ein Braͤutigam, heute morgen ſchwarz auf weiß, wie einer von den fahlen Reitern der Apokalypſe. Das Gift gegen den Schweden prickelte ihm aus allen Poren.“

Wenn es doch nur Gift gegen den Schweden geweſen waͤre, das in ihm prickelte! ſeufzte mein Herz.

Er mußte ſeit Stunden von jenem Ritte zuruͤck ſein, konnte ſeit Stunden ſeinem Bruder, ſeinem bitterſten Feinde, gegenuͤber geſtanden haben. Der ſchwediſche Ar⸗ tilleriehauptmann hatte einer glaͤnzenden Attacke erwaͤhnt, welche die Oppenſche Kavallerie gegen die von Reynier ausgefuͤhrt. Das Terrain war nicht ſo ausgedehnt, die Zahl der Kaͤmpfer nicht ſo groß, daß zwei einander un⸗ bemerkt hätten bleiben können, die eifrig einander ſuch⸗ ten, wenn auch nur, um fich auszumweichen. Ich war entfchloffen, an diefer Stelle auszuharren, und wäre es die Nacht hindurch, um der Mutter fagen zu koͤnnen, wie die Entfcheidung gefallen, vor der fie fieben Jahre lang gezittert hatte.

Und id) follte nicht lange mehr auf diefe Entfcheidung warten.

Ein wildes Getümmel wogte aus dem Grunde herauf; von allen Seiten drängte der Schwarm ber Verfolgten und Verfolger. Rüdwärts fperrten die Ruffen die Wits tenberger Straße, vorwärts auf der nadı Torgau ftaute ſich vor Dennewig der Troß der bei Süterbogf und Nies bergölsdorf Gefchlagenen. Wirr und zügellos wälzten fidy die Knaͤuel nach dem Waldesdunkel. Vergebeng, daß wir unfere Verwundeten hinter den Bäumen ges borgen und und unter dem weißen Banner in des Dofs

tors Hand wie eine Hede vor ihnen aufgeftellt hatten. xX. 26

4028 Frau Erdmuthens Zwillingsfähne

Mancher arme, verſtuͤmmelte Leib wurde von Menſchen⸗ und Huftritten zermalmt.

Jetzt ſchwaͤrmt wieder eine Wolke daher: rote ſaͤchſiſche Dragoner; hinter ihnen dunkle, preußiſche Ulanen. Auf einen Wink des Fuͤhrers zieht ſich ein Wall von Lanzen ſchuͤtzend um den Friedensplatz. „Herrmann!“ ſchrie ich auf. „Viktoria!“ jauchzte der Doktor. „Aber ſteigen Sie ab, Sie bluten, Mann!“

„Es iſt nichts!“ ſagte Herrmann und wollte weiter.

„Nicht viel, ſo Gott will. Aber ſchade um jeden un⸗ nuͤtzen Tropfen Heldenbluts. Fuͤr die armen Teufel dort hinten ſorgen ſchon die Koſaken.“

Herrmann ſtieg ab; er trug das eiſerne Kreuz auf der Bruſt und hatte einen Saͤbelhieb uͤber der Hand. Sein Geſicht war mit einer Schicht von Qualm und Staub überzogen, aber die finſtere Stirnfalte hatte ſich ge⸗ glaͤttet, und ſeine Augen leuchteten.

Der Doktor preßte ihn an ſeine Bruſt wie einen Sohn. Es iſt das einzige Mal, daß ich Albrecht Baͤr einen Menſchen habe umarmen ſehen. Waͤhrend er die Wunde auswuſch, ſagte er: „Schaut ihn an, Magiſter. In ſol⸗ chem Glanze werdet Ihr dieſen Mann nicht wiederſehen, auch wenn Ihr ihm eines Tages die Hochzeitsrede haltet.“

Es durchzuckte Herrmann; aber nur einen Moment; ſein Auge und Ohr, ſein ganzes Weſen ſpannte nach einem dunklen Knaͤuel, der aus der Ferne herandraͤngte. Ohne ein Wort zu ſagen, riß er ſich los, ſchwang ſich aufs Pferd und ſprengte von dannen. Das Verhängnis er⸗ fuͤllte ſich.

* *

Sechſter Abfchnitt 403

Daß ichs furz fage, was zu fagen bleibt. Nachzuſagen; denn miterlebt habe ich ja nur das Ende.

„Ihr Deutfhen müßt alle maſſakriert werden, ehe ihr gegen ung fechtet.” Ob diefes graufame Wort zwifchen den Schlachten von Großbeeren und Dennewig wirklich von einem franzöfifchen General fo nadt hin, wie die Rede lief, ausgefprochen worden ift? Ich glaube es nicht; aber das weiß ich, daß es eine von den Schmäs hungen war, die und dad Herz ummenden, welches den begeiftertften deutfchen Anhänger des Kaifers, den Mann mit dem wieder aufgelebten franzöfifchen Namen, mit dem franzöfifch wallenden Blut wie ein Todesſtreich ges troffen hat.

Eine Fügung, die wir fo leichthin Zufall nennen, hatte die Brüder auch in dem engeren Ringen biefed Tages auseinander gehalten. Während der eine mit den Sad)» fen um Gölsdorf fämpfte, ftand der andere neben Bülow gegen Durutte. Dann kam die Sendung zu Borftell, und ald Herrmann mit der fieghaften Botfchaft: „Er kommt!“ zuruͤckkehrte, um an dem Oppenfchen Reiters angriff teilzunehmen, da war Raul abwärts in Neys Hauptquartier. Reynier hatte ihn dorthin entfendet in dem fritifchen Augenblick, ald der Befehl des Aufbruchs nach Dennewig an das zwölfte Korps erlaffen worden war, während bei den Gegnern nicht nur Borftell eins traf, fondern audy die fchwedifchen und ruffifchen Spigen ſich näherten.

Maul fieht die Niederlage Bertrands und Duruttes, fhon drängen Tauengien und Thuͤmen über Dennewiß hinaus; hier ift nichts mehr zu halten. Nur auf dem linken Flügel kann die Schlacht noch zum Stehen ges

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bracht, morgen fiegreid) erneuert werden, falld Oudinot bleibt. Ehre oder Schmach des Tages hängt an dem zurüdgenommenen Befehl.

Alles das fchildert er, er befchwort, er fleht aus fran⸗ zöfifchem Herzen, in der Glut für den Ruhm dee Helden, den er wie einen Kalbgott verehrt. Nun fteht ihm Der Heros gegenüber in fchäumender, finnlofer Wut, inmitten feiner gefchlagenen franzöfifchen Korps, und der Sadıfe muß fich ind Geficht fchleudern laſſen, daß die Feigheit feiner Landsleute, fie allein! das Unglüd des Tages vers fhuldet habe.

Zwei Wochen früher, nach Großbeeren, hatte Raul die gleiche Befchuldigung ohne Widerrede angehört und nach⸗ gefprochen. Nie hätte er einem beutfchen Führer das Genie eines franzöfifchen, nie einer deutfchen Truppe, und wäre es die eigene, Die Bravour einer franzöfifchen zuerfannt. Heute hatte er mit den Sachſen gekämpft, ihre Anftrengungen geteilt, ihre Opfer fallen fehen; heute war der Vorwurf eine Schmad; für ihn felbft, ein Flecken auf dem eigenen Ehrenfchild. Alles, was gerecht in ihm heißt, was Menfchliches die blinde Vorliebe nicht ver- fchlungen hat, empört fich; fein Blut wallt auf. Jach, wie in der Nacht auf die Bruderbruft, zudt die Hand nad) dem Schwert. Gott weiß, wie zu anderer Stunde diefer Auftritt geendet hätte.

In der Wirrfal des Augenblicks achtet Feiner auf ihn. Er jagt zurüd, den Tod im Herzen. Nur eine äuferfte Tat, ein Überbieten der Kräfte fann ihn rein wafchen und retten. Ä

Sein Weg geht mitten durch das franzöfifche Korps, dad gen Dennewig zieht. Er erneuert fein Drängen

Schfter Abſchnitt 405 vor Dudinot, der ihm fürzlicdy noch fo wohlgewollt hat; jeden einzelnen Führer befchwört er nur um ein paar Bataillone, eine frifche Batterie „Helft Euch, wie Ihr koͤnnt!“ ift der einzige Beſcheid, den er erhält. „Die Unferen brauchen und!“ heißt cd. „Gottlob, daß wir von Reyniers Pechvoͤgeln los find!” Dder: „Wir haben Euch ja die Bayern gelaffen!” wird ihm höhnend nach⸗ gerufen von dem und jenem, ber in früheren Tagen ben bevorzugten Sachſen beneidet haben mag. Zu fpät ers fennt der Unglüdliche, um welchen Lohn ein Hilfsvolk blutet.

Als er vor Goͤlsdorf zuruͤckkommt, find Dorf und Höhen von den Preußen genommen, der legte Widerftand ges brochen, die Flucht unaufhaltfam. Er wird aller Faflung unmächtig; die Kameraden, an denen er vorüberfprengt, halten ihn für einen Tollen. Stieren Auges, Schaum vor den Tippen, fahl wie ein Gefpenft ftürzt er ſich mit gezüctem Säbel einem Trupp feiner eigenen Küraffiere entgegen, ber querfeldein von dannen fprengt, preußifche Ulanen hart auf den Haden. Keiner hört auf fein „Kalt!“ Die Säbel der Seinen ftreifen ihn. Auf dem Wege ftopft fihe. Sein Pferd ftürzt, er taumelt; feine eigenen Leute jagen über ihn hinweg. Er rafft fidy auf, ftcht allein, wehrt fidy mit gezuͤcktem Säbel einer gegen zehn, die ihm die Tanzen entgegenftreden. Der Säbel wird aus feiner Hand gefchlagen; frampfhaft hält die andere das Piftol gefpannt. Noch ein Blick in die Runde: feine Rettung, fein Entrinnen, er ift ein Oefangener! Er ftemmt das Piftol gegen dad Herz.

In diefem Augenblid hört er eine Stimme „Halt!“ ges bieten. Der Lanzenwall ift durchbrochen, ein Schauer

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überläuft ihn; die Waffe wird feiner Hand entwunden; noch einmal bäumt er ſich auf, dann ftürzte er zu des Bruders Füßen - tot!

Seinen Leib mit beiden Armen umfpannend, trug ihn Herrmann auf unferen Platz. Das Blut der Brüder riefelte gemifcht über das weiße Kollett des Leblofen. Seine Lippen waren nicht fahler, feine Züge nicht ftarrer, als die des Lebenden.

„Sc bin nicht fein Mörder, aber er war mein Todfeind, als fein Auge brach.“ Herrmann ſprach diefe Worte nicht, aber fie waren feinem Blicke eingeprägt, eingeprägt ber tiefen Furche der Stirn, die fein Erdenglüd wieder glätten konnte.

Er hielt den Bruder im Arm, während wir den ſchwar⸗ zen Küraß löften und dad weiße, rotgetränfte Kollett. Der Doktor ſchuͤttelte ſchweigend den Kopf und legte mit Gewalt die Binde um Herrmanns Hand, aus der das Blut ſchoß. Er fträubte fi, aber ed gefchah. Signale erfchallten; die Schweden rüdten auf das Kampffeld des Tages, Kofatenfhwärme fauften vorüber. Ein Ulan brachte Herrmanng Pferd. Herrmann blickte noch einmal fragend in des Doftord hoffnungslofes Auge. Nun ließ er den toten Bruder nieder auf meinen Schoß. „Zur Mutter!” preßte er hervor, ſchwang ſich auf und fprengte, ohne ruͤckwaͤrts zu blicken, in das Getuͤmmel.

„Daß dem herrlichen Menfchen die Freude diefed Tages fo vergällt werden muß!” fagte Bär nad) feiner Weife bewegt. Der Körper wurde entfleidet und gründlid, unterfudht. Er war von Wunden zerfegt, aber feine fchien tief genug, um tödlich zu fein, und feine Kugel hatte ihn ges troffen. Ich blickte in die frampfverzerrten Züge; ich hoffte

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noch. Der Doktor taſtete, horchte, rieb, wuſch, verband, benetzte die uͤbereinandergepreßten Lippen mit aͤtzenden Tropfen keine Regung. „Ein inneres Gefäß iſt zer fprengt; die Wut hat ihn umgebracht“, fagte Bär.

„Und wenn er dennoch wieder erwachte?“ fragte ich.

„So erwachte er, um zu fterben. Bringt ihn heim. Sch bleibe, wo ich helfen kann.“

So fuhren wir denn heim in der Nadıt; Schritt für Schritt durch Stoppeln und Sand. Der Infpeftor Ientte; ein doppelte Weh im Herzen. „Das Opfer“ Tag auds geftredt auf dem Lager, das die Mutter bereitet hatte, fein Haupt in meinen Armen. Alle Rüdwärtöftellungen waren von den Truppen geräumt, das Feuer verftummte. Nach dem Höllenlärm Zotenftille. Nur von der Beide herüber ächzte und ftöhnte ed aud) heute, und am Himmel jagten die Wollen über Mond und Sterne.

Bor dem Forfthaufe warteten Diener mit Windlichtern, welche die Mutter und entgegengefchickt hatte. Adıt Mos nate waren es, daß Fadelträger einer jubelnden Braut durch die Heide vorangeleuchtet hatten; heute leuchteten fie einem Leichenzug, und ihr blutroter Schein Iodte in die Nadıt hinaus die Braut, die eined anderen Mannes Weib geworden war.

Dort an der Klofterpforte ftand fie in ruhelofer Hoff» nung, mit Blumen gefhmäüdt. Ein Schrei fchrillte durch die Nacht, o, ein Schrei! Iſt das fchlummernde Herz nicht erwacht von diefem Schrei? Fühlt ed nicht den warmen Leib, der ſich über den erftarrten ftürzt? Nicht die glühenden Lippen, die fich auf die frampfgefchloffenen prefien? Kann der Tod diefem heifchenden Leben widers ftehen?

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Und weiterhin unter dem Portal fland die andere, die andere, die auch einen Heimkehrenden erwartet hatte, aber nicht mit frohem Vorgefühl, die Haͤnde über der Bruſt gefreuzt, dad Haupt tief hinabgefunfen, marmor⸗ weiß, „wie die Geduld auf einer Gruft”. Lautlos empfing fie ihn, wintte und fchritt voran.

Er wurde in ihr Zimmer getragen und auf ihr Ruhe⸗ bett gelegt. Liska warf ſich zu feinen Füßen auf die Knie. Die Mutter füßte ihn auf die Stirn, faßte feine beiden Hände und hielt fie feft in den ihren. Der Tag, an welchem er ihr gefchenft worden war, nahte feinem Ablauf.

Und wie fie feine Hände fo umflammert hielt und ihre Augen unverwenbdet auf fein Angeficht gerichtet waren, da Iöfte fi der Krampf in den erftarrten Zügen. Die Befinnung erwacte auf dem Punkte, wo fie fill ges ftanden. Seine Rechte zudte nach eined anderen Rechten; er fchlug die Augen auf zu denen, die er für eines ans deren Augen hielt. „Bruder !" hauchte er, „mein Bruder!“

„Er lebt!” fchrie Liska. Sie warf ſich über ihn, während nun die Mutter auf ihre Knie ſank.

Ein Blutftrom quoll aus feinem Munde. Sept erft war er tot, und filled Entzuͤcken goß ſich über fein Antlig aus. Tod heißt das Gottedwunder, das die Herzen verföhnt.

* * %

Früh am Morgen fchrieb mir die Mutter:

„Laſſen Sie mid) heute noch ftill bei meinem Sind, und handeln Sie für mi. Morgen, wenn die Sonne aufs geht, das Letzte. Neben meiner Bank, wir beide allein, der Dritte, der zu und gehörte, fehlt. Still, ganz ftill.

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Und dann Liska. Meine beiden Söhne haben fie geliebt, fie würde mir zweimal eine Tochter fein. Aber ic) weiß ed ja, daß fie nicht mehr die Unſere werden fann. Auch diefer Sonnenftrahl entweidht. Wein Raul, mein Raul! Sie haben ihn auch geliebt, ald ob Sie Rechenſchaft für ihn zu geben hätten. Wir bleiben Freunde in der Traurigkeit.”

So hatte ic) denn ein reichliches Tagewerf und fah weder Mutter noch Tochter. Mit der alten Franzöfin verhan⸗ delte ich Aber die Zufunft der Witwe von Frau Erd» muthend Sohn. Sooft id) nad) Liska fragte, hieß es: „Madame betet. Madame hat nadyzuholen und wieder gutzumachen.“ Die Mutter faß ftil bei ihrem Kind. Erft fpät am Abend Iöfte ich fie ab, daß fie ein paar Stunden ruhe vor dem legten Geleit.

Sie hatte den Toten nicht in den Ahnenfaal bringen laffen, in welchem der Letzte ihres Namens eingefegnet worden war und noch der Brautaltar fürihrennun einzigen Erben gefhmüdt ftand. Diefer Sohn war ein Fremp- ling geblieben unter dem Gefchlecht, dad von den Wänden auf die Feierafte der Enfel niederblickte. Bei der Mutter allein hatte er ſich heimifch gefühlt, und fo behielt fie ihn bei fidy bis zum legten. Die friegerifchen Ehren, die er für feinen Grabgang erfehnt haben würde, Fonnte fie ihm nicht gewähren.

Das Zimmer lag im Dunfel; nur eine Ampel zu Häupten goß ein mildes Licht über dad marmorbleiche Geſicht. Der ftile Sterbenefrieden ließ ihm fchön, fehöner ale jemals Luft und Fülle des Lebend. Ich Fonnte meine Augen nicht abziehen von dem herrlichen Bilde in der weißen Reitertradht und dem Lorbeerkranz in dem Dunkel»

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gelodten Haar. Das umrankte Fenſter ftand geöffnet, Düfte des Herbftjelängerjelieberd ftrömten in das Zimmer. Der Sturm hatte fich gelegt; es waltete Frieden auch in der Matur. Stunden der Betrachtung verliefen, ald ob ed Minuten wären.

Ich hörte den Wagen vorfahren; ben Hochzeitswagen der Wutter, der das fremde Kind in ihr Haus geführt hatte und ed nun wieder hinaudführen follte in feine eigene Heimat. Auf dem Korridor regten ſich leiſe Schritte; ich zog mich in die Fenfternifche zuruͤck. Liska trat ein im dunfeln Reifekleid. Sanft beugte fie fidy über den Ge⸗ liebten und füßte ihn zum legten Dale. Zu den Loden, die fie von ihrem Haupte kurz abgefchnitten hatte, fügte fie eine von den feinen, weldye bieher auf ihrem Kerzen geruht, und legte fie auf das ihres Raul. Auch ihren Trauring ftedte fie über den feinen; die letzten Klein- odien ihres Gefchlechtd waren wieder vereinigt an einer Hand, an einer Totenhand. Dann madıte fie bad Kreuzegzeichen über ihn, betete auf ihren Knien laut ein Ave und ließ fi) von der Begleiterin ohne Widerftand aus dem Zimmer führen. Die alte Franzöfin meinte; die junge nicht. Auf der Schwelle drücdte ich beiden fhweigend zum Lebewohl die Hand. In der meinen blieb das goldene Erinnerungsbud) zuräc, ummunden von einem fchwarzen Bande.

Dad Bud; enthielt eine Spur von allem, was die fremde Waiſe unter diefem Dache erlebt hatte; aber von der Zeit an, wo fie darunter des Lebens froh geworden, da waren die Blätter weiß. Auf dem letzten fanden die Worte: „Eine große Leidenfchaft, und dann den Nonnenfchleier.“

Der Morgenftern flieg auf, und abendwärts verhallte

Sechſter Abſchnitt 411 eine Wagenſpur. Ich entfernte mich; der letzte Abſchied gebuͤhrte der Mutter allein.

Von der Stadt her wurde es lebendig. Da ich jedes Gefolge verbeten hatte, reihten ſich die Bewohner zu beiden Seiten der Ulmen, ohne Geſchwaͤtz und Gedraͤnge; Kinder freuten Tannenzweige auf den Weg; unfer Jugendchor fammelte ſich in der Kapelle.

Moc im Frühnebel kehrte ich zuräd; die Mutter ftand vor dem Portale neben dem Sarg. Sie hatte felbft den Dedel niedergelaffen und einen Rofenfranz darauf bes feftigt. Die Diener ded Hauſes trugen ihn an Sands haben voran, dahinter fdhritt nur die Wutter, auf meinen Arm geftügt.

Ald wir durch die Pforte bed Klofterhofs traten, der heut zum Friedhof ward, drang die Sonne goldig Far durch den Nebel, und dad Morgengeläut hob an; als wir aber den Sarg neben der Bank der Mutter niederließen, ftand unter dem Kapellenbogen ein hoher Mann im dunfeln Reitermantel. Aus den übernädhtig fahlen Zügen fprad) nicht von Freude über das glorreiche Gelingen, in beffen Verlangen er fieben Jahre lang gelebt und geftrebt; der einft fo Flaren Stirn war tief die finftere Falte eins gebrücdt wie in der Stunde, ba er dee feindlidyen Bruders Auge brechen fah. Dennoch wehte ein Hauch ungeahnten Gluͤcks über das Angeficht der Mutter; fie ftellte ſich an feine Seite und nahm feine Hand in die ihre.

Ich hatte nur den Segen und ein Gebet fprechen wollen; nun der Dritte gefommen war, der zu und gehörte, ent» firömte ed Wort um Wort dem übervollen Herzen.

„Rein macht der Tod und Far,“ fo mag id, gefprochen haben, „Mar und rein hat er auch den gemadht, den wir

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jegt betten in den ewigen Lebensſchoß, hat Irrtum in Sühne verwandelt und Grol in Danf. Sein letztes Taften war nad) der Bruderhand, die einem verzweifelten Sterben wehrte; fein legted Wort war ‚Bruder!‘, mit dem legten Blick flchte er: ‚Bergib!‘, und das tote Antlig vers Härte der Frieden deffen, dem vergeben worden ift; Tod heißt das verföhnende Lebenswunder.“

Die Mutter lehnte ihr Haupt an ded Sohnes Schulter. Eine Blutwoge trieb über feine Wange und Etirn.

„Und wie ed ded Menfchen würdig iſt,“ fuhr ich fort, „in allem Gefchehenden ein Sinnbild wahrzunehmen, in bem Einzelnen bad Ganze, in dem Ich das AU, fo fehen wir in diefem Sterben den Sinn der Zeit, in die wir geftellt worden find, auf daß wir Schritt um Schritt weiterringen, aus Haß zur Liebe, aud Tod zum Leben in das vollendende Einft. Sei ed das Iettemal, daß Brüder gegeneinander ftanden, daß einer begehret nad) des anderen Gluͤck; tilge das Blut, was dad Blut vers brach; aud dem Hader quelle die Verföhnung, aus ber Zwietracht fproffe die Einigkeit; e8 fomme der Tag, den wir ahnend erfchauen, der Tag, wo ed nur noch Brüder gibt: Blutesbruͤder, Volfesbrüder, Menfchens, Ehriftens brüder. Was treibt, dad muß gedeihen.”

Herrmannd Knie zitterten, er fchlug die Hände vor dad Geſicht. Aus der Kapelle drang ein milder, flüfternder Sang, der ſich in mählicher Wiederholung zu fieghafter Sreudigfeit erhob. Dir fang cr wie ein Engelddjor.

„Sin Slüd, für das wir glühen, Ein Tempel, wo wir fnieen, Ein Sand, wohin wir ziehen, Ein Himmel dir und mir.“

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„Bruder! Mein Bruder!” ſchluchzte Herrmann. Er brad) in feine Knie zufammen, beugte ſich über den Sarg, bes negte ihn mit heißen Tränen. Die Mutter legte die Hand auf fein Haupt; ich ſprach den Segen über beide ihrer Söhne.

Nun noch die erfte Hand voll Erbe in dad Brudergrab, und dann weiter voran auf der befreienden Bahn.

Drud der Roßberg’fchen Buchdruckerei in Leipzig

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