/Y / ^ Meclianiscli-pliysiologisclie Theorie der Abstammungslehre. Von C. V. Nägeli. Mit einem Anhang : 1. Die Sclu'anken der naturwissenscliaftliclien Erkenntniss, 2, Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. München und Leipzig. Druck u n d Verl a g v o n R. 0 1 d e n b o u r g. 1884. j?^6 [7^^ 3 333 Vorwort. Vorliegende Schrift verdankt ihre Entstehung dem Vortrag über die Schranken der naturwissenschafthchen Erkenntniss, den ich im Jahre 1877 bei der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu halten veranlasst war. Die in demselben entwickelte Ansicht, dass unserer Vorstellung und unserem Wissen einzig und allein die endlichen Erscheinungen, dagegen aber auch alle endlichen Er- scheinungen, sofern sie in den Bereich unserer sinnlichen Wahr- nehmung fallen, zugänglich seien, verlangte in verschiedener Be- ziehung eine weitere Ausführung und Begründung. Es musste gezeigt werden, wie sich diese Theorie für das Gebiet der unendlichen Theilbarkeit gestaltet, und wie mit ihr die experi- mentellen Erfahrungen über moleculare Kraftbegabung und Form- bildung in üebereinstimmung sich befinden. Es musste andrerseits dargethan werden, dass jene Theorie ebenfalls in dem Gebiet der grössten uns bekannten Zusammensetzung , in den Abstammungs- reihen der belebten , zum Theil mit Gefühls- und. Geistesleben be- gabten Organismen durchführbar ist. Letzteres lag auch deswegen nahe, weil in der genannten Versammlung das Problem der Ab- stammungslehre im Vordergrund wdssenschaftlicher Besprechung sich befand. Da hierbei dieses Problem und gewissermaassen auch IV Vorwort. mein Vortrag den beiden jetzt noch so weit verbreiteten wissen- schaftlichen Richtungen, die wir mit dem Namen der objectiven und der subjectiven Methode summarischer Erfahrung bezeichnen können, Gelegenheit gegeben hatten, jeder im Gegensatz zur andern, den Ansj^ruch auf Wissenschaftlichkeit in Forschung und Lehre vor dem gebildeten Publikum zu behaupten , so schien es angezeigt, diesen beiden Richtungen gegenüber die logische Alleinberechtigung der exacten Methode, wie sie sich in den mathematischen und physicalischen Disciplinen bewährt hat, auch für die übrigen Ge- biete der Naturwissenschaften aufrecht zu erhalten. Die Schrift sollte daher ausser dem Vortrag über die Schranken der natur- wissenschaftlichen Erkenntniss noch Abhandlungen über die Mole- cularerscheinungen , über die Abstammungslehre und über die Forschungs- und Lehrmethode enthalten. Bei der Ausführung nahm die Abhandlung über die Abstam- mungslehre infolge der freieren Behandlung, welche sich unwill- kürlich aufdrängte, eine grössere Ausdehnung an, als beabsichtigt war. Ich stellte sie, weil damit die Harmonie in Vergleich mit den übrigen Abhandlungen gestört war, nunmehr voran und gab ihr, schon des genetischen Zusammenhanges wegen , als Anhang den Vortrag über die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss und den bereits vor längerer Zeit geschriebenen Aufsatz über die Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet bei, indem ich die nur halbvollendete und weiter abliegende Abhandlung über die Forschungs- und Lehrmethode wegliess. Die Beigabe der beiden Abhandlungen des Anhanges rechtfertigt sich übrigens auch aus inneren Gründen, da die natürliche Abstammungslehre als unzweifel- hafte Thatsache allein auf den allgemeinen Principien des Causal- gesetzes oder des Gesetzes von der Erlialtung der Kraft und somit auf den Principien der naturwissenschaftlichen Erkenntniss beruht, und da ferner die genaue Ausführung an die spontane Entstehung Vorwort. V der organischen Welt ans dem Unorganischen anknüpfen muss, wofür eine Einsicht in die molecularen Kräfte und Gestaltungen als selbstverständliche Voraussetzung erscheint. Was die Abstammungslehre betrifft, so ist dieselbe durch eine Reihe von Jahren, während derer längere Krankheiten wiederholte Unterbrechungen verursachten, entstanden. Sie hat während der Abfassung in verschiedenen Punkten eine Wandlung erfahren, indem nur die allgemeinen mechanischen Gesichtspunkte unverrückt fest- gehalten wurden. Sie ist daher nicht in einem Zuge geschrieben, auch nicht nach einem festen , ins Einzelne gehenden Plane ge- arbeitet; man sieht ihr vielmehr das mühsame Werden an. Das anfänglich wenig umfangreiche Manuscript erhielt wiederholte Zu- sätze, die nun mehrfach sich episodenhaft ausnehmen. Auch bleibt schliesslich, wie es bei einem so comphcirten und schwierigen Problem wie der mechanisch-physiologischen Betrachtung der Abstammungs- lehre nicht anders möglich ist, mancher Punkt zweifelhaft und ge- stattet verschiedene Erklärungen. Ich konnte es daher nicht als meine Aufgabe erachten, eine Umarbeitung behufs einer systematisch gegliederten Theorie zu versuchen, welche vielleicht durch ihre fertige Bestimmtheit sich leichter die allgemeinere Zustimmung erworben, aber wie jedes bloss durch formale Dialektik und nicht durch innere Nothwendigkeit abgeschlossene System dem wissenschaftlichen Fort- schritt mehr Hemmung als Förderung gewährt hätte. Es lag nicht in meiner Absicht, alle Gebiete der Abstammungs- lehre zu besprechen , sondern ich berührte vorzugsweise nur die- jenigen, welche über die allgemeine Theorie Licht zu verbreiten im Stande sind. So sind die sonst vielfach behandelten Gebiete der geographischen Verbreitung, sowie des paläontologischen Vorkommens von mir fast gänzhch vernachlässigt worden, weil die vorliegenden sicheren Thatsachen vielfacher Deutung fähig sich erweisen, und weil sie viel eher ihre Erklärung von einer richtigen Theorie VI Vorwort. erwarten, als dass sie zur BcgTÜnduiig derselben in erlieblicliem Maasse beitragen könnten. Dagegen schien es mir zweckmässig zu zeigen, wie sich die neue Theorie der Abstammung für das Pflanzenreich gestaltet. Bisher sind zur Begründung der Abstammungslehre fast aus- schliesslich die Erscheinungen des Thierreiches verwerthet worden, woraus sich die naturgemässe Folge ergab, dass die offen daliegende Anpassung an äussere Verhältnisse in den Vordergrund trat, indem sie die vcrl)orgene gesetzmässige Entwicklungsgeschichte durch innere, in der kraftbegabten Substanz begründete Ursachen in den Hintergrund drängte und ül)ersehen licss. Im Pflanzenreiche liegen die Verhältnisse gerade umgekehrt ; das Studium derselben ist daher besonders geeignet, die Abstannnung der Organismen bezüglich ihrer ursächlichen Bedeutung in das richtige Licht zu stellen. Inhalt. Mechanisch -physiologische Theorie der Abstammungslehre. Seite 3 Einleitung I. Idioplasma als Träger der erblichen Anlagen 21 Offene und verborgene Merkmale. Anlagen — Idioplasma und Ernährungsplasma ^ Function und Structur des Idioplasmas im allgemeinen 30 Structur anderer organisirter Körper Die specifische Natur des Idioplasmas besteht in der Contiguration des Querschnitts von Strängen paralleler Micellreihen 37 Die Anlagen sind im Idioplasma in ihre micellaren Componenten auigeiust 43 Mechanische Vorstellung bezüghch der specifischen Wirksamkeit des Idioplasmas Locale Entstehung erljlicher Anlagen und Älittheilung derselben durch T'" . 53 den ganzen Korper Zahl und Grösse der ISIicelle im Idioplasma Pangenesis von Darmn Perigenesis von Häckel . 83 II. Urzeugung Das Organische entsteht aus dem Unorganischen — Die spontan entstehenden Wesen sind nicht die niedersten der be- kannten Organismen, sondern Probien ^ Beziehungen zwischen der organischen und unorganischen Natur ... 93 102 III. Ursachen der Veränderung Die Emährungseinflüsse bewirken vorübergehende Veränderungen. . — Verhalten der inneren Ursachen zur Ernährung Die inneren Ursachen sind Molecularkräfte und wirken als solche . 116 Entwicklung der äusseren Gestaltung und der inneren Structur des Idioplasmas Vni Inhalt. Seite Wii'kuiig der VcräiKlcrungcn des Idioplasmas auf seine Umgebung . . 129 Das Idioplasma verändert sich stetig, die Organismen meist sprungweise 132 Wirkung der äusseren Einflüsse im Gegensatz zu den inneren Ursachen 136 Die äusseren Einflüsse, welclie erbliclie Veränderungen hervorbringen, sind hing andauernde Reize 139 Die Reize bewirken Reiz))arkeit ... 142 Die Reize bewirken sichtbare Anpassungen : Kork, mechanische Gewelie, Winden und Klettern 144 Blumenblätter, Honigdrüsen, klebriger Pollen .149 Farbe und Geruch der Blüthen . . ir>3 Dimorphe und trimorphe Blüthen ... .... . . 156 Das Bedürfniss wirkt als Reiz, ebenso tlie Sinnesempfindungen . 1(52 ' Die Anpassungen sind die directe Folge der äusseren Einwirkungen (nicht der Auslese) ■ 166 Wirkungen eines Reizes von unbegrenzter und von begrenzter Dauer . 168 Verschiedener Charakter der Anpassung im Pflanzen- und im Tliierreich 169 Die Veränderung tritt zuerst im Idiojjlasma und erst nachher am Orga- nismus auf 171 Zusammenwirken der inneren und der äusseren verändernden Einflüsse 173 IV. Anlagen und sichtbare Merkmale 183 Die idioplasmatische Anlage muss einen gewissen Grad der Ausl)ildung erreichen, um entfaltungsfähig zu werden (Vervollkommnungs- und Anpassungsanlagen) — Verschiedene Arten der Entfaltungsfähigkeit und Ursacben der Entfaltung 191 Der Entfaltungszustand ist die nothwendige Folge der Eigenthümlichkeit der idioplasmatischen Anlagen 196 Nur in den idioplasmatischen Anlagen ist das vollständige Wesen der Organismen enthalten 197 Vererbungsantheil der beiden Eltern bei der gcschleclitlichen Fortpflanzung 1 98 Verhalten des Idioplasmas bei der Kreuzung l)ezüglich Vereinigung, Häufung und Entfaltung der Anlagen 205 Moleculare Vorgänge bei der Vereinigung des mauuiicuL'u und weiblicben Idioplasmas 215 Materielle Befruchtungstheorie . . . . . . 220 Dynamische Befruchtungstheorie 228 V.Varietät. Rasse. Ern ährungsmodification. — Vererbung und Veränderung 231 Die Rasse ist das Product von abnormalen Eigenschaften und gehört der Domestication an — Rasse und Varietät 234 Beobachtungen und Culturresultate bei Hieracium 236 Ursachen der Verschiedenheit von Rasse und Varietät ... . . 245 Entstehung der Varietät ... 248 Ernährungsmodification im Gegensatz zu Rasse und Varietät .... 259 Ernährungsmodification bei niederen Pilzen 264 Vererbung . . 272 Veränderung 277 Inhalt. IX Seite yi. Kritik der Dar wi n'sche n Th corie von der natürlichen Zuchtwahl 284 Yergleichung der Selectionstheorie mit der Theorie von der tlirecten Bewirkung — Aufzählung der maassgehenden Gesichtspunkte ... .... 288 Allgemeine Bedeutung der Theorie 290 Sohlussfolgerung von der Rassenbildung auf die Varietätenbildung . 297 Wirkung der Verdrängung auf die Zuchtwahl 310 Wirkung der Ernährungseinflüsse 316 Morphologische Merkmale .... 326 Systematischer Aufbau der ganzen Reiche 330 Anpassung der Bewohner eines Landes 334 AT:I. Phylogenetische Entwicklungsge schichte des Pflanzen- reiches 338 Entwicklungserscheinungen im probialen Reich 341 1. Wachsthum — 2. Zunahme der inneren Gliederung und der Function . . . . ■ — 3. Bildung der Hautschicht 342 4. Theilung 343 5. Bildung der nichtplasmatischen Zellmembran 346 6. Trennung der Zellen 347 7. Freie Zellbildung 349 Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches 351 I. Vegetativwerden der Zelltheilung ... 357 n. Vegetativwerden der Sprossung 364 III. Vegetati\-werden der freien Zellbildung . 366 TV. Gewebebildung aus der Verzweigung .... ... 369 Zusammenfassung von I — IV als Gesetz der Vereinigung . 378 V. Gesetz der Amphation 380 \T;. Gesetz der Differenzirung ; räumliche Differenzirungen . . 382 Zeitliche Difiierenzirungen 399 VII. Gesetz der Reduction 405 Zusammenfassung von V — VII als Gesetz der Compücation 410 Vin. Gesetz der Anpassung 411 Zusammenwirken der verschiedenen phylogenetischen Processe . . 420 Vlil. Der Generationswechsel in phylogenetischer Beziehung 426 Ontogenetische Periode — Generationswechsel bei einzelligen Pflanzen 428 Generationswechsel bei \äelzelligen Pflanzen 432 Begriff des Pflanzenindi^-iduunls 437 Bedeutung dieses Begriffs für den Generationswechsel 444 Generationswechsel bei den Florideen 447 Phylogenetische Bedeutung des Generationswechsels 449 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissen- schaften 455 Die systematischen (morphologischen) Merkmale können nur auf phylogenetischem Wege erkannt werden — X Inhalt. Seite Zwischen den jetzigen Arten besteht in WirkUchkeit kein allgemeiner genetischer Zusammenhang. Systematische Verwandtschaft . . 462 Abstammungslinie der Gefässpflanzen von den Algen durch die Leber- moose 472 Phylogenetische Entwicklung der systematischen Merkmale derPhanero- gamen 479 Aufbau des Pflanzenstockes 480 Gestaltung, Stellung und Verwachsung der Phyllome 484 Aufbau der Blüthe 496 Einzelne Theile der Blüthe 509 Welches ist die vollkommenste Pflanzenfamilie? 513 X. Zusammenfassung . .• 524 Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. Vorwort 555 Einleitung 560 BeschafEenheit und Befähigung des erkennenden Ich 565 Beschaöenheit und Zugänglichkeit der Natur . 570 Wesen des Erkennens - . . . . 578 Keine principielle Verschiedenheit zwischen unorganischer und organischer Natur : 585 Keine principielle Verschiedenheit zwischen unbeseelter und beseelter Natur 590 Zusätze. 1. Physische und metaphysische Atomistik 603 2. Unendüche Abstufung in der Zusammensetzung und Organisation des Stoffes 612 3. Naturphilosophische Weltanschauungen. Entropie 615 4. Bedingungen für empirisches Wissen und Erkennen. Morphologische Wissenschaften 622 5. Apriorität a) des Gravitationsgesetzes 6aO b) der Mathematik 633 c) als allgemeines Princip 635 6. Kraft. Stoff. Bewegung 657 7. Quahtät in der Natur 662 8. Zurückführung geistiger Vorgänge auf stoffhche Bewegungen .... 666 9. Vergleichung der thierischen Affecte mit analogen unorganischen Erschei- nungen 677 Kräfte und Gestaltungen im moiecularen Gebiet. Elementarkräfte. Theilchen der kleinsten Grössenordnung (Amere) . '\ . 683 1. Vertheilung der Elementarkräfte auf die Amere 688 2. Agglomeration und Dispersion der Amere 690 Gesammtmengen der verschiedenen Elementarkräfte ; Scheidung in wäg- bare und unwägbare Massen 694 Gesammtmenge der Gravitationsanziehung und der Aetherabstossung in den wägbaren Massen 698 Organisation der aus Ameren bestehenden wägbaren und Aethermassen 701 Inhalt. XI Seite 3. Elasticität '^^ 4. Schwerkraft ''l'^ Ihre Wirkung ist die Differenz zwischen der Gravitationsanziehung und der Aetherabstossung Ver<^leichung ihrer Intensität mit derjenigen der Elementarkräfte . . 723 5. Wärme 729 Aetherwärme, deren Fortpflanzung und Uebertragung auf die wägbaren Stoffe • — Bedeutung der Energie und der Masse im Gebiet der Amere .... 736 6. Elektricität ''^^ Elektrische Erregung Elektrische Strömung ^^2 Elektrodynamik . . tii 7. Magnetismus. Diamagnetisnms .... 750 8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome 755 Bedeutungslosigkeit des Atomgewichts Beträchthche Grösse des Atomkörpers im Verhältniss zum Atomvolumen 759 Zusammensetzung der Atome aus Particellen 761 Atomgrösse bei den verschiedenen chemischen Elementen 769 9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome 771 Vorübergehende Veränderung der Atome durch Bewegung ihrer Theile 777 Dauernde Veränderung der Atome. Positive und negative Entropie . 779 10. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion 783 Unzulänghchkeit der elektrochemischen Theorie — Zusammenwirken der verschiedenen Elementarkräfte .... . . 786 Wesen der chemischen Sättigung . • ... 793 Opponirte, collaterale und dorsale Bindung 798 Benetzung und Imbibition °00 Cohäsionserscheinungen ^^'^ 11. Isagität Ö07 12. Zusammenfassung ^•'■^ ffleclaiiiscli-plpölopclie Tleoiie der Abstammungslehre V. Niigeli, AVistainmungsk'hre. E i 11 1 e i t u 11 «'. Wohl seit anderthalb Jahrzelmten bot sich den Physiologen ein wunderbares Schauspiel dar. Das schwierigste Prol)lem ihrer eigenen Wissenschaft wurde mit wachsendem Eifer und Kraftaufwand von Nichtphysiologen in einer Fluth von Schriften publicistiscli l)e- arl^eitet. Die Entstehung der organischen Welt geliört zum innersten Heiligthum der Physiologie. Ihre Behandlung setzt ein richtiges Urtheil in den dunkelsten Gebieten voraus; dieselljen betreffen das Verhältniss des Organischen zum Unorganischen, das Wesen des Lebens selbst, die Ernährung, das Wachsthum, die Fortpflanzung, die Vererbung, die Veränderung durch eine Reihe von Generationen, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Organismen, zwisclien ihnen und der Aussenwelt, zwischen den Theilen oder Organen des gleichen Organismus. Wiewohl die Entstehung; der organischen Welt theils wes-en ihrer unvergleichlichen wissenschaftlichen Bedeutung, theils wiegen des allgemeinen Interesses in den gebildeten Kreisen die Physiologen aufzumuntern geeignet war, so erschien ihnen dieses letzte und höcliste Problem doch so verwickelt und schwierig, dass sie nur etwa gelegent- lich und bloss im allgemeinen darüber sich auszusprechen wagten. Dieses Bedenken wurde von den Nichtphysiologen weniger schwer emjifunden. Die Lehre von der Entstehung der organischen Welt ist zwar rein physiologischer Natur. Sic bedarf al)er zu ihrer L()sung ver- schiedener Hilfswissenschaften : der Zoologie mit vergleichender Anatomie und Histologie, der morphologischen und S3'stematisfhen Botanik, der Paläontologie und Geologie, der Antln'0}>ologie. 1* 4 Einleitung. Daher fühlten Zoologen, Anatomen, Anthropologen, beschreibende Botaniker, Paläontologen den Beruf, sich mit der Entstehungslehre zu beschäftigen, und es war dies im höchsten Grade verdienstlich, soweit die betreffende Wissenschaft ihrem Inhalte nach wirklich dabei be- theiligt ist. Da sich diese Beschäftigung aber häufig nicht auf den eigenen Horizont beschränkte, sondern in andere Horizonte übergriff und zu einer Uebersicht und Beurtheilung des Ganzen sich verstieg, so vermengte sich mit dem Brauchbaren viel Unbrauchbares und Irrthümliches. Denn, wenn auch Schlosser, SjDängler, Schreiner, Glaser, Maler, Dachdecker bei dem Bau eines Hauses unentl)ehrlich sind, folgt daraus nicht für jeden derselben die Befähigung, den Plan zu entwerfen und den Bau zu führen, oder auch nur Plan und Bau- führung zu kritisiren. Die Entstehungslehre der organischen Welt berührt auch die Philosophie und die Theologie an sehr empfindlichen Stellen, und sie interessirt das grosse gebildete Pubhcum theils aus eben diesem Grunde, theils weil die Eitelkeit der Menschen von jeher \'iel auf Abkunft und Verwandtschaft gehalten hat. Daher sahen wir denn auch Philoso2:>hen, Theologen und über- dem Literaten aller Art und aller Abstufung sich der Frage be- mächtigen. Auch dies wäre ganz in der Ordnung, wenn jeder die sicheren Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung für sein Gebiet verwendet und darüber in seinem Kreise aufklärenden und belehrenden Bericht erstattet hätte, wenn nicht so mancher das Ge- biet schwieriger physiologischer Probleme für einen freien Tummel- platz widersinniger Dialectik betrachtet hätte. Denn wenn schon die Handwerker, die bei einem Bau mitlielfen, nicht im Stande sind, selber ein Haus zu ]3auen und die Construction zu beurtheilen, so sind gewiss diejenigen nicht eher dazu befähigt, welche dasselbe, nachdem es fertig und verkleidet ist, bewohnen, oder welche den Inwohnern Besuche machen, oder durch irgend welche Geschäfte in eine Räumhchkeit desselben geführt werden. So treten denn beim Ueberblick der ganzen literarischen Be- wegung, welclie die Entstehung der Organismen zmn Gegenstand hat, einige Erscheinungen hervor, welche theils für unsere Zeit, theils auch für unsere Nation bemerkenswerth sind. Die eine derselben, die ich bereits angedeutet habe, wiederholt sich freilich überall, wo sich die allgemeine Tlieilnahme einei- Frage zuwendet. Die Sicherheit Einleitung. 5 und Bcstinuiitlieit des Urtlieils niinnit zu, sowie sicli die Berechtigung dazu vermindert. Während die Physiologen mit der Besprechung der schwierigen physiologischen Fragen zurückhielten und die der Physiologie näher stehenden Naturforscher sich noch einigermaassen behutsam äusserten, wurden die Meinungen immer entschiedener, je weiter man sich von dem sicheren Boden entfernte, gleich als ob das Interesse für eine Sache die realen Kenntnisse und die formale Schulung des Urtlieils ersetzen könnte. Dem Physiologen wird dabei zu Muthe, wie etwa dem Physiker würde, wenn sich das grosse Publicum an der Lösung des Problems der mechanischen Elektricitätstheorie betheiligen wollte. Bekanntlich hat die Physik noch keine sichere Vorstellung über das Wesen der Elektricität , und vermeidet es womöglich, darüber eine bestimmte Ansicht auszusprechen. Die Erfahrung, die wir jetzt mit der Lehre von der Entstehung der Organismen machen, wairde sich wieder- holen, wenn aus irgend einem Grunde die Theilnahme an der Elektricitätslehre ebenso lebhaft erwachte. Könnten die Fragen, ob der elektrische Strom eine eigene Substanz (ein Fluidum) oder eine Be- wegungsform der kleinsten Th eilchen sei, ferner in welcher Weise sich diese Th eilchen bew^egen und in welchem Causalverhältniss die elek- trischen Bewegungen zu andern Bewegungsformen stehen, — könnten diese Fragen dem Pul)licum soviel Interesse gewähren wie die Ab- stannnung des Menschen und die Herkunft des Organischen , so dürfte ohne Zweifel auch die Physik mit Erstaunen die Erfahrung machen, dass ihr dunkelstes Gebiet von den Verfertigern der Elektrisir- maschinen, von den Blitzableitermachern, von den Verkäufern von Rheumatismusketten, von den Telegra23histen, schliesslich von den Aufgeldern und Empfängern der Telegramme und nicht am wenigsten von den Literaten, w^elche bald bei elektrischem Licht ihr Feuilleton schreiben werden, mit steigender Bestimmtheit discutirt und ent- schieden würde. Das unlogische Verfahren ging soweit, dass die Proljleme, welche die Entstehung der Organismen betreffen, ohne die nöthigen Kennt- nisse und die erforderliche Bildung selbst V)is ins Einzelne bes])rochen und als wissenschaftliches System dargestellt wurden, indem man, statt mit dem Lernen, mit dem Lehren beginnen zu diu-fen moiiito. Man kann das Docendo discinius doch gar zu früh in Anwendung 6 Einleitung. bringen wollen. Wenn es nicht im Charakter der Zeit im all- gemeinen läge, schon Ernte zu verlangen, ehe nur die Saat recht aufgegangen ist, und wenn nicht in manchen Gel)ieten des Wissens eine wenig gründliche Speculation zur Lösung schwieriger Fragen für ausreichend erachtet würde, so wäre schwer begreiflich, wie selbst ernsthafte und in ihrem Fache angesehene wissenschaftliche Männer ihre Studien im Alphabet der Abstammungslehre in grossen Zeitungen und Zeitschriften sowie in eigenen Büchern niederlegen und dem kundigen physiologischen Publicum zeigen mochten, welch langsame Fortschritte ihre Erkenntniss in dem neuen Gebiete machte, und wie sie selbst nach Jahren noch in den bedenklichsten naturwissen- schaftlichen Irrthümern befangen blieben, die ein gründliches Studium von einigen Monaten zu beseitigen im Stande gewesen wäre: Eine andere Erscheinung, welche mit der Lehre von der Ent- stehung der organischen Welt zu Tage getreten ist, betrifft fast ausschliesslich unsere Nation. Man hätte erwarten können, dass nach der natm-philosophischen Periode, welche in Deutschland viele der besten Kräfte für den Fortschritt der Wissenschaft unbrauchbar machte, die Ernüchterung liinreichend gewesen wäre, um uns auf dem eigentlich naturwissenschaftlichen Felde vor philosophischer Speculation zu bewaln-en. Wir machen aber die Erfahrung, dass im grossen und ganzen die philosophische, i^hilologische und ästhe- tische Bildung immer noch so sehr die Oberhand hat, dass eine gründliche und exacte Behandlung naturwissenschaftlicher Fragen nur auf enge Kreise besclniinkt Ijleibt und dass auch ein grösseres Publicum sich mit Vorliebe von einer sogenannten idealen, poetischen, speculativen Darstellung angezogen fühlt. Während nun einerseits in Deutschland der von England kom- mende Anstoss auf dem Gebiet der Abstammungslehre die fruchtbarste Wirkung äusserte, während eine Menge von Arbeiten in allen die allgemeine Frage berührenden Gebieten unternommen wurde und eine Fülle von werthvollen Erfahrungen im einzelnen für die Wissen- schaft ergab, wurde andrerseits jene Lehre in ein dem strengen Forscher wenig anziehendes Gewand gehüllt. Die nüchterne, von dem praktischen gesunden A-^erstande der Engländer zeugende Dar- stellung Darwin 's, namentlich in der ersten Veröffentlichung, wurde in Deutschland, ohne Bereicherung des wissenschaftlichen Gehaltes, Einleitung. 7 ins Phantastisch-philosophische übersetzt, die Lehre wurde dognia- tisirt, systeniatisirt, schematisirt und — um aucli das philologische Bedürfniss zu befriedigen — gräcisirt. Die xVljstaniniungslehre, soweit sie die eigentlich physiologischen Probleme und nicht Dinge betrifft, welche den einzelnen HilfsAvissen- schaften .angehören, wurde bisher gewöhnlich als ganzes System behandelt. Es ist dies aus zwei Gründen begreiflich. Einmal hatte die Darstellung nicht bloss die Förderung der Wissenschaft, sondern auch die Wünsche eines grösseren Publicums im Auge , und in letzterer Beziehung war ein fertiges System Bedürfniss. Ferner wurden, wie bereits erwähnt, die Bearbeitungen nicht unter dem Einfluss der exacten physiologischen Methode, sondern vom Standj)unkte der beschreibenden Naturgeschichte aus unter- nommen. Da die letztere die Beantwortung allgemeiner Fragen betreffend den Zusammenhang der Dinge nur durch erweiterte In- duction und durch Analogieschlüsse zu Stande bringt und bloss zur Wahrscheinlichkeit, nicht zur Gewissheit gelangt, so ist es begreiflich, dass sie immer zum Ausl)au des Systems drängt, um jedes Ein- zelne im Zusammenhange mit dem Uebrigen und als Tlieil des Ganzen zu betrachten und zu prüfen. Daher beurtheilt auch der beschreibende Naturkundige, der ein Abstammmigssystem aiü'gestellt hat, eine neue Thatsache, die ihm von anderer Seite geboten wird, nicht sowohl nach den Beobachtungen, aus denen sie erschlossen wurde, sondern vor allem nach dem Verhältniss, in welchem sie zu seinem System steht. Da er gewohnt ist, auf seinem Wege nur zur anfechtbaren Hj'pothese, nicht zum sicheren Gesetz zu kommen, so betrachtet er alles, auch das aiü" dem Wege genauer Beobachtung und strenger Kritik gewonnene, nicht als Thatsache, sondern als Meinungssache. Dies war beispielsweise der Fall mit der Thatsache von der gemeinschaftlichen Entstehung der Pflanzenarten und mit derjenigen von der Bedeutmigslosigkeit der klimatischen und Er- nährungseinflüsse auf die Entstehung der Varietäten, die ich beide hinlänglich begründet zu haben glaube^), und die ein unbefangener und gewissenhafter Beobachter leicht prüfen und bestätigen kann. 1) Ueber den Einfluss der äusseren Verhältnisse auf die Varietätenl)ildung im Pflanzenreiclie. Sitzungsber. d. niatli.-i)liys. Classe d. k. bayr. Acad. d. Wiss. zu München, 18. Nov. ]8()5. Das gesellschaftliche Entstehen neuer Species. EbendaseU.)st 1. Febr. 1873. 8 Einleitung. Diese Thatsachen fügten aber dem ganzen Meinungsgebäude der Abstammungslehre, wie es jetzt bestellt, den schwersten Schaden zu und konnten daher von demselben auch nicht Ijerücksichtigt werden, ohne sich selber aufzugeben. Sie wurden daher stillschweigend ad acta gelegt, — in gleicher Weise wie die neuen mikroskopischen und entwicklungsgeschichtlichen Thatsachen des dritten und vierten Decenniums unsers Jahrhunderts von einem berühmten Naturphilo- sophen, in dessen System sie nicht passten, mit den Worten beseitigt wurden: »Das kann ich nicht l)rauchen.« Die Physiologie, die Physik des Organisclien, geht einen anderen Weg. Die Entstehung der Organismen ist, wie jedes naturwissen- scliaftliche Gebiet, nach ihren Bestandtheilen und Beziehungen ein unendliches Feld. Die exacte Forschung sucht darin einzelne That- sachen (Gesetze) festzustellen, wobei sie sich sowohl der Beoljachtung des Einzelnen und der Induction als der Deduction aus allgemeinen formalen oder realen Gesetzen bedient. Jede Tliatsache muss für sich begründet werden und durchaus unabhängig von irgend welchen Meinungen sein ; dadurch erlangt sie eine unveränderliche Beständig- keit, mao; die Lehre als Ganzes noch so sehr Gestalt und Aussehen wechseln. Solche Thatsachen bilden einen Stock von sicheren Errungen- schaften, die nicht mehr verloren gehen und die mit jeder neuen gründ- hclien Arbeit sich vermehren. An sie mögen sich, von ihnen bestimmt und begrenzt, die Hypothesen anlehnen, soweit es der Wissenstrieb verlangt ; da dieselben uns bloss Wahrscheinlichkeiten und Möglich- keiten geben, so bilden sie das vergängliche und veränderliche Gut der Lehre. A^orliegende Abhandlung hat nicht den Zweck, die Abstammungs- lehre mit Rücksicht auf ihren sicheren thatsächlichen Inhalt über- haupt zu besprechen. Sie will vorzugsweise bloss untersuchen, ob und inwiefern in dem letzteren bereits mechanisch-physiologische Prin- cipien zur Anwendung zu gelangen vermögen. Und da die Mechanik des Organischen fast ausschhesslich auf moleculari)liysiologischem Gebiete sicli bewegt, so muss sie, soweit es möglich ist, die Er- scheinungen auf dieses Gebiet zurückführen. Die wissenschaftliche Betrachtung eines Dinges fi'agt zuerst, wie es ist, und nachher warum es ist. Die Erkenntniss ist be- endigt, wenn es als die noth wendige Folge bestimmter Ursachen Einleitung. 9 sich nachweisen lässt. Dieses ursächliche Erkennen nennen wir im Gebiete des Stofflichen auch ein meclianistisches, weil jede natürliche Erscheinung durch Bewegungen zu Stande kommt und weil die Mechanik die Bewegungen bestimmt, welche unter dem Einfluss von Kräften erfolgen. Eine Naturwissenschaft nähert sich daher um so mehr der Vollkonnnenheit , jemehr die mecliu- nischen Principien in ihr Anwendung finden. Die Ijeschreibenden Naturwissenschaften können zwar, besonders wenn sie sicli der streng genetischen oder entwicklungsgeschicht- lichen Methode bedienen und jeden Zustand mit dem ihm un- mittelbar vorausgehenden und mit dem unmittelbar nachfolgenden zusammenhalten, eine grosse Vollständigkeit im beobachtenden oder messenden Erkennen erreichen. Aljer dabei mangelt ihnen immer noch die höhere Weihe des ursächlichen Wissens, welches das Geschehen als ein noth wendiges erkennen soll. Wir müssen es daher als ein besonders befriedigendes Ereigniss begrüssen, wenn es gelingt, in eine bisher rein beschreibende Wissenschaft ein mechanistisches Element einzuführen und sie dadurch den exacten Wissenschaften zu nähern. Die Abstammungslehre beruht, im Gegensatz zur Schöpfungs- lehre, als allgemeine Wahrheit selbst aiü' dem allgemeinsten mecha- nischen Princip, auf dem Causalgesetz oder dem Gesetz der Er- haltung von Kraft und Stoff. Die Entstehung der organischen Welt aus der unorganischen ist eine Gewissheit, sofern alles in der endlichen Welt nach Ursache und Wirkung zusammenhängt, und somit auf natürlichem Wege zu Stande kommt. Wie ferner jedes Zusammengesetzte auf natürlichem Wege ursprünglich nur aus dem nächst Einfacheren entstehen kann, so kann auch das zusammen- gesetzte Organische nur aus dem einfacheren Organischen hervor- gehen, und dies um so gewisser, als alle zusammengesetzteren oder sogenannt höheren Organismen in ihren ersten Entwicklungsstadien für sich allein nicht existenzfähig sind, sondern einen mütterlichen die Ernährung besorgenden Organismus voraussetzen. Es vermögen daher nur die allereinfachsten und niedrigsten Organismen sich unmittelbar aus dem Unorganischen zu gestalten, und alle üljrigen müssen in allmählicher Stufenfolge aus ilnien sich entwickeln. Innerhalb dieser allgemeinen Thatsache der natürlichen Al)- stammung war früher aller Inhalt der Abstanmiungslehre hypo- 10 Einleitung. thetischer Natur, du selbstverständlich für ein längstvergangenes Geschehen das ]x!ol:)aclitcnde genetische Verfahren unmöglich ist, und bloss durch Analogieschlüsse grössere oder geringere Wahrscheinlich- keit begründet werden kann. In das Feld der Hypothesen hat Darwin ein mechanisches Princip eingeführt, indem erzeigte, dass eine Reihe von Erscheinungen in den organischen Reichen die noth- w^endige Folge einer bestimmten Ursache ist. Dieser That verdankt die Abstammungslehre den ungeheuren Aufschwung, den sie auf einmal nahm. Das Darwin 'sehe Princip aber ist folgendes: Da bei der starken Vermehrung, welclie allen Organismen von Natur eigenthümlich ist, fortwährend eine grosse Zahl von Individuen als Keime oder in späteren Ent\vicklungsstadien zu Grunde gehen muss, so bleiben nur diejenigen erhalten, welche in der Gesammt- heit ihrer Eigenschaften sich als die lebensfähigeren erweisen. Der jeweilige Bestand der organischen Reiche an Sippen^), der unter den gegebenen äusseren Verhältnissen ein Gleichgewichtszustand ist, kann nur geändert werden, wenn neue existenzfähigere Sippen in die Gesannntheit eintreten und durch theilweise oder gänzliche Verdrängung bisheriger Sippen sich Raum schaffen. Jede einzelne Sippe kann nur durch eine allen Umständen angepasstere, eine in- dividuelle Eigenschaft nur durch eine dem individuellen Träger oder der Sipj^e nützlichere ersetzt werden. Dieses Princip erklärte, wenn einmal die natürliche Abstannnung der Organismen aus einander feststand , im allgemeinen das Ver- hältniss der Sippen zu einander und die Gliederung der Reiche durch Lückenbildung, wie sie uns in der Natur entgegentritt. Darwin begnügte sich ahüv nicht mit dieser Errungenscliaft, die für immer sein Verdienst l)leil)en wird ; vielmehr glaul)te er aus dem Princif) der Verdrängung des weniger Befähigten dm'ch das Befähigtere einen noch viel weiter gellenden Schluss ziehen zu können. Er glaubte darin das treibende Moment zu finden, welches die Entwicklungsreihen 1) Es maivj;<'lt in der Wissenschaft ein Wort, welches kurz das, was ich früher »systeinutisclie Einheit« genannt habe, also eine grössere oder kleinere Zahl von verwandten Organismen, bezeichnete. Man gebraucht dafür wohl die Ausdrücke »Form« oder »Grupite« oder selbst vArt« ; dieselben werden aber oft zweideutig und für Zusammensetzungen unbiaucbbai'. Unter Sippe verstehe ich also jede systematische Einheit : Kasse, Varietät, Art, Gattung, Ordiumg, Classe. Einleitung. 1 1 der organischen Reiche von den niedrigsten und einfachsten zu den vollkommensten und comjjlicirtesten Formen emporführte. Die bekannte, als natürliche Zuchtwahl < l)ezeichnete Theorie, die auf einem kleinen und Ijeschränkten Felde der Beobachtung und Erfahrung gewachsen ist und dann durch Analogie auf grosse Ver- hältnisse übertragen wurde, ist folgende. Die Rasse eines Haus- thieres verändere sich nicht, wenn ungeliinderte Kreuzung der Individuen statt habe. In einzelnen Thieren beginne zwar immer eine geringe Veränderung, aber durch Vermischmig mit andern Individuen werde dieselbe mehr oder weniger aufgehoben und abgelenkt. Würden dagegen durch >; künstliche Zuchtwahl « nur diejenigen Individuen mit einander gepaart, in denen die nämliche Veränderung bemerkbar geworden, und würde dieses Verfahren in den folgenden Generationen wiederholt, so gehe die Verändermig ungehindert weiter und könne überhaupt so weit gefülirt werden, als es die Natur der Dinge erlaube. Man erzeuge eine neue Rasse. Das nämliche müsse im natürlichen Zustande geschehen, wenn die Concurrenz imd die gegenseitige Verdrängung eine »natürliche Zuchtwahl« treife, indem alle Individuen, in denen eine für die ISIitbewerbung nützliche Eigenschaft nicht vorhanden oder in ge- ringerem Grade entwickelt sei, vernichtet und somit von der Paarung und Fortpflanzung ausgeschlossen werden. — Ich werde später einen besonderen Aljschnitt der Besprechung dieser als Dar- winismus bekannten Theorie widmen und bemerke hier vorläufig folgendes über das Princip derselben. Die natürliche Zuchtwahl setzt, wie jede Theorie über die Ent- wicklung der organischen Reiche, die individuelle Veränderung voraus. Letztere ist Thatsache, denn die höheren Organismen können aus den niedrigsten , spontan entstandenen nur dadmch hervorgegangen sein, dass die Individuen in den auf einander folgenden Generationen sich veränderten. Die individuelle Veränderlichkeit kann nun aber in verschie- dener Weise aiü'gefasst werden und zwar sind zwei Möglichkeiten denkbar. Entweder hat sie eine ganz beliebige, eine richtungslose Beschaffenheit, oder sie zeigt einen bestimmten Charakter. In dieser Beziehung ist vor allem ein Punkt von Wichtigkeit, nämlich ob die Veränderung rücksichtlich der einfacliercn und zusannnengcsetzteren 12 Einleitung. Organisation sicli indifferent verhalte oder nielit. Im einen Fall können die Generationsreilien ebenso wohl nach oben als nach unten, im anderen Fall müssen sie ausschliesslich oder vorzugsweise nach oben sich ansl)ilden. Ich will die Veränderung nach olien zum Zusammengesetzteren als positiv, diejenige nach unten zum Einfacheren als negativ be- zeichnen. Wir können uns nun eine deutliche Vorstellung von beiden Möglichkeiten machen, wenn wir einen phylogenetischen Stamm durch eine unendliche Reihe von Generationen, ohne Ein- fluss der Zuchtwahl, sich entwickeln lassen. Unter diesen Voraus- setzungen geben in dem ersten der genannten zwei Fälle bei einer unendlichen Menge von Veränderungen die positiven Schritte die gleiche Summe wie die negativen ; die beiden Summen heben sich auf und der Stamm ist nach unendlicher Zeit genau so organisirt wie im Anfang. Im andern Falle werden bloss Schritte mit positiven Vorzeichen gemacht, oder dieselben überwiegen nach Zahl und Grösse, so dass am Ende einer hinreichend langen Generationen- reihe die positive Sunune grösser ist als die negative; die End- glieder der Reihe haben also eine complicirtere oder höhere Organi- sation als die Anfangsglieder. Die beliebige oder richtungslose Veränderung der Individuen wäre denkbar, wenn sie durch äussere Einflüsse (Nahrung, Tempe- ratur, Licht, Elektricität, Schwerkraft) bedingt würde. Denn da diese Ursachen offenbar in keine bestimmte Beziehung zu der mehr oder weniger zusammengesetzten Organisation sich bringen lassen, so müssten sie bald einen positiven, bald einen negativen Schritt bewirken. Wenn aber die Ursachen der Veränderung innere, in der Beschaffenheit der Substanz gelegen sind, so verhält sich die Sache anders. Dann muss die bestimmte Organisation der Substanz einen maassgebenden Einfluss auf ihre eigene Veränderung ausüben, und dieser Einfluss kann, da die Entwicklung zu unterst beginnt, nur in der Richtung nach oben sich geltend machen. Ich habe dies früher das Vervollkommnungsprincip genannt, unter dem Vollkommneren die zusammengesetztere Organi- sation verstehend. Minder Weitsichtige haben darin Mystik finden wollen. Es ist aber mechanischer Natur und stellt das ßeharrungs- p;esetz im Gebiet der oroanischen Entwicklung dar. SoM'ie die Ent- o r^ 6« abgedi-uckt wurde. IQ Einleitnwg. »Wie überhaupt keine natürliche Erscheinung, so kann auch die Art nicht in vollkommener Ruhe beharren. Gleichwie die Nach- kommen des ersten Individuums von demselben etwas verschieden waren, so mussten auch die Keime, die sie erzeugten, in etwas von denen abweichen, aus denen sie selber hervorgingen.' Es musste die Veränderung perennirend werden ; und diese Veränderung kann nicht anders als zuletzt den Untergang der Art oder den Uebergang in eine andere herbeiführen. « Endlich : »Wir müssen uns also die Verwandlung der Pflanzenarten zugleich in der bestimmten Form einer Vervollkommnung, einer höheren Organisirung derselben denken. Eine Art, die sich in eine andere umändert, erscheint in ihr nicht l)loss mit allen ihren Attributen, sondern fügt noch ein neues Merkmal hinzu, und erhel>t sich zu etwas Höherem. Die frühere Art tritt also in der folgenden als vorletztes Entwicklungsstadiüm auf, über das hinaus diese sich zum entwickelten Zustande erhebt. Eine Bestätigung von Seite der Erfahrung liegt in der Thatsache, dass manche vorweltliche Thiere den Jungen jetzt lebender Thiere ähnlich, wiewohl viel grösser waren u. s. w.« — Dal^ei wurde auf eine Analogie mit der Rassenbildung hingewiesen, in der gleichfalls eine Steigerung in der Veränderung statt habe. Die Organismen unterscheiden sich nicht bloss darin von ein- ander, dass die einen einfacher, die anderen complicirter organisirt sind, sondern auch darin, dass die auf gleicher Organisationsstufe stehenden in ihren Functionen und in ihrem Bau ungleich ausgebildet sind, was vorzugsweise mit der Verschiedenheit gewisser äusserer A^er- hältnisse zusammenhängt und daher als Anpassung bezeichnet wird. Die Anpassung bewirkt auf jeder Organisationsstufe die für bestimmte Umgebungen vortheilhafteste Ausprägung der durch die inneren Ur- sachen erzeugten Haupttypen. Für eine solche Ausbildung ist eine bewirkende Ursache er- forderlich; ich werde später die Natur derselben besprechen. In manchen Fällen wird diese Ursache bis zur vollendeten Anpassung wirken müssen. In anderen Fällen wird es genügen, dass unter ihrem Einfluss die Veränderung in einer bestimmten Richtung ent- schieden beginnt und sich zum fortbildungsfähigen Anfange ge- staltet. Alsdann geht die Ausbildung mit mechanischer Nothwendig- keit in der eingesclüagenen Richtung fort. Denn wenn vermöge des Einleitung. 17 geschaffenen Anfanges eine Generation Nachkommen erzengt, die in einer Beziehung über sie selber hinausgehen, so müssen nach dem Beharrungsgesetz die Naclikommen dieser Nachkommen um einen weiteren Grad verändert sein, und die Ausl)il(huig muss so weit gehen, als es die Natur der A^erhältnisse erlaubt. Wir haben also als mechanische Ursachen für die Entwicklung der organischen Reiche die Beharrung in der Vervollkommnung vom Einfacheren zum Zusammengesetzteren und ferner (voi'l)elialtlich der späteren Erörterung) die bestimmten Wirkungen der äusseren Ein- flüsse auf die Anpassung. Wir können den Erfolg dieser mecha- nischen Principien mit demjenigen der natürlichen Zuchtwahl in Darwin's Sinne am besten vergleichen, wenn wir uns die Gon- currenz und Verdrängung abwechselnd mangelnd und vorhanden denken. C'oncurrenz und \\irdrängung hätten für das Pflanzenreich ganz gemangelt, wenn von dem Beginne desselben die Erdoberfläche stets in dem Maasse sich vergrösserte, als die Individuen an Zahl zu- nahmen, und wenn das Thierreich nicht vorhanden war. Denn jeder Keim konnte nun, da er Nahrung und Raum in hinreichender Menge vorfand, ungehindert sich entfalten. War unter dieser Vor- aussetzung die individuelle Veränderung richtungslos, so konnte die Entwicklungsl)ewegung, da sie in positiven und negativen Schritten hin und her schwankte, nicht von der Stelle kommen und das Pflanzen- reich blieb fortwährend in seiner Gesammtheit auf der Stufe der ersten nackten oder mit Mem]:)ran umhüllten Plasmatropfen. Nur die Concurrenz mit Verdrängung ist, bei richtungsloser individueller Veränderung, im Stande, die Organismen auf eine höhere Stufe zu bringen, indem diejenigen, welche einen Schritt nach oben, nach einer complicirteren Organisation gemacht haben, vor den andern, die still standen oder einen Schritt im negativen Sinne zurücklegten, im Voi-theil sind und dieselben verdrängen. Die Concurrenz ist also im Darwin'schen Sinne zugleich Sippen bildend und Sippen scheidend. Wurde aber unter obiger Voraussetzung einer ungeliemmten Entwicklung aller Keime die individuelle Veränderung durch me- chanische l*rincipien bestinnnt, so bildeten sich alle Pflanzen- formen, die jetzt bestehen, und sie würden jetzt ebenso neben einander leben, wie es in Wirklichkeit der Fall ist. Aber es kämen unter V. Nägeli, Abstammungslehre. 2 \ g Einleitung. ihnen noch andere Pflanzenfornien in unendhcher Menge vor, nämhch alle die Ahkünnrdinge der verdrängten und ausgestorbenen Reihen. Tritt in dem Reiche der bestimmt gerichteten Vervollkommnungs- und Anpassungsveränderung Concurrenz mit Verdrängung ein, so ist sie sippenscheidend und sippenumgrenzend, aber nicht sipj^enbildend. Kein einziger phylogenetischer Stamm verdankt ihr das Dasein, aber die einzelnen Stämme treten durch ^Verdrängung der zwischen- liegenden deutlicher und charakteristischer hervor. Ohne Concurrenz wäre das Pflanzenreich wie der Nebel der Milchstrasse, durch sie ist es zum Firmament mit hellleuchtendon Sternen geworden. Noch besser können wir das Pflanzenreich einem grossen von der Basis an verzweigten Baume vergleichen, an welchem die Enden der Zweige die gleichzeitig lebenden Pflanzenformen dar- stellen. Dieser Baum hat eine ungeheure Triebkraft, und er würde, wenn er sich vmgehindert entwickeln könnte , ein unermessliches Buschwerk von zahllosen verworrenen ^''erzweigLmgen sein. Die Verdrängung schneidet als Gärtner ihn fortwährend aus, nimmt ihm Zweige und Aeste und gibt ihm ein gegliedertes Aussehen mit deutheh unterscheidbaren Theilen. Kinder, die den Gärtner täglich an der Arbeit sehen, könnten wohl meinen, dass er die Ursache sei, warum sich Aeste und Zweige bilden. Gleichwohl wäre der Baum, ohne die ewigen Nergeleien des Gärtners, allein noch viel weiter o-ekommen, zwar nicht an Höhe, wold aber an Umfang, an Reich- tlnnn und Mannigfaltigkeit der Vei-zweigung. In der Vervollkommnung (Progression) und Anpassung liegen die mechanischen Momente für die Bildung des Formenreichtliums, in der Concurrenz mit Verdrängung oder in dem eigentlichen Darwinismus nur das mechanische Moment für die Bildung der Lücken in den beiden orga- nischen Reichen. Zur Begründung der mechanischen Principien will ich die; wiclitigstcn darauf Ijezüglichen Punkte der Abstammungs- leln-e besprechen, und da die Mechanik des organischen Lebens fast ausschliesslich nicht auf Massenbewegungen, sondern auf Bewegungen der kleinsten Theilchen beruht, so nuiss ich mich demgemäss vor- zugsweise auf das molecularphysiologische Gebiet begeben. Die Physiologie iial iihrigens um so eher Veranlassung, die Lösung des Räthsels auf diesem uiisielitbaren Gebiete zu unternehmen, als schon Einleitung. 1 9 zwei iNTal der näniliebe Weg von Nichtpliysiologen, von Darwin 1111(1 von Häckel, versucht wurde. Wenn es sieli iiiii Dinge handelt, die sicli der uniiiittell)aren Beobachtung entziehen, so l)e.stelit die Aiil"gal)e der Wissenscliat't darin, Hypothesen zu finden, welche das Unbekannte erklären und die mit keiner der bekannten Thatsachen in Widerspruch .^^iiid. Lassen sieh mehrere solcher Hypothesen aufstellen, so krtniicn die- sellien vorerst bloss nach ihrem Wahrscheinlichkeitsgrad mit einander verglichen werden, bis die Forschung neue Thatsaclien aufdeckt, welche die eine oder andere unmöglich machen. Die Hv])otliese wird zur Gewissheit, wenn sie als die allein mrigliche und das Gegentheil als unmöglich dargethan werden kann. Eine molecularphysiologische Hypothese muss mit den Gesetzen und Thatsachen der Physik, der Chemie und der Physiologie in Uebereinstimmung sein. Glücklicherweise ist der Rahmen, in welchem sich die m()glichen Hypothesen der Abstammungslelire bewegen, enge begrenzt. Im allgemeinen erweist sich nur eine einzige als möglich, nämlich die, dass das Wesen der Organismen in der Be- schaffenheit und Anordnung der kleinsten Theilchen derjenigen Sul »stanz bestehe, welche die Vererbung bei der Fortpflanzung und die specifische Entwicklung des Individuums bedingt. Diese Hypo- these oder \aelmehr, da sie die auf realem Boden einzige Möglichkeit ist, diese allgemeine Thatsache bildet, wenn sie auch bei der Aus- führung im besondern verschiedene Möglichkeiten erlaul)t, die sichere Grundlage, auf der sich bestimmte mechanisclie ^'^orstellungen ge- winnen lassen. — Ich werde daher vorzüglich folgende Punkte der Descendenzlehre besi^rechen : Das Wesen der in der organisirten lebenden Sul)stanz liefind- lichen unsichtbaren Anlagen für die sichtliaren Erscheinungen des entwickelten Zustandes. Die Entstehung der organisirten lel)endeii Suljstaiiz aus den unorganischen Verbindungen. Die durch die Natur der organisirten Substanz hedingicn inneren Ursachen der phjdogenetischen Veränderung und der iMnlhiss (U'r äusseren Ursachen auf diese Veränderung. Die Entstehung und Ausbildung der in der organisirten Sub- stanz enthaltenen unsichtbaren Anlagen und deren Entfaltung zu sichtbaren Erscheinungen. 2* 20 Einleitung. Die Veränderung der organisirten Sul^stanz, welche zur Rassen- bildung, und diejenige , welche zur Varietäten- und Artenbildung führt. Die irrthümliche Folgerung von der Rassenl)ildung auf die Artenbildung in der Hjqwthese von der natürlichen Zuchtwahl. Die Entmcklungsgesetze des Pflanzenreiches. Idioplasma als Träger der erblichen Anlagen. Die Beurtlieiliing und Vergleichung der Organismen gründet sich auf die Merkmale, die wir an ihnen wahrnehmen. Die Beolj- achtung in dieser Beziehung hat immer grössere Fortschritte ge- macht; sie ist von der äusseren Gestalt zum Aufbau aus den Or- ganen, zur Zusammensetzung aus Zellen, zu den Bestandtheilen der Zellen, zur chemischen Zusammensetzung, — von der Formliildung und Zusammensetzung zur physiologischen Verrichtung, — von dem fertigen Zustand zu der Entwicklungsgeschichte desselben aus der ersten Zelle fortgeschritten. Damit hat die Erkenntniss der Organismen an Umfang und Sicherheit ungemein zugenommen. Dennoch sind uns noch viele Eigenschaften verborgen , und unter diesen befinden sich gerade die wichtigsten, vor allem die cliemische und physikalische Beschaffenheit der kleinsten Theilchen, ihre Zusammenordnung und die Kräfte, mit denen sie aufeinander wirken. Trotz der grossen Fortschritte bleibt daher die Erkenntniss der Organismen immer noch sehr unvollständig und ol)erflächlicli. Die Vergleichung der Organismen unter einander leidet aber nicht bloss unter der mangelhaften Kenntniss, sondern überdem unter dem Umstände, dass in Folge der ungleichen Organisation ein gemeinschaftliches Maass, das uns genau den Werth und damit den richtigen Unterschied angeben würde , mangelt. Wir können beispielsweise den Pilz, das Farrenkraut, den Tanncnl)aum und den 0])stbaum nicht anders vergleichen, als dadurcli, dass bei der einen rtlanze ein Merkmal vorhanden ist, ho\ der andern nicht, und dass 22 I- I Plasma <= der Thierphysiologen und das unlösliche »Proto- plasiiuu< hilden l)einahe immer eine Mischung, in welcher die einzelnen Theile nicht zu trennen sind, hli nenne sie Plasma, und unterscheide, sofern es nothig wird, lösliches und uulOsUches Plasma oder Hygro- und t>tereoplasmu. 24 I- I'lioplasma |)criode durch alle Theile des Organismus vertheilt ist, hat also an jedem Punkte etwas andere Eigenschaften, indem es Ijeispielsweise bald einen Ast, bald eine ßlüthe, eine Wurzel, ein grünes Blatt, ein Blumenblatt, ein Staubgefäss , eine Fruchtanlage, ein Haar, einen Stachel bildet. Bei der Fortpflanzung vererljt der Organismus die Gesammtheit seiner Eigenschaften als Idioplasma. In der Keimzelle sind die Merkmale aller Vorfahren als Anlagen eingeschlossen. Aber die verschiedenen Anlagen haben rücksichtlich der Aussicht auf Ent- faltung eine sehr ungleiche Bedeutung. Während die einen stets und ausnahmslos zur Entwicklung gelangen, l)leiben die andern unter bestimmten Verhältnissen unentwickelt. Beim Generationswechsel z. B. treten gewisse morphologische und physiologische Eigenschaften nur in bestimmten Generationen auf, während sie durch hundert folgende Generationen im Anlagezustand verharren. Es gibt Merkmale, die nur unter günstigen äusseren Einflüssen sich ver- wirklichen, und während der Zeit von Erdperioden latent bleiben, weil diese Einflüsse mangeln'). Manche Anlagen befinden sich gegen- seitig im Zustande der Correlation oder der Ausschliessung, so dass die Entfaltung der einen Anlage die der andern bald veranlasst, bald verhindert. Es gibt nicht nur fertige Anlagen, die jederzeit fähig sind sich zu entwickeln , sondern auch unfertige, entstehende und ver- schwindende Anlagen. Eine Anlage kann durch eine Reihe von Generationen an Stärke aljnehmen und zuletzt so schwach werden, dass sie sich nicht mehr zu entfalten vermag. Umgekehrt kann sie durch eine Reihe von Generationen an Stärke zunehmen und zuletzt so intensiv werden, dass sie entweder von selbst oder durch einen besonderen Anstoss von aussen in den manifesten Zustand über- geht. Zu den Ursachen, welche Anlagen von geringerer Stärke (noch im Entstehen oder schon im Verschwinden begxiffene) zur Entwicklung veraidassen, gehch't namentlicli die Kreuzung. An- lagen, die schon längere Zeit latent gebUeben sind, kommen über- haupt leichter zur Entfaltung bei der Fortpflanzung durch Befruch- 1) Ich nenne als Beispiel einige Alponliieracien, welche V)ei der Cultur im (larten an den zweiton (Sommer-) Trieben jedes Jahres eine merkwürdige Ab- weielumg in der Verzweigung zeigen. In den Alpen ))ilden sieh wegen der kurzen Vegetationszeit nur Frülijalu-striebe; die Sommertriebe kommen nie zur Enti'altung. als Träger der erblichen Aulagen. 25 tung, Avo zwei verschiedene individuelle Idioplasmen sich ver- mischend den Keim l:)ilden, als bei der ungeschlechtlichen Ver- mehrung. Ich erinnere an diese Thatsachen, um die unendliche Mainiig- faltigkeit in der Beschaffenheit des Idioplasmas klar vor Augen zu legen. Nicht nur gi])t es, wenn wir Ijloss das Pflanzenreich in seinem jetzigen Bestände und hier wieder bloss die Eizellen berück- sichtigen, also die Anlagen für die Organe vernachlässigen, weit mehr als eine Million von verschiedenen Keimen für alle Sippen (Species und Varietäten), sondern in jeder Sippe wieder Billionen von verschiedenen Keimen für alle jetzt lebenden und früheren Individuen. Diese unendliche Mannigfaltigkeit ist in winzigen Tröpf- chen von Idioplasma verwirklicht, welche durch das Mikroskop, durch chemische und physikalische Hilfsmittel nicht von einander zu unterscheiden sind. An der Keimanlage seliger ist nicht die Masse, sondern nur die Beschaffenheit einer kleinen wirksamen •Partie von Idioplasma das Entscheidende, denn die väterliche und mütterliche Erbschaft ist ungefähr gleich gross, obgleich der Vater zm^ befruchteten Eizelle bloss den hundertsten oder tausendsten Theil beigetragen hat. Die Beschaffenheit des Idioplasmas wird durch seine moleculare Zusammensetzung bestimmt. Besonders muss die Zusammenordnung der kleinsten Theilchen (Micelle) mit den eigenthümlichen Be- wegungen und Kräften, die dadurch bedingt sind, maassgebend sein. Es ist ferner wahrscheinlich, dass einer reicheren morphologischen Gliederung und grösseren Arbeitstheilung im entwickelten Zustande auch eine zusammengesetztere Anordnung der kleinsten Idioplasma- theilchen, welche zu Schaaren niederer und höherer Abtheilungen zu- sammengestellt sind, entspricht, während die niedersten Organismen, die zeitlebens einfache Plasmatropfen biedren, eines sehr wenig aus- gel)ildeten, fast ungeordneten oder vielmehr ganz einfach geordneten ](li(tplasnias l)C'dürfen. Um durch ein Bild meine Meinung anschau- licher zu machen, möchte ich das einfach geordnete Idioplasma der niederen Organismen einer wenig disciplinirten Truppe vergleichen mit losem Verbände, wie sie im Mittelalter unter iln-em Feldhaupt- mann in den Kam})f zog, — das com|)licirt geordnete Idioplasma da- gegen einer regelmässigen Armee , in der die verschiedenen 01)er- und Unterabtheilungen einem einheitlichen Plane folgen, sodass jede 26 I- ItliopUisma bis lieruntor auf den einzelnen Mann in bestimmter Beziehimg zu den übrigen und zum Ganzen steht, selbstverständUch mit dem Unter- schiede, dass das einigende Band nicht in Ober- und Unterbefehls- habern, sondern in den (anziehenden und abstossenden) Beziehungen der einzelnen Theilchen unter einander besteht. Das Idioplasma des Keimes wäre somit gleichsam das mikro- kosmische Abbild des makrokosmischen (ausgewachsenen) Indivi- duums; es wäre nach Maassgabe, als dieses aus Organen, Gewel)s- systemen und Zellen aufgeljaut ist, aus Schaaren von Micellen zusaimnengesetzt , welclie zu höheren Einheiten verschiedener Ord- nungen verbunden sind und die Anlagen für jene Zellen, Gewebs- systeme und Organe darstellen. Damit soll aber selbstverständlich nicht gesagt sein, dass die Micelle des Idioplasmas etwa den Zellen des ausgebildeten Organismus entsprechen und eine analoge An- ordnung besitzen. Diese beiden Anordnungen sind im Gegentheil grundverschieden, wie ich später noch darthun werde. Wenn ich die Eigenthümlichkeit des Idioplasmas vorzüglich in die Zusammenordnung der kleinsten Theilchen verlege, so geschieht es, weil dieser jedenfalls eine wichtige, wahrscheinlicli die Haupt- rolle zukommt, während wir ül)er die chemisclie Verschiedenheit bei der jetzigen mangelhaften Erkenntniss der Albuminate uns keine deutliche Vorstellung machen können. Die ungleiche Gestalt, Grösse und Zusannnenordnung der Idioplasmamicelle ergil)t allein schon zahllose Combinationen der wirksamen Kräfte und somit auch zahl- lose Verschiedenheiten in den dadurcli bedingten chemischen und plastischen Vorgängen der lebenden Substanz, welche ebenso viele Verschiedenheiten im Wachsthum, in der inneren Organisation, in der äusseren Gestaltung und in den Verrichtungen verursachen. Diese Mannigfaltigkeit in der Constitution des Idioplasmas wird aber noch unendlich gesteigert durch den Umstand, dass jedes Micell auch eine verscliiedene chemische Beschaffenheit hal>en kann. Jedenfalls muss eine weitgehende chemische Verschiedenheit vor- handen sciii, icli werde dies noch besonders besprechen. Vor allem ist es wichtig, sich eine Vorstellung ü])er das Ver- hällniss zu Itildcn, in welchem das Idioplasma zu den übrigen Sub- stanzen des Orgaiiisnnis steht, und da alle Bildungen von dem riasma (l'roloplasma) ausgehen, so ist zunächst die Frage, wie sich als Träger der erblichen Anlagen. 27 jenes zu diesem verbalte. Ich habe beide als verschieden ange- gcl)en, weil mir dies der einfachste mid natürlichste Weg scheint, mn die ungleichen Beziehungen der Plasmasul)stanzen zu den erb- lichen Anlagen zu begreifen, wie sie bei der geschlechtlichen Fort- pflanzung deutlich werden. An die befruchtete und entwicklungs- fähige Eizelle hat die Mutter hundert- oder tausendmal mehr Plasma- substanzen, in denselben aber keinen grösseren Antheil an erblichen Eigenschaften geliefert als der A'^ater. Wenn das unbefruclitete Ei ganz aus Idioplasma bestände, so würde man nicht begreifen, warmii es nicht entsprechend seiner Masse in dem Kinde wirksam wäre, warmn dieses nicht immer in ganz überwiegendem Grade der Mutter ähnlich würde. Besteht die spezifische Eigenthümlichkeit des Idioplasmas in der Anordnung und Beschaffenheit der Micelle, so lässt sich eine gleich grosse Erbschaftsübertragung nur denken, Avenn in den bei der Befruchtung sich vereinigenden Substanzen gleichviel Idioplasma enthalten ist, und der überwiegende Erbschaftsantheil, der bald von der Mutter, bald vom Vater herstanmien soll, muss dadurch erklärt werden, dass bald in der unbefruchteten Eizelle, l)ald in den mit derselben sich vereinigenden Spermatozoiden eine grössere Menge von Idioplasma sich befindet. Bestehen die Spermatozoide bloss aus Idio- l)lasma, so enthalten die nicht befruchteten Eizellen Ijis auf *J*J9 Pro- mille niclit idioplasmatisches Stereoplasma. Eine andere Betrachtung führt zu dem nämlichen Schluss. Wenn die Anordnung der Micelle die spezifischen Eigenschaften des Idioplasmas begründet, so nuiss das letztere eine ziemlich feste Sub- stanz darstellen, in welcher die Micelle durch die in dem lebenden Organismus wirksamen Kräfte keine Verschiebung erfahren, und in welcher der feste Zusammenhang bei der Vermehrung durch Ein- lagerung neuer Micelle die bestimmte Anordnung zu sichern vermag. Das gewöhnliche Plasma dagegen ist, so"\del wir von demselben wissen, ein Gemenge von fiüssigem und festem Plasma (Hygro- plasma und Stereoplasma), wobei die beiden Modificationen leicht in einander ül)ergehen und die Micelle oder Micellverbände der unlös- liclien Modification, wie dies für das strömende Plasma nicht anders angenommen Averden kann, sich mit grosser Leichtigkeit gegen- seitig verschieben. Dass aber das Idioplasma eine Substanz von zieuüich festem Gefüge sein muss und jedenfalls nicht gelöst sein kann, wird nicht 28 I- Irsu(li niitzutheilen, weil er am anschaulichsten zeigt, wie ich mir die Structur des Idioplasmas bezüglich des A'^erhaltens als Träger der er1)liclien Anlagen. 35 der verschiedenen Dimensionen 7ai einander denke. Eine gleichzeitige feste Anordnung in dun Querrichtungen ist für die veränderte Theorie ebenfalls nothwendig, weil die Anlagereihen sich in vielfacher Füh- lung mit einander l)efinden müssen, und weil dies nur (hirch den seitlichen C'ontact der Längsreihen mciglich ist, wol)ei die Micelle auch in Querreihen, welche nach der Breite und nacli der Dicke verlaufen, zu liegen kommen. Ehe ich die mögliche Structur des idioplasmatischen Systems weiter verfolge, will ich zunächst dariiul' liinweisen, dass in einer solchen Theorie niclit etwas Neues enthalten ist, das erst in die Physiologie eingeführt werden soll. Sie ist im Gegentheil nur einer bereits fest- stehenden analogen Structur anderer organisirter Körper nachgebildet. Jeder dieser Körper bestellt aus krystallini sehen Micellen (mikro- skoj)isch unsichtl)aren, aus einer grösseren oder kleineren Zahl von Molekülen l)estehenden Kry ställchen, von denen jedes im imbibirten Zustande mit einer Wasserhülle umgeben ist) ; aber jeder Körper ist mit Rücksicht auf seine Bestimmung, oder vielmehr mit Biicksicht auf die bei seiner Entstehung maassgebenden Ursachen eigenthümlich gebaut. Am regelmässigsten sind die Micelle in den Krystalloiden (krystall- älmlichen K(')rporn) der All)Uininate angeordnet, und zwar ziendich genau so wie die Moleküle oder Pleone (chemische Molekülverbin- dungen) in den Krystallen, nämlich in ebenen Micellschichten, die sich nach drei oder mehr Riclitungen kreuzen, und somit auch in geraden Micellreihen, die nach drei oder mehr sich kreuzenden Rich- tungen orientirt sind. — In den Amylodextriu sc li eibchen (Cylindro- kr^'stalloiden) liegen die aus Amylodextrin bestehenden Micelle in concentrischen Schichten von der Form von Cylindermänteln und in dazu rechtwinkligen ebenen Schichten , also in radialen , von der Cylinderaxe nach der Peripherie ausstrahlenden, zur Axe recht- winkligen Reihen und in mit der Axe parallelen Reihen. Was die Stärkekörner betrifft, so kann man in denselben im allgemeinen nur concentrische Micellschichten, die um den centralen oder excentrischen »Kern« verlaufen, und radiale, von dem Kern strahlenförmig au.sgehende Micellreihen unterscheiden; die Anordnung der Micellreihen in der Fläche der concentrischen Schichten ist un- bekannt. — Die Membranen freier kugeliger Zellen (z. B. Chroococcus) 3* 36 I. Idioplasma vcrluilten sicli ähnlicli wie Kngelsclialen von sphärischen Stärke- körnern, und diejenigen, welche die Seitenfläche freier cyhndrischer Zellen darstellen (z. B. Oscillaria, Spirogyra), ähnlich wie Cylinder- mäntel von Cylindrokrystalloiden. Im übrigen sind bei den Pflanzonzolhneml^ranon, wie sich ans Schichtung und Streifung ergi])t, die Micellschichten nach drei Dimensionen geordnet, von denen die eine, welche der Schichtung ents])richt, mit der Membranfläche parallel läuft, während die zwei anderen, den Streifensystemen entsprechend, sich unter beliebigen Winkeln kreuzen, zur Schichtung aber rechtwinklig stehen. Dem entsprechend gibt es auch drei Hauptsysteme von Micellreihen, zwei sich recht- oder schiefwinklig kreuzend, mit den Streifen gleichgehend und in der Fläche der Schichten verlaufend, und ein drittes, die Ixnden ersten und somit die Schichten rechtwinklig durchsetzend. Dieser Bau ist an grossen cylindrischen Zellen (Meerconferven, Charen), wo die einen Streifen meist der Länge nach, die andern der Quere nach verlaufen, ausserordentlich deutlich. Die Anordnung der Micellschichten in den Krystalloiden und den Cylindrokrystalloiden ist ausserordentlich regelmässig, bei den Stärkekörnern und Zellmembranen mehr oder weniger unregelmässig, indem die sichtbaren Schichten sich hin und wieder in zwei und mehr Blätter spalten. Dieser Erscheinung muss eine Verzweigung der Micellschichten und Micellreihen entsprechen. Besonders wichtig als Vergleich mit dem Idioplasma sind die Stärkekörner. Das Wachsthum der Stärkekörner findet genau so statt, wie es die diu'ch die genannten Kräfte bedingten Spannungen verlangen, (he sich (heoretisch aus den mechanischen Prämissen ableiten lassen^). Tritt friÜier oder später eine A])weichung von der ursprünglichen regelmässigen kugeligen Form und mathematisch concentrischen An- ordnung auf, so wird, wenn nicht äussere störende Einflüsse sich geltend machen, die Abweichung innner grösser, die Unregelmässig- k(!it und damit die Complicirtheit der Configuration wächst immer mehr. Dies steht ebenfalls in strenger Uebereinstimmung mit den mechanischen Forderungen. Die A])weiclumgen der Stärkek<)rner vom sphärischen Bau sind verschiedener Art. Diese s})ecifischen A^erschiedenheiten werden ') Nägel i. Die Stiirkckörner. 1858, S. 289. als Träger der erblichen Aulagen. 37 bedingt durcli die chemische Beschaffenheit des Zcllinhcdte,«<, wclclio auf die Bescliaffenheit, Gestalt und Zusunnnenlagorung der Micellc Einfluss ausüljt. Es sind gleichsam die Anpassungen der Stärke- körner, während die Ursache, welche die Abweichung vom sphäri- schen Bau Ijewirkt, eine allgemeine ist und allen Körnern zukommt. Die Stärkekörner geben uns ein Vorbild für das Idioplasma. Beides sind feste Micellsysteme , die frei im Zelleninhalte (in der Zellflüssigkeit oder im hall^flüssigen Plasma) liegen und durch Micell- einlagerung wachsen ; in l^eiden tritt der erste Schritt zur compli- cirteren Anordnung mit mechanischer Nothwendigkeit ein, und führt ebenso nothwendig zu immer w'eiter gehenden Schritten in der steigenden Complication der Configuration des Systems. Bei den Stärkekörnern aber halben wir es mit einer bekannten Anordnung zu thun, bei der sich die mechanischen Bedingungen der Einlagerung- genau angeben lassen, während bei dem idioplasmatiselien System uns der Charakter der Configuration noch verborgen bleibt. Wenn das Idioplasma so beschaffen ist, wie ich mit Rücksicht auf die Eigenschaften, die es nothwendig besitzen muss, vermuthet habe, so kennen wir seine Structur nur in der einen Dimensioi], nändich in derjenigen, in welcher sein ontogenetisches Wachsthum stattfindet. Wie ich bereits erwähnte, kann es im einzelnen Indi- viduum auf das Zehntausendfache, selbst auf das Millionenfache zunelnnen. Trotzdem behält es Ijei geschlechtsloser ^^ermehrung der Individuen (durch Stecklinge, Knollen, Pfropfreiser u. s. w.) während einer ganzen Reihe von Generationen so genau seine An- ordnung bis ins Einzelne, dass selbst die allerleichtesten individuellen Eigenthümlichkeiten, die sonst gar keinen Bestand haben, ohne die geringste A^'eränderung sich vererben. Ferner sind viele wildwachsende Pflanzen seit der Eiszeit auf den verschiedensten Standorten so gleicli geblieben, dass man sie nicht von einander unterscheiden kann ; — es ist dies eine Thatsache, auf die ich später noch wiederholt zurückkommen w-erde. Das Idioplasma dieser Pflanzen muss während dieses langen Zeitraums fast in unl^egrenztem Maasse zugenommen hal)en, ohne sich merkbar zu verändern. Diese Erscheinung scheint keine andere Erklärung zuzulassen als die, dass das Idio|)lasma strenge in ])arallelcn Reihen von festem Zusannnenhang geordnet ist, welche durch Einlagerung von Micellen 38 I. Idioplasina wuchsL'u und dabei fortwährend die gleiche Zusanimenorihiung he- ludten (Fig. 1, Längsschnitt durch eine Partie von Idioplasma). Da- durcli Ijleibt die Configuration des Querschnittes unverändert und in dieser Configuration ist ja die specifische ßeschatfenheit des Idio- plasnias entlialten. Würden eine oder mehrere Längsreihen chirch Störungen im Wachsthum bei loserem Zusammenhang sich theilen oder sich vereinigen , würde also die Zahl der Längsreihen beim Wachsthum zu- oder abnehmen, so wäre dadurch eine Aenderung in der Configuration dos idioplasmatischen Systems und damit auch eine Veränderunu' in den Merkmalen verursacht. DüGG nDGD gogg dgüo aOüo oOoo OOQÜ dOoo DÜD DGü DÜDn DGD^ DDG DD[ Fig. 1. Das Constantl)k'iben der Merkmale durch eine Folge von Gene- rationen verlangt, dass die Micellreihen des Systems während des ontogenetischen Wachsthums ihren strengen Parallelismus bewahren. Die Veränderung der Merkmale bei der j)hylogenetischen Entwickelung erfordert dagegen eine Vermehrung oder auch eine Uml)ildung der Micellreihen, ohne welche eine neue Anlage nicht in das idioplas- matische System sich einordnen kann. Die Art und Weise, wie wir uns die Fortbildung der Querschnitts- configuration im hlioplasma vorzustellen hal)en, hängt wesentlich mit der Art des Längenwachsthums zusammen. Würden die Längs- reihen an dem einen (oberen) Ende wachsen , so könnte ihre Ver- melu'ung als Verzweigung stattfinden (Fig. 2, wo a die neue Gruppe oder Anlage im Querschnitt gesehen darstellt). Diese Bildungsweise als Träger der erljlicheu AnlaKeii. 39 kommt aber ohne Zweifel nicht vor, denn sie entspricht wenig der Vorstellung, welche wir uns von dem micellaren Wachsthum über- haupt zu machen haben, und noch weniger den Eigenschaften, die wir im übrigen dem hlioplasma zuschreiben müssen, wie sich in der Folge noch ergeben wird. l I : 1 Fig. .•! 1 Fig. 4. Das Längenwachsthum der Micellreihen geschieht höchst wahr- scheinlich überall in der ganzen Länge durch Zwischenlagerung neuer Micelle, also intercalar (Fig. 5, Längsschnitt; die neuen Micelle ildnng der Micellreihen zur Erzeugung von neuen Anlagen statt, so müssen die sich einlagernden Micelle eine etwas andere Natur besitzen. Dann wird die Reihe nach und nach ihren ("harakter verändern. Man kann in diesem Falle von einer Differenzirung der Substanz des Idioi^lasmas sprechen, insofern in einem Complex ursprünglich gleichartiger Reihen die einen sich so, die andern sich anders umbilden. Mag die Lildung der neuen Anlagen durch Einschaltung von Micellreihen oder durcli Umbildung der schon vorhandenen er- folgen, so kann man dieselbe innnerhin so langsam oder so rasch, als es erforderlich ist, sich vorstellen, so dass also auch die zeit- liclieii Lcdingungen in jeilcr Hinsieht sicher gestellt sind. — Der als Träger der erbliehen Anlagen. 41 einfachste, bei den niedrigsten Organismen vorkommende Bau des Idioplasmas bat die geringste Zabl von differenten Reihen; ihre Zald vermehrt sich mit der comphcirteren Einrichtung der höheren Organismen immer mehr. Das Idioplasma besteht also eigenthch aus strangförmigen Körpern, welclie während jeder ontogenetischen Periode mit dem Wachsthum des Individuums stetig sich verlängern. Ferner müssen die Idioplasmastränge, da alle erblichen Vorgänge chemischer und plastischer Natur durch sie geregelt werden, überall im Organismus, selbst an den verschiedenen Stellen jeder Zelle gegenwärtig sein, und ebenso muss, wie sich bei Betrachtung der phylogenetischen Veränderung ergeben wird, eine Communication zwischen den in ver- schiedenen Theilen eines Organisnuis befindlichen Idioplasmapar- tien statt finden. Es ist daher eine kaum von der Hand zu weisende Annahme, dass das Idioplasma durch den ganzen Organismus als zusammenhängendes Netz ausgespannt sei; dasselbe wird in den Zellen selbst je nach der Beschaffenheit derselben eine verschiedene Gestalt annehmen, in den grösseren Pflanzenzellen aber gewöhnlich innerhalb der Meml^ran die Oberfläche überziehen, ferner auch häufig durch den Zellraum verlaufen und besonders auch im Kern zusammengedrängt sein ! Der in Pflanzenzellen so häufig vorkom- menden netzförmigen xVnordnung des Plasmas und der netzförmigen Beschaffenheit der Kernsuljstanz liegt wahrscheinlich das Idio})lasma- netz zu Grunde. Dieses Netz lässt sich, wie ich vorläufig ])emerken will, in doj)pelter Art denken, entweder als ununterbrochene, netzförmig anastomosirende Stränge, oder als Strangstücke von begrenzter Länge, die netzförmig zusammengeordnet sind. Im ersten Falle muss angenommen werden, dass zwischen den durch Längenwachs- thum sich streckenden Strängen A^erl)indungsstränge gebildet werden, im zweiten Fall, dass die sich verlängernden Stränge fortwährend sich theilen und neu anordnen. Ich habe die strangförmige Natur des Idioplasmas aus dem Grunde angenommen, weil sie allein uns alle Erscheinungen, die wir von ihm kennen, zu erklären vermag. Eine ganz andere Ueber- legung scheint zu dem nämlichen Ziele zu führen. Die Vermehrung der Zellen geschieht in der Hauptsache durch Tlieilung, indem die andern \\'rmehrungsarten, die im Lauh' der Generationen mit der 42 I- Idiopliisina Theilung abwechseln, niimuriscli ganz zurücktreten. Jeder Zell- tlicilong geht eine Streckung voraus, bei welcher das weichere Er- näln'ungsj)lasma sich l)eliebig verschiebt, während die festeren Plasmai)artien die Neigung haben, sich fadenförmig zu verlängern. Bekanntlich beobachtet man dies besonders schön bei der Kern- theilung, wo die beiden auseinander rückenden Kernhälften durch eine Zahl von Fäden verbunden sind. Bei der Entstehung der Organismen trat bald ein Stadium ein, in welchem die als Idio})lasma sich organisirende festere Substanz so viel Zähigkeit besass, dass sie bei der Theilung eine verlängerte fadenförmige Gestalt annahm. Da nun diese Substanz bei den in verschiedenen Richtungen erfolgenden successiven Theilungen auch in den verschiedenen Richtungen fadenförmig ausgezogen wurde, so bildete sie sich noth wendig zu einem Netz von Fäden aus. An- fänglich war dieser Rrocess vielleicht wirklich ein Ausziehen in Fäden, verluniden mit Verschiel)ung der Idioplasmamicelle. Später, als das Idioplasma eine hinreichende Consistenz erlangt hatte, bestand die in der Theilungsrichtung eintretende Verlängerung bloss in einem normalen Wachsthum durch Einlagerung von Mi- cellen, und es ist möglich , dass sie diesen Charakter schon von Anfang an hatte. Die eben angestellte Betrachtung zeigt, dass ein Idioplasmanetz entstehen musste, wenn bloss die aus Beobachtung Ijekannten nior})ho- logischen Erscheinungen im Zelleide])en berücksichtigt werden. S}xiter (in dem Al)schnitte über die Ursachen der Veränderung) werde ich zu zeigen suchen, dass auch die molecularphysiologischen Vorgänge allein schon ausreichen , um die Bildung eines Netzes höchst wahrscheinlich zu machen. Die specifische Beschaffenheit des Idioplasmas wird durch die Configuration des Querschnittes der Stränge ausgedrückt, in welcher die ganze Ontogenie mit allen ihren Eigenthümlichkeiten als Anlage enthalten sein muss. Wir hätten die Lösung des grössten Räthsels der AI )staiiimungslehre gewonnen, wenn wir jene Configuration zu erkennen vermöchten. Dies ist aber nicht möglich ; man könnte vielleicht den einen und andern Punkt durch die Theorie befriedigend erledigen ; man k()nnte vielleicht selbst eine Gesammtanordnung ausdenken, die den wichtigsten Anforderungen ein Genüge leistete. Allein ich würde dies für unnütz und unfruchtbar halten. Die Configuration als Triiger der (.■iljlichen Anlagen. 43 des idiopksinatisclion Systems ist keine geometrische, sondern eine ]>1iylogenetisclie Aul'galje. Die richtige Anordnmig kann nur auf dem Wege erkannt und construirt werden, auf dem der Organismus dazu gelangt ist. Dazu müssten wir vor allem die ganze Ahnen- reihe einer Sippe von dem primordialen Plasmatropfen aus, mit dem die organische Entwickelung begonnen liat, kennen. Wir sind aber noch weit entfernt von einer solchen Erkenntniss für irgend eine Pflanze oder für irgend ein Thier. Wir müssen daher auf den eigentlichen Kern der Sache vorerst gänzlich verzichten, und uns mit einigen allgemeinen Beziehungen be- gnügen, welche von einer bestimmten Anordnung in der Querrichtung der idioplasmatischen Stränge gänzlich unabhängig sind. Einer dieser Punkte, den ich bereits berührt habe, ist der feste Zusammenhang ihrer Micellreihen unter einander. Diese Annahme ist einmal noth- wendig, damit bei den ontogenetischen Wachsthumsprocesseii einer sich nicht verändernden Abstammungsreihe keine Micelle zwischen den Reihen sich bilden können, weil dadurch die Configuration des Querschnittes gefährdet würde. Sie ist ferner nothwendig, damit, wenn die einen Partien des Idioplasmas in activem Wachsthum be- griffen sind, die übrigen Partien durch die auftretenden Si)annungen zu einem entsjjrechenden passiven Wachsthum veranlasst werden, was ohne festen Zusammenhang nicht möglich w^äre. Es gibt aber noch einen dritten wichtigen Grund für die genannte Annahme : es müssen nämlich, wie ich bereits angedeutet habe, durch die in der Querrichtung verlaufenden Micellreihen der enge aneinander liegenden Längsreihen Leitungen hergestellt werden, welche die ver- schiedenen Anlagen unter einander in Verbindung setzen, wie sich aus folgender Betrachtung ergibt. Oljgieich wir durchaus nichts Positives über die Configuration des idio})lasmatischen Systems wissen, nichts darüljer, welche Micell- anordnungen den einzelnen Anlagen entsprechen , so können wir doch sagen, wie die Anordnung in verschiedenen Beziehungen nicht sein kann. So ist es nicht möglich , dass jede Cond)ination von Merkmalen durch eine ])esondere Micellgrup}>e sc^lbstiindig vertreten sei. Es gibt, um ein Beispiel anzuführen, Zellen von jeder Form und Grösse, mit dicker und dümier, geschichteter und ungeschich- teter, weicher und fester Mendjran, mit Spiralfasern oder poröser 44 !■ Idioplasma Verdickung (Tü])l"olii) oder ohne das Eine und Andere, mit oder ohne Chloropliyll, init oder oluie Fetttro})fen , Stärkekörnern, Krystallen von oxulsaureni Kalk, die wieder in verschiedenen Formen auftreten können n. s. w. Es gil)t, um noch ein zweites Beis|)iel anzuführen, Blätter von sehr verschiedener Gestalt, mit ungetheiltem oder ver- schiedenartig getheiltem Rand, mit ungetheilter oder verschiedenartig getheilter Fläche, ohne oder mit verschiedenartigen Nebenblättern, mit verschiedenartig gestaltetem oder fehlendem Blattstiel, mit verschieden- artiger Verth eilung der Nerven und Adern, mit wenigen oder vielen Zellschichten und verschiedenartiger Anordnung der Zellen, welche wieder in all den vorhin aufgezählten Verschiedenheiten vorhanden sein können. Die Zellen sowohl als die Blätter gestatten eine fast unendliche Zald von Comljinationen rücksiclitlich ihrer Zusammensetzung aus Theilen. Diese Combinationen sind zwar in dem einzelnen Individuum nur in begrenzter Zahl vorhanden ; allein in jeder folgenden Generation fallen dieselben wieder etwas anders aus , und es wiederholt sich wohl niemals ganz die nämliche Comljination der Theile in einem Organ, auch nicht einmal in einer Zelle. Es ist also geradezu un- möglich, dass das Idio])lasnia alle denkl)aren Combinationen gleichsam auf Lager halte; dazu hätte der Querschnitt seiner Stränge niclit Raum genug. Sondern es werden offenbar die Coml)inationen jeweilen aus den Elementen zusammengesetzt. Wir müssen uns also vorstellen, dass das Idioplasma die Anlagen für verschiedene Organe in ähnlicher Weise zur Entfaltung bringe, wie der Klavierspieler auf seinem Instrument die auf einander folgenden Harmonien und Disharmonien eines Musikstückes zum Ausdruck bringt. Derselbe schlägt für jedes a und jeden anderen Ton immer wieder die nämlichen Saiten an. So sind die im Idioplasma neben ein- ander liegenden Gruppen von Micellreihen gleichsam Saiten, von denen jede eine andere elementare Erscheinung darstellt. Wird während der ontogenetischen Entwicklung in irgend einer Zelle Chlorophyll oder vielmehr das Chromogen desselben gebildet, aus dem bei Einwirkung des Lichtes Cldorophyll entsteht, so setzt das dort befindliche Idio- plasma die Chlorophyllsaite in Thätigkeit, und ebenso, wenn sich in einer Zelle s})iralfaserige oder Tüpfelverdickungen der Meml)ran bilden, die Spiralfaser- oder die Tüpfelsaite. als Träger lich werde, direct oder indirect eine Umljildung des dort befindlichen Idioplasmas hervorlmngen. Wenn ein in eine kurze Spitze oder in ein Blättchen aus- gehendes Blatt sich in ein solches mit einer langen ästigen Wickel- ranke, wie es bei Erl)sen, W^icken, Linsen u. s. w. vorkommt, um- wandelt, so wird von den äusseren als Reiz wirkenden Einflüssen, ausser der genannten localen Veränderung auch eine derselben ent- sprechende locale Veränderung des Idioplasmas hervorgebracht. Die nämliche Veränderung muss aber auch im Idioplasma des bei der Fortpflanzung entstehenden Keimes stattfinden, sonst wäre die ge- wonnene Anpassung für die folgenden CJenerationen verloren. Sie muss also von dem Blatte aus dem unbefruchteten Keimbläs- clien oder dem Pollenkorn oder eher beiden zugleich mitgetheilt werden. Findet eine Umwandlung in den Samenla])pen statt (die Cotyle- donen der einen PHanzen l)leiben unvei'ändert unter der Erde, bei anderen Pflanzen erhellen sich dieselben in Folge starken Wachs- thiiiiis über die Erde, werden blattartig und grün), so nmss die stattgefundene Umwandlung des Idioj)lasmas in den Stengel und als Träger der erl)liclien Anlagen. 55 von du höher iiiul liöher und zuletzt in die ßlütlien überliefert werden. An dieses Ziel gelangt sie, wenn die Pilanzen spät zur Fruchtbildung kommen , zuweilen erst viele Jahre nachdem die Samenlappen verschwunden sind. Geht eine erbliche Umbildung in einem localen Theil einer Pflanze vor sich, welche sich auf geschlechtslosem Wege fortpflanzt, so muss die Fortleitung der idioplasmatischen Umstimmung andere Wege einschlagen. In dem Falle, dass die Vermehrung durch unter- irdische Knollen erfolgt, wie bei den Kartoffeln, wird eine in den Blättern eintretende Veränderung abwärts in die Wurzelregion , im Falle der Vermehrung durch die grünen Blätter wird eine in den Wurzeln stattfindende Umänderung aufw'ärts in die Laubblattregion übermittelt. Da nun die ungeschlechtliche Vermehrung in allen Theilen der Pflanze erfolgen kann und da sie auch neben der ge- schlechtlichen Fortpflanzung tliätig ist , so muss man wohl den Schluss ziehen, dass, wenn äussere Einflüsse auf einen localen Theil einwirken und denselben dauernd umw^andeln, von da die Mittheilung an das Idioplasma im ganzen Pflanzenstock stattfinde. Die Frage ist also : In welcher Weise vermag eine Veränderung, die das Idioplasma an einer beliebigen Stelle des Organismus erfährt, die nämliche Veränderung im Idioplasma des übrigen Organismus zu verursachen ? Für das Pflanzenreich ist die Beantw^ortung dieser Frage mit nicht geringen Schwierigkeiten verbunden. Sie wird aber dadurch vereinfacht, dass die Möglichkeiten klar vorliegen. Es sind nur zwei: Entweder geschieht die Mittheilung der idioplastischen Eigenschaften auf materiellem oder auf dynamischem Wege. Im ersteren Falle muss Substanz, in welcher die neuen erb- lichen Eigenschaften enthalten sind, nach allen Theilen des Orga- nismus wandern und durch Vermischung überall eine entsprechende Umbildung des Idioplasmas hervorbringen. Eine solche Substanz kann nicht gelöst sein; sie muss also selber aus Idioplasma be- stehen. Jener Forderung widerspricht nun der als allgemein gültig angesehene Satz der Pflanzenphysiologie, dass von den Zellen bloss gelöste Stoffe aufgenommen und ausgeschieden werden ; und dass unter den gelösten Stofl^en selber es nur die Molecularlösungen seien, welche ungehindert durch die Membran gehen , während die mi- cellaren (colloiden) Lösungen entweder gar nicht oder in sehr be- schränktem Maasse dies zu thun vermögen. FyQ I. Idioplasnia Bei einer früheren Gelegenheit luihe ich gezeigt'), dass unter bestimmton Umständen auch Micellarlösungen mit Leichtigkeit diosmiren und dass mit Rücksicht auf diesen Umstand eine be- stimmte Structur der Pflanzenzelhneml)ran anzunehmen ist. Ausser den gewöhnhchen Micellarinterstitien müssen nämUch noch besondere Canälchen von solcher Weite, dass Eiweissmicelle mit dem nöthigen Wasser frei circuliren können, die Memln-an durchsetzen, so dass die letztere, bei hinreichend starker Vergrösserung von der Fläche be- trachtet, das Aussehen eines feinen Siebes gewähren würde. Solche Canälchen , wie sie die Diosmose von Albuminaten bedarf, würden al)er für den Transi)ort von Idioplasnia lange nicht ausreichen; denn da die Eigenthümlichkeit des Idioplasmas in der Configuration eines ganzen micellösen Systems besteht, so müssten grössere Partien transportirt werden, und zwar, wenn meine Annahme von der strangförmigen Beschaffenheit gegründet ist, Strangstücke, die sich abgelöst haben. Für diesen Zweck müsste jede Zelle noch einige grössere Oeffnungen in der Memljran besitzen, • — Löcher, welche sich zwar immer noch der mikroskopischen Wahrnehmung entzögen, die aber doch so weit wären, um die strangförmigen Tdioplasmakörper durchtreten zu lassen. Eine solche Annahme, wenn sie auch für die Lehre neu und ungewohnt ist, hat doch nichts Unwahrscheinliches, da die Siebröhren nicht bloss in Folge der siebartigen Durchbrechungen ihrer Scheidewände ununterbrochene Canäle darstellen, welclie durch die ganzu Pflanze verlaufen, sondern auch an ihren Seitenwänden durch feine Poren mit den angrenzenden Zellen in VerlMndung stehen, und da solche Poren von nocli grösserer Feinheit zuweilen auch zwischen den übrigen Parenchymzellen sich nachweisen lassen. Wir könnten uns also eine Mittheilung der idioplastischen Eigenschaften auf materiellem Wege folgendermaassen denken. Alle Zellen communiciren durch sehr feine Poren unter einander und mit den nächsten Siebröhren, wol)ei die Poren nach den letzteren hin an Grösse zunehmen. Die Siebröhren aber, welche durch den ganzen Pflanzenstock ununterbrochene Canäle mit ziemlich grossen Durch- brechungen der Scheidewände darstellen, vermitteln den Austausch zwischen den verschiedensten und entlegensten Organen. ') Theorie der Gärung. Anmerkung l»etr. die INIolekül Vereinigungen. als Träger der erblichen Anlagen. 57 Dmiiit wäre auch diu ])i.s jetzt räthsolhafte Finictioii der Siel)- rr)]ireii aufgefunden. Sie sind dann die SamnieLstellen für das Idio- plasnia au.s dem Gewebe; in ihnen mischt sich das Idioplasma der ver- scliiedencn Regionen des rtianzenstockes, und von ihnen aus ver- breitet sich das gemischte Ichoi^lasma wieder in (he einzehicn Ge- webezellen. — Was aber diese Mischung von verschiedenartigem Idioplasma betrifft, welche el^enfalls als ein matericfller Act aufzu- fassen wäre, so verweise ich auf die Betrachtung, die ich in einem späteren Abschnitt über die molecularen Vorgänge bei der mit der Befruchtung verljundenen Mischung des männlichen und weiblichen Id)(>])lasmas anstellen werde. Es ist aber auch noch die Frage zu erörtern, ol) die ]Mittheilung der in einem Organ entstandenen idioplastischen Eigenschaften an die übrigen Pflanzentheile nicht auf d^aiamischem Wege, also ohne Stoffwanderung erfolgen könne. In dieser Beziehung gil)t es zwei mögliche Fälle, je nachdem Avir das Pflanzengewebe in der berge] )rachten Weise aus geschlossenen Zellen zusammengesetzt an- nehmen, oder, wie ich es soeben als denkbaren Fall hingestellt hahe, die Zellhöhlungen in der Pflanze alle unter einander communiciren lassen. Wenn nach gewöhnlicher Anschauung die Zellen wenigstens zum weitaus grössten Theil geschlossene Blasen sind, so dass ihr Idioplasma durch Cellulosewände getrennt ist, müsste die dynamische Einwirkung wohl in folgender Weise gedacht werden. Jede eigen- thümliche Anordnung von INIicellen, besonders wenn eine eigenthüm- liclie chemische Beschaffenheit hinzukommt, hat ihre eigenartigen Bewegungszustände und ihre eigenartigen (anziehenden und ab- stossenden) Kräfte, mit denen sie auf die nächstliegende Substanz ein- wirkt. Wir könnten uns nun denken, dass die idio])lasti sehen Eigen- schaften in dieser Weise von Zelle zu Zelle durch die Meml)ranen hindurch mitgetheilt würden und uns dabei an die Fortpflanzung Vdii molecularen und mici'llaren Schwingungszustäiiden erinnern, welche von dem Plasma einer Hefenzelle auf das Gärmalcrial bis auf einige Entfernung erfolgt. Da^Ai wäre einmal erforderlich, dass die Zellmembranen kein llinderniss für die Ueljcrtragung von Bewegungszusländen N"on Zelle zu Zelle darböten. Ferner wäre wohl zu berücksichtigen, dass die Uel)ertrai>un<'- von Px'weuimuszuständen nicht mmiittelbar eine 58 I- Tdioplasma Anordnung zu verändern im Stande ist, sondern nur insofern als die Vermehrung des Idioplasmas unter dem Einflüsse der fremden Bewegungsznständc eine andere und denselben analoge Form an- nimmt. Diese Theorie möchte ich für ganz unwahrscheinlich halten, denn wenn auch die imbibirte Zellmembran gewisse Schwingungen fortzupflanzen vermag wie bei der (nirung, so ist sie doch offenbar nicht dazu eingerichtet, die complicirten und (pialitativ verschiedenen idioplasmatischen ßewegungszustände zu übermitteln , so wenig als ein Muskel oder eine Sehne als Element in die Nervenloitung einzu- treten vermag. Wenn dagegen nach meiner Anschauung alle Pflanzenzellen unter einander durch feine Poren communiciren , so gestaltet sich die dynamische Uebertragung der Idioplasmazustände viel natür- licher und annehmbarer. Diese Poren enthalten dann ausser Er- nährungsplasma besonders auch Idioplasma, so dass das letztere durch den ganzen Pflanzenorganisnuis ein zusanmienhängendes System Ijildet. Am einfachsten wird die Vorstellung von der dyna- mischen Mittheilung, wenn die Idioplasmastränge ununterbrochen durch den ganzen Organisnms verlaufen, in analoger Weise, wie dies mit den Nerven der Fall ist. Al)er auch wenn das Idioplasma aus kurzen, an einander gereihten Strangstücken besteht, stösst die Mittheilung in die Ferne auf keine erheblichen Schwierigkeiten. Daini sind innerhalb der Zelle die selljständigen strangförmigen Idioplasmakörj^er netzartig zusannnengefügt , und mit dem Inhalte der angrenzenden Zellen ist dieses Netz durch Ketten , welche die Porencanäle durchsetzten, verlamden. Wie nun eine dynamische Leitung zwischen den Micellreihen des nämlichen Idioplasma- körpers besteht, welche die zur Entfaltung der Anlage nothwendige Erregung mittheilt, so ist auch eine Fortloitung durch Körper, welche sich l)erühren, denkbar. Allerdings handelt es sich, behufs Uebertragung einer local vorhandenen Anlage auf ein davon entferntes Idioplasma, nicht bloss darum, eine einzelne Erregung, sondern vielmehr eine Summe ver- schiedener Erregungen zu übermitteln, welche einen qualitativ be- stimmten Vorgang zu veranlassen im Stande ist. Wir können als Analogie an die Bewegung denken, welche die Sinneseindrücke und die Willensäusserimgen in den Nerven f()i't])llanzt. Wenn die orga- liisirten Albumiiiate die mannigfaltigsten Wahrnehmungen fremder als Träger der erljliclien Anlagen. 59 Dinge in den feinsten Abstufungen zum Centralorgan des Nerven- systems leiten, daselbst ein genau übereinstinnnendes Bild erzeugen und in F(^lge davon entsprechende Bewegungen veranlassen, so möchte die Annahme nicht ferne liegen, dass die zum Idioplasma organisirten Eiweisskörper ein Bild ihrer eigenen localen Verän- derung nach anderen Stellen im Organismus führen und dort eine mit dem Bilde übereinstinunende Veränderung bewirken. Diese Theorie der dynamischen Mittheilung scheint mir die vorliegende Frage in der einfachsten Weise zu lösen. Das Idio- })lasma aller Zellen einer Pflanze befindet sich in unmittell>)arer gegen- seitiger Berührung. Jede Veränderung, die es an irgend einer Stelle erfährt, wird ülK'rall wahrgenommen und in entsprechender Weise verwerthet. Wir müssen sogar annehmen , dass schon der Reiz, der local einwirkt, sofort überall hin telegra|)hirt werde, und überall die gleiche Wirkung habe; denn es tiudct eine stete Aus- gleichung der idi()}ilasmatischen Spannungs- und l)c\vegungszustände statt. Diese fortwährende und allseitige Fühlung, welche das Idio- plasma unterliält, erklärt den sonst auffallenden Umstand, dass das- sel])e trotz der so ungleichartigen Ernährungs- und Reizeinflüsse, denen es in den verschiedenen Theilen eines Organismus ausgesetzt ist, doch sich ül)erall vollkommen gleich entwickelt und gleich verändert, wie wir namentlich aus dem Umstände ersehen, dass die Zellen der Wurzel , des Stanmies und des Blattes ganz dieselben lu(li\i(hicn hervorl »ringen. Das idioplasmatische System der Pflanzen, das auch die Thiere in der nämlichen Weise besitzen, wäre somit in manchen Be- ziehungen dem Nervensystem analog. Es wäre, um mich so aus- zudrücken, ein System dynamischer Leitungen in einer einfacheren imd mehr materiellen Sphäre, während die Nervensul)stanz ein solches Leitungssystem in einer complicirteren und mehr geistigxMi Sphäre darstellt. Es ist selbst nicht unwahrscheinlich, dass zwischen beiden ein phylogenetischer Zusanmienhang besteht, dass im Thier- reicli die eine Hälfte des idioplasmatischen Systems nach und nach zum Nervensystem geworden ist. Welche von den beiden Theorien, die icii betrclTcnd die idio- l)lasmatische Leitung und Mittheilung entwickelt habe, die riclitigc, ob der Vorgang ein mnteric^lk'r oder ein dynamischer sei, lässt sifh bei der noch so geringen Kenntniss des hlioplasmas niclit ent- CO !■ Idioplasma scheiden. Insofern es sich nni das Pflanzenreich handelt, möchte man vieUeicht elicr geneigt sein, eine materielle Commnnication an- zunehmen. Diese aljer ])efindet sich , wenn auch der Transport leicht verständlich ist, doch bezüglich des Hau})tpunktes, der noch nicht besprochen wurde, nämlich bezüglich der Ausgleichung zwischen den ungleich veränderten Partien in entschiedenem Nach- theil. Wäre das IdiojDlasma eine halbflüssige Substanz mit beweg- lichen Micellen, so könnte allerdings leicht eine Vermischung statt- finden. Da dassell:)C al>er aus einer ziemlich festen Vereinigung von INIicellen bestehen nmss, so ergeben sich für die gegenseitige Durchdringung die grössten Schwierigkeiten. Wir haben zwar bei der Befruchtung ebenfalls eine materielle Vereinigung von männlichem und weil)lichem Idio})lasma , und es lässt sich dort der materielle Vorgang zur Noth ])is zur Neben- einanderlagerung je eines Micells von männlichem und eines solchen von weil)lichem Ursprung durchführen, wie ich später bei der Be- sprechung der Kreuzung und der mit ihr verbundenen molecularen Vorgänge zeigen werde. Dort wird die Annahme der materiellen Vermischung durch die quantitative Gleichheit der Ijeiden geschleclit- lichen Idioplasmen erleichtert, ol)gleich wahrscheiidicher Weise auch bei der Befruchtung der materielle Vorgang nicht mehr bedeutet, als dass das männliche ndt dem weiblichen Idioplasma zusammen kommt, worauf dann die gegenseitige Beeinflussung auf dynamiscbem Wege erfolgen dürfte. Indem ich auf diese Auseinandersetzung verweise, schliesse ich mit der Bemerkung, dass, wenn auch das Idioplasma in den Organismen wandern und sich materiell ver- mengen sollte, die Ausgleichung zwischen den verschiedenartig um- gebildeten Partien doch wahrscheinlich auf dynamischem Wege ge- scliehen wird. h-b will schliesslich noch die Frage besprechen, wie sich die Eigenschaften, die dem Idioplasma zugeschrieben wurden, zu der Zahl und Grösse der Moleküle und Micelle verhalten. Es könnten vielleicht Zweifel sich erheben, ol) die mäiuilichen Elementarorgane, die theilweise zu den kleinsten mikroskopischen Objecten gehören, in ihrer Su])stanz so viele Idioplasmamicelle besitzen, wie es die Theorie voraussetzt. Denn eine grosse Menge von Anlagen verlangt eine sehr complicirte Anordnung und diese lässt sich nur durch eine als Träger der erblichen Anlagen. 61 grosse Menge kleinster Theilchen herstellen , — und wenn ferner auch von sehr kleinen Spermatozoideu eine Mehrzahl zur Befruchtung verwendet wird, so muss doch jedes derselben die Gesammtheit der Anlagen und somit auch eine vollständige idioplasmatische Anord- nung von Micellen enthalten. Früher waren unsere \"orstellungen ülicr die Grösse der Moleküle und Micelle bloss durch eine obere Grenze bestimmt; man wusste aus verschiedenen That.sachcn, dass sie ein gewisses Maass nicht er- reichten; unterhalb dieses Maasses aber war der Hypothese jede Kleinheit gestattet. In neuerer Zeit wurde die aljsolute Grösse der Moleküle in verschiedener Weise direct bestimmt. Namentlich verdanken wir der mechanischen Gastheorie die Berechmmg, wie viel Gasmoleküle bei bestinnnter Temperatur und unter bestimmtem Druck in einem Gasvolumen enthalten sind. Aus der Zahl der Moleküle, die in einem bestimmten Gas- volumen sich befinden, und aus dem specifischen Gewicht dieses Gases berechnet sich das absolute Gewicht eines Moleküls und daraus das absolute Gewicht der Moleküle aller anderen bekannten Ver- l)indungen. Aus dem absoluten Moleculargewicht und dem specifischen Gewicht eines flüssigen oder festen Körpers berechnet sich ferner der Raum, den ein Molekül sammt seiner Wirkungssphäre in diesem Körper einnimmt, oder das absolute Molecularvolumen. Da in 1 ""' unter dem Drucke einer Atmosphäre und bei 0 Grad sich 21 Trillionen Gasmoleküle befinden, so wiegt beispielsweise ein Wassermolekül den trillionsten Theil von U,04'"-, und es nimmt dassell^e im tropfbar flüssigen Zustande den trillionsten Theil von 0,04™"" (den millionsten Theil von 0,00004"""') ein. Ferner gehen auf die Länge von 1 '""' 3 Millionen und auf die dem Mikroskopiker wohll)ekannte Länge von l""''i) 300ü Wassermoleküle. Um nun die Zahl der Micelle zu bestimmen, die auf dem Quer- schnitt eines Idioplasmastranges von gegebener Grösse befindHch sind, müssten wir das A'^erhältniss von Substanz und Wasser, die Zahl der Eiweissmoleküle, die zu einem Micell zusannnentreten, und die Grösse der Eiweissmoleküle kennen. Was den letzteren Punkt Ijetrifft, so ist die Chemie trotz aller Anstrengungen, die sie in dieser Beziehung gemacht hat, noch zu keinem Resultat gelangt. Da jedoch >) mik = Mikn.niillimeter ^ (),0()1 """. 62 I- Itlioplasma die Lösung der chemischen Eiweissfrage für die Function des Lho- plasmas von entscheidender Bedeutung ist, so erlaul)e ich mir be- züglich derselben einige Bemerkungen vom molecularpliysiologischen Standpunkt aus. Die Albuminate konnnen, wie die Stärke und Cellulose, nur im festen Zustande und in Micellarlösungen vor. Letztere al)er sind nur scheinbare Lösungen, weil die in der Flüssigkeit vertheilten Micelle krystallinische Zusammenhäufungen von Molekülen sind. Die Micelle bestehen ferner möglicherweise nicht bloss aus den Molekülen einer und derselben Yerl)indung ; es dürften wohl mehrere ^^er])indungen in ilnion gemengt und auch andere, namentlich unorganische Stoffe gleichsam als Verunreinigungen mit in das krj^stallinische Micell eingetreten sein oder sich an seiner Oberfläche fest angelagert haben. Endlich sind die Micelle von sehr ungleicher Grösse. Durch diese verschiedenen Umstände worden die mannig- faltigen physikalischen und chemischen Eigenschaften, namentlich auch die verschiedenen Zersetzungsproducte bedingt. Es ist un- möglich eine chemisch reine Substanz herzustellen, weil die Albuminat- micelle in keinem Medium in ihre Moleküle zerfallen. In den genannten Beziehungen verhalten sich die Albuminate ähnlich wie die Cellulose, die ebenfalls in einer unendlichen Zahl von Abstufungen vorkonnnt. Das Cellulosemolekül ist zwar überall das nämliche; aber es bildet Micelle von verschiedener Form und Grösse und mit verschiedenen organischen und unorganischen An- lagerungen, daher auch Substanzen mit verschiedenem Wassergehalt, von verschiedener Härte und Elasticität, mit verschiedener Wider- standsfähigkeit gegen chemische Mittel, welche von der Löslichkeit in Wasser ])is zur Unlöslichkeit in Schwefelsäure variirt u. s. w. Währenddem den verschiedenen Celluloseformen das nämliche Cellulosemolekül zu Grunde zu liegen scheint, möchte ich es dagegen für äusserst w-ahrscheinlich lialten , dass es verschiedene Eiweiss- moleküle gebe, die durch den ungleichen Wasserstoff- und Sauerstoff- gehalt und namentlich dadurch von einander abweichen, dass die einen schwefelhaltig, die andern schwefelfrei sind. Nicht zwei Ana- lysen von Albuminaten sind gleich : der Stickstoligehalt variirt von IT) bis 17 %, der Schwefelgehalt von 0,1) bis 1,7 % und zwar in allen möglichen Abstufungen ; überdem finden sich wechselnde Mengen von Phosphor, Magnesia und Kalk. als Träger der erblichen Anlagen. 63 Diese Ergebnisse der chemischen Anal^'se erklären sich in der einl'aclisten nnd befriedigendsten Weise, wenn wir annehmen, dass die Micelle der Albuminate aus einem Gemenge von zwei oder mehreren verschiedenartigen Eiweissmolekülen, mit mehr oder weniger H und O, mit oder ohne S, bestehen. In jedem Albuminat wären die ver- schiedenartigen Eiweissmoleküle in eigenthümhchen Verhältnissen gemengt; in jedem wären ferner eigentliümhchc Mengen von Phos- phaten, von Magnesia- und Kalksalzen und vielleicht auch noch verschiedene organische ^^erbindungen in untergeordneten Mengen enthalten. Unabhängig von der olien l)osprochenen Frage ist die betreffend die Grösse der Eiweissmoleküle. Die jetzige Chemie gibt denselben, um die verschiedenen Zersetzimgsproducte aus der chemischen Formel herleiten zu können, vermuthungsweise eine sehr hohe Zusammen- setzung. Die Formel soll zum mindesten C72 H 10(i N18 SO 22 enthalten; es wird selbst, behufs Polymerisation, das IVIehrfache dieses Ausdruckes angenommen. Die Frage ist von hoher Bedeutung für die Molecularphysiologie , welche in mehr als einer Bczielumg die möglichste Kleinheit des Eiweissmoleküls und der Albuminatmicelle verlangt. Für die Ernährungsphysiologie im Anschluss an die Gärungs- pliysiologie sind kleine Moleküle und Micelle erwünscht, weil die katalytische Wirkung der Albuminate, auf der wesentlich die chemi- schen Lebenserscheinungen beruhen, von den Schwingungen der Micelle, Moleküle und ihrer Theile abhängt, und weil diese Schwin- gungen mit zunehmender Grösse der schwingenden Systeme langsamer und somit unwirksamer werden. Für die Physiologie des Idioplasmas ist die Kleinheit der Micelle und somit auch der Eiweissmoleküle eine nothwendige Be- dingung, weil eine grosse Mannigfaltigkeit und Com})licirtheit der Anordnung auf einem beschränkten Raum nur durch eine grosse Zahl der Micelle erreichbar erscheint. Diesen Anforderungen der Physiologie würde am besten durch die Annahme ein Genüge geleistet, dass die hypothetische Formel der Chemiker mit 72 oder mehr Atomen Kohlenstoff nicht das Eiwcissmolekül, sondern ein aus mehreren Molekülen mit je 24 oder 12 Atomen C krj^stallinisch gebautes Micell darstelle. Es könnten beispielsweise die verschiedenartigen Moleküle aus 12 C, 3 N mit oder 64 I- Idioplasma ohne S und uns ungleichen Mengen H und 0 zusammengesetzt sein. Die verschiedenen Zersetzungsproducte würden sich durch Umlagerung der Atome bilden , wie dies auch beim Zucker und anderen organischen Verbindungen der Fall ist. — Solche Micelle mit 72 C wären die kleinsten in den plasmatischen Substanzen vor- kommenden. Andere können immerhin, indem zahlreichere Atome sich zusammenlagern, jede beträchtlichere Grösse besitzen. In dieser Beziehung werden sich die verschiedenen Plasmasubstanzen und ihre verschiedenen Zustände sehr ungleich verhalten. Ebensowenig wie über die Grösse der Plasmamicelle wissen wir irgend etwas Bestimmtes über die Menge des sie trennenden Wassers. Wir kennen zwar annähernd den Wassergehalt verschie- dener plasmatischer Substanzen. Aber das Wasser in denselben wird aus verschiedenen Gründen sehr ungleichartig vertheilt sein, besonders weil die Substanz der Micelle eine ungleiche chemische Zusammen- setzung und deswegen auch eine ungleich grosse Anziehung zu Wasser besitzt, und ferner weil die Micelle sehr häufig keine regel- mässige Anordnung haben. Das thierische Sperma enthält 20 ",o Trockensubstanz, also SO "/o Wasser. Die Idioplasmastränge sind aber möglicher Weise ziemlich weniger wasserhaltig. Die regelmässige Anordnung ihrer Micelle und der feste Zusammenhang derselben spreclien für einen möglichst hohen Substanzgehalt, den wir auch schon deswegen anzunehmen geneigt sind, um eine grössere Zahl von Micellen für die Idioplasma- stränge zu erhalten. Die geringste zulässige Wassermenge des imbibirten Zustandes ist aber wohl die, dass jedes Micell mit einer einfachen Schicht von Wassermolekülen benetzt ist, so dass also zwischen je zwei Micellen, deren Gestalt, da sie in Reihen stehen, prismatisch*) zu denken ist, wenigstens zwei Schichten von Wassermolekülen sich befinden. Daneben müssen dann aber noch weitere Canälchen das Idioplasma durchziehen , welche den Eintritt der Nährstoffe sowie auch den Austritt von Stoffen möglicli machen. Unter den gemachten A^oraussetzunoon können wir uns nun eine \'orstellung von den al)S()luton Dimensionen in der Structur des Idioplasmas machen. Ich gehe von dem materiellen System; ') Die Gründ(>, warum die Micelle polyedrisch o(li>r in-isniatisch sein müssen und nicht rundlich oder cylindrisch sein können, lialic ich anderwärts für die Stärke an<^egüben; sie gelten auch für das Idioplasma. als Träger der erblichen Anlagen. (35 bestehend ans C 72 H 106 N 18 SO 22, das man gewöhnlich als das Eiwoissniolekül l)ezeichnet, das ich nun aber vorläufig als das kleinste Plasnianiicell ]:)otrachten will, aus. Das absolute Gewicht desselben beträgt den trilHonsten Theil von Sjöo"'". Das si^ecifische Gewicht des trockenen Eiweisses ist 1,344. Daraus folgt, dass 1"'" des- selben nahezu 400 Tiillionen, l'""" nahezu 400 Milhonen Micelle enthält. Hieraus dürfen wir aber nicht ohne weiteres das Volumen des Micells berechnen. In dem trockenen Ei weiss als einer organisirten Substanz müssen sich nämlich, wenn auch noch so kleine, leere Zwischenräume zwischen den Micellen befinden. Das krystallisirte Eiweiss würde daher ein grösseres specifisches Gewicht als 1,344 haben. Wir dürfen dasselbe wohl auf 1,7 anschlagen. Aus diesem amendirton specifischen Gewicht l)erechnet sich das '\''olumen des Micells mit 72 C zu 2,1 Trilliontel von 1™"' oder zu 0,0000000021 '""^ Bezüglich der Grösse der strangförmigen Idioplasmakörper, die uns unbekannt ist, lässt sich bloss eine obere Grenze feststellen. Dieselben müssen jedenfalls so klein sein, dass sie mit unseren mikroskopischen Vergrösserungen nicht gesehen werden können, wenn nicht etwa die Fäden, die sich in Zellkernen durch Färbemittel sichtbar machen lassen, als Idioplasmastränge in Anspruch zu nelniien sind. Uebrigens ist zu bemerken, dass die IdioplasmakörjuT wohl inuner von Ernährungsplasma eingehüllt und, sofern sie durch Zell- membranen hindurchgehen, von Cellulose umgeben sind, und dass sie sich, somit bei einer Grösse, bei der sie in Wasser schon gesehen würden , immerhin noch der Beobachtung entziehen. Aus diesen Gründen kann ein Querschnitt von 0,1'"'"'' (Dm= 0,32""'-) noch als zulässig erachtet werden, stellt aber jedenfalls ein nicht überschix^it- bares Maximum dar. Auf diesem Querschnittsareal hat die grösste Menge von prismatischen Micellen Platz, wenn dieselben überall bloss durch zwei Schichten von Wassermolekülen getrennt sind. Unter den beiden genannten \'oraussetzungen ist die folgende Tabelle berechnet. Die erste Verticalcokmme gibt die Grösse der Micelle durch die Zahl der in ihnen enthaltenen Kohlenstoffatome an, die zweite die Menge solcher Micelle auf einem Areal von 0,1 ''""'' in runden Zahlen, die diitte die iirocentische Wassermenge, .welche das Idio})lasma unter der Voraussetzung enthält, dass die Micelle nicht länger als breit sind, ebenfalls in runden Zahlen. V. Nägel i, Abstammungslehre. 5 66 Grösse der Micelle 72 C 2-72C 3.72C 5.72C 10-72C 20-72C 50 -72 0 100 -720 Die Mengen der Micelle auf der Qiierschnittsfläche eines Idio- plasmakörpers, welche in der zweiten Columne enthalten sind, stellen, da in jeder Beziehung die günstigsten Bedingungen angenommen wurden, für die angegebenen Micellgrössen Maxima dar, welche wohl nie erreicht werden. Zur A^ergleichung will ich noch einige Zahlen beifügen , die für den Fall , dass die prismatischen Micelle durch die doppelte Wassermenge (durch je 4 Wassermolekülschichten) ge- trennt sind, berechnet wairden. Wassergehalt I. Idioplasma Menge der Micelle auf 0,11""" Wassergehalt des Idiojilasmas 25000 74 18700 66 15200 62 12100 57 8300 49 5700 42 3400 34 2300 28 jsse der Micelle Menge der Micelle flpQ T/lini»l auf (),l'i'"ik 72C 13700 89 2-72C 1 1000 85 5 -72 0 7800 78 20 -72 0 4100 64 100-72C 1800 47 Aus den beiden Tabellen ergibt sich, dass zwar nicht, wie man häufig für moleculare Verhältnisse sich irrthümlich vorstellt, eine unendliche Menge von materiellen Theilchen zur Verfügung stehen, sondern dass gerade für die Substanz, in welcher alle Eigenschaften eines Individuums auf seine Kinder vererbt werden , die Anzahl jener Theilchen ziemlich enge Grenzen hat. Doch möchte ich glauben, dass die Menge der Micelle, namentlich wenn dieselben kleiner (zu 72 0 oder zu 2-72 0) angenommen werden dürfen, für die Function, die sie zu erfüllen haben, ausreicht, auch wenn die als Träger der crblichoii Anlagen. 67 strangförmigen Idioplasinakörper einen kleineren Quersclniitt als 0,1"""" besitzen sollten^). Sie reicht ans unter den früher festgestellten Bedingungen, dass nicht die zusammengesetzten Erscheinungen , wie wir sie an den Organismen wahrnehmen, sondern die einfachen Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen, als Anlagen im Idioplasma ent- halten sind. Während im ersteren Falle das Idioplasma allerdings aus fast unendlich vielen Theilen bestehen müsste, genügt im letz- teren Falle eine begrenzte Zahl, in gleicher Weise wie die Sprache aus einer begrenzten Menge von Wörtern, die Musik aus einer be- grenzten Menge von Tönen zusammengesetzt ist. Die unendliche Mannigfaltigkeit in den Eigenschaften der Or- ganismen kann im Anlagezustand um so leichter von einer begrenzten Zahl von Micellen dargestellt werden, als diese Micelle, wenn sie so gebaut sind, wie ich es angedeutet habe, auch bei geringer Grösse einer grossen Mannigfaltigkeit in Gestalt und chemischer Beschaffen- heit fähig sind. Da aber die Micelle oder die Micellreihen der Idioplasmakörper für sich allein noch keine Anlagen sind, sondern nur durch ihre Zusammenordnung zu Gruppen, die durch ihre Con- figuration auf dem Querschnitt der Körper sich charakterisiren , zu Anlagen werden, so ist für das Idioplasma eines reich differenzirten Organismus immerhin eine erheljliche Anzahl von Micellen noth- wendig ; — und damit konnne ich auf die Constitution des Eiweiss- moleküls zurück. Würde dasselbe entsprechend der Neigung der heutigen Chemie in Folge von Polymerisation 3 • 72 C enthalten , so kämen auf das grösste Querschnittsareal der Idioplasmakörper von 0,1'^'""' und mit der kleinsten Wassermenge (2 Molekülschichten zwischen den Mi- cellen) bloss etwa 6000 Micelle (zu 6 Molekülen) und auf den Dui'ch- messer kaum Hö Micelle (gegen 25000 Micelle auf dem Querschnitt und 160 auf dem Durchmesser, wenn das Eiweissmolekül bloss 12 C enthält). Unter ungünstigeren Voraussetzungen (geringere Grösse und grösserer Wassergehalt der Idioplasmakörper) würden diese Zahlen in entsprechenden Vorhältnissen kleiner. Die eben an- gegebenen numerischen Werthe motiviren ausreichend das Bedürfniss ■) Bei einem Quersclinittssiireal von 0,054""'' (Dm = 0,'2o""^) würden die Zahlen der zweiten Columne anf die Hiilfte redncirt. 5* 68 I- Mioplasma der Physiologie, das IdioplasmamiccU und damit auch das Eiweiss- molekül möglichst klein anzunehmen. Ich habe es oben wahrscheinlich zu machen gesucht, dass das Idioplasma entweder durch die ganze Pflanze wandert oder durch die ganze Pflanze in unmittelbarer Berührung sich befindet, und dass' zu diesem Behuf e alle Zellmembranen siebartig durchbrochen sein müssen. Es fragt sich noch, wie sich diese Annahme zu den eben besprochenen absoluten Maassen des Idioplasmas verhält. Wenn die Idioplasmakörper den grössten Querschnitt von 0,1''"*'' erreichen, so müssen die Oeffnungen in den Zellmembranen wohl 0,4™"' Weite haben. Betr.ägt der Querschnitt jener Körper bloss 0,05''""'', so genügt eine Weite der Oeffnungen von nahezu 0,3'""'. In dieser Grösse bleiben sie unsichtbar, so lange sie mit Plasma erfüllt sind. Kommen, wie ich glaube, die Siebporen wirklich allgemein im Pflanzenreiche vor, so begreifen wir, dass dieselben in der Regel bloss in der nächsten Umgebung der Siebröhren , wo sie etwas grösser werden, zu sehen sind. — Was dagegen die Diosmose der Eiweissmicelle betrifft, so müssen die für sie bestimmten Canälchen in der Zell- membran kaum einen Durchmesser von 0,01 '""' besitzen, um Micelle, die sell)st l)is zu 300 • 72 C enthalten, frei passiren zu lassen. In diesem Abschnitte habe ich versucht, eine Hypothese über die materielle Natur der erblichen Anlagen aufzustellen, welche nach den jetzt l)ekannten molecularphysiologischen Thatsachen in jeder Beziehung als möglich erscheint und, wie ich hoffe, als erster Schritt zur Lösung des Räthsels führen kann. Die heutige wissenschaft- liche Einsicht verlangt die unbedingte Annahme, dass die erblichen Anlagen in der physikalischen und chemischen Beschaffenheit der Albuminate begründet sein müssen , also in der Zusammensetzung des einzelnen Micells aus den Molekülen und in der Zusammen- ordnung der gesammten Micelle zum Idioplasma. Wenn aber auch über die Theorie im allgemeinen kein Zweifel bestehen kann , so ist rück sichtlich der bestimmten Anordnung und rücksichtlich der Frage, wie das Idioplasma seine Anlagen zur Entfaltung bringe, den Hypothesen noch ein weites Feld geöffnet. Ich lege daher auch dem \^ ersuche, den ich gemacht habe, die unbestreitbar vorhandenen allgemeinen Eigenschaften des Idioplasmas in eine concrete Form zu bringen, keinen a])soluten Werth ])ei. Die Vermuthunji betreffend als Träger der erl •liehen Anlagen. 60 seine Strangnatur, für welche bloss eine grosse Wahrselieinliclikeit besteht, könnte ungegründet sein; deswegen ist doc-h die Existenz des Idioplasmas mit seiner Beschaffenheit im allgemeinen durch die Thatsachen sicher gestellt. Ich habe die Theorie eingehender entwickelt und ihre Ausführ- barkeit nachgewiesen, weil in neuerer Zeit zwei Versuche gemacht wurden, sich die erblichen Anlagen materiell vorstellbar zu machen, — Versuche, die allerdings nicht den Namen von Theorien ver- dienen, da sie nicht von physiologischen Thatsachen, sondern von willkürlichen und unmöglichen Meinungen ausgehen. Sie Averden auch von ihren Urhebern selbst bloss als »provisorische Hypothesen«, also gleichsam als hypothetisch in der zweiten Potenz bezeichnet. Es sind die Pangenesis von Darwin und die Plastidulperigenesis von Häckel. Darwin nimmt an, dass alle Zellen oder auch Theile von Zellen während des erwachsenen Zustandes und ebenso alle Zellen während aller Entwicklungszustände des Organismus »kleine Körnchen oder Atome abgeben, welche durch den ganzen Körper frei circuliren, und w^elche, wenn sie mit gehöriger Nahrung versorgt werden, durch Theilung sich vervielfältigen und später zu Zellen entwickelt werden können, gleich denen, von welchen sie berühren«. Diese Keimchen oder Zellenkeimchen werden von den Eltern den Nachkommen über- liefert und entwickeln sich meist in der unmittelbar folgenden Ge- neration, können aber auch durch viele Generationen hindurch im schlunuiiernden Zustande verharren. Ihre Entwicklung hängt ab von der Vereinigung mit anderen theihveise entwickelten Zellen oder Keimchen, welche ihnen in dem regelmässigen Verlauf des Wachstliums vorausgehen. Die Keimchen haben in ihrem schlum- mernden Zustande eine gegenseitige Verwandtschaft zu einander und vereinigen sich zu Knospen oder Sexualorganen. Dass diese mit den Worten ihres Autors wiedergegebene Hypo- these alle Erscheinungen der ^^ererbung vollständig erklärt, ist sofort einleuchtend, auch ohne die von demselben angeführten ver- schiedenartigen Beispiele. Da jeder auch noch so geringfügige und winzige Theil des Organismus, der eine besondere Qualität oder Quantität darstellt, seine Keimchen aussendet, die sieh vermehren, überallhin verbreiten, während unbegrenzter Zeit im latenten Zu- stande verharren und unter günstigen Umständen den Theil, von 70 I- Idioplasma dem si(3 ursprünglich herstainnien, wieder hervorbringen, so ist der den thatsächUchen Verhältnissen entsprechende Erfolg gesichert, wenn die Keimchen am richtigen Ort, in der richtigen Weise und zur richtigen Zeit sich vereinigen und entwickeln. Die Hypothese erweist sich also, wde dies übrigens bei dem so praktischen und gesunden Sinne ihres Urhebers nicht anders mög- lich ist, mit Rücksicht auf ihre Leistungsfähigkeit als untadelhaft, — und es ist bloss die Frage, ob die Eigenschaften, die den Keimchen zugeschrieben werden, von Seite der Physiologie als möglich zuge- standen werden. Darwin selbst geht auf diesen Punkt nicht ein, indem er sich bloss an allgemeine Analogien hält und sogar gele- gentlich gewisser Thatsachen die Aeusserung thut, er wisse nicht, wie die Physiologen dieselben betrachten, nach der Pangenesis aber sei die Erklärung einfach und glatt. Die Beurtheilung der Hypothese kann einmal die theoretische Zulässigkeit und dann die praktische Ausführl^arkeit derselben j)rüfen, und in jeder Beziehung wieder verschiedene Punkte betrachten. Ich will nur je einen Punkt besprechen und zwar zunächst die Aus- führbarkeit in molecularj^hysiologischer Beziehung. Was die Beschaffenheit der Pangenesiskcimchen betrifft, welche »Körnchen oder Atome« genannt und nicht weiter charakterisirt werden, so können dieselben weder chemische Atome noch Moleküle sein, da Kohlenstoffatome und Eiweismoleküle selbstverständlich die gleichen Eigenschaften haben, ob sie von dieser oder jener Zelle herstammen. Es können auch nicht einzelne Micelle (kr3^stallinische Molekülgruppen) sein, denn, wenn diese auch als Gemenge von verschiedenen Albuminatmodificationen ungleiche Eigenschaften be- sässen, so würde ihnen doch die Fähigkeit, sich zu vermehren und neue gleiche Micelle zu bilden, mangeln. AVir finden alle Bedin- gungen für die Beschaffenheit der Keimchen bloss in unlöslichen und festverbundenen Gruppen von All)Uininatmicellon; nur diese können vermöge ihrer ungleichen Anordnung alle erforderlichen Eigenschaften annehmen und vermittelst Einlagerung von Micellen in beliebigem Maasse wachsen und durch Zerfallen sich ver- melnvn. Die Pangenesiskcimchen müssten also kleine Mengen von Idioplasma sein. Nacli der Pangenesis-Hypothese sollen von allen Zellen eines Organismus Keimchen aljgegeben werden ; dieselben sollen sich ver- als Träger der erblichen Anlagen. 71 vielfältigen, überall vorhanden sein und bei der Fortpflanzunii,- mit der Keimanlage sich verbinden. Diese Annahme ist nothwendig; es kann nicht etwa eine Gattung von Zellen durch eine einzige Art von Keimchen, sondern jede einzelne Zelle muss durch ihre eigen- artigen Kemichen vertreten sein, und zwar aus zwei Gründen, ein- mal weil jede Zelle besondere Eigenschaften enthalten kann und nach Zeit und Ort wirklich etwas Besonderes ist, ferner weil nur auf diesem Wege die gesetzmässige Folge der Zellen gesichert ist, denn »die Entwicklung der Keimchen hängt ab von der Vereinigung mit anderen theilweise entwickelten Zellen oder Keimchen, welche ihnen in dem regelmässigen Verlauf des Wachsthums vorausgehen«. Jedes Keimchen ist also gleichsam orientirt und es vermag seine richtige Rolle in der individuellen Entwicklungsgeschichte eben da- durch zu spielen , dass es dann lebendig wird , wenn es nacli der ihm innewohnenden Orientirung an die Reihe kommt. Dieser Umstand erlaubt uns, einen Schluss auf das numerische Minimum der Keimchen in der Keimzelle eines bestimmten Orga- nismus zu machen. Ich habe früher einmal die Zahl der Zellen eines grossen Lindenbaums berechnet und 2000 Billionen erhalten '). Da im Pflanzenreiche das Wachsthum durch Zelltheilung geschieht und mit einer Zelle beginnt, so beträgt die Zahl der verschwundenen Zellen früherer Stadien genau die Zahl der jeweilen vorhandenen Zellen weniger 1. Der fragliche Lindenl)aum musste also, wenn jede Zelle nur einerlei Keimchen erzeugte, 4000 Billionen verschiedener Keimchen enthalten und bei der Fortpflanzung mussten eben so viele sich in dem Keim vereinigen, ausser den noch viel zahlreicheren Keimchen, welche von früheren Individuen und von früheren Varie- täten herstammten. Vernachlässigen wir diese letzteren und halten wir uns an die Zahl von 4000 Billionen als ein Minimum. Nun ist es sicher, dass in dem Befruchtungsstoff, welchen die Linde bei der Fortpflanzung verwendet und in welchem alle Anlagen enthalten sind, nur eine sehr beschränkte Zahl von Idioplasma- portionen (wie sie die Physiologie als Keimchen verlangen würde) und zwar kaum der billionste Tlieil jener Zahl Platz findet, — dass von den unzulässigen Micellen, selbst wenn man ihnen die denkbar kleinste Grösse gibt, kaum der hundert millionste Theil Raum hätte. ^) Die IndividualiUit in der IS'atur. 185G. 72 I- I'lioplafsma Allgenommen nämlich, die Keimclien enthielten bloss 72 C, wären also die Eivveismoleküle der Chemiker oder nach meiner Ansicht die kleinsten Micelle und besässen somit die kleinste denkbare, aber für Uebertragung von Anlagen vollständig untangliche Form, so müsste für das Minimum von 4000 Billionen Keimchen das befruchtende Ende des Pollenschlauches hundertmillionenmal mehr Substanz ent- halten, als es in Wirklichkeit der Fall ist. In diesem Beispiel habe ich eine viel zu geringe Zahl von Keimchen in Rechnung gebracht. Wird ihre Menge so hoch ange- nommen als es die Darwin'sche Theorie wirklich verlangt, so ergibt sicli auch für kleinere Phanerogamen, dass ihre einzelligen Keime milhonenmal grösser sein müssten, um alle Keimclien bloss in der Form von Eiweissmolekülen oder kleinsten Micellen aufzunehmen. Hierdurch ist die Unmöglichkeit der Pangenesishypothese mit Rück- sicht auf die numerischen und (juantitativen Verhältnisse dargethan. Sie wäre nur ausführ1»ar, wenn man den Keimchen nicht physische, sondern metaphysische Beschaffenheit, Gewichtslosigkeit und Aus- dehnuiigslosigkeit zuschreiben und damit die Frage auf ein für den Naturforscher undiscutirljares Geljiet hinüljerschiel)en wollte.. Was die theoretische Zulässigkeit der Pangenesishypothese be- trifft, so gründet sich dieselbe auf die Annahme, dass die Zellen die Einheiten der organischen Natur seien. Diese Annahme von Schieiden und Schwann, die noch von manchen Morphologen festgehalten wird, ist aljer nicht nur im Princip unrichtig, sondern auch namentlich für die Physiologie unbrauchbar. Die Zelle ist für den morphologischen Aufl)au eine sehr wichtige Einheit, aber nicht etwa allgemein die Einheit schlechthin. Unter Einheit müssen wir, physikalisch aufgefasst, ein System von materiellen Theilen verstehen. Es gibt demnach in der orga- nischen Welt eine grosse Zahl von über- und untergeordneten Einheiten'): die Pflanzen- und Thierindividuen, — die Organe, — Gewebstheile, — Zellgruj^pen (im Pflanzenreiche z. B. die Gefässe und Siebröhren), — die Zellen, — Theile von Zellen (Pflanzenzell- meinbran, Plasmakörper, Plasmakrystalloide, Stärkekörner, Fettkügel- ') Ich ha])c diese ]jei iillseiti,u;er Wünligniifj; der Tliatsacheu fast selhst- vcrstaiidliclie, aber immer noch niclit zu richtij!:er und allgemeinerer Anerkennung gelangte Anschauung sclion 1853 (Systematische Uebersicht der Erscheinungen im Pflanzenreich) und besonders 1856 (Die Individualität in der Natur) ausgesprochen. als Träger der erblichen Anlagen. 73 clieii u. s. w.), — die Micelle, — die Moleküle, — die Atoine. ßald tritt die eine, bald die andere Einheit in morphologischer und })hy- siologisclier Beziehung charakteristischer und ausgeprägter hervor. Somit ist kein Grund, warum bei einer allgemeinen Theorie eine besondere Stufe der Gestaltung begünstigt sein sollte. Darwin verbindet aber mit dem Begriff der Einheit offenlmr iioeli den Nebenbegriff der inneren Gleichartigkeit, und er scheint dafür zu halten, dass die Zellen als innerlich homogen in der Regel durch eine einzige Art von Keimchen hervorgebracht werden können. Denn er sagt, wenn ein Protozoon aus einer homogenen Masse ge- l)ildet sei, so werde ein von irgend einer Partie desselben abgelöstes Keimchen das Ganze reproduciren. Wenn aber die obere und untere Fläche in ihrer Textur von den centralen Tlieilen abweichen, so müssen alle drei Theile Keimchen abgeben, welche vereinigt wieder das Ganze liervorl)ringen. Nach der Meinung Darwin's muss also jeder materiell ver- scliiedene Theil einer Zelle seine besondern Keimchen erzeugen, um dereinst wieder in seiner Eigenartigkeit sich verwirklichen zu können. Nun gil>t es nicht nur viele Pflanzenzellen, die aus einer grossen Menge schon durch das Mikroskop nachzuweisender ver- scliiedener Theile bestehen ; sondern es lässt sich darthun, dass nicht zwei der kleinsten Plasmapartien, selbst nicht zwei Micelle einander ganz gleich sein können, und dass, um eine neue gleiche Zelle zu er- zeugen, wenigstens jedes Micell durcli seine Keimchen vertreten sein müsste. So wird die Pangenesishypothese, welche nach allgemeinen morphologischen Vorstellungen ausgedacht und nicht physiologisch erwogen wurde, ad absurdum geführt, — ein Resultat, das allerdings der Nichtphysiologe unmöglich voraussehen konnte. Wir bedürfen, um die Erl>lichkeit zu begreifen, nicht für jede durch Raum, Zeit und Beschaffenheit bedingte Verschiedenheit ein selliständiges besonderes Symbol, sondern eine Sul)stanz , welche durch die Zusannnenfügung ihrer in beschränkter Zahl vorlumdencn Elemente jede mögliche Combination von Verschiedeidieiten dar- stellen und durch Pernuitation in eine andere Comljination derselben übergehen kann. Darwin hat viel Mühe und Scharfsinn (hmiuf verwendet zu zeigen, dass seine Hypothese die mannigfaltigen Tiuitsachen der Ver- erl)ung zu erklären vermag, oder wenigstens nicht in Widerspruch 74 I- Idioplasma mit denselben gerätli. Dies ist ihm nun auch vollkommen ge- lungen^); deswegen wird aber die Hypothese um nichts sicherer. Denn es steht zum voraus fest, dass, wenn eine Theorie das Allge- meine erklärt, sie auch alle Einzelheiten zu erklären vermag, die jener Allgemeinheit untergeordnet sind. Der Pangenesis wurde von H ä c k e 1 die P 1 a s t i d u 1 p e r i - genesis entgegengestellt. Ich kann die letztere nicht unerwähnt lassen, da sie sich als >ein Versuch zur mechanischen Erklärung der elementaren Entwickelungsvorgänge« eingeführt hat und somit als in naher Beziehung zu dem Motiv dieser Abhandlung erscheint. Der Gedankengang mit den eigenen Worten des Autors ist folgender : »Der ganze Weltprocess ist bedingt durch Gesetze der Mechanik. Um in die Mechanik des l)iogenetischen Processes einzudringen, muss die l)ewirkende Ursache in der Bewegung der »Plastidule«^) (Plas- mamoleküle) gesucht werden. Vom höchsten Gesichtspunkte aus l)etrachtet, verläuft der Ijiogenetische Process als eine periodische Bewegung, deren anschaulichstes Analogon das Bild einer verwickelten Wellenl)ewegung ist. Die i)hylogenetische Ahnenreihe gleicht einer Wellenlinie, in welclier das individuelle Leben jeder einzelnen Person einer Welle entspricht, und der ganze Stammbaum erhält das Bild einer verzweigten Wellenljewegung. In gleicher Weise ist die Ontogenie eine verzweigte Wellenbewegung, in welcher die »Piastiden« (Zellen) den einzelnen Wellen entsprechen, und da die »Plastide« das Product aus den activen Bewegungen ihrer constituirenden »Plastidule« ist, so nmss auch die unsichtbare Plastidull^ewegung eine verzweigte Wellenbewegung sein. Diese wahre und letzte causa efficiens des l)iogenetischen Processes nennen wir Perigenesis der Plastidule oder die periodische Wellenbewegung der Lebenstheilchen.« Diese ganze sc]ieinl)are Analyse der Lel)enserscheinungen Ijeruht darauf, dass die verschiedenen Stufen derselben in das nämliche Bild gebracht werden, welches in der Form einige mechanische ') AVenn Hacke 1 l)eliaui)tet, dass die Pangenesis -Hypothese mit den Er- fahrungen über Differenzirung, Arbeitstheikmg, Generationenfolge unvereinbar sei, so scheint dem deutschen Natnrphilosophen der rotlie Faden in den nüchternen Auseinandersetzungen des })raktischen Engländers entgangen zu sein. ■■^) »riastidnle (riassonmoleküle) = Plasniodule (Protoplasmamoleküle) -f Cocco- dule (Coccoplasnuunoleküle). « als Träger der erblichen AnUtgen. 75 Anklänge hat, dessen Berechtigung aljer mehr als l'raghch ist. Wenn die individuelle Erscheinung (Art, Individuum, Zelle, Molekül) einer Welle verglichen ^vird, so ist dieses einigende Band die Welle der Poeten, nicht die der Physiker. Die Individuen einer Ahnen- reihe beisj)eilsweise sind nach Zeit und Stoff scharf von einander geschieden; jedes besteht bis auf einen meistens minimalen Theil aus anderer Materie. Die nach einander durch ein Medium ver- laufenden Wellen der Physiker dagegen werden durch die nämliche Materie Ijewirkt und ents})rechen bloss verschiedenen Schwingungs- zuständen der gleichen und nicht von der Stelle rückenden materiellen Theilchen. Eine Analogie zwischen den beiden Erscheinungen, welche über den äusseren Anschein hinausginge und für mehr als eine dichterische Vergleichung bemitzbar wäre, besteht in keiner Weise. Wenn ferner deswegen, weil die Ahneiu'eihe sich verzweigt, auch von einer verzweigten Wellenbewegung gesproclien wird, so entfernt sich das Gleichniss der Perigenesis-Hypothese vollends von dem physikalischen Boden, indem die Physik wohl von einer Kreuzung der Wellen, aber nichts von einer Verzweigung derselben im Sinne jener Hypothese weiss. Die verzweigte Wellenbewegung der »Plastidule« (Moleküle) wird bloss durch einen Schluss vom Ganzen auf den Theil vermutliet. Weil die Entwickelung der »Plastide« (Zelle) das Product aus den Plastidulbewegungen ist, so sollen diese nach der Meinung des Autc^rs den nämlichen Charakter besitzen wie die Lebensbewegungen der Piastiden, Personen, Arten u. s. w. Nun kommt es wohl ausnahms- weise vor, dass der Theil die Bewegung des Ganzen hat. In der Regel besteht a])cr zwischen beiden eine Verschiedenheit, indem ja die Bewegung des Ganzen in der Summe der Bewegungen seiner Theile besteht. So haben auch die Wassermoleküle ganz andere Bewegungen, als sie die ganze wellenbewegte Wasserfläche zeigt, und die Bewegung des Wassertropfens ist gänzlich verschieden von den Bewegungen seiner Moleküle. Der Irrthum, der in dem Schlüsse vom Ganzen auf den Theil liegt, wird noch bedeutender, da die Perigenesis-Hypothese Bewegung und materielle Beschaffenheit in causale Beziehung zu einander l)ringt. Die Folge davon ist, dass das Molekid nicht bloss die Be- wegung, sondern auch das ganze Wesen des Organismus in sich vereinigen soll. Wenn der Autor beispielsweise sagt, dass bei den 76 I- Idioplasma Moneren »jedes Tlieilchen alles leisten könne, was das Ganze leistet«, und somit »jedes Molekül in physiologischer oder pliysikalisch- chennscher Beziehung gleich dem ganzen Körper sei«, so ist dies eine für die ganze Natm'anschauung verhängnissvolle Behauptung, die nur einer ausschliesslich morphologischen Betrachtung als möglich vorkommen kann, vor jeder etwas eingehenderen physiologisclien Analyse aber sich als nichtig erweist. Plasmamolekül und Plasma- masse können rücksichtlich der Gestaltung und der Verrichtung gar nicht mit einander verglichen werden; sie sind noch vielmehr von einander verschieden, als ein Eisenmolekül imd ein complicirtcr, aus eisernen Rädern und Federn liestehender Mechanismus. Ich werde auf diesen Punkt bei der Urzeugung näher eintreten. Indem die Perigenesis-Hypf)these mit der Veränderung der Or- ganismen in der phylogenetischen Reihe in entsprechendem Maasse die Wellenbewegung und die Zusammensetzung der Plastidule sich verändern lässt, so gewinnt sie eine von den jetzigen chemischen Vor- stellungen wesentlich abweichende Anschauung von den Albuminaten. Nach ihrer Annahme müssen in allen verschiedenen Pflanzen und Thieren aueh ungleiche Albuminatm oleküle, also ungleiche Albuminat- ver1)indungen, vorkommen, und namentlich könnte bei niederen und höheren Pflanzen oder Thieren nicht die gleiche Verbindung die Plastidule l)ilden. Im Gegensatze hiezu weisen alle Erfahrungen der Chemie entschieden darauf hin, dass die grosse Mannigfaltig- keit in den Allanninaten durch Gemenge weniger Verbindungen bewirkt wird. Betrachten wir mm die Rolle, welche die Moleküle nach der Perigenesis- Hypothese übernehmen sollen, um den Lebensprocess der Organismen hervorzubringen, so fällt uns zunächst der Mangel an Uebereinstimmung zwischen den Prämissen und den Folgerungen auf. Weil die Entwickelungsbewegung der Stämme, Classen, Ord- nungen, Familien, Gattungen, Arten, Individuen und Zellen die verzweigte Wellenbewegung sei, müsse auch dem Theilchen des letzten Theils, dem Molekül, die gleiche Form der Bewegung zu- kommen. Diese besteht nun, wie in Wort und Zeichnung aus- geführt wird, darin, dass ein in Wellen! )ewegung befindliches orga- nisches Individuum wächst und sich dann durch Verzweigung der Wellenbewegung in zwei oder mehrere neue Individuen tlieilt. Man erwartet also, dass die »verzweigte Wellenbewegung des Mole- als Träger der erblichen Anlagen. 77 küls« ebenfalls durch Wcichstliuiii und Theilung sich äussere. Dies würde die Consequenz verlangen und der Lehre einen logischen Ge- halt geben, während eine anders geartete verzweigte Wellenbewegung des Moleküls keinen Daseinsgrund hat. Der Autor glaubt aber in diesem Punkte der Chemie eine Con- cession machen zu müssen. Die Plastidule der Perigenesis sind Einzelmoleküle, welche nicht wachsen und sich niclit vervielfältigen. »Sie können bloss ihre individuelle Plastidulbewegung auf die be- nachbarten Plastidule übertragen und dm'ch Assimilation in ihrer unmittelbaren Umgebung neue Pastidule von derselben Beschaffen- heit ])ilden, ... sie können ferner ihre atomistische Zusammensetzung infolge äusserer Einflüsse sehr leicht ändern und damit aucli ihre Plastidulbewegung. . . . Indem die schwingende Molecularbewegung der Plastidule sich als ^^ererbung überträgt, gestaltet sie sich zu einer verzweigten Wellenbewegung.« So steht also die verzweigte Wellenbewegung der Moleküle, die aus der Bewegung der Individuen höherer Grade abgeleitet wurde, in keinem nothwendigen Zusammen- hang mit ihren Prämissen; sie steht vielmehr im Gegensatz zu denselben und verdiente daher auch einen neuen griechischen Namen. Diese Inconsequenz, dm'cli die freilich die ganze vorausgehende Dcduction des Autors hinfällig wird, lassen wir uns aber gerne gefallen ; denn damit sind wir aus dem Dunkel der nicht vorstell- baren Ideen von verwickelten und verzweigten Wellenbewegungen, die den Zellen und Personen zukommen sollen, in das klare Licht der thatsächlichen Begriffe getreten. Die Schwingungen der Mole- küle, wenn anders darunter die bekannte physikalische Erscheinung verstanden wird, bieten eine sichere Grundlage für eine naturwissen- schaftliche Hypothese. Hier also erwarten wir, dass der »Versuch zur mechanischen Erklärung der elementaren Entwickelungsvorgänge« beginnen werde. Aber dieser Versuch wird nicht unternonnnen ; die angeführten Worte sind das Einzige, was zur besagten Erklärung beigebracht wird. Da der Urheber der Perigenesis-Hypothese nicht zu zeigen ver- sucht, wie aus den Schwingungen der Moleküle die Erscheinungen des organischen Lebens zu Stande konnneii, da also die Möglichkeit, dass es geschehe, imiiun- iiocli vorausgesetzt werden könnte, will ich kurz zeigen, dass diese M()gli(hkoit niclit besteht. 78 I. Idioplasma Der Autor nimmt an, dass die Plastidule (Moleküle) vereinzelt seien, nnd er meint, dass jedes wahrscheinlich von einer Wasserhülle umgehen werde. Dadurch würde wohl Raum für seine ])iogenetischen Schwingungen und für die Erzeugung neuer Moleküle zwischen den schon vorhandenen geschaffen. Eine solche Annahme ist aher unmöglich , wie ich schon vor 22 Jahren für Stärkekörner und Pflanzenzellmembranen nachgewiesen habe, und wie sich aus analogen Gründen auch für die übrigen micellösen Substanzen ergibt. Die Moleküle der jetzigen Chemie, wie sie auch der Autor annimmt, sind in den organisirten Körpern nicht vereinzelt, sondern zu kr}^- stallinischen, das polarisirte Licht doppeltbrechenden, auch für das Mikroskop unsiclitbar kleinen Micellen vereinigt^). In den letzteren spielen die Moleküle die gleiche Rolle wie in den sichtbaren Kr}^- stallen. Die Ucächsten Elemente der organisirten Substanzen sind also nicht die Moleküle, sondern die festen aus mehreren oder vielen Molekülen bestehenden Micelle. Diese letzteren sind von dem Imbibitionswasser umspült; unter ihrem Einflüsse geschehen die Lebensprocesse der organisirten Körper, namentlich auch das Wachsthum durch Einlagerung neuer Micelle. Wäre aber auch die Micellarconstitution nicht vorhanden und wären wirklich, wie der Autor annimmt, die vereinzelten Moleküle die constituirenden Elemente der organisirten Substanz, so könnten sie docli unmr)gli('h in der von der Perigenesis-Hypothese vorge- schlagenen Weise die Organisation erklären, wie sich aus einer Analyse der Molecularbewcgungen ergil)t. Die Physik kennt fortschreitende, drehende und schwingende Bewegungen des ganzen Moleküls, und andere sind überhjuipt nicht denkl)ar. Die Perigenesis-Hypothese nun knüpft an die Schwingungen an, und gewiss wären die fort- schreitenden und drehenden Bewegungen noch weniger brauchbare Elemente. Die verschiedene Wirkung der Plastidule, welche Infusorium oder Säugethier, Alge oder Phanerogamenpflanze hervorbringt, muss also nach der genannten Hypothese in der Verschiedenheit ihrer Schwingungen begründet sein; und diese besteht bekanntlich bloss ') Ich nannte die Micelli^ damals in Uebereinstimnning mit den Thier- physiologen, welelie die kleinsten Tlieilclien als Molekeln l)ezeichneten, Moleküle, bestehend aus einer grösseren Zahl von (zusammengesetzten) Atomen der da- maligen oder Molekülen der jetzigen Chenüe. als Träger der erljliclien Anlaf^en. 71) in der ungleichen Schwingungsdauer und der ungleichen Schwingungs- intensität (Schwingungsweite). Es unterliegt keinem Zweifel, dass wie hei der Farben- und Tonerzeugung die Schwingungsdauer die Qualität, die Schwingungsintensität die Stärke der Wirkung bedingen müsste; es müssten beispielsweise die niederen Organismen eine längere, die höheren eine kürzere Schwingungsdauer der Moleküle besitzen, sodass sie sich wie tiefe und hohe Töne zu einander ver- halten würden. Nun wird niemand verkennen, dass eine solche Yor- stellung ganz unhaltbar wäre ; denn niedere und höhere Organismen verhalten sich zu einander wie Einfaches und Zusammengesetztes, was mit der Schwingungsdauer, mit Tönen und Farben nicht der Fall ist; und ferner gibt es bei den Organismen stets mehrere oder viele, die der gleichen Stufe der Zusammensetzung angehören und also, obgleich unter einander verschieden, doch der nämlichen Sehwingungsdauer ihrer Plastidule entsprechen würden. Offenbar verbindet aber die Perigenesis-Hypothese , wenn sie von »schwingenden Molecularbewegungen « als der bewirkenden Ur- sache der Organisation spricht, damit eine ganz andere Meinung als die Ph3'sik. Denn sie schreiltt denselben verschiedene mechanisch unmögliche Eigenschaften zu. Die Plastidule sollen Moleküle ganz besonderer Art sein; ihnen kommen active Bewegungen zu, die sie übertragen können, während den üljrigen Sul)stanzmolekülen nur passive Bewegungen zugestanden werden, welche die Schwingungen der Plastidule nicht beeinflussen; die letzteren ändern ferner ihre Molecularschwingungen , wenn sich die Atome in ihrem Innern umlagern. Nach mechanischen Principien können Verschiebungen des Schwerpunktes eines materiellen Systems (Moleküls), somit auch Scliwingungen oder Schwingungsänderungen des Sj^stems nur durch äussere, nicht durch innere Kräfte, nur durch Druck oder Zug, der von aussen wirkt, nicht durch Configurationsänderungen oder Um- lagerungen im Innern erfolgen. Ferner werden, wenn Körper mit ungleichen Schwingungen auf einander einwirken, nicht etwa die Schwingungen des einen (activen) auf den andern (passiven) Körper ül)ertragen; sondern beide sind mechanisch gleich berechtigt, beide sind in gh^clicm Maassc activ und passiv und l)eide verändern ihre Schwingungen. Es müssen also nach mechanischen Gesetzen nicht nur die Schwingungsintensität, sondern auch die Sclnvingungsdauer 80 I- I'Hoplasma eines Plastidiils verändert werden, sowie die Wassermenge, die Menge und Natur der darin gelösten Verbindungen, die Anordnung und Beschaffenheit der übrigen Moleküle in seiner Umgebung sich ändert, weil, um mich bildlich auszudrücken, durch alle diese Momente die Länge des Molekülj^endels verändert wird. Im Widerspruche mit dieser Thatsache muss die Perigenesis-Hypothese eine specifische Schwingungsdauer der Plastidule annehmen. Diese Hypothese legt iilso ihren Molecularschwingungen nicht die bekannten physischen, sondern neue unphysikalische Eigen- schaften bei, und sie hätte dies in vermehrtem Maasse thun müssen, wenn sie, statt auf einige allgemeine Andeutungen sich zu beschränken, es versucht hätte, aus den Molecularschwingungen der Plastidule die verschiedenen Eigenschaften der Organismen wirklich zu construiren. Wird sie ja schon, um sich die ^"ererbung zurecht zu legen, ver- anlasst, den Plastidulen ein Gedächtniss zu ertheilen ; die Moleküle sollen ihre Erfahrungen nicht vergessen, daher es ihnen denn auch nicht schwer fallen kann, wieder das zu thun, was sie früher oder was ihre Vorfahren gethan haben. Die Perigenesis-Hj'pothese macht sich in allen Stücken frei von den engen Fesseln der exacten Wissenschaft. Sie schreibt ihren Molekülen andere Eigenschaften zu als die Physik und Chemie. Wenn sie verlangt, dass »jede zusunnnengesetzte und verwickelte Erscheinung nur durch Auflösung in ihre einzelnen Bestandtheile und genaueste analytische Untersuchung dieser letzteren zum Ver- ständniss gebracht und erklärt werde; deswegen müssen wir noth- wendig auch in der mechanischen Entwicklungstheorie bis in die letzten Elementarvorgänge eindringen«; — so glaubt sie diese Auf- gabe dadurch erfüllen zu können, dass sie mit jeder Eigenschaft des zusammengesetzten Organismus (Gedächtniss etc.) schon die ein- fachsten Bestandtheile desselben (die Moleküle) ausstattet. Während die strenge Wissenschaft eine mechanische Erklärung erst dann als gegel>en erachtet, wenn eine Erscheinung als die nothwendige Folge bestimmter Ursachen nachgewiesen wird , versteht die Perigenesis- Hypothese unter mechanischer Erklärung schon die blosse Hin- deutung, dass etwas auf mechanische;n Wege geschehen könnte. So sagt sie: »dass der biogenetische Process eine verzweigte Wellen- bewegung darstellt, wird wohl allgemein zugegeben w^erden; da wdr nun aber die bewirkende Ursache dieser höchst zusammengesetzten als Träger der erblichen Anlagen. 81 Wellenbeweguii«; nur in der molecularon Plastidulbewegung finden können , so müssen wir ancli die letztere als eine Undulation auffassen« ; — und damit soll die mechanische Erklärung ge- leistet sein. Die Plastidulperigenesis ist ein Product der Naturphilosophie und als solches so gut wie jedes andere aus der gleiclien Quelle erflossene Product. Ihr Fehler wie bei jeder naturphilosophischen Lehre ist der, dass sie ihre Ahnungen als Thatsachen ausgibt und für dieselben unpassende naturwissenschaftliche Bezeichnvnigen braucht und in unberechtigter Weise naturwissenschaftliche Bedeutung in Anspruch nimmt. Ich habe den Hj'pothesen der Pangenesis und der Plastidul- perigenesis eine einlässlichere Besprechung gewidmet, weil durch dieselbe am besten die Notli wendigkeit der Idioplasmatheorie sich herausstellt. Wenn ein grosser, in zahlreiche Theile gegliederter und mit zusammengesetzten Functionen begabter Organismus bei der Fortpflanzung seine ganze Eigenthümlichkeit vermittels einer winzigen Partie scheinbar homogener Suljstanz vererbt, so sind dafür über- haupt nur zweierlei Erklärungen möglich. Entweder sind die kleinsten Theilchen der Keimsubstanz in Folge besonderer und übernatürlicher Begabung die individuellen Träger der Eigenschaften des Ganzen und dadurch im Stande diese Eigen- schaften wieder ins Leben zu rufen, — oder die kleinsten Theilchen sind gewöhnliche Moleküle, die bloss mit ihren natürlichen Kräften und Bewegungen ausgestattet sind und die einen specifischen Orga- nismus nur dadurch hervorzubringen vermögen, dass sie der Ent- wicklung desselben durch ihre besondere Zusammenordnung mit Nothwendigkeit eine eigenthümliche Bahn anweisen. Die erstere Erklärung ist die Folge morphologischer und natur- pliilosophischer Anschauung. Sie personificirt wie die Pangenesis- Hypothese jede einzelne Theileigenschaft in besonderen m3'stischen Keimchen, oder wie die Perigenesis-Hypothese complicirte Functionen in den durch besondere mystische Bewegungen (und Kräfte) ausge- zeichneten Molekülen. Das eine und das andere führt logisch zu metaphj'^sischen Voraussetzungen. Y. Nägeli, Abstammungslehre. fj g2 I- Idioplasma als Träger der erblichen Anlagen. Die zweite Erklärung sucht auf dem Boden der natürlichen Dinge die Entwicklung organisch zu gestalten. Die Idioplasma-Theorie macht keinen Anspruch darauf, eine mechanische Erklärung zu geben, denn dazu fehlen noch alle Anhaltspunkte; wohl aber gestattet sie die einzig mögliche Vorstellung, wie die Vererbung und die phylo- genetische Veränderung auf natürlichem, somit auf mechanischem Wege erfolgen kann. IL Urzeugung. Die Entstehung des Organischen aus dem Unorganischen ist in erster Linie nicht eine Frage der Erfahrung und des Experiments, sondern eine aus dem Gesetze der Erhaltung von Kraft und Stoff folgende Thatsache. Wenn in der materiellen AVeit alles in ursäch- lichem Zusammenhange steht, wenn alle Erscheinungen auf natür- lichem Wege vor sich gehen, so müssen auch die Organismen, die aus den nämlichen Stoffen sich aufl^auen und schliesslich wieder in dieselben Stoffe zerfallen, aus denen die unorganisclie Natur besteht, in ihren Uranfängen aus unorganischen A'^erbindungen entspringen. Die Urzeugung leugnen heisst das AA'^under verkünden. Sowie die Abkühlung der früher feurig-heissen Erdoberfläche bis zu der das Leben gestattenden Temperatur fortgeschritten war, entstanden die ersten Organismen an den die nöthigen Bedingungen enthaltenden Stellen ; und auch später und jetzt noch muss Ur- zeugung überall stattfinden , wo die A^erhältnisse die nämlichen sind, wie in der L^rzeit. Die dagegen vorgebrachten Beoliachtungen vnid A'^ersuche, welche das Nichteintreten der LTrzeugung ergal)en, beweisen nichts, da sie nur für l)estimmte Annahmen gültig sind, für welche die Theorie selbst schon das freiwillige Entstehen als umnöglich behaupten muss. Man hat die Nothwendigkeit der Annahme, dass die ersten Organismen auf der abgekühlten Erde sich geljildi't halten, (hircli den Einwurf zurückweisen wollen, dass diesell)en möglicherweise von andern AVeltkörpern hergeflogen kamen. Sie konnten die Reise auf Meteorsteinen machen, und es ist nicht undenkljar, dass in der 6* 84 II. Urzeugung. Vertiefung eines grosseren solchen Körpers die Temperatur beim Durcheilen der Erdatm osphcäre nicht so hoch stiege, um die darin befindlichen Lebewesen oder deren Keime zu zerstören, da dieselben einer trockenen Hitze von ziemlich mehr als 100 Graden wider- stehen. Damit wurde aber, meiner Ansicht nach, nicht die Haupt- schwierigkeit beseitigt. Die grosse Gefahr, welche Organismen auf einer Wanderung von einem Weltkörper auf den andern bedroht, l)esteht wohl nicht in extremen Temperaturen, selbst nicht in der grossen Kälte des Weltraumes , obgleich wir über die Wirkung der letzteren nichts wissen , sondern in dem vollstcändigen Austrocknen , wovor sie im luftleeren Räume nicht bewahrt bleiben können. Die widerstands- fähigsten Organismen, die wir kennen, die Spaltpilze, welche die feuchte Siedhitze ertragen, gehen durch längeres scharfes Austrocknen zu Grunde, und ich bin überzeugt, dass selbst ihre Sporen nach einem nicht sehr langen Aufenthalt in dem Vacuum des Weltraumes, wo sie ihren Wassergehalt vollständig verlieren würden , leblos auf der Erde anlangten. Es ist daher, wenn es nicht noch andere, mit anderen Eigenschaften begabte, niedere Organismen, als die uns bekannten, gibt, keine Hoffnung, dass ein Weltkörper den andern mit organischem Leben besame, aber auch keine Gefahr, dass einer den anderen mit den (in Spaltpilzen bestehenden) Keimen seiner Lifectionskrankheiten anstecke. Sollte aber gleichwohl die organische Welt unserer Erde aus dem Welträume eingewandert sein, so wäre damit die Nothwendigkcit der Annahme einer spontanen Entstehung nicht beseitigt, sondern nur in andere Zeiten und Räume verlegt. Die Frage aber, ob das organische Leben von Ewigkeit her von der unorganischen Natur gesondert sein konnte, ist wie etwa diejenige über die Ewigkeit des Kohlenstoffs transcendenter Natur und daher nicht besprechbar. Was wir sicher wissen, — dass das Unorganische in den Organismen zu organischer Substanz wird und dass die organische Substanz wieder vollständig in unorganisclie ^'^erbindungen sich zurückver- wandelt, — genügt, um vermöge des Causalgesetzes die sj^ontane Entstehung der organisclion Natur aus der unorganischen abzuleiten. Mit Hülfe dessen , was uns über das Leben und die Entwicke- hmgsgesetze der Organismen l)ekannt ist, können wir die Urzeugung auf gewisse Formen beschränken, indem wir darthun, dass sie bei 11. Urzeugung. 85 den ül)rigcn unniöglicli ist. Zu den physiologischen Bedingungen gehört, dass der entstehende Organismus existenzfähig sei, d. h. dass er von der ihm dargehotenen unorganischen Nahrung leben könne. Da nur die grünen Pflanzen diese Bedingung erfüllen, da die Pilze und die Thiere von den unveränderten oder sich zersetzenden Stoffen leben, welche jene gebildet ha])en, so habe ich früher angenommen, die spontan entstehenden Wesen müssten Chlorophyll oder einen verwandten Farbstoff enthalten, mn Kohlensäure und Ammoniak als Nahrung verwenden zu können ^). Die Erfaln-ungen , welche seitdem über Ernährung der niederen Pilze von mir ^) und An- deren gemacht wurden und welche zeigten, dass für dieselben eine einfachere Stickstoffkohlenstoffverbindung oder Ammoniak mit einer organischen Säure ausreicht, haben jene Meinung erschüttert. Es kann also auch ein farbloser Organismus , wenn er diese Stoffe dauernd vorfand, die organische Welt begonnen haben. Eine andere sowohl physiologische als morphologische Bedingung für die Urzeugung ist die, dass das entstehende Wesen sich nicht in einem Zustande befindet, welcher die vorhergehende Thätigkeit eines anderen lebenden Wesens voraussetzt. Es können daher keine mehrzelligen Organismen als solche ursprünglich entstehen, denn diese entwickeln sich naturgemäss aus einzelligen Keimen. Auch diese einzelligen Keime mehrzelliger Wesen können sich nicht sjjontan bilden, denn sie sind von ihren Eltern mit organischen Nährstoffen ausgestattet, und ferner sind sie mit Rücksicht auf eine l)ereits durchgeführte, wenn auch noch wenig weit reichende Arbeits- theilung angelegt. Aus dem nämlichen Grunde ist auch die grosse Mehrzahl der zeitlebens im einzelligen Zustande verharrenden Or- ganismen von der Urzeugung auszuschliessen. Wir können überhaupt als Bedingung aussprechen , dass das spontan entstehende Wesen noch vollkommen einfach und ohne Differenzirung sei, dass keinerlei Theilung der A^'errichtungen bestehe, dass es niclit verschiedene Zustände durchlaufe, dass also in seinem Idiojjlasma noch keine Anlagen vorhanden seien, denn diese sind ') Entstehung und Begriff der natnrliistorisehen Art. 1HG5. 2) Ernährung der niederen Pilze duicli Kohlenstoff- und Stickstoffverl)indungen (Untersuchungen über niedere Pilze aus dem jiflaiizeniihysioldgisclien Institut in 31ünchen. 1882) 86 II- Urzeugung. das Product physiologischer und morpliologischer Ghederung, somit das Ergebniss vorausgehender Arbeit. Wenn icli von diesem Gesichtspunkte aus die Frage aufwerfe, welche Formen der organischen Reiche durch Urzeugung entstehen können, so ergibt sich die Antwort, dass keiner der bekannten Or- ganismen dazu fähig sein möchte. Die niedersten Pflanzen (Chroo- coccaceen und Schizomyceten) sind schon wiegen der Zellmembran, wclclie den Plasmainhalt undiüllt, lange nicht einfach genug. Und was die Moneren betrifft, deren spontane Entstehung von Häckel als gewiss angenommen wird, so sclieint mir, wie ich später zeigen werde, deren geringe Grösse und ausgebildete Bewegung auf einen längeren vorausgehenden pliylogenetischen Entwickehmgsj^rocess hin- zudeuten, abgesehen davon, dass dieselben sicher nicht allein, d. h. ohne die Zersetzungsproducte anderer Organismen, leben können. Die Wesen, die einer spontanen Entstehung fähig sind, kennen wir also noch nicht. Sie müssen eine noch einfachere Beschaffen- heit hal)en, als die niedrigsten Organismen, welche uns das Mikro- skop zeigt; darin liegt zugleich auch der Grund, dass sie noch nicht entdeckt sind. Je einfacher die Organismen, um so kleiner sind sie auch. Da nun die Grösse der bekannten niedrigsten Pflanzen und Thiere schon an der Grenze der Sichtbarkeit sicli befindet und da es so kleine Sj^altpilze gibt, dass sie kamn gesehen und bloss durch ihre zersetzenden Wirkungen sicher erkannt werden, so können, wenn es noch einfachere Wesen gibt, dieselben unter der mikro- skopisch erkennbaren Grösse sich befinden. Für derartige Wesen haben alle Versuche über Urzeugung keine Beweiskraft. Diese Versuche bestehen innner darin, dass man eine gärungs- und fäulnissfähige Flüssigkeit durch Erhitzen von allen lebenden Keimen befreit, und dann zeigt, dass bei hinreichendem Verschluss keine Zersetzung eintritt. Es ist damit nur bewiesen, dass imlcr den angewendeten Verhältnissen keine Pilze entstehen, während die Bildung von nicht zersetzenden organischen Wesen, die eine geringere oder selbst ebenso beträchtliche Grösse haben als die kleinsten Spaltpilze, sowie die Bildung von ziemlich grossen, aber nocli mikroskopischen primordialen Plasmamassen immerhin möglich wäre. Da das durch Urzeugung entstehende Wesen vollkommen einfach sein muss, so kann es nur ein Tröpfchen von homogenem II. Urzeugung. 87 Plasma sein, das bloss aus Albumiiiaten ohne Beimengung von anderen organischen Verbindungen als den Nährstoffen, ohne äussere Formbildung und ohne innere Gliederung besteht und durch die unorganischen oder einfachen organischen Verbindungen, aus denen es selbst entstanden ist, sich vergrössert und ernährt. Die Urzeugung setzt also die spontane Bildung von Albuminaten voraus. Das Problem, Eiweiss auf synthetischem Wege darzustellen, ist zwar der organischen Chemie noch nicht gelungen. Dieser Mangel ist aber um so begreiflicher, als die künstliche Zusammensetzung der organischen Verbindungen überhaupt noch eine so Junge Wissenschaft ist und diejenige des so räthselhaften Eiweissmoleküls von noch unbekannter Atomformel jedenfalls die schwierigste sein ward. Was aljer die Entstehung in freier Natur betrifft, so gibt es keinen Grund, warum dieselbe als unmöglich oder auch nur als unwahrscheinhch zu bezeichnen wäre. Der Einwurf, dass spontane Eiweissbildung nicht beobachtet sei, hätte nur einigen Werth, wenn zugleich wahrscheinlich gemacht wäre, dass ihr Vorhandensein nicht verborgen bleiben könnte — was aber, da aus verschiedenen Gründen eine Beschränkung auf mikroskopische Mengen sehr nahe liegt, nicht zutrifft. Wahrscheinlich geschieht sie nicht in einer freien Wasser- masse, sondern in der benetzten oberflächlichen Schicht einer fein porösen Substanz (Lehm, Sand), wo die Molecularkräfte der festen, flüssigen und gasförmigen Körper zusammenwirken. Wie sehr die Fläclienkräfte eines in sehr feiner Vertheilung h)efindlichen festen Körpers die chemische Umsetzung befördern können , ist ja durch die Beispiele von Platinschwamm und Kohle bekannt. Wahrscheinlich wird ferner die spontane Eiweissbildung durch einen bestimmten Wärmegrad begünstigt, so dass sie in der Urzeit nach der Abkühlung der Erdoberfläche auf Brutwärme an zahlreichen Stellen, in unserer Zeit aber wohl noch da und dort in wärmeren Klimaten , sowie in der wärmeren Jahreszeit kälterer Gebiete geschehen kann. Für die Art und Weise, wie sich Eiweiss spontan l)ilden könnte, gibt uns seine Entstehung in den Pflanzen aus einfachen Stickstoff- kohlenstoffverbindungen und aus Verbindungen von Aiunioniak mit organischen Säuren einigen Aufschluss. Der eine oder andere Weg ist denkbar ; in jedem Fall wird kohlensaures Ammoniak der Ausgangs- punkt der spontanen Bildung sein und einerseits durch Harnstoff 88 II. Urzeugung. oder cyansaures Ammoniak und weiterliin durch stickstoffhaltige Verbindungen wie Asparagin u. s. w. , anderseits durch weinsaures Ammoniak u. s. w. zu eiweissartigen Körpern hinüberführen , wie dies auch bei der Ernährung der Pilze der Fall ist. Wenn nun irgendwo Albuminate spontan entstehen, so ist damit von selbst auch Wachsthum und Fortpflanzung, also Urzeugung iresfeben. Das Wachsthum bestellt darin, dass zwischen den vor- handenen Eiweissmicellen neue sich bilden, und diese Bildung muss unter dem Einfluss der bereits vorhandenen um so eher fortdauern, als sie schon ohne diesen Einfluss begonnen hat. Die Fortpflanzung aber geschieht dadurch, dass die Plasmamasse in Folge ihres An- wachsens früher oder später zum Zerfallen in zwei oder mehrere Massen veranlasst wird. Eine solche Plasmamasse kann der Anfang einer Reihe sein, die zu einem Organismus führt. Sie selber verdient noch kaum den Namen eines Organismus, denn Wachsthum und Fortpflanzung sind noch nicht innerlich geordnet. Die ursjjrünglich entstandenen Eiweiss- micelle haben eine durchaus ungeordnete oder eine von den äusseren Einflüssen bedingte Anlagerung, und die anfänglich zwischen dieselben eingelagerten verhalten sich im wesentlichen el^enso. Auch hat die Plasmamasse noch keine bestimmte Gestalt und Grösse und ihr Zerfallen in kleinere Massen hängt von zufälligen äusseren Um- ständen ab. Wachsthum und Fortpflanzung gewinnen aber nach und nach durch innere Verhältnisse mehr Bestimmtheit. Da die Zunahme der Substanz durch Einlagerung von Micellen unter der moleculären Einwirkung der bereits vorhandenen geschieht, so muss mit der Zeit, wenn auch vielleicht sehr langsam, ein bezüglicher Einfluss auf ihre gegenseitige Stellung sich geltend machen. Die ursj^rüngliche regel- lose oder von äusseren Umständen bewirkte Anlagerung muss zuletzt in eine geordnete und IjIoss von der Natur der Eiweissmicelle be- dingte üljergehen. Und dieses geordnete Wachsthum muss auch beim Zerfallen der sich vergrössernden Massen maassgebend mithelfen, also auch eine geordnete Fortpflanzung zur Folge habeii. Bezeichnen wir erst diesen Zustand als den eigentlichen, durch Urzeugung entstandenen Organismus und die vorausgehenden Zu- stände als die Einleitung dazu, so gibt es schon eine Mehrzahl von verschiedenartigen spontan gebildeten Organismen. Denn die Bildung n. Urzeugung. 89 der einleitenden Zustände geschieht unter sehr ungleichen physika- lischen und cheniischen Verhältnissen. Berücksichtigen wir bloss die letzteren, so ist schon eine fast unendliche Mannigfaltigkeit denkbar, einerseits weil verschiedene unorganische \"erbindungen in verschiedenen Combinationen in die Plasmamassen eintreten und auf die sich gestaltende Anordnung ihrer Micelle Einfluss ausül^en, anderseits weil die eiweisserzeugenden Verbindungen verschiedener Art sein können und dieser Umstand sich ebenfalls geltend machen wird. Wir wissen zwar, dass die Ernährungseinflüsse die höheren Organismen während sehr langen Zeiträumen nicht bemerkbar zu verändern vermögen, dass sie also keine Macht auf das Idioplasma haben. Aber dieses Idioplasma ist durch erdperiodenlange Aus- bildung festgeordnet und zwar mit Rücksicht auf diese verschiedenen Einflüsse, während in der einleitenden Periode der Urzeugung die bestimmte Ordnung erst gesucht und daher auch von allem mit bestimmt wird, was die moleculären Anziehungen und Bewegungen modificirt. Die organischen Reiche nehmen also ihren Ursprung nicht mit einem einzigen bestimmten Organismus sondern mit vielen, die aber noch wenig von einander abweichen. Die Eigenschaften der organisirten Substanz werden bedingt durch die Zusammenordnung der Micelle und durch die physikalisch- cliemischen Vorgänge zwischen denselben. Beide Momente haben Einfluss auf einander. Mit einer veränderten Anordnung der Micelle werden auch die wirksamen Molecularkräfte, von denen die chemischen und 2ili3\sikalischen Processe abhängen, andere, und durch die ver- änderten chemischen und physikalischen Processe wird wiedermn die fernere Einlagerung der Micelle, also das Wachsthum und die Structur modificirt. Diese beiden Bedingungen ändern sich stetig von dem Beginne des ersten Wesens mit noch ungeordneten Micellen an und führen durch eine Reihe von Zuständen der einleitenden Periode zu den niedrigsten und einfachsten der uns bekannten Organismen; sie wirken in diesen fort und veranlassen deren Weiterbildung zu höheren und complicirteren Organismen. Die im vorstehenden entwickelte Ansicht von der Urzeugung weicht von der jetzt herrschenden, namentlidi durch Häckel ver- tretenen, wesentlich ab. Häckel betrachtet seine Moneren als die einfachst denkl)aren Organismen, noch olnie alle Differenzirung, so dass jedes Molekül in physiologischer Beziehung gleich dem Ganzen 90 II- Urzeugung. sei. Ich möchte dagegen die Behauptung aufstellen, und ich glaube bei den Physiologen wohl allgemeine Zustimnunig zu finden , dass von der Bildung des Eiweissmoleküls (oder xPlastiduls«) bis zur Organisation des Moners , welche beiden Vorgänge nach Häckel zusammenfallen, der Abstand in qualitativer Beziehung nicht geringer sondern eher grösser ist als zwischen dem Moner und dem Säuge- thier, wenn auch die phylogenetische Entwicklung dort rascher und in viel weniger Stufen durchlaufen wird als hier. Alle Eigenschaften des Säugethieres sind im Moner wenigstens als Andeutungen schon vorhanden, während die Eigenschaften des Moners aus dem Eivveiss- molekül erst neu geschaffen werden müssen. In der einleitenden Periode, welche zwischen der unorganischen Natur und den uns bekannten niedrigsten Organismen sich befindet, haben wir zwei Stufen zu unterscheiden. Die erste Stufe besteht in der Synthese der Eiweissverbindungen und in der Organisation der- selben zu Micellen, mit welcher die primordiale Plasmamasse gegeben ist. Die zweite Stufe besteht in der Fortljildung der primordialen Plasmamasse bis zu den uns bekannten einfachsten Organismen. Die Wesen dieser zweiten Stufe will ich, um einen kurzen Ausdruck zu halben, als Probien bezeichnen, da sie den aus Erfahrung be- kannten Anfängen des Lebens vorausgehen. Eigentlich sind sie selber die ersten Leljewesen, somit Protobien, ein Ausdruck, den ich nicht geljrauchen kann, da der Name Protisten Ijereits von einer Gruppe später auftretender und liölier organisirter Wesen in Anspruch genommen ist. Was die erste Stufe der einleitenden Periode betrifft, so werde ich später von derselben sprechen und versuchen, die physiologischen Probleme, welche sich an dieselbe knüpfen, einigermassen aufzuklären. Vorher will ich, im Anschluss an das Vorhergehende, das Verhältniss zwischen dem Wesen der zweiten Stufe und den eigentlichen Orga- nismen betrachten. In dieser Beziehung mangeln die Anhaltspunkte durchaus nicht, um wenigstens im allgemeinen die Unterschiede zwischen der primordialen Plasmamasse und den niedrigsten be- kannten Organismen, den Moneren, Schizomyceten und Chroococcaceen feststellen zu können. Welche von diesen drei Gruppen als die unterste und einfachste in Anspruch zu nehmen sei, lässt sich bei der unvollkonnnenen Kenntniss derselben nicht entscheiden ; aber jede derselben hat sich schon sehr weit von dem primordialen, noch vollkommen undifferenzirten Plasma entfernt. n. Urzeugung. 91 Ich will nicht ausführen, dass in den hekannten Organismen die Suljstanz in Hautschicht und innere Masse geschieden, und dass sie wenigstens aus zwei Formen von Plasma, aus Idioplasma und Ernährungs2:)lasma bestehen muss , noch auch , dass die Cellulose- nieudjran der niedrigsten Pflanzen schon auf eine gewisse Organisation des Inhaltes hinweist. Dagegen will ich, indem ich mich bloss an die als so einfach erklärten Moneren halte, auf zwei Erscheinungen hinw^eisen, welche den grossen Abstand derselben von der primordialen Plasmamasse jedem physiologischen ^^erständniss darthun müssen, nämlich auf die bestimmte Grösse und Form und auf die Bewegung. »Wenn eine einfacliste Plastide, ein homogenes Moner, bis zu einer gewissen Grösse herangewachsen ist, so zerfällt der structurlose Plassonkörper bei fortdauerndem Wachsthum in zwei gleiche Hälften, weil die Cohäsion der Plastidule nicht mehr ausreicht, um die ganze Masse zusammenzuhalten.« Ich führe diese Worte Häckel's an, weil sie zugleich die Veranlassung des Irrthums andeuten, warum er die Moneren trotz bestimmter und geringer Grösse als einfach und structurlos erklärt. Derselbe ist offenbar der Ansicht, dass ein structurloser Körper wegen der geringeren Cohäsion der kleinsten Theilchen bei einer bestimmten Grösse zerfalle, während ein organi- sirter Körper noch Widerstand leisten könne, womit allerdings die Thatsache übereinstimmt, dass die meisten liöher organisirten Körper auch eine viel beträchtlichere Grösse besitzen als die Moneren. Indessen verhält es sich doch in der That auf den allerersten Stufen der Organisation gerade umgekehrt. Eine vollkonmien structurlose Masse kann , eben wegen der mangelnden Organisation , nur durch äussere Ursachen zerfallen. Structurlos ist Wasser oder eine Lösung; nehmen wir die Grösse eines kleinen Moners vor der Theilung zu 20""^ Durchmesser an, so bleibt ein Tropfen Wasser oder ein Tropfen Eiweisslösung, welcher Urzeugung vorzüglich mit Rücksicht auf die aus derselben hervorgehenden Organismen betrachtet und gezeigt, dass diese, soweit sie uns bekannt sind, ohne 94 II- Urzeugung. Ausnahme verhcältnissniässio; schon sehr zusammengesetzt sind und aus viel einfacheren, uns noch unljekannten Anfängen abgeleitet werden müssen. Eine andere Aufgabe der Physiologie ist es, diese einfachsten Anfänge des Organischen mit der unorganischen Natur zu vergleichen und die Beziehungen zwischen beiden festzustellen. Aus dieser Untersuchung muss vorzüglich der Untersclned zwischen unorganisirten und organisirten, ferner zwischen todten und lebenden Körpern sich ergeben. Zu diesem Ende müssen w'ir zuerst einen Blick auf die Ge- staltung des Unorganisirten werfen. Es kann sich hier nur um feste Gebilde handeln, da der flüssige und der gasförmige Zustand, in welchen die Moleküle getrennt sind und sich durch einander bewegen, keine individuelle Gestaltung der Massen erlauben. Die Ursachen der Ortsbewegungen und gegenseitigen Verschiebungen der Moleküle im flüssigen Zustande sind die Wärme oder ein Lösungs- mittel. Werden diese Ursachen beseitigt, so legen sich die Moleküle zu festen Massen an einander. Dieselben sind krystallisirt, wenn die Molecularkräftc bei der Bildung ungestört wnrken können; amorph, wenn dal)ei Störungen eintreten. Die ungest()rte Wirksamkeit der Molecularkräftc Ijei der Kry- stallisation besteht darin, dass die Moleküle, indem ihre Bewegungen zur Ruhe gelangen, sich so neben einander anlagern, wie es die stärksten Anziehungen verlangen. Der Krystall beginnt mit einer Gruppe von einigen wenigen Molekülen; alle folgenden, die hinzu- treten, Orientiren sich, indem sie die Ortsbewegung verlieren, ent- sprechend ihren dynamischen Beziehungen zu den bereits angelagerten Molekülen. Da nun alle Moleküle einer Verbindung einander gleich sind, so muss auch die Orientirung, die sie annehmen, stets die nämliche bleiben, und der Krystall muss nach verschiedenen Rich- tungen des Raumes aus })arallelen Schichten und Reihen von Molekülen bestehen. Es ist daher begreiflich, dass er auch äusserlich gewöhnlich von ebenen Flächen und geraden Kanten begrenzt ist. Die Krystallmoleküle lagern sich so nahe aneinander, als es das Gleichgewicht zwischen den geg(niseitigen anzielienden und al)stossen- den Kräften verlangt. Man bezeichnet dies ItildHch als unmittelbare Berührung, da ihre Wirkungssphären aneinander stossen. Es können daher in einen fertigen Krystall keine Moleküle eindringen ; derselbe ist für Flüssiukeiten und Gase undurclidrinulich. II. Urzeujrung. 95 Das Wesen des Krystalls, welches in der regelmässigen Anord- nung seiner Moleküle besteht, wird bloss durch die diesen Molekülen eigenthümlichen Kräfte bedingt, und ist innerhalb bestimmter Grenzen unabhängig von den äusseren Einflüssen (Temperatur, Lösungsmittel, Concentration der Lösung u. s. w\). Die letzteren spielen übrigens immer auch eine Rolle bei der Krj^stallisation, indem sie derselben, soweit es die inneren Kräfte erlauben, zu verschiedenartigem Aus- druck verhelfen. Sie bedingen die Grösse und die Gestalt der einzelnen Krystalle, ferner den LTmstand, ob dieselben einzeln auftreten oder mit einander verwachsen, und ob eine festwerdende Substanz wenige grosse oder viele kleine Krystalle bilde. Geht das Festwerden der Substanz bei hinreichend grosser Beweglichkeit der Moleküle langsam von Statten, so können sich dieselben alle zu einem einzigen Kry- stalle vereinigen. Die chemische Natur einer Su])stanz, insofern dieselbe löslich oder schmelzbar ist, macht keinen Unterschied rücksichtlich des Zustandekommens der Krystallisation. Die complicirten Kohlenstoff- verbindungen (Säuren, Zucker, Fette etc.) verhalten sich wie die unorganischen ^'^erljindungen und die Elemente. — Bisweilen legen sich die Moleküle verschiedener Verbindungen zunächst zu Molekül- gruppen (Pleonen^) aneinander. Besonders häufig ist dies bei den sog. Hydraten der Fall, indem Substanzmoleküle mit Wassermolekülen Hydropleone bilden. Die Pleone krystallisiren genau so wie die ein- zelnen Moleküle. Jeder krystallartige Körper muss vor seiner Bildung sich im flüssigen (geschmolzenen oder gelösten) Zustande ])cfun(len haben. Dies gilt auch von dem Diamant, obgleich der Kohlenstoff" gegenüber den bis jetzt angewendeten Mitteln sich als unschmelzl)ar und un- löslich erwiesen hat. — Es gibt einige complicirte kohlenstoffhaltige Verbindungen, die weder molecular löslich noch schmelzl)ar sind, und von denen man auch nicht vermuthen kann, dass man sie je in diesen Zustand wird versetzen können, da sie durch die energischeren Lösungs- und Schmelzungsmittel zersetzt werden. Zu denselben gehören die Kohlenhydrate mit Ausnahme der Zuckerarten, die Albuminate, die leimgebenden, elastischen und hornartigen, die muskel- und nervenbildenden Sul)stanzen. Alle diese Verbindungen *) Theorie der Gärung. Anmerkung Ijetr. die Älolekülvereiuigungen. 96 II- Urzeugung. entstehen leicht aus einfacheren, in Wasser löshclien Vorl)indungen und hahen selber eine sehr grosse Verwandtscliaft zu Wasser, obgleich sie sich unter keinen Umständen in wässrigen Flüssigkeiten moleeular vertheilen lassen. Aus den Eigenschaften der genannten Verbindungen, dass sie leicht in wässrigen Lösungen sich bilden und zu denselben eine grosse Anziehung besitzen, aber darin moleeular unlöslich sind, geht ein neuer Zustand hervor, welcher als der organisirte, imbibitions- fähige oder mi cell ose bekannt ist. Um den Vorgang anschaulich zu machen, will ich den ersten Anfang eines Stärkekorns schildern. Die Stärke entsteht in einer Zellflüssigkeit, welche Zucker ent- hält. \^on den Stärkemolekülen, die sich zuerst bilden, legen sich immer diejenigen, die unmittelbar l)eisammen liegen, wegen ihrer Unlöslichkeit an einander an und bilden einen winzigen Krystall- anfang, ein kleines Micell. Da die Stärke wie der Zucker, aus dem sie entstanden ist, das Wasser energisch anzieht, so umgibt sich jedes Micell mit einer verdichteten Hülle von Wassermolekülen. Wenn ein Stärkemolekül sich nicht in unmittelbarer Nälie von anderen Molekülen bildet, an die es sich krystallinisch anlegen kann, so stellt es, indem es von einer Wasserhülle umschlossen wird, ein einmoleküliges Micell dar. Ueber die Wasserhülle hinaus ist die Anziehung des Micells zur Stärkesubstanz grösser als zu Wasser; deswegen treten immer einige zunächst neben einander entstandene Micelle zusammen und bilden ein festes System, den Anfang eines Stärkekorns. Die Micelle mit ihren Wassorhüllen verhalten sicli bezüglich des Gleichgewichts in diesem System analog wie die Moleküle mit ihren Aetliers})hären in einem Krystall oder in einem Micell. Die Stärkekörner sind mit Wasser durchdrungen (imbil)irt), indem die Micelle durch Wasser- schichten von bestimmter Mächtigkeit getrennt worden. Sowie Anfänge von Stärkekörnern vorhanden sind, geht die Stärkeljildung in ihrem Innern leichter von Statten als l)is auf eine gewisse Entfernung von ihrer Oberfläche in der umgebenden Zellflüssigkeit. Die mittels des Imbibitionswassers fortwährend ein- dringenden Zuckermoleküle werden unter dem Einfluss der Molecular- kräfte in Stärkemoleküle übergeführt. Dal^ei kann zweierlei geschehen entweder ley-cn sich die neuuebildeten Stärkcmoleküle an die vor- n. Urzeugung. 97 handenen Micelle an und vergrössern dieselben, oder sie bilden An- lange von neuen Micellen. Ob das eine oder andere geschehe, hängt von verschiedenen Umständen ob, ^xie z. B. von den Bewegungen im Imbibitionswasser, vorzüglicli aber von der Stelle, wo das Stärkemolekül sich l)ildet. Da wo zwei parallele Micellflächen mit ihren Wasserhüllen an ein- ander stossen , ist kein Raum für eine Neubildung, die ebenfalls ihrer Wasserhülle bedürfte. - In den Ecken dagegen, wo zwischen 3 oder 4 Micellen ein grösserer Zwischenraum sich Ijefindet, legen sich die entstehenden Stärkemoleküle leichter zu einem neuen Micell zusammen, als dass sie zu den entfernteren Micelloberfiächen hin- wandern. Im allgemeinen kann man \delleicht sagen, dass die Stärkemoloküle, die in den Wasserhüllen der Micelle selbst entstehen, die Micelle vergrössern, dass diejenigen dagegen, die ausserhalb der Wasserhüllen (resp. zwischen denselben) sich Ijilden, neue Micelle erzeugen. Ferner dürfen wir annehmen, dass die grossen Micelle ihre Wasserhüllen energischer anziehen als die kleinen, dass daher die kleinen Micelle eine stärkere Neigung haben, durch Anlagerung neuer Moleküle zu wachsen, als die grossen, und dass besonders die einmolekühgen Micelle bald in mehrmolekülige übergehen. Diese ßildungsweise macht die ungeheure Kleinheit und die ungeheure Anzahl der Micelle erklärlich. Aehnlich wie die Stärkekörner verhalten sich die übrigen organi- sirten Substanzen, und yne ich besonders hervorhebe, es gilt, was ich von der Entstehung der Stärkekörner gesagt habe, Punkt für Punkt für die Urzeugung der Plasmamassen. Mag die wässrige Lösung, in welcher die ursprüngliche Eiweissbildung vor sich geht, wie immer beschaffen sein, mag die Synthese des Eiweissmoleküls so oder anders erfolgen und das Molekül seilest eine beliebige Zu- sammensetzung haben, — es werden die (unlöslichen) Moleküle stets sich sofort zu Micellen vereinigen und die Micelle in Menge nel)en einander entstehen. Jedes Micell ist mit einer Wasserhüllo uingolu'u und vi(Ae Micelle stellen zusammen eine mit der wässrigen Lösung imbibirte kleine Plasmamasse dar, innerhalb welcher die Eiweiss- bildung unter dem Einfluss der daselbst wirksamen Molecularkräfte leichter erfolgt als ausserhalb derselben. Die Plasmamasse wächst durch Vergrösserung ihrer Micelle, vorzüglich al)er durch Einschaltung neuer Micelle zwischen den vorhandenen. V. Nägeli, Abstammungslehre. 7 98 II- Urzeugung. Wie das eigentliche Wesen der Kr3^stalle nur durch die Be- schaffenheit ihrer Moleküle bestimmt wird, so hängt auch die Ent- stehung und das Wachsthum der organisirten Substanzen im wesent- lichen von den Molecularkräften ab, welche die Vereinigung der Moleküle zu Micellen und die Zusaimnenlagerung dorMicelle bewirken. Die Urzeugung der Plasmamassen und ihr weiteres Wachsthum ist das Product der dem Eiweissmolekül anhaftenden Eigenschaften. Die äusseren Einflüsse verhalten sich den organisirten Substanzen gegenüber noch viel ohnmächtiger als gegenüber den Krystallen, weil bei jenen das Wachsthum in ihrem Innern, bei diesen aber an der Aussenfläche stattfindet. So muss die Gestalt und mehr noch die Structur der frei im Wasser befindlichen primordialen Plasma- massen und ihrer nächsten Abkömmlinge von den äusseren Um- ständen ziemlich unabhängig sein, sofern dieselben nicht so grosse Dimensionen erreichen, dass das grössere sjiecifische Gewicht (im A'^ergleich mit Wasser) und die Strömungen im Wasser die äussere Form der weichen Massen zu modificiren vermögen. Unter Umständen lassen sich die organisirten Substanzen in ihre einzelnen Micelle trennen, welche dann mit der Flüssigkeit eine micellare Lösung darstellen und sich darin wie Lösungsmoleküle verhalten, nur mit dem Unterschiede, dass sie wiegen ihrer l:)eträcht- licheren Grösse mit einer entsprechend geringeren Beweglichkeit ljegal)t sind. Diese Lösungsmicelle hängen sich leicht in Ketten und andere Verbände zusammen, oder bilden Krystalloide, oder es geht die ganze Lösung, wenn sie concentrirtcr ist, in einen festen Zustand von verschiedener Structur über. Das Zerfallen einer organisirten Substanz in eine Micellarlösung findet dann statt, wenn die ^^erwandtschaft der Micelle zur Flüssig- keit und die Bewegungsursachen so sehr zunehmen, dass die Adhäsion der Micelle unter einander überwunden wird. Sind diese Verhältnisse schon bei der Entstehung der Micelle' vorhanden, so l)ildet sich kein fester organisirter Körper, sondern eine Micellar- lösung, die aber nachher zu einer mehr oiele; aber sie ist nicht allein maassgebend, wie sich aus dem Umstände ergibt, dass das Wachsthum in den beiden Richtungen der Fläche ein ungleiches Maass einhält, und in der einen zuweilen ganz mangelt. Das Dickenwachsthum der Zell- mem])ranen aber ist, ähnlich wie dasjenige der Idioplasmastränge, eine von der mechanischen Action und von dem Flächen wachsthum unabhängige Erscheinung. Es wäre niclit unmöglich, dass das Netz , als welches sich das Idiojdasma ursprünglich ausscheidet, unmittelbar zu dem spätem Netz von Idioplasmasträngen sich ausl)ildete. Wahrscheinlicher ist es, dass die Entwicklungsgeschichte vorher durch analoge Zwischen- l)ilduiigen hindurchgeht. Im ersten Stadium mag nämlich das Idio- plasma noch wenig dichter als das Ernährungsplasma sein und selbständig in allen Richtungen wachsen. Dann muss die Sul)stanz seiner Balken selber netzartig werden , da die Einlagerung nicht überall gleichmässig geschieht, und diesem secundären Netz folgt III. Ursachen der Veränderung. 123 vielleicht noch ein tertiäres. Die Netzbildiing hört auf, wenn in der Substanz der Balken die Uebereinstimmung in der Orientirung der ^licelle hinreichend gross geworden ist und das Dickenwachsthuni fast aufgehört hat. — Ob diese wiederholte Netzl)ildung wirklich eintrete oder nicht, macht für das schliessliche Ergebniss keinen Unterschied. Das letzte Product derselben ist zwar anfänglich als ein feines Netz vorhanden, w'elches seinem Ursprünge gemäss die Maschen eines gröberen Netzes darstellt. Aber diese Anordiumg, welche gleichsam als die Einschachtelung eines Netzes in die Elemente eines andern bezeichnet werden könnte, verliert sich mit dem Wachs- thum des letzten Netzes und mit der fortwährenden Theilung der Plasmamassen bald, so dass dann in dem Plasma nur noch dieses letzte Idioplasmanetz gegeben und wirksam ist. Wenn das Idioplasma den geschilderten netzartigen Ursprung hat und die Stränge desselben bloss in die Länge wachsen, so müsste, wenn nicht ein neues Moment hinzukäme, wegen der starken onto- genetischen Zunahme der Substanz die netzartige Anordnung in den einzelnen Partien derselben sich bald ganz verlieren und in unver- zweigte nicht anastomosirende Stränge übergehen, und es müssten wegen der mit der Zunahme verbundenen fortwährenden Zelltheilung viele Zellen selbst ausserhalb der Stränge zu liegen kommen und daher des Idioplasmas ganz entbehren. Die vorgetragene Theorie verlangt daher die Annalmie, dass zur beständigen Erhaltung des feinen überall ausgebreiteten Netzes sich Verbindungsstränge bilden, welche unter dem Einfluss der Hauptstränge eine diesen ganz gleiche Structur und Beschaffenheit annehmen. Dass nachträgliche Ver- bindungen entstehen, kommt auch bei andern netzförmigen Bildungen der Ontogenien vor und hat nichts Unwahrscheinhches. Dass ferner die neuen Verbindungsstränge den schon vorhandenen identisch werden, ist um so eher anzunehmen, als ja die geringsten Abänderungen des Idioplasmas in ii^gend einem Theil des Organismus an die übrigen Theile übermittelt und eine beständige Ausgleichung in dem ganzen idioplasmatischen Sj'stem eines Indi\äduums zu Stande gebracht wird. Ich habe oben (S. 42) einer anderen Ursache Erwähnung gethan, welche das Idioplasma, auch ohne die jetzt besprochene molccular- physiologische Entstehung des Idioplasmanetzes, netzförmig zu ge- stalten vermag. Die beiden Ursachen schliessen sich nicht aus; sie können neljen einander bestehen und einander unterstützen, 124 III- Ursarhen der Veränderung. Die Netzbildiiiig, die eine Folge der Zelltheiliuig sein iiiiiss, wird die Bildung der anastoniosirenden Stränge fördern und vielleicht uls selbständigen Process überflüssig machen. Was das Verhalten des Idioplasmas rücksichtlich Form und Bau des Querschnittes betriflit, so wird dasselbe wesentlich davon ab- hängen, ol) seine Stränge unmitten)ar aus den Balken des primordialen Idioplasmanetzes entstehen oder nicht. Die Balken des ursprünglichen Netzwerkes müssen, da sie aus einer ziemlich weichen Sul^stanz in einer wasserreicheren Umgebung bestehen, eine cylindrische Gestalt und infolge der Oberflächenwirkung eine concentrische Anordnung ihrer Micelle besitzen. Dies gilt überhaupt für nicht sehr feste Körper, die frei in einer Flüssigkeit sich bilden und durch Ein- lagerung wachsen. Ich erinnere beispielsweise an die Stärkekörner und an die Cellulosestränge , welche durch die Zellhöhlung von Caulerpa ausgespannt sind. Wenn dagegen die einzelnen Balken des ursprünglichen Netzes infolge ihres allseitigen Wachsthums selljst in Netze zerfallen, und noch mehr, wenn der Process sich wiederholen sollte, hat der Quer- schnitt der Stränge, weil dieselben schon im Augenblick ihrer Bil- dung aus einer Substanz von geordneterer Micellarstructur und festerer Consistenz bestehen, keinen concentrischen Bau mehr, sondern er wird im allgemeinen dem Sector einer concentrischen Anordnung entsprechen und somit eine grössere Uebereinstimmung in der Orien- tirung der Micelle zeigen. Im einen und andern Falle müssen die Idioplasmastränge nach und nach die bei der gegebenen Configuration möglich grösste Ueber- einstimmung in der Lagerung der Micelle auf dem Querschnitt und die möglich grösste Dichtigkeit und Festigkeit der Substanz erlangen; und zwar wird dieser Zustand in nicht sehr späten Ab- kömmlingen der primordial entstandenen Plasmamassen eintreten. Von jetzt an wachsen die Stränge fast ausschliesslich in die Länge, soweit es nämlich die ontogenetische Zunahme verlangt. Das äusserst langsame Dickenwachsthum der Stränge, welches die phylogenetische Zunahme des Idioplasmas darstellt, führt mit Nothwendigkeit eine immer complicirter werdende Configuration des Querschnittes herbei. Die Ursachen der sich steigernden Zusammen- setzung liegen im Idioplasma selber; es sind die ungleichmässige Anordnung der Micelle im Querschnitt, die durch das ungleichmässige III. Ursachen der Veränderung. 125 Längenwachsthum bedingten Spannungen und die dynamischen Ein- wirkungen der MicellgruiDpen des Querschnitts auf einander. Wenn Conti guration und Spannungen vollkonnnen regelmässig wären und die Regehnässigkeit auch nicht durch das Längenwachsthmn gestört würde, so könnte das Dickenwachsthum keine Veränderung hervor- bringen, und die Micelle behielten fortwährend eine Anordnung, wie sie die Moleküle in den Krystallen zeigen. Da diese Regelmässigkeit nicht vorhanden ist, so erfolgen die Einlagerungen ungieichmässig, indem sie an gewissen Stellen stärker oder allein thätig sind. Die gesteigerte Einlagerung an irgend einem Punkte in einer Schaar von ziemlich gleichartig geordneten Micellen kann nur dazu führen, dass innerhalb jener Sehaar eine neue Schaar etwas anders geordneter Micelle sich ausbildet. Wir sehen dies in einem ver- grösserten Maassstabe deutlich an der Entwicklungsgeschichte der Stärkekörner, welche, da sie frei in einer Flüssigkeit oder weichen Plasmamasse liegen, ebenfalls fast nur unter dem Einfluss ihrer eigenen Molecularkräfte sich ausbilden. Tritt eine Störung in der regelmässigen Substanzeinlagerung ein, so ist die Folge davon ein neuer eigenthümlicher Complex von Schichten oder selbst ein neues Theilkorn innerhalb der Substanz des ganzen Korns. Die phylogenetische Fortbildung des Querschnittes muss daher im allgemeinen den gleichen Charakter zeigen, ob dieser Querschnitt anfänglich ein concentrisch geschlossenes System oder ein offenes System von Micellen darstellt. In jedem Falle können wir seine ursprüngliche Beschaffenheit gleichsam als eine einzige Micellschaar betrachten, und das fortgesetzte Dickenwachsthum bringt nun stets neue eigenartige Schaaren zu Stande. Vorerst kommt es ja nicht darauf an , dass bestimmte Anordnungen entstehen , sondern nur darauf, dass die Anordnungen immer complicirter werden. Die Nothwendigkeit einer ungleichmässigen Einlagerung auf dem Querschnitt ist am einleuchtendsten bei concentrischem Bau der Stränge, weil hier die ü])ereinstimmende Lagerung der Micelle nach innen hin sich vermindert und im Centrum vollständig gestört ist. An der letzteren Stelle liegen also die Micelle lockerer beisammen und haben mehr AVasser zwischen sich, so dass sich leichter neue Micelle einlagern. Nach und nach kann aber, indem der ursj^rüng- lich kreisförmige Querschnitt eine andere Gestalt annimmt und grössere 126 III- Ursachen der Veränderung. Abweichungen von der concentrischon Anordnung erfährt, auch die Substanz im Centrum eine ziemhch grosse Festigkeit erlangen. Inuner- hin bleibt für alle Zeiten die Micellanordnung mehr als unregel- mässig genug, um stets da oder dort ein gesteigertes Wachsthum zu gestatten. Eher möchte man, wenn der Querschnitt nicht ein concentrisch geschlossenes, sondern ein offenes System darstellt, für denkbar halten, dass die Regelmässigkeit der Anordnung möglicherweise hin- reichend gross wäre, um ein ungleichmässiges Wachsthum auszu- schliessen. Die genaue Ueberlegung zeigt aber, dass dies nie der Fall sein kann. Denn die Micelle sind ihrer Natur nach nie unter einander gleich an Grösse, Gestalt und chemischer Beschaffenheit und wirken nicht überall mit gleiclien Kräften auf einander ein. Es gibt daher immer einzelne Stellen, welche der Einlagerung den geringsten Widerstand darbieten und wo ein die regelmässige An- ordnung störendes Micell sich einschieben kann. Dieses erste störende Micell ist der Anfang einer ganzen von der übrigen Anordnung mehr oder weniger abweichenden Micellschaar, und mit der ersten eigenartigen Micellschaar sind zahlreiche Stellen gegeben, wo wieder die Einlagerung beginnen kann. Dieser Process wiederholt sich unaufhörlich, und die Zahl der Micellschaaren wird immer grösser. Zu den Störungsursachen, welche dem Querschnitt als solchem angehören, gesellen sich noch die Spannungen, welche durch das ungleiche Längenwaclisthum und die ungleiche Erregung der ver- schiedenen micellaren Längsreihen hervorgebracht werden (S. 49). Diese in der Längsrichtung thätigen Kräfte müssen mit irgend einer Componente auch in der Querrichtung wirken, und an gewissen Stellen die Einlagerung fördern, an andern sie verhindern. Man könnte vielleicht den Einwurf machen, dass, da die Ver- änderung der Querschnittsconfiguration von dem mehr oder weniger festen Zusammenhang der Micellreihen und von dem durch deren ungleiches Längenwaclisthum bewirkten Spannungen verursacht werde, nicht nothwendig die Einlagerung neuer Micellreihen und die Be- reicherung des Querschnittes erfolgen müsse, sondern dass unter Umständen auch die Unterdrückung von Micellreihen und die Ver- arnumg des Querschnitts eintreten könne. Diesen Einwurf halte ich nicht für gerechtfertigt; denn es ist weniger w^ahrscheinlich, dass eine MiccUreihe, die sich in der ganzen Länge des Idioplasma- ni. Ursachen der Veränderung. 127 Stranges ausdehnt und mit den übrigen parallelen Micellreihen durch Einschaltung von neuen Micellen zwischen die schon vorhandenen sich verlängert, durch den hier möglichen Druck versclnvinden kann, während es sehr begreiflich ist, dass an einer Stelle, wo durch Zug Raum geschaffen wird, sich eine neue Reihe einzulagern beginnt. Unter den Ursachen, welche auf die Veränderung der Structur der Idioplasmastränge Einfluss haben, sind von besonderer Bedeutung die dynamischen Einwirkungen, welche die Micellreihen oder die Micelle des Querschnitts auf einander ausüben, und welche mit der zunehmenden Organisation der Stränge stets stärker und mannig- faltiger werden. Dieselben haljen noth wendig eine schärfere Son- derung der Micellgruppen und neue Diiferenzirungen der Micellreihen zur Folge. So bewirkt die mannigfaltigere Organisation eine mannig- faltigere dynamische Einwirkung und diese wiederum eine Steigerung der Organisation, besonders wenn eine A^ermehrung der Micellreihen nebenhergeht. Ist die phylogenetische Entwicklung einmal im Gang, so muss sie in gleicher Richtung fortschreiten. Wir haben, worauf ich bereits hingewiesen habe (S. 118), in der Veränderung des Idio- plasmas ein analoges Beispiel für die in der unorganischen Welt als Entropie der mechanischen Wärmetheorie bekannte Erscheinung, wonach ein Zustand in einen andern üljergeht, während der Ueber- gang in umgekehrter Richtung nicht möglich ist. In beiden Fällen bedingt die \^ertheilung von Stoff und Kraft oder Configuration des ganzen Sj^stems mit Noth wendigkeit die Umwandlung nach einem Ziele. Die Hypothese, welche icli bezüglich der phylogenetischen Ent- wicklungsgeschichte aus dem i:)rimordialen Netzwerk der sj)ontan entstandenen Plasmamassen aufgestellt habe, hält sich lediglich an Erscheinungen, welche in den Ontogenien der Organismen vorkommen. Ich habe kein Moment angeführt, das nicht in einem ontogenctischen Vorgange seine Analogie fände. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Entwicklung nicht auch in anderer Weise geschehen könnte. Diese Möglichkeiten sind aljer sehr beschränkt, und durch diese Beschränkung erhält die Hypothese eine erhöhte Bedeutung. Wenn ich das Idioplasma aus der netzförmigen Ungleichheit von dichteren und weicheren Partien, welche mit absoluter Noth- wendigkeit als erste Differenzirung im primordialen Plasma sich einstellt, hervoroehen lasse, so steht dieser Annahme noch die andere 128 III- Ursachen der Veränderung. Möglichkeit gegenüber, dass das Idiojjlasma als eine von dem ursprüng- lichen Netzwerk unabhängige Bildung auftrete und ebenfalls ein von den übrigen Wachsthumserscheinungen unabhängiges Wachsthuni besitze. Es ist recht wohl denkbar, dass innerhalb der dichteren Partien des primordialen Plasmas sich besondere Körper bilden, welche durch noch grössere Dichtigkeit \ind Festigkeit ausgezeichnet sind und eine selbständige, nur von ihrer eigenen Natur bedingte Ent- wicklung zeigen. Diesen idioplasmatischen Körpern müssten wir ebenfalls ein fast ausschliessliches Längenwachsthum und somit strangförmige Beschaffenheit zuschreiben; wir müssten ferner an- nehmen, dass sie sich netzförmig an einander legen, und dass sie sich, mn die netzförmige Anordnung bei der ontogenetischen Ver- mehrung zu erhalten, regelmässig theilen und neu anordnen. Die zwei wesentlich neuen Momente dieser zweiten möglichen Hj'pothese, das Zerfallen der Idioplasm astränge und ihre neue An- ordnung, finden ebenfalls in vorhandenen Erscheinungen thatsächliche Anhaltspunkte. Das Zerfallen eines micellösen Körpers in zwei tritt bei der Vermehrung der Chlorophyllkörner und Zellkerne, sowie meistens bei der Fortpflanzung einzelliger Organismen, das Ablösen von Zellen bei der Fortpflanzung mehrzelliger Organismen ein. Die Ursachen für einen solchen Process sind offenbar je nach den ob- waltenden Verhältnissen ungleich ; bei den Idioplasmasträngen müsste, wenn dieselben eine gewisse Länge erreiclit haben, an der Theilungs- stelle eine vermehrte Wassereinlagerung stattfinden, wodurch die Cohäsion vermindert und gegenüber den mechanischen Einwirkungen unmächtig wird. Was das Zusammentreten getrennter Idioi3lasmastränge zu einem Netz betrifft, so kommen solche netzförmige Anordnungen bei Plasma- körpern (z. B. Chlorojjhyllkörnern) vor. Die Ursachen der letzteren Erscheinung sind unbekannt; die netzförmige Anlagerung der Idio- plasmastränge könnte nur durch die gegenseitige Anziehung ihrer Enden erfolgen, wofür die Analogie nicht mangeln würde. Ich werde bei Anlass der Anpassung gewisser Fortj)flanzungserscheinungen von Phanerogamen und bei der Befruchtung zeigen , dass solche Anziehungen und ebenfalls Abstossungen zwischen Idioplasmapartien wirklich angenommen werden müssen. Die zweite Hypothese über die phylogenetische und ontogenetische Entwicklung des Idioplasmas enthält somit ebenfalls nichts, was III. Ursachen der Veränderung. ] 29 nicht anderweitig schon voi'känio. Die heiden Hypothesen , ausser denen es wohl keine andere denkbare Annahme gibt, stimmen in der Hauptsache unter einander überein. Sie zeigen beide in gleiclier Weise die Möghchkeit der mechanischen Vorstelhnig, dass das Idio- plasma, der Träger der specifischen Eigenthümhchkeiten, trotz seiner ungeheuren ontogenetischen Zunahme , phylogenetisch seine Con- figuration äusserst, langsam verändert, und dass diese ^'^eränderung stetig und sicher durch die unendliclie Zahl der Generationen ver- läuft und mit Nothwendigkeit einer zusammengesetzteren Beschaffen- heit, also einer höheren Vollkommenheit zustrebt. Ich habe darzulegen versucht, wie das primordiale Plasma durch die in ihm gegebenen Molecularkräfte sich umbilden und wie das aus diesem Process hervorgehende Idioplasma gleichfalls durch seine eigenen Molecularkräfte sich entwickeln muss, wenn man die äusseren auf die Organismen einwirkenden Ursachen als nicht vorhanden betrachtet. Die nächste Frage ist nun , welche Folgen aus dieser selbständigen Configurationsänderung des Idioplasmas für das ge- sammte physiologische Verhalten, für die chemischen I'rocesse, die plastischen Bildungen und die verschiedenen Bewegungen sich er- geben. Die aus der unorganischen Unterlage ursprünglich ge])ildeten Eiw^eissmicelle haben wegen ihrer ungeordneten Lagerung noch keine andere Wirkung, als dass unter dem Einfluss jedes einzelnen oder einiger weniger die Eiweissbildung leichter vor sich geht, als in der umgebenden unorganisirten Flüssigkeit. Massenwirkungen sind noch nicht vorhanden, weil die Molecularkräfte der nach allen möglichen Richtungen orientirten Micelle bloss in unmittelbarer Nähe sich geltend machen können, darüber hinaus aber sich gegen- seitig aufheben. Sowie jedoch die Micelle sich zu gleich orientirten Schaaren ordnen und somit die Anfänge des Idioplasmas darstellen, so werden auch ihre Molecularkräfte übereinstimmend gerichtet und zu einer gemeinsamen Wirkung summirt. Diese Wirkung steigert sich in dem Maasse , als in dem sich weiter entwickelnden Idioplasma die Anordnung an Bestimmtheit und Umfang zuninnnt. Es treten ferner mehrere ungleichartige Wirkungen auf, wenn das Idio})lasma sich in mehrere ungleichartige Micellschaaren gliedert. Y. Nägeli, Abstammungslehre. 'J 130 ni. Ursachen der Veränderung. Diese verstärkte Action der vereinten Molecularkräfte macht sich namenthch nach aussen bemerkbar. Im Innern des Idioplasmas selbst kann sie wegen der Dichtigkeit und Festigkeit seiner Structur nur die sehr langsame phylogenetische Aenderung in der chemi- schen Beschaffenheit, Gestalt und Anordnung der neu eingelagerten Micelle mitbedingen. In den Zwischenräumen und in der nächsten Umgebung der Idioplasmakörper dagegen verursacht sie neue che- mische Processe, ferner plastische Bildungen und Ortsveränderungen ganzer individueller Massen und ihrer Theile. Der Einfluss auf den Chemismus ist leicht erklärlich, da durch stärkere Kräfte oder durch Zusammenwirken von verschiedenen Kräften Verbindungen und Zersetzungen veranlasst werden, welche sonst nicht zu Stande kämen. Ebenso verhält es sich mit dem Ge- staltungsprocess , welcher, wenn wir auf den Grund zurückgehen, immer von der Anlagerung der Micelle und Moleküle abhängt. Es ist klar, dass stärkere Kräfte und Zusammenwirken verschiedener Kräfte das Vermögen besitzen , die entstehenden Micelle in be- stimmte Lagen zu rücken , den sich ansetzenden Molekülen be- stimmte Stellen anzuweisen, und somit am Organismus einen grösseren oder kleineren Körper von besonderer Gestalt, Structur und Be- schaffenheit zu erzeugen, der sich sonst nicht bilden würde. Auf den untersten Ent^\dcklungsstufen wird zwischen den Idio- plasmakörpern bloss wasserreicheres Ernährungsplasma erzeugt, und diese Bildung erfolgt auch auf allen höheren Stufen unter dem Ein- fluss sowohl des Ernährungsj^lasmas selber, als des angrenzenden Idioj)lasmas in reichlichem Maasse , so dass das Ernährungsj)lasma Stetsfort den grössten Theil der in den Organismen vorhandenen plas- matischen Substanzen ausmacht. Dasselbe ist stets weicher als das Idioplasma, und wenn unter der Einwirkung des letzteren auch festere Partion von Ernährungsplasma sich bilden, so ist denselben sowohl durch ihre kurze ontogenetische Dauer, als durch die chemische Be- schaffenheit der All)uminate eine Schranke gesetzt, welche sie ver- hindert, über einen bestimmten Grad der Organisation, der Dichtig- keit und Festigkeit hinaus zu gehen. Sind die ersten Entwicklungsstufen überschritten und die ge- einten idioplasmatischen Kräfte theils stärker, theils verschiedenartig geworden, so entstehen neben dem Ernährungsplasma auch andere Verbindungen , die ihrer Natur nach eine micellöse Structur an- III. Ursaehen der Veränderung. 131 nehmen. Es sind dies dem Eiweiss verwandte Substanzen, die namentlich im Thierreiche, und Kohlenhydrate, die besonders im Pflanzenreiche vorkommen. Diese nicht plasmatischen Substanzen, obgleich nur von kurzer ontogenetischer Dauer, erlangen doch zu- weilen in Folge ihrer chemischen Beschaffenheit mit Hilfe der idio- plasmatischen Einwirkung eine hoch entwickelte Organisation; in andern Fällen können sie entweder in Folge ihrer eigenen Be- schaffenheit, oder weil andere, vorzüglich unorganische Verbindungen, sich an die Micelle anlagern, eine ausserordentliche Dichtigkeit und Festigkeit erreichen. Was die Bewegungen betrifft, so ist unzweifelhaft, dass unter übrigens gleichen Umständen um so grösseren Massen eine um so schnellere Orts Veränderung mitgetheilt wird , je mehr die dabei thätigen Micelle übereinstimmend geordnet sind , wie ich schon anlässlich der vermeintlichen Urzeugung der Moneren hervorgehoben habe (S. 9o). Da die gleichsinnigen Orientirungen zuerst im Idio- plasma auftreten und von demsell)en dann auf die übrigen Sub- stanzen übergehen, so haben alle Massenbewegungen im Idioplasma ihren Ursprung. Nur in seltenen Fällen ist das letztere, durch die Anziehung, die es ausül)t, die unmittelbare Ursache der Bewegung oder ihrer Richtung, wie dies ohne Zweifel bei Spermatozoiden der Fall ist, die ihren Lauf im Wasser nach der Eizelle hin nehmen. Gewöhnlich verursacht das Idioplasma Ortsbewegungen von Massen nur auf indirectem Wege, indem es andere Substanzen mit den nöthigen Mitteln dazu ausstattet. Die chemischen Processe, die plastischen Bildungen und die Bewegungen werden, wie sich aus der vorstehenden Betrachtung ergibt, in dem Maasse mannigfaltiger, als die verschiedenartigen Miccllschaaren in dem Idioplasma an Zahl zunehmen. Die Menge der eigenthümlichen Erscheinungen , die einen Organismus zu- sammensetzen, nimmt daher zu, so lange die phylogenetische Ent- wicklung andauert. Ort und Zeit für das Auftreten einer jeden Ersclieinung aber hängt, wie ich früher ausgeführt hal)e (S. .'>0), von dem wechselnden Erregungsstande, in dem sich das Idioplasma befindet, und von der Einwirkung, die es von der ihm angewiesenen Stelle in der Ontogenie empfängt, ab. So bewirkt das nändiche Idioplasma die Bildung von Stärkekörnern im Innern vom l^rnäh- rungsplasma, die Bildung von Cellulosemembranen an der Aussen- 9* i32 III' Ursachen der Veränderung. fiäclie desselben , die Entstehung von Wurzeln an bestimmten und die Entstehung von Blättern an bestimmten andern Stellen des Ge- fässstengels, die Erzeugung von Niederblättern am Anfange und die- jenige der Fruchtl>lätter am Ende des Stengel wachsthums. Die vorstehende Betrachtung wurde unter der Voraussetzung angestellt , dass die äusseren Einwirkungen , welche erbliche Ver- änderungen verursachen, ganz gemangelt und nur eine indifferente Ernährung stattgehmden hätte. In diesem Falle musstc die orga- nische Welt aus dem primordialen Plasma durch innere Kraft zu immer li oberen Organisationsstufen und zu immer grösserer Voll- konnnenheit gelangen, wenn wir unter Vollkommenheit eine reichere Gliederung in Bau und Function verstehen. — Von der Beschaffen- heit der auf solche Weise zu Stande gekommenen Organisationen können wir uns aljer bloss eine ganz allgemeine und unklare Vor- stellung machen ; die Gestaltung eines concreten Bildes ist aus zwei Gründen unmöglich : 1 . weil wir die Beschaffenheit der Micelle nur ganz im allgemeinen kennen , und daher nichts Specielles damit construiren können, und 2. weil alle unsere Vorstellungen über Or- ganisation an Organismen gel)ildet wurden, die unter dem Einfluss der von aussen wirkenden Kräfte ein bestimmtes Gepräge ange- nonnnen haben, und weil wir uns dieses Gepräge nicht wegzudenken vermögen. Dies thut indessen der Gewissheit , dass die inneren Kräfte bei der phylogenetischen Entwicklung der Reiche eine ganz entscheidende Rolle gespielt haben, keinen Eintrag, — und ebenso wenig kann es uns zweifelhaft sein, welches diese Rolle gewesen sei. Die l)isherige Betrachtung hat zu dem Ergel)niss geführt, dass die noth wendige Folge der inneren mechanisch wirkenden Ursachen eine stetige in bestimmter Bahn fortschreitende Entwicklung der Stamm})äume sein muss ; auch die äusseren Einflüsse wirken , wie wir sj)äter sehen werden , wäln'cnd grösserer Zeiträume langsam verändernd ein. — Wir möchten dalier erwarten, dass die Erfahrung diese continuirliche Entwicklung l)estätige. Nun ist dies aber be- kanntlicli dem Anscheine nach nicht der Fall , und nach der Dar- stellung der Darwin 'sehen Scliule soll die Veränderung während langer Zeiträume ruhen und dann in Folge eines inneren oder äusseren Anstosses wieder beginnen ; so sind viele Arten und Varie- III. Ursachen der Veränderung. 133 täten seit der Eiszeit und länger sicher so gleich gehhehcn , dass wir keinen Unterschied an ihnen l)emerken (S. 104). Dahei blei])t uns nur unverständlich , welcher Natur der Anstoss sein möchte, der nach einem langen Zeitraum plötzlich von innen oder aussen kommen soll. Besonders unl)egreiflich ist der Anstoss von aussen, da ja die äusseren Ursachen fortwährend die nämlichen sind und nicht in einem bestimmten Jahr etwas bewirken können, was sie in Tausenden von Jahren vorher nicht zu bewirken vermochten. Schon diese Betrachtung zeigt uns , dass die Organismen , o]> gleich sie den greifbaren Merkmalen nach vollkommen gleich zu bleiben scheinen, doch in Wirklichkeit nicht still stehen, dass eine innere Umbildung in ihnen vorgeht, welche sie mit- der Zeit für die Anstösse empfänglicher macht. Müssen wir aber eine solche Umbildung annehmen, so brauchen war überhaupt die räthselhaften besonderen Anstösse nicht mehr; sondern die äussere A'^eränderung tritt unter gewöhnlichen Umständen von selbst ein, wenn in Folge der inneren Umbildung eine Disposition auf eine gewisse Höhe ge- diehen ist. Natürlich kann dieser Zeitpunkt durch die Combination der inneren Verhältnisse und in erheblichem Maasse wohl auch durch die äusseren Einflüsse viel früher eintreten oder lang ver- schoben werden. Wir sind somit auf diesem Wege genau dahin gekommen, wohin uns auch die Theorie des Idioplasmas geführt hat. In dem- selben sind, wie alle Erfahrungen zeigen, stets fertige, werdende und vergehende Anlagen enthalten. Bei der langsamen Umbildung des Idioplasmas werden alte Anlagen nach und nach geschwächt und gehen verloren, indess neue beginnen und sich ausbilden, bis sie nach einer Zahl von Generationen zu äusserlich bemerkbaren physiologischen und morphologischen Merkmalen sich entfalten. Es hat somit durchaus nichts Befremdendes, wenn uns die organischen Reiche das Schauspiel von Sippen darbieten, welche eine Zeit lang stille stehen und dann auf einmal sich zu verändern begiimen. Man könnte bloss allenfalls das Bedenken hegen, ob ein so gar langes Stillstehen denkbar sei, ob die Anlagen vieler Tausende von Jahren bedürfen, um actionsfähig zu werden. Wir stehen da wieder vor der Zeitfrage, die bezüglich der Ab- stammungslehre schon viel unnöthigen Staub aufgeworfen hat. Da wir über die ganze für den vollständigen Stammbaum zur Yvv- 134 III- Ursachen der Veränderung. fügung stellende Zeit, über die Zeit, während welcher organisches Leben auf der Erde möglich war, im Unklaren sind, so vermögen wir auch kein Urtheil zu haben über die Zeit, welche durchschnitt- lich auf jeden einzelnen Schritt im Stannnl)aum tritt't, und wir könnten el)ensowohl durch Annahme zu grosser als zu kleiner Zeit- abschnitte irre gehen. Uebrigens ist niclit gesagt, dass jeder Schritt in der sichtbaren Veränderung gleich viel Zeit erfordere. Im Gegen- theil spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass periodenweise die äusserlich wahrnehmbaren Schritte rascher auf einander folgen und mit längeren Stillständen abwecliseln, — wie dies auch in der Ent- wicklungsgeschichte der Individuen, welche offenbar so viel Aehn- lichkeit mit der Geschichte der Stamml)äume hat, der Fall ist. Das Idioplasma verändert sich unaufhörlich ; aber wie in der unorganischen Materie bald eine geringe, l>ald eine grosse Menge von Spannkraft sich anhäuft, ehe sie als Bew^egung frei wird, so mögen im Idioplasma bald die einzelnen Anlagen , sowie sie fertig gebildet sind, die entsjjrech enden äusseren Veränderungen hervor- rufen, bald mögen sie durch eine längere Periode in Mehrzabl sicli anstauen und dann rasch nach einander sich in ihren morphologischen und physiologischen Merkmalen verwirklichen. Was aber die andere Seite der theoretischen Frage betrifft, ob es denkbar sei, dass die Veränderung un Idioplasma so langsam vor sich gehe und dass die jährlichen Schritte so klein seien, um erst nach vielen tausend Jaliren eine fertige Anlage zu Stande zu bringen, so hängt dies von der Vorstellung ab, die wir uns über diese Schritte, somit über die micellare Beschaifenheit des Idioplasmas, namentlich über Grösse, Zahl und Anordnung der Micelle zu machen haben. Je zahlreicher und kleiner dieselben sind, um so geringer vermag der einzelne Schritt in der Veränderung auszufallen, und um so mehr solcher Schritte bedarf es, bis eine merkliche Umbildung in der Substanz erreicht ist. Was nun diesen Punkt betrifft, so sind in dem einzelligen Keim unter allen Umständen viele Millionen von Idioplasmamicellen enthalten. Hat das Idioplasma überdem die strangförmige Structur, wie ich es angenommen habe, und wird demnach die phylogenetische Bereicherung des Querschnitts von dem ontogenetischen Längenwachsthum l)loss durch die Verursachung von schwaclien Spannungen berührt, so können wir uns die Ein- schiebung eines einzigen Micells sehr langsam denken, indem zuerst III. Urwachen der Veränderung. 135 eine locale Sj^annimg iiacli und nach zunimmt und erst, wenn sie eine gewisse Höhe erreicht hat, die beginnende Bildung des Micells bewirkt. Ebenso verhält es sich mit der Umbildung der Quer- schnittsconfiguration durch die dynamische Einwirkung der Micell- gruppen auf einander, indem die Verstärkung der Anlagen, die schärfere Sondermig derselben und die Differenzirung in ihrem Innern in jedem beliebig langsamen Zeitmaass gedacht werden kann. Es ist uns also gestattet, die unaufhörlich thätige und nie stillstehende Entwicklung des Idioplasmas anzunehmen, und wir dürfen bezüglich der Frist, die wir für die Bildung einer fertigen und entfaltungsfähigen Anlage zugestehen, auch vor Eiszeitweiten nicht zurückschrecken. Endlich lässt sich die Zeitfrage noch von einigen Erfahrungs- thatsachen aus beleuchten. Es ist bekannt, dass bei Menschen nach mein-eren Generationen frühere Merkmale wieder zum A^orschein kommen. Wenn nun eine Anlage ein Jahrhmidert latent bleiben und dann in Qualität und Quantität scheinbar unverändert w^ieder hervorbrechen kann, so begreifen war, dass zu ihrer Bildung mög- licherweise viele Jahrtausende erfordert werden. Und wenn gar, nach der Annahme der Darwin'schen Schule, Merkmale von vor- weltlichen Organismen abermals auftreten, so müsste, w^ie dem Ver- l)orgensein und dem Verschwinden, auch dem Werden der Anlagen eine Erdperiodenzeit zugestanden werden. Es steht also der mechanischen Forderung, dass die begonnene A^'eränderungsbewegung nicht zeitweise stille stehe und dann will- kürlich wieder beginne, sondern dass sie durch alle Generationen thätig bleibe, nichts im Wege, wenn war uns nicht bloss an die äusserlich hervortretenden Ereignisse, sondern an die im ^^erborgenen wirkenden Ursachen dersel])en halten. Die gewöhnliche Betrachtungs- weise, welche die Veränderung bloss nach den wahrnehmbaren Merk- malen abschätzt, gleicht der Geschichtschreilmng, welche nur von Kriegen und Eroberungen, Verträgen und Friedensschlüssen, Revo- lutionen und Parteikämpfen, Beginn und Ende der Reiche und der Dynastien berichtet, aber sich um den im Stillen arbeitenden, die Ereignisse vorbereitenden und, wenn zur Reife gediehen, auch un- widerstehlich durchführenden Fortschritt in der Bildung und Sitte der Individuen nicht kümmert. Es ist nocli ehi Punkt zu l)esprcchcn, über den die gewöhnliche J36 I^^I- Ursachen der Veränderung. Betrachtungsweise, welche sich an das Aeiisserhche hält, nicht weniger im Irrthiim sich hcfindet; dieselhc nimmt an, dass die Veränderung mit der Fortpflanzung zusammenfalle. Dies rührt von dem schon früher erwähnten Umstände her, dass man durch unmittelbare Be- obachtung die Veränderungen bloss bei der Vermischung ungleicher Individuen und l)ei der Kreuzung kennt. Hier muss man nun begreiflicherweise die neue Combination von Eigenschaften mit dem Moment Ijcginnen lassen, in welchem die beiden verschieden gearteten Idioplasmen des Vaters und der Mutter zusammentreten und den Charakter des Kindes zu Stande l)ringen. Aber diese Veränderung bedeutet nur ein Hin- und Herschwanken zwischen den sich vermisclienden Individuen und den sich kreuzenden Sippen; sie erzeugt bloss die individuellen und die Rassentypen, aber nicht die Varietäten und Species. Die innere Veränderung, welche die neuen Anlagen hervorbringt, erfolgt nicht mit der Zeugung, denn diese ist eigentlich nur ein Augenblick, welcher den Beginn eines neuen Daseins bezeichnet. Das Idioplasma bildet sich während der ganzen Lebensdauer um, und bloss weil dasselbe in den Eltern mit der Zeit etwas anders ge- worden ist, sind auch die Keime etwas anders angelegt als die Keime der Eltern. Bei geschlechtlicher Zeugung ist es nicht so leicht, sich eine klare Vorstellung von diesem Vorgang zu machen, wie bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung. Indem bei der letzteren das Idio- plasma sich stetig verändert, hat der Uebergang von einer Generation in die folgende keine andere Bedeutung, als dass nur ein kleiner Theil des vermehrten und veränderten Idioplasmas in dem sich ablösenden Keim sein Wachsthum und seine Veränderung getrennt vom elterlichen Individuum fortsetzt. Die inneren Ursachen machen sich also dadurch geltend, dass das Idio})lasma, indem es sich vermehrt, sich auch umbildet, wobei jede Veränderung mit Nothwendigkeit eine neue weitergehende Veränderung in der Richtung einer gesteigerten Zusammensetzung veranlasst. Die Organismen sind aber nicht bloss auf sich selbst angewiesen ; sie stehen in mannigfaltigen Beziehungen zur Aussen- welt und es ist möglich, dass sie aus derselben nicht bloss Kraft und Stoff für ihr Wachsthum und ihre Veränderung schöpfen, sondern III. Ursachen der Veränderung. 137 dass ihr Entwicklungsgang selbst dadurch modificirt wird. Somit ist die Frage zu erörtern, was die äusseren Dinge in den Organismen bewirken. Die letzteren empfangen von aussen verschiedenartige Nahrung und mannigfaltige immaterielle Einflüsse. Es verstellt sich, dass jede dieser Einwirkungen eine entsprechende Folge innerhalV) der Su])stanz hat, dass die aufgenommenen Stoff- und Kraftmengen verarbeitet werden und dass nichts davon verloren gehen kann. Aber die Grösse des Eindruckes, den dadurch die von inneren Ursachen bedingte Entwicklungsbewegung erfährt, kann eine drei- fache sein. Eine erste Möglichkeit ist die, dass diese Bewegung gar keine Störung erfährt. AVenn ein Stal) innerliall) der Elasticitätsgrenze gebogen wnrd, so kehrt er in seine ursprüngliche Lage zurück, ohne eine materielle Veränderung erlitten zu haben. Ebenso ist es denkbar, dass ein Organismus eine Menge äusserer Einwirkungen erfährt, ohne dass sein Entwicklungsgang im geringsten modificirt wird. Ungleiche Nahrung, ungleiche Temperatur, ungleiche Feuchtigkeit der Luft, ungleiche Lichteinwirkung, ungleiche sinnliche Eindrücke aller Art verursachen dann bloss einen rascheren oder langsameren Gang des Lebensprocesses ; aber ihre Angriffe l)leiben gleichsam innerhalb der Elasticitätsgrenze und hinterlassen keine dauernden und vererbbaren Eindrücke. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, dass ein äusserer Einfluss zwar eine bleibende Einwirkung hinterlässt und die Entwicklungs- bewegung ablenkt. Aber da diese Ablenkung äusserst gering ist und da andere Ablenkungen in anderen und zum Theil in entgegen- gesetzten Richtungen eintreten, so ist der Gesammterfolg ein un- merklich geringer und kann deshalb vernachlässigt werden. Endlich haben wir noch die dritte Möglichkeit, dass die äusseren Einwirkungen, welche geringe bleibende Veränderungen zur Folge haben, während langer Zeiträume beständig in dem gleichen Sinne thätig sind, so dass die Umstimmung zu einer bemerkbaren Grösse sich steigert, d. h. zu einer Grösse, welche in sichtl)aren äusseren Merkmalen sich kund gibt. Zwei j)hylogenetische Stämme, die den gleichen Ursprung haben, können, wenn sie während hinreichend langer Zeit unter solchen ungleichen äusseren Einflüssen lebten, auch ungleiche Merkmale erlangt haben. 138 in. Ursachen der Veränderung. Es ist einleuchtend, dass die beiden ersten Kategorien sich l^loss theoretisch unterscheiden lassen , und dass sie praktisch für uns auf das Gleiche herauskommen. Nach allen Erfalnamgen müssen wir die Ernährungseinfiüsse, zu denen auch die meisten klimatischen Einwirkungen gehören, ihnen zuzählen (S. 102). Die genaue Aus- scheidung der indifferenten Einflüsse von denen, welche wahrnehm- l)are Veränderungen bewirken, ist aljer deshalb schwierig, weil beide fast immer gemeinsam vorkommen. Was nun diese dritte Kategorie von äusseren Einwirkungen, nändich diejenigen, welche deutliche und bleibende Merkmale an den Organismen hervorbringen, betrifft, so sind zwei Fragen zu be- antworten : 1. Welche äusseren Ursachen hierher gehören und 2. welclie Merkmale durch sie hervorgebracht werden. Die letztere Frage beantwortet sicli leichter, und hilft dann auch zur Lösung der ersteren mit. Schon eine allgemeine Uebersicht der Merkmale deutet uns den Weg an. Die Gesammtheit der Eigenschaften , die wir an den Organismen beobachten, lassen sich nämlich unter zwei Gesichtspunkte bringen: 1. die Organisation und Arbeits- tli eilung im allgemeinen; 2. die Anpassung an die Aussenwelt. Der organisatorische Aufbau im allgemeinen besteht darin, dass von den unteren zu den oberen Stufen eines Reiches immer zahlreichere Zellgeiierationen mit einander zu einem Individuum verljunden bleiben, dass in gleichem Maasse die Gliederung in dem- selben und damit die Zahl der Organe und ihrer Theile zunimmt. Die Arbeit sth eilung im allgemeinen geht mit der Organi- sation parallel und ist eine Folge derselben ; sie bewirkt eine räum- liche Trennung der früher vereinigten Functionen und in Folge derselben eine Zerlegung der Functionen in Partialfunctionen. Die Anjjassung an die Aussenwelt bestimmt die specielle Ge- staltung der Organisation und die specielle Beschaffenheit der Arbeits- theilimg und damit das charakteristische Gepräge und den Local- ton des Organismus. Die inneren Ursachen bedingen ein stetiges Fortschreiten der micellaren Beschaffenheit des Idioplasmas vom Einfacheren zum Zusammengesetzteren, und da die äusseren A'^eränderungen aus den inneren micellaren Anlagen hervorgehen und denselben entsprechen, so muss die fortschreitende Organisation und Arbeitstheiluiig im in. Ursachen der Veränderung. 139 allgemeinen durch die inneren Ursachen bewirkt werden; aus den äusseren Ursachen wäre uns dieselbe überdem ganz unerklärlich. Dagegen erscheint fast als selbstverständlich, dass die Anpassung an die Aussenwelt, die Mannigfaltigkeit und specielle Beschaffenheit der Gestaltung, Organisation und Arbeitstlieilung nur Folge der äusseren Einflüsse sein können; zudem liesscn sich dieselben kaum aus inneren Ursaclien ableiten, da diese für sich allein unter allen Umständen eine übereinstimmende Beschaffenheit bewirken würden. In dieser Weise scheint mir sowohl vom theoretischen als vom Erfahrungsstandpunkte aus der Antheil der inneren und äusseren Ursachen ziemlich richtig geschieden zu sein; jenen ist die wesent- liche Construction, der Aufbau aus dem Groben, diesen die äussere Verzierung, jenen das Allgemeine, diesen das Besondere auf Rech- nung zu setzen. Dieser Gegensatz wird in der Folge weiter aus- gefüln-t und begründet werden. Ich bemerke nur im voraus , dass ich die Wirkung der Aussenwelt nicht im Darwin 'sehen Sinne auf dem Umwege der Concurrenz und Verdrängung, sondern als unmittelbares Bewirken verstehe, und dass die Verdrängung und mit iljr die Sonderung der Stämme erst nachträglich in Betracht kommt. Viel schwieriger und dunkler als die Frage, was die äusseren Einflüsse zu Stande bringen, ist die Frage, Avie sie es thun, wie sie mechanisch in den Organismus eingreifen. Diese Frage ist bekanntlich von Darwin, der alle Organisation als Anpassung betrachtet, so beantwortet worden , dass von den zufällig eintretenden Abände- rungen nur die unter den bestehenden Verhältnissen existenzfähigeren erhalten bleiben, iiidess die anderen unterdrückt werden. Die äusseren Einflüsse hätten nach dieser Theorie bloss eine negative oder passive Wirksamkeit, nämlich die, das Unpassende zu beseitigen. Nach meiner Ansicht bringen sie in activer Weise direct diejenigen Er- scheinungen zu Stande, die man als eigentliche Anpassungen be- zeiclnien kann, indem sie mechanisch in den Organismus ein- greifen. Aber die Art und Weise, wie dieses Eingreifen geschieht, bleil)t uns noch verborgen. Da nämlich alle Anpassungserscheinungen erblich sind und aus Anlagen hervorgehen, so muss die Einwirkung auf die miccllare Beschaffenheit des ;Idioplasmas stattfinden und 140 III. Ursachen der Veränderung. kann um so weniger vorstellig gemacht werden , als ja alle Vor- stellung ül^er den Mechanismus plasmatischer Suljstanzen noch mangelt. Es lassen sich daher nur ganz allgemeine Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten darthun. Vorerst ist denkhar und fast gewiss, dass der gleiche äussere Einfluss , er mag seinerseits irgend eine Beschaffenheit haben , in verschiedenen Organismen oder zu verschiedenen Zeiten in dem nämlichen Organismus die dauernden Eigenschaften in ganz un- gleicher Weise modificirt, weil der Weg von der Angriffsstelle bis zur Organisation des Idioplasmas durch zahllose Verschlingungen und Umsetzungen verläuft und daher nothwendig zu verschiedenen, selbst scheinbar entgegengesetzten Resultaten führen muss. Im Anschluss hieran ist festzustellen, dass, wenn alle die Orga- nismen treffenden Einflüsse berücksichtigt werden, jedenfalls zwei Arten der äusseren Einwirkung zu trennen sind, die unvermittelte und die vermittelte. Bei der unvermittelten Einwirkung ist der Process im wesentlichen mit den Folgen beendigt, welche sofort und zwar in analoger Weise wie in der unorganischen Natur zu Stande kommen, so dass man sie auch unschwer als die Folgen der be- stimmten Ursache erkennt. Intensiveres Licht vermehrt in den grünen Pflanzengeweben den Reductionsprocess und die Ausschei- dung von Sauerstoff, Kälte verlangsamt den Chemismus der Ge- wächse, Mangel an Wasser bringt A^erwelkung, reichliche Nahrung lebhafteres Wachsthum hervor. Diese unmittelbare Einwirkung wird im allgemeinen keine dauernde Veränderung im Idioplasma zurück- lassen. Bei der vermittelten Einwirkung, die man hn allgemeinen als Reiz l^ezeichnen kann , tritt eine mamiigfaltige Uebersetzung ein. Die Ursache bewirkt eine ganze Reihe aufeinander folgender molecularer Bewegungen, die uns verborgen bleuten und die in eine sichtbare Erscheinung auslaufen , deren ursächliche Beziehung zu dem ursprünglichen Angriff wir uns nicht mehr vorstellen können und die vielfach etwas ganz anderes ist, als was wir von demselben erwartet haben. Sehr häufig erzeugt der Reiz eine Reflexbewegung und gewöhn- lich macht sich seine Hauptwirkung gerade an der gereizten Stelle geltend, und zwar l)ei einem schädlichen Eingriff in der Weise, dass der Organismus sich bereit macht, densell)en aljzuwehren. Es III. Ursachen der Veränderung. 141 findet ein Zudrang von Säften nach der Stelle statt, welche von dem Reiz getroffen wurde, und es treten diejenigen Neuhildungen ein , welche geeignet sind , die Integrität des Organismus wieder herzustellen und allenfalls verloren gegangene Theile, so weit es möglich ist, wieder zu ersetzen. Ausser der allgemein bekannten Reaction, welche im thierischen Organismus auf eine Verletzung oder einen heftigen Reiz mit Blut- andrang und Neubildung von Gewebe antwortet , erinnere ich an die Ileaction lebender Pflanzengewebe, welche um die verletzte Stelle Zellbildung beginnen lässt und das gesunde Gewebe mit einer viel- schichtigen undurchdringlichen Korkhaut (Wundkork) aljschliesst und schützt, an das Ueberwallen von Schnittfläclien , und an die Reaction, welche um die winzige Stelle im Innern des Gewebes, in die ein Insectenstich ein Ei mit einer ätzenden Flüssigkeit gelegt liat, reichliche und mit dem Reiz, den die sich entwickelnde Larve ausübt, andauernde Zelltheilung und Gallenl)ildung hervorbringt, — dann an die bei Thieren bekannte Erscheinung, dass der vermehrte Geljrauch eines Organs Knochen und Muskeln stärker macht, während der Nichtgebrauch sie schw^ächt u. s. w. Nicht immer bewirkt der Reiz das Herbeiströmen von plastischen Stoffen und das Auftreten von Neubildungen ; ist er schwächer, so veranlasst er bloss eine vermehrte oder auch eine abnormale mole- culare Thätigkeit chemischer oder pll3^sikalischer Natur. So verhält es sich mit den schwächeren Reizen, welche Licht, Wärme, Kälte, mechanische Angriffe ausüben. Ueberhaupt haben alle äusseren Einwirkungen, auch diejenigen, welche wir als unvermittelte unter- scheiden können, nebenbei die Bedeutung von schwächeren Reizen. Ein Reiz, der nur eine geringere Zahl von Malen oder nur eine kürzere Zeit lang einwirkt, hinterlässt, wenn er auch von heftigen Reactionen begleitet ist, keinen bemerkbaren Eindruck auf das Idioplasma. Eine Person, die noch so oft von Wespen ge- stochen wurde, oder eine Eiche, die auf den Stich der Gallwespen noch so viele Galläpfel erzeugt hat, vererbt davon nichts Sichtbares auf die Nachkommen. Eine Familie , deren Glieder in mehreren aufeinander folgenden Generationen die Blatternkranklieit bestanden oder mit Kuhpocken geimpft wurden, hat davon keine bemerkbaren erblichen Folgen. 142 ni- Ursachen der Veriinderung. Dauert der Reiz aber während sehr langer Zeiträume, also durch eine sehr grosse Zahl von Generationen an, so kann er, auch wenn er von geringer Stärke ist und keine wahrnehmbaren sofortigen Reactionen hervorruft, das Idioplasma doch so weit verändern, dass erbliche Dispositionen von bemerkbarer Stärke gebildet werden. Dies scheint wenigstens für die Wirkung des Lichtes zu gelten, welche viele Pflanzentheile der Sonne zu-, einige auch von derselben abwendet, und für die Wirkung der Schwerkraft, welche die meisten Stengel emporrichtet, die Wurzeln nach unten zu wachsen veranlasst. Man könnte zwar meinen , dass diese Wirkungen in ihrer vollen Stärke unmittelbare Folgren der äusseren Ursachen seien und dass es nicht der Annahme einer erblichen Disposition bedürfe. Doch ist diese Meinung unmöglich, weil es Pflanzentheile gibt, die sich gegenüber von Licht und Schwerkraft gleichgültig, und auch solche, die sich gerade umgekehrt verhalten als andere ähnliche Pflanzentheile, z. B. Stengel, die statt nach oben nach unten wachsen (manche Rhizome und die Stiele der kleistogamen Blüthen von Cardamine chenopodi- folia), und solche, die statt nach dem Lichte hin, von demselben sich abwenden. Daraus geht wohl hervor, dass das Idioplasma unter dem Einfluss der Reize in verschiedenen Pflanzen sich ungleich ausgebildet hat und dass es vermöge dieser ungleichen erblichen Beschaffenheit den einen Pflanzenstengeln das Vermögen gibt, auf den Reiz, den das Licht oder die Schwerkraft ausübt, in einer bestimmten Weise, andern Stengeln in entgegengesetzter Weise, und noch andern gar nicht zu reagiren. In den eben angeführten Fällen haben die äusseren Einwir- kungen eine bestimmte Reizbarkeit erzeugt. Dies führt uns auf den Umstand, dass ihre erblichen Folgen in den Organismen über- haupt doppelter Art sind. Entweder werden Organisation und Func- tion in sichtbarer Weise verändert, oder es wird, indem der Orga- nismus scheinbar gleich bleibt, bloss die moleculare Beschaffenheit so weit modificirt, dass dieselbe ein anderes Vermögen erlangt, auf Reize zu reagiren. Von den ersteren Veränderungen, zu denen alle Anpassungen im Bau und in den Verrichtungen gehören, werde ich nachher Si:)rechen. Was die Reizbarkeit (im weiteren Sinne) be- triff't, so besteht dieselbe darin, dass eine Erscheinung nur dann eintritt, wenn eine gewisse äussere Einwirkung ihr vorausgeht. Dies ist der Fall nicht bloss bei den bekannten momentanen Reactionen, III. Ursachen der Veränderung. 143 die im Thierreiche allgemein sind und im Pflanzenreiche mehr aus- nahmsweise vorkommen, sondern auch bei den vorhin erwähnten, durch das Licht mid die Schwerkraft bedingten Wachsthumsrich- tungen. Die letzteren werden durch langsam eintretende Krüm- mungen verursacht, indem beispielsweise an der beleuchteten Seite gewöhnhch das Wachsthum verlangsamt ist, so dass sie concav wird, selten gefördert, so dass sie convex wird. Als ein anderes Beisj^iel, dass in der Pflanze bloss das Vermögen ausgebildet wurde, auf eine äussere Einwirkung zu reagiren, will ich die Wurzelbildung anführen, die bei bestimmten Pflanzenarten dann eintritt, wenn gewisse Stengeltheile mit Wasser in Berührung kommen, während anderen Stengeltheilen der gleichen Arten und den nämlichen Stengeltheilen anderer Gattungen diese Erscheinung mangelt. Abgeschnittene Zweige von Weiden und Paj)peln, die man ins Wasser stellt, bewurzeln sich sehr schnell, während der Erfolg bei Zweigen von gleicher Stärke, die auf dem Bamiie dauernd benetzt werden, langsamer und oft nicht eintritt. Ein im Frühjahr vor dem Austreiben der Knospen abgenommener Weidenzweig, der sich nur in feuchter Luft befindet, verhält sich ziemlich so wie im natürlichen Zustande auf dem Baume; er führt die in der Rinde aufgespeiclierten plastischen Stoffe nach oben, um zunächst die Endknospe zur Entfaltung zu bringen. Sowie aber ein solcher Zweig mit seinem untern Ende ins Wasser gebracht wird, so bewirkt dieses die Umkehr der strömenden Nährstoffe; dieselben bewegen sich nun nach unten, um in der Nähe der Schnittfläche Wurzeln zu bilden, worauf dann die Strömmig nach oben zur Knospenentwicklung fortgesetzt wird. Der Zweig eines AjDfelbaumes verhält sich anders. Die Wurzelbildmig unter dem Einfluss der Benetzung setzt also eine Disposition voraus. Die Fähigkeit der Pflanzenorgane, sich dm-ch Wachsthum zu drehen und zu krümmen, damit sie eine günstige Lage und Rich- tung erlangen, oder Wurzeln zu treiben, ist offenbar nicht durch innere Ursachen erzeugt worden. Sondern es hat sich das Idioplasma unter dem langdauernden Einflüsse des Lichtes und der Schwerkraft sowie des Wassers (letzteres ])ei Sumpfpflanzen) allmählich so umge- bildet, dass es nun auf den Reiz dieser Agentien zu antworten vermag. Was Licht und Gravitation betrifft, so ist zu bemerken, dass Kräfte, welche die Richtung beeinflussen, leicht, je nach den Um- 244 III- Ursachen der Veränderung. ständen, den entgegengesetzten Erfolg bewirken. Grüne Scliwärm- zellcn (Algen) bewegen sieb gewölndicb mit der bcleucbteten Seite voran, also dem Liebte entgegen, bei sebr intensiver -Wirkung des Licbtes aber von demselben weg. In gleicber Weise kann das Liebt und die ebenfalls linear wirkende Scbwerkraft die entgegengesetzten Krümnnmgen bewirken, je nacb dem Grade der Emj^findlicbkeit des Objects und der Litensität des Angriffes. Es w1ire nun denkbar, dass in einem noch unbestimmten Organ je nach dem Ausschlage, welclier von der Combination der Molecularkräfte abhcängig ist, unter den gleichen Verhältnissen die einen Individuen der nämlichen Sippe sich positiv, die anderen negativ krümmten, und dass dann die Concurrenz die Entscheidung gäbe, welche Individuen Bestand haben und welche zu Grunde gehen, somit welche heliotropische und geotropische Richtung späterliin dem Organ der l)etreffenden Sippe zukommt. Auch die übrigen Formen der Reizbarkeit, namentlich diejenige, welche vorzugsweise als solche bezeichnet wird und die sich in einer sofortigen deutlichen Reaction kund gibt, verdanken ihr Dasein sehr wahrscheinlich den nämlichen Ursachen, welche nach Ausbildung der Empfindlichkeit die Reaction hervorrufen. So dürfte die Fähig- keit des Blattes von Dionaea muscipula, sich auf den Reiz eines Insectes zu schliessen und dasselbe zu fangen, nach und nacli durch die krabbelnden Insecten selber entwickelt worden sein. Weniger gewiss als die Ursachen der Reizbarkeit sind im all- gemeinen diejenigen, welche die sichtbaren Anpassungen in der Organisation und Function liewirkt haben. Ueber einige derselben wird zwar kaum ein Zweifel bestehen können. Den Schutz, den die Thiere kalter Klimate in ihrer dicken Behaarung und diejenigen weniger kalter Gegenden in ihrem Winterpelz finden, hat ihnen die Einwirkung der Kälte auf das Hautorgan gegeben. Die verschiedenen Waffen zur Abwehr und zum Angriff, den die Thiere in den Hörnern, Krallen, Stosszähnen u. s. w. besitzen, sind durch den Reiz, der beim Angriff oder bei der Vertheidigung auf bestimmte Stellen der Köri^eroberfläclie ausgeübt wurde, nach und nach entstanden und grösser geworden. in. Ursathen der Veränderung. 145 Die Ursachen anderer und namentlich der bei den Pflanzen vorkommenden Anpassungen, von denen ich einige anführen will, liegen weniger offenkundig da. — So sind die Landpflanzen durch eine Korkbedeckung an ihrer Oberfläche mehr oder weniger vor ^^erdunstung geschützt. Die AVirksamkeit derselben ist jedermann dm'ch die Erfahrung bekannt, wie z. B. dass ein Apfel, der den ganzen Winter frisch l^lciben würde, rasch eintrocknet, nachdem er geschält wairde. Die frühesten Gewächse w^aren Wasserbewohner; sie accli- matisirten sich nach und nach an eine feuchte, dann an eine trocknere Luft; es gibt jetzt noch viele niedere und auch einige höhere Pflanzen, die im Wasser und ausserhalb desselben leben können. Sowie nun in der Urzeit die Gew^ächse aus dem Wasser kamen, wirkte die Ver- dunstung als Reiz auf die Oberfläche. Das partielle Austrocknen verursaclite daselbst eine negative Spannung, die man beispielsweise auch in der Rindenschicht eines austrocknenden Tropfens von Gummi- schleim leicht nachweisen kann. Ausser dieser veränderten Com- bination der Molecularkräfte bestand der Reiz ferner noch in der reichlicheren Zufuhr von Sauerstoff, wohl auch in der energischeren Wirksamkeit des zwisclien den äussersten Membranmicellen ver- dichteten Sauerstoffs und verursachte die chemische Umwandlung der oberflächlichsten Celluloselage in Korksubstanz. So haben die Landpflanzen die erbliclie Fähigkeit erlangt, die äusserste Celluloseschicht ihrer Epidermiszellen zu verkorken . Wachsen die Organe mit dem Aelterwerden in die Dicke, so wird das aus Kork Ijestehende Oberhäutchen zerrissen; die Verdunstung und der Zutritt von Sauerstoff wirken nun auf das unterliegende Zellgewebe ein und der Reiz veranlasst die Bildung einer mehrschichtigen Kork- zellenhaut, welcher Vorgang bei andauerndem Dickenw^achsthum sich von Zeit zu Zeit wiederholt. Man kann die Bedingungen künstlich herstellen. AVenn man Kartoffeln, welche, gleich den übrigen Land- pflanzen, die Fähigkeit erlangt haben, eine solche Korkhaut (die Kartoffelschale) zu bilden, quer durchschneidet und die Schnittfläche der Verdunstung und der Einwirkung der Luft aussetzt, so entsteht innerhalb derselben eine schützende Korkhaut. Bewahrt man da- gegen die Schnittfläche vor der Verdunstung und der Lufteinwir- kung, indem man sie auf eine Glasplatte oder einen Teller legt oder in Wasser bringt, so l^leibt die Korkbildung aus und es tritt Fäulniss ein. V. Nägeli, Abstammungslehre. 10 146 ni- Ursachen der Veränderung. Der Reiz hat bei verschiedenen Pflanzen und verschiedenen Organen einen sehr ungleichen Grad der Verkorkung verursacht. Pflanzen, die für eine feuchte Atmosphäre bestimmt sind, Organe, die nur eine kurze Lebensdauer erreichen, haben eine dünne Kork- bedeckung, während Pflanzentheile von längerer Dauer und in sehr trockener Luft auch sehr gut geschützt werden. Die Land2:>flanzen haben ausser dem weichen Zellgewebe, welches die Ernährung und auch die Leitung der Stoffe besorgt, dickwandige durch ^''erholzung festgewordene Zellen, die das Holz und den Bast zusannnensetzen. Diese verholzten Gewebe verrichten mechanische Functionen und sind deshalb auch mechanische genannt worden*). Sie tragen und stützen die weichen Gewebe, sie bewahren die Organe vor dem Zerbrechen und Zerreissen. Den Wasser j)flanzen, welche weder ihr eigenes Gewicht zu tragen, noch der Gew^alt der Winde zu widerstehen haben, mangeln die mechanischen Zellen fast gänz- lich. Dieselben bildeten sich erst und zwar vorzugsweise aus den dünnwandigen, langen und engen Zellen der Gefässstränge, als die ursj^rünglichen Wasserbewohner zu Landbewohnern wurden. Da die mechanischen Gewebe genau so angeordnet sind, wie es für freistehende oberirdische Organe die Druck- und Biegungs- festigkeit, für die unterirdischen und für einige oberirdische Organe die Zugfestigkeit verlangt, da also ihre Lage den mechanischen Anforderungen entspricht, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie durch die Spannungen, welche Druck und Zug bewirkten, entstanden sind. Denn diese Spannungen waren gerade da am stärksten, wo sich jetzt die mechanischen Zellen befinden. Ferner mussten die Spannungen vorzugsweise in den langgestreckten Zellen der Fil)ro- vasalmassen (Gefässstränge) sich geltend machen, weil die kurzen und weiten Parenchymzellen mit ihren grösseren Zwischenzellräumen leichter durch Gestaltsänderung der mechanischen Gewalt nachgeben können. Es ist also wohl denkbar, dass die wichtige Einrichtung der mechanischen Gewebe im Pflanzenreiche unter dem Einfluss des von äusseren Kräften bewirkten Reizes zur Ausbildung gelangte. Während die meisten Pflanzen durch den aufgerichteten festen Stengel in den Genuss von Licht, Luft und Thau gelangen, klettern andere mit schwachen Stengeln versehene an den ersteren empor, ') Seh wen d en e r, Das meclianische Princip im anatomischen Bau der Monocotylen. III. Ursachen der Veränderung. 147 um sich in den Genuss der nämlichen Vortheile zu setzen. Sie bedienen sich dazu verschiedener Mittel, die aber alle phylogenetisch den nämlichen Ursprung haben konnten. Denken wir uns, es be- finden sich Gewächse , die eines beti'ächtlichen Längen wachsthums fähig sind, aber aus irgend einem Grunde keinen tragfesten Stengel gebildet haben oder bilden konnten, im Gebüsch. Der Lichtmangel und die grössere Feuchtigkeit des Schattens macht sie einigermaassen vergeilen; ihre Organe werden in Folge dessen länger, dünner, mit weicherem Gewebe und schwächerem Korküberzug; zugleich wird durch diese Eigenschaften die Empfindlichkeit für Reize gesteigert. Der schlaffe Stengel legt sich da und dort, sowie er wieder ein Stück in die Hcihe gewachsen ist, auf die festen Aeste des Busch- werks. An diesen Stellen entsteht schon durch die mechanische Wirkung eine schwache Biegung, welche durch den Reiz der Be- rührung vermehrt wird, indem derselbe an der betreffenden Seite eine relative Verkürzung (geringere Streckung) bewirkt. Die Reiz- barkeit wird erblich und bildet sich von Generation zu Generation weiter aus. Sie kommt nicht bloss dem Stengel, sondern auch den Blättern zu, weil diese ebenso häufig mit fremden Körpern in Be- rührung treten und zu Biegungen veranlasst werden. Die Biegungen der Stengel und Blätter dienen den Pflanzen als Stützpunkte, ver- mittelst welcher sie in allerdings noch einfacher und primitiver Weise im Buschwerk emporklettern. Dies mag der ursiDrüngliche, aber erst nach langen Zeiträumen erreichte Zustand der Kletterpflanzen gewesen sein ; derselbe hat sich durch noch längere Zeiträume in verschiedener Weise um- und ausgebildet. Die Veränderungen bestanden einmal darin, dass die Reizbarkeit, indem sie sich steigerte, nur in bestimmten Organen oder auch nur auf einer bestimmten Seite eines Organs erhalten blieb und sich im übrigen verlor ; — ferner darin , dass die reizfähigen Organe ihre Gestalt veränderten und rankenförmig (dünn und lang) wurden ; — endlich darin , dass die Biegung , die früher auf den Reiz erfolgte, später von selbst eintrat, und dass sie, da keine Seite des Organs einen Vorzug hatte, und da rotirende Processe in den Pflanzen überhaupt häufig und in verschiedener Form auftreten, naturgemäss zur Circumnutation wurde. Bei den einen Gewächsen traten diese, bei anderen jene Aende- rungen ein. Die Ursachen des verschiedenen Verhaltens bestanden 10* 148 ni- Ursachen der Veränderung. jedenfalls einerseits in der verschiedenen Natur der Pflanzen, andrer- seits in der verschiedenen Beschaffenheit des Buschwerkes, in dem sie sich befanden , sowie in dem Wechsel dieser Umgebung , dem sie bei Wanderungen unterworfen waren. Die urscächliche Erklärung aber lässt sich wohl noch nicht im einzelnen ausführen ; wir haben einstweilen nur das Resultat der Veränderungen vor uns. Die Blatt- kletterer umschlingen mit den reizbaren Stielen oder verlängerten Spitzen der grünen Blätter die Stütze. Bei den Rankenklettcrern ist das ganze Organ oder der Endtheil desselben fadenförmig und reizbar, umschlingt in Folge des Reizes und rollt sich am freien Theil schraubenförmig ein. Die Stengelkletterer (windende oder Schlingpflanzen) mögen anfänglich einen reizbaren Stengel gehabt und sich mit demselben in der Art um die Stütze gewunden haben, wie es Mohl irrthümlich für die jetzigen Schlinggewächse annahm, nämlich so, dass das sich verlängernde Ende fortwährend durch Berührung mit der Stütze gekrümmt und somit an dieselbe ange- drückt wurde. Die Reizl)arkeit ging dann ganz verloren, indem an die Stelle der Reizbiegung die autonome Circumnutation trat, welche in Verbindung mit anderen Wachstliumsvorgängen zur Befestigung der kletternden Pflanzen ausreichte. Die grünen Blätter zeigen eine bemerkenswerthe Verschiedenheit zwischen der ol3eren dem Lichte zugekehrten und der unteren im Schatten befindlichen Fläche. Dort ist das Gewebe fester, mit wenigen oder ohne Spaltöffnungen , somit vor der A^erdunstung ge- schützt ; die Aushauchung von Wasserdampf geschieht fast aus- schliesslich an der unteren, aus lockerem Gewebe bestehenden und mit zahlreichen S2)altöffnungen versehenen Seite, wo sie nie durch das directe Sonnenlicht zu einem verderblichen Grade gesteigert wird. Diese ungleiche Beschaffenheit in Bau und Verrichtung kann eine Folge der ungleichen Einwirkung von Licht und strahlender Wärme sein, indem der stärkere Reiz an der oljeren Seite das festere Gefüge des Zellgewebes verursachte. Es gibt auch grüne flachgedrückte Stengel, welche die gleiche Function l)esitzen wie die grünen Blätter, die aber an beiden Flächen gleich gebaut sind. Man könnte nun vielleicht fragen, warum dieselben nicht, analog den Blättern, zwei verschiedene Seiten, eine Sonnen- und eine Schattenseite besitzen. Bei den Stengeln konnte sich aber die Ungleichheit nicht ausbilden, weil die Orientirung derselben III. Ursachen der Veränderung. 149 mit jeder Generation und selbst bei dem nämlichen Stengel in Folge der Drehung um seine Achse von unten nach oben wechselt, während bei den Blättern die Orientirung durch die Anheftung am Stengel morphologisch bestimmt ist und daher durch alle Generationen die nämliche bleibt. Besondere Aufmerksamkeit haben von jeher die mit der Fort- pflanzung verbundenen Einrichtungen erregt und sind in neuester Zeit bestimmt als Anpassungen an die Aussenwelt in Ansprucli ge- nommen worden. So sehen wir bei der Mehrzahl der Phanero- gamen die Geschlechtsorgane umgeben von grossen glänzend ge- färbten Blmnenkronen , welche keinen änderen Nutzen gewähren, als dass sie die blüthenbesuchenden , Blumenstaub und Honig sammelnden Insecten anlocken und dadurch die Kreuzung zwischen den Individuen gegenüber der Selbstbefruchtung befördern. Sie mangeln den Gefässcryptogamen und den Gymnospermen , welche die niedrigste Abtheilung der Fhanerogamen darstellen, sowie einigen Gruppen der Monocotylen (z. B. den grasartigen Gewächsen) und der Dicotylen (z. B. den kätzchentragenden Bäumen). Staubgefässe und Kronblätter sind mit einander nahe verwandt; die ersteren verwandeln sich leicht in die letzteren, welche Um- wandlung bei den doppelten oder gefüllten Blumen sichtl)ar wird. Die Staubgefässe sind blattartige Organe; sie treten auch in ihrer einfachsten und ursprünglichsten Form als kleine schuppenförmige Blätter auf. Aus solchen schupj^enartigen Stauljgefässen, in einigen Fällen vielleicht auch aus sterilen , dieselben umhüllenden Deck- blättern sind durch beträchtlich gesteigertes Wachsthum die Kron- blätter hervorgegangen. Diese Steigerung des Wachsthmns mag wesentlich durch den Reiz veranlasst worden sein , welche die blüthenstaub- und säfteholenden Insecten fortwährend durch Krabbeln und kleine Stiche verursachten. Wenn ein einmal wirkender Reiz eine Wucherung des Zellgewebes erzeugt, wie wir sie bei der Gallen- bildung durch Gall Wespenstich, bei den haarförmigen Bildungen aus den Epidermiszellen an verschiedenen Blättern durch eine Colonie winziger Milben kennen , so muss auch ein durch zahllose Genera- tionen fortdauernder schwacher Reiz die Umwandlung einer kleinen Schuppe in ein grosses Kronblatt zu Stande bringen können. 150 ^^- Ursachen der Veränderung. Zu den merkwürdigsten und allgemeinsten Anpassungen, die wir an der Gestalt der Blütlien beobachten, gehören die langröhrigen Kronen in Verbindung mit den langen Rüsseln der Insecten, welche im Grunde der engen und langen Röhren Honig holen und dabei die Fremdbestäubung der Pflanzen vermitteln. Beide Einrichtungen, die vegetabilische und die animalische, erscheinen so recht wie für einander geschaffen. Beide haben sich allmählich zu ihrer jetzigen Höhe entwickelt, die langröhrigen Blüthen aus röhrenlosen und kurzröhrigen , die langen aus kurzen Rüsseln. Beide haben sich ohne Zw^eifel in gleichem Schritt ausgebildet, so dass stets die Länge der beiden Organe ziemlich gleich war. Wie könnte nun ein solcher Entwicklungsprocess nach der Selectionstheorie erklärt werden, (""a in jedem Stadium desselben vollkommene Anpassung bestand ? Die Blumenröhre und der Rüssel hatten beispielsweise einmal die Länge von 5 oder 10"'"' erreicht. Wurde nun die Blumenröhre bei einigen Pflanzen länger, so war die Veränderung nachtheilig, weil die Insecten beim Besuche der- selben nicht melir befriedigt wurden und daher Blüthen mit kürzeren Röhren aufsuchten ; die längeren Röhren mussten nach der Selec- tionstheorie wieder verschwinden. Wurden andrerseits die Rüssel bei einigen Thieren länger, so erwies sich diese Veränderung als überflüssig und musste nach der nämlichen Theorie als unnöthiger Aufwand beseitigt werden. Die gleichzeitige Umwandlung der beiden Organe aber wird nach der Selectionstheorie zum Münchhausen, der sich selbst am Zopfe aus dem Sumpfe zieht. Nach meiner Vermuthung konnten die langen Blumenröhren aus kurzen in gleicher Weise entstehen wie die grossen Blumen- blätter aus kleinen. Durch die beständigen Reize, welche die kurzen Rüssel der Insecten ausübten, wurden die kurzen Röhren veranlasst sich zu verlängern. Dieses Wachsthum erfolgte als nothwendige Wir- kung ihrer Ursache, obgleich es zunächst für die Pflanzen sich unvor- theilhaft erwies. Mit der wachsenden Länge der Blumenröhre, welche, weil durch die nämliche Ursache bewirkt, eine allgemeine Erscheinung bei den Individuen einer Sippe w^ar, verminderte sich für die In- secten die Leichtigkeit des Nektarholens. Dieselben wurden zu grösseren Anstrengungen gezwungen, und der damit verbundene Reiz, sowohl der physische, den das Organ bei der Arbeit erlitt, als der psychische, welcher in der gesteigerten Begierde nach dem Ziele in. Ursachen der Veränderung. 151 lag, verursachte eine Verlängerung des Rüssels, so lange, als eine Ver- längerimg der Blumenröhre ihr vorausging. Dabei ist selbstverständ- lich, dass jede Pflanze nur zu einem begrenzten Wachsthum der Blume mid jedes Insect nur zu einem begrenzten Wachsthum des Rüssels sich befähigt zeigt. Die Honigabsonderung, die im Grunde der meisten nicht stäu- benden Blüthen stattfindet, ist offenkundig eine für die Pflanzen nützliche Einrichtung, weil sie den Insectenbesuch ganz besonders befördert. Honigdrüsen kommen aber nicht bloss in den Blüthen, sondern auch an den Laubblättern einiger Pflanzen (Viburnum Tinus, Clerodendron u. s. w.) vor und sind daher keine eigens für die Befruchtung hergestellte Anpassung. Was die Ursache betrifft, welche diese Organe erzeugte , so möchte ich vermuthen , dass sie ebenfalls in dem durch die Insecten ausgeübten Reiz zu suclien ist, welche mit Bohrwerkzeugen an ihren Mundtheilen versehen sind (Fliegen, Bienen, Schmetterlinge) und Pflanzenzellen anbohren, um den Saft derselben zu gewinnen. Es erscheint mir nun sehr plausibel und ganz in Ueberein- stimmung mit den Ijekannten ontogenetischen Reactionen auf ähn- liche Verwundungen , wenn wir annehmen , dass der mit dem ge- nannten Angriff verbundene und durch eine lange Generationenreihe sich stets wiederholende Reiz schliesslich zu der phylogenetischen Bildung eines besonderen Drüsenorgans geführt habe. Dass das- selbe fast bloss im Grunde der Blüthen sich findet, erklärt sich daraus , dass diese Region wie keine andere an der Oberfläche des Pflanzenkörpers aus einem weichen saftigen Gewebe besteht. Die Nützlichkeit der Erscheinung für die Fortpflanzung hatte keinen Einfluss aiff die Entstehung des Organs, und wenn die Selec- tionstheorie durch ihr Princip sich genöthigt sieht, auch in den an grünen Blättern befindlichen Honigdrüsen eine für die betreffenden Pflanzen besondere vortheilhafte Einrichtung zu vermuthen , so dürfte sie sich wohl einer Täuschung hingeben. Der Organismus liat in diesem Fall, wie in allen anderen, lediglich auf einen Reiz geantwortet. Eine solche Reaction ist, wenn sie sich phylogenetisch zu einer Einrichtung entwickelt, allerdings vortheilhaft , indem sie einen ferneren Reiz unmöglich oder unwirksam macht. Durch die Bildung eines Honig absondernden Organs hat sich die Pflanze auf eine natürliche Art gegen die störenden ICiiigriffe der Insectenbohr- 152 III- Ursachen der Veränderung. Werkzeuge geschützt, da an dieser Stelle eine derbe luiutartige Be- deckung mit dem Organisationsplan unvereinbar war. Wenn ausser diesem unmittelbaren Nutzen ein ganz anderer mittelbarer Vortheil für das ßefruchtungsgeschäft aus der Einrichtung gezogen wird, so ist dies weiter nichts als ein glücklicher Zufall. Es gibt noch eine Einrichtung in den meisten Blüthen der Phanerogamen, welche ich von der Einwirkung der Insecten ableiten möchte. Pflanzen mit kleiner unscheinbarer oder mangelnder Blüthen- decke und ohne Honigabsonderung, die deswegen auch von den Insecten im ganzen wenig oder nicht l)esucht werden , verstäuben ihren Pollen durch den Wind. In den Blüthen dagegen mit grossen Blumenblättern mit Honigdrüsen und mit reichlichem Insecten- besuch hängen die Pollenkörner durch eine klebrige Substanz mehr oder weniger zusammen und werden vom Winde nicht zerstreut. Die erste Erscheinung ist die ursprüngliche, die letztere hat sich phylogenetisch aus jener herausgebildet. Die Insecten , welche auf den Blüthen herumkrochen , um Blüthenstaub und Säfte zu holen, übten bei dieser Beschäftigung nicht bloss auf die Blätter und den Grund der Blütlie einen Reiz aus , sondern namentlich auch auf die Staubbeutel , sowohl durch die Tritte ihrer Füsse und die Stiche ihrer Bohrwerkzeuge, als durch verschiedene andere mechanische Angriffe. Die Folgen solcher Reize sind im allgemeinen Wucherung des Zellgewebes bei stärkerer Ein- wirkung, Vermehrung verschiedener Thätigkeiten bei schwächerer Reizwirkung. Die genannten Eindrücke, welche während langer Zeiträume auf die Staubbeutel ausgeübt wurden, haben denn auch eine phylogenetische Veränderung derselben hervorgebracht. Die Staubbeutel sind grösser, die Wandungen der Zellen, in denen sich die Pollenkörner bilden, dicker geworden, und aus der desorgani- sirten Substanz dieser Wandungen ist die klebrige Substanz hervor- gegangen, welche die Pollenkörner zusammenhält. — Zwar kann man das Bedenken äussern, dass die Staubbeutel den Reiz in der Regel erst zu der Zeit in sehr wirksamer Weise empfingen, als die Pollenkörner schon geljildet waren. Allein in protogynischen Blüthen erfolgte derselbe doch in verhältnissmässig früher Zeit und ferner hatten auch die noch ungeöffneten Blüthenknospen verschiedene Angriffe der Insecten zu bestehen. Ueberdem ist es sicher, dass ein säcularer Reiz, welcher eine phylogenetische Wirkung hat, das III. Ursachen der Veränderung. 153 Organ nicht bloss in dem Zustande , in dem er es trifft , sondern auch in früheren Entwicklungsstadien zu verändern vennag. Ausser der Grösse und Gestalt der Blumenkronen , der Honig- absonderung und dem klebrigen Blüthenstaub gibt es bekanntlich noch zwei Erscheinungen , welche die Anpassung der Blüthen an den Insectenbesuch vervollständigen , nämlich die Farbe und der Geruch dieser Organe. Aber diese beiden Erscheinungen können am allerwenigsten als eigens für die Fortpflanzung bestimmt gelten, da sie nur ganz allgemeine ^^orkommnisse der vegetativen Organe in der reproductiven Sphäre wiederholen. Was die Farbe betrifft, so ist, wie ich zuerst erwähnen will, von Wichtigkeit, dass die Blumenblätter in Bau und Verrichtung der Gewebe genau mit dem sterilen Theil der Staubgefässe überein- stimmen, und dass sie von den übrigen Blättern vorzüglich durch die nicht grüne Farbe, die zartere Structur der Zellen und den Mangel der Spaltöffnungen sich unterscheiden. Diese Eigenthümlich- keiten der Staubgefässe hängen ohne Zweifel mit ihrer kurzen Dauer zusammen; und sie kommen als Erbtheil auch den aus den Staub- gefässen hervorgegangenen Blumenblättern zu. Ein Organ, welches kein Chlorophyll bildet und also nicht grün w4rd, muss entweder farblos (weiss) sein oder irgend eine andere Farbe zeigen. Das sterile Gewebe der Staubgefässe ist öfters schwach gefärbt ; die Blumenblätter nehmen ähnliche, nur intensivere Farben an, was mit auf die viel stärkere Einwirkung des Lichtreizes zu setzen sein dürfte. Die näm- lichen Farbstoffe , wie sie in den Blüthen gebildet werden , sind übrigens häufig auch in anderen Organen enthalten. Wir finden die rotlien und blauen Farbstoffe, die im Zellsaft der meisten Blumen- blätter gelöst sind, nicht nur in Früchten (Kirschen, Trauljen), sondern auch in Laubblättern schon im Sommer oder erst im Herbst (Ampe- lopsis), in Stengeln (Cornus), in Haaren und Wurzeln (rothe Rüben). Wir finden sie seilest abwärts durch das ganze Pflanzenreich bis zu den einfachsten Gewächsen (einige Florideen enthalten neben dem rothen unlöslichen Farbstoff einen rothen gelösten, einige Oscillariaceen ausser dem spangrünen unlöslichen einen violetten oder blauen gelösten Farbstoff). 154 III- Ursachen der Veränderung. Die Ursachen, welche die genannten Farbstoffe erzeugen, sind also nicht auf die Blüthen beschränkt, sondern allgemein durch das Pflanzenreich verbreitet. Sehr wahrscheinlich liegen sie nicht schon in der Sul)stanz selber, sondern in äusseren Einflüssen. Da diese Einflüsse sich unserer Erkenntniss entziehen, so vermögen wir auch den unmittelbaren Vortheil, der vielleicht durch die fragliche Farb- stoffbildung für die Pflanzen erlangt wird, nicht einzusehen. Der weitere Nutzen al)er, den sie unzweifelhaft bei der Fortpflanzung gewähren, kann, wie derjenige der Honigabsonderung, nur ein mittel- barer und zufälliger sein. Ganz ebenso wie mit den Farben verhält es sich mit den Ge- rüchen der Blüthen. Die Gewissheit, dass ihre Ursachen keine direkte Beziehung zu der Befruchtung und Fortpflanzung haben, tritt hier noch überzeugender hervor, weil die Gerüche der Blmnen an Intensität und allgemeinem Vorkommen sogar von den aroma- tischen \^erbindungen der vegetativen Organe, namentlich der grünen Blätter, übertroffen werden. Wenn ich die Ursachen für die mit dem Insectenbesuch zu- sammenhängenden Anpassungen bei der Fortpflanzung der Phane- rogamen richtig erkannt habe, so wurden die Abänderungen der ursprünglichen Blüthen wesentlich durch die bei diesem Besuche stattfindenden mannigfaltigen Reize hervorgebracht. Man könnte vielleicht entgegnen, warum die Gallwespen, die jährlich ihre Eier in die vegetativen Organe der Eichbäume und anderer Pflanzen legen, nicht ebenfalls Anpassungsveränderungen hervorgebracht haben. Al)er die Verhältnisse sind in den beiden Fällen doch wesentlich verschieden. In den Blüthen erfährt das nämliche Organ durch alle Generationen hindurch ganz in der gleichen Weise den Insecten- reiz. In den vegetativen Organen ist es bald diese, bald jene Stelle, welche getroffen und welche bald in der einen, bald in der andern Weise verletzt wird. Genau die gleiche Stelle an dem Stamm- gerüste oder der nämliche Theil des gleichen, durch seine Stellung am Stammgerüste bestimmten Blattes wird kaum alle zehn, vielleicht kaum alle hundert Jahre einmal von dem nämlichen Insect ge- stochen. Ueberdies ist der Reiz der Insecten auf die Blüthentheile ein dauernder und schwacher , und als solcher für Erzeugung phylogenetischer Um1)ildung viel geeigneter als ein einmaliger hef- tiger Eingriff. in. Ursachen der Veränderung. 155 Indem die Insecten die Veranlassung zur Vergrösserung der Blumenkrone, zur Honigabsonderung und zum Klebrigwerden des Pollens gaben, war ihre Wirkung für die Pflanzen nachtheilig, weil für die ersten zwei Erscheinungen eine grössere Arbeit aufgewendet werden musste, und weil die dritte Erscheinung die regelmässige Befruchtung beeinträchtigte. Besonders der letztere Umstand hat wohl unter den Myriaden ausgestorbener Pflanzensippen die Ver- nichtung mancher derselben verursacht, und er würde noch gründ- licher aufgeräumt haben, wenn nicht der Insectenbesuch durch Ver- mittelung der Bestäubung die Nachtheile, die er gebracht, selber aufgewogen hätte. Während die meisten auffallenden Abänderungen der ursprüng- lichen kleinen und unscheinbaren Blüthen auf Rechnung der In- secten zu setzen sind, läs.st sich dasselbe nicht auch für Farbe und Geruch annehmen, wie ich gezeigt habe. Wenn zwar auch diese Erscheinungen den Insecten als Selectionsresultat zugeschrieben werden, so ist dafür doch nicht der geringste Beweis geleistet. Bezüglich der Farben, welche von den Pflanzen durch Auswahl festgehalten w^orden sein sollen, um gewisse Classen von Insecten vom Besuche auszuschliessen , sind die Beobachter selber ganz un. gleicher Meinung. Dass bestimmte Blimienfarben deswegen Bestand gewonnen haben, weil bestimmte Insecten eine Vorliebe für sie besassen, ist im Grunde weiter nichts als eine willkürliche An- nahme, und wenn H. Müller in consequenter Verfolgung dieses Gedankens u. a. sagt, dass »Bienen mid Hummeln sich Blumen der verschiedensten Farben gezüchtet haben« und dass beispielsweise dieselljcn >auch in der Familie der Primulaceen sich ausser rotlien und violetten auch gelbe Blumen gezüchtet haben«, so könnte man wohl mit mehr Recht annehmen, dass die Aufmerksamkeit dieser Insecten von jeder Farbe erregt wird und dass sie sich gar niclits züchteten. Um die Frage sicher zu entscheiden, ob gewisse Farben mehr als andere, und gewisse Gerüche mehr als andere, bestimmte Insecten anzulocken vermögen, niüsste der Weg des Experiments einge- schlagen werden. Es müssten künstliche Blumen von verschiedener Farbe, theils ohne Geruch, theils mit verschiedenen aromatischen Verbindungen wohlriechend gemacht, an grüne Zweige befestigt und der Insectenbesuch genau beobaclitet werden. Ich habe mit Erfolg 156 III- Ursachen der Veränderung. eine solche experimentelle Behandlung schon in den Jahren 1863 und 1864, aber nur für einen ganz allgemeinen Zweck angewendet^) und mich dabei überzeugt, dass die Insecten durch die Farbe und den Geruch cler papiernen Blumen herbeigelockt wurden. Dieser Weg hätte für specielle Zwecke weiter verfolgt werden sollen; derselbe hätte wohl zuverlässigere Ergebnisse versprochen, als die blosse Be- obachtung der natürlichen Blumen , in denen immer verschiedene Momente zusammenwirken. Er würde zwar nicht gezeigt haben, welche Farben und Gerüche den Insecten ihr Dasein verdanken, aber ganz bestimmt, für welche Farben und Gerüche jede Art Vorliebe besitzt. Zu den merkwürdigsten Anpassungen , die bei der Fortj^flan- zung der Phanerogamen vorkommen , gehört die Einrichtung der dimorphen und trimorphen Blüthen. Um diese Einrichtung dem nicht botanischen Leser in Erinnerung zu bringen, bemerke ich, dass bei Dimorphismus (z. B. Primula) die einen Blüthen kurze, die anderen lange Griffel besitzen. In den kurzgriffeligen Blüthen be- finden sich die Staubgefässe oben, in den langgriff eligen aber tiefer in der Kronröhre, so dass also Narbe und Staubbeutel in der gleichen Blüthe in zwei Stockw^erken befindlich und möglichst von einander entfernt sind, in verschiedenen Blüthen aber in gleicher Höhe liegen, indem die einen Blüthen im untern Stockwerk die Narbe, im obern die Staubbeutel, die andern dagegen im untern Stockwerk die Staub- beutel, im obern die Narbe enthalten. — Bei Trmiorphismus (z. B. Lythrum Salicaria) gibt es dreierlei Blüthen, nämlich solche mit kurzem, solche mit mittellangem und solche mit langem Griffel. Von den meist 10 Staubgefässen hat die eine Hälfte einen höheren, die andere einen tieferen Stand, in der Weise, dass die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane in jeder Blüthe drei Stockwerke einnehmen. Die Narbe befindet sich im unteren, mittleren oder oberen Stockwerk und je die beiden anderen Stockwerke sind von den Staubgefässen besetzt. Dieser morphologischen Anordnung entspricht in physiologischer Beziehung die Erfahrung, dass männliche und weibliclie Organe, flio dem gleichen Stockwerk angehören, in den Blütlien also einen gleich hohen Stand zeigen, sich am leichtesten befruchten und die grösste Menge von Samen liefern, während Geschlechtsorgane ver- ^) Entstehung und Begriff der uaturliistorischen Art. 18G5. III. Ursachen der Veränderung. 157 schiedeiier Stockwerke eine Abneigung gegen die Begattung kund tliuii und eine weniger zahlreiche Nachkommenschaft geben; die Abneigung kann so weit gehen, dass die Befruchtung ganz au.sbleibt. Die Begattungen zwischen den Organen des gleichen Stockwerkes sind legitime, diejenigen zwischen ungleichen Stockwerken illegitime genannt worden. Aus der morphologischen Anordnung ergibt sich, dass die legitimen Befruchtungen nur durch Kreuzung verschiedener Blüthen zu Stande kommen, und dass Selbstbestäubung immer ille- gitim ist. In bemerkenswerther Uebereinstimmung mit der physiologischen Erfahrung steht die Anpassung an die Insectenwelt. Die Insecten, welche nacheinander verschiedene Stöcke einer Pflanzenart besuchen, und, um ihr Ziel, den Honig im Grunde der Blumenröhre, zu er- reichen, immer gleich weit in dieselbe eindringen, bedecken sich in dimorphen Blüthen auf zwei, in trimorphen auf drei Zonen ihres Körpers, welche den zwei oder drei Stockwerken der Blüthen ent- sprechen, mit Blüthenstaub. Bei fortgesetztem Blütlienl.)esuche ]je- wirken sie fast ausschliesslich legitime Kreuzungsbefruchtungen, indem jede mit Blüthenstaub beladene Körperzone mit Narben des nämlichen Stockwerkes in Berührung kommt. Was nun die Ursache der sonderbaren mori^hologischen An- ordnung betriift, die sich so nützlich für die Befruchtung erweist, so sollte man meinen, dass man hier, ^vie bei kaum einer anderen Einrichtung, auf zufällige A^ariation und auf die Auslese der gün- stigen aus den ungünstigen Combinationen angewiesen sei. Doch gibt es einen Weg, der, wie mir scheint, auf direct bewirkende Ursachen zu führen vermag. Um dieselben klar zu legen, muss ich zuerst einige Punkte feststellen. Der erste Punkt, den wir ins Auge zu fassen haben, ist der, dass die Lagerung der Geschlechtsorgane in zwei oder drei Stock- werke eine erbliche Erscheinung ist, indem sie sich in den ver- schiedenen Combinationen immer wiederholt; ferner, dass für jedes Stockwerk eine besondere männliche und weibliche Anlage im Idio- plasma vorhanden sein muss. Letzteres ist um so nothwendiger, als die Pollenkörner und die Narbenpapillen auf den verschiedenen Stockwerken ungleich ausgebildet sind. Es gibt also im Idioplasma der dimorphen Pflanzen je zwei, in demjenigen der trimorphen Pflanzen je drei Anlagen sowohl für die Staubgefässe als für die 158 III- Ursachen der Veränderung. Griffel. Diese Anlagen oder, wenn dieselben entsprechend der früher ausgesprochenen Vermuthuiig in ihre Componenten aufgelöst sind (S. 44), diejenigen Componenten, welche die örtliche Lage bestimmen, werden wie ihre Entfaltungsmerkmale räumlich getrennt sein. Der zweite Punkt betrifft die Abneigung gegen illegitime Be- gattung, welche sich deutlich in der verminderten Samenzahl aus- spricht. Diese Abneigung muss in den Pollenkörnern und in den Narbenpapillen begründet sein, indem die Substanz dieser Organe, wenn sie von verschiedenen Stockwerken herstammt, sich gegen- seitig weniger anzieht, als wenn sie dem gleichen Stockwerk an- gehört. Die nämliche Eigenschaft ist aber auch den betreffenden idioplasmatischen Anlagen zuzuschreiben. Zur Begründung dieser Folgerung führe ich an, dass wirkliche Anziehung zwischen ver- schiedenen Idioplasmen vorkommt, nämlich zwischen dem Sperma- tozoid und dem Keimfleck der Eizellen, wie ich später zeigen werde. Und wenn Anziehung erwiesen ist, so muss auch die Möglichkeit von vorkommender Abstossung angenommen werden. Für das Vor- handensein von dynamischen Beziehungen zwischen den Geschlechts- organen spricht auch der Umstand, dass bei manchen Pflanzen die Staubgefässe und die Griffel sich zur Zeit der Befruchtung gegen einander neigen. An diesen zweiten Punkt schliesst sich dann die Thatsache an, dass bei manchen Pflanzen Abneigung gegen Selbstbefruchtung be- steht, indem Fremdbestäubung mehr Samen hervorbringt als Selbst- bestäubung. Daraus geht deutlich hervor, dass die ganze Ein- richtung der dimorphen und trimorphen Blüthen, wie dies übrigens bereits feststehende Annahme ist, ihre physiologische Bedeutung nur in der verhinderten Selbstbefruchtung und in der beförderten Kreuzung erhält. Aus dem Zusammenhalte der eben angeführten Momente ziehe ich nun folgenden Schluss für die phylogenetische Entstehung der dimorphen Blüthen. Diese waren ursprünglich homomorph ; die Vor- fahren von Primula hatten nur einerlei Blüthen, deren Staubbeutel und Narben in gleicher Höhe lagen. Die beginnende Abneigung gegen Selbstbefruchtung bewirkte in den Idioplasmareihen, welche die örtliche Stellung bestimmen, eine Scheidung in zwei Anlagen und in Folge der gegenseitigen Abstossung eine Entfernung dieser Anlagen von einander oder wenigstens eine Entfernung der ent- ni. Ursachen der Veränderung. 159 falteten Organe. Die beiden bloss örtlichen und die Stellung in den zwei Stockwerken bedingenden Anlagen sind beiden Geschlechtern gemeinsam; und die Abneigung gegen Sellistbefruchtung hat nun die nothwendige Folge, dass, wenn in einem bestimmten Pflanzen- individuum bei der Staubgefässbildung die eine Anlage wirksam wird, sie für die Griffel) )ildung latent bleibt, und dass für die letztere dann die andere Anlage in Thätigkeit versetzt wird, dass also Staub- beutel und Narben immer zwei verschiedenen Stockwerken angehören. Die trimorphen Blüthen von Lythrum Salicaria waren in den Vorfahren ebenfalls homomorph. Der Scheidungsprocess gestaltete sich aber etw'as comphcirter, indem er nicht nur zwdschen den Staubbeuteln und Narben, sondern auch zwischen den Staubbeuteln unter sich auftrat. Was die letztere Scheidung betrifft, so kommt es überhaupt nicht selten vor, dass, wenn die Staubgefässe in zwei Kreise gestellt sind, die Staubbeutel des einen Kreises höher hegen als die des anderen. Ich nehme hier diese Thatsache als gegeben an, ohne ihre Ursache ergründen zu wollen. In den trimorphen Blüthen besteht, zugleich mit der Thatsache, dass die nämlichen Anlagen im Idioplasma die Höhenlage der männlichen und weiblichen Organe bedingen, Scheidung der beiden Staubbeutelkreise neben der Ab- neigung zwischen den letzteren und der Narbe. So mussten sich drei idioplasmatische Anlagen für den örtlichen Sitz der Geschlechts- organe bilden, die sich in jeder Pflanze möglicher Weise in anderer Combination verwirklichen. Nimmt die Narbe den unteren, den mittleren oder den oberen Stand ein, so werden die zwei Staubbeutel- kreise wegen ihrer Abstossung gegen die Narbe und untereinander in die beiden übrigbleibenden Stockw^erke verwiesen. Die Entstehung der heteromorphen aus den homomorphen Blüthen lässt sich auf mechanischem Wege denken, w^enn die ört- liche Stellung der männlichen und w^eiblichen Geschlechtsorgane durch eine gemeinsame Grupj:)e im Idioplasma bestimmt wird, welche, sobald die der Abneigung gegen Selbstbefruchtung entsprechende innere Abstossung einen gewissen Grad erreicht hat, in zwei oder drei Anlagen aus einander weicht. Ob dann in dem einzelnen Individumn die eine oder andere Stellung dem weiblichen Organ zufalle (dm^cli welche selbstverständhch auch die der männhchen Organe bestimmt ist), hängt von unbekannten bei der Keimbildung schon entscheidenden Ursachen ab, in ähnhcher Weise wie bei 160 III- Ursachen der Veränderung. Arten mit getrenntem Geschlecht in jenem Zeitraum ebenfalls dm^h unl)ekannte Ursachen entschieden wird, ob das entstehende Individuum männlich oder weiljlich sein wird. Daraus folgt aber nicht, dass jede Pflanzenart, die eine entschiedene Abneigung gegen Selbst- befruchtung erlangt, nothwendig auch heteromorph in der Blüthen- bildung werde. Die Abstossung kann sich auch einfach dadurch ])ethätigen, dass Staubbeutel und Narben aus einander weichen, wo- durch die Selbstbefruchtung erschwert wird und die Art, sofern nicht Fremdbestäubung auf irgend einem Wege statt findet, zu Grunde gellt. Ob die Blüthen bei Eintritt der Al)neigung gegen Selbst- bestäubung homomorph bleiben oder heteromorph werden, hängt von dem Umstände ab, ob die beiden Geschlechtsorgane für ihre örtliche Stellung gemeinsame oder getrennte Anlagen im Idioplasma besitzen. Man kann sich die phylogenetische Entstehungsweise der ver- schiedenen Vorkommnisse in folgender Weise denken. Auf den niederen Stufen der Phanerogamen verhalten sich die Höhenlagen der Staubbeutel und der Narben sowie ihre getrennten Anlagen im Idioplasma indifferent gegen einander, wobei die beiden Organe bald in gleicher, bald in ungleicher Höhe sich befinden. Dann treten dynamische Beziehungen zwischen denselben auf: Abstossung der Anlagen unter einander in Folge von Aljneigung gegen Selbst- befruchtung bewirkt die Entfernung der Staubbeutel von den Narben ; Anziehung dagegen bedingt die Lagerung dieser Organe in gleicher Höhe oder eine gegenseitige Annäherung durch Krümmung der Stauljfäden und Griffel umnittelbar vor der Befruchtung. Die Anziehung der beiden Anlagen hat aber noch eine andere wichtige Folge. Steigert sich dieselbe zu einem gewissen Grade, so verursacht sie die Vereinigung derselben, so dass nunmehr für die Höhenlage der beiden Geschlechtsorgane eine einzige Anlage besteht, deren Erregung sowohl die Stellung der Staubbeutel als der Narbe bedingt. Sj^äter kann dann im Verlaufe der Generationen Abneigung gegen Selbstbefruchtung auftreten, und es ist nicht unmöglich, dass diese Abneigung durch eine mit der Annäherung der Geschlechts- organe verbundene, allzu ausschliessliche Bestäubung mit eigenem Pollen hervorgerufen wdrd. Sie bewirkt, dass die gemeinschaftliche Anlage im Idioi:)lasma sich in zwei trennt, und dass die Staub- beutel und die Narbe sich von einander entfernen. Aber die beiden neuen Anlagen sind nicht die nämlichen, wie diejenigen, aus denen ni. Ursachen der Veränderung. Ißl ursprünglich die einfache Anlage zusammengeflossen ist, sondern es sind ihrem Ursprünge entsprechend, gemeinschaftliche Anlagen für die Lagerung der Staubbeutel und Narben, so dass die Blüthen bald lange Griffel und tiefliegende Staubbeutel, bald km-ze Griffel und hochliegende Staubbeutel enthalten. — Was die trimorphen Blüthen betrifft, so entstehen dieselben entweder aus dimorphen, indem mit dem Auseinandergehen der beiden Staubbeutelkreise die eine der beiden gemeinschaftlichen Anlagen im Idioplasma sich noch einmal in zwei theilt. Oder die ursprünglich einfache Anlage theilt sich sofort in drei gemeinschaftliche, indem gleichzeitig die Narbe und die beiden Staub]3eutelkreise, die bis dahin das gleiche Stock- werk einnahmen, in drei Stockwerke mit alternirender Besetzung auseinander weichen. Die räumliche Trennung der Geschlechtsorgane in der herma- phroditischen Blüthe, welche durch den Widerwillen gegen Selbst- bestäubung herbeigeführt wird, hat bei eintretendem Heteromor- phismus noch die weitere Folge, dass a,uch Geschlechtsorgane anderer Blüthen, welche der Stellung nach den gemiedenen Organen der eigenen Blüthe entsprechen, zur Befruchtung weniger geeignet sind, und dass nur Kreuzung von Staubbeuteln und Narben gleicher Stockwerke eine vollkommene Fruchtbarkeit ergibt. Diese Er- scheinung erklärt sich leicht aus dem Umstände, dass sow^ohl die Pollenkörner als die Narbenpapillen der verschiedenen Stockwerke etwas ungleich ausgebildet sind, was man aus der verschiedenen Grösse und theilweise auch aus der verschiedenen Farbe erkennt. Was die ungleiche Grösse betrifft, welche mit dem höheren Stand wächst, so hat man sie als ein Ergebniss der Zuchtwahl er- klären wollen, indem man annahm, dass Pollenkörner, die für eine höher gelegene Narbe bestimmt sind und daher längere Schläuche bilden müssen, dazu auch mehr Stoff verbrauchten. Diese Erklärung ist physiologisch unhaltbar. Die Pollenschläuche empfangen die für ihr Wachsthmn nothwendigen Stoffe im gelösten Zustande aus den Secreten der Narbe und des Griffelcanals. Dies ergibt sicli deutlich daraus, dass die Substanz des Pollenschlauches oft das Vielfache des Pollenkorns beträgt, sowie ferner daraus, dass bei verschiedenen Pflanzengattungen Grösse der Pollenkörner und Länge des Griffol- weges in keinem von einander abhängigen Verhältniss stehen, dass oft lange Griffel und kleine Pollenkörncr und andrerseits kurze Griffel V. Nägeli, Abstammungslehre. 11 ]ß2 ni. Ursachen der Veränderung. und grosse Pollenkörner zusammengehören. Die ungleiche Grösse der Pollenkörner in heteromorphen Blüthen scheint mir daher nicht die angenommene Bedeutung und überhaupt keine grosse Wichtig- keit zu haben. Vielleicht lässt sie sich einfach aus der bei den Vege- tationsorganen allgemein gültigen und auch bei Fortpfianzungsorganen zuweilen eintreffenden Erscheinung erklären, dass bei übrigens gleicher Beschaffenheit höher gelegene Theile stets rascher sich ent- wickeln und eine beträchtlichere Grösse erreichen als die ent- sprechenden tiefer liegenden Theile. Bei allen den Beispielen, die ich angeführt habe, und die sich übrigens leicht vermehren liessen, befriedigt die Anpassung, welche als Reaction auf einen äusseren Reiz eintritt, stets ein Bedürfniss und erweist sich somit als nützlich. Oft ist der Mangel, welchem abgeholfen wird , viel deutlicher zu erkennen , als die von aussen kommende Einwirkung, und man verfällt naturgemäss auf den Ge- danken, dass das Bedürfniss oder der Mangel selbst als Reiz wirken können. Wenn ich von dieser Möglichkeit spreche, so denke ich natürlich nicht an neue Bedürfnisse, die der Organismus gar nicht kennt, sondern an solche, die bei den Vorfahren befriedigt waren und von denen gleichsam eine Erinnerung vorhanden ist. Ein Beispiel wird meinen Gedanken deutlich machen. Es handle sich um den Schutz der Landpflanzen gegen das ^^erdunsten. Dieselben sind die Nachkommen von Wasserpflanzen, die von Wassermangel nichts wussten. Ihr Idioplasma war so be- schaffen, dass es einen Organismus erzeugte, welcher das Dm-ch- drungensein mit Wasser und somit das Vorhandensein dieses Mediums voraussetzte. Als die Gewächse das bisherige Medium mit feuchter Luft vertauschten , wurde die genannte Voraussetzung nicht mehr erfüllt. Die aus dem Idioplasma hervorgehende Pflanzensubstanz, welche nun etwelcher Verdunstung ausgesetzt war, empfand also den Mangel von etwas, das ihr bisher nicht mangelte, und dieser Mangel konnte als Reiz wirken, welcher zu den von aussen wirkenden Reizen hinzukam, — oder, um mich anders auszudrücken, dieser Mangel konnte der Reaction des Organismus auf die äusseren Reize die bestimmte Richtung geben, so dass die Anj^assung in einer zur Be- friedigung des empfundenen Bedürfnisses dienenden Weise erfolgte. in. Ursachen der Veränderung. 163 Es gibt nun aber auch Anpassungen, wo dem Anscheine nach die äusseren Einflüsse keine Rolle spielen und wo das Bedürfniss, welches befriedigt wird, nicht als Reiz wirken kann. Hieher ge- hören die zahllosen Erscheinungen, die sich unter dem Namen Sorge für die Brut zusammenfassen lassen. Um nur von dem einen und wichtigsten Punkt zu sprechen, so werden die Keime von den Eltern entweder eine Zeit lang ernährt, oder sie werden von denselben mit Nährstoffen ausgestattet, von denen sie leben, bis sie sich selbst nähren können. Man wird wohl zu der Behauptung geneigt sein, dass die äusseren Einwirkungen hier sich nicht geltend machen, so dass als Reiz nur das Bedürfniss übrig bliebe; aber dasselbe müsste gleichsam eine Fernwirkung in die Zukunft zu Stande bringen. Das Bedürfniss nach Nahrung, welches der Keim empfindet, müsste eine derartige Umstimmung im Idioplasma hervorbringen, dass das erwachsene Individuum die Neigung empfände, seine Keime besser mit Nährstoffen zu versehen. Eine so complicirte Vermittlung des durch das Bedürfniss be- wirkten Reizes, so dass die Reaction erst viel später und zwar in dem Zeitpunkte eintreten würde, wo sie sich als vortheilhaft erwiese und das von neuem auftretende Bedürfniss zu befriedigen vermöchte, ist zwar vielleicht nicht als absolut unmöglich zu verwerfen, aber sie hat doch nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit. Es erhebt sich daher die Frage, ob wir für die ganze Kategorie von Erschei- nungen, welche die Sorge füi- die Brut betreffen, auf die direct be- wirkenden Ursachen verzichten müssen? Vor dieser Misslichkeit vermag uns, wie ich glaube, folgende Erwägung zu bewahren. A^on jeder Anpassungserscheinung ist Zeit und Ort ihres Ent- stehens aufzusuchen und hier ist sie nach ihren ursächlichen Momenten zu beurtheilen; denn allen späteren Organismen wurde sie wenigstens theilweise als Erbschaft überliefert. Um die Anfänge der Sorge für die Brut aufzufinden, müssen wir zu dem Ursprünge der niedrigsten bekannten Organismen und selbst noch weiter in das Reich der Probien hinuntersteigen. Auf der ersten Stufe dieses Reiches findet bloss Zunahme des primordialen Plasmas statt; auf der zweiten kommt regelmässige Theilung hinzu und zwar, wie ich später zeigen werde , vermittels des aus geordneten Micellen be- stehenden Plasmahäutchens, welches die kleinen individuellen Plasma- tröpfchen umschliesst; auf den folgenden Stufen schreitet die Organi- 11* 164 in. Ursachen der Veränderung. sation des Riiidenplasmas fort bis zur Beweglichkeit des ersten Tliieres (Moners) und zur Cellulosemenibranbildung der ersten Pflanze. Schon auf der zweiten Stufe mochte die Ausstattung für die Zukunft und somit die Sorge für die Brut beginnen, insofern schon hier aus irgend einem Grunde (Eintritt kälterer Temperatur, theil- weiser Wassermangel , Ausgehen der Nährstoffe) ein j^eriodisches Stillstehen der Vegetation statthatte. Dabei konnte selbstverständlich nicht einfach das Wachsthum oder die Theilung in jedem beliebigen Stadium aufhören, um sj^äter an dem gleichen Punkte wieder fort- zufahren. Da die ungünstige Veränderung der äusseren Umstände allmählich eintrat, so mussten zuerst diejenigen Lebensprocesse zur Ruhe gelangen, die am empfindlichsten davon getroffen wurden, indessen die anderen noch einige Zeit fortdauerten. Es musste die Theilung als das Spätere und Complicirtere schon aufhören, indess die Substanzzunahme als das Ursprüngliche und Einfachere noch thätig war. So finden wir auch bei den Gewächsen als allgemeine Erscheinung, dass schädliche Einflüsse, welche die Fortpflanzung unterdrücken, das Wachsthum noch gestatten. Beim periodischen Uebergang in die Vegetationsruhe fand also jedesmal eine Störung des regelmässigen Wechsels zwischen Theilung und Wachsthum statt, wobei das letztere begünstigt war und die in den Ruhestand sich begebenden Individuen durch Umfang und Masse sich vor den übrigen Generationen auszeichneten. Diese Störung musste sich in dem Idioplasma geltend machen und eine entsprechende Veränderung desselben bewirken, also erblich werden. Die erbliche Eigenschaft aber musste, da die bewirkenden Ursachen stets eintraten, sich allmählich steigern; und diese Ursachen sind wenigstens im Pflanzenreiche auf allen Stufen thätig, da jährlich durch äussere Umstände eine Vegetationsruhe veranlasst wird. Es musste also die Neigung, unter gewissen Verhältnissen die Zellthei- lung aufhören und an ihrer Stelle eine A^'ermehrung des Inhaltes eintreten zu lassen, immer grösser werden und bemerkbarere Folgen hervorbringen. Ueberdies ist daran zu erinnern, dass die verschiedenen An- lagen im Idioplasma nicht unabhängig neben einander liegen, son- dern dass sie zusammen ein einziges System bilden, in welchem die Theile sich gegenseitig bedingen. Wenn nun aucli eine äussere Ursache zu wirken aufhört, so kann doch die Anlage, die sie erzeugt III. Ursachen der Veränderung. 165 hat, mit dem fortschreitenden Complicirterwerden' des Idiojjlasnias sich weiter aus- und imibilden. Was uns daher bei den hölieren Orga- nismen als voraussehende Sorge und, wenn hier allein l^etraclitet, als unverständliche Einrichtung erscheint, ist nichts anderes als eine ererbte, durch natürliche Ursachen hervorgerufene und weitergebildete Eigenschaft. Auf eine eigenthümliche Art der Reizwirkung, die darin besteht, dass mangelnde Organe ersetzt werden, dass also der empfundene Mangel dem Bildungstrieb die einzuschlagende Bahn vorzeichnet, werde ich bei der Entfaltung latenter Anlagen zu sprechen kommen. Im Thierreich wirkt der Reiz noch auf eine andere, dem Pflanzen- reiche fremde Weise, nämlich durch die Sinnesorgane. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass sinnliche Eindrücke sammt den dadm-ch bedingten Emj) findungen, Vorstellungen und Willensäusse- rungen, wenn sie durch lange Zeiträmne sich stets in der nämlichen Weise wiederholen, gleich so vielen anderen Reizen eine dauernde Um Stimmung im Idioplasma und somit auch sichtbare Verände- rungen in Bau und Verrichtung hervorbringen. Indem ich übrigens dieses Feld den Thierphysiologen überlasse, wdll ich nur auf eine Erscheinung aufmerksam machen. Bekanntlich gibt es manche Tliiere, welche in ihrer Färbung die Farbe der Umgebung nachahmen und sich dadurch der Aufmerksamkeit sei es ihrer Verfolger, sei es der von ihnen verfolgten Beute entziehen. Ist es nun nicht denkbar, dass bei dieser Anpassung der Gesichtssinn zu der Zeit, als sich die Färbung des Thieres ohnehin durch andere Ursachen veränderte, einen bestimmenden Einfluss ausgeübt hat? und dies um so eher, als Verfolgung und Verfolgtsein von den heftigsten Empfindungen begleitet sind. Ueberdem ist auch denkbar, dass die durch Färbung angepassten Thiere von Vorfahren abstammen , welche , wie die Cephalopoden und das Chamäleon, ihre Farbe willkürlich oder in Folge unwdllkürlicher Reflexe wechseln konnten und dass späterhin eine Fixirung der Farbe eintrat, wobei wieder die Gesichtsempfin- dung den Ausschlag gab. Als beachtenswerthe, für die Tlieorie der Sinneseinwirkung günstige Thatsache darf erwähnt werden, dass dem Pflanzenreiche eine solche Anpassung mangelt, dass es keine Pflanzen oder Pflanzenorgane gibt, Avelche dadurch, dass sie die Farbe der Um- gebung annehmen, vor den Blicken ihrer Feinde Sicherheit finden. 166 ni. Ursachen der Veränderung. Nachdem ich zu zeigen versuchte, dass die von aussen auf die Organismen wirkenden Einflüsse die verschiedenen Anpassungen derselben verursachen, will ich noch auf einige Punkte, welche das Zustandekommen betreffen, näher eintreten. Die genannten Ein- wirkungen haben immer vielfach vermittelte Bewegungen in der organisirten Substanz zur Folge, deren Endresultat als Reaction bemerkbar wird, weshalb ich sie allgemein als Reize bezeichnete. Die Reactionen sind in der Regel nützliche Einrichtungen, und es wirft sich nun zunächst die Frage von principieller Wichtigkeit auf, ob dieselben nothwendig und allein eintraten, oder ob sie die nütz- lichste Auswahl von verschiedenen Reactionen sind. Da nämlich der Reiz sehr compHcirte Molecularbewegungen verursacht, so kann auch das Endresultat ein verschiedenes sein. Es wäre möglich, dass bei den einen Sippen oder bei den einen Individuen der nämlichen Sippe diese, bei andern aber andere Reactionen einträten, die sich naturgemäss weiter ausbildeten, und je nach ihrer Nützlichkeit das Bestehen oder den Untergang der Träger zur Folge hätten. Wenn beispielsweise das Klima in einem Lande kälter wird, so könnte die Temperaturerniedrigung bei den Säugethieren die ver- schiedensten Reactionen bewirken, gleichwie beim Menschen eine Erkältung sehr ungleiche Folgen hat. Nur diejenigen blieben in dem angenommenen Falle als existenzfähig übrig, welche in der dichter gewordenen Behaarung oder in dem erlangten Fettpolster unter der Haut hinreichenden Scluitz gegen die Kälte gewonnen hätten. Als zweites Beisjjiel will ich noch die Verletzungen anführen, welche bei Thieren und Pflanzen ein Herbeiströmen von plastischen Stoffen und Neubildungen an der verletzten Stelle hervorrufen. Es wäre nun denkbar, dass ursprünglich die Reactionen auf einen mechanischen Eingriff sehr ungleich waren ; — dass, um nur von der Bewegung der Stoffe zu sprechen , dieselbe nach dem einen oder anderen l*unkte, auch wohl nach der dem Angriffe abgekehrten Seite hin stattfand, da ja in dem so unendlich complicirten Räder- werk des Organismus ein Druck auf der vorderen Seite je nach Umständen auch in eine Summe von Bewegungen auf der hinteren Seite, statt auf der Angriffsstelle , ausgehen könnte. Waren die Reactionen ursprünglich verschieden, so mussten bei den so häufig eintretenden Verletzungen immer diejenigen Individuen zu Grunde III. Ursachen der Veränderung. IGT gehen, welche mit einer schädhchen Gegenwirkung antworteten, und zuletzt blieben nur diejenigen übrig, welche die nützliche Gegen- wirkung an der angegriffenen Stelle selbst eintreten Hessen. Man möchte vielleicht denken, dass sich diese Frage durch Versuche entscheiden lasse, indem man künstliche Verletzungen herbeiführt, wie sie sonst in der Natur nicht vorkommen, so dass also die Organismen sich nicht darauf vorbereiten konnten. Wenn man Blätter von manchen Pflanzen abschneidet und in feuchten Sand steckt, so bildet sich am Grunde des Blattstieles unmittelbar neben der Schnittfläche ein Wulst von Gewebe und daran eine Knospe, welche sofort in einen sich bewurzelnden Stengel auswächst. Der Reiz, den das Wasser und die Luft auf die Schnittfläche aus- üben, bewirken diese Erscheinung; ein analoger Vorgang kommt in der Natur nicht in der Art vor, dass die bestimmte Reaction als ein Auslesefall zu erklären wäre. Aber sie ist im Princip nichts Neues ; die Pflanzen haben im allgemeinen das Vermögen, plastische Stoffe an die verletzte Stelle zu senden und daselbst zur Zellbildung zu verw^enden. Schon bei den einzelligen Gewächsen finden wir ähnliche Reactionen, indem an dem Punkte, wo eine Verletzung stattgefunden hat, ein neues Stück Plasmaschlauch und Cellulose- membran entsteht, so dass die Zelle gegen die zu Grunde gehende verletzte Partie in gleicher Weise sich abschliesst, wie sie sich bei der ersten Bildung gegen die äusseren Medien abgeschlossen hat. Man könnte also immerhin an die Möglichkeit denken , dass die äusseren Einwirkungen vorzugsweise bei den niedersten, aber auch noch bei den höheren Organismen die verschiedenartigsten Folgen hatten und dass von allen Folgen nur diejenigen übrig blieben, welche ihren Trägern nützlich waren und sie existenzfähig machten. Dieser Möglichkeit glaube ich aber die andere als die viel wahrscheinhchere und wohl einzig berechtigte gegenüberstellen zu dürfen, dass die vorth eilhaften Reactionen allein eingetreten sind und dass es einer Auswahl und Verdrängung unter densell)en uiclii bedurfte. Jede äussere Einwirkung, die eine dauernde Veränderung verursacht, hat nämlich nicht etwa ül)orhaupt die Bedeutung eines allgemeinen Reizes, der irgendwelche Reaction zur Folge hat, son- dern sie trifft in ganz bestimmter Weise ein besonderes Organ, eine besondere Function, eine besondere Stelle, und erweckt hier ein dein Reiz entsprechendes bestimmtes Bedürfniss, wie ich dies bereits an 1G8 in. Ursachen der Veränderung. einem Beispiel (Schutz der Landj)flanzen gegen A''erdunstung S. 145) erörtert habe und wie es auch für alle anderen Fälle gilt. Es scheint mir ganz natürlich, dass die Reaction unter dem Einflüsse dieses Bedürfnisses sich so gestaltet, dass demselben abgeholfen wird, — dies um so mehr, als alle diese äusseren durch lange Zeiträume dauernden Einwirkungen so schwach sind, dass sie von den Orga- nismen nicht als wirklicher Eingriff, sondern bloss als Bedürfniss oder Mangel empfunden werden. Wir können kurz sagen, dass die Wirkung eines Reizes ab- hängen muss von der Beschaffenheit des getroffenen Organismus und von allen übrigen Verhältnissen , unter denen sich derselbe befindet. Da nun die Individuen einer natürlichen Sippe (die künst- lichen oder Cultursippen , die meistens Rassenmerkmale besitzen, verhalten sich anders) unter sich in morphologischer und physio- logischer Beziehung bis auf verschwindend kleine individuelle Ver- schiedenheiten gleich sind und unter den nämlichen klimatischen Einflüssen some in der nämlichen Umgebung anderer Organismen leben, so muss der Reiz ebenso gewiss eine ganz bestimmte Ver- änderung hervorbringen , als gleiche Ursachen gleiche Wirkungen bedingen. Er wird dagegen mehr oder weniger verschiedene Ver- änderungen verursachen, wenn entweder die nämhche Sippe an ungleichen Orten oder zwei noch so nahe verwandte Bippen bei- sammen vorkommen. Die Theorie der directen Bewirkung, im Gegensatz zur natürhchen Auslese, kann also rücksichtlich aller durch Reize erfolgten Auffassungen Ansj^ruch auf Gültigkeit machen. Eine andere Frage betrifft den Grad der Veränderung, den eine unaufhörliche und endlose äussere Einwirkung hervorzuln-ingen vermag, und im Gegensatz dazu die Nachwirkung eines nur eine Zeit lang dauernden Reizes. Was den ersteren Punkt betrifft, so könnte man leicht meinen, dass ein von aussen kommender Einfluss, der eine Veränderung bewirkt, die Veränderung endlos, wenn auch in sehr geringem Maasse, steigern müsste, wie eine mechanisch T\drkende Ursache, welche einer Bewegung in der Zeiteinheit eine gewisse Beschleunigung ertheilt, ihr die nämliche Beschleunigung in jeder folgenden Zeiteinheit hinzufügt, so dass die Bewegung immer schneller wird. Bei den A'^eränderungen der Organismen tritt dieser Fall nie ein, wodurch indessen nicht etwa das Gesetz von der Er- haltung der Kraft alterirt wird. Denn bei einem organischen Process III. Ursachen der Veränderung. 169 ist die von aussen kommende Reizwirkung nur eine der vielen mit- wirkenden Ursachen; sie dient nur als Veranlassung und Richt- schnur, indess die vom Organismus anderswoher bezogenen Kräfte und Stoffe als die eigentlichen mechanischen Ursachen arbeiten. Wenn eine äussere Einwirkung endlos fortdauert, so hört die A'eränderung, die sie in den Organismen hervorruft, stets nach einer gewissen Zeit auf. Der Grund davon ist häufig der, weil in Folge der von den Organismen getroffenen Gegenmaassregeln und der in ihnen aufgetretenen Veränderungen der von aussen kommende An- griff nicht mehr als Reiz zu mrken vermag und somit kein Bedürfniss mehr erweckt. In diesem Falle ist der Reizwirkung volles Genüge geschehen ; in anderen Fällen hört die Verändermig fi'üher auf, weil der Organismus an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angelangt ist. Der von aussen kommende Angriff wird zwar noch als Reiz empfunden, aber die Beschaffenheit der lebenden Substanz erlaubt keine Steigerung der Abwehr. Was den Reiz betrifft, der nur eine Zeit lang eine Generationen- reihe trifft, so ist bezüglich seiner Wirkung zweierlei möglich. Entweder wächst die ihm entsprechende Anlage im Idloj^lasma niu- so lange als der Reiz vorhanden ist, oder die durch denselben hervorgerufene Anlage entwickelt sich in Folge des erlangten Anstosses auch, nachdem der Reiz aufgehört hat, noch weiter. Da die werdenden Anlagen im Idioplasma meistens eine gewisse Ausbildung erlangt haben müssen, um in sichtbare Merkmale des Baus oder der Function überzugehen , so kann es geschehen , dass ein W'ährend einer be- grenzten Zeit wirksamer Reiz bloss das Idioplasma, nicht aber die sichtbaren Eigenschaften des Organismus modificirt, und es kann ferner geschehen, dass beim Vorhandensein einer Nachwirkung die äusseren bemerkbaren Veränderungen erst eintreten, nachdem der Reiz bereits längere Zeit aufgehört hat. Eine fernere Bemerkimg ist über den Charakter der Reaction zu machen, mit welcher der Organismus auf eine äussere Einwir- kung antwortet. Die Reize, welche man als die Veranlassung von erblichen Veränderungen betrachten kann , sind im allgemeinen schwach und werden von dem Organismus auch für eine längere Dauer noch leicht ertragen. Die meisten von ihnen haben je nach ihrer Intensität und je nach der Beschaffenheit, in der sich der Organismus befindet, bald einen günstigen, bald einen ungünstigen 170 ni. Ursachen der Veränderung. Einfluss auf das Leben. Es ist daher begreiflich, dass auch die Gesammtreaction , für welche sich der Organismus entscheidet, ungleicher Natur sein, und dass von den ursprünglich gleichen primordialen Anfängen des organischen Reiches verschiedene An- passungsreihen ausgehen können. Im grossen und ganzen ist die Reaction auf die äusseren Ein- wirkungen eine doppelte. Entweder schliesst sich der Organismus gegen die Reize so viel als möglich ab; er schützt sich gegen die- selben durch einen reizfesten Panzer. Oder er macht sich den Reiz, so weit es geht, dienstbar, und wo dies nicht möglich ist, sucht er ihm auszuweichen. Die erste Art der Reaction finden wir bei den Pflanzen, die zweite bei den Thieren. Die Probien, die weder Pflanzen noch Thiere waren , bestanden aus einem nackten , unbe- weglichen, für Reize beinahe unempfindlichen Plasmatro23fen. Die auf ihre Oberfläche einwirkenden Reize hatten bei den einen nach und nach die Ausscheidung einer Cellulosememl)ran zur Folge: damit war die erste Pflanzenzelle geschaffen, starr und für Reize unempfänglich. Bei den anderen aber steigerten sich Reizbarkeit und Beweglichkeit besonders durch entsprechende Anordnung der die Rindenschicht bildenden Micelle, so dass die Oberfläche vor den Reizen sich zurückziehen oder denselben entgegenkommen konnte: damit war die erste thierische Zelle entstanden, amöbenartig, mem- branlos, beweglich und reizbar. Entsprechend diesen Anfängen haben sich die beiden Reiche entwickelt. Das Pflanzenreich verdankt verhältnissmässig wenig den Reizen, da es sich denselben gegenüber mehr passiv verhält; die Mannigfaltigkeit der Anpassungen ist daher auch sehr gering. Die Starrheit der Zelle bedingte die Beschränkung der Lebensprocesse auf Ernährung und Fortpflanzung und dem entsprechend eine ziemlich ärmliche Arljeitstheilung. Die Umhüllung jeder einzelnen Zelle mit einer Cellulosemembran verhinderte die Vereinigung einer Mehrzahl von Zellen zu einer energischen gemeinsamen Aeusserung. Deswegen finden wir im Pflanzenreiche eine im Verhältniss zu den physiologischen Verrichtungen sehr reiche morphologische Gliederung und einen mannigfaltigen Chemismus. Auch diejenigen Gewächse, die sich bezüglich ihrer Ernährung wie Thiere verhalten (Schmarotzer- pflanzen, Pilze), vermögen sich doch nicht über die von der Natur gezogenen Schranken zu erheben. III. Ursachen der Veränderung. 171 Im Thierreich dagegen konnte wegen der Nacktheit der Zellen die Empfänglichkeit für Reize sich weiter ausbilden, und der Mangel einer trennenden Membran gestattete den Zellen sich zu sehr wirk- samen Massen zu vereinigen. Die thierische Substanz hat deim auch unter dem Einflüsse der Reizbarkeit die wichtigsten Veränderungen erfahren. Die Reize haben manche besondere Einrichtungen, wo- runter namentlich die Sinnesorgane zu nennen sind, veranlasst; sie haljen überdem die rein morphologische Weiterbildung zu einem complicirteren Bau befördert und die Theilung der Arbeit bis in die feinsten Einzelheiten durchgeführt. Wegen des Ueberwiegens der Reizwirkungen zeigt jedoch die morphologische Differenzirung im Verhältniss zm' physiologischen eine verhältnissmässig geringere Mannigfaltigkeit als im Pflanzenreiche. Und weil die Reizwirkungen die Verrichtungen, soweit es möglich ist, beherrschen, so beschränkt sich im Tliierreich die Assimilation organischer Substanz aus un- organischen Verbindungen auf einige Formen der niedrigsten Stufen (z. B. Eugiena); die Weiterbildung dieser Anlage wurde verhindert durch Verdrängung von Seite der mit grösserer Beweglichkeit und Reizbarkeit ausgestatteten und zur Aneignung fremden organischen Eigenthums befähigten Formen. Schliesslich will ich bezüglich der äusseren Einflüsse noch die Frage erörtern, ob dieselben in erster Linie die Eigenschaften des entwickelten Organismus oder das Idioplasma verändern. ]\Ian dürfte vielleicht allgemein zu der Antwort geneigt sein, dass zuerst das Merkmal im entfalteten Zustand sich ausbilde, und dass dann dem entsprechend das Idioplasma umgestimmt werde, dass beis2:»ielsweise zuerst die Behaarung sich ändere und dann erst sich als Anlage vererbe, — mid man könnte zur Begründmig anführen, die äussere Ursache wirke ja auf den entwickelten Organismus. Diese Ansicht wäre kaum zu bestreiten, wenn die Uml)ildung am Indi\dduum gleichen Schritt mit der äusseren Einwirkung hielte, sei es, dass die ganze Veränderung in einem einzigen Individuum, sei es, dass sie durch eine Reihe von Generationen stufenweise er- folgte. Dies ist aber häufig nicht der Fall; manche Veränderung tritt erst ein, nachdem eine ganze Reihe von Generationen die äussere Einwirkung erfahren hat, weil gewisse Eigenschaften des entfalteten Zustandes nielit alhuählich , sondern sprungweise in einander übergehen, wie wir später sehen werden. Hier handelt es 172 ni. Ursachen der Veränderung. sich nur (laniiii , wie wir uns die Wirkung der äusseren Einflüsse in einem solchen Füll zu denken haben. Es treffe ein dauernder Reiz irgend einen Theil des Organismus ; die Veränderung, die er während der ganzen Lebensdauer eines In- dividumns hervorzubringen vermag, ist im Vergleich mit der Eigen- schaft, die er schliesslich bewirkt, äusserst gering, denn es bedarf, wie alle Erfahrung zeigt, zur Abänderung einer Varietät im natür- lichen Zustande langer Zeiträume und zahlreicher aufeinanderfol- gender Individuen. Die neue Eigenschaft kann nun in dem frag- lichen Falle am entwickelten Individuum nicht allmählich, sondern nur auf einmal auftreten, weil sie mit der Eigenschaft, die sie er- setzen soll, unverträglich ist. Der Reiz, der auf die bestimmte Ein- richtung des Organismus trifft, kann also nur auf die dieser be- stimmten Einrichtung entsprechende Idioplasmagruppe einwirken. Er ändert dieselbe in der ersten Generation nur sehr wenig um. Das Idioplasma wird auf die folgende Generation vererl)t und hier geht die Veränderung stufenweise weiter. So bildet sich unter dem Einfluss des Ijestimmten Reizes vielleicht durch tausend und mehr Generationen eine Anlage aus, die, wenn sie fertig ist, zur sichtbaren Eigenschaft sich entfaltet und die bis- herige Eigenschaft, die nun latent wird, verdrängt. Für die Theorie des Reizes ist es natürlich gleichgültig, ob derselbe das entwickelte Organ oder das Idioj^lasma verändere, da ja das Idioplasma durch den ganzen Körper verbreitet und in jedem Theil vorhanden ist, also von dem Reiz unstreitig afhcirt wird. Um den Vorgang deutlicher zu machen, wdll ich zwei Beispiele anführen, die ich weniger deswegen, weil sie in aller Strenge hieher gehören, als wiegen der allgemeinen Verständlichkeit auswähle. Ich habe bereits von den Farben der Blüthen gesprochen als von einer Erscheinung, deren Ursache noch unbekannt ist ; sehr wahrschein- lich aber verdanken sie ihre Entstehung äusseren Einflüssen. Das Nämliche gilt auch von der Füllung der Blüthen. Nun geschieht es, dass in einer roth oder blau blühenden SipjDC plötzlich einzelne Individuen mit weissen Blüthen auftreten, ebenso dass unter Pflanzen mit normalen Blüthen plötzlich eine solche mit gefüllten Blüthen zum Vorschein kommt. Beide Veränderungen werden nicht bloss in der Cultur, sondern auch auf natürlichen Standorten beobachtet. Beide sind erblich und somit auch im Idioplasma enthalten. III. Ursachen der Veränderung. 173 Für die Bildung der idioplasmatisclien Anlage bedarf es im einen und andern Falle zwar nicht einer grossen Zahl , aber doch sicher wenigstens einiger Generationen. Dies ist anzunehmen wegen der Grösse der A^eränderung, wegen ihres erblichen Charakters und weil in Ausnahmefällen der Uebergang von der intensiven Färbung zu weiss oder von den einfachen Blüthen zu gefüllten wirklich durch mehrere Abstufungen , also durch mehrere Generationen verläuft. Hat bei plötzlichem Umschlag die Bildung der Anlage vorher schon durch mehrere Generationen gedauert, so wurde während dieser Zeit durch die Einwirkung von aussen bloss das Idioplasma getroffen. Aber w^enn auch die allerkürzeste Einwirkung der äusseren P'inflüsse angenommen wird und wenn die ganze Veränderung in einem einzigen Individuum sich vollzieht, so enthält doch der Same, aus dem die erste weissblühende oder gefüllte Pflanze erwächst, schon die neue Eigenschaft, welche somit jedenfalls im IdiojDlasma vorhanden ist, ehe sie als Merkmal sichtbar wird. Die von aussen wirkenden Ursachen führen also in längerer oder kürzerer Zeit eine molecularphysiologische Umstimmung herbei, welche als erbliche Eigenschaft im Idioplasma des Samens an die Nachkommen über- liefert w^rd und wenn die Anlage hinreichend stark geworden, als entfaltetes Merkmal zum Vorschein kommen kann. Da nun, wie eben gezeigt wurde, für gewisse Fälle die Annahme nothwendig ist, dass der Reiz unmittelbar nur das Idioplasma und den entwickelten Organismus bloss durch das Idioplasma verändere, so dürfte es sich mit Recht fragen , ob dies nicht ein allgemeiner A'^organg sei, und ich glaube, es stehe nichts der Theorie im Wege, dass alle von aussen angeregten erblichen Veränderungen primär durch Umbildung des Idioplasmas geschehen. Dies ist um so wahr- scheinlicher, als die durch innere Ursachen erfolgenden A^erände- rungen sicher zuerst als Anlagen im Idioplasma auftreten, welche früher oder später zur Entfaltung gelangen. Nachdem ich die Wirkung der zwei Ursachen, welche die erb- lichen Veränderungen der Organismen und somit die Entwicklungs- geschichte der organischen Reiche bedingen, nämUch die Wirkung der Beschaffenheit des Idioplasmas , welche eine fortschreitende Complication zur Folge liat, und diejenige der äusseren Einflüsse 174 III- Ursachen der Veränderung. einzeln besprochen habe, will ich noch zeigen, wie aus deren Zu- sammenwirken die Eigenthümlichkeiten der Organismen hervorgehen. In dem durch Urzeugung entstehenden primordialen Plasma scheidet sich das Idioplasma aus, welches durch die in ihm wirkenden Ursachen stets complicirter und reicher gegliedert wird. Bezeichnen wir den ursprünglichen und einfachsten Zustand des Idioplasmas mit J, so kann die stufenweise Ausbildung und Vervollkommnung desselben durch J, Ji, J2 . . . Jn dargestellt werden. Wären die äusseren Einwirkungen gar nicht vorhanden und würde das Idio- plasma bloss auf eine völlig indifferente Weise ernährt, so müsste dasselbe vermöge seines Wachsthums eben diese Stufen J ...Jn durch- laufen. — Die Configuration des Idioplasmas ist das getreue Abbild des zugehörigen Organismus. Es müsste also, wenn die Aussenwelt weiter gar nichts bewirkte, als dass sie gleichgültiges Material zum Wachsthmii lieferte, die sichtbare Organisation mit jeder höheren Stufe zusammengesetzter werden und eine reichere Differenzirung auf- weisen, insoweit als ohne äussere Einwirkung überhaupt eine Organi- sation nach der Vorstellung, die wir damit verbinden, möglich ist. Nun ist aber schon das primordial entstehende Plasma und dann das in demselben sich ausbildende Idioplasma mannigfaltigen äusseren Einwirkungen ausgesetzt, welche auf seine Bescliaffenheit Einfluss haben. Machen wir zuerst die Annahme, die äusseren Verhältnisse blieben vollkommen die nämlichen, und bezeichnen wir dieselben mit a, so wird das durch Urzeugung entstehende Plasma in der bestimmten Modification aJ erscheinen (worin a nicht als Factor, sondern als Index zu betrachten ist) und sich durch die inneren Vervollkommnungsursachen zu «Ji, aJ^ ... aJn weiterbilden. Die Veränderung erfolgt unabhängig von äusseren Einflüssen, weil diese sich nicht ändern. Die Anpassung kann auf jeder Stufe voll- kommen sein; dieselbe behält auf allen Stufen ihren allgemeinen Charakter, ist aber auf jeder derselben modificirt entsprechend der neuen complicirteren Organisation. Das organische Reich hätte in diesem Falle eine analoge Gliederung, wie beim gänzlichen Mangel der äusseren bestimmenden Einwirkungen, aber es besässe einen aus- gesprochenen Anpassungscharakter und zwar den gleichen in allen seinen GHedern. Es ist unzweifelhaft, dass einzelne kleine Gruppen der jetzigen Reiche sich in der eben geschilderten Weise entwickelt haben und daher dem angegebenen Typus folgen, d. h. dass diese in. Ursachen der Veränderung. 175 Gruppen ohne modificirenden Einfluss von aussen bloss durch den inneren Bildungstrieb umgewandelt worden sind. In Wirklichkeit bleiben die äusseren Verhältnisse nicht, wie soeben angenommen wurde, die gleichen; sondern sie verändern sich, oder die Organismen gelangen durch Wanderung unter andere äussere Umstände, — in ein wärmeres oder kälteres Khma, mit grösserem oder geringerem Temperaturwechsel , an hellere oder dunklere Orte, in eine trocknere oder feuchtere Luft, auf einen Boden mit mehr oder weniger Wasser, auf eine chemisch verschiedene Unter- lage und damit in den Genuss einer chemisch verschiedenen Nahrung, endlich in eine andere Umgebung von lebenden Organismen. Wirken die veränderten Verhältnisse als hinreichend starke Reize, so bildet sich eine neue Anpassung mit einer entsprechenden ^''eränderung in der Anordnung der Idioplasmamicelle , wobei die frühere An- ordnung, welche die Anpassung darstellte, je nach dem Grade ihrer Verträglichkeit mit der neuen, mehr oder weniger ausgelöscht wird. Sind die äusseren Einwirkungen aus a zu h geworden, so wird das Idioplasma aJn zu hJ^-^i oder zu ahJn+i. Die Anpassung a wird durch h vollständig vernichtet also = 0, wenn die diese Anpassungen bewirkenden Reize a und b in der nämlichen Weise, aber der eine positiv, der andere negativ wirken. Dagegen bleibt a neben h un- versehrt, wenn die entsprechenden Micellaranordnungen einander unbedingt dulden. Unter der Einwirkung neuer äusserer Einflüsse kann das Idioplasma abJn^i zu abcJn+2, ahcdJn^a u. s. w. werden. Aus dem Wechsel der äusseren Verhältnisse, vorausgesetzt dass dieselben immer so lange andauern, um erbliche Eigenschaften hervorzubringen, geht eine grosse Mannigfaltigkeit in den Anpassungs- formen hervor. Wenn schon bei der Annahme, dass die verändernden äusseren Einflüsse gänzlich mangeln oder dass sie fortwährend die nämliche Beschaffenheit behalten, durch die inneren Ursachen eine in geometrischer Progression steigende Zahl der Formen auf den successiven Organisationsstufen bedingt wurde , so steigt nun die Anzahl in \ael stärkeren Verhältnissen, wenn die äusseren Einflüsse, wie es in Wirklichkeit der Fall ist, wechseln. Wir finden daher auf der nämlichen Organisationsstufe im Pflanzenreich und im Thier- reich oft eine fast unendliche Menge von Sippen (Gattungen, Arten, A^arietäten) ; ich erinnere bloss an die Moose und die Compositen im Pflanzenreich und an die Insecten im Thierreich. 176 III- Ursachen der Veränderung. Ich glaube in dem Vorstehenden die Wirkung der dem Idio- plasma von Natur innewohnenden und der von aussen kommenden Ursachen hinreichend deuthch unterschieden zu haben. Um aber nicht abermals Missverständnisse über das Vervollkommnungsprincip aufkommen zu lassen, will ich noch ausdrücklich beifügen, dass ich demselben keine bestimmte Einrichtung an den Organismen zu- schreibe, weder den langen Hals der Giraffe und den Greif schwänz der Affen, noch die Scheeren des Krebses und das Gefieder des Paradiesvogels, weder die Gliederung des Individuums in Organe, noch die Zusammensetzung der Organe aus Zellen. Das Alles wurde durch das Zusammenwirken der beiden Ursachen hervorge- bracht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die äussern Ursachen, und ebenso wenig wie die inneren Ursachen für sich allein auf mechanischem Wege aus der Monade ein Säugethier, aus der ein- zelligen Alge einen Apfelbamii oder eine Palme zu erzeugen ver- möchten, — nicht einmal wie durch die einen oder andern allein ein einzelliger pflanzlicher oder thierischer Organismus aus dem j)rimordialen Plasma hervorgehen könnte. Wenn aber einmal auf irgend einer Organisationsstufe die eine der beiden Kategorien von Ursachen ganz aufhören sollte, so würden nach meinem Dafürhalten die äusseren Ursachen, wenn sie allein vorhanden wären, das Lebewesen auf der erreichten Organisations- stufe beharren lassen, aber seine Anpassung fortwährend verändern ; das Lebermoos würde beispielsweise nicht zur Gefässcryptogame, ein Wurm nicht zum Fisch w^erden können, sondern sie wäirden ewig Lebermoos und Wm'm bleiben. Wären dagegen die Vervoll- kommnungsursachen allein vorhanden, so würden sie innerhalb der erlangten Anpassung die Organisation und Verrichtung weiter bilden, ohne Neues zu leisten : die Zellen und Organe würden vermehrt mit Beibehaltung ihrer Form und Anordnung ; die Functionen, die früher vereinigt waren, würden nach Zellen und Organen getrennt, aber es entständen keine neuen Functionen; es würde sich also ein grösserer und differenzirterer Organismus bilden, ohne das Gepräge zu ändern. In beiden Fällen könnte die gesammte Nachkommen- schaft eines Wesens zwar zu einer zahlreichen Mannigfaltigkeit, jedoch inn' innerhalb einer trostlosen Einförmigkeit gelangen. III. Ursachen der Veränderung. 177 Die Vorstellung, die ich mir von dem Zusammenwirken der inneren und äusseren Ursachen mache, wird noch deutlicher her- vortreten , wenn ich dassell^e in seinen molecularphysiologischen Beziehungen von den ersten Anfängen aus verfolge, wie ich es früher (S. 117) hezüglich der inneren Ursachen allein gethan habe. Unter dem Einfluss der Molecularkräfte, welche als die inneren Ursachen wirken, bilden sich in der Substanz des primordialen Plasmas , indem dieselbe im ül^rigen zu Ernährungsplasma wird, Gruppen oder Körj^er von Plasmamicellen. Diese Körper, welche in den Nachkommen stetig aber langsam complicirter werden, stellen das Idioplasma dar. Durch die gleichzeitig als Reize wirkenden äusseren Ursachen werden die Idioplasmakörper modificirt, indem unter ihrem Einfluss die Micelle sich theilweise eigenthümlich Orientiren und zusammenlagern. Die noch ungeordneten Micelle des spontan entstandenen Plasmas vermögen nichts Anderes als die Eiweissbildung und somit das Wachsthum durch Micelleinlagerung zu vermitteln. Die unter dem gleichzeitigen Einfluss der inneren und der äusseren Ur- sachen zu Schaaren orientirten Idioj)lasmamicelle vermögen dm-ch die geeinten Molecularkräfte neue chemische Processe, plastische Bildungen und Bewegungen verschiedener Art zu erzeugen, die alle entsprechend den von aussen erfolgten Reizwirkungen ange- passt sind. Da die äusseren Einwirkungen sehr mannigfaltig sind, so kann das durch die inneren Ursachen zu einem ge-^issen Grad differenzirte Idioplasma ein sehr verschiedenes Anpassmigsgej)räge annehmen und sehr verschiedene Producte hervorbringen. Schon die niedrigsten Organismen, die wir kennen, die einzelligen Pflanzen und Thiere, treten uns in einer grossen Mannigfaltigkeit entgegen. Sie entsprechen zwar in ihrer Gesammtheit mehreren Graden der inneren Vollkommen- heit (oder mehreren Organisationsstufen), so dass also ihre Verschieden- heiten nicht allein von den äusseren Einflüssen abzuleiten sind. Allein es gibt immer eine Zahl von einzelligen Pflanzen und Thieren (z. B. die Chroococcaceen, Schizomyceten und Moneren), welche unter ein- ander in der Organisationsstufe (ihres Idioplasmas und ihrer Zellen) übereinstimmen, so dass ihre Unterschiede bloss auf Reclnumg der Aussenwelt kommen. Y. Nägcli, Abstammungslehre. 12 17ft ni. Ursachen der Veränderung. Die erste Anpassung, welche die äussere Einwirkung am prim- ordialen Plasma vollbringt, dürfte die Bildung einer Hautschiclit sein. Man erinnert sich hierbei unwillkürlich an die Thatsache, dass das Plasma, welches aus zerrissenen Pflanzenzellen in das um- gebende Wasser heraustritt, sofort ein dünnes Häutchen an seiner Ober- fläche bildet. Die Entstellung dieses Häutchens ist eine unmittelbare Reaction des Plasmas auf die Einwirkung des chemisch verschiedenen Wassers, und vielleicht als eine Art Rückschlag des früheren phylo- genetischen ^'^organges zu betrachten. An den letzteren erinnert ferner die Thatsache, dass die Plasmakörper in den Pflanzenzellen (Zcllkorn, Chlorophyllkörner u. s.w.) sich gleichfalls mit einem Plasma- häutchen umgeben. Von diesen ontogenetischen Erscheinungen unterscheidet sich die Bildung der fraglichen Hautschicht an den Abkömmlingen des })rimordialen Plasmas dadurch, dass die letztere durch die anlialtende Reizwirkung verursacht wurde, welche das Wasser während langer Zeiträume ausübte, wobei auch das in dem primordialen Plasma sich ausscheidende Idioplasma modificirt und damit eine erbliche Anlage erzeugt wurde , welche immer zur Entfaltung kommt, wenn bei freier Zellbildung Plasmamassen im Innern einer Zelle sel])ständig und zu besondern Zellen werden, und ebenfalls, wenn irgend welche Plasmakörper innerhalb der Zellen sich ausscheiden und ein beschränktes individuelles Dasein beginnen. Diese Hautschicht der niedersten Thiere kann der mikroskopi- schen Beobachtung leicht verborgen bleiben, und wenn sie nicht gesehen wird, so ist dies noch kein Beweis dafür, dass sie nicht vorhanden sei. Ilu'e Anwesenheit wird durch die jihysiologisclien A^errichtungen bewiesen. Sie wird sich aber der optischen Walir- nehmung entziehen, wenn sie die gleiche Dichtigkeit besitzt, wie das übrige Plasma oder wenn sie allzudünn ist. Bei der unsicht- baren Dicke von 0,3""'' und einem Wassergehalt von 80 "b besteht sie aus 120 Schichten von Eiweissmicellen mit je 72 Atomen C oder aus 60 Schichten von Micellen mit je 144 C u. s. w. Die Hautschicht, die an der Oberfläche der frühesten Plasma- massen entsteht, hat je nach der verschiedenen Wirkung der äusseren Reize einen ungleiclien Charakter. Dieselbe bedeckt sich bei den einzelhgen Pflanzen mit einer starren Cellulosemembran ; bei den einzelljoen Tliit-ren bl(^i])t sie nackt und bildet sich nebst ihren III. Ursachen der Veränderung. 179 Anliängen zu grosser Beweglichkeit aus, die auch den cihenartigcn Anhängen der Plasinahaut von manchen Pflanzenzellen zukoniiut. Aber die Natur der verschiedenen äusseren Reize und der verschie- denen Umstände, welche das eine und das andere bewirken, ist uns noch unbekannt. Sowie das Idioplasma durch die inneren Ursachen compli- cirter wird, so nimmt unter IMitwirkung der äusseren Reize l'ür den Fall, dass dieselben gleichbleiben, die frühere Anjjassung des Idioplasmas unter Beibehaltung ihres Charakters eine neue, der statt- gehabten Weiterbildung entsprechende Form an. Und in gleicliom Maasse, wie das Idioplasma, verändert sich der entfaltete Organisnuis, indem er sich in zahlreichere Theile gliedert und seine Anpassung demgemäss weiter ausbildet und verbessert. — Wenn aber während der inneren Vervollkommnung die äusseren Reizwirkungen sich ver- ändern und lange genug andauern, so wird natürlich sowohl die Anpassung des Idioplasmas als die des entfalteten Organismus eine andere. Die anschaulichsten Belege für die Weiterbildung und die Xer- ändorung der Anpassung finden wir im Thierreiche, weil hier die Anpassungen viel ausgesprochener und leichter verständlich sind als Ijei den Pflanzen. Zu den Ijemerkenswerthesten Producten, an denen die äusseren Einwirkungen Theil haben, gehören die Sinnes- organe. Sie behalten wälirend der ganzen Phylogenie des Thier- reiches den nämlichen Charakter, da sie die gleichen Bedürfnisse zu befriedigen haben; sie werden aber entsprechend der höheren Organisation des ganzen Individuums immer complicirter. Die Aus- bildung des so hoch entwickelten Gesichts- und Gehörorgans der Wirbelthiere aus den einfachsten Anfängen bei den niederen Thieren ist nicht durch den Einfluss der Licht- und Tonschwiijgungen er- folgt; sondern, indem das Idioplasma durch die inneren Ursachen eine reichere Gliederung gewinnt, bewirkt es die entsprechende reicliere Gliederung auch an den genannten Organen , wobei die fortdaiiernde Einwirkung der Licht- und Tonschwingungen bloss den Anpassungscharakter der Organe erhält und möglicherweise nocli steigert. — Beispiele wie auf gleicher Organisationsstufe das Idio- plasma und die entsprechenden Organe sich ungleich an[)asscn können, geben uns bei niederen und höheren Thieren die Anhangs- organe, welche für die verschiedensten Bewegungen ausgebildet wurden. 12* 180 III. Ursachen der Veränderung. Im Pflanzenreiche besteht (he Vervohkommnung (die reichere ( Jhederung der Organismen) in einer grösseren Zahl von Zehen nnd Organen, die eine grössere Zahl von Ordnungen darstellen. Die anschaulichsten Beispiele, wie bei gleicher äusserer Anpassung der vegetabilische Organismus zusammengesetzter wird, finden wir nament- lich bei den Florideen, bei den Moosen, bei den Phanerogamen. Beispiele dagegen, wie auf der gleichen Organisationsstufe die Organe durch ungleiche Anpassung verändert werden, ge])en uns die Gattung Euphorbia, bei der die einen Arten einen dünnen holzigen Stengel und ausgebildete grüne Blätter, die anderen einen dicken fleischigen grünen, sclieinbar blattlosen Stengel besitzen, — die Gattung Acacia, bei der die einen Arten mohrfach gefiederte Blätter tragen, die andern den grössten Theil dieser Blätter verloren und bloss den gemeinsamen Blattstiel behalten, diesen aber blattartig ausgebildet haben, — die Gattung Ranunculus, bei der die landbewohnenden Arten einen ver- mittelst verholzter Zellen für Trag- und Biegungsfestigkeit construirten Stengel und breite Blätter haben, indess bei den im Wasser lebenden Arten die verholzten Zellen im Stengel fehlen und die Blätter in schmale fadenförmige Lappen vielfach zertheilt sind, u. s. w. Wenn es auch Arten von Ranunculus und anderen Gattungen gibt, die bald im Wasser l)ald auf dem Lande leben und mit dem Wechsel des Mediums ihre Merkmale ändern, so ist dies nicht als ein unmittelbares Bewirken durch die äusseren Einflüsse aufzufassen. Sondern diese Pflanzen haben von jeher als Amphiliien gelebt und in Folge dieses LTm Standes gleichzeitig zweierlei Anpassungsanlagen ausgebildet, von denen nun je nach dem Medium, in dem sich die Pflanze befindet, die entsprechenden manifest werden, indess die anderen latent bleiben. Ich habe bis jetzt die Anpassung so dargestellt, als ob lediglich die entstehenden Vervollkommnungsanlagen unter dem Einfluss der äusseren Reize ein besimmtes AnpassungsgeiDräge annehmen. Die Anpassungsanlage wäre also niclits Selbstständiges, keine isolirte Micellgruppe im Idioplasma, die für sich entstände. Der Orga- nismus könnte seine Anpassung nicht ändern, wenn er unter andere äussere Verhältnisse kommt, insofern nicht eine Weiterl)ildung des Idioplasmas durch die inneren Ursachen erfolgt , die unter den neuen Reizwirkungen einen denselben entsprechenden Charakter annimmt. in. Ursachen der Veränderung. 181 Es ist dies keine iiothwendige Forderung der Theorie; denn diese würde es auch als jjlausibel erscheinen lassen, dass ein Orga- nismus, während sein Idioplasma auf dem nämlichen Organisations- grad verbleiljt, unter dem Einfluss äusserer Reize die Anpassung seines Idioplasmas sowie seiner Organe ändere. Sondern die Er- fahrung ist es, welche eine solche Annahme nicht zu gestatten scheint. Dies ergibt sich aus der Thatsache, die ich früher schon angeführt habe, dass viele Pflanzen seit der Eiszeit unter ganz ver- schiedenen klimatischen Verhältnissen und in Gesellschaft mit einer ganz verschiedenen Pflanzen- und Tlderwelt geleljt hal)en und doch sich nicht im geringsten von einander unterscheiden, — ol^gleich unter diesen Umständen auch die Reiz Wirkungen, die sonst An- passungen bewirken, verschieden sein mussten, und der Zeitraum hinreichend lange erscheint, um Anlagen hervorzubringen. Wir müssen daher wohl schHessen, dass das Idioplasma nur insoweit, als es sich durch innere Ursachen weiter bildet, gegenüber den äusseren Reizwirkungen sich als bildsam erweise. Dabei ist zu bemerken, dass seit der Eiszeit die Weiterljildung durch innere Ursachen gewiss nicht unthätig gewesen ist, und dass die äusseren Einflüsse sicher auch bei der Prägung der entstehenden Micellgruj^pen betheiligt waren ; aber die letzteren haben bei vielen Pflanzen noch nicht die entfaltungsfähige Höhe erreiclit. Denn die selb- ständige Ausbildung des Idioplasmas geht, wie aus allem geschlossen werden muss, äusserst langsam vor sich und verzögert daher auch die Anpassungsuml)ildung desselben. Die phylogenetische Entwicklung jjesteht also darin, dass das Idioplasma dm-ch die inneren Ursachen stetig complicirter wird und dal)ei unter dem Einfluss der gleichbleibenden oder sich vorändernden äusseren Reizwirkungen seinen Anpassungscharakter l;)eibehält oder wechselt. Sowie die Micellschaaren in dem Idioplasma an Zahl zunehmen, wird nothwendig auch der Organismus complicirter, weil ja seine Ontogenie darin Ijesteht, dass eine Schaar nach der andern in Wirksamkeit tritt und sich an dem Aufl^au in der ihr eigenthüm- lichen Weise betheiligt. Der Weg von der Keimzelle bis wieder zur Keimzelle wird also in einer ilbstammungsreihe immer länger, die Individuen erheben sich auf immer höhere Organisationsstufen und bilden eine grössere Menge von Organen, wobei sich die Yvr- richtungen scheiden und auf verschiedene Organe vertheilun. Die 132 III- Ursachen der Veränderung. Anpassungen an die Aussenwelt al)er, welche die innere und äussere Beschaffenheit der Organe wesentiich bedingen, werden, w^eil nach und nach jeder einzehien Anj^assungsfunction ein eigenes Organ zur Verfügung gestellt wird, immer mehr localisirt, und können in Folge dessen ohne Störung der übrigen Verrichtungen sich der Reizwirkung entsprechend ausbilden. i IV. Alllagen und sichtbare Merkmale. Die unmittelbar vorausgehende Auseinandersetzung hatte den Zweck, das Zusammenwirken des Vervollkommnungstriel)es und der äusseren Einflüsse , wodurch das Idioplasma in Ijestimmter Weise verändert wird, darzulegen. Es fragt sich nun zunächst, wie die zeitlicli aufeinanderfolgenden Zustände des Idioplasmas und die in demselben entstehenden Anlagen sich zu den sichtbaren Merkmalen verhalten. Zwar geben uns die letzteren allein Kunde von der Be- schaffenheit des Idioplasmas ; aber deswegen dürfen wir dieses doch nicht etwa als ihr Spiegelbild betrachten und uns vorstellen, dass mit den ^Veränderungen der Organismen auch die ^"eränderungen in der Bescliaffenheit des Idioplasmas genau übereinstimmen, ^^iele Thatsachen bew^eisen uns, dass beide A^orgänge nur l^is auf einen gewissen Punkt einander entsprechen und dass die Kunde , welclie uns der entfaltete Zustand von den Anlagen gibt, unvollständig ist, weil innner eine Anzahl von Anlagen latent bleibt. Wir können die (phylogenetische) Ausbildung des Idioplasmas (lureli eine ganze Generationenreihe einem Strome vergleichen, der von kleinem Anfange aus immer mächtiger wird und dessen Ober- fläche von mannigfaltigen Wellenzügen bewegt ist. Die fortschreitende Strömung, welche der Steigerung in der zusammengesetzten Anord- nung des Idioplasmas entspricht, macht sich absatzweise in einer bestimmten Organisationsstufe geltend, welche so lange fortbesteht, bis die um einen gewissen Grad stärker gewordene Strömung zu einer folgenden Organisationsstufe drängt. Von (]vn WelUüizügeii, 134 ^^- Anlagen nnd 8iclit))are Merlanale. welche die Oberfläche modeniren und den Anpassungsveränderungen im Idioplasnici entsprechen, werden nur die kräftigsten zu sichtbaren Merkmalen, indess die anderen latent bleiben, und jene sichtbaren Merkmale bleiben so lange, bis neue, liinreichend kräftige Wellen- züge, die in entgegengesetzter Richtung verlaufen, sie durch andere Merkmale verdrängen. Wenn eine Anlage , sei es eine Vervollkommnungs- oder eine Anpassungsanlage, entsteht, so muss die Veränderung im Idioplasma bis auf einen gewissen Punkt gedeihen , ehe sie sich zu entfalten vermag. Dieser Punkt kann je nach Umständen früher oder sj)äter eintreten. Es verhält sich damit gleichsam wie mit einer verschlossenen Flasche, welche eine gärungsfähige Flüssigkeit enthält. Man bemerkt äusserlich nichts von der im Innern vor sich gehenden Bewegung, bis der Pfropf durch das gespannte Gas herausgeschleudert wird, was nacli kürzerer oder längerer Zeit erfolgt, je nach der Intensität der Gärung und der Festigkeit des ^^erschlusses. So vergeht auch eine gewisse Zeit, bis die Spannung, welche eine werdende Anlage im Idioplasma verursacht, hinreichend intensiv geworden ist, um die Widerstände zu überwinden und manifest zu werden. Daher geschieht die phylogenetische Veränderung der Organismen im all- gemeinen sprungweise, indem auf eine Zeit der Ruhe eine rasche äussere Umwandlung erfolgt. Die Ursache, warum eine werdende Anlage im Idioplasma in so vielen Fällen nicht sofort auch als werdendes Merkmal äusserhch sich kund gibt, sondern eine gewisse Höhe erreichen muss, um dann plötzlich als fertiges IMerkmal sich zu entfalten, liegt wohl immer darin, dass dieses Merkmal ein anderes verdrängt und die Uebergangsstufen von dem Organismus nicht oder nur schwer hervorgebracht werden. Es giljt eine Menge von Beisj^ielen , wo man einen sprungweisen Uebergang beobachten kann, obgleich allmähliche Uebergangsstufen denkbar sind und auch ganz natürlich erscheinen würden. Man könnte leicht auf die Vermuthung kommen, dass die Zwischen- glieder sich bei der phylogenetischen Umwandlung zwar gebildet haben, aber als nicht existenzfähig durch die Concurrenz beseitigt worden seien. Wenn aber dem so wäre, so müssten die Zwischen- glieder bei der Kreuzung wieder zum Vorschein kommen, was nicht der Fall ist. Ich werde diesen Punkt in der Besprechung des Verhaltens der Anlagen bei der geschlechtlichen Befruchtung näher erörtern. rV. Anlagen und siflitljare INIerknialc. 185 Für jetzt will icli nur zwei Merkmale kurz erwähnen , die ich früher sclion angeführt hahe, weil sie leicht zu beobachten sind, die Zahl und die Farbe. INIanche Pflanzen mit fünfl^lättrigen Blumen- kronen ändern mit vierblättrigen ab, aber es giljt keine Krone mit vier Blättern und einem Bruchtheil des fünften. Manche Pflanzen bringen neben rothen oder blauen Blüthen auch weisse hervoi'; bei den einen Arten mangeln die Zwischenstufen gänzlich, bei andern kommt ein hellrothes oder helll)laues Zwischenglied vor, bei wenigen mehrere Zwischenglieder mit abgestufter Intensität der Fär- bung. Ich nenne die blaublüthigen Gentianen, welche selten w^eiss oder überdem auch hellljlau auftreten, die blaue Campanula Ijarbata, die auf gewissen Standorten auch zahlreiche weisse und sehr spär- liche hellblaue Blüthen trägt (andere Campanula -Arten zeigen im Gebirg ein gleiches numerisches Verhältniss von drei Blüthenfarljen), Erica carnea und Rhododendron ferrugineum mit rothen und äusserst selten mit weissen Blüthen, Anemone he2:>atica blau blühend, selten auch weiss oder roth (in manchen Gegenden ohne Uebergänge), Achillea Millefolium, die auf hohen alpinen Standorten spärlich intensiv roth , häufig rein weiss und ebenfalls häufig hellroth in verschiedenen Abstufungen vorkommt. Diese und viele andere Beisj^iele beweisen uns, dass manche Merkmale des entwickelten Organismus sich nicht allmählich in einander umwandeln können oder wenigstens eine Abneigung gegen die Bildung der Uebergangsglieder zeigen. Ohne Zweifel gilt dies auch schon für die Anlagen im Idioplasma, indem nicht die alte Anlage in die neue umgewandelt wird, sondern indem vielmehr neben jener die neue sich allmählich heranbildet und dann, wenn sie hinreichend stark gew'orden, an der Stelle derselben sich ent- faltet. Dies ist als sicher zu betrachten für die vielen Fälle, wo das neue Merkmal gelegentlich wieder in das frühere zurückschlagen kann. Eine Veränderung im Idioplasma oder eine werdende Anlage muss also bis auf einen gewissen Grad anwachsen, ehe sie eine fertige Anlage darstellt, welche sich zum sichtbaren Merkmal ent- falten kann. Sie behauptet diese Höhe so lange, bis sie durch das Auftreten einer anderen verwandten Anlage, die nun ihrerseits manifest wxrden kann , oder durch anderweitige Umbildungen im Idioplasma geschwächt wird. Sie kehrt nun in denjenigen Zustand 186 IV. Anlagen und siclitljare Merkmale. zurück, in welchuin sie gieiclisam bloss eine Spannung darstellt, die nicht mehr in Bewegung überzugehen vermag. Sie bleibt längere oder kürzere Zeit in diesem Zustande, nimmt nach und nach ab und verschwindet zuletzt ganz, oder nimmt auch wieder zu und wird von neuem entfaltungsiahig. Mit Rücksiclit auf dieses weitere Schicksal müssen wir übrigens zwischen Vervollkommnungs- und An2>assungsanlagen unterscheiden. Was die ersteren betrifft, so wird mit der Einlagerung neuer Micelle beim Wachsthum die Structur des Idioplasmas immer zusammen- gesetzter, und von Zeit zu Zeit wird diese iiniere Bewegung als weitergehende Gliederung im Bau und in den Functionen des Orga- nismus sichtbar. Man nimmt nun vielfach an, dass ein Organismus in der phylogenetischen Entwicklungsreihe zuweilen auch wieder auf eine niedrigere Organisationsstufe zurücksinken könne, und es ist daher die Frage, ob es deidvbar sei, dass das Idioplasma aus- nahmsweise eine frühere, einfachere Beschaffenheit annehme, oder dass die späteren Veirvollkonnnimngsanlagen in demselben latent werden. Die erstere Annahme halte ich für unmöglich, da die Fort- sei u'ittsljewegung in der Configuration des Idioplasmas ausscldiesslich auf die demselben innew^ohnenden Eigenschaften beschränkt und die Wirkung äusserer Ursachen davon ausgeschlossen wurde. Es kann daher jene Bewegung weder stille stehen, noch eine entgegen- gesetzte Richtung einschlagen, indem dafür die bewirkenden Ur- sachen mangeln. Dagegen lässt sich denken, dass ein Rückschlag des Organismus auf die nächst einfachere Organisationsstufe durch Latentwerden de]' letzton VervoUkomnnmngsanlagen stattfindet. Dann werden, wenn wir die Anpassung vernachlässigen, in einem Organismus mit dem Idioplasma Jn nm' die dem Zustande J„-i entsprochenden Merk- male verwirklicht. Mit Berücksichtigung der An^jassung und unter der Annahme, es verändere sich ein bestinlmtes Merkmal derselben gleichzeitig mit der Organisation, luiben wir folgendes Beisj^iel. Das Idioplasma aJr, sei in (aJhJi^ übergegangen, indem die Organisation um eine Stufe gestiegen ist (von J-, auf J^■^ und die äussere An- passung sich geändert hat (von a zu />). Die Anpassungsanlage a ist im Idioj)lasma noch vorhanden, al»er latent, dalier in () einge- schlossen, Ji; (üithidt '/,-, vollständig in sich , aber vermehrt durch IV. Anlagen und sichtbare Merkmale. 187 neue Micellschaaren und damit zugleich mit einem etwas anderen Gesammtgleichgewicht. Wenn heispielsweise «-/-, eine hestimmte ein- zellige Pflanze mit der Anpassung a darstellt und (a)hJ^:, die erste und niedrigste Stufe der Yielzelligkeit mit der Anpassung h, so kann diese Form wieder einzellig werden, stellt nun aher in diesem Zu- stande nicht die Form der Stufe J5 dar, aus der sie hervorgegangen ist, sondern eine andere Anpassungsform derselben Stufe. Hätte sich a Jf, in aJ^ (nicht in (a)hJti) mngewandelt, so würde beim Rück- schlag wieder der beinahe unveränderte Vorfahr aJ^ zimi Vorschein gekommen sein. Die neuen Micellschaaren , welche den Fortschritt des Idio- plasmas von J5 zu Jo l)edingten und die Vervollkomnniungsanlage in sich fassen, müssen, um in Merkmalen manifest zu werden, zu einer gewissen Höhe anwachsen. Der Wendepunkt wird früher oder später eintreten können; die Ursachen, die auf das Manifestwerden einwirken, sind uns unl)ekannt; die Ernährung und andere äussere Einflüsse mögen dabei eine Rolle spielen. Die nänüichen Ursachen, die das Manifestwerden der Anlage beschleunigten, versetzen die- selbe, wenn sie in entgegengesetzter Richtung wirken, wieder in den latenten Zustand. Die neuen Micellschaaren, welche die einzellige Pflanze in eine mehrzellige verwandelten, lassen, wenn sie unwirksam werden und im Spannungszustande ver])leil)en , den mehrzelligen Organismus wieder einzellig werden. Sie verschwinden aber nicht aus dem Idioplasma, sondern sie verstärken sich, vermöge des in- härenten Forschrittes zur Complication , immer mehr und führen nothwendig wieder zur mehrzelligen Pflanze, welche nun aber viel schwieriger wieder zur Einzelligkeit zurücksinken kann. Wenn die vorgetragene Theorie richtig ist, so tritt ein Zurück- fallen auf frühere Organisationsstufen höchstens vorüliergehend, al)er nie für dauernd ein. Damit stimmt die Entwicklungsgeschichte der organischen Reiche überein, soweit sich dieselbe sicher beurtheilen lässt, da überall ein Fortschritt zum Zusammengesetzteren, aber nirgends mit Gewissheit ein Rückschritt zum Einfacheren dargethan ist. — Ferner findet in der Regel nur ein Rückschlag auf die nächst frühere Organisationsstufe statt und auch dies nur, wenn die neue A'^ervollkommnungsanlage niclit vollständig durchgebildet und ge- festigt ist. Wenn daher auch ein mehrzelliger Organismus der nie- drigsten Stufe (J,,) einzellig wird, so ist die nämliche Umwandlung für 188 rV. Anlagen und siclitbare Mci'kmale. einen solchen der Stufe J^ und noch weit mehr für höhere Stufen (f/J; u. s. w.) als nahezu unmöglich 7a\ Ijetrachten. Die Norm des Rückschlages wird gewöhnlich anders aufgefasst, indem man annimmt, dass allgemein der vollkommnere Zustand auch wieder in den unvoUkommnercn ül)ergehen könne. Daljei handelt es sich al^er meistens nicht um Erscheinungen, die der von mir unterschiedenen Vervollkommnungs- oder Progressionsbewegung angehören, sondern um Anpassungen, die nach den Umständen als mehr oder weniger vollkommen erscheinen. Rückschläge auf frühere Organisationsstufen, die nicht als Anpassungen zu betrachten sind, finden im Pflanzenreiche jedenfalls nur höchst selten und zwar in der angegebenen Beschränkung, vielleicht auch gar nicht statt; so schlägt die geschlechtliche Befruchtung nicht in die Conjugation, die beblätterte Pflanze nicht in die Thallompflanze zurück. — Es gil)t freilich einen scheinbaren Rückgang in der Vervollkommnungs- bewegung, indem ein Organismus zur Vermehrung gelangt, ehe er alle ontogcnetischen Entwicklungsstadien durchlaufen hat, so dass also ein Abschnitt der Ontogonie constant ausljleibt. So bringen unter ungünstigen äusseren Umständen manche Pflanzen keine Blüthen hervor, sondern vermehren sich auf geschlechtslosem Wege. Dies kann wahrscheinlich Jahrtausende lang fortdauern ; aber die Pflanzen haben deshalb phylogenetisch keinen Rückschritt gemacht. Sie besitzen alle idioplasmatischen Anlagen, die ihrer Organisations- stufe zukommen, und es bedarf bloss der günstigen äusseren Ein- flüsse, um sie wieder zur Blüthenbildung zu veranlassen. In ähn- licher Weise kann bei niederen, mit Generationswechsel begabten Pflanzen, z. B. bei Pilzen, ausnahmsweise die eine Generation während langer Zeiträume ausfallen. Während uns die Erfahrung über das Schicksal der Vervoll- kommnungsanlagen ])loss die Aussicht eröffnet, dass die Merkmale, die der Anlage einer niederen Stufe entsprechen, durch solche ver- drängt werden, die der Ausdruck der nächsthöheren Anlage sind, so ist das Verhalten der Anpassungsanlagen und ihrer mani- festen Merkmale ein höchst mannigfaltiges, — und was ül)er Yqv- änderung der Merkmale und über Rückschlag in frühere Formen wirklich beobachtet wurde, gehört alles dieser Kategorie an. Dies ist begreiflich ; die Anpassungsanlagen werden durch äussere Ein- wirkungen erzeugt und gestärkt, sie werden durch dieselben auch IV. Anlagen und siclitl)are ^Morkniale. 18'J wieder geschwächt und vernichtet. El)en.so hal)en die äusseren Um- stände auf das ISlanifest- und Latentwerden dieser Anlagen einen entschiedenen Einfluss. Wenn das Idioplasnia sich gewissen äusseren Einwirkungen an- gepasst hat, so besitzt es eine denselben entsprechende partielle Anordnung, welche die Anpassungsanlage darstellt und unter gün- stigen Umständen als iSIerkmal manifest wird. Kommen nachher andere äussere Einflüsse zur Geltung, so tritt eine neue partielle Anordnung im Idioj)lasma auf, welche je nach Umständen jene frühere unverändert lässt oder schwächt oder vernichtet; im ersten Fall bleibt das Merkmal der früheren Anpassungsanlage neben dem neuen jSIerkmal fortbestehen ; in den andern Fällen verschwindet es und das neue Merkmal tritt an seine Stolle. Die geschwächte An- lage beharrt noch längere oder kürzere Zeit als partielle Anordnung im hlioj^lasma; sie kann später wieder gestärkt werden und als Rückschlag ein sichtbares Merkmal hervorbringen, das dem ursprüng- hchen Merkmal mehr oder weniger gleicht. Um dies in einem schematischen Beispiel auszuführen , so komme ein Organismus mit dem Idioplasnia aJn unter neue äussere Verhältnisse h und die neue Anj)assungsanlage lasse die frühere unversehrt. aJn geht also über in ahJ„^i und die Entfaltung zeigt die beiden Merkmale [a und h) neben einander. Darauf entstehen durch abermahge Anpassungen an veränderte äussere Verhältnisse die partiellen idioplasmatischen Anordnungen c und d ; dabei werde a durch das verwandte c, und h durch das verwandte d geschwächt. Es verwandelt sich somit alul^j^-i in (a)c(h)dJn^2, wozu ich be- merke, dass die geschwächten, nicht mehr entfaltungsfähigen Anlagen wieder in () eingeschlossen sind, indess die nicht eingeschlossenen offenbar werden. Der Organismus hat somit die Merkmale a und h mit c und d vertauscht. — Noch später wird dmxh die neue An- passungsanlage e die frühere c und durch die neue Anlage / die frühere d geschwächt, so dass das Idioplasnia sich von (a) c (b) d Jn -^- 2 in (a,c)c(b,d)fJn-\-2, umwandelt, und am Organismus die Merkmale c und d durch e und f ersetzt werden. — Im Idioplasnia befinden sich nun die latenten Anlagen a, c, h, d, von denen die eine oder die andere unter günstigen Umständen wieder zur Entfaltung ge- langen kann, wobei dann das entsprechende unverträgliche Merkmal verdrängt wird. Beispielsweise geht das Idioplasnia in den Zustand 190 rV. Anlagen und sichtl)are Merkmale. (c,c)a(h,f)dJ,,^i über, indem an dem Organismus die Rückschläge a und cl auftreten, zwei Merkmale, die früher nicht gleichzeitig be- standen. Während das Idioj)lasma durch die äusseren Einflüsse in der angegebenen Weise verändert wurde und einen mehrmaligen Wechsel der Anpassungsmerkmale am Organismus bewirkte, bildete sich dasselbe durch den Vervollkommnungstrieb stetig weiter aus und erreichte möglicherweise eine neue entfaltungsreife Stufe. Es trat also in dem vorletzten der angeführten StsidiGii uls (a,c)e(h,d)fJn-^-6 auf und der Organismus zeigte ausser den neuen Anpassungsmerk- malen e und f auch eine der Stufe Jn^r'-i entsprechende vermehrte Gliederung seiner Organisation. Ich wiederhole hier, dass, wie ich früher schon ausfüln^te, die Orga- nisationsanlagen und die Anpassungsanlagen zu einem combinirten System vereinigt zu denken sind, in welchem dieselben nicht neben einander liegen, sondern in welchem die Organisationsanlagen, welche die Grundlage des Idioplasmas bilden, von den Anpassungsanlagen gleichsam durchdrungen und bestimmt gemodelt werden. Gleich- wohl erscheinen die Merkmale, welche den beiderartigen Anlagen entsprechen, in gewissem Sinne selbständig, so dass die einen oluie die andern sich umwandeln können. Wenn auch, wie ich anzu- nehmen genöthigt bin (S. 181), die Anpassung des Idioplasmas sich nur ändert nach Maassgabe als dasselbe in innerer Umwandlung begriffen ist, so dauert docli dieser innere Umwandlungsprocess, bis er eine neue Organisation am entwickelten Organismus bewirkt, so lange Zeiträume an , dass das Idioplusma indessen mehrmals neue Anpassungsanlagen l)il(len kann. Daher vermag auch der Orga- nismus, indem er in seinen allgemeinen Merkmalen auf der näm- lichen Organisationsstufe verbleibt, seine Anpassungsmorkmale zu wechseln. Dass aber auch die Anpassung sicli nur sehr langsam umwandelt, beweist der wiederholt angeführte Umstand, dass viele Pflanzen seit der Eiszeit dieselbe nicht zu ändern vermochten. Wie der auf der gleiclicn Organisationsstufe beharrende Orga- nismus seine Anpassungen ändert, kann umgekehrt ein Wechsel der (.)rganisationsstufe bei gleichbleibender Anpassung stattfinden. Ich crwillme als verständlichstes Beisj)iel einzelhge Pflanzen, die ohne irgend eine weitere Modification melu'zellig werden. In diosemVer- hältniss stellen zu einander die ((mizclligon) (-hroocuccaceen und die rV. Anlagen und sichtbare IMerkmale. 10 1 übrigen (mehrzelligen) Gruj^pen der Nostocliinen (Nostochaceen, Oscil- lariaceen, Scytonemaceen, Ri^allariaceen), — gewisse (einzellige) Pal- mellinen und verwandte Gattungen der (mehrzelligen) Confervoi'den, — die (einzelhgen) Desmidiaceen und die (mehrzelligen) Zygnemaceen. Es gibt also, wenn wir von den beiden der Organisation und der Anpassung entspreclienden Kategorien absehen, zweierlei An- lagen im Idioplasma, entfaltungsfällige und entfaltungsunfähige, solche, die am Organismus sichtbare Merkmale veranlassen können und solche, die im geschwächtem oder unfertigem Zustande sich befinden und nothw^endig latent lileiben. Unter den entfaltungs- fähigen Anlagen gibt es wieder zwei Gruppen, solche mit unaus- ljleil)licher oder nothwendiger und solche mit zufälliger Entfaltung; man kann sie, in Analogie mit der Bezeichnung der auf bestimmten Bodenarten vorkommenden Gewächse, entfaltungsstet und entfaltungs- vag nennen. Die entfaltungssteten Anlagen kommen in jedem Individuum zur Entwicklung, während die entfaltungsvagen bald latent bleiben, bald manifest werden. Unter den letzteren gibt es übrigens alle Abstufungen zwischen der Entfaltungsstetigkeit und der Entfaltungsunfähigkeit, indem die einen nur selten verborgen bleiben und die anderen nur selten sichtbar werden, und man könnte daher unter ihnen wieder entfaltungsliolde und entfaltungsscheue unterscheiden. Fast jede Pflanzenart hat entfaltungsvage Anlagen ; sie betreffen vorzüglich die Grösse des Individuums und der Organe, die Zahl der Organe und Zellen, die Verzweigung, Bewurzelung, Behaarung, Färbung, die A'ermelu'ung im Verhältniss zur Fort- pflanzung, die Füllung der ßlüthen, endlich verschiedene krank- hafte und abnormale Erscheinungen, — und sind sehr geeignet den Systematiker irre zu führen. Ob die entfaltungsvagen Anlagen zu manifesten Merkmalen werden oder nicht, hängt, wenn eine Pflanze normal und unverletzt ist, von den äusseren Einwirkungen, namentlich von der riclitigen Ernährung ab. Die nämliche Pflanze, die auf magerem sandigem Boden kaum handgross wird mit unverzweigtem einblüthigen Stengel, erlangt auf fruchtbarem Boden die Höhe von einem Meter und reiche Verzweigung mit hunderten von Blüthen; sie bringt hier alle entfaltungsfähigen Anlagen zur Ausbildung. — Die äusseren Einflüsse führen dem Organismus vorzüolich Stoß: und Kraft zu. 192 • IV. Anlagen und .si("lit.l)are Merkmale. Sie haben die Bedeutung, welche das Brennmaterial für die Dampf- maschine hat. Wie die Vermehrung des Brennmaterials die Kraft der Maschine und die Geschwindigkeit der dadurch in Bewegung ge- setzten Locomotive vermehrt, so steigert eine reichlichere Nahrung in Verbindung mit einer grösseren Menge von Wärme und Licht die Leistungen der lebenden Pflanze so sehr, dass dieselbe nun alle entfaltungsfähigen Spannungen in Bewegung üljcrgehen lässt. Wir begreifen diese Thatsache auch von der mechanischen Seite, wenn die Vermuthung, die ich früher über die Beziehung zwischen den Vorgängen im Idioplasma und am entfalteten Organismus äusserte (S. 47) richtig ist. Eine entfaltungsfähige Anlage wird dann zum sichtbaren Merkmal, wenn die ihr entsprechende Gruppe von Längsreihen im Idioplasma in activer Weise wächst, während die andern Gruppen nur so weit passiv folgen, als es die eintretende Spannung erfordert. Es ist in diesem Falle selbstverständlich, dass bei mangelhafter Ernährung nur diejenigen Gruppen des Idioplasmas zum activen Wachthum und somit zur Entfaltung ihrer Merkmale gelangen, welche dazu die grösste Neigung besitzen, und dass bei reichlichster Ernährung auch die andern, die überhaupt jene Fähig- keit besitzen, dazu angeregt werden. Es gibt unter abnormalen Verhältnissen noch eine andere Art von Entfaltung sonst latent bleibender Anlagen. Zellen von Stengeln, Blättern, Wurzeln, die im normalen Zustande in Ruhe verharren, gelangen nach Verletzungen und Verstümmelungen des Individuums zur Entwicklung. Aus gekappten Stämmen, Aesten und Wurzeln, aus Stücken von solchen, an abgeschnittenen Blättern bilden sich Adventiv- knospen. Das Idioplasma bestimmter Zellen, das sonst ruhend bleibt, beginnt in diesem Falle sich sammt dem Ernährungsplasma zu vermehren und dadurch Zellenbildung einzuleiten. Die Er- scheinung hat nichts Auffallendes und erklärt sich zum Theil in gleicher Weise, wie die Entwicklung der einzelnen entfaltungsvagen Anlagen. Durch die Verstümmelung häufen sich nämlich die Nähr- stoffe an, die unter normalen Verhältnissen nach denjenigen Or- ganen, wo Neubildungen stattfinden, abfliessen, und veranlassen das Idioplasma, zu dem die stärkste Zufuhr stattfindet, zum Wachs- thum. Uebcrdem wird aber auch bei der Verstünnnelung der Orga- nismus durch verschiedene Einwirkungen getroffen, welche er im unversehrten Zustande nicht s^DÜrt. TV. Anlagen und siclitbare Merkmale. 1*),'] Dagegen ist die Eigenartigkeit, in der diese adventiven JJildnngen erfolgen, benierkenswertli ; aus dem nämlichen Gewebe können unter verschiedenen Umständen verschiedene Bildungen hervorgehen. Wird ein Stengel oben abgeschnitten, so dass ihm Zweige und Blätter mangeln, aber die Wurzeln bleiben, so bildet er Adventivknosj^en und aus denselben bel^lätterte Zweige ; wird er unten abgeschnitten, so dass er die Zweige und Blätter behält aber die Wurzeln verliert, so erzeugt er aus densell3en Zellen Adventivwiu-zeln. Aehnlich ver- hält es sich mit abgeschnittenen Wurzeln. Es ist als ob das Idioplasma genau wüsste, was in den übrigen Theilen der Pflanze vorgeht, und was es thun muss, um die Integrität und die Lebens- fähigkeit des Individuums wieder herzustellen. Diese merkwürdige Erscheinung erklärt sicli mit Hilfe zweier Hypothesen, die ich oben aufgestellt habe und dient denselben zu- gleich als Stütze. Sie beweist einerseits wohl unz weif eil laft, dass das Idioplasma in einem beliebigen Theil des Organismus Kunde erhält von dem, was in den übrigen Theilen vorgeht. Dies ist dann möglich, wenn seine Veränderungen und Stimmungen auf materiellem oder dynamischem Wege überall hin mitgetheilt werden (S. 55). In diesem Falle muss es das locale Idioplasma sofort fühlen, wenn ein wesentlicher Theil des Individumns mangelt, weil von dorther keine Mittheilungen mehr anlangen. Sollte in dem pflanzhchen Organismus die Communication auf materiellem Wege erfolgen, was ich indess für wenig wahrscheinlich halte, so würde in dem angeführten Beispiel das Idioplasma des Stengels entweder keine Theilchen von den Wurzeln oder keine solchen von den Blättern und Zweigen erhalten. Andrerseits beweist jene Erscheinung, dass das Bedürfniss als Reiz wirken kann (S. 1G2), und dass das bestimmte Bedürfniss auch eine bestimmte Reaction veranlasst. Während aber sonst ein solcher Reiz nach sehr langer Dauer Anlagen im Idioplasma erzeugt, dient er hier nach kurzer Einwirkung dazu, bereits vorhandene Anlagen zur Entfaltung zu bringen. Das Idioplasma des 'Stengels, welches keine Mittheilung von Wurzeln oder von beblätterten Zweigen er- hält, empfindet diesen Mangel und reagirt darauf, wie es immer auf ein Bedürfniss reagirt; es hilft dem Mangel al) und wählt dazu die nach den Umständen geeigneten und ilim zu (iebot stellenden Mittel, in diesem Falle die Anregung zur Entwicklung von l)e- stimmten Anlagen. Die Thatsache, dass aus dem nänüichen Ge- V. Nägel i, Abstammungslehre. 13 194 IV. Aulagen und siclitbare INIerkmale. webe von den verschiedenen Organen, die liier gebildet werden können, gerade dasjenige entsteht, welches dem Individuum ge- nommen wurde, scheint mir auf keine andere Art sich deuten zu lassen, als dass der Mangel als Reiz zu wirken vermag, welcher der durch Anhäufung von Nährstoffen erfolgenden Neubildung die be- stimmte Richtung anweist. Eine eigenthümliche Kategorie von Anlagen , die gleichsam zwischen den entfaltungssteten und den entfaltungsvagen die Mitte halten, bilden je zwei oder mehrere zusammen gehörende Anlagen, von denen Eine mit Ausschluss der übrigen sich entfalten muss. Welche zur Entfaltung gelangen und welche latent bleiben, hängt bald von inneren bald von äusseren Ursachen ab. So sind es ohne Zweifel innere, aber noch unbekannte Ursachen, welche bei getrennt geschlech- tigen Organismen bestimmen, ob in einem entstehenden Keim die männlichen oder die weiblichen Geschlechtsorgane zur Entwicklung gelangen werden. Dagegen tritt der Einfluss der äusseren Ursachen bei der ßlattl)ildung einiger Wasserj^flanzen ganz auffallend hervor. Bei Ranunculus fluitans, der im Wasser wächst und nur seine Blüthen über die Oberfläche erhebt, sind alle Blätter untergetaucht und borstenförmig-vielspaltig. Bei R. hederaceus, der in fast aus- getrockneten Wassertümpeln auf Schlamm und Sand als kriechende Landpflanze lebt, befinden sich die Blätter in der Luft und haben eine nierenförmige, gelappte Spreite. Ein Mittelglied zwischen den beiden genannten Arten stellt R. aqnatilis dar, welcher im Wasser, aber mehr an der Oberfläche desselben wächst. Hier sind die einen (unteren) Blätter untergetaucht und borstenförmig - vielspaltig wie l}ei R. fluitans, die anderen (oberen) Blätter sind auf dem Wasser schwinmiend und haben eine nierenförmige gelappte Spreite wie bei R. hederaceus. Die genannten drei Ranunculusarten stehen in sehr naher Ver- wandtschaft zu einander; sie zeigen im Vereine deutlich den Ein- fluss der beiden Elemente, des Wassers und der Luft, auf die Form- bildung der Blätter. Aber nur l)ei R. aquatilis macht sich dieser Einfluss bei der Entwicklung der Blattanlageii jetzt noch in jeder Generation geltend. Das Idioplasma dieser Art enthält zwei ent- wickkmgsfähige Anlagen, von denen sich bei jeder einzelnen Blatt- bildung die eine oder andere entfalten muss. Solange der Stengel tiefer im Wasser sich befindet, bringt er die Anlagen der borsten- IV. Alllagen luid sichtljare jMerkmiile. 195 löniiig-sclimalen Blätter, kommt er über an die Oljerfiüclie, (liejcnigen der breiten Blätter zur Entfaltung. In den zwei anderen Arten sind die Anlagen für die beiden ßlattformen gewiss el^enfalls im Idioplasma vorhanden ; aber in jeder vermag sich nur noch die eine Anlage zu entfalten. Während R. aqua- tilis jetzt noch für ein amphibisches ^'^erhalten, mn mich so auszu- drücken, befähigt ist, hat sich R. hederaceus ganz als Landpflanze, R. fluitans ganz als Wasserpflanze angepasst: in R. hederaceus sind die Anlagen für die borstenf örmig - vieltheiligen , in R. fluitans die- jenigen für die nierenförmig-gelaj^pten Blätter geschwächt und ent- faltungsunfähig geworden. Gleich wie der Einfluss des Wassers jetzt noch bei der onto- genetischen Entfaltung der Blattanlagen bemerkbar wird, hat er einst die phylogenetische Entstehung dieser Anlagen vollbracht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass hierbei die lichtmässigende Wirkung des Wassers die Hauptrolle spielte. Bekanntlich hat Lichtmangel eine starke Streckung des Stengels bei den höheren Pflanzen und ebenso der Blätter bei den Monocotyledonen zur Folge (\"ergeilung). Allerdings bleiben in der Dunkelheit die Blätter der Dicotyledonen klein und unentwickelt; allein die Ursache hiervon besteht darin, dass bloss schuppenförmige Niederljlätter sich bilden. Dass aber die Blattstiele von Dicotyledonen unter dem Einfluss der Dunkelheit sich ebenso sehr strecken können wie die Stengel, sehen wir an den im tiefen Wasser wachsenden Seerosen, welche ihre schwün- menden Blattspreiten auf den langen Blattstielen, wie ihre Blüthen auf den langen Blüthenstielen, an die Oberfläche des Wassers bringen. Es ist daher möglich, dass unter noch nicht näher bekannten Um- ständen die Blätter der Dicotyledonen bei Lichtmangel sich strecken und schmal bleiben, und dass bei ihrer ursjDrünglichen phylogene- tischen Ausbildung die Blätter der Wasserpflanzen von unten nach oben am Stengel allmählich breiter wurden, worauf dann bei einer späteren j)hylogenetischen Umbildung der gewöhnliche Process ein- trat, welcher mit Unterdrückung der ZwischengUeder nur einige extreme Typen beibehielt, nämlich bei den genannten Ranunculus- arten die borstenf örmig- vielspalti gen und die nierenförmig-gelappten Blätter, von denen Ijei einigen Arten zuletzt auch noch der eine dieser beiden Typen verloren ging. 13* 1 i •( ■) IV. Anlagen und sichtbiire Älerkmale. Ehe ich das Verhältniss von Anlagen und sichtl:)aron Merk- malen weiter verfolge und dasselbe bei der geschlechtlichen Fort- pflanzung betrachte, will ich hier noch zwei Bemerkungen ein- schieben, eine theoretische und eine praktische. Die theoretische betrifft das Verhältniss der Anlagen zum ontogeneti sehen Entfaltungs- zustand, welches uns, wenn wir nur die nächst liegenden Beispiele ins Auge fassen, leicht als etwas Mysteriöses erscheint. Wir können es nur richtig beurtheilen, wenn wir mis das Wesen der Anlagen auf den niedrigsten Stufen deutlich machen. Man möchte geneigt sein, den einzelligen Organismus als der Anlagen ermangelnd anzu- sehen ; aber dies wäre nur im Vergleich mit den vielzelligen und höher ausgebildeten Wesen richtig. Selbst die erste Stufe des Probienreiches, das primordiale Plasma besitzt im Grunde schon eine Anlage, die- jenige, nämlich neue gleichartige Micelle einzulagern, also zu wachsen. Auf der nächsten Stufe, wo das primordiale Plasma sich zu Tropfen von bestimmter Grösse, die sich theilen, individualisirt hat, sind dem jugendlichen Zustande (nach der Theilung) zwei Anlagen eigen, nämlich auf die volle Grösse anzuwachsen und dann sich zu theilen. In diesen einfachen Fällen liegt der mechanische Zusammenhang zwischen dem jugendlichen oder Anlagezustand und dem bestimmten entwickelten Zustande klar vor. Sowie nun die Wesen complicirter werden, mehren sich allmählich die Anlagen ; das entwickelte Stadium lässt sich aber immer noch mehr oder weniger deutlich als die noth- wendige Folge des jugendlichen Stadiums einsehen, wie dies bei allen einzelligen und den einfachsten mehrzelligen Organismen der Fall ist. Gehen wir stufenweise zu den complicirteren und dann zu den complicirtesten mehrzelligen Pflanzen weiter, so ändert sich im Princip nichts; es stellt sich stets die ganze Entwicklung aus dem Keime bis zum erwachsenen Zustande und die Absonderung- neuer Keime in diesem Zustande wenigstens der Analogie nach als eine ebenso nothwendige Consequenz dar, wie das Wesen und die Theilung des primordialen Plasmatropfens. Dies gilt für die Totalanlage, für den ganzen einzelligen Keim der Organismen. Was die Partialanlageii betrifft, so lässt sich die Nothwendigkeit der Entfaltung zu bestimmten Merkmalen für jede einzelne auf den untersten Stufen noch deutlich wahrnehmen. Sowie die Partialanlagen aber zahlreicher werden, geht der Faden für die einzelnen verloren, da wir die Beschaffenheit des Idioplasmas nicht rV. Anlagen und sichtbare INIerkmale. 197 kennen ; und wir vermögen die Nothwendigkeit der bestimmten Ent- faltmig nur dadurch zu erweisen, dass das causale Gesetz, wo es die ganze Entwicklung beherrscht, auch für die Theile gelten muss. Die andere Bemerkung, die ich als praktische bezeichnete, be- trifft den Werth, den die Beobachtung des Entfaltungszustandes, im Vergleich zu den Anlagen, für die Beurtheilung des Wesens und der Verwandtschaft der Organismen hat. In dem einzelligen Keim, der nur die Anlagen in sich birgt, ist das ganze Wesen eines Orga- nismus enthalten. Dieser Keim besitzt nicht nur das Geheimniss aller der Eigenschaften, die wirklich zur Entfaltung gelangen, sondern auch das Geheimniss aller derjenigen, die verlwrgen l)leiben und vielleicht erst nach vielen Generationen zum Vorschein kommen. Von dem wirklichen und vollständigen Wesen, das durch den Keim dargestellt wird, gibt uns die Beobachtung der uns zugäng- hchen morphologischen und physiologischen Merkmale nur eine dürftige Vorstellung. Selbst wenn wir die Entwicklungsgeschichte eines Organismus vom ersten Entstehen bis zum Tode lückenlos und in den feinsten Einzelheiten ergründen könnten, so hätten wir, da viele Anlagen latent bleiben, doch nur ein mangelhaftes Bild gewonnen. Von der ganzen Entwicklungsgeschichte sind uns aber nur die groben Merkmale zugänglich; alle feineren Merkmale, die sich aus dem Idioplasma entfaltet haben und welche die moleculare Physiologie und Morphologie der nicht idioplasmatischen Substanzen betreffen, bleiben uns verborgen. Es ergibt sich hieraus deutlich, wde vorsichtig die Systematik mit ihren Schlüssen ül)er Verwandt- schaft und Abstammung sein sollte. Wo es sich um tiefgreifende Verschiedenheiten handelt, be- sonders wenn dieselben mit Hilfe allgemeiner Entwicklungsgesetze, von denen ich im letzten Abschnitt sprechen werde, sich feststellen lassen, mag die vergleichende Morphologie allerdings kaum irre gehen. Es kann, um nur vom Pflanzenreiche zu sprechen, beispiels- weise kein Zweifel über das A^erhältniss von einzelligen und mehr- zelhgen Gewächsen, wenn dieselben in der Beschaffenheit der Zellen ül^ereinstimmen, ebenso über das Verhältniss von Algen, Moosen, Gefässkryptogamen, gymnospermen und angiospermen Phanerogamen bestehen. Wenn man aber von den grossen und allgemeinen Gruppen der Reiche zu den Classen und Ordnungen oder gar zu den Gattungen und Arten heruntersteigt, so ist in der Regel keine sichere Beur- 198 I^'^- Anlagen nnd sichtliare Merlanale. tlieilung mehr möglich und alle pliylogenetisclien Hypothesen werden werthlos. In diesen Regionen des Pflanzenreiches werden die Unter- schiede nach der äusseren Form, selten auch nach der anatomischen Structur, die wenig mehr Aufschluss gil)t, hestimmt. Dies mag nothdürftig zur blossen Unterscheidung der Sippen ausreichen, aber für die Erfassung des Wesens haben die Merkmale der beschreibenden Botanik oft nicht mehr Werth, als wenn man das Wesen von Wohnhäusern, Scheunen, Kirchen, Fal)rikgcbäuden aus ihrer äusseren Form erkennen wollte. Wie wenig die äusseren Unterscheidungsmerkmale dem inneren Werth entsprechen, sehen wir deutlich daraus, dass in gewissen Pflanzenordnungen (z. B. den Ranunculaceen) nahe verw^andte Arten durch viel auffallendere Merkmale geschieden sind, als in anderen Ordnungen (z. B. den Cruciferen) die Gattungen. Es kommt selbst vor, dass die sichtbaren und definirbaren Unterschiede ganz mangeln, obgleich die innere ^^erschiedenheit unzweifelhaft ist. Apfelbaum und Birnbaum sind, wiewohl der gleichen Gattung angehörend, doch als Arten so weit von einander entfernt, dass es bis jetzt nicht gelungen ist, sie gegenseitig zu befruchten und einen Bastard zu erhalten, während Mandelbaum und Pfirsichbamn, die man in zwei Gattungen trennt, sich bastardiren lassen. Mit Ausnahme eines geringfügigen Unterschiedes in der Blüthe, wonach die Griffel beim Apfelbaum an der Basis zusammengewachsen, beim Birnbaum frei sind, weiss der Botaniker für diese beiden Bäume keine durch- greifenden, für alle Sorten geltenden Untersclieidungscharaktere, ob- gleich das Gefühl einem immer sagt, welche Art man vor sich habe, und kein Bauer sich täuscht, w^enn man ihm die Bäume oder auch nur die beblätterten Zweige derselben zeigt. Das Verhalten und die Bedeutung der latent bleibenden und manifest werdenden Anlagen wird in vorzügiiclier Weise durch die Erscheinungen bei der digenen Fortpflanzung klar gelegt. Bei der- selben sind es zwei elterliche Individuen, aus deren Zusammenwirken der einzellige Keim gebildet wird. Selten spielen die beiden Eltern bei diesem Process die gleiche Rolle (was bei der Conjugation niederer Algen und Pilze vorkommt); gewöhnlich ist ein Individuum das befruclitende, das andere das l)cfruchtete, jenes bei der Keim- l)ildung (quantitativ scliwach, dieses sehr stark botheiligt. TV. Anlapon und sichtbare Merkmale. 199 Wir haben hier zwei Fragen zu beantworten, die sich gegen- seitig bedingen mid auch vielfacli verschhngen: Wie gross ist der Betrag an Anlagen, welche der Keim vom Vater und von der Mutter erbt? Wie verhalten sich die sichtbaren Merkmale des Kindes zu den ererbten Anlagen? Sehr häufig beurtheilt man das Maass der Erbschaft nach den sichtbaren Eigenschaften, und sagt, das Kind habe dies vom Vater, jenes von der Mutter, und überhaupt von dem einen oder anderen »Elter« ^) mehr geerbt. Dies ist ja ganz richtig, w^enn es sich nur um das Verständniss handelt, welches der alltägliche Verkehr verlangt. Aber es wäre ganz irrthümlich, wenn man damit eine wissenschaftliche Bedeutung verbinden und den väterlichen oder mütterlichen Einfluss bei der Zeugung ausdrücken wollte. Man würde dadurch zu falschen Schlüssen über die A"er- erbung und ül:)er das Verhältniss zwischen latenten und manifesten Eigenschaften gelangen. Erfahrung und Theorie beweisen uns übereinstimmend, dass der Erbschaftsantheil nicht nach den sichtbaren Merkmalen bemessen werden darf. Was die Erfahrung betrifft, so mag nur an die zahl- reichen bekannten Beispiele von Rückschlägen erinnert werden. Ich will, um die Art und Weise des Beweises darzuthun, einen die Ver- erbungsfrage in sehr wirksamer Weise erläuternden Fall anführen. Eine Angorakatze und ein gewöhnlicher Kater (erste Generation) erhielten in einem Wurf bloss gewöhnliche Katzen (zw^eite Generation) ; die alltägliche xVnschauung würde in diesem Falle dem Vater ein ^) Sit venia verbo ! Es mangelt der deutschen Sprache ein Wort , das synou\Tii mit »erzeugendem oder elterlichem Indi\äduum« und zugleich handlich für den Gebrauch ist. Bei der geschlechtslosen Fortpflanzung l)ezeichnet man den Erzeuger als Mutterindividuum , Mutterpflanze , Mutterzelle u. s. w. ; man ge- In-aucht cUese Ausdrücke aber auch für weibliche mid für hermaphroditische Indi^^duen und Mird dadurch oft zweideutig, denn bei Arten mit geschlechtslosen und geschlechtlichen Generationen bedeutet Mutterpflanze sowohl die mütterliche weibliche als die erzeugende geschlechtslose Pflanze und bei Arten, die ein- geschlechtig und zweigeschlechtig vorkommen, bedeutet Mutterijflanze sowohl die mütterliche weibliche als die elterliche hermaphroditische Pflanze. Ueberdem klingen einige Zusammensetzungen wie Grossmutterzelle, Urgrossmutterpflanze sonderl)ar. Diese Unzukönunlichkeiten vermeidet man, wenn das Wort »der Elter« in die Sprache aufgenommen wird. Man hat dann Eiterpflanze, Elterthier, Elter- zelle, Grosselterzelle u. s. w. — Es versteht sich, dass dem entsprechend das Er- zeugte, wenn es geschlechtslos ist, nicht als »Tochter«, sondern als »Kinc^ zu l)ezeichnen ist. 200 rV- Anlagen inid sichtbare Merkmale. starkes Uebergewicht zuerkennen. Die jungen Katzen enthielten aber trotz ihres gewöhnhchen Aussehens viel Angorablut; denn aus der Begattung zweier derselben entsprang in der dritten Generation neben gewöhnlichen eine unveränderte weibliche Angorakatze. Viel- leicht wäre in der vierten Generation das Verhältniss für das An- gorablut noch günstiger geworden. Halten wir uns aber bloss an die berichtete Thatsache, so beweist sie uns, dass auf die äusseren Merkmale gar kein Verlass ist; denn wde sollten zwei gew^öhnliche Katzen dazu kommen, eine Angorakatze zu erzeugen? Was die Theorie betrifft, so sagt uns dieselbe, dass bei der ge- schlechtlichen Befruchtung das Idioplasma zweier Individuen sich vereinigt, um einen Keim zu bilden, und dass die Menge der idio- plastischen Eigenschaften, die von dem Vater und der Mutter zum Keim abgegeben werden, den genauen Betrag der beiderseitigen Erbschaft darstellen. Es können daher dem Kinde keine Anlagen gänzlich mangeln, welche die Eltern besitzen, und es selber kann keine Anlagen besitzen, die den Eltern fehlen. Es ist nur ein schein- barer Widerspruch gegen diese Forderungen der Mechanik, wenn das Kind sichtbare Merkmale zeigt, welche weder A^ater noch Mutter haben, oder solche, die nur dem einen Elter zukommen, und wenn es Merkmale entbehrt, welche beiden Eltern gemeinsam sind. Zur richtigen Beurtheilung des väterlichen und mütterlichen Erbschafts- antheils kommt es bloss auf die Anlagen an. Für dieselbe ist es ganz gleichgültig, welche von diesen Anlagen zur Entfaltung ge- langen; dieser Punkt betrifft, eine andere, nachher zu besprechende Frage. Da wir kein Mittel besitzen, um die Menge und die Stärke der Anlagen in einem Keim oder in dem daraus sich entwickelnden Individuum direct zu bestimmen, so sind wir bezüglich der Schätzung der vom Vater und der Mutter überkommenen Erbschaft auf die Wahr- scheinlichkeitsrechnung angewiesen. Wenn auch im einzelnen Fall die sichtbaren Merkmale und die Anlagen keine Ueberein Stimmung zeigen, so ist doch anzunehmen, dass die Uebereinstimmung um so mehr erreicht werde, je grösser die Zahl der l)eobachteten Fälle ist. Diese Vielzahl ist auf doppelte Art erhältlich. Ich will an das vorhin angeführte ßeis^^iel von gewöhnlicher und Angorakatze anknüpfen und die Annahme machen, dass wie in den ersten Generationen so auch in den folo^enden eine Zwischen- TV. Anlagen und sichtbare Merkmale. 201 bildung in den äusseren Merkmalen nicht eintrete, sondern nur die reinen Rassenmerkmale sichtbar werden. Vermehrt sich die Nach- kommenschaft bei strenger Inzucht, so muss das den Anlagen ent- sprecliende Verhältniss sich um so sicherer einstellen, je grösser die Zahl und je später die Generation. Wäre unter den lOOi) In- dividuen der 10. Generation die Hälfte Angorakatzen, so dürfte man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass Männchen und Weibchen des ursprüngliclien Paares gleich viel vererbt haben, ob- gleich die zweite Generation bloss aus gewöhnhchen Katzen bestand. Würde aber unter jenen 1000 Individuen die eine oder andere Rasse ein numerisches Uebergewicht zeigen, so wäre mit einiger Wahr- scheinlichkeit auf ungleiche Erbschaftsantheile für die bestimmte Paarung des betreffenden Stammpaares zu schlies'sen. Es ist mir nicht bekannt, dass eine in dieser Weise durchgeführte Züchtung sicheren Aufschluss gäbe. Eine andere Grundlage für die Wahrscheinlichkeitsrechnung geben mis zahlreiche Zeugungsfälle, wo die Kinder mit den Eltern verglichen werden ohne Rücksichtnahme auf die Herkunft der letzteren. Dies ist selbstverständlich nur beim Menschen, aber hier in ausgie- bigster Weise möglich. Wenn man hier die Fälle, in denen die Kinder mein- sichtbare Eigenschaften vom Vater, und diejenigen, wo sie mehr von der Mutter besitzen, zälilt, so nähern sich die beiden Summen sicher einander um so mehr, je grösser sie sind. Daraus dürfen wir wohl mit ziemlicher Gewdssheit schliessen, dass die Kinder auch an Anlagen im Durchschnitt gleich viel von jedem der beiden Eltern erben, wobei es jedoch zweifelhaft bleibt, oIj dies auch für jeden einzelnen Fall gelte. Man sollte denken, dass das väterliche und mütterliche Erbtheil sich deutlich bei der Bastardzeugung erkennen lasse, wenn man die beiden elterlichen Sippen bei der Befruchtung vertauscht, wenn nämlich von den beiden Sippen Ä und B, das eine Mal Ä das andere Mal B die männliche Rolle übernimmt, so dass man die beiden Bastarde AB und BÄ erhält. Einen solchen Fall haben wir beim Maulthier und Maulesel ; ersteres ist, wenn man den Bastard nach den Eltern benennt und den Vater voranstellt, ein Eselpferd, letzterer ein Pferdeesel. Gerade dieses Beispiel zeigt deutlich, dass die Bastarde AB und BA in den sichtbaren Merkmalen verschieden sein können. Aber über die vorliegende Frage der Anlagenver- 202 IV. Anlagen und sichtbare Merkmale. erbung gibt es keinen Aufscbluss. Der Umstand, dass Manltbicr und Maulesel in gleicbem Grade unfrucbtl)ar zu sein scbeinen, macht es niclit unwalirscheinlicb, dass beide den Anlagen nacb mittlere Bildungen sind. A^on Bastarden zwischen Pflanzenarten gibt Gärtner an, dass die Combinationen AB und BA einander so ähnlich sehen, wie ein Ei dem anderen. Es gibt eine andere Betrachtung, die mir noch von grösserer Bedeutung zu sein scheint. Wenn wir die Vererbung der sicht- baren Merkmale bei den verschiedenen Pflanzenbastarden verfolgen, so zeigt dieselbe mit der abnehmenden A'^erwandtschaft der Eltern eine bemerkenswerthe Reihenfolge. Bei der grössten ^Verwandtschaft (wenn bloss ein Rassenunterschied zwischen den Eltern besteht) ist die Vererbung am unregelmässigsten, indem der Bastard bald dem Vater, bald der Mutter sehr ähnlich, selbst scheinbar gleich ist oder auch über beide Eiterrassen hinausgeht. Bei der Kreuzung von natürlichen Varietäten ist die Unregelmässigkeit geringer und bei derjenigen von Species, namentlich von verwandtschaftlich ent- fernter stehenden Species, wird die Vererbung der sichtbaren Eigen- schaften ganz regelmässig, indem alle BastardindiAdduen AB unter einander gleich sind, ebenso alle Bastarde BA, und gleichfalls wird, wie schon bemerkt, der Unterschied von AB und BA sehr klein oder verschwindet ganz. Diese Thatsache, die übrigens nur für die Merkmale der zweiten Generation (d. h. der ersten Generation der hybriden Nachkommenschaft) gilt, spricht entschieden dafür, dass die väterlichen und mütterlichen Erl)theile an Anlagen einander gleich sind. Aus den vorstehenden Betrachtungen ergibt sich, wie ich glaube, ül)ereinstinmiend die sehr grosse Wahrscheinlichkeit, dass Vater und Mutter in allen Fällen gleichviel oder nahezu gleichviel an Anlagen oder idioplastischen Eigenschaften auf das Kind über- tragen. Dieses Ergebniss ist für die Lehre von der Vererbung imd weiterbin auch für die Abstammungslehre von grosser Wichtigkeit. Die sichtbaren Merkmale des Kindes geben also im einzelnen Falle kein Zeugniss dafür, wie viel und welche Anlagen von einem Elter geerbt wurden ; denn die von jenen sichtbaren Merkmale abweichen- den Merkmale des andern Elters wurden gleichfalls vererbt, sind aber latent geblieben. Wenn beispielsweise das Kind eines Vaters mit rotlien und einer Mutter mit scliwarzen Haaren rothhaarig wird, IV. Anla «stituirteii Idioplasmun mit theilwcise labilem Gleichgewichte statt, und bei der Reconstruirung des Systems tritt ein neues , vielleiclit wieder bloss labiles Gleichgew^icht ein, wobei bisher entfaltungs- unfähige Anlagen entfaltungsfällig werden und umgekehrt. Demgemäss bringen Bastarde von Pfianzenarten , die in ihrer ersten Generation eine mittlere Bildung zwischen A^ater und Mutter zeigen, nach dem Zeugniss von Gärtner, wenn sie sich selbst zu befruchten vermögen, nicht selten in einer folgenden Generation andere und später wieder andere Merkmale zum Vorschein. Diese Merkmale sind selbstverständlich solche, die von den Stammeltern der hybriden Reihe herkommen, weshalb die Bastarde im Laufe der Zeiten bald dem einen, bald dem andern Stammeiter ähnlich sehen. Der aus der Kreuzung von A und B entsprungene Bastard , der die sichtbaren Merkmale u und h besitzt, kann also in seinen Nach- kommen den Sprung von u -\- h zu 2 a -{- b und in noch spätem Nachkommen den Sprung von 2a-\-h zu a -{- 2 h machen. Was die miifangreiche und verwickelte Frage betrifft, welche Anlagen und in welcher Weise dieselben bei der Kreuzung zur Entfaltung gelangen, so will ich zuerst an einem schematischen Beispiel zeigen, wie das Idioplasma dabei betheiligt sein muss. Die zwei sich kreuzenden Individuen seien in dem Merkmal , um das es sich handelt (Behaarung, Gestalt, Farbe etc.) , verschieden ; und die betreffenden Anlagen seien durch Ji und m bezeichnet; andere Moditicationen des nämlichen Merkmals seien als latente Anlagen [W , m , ,") von früheren Generationen her in jenen beiden Indi- viduen vorhanden. So sind in dem Idioplasma der aus der Kreuzung entstandenen Keimzelle 5 verschiedene Anlagen von Ab- änderungen des einen Merkmals enthalten [31, m, Wc, m, //), von denen, da sie ün entwickelten Zustande sich gegenseitig ausschliessen, nur die eine oder andere sich entfalten kann. Im allgemeinen haben M und m die grösste Neigung zur Entfaltung; die Micellanordnungen sammt dem chemischen Charakter im Idioplasma der Eltern sind ja so beschaffen , dass sie ihre Ent- wicklung begünstigen, indess die übrigen Anlagen unter dem l^^infiuss dieser Umstände latent geblieben sind. Im Kreuzungsproduct wird also am ehesten Ji oder m zum sichtbaren Merkmal. Indessen ist auch die Möglichkeit vorhanden, dass die beiden sich vereinigenden Llioplasmen eine derartige neue Zusammenordnung bedingen, dass V. Xägeli, Abstammungslehre. 14 210 IV. Alllugen und siclitbare JMerkiuale. mit dcrsclljen eine der von früher her hitenten Anlagen (9!}J, in, //) besser harmonirt und daher zur Entfaltung gebracht wird, während nun 31 und m als latent bleibende Gruppen im Idioplasma ver- harren. Wenn aber die Abänderungen des Merkmals sich nie h t gegen- seitig ausschliessen, so können in dem Kreuzungsproduct zwei oder drei derselben neben einander auftreten. Es entfalten sich dann in der Regel M und m ; seltener kommt neben 31 oder neben m oder auch neben beiden eine der älteren Anlagen (SO?, m, ,«) zur Entfaltung. Das Manifestwerden und Latentbleiben der bei der Befruchtung zusammenkommenden Anlagen ist eine der merkwürdigsten Er- scheinungen im Leben des Idioplasmas. Es kann bloss von zw^ei Ursachen abhängen: 1) von der Beschaffenheit der einzelnen An- lagen rüeksichtlich ihrer Entfaltungsfähigkeit und 2) von dem Zu- sammenstimmen der einzelnen Anlagen mit der Beschaffenheit des ganzen bei der Befruchtung hergestellten Idioplasmas , besonders aber mit der Beschaffenheit desjenigen Theiles, dessen Entfaltung- unmittelbar vorausgeht oder gleichzeitig stattfindet und zugleich auch örtlich nahe gerückt ist. Was den ersten Punkt, die Beschaffenheit der einzelnen Anlagen selbst betrifft, so können dieselben einen verschiedenen Grad der Stärke besitzen, und wir können uns denselben, um eine concrete Vorstellung zu haben , von der Zahl der Micellreihen (der Micelle auf dem Querschnitt) abhängig denken. So wird eine Anlage , die unter übrigens gleichen Umstände*! aus 12 Micellreihen besteht, sich eher entfalten als eine solche aus 9 Reihen. Da nun jede Anlage während ihrer phylogenetischen Existenz von geringstem Anfange aus allmählich an Stärke zunimmt und dann wieder bis zu völligem Verschwinden allmählich abninnnt, so werden die väter- hchen und die mütterlichen Anlagen für die ungleichen Modifi- cationen des nämlichen Merkmals im allgemeinen eine verschiedene Stärke besitzen und daher auch im Kinde eine verschiedene Neigung sich zu entfalten äussern. Bezüglich des zweiten Punktes oder des Zusammenstimmens der einzelnen Anlagen mit der Beschaffen] leit des übrigen Idio- plasmas mangelt uns eine bestimmte Vorstellung. Ohne Zweifel sind aber theils chemische, theils Configurationseigenschaften die IV. Anlagen uml sichtlnire Merkmale. 211 Ursache davon, das.s die einen Anlagen leichter in den Erregungs- zustand versetzt und dadurcli zur Entfaltung veranlasst werden als andere. Ich will dies den Grad der Stimmung nennen, indem ich mir vorstelle, dass, je besser die Substanz des ganzen Idioplasmas mit derjenigen einer einzelnen Anlage in der chemischen Zu- sammensetzung und in der Morphologie der Micelle übereinstimmt, um so eher die Entfaltungserregung auf diese Anlage übertragen werde. Der Antheil, den im einzelnen Fall die Stärke der Anlage und ihre Stinmiung an der Entfaltung haben, lässt sich fast niemals auseinander halten. Es gibt vielleicht nur einen einzigen Fall, wo der Einfluss der beiden Momente sicher ist, nämlich der Grenzfall, wo die beiden Anlagen, die sich um die Entfaltung streiten, gleiche Stärke und gleiche Stimmung besitzen. Dies gilt für das Geschlecht der getrennt geschlechtigen Organismen, wenn die männlichen und die weil^lichen Geburten gleich zahlreich sind , wie dies beim Menschen der Fall ist. In diesem Falle kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die Anlagen der männlichen und weibliclien Geschlechtsorgane in dem Idioplasma ihre volle Stärke besitzen und auch gleich gut zu der Gesammtstimmung passen. Wenn aber bei einer Art die männlichen oder die weiblichen Geburten der Zahl nach überwiegen würden, so müssten ihre Anlagen entweder stärker sein oder mit dem üljrigen IdiojDlasma besser harmoniren. Das Idioplasma des Keims und des aus ihm hervorgehenden männlichen oder weiblichen Individuums enthält die beiden Gesclüechtsanlagen in unveränderter Stärke und Vollkommenheit, wenn auch die eine derselben sich in Ruhe befindet. Dies geht deutlich aus dem bekannten Umstände hervor, dass alle geschlecht- lichen Eigenthümlichkeiten der Mutter ebensogut durch den Sohn als durch die Tochter, alle geschlechtlichen Eigenthümlichkeiten des A^aters ebensogut durch die Tochter als durch den Sohn auf die Enkel übergehen. Obgleich beide Sexualanlagen gleich stark sind und an und für sich gleich sehr mit dem Gesammtidio^^lasma stimmen, so geht doch diese Uebereinstimmung im Moment des Zusammenkommens bei der Zeugung für die eine derseh^en ver- loren. Diese wird gleichsam in den Hintergrund gedrängt, wo sie sich ausserhalb der Verkettumr botindet, welche die Entfaltuiiusfolcre der Anlagen bedingt. 14* 212 1^^ Anlagen und sichtbare jMerkmale. AVciiii also zwei Anlagen gleiche Stärke und gleiche Stimmnng besitzen, sich aber nicht gleichzeitig und mit einander entfalten können, so hängt es lediglich vom Zufall ab, welche von ihnen, um mich eines Bildes aus der Elektricitätslehre zu bedienen, in die Leitung aufgenommen wird und welche ausserhalb derselben bleibt. Zufall aber nenne ich es, weil die entscheidenden individuellen Ur- sachen unbekannt sind und nur soviel ersichtlich ist, dass beim Menschen die Wahrscheinlichkeit für männliche oder weibliche Zeugung sich die Wage hält, gerade so wie beim Würfeln die Wahrscheinlichkeit für einen geraden oder ungeraden Wurf. — Können die beiden gleichstarken und gleichgestimmten Anlagen sich mit einander entfalten, so erzeugen sie ein Merkmal von genau mittlerer Beschaffenheit. Haben aber die vom Vater und der Mutter geerbten Anlagen ungleiche Stärke bei gleicher Stimmung oder ungleiche Stimmung bei gleicher Stärke, so wird sich dieser Umstand bei der Entfaltung darin geltend machen, dass, wenn sich die Merkmale ausschliessen, das eine häufiger erscheint als das andere, und dass, wenn sie mit einander sich verwirklichen, eine Zwischenbildung entsteht, die dem einen Merkmal sich mehr nähert. Da sich Stärke und Stimmung der Anlagen nicht unterscheiden lassen und wir bloss das Ergebniss der beiden zusammenwirkenden Momente kennen , so lässt sich in jedem einzelnen Fall bloss sagen, ob das bei der Befruchtung zu Stande gekommene Idioplasma des Kindes eine grössere Vorliebe für die bestimmte Eigenschaft des A^aters oder der Mutter zeige. Die merkwürdige Thatsache, dass von zwei (oder mehreren) zusammengehörenden Anlagen, welche verschiedenen Modificationen des nämlichen Merkmals entsj^rechen und durch geschlechthche Befruchtung oder auf andere Weise im Idioplasma vereinigt sind, bald eine einzige bald alle zwei sich entfalten, muss schon in der Constitution des Idioplasmas liegen. Sie kann nur davon abhängen, ob eine allein oder beide in die Kette der Entfaltungsfolge einge- schaltet und demgemäss in den Zustand der Erregung, Avelcher die Entfaltung bedingt, versetzt werden. Dass nicht etwa die Verträg- lichkeit oder Unverträglichkeit der Merkmale im entfalteten Zustande daran schuld ist, ersehen wir deutlich aus denjenigen Beispielen, wo die verschiedenen Modificationen eines Merkmals bald in den Individuen vereinigt, bald auf verschiedene Individuen vertheilt TV. Anlagen und sichtbare ^Merkmale. 213 auftreten. Ueberhaupt lässt sieh die Unverträglichkeit zweier Merkmale kaum denken ; denn selbst die Vereinigung der beiden Geschlechtsorgane wird in ausnahmsweisen Zwitterbildungen voll- zogen und kann nur dadurch erklärt werden , dass die männliche und die weibliche Anlage sich gleichzeitig entfaltet haben. Wenn von zwei Anlagen nur je die eine oder andere in einem Individuum zur Entfaltung gelangi, so müssen wir daraus schliessen, dass in dem Idioplasma eine irgendwie beschaffene Abneigung vor der gleichzeitigen Erregung derselben bestehe. Das Vorhandensein einer solchen Abneigung setzt eine vollständige Selbständigkeit und Trennung der Anlagen voraus. Erreicht die Abneigung nicht den erforderlichen Grad und gelangen demgemäss beide Anlagen mit- einander in einem Individuum zur Entwicklung, so können je nach dem Grade der Zu- oder Abneigung ihre Merkmale auf verschiedene Weise vereinigt sein und somit ein verschiedenartiges Gesammt- merkmal darstellen. Die Verschiedenheiten bewegen sich in allen möglichen Abstufungen zwischen zwei extremen Fällen, von denen der eine die beiden Merkmale in unveränderter Beschaffenheit neben einander hegend, der andere sie ^^ollständig zu einer mittleren Be- schaffenheit dm'clidrungen zeigt. ISIan kann sich das Zustande- kommen dieser verschiedenen Bildungen in einfachster Weise wohl so vorstellen, dass dieselben ein Bild der Anlagen selbst geben, dass entweder die ganzen Anlagen neben einander sich befinden, oder dass sie in grössere oder kleinere, selbst bis in die kleinsten Partien getrennt und durcheinander gemengt sind. Um das Gesagte anschaulicher zu machen, wdll ich es an einem Beispiel erläutern und dazu wieder die Farbe wählen. Es giebt Pflanzen, deren Blüthen zwischen blau, roth, weiss und gelb ab- ändern, und ich will annehmen, dass für diese Farben eben so viele verschiedene Anlagen im Idioplasma vorhanden seien. Obwohl diese Annahme ohne Zweifel nicht ganz den richtigen Ausdruck besitzt, mache ich sie dennoch, da es sich bloss um ein erläuterndes Beispiel handelt, und die Voraussetzung jedenfalls für verschiedene andere Merkmale gelten würde, die aber dem ^''erständniss schwerer zugänglich sind. Gewöhnlich ist eine der Blüthen farl)en die domi- nirende und kommt, wenn jene einander ausschhessen, den meisten Individuen zu. So blüht das Leberblümchen (Anemone Ilepatica) in der Regel blau, ausnahmsweise auch roth oder weiss. In den 214 IV. Anlagen und sic'litl)ar(> Merkmale. rotlieii und weissen ist sicher die ])laue Anlage latent. Würden roth- und weissblübende gekreuzt, so hätten die Kinder rothe oder weisse oder hellrothe Blüthen ; es kämen aber entweder schon in der ersten Bastardgeneration, oder bei strenger Inzucht gewiss in einer folgenden wieder blaublühende zum Vorschein, weil die Natur des Idioplasmas am meisten die Anlage dieser Farbe begünstigt. Die Kreuzung von blauen mit rotlien oder mit weissen ergäbe aber eine ganz überwiegend blaublühende Nachkommenscliaft. Dies gilt für den Fall, dass in einem Pflanzenindividuum nur eine einzige Far- benanlage sicli entfaltet. Können in der nämlichen Pflanze die Anlagen von zwei oder mehreren Blüthenfarben sich verwirklichen, so zeigen dieselben eine grössere oder geringere A'erwandtscliaft zu einander und treten ein- ander mehr oder weniger nahe. Die Befruchtung einer roth- und einer gelbblühenden Pflanze kann })ei ausgesprochener Abneigung der beiden Anlagen , welche dann ungetheilt oder in grösseren Partien neben einander liegen, Kinder erzeugen, welche zugleich rothe Blüthen und gelbe Blüthen tragen, oder Blüthen, an denen die einen Blumenblätter roth, die andern gelb, oder Blüthen, an denen die Blumenl^lätter zur Hälfte roth und zur Hälfte gelb sind (Cytisus Adami). Bei etwas geringerer gegenseitiger Abneigung der Anlagen liegen dieselben in grösseren oder kleineren Partien neben und durch einander. Die Kinder einer roth- und einer weissblühenden Pflanze haben dann bunt gestreifte oder gefleckte Blüthen, indem die rothen und weissen Stellen in verschiedener Gestalt mit einander wechseln. Bei grösster Verwandtschaft der Anlagen findet eine vollständige gegenseitige Durclidringung der- selben statt, und die Blüthen haben eine hellrothe Farbe, weil jeder kleinste Theil Roth und Weiss gibt. Die Nebeneinander- lagerung von grösseren oder kleineren Partien der Merkmale, wie sie in den gestreiften und getupften Blumenblättern oder gar in den Blüthen, deren ganze Blumenblätter ungleich gefärbt sind, vorkommt, stellt eine eigenthümliche und ungewöhnliche Bildung dar, wie sie in den meisten Fällen bloss durch Kreuzung, nicht aber auf dem gemeinen phylogenetischen Wege entstehen kann. Hat das Idioplasma eine grössere Vorliebe für die eine Farben- anlage, so ninnnt, wenn die Far])en getrennt sind, die einc^ derselben einen grösseren Flächenraum ein ; die Blütlien sind beispielsweise IV. Anlagen nnd sichtbare INIorknialo. 215 weiss mit schmäleren rothen Streifen oder mit kleineren rotlicn Tupfen. Wenn aber die Farben sich durchdringen, so nähert sich die Mischfarbe mehr demjenigen Ton, welcher der begünstigten Anlage entspricht. Wenn sich die von Eltern mit verschiedener Blüthenfarbe er- zeugten Bastarde durch Inzucht fortiDflanzen, so kann die Gunst des Idioj^lasmas für die Entfaltung der einen und anderen Farl^e in dem Laufe der Generationen die nämliche bleiben oder sich ver- ändern. Im letzteren Falle drängt die eine Farbe die andere mehr oder weniger zurück, sei es dass sie einen grösseren Flächenraum in Anspruch nimmt als früher, sei es dass sie einen grösseren An- theil an der Mischfarbe erlangt. Sind die Blumenblätter gescheckt und bleibt die Entfaltungsfähigkeit der beiden Farbenanlagen, somit auch das Areal der beiden Farben unverändert, so behält zuweilen die Zeichnung der Blumenblätter mehr oder weniger genau ihren Charakter bei. Häufiger wohl nimmt dieselbe in den auf einander folgenden Generationen einen anderen Charakter an ; die Vertheilung der Farljon hat dann (he Neigung, die Streifen und Flecken zahl- reicher und feiner zu machen und sich somit der Durchdringung (einem homogen erscheinenden Mittelton) zu nähern. Der letztere A'^organg kann als die natürliche Folge der Vermischung zweier Idioplasmen bei der Fortpflanzung erscheinen, so dass gleichsam bei jeder folgenden Inzuchtbefruchtung eines Bastards mit weiss- und rothgefleckten Blüthen ein ähnlicher Process stattfindet, wie bei der ursprünglichen Kreuzung einer weissen und einer rothen Blüthe, wobei die Farbenanlagen getheilt und partienweise neben einander gelagert wurden. Bei der digenen Fortpflanzung (durch Conjugation oder ge- schlechtliche Befruchtung) vereinigen sich die beiden elterlichen Idioplasmen, um das Idioplasma des Kindes zu bilden. Es ist noch die schwierige Frage zu erörtern, wie diese Vereinigung geschehen könne. Man möchte wohl geneigt sein, den Vorgang allgemein als eine gegenseitige Durclidringung zu bezeichnen. Aber damit wäre bloss das Resultat richtig angegeben; die Schwierigkeiten beginnen, wenn man sich eine ^'^orstellung bilden will, wie das Resultat zu Stande komme. Wie ist eine gegenseitige Durchdringung möglich, 21 G I^^' Anlagon und sichtbare Merkmale. da das Idioplasma ein complicirtes System mit festem Zusammenhang der Micelle sein muss? Die Schwierigkeiten wären beseitigt, wenn die Meinung vieler Forscher, es könne die Befruchtung durch eindringende gelöste Stoffe erfolgen, gegründet wäre. Diese Meinung wurde nicht nur für die phanerogamischen Gewächse, sondern auch für einzelne Kryptogamen (so für Peronospora) wurde die aus^ domesticirte Rassen« den letzteren als »natür- lichen Varietäten« gegenüberstellt. Die Rassen bilden sich rasch und verlieren sich ebenso ge- schwind; sie dauern nur bei Ausschluss der C^oncurrenz und oft auch nur bei gehöriger Pflege durch eine Reihe von Generationen. Sie sind in ihren erblichen Merkmalen wenig beständig, werden durch äussere Einflüsse leicht verändert, durch Kreuzung mit anderen Rassen vernichtet, arten selbst bei geschlechtliclier Befruchtung mit ihres Gleichen leicht aus. So erzeugten l^eispiels weise nach der Mittheilung von Darwin in 216 Fällen, wo gleichfarbige Pferde gepaart wurden, 1 1 Paare (also 5 Proc.) Junge mit anderer Färbung. Die Varietäten dagegen entstehen äusserst langsam und haben eine seculare Dauer ; sehr viele Arten sind nachweisbar unter den verschiedensten äusseren Umständen und in ganz ungleicher ge- sellschaftlicher Umgebung seit der Eiszeit un^'erändert geblieben oder nur so äusserst wenig modificirt worden, dass man kaum von der leichtesten Varietätenbildung sprechen kann. Die Varietäten, so weit sie durch äussere Merkmale erkennbar sind, beginnen und bilden sich weiter aus trotz der Concurrenz nächst verwandter Formen, mit denen sie gemeinsam vorkommen. Sie sind in ihren erblichen Eigenschaften ausserordentlich Ijeständig und werden durch die wirksamsten äusseren Einflüsse selbst während der längsten Zeit- räume nicht verändert, eljenso nicht durch Kreuzung mit verwandten Varietäten oder Arten, wie dieselbe in der freien Natur hin und wieder eintritt. Die \' arietäten lassen sich erfahrungsgemäss nicht von den wirklichen Arten unterscheiden, und wenn wir ihnen eine geringere Constanz zuschreiben als diesen, so geschieht dies, weil die Consequenz der Theorie es unabweislich verlangt, nicht weil es durch bestimmte Thatsachen sich beweisen lässt. Diese Darstellung der unterscheidenden Merkmale von Rasse und A^arietät bedarf einer näheren Begründung, da sie von den herrschenden Ansichten wesentlicli al)weicht. Was die Eigenthüm- lichkeiten der Rasse betrifft, so bestellt darüber zwar keine Meinungs- verschiedenheit, da die vielen \'ersuche, die wir den praktischen Thierzüchtern verdanken, und die Erfahrungen der Pflanzencultur darüber hinreichend Aufschluss geben. Anders verhält es sich mit den Varietäten, weil man dieselben thatsächlich gar nicht oder höchstens aus dürftigen und ungenügenden Versuchen kennt und 236 ^^- Varietät, Rasse, Ernährungsmodification. sie daher meistens bloss nach oberfläehhchen Beobachtungen nnd vorgefassten Meinungen beurtheilt. Ziemhch übereinstimmend wird die A^arietät als wenig constant betrachtet, aber aus ganz verschiedenen Motiven. Die Darwinisten, welche von der Beweglichkeit und A'^eränderlichkeit der Rasse aus- gehen, sehen in der Varietät die der Rasse analoge Erscheinung des wilden Zustandes und schreiben ihr daher eine grosse Ver- änderlichkeit zu. Gründe für dieses auf blosser Vernmthung be- ruhende Verfahren vermögen sie nicht anzugeben. Die Art ist ihnen dann begreiflicher Weise, als fortgeschrittene und gefestigtere Varietät, ebenfalls noch ziemlich veränderlich. Die Systematiker der alten Schule dagegen, welche die Arten für absolut beständig halten, betrachten die Varietäten innerhalb der Art als das einzig A'^eränderliche in der organischen Welt. Da aber thatsächliche Anhaltspunkte für dieses A^erfahren eljenfalls mangeln, so werden die Grenzen zwischen dem vermeintlich Be- harrenden und dem vermeintlich allein A^ergänglichen nach sub- jectivem Gutfinden oder auch ganz willkürlich gezogen. Die Ursachen der unrichtigen Ansichten bezüghch der A^ arietäten beruhen vorzüglich in der A^erwechslung von Rasse und A^arietät, ferner in der A^erwechslung von Standortsmodification und A'^arietät und endlich in der A'^erwechslung von zeitlicher und räumlicher Constanz, resp. A^eränderlichkeit ; sie entspringen aus dem Mangel an gründlichen Beobachtungen und aus dem Alangel an genauen Culturversuchen. Icli werde dies im folgenden nacli weisen und dabei an die Ergebnisse anknüpfen, zu denen vorzüglich langjähriges Beol)achten und Züchten der \delförmigsten aller Pflanzengattungen geführt hat. Bei dem fast gänzlichen Alangel an sicheren Thatsachen, betreffend die wildwachsenden Formen, halte ich es für zweckmässig, etwas einlässlicher darüber zu berichten. Ich hatte mich schon in den Jahren 1840 — 1846 mit der Abtheilung Pilosclloiden der Gattung Hieracium beschäftigt und den A^ersuch gemacht, die Formen dersell)en als Stammarten und Bastarde zu unterscheiden, in ähnlicher Weise, wie es für die Gattung Cirsium geschehen war. Nachher verlor ich zwar diese Pflanzen nicht aus den Augen, ohne mich jedoch einlässlicher damit zu V. Varietät, Rasse, Ernährungsinodilicatioii. 237 beschäftigen. Mit dem Jahr 1ares Product liefern. 238 ^^- Varietät, Rasse, Eriiälirungsinixlification. Verluilten der übrigen kräftig vegetirendeii Arten zusammentreten. Die letzteren stimmen alle in den Ergebnissen der Cnltur überein, welche sich unter folgende Gesichtspunkte zusammenfassen lassen: I. Die möglichen Veränderungen, soweit dieselben unserer Wahr- nelnnung zugänglich sind, treten schon im ersten Cultm-jahr ein und sind ganz gleich, ob ein ausgegral)ener Stock in den Garten verpflanzt oder Samen ausgesäet werden^). Sie sind um so grösser, je mehr die Ernährungsfähigkeit des natürlichen Standortes und des Gartens verschieden ist. Die kleinen Alpenhieracien werden gross, stark verzweigt und reichblütig, so dass man sie oft kaum wieder erkennt. Versetzt man die in dieser Weise auf dem Gartenbeet ver- änderten Pflanzen auf einen mageren Kiesboden, so erhält man wieder die urs})rüngiichen alpinen Exemplare. Diese Veränderungen sind also nicht er1)lich, und bestehen bloss in einem kümmerlichen oder üppigen AVachsthum. Sie bewegen sich innerhalb der onto- genetischen Elasticitätsgrenze und bedingen die Standorts- oder Ernährungsmerkmale . II. Die Merkmale, wodurch sich zwei auf dem nämlichen Stand- orte wachsende Arten oder Varietäten unterscheiden, bleiben im Culturzustande durchaus constant, so dass also die üppig und gross gewordenen Alpenpflanzen die nämlichen charakteristischen Unter- scheidungsmerkmale zeigen, wde die kleinen Pflanzen, von denen sie herstammen. Man könnte erwarten und es würde den herr- schenden Ansichten entsprechen, dass bei einem so eingreifenden Wechsel der Ernährungs- und der klimatischen Einflüsse, wie er beim Verpflanzen aus den Alpen oder dem Norden, aus Italien oder Ungarn in den Münchner Garten eintreten muss, kleine Verschieden- heiten verschwinden oder entstehen möchten. Dies ist nicht der Fall; auch die geringsten erbliclien Merkmale erweisen sich als beständig. Für diese Beständigkeit innerhalb einer fast unendlichen Viel- förmigkeit finden wir die besten ßew^eise in den Ergebnissen einer systematischen Bearbeitung, welche ich begonnen hatte und die von Dr. Peter seit 7 Jahren fortgesetzt und in der einen Gattungs- 1) Um vollständige (fciwissheit zu erhalten, habe ich mehrmals eine i'llanze aus dem Gebirg lebend in den Garten versetzt und zugleich Samen, die von der nämlichen T'Hanze abgenommen worden, ausgesäet. V. Viirit'tat, Russe, EnialinuigsniDdilication. 2oV* al)tlieiliing beendigt wurde. Von der Section der Piloselloideu allein, Avelche Grisebticli in 25 Arten und 12 Varietäten, Fries in 42 Arten getlieilt hatte, sind jetzt 2800 untersclieidbare ^^Q'ietäten bekannt, -welche alle nach den Culturresultaten, die ein Theil derselben ergel>en hat, als durchaus constant betrachtet werden müssen. Aus den beiden unter I und II angeführten Thatsachen geht einmal klar hervor, dass man die Verschiedenheiten zweier Arten oder Varietäten nur dann richtig berurtheilen kann, wenn sie entweder unter ganz gleichen Ernährungs- und klimatischen Einflüssen, also auf dem gleichen Standorte vorkommen, oder wenn man sie auf den gleichen Standort verpflanzt liat. Als passendster gemeinsamer Standort ist aber der Garten zu betrachten, weil er einen mittleren, gleichsam neutralen Charakter hat und die Pflanzen vor der Con- currenz schützt. — Wenn zwei Pflanzen neben einander wachsen, so sind die durcli verschiedene Ernährung und verschiedenes Klima bedingten, veränderlichen Merkmale gleichgemacht und die übrig- bleibenden Verschiedenheiten müssen erbliche sein. Vergleicht man aber Pflanzen von verschiedenen Standorten und aus verschiedenen Gegenden mit einander, so läuft man Gefahr, Ernährungsverschie- denheiten als erbliche zu betrachten, und man kann dieser Gefahr , wenn die Cultur nicht ausführbar ist, nur dann entgehen, wenn man sich durch die Cultur verwandter Pflanzen ein Urtheil bilden konnte, was hier erblich und was veränderlich ist. Ich finde mich zu dieser Bemerkung besonders deswegen veranlasst, weil bei der herrschenden und gewiss gerechtfertigten Neigung der Systematik, immer mehr Formen zu unterscheiden, es auch immer häufiger vor- kommt, dass man nicht constante Standorts - oder Ernährungsmerk- male irrthümhcher Weise in die Diagnosen aufnimmt und zur Unter- scheidung benützt. Aus den Beobachtungen an der Gattung Hieracium ergibt sich ferner auf das deutlichste, dass man strenge zwischen Einförmigkeit und Constanz unterscheiden muss, und eljenso zwischen Vielförmig- keit und Veränderlichkeit. Es sind dies Begriffe, die stets von den Systematikern verwechselt werden. Eine Sippe mit zahlreichen Formen, besonders wenn diese in einander übergehen, heisst variabel, und ein Merkmal, das sich allmählich abstuft, wird ebenfalls als ein veränderliches bezeichnet ; man sollte aber in diesen Fällen bloss von Vielförmigkeit sprechen. Die Beobachtung und Vergleichung 240 ^^- Varietät, Rasse, Ernahruugsmodificatioii. vieler gleichzeitiger Individuen gibt ja nur über die räumliche Beständigkeit, um mich dieses Ausdrucks zu bedienen, nicht über die eigenthche oder zeitliche Constanz Aufschluss. Man kann zwischen manchen Hieracienarten aus Exemplaren verschiedener Standorte eine ununterbrochene Reihe herstellen, so dass man von einem gleitenden Uebergang von der einen zur andern Art sprechen darf. Man hat aber Unrecht, dies als ^'eränderhcllkeit zu bezeichnen, denn Jedes einzelne Glied der Reihe bringt eine ganz o-leiche Nachkommenschaft hervor und verhält sich bei der Fort- Pflanzung durch eine Reihe von Generationen ebenso constant als eine Pflanzenart, die durch keine Uebergangsglieder mit anderen Arten zusammenhängt. Die Gattung Hieracium ist offenbar die vielförmigste aller Pflanzengattungen; aber wir haben keinen Grund, ihr eine grössere (zeitliche) Veränderlichkeit zuzuschreiben als anderen Pflanzen. Desgleichen scheinen die Gattungen Rubus und Rosa wohl vielförmig, aber nicht variabel zu sein. Was von der ganzen Pflanze, gilt auch von jeder einzelnen Eigenschaft. Ein Merkmal, das in allen Individuen einer Varietät oder einer Art sich ganz gleich verhält, darf deswegen noch nicht auch als wirklich constant betrachtet werden. Die Uebereinstimmung kann ja daher rühren, dass die Ernährungseinflüsse die nämlichen sind; das angebhch constante Merkmal würde sich dann unter anderen Einflüssen verändern. Es wäre zweckmässig, der räumhchen Constanz eine besondere Bezeichnung zu geben und sie etwa »Per- manenz« zu nennen. Der Systematiker, der nicht im Falle war, seine Pflanzen hinreichend durch die Cultur zu prüfen, weiss in der Regel nur, ob die Merkmale mehr oder weniger permanent sind. Manchmal zwar wird die Permanenz auch der Constanz entsprechen ; sehr häufig aber wird dies nicht der Fall sein. Immerhin wäre die Unterscheidung schon im Interesse des besseren Verständnisses wünschbar, indem man beim jetzigen Sprachgebrauch nicht weiss, ob ein constant genanntes Merkmal sich bei der Fortpflanzung unter ver- schiedenen Umständen als erblich erweist, oder ob es nur bei allen beobachteten Individuen unverändert, also permanent gefunden wurde. Die Cultur der Hieracien hat, wie ich zeigte, das Ergebniss geliefert, dass die Ernährungs- oder Standortsmodificationen nicht die geringste Constanz erlangen, auch wenn dieselben durch noch V. Varietät, Rasse, Ernälirungsmodification. 241 SO lange Zeiträume gleich geblieben sind. Kleine einköpfige Alpen- pflanzen nehmen im Garten schon während des ersten Sonnners den Habitus der Ebenenpflanzen an und werden gross, verzweigt und vielköpfig, während ihre erblichen Merkmale sich ganz unver- ändert erhalten. Dies gilt niclit bloss für morphologische Charaktere, deren man sich gewöhnlich bei der Vergleichung bedient, sondern auch für physiologische und biologische Eigenschaften. Ich will noch die Ergebnisse bezüglich einer der letzteren mittheilen, weil hier eine viel grössere Genauigkeit möglich ist als bei Merkmalen der Gestaltung. Die Blüthezeit ist ein leicht zu beobachtendes Merkmal, das auch als sehr constant zur Charakteristik einzelner Pflanzenarten benutzt wird. Es war von Interesse zu erfahren, wie sich die zahl- reichen, neben einander cultivirten Hieracienformen in dieser Be- ziehung verhalten, ob und welche constante A'^erschiedenheiten sie zeigen, und ob ein langer Aufenthalt auf Standorten, die eine frühe oder eine sj^äte Blüthezeit bedingen, irgend eine dauernde Veränderung zurückgelassen habe. Es wurde daher seit dem Frühjahr 1869 jährlich an allen Sätzen des Gartens das Aufblühen notirt. Bezüglich der letzten Frage war die einstimmige Antwort aller Varietäten und Arten, dass die äusseren Einflüsse, die während einer säcularen Dauer auf die Pflanzen einwirken, und eine eben so lange Gewohnheit, frühe oder spät zu blühen, bedingen, keine erbliche Veränderung hervorbringen. Die gleichen Varietäten, die im Hochgebirg einen Monat später, im Süden fast einen Monat früher blühen als in der bayerischen Ebene, gelangen, nachdem sie von diesen drei verschiedenen Standorten in den Garten gebracht wurden, am nämlichen Tage zur Blütlie. Dies gilt für alle kleineren liieracien. - — Von den hoch" 'üchsigsten, als Accipitrinen bezeichneten Sij^pen blühen die an der mittelländischen Küste auf trockenen und heissen Standorten lebenden in ihrer Heimath erst im Herbst, etwa 4 Wochen später auf als die ihnen verwandten Formen in unserer Gegend ; in den Garten verpflanzt entwickeln sie ihre Blüthen zu gleicher Zeit mit unseren Accipitrinen^). Ebenso blüht das aus Dalmatien in mehreren Stöcken in den Münchener Garten gebrachte H. stuppeum, das auf dem heissen felsigen Boden seiner Heimath ^) Hiervon inaclien unter vielen Sätzen nur zwei eine Ausnahme. V. Nägeli, Abstammungslehre. IQ 242 ^- Varietät, Rasse, Ernähningsmocliflcation. erst Ende Septem lier zur Blüthe gelangt, bei uns schon 6 Wochen früher und stellt sich damit seinen Verwandten ziemlich gleich. Versuche, die einen gleichen Zweck verfolgten, hat A. de Can- d olle im Jahre 1872 veröffentlicht^). Derselbe säete Samen der näm- lichen Arten aus verschiedenen Gegenden Europas aus und beob- achtete die Zeit des Keimens und Blühens. Er glaubte daraus auf Verschiedenheiten, die oft erblich seien, schliessen zu dürfen, welche die Pflanzen an ihren verschiedenen Wohnorten erlangt hätten. Seitdem sind auch andere ähnliche Versuche bekannt gemacht worden. Der Grund, warum die Experimente de C and olle 's Ver- schiedenheiten zwischen den Samen aus verschiedenen Gegenden und somit einen Einfluss des Wohnortes, also ein abweichendes Resultat von den Beobachtungen an den Hieracien, ergeben haben, ist nicht etwa darin zu suchen, class verschiedene Pflanzen sich ungleich verhalten, sondern eher in der Mangelhaftigkeit der Frage- stellung und Ausführung bei jenen Versuchen. Wenn Samen der nämlichen Pflanzenart, beispielsweise, wie es geschehen ist, solche, die in Moskau, Edinburg, Montpellier und Palermo von wild- wachsenden Pflanzen gesammelt worden, mit einander ausgesäet werden, so wird die Zeit des Keimens und Blühens nicht von einer, sondern von mehreren Ursachen bedingt. Das Ergebniss ist daher vieldeutig, und wenn jene Ursachen nicht durch Elimination auf eine einzige reducirt werden, so müssen die ^^ersuche stets ungleich und zweifelhaft ausfallen. Die Ursachen, welche auf das Resultat Einfluss haben, sind vorzüglich dreierlei. 1. Die Pflanzen einer Art, die in einer Gegend oder in verschiedenen Gegenden wachsen, können verschiedenen, mor23hologisch vielleicht nur schwer erkennl)aren, Varietäten ange- hören. Man muss sich daher vor allem und durch die geeigneten Mittel davon überzeugen, wie es sich in dieser Beziehung verhält. Es ist möglich, dass in einer Gegend zwei Varietäten vorkommen und in einer anderen Gegend nur eine derselben, und dass man, wenn einem der Zufall die ungleichen Varietäten in die Hand spielt, die Verschiedenheit mit Unrecht auf Rechnung der Gegend setzt ^). ') Arch. des sc. de la bil)l. nniv. Juin 1872. 2) Bezüslieli der Tlicracien fällt dieser Einwurf schon deswegen hinw^eg, w^eil die Blütliezeit von Formen verschiedener Herkunft, wenn sie sicli unter gleichen V. Varietät, Rasse, Emährungsmodification. 243 2. Die Samen, die in dem nämlichen Jahre in verschiedenen Gegenden Europas gesammelt werden, haben sich unter Witterungseinflüssen von ungleicher Gunst gebildet. Es ist möglich, dass in dem einen Jahr die Moskauer, in einem anderen Jahr die Palermitaner Samen im Vortheil sind. Man muss also die Versuche durch eine Reihe von Jahren wiederholen. 3. Die Auspflanzungen, die neben einander auf einem Pflanzenbeet oder in Töpfen bewerkstelligt werden, sind häufig nicht strenge vergleichbar, weil die chemische und phj'sika- lische Beschaffenheit des Bodens oder die Befeuchtung desselben etwas ungleich ausfallen. Säet man Samen vom gleichen Stock, selbst aus der gleichen Blüthe, anscheinend unter ganz gleichen Verhältnissen aus, so erhält man bezüglich der Zeit des Keimens und Blühens oft Abweichungen von einigen Tagen. Vergleichende Versuche haben daher nur dann Werth, wenn jede Samenart nicht ein Mal, sondern ein Dutzend Mal ausgesäet wird, um ein Durch- schnittsverhalten zu bekommen. Aus diesen kritischen Bemerkungen geht deutlich hervor, dass die Aussaaten, die bis jezt gemacht wurden, resultatlos bleiben mussten. Um zu sicheren Ergebnissen zu gelangen, sind die Ver- suche mit anderen Methoden und in einem viel umfassenderen IMaassstabe auszuführen. Da es sich dabei besonders auch um die Frage handelt, ob allfällige Verschiedenheiten erblich sind, so müssen endlich die Aussaaten durch eine Reihe von Generationen an dem nämlichen Orte fortgesetzt werden. Ich bin auf diese Versuche von A. de Candolle näher ein- getreten, weil durch dieselben die so häufig ohne Begründung be- haujjtete Einwirkung der Ernährung und des Klimas auf die Varietäten- bildung in anscheinend exacter Weise ermittelt werden soll, und weil es für die Theorie der Abstammung von so grosser Wichtigkeit ist, diejenigen äusseren Einflüsse, welche den Organismen bloss Kraft und Stoff für die phj'^siologische Arbeit zuführen, und welche die Standortsmodi ficationen verursachen, von denjenigen, welche als Reize wirken und dauernde Veränderungen hervorzubringen im Stande sind, zu scheiden. klimatischen Einflü8seu befinden, übereinstimmt und es sich also nicht um die ErkläruniT von Abweichungen handelt. TJebrigens ist tlie kritische Prüfung der Formen nach allen Eichtungen hin ausgeführt worden. 16* 244 V- Varietät, Rasse, Ernährungsmodification. Die Gültigkeit der an den Hieracien gewonnenen Resultate wird durch die übergrosse Zahl von übereinstimmenden Beobachtungen über jeden Zweifel erhoben. Wäln^end 13 Jahren wurden mehr als 16000 Aufzeichnungen gemacht. Es ist besonders auffallend, wie die meisten Piloselloiden (eine Ausnahme machen namentlich die grösseren Formen mit beblättertem Stengel, die entschieden später blühen) ohne Rücksicht auf ihre Herkunft, nordische, südliche, alpine und campestre, gleichzeitig ihre Blüthen öffnen. Die Alpen- bewohner, die in ihrer Heimath gleichzeitig, aber je nach der Meeres- höhe 3 bis 5 Wochen später aufblühen als ihre A^er wandten der Ebene, verhalten sich in der Ebene genau wie diese letzteren. Dies ist um so bemerkenswerther, als einige von den Alj)enbewohnern (wie H. Hoppeanum) nicht nur seit der Eiszeit sondern viel länger unter einem Alpenklima gelebt, und ebenso einige von den Bewohnern der Ebene (wie H. collinum) die Einwirkung des Ebenenklimas schon seit einer voreiszeitlichen Ej)oche erfahren haben. Es sind das nämlich einerseits diejenigen Arten, die ausschliesslich den Alpen angehören und während der Eiszeit in der Ebene lebten, andererseits diejenigen, die nur in der Ebene fortkommen und nach der Eiszeit aus dem Osten eingewandert sind. Bei diesen Beobachtungen an den Hieracien zeigte sich auf das deutlichste, wie wichtig es ist, dieselben an einer grösseren Zahl von Sätzen anzustellen und durch eine Reihe von Jahren fort- zusetzen. Einige wenige Beobachtungen geben immer ein unsicheres Resultat, indem nicht mir die äusseren Umstände, sondern auch das von unbekannten Ursachen abhängige Wohlbefinden der Pflanzen einen merkbaren Einfluss ausübt. Man versteht leicht, dass ein etwas schattigerer Standort, das spätere Wegschmelzen der Schneedecke, ein etwas feuchterer Boden die Blüthezeit um Tage, selbst um eine Woche verzögert. Aber es kommt stets vor, dass, obgleich ein Unterschied in den äusseren Umständen nicht wahrnehmbar ist, die unmittelbar nebeneinander befindlichen Pflanzen sich doch etwas ungleich verhalten. Man theilt beispielsweise einen Satz von Hieracien in zwei Sätze, die bloss einen Meter von einander entfernt sind, und dennoch blüht zuweilen der eine etwas früher als der andere. Dass diese Verschiedenheit nicht constant ist, sondern nur von unbe- kanntem Wohlbefinden abhängt, geht daraus hervor, dass in einem andern Jahr das Verhältniss sich umkehrt und dass der Satz, der V. Varietät, Rasse, Ernährungsmodification. 245 in einem vorhergehenden Juln* um einige Tage früher blühte, jetzt um einige Tage später blülit. Ein ähnhches wechselndes Verhalten zeigen nun auch die Scätze von verschiedenem Ursprung ; bald ist der eine, bald der andere der geförderte, bei einem Durchschnitt von 8 und mehr Jahren aber verschwinden die Verschiedenheiten gänzlich. Eine solche Uebereinstimmung besteht aber nur zwischen den Pflanzen, die sich in voller '\^egetationskraft befinden. Man muss sich wohl hüten, nicht solche von ungleicher Vegetation mit einander zu vergleichen. Es gibt immer einzelne Stöcke, oft auch ganze Sätze, die mehr oder weniger leidend sind, nicht kräftig sich entwickeln und die auch zu anderer Zeit blühen. Man unterscheidet solche Stöcke und Sätze leicht an der Farbe, Grösse und Zahl der Laub- blätter, sowie an dem schwächlichen Wuchs. Hieracien, die sich in diesem abnormalen Zustande befinden, blühen später, wenn es kleinere Arten mit Blattrosette und schaftartigem Stengel sind, früher, wenn es grössere Arten mit beblättertem Stengel sind, wobei dann der Stengel kürzer oder spärlicher beblättert wird. Die Beobachtung an den Hieracien ergibt unzweifelhaft, dass erbliche, sowohl morphologische als physiologische Eigenschaften durch ein noch so langes Verweilen unter besondern klimatischen und Ernährungseinflüssen nicht geändert werden. Die Accommodation an die äusseren Umstände dauert nur so lange, als diese vor- handen sind. Werden die äusseren Umstände andere, so verändert sich auch die Accommodation, und von einer Gewohnheit, welche die Dauer einer Erdperiode hatte, bleibt nichts zurück. Die Hieracien, die in Cultur genommen werden, besitzen noch die Natur der wilden Pflanzen und offenbaren uns das Verhalten der natürlichen Varie- täten. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass, wenn ihre Cultur ein praktisches Interesse gewähren und durch lange Zeiträume fort- gesetzt würde, sie in den nämlichen Zustand gelangen müssten, wie die übrigen domesticirten Pflanzenarten. Durch reichliche Kreuzung und durch das Aufhören der Concurrenz würden variable Rassen- merkmale entstehen, und auch die Blüthezeit, die jetzt in den natür- lichen Varietäten eine so zähe Constanz zeigt, könnte dann zu einer leicht veränderlichen Grösse werden. Dies beweist uns, dass bei Beobachtungen über die Beständigkeit der Eigcnscliaften eines Orga- 246 ^- Varietät, Rasse, Ernährungsmodification. iiismus vor allem festzustellen ist, ob er sich noch in dem natür- lichen Zustand befinde, oder ob er eine mehr oder weniger lange Culturperiode durchgemacht habe. Der Unterschied zwischen Varietät und Rasse, die Einförmigkeit und Beständigkeit der ersteren, die Vielförmigkeit und Unbeständig- keit der letzteren, kann nur begriffen werden, wenn man auf die Ursachen dieser Erscheinungen eingeht. Die Meinungen, die man darüber ausgesprochen hat, betreffen entweder Nebenumstände oder sind auch ganz ungegründet, wie ich dies bezüglich der vermeint- lichen Einförmigkeit der LelDcnsbedingungen im Naturzustande und ihrer vermeintlichen Vielförmigkeit in der Domestication ausgeführt habe (S. 233). Der Schlüssel zu dem Räthsel findet sich lediglich in dem Umstände, dass die Rassen, im Gegensatze zu den Varietäten, entweder das Product vielfacher vorausgehender Kreuzung oder un- gehemmter und geschützter Entwicklung von Störungen im normalen Lebensprocess sind. Es gibt wohl keine Culturpflanze und kein Hausthier mit vielen Rassen, welches nicht von zwei oder mehreren wilden Arten ab- stammte und bei welchem nicht die Kreuzung so erfolgreich gewesen wäre, dass die Grenze zwischen jenen Arten vollkommen verwischt wurde. So kommen unsere fast zahllosen ßirnsorten wahrscheinlich von zwei wilden Pyrus- Arten, die Apfelsorten ebenfalls von zwei wilden Arten, die Sorten der Weinrebe von zwei oder drei Arten von Vitis her. — Durch die wiederholte Kreuzung der Nachkommenschaft zweier oder mehrerer Arten werden nicht nur die sichtbaren Merkmale der letzteren in der mannigfaltigsten Weise cüml)inirt und al:)gestuft, sondern es werden auch latente Anlagen derselben zur Entfaltung gebracht oder unter Betheiligung der latenten Anlagen und unter dem Einfluss der durch die hybride Mischung abgeänderten Con- stitution des Idioplasmas die Merkmale der Stannneltern in viel- facher Weise umgebildet. Durch die Beseitigung aller Concurrenz und die Pflege der Cultur vermögen ferner Metamorphosen und Monstrositäten sich aus- zubilden. Dieselben haben wolil immer in latenten, nun zu abnor- maler Entwicklung gelangenden Anlagen ihren Ursprung, weshalb sie auch sich stets gewissermassen als Rückschläge kund geben. Dieselben bieten, namentlich wenn Kreuzung hinzukommt, die A^eranlassung zu vielfach vermehrter Abänderung. V. Varietät, Kasse, Ernälu'ungsuKHlification. 247 Bei der E-assenbildung in Folge von li}'bridcr Kreuzung mid von Metamorphosirung werden also nicht wirklich neue Anlagen erzeugt, sondern bereits vorhandene in anderer Weise combinirt inid bisher latent gebhebene ^^^eder lebendig gemacht. Deswegen geht die Veränderung der Rassen so ausserordentlich rasch vor sich. Bei der Varietätenbildung dagegen entstehen neue Anlagen, indem das Idioplasma clm-ch den innewohnenden Vervollkommnungs- trieb und durch che als Reize wirkenden äusseren Einflüsse stetig sich verändert. Diese Veränderung geschieht in allen Individuen, weil die Ursachen die nämlichen sind, gleichsinnig ; daher zeigen die A^irietäten eine so auffallende Einförmigkeit. — Ferner haben die äusseren Einflüsse häufig, da die Organismen denselben bereits an- gepasst sind, keine Gelegenheit, ihre Wirksamkeit zu äussern, und wenn sie auch eine andere Anpassung verlangen, so scheinen sie die Veränderung doch nm' nach Maassgabe, als das Idiojilasma durch innere Ursachen sich umbildet, bewirken zu können (vgl. S. 181). Diese durch den Vervollkommnungstrieb erfolgende Complication in der Configuration des Idioplasmas steigert sich aber äusserst lang- sam, bis die fertig gewordenen Anlagen sich als sichtbare Merkmale zu entfalten vermögen; daher bleiben die Varietäten durch lange Zeiträume äusserlich unverändert. Kreuzungen und Rückschläge durch Störungen finden in den Varietäten wohl statt, — aber, da ihre Träger durch die Concurrenz sofort beseitigt werden, nur vereinzelt und ohne Wirkung auf die ganze Sippe ; sie vermögen also die Ein- förmigkeit und Stetigkeit der Varietäten nicht zu trüben. Kurz ausgedrückt können wir sagen : Bei der (künstlichen oder domesticirten) Rassenbildung wird nicht die Summe der idioj^las- matischen Anlagen, sondern nur das Gleichgewicht zwischen den- selben oder das Verhältniss von manifest werdenden und latent bleibenden Anlagen geändert ; bei der (natürlichen) ^^arietätenbildung dagegen vermehrt sich die Summe der Anlagen. Bei der ersteren wird die Configuration des idioplasmatischen Systems durch Yer- schiebung von Micellgrui^pen bloss modificirt, bei der letzteren aber durch Einschiebung neuer Gruppen, durch scliärfere Scheidung der vorhandenen Grupj^en und durch Ditfercnzirung in ihrem Innern erweitert und bereichert. 248 V. Varietät, Rasse, Ernähruiigsniodiflcation. Die A'^arietäten unterscheiden sich von den Rassen im allge- meinen durch ihre Einförmigkeit und Beständigkeit. Die Ein- förmigkeit rührt daher, dass die nämlichen abändernden Ursachen auf die Individuen einer Sippe einwirken, die Beständigkeit daher, dass Kreuzung zwischen Varietäten nicht häufig stattfindet und dass die Bastarde in der Concurrenz bald unterliegen und verdrängt werden. Als Beispiel und Beweis hiefür kann die grosse Mehr- zahl der Pflanzensippen angeführt werden. Gleichwohl gibt es Fälle, welche bezüglich der Einförmigkeit der Varietäten scheinbar eine Ausnahme machen; es gibt in wenigen Gattungen auch viel- förmige Varietäten. Um diese Ausnahme zu verstehen und in das richtige Verhältniss zur Regel zu bringen, müssen vnr die Entstehung der Varietäten etwas genauer betrachten. Es wird sich dann zeigen, dass die Einförmigkeit und Vielförmigkeit derselben auf den nämlichen Ursachen beruhen und eigentlich die nämliche Erscheinung nur in verschiedener Ab- stufung sind. Wir müssen aber zum voraus festhalten, dass die Eigenschaften der Varietäten nur erbliche sein können, und dass also die mannigfaltigen , unendlich abgestuften , nicht erblichen Merkmale, welche die äusseren Einflüsse unmittelbar hervorl)ringen, nicht die Vielförmigkeit der Varietät, sondern die Vielförmigkeit der Modification bestimmen, von der ich nachher sprechen werde. Eine andere, durch die Kreuzung hervorgebrachte Vielförmigkeit ist, da dieselbe der Rassenbildung angehört, ebenfalls auszuschliessen ; ich werde aber, weil es sich hier um erbliche Eigenschaften handelt, die Grenze zu bestimmen suchen, wo die Varietätenbildung aufhört und die Rassenbildung beginnt. Die Vielförmigkeit der Varietäten gibt sich in den Anpassungs- merkmalen kund und beruht auf der Mannigfaltigkeit der äusseren Einwirkungen und auf den verschiedenartigen Reactionen, welche in den nämlichen Organismen eintreten können. Wir haben zwei allgemeine Fälle zu unterscheiden, je nachdem nächst verwandte Varietäten räumlich getrennt und somit isolirt, oder aber in der nämlichen Gegend gesellschaftlich entstehen. Eine einförmige Sippe begebe sich auf die Wanderung und verbreite sich so ühev ein grosses Gebiet, dass ihre einzelnen Stationen zerstreut sind und nicht unter einander zusammenhängen. Da die äusseren Ursachen sich mannigfaltig combiniren und abstufen , so V. Varietät, Rasse, Ernährangsinodification. 249 empfängt möglicher Weise die Anpassung der Sippe in jeder Station einen etwas anderen Impuls und geht in eine etwas andere erbliche Form über. Anfänglich sind die neuen erblichen Merkmale gering und verschwinden unter den unbeständigen Modificationsmerkmalen. Sie werden nach und nach deutlicher ; die eingewanderte einförmige Sippe ist vielförmig geworden. Aber die Vielförmigkeit besteht, wenn wir sie als Vielförmigkeit der Varietät auffassen, nur darin, dass die Formen der verschiedenen Stationen noch zu wenig von einander abweichen, um sie als eben so viele besondere A^arietäten zu betrachten. In Wirkliclikeit sind es beginnende Varietäten, die sich wie ächte Varietäten verhalten; denn jede ist selbst einförmig und zeigt sich unter verschiedenen Ernährungseinflüssen constant, wie uns das Beispiel der Gattung Hieracium aufs deutlichste zeigt. Bestehen die angegebenen Ver- hältnisse während hinreichend langer Zeiträume unverändert fort, so erlangen die Anpassungsmerkmale nach und nach ihre grösstmög- liche Ausbildung, und die beginnenden Varietäten können schhesslich zu entschiedenen Varietäten und Arten werden. In dem vorstehenden Falle wurde angenommen, dass die auf jede Station gekommene einförmige Sippe in allen ihren Individuen durch die daselbst herrschenden einförmigen Einflüsse die näm- lichen Eindrücke empfangen und sich demgemäss gleichförmig um- gebildet habe. Diesses Ergebniss wird aber nur ziemlich selten eintreffen, da aus verschiedenen Gründen eine ungleichartige Ab- änderung der Individuen, welche auf derselben Station leben, wahr- scheinlich ist. Die nächstliegende Möglichkeit besteht darin , dass die äusseren Einflüsse, welche erbliche Abänderungen bedingen, nicht gleichartig sind und daher auch ungleiche Anpassungen be"w^rken. Eine andere Möglichkeit ist aber auch die, dass gleichartige äussere Einflüsse bei verschiedenen Individuen verschiedene Reactionen hervorrufen. Sind die Einflüsse schädlicher Natur, so stehen dem Orga- nismus oft verschiedene Mittel zu Gebote, um sich dagegen zu schützen ; sind sie günstig, so vermag er sich dieselben durch verschiedene neue Einrichtungen nutzbar zu machen. Es können also bei scheinbar gleichartigen Organismen auf scheinbar gleicliartige äussere Einwir- kungen hin ungleichartige Anpassungsmerkmale entstehen. Dieser Ausspruch darf nicht missverstanden werden. Es ist selbstverständlich , dass identische Organismen unter identischen 250 ^- Varietät, Rasse, Ernähruugsmodification. äusseren Verhältnissen auch nm* in ganz gleicher Weise sich ver- ändern. Aljer es sind, wenn auch die als Reiz wirkende abändernde Ursache die nämliche ist, theils die Dispositionen in den Individuen, theils die äusseren Umstände, welche das Wachsthum der Individuen bedingen, ungleich. Bei den Pflanzen ist die Nahrung, die Feuch- tigkeit, der Lichteinfluss, die Einwirkung der organischen Umgebung oft auf die kürzesten Entfernungen ungleich, und wenn dadurch auch bloss die Ernährung modificirt wird, so hat die Ernährung, wiewohl sie nicht in directer Weise erbliche Veränderungen bewirkt, doch ebenso wie auf die Entfaltung der idioplasmatischen Anlagen, auch auf die Bildung derselben einen fördernden oder hemmenden Einfluss. Machen wir beispielsweise die Annahme, eine Pflanze sei ihrer Natur nach befähigt, auf den Reiz , den der Angriff eines Thieres auf die Frucht ausül^t, drei verschiedene Reactionen zum Schutze der Samen eintreten zu lassen : entweder bilden sich bittere und giftige Stoffe in derFruchtwandung, oder die Fruchtwandung wird hart und fest, oder sie bewehrt sich mit stachlichon Auswüchsen. Hat die Pflanze eine gleiche Neigung zu diesen Reactionen, so kann die Wahl der einen oder andern durch die ungleiche Ernährung bestimmt werden. Es kann also in den gesellschaftlich lebenden Individuen einer Sippe die Anpassung aus verschiedenen Gründen in ungleicher Weise beginnen. Wie ich früher wahrscheinlich gemacht habe, trifft die von äusseren Reizen bewirkte erbliche Veränderung zuerst das Idioplasma. Würde sie aber auch in j)rimärer Weise den ent- falteten Organismus treffen, so müsste doch gleichzeitig das Idio- plasma mit verändert werden, weil sonst eine Vererbung unmöglich wäre. Ich kann also für alle Fälle die Veränderung des Idioj)lasmas der Betrachtung zu Grunde legen. Sind nach Lage der Umstände mehrere Anpassungen möglich, so kann die begonnene Veränderung denkbarer Weise durch zwei Ursachen gestört werden, 1) dadurch, dass die Abstammungslinien, deren Anpassung unter bestimmten Einflüssen angefangen hat, durch die Verbreitung der Keime unter andere, eine verschieden- artige Anpassung bedingende, Einflüsse kommen , 2) dadurch, dass die Individuen jener verschiedenen Abstammungslinien sich mit einander kreuzen. Um die erste Frage zu erörtern, nehmen wir am zw^eckmässigsten an, dass die Organismen sich auf ungeschlechtlichem Wege fort- Y. Varietät, Rasse, Ernährungsmodiflcation. 251 pfiaiizeii, um dadurch die Complication der Kreuzung zu climiniren. Wechselt nun eine AbstammungsHnie ein- oder mehrmals ihren Aufenthalt, so dass bald die einen bald die anderen Einflüsse auf sie einwirken, so kann das Ergebniss sehr ungleich ausfallen , je nach dem gegenseitigen Verhalten der verschiedenen Anlagen, die den einen und den anderen Einflüssen entsprechen. Wir können in dieser Beziehung folgende vier Fälle unterscheiden. * 1. Der einfachste Fall ist, dass die verschiedenartigen Einflüsse Anpassungsanlagen (P, Q, R . . .) hervorbringen, welche unabhängig von einander sind, sich neben einander bilden und deren Entfaltungs- merkmale ebenfalls neben einander bestehen können. Der Erfolg wird nun von der Länge der Zeit abhängen, während welcher jede Abstammungslinie die einen und die anderen Einflüsse erfahren hat. Es grenzen beis2)ielsweise zwei Standorte an einander, von denen der eine die Anpassungsanlage P, der andere die Anlage Q bewirkt ; die Uebersiedelung von einem Standort auf den andern findet häufig statt. Auf den beiden Standorten kommen somit dm^ch einander Individuen vor, in denen die beiden Anlagen P und Q ungleich weit entwickelt sind, deren Stärke selbstverständlich im umgekehrten Verhältniss zu einander steht. Geht die Entfaltung der Merkmale Hand in Hand mit der Entstehung der Anlagen, so finden sich auf jedem Standort alle möglichen Abstufungen der Ijeiden ISIerkmale. Müssen aber die Anlagen eine gewisse Stärke erlangen, ehe sie ent- raltungsfähig werden, so wird es ein Stadium geben, in welchem die einen Individuen bloss die Anlage P, die anderen bloss che Anlage Q zur Entfaltung bringen , indess in einer dritten Partie von In- dividuen sowohl P als Q noch nicht entfaltungsfähig sind. Dem entsjDrechend beherbergt jeder Standort drei dem äusseren Ansehen nach verschiedene Formen, von denen die eine die ursi^rüngliche, unveränderte Form darstellt, die beiden andern je ein neues Merk- mal aufweisen. Hören die abändernden Einflüsse in diesem Stadium auf, indem z. B. eine neue Wanderung eintritt, so können die drei Formen für alle Zeiten verschieden bleiben. 2. Die äusseren Ursachen, welche auf zwei neben einander be- findlichen Standorten thätig sind, bemrken zwei vicarirende Anlagen P und Fl , die sich zu einander verhalten wie die nämlichen Grössen mit positivem und negativem Vorzeichen. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn die eine Ursache auf die Vergrösserung, die andere 252 ^- Varietät, Rasse, Ernährungsmodification. auf die Verkleinerung eines Organs hin arbeitet, wenn die eine Ur- sache die Zahl der Zellen und der Organe vermehrt, die andere sie beschränkt, wenn die eine Ursache eine Eigenschaft hervorruft, die andere sie austilgt. Ist dies der Fall, so wird bei der Uebersiedelung von dem einen Standort auf den andern die bisherige Anpassungs- veränderung wieder rückgängig gemacht, und die beide Standorte bewohnende Sippe bleibt um so gleichförmiger. Je öfter ein solcher Wechsel eintritt, 3. Die zwei vicarirenden Anlagen P und Q, welche durch die äusseren Ursachen bedingt werden, sind zwei divergirende Be- wegungen, die aber nicht diametral auseinandergehen und sich nicht gegenseitig aufheben, sondern nach einer Seite gewendet sind und daher eine Vereinigung in eine resultirende FQ zulassen. Es ver- einigen sich also die beiden Anlagen zu einer gemeinschaftlichen Anlage, welche, wenn die Ursachen wieder auf zwei benachbarten Standorten getrennt sind, um so mehr von P oder um so mehr von Q enthält, je nach der Länge der Zeit, während welcher eine Ab- stammungslinie auf jedem der beiden Standorte gelebt hat. Viele Bastarde geben uns ein Bild von der Vereinigung der Merkmale, wie sie in der freien Natur ohne Kreuzung durch den Einfluss ver- schiedenartiger Ursachen zu Stande kommen kann. So gibt es auch Pflanzenbastarde zwischen Varietäten und Arten, die den natürhch und selbständig entstandenen Zwischenformen sehr ähnlich sind. Wenn in den unter 2. und 3. aufgeführten Fällen die Ent- faltung der Anlagen gleichen Schritt hält mit der Entstehung der- selben, so finden sich einige Zeit, nachdem die einförmige Sippe auf die beiden Standorte gekommen ist, auf jedem derselben eine Reihe von Formen beisammen, die sich zwischen zwei Extremen abstufen. Muss aber die Anlage, um entfaltungsfähig zu werden, eine gewisse Stärke der Ausbildung erlangt haben, so stellt sich einige Zeit nach der Einwanderung neben der ursprünglichen un- veränderten Form eine zweite abgeänderte ein. 4. Von den vicarirenden Merkmalen kann nur eines sich ent- falten, während ihre Anlagen P, Q, li im Idioplasma entweder un- gehemmt neben einander sich entwickeln oder aber sich gegenseitig mehr oder weniger beschränken, so dass, wenn die eine vorhanden ist, sie die Bildung der anderen verzögert oder verhindert. Der un- günstige Einfluss einer vorhandenen Anlage auf die entstehenden V. Varietät, Rasse, Ernähriingsmodification. 253 vicarirenden Anlagen tritt leicht in den so häufigen Fällen ein, in denen diese Anlagen die verschiedenen Reactionen auf den näm- lichen äusseren Reiz darstellen. Hat nun eine Ahstamnuniüslinie unter hestimniten Umständen die Anpassungsänderung P hegonnen und gelangt sie unter A^erhältnisse, welche der Anpassung Q gün- stiger sind, so fährt möglicher Weise die Anlage P dennoch fort zu wachsen, statt durch Q verdrängt zu werden. Das Nämhche kann mit der Anlage Q geschehen, deren Träger unter Verhältnisse kommen, welche die Anj^assung P veranlassen. So bilden sich da und dort neben einander zwei Formen aus, von denen die eine die Anlage P, die andere die Anlage Q zur Entfaltung bringt. Um den Vorgang dem Verständnisse noch näher zu bringen, will ich ein specielles Beispiel wählen. Es komme eine einförmige Pflanzensippe durch Wanderung in ein wärmeres oder kälteres Klima. Die ungewöhnliche Temperatur wirkt als Reiz und bringt je nach den begünstigenden Factoren (Feuchtigkeit oder Trockenheit des Bodens und der Luft, Beleuchtung oder Beschattung, ungleiche Nah- rung, ungleiche vegetabilische Umgebung) verschiedene AnjDassungen P, Q, II hervor. Hat die Anlage P auf einem trockenen, sonnigen, mageren, kalkreichen, mit kurzem Rasen bedeckten Standort be- gonnen, so setzt sie auf anderen Standorten, welche feuchter oder schattiger oder reicher an Nährstoffen oder kalkarm oder mit grossen Stauden besetzt sind, ihre Ausbildung gleichwohl ungestört fort. Die anderen Anpassungsanlagen Q und R verhalten sich ihrerseits ebenso ; sie fangen auf bestimmten Standorten an und entwickeln sich nach- her auf anderen Standorten weiter, da der Reiz, den die Temperatur ausübt, überall der nämliche ist. Es können also die verschiedenen, diesem Reiz entsprechenden Anpassungsformen in Gesellschaft neben- einander auf verschiedenen Standorten sich ausbilden. Dass der "^^organg in der geschilderten Art eintrete, müssen drei Bedingungen erfüllt sein: es müssen die vicarirenden Anlagen einander in ihrer Ausbildung in hinreichendem Maasse beschränken ; es muss ferner die eine Anlage in hinreichend bestimmtem Grade angefangen haben; es müssen endlich, gegenüber der als Reiz vnr- kenden allgemeinen Ursache, die übrigen äusseren Einflüsse nicht so stark auf das Idioplasma einwirken, dass sie die Verdrängung der bereits vorhandenen Anlage und Entstehung einer neuen ver- ursachen. Was das Verhalten der idioplasmatischen Anlagen \aca- 254 V. Varietät, Rasse, Ernäliningsmodificatlon. rirender Merkmale zu einander betrifft, so kommt es in manchen Fällen möglicher Weise bloss auf den ersten Anstoss an; derselbe entscheidet dann, indem er bestimmte Spannungen im Idioplasma auslöst, ob die Reaction auf den Reiz fortan in der einen oder anderen Weise erfolge. Die Anpassung kann in diesem extremen Fall auch unter veränderten äusseren Umständen, vorausgesetzt dass der massgebende Reiz in der nämlichen Weise fortwirkt, nicht mehr umgewandelt w^erden. Es ist kaum nöthig die Erscheinungen zu besj)rechen, welche in dem entgegengesetzten Extrem eintreten, wenn nämlich die vica- rirenden Anlagen ungehindert neben einander im Idioplasma ent- stehen und bestehen können. Wechseln in diesem Falle die Ab- stammungslinien die Standorte, so steht die AVeiterbildung der übrigen Anpassungsanlagen still, und es bildet sich nur die dem jeweiligen Standort entsprechende Anlage aus. Es kann also eine Anlage bloss auf ihrem Standorte entfaltungsfähig werden. Ist sie einmal in diesen Zustand gelangt, so entfaltet sie sich fortan ebenfalls, w^enn die Abstammungslinie auf andere Standorte übersiedelt. Es kommen daher auch in diesem Falle auf den verschiedenen Standorten die verschiedenen Anpassungsformen (P, Q, li) und vielleicht die ur- sprüngliche noch unveränderte Form gesellschaftlich vor, obgleich man hier nicht von einem gesellschaftlichen Entstehen sprechen kann. Ich habe bis jetzt die Ergebnisse betrachtet, w^elche eintreten müssen, wenn verschiedene äussere Einflüsse auf die Anpassung von gesellschaftlich beisammen lebenden Individuen einer Sippe einwirken, insofern dieselben auf ungeschlechtlichem Wege sich fort- pflanzen. Der Mangel einer geschlechtlichen Fortpflanzung kommt aber normal nur den niedrigsten Pflanzen zu ; die höheren Gewächse entbehren derselben höchstens ausnahmsweise und als abnormale Erscheinung. Die gesellschaftlich lebenden Pflanzen können sich, da sie Geschlechtsorgane besitzen, gegenseitig befruchten ; es sind daher die gewonnenen Ergebnisse nicht ohne weiteres als die in Wirklichkeit vorhandenen in Anspruch zu nehmen, sondern es muss erst noch untersucht werden, ob und wiefern dieselben durch die Krcuzvmg modificirt werden. Wir können uns die Wirkung der Kreuzung auf die Varietäten- bildung am besten klar machen, wenn wir die möglichen Fälle, die ich unter Nr. 1 — 4 unterschieden habe, der Reihe nach getrennt V. Varietät, Rasse, Ernährnngsmodification. 255 betrachten. Sind die entstehenden Anlagen unabhängig von einander und können ihre Entfaltungsmerkmale neben einander bestehen, wie es unter Nr. 1 (S. 251) angenommen wurde, so hat die Kreuzung der Abstammungslinien, in denen eine ungleiche Anpassung begonnen hat, im allgemeinen keinen anderen Erfolg, als ein Wechsel der Standorte. Sie vereinigt die verschiedenen Anlagen und Merkmale, wobei als Grundsatz festzuhalten ist, dass der Erbtheil der beiden Eltern sich ziemlich die Wage hält und dass Vater und Mutter ihrem Wesen nach, d. h. mit ihren idioplasmatischen Anlagen je zur Hälfte in dem Kinde enthalten sind. Wir können uns von dem einzelnen Kreuzungsfall eine bestimmte Vorstellung machen, wenn wir die begonnenen Anlagen je nach der Stärke, die sie erlangt haben, durch numerische Werthe bezeichnen, und durch 1 diejenige Stärke ausdrücken, w^odurch die Anlage eben entfaltungsfähig ge- worden ist. Folgendes BeisiDiel mag das Verhalten von 4 jungen Anlagen P, Q, li, S bei der Kreuzung deutlich machen. P Q B S Vater . . , . 0,5 2,0 1,2 0,3 Mutter . . , 1,8 0,4 0,6 1,2 Kind . . . 1,15 1,2 0,9 0,75 Im Vater waren che Anlagen Q und -R, in der Mutter die An- lagen P und S in den ersten Entfaltungszuständen sichtbar geworden ; P und S waren im Vater, Q und P in der Mutter noch latent. Die A^ermischung des väterlichen und mütterlichen Idioplasmas hat zur Folge, dass in dem Kinde ein Merkmal des Vaters (P) und eines der Mutter [S] wieder latent geworden sind. Solche Schwankungen werden durch die Kreuzung nothwendig im Entwicklungsgang der einzelnen Abstammungshnien hervorgebracht; dadurch wird aber die Bildung der Varietäten im grossen und ganzen nicht erheblich beeinträchtigt. Wenn zwei vicarirende Anlagen eine Vereinigung gestatten, wie dies unter Nr. 2 und 3 (S. 251, 252) der Fall ist, so hat die Kreuzung zweier ungleich abgeänderter Abstammungshnien genau das gleiche Ergebniss, wie wenn die beiden Abstammungslinien während einer hinreichenden Zeitdauer auf den vertauschten Standorten lebten. Der wichtigste und wohl auch am häufigsten vorkommende Fall ist der, dass die vicarirenden Merkmale sich gegenseitig aus- schhessen, da eine Vereinigung derselben unzulässig ist, wobei ihre Anlagen meistens in ihrer Bildung sich gegenseitig mehr oder weniger 256 . ^^- Varietät, Rasse, Ernährungsmodiflcation. beeinträchtigen (Nr. 4 , S. 252). Tritt geschlechtliche Vermischung zwischen Abstammungslinien ein, welche ungleiche Anpassungs- anlagen zu bilden angefangen haben, so wird je nach dem Grade der Unduldsamkeit entweder der schwächere Anfang aus dem Idio- plasma des Keimes ganz ausgeschlossen , oder er wird zwar darin aufgenommen, aber in eine untergeordnete Stellung verwiesen, während der stärkere Anfang begünstigt ist und sich in der Folge unter der fortdauernden Einwirkung der allgemeinen Anpassungsursache auch unter verschiedenen anderweitigen Einflüssen allein oder vorzugs- weise entwickelt. Sind aber die ungleichartigen Anpassungsanfänge in den beiden Eltern von gleicher Stärke, dann muss sich bei der Keimbildung entscheiden, welcher von den beiden Anfängen die bevorzugte Stellung im Idioplasma einzunehmen hat, gerade so wie in jenem Zeitpunkt auch die Entscheidung getroffen wird, ob das männliche oder das weibliche Geschlecht der Eltern in dem Keime Platz greifen soll. In dem extremen Fall, welcher darin besteht, dass die beiden verschiedenartigen Anpassungsanfänge der Eltern als gleichwerthige Bestandtheile in das Idioj)lasma des Kreuzungs- productes aufgenommen werden, entwickelt sich der eine oder andere je nach den anderweitigen äusseren Einflüssen weiter. Von diesen verschiedenen Vorgängen können wir uns eine Vor- stellung machen, wenn wir in zahlreichen Bastarden von natürlichen Varietäten und von Arten die einzelnen Merkmale genau mit denen der Eltern vergleiclien. In diesem Falle liegt zwar die Sache etwas anders als bei entstehenden Varietäten, da das elterliche Idioplasma fertige Anlagen enthält, die mit grösserer Zähigkeit ihr Recht, in das kindliche Idioplasma aufgenommen zu werden, behaupten. Gleich- wohl sehen wir oft das eine oder andere schwächere Merkmal, das nur dem einen von den Eltern zukommt, ganz versch^^^nden, während die stärkeren Merkmale zu unnatürlichen und für die Dauer unhalt- baren Vereinigungen zusammentreten. Es unterliegt also keinem Zweifel, dass zwei oder mehrere Varie- täten, deren unterscheidende Merkmale nicht nebeneinander sich zu entfalten vermögen, gesellschaftlich entstehen können, und dass die allfällige Kreuzung der verschiedenartigen Abstammungslinien keines- wegs ein Hinderniss ihrer strengen Scheidung abgibt. Im un- günstigsten Falle enthalten die Individuen der einen Varietät die Anlagen der anderen Varietät im nicht entfaltungsfähigen Zustande. V. Varietät, Rasse, Ernahrungsinoditic'ation. 25'7 In vielen Fällen aber sind diese Anlagen verkümmert oder mangeln auch gänzlich. Dieses Resultat, das schon aus dem gegenseitigen Verhalten der Anlagen allein sich ergibt, wird durch zwei Umstände sehr merklich gefördert. Einmal treten wegen der räumlichen Vertheilung der Individuen die Kreuzungen zwischen den in ungleicher Weise ab- ändernden Abstammungslinien besonders im Anfange seltener ein. Die ungleichen Anpassungen werden ja im allgemeinen stets unter verschiedenartigen äusseren Einflüssen beginnen, also wenigstens ursprünglich räumlich getrennt sein; diese räumliche Trennung wird jedoch durch die Verbreitung der Samen und durch die Ver- breitung des die Kreuzung bewirkenden Blüthenstaubes bald gestört und dann immer mehr verwischt. Die in gleicher Weise abändernden Individuen sind also ursprünglich beisammen, und die Inzucht zwischen ihnen ist gegenüber der Kreuzung mit einer unter anderen Verhältnissen beginnenden Varietät ausserordentlich begünstigt. Es ist somit wenigstens ein bestimmter Anfang der Anpassungsverän- derung gesichert. Sowie nun die Veränderung des Idioplasmas in eine bestimmte Bahn eingelenkt hat, so tritt ein neues wichtiges Moment hiezu, welches das Verlassen dieser Bahn verhindern hilft. Die Individuen sind nunmehr ihrer Natur nach zur Begattung mit solchen Individuen, in denen eine andersartige Veränderung des Idioplasmas begonnen hat, weniger geneigt, und es erfolgt, auch wenn durch die Ver- breitung der Samen eine räumliche Vereinigung der verschieden- artig abändernden Abstammungslinien eingetreten ist, die Kreuzung zwischen denselben viel spärlicher als die Befruchtung durch Inzucht. Wir dürfen dies mit Sicherheit aus der so vielfach bestätigten That- sache schliessen, dass nächst verwandte Varietäten, deren verschiedene Merkmale eine Vereinigung in einem Bastard wohl zulassen würden, in der Natur gesellschaftlich auf den nämlichen Standorten ohne alle Kreuzungsproducte oder nur mit spärlichen Zwischenformen vor- kommen. Diese Thatsache Ijeweist, dass den (natürlichen) V'arietäten schon in Folge geringster ^^erschiedenheit in der Constitution des Idioplasmas eine Abneigung vor geschlechtlicher Vereinigung ein- wohnen kann. Ich werde dies in dem folgenden Abschnitt bei der Beurtheilung der von Darwin gezogenen Schlussfolgerung von der Rassenbildung auf die Varietätenbildung weiter ausführen. V, Nägeli, Abstammungslehre. 17 258 V. Varietät, Rasse, Ernäkrungsmodification. Ich habe in den vorstehenden Betrachtungen bezüglich der Varietätenbildung bloss die Entstehung der hervorragenden An- passungsmerkmale berücksichtigt, weil darin jedenfalls der ent- scheidende Anstoss enthalten ist. Die Veränderung beschränkt sich freilich nicht hierauf, sondern gibt sich noch in einer Zahl A^on Erscheinungen kund, die aber als die Folgen jener Anj^assung zu betrachten sind. Die Einfügung einer neuen idioplasmatischen Anlage , welche dem Anpassungsmerkmale entsj^richt , veranlasst selbstverständlich verschiedene grössere und geringere Umbildungen in der Configuration des Idioplasmas, führt Modificationen anderer Merkmale herbei und kann schliesslich den ganzen Habitus umge- stalten. Es sind dies nach meiner Ansicht secundäre Erscheinungen, und dieVarietätenbildung wird ursächlich nur durch die eigentlichen Anpassungsmerkmale bestimmt. Ziehen wir die Summe, so ergibt sich, dass in vielen Fällen, wenn nämlich die Anpassungsmerkmale sich ausschliessen , die Entstehung mehrerer Varietäten und die divergirende Ausbildung derselben unter den gesellschaftlich beisammen lebenden Individuen einer Sij^pe durch die Kreuzung weder verhindert noch überhaupt gestört und auch durch hybride Zwischenformen nicht maskirt wird. Die beginnenden und sich entwickelnden Varietäten machen die Sippe zwar mehrförmig, sie selber aber sind einförmig. Mit diesem theoretischen Ergebniss stimmen die Erfahrungsthatsachen über das gemeinsame Vorkonnnen nächst verwandter Varietäten vollkommen überein. In andern Fällen, wenn nämlich die Anpassungsmerkmale sich nicht beeinträchtigen, ist zwar das gesellschaftliche Entstehen zweier oder mehrerer Varietäten aus einer einförmigen Sipj)e keine Unmög- lichkeit; sie wird aber meistens durch die Kreuzung verhindert. Solche Varietäten haben gewöhnlich einen räumlich getrennten Ursprung; wobei sie vor der Kreuzung gesichert sind. Kommen sie nachträglich durch Verbreitung der Samen zusammen, so ent- stehen durch Kreuzung Bastardformen, welche je nach Umständen eine vollständige Uebergangsreihe oder nur vereinzelte Zwischen- glieder darstellen, aber, weil sie in viel zu geringer Zahl vorhanden sind, das gesellschaftliche Fortbestehen der Varietäten und ihre weitere Ausbildung nicht mehr zu verhindern vermögen. — Die genannten Kreuzungsproducte geben den Varietäten den Anschein V. Varietät, Rasse, Ernährungsmodification. 259 der erblichen Yielf örmigkeit , denn die einzelnen Formen bleiben bei Reinzucht erhalten. Es ist aber eigentlich nur die Rassen- vielf örmigkeit , welche sich zwischen die einförmigen Varietäten hineinlagert. Die durch Kreuzung von Varietäten (oder Arten) entstehenden Bastarde sind für die Varietäten- und Artbildung beinahe ohne Bedeutung, indem sie nichts Neues und Selbständiges hervorbringen und auch die fernere Entwicklung der SipjDcn kaum modificiren. Dagegen ist ihr Vorhandensein für die Beurtheilung der Sijjpen von grossem Werth, indem es einen nahen Verwandtschaftsgrad und somit einen nicht allzufernen gemeinsamen Ursprung derselben anzeigt. Die Varietät wird nur durch die erblichen Eigenschaften be- stimmt; dies gilt auch von der Rasse, und wenn ich bis jetzt von Rasse gesprochen habe, so setzte ich bloss erbliche Merkmale als zum Begriff derselben gehörig voraus; nur in dieser Beschränkung hat der Begriff eine wissenschafthche Bedeutung. Dies bleibt oft unbeachtet, und besonders die Praktiker nehmen als Rassenmerk- male auch Ernährungsmodificationen in Anspruch. Deswegen konnte mir auch, als ich vor Jahren die Behauj^tung ausgesprochen, die Ernährung verändere weder A^arietäten noch Rassen, erwiedert werden, dass dies der Erfahrung widerspreche, nach welcher viele Rassen bloss bei einer bestimmten Ernährung constant bleiben. Der Einwurf war ja vollkommen richtig, wenn man dem Begriff eine unwissenschaftliche Ausdehnung gab. Artet die Rasse einer Pflanze, welcher bestimmte Düngung und Cultur, die Rasse eines Thieres, welchem Ijestimmtes Futter und Pflege entzogen werden, aus, indem sie gewisse Ernährungsmerkmale verhert, so liegt darin gerade der Beweis, dass man es nicht mit einer Rasse im strengen Sinne zu thun hat, dass ihre Eigenschaften, soweit dieselben aus- arten, nicht erblicli sind. Es mag nun für den Praktiker bequem und nützlich sein, mit dem Ausdruck Rasse auch die veränderlichen Ernährungsmodificationen zu bezeichnen, und dies um so mehr, als den letzteren, wenn sie in der Cultur entstehen, häufig etwas Be- ständiges und Erbliches beigemengt ist. Aber auf wissenschaftliche Erörterungen darf dieser Missbrauch keinen Einfluss gewinnen. Unter Rassenmerkmalen dürfen nur solche verstanden werden, welche unter 17* 260 ^^- Varietät, Rasse, Ernührungsmodification. yerschiedenen äusseren Verhältnissen sich eine Zeit lang vererben; von ihnen muss man sorgfältig alle nicht vererblichen Eigenschaften ausscheiden. Die Individuen , die einer Rasse angehören , haben selbst- verständlich immer auch Modificationsmerkmale an sich, da sie sich in einem bestimmten Ernährungszustand befinden müssen, — und die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die letzteren von den erblichen Eigenschaften zu unterscheiden. Im allgemeinen lassen sich die Merkmale zum voraus ziemlich scharf trennen. In den Formen, die durch Bastardirung entstanden sind, gehören die von den Eltern überkommenen hybriden Merkmale, in den Formen, die aus krank- haften Veränderungen hervorgegangen, diese krankhaften Merkmale der Rasse an. Was dagegen die sog. Pfropfbastarde betrifft, so lässt sich nach den meist wenig kritischen und wenig zuverlässigen Angaben nichts allgemein Gültiges aussagen. Es ist sicher, dass in der Mehrzahl der Fälle die Unterlage des Pfropfreises demselben nur Nahrung zuführt, und dass somit, wenn eine geringe Ver- änderung der Sorte eintritt, diese als vorübergehende Ernährungs- modification und nicht als erbliche Rasseneigenschaft zu betrachten ist; denn das Pfropfen dient ja gerade zur Conservirung der Rasse. In gewissen Fällen jedoch (Cytisus Adami, Pfropf hybriden von Kar- toffeln) scheint das Pfropfreis und zwar unmittelbar durch das Pfropfen eine erbliche Veränderung zu erfahren, während es später- hin, für den Fall, dass die ^'^ereinigung j^erennirend ist, nur indiffe- rente Nahrung aus der Unterlage bezieht. Im concreten Fall ist es oft nicht leicht, die Ernährungsmerk- male und die eigentlichen Rassenmerkmale genau von einander zu unterscheiden, weil die letzteren zwar erbhch, aber doch, ihrem Ursprung entsprechend, von geringer Constanz sind. Man muss sich daher wohl hüten, aus unvollständigen Beobachtungen voreilige Schlüsse zu ziehen. Wenn man eine sog. Rasse von ihrem Ursprünge aus verfolgen, wenn man sie längere Zeit beobachten und mit ihr experimentiren kann, so mag es gelingen, die einzelnen Erscheinungen, welche an ihr bemerklDar sind, auf die ursächlichen Momente zurück- zuführen. Ist aber das Erfahrungsmaterial für einen Schluss unzu- reichend, so läuft man immer Gefahr, Irrthümer zu begehen. Um den Einfluss des Klimas auf die Pflanzen darzuthun, führt Darwin Beobachtungen von Metzger (Getreidearten S, 206) an einer Y. Varietät, Rasse, Ernährungsmodiflcation. 201 amerikanischen Maissorte an, welche in Heidelberg im ersten Jahr eine Höhe von 12 Fuss erreichte, in den folgenden Jahren kleiner wurde und zugleich Gestalt und Farbe der Samen veränderte, und in der sechsten Generation vollständig einer europäischen Varietät glich. An zwei anderen ^Nlaissorten wurden geringere Umwandlungen beobachtet. »Diese Thatsachen,« lautet die Folgerung Darwin's, »bieten das merkwürdigste mir bekannte Beisj)iel der directen und sofortigen Einwirkung des Klimas auf eine Pflanze dar.« Nach meiner Ansicht sind die in diesem Falle überlieferten Thatsachen viel zu unvollständig, um überhaupt zu einem Schluss auf die Ursachen zu berechtigen. Unbekannt ist der Ursprung und die Vorgeschichte der betreffenden amerikanischen Maissorten, — unbekannt die Verschiedenheit der klimatischen Einflüsse ihres Vaterlandes und deren Heidelbergs, — unbekannt, ob an der in Heidelberg erfolgenden Umwandlung Kreuzung mitgewirkt habe oder nicht. Es liegt also der Antheil der Ernährungs- und klimatischen Einflüsse gegenüber den Ursachen, welche erbliche oder eigentliche Rassenmerkmale erzeugen, umändern und vernichten, gänzlich im Dunkeln. Es wäre ja möglich, dass die fraglichen Sorten in Amerika unter Umständen eine gleiche Umwandlung erfahren. Damit soll natürlich nicht ausgesprochen werden, dass die Folgerung Darwin's an und für sich unmöglich sei ; aber sie ist nur eine der verschiedenen Möglichkeiten, und somit keineswegs bewiesen. Dass der Nichtbotaniker oder auch der Botaniker, der bis dahin die Wirkung der Ernährungs- und klimatischen Einflüsse nicht studirt hat, gerade auf diejenige Möglichkeit verfällt, die der her- kömmlichen Meinung entspricht, ist ja sehr begreiflich. Nimmt man aber bei der Beurtheilung der Metzger'schen Beobachtungen auch die kritisch gesichtete Erfahrung über die genannten Einflüsse zu Hilfe, so wird jene Folgerung im höchsten Grade unwahrscheinlich. Dieses Beispiel gibt zu zwei allgemeinen Bemerkungen Veran- lassung, von denen die eine das Ergebniss, und die andere die Methode, mittels der es gewonnen wurde, betrifft. Bezüglich des Ergebnisses verdient die Aeusserung Darwin's, dass die Umwandlung der Mais- sorten das merkwürdigste ihm bekannte Beispiel von der directen und sofortigen Einwirkung des Klimas auf eine Pflanze darbiete, eine besondere Beachtung. Wenn ein Mann von der reichen Er- fahrung, von der ausserordentlichen Findigkeit und dem grossen 262 V. Varietät, Rasse, Ernährungsraodification. Scharfsinn im Combiniren der Thatsachen, wie Darwin sie besitzt, zugesteht, dass er mit der Beobachtung Metzger's den besten Beweis für die Ursächhchkeit des Khmas bei den Umwandhnigen der Pflanzensippen beigebracht habe, so muss es gewiss sehr sclihmm stehen vmi die inductiven Beweise für diese Ursächhchkeit. Aller- dings spricht Darwin nur von einer »directen und sofortigen Ein- wirkung« ; wenn aber diese sich nicht darthun lässt, wie lassen sich indirecte und langwierige Einwirkungen nachweisen? Rücksichtlich der Methode ist zu beachten, dass der Bericht Metzger's, wie ich bereits bemerkte, ein mageres Bruchstück aus der Geschichte der betreffenden Maissorten ist, aus welchem sich mit Sicherheit bloss schliessen lässt, dass die Maissorten leicht aus- arten, aber nichts über die Ursachen dieses Vorganges. In der Leichtigkeit des Ausartens kommen aber Adele Sorten von Cultur- pflanzen dem Mais gleich. Warum wird nun nicht, zur Ermittelung der Ursachen, das Ausarten einer Sorte benützt, die der eigenen Beobachtung zugänglich ist, über deren Geschichte sich mancherlei ermitteln lässt, die stetsfort unter verschiedenen Ernährungs- und klimatischen Einflüssen cultivirt wird, und die der allgemeinen Controlle unterstellt werden kann? Ich glaube, es geschieht des- wegen, weil gerade solche Beispiele immer die vorgefasste Meinung täuschen, und weil dieselben in der Fülle der Thatsachen zeigen, dass man mit einer einfachen Formel nicht auskommt, sondern dass bei den beobachteten Umwandlungen mehrere und verschiedenartige Ursachen zusammenwirken, die sich nur auf dem mühsamen Wege exacter Forschung trennen und erkennen lassen. Damit bin ich auf einen der wunden Punkte gekommen, an denen die Methode der heutigen Abstammungslehre überhaupt leidet. Man geht nicht immer auf streng inductivem Wege von den einzelnen sicher gestellten Thatsachen aus, sondern man baut sich mehr nach einem allgemeinen und oberflächlichen Ucberblick Theorien auf, für welche man dann die bestätigenden Thatsachen zusammensucht. Und da man — es gilt dies besonders von den natürlichen Varietäten und Arten — die gewünschte Bestätigung nicht in den zahllosen unzweifelhaften, jeder Beobachtung zugänglichen Vorkommnissen unserer nächsten Umgebung findet, so sucht man sie in den mangel- haften und fragmentarischen Berichten, die von früheren Beobachtern oder von Reisenden in fremden Ländern herstammen, und mit V. Vatietät, Rasse, Ernährungsmodification. 263 Vorliebe auch in den mangelhaften und fragmentarischen paläonto- logischen Funden, mit einem Wort in Ueberlieferungen oder That- sachen, die verschiedene Deutungen und darunter auch die ge- wünschte zulassen. Wie der Rassenbegriff nur dann deutlich und rein hervortritt, wenn man von ihm die vorübergehenden Merkmale ausscheidet, welche durch Ernährung und Klima unmittelbar hervorgebracht werden, so verhält es sich auch mit dem Begriff der Varietät; von demselben muss alles Nichtvererbbare ausgeschlossen werden. Die wirklichen Varietätsmerkmale lassen sich nur dann sicher erkennen, wenn eine natürhche Form unter die verschiedensten äusseren Ver- hältnisse gebracht wird. Nur die bei einer solchen Behandlung constant bleibenden Eigenschaften gehören der Varietät an ; alle sich verändernden Eigenschaften sind als Ernährungs- und Standorts- Modificationen zu eliminiren. ^' Neben Rassen und Varietäten muss also noch eine Kategorie von Formen unterschieden werden, die durch nicht erbliche Merk- male charakterisirt ist, und die ich einstweilen in Ermangelung eines anderen Wortes mit der bisher bereits gebrauchten Benennung Modification bezeichnen will. Die Modificationen werden durch verschiedene äussere Einflüsse, durch Nahrung, Klima, Reize hervor- gebracht und sind vorzüglich Standorts-, Ernährungs- und krankhafte Modificationen. Sie bestehen in Erscheinungen, die am Individuum entstehen und wieder vergehen, oder, wenn sie ihm bis zu seinem Ende anhaften, doch nicht auf die Kinder übertragen werden. Kommen sie auch den Kindern zu, so ist dies nicht Folge der Vererbung, sondern weil sie in ihnen durch die nämlichen Ursachen wie in den Eltern erzeugt werden. Ich habe von den Alpen-Hieracien angegeben, dass dieselben in den Garten der Ebene verpflanzt, die Ebenenmodification an- nehmen, und wenn man sie von da auf einen mageren Sandboden bringt, wieder in die zwerghafte Alpenmodification zurückkehren. Die Hieracien sind krautartige Gewächse, welche aus dem aus- dauernden kriechenden Wurzelstock jährlich einen im Herbste absterbenden oberirdischen Trieb bilden. Ein solcher Wurzelstock stellt ein langlebiges Individuum dar, mit* demselben Rechte wie jeder Baum, besonders aber vde ein tropischer Feigenbaum mit seinen Luftwurzeln. Dieses Indi^äduum geht nun beim Verpflanzen 264 V- Varietät, Rasse, Ernährungsinodification. in eine andere Modification über. IManche Systematiker führen die zwerghaften einbUithigen oder einküpfigen Alpenformen als besondere Varietäten auf, wenn sie sich auch von den grösseren verzweigten mehrblüthigen Formen durch kein weiteres Merkmal unterscheiden. Bei einer solchen systematischen Behandlung wird der »Varietät« die allergeringste Constanz zugeschrieben ; denn man kann das nämliche Individuum, das man jährlich in andere Ernährungsverhältnisse bringt, Jahr um Jahr in die alpine und wieder in die campestre »A^'arietät« überführen. Dieses Beispiel zeigt uns, wie wichtig es ist, die Begriffe Varietät und Modification auseinander zu halten; denn die auf erbliche Merkmale beschränkte, wirkliche Varietät hat eine Constanz, deren Dauer nahezu einer Erdperiode gleichkommt. Die Modification unterscheidet sich also dadurch von der Varietät und der Rasse, dass sie nicht erblich ist. Sie hat Bestand, so lange sie sich unter den nämlichen äusseren Einflüssen befindet, weil diese Einflüsse in jeder Ontogenie wieder die nämlichen Merkmale hervor- bringen. Es ist dies aber keine Constanz im naturwissenschaftlichen Sinne; in das Idioplasma wird nichts Erbliches aufgenommen, und wenn die Sippe unter andere Einflüsse kommt, ist ihr daher von den Wirkungen der früheren Einflüsse nichts zurückgeblieben. — Der Ausspruch, dass die Modification nicht erblich, die Rasse dagegen erblich sei, darf aber nicht so verstanden werden, dass alle Merk- male, welche bei der Fortpflanzung verloren gehen können, der Modification angehören. Es kommt ja bei der Fortpflanzung der Rassen, sei es durch Inzucht, sei es durch Selbstl:)efruchtung, nicht selten vor, dass Eigenschaften latent und dafür andere Eigenschaften manifest werden. Der Unterschied besteht darin, dass die Rasse das verschwindende Merkmal bloss äusserlich verliert, aber als idio- plasmatische Anlage bewahrt, und dass das Verschwinden und Wieder- erscheinen ihrer Merkmale nicht mit den äusseren Einflüssen parallel geht, während die Modificationen die bisherigen Merkmale bloss dann verlieren, wenn sie unter andere äussere Verhältnisse kommen, und stets wieder erwerben, sowie sie unter die früheren Verhältnisse zurückversetzt werden. Ich will nun auf die merkwürdigen Erscheinungen eintreten, welche die Ernährungscinflüsse an den niederen Pilzen hervorbringen. Y. Yarietät, Rasse, Eniährungsmodification. 205 Diese Frage liätte eigentlich schon in dem Al)schnitt über die Ur- sachen der A^eränderung erörtert werden sohen ; ich habe dies dort unterlassen, weil die Deutung der Ergebnisse nicht so sehr auf der flachen Hand liegt wie bei den übrigen Ernährungsresultaten, und nur nach einer kritischen Yergleichung der Begriffe Varietät, Rasse und Modification in befriedigender AVeise festgestellt werden kann. Jene merkwürdigen Erscheinungen, von denen ich nun hier sprechen will, beruhen darin, dass die Wirkungsweise der niederen Pilze auf ihre Umgebung — eine Kraftäusserung, die bei anderen Organismen unbekannt ist — durch Ernährungs- und klimatische Einflüsse ge- ändert werden kann. Schon bei anderen Gelegenheiten wm'de von mir darauf auf- merksam gemacht, dass die Spaltj^ilze, welche die Milch sauer machen, das Vermögen der Säuerung verlieren, wenn man sie ver- schiedenen schädlichen Einwirkungen aussetzt, namentlich wenn man sie mit der IVIilch auf 100 " C. und darülier erhitzt, oder wenn man sie austrocknet. So wird beispielsweise ]\Iilch, die während einiger Zeit gekocht wurde, durch die SjDaltpilze, die sie vor dem Kochen enthielt, nicht mehr sauer, sondern bitter. Das verlorene Vermögen, Zucker in Milchsäure überzuführen, kann aber den geschwächten Pilzen nach und nach wieder angezüchtet werden. Je nach dem Grad der Schwächung und je nach den mehr oder weniger günstigen Culturverhältnissen bedarf es einer geringeren oder grösseren Zahl von Generationen, bis die frühere Wirksamkeit einigermaassen her- gestellt ist. Aehnlich verhält es sich mit der Wirksamkeit anderer gärungs- erregender Spaltpilze und auch mit dem den Zucker in Alkohol und Kohlensäure spaltenden Sprosspilz. Dabei ist zu bemerken, dass die Verminderung und der Verlust der Gärtüchtigkeit als eine selbst- ständige und specifische Erscheinung auftritt und nicht etwa mit einer allgemeinen Schwächung zusammenhängt ; denn die Pilze, denen das Vermögen, Gärung zu erregen, genommen wurde, haben oftmals von ihrem Wachsthums- und Fortpflanzungsvermögen nichts eingebüsst, wiewohl in anderen Fällen durch die nämlichen nach- theiligen Ursachen die Schwächung gleichzeitig in der einen und anderen Beziehung erfolgt. Wie die Gärtüchtigkeit wird auch das Vermögen, als Contagien und Miasmen Krankheiten zu erzeugen, durch Ernährung und andere 266 V- Varietät, Easse, Ernährungsmodiflcation. äussere Einflüsse von den Pilzen gewonnen und verloren. Gewöhn- liche und unschädliche Fäulnissjiilze w^erden in einer Wunde nach und nach zu äusserst gefährlichen septischen Contagien. — Der so häufige Fadenpilz Penicillium glaucuni, der besonders auf schimmeln- dem Brod und auf schimmelnden Käsearten in grosser Menge ohne den geringsten Nachtheil verzehrt wird, lässt sich, wie Grawitz gezeigt hat, zu einem tödtlichen Contagium heranzüchten. Besonders aber sind die Veränderungen an den Heubakterien von H. B u c h n e r in exactester Weise erforscht. Diese Pilze, die in unendlicher Menge auf Gras und Heu vorkommen , von dem Vieh ohne die geringste üble Wirkung mit dem Futter gefressen werden und auch bei Einimpfungen keine Krankheit hervorbringen, werden durch 24 stündige Züchtung in frischem Blut bei Brutwärme soweit umgebildet, dass sie nun, in grösserer Menge einem gesunden Thiere eingeimpft, Milzbrand erzeugen. Die Heubakterien verwandeln sich also in dem von dem Thierkörper getrennten Blut in Milzbrand- bakterien von geringerer Wirksamkeit und gehen nachher in dem im lebendigen Körper circulirenden Blut in solche von vollkommener Infectionstüchtigkeit über; denn aus dem kranken Thier vermögen sie in geringster Menge Milzbrand zu verursachen. Zu bemerken ist, dass zwischen Stäbchen der einen und anderen Modification keine wesentlichen Verschiedenheiten wahrgenommen werden, weder in der Gestalt, noch im Inhalt, noch in der Theilung. Wie die Heupilze in giftige Milzbrandpilze umgezüchtet werden können, so lassen sich durch den umgekehrten Process die letzteren in harmlose Heupilze überführen, wenn sie in Fleischextractlösung mit reichlichem Luftzutritt und zuletzt in FTouaufguss cultivirt werden. Die allmähliche Umwandlung gibt sich nicht nur in einigen Er- scheinungen desWachsthums, sondern namentlich auch in der stetig abnehmenden Infectionstüchtigkeit kund; denn während anfänglich die geringsten Mengen von Pilzen zur Ansteckung ausreichen, be- darf es dazu mit der fortschreitenden Umänderung steigender Mengen und späterhin vermag auch die grösste Anzahl von Pilzen nicht mehr Milzbrandkrankheit zu erzeugen. Bei der Umwandlung auf dem angegebenen Wege hatten die Milzbrandpilze ungefähr mit der 360. Generation das specifische Vermögen, ein Thier milzbrandkrank zu machen, verloren und mit der 1500. Generation nach Verfluss eines halben Jahres waren sie Y. Varietät, Rasse, Ernährungsmoclification. 267 ZU vollkommenen Heuj^ilzen geworden. Es kann aber den Milz- brandbakterien die Infectionstüchtigkeit, ohne sie zu tödten, in der nämlichen Generation genommen, und die vollständige Uebcrführung in Heubakterien in einer viel geringeren Generationenzahl zu »Stande gebracht werden, wie auch der umgekehrte Process, die Umbildung der Heupilze in vollendete Milzbrandpilze jedenfalls nicht mehr als 20 Generationen erfordert. Beim Uebergang der gewöhnlichen Pilze in Krankheitspilze und der letzteren in die ersteren, sowie bei allen Veränderungen in der Wirksamkeit der Pilze sind Ernährungs- und klimatische Ein- flüsse allein maassgebend, nämlich die verschiedene Mischung der Nährlösung, der Temperaturgrad und die zutretende Sauer stoffim enge, — also gerade diejenigen Ursachen, welche bei andern Organismen die vorübergehenden, nicht erblichen Eigenschaften, die Merkmale der Modificationen bedingen. Nun haben aber die Eigenschaften, welche die Heuljakterien und die Milzbrandbakterien unterscheiden, und ebenso die Eigenthümlichkeiten der Pilze, welche das Sauer- werden der Milch und das Bitterwerden derselben bewirken, einige Constanz und sind erblich. Darin beruht scheinbar eine Ver- schiedenheit dieser Pilzformen gegenüber den anderen Ernährungs- modificationen. Constanz und Erblichkeit kommt aber den ge- nannten Pilzformen sicher zu, denn nur mit ihrer Hilfe ist eine Umwandlung durch eine Reihe von Generationen möglich , indem in jeder Generation die ererbte Eigenthümlichkeit wieder um einen kleinen Schritt gesteigert wird. Wären diejenigen Eigenschaften, welche die specifische Wirksamkeit der Pilze bedingen, nicht erblich, so müssten sie in einer einzigen Generation erlangt werden. Nun kann zwar das specifische Vermögen, sei es Gärtüchtigkeit, sei es Infectionstüchtigkeit, bei Anwendung von energischen Mitteln in einer einzigen Generation verloren gehen; aber zur Wiederher- stellung bedarf es immer einer nicht geringen Anzahl von Gene- rationen. Während die durch ungleiche Wirksamkeit ausgezeichneten Pilzformen bezüglich der A'ererbung von den Ernälirungsmodi- ficationen der übrigen Organismen abzuweichen scheinen, stimmen sie in einem anderen, ebenfalls die Vererbung betreffenden Punkte mit denselben überein. Ich habe angegeben, dass die Alpenmodi- fication einer Pflanze in ihre Ebenenmodification , diese wieder in 268 V. Varietät, Rasse, Ernähningsmodification. jene übergeführt werden kann und so weiter, ohne dass etwas Bemerkbares zurückbleibt. Ganz ebenso können die Heubakterien in ]\Iilzbrandbakterien oder die säurebildenden Spaltj)ilze in nicht säurebildende, diese wieder in Jene übergeführt werden und so weiter, ohne dass diese Metamorphosen etwas AVahrnehmbares hinterlassen. Es unterscheiden sich also die genannten Pilzformen in gleicher Weise wie die Standortsmodificationen der höheren Pflanzen von den ^^arietäten und Arten, weil diese sich nicht zurückverwandeln können. Der Grund dieses verschiedenen "N^erhaltens liegt darin, dass dem Idioplasma bei der A^arietätenbildung immer etwas Bleibendes, bei der Erzeugung von Modificationen dagegen nichts Bleibendes mitgetheilt wird. Somit erscheint uns die Vererbung bei den Wirkungsmetamor- j)hosen der Pilze in einem doppelten Lichte, je nachdem wir kürzere oder längere Abschnitte einer Generationenreihe ins Auge fassen. Während der Metamorphose vererben sich die Eigenschaften von Generation zu Generation. Der Pilz hat aber, wenn die Metamor- phose wieder rückwärts gegangen ist, von der ganzen Umwandlungs- periode nichts Bleibendes behalten. Die ganze specifische Wirk- samkeit der Pilze ist ein vorübergehender Zustand, gerade so wie die Standortsmodificationen der höheren Pflanzen. Die betreffenden Pilzformen sind daher ebenfalls als Modificationen zu bezeichnen, allgemein als Wirkungsmodificationen, specieller als Gärungs- und Ansteckungsmodificationen und ganz sj^eciell als Säuremodification, Alkoholmodi fication , Milzbrandmodification u. s. w. Sie dürfen weder als Rassen noch als Varietäten oder gar als Species betrachtet werden, wie dies ziemlich allgemein von Morj)hologen und Aerzten geschehen ist. Die scheinbare Verschiedenheit bezüglich der Vererbung von Generation zu Generation zwischen den Wirkungsmodificationen der Pilze und den Ernährungsmodificationen der höheren Pflanzen erklärt sich bei näherer Betrachtung in vollständig befriedigender AVeise. Indem wir nämlich die Generationen der niederen Pilze und der Phanerogamen zusammenhalten, vergleichen vnr ganz ver- schiedene Dinge und erhalten daher ein widersprechendes Resultat. Das Ergebniss ist sofort ein anderes, wenn wdr nicht die Genera- tionen der Pflanzenindividuen, sondern die Zellgenerationen mit einander vergleichen. Die unschädlichen Heubakterien verwandeln V. Varietät, Rasse, Ernähruiigsmodification. 269 sich durch wenig mehr als 20 Zellgenerationen ^) in Milzhrand- bakterien mit höchster Infectionstüchtigkeit. Der Stock der Alj^en- pfianzen, den wir aus dem Gebirge in die Ebene versetzen, hat in allen seinen Zellen die Natur der Alpenmodification. Diese Natur verliert sich zwar schon mit dem ersten Trieb, aber nicht etwa mit der ersten Zellgeneration, die in der Ebene gebildet wird ; sondern die Veränderung erfolgt unter dem Einfiuss der neuen klimatischen und Ernährungseinflüsse durch eine Reihe von Zellgenerationen, und es ist recht gut möglich, dass dazu eine eben so grosse oder selbst eine grössere Zahl von Zellgenerationen erforderhch ist als für die Umwandlung der Heu- in Milzbrandpilze. Wir können aber dort die Veränderung nicht Schritt für Schritt verfolgen wie bei den letzteren, sondern wir erkennen bloss das schliessliche Resultat. Wir haben also genügenden Grund zu der Annahme, dass die Bildung der Pilzmodificationen keinem andern Princij:» folgt als diejenige der übrigeii Ernährungsmodificationen. Die Veränderung vollzieht sich durch eine Anzahl von Zellgenerationen, indem jede Generation die mehr und mehr veränderte Substanz auf die folgende Generation vererbt. Die Verschiedenheit besteht nur darin, dass bei den Spaltpilzen die einzelnen Zellen oder kleine Zellgruppen getrennt sind und ein individuelles Dasein führen, indess dieselben bei den höheren Pflanzen zu einem Gewebe vereinigt bleiben und Theile eines grossen und langlebigen Individuums darstellen, sodass an demselben sich nicht nur eine vollständige Metamorphose voll- ziehen kann, sondern dass selbst, wenn die äusseren Einflüsse wechselten, mehrere solcher Metamorphosen auf einander folgen könnten. Die Vererbung der durch ^^eränderung gewonnenen Eigen- schaften mangelt, wie aus dem Vorstehenden sich ergibt, den Modificationen durchaus nicht. Aber sie hat, da der Bestand ') Die Heu- und Milzbrandbakterien sind Stäbchen aus mehreren hinter- einander hegenden Zellen bestehend. Die Stäbchen vergrössern .sich durch Wachs- thum und Theilung der Zellen auf ungefähr die doppelte Länge und die doppelte Zellenzahl, um dann in zwei Stäbchen zu zerfallen. Daraus folgt, dass die Genera- tionenzahl der Stäl)chen mit der Generationenzahl der Zellen identisch ist, — was nicht der Fall wäre , wenn die mehrzelligen Stäbchen sich durch einzelne Zellen fortpflanzten. 270 ^- Varietät, Rasse, Ernährungsmodification. ihrer Eigenschaften nur unter der Bedingung gesichert ist, dass die bewirkenden Ursachen fortdauern , eine andere Bedeutung als die Vererbung bei den Varietäten und den Rassen. Diese Verschiedenheit in der Beständigkeit der ererbten Merkmale beruht darin, dass bei der Varietäten- und Rassenbildung das veränderte Idioplasma vererbt wird, bei der Bildung der Modi- ficationen dagegen neben dem unveränderten Idioplasma nur ver- ändertes Ernährungsplasma und andere nichtplasmatische Substanzen, welche bei der Zellth eilung selbstverständlich von einer Zellgeneration auf die andere übergehen. Die Modificationen sind alle so beschaffen, dass für ihre Entstehung die Annahme einer Veränderung des Idioplasmas weder erforderlich noch auch nur wahrscheinlich ist. Das letztere regelt vorzugsweise den Gestaltungsprocess (nisus formativus) in den mi- cellaren Gebieten des Ernährungsplasmas und der übrigen Sub- stanzen und damit auch den Gestaltungsprocess in den gröberen, unseren Sinnen zugänglichen Gebieten. Mit der Veränderung in der micellaren Beschaffenheit ist natürlich in der Regel auch eine Veränderung im Chemismus verbunden. Aus der constanten und erblichen Veränderung im Gestaltungsprocess und im Chemismus schliessen wir auf die Umbildung des Idioplasmas. — Eine solche Veränderung findet nun bei der Umwandlung der Alpenmodification in die Ebenenmodification und umgekehrt nicht statt, sondern nur eine quantitative Zu- und Abnahme der Zelltheilung und des Zell- wachsthums, der Organbildung und des Organwachsthums. Dabei wird ohne Zweifel auch der Zellinhalt verändert, aber, soviel wir wissen, mn- in den Mengenverhältnissen der vorhandenen plastischen Stoffe und chemischen Verbindungen, indem die Bildungsprocesse zu- oder abnehmen, und indem die Zu- und Abnahme in ungleichem Verhältniss erfolgt. Das Idioj^lasma ist also bei der Umwandlung der Standortsmodificationen in keiner anderen Weise betheiligt, als dass in Folge der veränderten äusseren Einflüsse gewisse Anlagen in demselben häufiger oder energischer erregt werden und daher auch zahlreicher oder üppiger sich entfalten. Was die Wirkungsmodificationen der niederen Pilze betrifft, so können dieselben, da der Gestaltungsprocess unverändert bleibt , aus einer blossen Veränderung in der Mischung des Ernährungsplasmas erklärt werden. Die verschiedene Wirksamkeit erscheint uns nur V. Varietät, Rasse, Ernährungsmodification. 271 als etwas Ausserordentliches und Specifisches, so lange ■v\dr sie aus der Ferne als etwas ^fysteriöses anstaunen. Ziehen w^r den Schleier von dem Mysterium weg und zergliedern wir die demselben zu Grunde liegende Erscheinung, so haben wir es mit gewöhnlichen Ernährungsvorgängen zu thun, wie sie thatsächlich immer von Individuum zu Individuum wechseln können. Die Gärthätigkeit der Pilze beruht auf gewissen Bewegungszuständen des Ernährungs- plasmas, welche auf das Gärmaterial übertragen werden. Die In- fectionsthätigkeit der Krankheitspilze beruht entweder ebenfalls auf solchen specifischen Bewegungszuständen, welche die normalen Bewegungszustände der lebenden Substanz des inficirten Organismus stören, gleichwie von verschiedenen Gärpilzen der stärkere die übrigen stört und verdrängt. Oder die Krankheitspilze erweisen sich in der A^erwandtschaft zu gewissen Nährstoffen als die stärkeren und entziehen dem Blut und den Gewebezellen Sauerstoff oder andere unentl)ehrliche Verbindungen. Wahrscheinlich treffen diese beiden Momente stets zusammen, da sie die Folge der specifischen physikalisch-chemischen Beschaffenheit des Ernährungsplasmas sind. Damit wäre nicht ausgeschlossen, dass die Infectionspilze auch sehr giftige Verbindungen in geringen Mengen erzeugten, welche ihre nachtheiligen Wirkungen auf den inficirten Organismus unter- stützten. Mag nun in Wirklichkeit das eine oder andere Moment allein vorhanden sein oder mögen sie vereint, auftreten, so lassen sie sich durch geringe und vorübergehende Veränderungen in der Lebens- weise der Pilzzellen erklären. Die veränderten Einflüsse in Nahrung:, Temperatur und Sauerstoffzufuhr bewirken nicht eine Umbildung des Idioplasmas, sondern nur eine vermehrte Erregung der einen und eine verminderte Erregung der anderen idioplasmatischen An- lagen und in Folge dessen eine Zunahme der einen, eine Abnahme der anderen plastischen und chemischen Processe im Ernährungs- plasma, also eine andere Mischung des Zelleninhaltes, eine Steigermig der einen Bewegungszustände und eine stärkere Anziehung auf gewisse Verbindungen in der Umgebung. Findet Bildung von giftigen Sub- stanzen in den Krankheitspilzen statt, so mangelt dieselbe ihren gewöhnlichen und unschädlichen Modificationen nicht gänzlich, sondern ist in denselben nur auf ein Minimum, vielleicht auch auf eine latent bleibende Anlage beschränkt, wie die Bildung von 272 ^- Varietät, Rasse, Ernährnngsinodification. Amygdalin in den bitteren Mandeln nur viel stärker auftritt, als in den süssen Mandeln. Die veränderte Wirksamkeit der niederen Pilze entspringt also aus einer anderen Mischung des Zelleninhaltes , wie dieselbe bei allen Ernährungsmodificationen auftritt. Wenn diese Mischungs- änderung bei den höheren Pflanzen sich nicht in einer veränderten Wirkung kund gibt, wie bei den niederen Pilzen, so rührt dies einerseits daher, weil die letzteren durch einen besonders lebhaften Vegetationsprocess sich auszeichnen, indem unter günstigen Um- ständen ihre Substanz schon in 20 IMinuten sich verdoppeln, in einer Stunde sich auf das Achtfache vermehren kann. Andererseits wird die Wirkung der niederen Pilze auf die Umgebung dadurch gefördert, dass sie in die Zellen oder in die einzelnen Zellreihen aufgelöst sind und somit mit einer sehr grossen Berührungsfläche an die umgel:)enden Substanzen angrenzen, während bei den höheren Organismen die zu einem Gewebe vereinigten Zellen nur einander selbst berühren und die Oberhautzellen wegen der geringen Thätig- keit ihres Ernährungsplasmas und wegen ihrer schwer durchdring- baren Bedeckung (Cuticula) für eine Wirkung nach aussen nicht befähigt sind. Die Erörterung des Wesens der Varietäten, Rassen und Modi- ficationen fülirt uns naturgßmäss auf die Erörterung der Begriffe Vererbung und Veränderung, welche die Grundlage der Ab- stammungslehre bilden. Indem ich die Erwägung dieser allgemeinen Begriffe an den Schluss meiner gesammten Betrachtungen verweise, weil jene erst das Resultat der letzteren sind, so gehe ich den um- gekehrten Weg gegenüber dem gewöhnlichen Verfahren. Gewöhnlich stehen in der Abstammungslehre die Vererbung und die Veränderung voran, nicht aber als Objecto der Untersuchung, sondern als allge- meine Gesetze, welche man als gegeben aus den allgemeinen Er- fahrungen annimmt. Die Gesetze werden weder kritisch gej^rüft noch in ihrer Gültigkeit fest bestimmt; sondern sie dienen bloss als Ausgangspunkt für die weitere Behandlung. So kommt es, dass in den Abstammungslehren der Darwin'schen Schule Vererbung und Veränderung als gleichwerthig einander gegenüber gestellt und als conservatives und progressives Princip V. Varietät, Rasse, ErnährUngsmodificatioü. 273 unterschieden werden. Obgleich dies dem äusserhchen Anscheine entspricht und sich für die Darstellung einem Laienpublikum gegen- über als effectvoU erweist, so trifft es doch nicht den Kern der Sache. Die Vererbung und Veränderung, von denen der Darwinismus aus- geht, sind Erscheinungen, die bloss den Rassen angehören und bei der Kreuzung mehr oder weniger ungleicher Individuen bemerkbar werden. Sie beruhen hier, wie ich bereits gezeigt habe (S. 203), auf einer irrthümlichen Berurtheilung der thatsächlichen Erscheinungen, indem ^"ererbung und Veränderung nach den sichtbaren (entfalteten) Merkmalen geschätzt werden, während in Wirklichkeit bei der digenen Fortpflanzung alle idioplasmatischen Eigenschaften ohne Ausnahme und somit auch ohne A^eränderung vererbt werden und alle mög- licher Weise eintretenden Verschiedenheiten auf der Entfaltungs- fähigkeit der vererbten Anlagen in der neuen idiojDlasmatischen Constitution des Keims beruhen. Das Gesetz der Vererbung ist das Analogon des physikahschen Gesetzes der Trägheit oder der Beharrung. Wie eine fortschreitende Bewegung in ihrer Richtung und ihrer Geschwindigkeit beharrt, so behält auch die durch eine Abstammungslinie verlaufende, ins- besondere die von den Eltern auf die Kinder übergehende Bewegung ihre Beschaffenheit bei. Da aber in dieser Beschaffenheit auch eine nothwendige Umbildung und Weiterbildung aus inneren Ursachen enthalten ist, so hat die Beharrung in der Abstammung oder die Vererbung nicht bloss emen erhaltenden sondern zugleich auch einen fortschrittlichen Charakter. Was andrerseits die Veränderung betrifft, so ist dieselbe, wie ich eben sagte, zu einem grossen Theil von der Vererbung untrennbar und bildet mit derselben einen einheithchen Begriff; die Vererbung würde revolutionär gegen die Gesetze der Natur, wenn man ihr die Veränderung nehmen wollte. Ausser dieser mit der Beharrung identischen Veränderung gibt es in den Organismen noch andere durch die äusseren Einflüsse bewirkte Veränderungen, von denen die eine vergängliche, nicht vererbbare Merkmale, die andere dagegen bleibende Eigenschaften, die als Erbtheil auf die Nachkommen über- gehen, hervorbringt. Vererbung als allgemeiner Begriff gefasst ist eigentlich nichts Anderes als die mit dem Uebergang eines Zustandes in den nächst- folgenden nothwcndig verljundenen Erscheinungen, und die ganze V. Xägeli, Abslammungslehre. lg 274 V. Varietät, Rasse, Emälirungsmodification. ontogenetische und phylogenetische Bewegung besteht aus einer continuirHchen Reihe solcher Uebergänge. Gewöhnlich bezeichnet man aber als Vererbung bloss bestimmte Schritte der ganzen Reihe, nämhch bloss die Uebergänge zwischen getrennten Individuen, indem man die viel zahlreicheren Uebergänge innerhalb der Ent- wicklungsgeschichte des nämlichen Individuums vernachlässigt oder wenigstens nicht als Vererbung ansieht. Es ist aber ebensogut Vererbung, wenn im Individuimi eine Zelle, die sich theilt, ihre ganze Eigenthümlichkeit in die beiden neuen Zellen niederlegt, oder wenn der Pfianzenstock jährlich neue Zweige, Blätter und Blüthen treibt, oder wenn aus dem Kinde ein Mann und ein Greis wird. Bei den folgenden Erörterungen will ich indessen, dem allge- meinen Sprachgebrauche folgend, mich an den engern Begriff der Vererbung als einer Uebertragung der Eigenschaften zwischen ge- trennten Individuen halten. In dieser Beziehung fragen wir uns zuerst: Was wird vererbt? Die Beantwortung dieser Frage fällt bei den verschiedenen Organismen nicht ganz übereinstimmend aus. Berücksichtigen wir zuerst die grosse Mehrzahl der Organismen, die sich auf geschlechtlichem Wege fortpflanzen, die also aus der Substanz der Eizellen und der Spermatozoide den Anfang der neuen Generation bilden, so wdrd eigentlich bloss Idioplasma vererbt und es gehen von den Eltern auf die Kinder nur Eigenschaften über, welche in dem Idioplasma enthalten sind. Alles, wodurch sich die Individuen auszeichnen, Gestalt, Bau, Grösse, Farbe, Krankheiten, Fertigkeiten, überhaupt alle Errungenschaften, welche durch die innere Begabung mit Hilfe der äusseren Gunst oder Ungunst erlangt wurden, gehen mit dem Individuum zu Grunde, wenn sie nicht einen entsj)rechenden Ausdruck in der Beschaffenheit des idioplasma- tischen Systems gefunden haben. Für die geschlechtlichen Organismen besteht also die Continuität von den Eltern auf die Kinder bloss durch das Idioplasma in den Spermatozoiden und Eizellen, und das neue Individuum bringt nur hervor, wozu es die vererbten idioplasmatischen Anlagen und die äusseren Einflüsse, die es selber aufnimmt, befähigen. Die Geschichte eines Stammbaumes von der einfachsten bis zur comphcirtesten Pflanze, von dem niedersten bis zmn höchsten Thier ist eigenthch nichts w^eiter als die Geschichte des idioplasmatischen Systems, welches in dem Laufe der Zeiten immer reicher gegliedert wird und V. Varietät, Rasse, Ernährungsmodificatioü. 275 daher mit der Generationenfolge immer reicher geghederte Individuen erzeugt. Der ganze Stammbamn ist im Grunde ein einziges aus Idioplasma Vjestehendes, continuirhches Indi\'iduum, welches wächst, sich vermehrt und dabei verändert, und welches mit jeder Generation ein neues Kleid anzieht, d. h. einen neuen individuellen Leib bildet. Es gestaltet dieses Kleid, entsprechend seiner eigenen Veränderung, periodisch etwas anders und stets mannigfaltiger, mid gibt jedes Mal mit dem Wechsel desselben auch den grössten Theil seiner eigenen Substanz Preis. Diese Betrachtung des Stammbaumes als eines einzigen Indi- viduums ist vollkonunen correct, weil das bei der Urzeugung ent- stehende primordiale Plasma ebensogut als Idioplasma betrachtet wird, aus dem sich dann zunächst das Ernährungsplasma ausscheidet, weil ferner in den darauffolgenden Stadien das Idioplasma das fast allein Wesentliche der vererbten Substanz ausmacht und weil noch später bei den geschlechtlichen Organismen das Idioj^lasma allein die durch alle Generationen ununterbrochen fortdauernde Substanz darstellt. Betrachtet man eine Reihe von Generationen in diesem Lichte, so hat die Vererbung nur noch eine figürliche Bedeutung. Die wissen- schaftliche Darstellung kann zwar des Bildes nicht wohl entbehren, ohne die bisherige Anschauung wesentlich zu ändern; aber gleich- wohl stellt das Bild im Grunde die Wirklichkeit auf den Kopf. Denn statt dass die Eltern einen Theil ihrer Eigenschaften auf die Kinder vererben, ist es vielmehr das nämliche Idioplasma, welches zuerst den seinem Wesen entsprechenden elterlichen Leib und eine Ge- neration nachher den seinem Wesen entsprechenden und daher ganz ähnlichen kindlichen Leib bildet. Während bei den Organismen mit geschlechtlicher Fortpflanzung nur Idioplasma vererbt wird und alle Errungenschaften von bloss individueller Bedeutung mit jeder Generation wieder verloren gehen, verhält sich die ^^ererljung bei den niederen Organismen, die sich durch Theilung vererben, einigermaassen anders. Denn hier whd nicht bloss Idioj^lasma, sondern auch Ernährungsplasma und andere Substanzen auf die folgende Generation übertragen ; die zwei Kinder theilen sich in die ganze Masse des Elters und empfangen somit auch alle individuellen Eigenschaften desselben. Die ^^ererbung ist also eine viel vollständigere als bei den grösseren und geschlecht- hchen Organismen. Käme die nämliche Einrichtung auch bei den 18* 276 V- Varietät, Rasse, Ernähruiigsinodifioation. letzteren vor, würde beispielsweise der Mensch sich durch Theilung in zwei gleiche Hälften, die sich bloss zu vervollständigen brauchten, vermehren, so ist kein Zweifel, dass er viel vollständiger in den Kindern fortlebte als es jetzt der Fall ist, dass er auch das individuell Gewonnene, seine Erfahrungen und Gewohnheiten, sein Wissen und Können, seine Tugenden und Leidenschaften auf die Kinder vererbte. Es gibt also zweierlei Arten der Vererbung, ein Umstand, der bei vergleichenden Betrachtungen wohl zu berücksichtigen ist und bei dessen Vernachlässigung man leicht in Irrthümer verfallen kann. Der Gegensatz der beiden Vererbungen tritt am schärfsten hervor, wenn wir, wie es eben geschehen ist, die Zweitheilung der niedersten und die geschlechtliche Fortj)flanzung der höchsten Orga- nismen gegen einander halten. Die Vererbung durch Idioplasma kommt den A^arietäten und Arten sowie den Rassen zu; es ist die phylogenetische. Die Vererbung durch Ernährungsplasma und nicht- plasmatische Substanzen findet bei den Modificationen statt, und ist bloss bei einzelligen und wenigzelligen Organismen, die sich durch Theilung vermehren, bemerkbar, worüber ich auf das bezüglich der Spaltpilze Mitgetheilte verweise (S. 205) ; sie beschränkt sich bei den höheren Organismen auf eine Reihe von Zellgenerationen innerhalb der Ontogenien und ist somit nicht Vererbung im engeren Sinne (S. 2(38). Die zweite Art der A^ererbung ist für die Abstammungslehre gleichgültig. Sie kann immer Platz greifen, wenn die Fortpflanzungs- zellen neben dem Idioplasma noch andere Substanzen enthalten. Letzteres ist nun zwar auch bei aller geschlechtlichen Fortpflanzung der Fall ; die Spermatozoide bestehen zwar fast bloss aus Idioplasma, aber die Eizellen besitzen ausser demselben noch eine viel grössere Menge von Substanzen, die als Nährstoffe verwendet werden. Daher wäre es möglich, dass von der Mutter etwas auf die Kinder über- ginge, was von dem Vater niemals vererbt wird. In der That sollen gewisse Krankheiten von mütterlicher, aber nicht von väterlicher Seite auf die Kinder übertragen werden. Aber dieses Erbe, das in dem Ernälirungsplasma enthalten ist, stellt sich bei der geschlecht- lichen Fortpflanzung im Allgemeinen gegenüber dem phylogenetischen Erbtheil durch das Idioplasma als so winzig heraus, dass es meistens gänzlich verschwindet und dass Vater und Mutter als gieichbetheiligt in dem Kinde erscheinen. Immerhin smd die beiden Arten der V. Varietät, Kasse, Ernährungsmodification. 277 Vererbung, wenn sie auch stets mit einander vereinigt auftreten, als verschieden in ihrer Bedeutung zu unterscheiden. Die Veränderung, die gewöhnlich der Vererbung gegenüber gestellt wird, steht nicht im Gegensatz zu dieser, sondern zur Constanz. — Sie ist auch nicht gleichbedeutend mit Anpassung, wie es von der Dar w i n 'sehen Schule gelehrt wird ; denn die An- passungsveränderung ist nur ein Theil der Veränderungen, welche die Organismen erfahren. Mit dem Ausdruck »Veränderung« bezeichnet man nicht nur den Vorgang, welcher von dem früheren zu dem späteren Zustand hinüberführt, sondern auch das Resultat dieses Vorganges, aus- gedrückt durch den Unterschied zwischen den beiden Zuständen. In diesem Sinne heisst eine Veränderung constant, wenn das Ge- wonnene dauernd behalten, und vergänglich, wenn es bald wieder preisgegeben wird. Die constante oder die phylogenetische Ver- änderung, wiewohl sie nach den sich vererbenden Eigenschaften des entfalteten Organismus beurtheilt wird, ist eigentlich nichts anderes als die Constitutionsänderung des Idioplasmas, mit welcher diejenige der sichtbaren Merkmale gleichen Schritt hält. Die ver- gängliche oder transitorische Veränderung erfolgt durch die von aussen in ungleicher Weise angeregte Thätigkeit des Idioplasmas bei gleichbleibender Constitution desselben. — Die transitorischen Veränderungen bedingen die Modificationen, welche für die Bildung der Stammbäume ohne Bedeutung sind. Die constanten A-'^erände- rungen erzeugen die Rassen und Varietäten, von denen die ersteren ebenfalls keinen Werth für die Abstammung haben, indem der Aufbau der Reiche nur durch die Veränderung, die zur A'arietäten- bildmig führt, erfolgt. Die individuelle Veränderung bedeutet den Schritt, den die Veränderung von einer Generation zur nächstfolgenden zurücklegt. Die genaue Würdigung dieses Werthes ist für die Abstammungs- lehre von grösstem Interesse, weil aus demselben die Art und Weise sowie das Zeitmaass des phylogenetischen Fortschrittes sich ergibt. Zu diesem Zweck muss die individuelle Veränderung bei der Varietätenbildung von derjenigen bei der Rassen- und bei der Modi- ficationenbildung strenge unterschieden werden. Die Vervs^echslung 278 ^'- Varietät, Rasse, Ernährungsmodificatinn. dieser verschiedenen Begriffe hat zu ganz irrigen Vorstehungen über die Abstammungsbewegung geführt. Ich will daher diesen Punkt etwas eingehender betrachten. Der Fortschritt von einer Generation zur andern, der als indi- viduelle Veränderung bezeichnet wird, ist gewöhnlich das Resultat eines stetigen Umbildungsj^rocesses während der ontogenetischen Entwicklung. Dies lässt sich für die Varietätenbildung nicht be- zweifeln, mag die langsame Umbildung des Idioplasmas in autonomer Weise vermöge seiner eigenen Constitution oder in Folge der äusseren Einwirkungen geschehen; denn die al^ändernde Ursache mangelt gänzlich beim Fortpflanzungsacte. Für die Bildung der Modificationen aber ist es selbstverständlich, weil hier ja die Ver- änderung mit den Wachsthumsprocessen selbst verbmiden ist. Anders verhält es sich mit der Rassenbildung, w^o die indivi- duelle Veränderung wenigstens dem Anschein nach vorzugsweise mit der Befruchtung eintritt, weil bei der Kreuzung ungleiche Idio- plasmen zusammenkommen, wodurch theils neue Combinationen der Anlagen entstehen, theils früher latente Anlagen manifest werden. Man kann aber hier nur insofern von individueller Veränderung sprechen, als die Resultirende (das Kind) von jeder der beiden elterlichen Componenten verschieden ist, nicht insofern, als dass durch sie etwas principiell Neues entstände. Diese Neues schaffende Veränderung, die während der Dauer der Ontogenien thätig ist, mangelt auch den Rassen nicht; aber nur soweit sie der Modi- ficationenbildung angehört, macht sie sich deutlich bemerkbar, während die der Varietätenbildung angehörende idioplasmatische Veränderung wegen ihrer Geringfügigkeit vollständig gegenüber den Sprüngen der Kreuzung verschwindet. Die individuelle Veränderung bei stattfindender Kreuzung darf nicht einfach durch die Verschiedenheit zwischen der Mutter und den Kindern oder durch die Verschiedenheit unter den Kindern als gegeben betrachtet werden, eine Bemerkung, welche für die Ge- schlechtspflanzen nicht ganz überflüssig ist. Ein solches Verfahren hätte nur Berechtigung, wenn man sicher wüsste, dass die Samen aus SelbstbefiTTchtung entsprungen sind. Hat aber, was immer möglich ist, wenn man nicht besondere Vorsiclitsmaassregeln an- wendet, Befruchtung durch andere Individuen statt gefunden und haben die Kinder somit zwei Eltern, so darf die individuelle Ver- V. Varietät, Rasse, Eniälxrungsmodification. 279 änderlichkeit nur mit Berücksichtigung dieses Umstandes heurtheilt werden. Wenn das Individuum A durch das Individuum B be- fruchtet wurde, so sind die Kinder BA, und die individuelle Ver- änderung ist nicht etwa gleich der Differenz von A und BA, und wenn von den Kindern des Individuums A, was häufig vorkommt, die einen aus Selbstbefruchtung, die andern aus der Befruchtung durch B hervorgegangen sind, so kann selbstverständlich die indivi- duelle Veränderlichkeit abermals nicht aus dem Unterschiede der Halb- geschwister A A und B A ermessen werden. — Sind die Kinder durch das Zusammenwirken zweier Individuen entstanden , so darf die individuelle ^"eränderung nicht durch Vergleichung des Kindes (BA) mit dem Vater (B) oder mit der Mutter (A), sondern nur mit der Summe des elterlichen Paares (B -|- A) oder auch durch Ver- gleichung der legitimen Geschwister unter einander heurtheilt werden. Wenn die individuelle Veränderung nicht durch Kreuzung erfolgt, sondern in Folge des Wachsthumsprocesses während der ontogenetischen Entwicklungen tliätig ist, so muss bei vergleichenden Untersuchmigen der ungleiche Werth der Generationen bei den verschiedenen Orga- nismen in Rechnung gebracht werden. Die Veränderung erlangt, da sie ununterbrochen arbeitet, einen grösseren oder geringeren Betrag je nach der Dauer der Ontogenien und je nach dem Bau und der Grösse der Individuen. Bei einzelligen Organismen, die sich durch Theilung vermehren, wirkt die individuelle Verändermig nur während der Dauer einer Zelle und w^ährend der Verdoppelung des Idioplasmas und der übrigen Substanz. Bei den höheren Organismen kann die Veränderung vom einzelligen Keimstadium bis zmn Eintritt der Fortpflanzung während der Dauer von Hundert- tausenden und Millionen von Zellgenerationen und, während sich das Idioplasma und die übrige Substanz auf das Millionenfache ver- mehrt, thätig sein. Es ist klar, dass im letzteren Falle eine viel beträchthchere Umwandlung in jeder Beziehung möglich ist als im ersteren, und dass wir beispielsweise eine Million von Generationen einzelliger Organismen nicht als gleichwerthig neben eine Million von Genera- tionen höherer Organismen stellen dürfen, sondern dass wir im Gegentheil eine Million Generationen der ersteren mit einer einzigen Generation der letzteren vergleichen müssen. Schon aus diesem Grunde konnte man rücksichtlich der oben besprochenen Umwand- 29iO V. Varietät, Rasse, Ernährungsmodification. hing der Wirkungsmodificationen niederer Pilze (S. 265) auf die Verniuthung kommen, dass dieser Vorgang keine Varietätenbildung sein könne, weil bei demselben die ^^eränderung während hundert Zellgenerationen grösser ist als die phylogenetische Veränderung während hundert Generationen höherer Pflanzen, von denen jede hunderttausend oder eine Million Zellgenerationen durchläuft. Vergleichen wir noch die individuelle A^eränderung bei der Bildung der Modificationen, der Rassen und der Varietäten mit ein- ander, so bedarf diejenige, welche zur Entstehung der Modificationen führt, keiner weiteren Erörterung. Je nach den äusseren Einwirkungen mangelt sie bald vollständig, wenigstens dem Anscheine nach, bald verursacht sie eine bis zur Unkenntlichkeit gehende ^Verschiedenheit. Ich habe bereits ausgeführt, wie sehr sie die Rassen- und die Va- rietätenbildung verdecken kann, und wie wichtig es ist, diese trans- itorische Veränderung von den dauernden Veränderungen strenge zu scheiden. Was die individuelle Veränderung bei der Rassenbildung betrifft, so ist diesell)e meistens von deutlich wahrnehmbarer Grösse. Bald besteht sie in kleinen Schritten, die sich nach wenigen Gene- rationen zu einem in die Augen fallenden Schritte summiren, bald in einem Sprunge, wodurch die Rasse auf einmal zu Stande kommt. Der Sprung kann so gross sein, dass die Merkmale der neuen Rasse bei verwandten natürlichen Sippen eine Art oder eine Gattung, sogar eine Ordnung oder eine Classe charakterisiren würden. Als Beispiel für einen sehr grossen Sprung nenne ich die Metamorphose, welche bei der gewöhnlichen Unkrautpflanze Capsella bursa pastoris und bei einigen anderen Cruciferen (Iberis semper- florens, Matthiola annua, Cardamine jiratensis) beobachtet worden ist. Die normale Blüthe mit 6 tetradynamischen Staubgefässen und 4 Blumenblättern verwandelt sich dabei in eine apetale Blüthe mit 10 Staubgefässen; es werden also die 4 Blumenblätter unterdrückt und dafür 4 Staul^gefässe gebildet. Dies ist ein Sprung, der zu vollkommener Constanz gelangt, den Uebergang in eine andere Classe bedeuten könnte. — Unter den Sprüngen , welche zu den Merkmalen einer anderen natürlichen Ordnung führen, ist die Ver- wandlung unregelmässiger Blüthen in regelmässige zu nennen, oder die Pelorienbildung, wie sie beispielsweise bei Linaria und An- tirrhinum vorkommt. — Oft treten diese Sprünge an einzelnen Y. Varietät, Rasse, Ernährungsmodüication. 281 Aesten oder Zweigen auf, sodass letztere in eine andere Varietät, Art oder Gattung umgewandelt scheinen; so trägt ein einzelner Zweig geschlitzte oder krause oder panaschirte Blätter oder gefüllte Blüthen u. dgl. Wenn ich sage, dass die individuelle Veränderung bei der Rasse Eigenschaften hervorbringe, welche sonst Arten , Gattungen, Ordnungen und Classen unterscheiden, so meine ich natürlich nicht, dass diese Sippen wirklich gebildet werden. Denn das Wesen einer systematischen Einheit besteht nicht in den Merkmalen, sondern in dem Grade der Constanz. Die erwähnten, durch grosse Sprünge der individuellen Veränderung hervorgebrachten Merkmale haben aber nur eine sehr geringe Constanz und können daher auch nur die Bedeutung von Rassenmerkmalen in Anspruch nehmen. Wie ich bereits oben ausgeführt habe (S. 246), bestehen die Sprünge der individuellen ^Veränderung bei den Rassen nicht darin, dass wirklich neue Merkmale entstehen, sondern darin, dass latente Anlagen zur Entfaltung gelangen. Wenn eine rothblühende Pflanze bei Selbstbefruchtung unter ihren Kindern auch weissblühende hat, so ist dies nicht ein Beweis dafür, dass durch einen individuellen Schritt rothe Blüthen weiss werden können, sondern dafür, dass die Anlage zu rothen Blüthen latent und dafür die früher latente Anlage zu weissen Blüthen manifest werden kann. — Was das vorhin erwähnte Beispiel von Capsella bursa pastoris und anderer Cruciferen betrifft, so erlaubt das Verschwinden von 4 Blumen- blättern und das Auftreten von 4 neuen Staubgefässen eine doppelte Deutung. Man kann eine directe Umwandlung der Blumenblätter in Staubgefässe annehmen, und sich dabei auf den Umstand berufen, dass die Blumenblätter aus Staubgefässen entstanden sind, sodass also die Anlagen auf einen früheren Zustand zurückgehen , oder vielmehr, dass die noch im latenten Zustande vorhandenen Anlagen von Staubgefässen sich, anstatt der Anlagen von Blumenblättern, entfalten würden. Man kann sich aber auch denken, dass für die 4 Blumenblätter der Cruciferen keine besonderen latenten Anlagen von Staubgefässen mehr im Idioplasma enthalten sind , und dass beim Latentwerden der Blumenblätter die Anlage der Staubgefässe sich lediglich in vermehrter Zahl entfaltet, wobei die Architektur der Blüthe unverändert bleibt. Die Zahl, in der ein Organ auftritt, ist nämlich bei den Pflanzen sehr häufig Variationen unterworfen, 282 V. Varietät, Rasse, Ernährungsmodification, und wir müssen wohl annehmen, dass für ein und dasselbe Organ nur ein Complex von Anlagen vorhanden sei und dass es von der Configuration und Beschaffenheit des Idioplasmas abhänge, ob dieser AnlagencomiDlex sich einmal oder vielmal, ob er in bestimmter oder in unbestimmter Zahl sich verwirkliche. Da nun die Natur des Idioplasmas für die Cruciferenblüthe 4 Blumenblätter und 6 Staub- gefässe verlangt, so ist es begreiflich, dass die Anlage der Staub- gefässe beim Verschwinden der Blumenblätter die entstehende Lücke auszufüllen bestrebt ist. *' Während die individuelle Veränderung bei der (künstlichen) Rassenbildung in ganz gewaltigen Sprüngen bestehen kann , sind die individuellen Schritte bei der (natürlichen) Varietätenbildung unendlich klein, sodass man sie gar nicht wahrnimmt. Man weist zwar darauf hin, dass nicht zwei Bäume eines Waldes oder zwei Stöcke einer anderen wildwachsenden Pflanze gleich seien. Allein die Verschiedenheiten, die wir hier beobachten, gehören ausschliesslich den Standorts- oder Ernährungsmodificationen an und liegen inner- halb der ontogenetischen Elasticitätsgrenze. Eine wildwachsende Pflanze ist von ihren Eltern in wahrnehmbarer Weise bloss durch nichterbliche Eigenschaften imterschieden. Ich habe in früheren Zeiten die individuelle Verschiedenheit bei den natürlichen Sippen für ebenso sicher gehalten, wie dies jetzt noch allgemein der Fall ist. Aber die zahlreichen Erfahrungen, die ich bei der Cultur wild- wachsender Pflanzen gemacht habe, waren so übereinstimmend und so schlagend, dass ich mich nunmehr zu der Behauptung gezwungen sehe: Die individuelle Verschiedenheit sei zwar theoretisch unan- fechtbar und es können zwei Individuen, seien es Geschwister, seien es Elter und Kind, auch in ihren erblichen Eigenschaften nicht vollkommen identisch sein; allein die erblichen Verschiedenheiten beschränken sich auf nicht bemerkbare physikalische und chemische Molecularverhältnisse. Da die Beobachtung am Individuum kein sichtbares Resultat gibt, so lässt sich das Maass der individuellen Veränderung bei den Varietäten nur in der Weise feststellen, dass man untersucht, wie weit dieselbe durch eine Reihe von Generationen sich häufen kann. Die Vergleichung der letzten vorweltlichen (nämlich der tertiären) Sippen mit den jetzt lebenden zeigt uns in vielen Fällen bloss einen Fortschritt zu nahe verwandten Species; die Vergleichung der seit Y. Varietät, Rasse, Ernähriingsniodification. 283 der Eiszeit getrennten Pflanzen zeigt uns , dass unter den ' ver- schiedensten äusseren Verhältnissen die Varietäten gleich geblieben sind oder nur wenig sich verändert haben. Darnach wäre der Fort- schritt, der auf die einzelne Generation trifft, wirklich unendlich klein. Hiebei ist aber zu berücksichtigen, dass die Beobachtung bloss beweist, die Veränderung sei in vielen Fällen sehr gering gewesen, während sie in andern Fällen grösser sein konnte; und ferner , dass , wenn meine Ansicht von der Ausbildung des Idio- plasmas richtig ist, die innere und die äussere Veränderung nicht gleichen Schritt halten und dass in manchen scheinbar gleich ge- bliebenen Organismen möglicher Weise Anlagen erzeugt wurden, die zu einer grösseren äusseren Veränderung führen werden. Immerhin ist der individuelle Fortschritt bei der Varietätenbildung so gering, dass alle während einer Erdperiode auf einander folgenden Genera- tionen zusammen bloss eine Strecke zurücklegen , die von der einzelnen individuellen Veränderung bei der Rassenbildung weit überholt wird. VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. Ich habe die Berechtigung der Tlieorie darzuthun gesucht, dass einerseits die Configuration des idioplasmatischen Systems mit innerer Nothwendigkeit stetig comphcirter und periodisch neue Organisations- anlagen fertig (entfaltungsfähig) werden, dass andrerseits die äussern Einflüsse, welche als directe Reize und indirect als Bedürfnissreize wirken, Anpassungsanlagen im Idioplasma erzeugen, — dass somit die Eigenschaften der Organismen die nothwendigen Folgen von bestimmten Ursachen seien. Es ist nun auch die Berechtigung der gegentheiligen Theorie Darwin's zu prüfen, welche die Abstammungsveränderungen durch natürliche Zuchtwahl aus unbestimmten Wirkungen äusserer Ur- sachen entstehen lässt. Diese Frage wurde schon eingangs im all- gemeinen besprochen ; nun handelt es sich darum, sie im einzelnen rücksichtlich der Grundlagen und der Folgerungen mit meiner Theorie der bestimmten und directen Bewirkung zu vergleichen. Obgleich die entscheidenden Thatsachen in den vorstehenden Auseinander- setzungen bereits enthalten sind und den Leser in den Stand setzen, die Vergleichung vorzunehmen, so halte ich es, angesichts der so allgemeinen und begeisterten Zustimmung, welche das Darwin'sche Princip gefunden hat, doch für zweckmässig, die Unannehmbarkeit desselben noch in besonderen Ausführungen darzuthun. Die Erfahrungen über die Rassenbildung werden von Darwin folgendermaassen zusammengefasst. Wenn die Individuen einer Rasse VI. Kritik der Darmu' sehen Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. 285 variiren und zwischen denselben ungehemmte Vermischung statt- findet, so bleibt die Rasse im wesentlichen dieselbe, weil beginnende neue Merkmale durch die Kreuzung wieder verloren gehen. Werden aber nur diejenigen Individuen, welche die neue Eigenschaft voll- ständig oder in einem Anfange besitzen, durch eine Reihe von Generationen zur Fortpflanzung ausgewählt, so wird die Eigenschaft nach und nach beständig, indem häufig zugleich eine Steigerung derselben eintritt. Dieser Vorgang wird nun weiter von Darwin zu der Theorie verwendet, dass im natürlichen Zustande ein ana- loger Process stattfinde; nur werde die Zuchtwahl hier durch die Concurrenz getroffen. Die Individuen der natürlichen Sippen sollen variiren; und indem die Träger der nützlichen Eigenschaften die übrigen verdrängen, sollen sie allein zur A^ermehrung gelangen und vor der geschlechtlichen Vermischung mit den anderen weniger gut angepassten Individuen bewahrt bleiben. Wenn der Kampf ums Dasein nicht eine Auswahl träfe, so würden durch die Kreuzung die beginnenden Veränderungen immer wieder abgelenkt und ver- nichtet. Zwischen dieser Selectionstheorie und derjenigen der directen Bewirkung ist scheinbar nur ein kleiner Unterschied, indem nach meiner Ansicht der jetzige Zustand der organischen Reiche eben- falls durch die Veränderung der Individuen und durch die Ver- drängung herbeigeführt wurde. Aber die cansalo Bedeutung dieser beiden Processe ist eine andere : nach Darwin ist die Veränderuns: das treibende Moment, die Selection das richtende und ordnende; nach meiner Ansicht ist die A'^eränderung zugleich das treil^ende und das richtende Moment. Nach Darwin ist die Selection noth- wendig; ohne sie könnte eine Vervollkommnung nicht stattfinden und würden die Sippen in dem nämlichen Zustande beharren , in welchem sie sich einmal befinden. Nach meiner Ansicht beseitigt die Concurrenz bloss das weniger Existenzfähige ; aber sie ist gänzlich ohne Einfluss auf das Zustandekommen alles A'ollkomnmoren und besser Angepassten^). •) Dabei ühersehe ich keineswegs, dass Darwin die natürliche Zuchtwahl nur als das hauptsächlic'hste und nii'lit geradezu als das einzige Mittel zur Ab- änderung der LeT)ensformen bezeichnet; aber nach meiner Ansicht ist sie in keinem Falle ein Mittel dazu, 286 VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. Der Unterschied z\\ischen den beiden Theorien offenbart sich am deuthchsten, wenn wir uns fragen, wie die Reiche wohl be- schaffen wären, wenn die Concurrenz ganz mangelte. Ich habe diese Voraussetzmig schon in der Einleitung (S. 17) gemacht. Nach der Selectionstheorie müsste mit dem Auftreten der Geschlechts- differenz die Entwicklung der Reiche bei mangelnder Concurrenz aufgehört haben, weil nun eine ungehemmte Kreuzung die organische Welt in einem Chaos festgebannt hätte. Nach meiner Ansicht da- gegen würden sich auch bei fehlender Concurrenz alle Organismen, die wir jetzt kennen, gebildet haben ; es wäre in der nämlichen Zeit aus der einzelligen Alge ein Eichbaum und aus dem Infusorium ein Säugethier geworden; aber es wären neben den jetzt lebenden Wesen auch noch die Abkömmlinge aller derjenigen vorhanden, welche der Kampf ums Dasein verdrängt und vernichtet hat. Auf den untersten Stufen der lebenden Wesen, im Reiche der Probien und bei den niedrigsten Pflanzen und Thieren, geschieht die Vermehrung auf ungeschlechtlichem Wege. Hier hat die Selection noch keine Bedeutung, ein Umstand, der besondere Beachtung ver- dient. Hat nämlich eine Veränderung in einem Individuum be- gonnen, so kann sie sich stets in den Nachkommen desselben ver- erben und weiterbilden, weil keine Kreuzung sie stört. Der Kampf mns Dasein entfernt das weniger Existenzfähige und in zu grosser Zahl A^orhandene, aber er befördert nicht die Veränderung. Nach meiner Ansicht nun verhalten sich die geschlechtlichen Organismen ganz wie die ungeschlechtlichen , so dass der Fortschritt in der Organisation seinem Wesen nach überall der nämliche ist. Der Grund der verschiedenen Ansichten liegt in der Vorstellung über die Natur der Veränderung, und hierin besteht der Kern- punkt der Differenz zwischen den beiden Theorien. Nach der Meinung Darwin 's ist die Veränderung beliebig, richtungslos, daher in verschiedenen Individuen ungleich; nach meiner Ansicht hat sie einen bestimmten Charakter und daher in den verschiedenen Individuen eine gewisse Uebereinstimmung. Der Erfolg der einen und der anderen Annahme lässt sich leicht einsehen. Eine Sippe variire in ihren Individuen und die Veränderungen seien, wie Darwin es voraussetzt, ganz ungleich geartet, so werden die extremen Formen in der Regel nicht erreicht. Die Möglichkeit hiezu ist zwar nicht ausgeschlossen, aber die Wahr- VI. Kritik der Darmn'schen Theorie von der natürlit-lien Zuchtwahl. 287 scheinlichkeit ist ausserordentlich gering. Es müssten nämlich gerade zwei Individuen, die nach der nämlichen Richtung hin zu variiren angefangen hahen, sich begatten, und es müssten ihre Nachkommen durch eine Reihe von Generationen immer nur unter einander sich kreuzen^). Da aber eine allgemeine Kreuzung zwischen den Indivi- duen einer Sippe statthat, so erfolgt eine stete Ausgleichung zw^ischen den begonnenen Veränderungen rmd die Sippe bleibt in der Mitte ihres ganzen möglichen Formenkreises, wenn nicht die künstliche oder natürliche Zuchtwahl wirksam, eingreift und einer bestimmten Veränderung durch Entfernung der übrigen das Feld einräumt. Wenn aber dem entgegengesetzt in der fraglichen Sippe die Umbildung in allen Individuen nach der nämlichen Richtung statt- findet, so kann sie durch die Kreuzung nicht gestört werden. Ver- ändern sich in einem bestimmten Falle die übrigen Eigenschaften in den verschiedenen Individuen allseitig, eine Eigenschaft dagegen einseitig, so macht die Kreuzung alle anderen Variationen unmöglich, lässt aber die eine sich migehemmt ausbilden. Zeigt beisj)ielsweise die Behaarmig diese gleichmässige Abänderung, so wandelt sie sich in der ganzen Sippe so um, wie etwa in der Nachkommenschaft eines übereinstimmenden Paares, das sich nach der IMigrationstheorie in die Einsamkeit begeben hätte, um da einen neuen Stamm zu gründen, oder dem es nach der Selectionstheorie gelungen wäre, im Kampfe ums Dasein alle übrigen Individuen zu vernichten. Ein ähnliches Verhalten, wie eben für eine Sippe angenommen wurde, zeigen nun nach meiner Ansicht allgemein die natürlichen Sippen. Es gibt bei allen ein gewisses Gebiet von Eigenschaften, in welchem die Variationen allseitig, und andere Gebiete, in denen sie einseitig erfolgen. Die Variationen des ersten Gebietes unter- liegen im grossen und ganzen den Gesetzen, die nach Darwin für alle Variationen maassgebend sein sollten. Sie sind die unmittel- baren Folgen von klhuatischen und Ernährungseinflüssen, bestehen in mannigfaltigen Störungen der normalen Vorgänge und werden durch die Ki-euzung zum Theil unschädlich gemacht (S. 205), ent- wickeln sich zuweilen aber zu abnormalen Merkmalen, die in der ^) Deshalb ist die Hypothese der Absonderung oder Migration ersonnen worden, wie denn immer eine unnatürhche und deshalb ungenügende Hypothese, um sich zu stützen, eine andere noch unhaltbarere Hypothese aufsucht. 288 VI. Kritik der iDarwin'sclien Theorie von der natürlichen Zuchtwahh Cultur erhalten bleiben und Rassen bilden (S. 232), im natürlichen Zustande jedoch von den normalen und lebenskrältigen Individuen durch die Concurrenz beseitigt werden. Kreuzung und Concurrenz haben in diesem Falle eine conservative , die Sippe in dem einmal bestehenden Zustande erhaltende Wirkung. Die anderen Gebiete von Eigenschaften, diejenigen nämlich, in denen die Variationen gleichsinnig eintreten , werden dadurch be- dingt, dass alle Individuen von den nämlichen Ursachen in der- selben Weise getroffen werden. Diese Ursachen sind, wie ich früher ausgeführt habe, einerseits die Molecularkräfte , welche die in den Individuen einer Sippe übereinstimmende Configuration des Idio- plasmas bei der fortwährenden , mit dem Wachsthum verbundenen Micell-Einlagerung und -Umlagerung zu einer complicirteren Organi- sation führen, und andrerseits die äusseren Einflüsse, die als Reize wirken und die Anpassungen zu Stande bringen. Bezüglich dieser beiden Gebiete können Kreuzung und Verdrängung die Veränderung weder beschleunigen noch verlangsamen. Nachdem ich den Gegensatz der zwei Descendenztheorien dar- gelegt habe, will ich sie von den verschiedenen maassgebenden Ge- sichtspunkten aus vergleichend prüfen. Von zwei Theorien, die, wie es hier der Fall ist, einander ausschliessen , muss die eine falsch sein; die richtige aber muss sich als wahr erweisen, man mag sie von irgend einer Seite betrachten, und ihr darf keine Thatsache und kein Gesetz widersprechen, — während kein logischer Weg von einer Thatsache oder einem Gesetze aus zu der falschen Theorie führen kann. Ich glaube, dass die Selectionstheorie in jedem Falle, wo ein tliatsächlicher Anhalt gegeben und ein logisches Verfahren möglich ist, sich entweder als unhaltbar oder als weniger wahr- scheinlich erweist. Es wurden früher schon von mir und Andern verschiedene Einwürfe gegen die Selectionstheorie gemacht, und Darwin selbst hat sich alle Mühe gegeben, dieselben zu entkräften, während die Darwinisten sie nicht beachteten oder flüchtig darüber hinweg- gingen. Dies ist nicht überraschend ; der Meister kennt die Schwächen seiner Theorie, die er mühsam aufgerichtet hat, während die Jünger, auf die Worte des Meisters schwörend, Thatsachen und Gründe leicht VI. Kritik der Darwin' sehen Theorie von der natürhchen Zuchtwahl. 289 der Autorität der Lehre unterordnen. Ich werde übrigens jetzt, nachdem ich meinen früheren vermittelnden Standpunkt verlassen und auch die Ani^assmigen von der Zuchtwahl befreit habe, die Einwände in vermehrter Zahl und in schärferer Form begründen können. Ich hebe folgende sieben Gesichtspunkte hervor, welche uns die Abstammung durch Zuchtwahl unannehmbar machen: 1. Bezüglich der allgemeinen Bedeutung der Selectionstheorie ist die unbestimmte Wirkmig unbestimmter Ursachen und die dem Zufall allzusehr überlassene Entscheidung durch die natürliche Zucht- wahl unserem natm^wissenschaftlichen Bewusstsein weniger zusagend. Ferner setzt sich die Selectionstheorie, welche ihrem Princip gemäss nur nach dem erreichten Nutzen einer Erscheinung fi'ägt, um die- selbe zu rechtfertigen, in Widerspruch mit der wahren und exacten Naturforschung, welche vor allem die bewirkenden Ursachen der Dinge zu erkennen sucht. 2. Die Folgerung von der (künstlichen) Rassenbildung auf die (natürliche) Yarietätenbildung, welche die Grundlage der Selections- theorie ausmacht, ist unzulässig, da beide wesentlich verschieden sind und namentlich sich rücksichtlich der Kreuzung ungleich ver- halten. Die Varietäten nämlich vermischen sich sehr schwer mit einander und nehmen kein fremdes Blut in irgend wirksamer Menge auf, werden somit auch durch die ihnen gebotene Gelegenheit zur Kreuzung nicht verändert; mit diesen Eigenschaften stimmen ihre Vorkommensverhältnisse genau überein. 3. Nützliche A^eränderungen können erst, wenn sie eine bemerk- bare Höhe erreicht haben und in zahheichen Individuen vorhanden sind, eine ausgiebige Verdrängung der Mitbewerber bewirken. Da sie aber im Anfange durch eine lange Reihe von Generationen jeden- falls noch sehr unbedeutend und nach der Selectionstheorie auch nur in einer kleinen Zahl von Individuen vertreten sind, so bleibt die Verdrängung aus und eine natürliche Zuchtwahl kommt, da ihr der wirksame Hebel mangelt, überhaupt nicht zu Stande. 4. Die Ernährungseinflüsse, welche die Selectionstheorie voraus- setzt, bewirken thatsächlich keine erblichen Veränderungen, und wenn sie es thäten, so könnte eine Steigerung der begonnenen Abänderung nicht eintreten, weil die unvermeidhche Kreuzung eine natürliche Zuchtwahl unmöglich machen würde. Ferner lässt sich aus den unbe- Y. Nägeli, Abstammungslehre. 19 290 ^'^I- Kritik der Darwdn'schen Theorie von der natüi-lichen /Zuchtwahl. stimmten, in allen denkbaren Richtungen wirkenden Ernährungs- einflüssen der so stetige phylogenetische Fortschritt zu einer com- plicirteren Organisation nicht erklären . Ebenso wenig werden durch dieselben die Erscheinungen der Anpassung verursacht; dies ergibt sich einerseits aus dem Umstände, dass Gebrauch und Nichtgebrauch die Zu- und Abnahme der Organe bedingen, da diese Ursache für sich vollkommen ausreicht und daher die Mitwirkung einer zweiten andersartigen Ursache ausschliesst, — und andrerseits durch den ferneren Umstand, dass Anfänge von Organen bis zu der Grösse, wo sie in Gebrauch kommen mid ihre Nützlichkeit zu erproben vermögen, mangeln, obgleich sie durch die Ernährungs- einflüsse in Menge hervorgebracht werden müssten. 5. Die Eigenschaften der Organismen müssten in Folge der natürlichen Zuchtwahl um so constanter sein, je nützlicher sie sind, und Einrichtungen , die keinen Vortheil gewähren, könnten keine Beständigkeit erlangen. Im Widerspruche hiemit gehören gewisse, rein morphologische, mit Rücksicht auf den Nutzen indifferente Merkmale zu den allerbeständigsten. 6. Aus der Selectionstheorie , nach welcher von den ein- tretenden richtungslosen Veränderungen bloss die nützHchen fest- gehalten würden, lassen sich weder die Divergenz der Reihen in den organischen Reichen, noch die bestehenden Lücken in und zwischen den Reihen erklären, indem vielmehr eine netzförmige Anordnung der Sippen zu Stande kommen müsste. 7. Ebenso widersprechen jener Theorie das Nichtvorhandensein der von ihr behaupteten gegenseitigen Anpassung der Bewohner eines Landes und die bestehenden Naturalisationen fremder Er- zeugnisse. Diese Einwürfe gegen die Selectionstheorie, die ich hier bloss ganz allgemein formulirt habe, sollen im folgenden des Näheren begründet werden. I. Allgemeine Bedeutung der Theorie. Ich stelle diesen Punkt wegen seiner Allgemeinheit voran, obgleich ich ilnn keine entscheidende Wichtigkeit zugestehe. Es ist aber immerhin interessant zu untersuchen, in welchem Verhältniss VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. 291 die beiden Theorien zu unserer ganzen übrigen naturwissenschaft- lichen Anschauung stehen und welche allgemeine Bedeutung sie haben. Zunächst ist es zweckmässig, sich darüber klar zu sein, was die Theorien für die Abstammungslehre selbst zu leisten vermögen. Eine Richtigsteüung dieses Punktes wird deshalb nothwendig, weil bezüglich der Selectionstheorie in Deutschland fortwährend viel gesündigt wird. Ich will nicht von den Ueberschwenglichen sprechen, welche die Selection als ein Evangelium preisen und als Dogma verkünden. Aber selbst besonnenere Beurtheiler behaupten, dass die Abstammungslehre durch die Selectionstheorie wissenschaftlich begründet und bewiesen werde, wiewohl sie doch durch nichts anderes begründet und bewiesen werden kann als durch die Allge- meingültigkeit des Causalitätsgesetzes. Wie die Undulationstheorie nicht die Fortpflanzung des Lichtes beweist, sondern bloss zeigt, wie man sich dieselbe vorstellen könne, so vermag auch die Selections- theorie für die Abstammungslehre nicht mehr zu thun. Uebrigens wird dieser Lehre dm'ch solche Behauptungen ein schlechter Dienst geleistet ; denn würde die natürliche Abstammung wirklich begründet und l)ewäesen durch die Selectionstheorie, so müsste sie als falsch aufgegeben werden, sobald sich die Selection als Irrthum heraus- stellte. Die natürliche Abstammung steht aber als allgemeine That- sache so fest, dass sie alle unhaltbaren Theorien überdauern wird, die man an sie anknüpft. Der Unterschied der beiden Theorien lässt sich in seiner allge- meinsten Form folgendermaassen aussprechen. Nach der Selections- theorie bringen unbestimmte und nicht zu analysirende Ursachen (die äusseren Einflüsse) in den verschiedenen Individuen unbestimmte und nicht zu analysirende Wirkungen (die individuellen Verän- derungen) hervor, von denen eine, die nützlichste, durch Verdrängung der mit den übrigen Wirkungen behafteten Individuen allein Bestand gewannt. Die Theorie der directen Be Wirkung dagegen setzt be- stimmte, theils bekannte, theils zu erkennende Ursachen voraus, welche bestimmte Wirkungen, die morphologischen und phj^sio- logischen Eigenschaften der Organismen unmittelbar zur Folge haben. Die bestimmte Eigenschaft kommt nach der Selectionstheorie nur durch Elimination einer Menge von unbestimmten Eigenschaften zu Stande. Diese Elimination ist die Hauptsache; was Alles vor derselben entstehe, erscheint als gleichgültig, vorausgesetzt, dass 19* 292 ^^- Kritik der Darwin' sehen Theorie von der natürlichen Zuclitwahl. darunter auch das Nützliche sich befindet. Deswegen begnügt sich die Theorie damit, bloss ganz im allgemeinen auszusprechen, dass in den klimatischen und Ernährungseinflüssen die Ursachen zu mannigfaltiger Veränderlichkeit gegeben seien. Sie beschäftigt sich eingehend mit der A^erdrängung und Anpassung, erweist sich aber als unfruchtbar für die Erforschung der Ursachen und ihrer Wirkungs- weise, also gerade für das, was sonst als die Hauptaufgabe der exacten Naturwissenschaft angesehen werden muss. Nach der Selectionstheorie, welche die Veränderungen in unbe- stimmter Weise, also in jedem Theil des Organismus, selbst in jeder Zelle und nach allen Richtungen hin eintreten lässt, ist die bestehende organische Welt nichts anderes als ein Einzelfall von einer unend- lichen Zahl von Fällen, von denen viele, vielleicht alle durchprobirt und bis auf den einen unbrauchbar befunden wurden. Dies hat als ein blindes Walten von Natm^kräften Anstoss erregt. Allein von Seite der Naturforschung würde in dieser Beziehung allerdings kein Bedenken bestehen, da, wenn auch die Ursachen erforscht sind, doch ihr erster Grund, uns unbekannt bleibt, und daher überall in der Natur schliesslich von einem blinden, d. h. uns unverständlichen Geschehen gesprochen w^erden kann. Dagegen wird das naturwissenschaftliche Bewusstsein weniger befriedigt durch den Umstand, dass von der Selectionstheorie in den höchsten Regionen und in den kunstA^oUsten Einrichtungen der Natur dem Zufall em so grosser Einfluss eingeräumt mrd. Die phylogenetische Entwicklungsgeschichte eines Stammes besteht in einer grossen Zahl von Schritten. Die Eigenartigkeit jedes einzelnen Schrittes lässt jene Theorie bedingt werden durch die Beschaffenheit des Organismus, also durch die Eigenartigkeit der vorausgehenden Schritte, ferner durch die unbestimmte Beschaffenheit der äusseren Einflüsse, welche alle möglichen Veränderungen bewirken, und endlich durch diejenigen äusseren Verhältnisse, von denen es ab- hängt, welche der Veränderungen die anderen verdränge. Bau und Function, die ein Organismus animmt, hängen also nach der Selectionstheorie bei jedem Schritt von verschiedenen zufälligen Umständen ab, und dem entsprechend hat sich die Monade in dem einen Stamm zum Räderthier, in einem andern zur Qualle, in noch anderen zum Insect, zum Fisch, zmn Vogel, zum Säuge- thier und Menschen entwickelt. Hätten sich die Umstände anders ■\T;. Kritik der Darwin'sclien Theorie von der natürlifhen Zuchtwahl. 293 combinirt, hätten die klimatischen Veränderungen einen anderen Verlauf genommen, wäre die Wanderung der Organismen in anderer Weise eingetreten, so wäre nach dieser Theorie auch die Veränderung in den Individuen mid besonders die Verdrängung und die Zucht- wahl eine andere geworden; es hätten sich andersartige Stämme gebildet, und, was beispielsweise den Stamm der Säugethiere und des Menschen betrifft, so würde derselbe entweder ganz mangeln oder er hätte zu mehr oder weniger von der jetzigen Beschaffenheit abweichenden Organisationen sich entwickelt. Wenn ich sage, dass die Selectionstheorie dem Zufall einen wich- tigen Theil an der Abstammung überlasse, so meine ich nicht etwa, dass dieselbe nicht für jedes Geschehen die bestimmte Ursache voraus- setze. Aber wenn auch von einem absoluten Standpunkte aus Alles Nothwendigkeit und ebensogut Alles Zufall ist, so gibt es doch in relativem Sinne neben der Nothwendigkeit einen Zufall von objectiver (nicht bloss subjectiver) Bedeutung, indem jedes Ereigniss nur zu gewissen anderen in causalem Verhältniss steht und in Bezug auf alle übrigen Ereignisse den Charakter der Zufälligkeit besitzt. Es ist dies die Zufälligkeit, welche von der Wahrscheinlichkeitsrechnung zum Object ihrer Untersuchungen gemacht wird, — und dieser Zufälligkeit gestattet die Selectionstheorie einen allzu grossen Spielraum. Ich kann meinen Gedanken vielleicht am besten dm-ch ein Bild anschaiüich machen, das ich an ein Klndermärchen anknüpfen will. In demselben werden Zwerge in den Besitz der ersten Zeile eines Reimspruches gesetzt, zugleich mit der Bestimmung, dass sie so lange einem bestimmten Banne unterworfen sein sollen, bis sie eine dazu passende zweite Zeile gefunden. Sie singen nun beständig die erste Zeile, und keinem fällt etwas Gescheites ein, das sich dazu reimt. Endlich werden sie von einem Sonntagskind erlöst, welches in einfachster Weise den Spruch ergänzt. Die Zwerge hätten ihre Aufgabe auf dem Wege der Selection zu Stande bringen können, nämlich durch Probiren aller möghchen kleinen Zusätze zu der empfangenen Reimzeile, bis sich zuletzt eine zweite angepasst hätte. Sie konnten, um mit den allergeringsten, gleichsam molecularen Abänderungen vorzugehen, aus einem Alphabet durchs Loos einen Buchstaben ziehen, dann aus dem wieder ergänzten Alphabet einen zweiten Buchstaben und so weiter. Durch Verwerfen aller unbrauch- baren Buchstaben wären sie zum ersten Wort, dann zum. zweiten 294 ^"I- Kritik der Darwin'sclien Tlieorie von der natürlichen Zuchtwahl. und den folgenden Wörtern gekommen. Es hätte also jeder Buch- stabe und dann auch jedes Wort die Probe der Nützlichkeit bestanden, und alles wäre beseitigt worden, was mit Bezug auf den Sinn, die Construction, den Rhythmus und schliesslich den Reim sich als nicht existenzfähig erwiesen. In dieser Weise konnten die Zwerge sicher, wenn auch durch mühsame und langwierige Arbeit, sich von dem Banne befreien ; aber es hing vom Zufall ab, welchen Vers sie auf das ihnen Gegebene machten und welche von den Dutzenden möglicher Reimzeilen sie fanden. — Dies ist das Bild des indirecten Weges, auf dem die Selectionstheorie durch Probiren von allen möglichen Veränderungen die kleinen brauchbaren Fort- schritte gewinnt, welche sich zur Entwicklung der Reiche summiren. Nach der Theorie der directen Bewirkung dagegen ist Bau und Function der Organismen in den Hauptzügen eine nothwendige Folge von den der Substanz innewohnenden Kräften und somit unabhängig von äusseren Zufälligkeiten. Auch wenn die klimatischen Verände- rungen und die Wanderungen der Organismen in früheren Perioden sich wesentlich anders gestaltet hätten, so mussten die Organisations- stufen gerade so, und die Anpassungen konnten nicht viel anders werden, als sie jetzt sind. Damit treten die Organismen in Ueberein- stimmung mit den anderen individuellen Gestaltungen der Materie, namentlich mit den Krystallen, deren Bau ebenfalls im Wesentlichen von den der krystallisirenden Substanz innewohnenden Kräften und nur in unwesentlichen Dingen von den äusseren Umständen abhängt. Die Theorie der directen Bewirkung, welche alles Wesentliche an den Organismen aus bestimmten Ursachen hervorgehen lässt, setzt der Forschung ein klares und auf exacte Weise zu erreichendes Ziel, nämlich für die bekannten bestimmten Ergebnisse die noch unbekannten bestimmten Ursachen zu erforschen. Die Selections- theorie hat sich, indem sie von unbestimmten kleinen Ursachen und unbestimmten kleinen Wirkungen ausgeht, ihre Aufgabe schwieriger gemacht als jene Theorie oder auch leichter, je nach der Art, wie sie dieselbe erfüllen will. Die Aufgabe wäre offenbar schwieriger, wenn sie in exacter Weise gelöst werden sollte. Eine solche Lösung müsste nämlich möglich sein, — denn auch die Herleitung von bestimmten Ergebnissen aus unbestimmten Anfängen gestattet eine präcise Formulirung und eine genaue Behandlung, — wenn über- haupt die Ergebnisse auf diesem Wege zu Stande gekommen wären. \T;. Kritik der Darwn'schen Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. 295 Aber ein solches streng logisches Verfahren hätte zu unannehmbaren Folgerungen geführt und dadurch die Unhaltbarkeit der Prämissen dargethan. Die Anhänger der Selectionstheorie haben sich denn auch ihre Aufgabe im allgemeinen wesentlich erleichtert, indem sie der Theorie selbst einen allzu wenig bestimmten Ausdruck gaben und bei der Ausführung häufig auf noch weniger bestimmten Bahnen wandelten, mitunter wohl auch auf exacte Forschung überhaupt schlecht zu sprechen waren. In dieser Weise wurde es möglich, trotzdem dass im einzelnen viel Treffliches geleistet wurde, den jedesmaligen thatsächlichen Bestand aus der Theorie plausibel zu machen und als Bestätigung derselben hinzustellen, wenn im einzelnen Fall die Thatsachen auch noch so sehr mit den streng logischen Consequenzen im Widerspruche waren. Ich werde dies bei der Besprechung der übrigen Punkte darthun. Das Princip der Selectionstheorie, dass aus zufälligen und un- bestimmten Abänderungen nur das Beste behalten werde, erzeugt naturgemäss die Meinung, dass jede Bestand gewinnende Er- scheinung etwas Auserlesenes, etwas durch seine Nützlichkeit Er- j)robtes sein müsse. Deswegen geht die Forschung der Darwin- schen Schule vor allem aus nach dem Nutzen einer jeden orga- nischen Einrichtung. Ein solches Verfahren hat innerhalb rationeller Grenzen gewiss seine Berechtigung; denn zur vollständigen Er- kenntniss eines Dinges gehört ja auch die Kenntniss seiner Wir- kungen, insofern wir aus denselben eine bessere Einsicht in seine Natur erlangen. Hier ist aber nun zuvörderst eine Einschränkung zu machen. Die Wirkungen eines Ereignisses sind mehr oder weniger unmittelbar und sie sind der Zahl nach unbestimmt, da von demselben eine Menge von nachfolgenden Ereignissen in grösserem oder geringerem Maasse beinflusst wird. Was uns wissenschaftlich interessirt, sind die unmittelbaren Folgen, die in der Kette von Ursachen und Wirkungen zunächst aus jenem Ereigniss hervorgehen und als deren bewirkende Ursache es erscheint. Einzig in dieser Beschränkimg lege ich Werth auf die nützliche Function der AnjDassungserscheinungcn, weil aus ihr zuweilen ein Pückschluss auf die Ursachen möglich 296 ^"I- Kritik der Darwin'sehen Tlieorie von drr natürliclien Zuclitwahl. ist. Der Nutzen einer organischen Einrichtung ist aber manchmal nicht eine solche unmittelbare, sondern eine mehr oder weniger vermittelte, zuweilen selbst ziemlich weit abliegende Wirkung. Er bietet dann auch, indem er wenig zur Erkenntniss des Wesens jener Einrichtung beiträgt, nicht ein unmittelbar wissenschaftliches, sondern mehr ein praktisches Interesse mit Rücksicht auf das ontogenetische und phylogenetische Bestehen des bestimmten Organismus dar. Der wissenschaftliche Werth, den das Forschen nach dem Nutzen der organischen Erscheinungen haben kann, wird oft noch ver- kümmert durch ein Verfahren, das man nicht immer als ein genaues und kritisches anzuerkennen vermag. Indem manche Anhänger der Selectionstheorie nicht unbefangen die Wirkungen prüfen, sondern um allen Preis in jedem Vorkommniss einen Nutzen auffinden wollen, welcher den Daseinsgrund und die phylogenetische Erklärung seiner Entstehung abgeben soll, verfallen sie in einen ähnlichen Fehler wie die auf einem ganz entgegengesetzten Standpunkte be- findlichen Teleologen. So wird das Verfahren, statt wissenschaftlich zu bleiben, zur Manier. Es braucht ja nicht gar sehr viel Scharf- sinn, um aus irgend einer organischen Erscheinung einen wirklichen oder eingel^ildeten Nutzen für ihren Träger herauszuklügeln. Aber welche Berechtigung liegt in einem solchen Erfolge, w^enn man sich gestehen muss, dass, wenn die Erscheinung anders wäre, der Nutzen ebenso deutlich oder noch deutlicher hervorträte. Man muss s-ich überhaupt damit bescheiden, dass die Dinge in der organischen Welt, gerade so wie in der unorganischen Natur, da sind, weil sie eben da sind, weil nämlich die sie bewirkenden Ursachen ihnen vorausgingen, und dass ihr Bestehen weiter nichts als ihre Existenzfähigkeit und den Mangel anderer verwandter Dinge mit grösserer Existenzfähigkeit beweist. Wenn man das Verfahren der Selectionstheorie auf die unorganische Natur anwenden wollte, was liesse sich nicht Alles über nützliche Anpassungen der Er- scheinungen sowohl an andere unorganische als an organische Erscheinungen sagen? Welche Betrachtungen könnten nicht allein über die theilweise exceptionellen Eigenschaften des Wassers an- gestellt werden. Glücklicher Weise begnügen sich Physik und Chemie damit, die Ursachen zu erforschen, und niemand stellt Speculationen darü])er an, welche Vortheile oder Nachtheile die sechseckige Form der Schneeflocken und die kugelige Gestalt der Regentropfen gewähren. VT. Kritik (k'i- Darwiii'schfu Thcork' von ilcr natiu-lichcii Zuchtwahl. 297 Die unorganische Natur im ganzen und im einzelnen wird von der exacten Wissenschaft jeweilen als ein System von Krcäften und Bewegungen angesehen, die sich gegen einander ins Gleich- gewicht gesetzt haben und, wo dasselbe gestört wird, einem neuen Gleichge\Wcht zustreben. Die organische Natur ist ebenfalls sowohl als Ganzes wie in jedem einzelnen Theil ein solches, nur ^^el com- plicirteres, System von Kräften und Bewegungen, und die Aufgabe der phylogenetischen Wissenschaft ist es vor allem, die Ursachen der Gleichgewichtsstörungen und damit der stetsfort eintretenden Veränderungen, nicht irgendwelcher anderer daraus sich ergebender Beziehungen, aufzusuchen. Die Generationenreihen, die von den einfachsten organischen Formen und ihren Entstehungszeiten zu den jetzt bestehenden Orga- nismen hinül)er führen, sind, wie ich zu zeigen gesucht habe, nichts anderes als materielle Systeme aus Idioplasma bestehend, welche die ganze Zeit über andauern, ihren Gleichgewichtszustand unter dem Einfluss von inneren und äusseren Ursachen stetig ändern, durch Vermehrung sich vervielfältigen und in Folge der gegenseitigen Verdrängung jeweilen in den existenzfähigsten Gleichgewichtszu- ständen fortbestehen. Die Erkenntniss jedes spätem Gleichgewichts- zustandes beruht auf der Erkenntniss des früheren Zustandes und der d^enselben abändernden Ursachen. Die Werthschätzung aber der Existenzfähigkeit und Verdrängungstüchtigkeit des Ueberlebenden ist im allgemeinen unmöglich, weil der Werth der unterlegenen und verdrängten Gleichgewichtszustände unl)ekannt ist; sie lässt sich möglicher Weise nur für den bestimmten Fall beurtheilen, wenn die ^'^erdrängung noch nicht perfect geworden ist und somit die concurrirenden Zustände der Beobachtung zugänglich sind. 2. Schlussfolgerung von der Rassenbildung auf die Varietätenbildung. Nachdem ich die allgemeine wissenschaftliclie Bedeutung der Selectionstheorie betrachtet habe, scheint es passend, zuerst den- jenigen Punkt ins Auge zu fassen, welcher zu der Theorie Veran- lassung gegeben hat. Indem Darwin die Entstehung der (natür- lichen) Varietäten aus der natürlichen Zuchtwahl erklärt, leitet er diese Annahme nicht etwa aus der Beobachtung thatsächlicher A^er- 298 ^^I- Kritik der Darmn'sclien Theorie von der natttrliehen Zuchtwalil. hältnisse ab, er stützt sie auch keineswegs durch thatsächhche Anhalts- punkte; sondern er beruft sich dafür ledigUch auf die Analogie der (künstlichen) Rassenbildung. Wie eine neue Rasse nur dann entstehe, wenn die Kreuzung mit abweichenden Individuen verhindert werde, so soll eine neue Varietät nur dann Bestand gewinnen können, wenn die abweichenden Individuen durch die Concurrenz beseitigt und somit die Reinzucht durch natürliche Zuchtwahl ermöglicht werde. Nun besteht aber zwischen Rasse und Varietät in den wesent- lichen Eigenschaften ein scharfer Gegensatz, indem die erstere innerhalb weiter Grenzen äusserst variabel, die letztere in den engsten Grenzen sehr constant ist (S. 235). Es ist also bei Anwendung der Analogie die grösste Vorsicht geboten und vorher zu untersuchen, ob bezüglich der Kreuzung und deren Wirksamkeit die vorausgesetzte Uebereinstimmung bestehe. In der That waltet nun aber auch in dieser Beziehung, nach den zahlreichen Beobachtungen, die ich darüber angestellt habe, eine wesentliche Verschiedenheit ob. Während die Rassen von gleicher Abstammung, auch wenn ihre sichtbaren Merkmale noch so weit von einander abweichen, sich äusserst leicht kreuzen, so haben Pflanzenvarietäten, die einander sehr nahe stehen, eine grosse Abneigung gegen geschlechtliche Ver- mischung. Es geht dies aus ihrem Verhalten in der Natur und im Garten deutlich hervor. Verfolgt man nahe und nächst verwandte Varietäten auf ihren Standorten, so findet man sie oft ohne alle Zwischenformen beisammen. Man darf freilich, besonders wenn sie bloss in einem einzigen Merkmal von einander abweichen, nicht ohne weiteres auf fehlende Kreuzung schliessen, weil möglicherweise das Unterscheidungsmerkmal sprungweise abändern könnte (S. 185, 199). In den meisten Fällen jedoch zeigt der Mangel von Mittelformen sicher an, dass keine Kreuzung stattgefunden hat. Andere Varietäten dagegen findet man, wenn sie in Gesellschaft leben, mit Uebergangs- stufen, die offenbar hybriden Ursprungs sind. Aber diese Uebergänge kommen immer verhältnissmässig spärlich vor, oft nur in wenigen Exemplaren. Aus ihrer Zahl ergibt sich das Verhältniss der Kreuzungen zur Inzucht. Setzen wir zuerst den hypothetischen Fall, dass zwei Sippen in gleicher Indi\dduenzahl beisammen seien und die Kreuzung zwischen ihnen ebenso leicht erfolge , wie die Selbstbefruchtung und die Inzucht. Dann ist gemäss der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der VI. Kritik th-v Dai-\vin'schcii Theorie von der natürliehen Zuchtwahl. 299 ersten Generation die Individuenzahl der Bastarde doppelt so gross als die Individuenzahl jeder Sippe; in der zweiten Generation beträgt die Zahl der hybriden Individuen 14 mal so ^del als die Individuen- zahl jeder der beiden reinen Sippen, in der dritten Generation 254mal so viel, und so steigt das numerische Uebergewicht der hybriden Produete dermaassen rasch, dass nach wenigen Generationen die reinen Sippen verschwinden^). Sind die beiden Sippen ursprünglich in ungleicher Individuen- zahl vorhanden, so zeigen unter der nämlichen A^oraussetzung die Bastarde natürlich andere Verhältnisszahlen. Immer aber steigt ihre Menge sehr rasch und die numerisch schwächere der reinen Sippen wird bald ganz verdrängt. Ist von diesen die eine anfänglich 10 mal zahlreicher als die andere, so macht die letztere schon nach der ersten Generation bloss den 121., nach der zweiten den 14641., nach der dritten Generation den 2 14 millionsten Theil aller Individuen aus, indess die zahlreichere Sippe schon nach der dritten Generation von den hybriden Producten numerisch übertroffen wird^). 1) Die beiden Sippen seien mit A und B, die ursprüngliche Individuenzahl einer Jeden mit n bezeichnet, so zeigen die aufeinander folgenden Generationen nachstehende Verhältnisszahlen : O.Gen, n Ä-\- n B. — Summe der Individuen 2n. I.Gen, n A-\~n B-\-2n {Ä~{-B). — Summe 4n. 2. Gen. n A-i^ n B -^ 6n (A-\- B) + An (SA-{-B)-\- 4n (^ + 3J5). — Summe 16« S.Gen, n A-\-n B + 10n (A-\-B)-\-2Sn (ßA~{-B)-\-28n(A-^3B)-\-Sn(l A-\-B. -)- 8« (^ + 75) -f- 56 /i (5^ + BB) + 56w (3^ + 5B). — Summe 256«. Die in () eingeschlossenen Formeln zeigen die Mischung des Blutes in den Bastarden an; (5A-{'3B) bedeutet also, dass in dem Bastard ^/s Blut von A und ^/s Blut von B enthalten ist. Wemi che beiden Sippen und ihre Abkömmlinge zusammen in 1000 Indi- viduen auf einem Standorte vertreten sein kömien, so kommen anfänglich (in der 0. Generation, d. h. ehe die hybride Begattung beginnt) 500 J und 500 B vor, in der 1. Generation 250 4, 250B und 500 Bastarde, in der 2. 62V2^, ^2'liB und 875 Bastarde und in der 3. Generation 4:A, AB und 992 Bastarde. ^) Man hat in den aufeinander folgenden Generationen : O.Gen, n A-\~10n B. — Summe der Indiwluen 11«. I.Gen, n .1 + 100« B + 20n(A + B). — Summe 121«. 2. Gen. n A -\- 10000« B + 600« (A -j- B) -\- 40« (34 + JB) -f 4000« (A -}- SB). — Summe 146417*. 3. Gen. « A + 100000000« B -f- 700000« (A + B) -f 2800« (3.4 + B) 4-28000000« (A + 35) + 80« {1 A + J5) + 80000000« (A -j- 1 B) + 56000« (54 + 3ii) 4- 5600000« (34 + 5B). — Summe 214358881 «. Wenn die beiden Sippen mit ihren Abköimnlingen in der constanten Zahl von 1100 auf einer Locahtät leiten können, so treffen auf tlie 0. Generation (vor 300 VI. Kritik der Darwin' scheu Tlieorie von der natürlichen Zuclitwahl. Aus dem Zusammenhalt dieser Berechnungen mit dem natür- lichen Vorkommen geht deutlich die geringe Neigung der Varietäten, sich mit einander zu kreuzen, hervor. Wenn bei gleicher Individuen- zahl der beiden Sippen auf je 1000 Individuen einer jeden derselben in einer bestimmten Gegend je 1 Bastard trifft und die Bastarde keine Nachkommen haben, so ist hier die Neigung zur Kreuzung 2000 mal geringer als diejenige zur Inzucht. Würden die Bastarde sich fortpflanzen, so würde sich aus dem Vorkommens verhältniss 1 : 1000 eine noch geringere Neigung zur Kreuzung berechnen. Ich bemerke noch, dass die Varietäten aus den verschiedensten Gruppen des Pflanzenreiches sich in dieser Beziehung gleich verhalten und dass auch die vielförmigsten Gattungen, bei denen man eine grössere Neigung zu geschlechtlicher Vermischung erwarten möchte, keine Ausnahme machen. Bei der Gattung ■ Hieracium mit ihren zahllosen Varietäten sind die hybriden Formen, wie sich aus einem genaueren Studium ergibt, viel seltener als man beim ersten Anlaufe vermuthet. Die Erfahrungen der Cultur stimmen mit dem Ergebniss der Beob- achtungen im Freien überein. Es ist bekannt, dass, wenn mehrere verwandte Rassen neben einander cultivirt werden, aus den Samen derselben immer eine grössere Anzahl von Kreuzungsproducten auf- geht. Befinden sich aber aus dem Freien eingeführte Varietäten neben einander im Garten, so sind unter den Samen nur sehr selten solche hybriden Ursprungs. Wie ich angegeben habe, werden im Münchner Garten ca. 2500 Nummern von Hieracien gezogen. Aus den geern- teten Samen wurden bis auf einige wenige Ausnahmen, die Bastarde er- gaben, genau die Mutterpflanzen erhalten, und unter den vielen spontan aufgegangenen Samen befanden sich nur ganz vereinzelte Bastarde. Der Grund, warum Rassen gemeinschafthchen Ursprungs selbst bei grosser Verschiedenheit der Merkmale sich leicht, dagegen Varietäten gemeinsamen Ursprungs bei germger Verschiedenheit der Merkmale sich schwer unter einander kreuzen, dürfte, insofern beide durch die nämlichen Merkmale unterschieden sind, in ihrem un- gleichen Alter zu suchen sein. Die ersteren bestehen immer nur seit verhältnissmässig kurzer Zeit, die Blutsverwandtschaft zwischen Beginn der hybriden Befruchtung) 100 A und 1000 B , auf die erste 9 A, 909 B und 182 Bastarde, auf die zweite ^lisA, 7ol B und 349 Bastarde und auf die chitte Generation Vi94s7w4., 513 B und 577 Bastarde. VI. Kritik der Dar^Ain'sclie'u Theorie von der natürliclien Zuchtwahl. 301 ihnen ist sehr nahe, die Constanz, die sie erlangt haben, sehr gering. Die Varietäten aber haben ein ganz ungleich höheres Alter, dem- entsprechend eine geringe Blutsverwandtschaft und eine grosse Be- ständigkeit. Die Wirkung dieser Momente geschieht durch das Idioplasma, welches bei der geschlechtlichen Befruchtung eine grössere oder geringere Neigung zur Vereinigung besitzt. Das Idioplasma der Rassen von gemeinsamem Ursprung hat die Configuration, die es in den Stammeltern besass, noch nicht wesentlich verändern und eigenthümlich gestalten können. Das Idioplasma der Varietäten dagegen hatte Zeit, sich specifisch auszubilden, und in Folge dessen ist die Uebereinstimmung in seiner Configuration geringer. — Es gibt übrigens auch Varietäten, die sich schon deswegen nicht kreuzen, weil ihre idioplasmatischen Anlagen an und für sich eine Vereinigung nur schwer oder gar nicht gestatten. Diese Varietäten haben, schon ehe sie fertig gebildet sind, eine Abneigung vor gegen- seitiger Befruchtung (vgl. S. 255 — 257). Es ist nun die Frage, welchen Einfluss werden zwei Sippen, die in dem beschränkten Connubimn leben, wie es mit den natür- lichen Varietäten thatsächlich der Fall ist, aufeinander ausüben? Wir können diese Frage sowohl theoretisch als durch Erfahrung beantworten. Was die Theorie betrifft, so lässt sich nach Wahr- scheinlichkeitsrechnung bestimmen, wie viel Blut bei bestimmter Anzahl der hybriden Producte eine Varietät aus der andern auf- nimmt. Sind keine hybriden Zwischenformen vorhanden, so geht natürlich kein Blut von einer Sippe in die andere über. Ebenso verhält es sich, w^enn nur die Mittelform [Ä-]-B) besteht, weil in diesem Fall eine weitere Bastardirung nicht statt hat. Kommen aber ausser der Mittelform auch andere hybride Glieder zwischen dieser und den Stammsippen vor, so hängt der Erfolg von der Häufigkeit dieser weiteren Bastardirungen ab. Dieselbe lässt sich in der Praxis jedoch nicht ziffermässig angeben, weil die ein- zelnen Glieder nicht sicher erkannt werden. Wenn der j^i'i'^^^ii'e Bastard {Ä-\-B) der beiden Sippen Ä und B sich weiter mit der Sippe Ä kreuzt, so hat die zweite hybride Generation die Formel (3^4-5), die dritte {lÄ-\-B), die vierte (15.4+1>'), die fünfte [iMÄ-{-B) u. s. w. Schon die zweite Generation (o^l-j-J5) lässt sich in der Regel nur schwer, die andern aber meist gar nicht nacli ihrem Bastardirungsgrade erkennen. B02 ^""T- Kritik der Darwin'sclien Theorie von der natürlichen 5iuchtwahl. Eine sichere Berechnung lässt sich daher nur in der Art aus- führen, dass man für einen bestimmten Fall das Maximum des Blutes, das aus einer Varietät in die andere übergeht, feststellt. Dieses Maximum erhält man, indem man eine grössere Neigung zur Bastardirung zwischen der Mittelform und einer Stammsippe voraus- setzt, als sie wirklich vorkommen kann. Zu diesem Behuf nehme ich a]i, dass die Neigung des primären Bastardes (^l-j-l)'), sich mit ^ zu kreuzen, 100 mal so gross sei als die Neigung zur Bastardirung zwischen Ä und JB, was, nach der Seltenheit der Form {3Ä~\-B) bei allen natürlichen Pflanzenbastardon entschieden zu viel ist, und dass die Neigung der zweiten hybriden Generation (3 A -4- B) sowie der folgenden zur geschlechtlichen Vermischung mit der Varietät A genau ebenso gross sei als die Neigung der letzteren zur Inzucht, was ganz sicher weit übertrieben ist. Wenn nun auf je 1000 Indi- viduen von A und von B 1 Individuum der Mittelform [A-}-B) trifft, so ist die Neigung dieser beiden Formen, sich mit einander zu bastardiren, 2000 mal geringer als die Neigung zur Inzucht, und die Neigung der Sippe A, sich mit dem primären Bastard zu kreuzen, 20 mal geringer als die Neigung zur Inzucht. Solange imn dieses Verhalten andauert, geht mit jeder Generation V^oooo Blut von der Varietät B in A über, oder mit andern Worten, 40000 Individuen von A nehmen das Blut von einem Individuum B auf. Ist die Individuum- zahl von A nicht sehr gross, so wird die Form {oA-{-B), weil ihre Ziffer unter V2 sinkt, leicht ausbleiben, und dann auch der Ueber- gang von Blut gar nicht zu Stande kommen^). Diese Berechnung gilt bloss für den Fall, dass die gemachten Annahmen wirklich erfüllt sind, dass nämlich in einer Gegend der primäre Bastard [A-\-B) den tausendsten Theil der Individuenzahl ') Unter den obigen Voraussetzungen berechnen sich für die aufeinander folgenden Generationen folgende Verhältnisszahlen, wenn die beiden Stammsippen in gleicher Zahl vorhanden sind und die Gesammtindividuenzahl ungefähr 20000 beträgt : 0. Gen. 10000 A + 10000 B. 1. Gen. 10000 A + 10000 J3 + 10 (^ + B). 2. Gen. 10000 A + 10000 £ + 10 (^ -|- 5) 4- 1 (3^ -f 5). 3. Gen. 10000 A + 10000 B -\-10(A -\- B)-\-l (ßA ]- B)'^2 (7 A-\- B). 4. Gen. 10000 A -f 10000 B -\-\0{A^B)-\-l(ßA -|- J5) + 2(7 ^+iJ)+4(15^ + £). 1(^1 habe die kleinsten Glieder weggelassen, da sie gar keine Wirkung haben können ; in der 3. Generation wäi-e nämlich noch Vioo(5.4 -|-37?), in der 4. Genera- VI. Kritik der Danvin'sc-hen Theorie von der natürliehen Zuclitwahl. 308 von Ä ausmacht, dass auf je 10 Individuen desselben 1 Individuum des secundären Bastards {3Ä-\-B) kommt, und dass die übrigen Glieder der hybriden Uebergangsreihe in der angegebenen Zahl vorhanden sind. Diese Bedingungen treffen aber fast nie ein, weil die Bastarde nicht das angegebene numerische Verhältniss erreichen, und es kann daher als ein höchst seltener Fall bezeichnet werden, wenn einmal eine Sippe wirklich V40000 fremdes Blut in sich aufnimmt. Man möchte vielleicht einwenden, dass die primären Bastarde in einzelnen Gattungen mehr als Vi 000 der Individuenzahl einer Stammsippe betragen. Dies ist gewiss richtig für einzelne Standorte, Aber es gibt andere Standorte, wo die beiden Stammsippen ohne Bastarde vorkommen, und viele Standorte, wo nur eine derselben (ebenfalls ohne Bastarde) wächst, so dass das Verhältniss von f looo selten erreickt wird. — Sollte dieses Verhältniss aber auch da oder dort überschritten werden, so wächst wohl der Bruchtheil des auf- genommenen fremden Blutes in entsprechendem Maasse, ohne dass deswegen das allgemeine Resultat sich ändert. Das wichtigste und das ausschlaggebende Moment besteht nämhch nicht in der Zahl der Bastarde überhaupt, sondern in der Thatsache, dass fast nie die ganze hybride Uebergangsreihe von dem primären Bastard [Ä-^B) bis zu einer der beiden StammsijDpen vorkommt. Häufig findet man bloss den primären Bastard [Ä-\-B); seltener beob- achtet man neben demselben noch den secundären Bastard [3ä-\-B) oder einen anderen, der sich noch mehr der Sippe J. nähert. Ein solches Verhalten lässt aber die Reinheit der Sippe ganz unberührt; nur wenn sich die ganze Uebergangsreihe bildete, könnte fremdes Blut in die Stammsippe übergeführt werden. Gewöhnlich sterben die Bastarde oder ihre Nachkommen, ohne dieses Ziel zu erreichen. tion wären V500 (5 J. + SB) -f 2/500 (U ^ -f- 5B) + Vsooo (134 + SB) iind drei andere noch viel kleinere Ausdrücke beizufügen. Die Bedeutung dieser Eeihe ist klar. Die Bastarde, die der Stammsippe Ä am nächsten kommen , haben in der 2. Generation die Formel Qi A-{~ B), somit */4 Blut von A und V* Blut von B, in der 3. Generation die Formel (7Ä-\-B), also Vs Blut von B, in der 4. Generation Vie Blut von B und die Formel (15 J.-I--B) u. s. w. ; in gleichem Maasse, wie das Blut von B in den im Ueber- gange zu A am meisten fortgeschrittenen Bastarde sich verdünnt, ninnnt die Zahl dieser Bastarde zu. Die 2. Generation hat 1 Individuum mit V4B, die 3. 2 Indiv. mit VsJB, die 4. 4 Indiv. mit VisJB, die 5. Generation hat 8 Indiv. mit Vsa^ u. s. w., so dass also mit jeder Generation das Blut von V4JB in die 10000.1 übergeht. 304 VI. Kritik der Darwin'selien Tlieorie von der natürlichen Zuchtwahl. Tritt nun aber einmal unter ganz besonders günstigen Um- ständen der Ausnahmefall ein, dass ^/loooo oder auch etwas mehr fremdes Blut in eine Sijjpe übergeht, so erhebt sich erst die Frage, was denn ein solches Ereigniss eigentlich zu bedeuten habe. Darüber gibt uns folgende Er\vägung hinreichenden Aufschluss. Der primäre Bastard [A -\- B) enthält V2 , der secundäre (3 ^ -]- B) enthält '/-i, der tertiäre [lA^B] Vs, die folgenden Glieder der hybriden Uebergangsreihe Viü, ^32, V«*, V128, \256, V512, '/102.1 u. s. w. Blut der andern Sippe [B). Je mehr das fremde Blut sich in einer Sippe ausl:)reitet, um so geringer wird sein Bruchtheil. Die Micellgruppen des Idioplasmas, welche die Anlagen darstellen, bestehen aus einer begrenzten Zahl von Micellen. Wenn das fremde Blut in dem Maasse, wie es die vorhin angeführte Reihe zeigt, abnimmt, so werden die demselben entsj^rechenden Micellgruppen bald so klein, dass sie nicht mehr die Bedeutung von Anlagen haben. Denn ein einzelnes Micell oder auch ein Paar, vielleicht noch 3 und 4 Micelle wirken nicht als fremdes Blut, sondern bloss als ernährende Substanz. Man kann also nicht sagen, dass die Sippe J., wenn sie */4oooo Blut von B aufnimmt, sich um V40000 ihrer Eigenschaften der Sippe B nähere ; sie bleibt in Wirklichkeit ganz unverändert, weil das fi"emde Blut bei einer gewissen Verdünnung seine specifische Wirksamkeit ganz verliert. Auch die öfters wiederholte Aufnahme von so geringen Mengen fremden Blutes hätte keine Wirkung, weil dabei nicht etwa kleine Werthe, sondern Nullen summirt würden. Dies gilt für alle Anlagen des fremden Blutes, die in bemerkbarer Weise von denen des eigenen Blutes abweichen, denn dieselben werden unvermischt in das Idioplasma eingelagert, wie es auf Seite 226 der »zweite Typus der Vereinigung« angibt. Anders als die (natürlichen) Varietäten und Arten verhalten sich die (künstlichen) Rassen, und man spricht mit vollem Rechte davon, dass eine Rasse fremdes Blut aufgenommen habe und dadurch verändert worden sei. Die Verschiedenlieit rührt aber nur daher, weil die Mengenverhältnisse ganz andere sind. Wird eine Rasse durch fremdes Blut verbessert, so macht das letztere bei diesem künstlich eingeleiteten und überwachten Vorgang einen Bruchtheil von merklicher Grösse aus. Man begreift, dass Vi bis Vie oder selbst V32 Blut einen Organisnms in einer bestimmten Weise zu verändern vermag. VI. Kritik der Darwin'schcu TliCMjrie von der natürlielien Zuclitwald. IJOo Uebrigens koniint bei diesem Vorgang noch ein anderer Umstand zur Geltung. Wenn beispielsweise eine Rasse A durch Einführung von bloss V32 Blut von B merklich verändert wird, so besteht diese Veränderung nicht etwa nur in einem in der Grösse von V32 nach B hin gemachten Schritt, sondern die Veränderung besteht namentlich auch darin, dass durch die Kreuzung Eigenschaften, die bisher in Ä latent waren, manifest werden. Würde aber, was aller- dings keinem Thierzüchter einfällt, in eine Rasse IdIoss Vi 000 bis V40000 fremdes Blut eingeführt, so verschwände dasselbe darin wohl ebenso spurlos wie in einer natürlichen Varietät oder Art. Und wenn es eine geringe Wirkung haben sollte, so geschähe es gewiss bloss durch manifest werdende eigene Eigenschaften, nicht durch Uebertragung fremder IMerkmale. Die theoretische Betrachtung drängt uns also die Schlussfolge- rung auf, dass natürliche Varietäten und Arten, die in dem be- schränkten Connubium leiten, wie es in der freien Natur der Fall ist, gar keine verändernde Wirkung auf einander auszuüben ver- mögen. Es ist dies ein sehr merkwürdiges Resultat, welches man bei einem allgemeinen Ueberschlag kaum erwarten würde, und das man erst begreift, wenn man den Verlauf der Kreuzungen in exacter Weise analysirt. Dieses aus dem Vorkommen der Kreuzungsproducte abgeleitete Resultat ist übrigens in genauer Uebereinstimmung mit einer Reihe von Erfahrungsthatsachen. Wenn in einer Gegend eine Sippe Ä mit einer andern B im Connubium lebt und Blut aus ihr aufnimmt, so möchte man erwarten, dass sie in ihren Merkmalen etwas ver- schieden sei von ihren Sipj)enangehörigen, die in einer andern Gegend leben und daselbst Reinzucht halten. Dies ist nicht der Fall, und dadurch wird l:)ewiesen , dass in der That entweder kein Blut auf- genommen wird, oder dass das aufgenommene Blut keine A^erände- rung der Merkmale verursacht. Ich habe Hieracien -Varietäten von Standorten, wo sie durch gleitende Uebergänge verbunden zu sein scheinen und wo somit die Mögliclikeit besteht, dass sie Blut von einander empfangen hal)en, mit solchen aus anderen Gegenden, wo keine Uebergänge vor- konnnen, genau verglichen und nicht den geringsten Unterschied auründen können. Das gleiche Ergebniss erhielt ich bei Cirsien- Arten. Einige derselben l)ilden in gewissen Gegenden ziemlich V. Nägel i, Abstammungslehre. 20 ^306 VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. zahlreiche Bastarde, so z. B. C. palustre und C. oleraceum, C. rivii- lare und C. oleraceum. Es gibt auch Individuen von C. oleraceum sowie von C. rivulare und C. 2:)alustre, welche unzweifelhaft den Einfluss wiederholter Bastardirung zeigen, so dass sie vielleicht der Formel [31 A-\-1j) oder (G3^-|--^) entsprechen. Aber alle übrigen Individuen unterscheiden sich nicht von C. oleraceum, C. rivulare oder C. palustre aus Gegenden, wo diese Arten allein vorkommen und wo man eine von jeher bestehende Reinzucht sicher annehmen kann. .Aus den angeführten Thatsachen und Erwägungen geht un- bestreitbar hervor, dass man aus den Erfahrungen an den (künst- lichen) Rassen nicht auf das Verhalten der (natürlichen) Varietäten bei der Kreuzung schliessen darf. Die Rasse kann nur zu Stande kommen , wenn die schädliche Kreuzung vermieden ist. Die Aus- bildung und Divergenz der Varietäten dagegen ward durch die Kreu- zung nicht gestört. Diese Folgerung habe ich vor längerer Zeit schon aus der Thatsache gezogen, dass alle, auch die geringsten Grade der Variation von Pflanzenarten beisammen auf den näm- lichen Standorten getroffen werden, und ich habe daraus weiter das mit der Selectionstheorie im Widerspruche stehende gesellige Ent- stehen der Varietäten gefolgert^). Dabei beurtheilte ich die Verän- derung noch ausschliesslich nach den sichtbaren Merkmalen. Ich habe nun die Entstehung der Varietäten auch von der einzig- vorwurfsfreien und zulässigen Seite, nämlich mit Rücksicht auf das Verhalten des Idioplasmas, geprüft (S. 248 — 258) und gefunden, dass es Varietäten geben muss, die schon während der früheren Perioden ihres Entstehens ein gesellschaftliches Vorkommen und die beständige Möglichkeit gegenseitiger Begattung ohne Gefahr ertragen, weil die beiderseitigen idioplasmatischen Anlagen eine Vereinigung nicht oder nur schwer gestatten und daher die Begattung ohne Erfolg ist, — dass es dagegen andere A'' arietäten gibt, welche in den früheren Perioden durch Kreuzung vernichtet werden, und welche die Kreu- zung erst dann ohne Gefahr bestehen, wenn ihre Anlagen bis zu einer gewissen Festigkeit gediehen sind. *) Das gesellschaftliche Entstehen neuer Species. Sitzungsher. d. math.- phys. Classi" <1. k. h. Akad. d. W. 1. lu-l.r. 187;}. VI. Kritik der Darwin'sclien Tlieorie von der natürlichen Zuchtwahl. ;-)07 Im letzteren Fall kann man bezüglich der Frage des gesell- schaftlichen oder getrennten Entstehens leicht in Irrthum gerathen, wenn man dasselbe nach den sichtbaren Merkmalen beurtheilt. Der Irrthum ist zwar unmöglich, w^enn die sichtbaren Merkmale mit den sich bildenden Anlagen gleichen Schritt halten, aber nicht zu ver- meiden, wenn die Anlagen bis zu einer gewissen Stärke sich ent- wickeln müssen, ehe sie entfaltungsfähig werden (S. 184). Sieht man also eine oder mehrere neue Varietäten gesellschaftlich unter andern sich nicht abändernden Individuen zum Vorschein kommen, so muss die Möglichkeit ins Auge gefasst werden, dass vor dem Erscheinen der neuen Merkmale die Anlagen derselben vielleicht schon durch lange Zeiträume anderwärts sich herangebildet haben, und dass somit die Varietäten vor ihrem wahrnehmbaren Auftreten eine verborgene A^'orgeschichte hatten, während der sie eine be- trächtliche Constanz erlangen konnten. Die Entstehung der Varietäten stellt sich in diesem Falle ganz verschieden dar, je nachdem wir sie von dem ersten sichtbaren Auftreten ihrer Merkmale oder von dem Beginne der Bildung ihrer Anlagen her datiren. Nehmen wir den letzteren Standpunkt ein, so entstehen die Varietäten, d. h. ihre Anlagen, bei getrenntem Yov- kommen. Da alle mit einander vorkommenden Indi-\dduen einer Sippe die gleichen inneren Ursachen und die gleichen äusseren Ein- wirkungen erfahren, so bildet sich auch ihr Idioplasma in gleicher Weise um und wird durch die gleiche Anlage bereichert. Bleibt die Sippe während sehr langer Zeiträume unter den nämlichen äusseren Einflüssen, so entfaltet sich die Anlage da, w^o sie sich gebildet hat, und die neue sichtbare Varietät tritt isolirt auf. Werden aber die Individuen jener Sipj)e vor dem Entfalten der Anlage durch Wanderung zerstreut und kommen sie mit Individuen der nämlichen Sippe, die unter anderen Verhältnissen eine andere entfaltungsfähige Anlage gebildet haben, zusammen, so werden sich die verschiedenen Anlagen auf dem nämlichen Platze entfalten, und es treten dann zwei verschiedene sichtbare Varietäten der nämlichen Sippe ge- meinsam auf, so dass man nach der blossen Bemtheilung der ent- falteten Merkmale auch hier ein gesellschaftliches Entstehen der Varietäten, w'iewohl mit Unrecht, vermuthen könnte. Wir müssen also sichtbare Varietäten mit entfalteten Merk- malen und unsichtbare Varietäten mit noch unentfalteten An- 20* 30B ^^I- Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. lagen unterscheiden. Die letzteren entstehen in dem angenommenen Falle isolirt, die ersteren können isolirt oder gesellschajftlich zum Vorschein kommen ; es hängt dies von der vorausgegangenen Wan- derung ab. Der Zustand und die geographische Verbreitung der Varietäten kann daher nur dann richtig beurtheilt werden, wenn wir dabei von der letzten grossen Wanderung der Organismen ausgehen. Das gegenwärtige Vorkommen der Pflanzen und Thiere besteht seit dem Aufhören der Eiszeit. Während derselben lebten die alpinen Pflanzen in der mitteleuropäischen Ebene und wanderten nachher theils auf die verschiedenen Gebirge, theils nach dem Norden, während aus dem Osten her Ebenenpflanzen einwanderten und sich mit den wenigen in der Ebene zurückgebliebenen alpinen mischten. Es gibt nun zwei Reilien von Thatsachen, welche uns über die Ver- änderung der Gewächse seit jener Wanderung einigen Aufschluss gewähren. Die eine Reihe von Thatsachen , die schon wiederholt erwähnt wurde, zeigt uns die nämlichen sichtbaren Varietäten auf verschie- denen Gebirgen, in der Ebene und im Norden ent'weder genau gleich oder nur sehr wenig ungleich. Sie belehrt uns über die Zeiträume, welche für die Varietätenbildung erforderlich sind. Entweder ist die sichtbare Varietät seit der Eiszeit unverändert geblieben, oder sie war zur Eiszeit eine andere und ist mit den nämlichen Anlagen auf ihre jetzigen verschiedenen Wohnsitze gekommen, wo sich die- selben überall zu den nämliclien äusseren Merkmalen entfaltet haben. Zeigt die ^^arietät, die in der Ebene lebt, eine geringe Verschieden- heit von der in den Alpen wohnenden Varietät, so hat sich entweder seit der Eiszeit eine neue Anlage gebildet und auch bereits entfaltet, oder, was vielleicht wahrscheinlicher ist, die Pflanzen sind mit nicht ganz fertigen Anlagen in iln-e neuen Wohnorte gekommen und haben dieselben unter den veränderten äusseren Umständen in etwas un- gleicher Weise fertig gebildet und dann entfaltet. Die zweite Reihe von Thatsachen beruht in dem voi'hin er- wälinton gesellschaftlichen Vorkommen naher und nächster sicht- ])aror \'arietäten. Es ist durchaus unwahrscheinlich, dass sie alle durch W'^anderung sich zusammengefunden haben ; sie müssen sich zum Theil da, wo sie sich jetzt befinden, gebildet haben. Dies geht aus einer einfachen Erwägung hervor. Wären die siclit])aren Varie- täten alle zusammengekommen, so müssten sie schon vor der Wan- VI. Kritik der Darwin'sclK'ii Tlu'orie von der natiirlirlieii Zuehtwuhl. )]()[) derung existirt haben. Bei jeder grossen Wanderung gehen aher viele Arten und Varietäten verloren, weil ja das Weiterwandern von mannigfaltigen Zufälligkeiten abhängt. Es niüsste also unter jener ^^oraussetzung zur Eiszeit beträchtlicli mehr Varietäten gegeben haben als jetzt. Dies ist durchaus unannehmbar. Die Zahl der Varietäten nimmt im Laufe der Zeiten eher zu als ab; und wenn sie auch nur gleich bleibt, so muss doch der Verlust, der bei einer grossen Wanderung eintritt, ersetzt werden. Es mussten also seit der Eiszeit ziemlich viele neue sichtbare Varietäten zum Vorschein kommen und zwar gesellschaftlich, da auch das jetzige Vorkommen ein gesellschaftliches ist. Entweder haben sich nun die Anlagen dieser in Gesellschaft lebenden nächstverwandten sichtbaren Varietäten gesellschaftlich ge- bildet und entfaltet, oder die Anlagen haben sich bis zu einem gewissen Grad, der sie vor Vernichtung durch Kreuzung schützte, local getrennt gebildet. Die nämliche Sippe leljte beispielsweise während der Eiszeit unter verschiedenen Verhältnissen und an ver- schiedenen Orten der europäischen Ebene , auf der Nordseite und der Südseite der Alpen, und bildete daselbst verschiedene Anlagen. A'^on den verschiedenen Orten kamen beim Verschwinden der Eiszeit einzelne Individuen in die gleichen alpinen Wohnorte, und aus ihren Nachkommen gingen, indem sich die geerbten Anlagen entfalteten, verschiedene sichtbare Varietäten hervor. Der gleiche Vorgang konnte in der El:)ene mit den aus dem Osten eingewanderten Pflanzen stattfinden. Die nämliche sichtbare A^arietät {A) konnte nach der Eiszeit aus drei verschiedenen östlichen Gegenden in drei noch unsichtbaren und bloss mit ungleichen An- lagen begabten Varietäten [Ä^ , Ä, , Ä:^) westwärts wandern : diesell)en konnten auf der Wanderung sich vermengen und dann gemeinsam sich festsetzen. Die drei unsichtl)aren A^arietäten entfalteten ihre Anlagen nach kürzerer oder längerer Zeit und stellten drei in Gesell- schaft lebende sichtbare A^arietäten dar. Das Nämliche wird einst mit den jetzigen A'^arietäten geschehen. Es gibt solche, die eine weite Verbreitung ]uil)en; die Anlagen, die in ihnen entstehen, müssen je nach den wirksamen Einflüssen ver- schieden sein. Bleibt die jetzige A^erbreitung der Gewächse während hinreichend langer Zeit die nämliche, so werden früher oder später an den bezüglich der Einflüsse ungleichen Orten , also in localcr 310 ^"i- Ki'itik (k'i- Darwin'sdiun Theorie von der natürliclicn Zuclitwahl. Trennung, ebenso viele neue Varietäten auftreten ; findet aber vorher eine grössere Wanderung und eine veränderte Vertheilung statt, so werden zwei oder mehrere der neuen Varietäten auf dem gleichen Standort sich entfalten können. Das gesellschaftliche Entstehen der Varietäten erklärt uns auch die nicht zu verkennende Erscheiimng, dass zuweilen die Varietäten oder Arten einer Gegend in gewissen Merkmalen oder im Habitus mit einander verwandt sind, dass sie gleichsam einen Gesellschafts- typus zeigen. Wir begreifen dies vollkommen für den Fall , dass sowohl die Bildung als die Entfaltung der verschiedenen Anlagen gesellschaftlich erfolgt. Es ist aber aucli nicht unwahrscheinlich für den zuletzt besj)rochenen Fall, dass die Anlagen bis zu einem bestimmten Grade getrennt entstehen müssen. Ihre Ti'äger bilden sie dann auf dem Wohnsitze, wo sie zusammenkommen, unter den nämlichen äusseren Einflüssen, vielleicht aucli unter Mithülfe der Kreuzung, in übereinstimmender Weise vollständig aus, und dadurch erlangen die sich entfaltenden Varietäten einen gemeinsamen Typus. Die Annahme Darwin's, dass die Varietätenbildung in ana- loger Weise erfolge wie die Rassenbildung, gibt keine Erklärung für die zahlreichen und mannigfaltigen in der Natur bestehenden That- sachen, und die Theorie von der natürlichen Zuchtwahl lässt sich mit den Vorkommensverhältnissen nicht in Uebereinstimmung bringen. Man kann dieser Theorie gewiss nicht den Vorwurf machen, dass sie in der Studirstube entstanden sei, — wohl aber, dass sie Stall und Taubenschlag zwar gründlich untersucht , die freie Natur da- gegen, namentlich das Pflanzenreich, aus der Vogelperspective an- gesehen habe. 3. Wirkung der Verdrängung auf die Zuchtwahl. Nach der Selectionstheorie müssen die Einrichtungen, welche Bestand gewinnen sollen, bei der Concurrenz die anderen w^eniger günstigen verdrängen, um die schädliche Kreuzung unmöglich zu machen. Nun liegt es auf der Hand, dass eine Einrichtung erst dann die Zuchtwahl herbeiführen kann, wenn sie sich so weit ent- wickelt hat, um sich als nützlich zu bewähren und eine ausgiebige Verdrängung zu verursachen. VI. Kritik der Darwiii'sclu'ii Theorie von der uatürlielu'ii Zucht\\;dil. '] 1 1 Aus diesem Grunde ist die Selectionstlieorie im Widers])riich mit der Lehre vom Idioplasma, namentlich mit der Annahme, dass die Eigenschaften zuerst als idioj)lasmatische Anlagen entstehen und nachher erst sich entfalten , denn bei einem verborgenen '\''organge kann selbstverständlich eine Zuchtwahl nicht eintreten. Die phylo- genetische Entwicklungsgeschichte vermag jedoch dieser den sicht- baren Merkmalen vorausgehenden Anlagen, wenigstens für viele Fälle, nicht zu entbehren. Aber auch wenn wir, der bisher allgemeinen Anschauungsweise folgend, die phylogenetische Entwicklung bloss nach Maassgabe der sichtbaren Veränderungen sich vollziehen lassen, stellt sich die Selectionstlieorie bei genauerer Analyse der eintretenden Erschei- nungen als unhaltbar heraus. Diese Theorie beruhigt sich allzu- sehr mit der allgemeinen Ueberzeugung , dass das Nützliche das weniger Nützliche verdrängen und dadurch zur Zuchtwahl führen müsse, ohne sich den Process in seinen Einzelheiten klar zu machen. Die angenommene Verdrängung tritt ja jedenfalls ein, aber immer erst in einem Stadium, in welchem sie nicht mehr durch Zuchtwahl wirkt. Sie würde die verlangte Aufgabe erfüllen können wenn die neuen Merkmale so zu sagen über Nacht, wenigstens in einer oder ein Paar Generationen und in einer überwiegenden Zahl von Individuen entständen. Aber, mögen die Veränderungen wie immer zu Stande kommen, so viel ist unbestreitbar, dass sie äusserst langsam sich vollziehen. Wird ja das scheinbare Stillstehen der Sij)pen in den beiden Reichen als ein Hauptgrund gegen die Ab- stammungslehre geltend gemacht. Erfolgt ausnahmsweise einmal, wenn der allmähliche Uebergang der Merkmale unmöglich ist, eine Veränderung rasch (sprungweise), so muss eine lange innere Vor- bereitung (Bildung von Anlagen) vorausgehen, und dann haben wir den bereits besprochenen, die Zuchtwahl ausschliessenden Fall. — Was aber die andere Bedingung betrifft, dass die neue Eigenschaft in einer überlegenden Anzahl von Individuen auftrete, so wider- spricht sie der Annahme Darwin's, und sie würde auch die Selec- tionstlieorie überhaupt überflüssig machen, weil sie die Anwesenheit einer bestimmten und allgemein wirkenden Ursache voraussetzte und somit das Gelingen an und für sich verbürgte. In der Regel geschieht also die ganze Veränderung durch eine Menge sehr kleiner Schritte, die sich auf einen langen Zeitraum 312 VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürliehen Zuchtwahl. verth eilen. Der einzelne kleine Schritt kann über auch nur einen entsj)rech enden winzigen Vortheü gewähren, der neben allen anderen die Existenzfähigkeit bedingenden Momenten gänzlich verschwindet und somit auch keinen Einfluss auf die Verdrängung hat. Dabei macht es keinen Unterschied, ob ein bereits vorliandenes Merkmal sich verändere oder ein neues sich bilde. Als Beispiel einer ganz einfachen Veränderung will ich den Hals der Giraffe oder den Rüssel des Elej^hanten wählen, wo es sich bloss um eine Verlängerung handelt. In der vorweltlichen Sippe, von der die Giraffe abstammt, begann die Variation und einige Tliiere erhielten dadurch einen unmerklich längeren Hals ; bei einer Zunahme von 1™™ im Individuum, die wohl zu gross an- genommen ist, würden etwa 1000 Generationen für die ganze Um- wandlung in Anspruch genommen. Das konnte aber selbstver- ständlich auf die Zuchtwahl gar keinen Einfluss haben. Selbst eine ziemlich merkbare Verlängerung gab den Individuen kein so grosses Uebergewicht bei der Concurrenz, um eine Kreuzung mit anderen Individuen und den Rückfall in die frühere Form zu ver- hindern. Nach der Theorie der directen Bewirkung war die Verlängerung Folge des Bedürfnisses, das auf verschiedene Weise einen mecha- nischen Reiz ausüben konnte, und das wir uns nur dann in einiger- maassen sicherer Weise vorzustellen vermöchten, wenn wir die Be- schaffenheit der Ahnensippe und die damals herrschenden Verhält- nisse kannten. Gingen auch vielleicht zuerst zahlreiche Generationen vorbei, in denen bloss das Idioplasma sich veränderte, und dann wieder zahlreiche Generationen, in denen die Verlängerung jedesmal bloss 1°^™ oder weniger betrug, so war der Erfolg doch gesichert, da die Ursache in allen oder doch weitaus in den meisten Individuen und durch alle Generationen thätig war. Als Beisj)iel für ein neu auftretendes Merkmal will ich die Hörner der Wiederkäuer anführen. Ich möchte bezweifeln, dass 1000 Generationen hinreichten, um dieselben zu ihrer jetzigen Grösse auszubilden. Erfolgte deren Bildung nach der Selectionstheorie, so traten die ersten Abänderungen bei wenigen der ungehörnten Vor- fahren auf; da sie aber von mikroskopischer Kleinheit waren, so konnten sie während der ersten fünfzig Generationen nur eine so unbedeutende Ausdehnung erreichen, dass sie keinen nennenswerthen VI. Kritik diT Darwiu'sdu'ii Tlicoric von der natürlichen Znclitwalil. 313 Vortheil gowälirtuii. Was half os also den wenigen Tiiflividuon in einer Heerde, in denen diese, bei den Nachkommen erst als günstig sich erweisende Einrichtung anfing? Von einer Selection konnte keine Rede sein; die Kreuzung musste die begonnene Variation immer wieder stören. Die Theorie der directen Bewirkung lässt die Hörner durch mechanischen Reiz entstehen. Die Thiere, denen kein anderes Mittel der Vertheidigung oder des Angriffes zu Gebote stand, stiessen mit dem Kopf. Wenn die dadurch bewirkte Veränderung auch zunächst sich auf das Idioplasma beschränkte , wenn sie dann äusserlich auch noch so klein war und noch so langsam fortschritt, so konnte sie, da sie bei allen Individuen gleichmässig stattfand und durch alle Generationen fortdauerte, nicht wieder verloren gehen und musste sich so lange mid so weit ausbilden, als es alle in Be- tracht kommenden Umstände erlaubten. Die natürliche Zuchtwahl kann also aus dem Grunde nicht zu Stande kommen , weil die Veränderungen im Anfange gering und ohne Nutzen sind. Aber wenn dieselben auch, was nie möglich ist, sofort l^eträchtlich genug wären, um einen erheljlichen Vortheil zu gewähren, so könnten sie, weil nur in wenigen Individuen eintretend und noch ohne Constanz, keine ausgiebige Verdrängung und Rein- zucht bewirken. Es zeigen beispielsweise 4 auf 1000 Individuen die allernützlichste Variation , so geht sie durch Kreuzung wieder ver- loren. Denn eine Reinzucht wäre ja nur möglich, wenn die vier Individuen und ihre Nachkommen so lange bloss unter einander sich paarten, bis sie die übrigen verdrängt hätten, was eine ziendiehe Zahl von Generationen in Anspruch nehmen würde. Für eine solche Reinzucht ist aber kein Grund vorhanden. Darwin hat den vorhin angeführten Fall der Giraffe gleichfalls erörtert, um an demselben die Möglichkeit der Zuchtwahl dazuthun. Er wiederholt aber nur die bekannten allgemeinen Sätze, welche nach meiner Ansicht, sowie man ihnen eine concrete und bestimmte Form geben will, zu Unmöglichkeiten führen. Unter den Vorfahren des genannten Thieres, sagt er, hätten sich wie gewöhnlich individuelle Verschiedenheiten in der Grösse gefunden; diejenigen Individuen, welche nur 1 bis 2 Zoll höher hinaufreichten, wären in Zeiten der Hungersnöthe allgemein am Leben geblieben und hätten sich ge- kreuzt, während die kleineren dem Aussterljen allein ausgesetzt waren. 314 y^- Kritik der Darwin'sclien Theorie von der natürlielieii Zuchtwahl. Hierauf könnte man erwidern, dass in der jährlich eintretenden Zeit der knappen Nahrung nicht ein ahgemeines Sterben eintritt, sondern die Thiere magern al), um sich in der günstigeren Jahres- zeit wieder zu erholen. Sterben mehrere, so sind es nicht die um 1 bis 2 Zoll w^eniger hohen, sondern die ältesten und überhaupt die schwächsten. Mit diesen 1 bis 2 Zoll Grössendifferenz Darwin 's scheint übrigens der geringe Zuwachs von 1 "™, den ich in Anschlag gebracht habe, in sonderbarem Widerspruch zu stehen. Aber es ist zu be- merken, dass die genannten 1 bis 2 Zoll die individuelle Verschie- denheit innerhalb der Sippe, nicht die eintretende phylogenetische Variation bedeuten, und dass in der Vermengung dieser beiden Be- griffe der Ti'ugschluss Darwin 's liegt. Nehmen wir einmal mit demselben an, dass die unbekannte Sippe, aus der die Giraffe her- vorging, in ihrer Höhe um 1 bis 2 Zoll variirte, dass also beispiels- weise die kleineren Individuen 12', die grösseren 12' 2" hoch waren. Diese Verschiedenheit ist wohl mit Rücksicht auf die so auffallende Einförmigkeit der natürlichen Sippen gross genug angeschlagen; wäre sie aber auch viel grösser, so würde dies auf den Erfolg keinen Einfluss haben. Denn die nämliche Verschiedenheit war von jeher vorhanden und hatte keine andere Bedeutung, als wie sie die Grenz- werthe des Formenkreises in jeder Sippe haben. Es sind die Maasse, zwischen denen die Individuen hin und her schwanken und über die sie nicht hinaus können. Die Nachkommen der kleinsten In- dividuen werden wieder grösser, die Nachkommen der grössten wieder kleiner. Wenn nun auch der unwahrscheinliche Fall eintrat, dass in einer Zeit der Hungersnoth alle kleineren Individuen zu Grunde gingen und nur die 12' 2" hohen übrig blieben, was war die Folge? Keine andere als die, dass, entsprechend der Befähigung der Sij^pe, sich imierhalb eines bestimmten Formenkreises zu bewegen, unter den Nachkommen der 12' 2" hohen Individuen sich auch wieder kleinere befanden, und dass in besseren Zeiten bei stärkerer Ver- mehrung der alte Formenkreis von 12' bis 12' 2" Höhe wieder herrschend wurde. Dies ist ja der Wechsel, der an allen Varietäten und Arten beobachtet wird; geht bei natürlichen Sij^pen in Folge von ungünstigen Verhältnissen ein Theil des Formenkreises verloren, so wird er unter besseren Verhältnissen wieder hergestellt. Eine VI. Kritik der DurwiiiHclK'ii Tlicoric von der natürliehen Zuclitwalil. ol5 gieiclie Rediiction auf die gröbsten üborlel)cndcii Thieru imis.ste ja während der langen Dauer der Almensq^ipe der Giraffe wiederholt bei Hungersnoth eingetreten sein, und ungeachtet dieses wiederholten Ereignisses hat sich die angenommene Höhendifferenz in dem Formen- kreis erhalten. Und sie musste sich so lange erhalten, als die erb- lichen, d. h. idioplasmatischen Eigenschaften unverändert blieben. Diese indi\dduelle Verschiedenheit, die uns der Formenkreis angibt, ist ohne Bedeutung für die j^hylogenetische Fortbildung zu einer neuen Sippe; sie bleibt ja, wde ich mich schon früher ausgedrückt habe, innerhalb der ontogenetischen Elastizitätsgrenze. Gingen auch einmal alle Individuen der Ahnensippe bis auf die grössten (von 12' 2" Höhe) zu Grunde, so musste nun zur Um- änderung in eine neue Sijipe noch die phylogenetische Variation hinzukommen, die ich zu 1'"'" taxirte. Und wir stehen wieder vor der gewiss nicht zu bestreitenden Thatsache, dass 1'""' Höhenunter- schied bei einem 12 Fuss hohen Thier ohne alle Wirkung bezüglich der Verdrängung ist. Ich sehe recht wohl ein, dass, wenn in einer Gesellschaft von 10000 Individuen stetsfort auch nur ein einziges Individuum in nützlicher Weise sich dauernd (erl)lich) verändert, dann die ganze Gesellschaft wenigstens theoretisch mit mechanischer Nothwendigkeit in der gleichen Richtung nachfolgen wird. Denn die entstehenden Eigenschaften breiten sich durch Kreuzung in der Gesellschaft aus, und wenn sie sich soweit ausgebildet haben, um ihre Nützlichkeit zu 1)e währen, so müssen sie sich auch an der ohnehin stets thätigen Verdrängung mitbetheiligen. Ob jedoch und wie diese theoretische Nothwendigkeit in die Praxis übergehe, das w'ürde von verschiedenen, hier nicht weiter zu erörternden Bedingungen, welche die Ver- änderung erblich machen, abhängen. Sollte aber auch dieser Vorgang wirklich statthaben, — (ich bezweifle, dass dies je der Fall ist, weil die Ursachen, welche erb- liche A'^eränderungen hervorbringen, gleichartiger Natur sind und wenigstens auf die grosse Mehrzahl der Individuen, wenn nicht auf alle, einw'irken) — so dürfte er doch offenbar nicht als natürliche Zuchtwahl der künstlichen an die Seite gestellt werden, da die Kreuzung mit allen anderen Individuen der Gesellschaft nie gehemmt ist. Die Selectionstheorie, welche hier natürliche Zuchtwahl annimmt, verwechselt, wie mir scheint, Ursache und Wirkung. Die A'^erän- 3 IG VI. Kritik der Darwin' sdien Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. derung findet nicht statt, weil die Verdrängung als Ursache mithilft; sondern, wenn die Veränderung durch ihre specifischen Ursachen hinreichend gross geworden, so führt sie als nothwendige Folge die Verdrängung herbei. Dass eine phylogenetische Veränderung in der langen Periode ihres Beginnes nicht durch Verdrängung eine natürliche Zuchtwahl verursachen und dadurch sich die Existenz sichern kann, ist unbe- streitbar, und daher ist es auch sehr begreiflich, dass ein begeisterter Anhänger der Selectionstheorie diese durch eine Hilfstheorie, die Separation oder Migration, retten wollte. Ich halte es für eine logische Nothwendigkeit, dass, wenn man an der Selection festhält, man die Migration mit in den Kauf nehmen muss. Die Migrationstheorie habe ich für unmöglich erklärt, weil sie im Widerspruche steht mit den thatsächlichen Vorkommensverhält- nissen der Pflanzen und noch mehr mit den klaren Forderungen natürlicher Gesetze. Diese Theorie ist auch der Darwin 'sehen Schule offenbar sehr ungelegen gekommen. Der schwache Punkt in der Selectionstheorie, den sie beseitigen will, lässt sich ja mit gutem Gewissen nicht wegleugnen; aber das Heilmittel ist doch für schlimmer angesehen worden als das Uebel. Denn die Unmöglichkeit der Migration ist viel leichter einzusehen als die Unmöglichkeit der natürlichen Selection. Jener schwache Punkt dieser letzteren, dass werdende Vortheile noch keine Verdrängung zu bewirken vermögen, lässt sich durch allgemeine Phrasen umgehen und verdecken. Aber die Vorstellung, dass die abändernden Individuen sich zur Reinzucht isoliren, ist so bestimmt und zugleich so unnatürlich, dass kein Zoolog oder Botaniker sie seinem Publikum ohne ganz entscheidende Belege und neue theoretische Erklärungen bieten dürfte. Immerhin gehört die Migrationstheorie, weil sie eine logische Folge der Selec- tionstheorie ist, zu den stärksten Widerlegungen der letzteren. 4. Wirkung der Ernährungseinflüsse. Nach der Selectionstheorie ist die ganze Organisation eine Folge der Ernährungsursachen im weitesten Sinne oder überhaupt der äusseren Einflüsse. Dieselben wirken auf alle einzelnen Theile des Organismus und veranlassen vielerlei A^ariationen, aus denen dann die Zuchtwahl die nützliclien festhalte und fortpflanze. VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürliehcn Zuchtwahl. ,->l7 Hierauf ist zunächst zu erwidern, dass man, was bisher nicht berücksichtigt wurde, zweierlei Ursachen trennen muss, diejenigen, welche Kraft und Stoff liefern, und diejenigen, welche der organi- sirenden Thätigkeit die Richtung geben und erbliche Veränderungen verursachen. Dass Kraft und Stoff aus der Ernährung geschöpft werden, ist längst unzweifelhaft, denn es gibt keine andere Mög- lichkeit. Was aber die organisirende und vererbende Thätigkeit bestimme, musste erst noch bewiesen werden. Es ist eine beliebte Redensart, dass die den äusseren Verhält- nissen angepassten Organismen unverändert bleiben, so lange sie in diesen A'erhältnissen leben, dass sie aber, wenn sie wandern und unter andere äussere Einflüsse kommen, zu variiren anfangen, womit dann die Wirkung dieser Einflüsse dargethan wäre. Allein bezüglich des Pflanzenreiches ist dieser Satz in dem Sinne, wie er ausge- sprochen wird, durch keine einzige Thatsache bewiesen, wohl aber durch viele widerlegt. Ich erinnere daran, dass manche Pflanzen- arten am Ende der Eiszeit theils auf die Alj^en, theils in den hohen Norden gew^andert und jetzt noch an beiden Orten ganz gleich sind, dass andere zur nämlichen Zeit aus dem Osten nach Deutschland gekommen und jetzt noch unverändert sind, dass sehr nahe ver- wandte Varietäten seit der Eiszeit unter den verschiedensten äusseren Verhältnissen gleich geblieben sind (S. 104). Auch die Wanderungen aus einem Welttheil in den anderen in historischer Zeit sind zu erwähnen, obgleich die Dauer des neuen Aufenthaltes viel kürzer ist. Wenn die Ernährungsursachen im weitesten Sinne eine erbliche Veränderung bewirken würden, warum haben sie es in diesen Fällen niclit gethan? Uebrigens könnten wir uns nur schwer vorstellen, wie die so unbestimmten Ursachen all die verschiedenen und charakteristischen Eigenschaften der Thiere und Pflanzen hervorgebracht hal)en sollten. Dies wäre jedenfalls imr in der Art möglich, dass sie entsj^rechend ihrer Natur mannigfaltige Veränderungen bewirkten, und dass dann in irgend einer Weise die passenden ausgewählt würden, wie dies auch die Selectionstheorie anninnnt. In einer variirenden Sippe — und es ist kein Grund vorhanden, warum sie nicht alle und immer variirten — müssten in den verschiedenen Individuen Anfänge von allen möglichen Merkmalen entstehen, denn nur so ist Sicherheit geboten, dass auch das Richtige dariuiter sei. Sonst könnte es, da 318 Vi. Kritik der Darwin'schen Theorie von der nattirliehen Zuelitwahl. die Ernähruiigseinflüsse keine Beziehung zu bestimmten Eigenschaften haben, leicht geschehen, dass gerade diejenige, die in dem betreffenden Falle Bedürfniss ist, mangelte. Unter den Veränderungen in der Ahnensippe der Giraffe wären vielleicht stärkere Hörner, ein längerer Schwanz, dickerer Pelz, eine andere Farbe, verbesserte Sinnesorgane, eine kleinere Statur u. s. w., aber nicht der längere Hals und die höheren Beine, welche Nutzen gewährten, vertreten gewesen. Um also den Erfolg zu sichern, müsste die Theorie annehmen, dass alle Veränderungen, die nach der vorhandenen Organisation denkbar und möglich sind, zu jeder Zeit auch wirklich eintreten, soweit es nämlich die Individuenzahl gestattet. Die Menge dieser Veränderungen geht aber nicht nur in die Tausende, sondern selbst in die Milhonen, weil jede einzelne Zelle in verschiedener Weise sich mnbilden kann. Man macht sich vielleicht diese Forderung nicht ganz klar ; sie ist aber logisch und nothwendig, wenn sie auch wenig natürlich und vernünftig erscheinen mag. Die Theorie müsste nämlich ferner annehmen, dass die allseitig eintretenden Verände- rungen erblich seien, was sie offenbar unbewusst thut, ohne sich Rechenschaft zu geben, dass die zahllosen kleinen Abweichungen, die wirklich in den Zellen vorkommen, innerhalb der Elastizitätsgrenze liegen und dem Gebiete der nicht erblichen Modificationen angehören, also auch für den phylogenetischen Fortschritt ohne Bedeutung sind. Wie wird nun unter den vielen Variationen die richtige aus- gewählt? Da, wie wir gesehen haben, eine Zuchtwahl durch Ver- drängung unmöglich ist (S. 310 ff.), so müsste sie auf eine andere Art, z. B. durch Absonderung der wenigen in gleicher Weise und zugleich nützlich abgeänderten Individuen zu Stande kommen. Ich mll die höchste Unwahrscheinlichkeit dieses oder jedes andern die Reinzucht bewirkenden Vorganges an dieser Stelle nicht darthun; es genügt zunächst auszusprechen, dass in keinem Falle eine Zucht- wahl zu Stande kommen kann. Um den Erfolg der Zuchtwahl anschaulicher zu machen, setzt man gewöhnlich voraus, dass, wenn die Variation begonnen habe, sie leicht in den folgenden Generationen fortdauere und sich steigere. Es ist dies wieder eine Vorstelhmg, welche die Selectionstheorie mit Unrecht von der künstlichen Rassenbildung auf die natürliclie Varietätenbildung übertragen hat. Die A^ergleichung wäre nur ge- rechtfertigt l)ei Identität der ursächlichen Momente. Nun hat aber VI. Kritik der Darwin'schen Thoorio von der natürlichen Znolitwalil. 319 das leichte Variiren und das Fortdauern oder Steigern der begonnenen Variation bei der Rasse bestimmte physische Ursachen, während das plötzhche Auftreten der Veränderung und mehr noch die er- folgende Steigerung in den nächsten Generationen bei den natür- lichen Sij)pen, wo es die Selectionstheorie ebenfalls annimmt, ein wahrer deus ex machina ist. In der Rasse tritt, vornehmlich in Folge von Kreuzung, A'ariation ein, weil latente Anlagen, die von vorgängigen Kreuzungen her in Menge vorhanden smd, manifest w^erden, — und es ist sehr be- greiflich, dass dieser Umbildungsprocess des gemischten Idioplasmas manchmal nicht mit einem Schlage beendigt wird, sondern durch einige Generationen fortdauert. Diese Ursachen sind bei den natür- hchen Sippen nicht vorhanden. Für den Fall, dass Kreuzung mit anderen Sippen eintritt, so kann dieselbe im allgemeinen keine latenten Anlagen zur Entfaltung bringen, w^eil fast keine vorhanden sind, und wenn es etwa der Fall wäre, so bewirkt dieser Vorgang ja nur einen Rückschritt, nicht aber den Fortschritt, der zu erklären ist. — Es können daher für den Standj3unkt der Selectionstheorie bloss äussere Einflüsse sein, welche die Variation einleiten. Warmn sie es durch lange Zeiträume nicht thaten und nun auf einmal die Kraft dazu erlangen, bleibt ein Räthsel, dessen Auflösung uns die bereits erwähnte Hinweisung auf die geänderten Einflüsse nicht zu geben vermag. Denn wenn eine Sippe unter andere äussere Verliältnisse kommt, so könnten, wenn hierin die Ursache der Ver- änderung liegt, nicht nur einzelne Individuen, vde es die Selections- theorie annimmt, sondern es müssten alle oder doch die grosse Mehrzahl sich verändern. Setzen wir uns über dieses Räthsel hinw^eg, so stehen wir vor dem noch grösseren Räthsel, warum die begonnene ^^ariation in den folgenden Generationen andauern soll. Da die Selectionstheorie von einer ganzen Gesellschaft, die sich unter den nämlichen äusseren Verhältnissen befindet, nur einzelne wenige variiren lässt, so muss angenommen w^erden, dass von allen auf die Individuen hier ein- wirkenden Combinationen der Ernährungseinflüsse nur eine ganz bestimmte und selten verwirklichte Combination die Veränderung hervorbringe. Die Individuen, die diese erste Stufe der Veränderung- erfahren, übertragen die beginnende Eigenschaft dm'ch Vererbung auf ihre Kinder. Ob aber in diesen abermals die gleiche Variation 320 VI. Kritik der Darwin'öchen Theorie von der natürlichen Znclitwahl. eintrete, ist ein Zufall ; es geschieht nur, wenn die nämliche specifische Combination der Ernährungseinflüsse, die sich als günstig erwiesen hat, abermals eintritt. Die Aussicht, dass dies geschehe, lässt sich unter bestimmten Annahmen durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung ermitteln. Der nämliche Wechselfall wiederholt sich dann bei jeder folgenden Generation. Angenommen, es zeige durchschnittlich unter je 100 Individuen eines die günstige Variation, die Wahrscheinlichkeit, dass sie über- haupt eintrete, betrage also Vioo, — und die Grösse der Veränderung in diesem Individuum, gleichsam die Menge neuen Blutes, die dem- selben durch die äusseren Einflüsse zugeführt wird, w^erde durch h bezeichnet. Ferner bestehe die Gesellschaft durch die auf ein- ander folgenden Generationen constant aus 2000 Individuen, wovon die Hälfte Männchen, die Hälfte Weibchen, und jedes Paar habe gleich viele Kinder, ebenfalls zur Hälfte männlichen und zur Hälfte weiblichen Geschlechts. In der Generation, in welcher die Variation beginnt, befinden sich also unter den 2000 Individuen 20 abgeän- derte [b) und zwar 10 männliche [mb) und 10 weibliche [wb). Zu- nächst ist zu bestimmen, in w^elchen Verhältnissen die Paarungen wahrscheinlich eintreten; dieselben sind Einblut2Jaarungen(/>) zwischen mh und u'b, Halbblutpaarungen 1 t« ), indem nur das eine Glied b enthält, also ml) oder wb ist, und Ohnblutpaarungen (o). Die denkbar möglichen Paarungen sind lOOOOOO, darunter 100 (/>), 19800 (--j und 980 100 (o). Die Zahl der wirklichen Paarungen beträgt 1000, darunter wahrscheinlich 0,1 (/>), 19,8 ( ,, | und 98(),1 (o); d. h. wenn das Ereigniss, nämlich die \"ariation unter den angenommenen Um- ständen zehn Mal einträte, so würde wahrscheinlicher Weise ein einziges Mal eine Einblutpaarung statthaben. Die Nachkommenschaft der stattgefundenen Paarungen wird durch die Concurrenz auf die frühere Zald (2000) vermindert, und da die abgeänderten Individuen nocli keinen bemerkbaren Vortheil im Kampfe ums Dasein gewähren (S. 310 ff.), so ist das Zahlen- verhältniss der Individuen in der zweiten Generation gleich dem der Paarungen. Nehmen wir, um die weiteren Ereignisse anschau- Vi. Kritik der Darwiu'sclien Tlieorio von der natiirliclKMi Zuchtwalil. 321 lieber zu machen, die Zahlen lOOOmal grösser, so haben wir für jedes Geschlecht 100 {h) + 10800 (y) + ^^80100 (o) = 1000000. (I Dies ist die Erbschaft aus der ersten Generation. Nun tritt die Variation hinzu, welche je einem unter 100 Individuen wieder h verleiht. Nachdem dies geschehen, besteht die zweite Generation auf 1000000 Individuen von jedem Geschlecht aus 1 (2/>) + 198 (^/2Z>) + 9900 (^>)+ 19G02 {^) + 97 0299 (o)= 1000000. (II Wenn sich diese Individuen jiaaren, so entstehen neben den nicht abgeänderten Paaren 8 Stufen der Abänderung, von denen die geringste 'k b, die höchste 2b hat. Die Zahl aller denkbaren Paarungen beträgt 1000000000000. Die Individuen der 3. Generation bestehen als Erbschaft der 2. Generation (vor eintretender neuer Variation) aus 9 Kategorien, deren Zahlenverhältniss genau dem der Paarungen entspricht. Ich theile das Resultat der Rechnung mit, weil es ein helles Licht verbreitet über die Vertheilung des Blutes durch die Kreuzung und über die Aussichtslosigkeit einer einigermaassen reinen Zucht der abgeänderten Individuen. Da es sich nur um die Ver- hältnisse handelt, so gebe ich dieselben als ganze Zahlen für eine Gesammtmenge von 1 Bilhon. Durch Theilung mit 1000000000 erhält man die Zahl, in der jede Kategorie durchschnitthch in einer Ge- sellschaft von 1000 Individuen vertreten ist, oder, insofern es ein Bruch ist, die Wahrscheinlichkeitsziffer für ihre Verwirkhchung. Es besteht nun also eine Gesellschaft von 1 Billion Individuen, die eine Veränderung während 2 Generationen erfahren hat, in der 3. Generation, bevor die Variation dieser Generation eingetreten ist, aus folgenden Individuen: 1 (2/>) (III 396 {'Üb) 59004 (%?>) 3 959604 {'"kb) 107 712 990 (/>) 772 358004 (^/.t/;) 19596 158 604 (^2//) 38039 601996 {'kh) 941480 149 401 (0) TÖÖÖÖÖÖ 000000 V. Nägeli, Abstammungslehre. 21 322 ^'I- Kritik dor Panvin'sclK'n Theorie von der natürliclieu ZuclitA\alil. Aus dieser Berechnung geht hervor, dass nach zweimahger Variation und Kreuzung unter den angenommenen Umständen etwas üher G% aher Individuen mehr oder weniger abgeändert sind; darunter befinden sich 4% mit der geringsten Veränderung (V4&). Die grosste Veränderung {'2h), welche die Reinzucht aller abge- änderten Individuen darstellt, ist unter 1 Billion nur mit 1 Indi- viduum, die Abänderungen, die mehr als h betragen, also die Hälfte der grössten Veränderung überschreiten, nur mit 4 011)005 Individuen oder mit 4 Millionstel der Gesammtheit vertreten. Die Wahrschein- lichkeit einer Reinzucht aller al:»geänd ertön Individuen innerhalb der Gesellschaft von 2000 Individuen beträgt für die erste Paarung 1 Zehntausendstel, für die zweite Paarung 1 Billionstel ; für die dritte Paarung würde sie 1 Zehntausendquadrillionstel betragen^). In Folge der Kreuzung verbreitet sich die Veränderung nach und nach über die ganze indifferente Gesellscliaft und macht, je grösser diese ist, bezüglich der Steigerung um so langsamere Fort- schritte. In dem vorhin angenommenen Beispiel, wo unter 100 Indi- viduen sich je eines um einen Schritt verändert, würde, wenn der einzelne Schritt den 200. Theil der ganzen Umwandlung oder Varie- tätenbildung ausmacht, die Gesellschaft im günstigsten Falle nach 20000 Generationen umgewandelt sein. Aber dies wäre nicht eine Varietätenbildung durch Zuchtwahl, welche ohne Trennung der ab- geänderten von den nicht abgeänderten Individuen sich als undenkbar erweist. Doch auch die bloss einmalige Sej^aration oder Migration, wie sie zur Bettung der Selectionstheorie erfunden wurde, hat keinen Erfolg. Angenommen, die abgeänderten Individuen der 1. Generation (mit der Veränderung h) emigriren in einem oder in mehreren Paaren und pflanzen sich in der Einsamkeit fort, so besteht allerdings die 2. Generation aus lauter gleichen Individuen auf der ersten Varia- tionsstufe. Sowie jedoch die abermalige Veränderung, welche, um bei den Annahmen des ersten Beispiels zu bleil)en , auf 100 Indi- viduen bloss je eines trifft, stattgefunden hat, so ist auch die Un- *) Wenn die Menge der abgeänderten Individuen in der ]. Generation — ist und in den folgenden Generationen keine Variation nulir stattfindet, so be- trägt die Wahrsclieinlichkeit der Eeinzncht ffir die 2. Generation ., , für die 3. G. , , für die 4. Generation — r- u. s. vv. VI. Kritik der Darwinschen Tlieorie von der natürlichen Zuelüwahl. 323 gleichheit gegeben. Wenn die 2. Generation vor der Abänderung aus 2000 Individuen [b] be.stelit, so enthält sie nach derselben 20 {2h) und 1980 [b], und nun erfolgt die weitere Entwicklung genau so, wie ich sie für das erste Beispiel dargelegt habe. Der Unterschied ist bloss der, dass diesmal die Haui^traasse der Gesellschaft nicht aus Individuen ohne Abänderung, sondern aus solchen der ersten Variationsstufe, d. h. mit einer unmerklich geringen Veränderung besteht. Man hat dann in der 3. Generation vor der Veränderung, auf 1 Million Individuen, analog wie I auf S. 321 100 {2h) + 19800 {'^l-2h) + 980100 {h), und nach der dieser Generation zukommenden Veränderung über- einstimmend mit II auf S. 321 1 {3b) + 198 (•^/2&) + 9900 {2h) -f 19602 {^kh) -f 970299 (&). Die 4. Generation besteht dann ferner vor ihrer Veränderung aus den unter III auf S. 321 aufgeführten 9 Kategorien von In- di^dduen, nur dass die Bezeichnung einer jeden um h zu vermehren ist. Die Gesellschaft, die von einer emigrirten und mit Reinzucht beginnenden kleinen Schaar auserwählter Individuen abstammt, wäre von derjenigen, welche ohne Emigration und mit Kreuzung begonnen hat, gar nicht zu unterscheiden. Damit die Migrationstheorie den von ihr gewünschten Erfolg habe, müsste von zwei Bedingungen eine erfüllt sein. Entweder müssten die von den Emigrirten abstammenden Indi\iduen theils selbständig durch innere Ursachen, theils durch äussere auf alle gleichmässig einwirkende Ursachen weiter variiren, was im Wider- spruche mit der Selectionstheorie steht, welche die Veränderung als zufällige von äusseren Einflüssen ableitet. Oder es müsste die Mi- gration mit jeder Generation sich wiederholen und die Auserwählten isoliren, bis die neue Sipj)e fertig wäre. Es müssten also nach ein- ander vielleicht 100 bis 1000 Migrationen eintreten, was natürlicli nur dann möglich wäre, wenn Separation Ijei der Tuarung und Mi- gration in einem nothwendigen phj^siologi sehen Zusammenhang mit der Variation stände, wofür auch nicht die allergering.ste Wahr- scheinlichkeit besteht. Wir mögen uns die Dinge noch so günstig zurechtlegen : wenn die erblichen Abänderungen in der von der Selectionstheorie ge- forderten Art und Weise stattfinden und nui- in einzelnen Individuen 21* 324 ^^^- Kritik der Darwin'selien Theorie von der natürlichen Znchtwalil. auftreten, so kann eine natürliche Zuchtwahl und eine Steigerung der Abänderungen gar nicht zu Stande kommen. Lässt man dagegen an die Stelle der Ernährungsursachen und der Zuchtwahl die Abänderung durch directe ßewirkung treten, so sind alle Schwierigkeiten beseitigt. Was die Vervollkommnung der Organisation durch Uebergang in eine höhere Organisationsstufe betrifft, so haben die einfacheren Organismen ein einfacheres, die complicirteren ein complicirteres Idioplasma. Am entwickelten Or- ganismus vollzieht sich der Fortschritt entweder dadurch, dass die reproductive Zellbildung vegetativ wird, wodurch die individuelle Entwicklungsgeschichte um ein Stück sich verlängert und die Fort- pflanzungszellen erst von einer sjoäteren Generation erzeugt werden, oder dadurch, dass mitten in der individuellen Entwicklungsgeschichte Complexe von Zellen oder Organen eingeschoben und Differenzi- rungen herbeigeführt werden ^). In beiden Fällen ist das idioplasma- tische System um eine oder mehrere Micellgruppen reicher geworden. Es ist nun einleuchtend, dass, wenn die Fortbildung des Idio- plasmas das Ursprüngliche ist und seine Configuration durch den Zuwachs einer Micellgruppe complicirter wird, auch der entwickelte Organismus veranlasst wird, seiner Organisation ein neues Glied hinzuzufügen. Dieser Fortschritt tritt in allen Individuen einer A'^arietät ein, da sie das nämliche Idioplasma besitzen, und wenn auch einzelne Individuen den andern vorausgeeilt oder hinter den andern zurückgeblieben wären, so würde die Kreuzung nichts anderes als eine Ausgleichung unter den in der nämlichen Richtung sich verändernden Individuen zu Stande bringen. Rücksichtlich der Anpassung ist das Verhalten noch klarer und einfacher. Die ^Veränderung einer Varietät kann nur durch einen allgemein wirkenden Reiz erfolgt sein, weil sie in diesem Falle ein allgemeines Bedürfniss befriedigt. Wenn aber alle Indi- viduen und alle auf einander folgenden Generationen von dem näm- lichen Reiz getroffen werden, so muss auch das Idioplasma, das ja ebenfalls das nämliche ist, in übereinstimmender Weise sich um- bilden, so dass die Umbildung durch die Kreuzung nicht gestört wird und die Zuchtwahl keinen Boden für ihre Thätigkeit findet. ') Ich verweise auf den folgenden Abs('hnitt Phylogenetische Entwicklungs- ge.setze«. VI. Kritik lU-r Diirwinsclieu Theorie von der natürlichen Znchtwnhl. 325 Auf die Fnige, wodurch die Anpassungserscheinungen erzeugt werden, wirft die Wirkung des Gebrauches und Nichtgebrauches der Organe ein helles Licht. Man ist bei Besprechung der bezüg- lichen Erfahrungen nicht immer sehr kritisch verfahren, man hat ferner mit den erblichen auch nichterbliche Wirkungen, mit der Uebung oder NichtÜbung auch die reichlichere oder spärlichere Er- nährung zusammengeworfen. Wenn die Thatsachen kritisch gesichtet und die nicht erblichen Wirkungen, wohin auch diejenigen der Er- nährung gehören, ganz aus dem Spiele gelassen werden, so bleiben die erblichen Folgen des Gebrauches und Nichtgebrauches zwar ganz dieselben, wie sie schon Darwin angegeben hat, sie zeigen nun aber deutlich die Ursachen der Anpassungen. Durch den Gebrauch bildet sich ein Organ oder eine Einrichtung mehr aus und nimmt an Grösse, Stärke, Schärfe, Feinheit zu, was eine bestimmtere Configuration der betreffenden Idioplasmagruppe anzeigt, — während durch den Nichtgebrauch die umgekehrte A'^er- änderung des Organs stattfindet und zuletzt sein vollständiges Ver- schwinden eintritt. Es ist einleuchtend, dass der Gebrauch nur als Reiz wirken kann. Hat dieser andauernd einen bestimmten Stärke- grad, so steigt die Veränderung im Idioplasma bis auf eine demsell)en entsi^rechende Höhe. Nimmt der Gebrauch und mit ihm der Reiz zu, so wird auch die Wirkung grösser. Vermindert er sich stetig bis zum Aufhören, so wird die Anordnung der Micelle in der Idio- plasmagruj)pe weniger bestimmt und die Gruj^pe wird durch andere Gruppen mehr zurückgedrängt, bis sie zuletzt ganz in den latenten Zustand übergeht. Wie man die Folgen des Gebrauches und Nichtgebrauches aus Ernährungseinflüssen, Verdrängung und Zuchtwahl erklären kann, ist mir logisch unbegreiflich. Gebrauch und Nichtgebrauch haben nur die Zu- und Al)nahme des betreffenden Organs im Verhältniss zu den übrigen zur Folge. Wäre neben dem gesteigerten oder ver- minderten Reiz noch eine andere Ursache für diese erbliche Wirkung vorhanden, so müsste ausser der Zu- und Abnahme auch irgend eine andere Veränderung an dem Organ stattfinden. Da dieselbe mangelt, so ist schon durch den Gebrauch und Nichtgebrauch die Wirkung vollständig erklärt. Uebrigens veranlassen die klimatischen und Ernährungseinflüsse, wenn sie qualitativ und quantitativ verschieden sind, wie ich gezeigt habe, selbst während der Zeit von Erdperioden 326 ^^I- Kritik der Duiwiusrlieii Theorie vnn der luitiirliclii'u Zuclilwalil. keine erblichen Veränderungen. — Ferner, wenn die An})assungen durch die Ernährungseinfiüsse verursacht würden, wie kommt es denn, dass sie, obwohl diese Einflüsse andauern , durch Nicht- gebrauch geschwächt werden, und verschwinden? Und wie kommt es, dass sie bis zu der Grösse heran zu wachsen vermochten, welche sie befähigt, in Gebrauch zu kommen, und dass sie nicht schon, ehe diese Grösse erreicht war, in ihrem Anfangszustande durch Nichtgebrauch wieder ausgelöscht wurden? Es gibt noch eine andere Erwägung, welche gegen die Be- wirkung der Anpassungen durch die Ernährungsursachen spricht. Diese müssten die Anfänge eines Organs l)is zu der Grösse, wo der Gebrauch über die Nützlichkeit entscheidet, überall da hervorl)ringen, wo die Möglichkeit dazu gegeben ist. Um nur ein Beispiel zu er- wähnen, so hätten Anfänge von Hörnern nicht bloss überall auf dem Kojife der Wiederkäuer, sondern auch über den ganzen Rücken bis zur Schwanzspitze und ebenso auf andern Thieren entstehen müssen, und es müssten fortwährend Anfänge von allen möglichen Organen, wo sie die vorhandenen nicht beeinträchtigen, sich bilden. Thatsächlich sind solche Anfänge nicht vorhanden, und die Theorie der directen Bewirkung erklärt diesen Mangel vollständig: Auch die ersten Anfänge können nur da zum Vorschein kommen, wo ein Reiz dauernd wirkt, und wo dies der Fall ist, da gewinnt das Organ Bestand ; sein Fortbestehen aber ist die Folge einer, fortwährenden Reaction auf den bestimmten Reiz, welche durch den Gebrauch be- dingt wird, ein Bedürfniss befriedigt und somit nützlich ist. 5. Morphologische Merkmale. Nach der Selectionstheorie verdrängt ein Merkmal um so voll- ständiger die andern und die Inzucht tritt durch die Verdrängung um so früher und um so reiner ein, je nützlicher dasselbe ist. Die Constanz hängt nach dieser Theorie davon ab, dass ein Merkmal, bei Ausschluss der Kreuzung mit andersgearteten Individuen, sich längere Zeit vererbt hat. Dasselbe sollte daher unter übrigens gleichen Umständen um so constanter sein, je nützlicher es ist; eine Eigenschaft dagegen, die keinen Nutzen gewährt, sollte, indem VI. Kritik der Darwin'sclu'n Theorie von der natiü-lielieu Zuehtwalil. ;J27 sie keine Verdrängung bewirken und daher die Kreuzung nicht aus- schhessen kann, auch zu keiner Constanz geUingen. Nun sind aljer im Pflanzenreiche die allerbeständigsten Merkmale gewisse morpho- logische Eigenthümlichkeiten, wiewohl dieselben bei der Concurrenz gar keinen Nutzen gewähren. "Was die ßestinnninig der Beständigkeit betrifft, so erinnere ich an die früher hervorgehobene Thatsache, dass alle, selbst die leich- testen Varietäten constant sind, indem ihre erblichen Merkmale, wenn die äusseren Verhältnisse auch noch so sehr sich ändern, in den auf einander folgenden Generationen nicht die geringsten Modi- ficationen zeigen. Es lässt sich daher der Grad der Constanz auf directem Wege nicht erproben, sondern er muss aus der Permanenz erschlossen werden (S. 239, 240), indem ein Merkmal um so be- ständiger sein muss , je grösser seine Verbreitung in einem der beiden Reiche ist. Wir werden ihm nur geringe Beständigkeit zu- schreiben, wenn es unter mehreren Gattungen einer Ordnung oder unter mehreren Arten einer Gattung nur je bei einer derselben vor- kommt, dagegen eine sehr grosse, wenn es bei mehreren Classen oder gar bei mehreren Abtheilungen des Reiches permanent ist. Nun zeigen ganz allgemein im Pflanzenreiche die Anpassungs- merkmale, welche durch die äusseren Reizeinflüsse hervorgerufen werden und mit Rücksicht darauf ihre Nützlichkeit erproben , eine geringere Pennanenz als die Organisationsmerkmale, welche durch die selbständige Umbildung des Idioplasmas bedingt werden, und welche in Uebereinstimmung mit ihrem Urs^irung sich den äusseren Verhältnissen gegenüber gleichgültig verhalten. Die letzteren habe ich früher gegenüber den x durch eine bestimmte Verrichtung bedingten« Erscheinungen als »rein morphologische« bezeichnet und gesagt, dass dieselben, obwohl indifferent, doch constanter seien als die ersteren, die sich als nützlich erweisen*). Als solche rein morphologische Merkmale nannte ich die Stellungsverhältnisse und Zusammenordnung von Zellen und Or- ganen. Als allgemein verständliches Beispiel führte ich die gegen- überstehenden Blätter im Vergleich mit den spiralständigen an; jene kommen beispielsweise bei den Labiaten , diese bei den Bor- ragineen vor. Ich hatte aber besonders gewisse Anordnungen der ^) Entstehung und Begrift" der naturliistorischen Art. 18ti.'i. 328 VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen Znehtwahl. Zellen im Auge, deren ich, vor einem niclit eigentlich naturwissen- schaftlichen Puhlicum, keine Erwähnung that. Ich will jetzt, statt zahlreicher Beispiele, bloss an die Theilung der Scheitelzellen durch horizontale und an diejenige durch schiefe Scheidewände erinnern, wodurch auch die Stellung der Hauptcomplexe des Zellgewebes be- Fig. n. dingt wird. Die erstere kommt bei den meisten Algen, die letztere bei den Moosen mit cylindrischen Stämmchen und bei den Gefässcryp- togamen vor (Fig. 11, a und b; die auf einander folgenden Scheide- wände sind mit 1, 2, 3, 4, 5 bezeichnet, die nächstfolgende Scheide- wand in der Scheitelzelle durch eine punktirte Linie angedeutet)'). Darwin geht ziemlich weitläufig auf diesen meinen gegen die Zuchtwahl gemachten Einwand ein, aber statt die von mir aller- dings nur allgemein bezeichneten Fälle zu besprechen, führt er eine Menge morphologischer Erscheinungen an , die ich nicht ge- wagt haben würde, als Beweise für meine Ansicht anzuführen, da sie für mich zweifelhaft und wohl meistens als Anpassungen zu betrachten sind. Eine Erscheinung kann erst dann Gegenstand erfolgreicher Betrachtungen werden, wenn man sie bis auf den Ursprung zurückverfolgen kann. Dies ist aber der Fall mit der opponirten und sjjiraligen Stellung, indem beide Stellungen schon bei verzweigten einzelligen Pflanzen und bei solchen , die aus verzweigten Zellreihen bestehen (beides bei niederen Algen), vor- handen sind, — und mit der vorhin angeführten Stellung der Seg- ') Für alle diese Stellungsverhältnisse ist es natürlich gleichgültig, durch welche mechanischen Mittel sie zunächst zu Stande kommen. Das für die vor- liegende Frage Entscheidende l)esteht darin, dass sie in strenger Weise vererbt werden und also als Anlagen im Idioplasma enthalten sind. Das Idioplasma wirkt seinerseits auf das Ernährungsplasma derartig ein, dass in Folge einer längeren oder kürzeren Reihe von molecularen Processen schliesslich stets die nämlichen Stellungsverhältnisse resultiren. VI. Kritik (k-r Durwiii'sclu'u Tlieorie von der iiatüiiifiu'u Zuchtwahl. 329 mente in Folge der Tlieiluiig der Scheitelzclle. Bei beiderlei Stell- nngsverliältnissen ist weder eine Ueberlieferung von Vorfahren, für welche die Eigenschaft von Bedeutung war, noch eine unter dem Einfluss anderer Anpassungen zu Stande gekommene correlative Anpassung möglich. Wie sehr übrigens D a r w i n selbst sich der Ueljerzeugung hin- neigt, dass es morphologische Erscheinungen gebe, die stets, auch bei ihrer Entstehung, ohne jeden Nutzen waren , geht daraus her- vor, dass er für dieselben eine Erklärung erfindet : Er sei zu glauben geneigt, dass morphologische Differenzen zuerst in vielen Fällen als fluctuirende Abänderungen erschienen seien , welche früher oder später durch die Natur des Organismus und der umgebenden Be- dingungen, ebenso wie durch die Kreuzung verschiedener Indivi- duen, aber nicht durch die natürliche Zuchtwahl constant geworden ; denn da diese morphologischen Charaktere die Wohlfaln't der Art nicht berührten , so könnten auch unbedeutende Abänderungen an ihnen nicht von natürlicher Zuchtwahl beeinfiusst oder gehäuft worden sein. Sollte diese Erklärung wirklich Grund haben , so würde sie die Selectionstheorie geradezu über den Haufen werfen. Wenn fluctuirende Aljänderungen in vielen Fällen durch die Kreuzimg und nicht durch die Zuchtwahl constant werden konnten , warum konnten sie es nicht in allen ? Wenn die Kreuzung die Aus- bildung und das Constantwerden eines indifferenten Merkmals nicht verhindert, so sollte ein nützliches Merkmal um so eher trotz der Kreuzung ohne weitere Beihilfe sich ausbilden und constant werden. Während von Darwin mein Einwurf ernstlich behandelt wurde, haben ihn deutsche Darwinisten entweder einfach ignorh't oder in vollständiger Verkennung seiner Bedeutung meine rein morpholo- gischen Eigenschaften mit den sogenannten »morphologischen Arten« zusanmiengestellt. Die letzteren unterscheiden sich durch ganz unbe- deutende Merkmale, welche unbekannten Ursprungs und daher auch von zweifelhafter Bedeutung sind , indess meine morphologischen Merkmale die Hauptzüge an dem Gebäude ausmachen, welches die Entwicklungsgeschichte des Pflanzenreiches darstellt und an dem die nützlichen Anpassungen die Ausführung im einzelnen und die Verzierung bilden. 330 Vi- Kiitik der Darwin'schen Theorie vdu der natürlielu'ii Zuehtwalil. 6. Systematischer Aufbau der ganzen Reiche. Es ist eine allgemein anerkannte Tliatsache , dass die Reiche aus aufsteigenden Reihen zusammengesetzt sind , welche divergiren und sich baumartig verzweigen, und dass in dem gegenwärtigen Bestand grosse Lücken , sowohl in den einzelnen Reihen als durch das Fehlen ganzer Verzweigungssysteme, bestehen; unter dem Auf- steigen der Reihen wird das Fortschreiten von einfacheren zu com- plicirteren Organisationsstufen verstanden. Ferner nimmt auch Darwin an, dass es keine absteigenden Reihen gebe und dass eine Art nicht in diejenige, von der sie entsprungen ist, noch in eine andere verwandte ül)ergelien könne, was ich ebenfalls als sichere Thatsachen betrachte. Aljer für alle diese Thatsachen hat die Se- lectionstheorie nicht nur keine Gründe anzugeben vermocht, sondern sie befindet sich sel])st in scharfem Widerspruche mit denselben. Ich habe bereits früher ') auf den Kardinalpunkt hingewiesen, was aber von den Anhängern jener Lehre bei der w^enig sorgfältigen Behandlung, die sie der mechanischen Seite der Abstannnungslehre zuwenden, unbeachtet geblieben ist. Wenn nach der Annahme der Darwinisten durch die unbe- stimmten Ernährungseinflüsse die molecularen Verhältnisse geändert werden und aus diesen die grossen und sichtbaren Abänderungen liervorgehen, so müssten die Uml>ilduiigeii in jedem einzelnen Falle nach allen möglichen Seiten und in allen Theilen eines Organismus geschehen können, denn die molecularen Verschielxmgen und Neu- bildungen können ja in jeder Zelle erfolgen, und thatsächlich wären ja alle die so verschiedenen Eigenschaften aus ihnen hervorgegangen. Wenn ferner die Häufung der Abänderungen bloss durch die Nütz- lichkeit geregelt wird , so müsste ein Organismus unter allen Um- ständen nach derjenigen Form und Function streben, bei der er unter den bestehenden Umständen am besten seine Rechnung findet. Es ist eine mechanische Noth wendigkeit, dass eine bestimmte Kraft eine bestimmte Bewegung verursacht, dass auf eine in ent- gegengesetzter Richtung wirkende Kraft die entgegengesetzte Be- wegung erfolgt, und dass eine Kraft, die in irgend einer anderen Richtung wirkt, auch die Bew'egung nach dieser Richtung ablenkt. *) Entstellung und Begriff der naturlnsturist'lien Art. 18ü5. VI. Kritik der Darwiiisclieu Theorie von der natürlielieu Ziiclitwald. 331 Für die Selectionstlieorie sind die Ernährungseinflüsse, welche die chemische und physikalisclie Beschaffenheit umbilden, und die Nütz- lichkeit, welche alle unvortheilhaften Umbildungen bis auf eine eliminirt, die einem Stosse zu vergleichenden treibenden Kräfte, und die durch kleine Schritte nach der nützlichen Seite erfolgende Abänderung entspricht der mechanischen Bewegungsrichtung. Deswegen müsste eine Sippe je nach den wirkenden Ursachen in ihre Eitersippe, ebenso in eine andere verwandte Sippe über- gehen können. Sie müsste ferner die ganze aufsteigende Entwick- lungsreihe wieder zurückgehen , wenn die äusseren Umstände sich jeweilen so gestalteten , dass ein weiterer Schritt abwärts vor- theilhaft wäre. Endlich müssten neben den aufsteigenden diver- girenden auch alle möglichen seitlichen theils convergirenden theils anastomosirenden Reihen sich bilden; es hätten also keine Lücken entstehen dürfen, indem jeder sich bildende grössere Abstand früher oder später wieder ausgefüllt worden wäre. Statt der l_)aum förmigen Anordnung müsste also eine vollständige netzartige Vertheilung der Sijjpen die Reiche darstellen. — Es ist auch sicher, dass, wenn Uebergänge einer Art in eine andere bestehende oder untergegan- gene Art, wenn ferner Convergenz und Anastomose der Reihen und lückenlose netzförmige Anordnung derselben vorhanden wären , die Selectionstlieorie auf solche Vorkommnisse mit dem grössten Triumjdi als auf die schönsten Beweise ihrer theoretischen Voraussetzungen hinweisen würde. Ganz anders als die Selectionstlieorie steht die Theorie der directen Bewirkung den Thatsachen gegenüber, indem die strenge Consequenz ihrer Anwendung genau zu dem bestehenden Sachver- halte führt. Da das Idioplasma mit innerer Nothwendigkeit stetig complicirter wird , so kann die Veränderung nur zu einer höheren Organisationsstufe fortschreiten; daher gilit es nur aufsteigende Reihen. Da aber in Folge ungleicher- Com plication oder ungleicher Anpassungen auf jeder Stufe eine Reihe in mehrere Sippen aus- einander gehen kann und jede dieser Sippen unter günstigen Um- ständen den Anfang einer neuen Reihe bildet, welche dem Be- harrungsgesetze gemäss immer mehr von den Schwesterreihen sich entfernt, so verzweigen sich die Reihen mit divergirenden Aesten. Convergenz der Reihen sowie der Uebergang einer Sippe in eine andere Sippe ist principiell unmöglich. 332 VI. Kritik der Darwin'sfheii Theorie von der natürlichen Zuclitwalil. Auch kann sich eine bloss durch Anpassung entstandene Sippe nicht in ihre Eitersippe zurückverwandeln , selbst wenn ihre An- passungsinerkmale in die elterlichen Anpassungsmerkmale zurück- gehen, weil mittlerweile die allgemeine Configuration des Idioplasmas in Folge der stetig fortschreitenden Vervollkommnungsbewegung eine etwas andere geworden ist und daher die darin entstehenden Anpassungsanlagen ebenfalls eine etwas veränderte Beschaffen- heit annehmen müssen. Aus dem gleichen Grunde können die Sippen zweier Reihen um so weniger durch gleiche Anpassung sich nähern, je grösser die Divergenz und je grösser somit die Verschiedenheit in der allgemeinen Configuration des Idioplasmas geworden ist. Aber zwei Klassen oder Ordnungen können, je mehr ihre Ungleichheit auf Anpassungsmerkmalen beruht, in einzelnen Gattungen einander um so näher treten. Die eben erörterte Frage ist schon von Darwin berührt worden, allerdings nur kurz und lediglich vom Standpunkte des praktischen Empirikers. Auf den Einwurf von Watson, dass auch Convergenz der Charaktere in Betracht gezogen werden müsse , sagt er bloss »es sei unglaublich , dass die Nachkommen zweier auffallend ver- schiedener Organismen später je so nahe convergiren sollten, dass sie sich einer Identität durch ihre gesammte Organisation näherten. Wäre dies eingetreten, so würden wir, unabhängig von einem genetischen Zusammenhang, derselben Form wiederholt in weit von einander entfernt liegenden geologischen Formationen l^egegnen, und hier widerspreche der Ausschlag des thatsächlichen Beweis- materials jeder derartigen Annahme. '^ Mit dieser Antwort, die von Anhängern der Selectionstheorie als theoretische Widerlegung l>egrüsst worden ist, sagte Darwin Aveiter gar nichts und wollte auch nichts sagen, als dass die Er- fahrung keine Bestätigung gebe. Aber die Berufung auf die Palae- ontologie ist werthlos, da in dieser Wissenschaft bei der notorischen und von Darwin selbst zu anderem Zwecke hervorgehobenen Mangelhaftigkeit des Materials negative Resultate nichts beweisen. Bei einer verwandten Gelegenheit sagt ferner Darwin: xMan begreife leicht , dass eine einmal zu Grunde gegangene Art nicht wieder zum Vorschein kommen könne , selbst wenn die nämlichen unorganischen und organischen Lebensbedingungen nochmals ein- treten. Denn obwohl die neue Art die alte vollkommen ersetze, so VI. Kritik der Darwin'schen Theorie von der natürlichen y^uchtwahl. 333 können doch beide nicht identisch sein , weil sie gewiss von ihren Stammvätern auch verschiedene Charaktere mitgeerbt haben.« Da- gegen möchte ich erwiedern, man begreife leicht, dass, wenn die Merkmale nm' durch die Ernährungsursachen und die Zuchtwahl bewirkt werden , zwei Arten mit verschiedenen Merkmalen , nach- dem sie lange genug unter ursächlichen Verhältnissen, die ihre Verschiedenheiten austilgen , gelebt haben , identisch werden. Es ist dies eine mechanische Nothwendigkeit , die gar nicht zurück- gewiesen werden kann. Ich habe eine das nämliche darlegende Antwort bereits in der »Entstehung der Art'< gegeben. Dass Darwin darauf kein Ge- wicht legte, ist mir begreiflich, da er als reiner Emj^iriker nur That- sachen anführt und dieselben seiner aus der Thierzüchtung abge- leiteten allgemeinen Theorie anzupassen sucht, ohne sie mit den strengen theoretischen Folgerungen aus derselben zu vergleichen. Weniger begreiflich ist es mir von deutschen Darwinisten, welche sich gerne auf mechanische Nothwendigkeit berufen und diese namentlich auch für die molecularen Veränderungen in Anspruch nehmen, die in Folge der Ernährungsursachen im Organismus ein- treten und die ihrerseits die Entstehung und somit auch die Yer- nichtung der Merkmale bewirken sollen. Eine hieher gehörende Tliatsache ist das Aussterben ganzer Stämme wie der Lepidodendreen, der Calamiteen, der Asterophylliten, der Sigillarien. Nach der Theorie der directen Bewirkung ist die Möglichkeit leicht einzusehen. Die Vervollkoimnungsveränderung eines Stammes geschieht nur in einer Richtung und tann leicht einmal früher oder später ein nothwendiges Ende durch innere Ur- sachen finden. Es ist auch denkbar, dass sie, bevor dieses Ende erreicht ist, zu einer Organisationsstufe führt, welche ihrer Natur nach nicht oder wenig existenzfähig ist. In beiden Fällen nmss der Stamm aussterben. Die Selectionstheorie aber hat dafür keine genügende Erklärung. Die nach allen Seiten hin stattfindende Veränderung hätte ja leicht den Ausweg zu einer nützlichen An- jDassung finden sollen, und zwar um so melir als keine Concurreiiz mit nahen Verwandten zu bestehen war. o;')4 ^*I- Kritik der Darwin'sclien Theorie von der natürliclien Ziirhtwahl. 7. Anpassung der Bewohner eines Landes. Ich will nicht weitläufig auf diese ziemlich dunkle Frage ein- treten , sondern nur einige Gesichtspunkte hervorheben. Nach Darwin besteht unter den Bewohnern eines Landes eine bedeutende, wenn auch keineswegs vollkommene gegenseitige Anpassung. Die- selbe folgt auch logisch aus der Selectionstheorie , in der Weise, dass sie stetig zunehmen und nach hinreichend langer Zeit voll- konnnen werden soll. Nach Darwin sind ferner die Bewohner in grösseren und zusammenhängenden Gebieten vollkommner angepasst als in kleineren und isolirten ; daher komme es , dass die Erzeug- nisse des kleinen australischen Continents jetzt vor denen des grösseren europäisch-asiatischen Bezirkes im Weichen begriffen sind, und dass festländische Erzeugnisse allenthalben so reichlich auf Inseln naturalisirt werden. Darnach müsste die Anpassung der Bewohner von Europa-Asien und von Amerika als grosser Continente sehr beträchtlich sein. Es ist nun die Frage, ob die Thatsachen diesen Behauptungen entsprechen. Bei der Anpassung spielen für die Selectionstheorie natürlich die klimatischen und Ernährungsverhältnisse eine wichtige Rolle; denn mit Rücksicht auf sie soll sich jede Art unter den übrigen Bewohnern so modificirt haben, dass sie die Concurrenz mit ihren 'Mitbewerbern erfolgreich bestehe und den Platz unter ihnen behaupte. — Lassen wir nun, immer im Sinne der Selectionstheorie, eine arenide Art aus einem fernen Lande einw^andern ; dieselbe hat sich auf ganz andere Verhältnisse, auf andere Pflanzen und Thiere, anderes Klima und anderen Boden seit vielen Jahrtausenden an- gepasst. Ihre ganze bisherige Anpassung nützt ihr in dem neuen Wohnsitze nichts; sie ist ihr vielmehr, je vollkommner sie war, um so hinderlicher; sie muss hier ausgetilgt und dafür eine neue Anpassung erworben werden. Was wäre daher natürlicher, als dass die fremde Art unter so ungünstigen Umständen keinen festen Fuss zu fassen vermöchte? Und köinite, wenn es keine Naturalisation gäbe, die Anpassungstheorie dann nicht diese Thatsache als eine nothwendige Folgerung und somit als einen vorzüglichen Beweis in Anspruch nehmen? Nun bestehen aber die Naturalisationen in grosser Zahl und in umfassendstem Maasse. Europäische Pflanzen, die von jeher der alten Welt angehört hatten und hier geformt worden waren, sind VI. Kritik iler Darwin'schen Tlieorie von (U-r iiatürlichoii Zuchtwahl. 33;*) nach der Entdeckung von Amerika dorthin verschleppt worden und haben sich unter einem fremden Khma und unter einer fremden vegetabihschen und animalischen Bevölkerung eingebürgert. Amerika- nische Pflanzen, die seit der Lostrennung Amerikas von Europa Zeit hatten, sich amerikanisch anzupassen, sind zufällig nach Europa gebracht worden, und haben hier unter einer em'opäisch angepassten Einwohnerschaft sich einen Platz erobert und rasch eine weite Ver- breitung gewonnen. Am merkwürdigsten ist dies von Erigeron canadense, weil die natürliche Pflanzenfamilie, der diese Pflanze angehört, auch in Europa unter allen Familien weitaus die grösste Menge von Arten enthält. Und was besondere Beachtung verdient, diese Pflanze hat sich in ihrem neuen Wohnsitze - angepasst ;, ohne ihre Merkmale im geringsten zu ändern. Wir k()nnten durch die letztere Beobachtung dazu veranlasst werden, an der gegenseitigen Anpassung überhaupt zu zweifeln. In der That hat eine solche, was ich schon wiederholt erwähnt habe, während des ungeheuer langen Zeitraumes, der seit der Eiszeit ver- flossen ist, nicht stattgefunden, insofern dieselbe in Eigenschaften besteht, welche unserer Wahrnehmung zugänglich sind. Während der Eiszeit lebten die alpinen und nordischen Pflanzen, mit Aus- nahme der hochalpinen und hochnordischen, in der mitteleuropäischen Ebene. Als sie nach der Eiszeit in ihre früheren Wohnsitze zurück- kehrten, wanderten manche nach beiden Gebieten, so dass die Alj^en und der Norden eine Anzahl von Arten gemein haben. Trotzdem dass sie seitdem in ungleichen Klimaten und in ungleicher pflanz- licher und thierischer Gesellschaft gelebt haben, sind sie einander doch so gleich, dass man sie nicht einmal als die allerleichtesten Varietäten zu unterscheiden vermag. Das Nämliche gilt für einige östliche Pflanzen, die während des gleichen Zeitraumes in Mittel- europa und im Osten, und für einige Alpenpflanzen, die seit der Eis- zeit zugleich auch in der Ebene gelebt haben. Aus diesen und anderen ähnlichen Thatsachen ziehe ich den Schluss, dass eine gegenseitige Anjiassung der Bewohner eines Landes nicht stattfindet, womit natürlich solche Anpassungen im einzelnen, namentlich zwischen einzelnen Thieren und Pflanzen, oder der Schmarotzer an den Wirth nicht beanstandet werden sollen. Indem Darwin, um die reichlichere Naturalisation fremder Erzeugnisse auf Neuholland und auf andern Inseln zu erklären, die 3ii(j VI- Kritik der Darwin'sclien Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. Bewohner grösserer, mit mannigfaltigerer Pflanzen- und Thierwelt besetzter Länder als vollkommener angepasst, und demnach als concurrenzfähiger und stärker bezeichnet, legt er in nicht zu billigender Weise einem speciellen Begriff allgemeine Gültigkeit bei. Es gibt ja bestimmte Gebiete, in denen ein solches Verfahren nicht zu bean- . standen ist. Wenn z. B. ein Handeltreibender sich irgendwo ver- wickelten Verhältnissen angepasst und zum geriebenen Geschäftsmann ausgebildet hat, so wird er, unter ganz andere und ihm neue Ver- hältnisse versetzt, auch hier seine Concurrenztüchtigkeit und seine Ueberlegenheit gegenüber einem Neuling im Geschäft beweisen. Die Anpassung war ihm eine Schule und hat ihm Anj)assungs- fähigkeit verschafft ; die specielle Anpassung an bestimmte Geschäfts- verhältnisse ist ihm zugleich eine allgemeine Anj^assung an das Geschäftsleben überhaupt. Dieses Beispiel gilt für viele andere Arten der Concurrenz, denen der Mensch, und auch noch für solche, denen die höheren Thiere ausgesetzt sind, aber nur soweit geistige Fähigkeiten, die durch Uebung und Erfahrung gefördert werden, mit im Spiele sind. Dagegen findet es keine Anwendung für alle bloss stofflichen oder körperlichen Anpassungen ; diese gewähren keinen allgemeinen Vor- theil für den Kampf mns Dasein überhaupt, sondern bloss für die bestimmten Verhältnisse, denen sie ihre Existenz verdanken. Unter anderen Verhältnissen sind sie dem Träger entweder eine überflüssige Last oder selbst geradezu ein Hemmniss. Eine Pflanze habe in einem trockenen Lande mit reichlicher Insolation, mit heissen Som- mern und kalten Wintern unter ihren Mitbewerberinnen sich als concurrenzfähig erwiesen. Gesetzt, dass diese Tüchtigkeit eine Folge der Anpassung sei, was kann ihr denn diese Anpassung in einem fernen Lande mit feuchtem nebligem Klima und gleichmässiger mittlerer Temperatur gegenüber von Mitbewerberinnen nützen, die gerade diesen Verhältnissen angepasst sind und die überdem theil- weise andern Gattungen, Ordnungen und Klassen angehören und daher auch eine andere Organisation und andere Verrichtungen haben? Wir können uns die Frage am deutlichsten machen, wenn wir, was ja bei exacten Untersuchungen immer der sicherste Weg 'zur richtigen Beurtheilung ist, durch Elimination alles andere bis auf dasjenige Moment, worauf es ankommt, gleich machen. Die näm- liche Pflanzenart sei vor Urzeiten theils nach Asien theils nach VI. Kritik der Darwin'srlion Theorie von der natürlichen Zuchtwahl. ;-j37 Neuholland gekoiiinieii und habe .sieh an beiden Orten vollkonnnen angepasst. Sie ist also nun in zwei Anpassungsl'ornien, die dm'eli irgend welche materielle Eigenschaften sich von einander unter- scheiden, vorhanden. Die asiatische Anpassungsforni ist aber nach der Theorie Darwin 's überhaupt die stärkere und vollkonmniere, weil unter einer reichen Vegetation gemodelt. Wenn dieselbe dnrch Wanderung nach Neuholland kommt, so nmss sie nach der näm- lichen Theorie die unter einer ärmlichen ^^egetation angepasste neu- holländische Form verdrängen, während doch naturgesetzlicli die letztere, weil ihren ^^erhältnissen vollkommen angepasst, ganz sicher die Oberhand behalten wird. Diese Betrachtungen haben Gültigkeit für den Fall, dass es wirklich eme gegenseitige Anpassung im Sinne Darwin 's gäbe. Wie schon gesagt, mangelt nach meiner Ansicht einer solchen An- nahme sowohl die theoretische als die erfahrungsmässige Begründung und die vorhandenen Naturalisationen sind gleichfalls in anderer Weise zu erklären. Wie aus der Theorie der directen Bewirkung hervorgeht, gibt es in der Flora und Fauna eines jeden Landes, wie zahlreich auch ihre Sippen sein mögen, bezüglich der Ansj^rüche an die Aussenwelt immer zahlreiche Lücken, die von der Concurrenz nicht beherrscht werden. Tritt ein Fremdling in eine dieser Lücken ein, so naturalisirt er sich ohne Mühe. Daher finden in alle Länder Einwanderungen statt. Die Thatsache aber, dass auf Inseln diese Einwanderungen viel häufiger sind und leichter von statten gehen als auf Continenten, ist die nothwendige Folge des Umstandes, dass jene Lücken im allgemeinen um so zahlreicher und grösser sind, aus je weniger Sippen die Einwohnerschaft eines Landes besteht. V. Niigeli, Abstammungslehre. 22 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. Die Abstammungslehre darf sich niclit darauf beschränken, im allgemeinen das Princip festzustellen, nach dem sich die Organismen aus einander entwickelten. Sie muss auch im einzelnen darlegen, wie dies geschehe. Ihr letztes, wohl immer unerreichbares Ziel wäre die Feststellung der Stammbäume für die bekannten Organismen. Es sind zwar bereits solche Versuche gemacht worden. Allein, soweit sie das Pflanzenreich in seiner Gesammtheit betreffen, müssen sie als reine Illusion bezeichnet werden, da sie nichts anderes vermögen, als von dem ersten besten sog. natürlichen Pflanzensystem die Haupt- abtheilungen als Hauptäste eines Stammes, die Unterabtheilungen als deren erste Verzweigungen aufzutragen, und so weiter bis zu den Gattimgen. Wenn die Darwinisten den Satz aufstellen, dass ein wahrhaft natürliches System nur ein genetisches sein könne, so sind unsere »natürlichen Pflanzensysteme« durchaus künstliche, indem sie, und das ist ja das einzig Mögliche, die Pflanzen nach den sichtbaren morphologischen und physiologischen Merkmalen zusammenstellen und von den viel wichtigeren unsichtbaren Verhältnissen ganz ab- sehen. Es gibt wohl nur wenige der jetzigen natürlichen Famihen, die einen einheitlichen, von den übrigen gesonderten Ursprung be- sitzen, und sicher keine einzige höhere GrupjDe, die nicht einen mehr- fachen Ursprung hätte. Der Stammbamn des Gewächsreiches leistet also nicht mehr, als dass er, im Widerspruche mit sich selbst, die VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 339 systematische Aehnliclikeit in eine genetische Form bringt. Uebrigens ist, wenn wir von den uns Ijekannten Organismen ausgehen und nicht in das Reich der Probien hinuntersteigen wollen, die mono- phyletische Abstammung der Pflanzen eine Unmöglichkeit, indem allein die Süsswasser-Algen mehrere Anfänge haben. In ebenso unfruchtbarer Weise ist es in neuerer Zeit Sitte ge- worden, einer systematischen botanischen Monographie einen Stamm- baum beizufügen, wobei gleichfalls bloss die gewonnene systematische Einsicht ins Stammbaumliche, das Räumliche ins Zeitliche, also ein Begriff in einen andern, mit dem er nichts zu thun hat, über- setzt wird. Wenn zwei jetzt lebende Pflanzen [A und B) mit ein- ander verwandt sind, so lässt sich mit Ausnahme w^eniger Fälle, die den einfachsten Algen und Pilzen angehören , nichts Genaues über ihre genetischen Beziehungen aussagen, und es bleibt rein willkür- lich , ob wdr A von B , oder B von A , oder ferner A und B von einem dritten jetzt lebenden C oder von einem vierten unter- gegangenen D ableiten. Mit der Zunahme der SipjDenzahl steigt die Zahl der Möglichkeiten in geometrischer Progression, indem sie für eine Gruj)pe von 3 Sippen schon mehr als GO beträgt. Dabei ist zu bemerken, dass auch alle Bearbeitungen von Gat- tungen und Gattungsgruppen nothwendig mehr oder weniger künst- lich sind und schon aus diesem Grunde nicht das Material für einen Stammbaum liefern können, sowie, dass bei solchen Abstammungs- schematen offenbar ein Irrthum über die ^löglichkeit der Ueber- gänge besteht, indem nicht jede Pflanze in eine verwandte andere Pflanze durch die anscheinend geringe Aenderung der Merkmale, der es zu bedürfen scheint, sich umwandeln kann. Jedes noch so geringe Merkmal entsj)richt einer oder mehreren Micellgruppen im Idioplasma , die nur in bestimmter gesetzmässiger , von der Con- figuration des ganzen Systems abhängiger Art mngeändert werden können. Die Wissenschaft verlangt nicht das Unmögliche , und mit Phantasiegebilden ward ihr mehr Schaden als Nutzen gebracht; da- gegen ist es für sie ein entschiedener Gewinn, wenn einzelne sichere Stücke der phylogenetischen Entwicklungsgeschichte festgestellt wer- den, mögen dieselben den genetischen Zusammenhang von grossen Gruppen oder von Arten und Gattungen oder von einzelnen Merkmalen, also von Theilerscheinungen der Ontogenien betreffen. Eine solche 22* 340 VII. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches. Behandlung vermag uns eine begründete Vorstellung zu geben, wie auf einzelnen Stufen des Reiches oder in einzelnen Abstammungs- reihen die Organismen aus einander hervorgegangen sind, und sie wird mit der Zeit zu einer allgemeinen Entwicklungsgeschichte des Pflanzenreiches, wenigstens in ihren Hauptzügen, führen. Sind die genannten Stücke des phylogenetischen Weges ganz kurz (bis zur nächsten Varietät oder Species), so müssen sie ent- weder in einem allmählichen Uebergang oder in einem Sprung, dessen Nothwendigkeit dann nachzuweisen ist, bestehen. Was längere Stücke betrifft, so muss die Möglichkeit gegeben sein, dass sie in eine ununterbrochene Kette solcher kleinen Schritte zerlegt werden. Die Abstammung aber muss entweder so sicher gestellt sein, dass eine andere Möglichkeit gar nicht vorliegt, oder es muss für sie eine der Gewissheit nahekommende Wahrscheinlicheit vor- handen sein. Solche Beispiele dürfen als Thatsachen betrachtet werden, aus denen allgemeine Entwicklungsgesetze abzuleiten sind, die um so grössere Gewissheit erlangen , je mehr Thatsachen über- einstimmen, und die ihrerseits wieder dazu benutzt werden können, um weniger deutliche Fälle aufzuklären. Ich beschränke mich im folgenden um so eher auf einige wenige Beispiele, als es sich ja nur darum handelt, zu zeigen, wie die Thatsachen in Uebereinstimmung mit meiner Theorie zu bringen sind, und wie die beiden grossen Principien derselben, die Vervoll- kommnung durch innere Bewegung und die Anpassung durch directe Einwirkung von aussen, im einzelnen sich ausscheiden. Die Bei- spiele entnehme ich vorzüglich den untersten Stufen des Pflanzen- reiches, weil hier die Thatsachen so überaus einfach vorliegen und der Deutung keine weiteren Möglichkeiten offen lassen. Bei der Vervollkommnungsbewegung wird das idioplas- matische System stetig complicirter, indem es neue Micellgruppen an- oder einlagert. Jede derselben bedingt eine etwas höhere Orga- nisationsstufe ; die Entwicklungsgeschichte wird um einen Schritt länger und der Organismus um ein Organ reicher. Es sind mehrere Arten solcher VervoUkommnungsprocesse bekannt, die nachher als Entwicklungsgesetze I^ — VII aufgeführt werden. VII. riiylogenetische Entwicklungsgesetze o CO axo (xnnxD c O CD OID CllJ NID Fig. U. sind, dass man die ersteren als die noch Jetzt lebenden Erzeuger der letzteren in Anspruch zu nehmen geneigt sein kann. Als Beispiel füge ich in Fig. 14 die bildliche Darstellung a) einer Chroococcacee 358 VU. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches. (Synechococcus oder Gloeothece), b) einer Nostochacee und c) einer Oscillariacee bei, je in 4 auf einander folgenden Generationen I, II, III, IV dargestellt. Bei den Chroococcaceen (a) können die Zellen, nachdem sie sich von einander losgelöst haben, sich im Wasser zerstreuen oder durch Gallerte in geringer Entfernung von einander festgehalten werden. Bei den Nostochaceen (b) sind die mehr oder weniger kugeligen Zellen nur mit einer kleineren Stelle der Ol^erfläche, bei den Oscil- lariaceen (c) sind die cylindrischen Zellen mit den ganzen End- flächen verbunden. Vergleicht man alle einzelligen Pflanzen mit den nächst ver- wandten mehrzelligen, so findet man alle möglichen Zwischenstufen in den Merkmalen, so dass es eigentlich unmöglich wird, einen strengen Unterschied zwischen Einzelligkeit und Mehrzelligkeit fest- zustellen. Die Zellen sind mehr oder weniger fest mit einander verbunden, wohl auch ziemlich weit von einander entfernt und durch Plasmastränge zusammenhängend, — und man ist oft im Zweifel, ob man ein mehrzelliges Gebilde als eine Colonie einzelliger Individuen oder als ein mehrzelliges Individuum ansprechen soll, da schon bei unzweifelhaft einzelligen Pflanzen (in den Coenobien von Hydrodictyon und Pediastrum) sehr innige Verwachsung vor- kommen kann. Ich habe daher als unterscheidendes Merkmal zwischen beiden die (noch mangelnde oder bereits eingetretene) Differenzirung benutzt und die Einzelligkeit soweit ausgedehnt, als die Zellen in einer Gruppe physiologisch gleich sind^). Doch ist dies nur ein Nothbehelf. Wo die bei der phylogenetischen Um- wandlung sich bildenden Formen noch reichlich vorhanden sind, ist eine Sonderung innerhalb der Abstammungsreihen immer mehr oder weniger willkürlich. Die merkwürdige, in neuerer Zeit beobachtete Erscheinung, dass röhrenförmige und mehrzellige Algen zeitweise in einzellige, soge- nannte Palmella- und Protococcus-Zustände übergehen können, beweist nichts dagegen, dass jene Pflanzen, wie es nach dem I. und IL phylo- genetischen Gesetz geschehen soll , aus einzelligen entstanden sind. Denn wenn auch einzelne einzellige Formen durch jene Beobach- tungen aus der Zahl der selbständigen Sippen gestrichen wurden, so ') Einzellige Algen. 1849. Vn. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches 350 bleibt doch die Mehrzahl der einzelligen Organismen unangefochten ; — und die genannte Erscheinung wird ^^elmehr zur Stütze der phylogenetischen Gesetze, da sie als ein ontogenetischer Rückschlag auf die frühere phylogenetische Stufe zu betrachten ist. Als Beispiel dafür, wie in vielzelligen Pflanzen durch Xgv- einigung der Fortpflanzungszellen der früheren Stufe eine compli- cirtere Gewebestufe erreicht wird , will ich die Verwandlung einer Zellreihe in einen cylindrischen Zellkörper anführen. Die Confer- voiden sind gegliederte Fäden und pflanzen sich durch Keimzellen fort, die zu mehreren innerhalb der Gliederzellen entstehen. Die Bildung der Keimzellen erfolgt in verschiedener Weise, manchmal bloss aus dem in kleinere Portionen zerfallenden Wandbeleg, bei den niedrigsten Sippen aber sicher durch normale Theilung des ganzen Zelleninhalts. Die Zellen trennen sich dann von einander und treten aus der Elterzelle heraus, oder werden in irgend einer anderen Art fi'ei; aus ihnen erwachsen neue gleiche Pflanzen von faden- förmiger Beschaffenheit. Wird diese Zellbildung vegetativ, so ent- steht ein cylindrischer Zellkörj^er, wie wir ihn unter den Süss- Fig. 15. wasseralgen Ijei Schizomeris finden, die im Jugendzustande von einer Confervoide nicht zu unterscheiden ist. In dieser Weise ist auch die Meeralgengattung Enteromorpha entstanden. Dieselbe tritt im 360 ^'^II- Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches. jugendlichen Zustande ebenfalls als Zellreihe auf, die sich durch Theilung in den Gliederzellen in einen Zellkörper von einfachstem Bau und weiter durch Ausscheidung von Wasser zwischen den Zellen in einen einschichtigen Schlauch verwandelt. In Fig. 15 stellt a eine ConfervoTde dar; die unteren Zellen noch unverändert, die oberen keimzellenbildend ; b den Endtheil einer Schizomeris, die oberen Glieder noch ungetheilt, die unteren in ver- schiedenen Theilungszuständen ; c den Querschnitt durch die unterste Partie von b ; d den Längsschnitt durch den Endtheil einer Entero- morpha, die oberen Glieder noch ungetheilt, die untern in Theilung begriffen und schlauchbildend; e, f, g, h Querschnitte durch d in zunehmender Entfernung vom Scheitel. Die Theilung erfolgt, wie aus d bis h ersichtlich, ausschliesslich durch Wände, welche die Oberfläche rechtwinklig berühren. An Enteromorpha schliesst sich die so nahe verwandte Gattung Ulva an. Wie die niederen Confervo'iden zu Schizomeris und den Ulveen, verhält sich Bangia zu Porphj^ra, welche offenbar von einer vorweltlichen Gruppe als einziges Glied übrig geblieben und dadurch ausgezeichnet ist, dass die vegetativen Theilungen ausschliesslich in einer Ebene vor sich gehen. Den gleichen Fortschritt finden wir auch in der Klasse der Fucoiden von Ectocarpus und andern Gattungen zu den mit körperlichem Thallom begabten, zunächst Sphacelaria u. s. w. , während die phylogenetische Umwandlung in der Klasse der Florideen einen anderen Charakter zeigt. Wie jeder phjdogenetische Fortschritt, erfolgt auch die Umwand- lung der Fortpflanzungszellen in Gewebezellen, die im Idioplasma ganz allmählich sich vollzieht, im entfalteten Zustande so successive, als es die Umstände erlauben. Die ungeschlechtlichen Fortpflanzungs- zellen der Algen sind auf der unteren Stufe lebhaft bewegte Schwärm- sporen. Dann nimmt ihre Bewegungsfähigkeit stufenweise ab und erlischt schliesslich. Sie verlassen die Höhlung ihrer Elterzelle nicht mehr, sondern keimen in derselben ; es trennen sich erst die Keim- pflänzchen los (was bei Ulothrix beispielsweise vorkommt). Auf der höhern. Stufe dient die Zelltheilung , welche die Keimpflänzchen erzeugte, zur Gewebebildung. Den ersten Schritt eines solchen phylogenetischen Vorganges finden wir an dem Product der Oosporen von Coleochaete. Bei den Pflanzen der vorausuelienden Stufen (Sphaeroplea , Ulothrix, Oedo- \T!I. PhyloGrenetisclie Entwifklmigsgesetze des Pflanzenreiches. 361 o-oniimi) theilt sich der Tiilialt in den riilienden, diiivli geschleelit- liclie Befruchtung entstandenen Sporen (ZygosiJorcn und Oosporen) in mehrere Schwärnisporen. In den Oosporen von Coleochaete dagegen bleiben die durch Theilung entstandenen Zellen zu einem Gewebekörper vereinigt; aus ihnen tritt später je eine Schwärmspore aus. Wären die höheren Stufen dieser Algen unter den jetzt lebenden Pflanzen vertreten, so würden wir ohiu! Zweifel bei denselben sehen, wie der aus der Oospore hervorgehende ^ellkörper seine vegetative Natur behält und durch Zelltheilung weiter wächst. ]\lanche Fucoiden und die meisten Florideen waclison mit einer Scheitelzelle in die Länge, welche sich durch horizontale, unter einander parallele Wände theilt (wie Fig. IGa), die diöheren Flori- Fig. Ki. deen, die Moose und Gefässkryptogamen dagegen mit einer Scheitel- zelle, welche sich durch schiefe, alternirend nach verschiedenen Seiten geneigte Sclieidewände theilt (wie Fig. 1(5 1)). Bemerkenswerth ist lum , dass bei Plocamium , welches in dieser Beziehung zwischen den niederen und höheren Florideen in der Mitte steht, die vege- tativen Theile des Thalloms das erste, die Fruchtäste aber das zweite Scheitelwachsthum besitzen. Fig. IGa zeigt den Scheitel eines vege- tativen, 1) den Scheitel eines sporenbildenden Zweiges von Plocamium, und c den Anfang eines sporenbildenden Zweiges, an welchem die Scheitelzelle sich zuerst 3 mal horizontal, dann schief getheilt hat. In den 3 Figuren sind die nach einander entstandenen AVände mit Zahlen bezeichnet. Die schiefe Theilung der Scheitelzelle tritt also zuerst bloss in den reproductiven und erst auf der höheren phylogenetischen Stufe 362 ^'^II- Pbylogenetische EiitAvicklimgsgesetze des Pflanzenreiches. auch in den vegetativen Organen auf ^). Sehr wahrscheinlich jedoch ist dieses schiefwandige Scheitelwachsthum in den Fruchtästen von Plocamium seiher ein phylogenetischer Fortschritt von solchen Flori- deen aus, hei denen die Elterzellen der Tetrasporen durch schief- wandige Theilungen sich Ijildeten. Wenn dies richtig ist, so hätte die eigenthümliche Zellenbildung zuerst die Fortpflanzungszellen erzeugt, dann durch Vereinigung dieser Zellen zu einem Gewebe das Organ hervorgebracht, in welchem die Fortpflanzungszellen gebildet wurden, und schliesslich wäre aus diesem Organ der ganze vegetative Pflanzenkörper hervorgegangen. Die Gefässkryptogamen stammen von lebermoosartigen Pflanzen ab; namentlich ist dies für die Farne sehr augenscheinlich, deren Prothallimii, welches aus der keimenden Spore hervorgeht, die grösste Aehnhchkeit mit einem kleinen Lebermoos hat. Die grosse blätter- tragende Pflanze der Gefässkryptogamen ist der j^hylogenetische Ab- kömmling der Moosfrucht, welche vegetativ wird. Ich will auf die suc- cessiven Bildungen, die den weitläufigen Uebergang vermitteln mussten, liier nicht eintreten, sondern nur einen Punkt hervorheben. Das Moos- sporogonium ist entweder so gebaut, dass eine das Centrum ein- nehmende oder durchsetzende Zellgruppe die Sporen bildet, indess das äussere Gewebe zur Wandung der Sporenkapsel ward, — oder so, dass ein das Mittelsäulchen umgebender Cylindermantel, der von der Kapselwandung umschlossen ist, die Sporen erzeugt. Wenn die Moosfrucht bei der phylogenetischen Weiterbildung vegetativ und zu einem Stengel wird, so müssen die Zellen, die in jener die Sporen bildeten, vegetativen Charakter annehmen. Es ist mir nun sehr wahrscheinlich, dass sie zum Cambium und weiter zu Gefässmassen werden, welche im Stengel der Gefässkryptogamen bezüglich ihrer Lage ebenfalls einem doppelten Bauplan folgen. Bei den Lycopodien stellen sie einen marklosen Cylinder, bei andern einen das Mark umschliessenden Hohlcylinder resji. einen Kreis von Strängen dar. Das I. Gesetz , und dies gilt auch für das II. , beschränkt den phylogenetischen Fortschritt auf die LTmbildung der geschlechts- losen Fortpflanzungszellen. Die geschlechtlichen Elemente sind nicht fähig, durch Vegetativwerden die gemeinsame Ontogenie ^) Der Umstand, dass viele vegetativ Ijleibende Sprossenden schon bei Tlo- camium ihr Scheitel wachstlunn ebenfalls mit schiefen Wänden abschliessen, ist ohne Zweifi'l so /u (U'uten, dass dieselljen als abortive Fruchtäste zu beti-achten sind. yjl. Phylogenetische Entwickhmgsgesetze des Pflanzenreiches. 363 ZU bereichern, weil sie unter einander verschieden sind. Aus der. Umbildung der geschlechtlich differenzirten Zellen kann bloss eine höhere Entwicklung der bezüglichen Geschlechtsorgane erfolgen. Auf der untersten Stufe jeder phylogenetischen Reihe sind die Geschlechtsorgane einander ganz gleich und unterscheiden sich nin* durch die geschlechtlich differenzirten Fortpflanzungszellen von einander; häufig bestehen sie selbst bloss aus diesen Zellen. Sie können anfänglich noch keine anderen Verschiedenheiten zeigen, da sie aus dem nämlichen ungeschlechtlichen Organ hervorgingen. So sind bei Ulothrix die Zellen, welche die männlichen und die weiblichen Schwärmsporen erzeugen, so wie diese selbst, einander ganz gleich; ebenso bei Equisetum die Sporen, aus welchen männ- liche und weibliche Vorkeime (Prothallien) entstehen. Wenn man in einer Abstammungsreihe die Geschlechtsorgane nicht bis dahin zurückverfolgen kann, wo sie sich nicht mehr von einander unter- scheiden, so ist dies stets ein Beweis, dass ein Stück der Reihe mangelt. So fehlen in der Reihe der Florideen die den Gallitham- nieen vorausgehenden Glieder, weil bei ihr die Antheridien und die Kapselfrüchte eine beträchtlich verschiedene Entwicklungsgeschichte darbieten ^). Noch auffallender tritt dieser Umstand bei den Geschlechts- organen der Moose hervor, während dagegen die männlichen und weiblichen Sporangien der höheren Gefässkryptogamen bis auf ihren Ursprung zurück verfolgt werden können. Die Geschlechtsorgane lassen in den verschiedenen phylogene- tischen Reihen eine Weiterbildung zu einem complicirteren Bau wahrnehmen. Neben anderen Ursachen spielt dabei ohne Zweifel auch das Vegetativwerden der männlichen und weiblichen Zellen, die sich auf den unteren Stufen ablösen, eine wichtige Rolle. Doch lässt sich dies noch nicht überzeugend darthun, weil die Entwicklungs- geschichten der Geschlechtsorgane für diesen Zweck nicht hinreichend genau erforscht sind. Aus einzelnen Beispielen erkennen wk aber deuthch die Neigung der Pflanzen, die in diesen Organen frei und 1) Von Bangia (ebenso von Porphyra), die jetzt zu den Florideen gestellt wird, bezweifle ich sehr, dass hier ihre richtige Stelle im System sich befinde. Aber ganz sicher ist es, dass sie mit den Callithamnieen nicht zur gleichen phylo- genetischen Reihe gehören kann, da die erstere ein ganz übenviegendes inter- calares Längenwachsthum , die letzteren ein ausschliessliches Scheitelwachsthum besitzen, und da die Bildung der Fortpflanzungsorgane nach ganz verschiedenen Typen erfolgt. 364 ^'11- l'hylngenetischc Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. selbständig werdenden Zellen auf höheren Stufen in dem erzeugenden Organe festzuhalten und schliesslich als einen Gewebetheil demsel])en anzufügen. Die weiblichen Fortpflanzungszellen trennen sich anfänglich als Schwärmsporen von der Eiterpflanze los (Ulothrix). Auf einer höheren Stufe l)leibt die Eizelle innerhalb ihrer Elterzellc und erst die aus ihr entstehende Oospore wird später selbständig (Oedogoniuni). Auf einer noch höheren Stufe steigert sich die Innigkeit der Ver- bindung, indem auch das ganze aus der befruchteten Eizelle hervor- gehende Organ mit der erzeugenden Pflanze verwächst (Moose). — Die Gynospore der höchsten Gefässkrj^ptogamen löst sich los ; bei den Plianerogamen stellt sie als Eml)ryosack eine Gewebezelle des elterlichen Organs dar. — Die Pollenkörner der meisten Plianero- gamen, gleich den ihnen entsprechenden Androsporen der Gefäss- kryptogamen, trennen sich von einander; bei wenigen, wie bei den Orchideen und Asclepiadeen bleiben sie zu einem Gewebekörper (Pollenmasse) vereinigt. II. phylogenetisches Gesetz. Die durch Sprossung entstehenden gesclilecii ts- losen Fortpflanzungszellen werden, statt sich abzu- lösen, zu Zell ästen oder gegliederten Zellfäden. Dieses Gesetz drückt das eigentliche Princij) der Verzweigung aus, indem seitenständige Keime der niederen Stufe auf der höhern Stufe sich nicht ablösen, sondern zum seitlichen Organ der Pflanze werden. Doch hat es theilweise auch noch einen gewebebildenden Charakter wie das I. Gesetz. Die Sj^rossung besteht darin, dass eine Zelle an einer Stelle ihrer 01)erfläche in einen kurzen Fortsatz ausw^ächst, welcher durch Ent- stehung einer Scheidewand zur besonderen Zelle wird. Die Sprossung ist durch Differenzirung aus der normalen Zweitheilung hervor- gegangen, indem die eine der beiden Zellen an Grösse zunahm, die andere an Grösse abnahm, so dass die letztere schliesslich als der von der grösseren Zelle abgesonderte Keim erscheint (Gesetz ^^I). Einige wenige einzellige Algen und Pilze (Sprosspilze) vermehren sich durch Spros.sung, wobei die auswachsende Stelle breiter oder Vil. Phylogenetische KntAvickhm.fjsoesetze des Pflaiizenreiehes. ^iOo schmäler und die erzeugte Zelle grösser oder kleiner ist; diese Zelle löst sich hald ab und wird zur selbständigen l*flanze (Fig 17 a, b, c, d, e mit schmaler, 1', g') mit breiter Sprossung). Wenn die durch [•ig. n. Sprossung entstandenen Zellen noch eine Zeit lang mit einander verbunden bleiben, so bilden sie baumförmige Colonien einzelliger Pflanzen, wie man sie oft in der Weinhefe findet (Fig. 17d). Dieser Fortpflanzungsvorgang wird vegetativ, indem der auswach- sende Theil der Zelle, statt eine Wand zu bilden und sich aljzu- lösen, in seinem Wachsthum fortfährt und zum r()hrenförmigen Zellschlauch sich verlängert, welcher durch Wiedeiboluiig dos näm- hclien Processes sich verzweigt (Fig. 17 h, i). Auf diesem Wege sind die Sijjhoneen unter den Algen und die scldauchförmigen Fadeupilze entstanden. 1) a, h, c, d sind Saccharomyees ; e, f, g sind einzellige Algen, die ich früher unter dem Namen Exococcus zusamniengefasst habe, die ahei- wahr.scheinlich als Sprossfornien zu anderen Gattungen einzelliger Algen gehören. Diese systema- tische Frage ist bezüglich der phylogenetisclien Bedeutung der Erscheinung ohne Belang. 366 ^^I- Phylogenetische Entwicklvingsgesetze des Pflanzenreiches. Bei der Sprossung findet an der sich erhebenden Stelle der Oberfläche ein starkes Wachsthum der Membran durch Einlagerung statt, welches man im Gegensatze zu der übrigen nicht wachsenden Membran bildlich als Neubildung bezeichnen kann, und unter der entstehenden Membranausbuchtung eine Anhäufung und wohl auch Neubildung von Plasma. Durch diese Vorgänge wird die Sprossung, wenn sie in den vegetativen und dauernden Zustand übergeht, noth- wendig zum Scheitel wach stimm der sicli röhrenförmig verlängernden Zolle und ihrer Verzweigungen, indem nach dem Scheitel hin Wan- derung von Plasma und am Scheitel Neubildung von Plasma und Membran stattfindet, indess rückwärts vom Scheitel Inhalt und Membran mit zunehmender Entfernung zunehmende Alterszustände zeigen. Der Sprossungsvorgang kann auch erst in einem späteren Zu- stande, wenn nämlich die Scheidewand schon gebildet ist, vegetativ werden, indem die Kindzelle, statt sich abzulösen, mit der Elterzelle verbunden bleibt. Wiederholt sich die Sprossung an der neugebildeten Zelle und findet das Auswachsen mit der ganzen Breite der Zelle an ihrem Scheitel statt, so entsteht ein ausschliesslich durch Theilung der Scheitelzelle in die Länge wachsender Zellfaden (Fig. 1 7 k, 1, m). Da die durch Sprossung sich vermehrende einzellige Pflanze das Vermögen besitzt, wiederholt zu sprossen (Fig. 17 c, e), so kann auch, wenn der Vor- gang vegetativ geworden ist, jede Gliederzelle des Zellfadens in einen oder mehrere Aeste auswachsen (Fig. 1 7 m). Es gibt verzweigte con- fervenartige Pflanzen, welche den Sprosscolonien der einzelligen Pilze (Fig. 17d) ganz ähnlich sehen. — Viele Algen und Schimmel- pilze verdanken ihren phylogenetischen Urs2)rung der geschilderten Umwandlung. Es sind röhrenzellige Algen und Pilze, denen in der Septirung auch das zweite Element der Sprossung geblieben ist. ill. phylogenetisches Gesetz. Die durch freie Zellbildung entstehenden Fort- pflanzungszellen werden zu Inhaltskörpern der Zelle. Es gibt bezüglich des Zelleninhaltes in den untersten Regionen des Pflanzenreiches drei ziemlich scharf geschiedene Stufen, 1. form- loses Plasma, 2. Plasma mit einfachen Plasmakörpern, 3. Plasma VII. Phylogenetische Entwickhmgsgesetze des Pflanzenreiches. 36? mit zusammengesetzten Plasmakörpern. Bei den niedersten Pflanzen sowie wahrscheinlich in dem ganzen Reiche der Prohien kommt nur formloses Plasma vor, noch ohne bestimmte Plasmakörper wie Zellkerne u. s. w. Die Fortpflanzung dieser ersten Stufe geschieht bald durch Theilung bald durch freie Zellbildung (S. .'349). Wenn nun in dem letztern Falle die sich besondernde Plasmapartie, statt sich von dem Eiterindividuum los zu machen und vollkommen selbständig zu werden , vegetativ wird und als integrirender Theil des Eiterindividuums in dessen Inhalt verbleibt, so haben wir eine Zelle der zweiten Stufe mit einfachen Plasmakörpern in dem form- losen Plasma. Zu den Zellen der ersten Stufe mit durchaus formlosem Plasma gehören alle Nostochinen (Chroococcaceen, Nostochaceen , üscillaria- ceen, Rivulariaceen, Scytonemaceen), ferner ohne Zweifel die Spalt- pilze und vielleicht die Sprosspilze (Saccharomyces). Zu den Zellen der zweiten Stufe mit einfachen Plasmakörpern im formlosen Plasma gehören viele Algen und Pilze , unter den letzteren vielleicht auch die Sprosspilze. Die Plasmakörper sind entweder farblos oder gefärbt und dann vorzugsweise Chlorophyllkörner oder andere Farbkörner darstellend. Die Kerne haben noch keine Kernchen (Kernkörper- chen) oder andere geformte Plasmaeinschlüsse. Die niedrigsten Zellen dieser Stufe haben nur einen einzigen Kern oder nur ein einziges Chloroph^'llkorn , welches dann gleichsam als der Kern der Zelle erscheint (Palmellinen). In höher entwickelten Zellen dieser Stufe finden sich mehrere Chlorophyllkörner, in noch höher entwickelten Kerne und Chlorophyllkörner zugleich, beide in grösserer oder geringerer Zahl. In den Chloroj)hyllkörnern bilden sich meistens Stärkekörner. Die Plasmakörper, welche die zweite Stufe gegenüber der ersten Stufe unterscheiden, sind dadurch charakterisirt , dass sie sich im Innern des formlosen Plasmas ausscheiden. Auf der ersten Stufe kommt es auch wohl vor, dass, wenn das Plasma im Verhaltniss zur Zellflüssigkeit in geringer Menge vorhanden ist, einzelne Partieen desselben mechanisch losgetrennt werden und scheinbare Plasma- körper darstellen ; dieser Vorgang kommt häufig auch in den Zellen der zweiten und der dritten Stufe vor. Die eigentlichen Plasma- körper aber , welche diese zwei Stufen auszeichnen , sind im Ent- stehen von formlosem Plasma umschlossen ; ihre Bildung setzt daher 308 VII. Phj'logene tische Entwicklungsgeeotze des rflanzenreiches. eine besondere organisirende Tliätigkeit voraus, welche den Plasma- körper mittels eines hyalinen Häutchens isolirt. Wenn die Zellen der zweiten Stute durch freie Zellbildung sich vermehren, so enthalten die in ihrem Inhalte auftretenden neuen Zellen schon PlasmakörjDer wie die Elterzelle, oder sie besitzen A\euigstens das Vermügen, später solche zu bilden. Werden aber diese neuen Zellen vegetativ, und bleiben sie, ohne eine Cellulose- membran zu bilden, als Zelleninhalt in der Elterzelle, so stellen sie Kerne dar, in denen sich Kernchen und auch andere einfache Plasma- körper befinden. Ausser diesen Kernen kommen dann noch die verschiedenen andern einfachen Plasmakörper der zweiten Stufe in den Zellen der dritten Stufe vor. Diese Zellen der dritten Stufe enthalten meistens nur einen einzigen Kern, der in jugendlichen Zuständen einen sehr ansehnlichen Theil des gesammten Zellen- inhaltes ausmachen kann. Sie kommen schon bei einzelligen Pflanzen (Desmidiaceen) vor. Die Phylogenie gibt uns Aufschluss über die ursprüngliche Bedeutung der organischen Erscheinungen, welche späterhin dann verschiedene Modificationen eingehen kann. Dieselbe ■ vermag uns auch einige Aufklärung über die noch räthselhafte Bedeutung der Plasmakörper, namentlich des Zellkerns, zu verschaffen. Der Plas- makörper ist ursprünglich aus einem durch freie Zehbildung ent- stehenden Keim hervorgegangen ; er enthielt somit Idioplasma mit Ernährungsplasma in concentrirterer Beschaffenheit. Diese iS'atur dürfte ihm überall geblieben sein, wo er in der ursprünglichen Einzahl verliarrte. Wir werden daher den Kern gleichsam als ein Magazin von Idioplasma und Ernährungsplasma ansehen; die An- ordnung der Plasmaströmchen , die von dein Kerne ausgehen und zu denisell)en zurückkehren, deutet ohnehin darauf, dass sich hier ein Centrum von Stoff und Kraft befindet, wenn auch noch jede Vorstellung mangelt, in welcher Weise dasselbe auf das Zellenleben einwirkt. Ilat der Kern diese Bedeutung, so ist begreiflich, dass seine Theihnig der Zelltheilung normal vorausgehen muss. Der auf den tieferen Stufen in der Einzahl vorhandene Kern oder Plasma- körper kann aber auch auf einer höheren Stufe sich theilen, ohne dass Theilung der ganzen Zelle nachfolgt. Je höher die Zahl der in einer Zelle vorhandenen Kerne oder Plasmakörper ansteigt, um so gerin^^ur wird selbstverständlich ihre Bedeutuny,' für die Lebens- VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 369 Vorgänge, und die Theilung der Zelle tritt ein, ohne dass vorher die Kerne oder Plasmakörper sich theilen müssen. IV. phylogenetisches Gesetz. Die durch Verzweigung entstehenden Theile eines Pflanzenstockes legen sich zusammen und hilden einen geflecht- oder gewebeartigen Körper. Die phylogenetischen Vorgänge, welche den drei ersten Gesetzen sich unterordnen und die bis jetzt besprochen wairden, bestehen darin, dass einzellige Keime, die sich auf der unteren Stufe lostrennen, um sich zu selbständigen Individuen zu entwickeln, auf der höheren Stufe vereinigt bleiben und ein mehrzelliges Gebilde darstellen. Eine andere Wirkung, welche das organisatorische Bestreben der Phylogenie nach A'^ereinigung hervorbringt, besteht darin, dass durch Verzweigung entstandene Theile, die auf der unteren Stufe, mit Aus- nahme der angewachsenen Basis, getrennt sind und den Pflanzen- stock zusammensetzen, auf der höheren Stufe sich zu Einem Körper mehr oder weniger innig vereinigen. Diese Vereinigung kommt schon bei den allerniedrigsten Pflanzen vor und ist hier auch am häufigsten. Die aus einer einzigen schlauch- förixdgen Zelle bestehenden Röhrenalgen (Siphoneen) breiten ihre Verzweigungen bei Vaucheria, Bryopsis, Caulerpa frei aus; bei den Codieen legen sie dieselben zu einem dichten Geflecht zusammen. In gleicher Weise bilden die einreihigen Fäden, deren Aeste bei den confervenartigen Algen und bei den Schimmelpilzen frei bleiben, auf einer höheren Stufe durch Verflechtung und Verwachsung körper- liche Gebilde, welche bei den Schwämmen und Flechten alle Ueber- gänge von der lockeren, bloss durch Gallerte zusammengehaltenen bis zur innigsten gewebeartigen Vereinigung zeigen. Beispiele für das erstere Extrem der Vereinigung finden wir überdem in den Wurzelhaaren mancher Algen, welche sich als Berindungsfäden an die Stämmchen anlegen, Beispiele für das letztere Extrem in den Wurzelhaaren anderer Algen, die zu Haftscheiben verwachsen, und dann namentlich in dem Gewebe der Corallineen \uu\ überhaupt der Florideen. V. Nägeli, Abstammungslehre. 24 370 VII. Pliylogcnetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiclies. Zugleich mit der Vereinigung tritt sowolil bei den rölirenförmigen (monosiphonen) als bei den einreihigen (gegliederten) Fäden meistens eine sehr reichliche Verzweigung ein, welche wohl theilweise die ^Veranlassung zu dem phylogenetischen Fortschritt ist. Im allge- meinen lassen sich drei Typen der Vereinigung unterscheiden. Der erste besteht darin, dass die Spitzen der Aeste an andere Aeste anwachsen, wo sie dieselben berühren; er tritt besonders ausgezeichnet bei der Algengattung Microdictyon auf, wo die verwachsenen Ver- zweigungen ein Netz bilden , ebenso bei I)ict3'urus , ferner bei Ana- dyomene, bei welcher auch die in einer El)ene liegenden Seiten der einzelligen Aeste sich vollständig berühren. Der zweite Typus zeichnet sich dadurch aus, dass sich viele unter einander gieichwerthige Fäden zusammenlegen ; der daraus ent- stehende Körper ist aus Fasern zusammengesetzt, die, mit der Achse im allgemeinen parallel laufend, nach oben bogenförmig auseinander gehen, und von denen jede gewissermaassen selbständig an der Spitze in die Länge wächst. Dabei ist der Körper entweder verkürzt und nimmt die mannigfaltigsten Gestalten an (mehrere Codieen, die Fruchtkörper der Pilze, viele Flechten, die aus Rhizoiden verwach- senen Haftscheiben mancher Algen), oder er streckt sich in die Länge und verzweigt sich (Codiimi tomentosum, Usnea). Der dritte Tj^pus für die Vereinigung von Fäden Ijesteht darin, dass die Grundlage des ganzen Systems durch eine einzige axile Zellenreihe gebildet wird, mit der sich ihre seitlichen Auszweigungen vereinigen. Der daraus hervorgehende Körper ist immer verlängert und gewöhnlich verzweigt; er wächst mit einer Scheitelzelle in die Länge (Batrachospermum, Chara, Ceramium u. s. w.). Dieser Typus verwirklicht sich bloss unvollständig, wenn die seitlichen Ver- zweigungen nur unter sich, nicht mit dem Hauptstrahl verwachsen, so bei Acetabularia. Das merkwürdigste Beispiel für den phylogenetischen Ver- einigungsprocess gegliederter und verzweigter Fäden bieten uns die Florideen dar. Ich will die bezüglichen Erscheiimngen nur für die- jenige Abtheilung betrachten , deren vegetative Organe mit einer sich horizontal theilenden Scheitelzelle in die Länge wachsen (Calli- thamnion, Ceramium, Polysiphonia, Laurencia, Nitoj^hyllum , Deles- seria). Wenn wir diese Reihe der Florideen mit derjenigen Reihe der Fucoiden vergleichen, bei denen die Scheitelzelle ebenfalls durch VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 371 horizontale Wände sich theilt (Ectocarpus^), Sphacelaria, Cladostephus, Dictyota, Halyseris, Fucus), so bemerken wir in der Gewebebildung einige auffallende und tiefgreifende Unterschiede. Der eine Unterschied zwischen Fucoiden und Florideen zeigt sich in der Theilung der Gliederzelle. Bei jenen würd dieselV)e durch eine mit der Achse zusammenfallende Längs wand halbirt (Fig. 18 a), worauf jede Hähte in gleicher Weise sich noch einmal halbirt (b), sodass zunächst 4 cylinderquadrantische Zellen von der Länge des Gliedes entstehen. Bei den Florideen dagegen theilt sich die Glieder- zelle zuerst durch eine extraaxile, mit der Achse parallel laufende Wand (Fig. 18c), worauf noch mehrere solcher Wände folgen (d, e), sodass sich eine Achsenzelle und ein Kranz von gleichlangen Aussen- zellen, meistens in der Zahl von 4 oder 5, bilden. Dem entsprechend finden wir auch, wenn die Zelltheilung des Dickenwachsthums weiter- geht, im Centrum des Querschnittes bei den Fucoiden ein Kreuz von Scheidewänden, bei den Florideen eine axile Zelle. Fig. 18. Der andere Unterschied zwischen Fucoiden und Florideen besteht darin , dass bei den ersteren neben der peripherischen auch inter- calare Zelltheilung thätig ist, während die intercalare Zelltheilung bei den Florideen ganz mangelt. Bei den Ectocarpeen (Fucoiden) theilt sich die Scheitelzelle nur kurze Zeit; dann sind bloss noch die Gliederzellen theilungsfähig ; es folgt also auf das Scheitelwachs- thum intercalares Längenwachsthum. Bei den im Bau auf gleicher Stufe stehenden Callithamnieen (Florideen) wird das Längenwachs- thum ausschliesslich durch die Theilung der Scheitelzelle bewerk- stelligt. ■ — Beim Breitenwachsthum von Dictyota (Fucoiden) th eilen sich alle Flächenzellen, bei dem Breitenwachsthum von Nitophyllum und Delesseria (Florideen) th eilen sich bloss die Randzellen. — Bei *) Bei dieser Gattung hört die Theilung der Scheitelzelle schon frühzeitig auf. 24* 372 ^'^11- Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. den aus Zellköri^ern bestehenden Fucoidcn findet neben der Theilung der Aussenzellen auch Theilung der Innenzellen statt, wodurch mter- calares Längen-, Breiten- und Dickenwachsthum erfolgen kann. Bei den körperlichen Florideen sind bloss die Aussenzellen theilungstahig. Die beiden erwähnten Unterschiede in der Gewebebildung der Fucoiden und Florideen erklärt sich daraus, dass die Phylogenie bei den beiden Gruppen gänzlich verschieden ist. Bei den Fucoiden kommt nämlich die Gewebebildung der Zellflächen und Zellkörper phylogenetisch durch Vegetativwerden von Keimzellen (nach Gesetz I), bei den Florideen dagegen durch Vereinigung von Verzweigungen zu Stande. Da wir von beiden Gruppen den genaueren Anschluss nach unten nicht kennen, so müssen wir den phylogenetischen Fort- schritt mit den Ectocarpeen und Callithamnieen beginnen. Diese beiden Anfänge der Fucoiden und Florideen sind schon wesentlich verschieden. Bei den Ectocarpeen theilen sich, wie schon erwähnt, vorzugsweise die Gliederzellen ; die Fortpflanzungszellen (geschlechts- lose Schwärmsporen) entstehen durch wiederholte Zweitheilung des Inhaltes von Gliederzellen (Sporangien). Indem dieser Process der Fortpflanzung vegetativ wird, verwandelt sich der einreihige Faden von Ectocarpus in das anfänglich einschichtige Thallom von Dictyota und in das körperliche Thallom von Sphacelaria mid Dasycladus. Von einer ganz anderen Grundlage aus verläuft der phylogene- tische Process in der Gruppe der Florideen. Bei den Callithamnieen theilen sich zum Behufe des Längenwachsthums bloss die Scheitel- zellen. Die Gliederzellen können nur seitlich auswachsen und durch Abschnürung eine seitlich angeheftete Astzelle bilden, welche als erste Scheitelzelle den Anfang eines Astes darstellt. Dieses aus- schliesslich peripherische Wachsthum (Theilung der Scheitelzelle und Bildung von Astzellen) ist auch bei der Erzeugung der Fortpflanzungs- zellen, resp. deren Elterzellen, ausschliesslich thätig. Da nun die geschlechtlichen Fortpflanzungszellen nicht zur Bereicherung der gemeinsamen Ontogenie beitragen können (S. 362 — 363), da ferner die Tetrasporen nicht endogen im Thallom entstehen, da endlich der Mangel eines intercalaren Wachsthums eine intercalare Fortbildung der Ontogenie ebenfalls nicht gestattet (vgl. Gesetz V und VI), so können die Callithamnieen nur dadurch sich phylogenetisch weiter- bilden und namentlich nur dadurch zu einem flächenartigen und körperlichen Bau gelangen, dass die Verzweigung durch Vereinigung YIl. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches. 373 zur Gewebebildiuig wird. Dieser Vorgang tritt uns denn auch aufs deutlichste entgegen. Den ersten Schritt der Vereinigung zeigen , wenn wir von den nur sehr locker sich anlegenden Wurzelhaaren (Berindungsfäden) einiger Callithamnieen absehen, die Ceramieen. Hier legen sich die unmittelbaren Auszweigimgen der Gliederzellen , so^\de die weiteren (secundären, tertiären etc.) Auszweigungen alle an die Hauptstrahlen an und bilden die Rinde derselben. Das Thallom verzweigt sich bloss durch Dichotomie in den Scheitelzellen. Aber das Gewebe des Thalloms hat noch nicht den vollständigen Charakter eines wahren Zellgewebes, indem seine Zellen in ungleich innigem Grade unter einander zusammenhängen. Der Ursprung desselben aus einem System von Verzweigungen gibt sich deutlich dadurch kund, dass sich bloss zwischen denjenigen Zellen je ein Porus (Tüpfel) befindet, welche , wenn die Verzweigungsstrahlen frei wären , an einander grenzen würden. Bei den Ceramieen trägt jede Gliederzelle einen Qmrl von 4 bis 14, meistens 5 bis 8 primären Rindenzellen (Astzellen). Diesell^en haben anfänglich die ganze Länge der Gliederzelle, berühren also auch die primären Rindenzellen des nächst unteren und nächst oberen Gliedes. Nachher bleibt ihr Wachsthum in der Richtung der Längsachse des Thalloms zm^ück; sie trennen sich von den primären Rindenzellen der angrenzenden Glieder, bilden somit einen Gürtel an den Gelenken, und sind durch Poren nur mit der Glieder- zelle, nicht unter einander verbunden. Die Ceramieen sind jedenfalls aus einer Urform hervorgegangen, welche bloss den Gürtel von pri- mären Rindenzellen an jedem Gelenke und weiter keine Berindung besass. Aus einer solchen Urform ist durch einen anderen phylo- genetischen Fortschritt die Gattung Polysiphonia entstanden. Das Thallom von Polysiphonia ist ein gegliederter Faden ; jedes Glied besteht aus einer Achsenzelle und einem Kranz von gleich- langen Rindenzellen, welche nicht nur mit der axilen Zelle, sondern auch unter einander und namenthch auch mit den angrenzenden Rindenzellen des oberen und unteren Gliedes durch Poren verbunden sind. Die Bildungsweise der (primären) Rindenzellen erfolgt bei Ceramium und bei Polysiphonia ganz in der nämlichen Weise (vgl. Fig. 18 c, d, e, auf S. 371), und die Jugendzustände der Glieder sind- bei beiden identisch. Bei der weiteren Entwicklung erweist 374 ^ il- Pliylogeaetisclie Entwicklungsgesetze des Pfianzenreiclies. sich aber die Vereinigung der Zellen bei Polysiplionia viel inniger als bei den Ceramieen. Bei Laurencia, Rliodomela u. a. theilen sich die primären Rinden- zellen, sodass die axile Zellreihe von mehreren Zellschichten um- schlossen ist, die von innen nach aussen kleinzelliger werden. Rings um jede Achsenzelle befindet sich ein Kreis von gleichlangen pri- mären Rindenzellen; auf jeder von diesen liegen ])ei Laurencia 4 secmidäre Rindenzellen, auf jeder secundären Rindenzelle 4 tertiäre; dann können wieder je 4 oder auch weniger quartäre Rindenzellen folgen. Bei andern Gattungen ist die Zunahme der Zeilenzahl von innen nach aussen eine geringere. Die Zelltheilung erfolgt wie bei der Berindung der Ceramieen dadurch , dass von den Ausseiizellen Ecken oder Kanten abgeschnitten werden, und entspricht somit im allgemeinen einer doldenförmigen Verzweigung; aber die Zellen nehmen vollständig die Eigenschaften von Gewebezellen an. Auch bei den flächenförmigen Florideen hat die Gewebebildung in morphologischer Rücksicht den Charakter einer wiederholten Ver- zweigung. Bei Nitophyllum bilden sich an den Gliederzellen bloss 2 opponirte Astzellen; aus diesen setzen sich die weiteren Zell- bildungen in einer Ebene fort und erzeugen eine einfache Zellschicht. Bei den Delesserieen entstehen zwar an jeder Gliederzelle 4 Astzellen (primäre Rindenzellen) ; aber von denselben sind 2 gegenständige gefördert und aus ihnen erfolgt die weitere Bildung von Zellreihen und deren Verzweigungen wie bei Nitophyllum in einer Ebene. In der auf diese Weise entstandenen Zellschicht kann stellenweise Dicken- wachsthum beginnen und mehrschichtige Nervationen bilden. Die Nitophyllen und Delesserien sind phylogenetisch aus den Ptiloteen und weiterhin aus den in einer Ebene verzweigten Callithamnieen hervorgegangen. Die Zellbildung wiederholt sich auf diesen ver- schiedenen Stufen oft bis in die Einzelheiten genau. Ich muss mich bezüglich der Phylogenie der Florideen auf die gegebene allgemeine Schilderung beschränken, da der Nachweis im einzelnen hier zu weit führen würde. Die Zusammenlegung ganzer Verzweigungssysteme zu einer ununterbrochenen Masse lässt sich Schritt für Schritt verfolgen, wobei namentlich zwei Stufen der Ver- einigung hervortreten. Die ursprünglich freien Verzweigungsstrahlen legen sich zuerst locker aneinander und bilden ein Geflecht von Berindungsfäden, indem zwischen den Zellen verschiedener Strahlen YII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 375 eine innigere Verbindung durch Poren noch unterbleibt. Dann wird diese Verbindung, wie die auftretenden Poren anzeigen, eine physio- logisch festere und das Geflecht geht in ein wahres Zellgewebe über. Mit der fortschreitenden Vereinigung kann auch die Lage der Scheidewände, die sich bei der Zelltheilmig bilden, nach und nach eine andere werden , sodass man in dem Endglied einer phylogene- tischen Reihe kaum mehr den Anfang derselben erkennen würde, wenn nicht die verknüpfenden Zwischenstufen den Weg anzeigten. Der Charakter dieser Verändermig gibt sich in einzelnen Fällen bestimmt darin zu erkennen, dass die anfänglich zur Achse der Zellreihe rechtwinkligen Scheidewände mehr und mehr eine schiefe Lage annehmen, was durch die zunehmende Differenzirung zwischen den verschiedenen Zellendurchmesscrn zu erklären ist (vgl. Gesetz ^"I). Da bei den Callithamnieen, die den Ausgang für die phylogene- tischen Reihen der Florideen bilden, die Zellreihen bloss durch Theilung der Scheitelzelle wachsen, so mangelt auch bei den höheren Grup23en dieser Pflanzenklasse die intercalare Zelltheilung gänzlich. Damit soll aber nicht gesagt sein , dass bloss die am Rande oder an der Oberfläche befindlichen Zellen sich theilen. Denn bei der Zusammenlegung eines complicirten Verzweigungssystems kommen auch manche Strahlen desselben ins Innere zu liegen. Daher gibt es auch viele innere Zellen, die sich theilen; aber es ist dies nie- mals eine wirkliche intercalare Theilung , sondern , soweit man die Zellbildung im Räume genau verfolgen kann, nachweisbar stets entweder Theilung der Scheitelzelle eines oft sehr kurzen Fadens (Verzweigungsstrahles) oder Bildung von Astzellen an einem solchen Zellfaden 1). Es kommen nicht nur Vereinigungen von Zellfäden bei niederen Pflanzen (Algen, Pilzen, Flechten), sondern auch Verwachsungen von grösseren, aus Zellgewebe gebildeten Organen bei den Gefäss- pflanzen vor. Seltener sind dieselben an den Laubblättern und *) Das geschilderte Wachsthum gilt für die genannten und die ihnen ver- wandten Florideen. Für andere Gruppen dieser Klasse mangeln mir him-eichende entwicklungsgeschiclitliche Thatsachen, um zu entscheiden, ob sie dem nämlichen phylogenetischen Gesetze folgen. Wenn die Bangiaceen wirklich zu den Florideen gehörten, zu denen man sie jetzt stellt, so würden sie der Ausgangspunkt sein für eine zweite ganz verschiedene phylogenetische Reilie, welche Analogie mit der Reihe der Fucoiden haben könnte; denn die Bangiaceen unterscheiden sich von den Calüthamnieen in ähnlicher Weise wie die Ectocarpeen. 376 Yll. Phylogenetische EntwicWungsgesetze des Pflanzenreiches. treten hier vorzugsweise in der Art auf, dass qnirlständige und oj^po- nirte Blätter röhrig verwachsen (Equisetum, Casuarina, Blattbasen bei Dipsacus, Chlora, Lonicera etc.). Bloss ausnahmsweise wird normale Verwachsung zwischen den auf einander folgenden spiralständigen Blättern beobachtet (Pycnophyllum molle), während dieselbe als ab- normale Erscheinung etwas häufiger auftritt. Es ist mir ferner nur eine Pflanze bekannt (Struthiopteris ger- manica), bei welcher die dicht über einander liegenden spiralständigen Laubblätter auf eine kurze Strecke nahe über ihrer Basis zu einem ununterbrochenen Gewebe verwachsen sind. Dieses Gewebe bildet einen Mantel, der den ganzen Stamm umschliesst, mit demselben verwachsen, aber von ihm durch zahlreiche kleine Lücken (je eine innerhalb einer Blattbasis) getrennt ist und das ganze Netz der Ge- fässstränge enthält, sodass der Stamm selbst bloss aus Parenchym besteht. Bei den Phanerogamen treten Verwachsungen normal in der Blüthenregion häufig auf. Dieselben sind bei den Kelchblättern, Kronblättern, Staubgefässen und Fruchtblättern so l^ekannt, dass ich nur daran zu erinnern brauche. Ich beschränke mich auf eine Be- merkung über die Berechtigung der Bezeichnung. Mit Rücksicht auf die Entwicklungsgeschichte ist gegen die »Verwachsungen« Ein- sprache erhoben worden, weil die genannten Blüthentheile vom ersten Anfange an vereinigt sind und nicht erst aus einem freien Zustande unter einander verwachsen. Dagegen könnte erwiedert werden, dass die Ausdrücke »verwachsen« und »angewachsen« nicht noth wendig ein ursprüngliches Getrenntsein voraussetzen, sondern dass sie auch bloss eine innige Verbindung bedeuten. Aber die Ausstellung hat nur dann einen Schein von Begründung, wenn man sich auf die Be- trachtung der einzelnen Ontogenie beschränkt. Erhebt man sich auf den Standpunkt der vergleichenden Morphologie und namentlich zu einem Urtheil über das phylogenetische Werden, so kann kein Zweifel über den Verwachsungs Vorgang bestehen. Es waren die verwachsenen Organe bei den Vorfahren wirklich getrennt und führen also ihren Namen auch der subtilsten Kritik gegenüber mit vollem Rechte. Was den unterständigen Fruchtknoten betrifft, so ist darüber noch folgendes zu bemerken. Derselbe soll nach der jetzt vorherr- schenden Lehre lediglich der vertiefte becherförmige Blüthenboden VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 377 sein, welcher auf dem Rande die beinahe auf die Griffel reduch'ten Carpelle, sowie die übrigen Blüthenblätter trage. Nach dieser Hypo- these, welche sich einzig auf die mikroskopische Beobachtung der jungen Zustände stützt und die Vergleichung verwandter Bildungen vernachlässigt, wäre das Gynäceum bei Pflanzen mit oberständigem und unterständigem Fruchtknoten, die einander oft sehr nahe ver- wandt sind , nach einem wesentlich verschiedenen Plane gebaut. Die Carpelle wären von der Mitte des Blüthenbodens , wo sie sich bei Oberständigkeit befinden, ziemlich weit weg auf den vorstehenden Rand gewandert und hätten auf dieser Wanderung ihren wesent- lichsten Theil, den Fruchtknoten eingebüsst; es wären dabei auch alle inneren Erscheinungen (Septirung u. s. w.) , die sonst dem aus Carpellen gebildeten Fruchtknoten zukommen, auf den vertieften Blüthenboden übergegangen. Es scheint mir nun nicht, dass der Uebergang von so wesentlich verschiedenen Bildungen in nahe ver- wandten Familien phylogenetisch denkbar wäre. Die gegen theilige Ansicht dagegen , nach welcher im unter- ständigen Fruchtknoten die Carpelle enthalten sind, stösst auf gar keine Schwierigkeiten. Wir sehen in der Familie der Rosaceen, dass die verschiedenen Formen des Blüthenbodens leicht in einander übergehen ; denn es gibt hier Gattungen mit gewölbtem, flachem und becherförmig vertieftem Blüthenboden. Tritt Vertiefung ein, so rücken aber die Carpelle nicht etwa allmählich nach aussen, son- dern sie behalten ihre Anheftung im Grunde des Bechers (Rosa) und verwachsen in dieser Stellung mehr oder weniger mit der Wandung des Bechers (Pomeen). Wird die Verwachsung noch inniger und reicht sie vollständig bis oben, so ist der wirklich unter- ständige Fruchtknoten fertig. Die Ansicht von der theilweisen Carpellnatur des unterständigen Ovariimis wird also durch Uebergangsbildungen begründet. Ueber- dem gewinnt dieselbe eine ausserordentliche Wahrscheinlichkeit dm'cli den Umstand, dass die Fächerung dieses Ovariums mit der Stelkmg und Zahl der Griffel übereinstimmt, und dass auch die Anheftung der Ovula ganz die gleiche ist wie im oberständigen Ovarium. Ist einmal die A'^erwachsung phylogenetisch vollzogen, so ist es sehr begreiflich , dass die individuelle Entwicklungsgeschichte von dem Zustandekommen nichts mehr sehen lässt. Denn die Ontogenie ist zwar die Wiederholung der Phylogenie , aber nur in ganz sum- 378 ^11- Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. marisclier Weise. Sie würde, ihrem Ursprünge gemäss, das Werden der Abstammmigslinie bis ins Einzelne wiederholen, wenn nicht die phylogenetische Reduction (Gesetz VII) eine Menge von Uebergängen in den Ontogenien unterdrückt und nur die Hauptstadien übrig gelassen hätte. Die Wirkungen dieser Reduction liegen im Pflanzenreiche und namentlich in der individuellen Entwicklungsgeschichte der höheren Thiere in anschaulicher Weise und reichlicher Menge vor. Dem entsprechend sehen wir auch von den phylogenetisch erfolgten Verwachsungsprocessen im Individuum gewöhnlich nur noch das Resultat. Die ontogenetische Entwicklungsgeschichte ist zwar für die Deu- tung der Erscheinungen ein absolutes Erforderniss, ohne welches ein Schluss nicht zulässig ist; aber sie ist dazu nicht ausreichend. Sie lässt, eljen weil sie fragmentarisch ist, verschiedene Deutungen zu, und sie kann erst mit Hülfe der systematischen Verwandtschaft und vergleichenden Beobachtung zu der richtigen phylogenetischen Er- klärung gelangen. Wenn es sicher ist, dass in dem unterständigen Fruchtknoten Carpelle enthalten sind, so folgt daraus nicht nothwendig, dass immer auch der l^echerförmige Blüthenljoden daran theilnehme. Es wäre möglich , dass , wie die Staubgefässe an die Blumenkrone oder an den Griffel anwachsen können, in manchen Fällen auch Kelch, Krone und Stau])fäden mit dem Fruchtknoten, ohne Beihülfe des Blüthenbodens, verwachsen und denselben unterständig machen. Die phylogenetischen Gesetze I — IV stinnnen darin überein, dass Zellen, Zelläste oder vielzellige Organe, welche auf der früheren Stufe sich ganz von einander lostrennen oder nur stellenweise verbunden sind , auf der späteren Stufe sich zusammenlegen und mit einander verschmelzen. Wir können daher die 4 Gesetze als ein einziges allgemeines phylogenetisches Gesetz, nämlich das der Vereini- gung, aussprechen. Tb eile, die ganz oder t heil weise getrennt sind, haben die Neigung, sicli immer vollständiger und inniger in ein c o n t i n u i r 1 i c h e s Gewebe zu vereinigen. Diese phylogenetische Vereinigung geschieht auf zweierlei Arten. Die eine Art besteht darin, dass Theile (Zellen), welche auf VII Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches. 379 der früheren Stufe bei der Entstehung einander berühren und sich nachher trennen , um selbständig zu leben , auf der späteren Stufe zeitlebens vereinigt bleiben und einen zusammenhängenden Körper bilden (Ges. I — III). Mehrere individuelle Existenzen werden also zu einer einzigen. Die »Vereinigung«, wenn auf das Wort Gewicht gelegt wird, besteht nicht darin, dass getrennte Theile während der ontogenetischen Entwicklung in Berührung mit einander gelangen, sondern darin, dass die Trennung, die auf der unteren phylogeneti- schen Stufe eintritt, auf der höheren ausbleiljt. Die andere Art der Vereinigung besteht darin, dass Theile, die auf der unteren Stufe nicht in Berührung sind, aiü" der höheren Stufe sich an einander legen und mit einander verwachsen. Diese Theile hängen auf der unteren Stufe meistens durch Verzweigung zusanmien, sodass der eine mit seinem Grunde an dem andern befestigt ist oder dass mehrere gleichwerthige auf einem gemeinsamen Träger stehen und mittelbar durch diesen zusammenhängen ; auf der höheren Stufe berühren sie sich der Länge nach, entweder theilweise oder vollständig (Ges. IV). Auch dieser Process wird in der onto- genetischen Entwicklung der höheren Stufe gewöhnlich nicht mehr als Vereinigungs - oder A^erwachsungsvorgang sichtbar, indem die Theile, die auf der früheren Stufe getrennt waren, auf der höheren schon bei ihrem Entstehen sich berühren (congenitale Verwachsung). - — Hiervon gibt es jedoch Ausnahmen, indem es auch vorkommt, dass Theile während der nämlichen Ontogenie zuerst getrennt auf- treten und nachher mit einander verwachsen. Ein Beispiel, wo dies mit selbständigen Zellen der Fall ist, finden wir bei den (einzelligen) Hydrodictyeen, deren Zellen bei der Entstehung sich berühren, dann sich loslösend einzeln' schwärmen und nachher sich fest an einander anlegen. Die phylogenetische Vereinigung spielt im Pflanzenreiche zwar eine ül^eraus wichtige Rolle, da ohne sie die Pflanzen nicht aus der Einzelligkeit herausgekommen wären ; aber sie ist hier doch in viel geringerem Umfange thätig als im Thierreich. In dem letzteren sind die Organe meistens zu einem Leib vereinigt, und es sind vor- zugsweise nur die Bewegungsorgane, die sich in ihrer Freiheit er- halten haben. Im Pflanzenreiche verlangen die Assimilation, wegen ihres Lichtbedürfnisses, und die Aufnahme der Nahrung eine grosse Oberfläche, daher Verzweigung und Ausbreitung der Substanz. Diese 380 ^'11- Phylogenetische Entwicklungsgesetze Jes Pflanzenreiches. Existenzbedingungen verhindern die unbeschränkte Verwirkhchung des Vereinigungsbestrebens. Die Vereinigung beschränkt sich, nach- dem die Organe zu einer bestimmten Stärke gelangt sind, vorzügUch auf die Sphäre der Fortpflanzung. Die Verlängerung der Ontogenie ist in den bis jetzt betrachteten Fällen (Ges. I — III) dadurch geschehen, dass am Ende derselben ein neues Stück angefügt wurde , was durch Vegetativwerden der ge- schlechtslosen Keime erfolgte. Ein solcher Vorgang erscheint uns aber , wie schon früher bemerkt wurde , als unmöglich , sobald die Fortpflanzung durch geschlechtlich differenzirte Elemente erfolgt, aus dem einfachen Grunde, weil eine gleichartige Weiterbildung durch Anfügung ungleichartiger Theile nicht denkbar ist. Erfolgt er gleichwohl, so hat er nicht mehr die Bedeutung einer Verlänge- rung der gemeinsamen Ontogenie , sondern nur die ungleichartige Verlängerung derselben in der Geschlechtssphäre, indem aus ein- fachen männlichen und weiblichen Fortpflanzungszellen nach den erörterten drei verschiedenen Normen (I, II, IV) vielzellige, eigen- thümlich gebaute Geschlechtsorgane werden. Die Verlängerung der gemeinsamen Ontogenie bei den Geschlechts- pflanzen geschieht also durch Einschiebung neuer Theile an irgend einer Stelle zwischen dem Anfang und dem Ende der vegetativen Entwicklung vom Keimstadium bis zur Geschlechtssphäre und lässt sich allgemein ausdrücken als V. phylogenetisches Gesetz. Ein bestimmtes früher beschränktes Wachsthum dauert an, oder eine bestimmte früher nur einmal vor- handene Bildung von Theilen einer Ontogenie wieder- holt sich (Ampliation). Beispiele für dieses Gesetz der bloss quantitativen Zunahme sind überall vorhanden bei den Geschlechtspflanzen, indem jede einzelne mit der nämlichen Fortpflanzung begabte Reihe mit klei- neren, aus einer geringeren Zahl von Zellen und Organen be- stehenden Pflanzen beginnt und zu grösseren, mehr zusammen- gesetzten Pflanzen ansteigt, so bei den Phanerogamen, den Moosen, VII. Phylogenetische EntwickUingsgesetze des Ptlaiizonreiches. 381 den Florideen und den anderen Algengruppen. Aber der reine gesetzmässige Vorgang der Ampliation tritt kaum je klar hervor, weil er immer mit anderen phylogenetischen Entwicklungsprocessen vergesellschaftet ist und durch sie verdeckt wird. Während nämlich die Weiterbildung der Configuration des Idioplasmas ein verlängertes ontogenetisches Wachsthum und eine vermehrte Bildung von Theilen des Individuums bewirkt , verursacht sie zugleich verschiedene Ver- änderungen in Bau und ^^errichtung , die als Differenzirmig und Arbeitstheilung , sowie als Bereicherung durch neue chemische und plastische Vorgänge uns entgegentreten mid unsere Aufmerksamkeit fesseln, und die ich als VI. j^hylogenetisches Gesetz zusammenfassen werde. Ich habe die rein quantitative Zunahme einzelner Partien der Ontogenie als besonderes Gesetz ausgesprochen, weil dieselbe nicht notlnvendig mit der qualitativen Veränderung des VI. Gesetzes verbunden, sondern bis zu einem gewissen Grad selbständig erscheint. Denn es kann einerseits eine starke Zunahme bei sehr geringer Ver- änderung, und andrerseits eine beträchtliche Veränderung bei geringer oder mangelnder Zunahme erfolgen. Desshalb sind diese beiden Componenten der phylogenetischen Entwicklmig in der wissenschaft- lichen Betrachtung auseinander zu halten. Die quantitative Zunahme der Ontogenie ist überall als möghch zu denken, wo bereits ein Wachsthumsprocess thätig ist; denn sie setzt bloss voraus, dass dieses Wachsthum andauere, d. h. dass die Erregung der bezüglichen Anlage im Idioplasma sich öfter als bisher wiederhole. Desshalb kann jeder Organismus bloss in bestimmten Richtungen seine Ontogenie verlängern. Nur wenn beispielsweise eine bestimmte intercalare Zelltheilung schon vorhanden ist, kann sie im Verlaufe der Phylogenie häufiger eintreten; aber es kann keine andersartige intercalare Zelltheilung neben ihr erfolgen. Die Florideen, die der früher besprochenen Reihe angehören (S. 372 — 374), vermögen nicht auf dem Wege der intercalaren Zelltheilung sich weiter zu bilden, weil ihnen diese Zelltheilung ganz mangelt; ihre phylogenetische Entwicklung geschieht bloss durch Zunahme des Scheitelwaclisthums und der Zweigbildung. Die Nostochaceen und Oscillariaceen, bei denen das intercalare Wachsthum bloss in Einer Richtung thätig ist, können auch nur in dieser Richtung sich weiter entwickehi, wie wir dies bei den Scytonemaceen und Rivulariaceen sehen ; und wenn in einer Familie der Nostochinen (bei den Stigone- 382 ^'^11- Pliy^ogf'^ctische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. maceen) aucli Zelltheilung in anderer Richtung auftritt, so kommt dabei noch eine andere pliylogenetisclie Ursaclie zur Geltung. Jeder Organismus und jede individuelle Partie desselben besteht, wenn wir die pliy logen etischen Reihen weit genug rückwärts ver- folgen, ursprünglich aus gleichen Theilen. Die Regionen einer Zelle, ebenso die Richtungen in derselben, unterscheiden sich nicht von einander, dessgleichen die Zellen eines vielzelligen Gebildes und die Organe eines Organcomplexes, indem jeder Tlieil die näudichen Functionen ausübt wie die andern. Dann werden die Theile un- gleich, indem die Functionen, die früher unterschiedslos allen zu- kamen, sich so scheiden, dass jeder einzelne bloss eine Partie der- selben übernimmt, was gewöhnlich als Differenzirung bezeichnet w^rd. Die Ungleichheit der differenzirten Theile ist anfänglich gering ; sie wird im phylogenetischen Verlaufe beträchtlicher, indem die Differenzirung in verstärktem Grade durchgeführt wird , indem ferner die geschiedenen Functionen eine Steigerung erfahren , und indem endlich als nothwendige Folge der stattgefundenen Um- lagerung neue Functionen in den ungleich gewordenen Theilen auftreten (S. 341 § 2). Jede Differenzirung kann eine räumliche oder eine zeitliche sein. Bei der räumlichen Differenzirung werden die neben einander vor- kommenden Theile einer Ontogenie, mögen dieselben gleichzeitig oder ungleichzeitig entstanden sein, ungleich. Bei der zeitlichen Differenzirung werden die von einander abstammenden und einander ersetzenden Theile, mögen dieselben Generationen von selbständigen Individuen oder Entwicklungsstadien eines Individuums darstellen, ungleich. Gewöhnlich bezeichnet man nur die erstere Veränderung als Differenzirung ; die letztere zeigt aber die gleichen Erscheinungen und folgt den nändichen Gesetzen. Wir können somit die allge- meine Norm folgendermaassen aussprechen: VI. phylogenetisches Gesetz. Die Theile einer Ontogenie werden ungleich, indem die früher vereinigten Functionen auseinander gelegt, und indem in den verschiedenen Theilen neue ungleich- VII. Phj'loEconetisclie Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 383 artige Functionen erzeugt werden. Diese Differenzirung ist entweder eine räumliche zwischen den nehen ein- ander vorkommenden, oder eine zeitliche zwischen den von einander abstammenden Th eilen der Ontogenie. Von den im Pflanzenreiche äusserst zahlreich vertretenen räum- lichen Differenzirungen will ich einige herausheben, bei denen der Vorgang klar hervortritt. Unter den Lycopodiaceen gibt es Arten (L. Selago), bei denen die Laubblätter nicht bloss die Assimilation vollbringen, sondern auch die Sporangien erzeugen. Bei anderen Arten (L. clavatum) hat sich die Scheidung der vegetativen und reproduc- tiven Processe in der Weise vollzogen, dass die unteren Blätter grün und ohne Sporangien, die obersten, zu Fruchtähren oder vielmehr Blüthen zusammengestellten Blätter blassgrün und sporangi entragend sind. — Eine analoge Differenzirung findet bei den Farnen statt. Die Mehrzahl derselben trägt die Fruchthäufchen auf den unver- änderten grünen Blättern. Bei einigen (Osmunda, Schizaea, Lygo- dium, Aneimia) ist der untere Theil der Blätter ausgebreitet und grün, der oberste zusammengezogen und fruchttragend. Einige andere (Struthiopteris , Allosoms, Blechnum) haben, neben den breiteren, bloss assimilirenden Blättern schmälere, ganz mit Sporangienhäufchen bedeckte Blätter. — Weitergehende Differenzirungen, sowohl zwischen den Theilen eines Blattes als zwischen den ganzen Blättern , voll- ziehen namentlich sich bei den Phanerogamen, bieten aber in ihrer Mehrzahl einer genauen Analyse des Vorganges grössere Schwierig- keiten dar. Die Verzweigungen einer Pflanze sind auf den untersten Stufen einer jeden phylogenetischen Reihe qualitativ einander gleich, indem sie gleichen Bau und gleiche Verrichtungen besitzen ; auf den fol- genden Stufen treten zwei, dann mehrere Ungleichheiten auf. Die erste Differenzirung besteht gewöhnlich darin, dass die einen Ver- zweigungen ausschliesslich vegetativ, die andern reproductiv werden, womit meistens der andere Unterschied verbunden ist, dass die vegetativen Strahlen (Achsen) ein stärkeres, häufig ein unbegrenztes Längen wachsthum zeigen, während die reproductiven Strahlen kürzer und immer begrenzt bleiben. — Als Beispiel will ich den Blüthen- stand der Phanerogamen anführen. Bei manchen derselben geht der Laubblattspross in einen terminalen Blüthenstand aus , an welchem jeder Strahl mit einer Blüthe abschliesst (Fig. 19 a); die Blüthen 384 ^'11- Pliylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflan/.enreiches. sind durch die kleinen Kreise angedeutet. Andere haben sich in der Weise weitergebildet, dass der mittlere Strahl des Blüthenstandes, indem seine Blüthe verkümmert, zum Träger für die blüthengekrönten Seitenstrahlen wird, wobei er sich gewöhnlich durch stärkeres Längen- wachsthum auszeichnet (Fig. 11) b). Die gleichzeitige A^eränderung, die darin besteht , dass die Seitenstrahlen , von denen die unteren ursprünglich grösser und stärker verzweigt sind, einander gleich und unverzweigt werden (Fig. 19 c), ist mittels vollständig durchgeführter Differenzirung unter Mitwirkung einer anderen Ursache (der Reduc- tion), die in dem VII. phylogenetischen Gesetz dargelegt wird, zu erklären. Die gleiche Umbildung eines geschlossenen Systems (Fig. 19a) in ein ungeschlossenes (b, c) kommt bei lateralen Inflorescenzen vor. — Durch Rückschlag kann der ungeschlossene Blüthenstand abnormal zu einem geschlossenen werden , indem die phylogenetisch verküm- i''ig. li». merte aber noch als latente Anlage im Idioplasma vorhandene Mittelblütlie wieder zur Entfaltung gelangt (Scrophulariaceen , Um- belliferen). VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 385 In dem angeführten Beispiel findet eine möglichst geringe DifEerenzirung statt, indem der mittlere Strahl des ßlüthenstandes, der auf den unteren Stufen einer phylogenetischen Reihe selber blüthenbildend ist und die blüthenbild enden Seitenstrahlen erzeugt, auf den höheren Stufen die erste Function vollständig den Seiten- strahlen überlässt und dafür die zweite um so ausgiebiger vollzieht. Eine bedeutendere Differenzirung besteht darin, dass auf den unteren Stufen die Laubblattsprosse in Blüthen oder Blüthen stände ausgehen, also zugleich vegetativ und reproductiv sind (Ranunculaceen, Cruci- feren), indess auf den höheren Stufen ein ausschliesslich vegetatives Verzweigungssystem seitliche reproductive Verzweigungssysteme (Inflo- rescenzen) trägt (Papilionaceen). Auf den unteren Stufen endigt der Laubblattspross in eine Blüthe oder in eine Blüthenspindel mit seit- lichen Blüthen , auf den höheren Stufen sind die Laubblattsprosse bis zur S|)itze , die meistens unbegrenzt in die Länge wächst , mit Laubblättern besetzt. Die Differenzirung von den unteren zu den höheren Stufen hat sich ohne Zweifel allmählich vollzogen , in der Weise, dass die Hauptsprosse sich immer mehr verlängerten und zuletzt ausschliesslich vegetativ wurden , indess die seitlichen Sprosse sich verkürzten und am Ende unter ^^erlust der Laubblätter nur noch die Function der Blüthenbildung behielten. Hiebei hat ebenfalls die Reductionsursache des VII. Gesetzes mitgewirkt. Eine Differenzirung der jährlich aus dem Wurzelstock auf- schiessenden Triebe in vegetative und reproductive findet in der Gattung Equisetum statt. Die einen Arten (E. palustre) besitzen einen Laubstengel, der in eine Fruchtähre (Blüthe) ausgeht, während bei E. arvense u. s. w. die einen Tiiebe nicht fructifizirend und grün, die anderen nichtgrün, schaftartig und fructifizirend sind. Wenden wir unsern Blick nach dem Aufbau der Organe aus den Zellen, so lässt die grosse Mannigfaltigkeit in der Gewebebildung der Gefässpflanzen auch auf eine vorausgegangene reichliche Diffe- renzirung schliessen. Allein die Deutung ist meistens nicht so ein- fach, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Die wichtigsten Differenzirungen treten uns nämlich schon fertig entgegen und lassen sich nicht in ihrem Entstehen verfolgen, da ja die ganze ph3'logene- tisclie Entwicklungsreihe vom Moossporogonium bis zur Gefässpflanze ausgestorben ist. Man spricht zwar bezüglich der Gewebebildung der Gefässpflanzen viel von Differenzirung, indem man den ursprüng- V. Nägeli, Abstammungslelire. 25 38ß ^"11- Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. liehen gleichförmigen merismatischen Zustand als einen undifferen- zirten bezeichnet, der sich dann zu der mannigfaltigen Beschaffenheit des fertigen Zustandes differenzire. Doch hat das Wort bei dieser Anwendung im Grunde bloss einen wissenschaftlichen Klang. Wenn wir mit demselben einen wissenschaftlichen Begriff verbinden wollen, so kann es wohl nur so geschehen, wie ich es im VI. phylogene- tischen Gesetz ausgesprochen habe, dass nämlich gleichartige Theile durch Scheidung ihrer Functionen, also durch Arbeitstheilung, un- gleich werden. Die Differenzirung ist ein j^hylogenetischer Vorgang; sie kommt nicht während der ontogenetischen Entwicklung zu Stande. Was man hier mit Unrecht als Differenzirung bezeichnet, ist nm^ die Entfaltung der ungleichen Anlagen. Die Zellen in den jüngsten Geweben sind bloss scheinbar gleich; in Wirklichkeit sind sie eben so sehr verschieden wie im entfalteten Zustande ; aber die Verschieden- heiten entziehen sich unserer Wahrnehmung, weil sie sich noch im Zustande der Anlage befinden. — In manchen Fällen gibt uns zwar die ontogenetische Entwicklung Aufschluss über das ^phylogenetische Werden. Aber gerade rücksichtlich der Gewebebildung trifft diese Uebereinstimmung gewiss am seltensten und auch am wenigsten auf- fällig zu. Wir müssen daher sichere Beispiele für Differenzirungen zwischen Zellen bei den sog. Zellenpflanzen aufsuchen , und wir finden sie da um so leichter, je einfacher und näher verwandt die phylogene- tischen Stadien sind, die durch die jetzt lebenden Pflanzen angedeutet werden. Die augenfälligsten Thatsachen bietet uns auch hier die Scheidung der vegetativen und reproductiven Vorgänge, indem im allgemeinen auf den untersten Stufen jede Zelle zuerst vegetativ ist und nachher Keime bildet, indess auf den folgenden Stufen die einen Zellen ihre vegetative Natur zeitlebens behalten, andere Zellen aber die Assimilationsthätigkeit mehr oder weniger beschränken und dafür die Fortpflanzung übernehmen. Eben so offen liegt die Arbeitstheilung zwischen den Fort- pflanzungszellen selber. Auf der untersten Stufe sind die Schwärm- sporen der Algen einander in jeder Beziehung vollkommen gleich; aus jeder entsteht eine neue Pflanze. Der erste Differenzirungsprocess gibt sich darin kund , dass die Schwärmsporen einander anziehen, in Folge dessen in Berührung kommen und vermöge ihrer weichen plasmatischen Beschaffenheit mit einander zu Einer Zelle verschmelzen. VlI. Pliylogenetipche "Rntwicklunpsjiesetze des Pflanzenreiches. 387 Diese Anziehung kann nach unserer jetzigen Kenntniss der Natur- kräfte bloss elektrischer Natur sein (S. 220). Jedenfalls muss, wie klar aus den beobachteten Thatsachen hervorgeht, die Anziehung durch Kräfte bewirkt werden, welche sich insofern wie die Elektri- citäten verhalten, als die ungleichnamigen sich anziehen. Denn es gibt Algen, bei denen die Schwärmzellen des nämlichen Sporangiums (Ulothrix, Acetabularia) oder der nämlichen Pflanze (Dasj^cladus) unfähig smd, sich mit einander zu copuliren, die sich also nicht anziehen sondern abstossen. Die A'^ereinigung findet in diesen Fällen nur dann statt, wenn die Schwärmsporen mit solchen aus bestimmten anderen Sporangien oder von bestimmten anderen Pflanzenindividuen zusanunenkommen . Diese Erscheinung kann auf keine andere Weise erklärt werden als durch die Annahme, dass die Schwärmsporen von doppelter Beschaffenheit sind , a und b , dass nur a mit b sich zu coj)uliren vermag, und dass die einen Zellen oder die einen Pflanzenstöcke bloss a, die andern bloss b erzeugen. Wenn es im Gegensatze hiezu auch solche Algen gibt, bei denen Copulation zwischen den Schwärm- zellen des nämlichen Sporangiums stattfindet (Hydrodictj^on, Botry- dium, Endosphaera, Chlorochytrium), so zeigt dieser Umstand bloss, dass schon Geschwisterzellen die ungleiche Natur a mid b annehmen können. Die einfachste und natürlichste Deutung des phylogenetischen Vorganges ist nun die, dass in den Schwärmsporen der ersten Stufe die beiden (a und b) Kräfte vereinigt sind und sich neutralisü"en, dass dieselben auf der zweiten Stufe sich getrennt haben, so dass die einen Schwärmsporen negativ, die andern positiv, die einen männlich also Spermatozoide, die andern weiblich also Eizellen sind. Diese Deutung erleidet keinen Eintrag durch die Thatsache, dass zuweilen mehr als zwei Schwärmzellen sich mit einander vereinigen (Botrydimn, Hydrodictyon). Es ist leicht denkbar, dass die positiven und negativen Kräfte der Geschlechtszellen quantitativ ungleich sind, und dass beispielsweise eine b-Zelle dm'ch 2 bis 5 a-Zellen oder 2 b-Zellen durch 3 a-Zellen neutralisirt werden. Die vorgetragene Theorie erklärt auch den sonst räthselhaften Umstand, dass die differenzirten und zur Copulation bestimmten Schwärmsporen für sich allein nicht keimfähig sind. Als Bedingung der Entwicklungsfähigkeit ist ein gewisses Gleichgewicht der elek- 25* ,'j88 VII. PhyU>f;e netische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. trischen Kräfte nothwondig und dieses ist in den Gesclilechtszellen gestört. Die Erscheinung, dass ausnahmsweise die Sehwärmsporen der zweiten Stufe, ohne sich zu copuhren, zur Keimung gelangen, ist als Rückschlag auf die erste Stufe zu betrachten, indem die Scheidung der sexuellen Kräfte unterbleibt und die Geschlechtszellen parthenogenetisch oder, wenn es männliche Zellen sind, eitheogenetisch sich entwickeln. Möglicher Weise ist ferner der allererste Schritt der Differenzirung nicht vollständig und der sexuelle Charakter der untersten Geschlechtspflanzen noch wenig ausges})rochen, indem die Fortpflanzungszellen neben neutralisirter Geschlechtselektricität geringe Mengen von positiven oder negativen Kräften enthalten und in Folge dessen eben so wohl zum Einzelleben als zur Copulation befäliigt sind. Die sich copulirenden Scliwärms|)oren der zweiten Stufe haben sich bloss rücksichtlich der Geschlechtselektricitäten differenzirt. Männliclie und weibliche Elemente sind einander in Grösse, Gestalt und Beschaffenheit der Substanz vollkommen gleich. Desswegen wurde auch iln-e Vereinigung als Copulation gleicher Zellen be- trachtet. Insbesondere konnnt ihnen die nämliche Beweglichkeit und der nämliche Gehalt an Ernährungsjilasma und an nicht plas- matischen Substanzen zu. Diese Eigenschaften sind es nun, welche zu weiterer Differenzirung die Veranlassung geben. Den männlichen Elementen bleibt die Beweglichkeit, indess sie die nicht idioplas- ]natischen Substanzen verlieren und zuletzt bloss noch aus Idioplasma bestellen. Die weiblichen Elemente hingegen verlieren die Beweg- lichkeit und werden dafür mit Ernährungsplasma und mit nicht- plasmatischen Stoffen ausgestattet. Die Verschiedenheit zwischen den männlichen und weiblichen Zellen wird übrigens noch sehr gesteigert durch die hinzutretenden Anpassungsveränderungen. — Die genannten Differenzirungen haben sich ganz allmäldich vollzogen, Avas auch von Seite der Erfahrung durch die nocli vorhandenen Uebergangsglieder bestätigt wird. Uebrigens ist noch zu bemerken, dass die angefüln'te Differenzirung einer bestimmten phylogenetischen Reihe angehört, und dass es überdem Andeutungen für andere mehr oder weniger abweichende Reihen bei den Algen gibt. ]''.iue gleiche Differenzirung wie an den Schwärmsporen vollzieht sich an d(!n (ruhenden) Tetrasporen der Gefässkryptogamen. Die- jenigen der Filices sind noch uiidifferenzirt ; aus jeder Spore ent- wickelt sich ein gleicher Vorkeim (Prothallium). Bei den Equisetaceen VII. Phylogenetische EutwickUuigsgesetze des Pfiaiizenreiehes. 380 haben sich die geschlechthchen Kräfte geschieden; bei gleicher Grösse und Gestah erzeugen die einen Sporen männhche, die anderen weibHche Vorkeime. Die höchsten Gefässkryptogamen haben männ- hche und weibhche Sporen, die ausserdem noch in Grösse und Zahl sich von einander unterscheiden, indem Anpassung (Gesetz Ylll) und Reduction (Gesetz VII) zu der Geschlechtsdifferenz hinzuge- kommen sind. Als Beispiel, wie die DifEerenzirung zwischen den Zellen erfolgt, will ich noch die Theilung derselben betrachten und zwar die Zwei- theihmg der gewöhnlichen, mit einer Cellulosemembran umkleideten Pflanzenzellen, so dass der Process charakterisirt wird durch die Gestalt und Beschaffenheit der Zellen und die Lage der Scheide- wand. Die Art und Weise, ^\ie eine Zelle sich theilt, hängt über- hauj^t von der Anordnung der scheidewandbildenden Stoffe und Kräfte ab, in diesem Falle, da es sich um die phylogenetischen Veränderungen der erblichen Eigenschaften handelt, von der Be- schaffenheit und Anordnung des Idioplasmas und der durch die Torausgehende Thätigkeit des Idioplasmas erzeugten nicht iclioplas- matischen Substanzen. Auf den untersten Stufen der phylogenetischen Entwicklungs- reihen sind die Stoffe und Kräfte in den einzelligen Pflanzen ganz gleichmässig um den Mittelpunkt vertheilt, wodurch die Kugelgestalt der Zelle und die Theilung derselben in zwei gleiche Hälften bedingt wird (manche Chroococcaceen und Palmellinen). Weiterhin findet eine Reihe von Differenzirungen zwischen den verschiedenen Rich- tungen innerhalb der Zelle statt, indem sich eine Achsenrichtung mit gleichen Achsenenden ausscheidet und die Dimensionen in den zur Zellenachse senkrechten Ebenen verschiedene Abstufungen der Symmetrie annehmen. Der Charakter der Theilung bleibt aber noch derselbe, indem die entstehende Scheidewand, welche die Achse stets rechtwinklig schneidet, die Zelle in zwei gleiche Hälften zerlegt. Beispiele hiefür finden wir bei einzelligen Pflanzen: Chroococcaceen, Palmellinen, Desmidiaceen, Diatomeen und Schizomyceten, und bei vielzelligen Familien : Nostochaceen ') Oscillariaceen, Zj^gnemaceen und anderen Algen. ') Die Angabe, dass in den Hormogonien (Fadenstücken) von Nostoc die Zelltheihtngen, statt in der Richtung der Achse des Fadens, auch senkrecht zu derselben geschehen, kann ich nach vieljährigen Beobachtungen nicht bestätigen, 390 ^^I- Phylogenetische Eiitwieklungsgesetze des nianzenreiehes. Eine neue und wichtige Differenzirung tritt nun in der Achsen- richtung selber ein, so dass die Zelle zwei ungleiche Enden (Pole) hat und durch die zur Achse senkrechte Theilungswand in zwei ungleiche Hälften zerfällt. Die beiden Kindzellen können hei gleicher Grösse und Gestalt ungleichen Inhalt, d. h. ungleiche Mengen von Idioplasma und anderen Substanzen, enthalten, oder es können auch ihre Grösse und Gestalt verschieden sein. Diese Ungleichheit ist auf den tieferen Stufen einer bestimmten phylogenetischen Reihe gering; sie wird auf den folgenden Stufen beträchtlicher, bis sie zuletzt den ausgesprochensten Charakter der eigentlichen Sj^rossung angenommen hat (S. 3G5, Fig. 17 1, k, g, f, a). Eine andere phylogenetische Reihe führt zum Scheitelwachs- thum des einreihigen Zellfadens. Die Ungleichheit in der Vertheilung des Idioplasmas und Ernährmigsplasmas auf die beiden Achsenseiten wird schliesslich so gross, dass von den beiden Kindzellen die eine vollkommen die Natur der Elterzelle hat und wieder eine Scheitel- zelle ist, während die andere als Gliederzelle wesentlich andere Eigen- schaften besitzt. Der Zelleninhalt der Scheitelzelle ist wie auf den vorausgehenden phylogenetischen Stufen in den die Achse recht- winklig schneidenden Ebenen gieichmässig über die verschiedenen Radien vertheilt, und in Folge dessen schneidet die entstehende Theilungswand die Achse immer noch unter einem rechten Winkel (manche Confervoiden, Fucoiden, viele Florideen, die Characeen etc. ; Fig. 20 a). Die einzig noch mögliche Differenzirung in der Anordnung des Inhaltes der Scheitelzelle bezüglich der Richtung besteht darin, dass die zur Achse rechtwinkligen Ebenen ungleichhälftig werden, indem auf der einen, mit der Achse parallel laufenden Seite Idioplasma und Ernährungsplasma sich anders verhalten als auf der gegenüber liegenden Seite. Damit verträgt sich eine zur Achse senkrechte Theilungswand nicht mehr. Aus der ungleichen Anordnung des Inhaltes in der Längsrichtung und in der Querrichtung der Scheitel- zelle ergibt sich mit mechanischer Nothwendigkeit eine schiefe Lage der Theilungsebene. Diese Differenzirung in der Querrichtung ging und ich glaube, dass jener Angabe ein Irrthuiu, veranlayst durcli die 1)ei den Schizophyten nicht seltene Verschiebung der Zellen, zu Grunde liegt. Diese Ver- schiebungen sind oft so gross, dass man nur bei genauer Verfolgung der Ent- wicklungsgeschichte sich zurecht zu finden vermag. YII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 391 ohne Zweifel phylogenetisch ganz allmählich vor sich (Fig. 20 h stellt eine Uebergangsstufe dar; Andeutungen hiezu finden sich bei Florideen), und führte zu dem Scheitelwachsthum durch schiefe Wände, welche auf der einen Seite die Aussenwand der Schoitelzelle, auf der andern Seite die frühere Theilungswand berühren (Fig. 20 c), wie es bei den höheren Florideen, den Moosen, Gefässkryptogamen und einigen Phanerogamen bekannt ist. Fig. 20. Eine analoge Differenzirung wie beim Scheitelwachsthum, welches als peripherisches Längenwachsthum gegenüber dem intercalaren zu bezeichnen ist, vollzieht sich ebenfalls bei dem übrigen peripherischen ^^^achsthum. Auch hier ist in den Zellen eine Achsenrichtung mit ungleichen Enden bereits ausgebildet ; auf den tieferen Stufen besteht in den zur Achse rechtwinkligen Ebenen allseitiges Gleichgewicht der auf die Theilung einwirkenden Stoffe und Kräfte, indess auf den höheren Stufen dieses Gleichgewicht gestört ist. Beim peripherischen Breitenw^achsthum sind es die Rand- zellen eines einschichtigen oder eines flachen mehrschichtigen Organs, welche sich theilen. Wenn der bei der Theilung der Randzelle maassgebende Inhalt rings um ihre auf die Mitte des Randes treffende Medianlinie gleichmässig angeordnet ist, so zerfällt die Randzelle entweder durch eine mit der Randfläche parallele Wand in eine Flächenzelle und eine neue Randzelle (Fig. 21 a) oder durch eine mit der Medianlinie zusammenfallende halbirende AVand in zwei neue Randzellen (Fig. 21 b). — Ist der Inhalt in Folge eingetretener Differenzirung rings um die Medianline ungleichmässig vertheilt, so erfolgt schiefe Theilung und zwar gewöhnlich in der Weise, dass eine Kante (meist die akroskope) durch eine Wand abgeschnitten 392 \n. Phylogenetische Entwickhiiigporesetze des Pflanzenreiches. wird (Fig. 21 c), worauf dann die andere Kante ebenfalls durch eine schiefe Wand abgetrennt wird (Fig. 21 d). Das Resultat der zwei auf einander folgenden Theilungen ist eine von zwei Randzellen bedeckte Flächenzelle. In den Figuren ist der Rand niitxx, die zuletzt gebildete Wand durch eine punktirte Linie angegeben. — Das äussere Ende der schiefen Wand berührt nicht immer den Rand wie in Fig. 20 c , sondern in selteneren Fällen auch die andere Seitenwand. In Fig. 20 e sind die schiefen Wände nach einander von links nach rechts entstanden; nur die letzte trifft auf den Rand. Dies kommt bei Gelidium und einigen anderen Florideen vor. Fig. 21. Das peripherische Dickenwachsthum geschieht durch Thei- lung der Aussenzellen. Wenn die scheidewandbildenden Elemente derselben in den zur Oberfläche parallelen Ebenen gleichmässig ver- theilt sind, so erfolgt entweder Theilung vermittelst einer mit der Aussenfläche parallelen Wand in eine Innenzelle und eine neue Aussenzelle, oder Halbirung vermittelst einer auf der Aussenfläche rechtwinklig aufsitzenden Wand in zwei neue Aussenzellen; die Durchschnittsansichten sind die nämlichen wie in Fig. 20 a und b. — Ist aber Differenzirung in den mit der Oberfläche parallelen Ebenen eingetreten, so bilden sich schiefe Theilungswände, welche meistens entweder äussere Kanten oder äussere Ecken abschneiden ; die Durchschnittsansichten gleichen den in Fig. 20 c und d gezeichneten. Aus einer Aussenzelle geht durch eine Folge von 2 bis 4 solchen schiefen Theilungen eine von 2 bis 4 Aussenzellen bedeckte Innen- zelle hervor. Die geschilderten Differenzirungen in den Rand- und in den Aussenzellen treten vorzüglich bei Algen auf, und vielleicht zuerst VIT. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des rflanzemviches. 393 hei der Bildung von Anfangszellen seitlicher Organe. Bei einer grossen Gruppe der Florideen erfolgt die Gewehehildung fast aus- schliesslich durch solche schiefe Zelltheilungen , welche hier be- stimmt von der Verzweigung einfacherer Formen vererbt worden sind (S. 372—735). Ich habe bis jetzt die Differenzirung der Zellen mit Rücksicht auf die Lage der bei der Theilung entstehenden Scheidewand be- trachtet, wodurch die Gestalt und die Stellung der Geschwisterzellen bedingt wird. Die aus der Theilung herA^orgegangenen Zellen werden auch in verschiedenen anderen Beziehungen mehr oder weniger un- gleich. Die näclist liegende Eigenschaft, welche der Differenzirung unterliegt, ist die Dauer und Theilungsfähigkeit der Zellen. Der Vorgang lässt sich am einfachsten bei der Klasse der Nostochinen verfolgen. Gewisse einzellige Chroococcaceen werden, indem die Zellen nach der Theilung vegetativ in Vereinigung bleiben, phylogenetisch zu einem einreihigen Faden (vgl. Ges. I S. 357), dessen Glieder auf der ersten Stufe vollkommen ihre frühere Theilungsfähigkeit bewahrt haben; alle Zellen eines Fadens wachsen und theilen sich in der nämlichen Weise; der Faden verlängert sich unbegrenzt (Nostocha- ceen). Die erste Differenzirung besteht darin, dass die beiden End- zellen eines Fadens etwas lebhafter wachsen und sich theilen als die übrigen Zellen, also gleichsam Scheitelzellen darstellen; die übrigen Zellen sind in dem unbegrenzt sich verlängernden Faden vollkommen gleich ; bricht derselbe entzwei , so nehmen die End- zellen die angegebene Natur von Scheitelzellen an (Oscillariaceen) ^). Eine fernere Differenzirung trifft die zwischen den Enden be- findlichen Fadenstücke. Die beiden Scheitelzellen zeichnen sich ') Man möchte vielleicht geneigt sein, das etwas stärkere Wachsthnm der Endzellen bei Oscillaria als eine Folge der Wassereinwirkung, somit als Anpassung zu betrachten. Allein die Thatsachen, dass bei den Nostochaceen die Enden sich nicht von den übrigen Theilen des Fadens unterscheiden, dass bei den Scyto- nemaceen das Wachsthnm der Enden ganz ausserordentlich gefördert ist, und dass bei den Rivnlariaceen die Enden ein vermindertes und bald ersterbendes Wachsthnm zeigen, — dass also bei so nahe verwandten Familien der Wachs- thumsüberschuss der Enden bald in ungleichem Grade positiv, bald negativ und bald null ist, — beweisen wohl deutlich, dass hier innere Ursachen maassgebend sein müssen. 3D4 VII. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Manzenreiches. dann noch deutlicher durch stärkeres Wuchsthum und häufigere Theihmg aus ; nach rückwärts von densell )en vermindert sich Wachs- thum und Theihingsfähigkeit alhnähhch und liört in einer gcAvisson Entfernung ganz auf. Hat der Faden eine grössere Länge erreicht, so hesitzt er innerhalb der beiden vegetirenden Enden, die aus der Scheitelzelle, einer durch intercalare Theilung wachsenden und einer ausgewachsenen Partie bestehen, ein abgestorbenes Mittelstück. Da späterhhi der Faden in zwei Fäden zerfällt, so gewinnt es den An- schein, als ob jeder derselben ein unteres und ein oberes Ende be- sitze (Scytonemaceen). In der Klasse der Nostochinen erfährt diese Differenzirung keine weitergehende Steigerung. Dagegen tritt sie noch bestimmter bei manchen Confervoiden auf, bei denen ausser der unbegrenzt wach- senden und sich vermehrenden Scheitelzelle je die obersten Glieder- zellen sich bloss noch einige Male theilen. Bei den Characeen ist das intercalare Längenwachsthum durch Zellenbildung auf ein Mi- nimum beschränkt, indem die durch Theilung der Scheitelzelle ab- geschnittene primäre Gliederzelle sich bloss einmal durch eine hori- zontale Wand in zwei secundäre Gliederzellen theilt. Hört auch diese Theilung auf, so hat die Differenzirung ihr Maximum erreicht und das Scheitelwachsthum bleibt ausschliesslich auf die Theilung der Scheitelzelle beschränkt, wie dies bei den Florideen so charak- teristisch der Fall ist. — Dieses Ziel wird auch auf einem anderen phylogenetischen Wege, nämlich durch Vegetativwerden der durch Sprossung entstehenden Keimzellen erreicht (Ges. H S. 336). Eine andere, gewissermaassen gegentheilige Differenzirung tritt in dem ursprünglichen aus ganz gleichen Zellen bestehenden Faden dadurch auf, dass Wachsthum und Zelltheilung in dem oberen Faden- ende träger werden und dann ganz aufhören ; dieses Ende wird zu- gleich dünner und seine Zellen, die sich nicht mehr theilen, strecken sich in die Länge, so dass der Faden in eine haarförmige Sj)itze ausgeht. Das Aufhören der Zelltheilung, die Streckung der Zellen und das Absterben dersell)en schreitet in basipetaler Richtung fort (Rivulariaceen, verschiedene Confervoiden). Diese Differenzirung geht noch einen Schritt weiter, indem der Uebergang der Zellen in den Dauerzustand nicht bloss von der Spitze abwärts, sondern auch von der Basis aufwärts fortschreitet, so dass nur die Partie des Fadens , welche unterhalb der haar- VII. rhylogenetisclii' Entwicklungsgesetze des rflanzenreiches. o\)b förmigen Spitze sich befindet, in fortdauernder Zelltlieilung verharrt (Ectoear]3us). Die erörterten phylogenetischen Erscheinungen , die mit dem Wachsthum dm'ch Zelltheihmg verbunden sind, gehören einem ganz allgemeinen Differenzirungsvorgang an. Bei den niedrigsten Pflanzen sind alle Lebensfunctionen in Einer Zelle vereinigt. Die zuerst be- ginnende Differenzirung scheidet die vegetativen und die reproduc- tiven Processe, welche in den Abstammungslinien immer strenger auf verschiedene Zellen vertheilt werden. Eine andere etwas später auftretende Differenzirung, die ebenfalls nach und nach schärfer ausgeprägt wird, scheidet die gesammte Vegetation in zwei Sphären, die wir als Assimilation und Wachsthum bezeichnen können. Die "N^egetation hat nämlich im grossen und ganzen zwei Aufgaben zu erfüllen : 1. Die von aussen aufgenommenen Nahrungsstoffe in eine für den pflanzlichen Organismus verwendbare Form überzuführen: hie- her gehört Aufnahme, Umsetzung, Transj)ort, Ausscheidung. 2. Die assimilirten Verbindungen für den Aufbau zu verwenden, indem aus den molecular gelösten Stoffen molecular unlösliche Yqy- bindungen gebildet und als Micelle eingeordnet werden: hieher ge- hört das Wachsthum des Idioplasmas, des Ernährungsplasmas und der nicht plasmatischen Substanzen. Die Scheidung in Assimilation und Wachsthum beginnt schon bei einzelligen Pflanzen; sie bewirkt hier die Sprossung, indem, während die ganze übrige Zelle assimilirt, das Wachsthum auf einen peripherischen Punkt concentrirt wird. Das Andauern dieser Schei- dung verursacht die Bildung der röhrenförmigen, mit Scheit elwachs- thum begabten Zellen (Siphoneen) und die Bildung der durch aus- schliessliche Theilung der Scheitelzelle ausgezeichneten niederen Florideen (Callithamnieen). Diese Scheidung geht als Erbtheil auf die höheren Pflanzen über, wo sie zunächst den Gegensatz des mit Wachsthum begabten Scheitels und der assimilirenden , unter der Scheitelregion befindlichen Partien bedingt. Daraus erklärt sich die Erscheinung, dass die normale Bildung der seitlichen Organe des Stengels auf die Scheitelregion desselben beschränkt ist , und dass die stärksten mid wichtigsten seitlichen Organe (die Blätter sammt den Axillarknosi^en) ausschliesslich in akropetaler Folge entstehen. Dies betrifft das Wachsthum im allgemeinen; die verschiedenen 390 VII. Phylogenetische Eiitwickkuigsgesetze des Pflanzenreiches. Modificatioiien desselben gehen aus weiteren untergeordneten Diffe- renzirungen hervor. Bis jetzt suchte ich die Art und Weise klar zu legen, wie die räumliche Differenzirung erfolgt: An die Stelle der neben einander befindlichen gleichartigen Theile treten ungleichartige, welche zu- sammen die Eigenschaften jener besitzen. Das Zustandekommen dieses Processes setzt voraus , dass die sich differenzirenden Theile auf einander eimdrken, dass sie somit unter einander in Verbindung stehen. Meistens liegen diesell:>en unmittelbar neigen einander, und dann ist kaum ein Zweifel über die Bedeutung des Vorganges möglich. Man darf aber wohl annehmen , dass die Differenzirung auch ehi- treten kann, wenn die Theile an dem Ucämlichen Individuum weiter von einander entfernt sind, w^eil ja die Differenzirung im Idioj^lasma geschieht und dieses durch den ganzen Organismus in dynamischer Verbindung steht. In diesem Falle wird die Bedeutung des phylo- genetischen A^organges sich leicht der Erkenntniss entziehen. Bezüglich des W'Citeren Schicksals der differenzirten Theile können wir uns einmal die Frage stellen, ob dieselben, wie sie unter gegen- seitiger dynamischer Einwirkung zn Stande gekommen sind, auch nur unter gegenseitiger Einwirkung, also nur gemeinsam, oder ob sie auch getrennt sich weiter zu entwickeln und zu entfalten ver- mögen. Dies hängt offenbar von der Beschaffenheit ihrer Eigen- schaften ab. Können diese unabhängig von einander bestehen , so entfalten sich die idioplasmatischen Anlagen , nachdem sie sich geschieden liaben, selbständig, und setzen auch ihre weitere Ent- wicklung in selbständiger A¥eise fort. Es kann somit von zwei ur- sprünglich zusammengehörigen und durch Differenzirung geschiedenen Eigenschaften jede sich eigenartig weiter ausbilden und ebenso für sich zur Entfaltung gelangen, indess die andere latent bleibt. Dadurch geht der Anschein der Zusammengehörigkeit und des gemeinsamen Ursprungs verloren, und es ist nur dann möglich, diesen Ursprung nachzuweisen , wenn alle phylogenetischen Uebergangsstufen der Beobachtung zugänglich sind. Es gibt andere Eigenschaften, welche, gleich wie sie gemeinsam entstanden sind, auch stetsfort nur gemeinsam sich weiter entwickeln und auch nur gemeinsam zur Entfaltung gelangen können. Dies VII. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pfliuizenreielies. 397 ist dann der Fall, wenn sie nicht über eine ontogenetische Periode liinans unabhängig von einander zu bestehen vermögen , sondern jieriodisch wieder in Beziehung zu einander, gewissermaassen zu einer Vereinigung kommen müssen, um sich von neuem zu scheiden. Die Trennung der Geschlechter gibt uns ein Beispiel hiefür und wir finden dies nicht unbegreiflich, wenn gemäss der von mir ausge- sprochenen Vermuthung die Trennung in einer Scheidung der beiden Elektricitäten besteht. Geschlechtliche Trennung und A^ereinimmo- findet naturgemäss in jeder Ontogenie einmal statt. Die Vereinigung der Geschlechter tritt je im Momente des Ueber- ganges von einer Ontogenie in die folgende ein. Die Scheidung derselben aber ist nicht an einen Ijestimmten Zeitpunkt gebunden; sie kann in einem frühern oder späteren Stadium erfolgen. Ur- sprünglich, d. h. auf der untersten phylogenetischen Stufe einer Reihe, findet die Ditferenzirung zwischen eben den Zellen statt, die sich dann als Geschlechtszellen mit einander vereinigen. Die Elter- zelle ist geschlechtslos; von den in derselben entstehenden Zellen sind die einen männlich, die anderen weiblich (Hydrodictyon, Botry- dium, Endosphaera, Chlorochytrium). Auf der nächst hölieren Stufe geschieht die geschlechtliche Scheidung zwischen den Elterzellen der Geschlechtszellen und gibt sich dadurcli kund, dass die einen Zellen nur männliche, die anderen inn* weibliche Fortpflanzungs- zellen erzeugen (Ulotlmx, Acetabularia, Oedogoniumpart., Volvoxu. A.). Auf einer noch höheren Stufe sind schon vielzellige Organe des nämlichen Pflanzenstockes geschlechtlich getrennt, wie die Sporangien der höchsten Gefässcryptogamen, von denen die einen Androsporen, die andern Gynosporen enthalten, ferner die Staubgefässe und Car- pelle der Phanerogamen. Der letzte Schritt in dieser pliylogenetischen Stufenleiter vollzieht sich dadurch , dass die Individuen selbst geschlechtlich gescliieden werden. Ein solches geschlechtliches Individuum kann sich auf geschlechtslosem Wege vermehren und in dieser Weise eine ganze Reihe von Generationen innerhalb derselben Ontogenie durchlaufen. Ich führe als Beispiel die aus abgeschnittenen Zweigen erwachsenen Weiden und Pappeln an ; eine grosse Zahl von Trauerweiden, ebenso von italienischen Pappeln , die in Europa fast ausschliesslich in männlichen Exemplaren vorkommen, gehört der nämlichen Onto- genie an. Zur Erzeugung ehies Embryos aber ist die geschlechtliche 398 ^TfT- Phylogenetische Entwickhmosgesetze des Pflanzenreiches. Neutrali sirung vermittelst der Vereinigung von männlichen und weib- lichen Fortpflanzungszellen erforderlich. Unmittelbar nach der Be- fruchtung besitzt auch das Product derselben schon wieder einen bestimmten, männlichen oder weil)lichen, Charakter'). Diese i^liylogenetische Stufenfolge zeigt uns jedenfalls, dass die Organismen das Bestreben haben, auch die geschlechtlichen Eigen- schaften selbständiger zu machen. Denn die ungeschlechtliche, der Geschlechtsdifferenzirung vorausgehende Partie der ontogeneti sehen Periode wird immer kürzer. Zuletzt dauert sie nur noch einen Augen- blick, indem mit der Vereinigung der von Vater und Mutter kom- menden männlichen und weiblichen Zellen auch das Geschlecht des Kindes entschieden ist. Als ein weiterer Schritt in dieser Rich- tung ist die Parthenogenesis anzusehen, bei welcher die weiblichen Fortpflanzungszellen das Vermögen erlangt haben, ohne Ausgleichung mit einer männlichen Zelle eine neue Ontogenie einzuleiten und die Generationenreihe fortzusetzen. Auch die Ajjogamie^) der höheren ^) Die Beobachtungen, welche dafür angeführt werden, dass das Geschlecht nicht schon Ijei der Bildung des Keims, sondern erst späterhin durch äussere Einflüsse bestimmt werde, lassen allzusehr eine exacte experimentelle Behand- lung vermissen, um gegenüber den andern Gründen und Erfahrungsthatsachen Berücksichtigung zu verdienen. Die Scheidung des Geschlechts besteht im Idio- plasma, in welchem sich die männliche und weiljliche Anlage befindet. Bei den hermaphroditischen und einhäusigen Pflanzen sind beide Anlagen entfaltungsstet; nur stehen sie bei den ersteren und letzteren mit ungleichen anderen Anlagen in Verbindung. Bei den zweihäusigen (eingeschlechtigen) Pflanzen ist nur die eine geschlechtliche Anlage entfaltungsfähig, die andere bleibt latent. Beim phylogenetischen Uebergang von der Einhäusigkeit zur Zweihäusigkeit befindet sich die eine Geschlechtsanlage, vor dem völligen Latentwerden, zuerst in einem geschwächten Zustande und vermag bloss unter günstigen Innern und äussern Umständen sich zu entfalten, so dass die männUche Pflanze auch einzelne weib- liche Blüthen hervorbringen kann und umgekehrt. ^) Unter dem neuen Namen Apogamie (Geschlechtsverlust) werden zwei Er- scheinungen vereinigt, die in physiologischer und phylogenetischer Beziehung sich verschieden verhalten: 1. die Parthenogenesis, bei welcher tlie weibliche Zelle, ohne befruchtet zu werden, entwicklungsfähig ist; 2. die vegetative Wucherung mit geschlechtsloser Vermehrung, wobei die Geschlechtszellen entweder gar nicht gebildet oder, wenn vorhanden, functionslos werden. Diese Erscheinung tritt infolge des den Pflanzenzüchtern längst be- kannten Wechselverhältnisses zwischen geschlechtlicher und ungeschlechtlicher Fortpflanzung ein und gehört sehr wahrscheinlich bloss der Cultur an. Die merk- würdigsten Fälle sind diejenigen, wo die vegetative Wucherung in unmittelbarer Nähe neben den steril bleibenden oder ganz geschwundenen Geschlechtszellen M:I. Phj'logenotisclie Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 399 Pilze (de Bary), bei denen sicli Organe bilden, die den Geschlechts- organen analog sind, aber keinen Befruchtungsact vollziehen, ist vielleicht als eine ähnliche weitere Stufe zu betrachten , aber phy- siologisch noch nicht sicher zu deuten. Eine andere Erscheinung , die das weitere phylogenetische Schicksal der differenzirten Theile betrifft, ist die, dass zu den Eigen- schaften, die ursprünglich sich geschieden haben, sf)äter noch andere ungleiche Eigenschaften sich gesellen und dass diese ungleiche Aus- 1 jildung nicht bloss die Theile selbst trifft , um die es sich bei der Differenzirung eigentlich handelt , sondern gleichsam mit rück- wirkender Kraft auch diejenigen Theile, von denen sie erzeugt werden. Am besten lässt sich diese Erscheinung bei der geschlechtlichen Differenzirung nachweisen , weil die geschlechtlichen Eigenschaften so charakteristisch sich von den andern Merkmalen unterscheiden. Nicht nur die männlichen und weiblichen Fortpflanzungszellen werden in der phylogenetischen Reihenfolge immer ungleicher, sondern es tritt dies auch bei den Elterzellen derselben ein (Oedogonium etc.), bei den ganzen erzeugenden Organen (Phanerogamen) und bei den geschlechtlich geschiedenen Individuen (einige Pflanzen, fast alle Thiere). Wenn ich von Rückwirkung gesprochen habe, so besteht dieselbe nur scheinbar. Die geschlechtliche Differenzirung ist ja als Anlage im Idioplasma enthalten und somit in allen Theilen und allen Entwicklungsstadien vorhanden. Aber ihre Entfaltungs- fähigkeit ist ursprünglich beschränkt , ihr Gebiet wird dann nach und nach grösser , und an die geschlechtlichen Eigenschaften schliessen sich theils infolge anderweitiger Differenzirungen, theils infolge anderweitiger phylogenetischer Vorgänge fernere Verschieden- heiten an. Durch die zeitliche Differenzirung werden die von einander abstammenden Theile in ihren auf einander folgenden Generationen ungleich. Die geringste Veränderung besteht darin, dass eine Function, die auf früheren phylogenetischen Stufen in ihrer Richtung un- bestimmt war, auf einer späteren Stufe in den successiven Genera- erfolgt, vne im Embryo^ack der Phanerogamen (StrasLurger) oder auf dem Pro- thallium der Farne (de Bary). Ob die Apogamie der Pilze zur ersten oder zweiten Kategorie zu zählen sei, lässt sich noch nicht entscheiden. 400 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. tionen bestimmt ist, was sich sehr deiithch tui der Zelltheilung nachweisen lässt. Es gab jedenfalls in jeder der verschiedenen phylogeneti seilen Reihen, die mit der Urzeugnng begannen, eine Stufe, auf welcher die Riclitung der Scheidewand bei der Zweitheilung bloss durch äussere Kräfte beeinflusst wurde. Die Bedingungen für eine solche noch ganz undifferenzirte Zelle sind offenbar eine kugelige Gestalt und eine auf den verschiedenen Radien gleiche Vertheilung von Kräften und Stoffen. Wenn eine solche Zelle sich theilt, so kann die Theilungsrichtung nicht durch innere Ursaclien bestimmt sein. Die erste Differenzirung erfolgt nun in der Weise, dass die auf die Bildung der Scheidewand einwirkenden Verhältnisse in der Zelle eine zur vorausgehenden Theilungsrichtung ])estimmte Lage an- nehmen. Während auf der früheren Stufe alle durch den Mittel- punkt gelegten Ebenen für die VVandbildung gleich günstig gestimmt waren, besitzt jetzt bloss noch eine Ebene diese günstige Stimmung; alle anderen sind dazu nicht befähigt. Es ist selbstverständlich, dass diese Differenzirung nur mit Rücksiclit auf die vorausgehende Theilung erfolgen kann, weil durch diese selbst die Stoffe und Kräfte in einer bestimmten Weise gerichtet werden. Hat dieser Vorgang eine Nach- wirkung, so ist die nothwendig sich ergebende Theilungsrichtung entweder senkrecht auf die vorausgehende oder parallel zu derselben. Der geringste Grad der Differenzirung, der am wenigsten von der vollständigen Unbestimmtheit der früheren Stufe abweicht, besteht darin, dass die Theilungsebenen der auf einander folgenden Genera- tionen sich rechtwinklig schneiden und in den drei Richtungen des Raumes wechseln, so dass die vierte mit der ersten jiarallel läuft. Die Differenzirung wird bestimmter, indem die sich reclitwinklig schneidenden Wände in zwei Richtungen mit einander wechseln, so dass einerseits die Generationen mit geraden Ziffern, andrerseits diejenigen mit ungeraden Ziffern in der Theilungsrichtung über- einstimmen. Noch bestimmter scheidet sich die scheidewandbildende Richtung in der Zelle aus, wenn sie in allen Generationen die näm- liche bleibt. Diese Verhältnisse lassen sich bei einzelligen Pflanzen bloss dann sicher entscheiden, wenn die Zellen nach stattgefundener Theilung sich nicht von einander trennen , sondern zu Colonien verbunden bleiben. Sie liegen dann entweder würfelförmig beisammen wie bei Chroococcus, Gloeocapsa, Sarcine u. a., oder in einschichtigen Täfelchen wie bei Merismopedia, Gonium u. a., oder in einreihigen VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 401 Fäden wie bei Gloeothece, Bacterium, bei einigen Diatomeen, Desmi- diaceen und Palmellinen. Fig. 22 a u. 1) zeigen einreihige Colonien mit gleichbleibender Theilungsrichtung, Fig. 22 c — g eine einscliich- tige Colonie mit zwei alternirenden Theilungsrichtungen. — Ein- 0QOO; ioooo o"öo"m\ OQOO oooo zellige Pflanzen, bei denen die Theilungsrichtung noch nicht idio- plasmatisch bestimmt wäre, sondern von äusseren Einflüssen bedingt würde, sind nicht bekannt; denn die scheinbar unregelmässigen Zusammenlagerungen der Zellen kommen durch Verschiebmig zu Stande. Die besprochene Differenzirung zwischen den Theilungsrichtungen der auf einander folgenden Generationen geschieht übrigens, wie alle Difiierenzirung , möglichst allmählich. Damit ist nicht gesagt, dass die Theilungsebenen durch Mittelstellungen in einander übergehen, sondern dass der Wechsel zwischen den verschiedenen Stellungs- tj'^pen zuerst un regelmässig auftritt und erst nach und nach zu einer Constanten Regelmässigkeit gelangt. Der Uebergang durch mittlere schiefgestellte Theilungswände erscheint als eine mechanische Un- möglichkeit, da die Veränderung des Idioplasmas bei schiefwinkligem Wechsel offenbar grösser sein müsste als bei rechtwinkligem Wechsel. Die Erfahrung bestätigt die hier ausgesprochene theoretische Behaup- tung, indem die Zusammenordnung in den Colonien einzelliger Pflanzen in gewissen Fällen wohl (he un regelmässige Folge der rechtwinkligen Kreuzung, aber niclit eine schiefe Stellung der Scheide- wände darthut. V. Nägeli, Abstammungslehre. 26 402 VIT. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. Der Fortschritt von solchen einzelligen Pflanzen, bei denen die Zelltheilung in allen drei Richtungen des Raumes regelmässig ab- wechselt , zu solchen , wo der Wechsel bloss in zwei Richtungen statthat, muss also in der Weise gedacht werden, dass die Theilungen in der dritten Richtung nach und nach seltener werden und zuletzt ganz unterbleiben. Auf einem analogen Wege kann aus einer Pflanze der ersten Art sich eine solche herausbilden , bei welcher die Zell- theilung nur in einer Richtung erfolgt, indem die Theilungen in den zwei andern Richtungen allmählich spärlicher eintreten und endlich ganz aufhören. Es wird nämlich in Folge der sich langsam voll- ziehenden Differenzirung im Idioplasma die Zelltheilung in den einen Richtungen immer mehr begünstigt und diejenige in den übrigen Richtungen in den latenten Zustand verwiesen. Man könnte vielleicht zu der Ansicht geneigt sein, dass die Theilung mit gleichbleibender Richtung die einfachere und ursprüng- lichere sei und dass die Theilung mit wechselnder Richtung (in 2 oder 3 Dimensionen des Raumes) die complicirtere und abgeleitete sein müsse. Eine solche Meinung könnte man aber nur dann fest- halten wollen, wenn man die genannten Theilungen bloss für sich betrachtet und dieselben gleichsam auf einer tabula rasa beginnen lässt. Wir dürfen eine j^hylogenetische Erscheinung jedoch nur mit Rücksicht auf die ihr vorausgehenden Zustände, aus denen sie entsjDrungen ist, beurtheilen. Diese Zustände bestanden nun ihrem Wesen nach darin, dass die Zellen sich üi ganz gleiche Hälften theilten; dabei war die Theilung srichtung unbestimmt, was mit der noch sehr einfachen und wenig bestimmten Anordnung der Kräfte zusammenhing. Als diese Anordnung complicirter und bestimmter wurde, stellte sich auch allmählich ein Unterschied zwischen den beiden Hälften einer Zelle, der alten, von der Elter- zelle geerbten , und der neuen , nach der Theilung zugewachsenen, heraus. Wäre nun die Theilung zwischen der alten und neuen Hälfte, also parallel der früheren Theilung erfolgt, so wären die zwei sich bildenden Geschwisterzellen unter einander ungleich gewesen. Die Theilung in zwei gleiche Hälften war nur möglich, wenn die Scheide- wand die alte und die neue Hälfte halbirte, also senkrecht zu der nächst vorausgehenden gerichtet war. Aus dem gleichen Grunde musste die folgende Theilung rechtwinklig auf ihren beiden ^'^or- gängerinnen stehen. — Erst von diesen Zuständen aus konnte dann VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 403 durch noch weiter gehende Differenzirung die Theilungsrichtung in einer und nachher in zwei Richtungen verloren gehen und der scheinbar einfachste Fah, die Theihmg mit gleichbleibender Richtung eintreten. Eine andere Art der zeitlichen Differenzirung betrifft die Dauer der auf einander folgenden Generationen. Am einfachsten stellt sich dieselbe bei einzelligen Pflanzen dar. Auf der unteren Stufe ist die Dauer der Generationen gleich gross; geschieht die Fortpflanzung durch Theilung, so wachsen die Kindzellen stets zum Volumen und zur Form der Elterzellen heran, ehe sie sich von neuem theilen (Chroococcaceen, viele Palmellinen). Dann tritt Ungleichheit ein, indem die einen Generationen ihre Lebensdauer verkürzen, die andern sie verlängern; diejenigen mit kürzerer Dauer erlangen auch eine ge- ringere Grösse. Die Differenzirung erreicht den höchsten Grad, indem, im Gegensatz zu einer einzigen, langlebigen und wachsthums- fähigen Generation, eine ganze Reihe von Generationen eine sehr kurze Dauer und kein Wachsthum besitzt. Es theilt sich beispielsweise bei Cystococcus eine kugelige Zelle in zwei halbkugelige, diese sogleich wieder in zwei, und die Theilung wiederholt sich sofort noch mehrmals, ohne dass die Zellen der auf einander folgenden Generationen eine Veränderung in der Grösse, Gestalt und im Inhalt erfahren. Die Theilung hört auf, wenn inner- g V Fig. 23. halb der Membran der ursprüngHclien kugeligen Zelle eine grosse Menge von kleinen Zellen eingesclüossen ist. Diese Individuen der letzten Generation haben sich also in den Raum und die Substanz 26* 404 VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. des Ahnenindividuums getheilt. Dieselben werden dann frei und trennen sich von einander, worauf jede allmählich zu der ursprüng- lichen Form und Grösse heranwächst; und nach längerer Dauer beginnt in ihr, als Ausgang einer neuen Reihe, wieder der Theilungs- process. Die beistehende Figur (23 a — f) zeigt den geschilderten Vorgang ; a, b, c, d sind successive Theilungszustände ; in e ist die Theilung beendigt und die Zellen der letzten Generation haben sich bereits von einander losgelöst und abgerundet; f successive Wachs- thumszustände einer Zelle der Uebergangsgeneration. Zur Verglei- chung sind in g, h, i drei Generationen einer einzelligen Alge, bei der die Differenzirung noch nicht eingetreten ist, dargestellt. Bei der letzteren sind die Individuen durch weiche Gallertmembranen mit einander verbunden; mit der Zunahme der Zellen wird die Gallert- kugel in entsprechendem Maasse grösser. Bei dieser Dil3:erenzirung tritt die Individualität der Reihen- generationen mehr und mehr zurück; zuletzt erscheint die ganze Reihe der Wiederholungsgenerationen bloss als der Fortpflanzungsakt der langlebigen Uebergangsgeneration. Die zeitliche Differenzirung hat in diesem, wie in andern Fällen, den nämlichen Erfolg, der dem phylogenetischen Organisationsprocess überhaupt zukommt, dass nämlich die individuellen und selbständigen Erscheinungen der untern Stufe Tlieile des Individuums der höheren Stufe werden. Die Beispiele für die zeitlichen Differenzirungen , die ich angeführt habe, sind alle den einzelligen Pflanzen entnommen, weil der A^organg hier nicht durch andere Erscheinungen verdunkelt wird. Auch bei den mehrzelligen Pflanzen kommen ohne Zweifel Differen- zirungen zwischen den auf einander folgenden Generationen der Zellen und der Organe, also zwischen verschiedenen Entwicklungs- stadien vor. Allein die Processe sind auf diesem Gebiete nicht leicht klar zu legen, weil die bestehenden Ungleichheiten meistens schon geerbt sind und weil Ort und Zeit, sowie die Art und Weise ihres Entstehens wegen der Lücken in den Abstammungsreihen und wegen Mangels an sicherem Beobachtungsmaterial verborgen bleiben. Die Differenzirungen erfolgen , soweit es die Organisations- verhältnisse erlauben, ganz allmählich, so dass von dem undifferen- YII. riiylogenetiselie Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 405 zirten Zustande bis zu einem hohen Grade der Differenzirung alle Uebergangsstufen durchlaufen werden. Die Mittel hierzu werden, wenn sie nicht ohnehin vorhanden sind, durch die Vermehrung der Theile geliefert, welche vorgängig oder gleichzeitig eintritt (Gesetz V, S. 380). Es befinden sich daher bei der räumlichen Differenzirung zwischen den beiden Extremen zahlreiche Uebergangsbildungen ; und bei der zeitlichen Differenzirung folgen diese Uebergangsbildungen durch Abstammung auf einander. Dieser Umstand gibt nun zu einem neuen phylogenetischen Process Veranlassung, zu der Reduction der differenzirten Theile. VII. phylogenetisches Gesetz. Die durch Differenzirung ungleich gewordenen Theile erfahren eine Reduction, indem die Zwischen- bildungen unterdrückt werden, und zuletzt bloss die qualitativ ungleichen Gestaltungen mit qualitativ un- gleichen Functionen erhalten bleiben. Die Reduction der differenzirten Theile erscheint auch, weil sie die Uebergänge unterdrückt und die stärksten Gegensätze räumlich oder zeitlich unmittelbar neben einander bringt, als eine bestimmtere Differenzirung, lässt sich al)er aus dem Gesetz der Differenzirung allein nicht erklären. Die drei phylogenetischen Processe: die intercalare Ampliation der Ontogenie (Y), die Differenzirung (^^) und die Reduction (VII) wirken in der Art, dass der erste die Theile quantitativ vermehrt, der zweite sie qualitativ verändert und der dritte sie quantitativ vermindert, so dass statt der ursprünglich beschränkten Zahl von gleichen Theilen zuletzt eine ebenfalls beschränkte Zahl von ungleichen Theilen vorhanden ist. Der höchste und letzte Organisationszustand, der durch Wiederholung der drei phylogenetischen Processe erlangt wird, ist eine möglichst grosse Zahl von qualitativen Ungleichheiten in einer möglichst geringen Zahl von Theilen. Wenn ein Organ bei einer Pflanze in geringer, bei einer anderen in grösserer Zahl vorhanden ist, so kann die Deutung dieses Ver- hältnisses zweifelhaft sein. Die grössere Zahl zeigt möglicher Weise einen phylogenetischen Fortschritt an, wenn sie als Ampliation eine neue Differenzirung einleitet. Es stellt aber möglicher AVcise auch die geringere Zahl die höhere Stufe dar, wenn sie die Folge 406 ^^n. Phylogeuetipche Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. des Reductionsprocesses ist. Es sind also in jedem Falle die beiden Möglichkeiten zu erwägen. Wenn die grössere Zahl keine beginnenden neuen Verschiedenheiten wahrnehmen lässt, so wird sie in der Regel als die tiefer stehende Stufe zu bem^theilen sein. Die kleinere Zahl ihrerseits kann um so eher als die höhere Entwicklung gelten, wenn mit ihr auch eine bessere morphologische Ausbildung und eine voll- kommenere Function bemerkbar ist. Die Bedeutung der durch Re- duction erlangten geringeren Zahl offenbart sich in sehr überzeugender Weise im Thierreiche, wo die Organe nach oben hin an Zahl ab- nehmen und auf der höchsten Stufe meistens bloss noch in der Einzahl oder Zweizahl vorhanden sind. Die Endresultate der Reductionsprocesse treten uns überall im Pflanzenreiche entgegen, während die verschiedenen Stadien derselben nur selten bei verschiedenen Pflanzen noch erhalten sind. Doch gibt es einzelne Fälle, wo der Vorgang der Reduction sehr deutlich sich kundgibt. Die verschiedenen Blattformen der Phanerogamen waren ur- sprünglich durch allmähliche Uebergänge verbunden. Es gibt jetzt noch Pflanzen, bei denen diese Uebergänge die Lücken zwischen einzelnen Blattformen überbrücken : zwischen Niederblättern und Laubblättern, zwischen Laubblättern und Hochblättern (Deckblättern), zwischen diesen und den Kelchblättern, zwischen Kelch- und Kron- blättern, zwischen den letzteren und den Staubgefässen. So gehen bei den Cacteen die Hochblätter allmählich in die Kelch- und Blumenblätter, bei Nymphaea die Kelchblätter allmählich in die Blmnenblätter und Staubgefässe über. Der phylogenetisch höchste Organisationszustand ist erreicht, wenn die für den Lebensprozess nothw^endigen Blattformen einerseits in geringster Stückzahl, andrerseits in grösster Ungleichheit und Voll- kommenheit ohne Zwischenstufen neben einander liegen. So ist beispiels- weise das Vorhandensein eines Blattkreises zwischen Blumenkrone und Staubgefässen oder eines Blattkreises zwischen Staubgefässen und Stemj^el nicht etwa als ein höher stehender Bereicherungszustand, sondern als die tiefer stehende, einer noch nicht vollständig gewor- denen Reduction entsprechende Bildung zu betrachten. Wenn der geschlossene rispige Blüthenstand durch Differenzirung in den ungeschlossenen traubigen Blüthenstand übergeht (S. 384), so findet eine Reduction der seitlichen Verzweigungen zu einfachen YII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 407 Blüthenstielen statt. Die seitlichen Inflorescenzen (z. B. der Papi- lionaceen) waren ursprünglich die Enden von Laubsprossen; durch Reduction gfng die Assimilation derselben verloren (S. 385). Manche aus einreihigen Fäden bestehende Algen endigen in mehr- zellige haarförmige Spitzen. Bei Bulbochaete sind dieselben auf eine einzige borstenförmige , am Grunde zwiebeiförmig erweiterte Zelle reduzirt ; die phylogenetischen Vorfahren von Bulbochaete hatten ohne Zweifel mehrzellige, allmählich in den Körper des Fadens übergehende Borsten. Sehr deutlich zeigt sich der Reductionsprocess in der Zahl der weiblichen Sporen (Gynosporen, Makrosporen) der höchsten Gefäss- kryptogamen. Bei den Vorfahren waren anfänglich die Sporen ge- schlechtslos und gleichförmig, wie sie es jetzt noch l^ei der Mehrzahl der Gefässkryptogamen sind. Dann trat Differenzirung in männliche und weibliche SjDoren ein, wobei dieselben in Grösse, Bau und Be- schaffenheit einander noch gleich waren, wie dies jetzt noch mit den geschlechtlich differenzirten Sporen von Equisetum der Fall ist. Der weitere phylogenetische Entwicklungsgang bewirkte mit zunehmender Grösse der Gynosporen eine stetige Abnahme ihrer Zahl ; die Art und Weise, wie dieser Reductionsprocess erfolgte, lässt sich noch aus den ontogenetischen Entwicklungsstadien der wenigen überlebenden Glieder der Abstammungsreihen erkennen. Bei Isoetes, wo die Reduction am weitesten fortgeschritten ist, bildet sich in jedem Fach der Androsporangien (Mikrosporangien) aus zahlreichen Elterzellen (Sporenmutterzellen) durch Viertheilung eine grosse Menge von Androsporen. In den Gynosporangien dagegen ist in jedem Fach die Zahl der Elterzellen auf eine einzige beschränkt , welche 4 Gynosporen erzeugt. — Das Andro- sporangium von Selaginella enthält im jugendlichen Zustande zahl- reiche Elterzellen, von denen jede 4 Androsporen bildet. Das Gyno- sporangium verhält sich im Jugendzustande ebenso; aber nur eine einzige der Elternzellen theilt sich und bringt 4 Gynosporen hervor, sodass also das Gynosporangium bloss viersporig ist. — Bei den Mar- siliaceen sind die beiderlei Sporangien in einem früheren Entwdcklungs- stadium ebenfalls gleich; in jedem treten 16 Sporenelterzellen auf, die sich je in 4 Zellen theilen. In den Androsporangien werden alle diese Zellen zu Androsporen, deren Zahl somit 64 beträgt. In den jmigen Gynosporangien w^ächst anfänglich an jeder der 16 Tetraden eine 408 ^"^11- Phylogenetische Entwckhingsgesetze des Pflanzenreiches. Zelle stärker als die 3 übrigen; nachher hören 15 Tetraden auf zu wachsen und gehen zu Grunde, und nur an einer Tetrade ver- grössert sich die bevorzugte Zelle und wird mit Unterdrückung der drei Geschwisterzellen zur Gynospore, sodass das Gynosporangium 1 sporig ist. Eine frühere phylogenetische Stufe hatte IGsporige, eine noch frühere 64sporige Gynosporangien. Die wenigen bis jetzt angeführten Beispiele von Reductionen, die aus der Masse von Thatsachen aufs Gerathewohl herausgegriffen wurden, zeigen die numerische Abnahme der aus der räumlichen Differenzirung hervorgegangenen, neben einander liegenden Theile einer Ontogenie. Die durch Abstammung auf einander folgenden Theile werden in gleicher Weise reducirt. Die niedrigsten einzelligen Pflanzen theilen sich in den successiven Generationen durch Scheide- wände, die in den 3 Richtungen des Raumes alterniren (S. 400). Der phylogenetische Fortschritt, der durch Differenzirung und Reduction zugleich bewirkt wird, besteht darin, dass zuerst eine, dann auch die andere Theilungsrichtung unterdrückt wird. Es fallen also von 3 Generationen gleichsam 2 aus; dadurch wird der Gegensatz zwischen der gleichbleibenden scheidewandbildenden Richtung und den übrigen Richtungen, in denen andere Functionen vor sich gehen, auf ein Maximum gesteigert. Bei den niedrigsten einzelligen Pflanzen sind die auf einander folgenden Generationen an Dauer, Wachsthum und Grösse einander gleich. Durch Differenzirung und Reduction vermindert sich die Lebensdauer und das Wachsthumsvermögen aller Wiederholungs- generationen (S. 403). Durch noch weitere Reduction geht, indem gleichsam die ganze Reihe der genannten Generationen verschwindet, die successive Theilung in Simultanth eilung über, wie sie z. B. bei Hydrodictyon und Sciadium vorkommt. Die Gefässpflanzen haben Generationswechsel; ihre Ontogenie besteht aus zwei Generationen, einer geschlechtslosen, Sporen er- zeugenden und einer geschlechtlichen, männliche und weibliche Elementarorgane hervorbringenden Generation. Auf der untersten Stufe der Gefässpflanzen ist die Geschlechtsgeneration ein kleines assimilirendes Pflänzchen (Filices). Auf den folgenden Stufen mrd die Grösse der Gcschlechtspflänzchen mehr und mehr reducirt und die Assimilationsfähigkeit geht nach und nach verloren , bis auf der höchsten Stufe die männliche und weibliche Generation bloss VII. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches. 409 noch aus einer oder einigen wenigen Zellen besteht. Noch viel deutlicher zeigt sich diese Reduction, wenn wir die phylogenetische Reilie von den lebermoosartigen Pflanzen beginnen lassen , aus denen die Gefässpflanzen hervorgegangen sind. Neben der genannten Reduction der einen Generation verläuft ein Vergrösserungs- und Bereicherungsprocess der andern mit ihr alternirenden Generation. Dieses Wechselverhältniss zwischen den zwei Generationen, aus denen die Ontogenien der Hauptreihen des Pflanzenreiches bestehen, gehört zu den merkwürdigsten Erscheinungen der phylogenetischen Entwicklung. Diejenige Generation, welche aus der Vereinigung der Geschlechtszellen hervorgeht und auf ge- schlechtslosem Wege Sporen erzeugt, ist auf den untersten Stufen höchst einfach in Bau und Function, indem sie bei confervenartigen Algen bloss von einer einzigen Zelle dargestellt wird. Sie nimmt dann zu, ist aber bei den Moosen erst ein kugeliges bis längliches, äusserlich fast ungegliedertes Sporogonium mit sehr einfachem inneren Bau. Bis zu den Gefässpflanzen dagegen hat sie so sehr zugenommen, dass sie als der ganze, äusserlich und innerlich reich gegliederte Pflanzenstock auftritt. Die andere Generation, welche aus einer geschlechtslos erzeugten Spore entspringt und selber die Geschlechtszellen hervorbringt, zeigt den umgekehrten Entwicklungsgang. Auf der untersten Stufe ist sie die ganze Pflanze (Confervoiden). Sie nimmt zwar auf den folgenden Stufen absolut etwas zu, aber relativ (im Verhältniss zur geschlechts- erzeugten Generation) sehr deutlich ab. Bei den Moosen ist sie noch ein ziemlich hoch organisirter, antheridien- und archegonientragender Pflanzenstock. Bei den Gefässpflanzen aber hat sie, wie schon er- wähnt, auch nach absolutem Maass abgenommen, und verhältniss- mässig (im Vergleich mit der andern Generation) zeigt sie sich hier zuletzt auf das äusserste beschränkt. Zur ursächlichen Erklärung dieses Wechselverhältnisses weiss ich nichts anderes als das Streben nach Diiferenzirung anzuführen. Es scheint, dass die Pflanze die Neigung hat, die Erzeugung der Geschlechtszellen von den übrigen Functionen zu trennen, um den Sexualact desto vollkommner ausführen zu können. Die Erzeugung der Geschlechtszellen ist anfänglich mit allen andern Functionen auf dem nämlichen Individuum vereinigt, während das mit dem- selben alternirende aus der Verschmelzung der Geschlechtszellen 410 ^'^11. Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches, hervorgehende Individuum bloss einen einzelligen Uebergang dar- stellt. Dadurch nun, dass die geschlechtserzeugende Generation durch Reduction kleiner, die geschlechtserzeugte Generation aber durch Amjjliation und Differenzirung grösser wird, gehen die vegetativen Functionen nach und nach auf die letztere über, und der ersteren bleibt auf der höchsten Stufe keine andere Function , als die Ge- schlechtszellen hervorzubringen. Die Vorgänge, die in den drei vorhergehenden Gesetzen dargelegt ^nu'den, die Ampliation (A^), Differenzirung (VI) und Reduction (VII), stehen in inniger Beziehung zu einander und haben das gemeinsame Resultat, dass sie einen Organismus mit einfachem Bau und be- schränkten Functionen in einen solchen mit zusammengesetzterem Bau und zahlreicheren Functionen umwandeln. In der Vorstellung lassen sich die Vorgänge stets aus einander halten; in der Wirk- lichkeit sind sie sehr häufig mit einander zu einem Gesammtprocess verbunden. Wir können daher die genannten drei Gesetze in ein einziges phylogenetisches Gesetz, nämlich das der Complication zusammenfassen , Das gleichartige Stück einer Ontogenie wird, indem es sich vergrössert, innerlich ungleich, und die Ungleichheit steigert sich, indem die Uebergangs- glieder der ungleich gewordenen Tlieile verschwinden und nur die extremen Bildungen übrig bleiben. Der Gesammtprocess der Complication durchläuft also zwei Peri- oden, die meistens auch zeitlich auf einander folgen. In der ersten Periode findet Ampliation mit Differenzirung, in der zweiten Reduction mit zunehmender Differenz statt. Die beginnende Differenzirung, welche die Functionen auseinander legt, bedarf naturgemäss eines vergrösserten Feldes ihrer Thätigkeit, weil die räumlich neben ein- ander befindlichen oder zeitlich auf einander folgenden Theile, die von dem gleichartigen in den ungleichartigen Zustand übergehen, zuerst eine Menge von Uebergängen zeigen. Die fortgesetzte Differen- zirung, welche die Ungleichheiten erhöht, wird naturgemäss dadurch unterstützt, dass der Organismus die Uebergangsstufen j^reisgibt und bloss die extremen Bildungen beibehält, denen er nun mehr Kraft und Stoff zuführen kann. YII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 411 Ist in diesen zwei Perioden aiicli, \vie die Erfahrung zeigt, der gewöhnliche Verlauf ausgedrückt , so kann doch , wie es scheint, auch jedes einzelne Moment derselhen, die Ampliation, die Reduction, die Differenzirung allein thätig sein , indem dasselbe in geA\isscii Fällen unzweifelhaft vorhanden ist, während die übrigen sich der Wahrnehmung: entziehen. Die phylogenetischen Processe, die gemäss den vorausgehenden Gesetzen (I — VII) erfolgen, haben das Bestreben, die Organisation- der Pflanzen mannigfaltiger und den Zusammenhang ihrer Theile inniger zu machen. Diese Ver\"ollkommnungsbewegung geht ohne Rücksicht auf die von aussen auf die Organismen einwirkenden Einflüsse vor sich. Sie erhält aber durch die letzteren ein bestimmtes Gepräge, sodass die concreteli Pflanzenformen, wie sie in die Er- scheinung treten, als die Resultirende der zusammentreffenden inneren und äusseren Kräfte zu betrachten sind. Die Wirkung der äusseren Ursachen gibt uns das letzte Gesetz der Altstammungsgeschichte. VIII. phylogenetisches Gesetz. Die äusseren Verhältnisse, unter denen die Pflanzen leben, wirken direkt als Reiz oder indirekt als em- pfundenes Bedürfniss verändernd ein, verleihen da- durch der Gestaltung und den Verrichtungen einen bestimmten zeitlichen und örtlichen Ausdruck und bringen somit verschiedene Anpassungen zu Stande. Die Anpassungen sind durch Vererbung beständig, gehen aber, wenn neue andere Anpassungen sie ausser Wirksamkeit setzen, wieder allmählich verloren. Ich habe die sämmtlichen Anpassungen in Ein allgemeines Gesetz zusammengefasst , weil ich dasselbe nicht in die besonderen Gesetze zu zerlegen vermag. Es gibt offenbar verschiedene Arten, wie die Anpassungen zu Stande kommen, gleichwie es verschiedene Arten für den Fortschritt der Vervollkommnungsbewegung gibt. Man kann auch nach verschiedenen Gesichtspunkten Ijcstinmite Kategorien der Anpassung unterscheiden ; allein diese Gesichtspunkte beziehen sich weder auf die mechanischen Vorgänge noch auf die Ursachen der Veränderung, und haben daher für die vorliegende Betrachtungsweise der Abstammungslehre keinen Werth. 412 ^T^I- Phylogenetische Entwickhingsgesetze des Pflanzenreiches. Die Erkenntniss der Anpassungsvorgänge wird dadurch erschwert, class sie, weil auf dem langsamen phylogenetischen Wege erfolgend, dem Experiment nicht zugänglich sind, — ferner dadurch, dass die neuen Anpassungen oft gleichsam auf die von früher her vererbten Anpassungen gepfi'opft werden und eine Verbindung mit denselben Inlden, — endlich dadurch, dass die Anpassungen mit den Errungen- schaften des Vervollkommnungsprocesses ein einheitliches und un- theill^ares Ganze darstellen. Die Anpassungsursachen sind überdem so verschiedenartig und wirken in so mannigfaltigen Combinationen ein, dass es nur selten gelingt, eine Ursache in ihren Wirkungen zu erfassen. Es wurden bereits oben (S. 142 — 165) mehrere Anpassungen, die auf directem Wege durch Reize oder auf indirectem Wege durch das Bedürfniss verursacht werden, besprochen. Um eine Anpassungs- veränderung vollständig zu begreifen , muss man wissen , woraus sie geworden , welche Ursachen sie hervorgebracht haben , und wie diese mechanisch eingewirkt haben. Nur in wenigen Fällen sind uns alle drei Momente hinreichend bekannt. Wir wissen beisj)iels- weise, woher die Wurzelhaare (Rhizoide) der niedrigsten Algen her- kommen. Es werden nämlich die Auswüchse der einzelligen Pflanze auf der untersten Stufe zur Fortpflanzungszelle (durch Sprossung); indem letztere vegetativ wird , wächst sie zum Thallom oder zum Trichom aus. Die Trichome sind zuerst reproductiv; auf einer höheren Stufe werden sie steril, in welchem Zustande sie verschiedene Anpassungsumbildungen erfahren , von denen eine das Wurzelhaar ist. Die Ursachen dieser Anpassung, unter denen sich jedenfalls die Schwerkraft befindet, entziehen sich noch unserer Einsicht. Etwas deutlicher gibt sich die Wurzelbildung der Gefässpflanzen zu erkennen. Es ist unzweifelhaft, dass die eigentlichen Wurzeln aus unterirdischen Caulomen (Ausläufern) hervorgegangen sind. Die Veränderung in der Lage der mechanischen Gewebe, und die Umkehr des anfänglichen Wachsthums der Gefässstränge, welche dabei einge- treten sind, lassen sich aus den veränderten mechanischen Angriffen erklären (S. 146). Die wichtigste Anpassung aber besteht in der Unterdrückung der Blattbildung und in der Bildung einer Wiu'zel- liaube; sie ist durch den Druck zu erklären, den die Spitze des sich verlängernden Organs in der Erde erfährt. Die Caulome der Gefäss- kryi^togamen haben an der Spitze eine Scheitelzelle, die sich durch VII. Phylogenetische Entwdcklungsgesetze des Pflanzenreiches. 413 alternirend schiefe Wände theilt (v in Fig. 24 a). Wird während einer langen Reihe von Generationen fortwährend durch den Druck ein Reiz auf die Scheitelzelle ausgeübt, so reagirt dieselbe in der Art, dass das ihr specifisch zukonniiende Scheitelzellenplasma durch das Ernährungsplasma von dem Scheitelpunkt zurückgedrängt wird. Das letztere verdickt dann zunächst die Aussenwand, und in Folge stärkerer, d. h. noch länger andauernder Reizeinwirkung wird die äussere, das Ernährungsplasma enthaltende Partie durch eine Scheidewand als Zelle abgeschnitten, aus welcher die zum Schutz des Scheitels dienende Wurzelliaube sich bildet. (Fig. 24 b zeigt zwei mit r bezeichnete Initial- zellen der Wurzelhaube). Dies stünmt mit der allgemeinen Thatsache überein, dass ein Reiz vermehrtes Wachsthum und vermehrte Zell- theilmig bewirkt. Durch den von aussen ausgeübten Druck wird ferner und zAvar schon vor der Wurzelhaubenbildung das Wachsthum der Blätter unter- drückt. Die unterirdischen als Wurzeln functionirenden Caulome von Psilotum zeigen mis eine erste Stufe dieses Vorganges ; dieselben halben bloss wenigzellige nicht über die Oberfläche vorspringende Blatt- Pig. 24. anfange, die sich nicht weiter entwickeln (f in Fig. 24 c). Diese Caulome besitzen aber noch keine Wurzelhaube ; der Druck, den ihre Scheitel- zelle (v) erfährt, ist durch die beträchtliche Dicke des Caulomkörpers und die flache Gestalt der Scheitelregion bedeutend vermindert; 414 ^"11- Phylogenetische Entwickhmgsgesetze des Pflanzenreiches. wenn aber Psilotum eine künftige Erdperiode erlebt, so wird es bis dahin wohl auch zur Bildung einer Wurzelhaube gelangen. Ist die Wurzelhaubenbildung eingetreten, so sind die Segmente, aus denen die BLätter entstehen sollten (s in Fig. 24 b) , mit einer Zelle bedeckt. Die Bildung der Blattanfänge unterblei])t nun in Folge der veränderten Umgebung gänzlich. Es ist aber noch unklar, auf welche mechanische Weise die Initialzelle der Wurzelhaube auf die unterliegende Segmentzelle einwirkt. Wir wissen nur, dass die Bildung der Blattanfänge immer in einer Aussenzelle erfolgt, mid dass durch die Wurzelhaubenbildung die sonst blatterzeugende Zelle (s in Fig. 24 a) zur Innenzelle geworden ist. Ein anderes Beispiel, wo wir den Ursprung einer Anpassungs- veränderung kennen und auch ihre Ursache mit grösster Wahrschein- lichkeit vermuthen können , aber den mechanischen Vorgang nicht begreifen, geben uns die flächenförmigen Organe. Auf den tiefsten Stufen waren die in die Länge wachsenden Organe sämmtlicli cylin- drisch mit allseitiger Verzweigung. Es ist dies die ursprüngliche Form, die sowohl durch den Mangel einer Differenzirung in den zur Achse rechtwinkligen Ebenen als durch bekannte allgemeine mecha- nische Ursachen bedingt wm'de. Auf den folgenden Stufen findet einerseits Verzweigung der noch cylindrischen Fäden in einer Ebene statt (Bryojisis, Ptilota etc.), andrerseits nehmen die Thallome in ihrer Totalität oder in einzelnen Theilen eine flächenförmige Gestalt an (Caulerpa, Udotea, Porph}Ta, Nitophyllmn etc.). Der Erfolg dieser Veränderung ist eine ausgiebigere Einwirkung des Lichtes auf die Zellen. Den Anstoss zu der Veränderung mag die durch innere Ursachen erfolgende Differenzirung geben ; die Einwirkung des Lichtes bestimmt dann jedenfalls die Richtung, welche die flächenförmige Ausbildung annimmt. Vielleicht aber verursacht die letztere allein den ganzen pliylogenetischen Umbildungsprocess. — Was nun das Vermögen des Lichtes in Bezug auf Veränderungen an den Pflanzen bedingt, so wissen wir, dass dasselbe ungleiche Wachsthumsprocesse an der beleuchteten und an der beschatteten Seite von verschiedenen assi- milirenden Organen hervorbringt. Die nothwendige Consequenz hier- von ist, dass die beiden Seiten, welche in der zu den einfallenden Lichtstrahlen rechtwinkligen Ebene liegen , sich anders verhalten müssen als die beleuchtete und die beschattete Seite, und es ist nicht \^I. Phylogonetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 415 uiimöglicli , dass in dieser Ebene durch den Einfluss des Lichtes Wachsthum und Verzweigung begünstigt werden. Von den verschiedenen Beziehungen, unter denen wir (he Anpassungen betrachten können , ist der Nutzen , den sie ge- währen, in der Regel die am besten bekannte. Aus demselben lässt sich in einzelnen Fällen auf die Ursachen schliessen, während in anderen Fällen die Wirkung keine Andeutung über die Ursache und deren mechanische Thätigkeit gibt. Als Beispiel für letzteres können manche Schutzeinrichtungen angeführt werden. Besonders sind es die Fortpflanzungsorgane , dann auch die jungen noch im Stadimn der Zelltheilung befindhchen Partien, welche vor mechanischen Ein- wirkungen und vor den Angriffen von Thieren geschützt w^erden. Eine Art des Schutzes besteht darin , dass die solche Theile tragende Oberfläche sich vertieft. Ist die Anpassung vollständig, so hat sich die Vertiefung zu einer mit engem Ausführungsgang ver- sehenen Grube ausgebildet. Wir finden diese Einrichtung schon bei Algen, nämlich als Sorusgrübchen und Fasergrübchen bei den Fuca- ceen, als Antheridiengrübchen bei wenigen Florideen (Corallina, Graci- laria), als vertiefter Scheitel (Laurencia, Fucaceen). Der Nutzen der Einrichtung ist unverkennbar; die Ursache derselben dürften wohl Reize sein, denen die im Wachsthum begriffenen Theile ausgesetzt waren. Aber wir haben keine A'^orstellung davon, wie durch einen solchen Reiz das Flächenwachsthum der Aussenzellen local gesteigert und das durch die Innenzellen bewirkte Dickenwachsthimi an der- selben Stelle vermindert wird. Eine andere ähnliche Schutzvorrichtung besteht darin, dass ein Organ durch Einrollung der Spitze seinen zellenbildenden Scheitel umhüllt (unter den Algen Padina, Ceramium, Rhodomela). Sie schliesst sich an die vorhergehende Einrichtung in der Beziehung an, dass die Fortpflanzungsorgane sich auf der concaven , also ge- schützten Seite befinden. Der Grund aber, warum die (concave) Bauchseite anfänglich weniger stark in die Länge wächst als die (convexe) Rückenseite, bleibt zur Zeit noch ebenso unbekannt. — Viel häufiger wird der Schutz junger Theile dadurch zu Stande gebracht, dass ältere Organe dieselben miigeben und bedecken, was ebenfalls schon bei Algen vorkommt. Auch diese Einrichtung wird aus noch verborgenen Ursachen durch stärkeres Längenwachsthum auf der (convexen) Rückenseite der Schutzorgane bewirkt. 41 G ^^11- PliJ'logenetischc Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. Wie bereits Eingangs dieses Abschnittes bemerkt wurde und wie sich auch aus den angeführten Beispielen ergibt, trifft die Anpassungs- veränderung mit dem durch innere Ursachen bewirkten VervoU- kommnungsfortschritt zusammen und verleiht dem letzteren den concreten specifischen Charakter. Es sind daher für eine Erscheinung sehr häufig zweierlei Ursachen aufzusuchen und man würde leicht in Irrthum gerathen, wenn man beispielsweise eine bestimmte Ver- änderung bloss als die Folge der Differenzirung oder bloss als die Folge der Anpassung betrachten wollte, während in Wirklichkeit die vollständige Erklärung nur durch die beiden zusammenwirkenden Momente gegeben wird. Dies zeigt sich unter anderem deutlich bei den Anpassungen, welche durch den Wechsel der Jahreszeiten bedingt, durch die Diffe- renzirung aber unterstützt oder eingeleitet werden. Dieselben treten uns bei allen Pflanzen in grösserem oder geringerem Umfange ent- gegen, am augenfälligsten bei den höheren Gewächsen, die im Winter wie unsere Bäume und Sträucher nach Verlust der Blätter, oder wie unsere ausdauernden Kräuter nach Verlust der sämmtlichen über der Erde befindlichen Theile einen Ruhezustand durchmachen. Die einfachsten Verhältnisse und das sicherste Urtheil gewähren aber die niederen, aus einer einzigen Zelle oder aus einer geringen Zahl von Zellen bestehenden Pflanzen. Die niedrigsten Pflanzen in jeder Beziehung sind die Schizo- phyten, zu denen die Nostochinen (im weitesten Sinne) und die Spaltpilze gehören. Bei manchen derselben beschränken sich die Lebensvorgänge darauf, dass die Zellen, zwischen denen noch gar keine Verschiedenheit besteht, auf die doppelte Grösse anwachsen und dann sich theilen. Werden die äusseren Verhältnisse für diese Lebensvorgänge ungünstig, so stehen dieselben still, um jeder Zeit, wenn die äusseren Umstände sich wieder günstiger gestalten, von neuem zu beginnen. Bei den einen dieser Scliizoph}i.eii ist gar kein Unterschied zwischen dem Vegetationszustand und dem Ruhezustand zu bemerken ; bei den anderen wird mit der Abnahme der A-^egetation der Zellen Inhalt wenig dichter und die Membran etwas derber. In diesem Zustande verharren die Zellen während der Ruhezeit, woljei eine grössere oder kleinere Zahl derselben, je nach der Ungunst der äusseren Einflüsse, zu Grunde geht. Es ist hier noch ganz unbe- stimmt, welche Zellen ausdauern und die Sippe erhalten. Vn. rhylogonetisclie Entwicklungsgesetze des Pflanzoiireirhos. 417 Auf der näclist höheren Stufe gehen die Zellen vor der Ruhe- zeit, theils durch die weiter gehende Anpassung, welche in Folge der fortgesetzten Einwirkung der äusseren Agentien statthat, theils durch zeitliche und räumliche Differenzirung in den Sporenzustand über, indem die Membran dick und fest, der aus Fett und Eiweiss bestehende Inhalt dicht (wasserarm) wird. In diesem Zustande sind die Zellen gegen die Unbilden, welchen sie während der Vegetations- ruhe ausgesetzt sind, viel 'waderstandsfähiger. In der phylogenetischen Reihenfolge sind es zuerst alle Zellen, welche ohne eine Gestalts- veränderung zu Sjjoren sich uml:)ilden, wie dies noch bei Nodularia der Fall ist. Dann tritt Scheidung zwischen den Zellen ein, indem in den einen die vegetative Zelltheilung fortdauert, während die andern, statt sich weiter zu theilen, beträchtlich an Grösse zunehmen und zu Sporen werden. Erst sind es unl^estmimt viele Zellen, die in den Sporenzustand übergehen ; dann ist es nur noch eine einzige in einem Faden oder Fadenstück (Rivularia). Diese Anpassung an den Wechsel der Jahreszeiten hat einen Generationswechsel zur Folge. Sind die Pflanzen einzellig, so wird die Reihe der gewöhnlichen Generationen durch eine Generation ab- geschlossen, welche als Ruhespore während des Vegetatiousunter- bruches ausdauert und beim Beginn der nächsten Vegetationszeit die Theilung in unveränderter Weise fortsetzt. Sind die Pflanzen mehr- zellig, so vermehrt sich eine Reihe von Generationen durch Zerfallen der Fäden in Stücke, und die Uebergangsgeneration bildet Ruhe- sporen. Auf der höheren Stufe tritt zu der Differenzirung und An]3assung, welche auf der untersten Stufe die Ruhesporen erzeugen, noch die weitere Differenzirung in Geschlechtszellen ein. Durch Copulation zweier äusserlicli gleicher Zellen oder einer Eizelle mit Spermatozoiden entsteht eine Zelle, die zur Ruhespore (Zygospore oder Oospore) wird. Ist die Pflanze einzellig, so besteht der Generationswechsel darin, dass eine Reihe von Generationen sich auf ungeschlechtlichem Wege fortpflanzt, während die Uebergangsgeneration geschlechtlich dif- ferenzirt ist und sich zu einem den Vegetationsunterbruch über- dauernden Product vereinigt (Volvox, Pandorina, Hydrodictyon). Ist die Pflanze mehrzellig, so bildet eine Reihe von Generationen Schwärmsporen ; die letzte Generation der Vegetationszeit aber erzeugt V. Nägeli, Abstammungslehre. 27 418 VII. Phj^ogenetisclie Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. Geschlechtszellen, aus deren A^ereinigung die Ruhesporen hervor- gehen (Ulothrix). Auf dieser Stufe trifft also Geschlechtsdifferenz und Bildung von Ruhesporen mit dem Wechsel der Jahreszeiten zusammen und zeigt demnach den Charakter der Anpassung. Die ganze Einrichtung verliert aber bald ihre Bedeutung als Anpassung, und beweist auch durch diesen Umstand, dass sie nicht bloss durch die von aussen wir- kenden Einflüsse hervorgebracht wurde. Auf der nächst höheren Stufe nämlich findet Befruchtung und Bildung von Ruhesporen nicht nur am Ende der Vegetationszeit, sondern auch wiederholt während derselben statt (Vaucheria, Oedogonimn). Werden auf den folgenden Stufen die Pflanzen mehrjährig, so treten andere Anpassungserscheinungen in der vegetativen Sphäre und in der geschlechtslosen Fortpflanzung auf, welche die Ueber- dauerung des Vegetationsunterbruches ermöglichen oder erleichtern. Die geschlechtliche Befruchtung aber hat den Charakter der An- passung an den Wechsel der Jahreszeiten gänzlich eingebüsst; sie erfolgt während der Vegetationszeit und leitet sofort Wachsthum mit Zelltheilung ein (Moose, Gefässpflanzen). Die Trennung der Geschlechter ist m-sprünglich ein reiner Differenzirungsact, indem die männlichen und weiblichen Zellen mit Ausnahme der getrennten Geschlechtselektricität einander noch ganz gleich sind (S. 387). Die Differenzirung schreitet dann weiter fort; zugleich aber kommen Anpassungsveränderungen hinzu. Die Pflanzen, in denen die Geschlechtsdifferenzirung beginnt, haben schon von ihren Vorfahren das durch Anpassung erlangte Bestreben geerbt, ihre Keime mit Nährstoffen zu versehen (S. 163). Die ersten ge- schlechtlichen Schwärmzellen sind damit noch sehr sj^ärlich ausge- stattet. Indem Anpassung und Differenzirung sich steigern, werden die einen (die weiblichen) mit reichlicher Nahrung ausgerüstet und verlieren dadurch ihre Beweglichkeit ; sie werden entweder bloss von der Mutterpflanze ausgestossen oder bleiben in derselben liegen, indem dm'ch eine Oeffnung der Zugang für die SjDermatozoide frei gemacht wird. Die andern geschlechtlichen Schwärmzellen (die männlichen) werden , gleichsam durch Compensation , von Nährstoffen ganz ent- blösst und gewinnen dafür an Beweglichkeit. Durch weitere An- passung gehen sie in die längliche (Eudorina) und dann in die VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 419 fadenförmige Gestalt (Ohara) über, und werden mehr und mehr schraul)enförmig, wie aucli die lebhaft vorwärts gehenden und sich drehenden Pflänzchen von fadenförmiger Gestalt (Spirillum , S])iru- lina) zu Schrauben geworden sind. Ein anderes Beispiel, wo mit der Anpassung auch Differeuzirung durch innere Ursachen mitgewirkt liat, finden wir in der Veränderung der Gewebe durch mechanische Einwirkung. Ich habe aus der letz- teren die Entstehung der sog. mechanischen Zellen abgeleitet (S. 14G). Das Resultat hätte aber nicht so bestimmt und charakteristisch aus- fallen können, die mechanischen Zellen wären von dem angrenzenden Gewebe nicht so scharf geschieden, wie es gewöhnlich der Fall ist, wenn nicht noch eine andere Ursache dabei thätig gewesen w^äre. Es ist dies die Neigung des Idioplasmas zur Dilferenzirung ; dieselbe übergab die einen Zellen gänzhch oder grösstentheils ihrem mecha- nischen Berufe, stattete sie mit dicken festen Membranen aus und entblösste sie an Inhalt, w^ährend die angrenzenden Zellen dünn- wandig blieben und andere Verrichtungen übernahmen. Ein solches Zusammenwirken der äusseren mechanischen Ur- sachen und der inneren Neigung zur Differenzirung glaube ich schon auf der untersten Stufe des Pflanzenreiches bei der Entstehung der Grenzzellen in den Familien der Nostochaceen, Scytonemaceen und Rivulariaceen annehmen zu dürfen. Werden einreihige Zellfäden durch allseitiges Wachsthum (Th eilung aller Zellen) sehr lang, so brechen sie leicht entzwei , wenn irgend eine mechanische Ursache auf sie einwirkt (Oscillariaceen , Zygnemaceen). Dabei trennen sich entweder die Endzellen der beiden Hälften einfacli von einander, oder es wird eine Zelle zwischen den l>eiden Hälften zerdrückt und stirbt ab. Bei den genannten Familien der Nostochinen wird an der Stelle, wo die Trennung der Fadenstücke stattfinden soll, eine Zelle zur sog. Grenzzelle, indem sie ihre Membran verdickt, ihren Inhalt ver- liert und abstirbt. Von dieser Zelle lösen sich die Fadenstücke ab, und aus dem Umstände, dass dieselbe gewöhnlich noch an dem einen Faden haften bleibt, hat sie den Namen Grenzzelle erhalten. Dass bei deren Bildung die Differenzirung wesentlich betheiligt ist, ersieht man daraus, dass die der Grenzzelle anliegenden Zellen oft zu Sporen werden (Cylindrospermum , Rivularia), oder in Fäden aus- wachsen (Rivulariaceen , Scytonemaceen). Aber es liesse sich das 27* 420 "^"TI. Phylogenetische Eiitwiekhingsgesetzc des Pflanzenreiches. Entstehen der Grenzzellen aus der DifEerenzirung^ allein kaum be- greifen. Dass eine mechanische Ursache dabei mitgeholfen habe, ist mir desswegen wahrscheinlich, weil die Grenzzelle in der Regel sich in der Mitte des Fadens bildet, also da, wo Druck und Zug bei der Biegung des Fadens am stärksten empfunden werden, und weil die Grenzzelle die nämlichen Veränderungen erfährt wie die mechani- schen Zellen. Die mechanische Wirkung ist jedoch nicht etwa als eine unmittelbare und ontogenetische aufzufassen. Sondern es hat die fortwährend wiederholte mechanische Einwirkung während einer langen Generationenreihe eine erbliche Anlage im Idioplasma ge- schaffen, die nun allen Zellen zukommt, und die sich in derjenigen Zelle eines Fadens entfaltet, auf welche die maassgebenden Einflüsse,, wozu auch die durch mechanische Einwirkung hervorgerufene Span- nung gehört, sich concentriren. Das Vorhandensein der phylogenetischen Vorgänge, welche sich den 8 aufgestellten Gesetzen oder den 3 allgemeinen Gesetzen der Vereinigung, Complication und Anpassung unterordnen, ist deutlich zu erkennen, und es kann darüber kein Zweifel be- stehen. Dagegen erhebt sich nun die wichtige Frage, ob damit der ganze Organisationsprocess erschöpft sei, oder ob es Erscheinungen gebe, welche sich daraus nicht erklären lassen und welche auf noch anderweitige Vorgänge hinweisen. Letzteres scheint mir nicht der Fall zu sein. Es gibt zwar eine Menge von Organisationsverhält- nissen , über deren Zustandekommen wir uns vollkommen im Un- gewissen befinden; aber nicht desswegen, weil sie uns etwas neues darbieten, sondern einmal weil sie noch zu wenig erforscht und erkannt sind, ferner weil wegen ihrer Complicirtheit und wegen der vorausgehenden Lücken in der phylogenetischen Reihenfolge keine bestimmte Andeutung gegeben ist, durch welche Combination und Stufenreihe der bekannten Vorgänge sie entstanden sein könnten. Damit ein Organisationsverhältniss mit anderen in genauer Weise verglichen und daraufhin pliylogenetisch richtig gedeutet werden kann, muss seine Entwicklungsgeschichte bis in alle Einzelheiten klar gelegt sein. VII. Phylogenetische Entwicklungsgesetze des I'flanzenreiohes. 421 Wenn icli sage, dtiss nach meiner Ansicht die 8 Gesetze aus- reichen, um alle Erscheinungen im Pflanzenreiche zu erklären, so setze icli voraus, dass die niedrigsten Pflanzen, mit denen die phylo- genetischen Reihen beginnen, bereits diejenigen Eigenschaften be- sitzen, welche sie aus dem Probienreich geerbt haben, und welche die allgemeinsten Erscheinungen des Wachstliums und der Fort- pflanzimg der Organismen umfassen (vgl. § 1 — 7 S. 341 — 350). Da die genannten 7 Erscheinungen als Anlagen im Idioplasma aller Pflanzen enthalten sind, so können sie unter günstigen Umständen auch stets zur Entfaltung gelangen, und ebenso werden sie je nach Umständen einen grösseren oder geringeren Antheil an der weiteren phylogene- tischen Entwicklung des Idioplasmas geltend machen. Diese phylogenetische Entwicklung des Idioplasmas besteht, wie sich aus der ganzen vorliegenden Untersuchung ergibt, darin, dass die Configuration desselben zusammengesetzter wird, dass die Zahl und die Verschiedenheit der idioplasmatischen Anlagen zunimmt, und dass zugleich die Anlagen in innigere Beziehung zu einander treten , indem die Idioplasmamicelle in bestinmiten Richtungen des Querschnitts der Stränge fester zusammenschliessen und somit dy- namisch besser auf einander einwkken können. Dabei erhält die ganze Zusammenordnung der Anlagen natm'gemäss ein ihrer suc- cessiven Entstehung entsprechendes Gefüge; ihre ontogenetische Entfaltung wiederholt daher in gewissem Maasse die vorausgehende phylogenetische Reihe und ihre weitere Entwicklung bedingt einen entsprechenden Fortschritt in der Ontogenie, . Aus dieser phylogenetischen Entwicklungsgeschichte des Idio- plasmas und aus ihrer Beziehung zur jeweiligen ontogenetischen Entfaltung ergeben sich die verschiedenen phylogenetischen Ent- wicklungsgesetze, wie sie mittels einer Vergieichung der entfalteten Organismen beurtheilt und abgeleitet wurden. Dieselben bestehen im allgemeinen darin , dass die den Ontogenien angehörenden Tlieile, welche auf den früheren Stufen zeitlich und räumlich sich ganz oder theil weise trennten, auf den sj^äteren Stufen sich vereinigen und in dauernde Beziehung zu einander treten (Ges. I — IV), während zugleich Lebens Vorgänge, die früher in jedem der getrennten Theile beisammen waren, nun in den zu einem Ganzen vereinigten Theilen aus einander gelegt werden (Differenzirung VI). Ferner erfolgen unter der Einwirkung des umgeänderten und complicirter gewor- 422 ^'11- Phylogenetische Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. denen Idioplasmas andere chemische und plastische Processe (VI). Das Auftreten dieser neuen Processe und des eigentlichen Differen- zirungsactes selber verursachen eine Verlängerung des betreffenden ontogenetischen Abschnittes (Ampliation V), während andere Ab- schnitte der Ontogenie, in denen die Differenzirung vollendet ist, durch Unterdrückung von Zwischenbildungen auf das qualitativ Verschiedene reducirt werden , so dass die Gegensätze schärfer her- vor und einander näher treten (VII). Ob nun der phylogenetische Fortschritt auf jeder Stufe in der einen oder anderen Weise erfolge, muss einmal von der ganzen vorausgehenden phylogenetischen Bewegung und somit von der Be- schaffenheit der Ontogenie abhängen. Er kann aber auch von den äusseren Einflüssen bedingt werden, welche nicht nur bestimmte Anpassungen verursachen, sondern ohne Zweifel auch in vielen Fällen bestimmen, w^elche von den inneren Ursachen des phylo- genetischen Fortschritts die Oberhand gewinnen. In dieser Be- ziehung dürften sich die Phylogenien gerade so verhalten, wie die Ontogenien. Die letzteren entfalten mit unbedingter Noth wendigkeit eine gewisse Summe von Anlagen, während es von den äusseren Ursachen (Nahrung, Feuchtigkeit, Licht, Wärme, Schwerkraft) ab- hängt, ob und welche von gewissen anderen Anlagen zur Entfaltung gelangen. So muss es in der Phylogenie bestimmte Entwicklungen des Idioplasmas geben, welche unbedingt durch die bisherige phylo- genetische Bewegung bewirkt werden, während in Fällen, wo die inneren Ursachen fast mit gleicher Energie zw^ei verschiedene Ent- wickhmgsvorgänge anstreben, die von aussen kommenden Reize den Ausschlag geben. Man muss also annehmen, dass, während in den einen Fällen die äusseren Einflüsse sich indifferent verhalten und eine Pflanzensippe sich überall in der nämlichen Weise fortbildet, in anderen Fällen die Abkömmlinge der nämlichen Sippe in einem warmen und einem kalten Klima, im Wasser und auf dem Lande, abgesehen von der ungleichen Anpassung, auch eine verschiedene phylogenetische Entwicklung durch innere Kräfte erfahren können. Aus dem Zusammenwirken der verschiedenen phylogenetischen Processe erklären sich nicht nur alle einzelnen Erscheinungen, aus denen die Ontogenien zusammengesetzt sind, sondern es stellen sich auch die Ontogenien als Totalerscheinungen und ihr Wechsel in der Generationenfolge als eine nothwendige Folge jener Processe dar. VII. Phylogenetisclie Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. 423 Um hier einen Hauptpunkt hervorzuheben, so möchte es uns, wenn wir die Individuen für sich Ijetrachten, als ein fast unlösbares Räthsel vorkommen, warum dieselben bis zu einer bestimmten Grösse heran- wachsen und nach einer bestimmten Dauer mit Ausnahme der win- zigen Keime, die sie abgesondert haben, zu Grunde gehen. Dies kann uns um so räthselhafter erscheinen, da die einfachsten Organismen in der genannten Beziehung sich anders verhalten. Wcährend fast die ganze Substanz der höheren Pflanzen und Thiere nothwendig abstirbt, muss von der Substanz der niedrigsten Lebe- wesen mit Nothwendigkeit gar nichts absterben. Dies ist der Fall l)ui den meisten einzelligen und bei einigen mehrzelligen Pflanzen. Eine Chroococcus- oder Micrococcuszelle , die für sich ein selbstän- diges Individuum bildet, theilt sich in 2 Zellen, die sich wieder in gleicher Weise theilen. Von Substanz geht bei dieser Fortpflanzung nichts verloren, da die beiden Kinder sich stets in die ganze Sub- stanz und Leljensfähigkeit ihres Elters theilen. Alles Absterben ist hier ein zufälliges, durch die Ungunst der äusseren Verhältnisse bedingtes , wobei nicht Theile der Individuen , sondern die ganzen Individuen zu Grunde gehen. — Mit den genannten Gattungen der Schizophyten stimmen die meisten einzelligen Gewächse überein, indem die bei ihnen mögliche zeitliche Diff erenzhung , welche die successiven Generationen ungleich macht und den Generations- wechsel bedingt, die volle Existenzfähigkeit und Fortpflanzungs- fähigkeit jeder einzelnen Generation nicht beeinträchtigt. Die räum- liche Differenzirung al^er, welche die Zellen der nämlichen Generation ungleich macht , bringt bei den einzelligen Organismen bloss ge- schlechtlich geschiedene Individuen hervor, welche an dem Be- fruchtungsprocess mit ihrer ganzen Plasmasubstanz sich betheiligen, so dass also auch bei der geschlechtlichen Fortpflanzung ausser den mnhüUenden nichtplasmatischen Substanzen nichts zu Verlust geht. Ein anderes Ergebniss hat die räumliche Differenzirung, nachdem durch andere phylogenetische Vorgänge aus den einzelligen mehr- zellige Organismen geworden sind, indem nun die verschiedenen Functionen auf die verschiedenen Zellen sich vertheilt haben. Für die vorliegende Frage kommt nur Eine Scheidmig in Betracht, die- jenige nämlich in Zollen, welche die Fortpflanzung übernehmen, und in solche, welche die mannigfaltigen anderen Verrichtungen zur Erhaltung des Individuums besorgen. Schon bei den einzelligen 424 VII. Phylogeuetisclie Eutwk'klinigsgL'setze des niaiizenrt'iches. Pflanzen kommt eine analoge zeitliche Differenzirung vor, nämlich zwischen den übrigen Generationen und der Sporengeneration; alier hier haben alle Individuen (Zellen) zur Ix'stimmten Zeit das Ver- mögen, in den Sporenzustand überzugehen. Bei den mehrzelligen Pflanzen wird die Differenzirung eine räumliche , und von vielen Zellen werden nur einzelne Zellen zu Sporen. Auf der untersten Stufe der mehrzelligen Pflanzen unterscheiden sich die zu Ruhesporen werdenden Zellen bloss durch die Fälligkeit, während der Vegetationsruhe (resp. während des Winters) auszu- dauern, indess die übrigen Zellen zu Grunde gehen. Die Dilferen- zirung hat hier durch die Anpassung ihren bestimmten Charakter erhalten; das Individuum stirl:)t mit Noth wendigkeit in seiner grösseren Partie ab. Bei der weiteren j)hylogenetischen Entwicklung wird, wie dies stets eintritt, die Anpassungsanlage selbständig und von der Anpassungsursache unabhängig. Sie kann sich nun zu jeder Zeit entfalten und ist in dieser Beziehung nicht mehr an das Ende der Vegetationszeit gebunden. Zunächst findet Ruhesporenbildung mehrmals während einer Vegetationsperiode statt, so dass mehrere Ontogenien während eines Jahres auf einander folgen und die Sporen der letzten Ontogenie überwintern. Auf höheren phylo- genetischen Stufen dagegen gelangt häufig das Individuum erst nach mehreren Jahren zur Sporenbildung, so dass die Ontogenie einen grösseren Zeitraum in Anspruch nimmt. Obgleich aber die Differenzirung in absterbende Zellen und in solche, welche w^ährend der Vegetationsruhe lebensfähig bleiben, ursprünglich eine Anpassung an den Wechsel der Jahreszeiten war, so behält sie, nachdem sie von den äusseren Einflüssen unabhängig geworden, doch mit Nothwendiglceit durch Beharrung (Vererbung) ihren vollständigen Charakter, w^elcher im Gegensatze der beiden Zellenarten besteht, bei. Mit der Sporenbildung oder allgemein mit der Fortpflanzung geht naturgemäss der übrige Theil des Indi- viduums zu Grunde. Vermöge weiterer phylogenetischer Fortschritte geschieht es dann, dass die Individuen nicht mehr in Folge der Fortpflanzung sofort absterben, sondern dass sie wiederholt sich fortpflanzen können; aber die beschränkte Dauer ihrer Existenz ist ihnen nothwendig als Erbtheil geblieben. Die genaue Erörterung der phylogenetischen Ursachen zeigt uns also, dass von allen Zeilgenerationenreihen, in die ein Orga- VII. Ph}-li;)gfnetische Entwifklungsgesetze des rHaiizenreiches. 425 nisnius sich gliedert, die meisten mit Notliwendigkeit einem dm"ch die Differenzirung gesetzten Ende verfallen siiid , während einige wenige das Vermögen hesitzen, sieh unbegrenzt zu verlängern, indem sie periodisch sich durch den Zustand von Fortpflanzungszellen er- neuern. Mit anderen Worten, die Organismen sterben nach einer bestimmten Lebensdauer und bleiben nur in den von ihnen er- zeugten Keimen lebensfähig. VIII. Der Generationswechsel in ontogenetischer nnd phylo- genetischer Beziehung. Das Pflaiizenruich beginnt mit Zellen ; es niiiss daher für die Betraclitiing der phylogenetischen Entwicklung, insofern dieselbe als Generationenfolge anfgefasst wird, die Zelle als die einfachste uns bekannte selbständige Einheit zu Grunde gelegt werden. Die nie- dersten Pflanzen sind Zellen , die wdeder ganz gleiche Zellen er- zeugen; alle Generationen sind einander gleich, und die Kenntniss einer Generation genügt zur vollständigen Erkenntniss der Pflanze. Sowie die Zellgenerationen ungleich werden und somit ein Zell- generationswechsel eintritt, bedarf es zu dieser Erkenntniss nunmehr der Kenntniss eines ganzen Cyclus von Generationen, nämlich der Reihenfolge von einer Zelle bis zur Wiederkehr einer ganz gleichen Zelle. Dieser Cyclus von Zellgenerationen ist das Element für die Vergieichung der Organismen und als ontogenetisc he Periode^) zu bezeichnen. Die ontogenetische Periode umfasst also den Abschnitt der phylogenetischen Entwicklungsl^ewegung zwischen je zwei gleichen ^) Ich habe diesen Begriff früher (Systeinat. Uel)ersicht der Erscheinungen im Pflanzenreich. 1853) , um einen neuen Namen zu vermeiden , in weniger passender Weise als »Artperiode« bezeichnet. Die von Häckel eingeführten Worte »Ontogenie« und »Phylogenie« drücken die für die Abstammungslehre allgemeinsten Begriffe sehr gut aus, wenn unter Ontogenie nicht die Geschichte des Inchviduunis, sondern der sich wiederholende Cyclus, mag er aus einem oder aus vielen Individuen bestehen, verstanden Avird. ^TH. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung. 427 Punkten. Sie nimmt in den Abstammungsreihen an Lcänge, d. h. an Zahl der Zellgenerationen, im allgemeinen immer mehr zu. Die letzteren können entweder, iiachdem sie sich gebildet haben, sich von einander trennen und einzellige Individuen darstellen, — oder sie können partienweise vereinigt bleiben, sodass die Ontogenie aus einer Anzahl mehrzelliger Individuen, häufig auch aus mehrzelligen und einzelligen Individuen besteht, — oder endlich sie können alle zu einem einzigen, die ganze Ontogenie ausfüllenden Individuum verbunden sein. Im letzteren Falle sind die auf einander folgenden Individuen einander gleich; in den beiden ersten Fällen sind sie noth wendig ungleich und es besteht Generationswechsel im gewöhnlichen Sinne. Für die Darstellung und Beurtheilung des Generationswechsels kommt es darauf an, welchen Umfang man dem Pflanzenindividuum gibt. Wird beispielsweise, entsprechend der ^^orstellung mancher Morphologen, der einzelne Spross als das Individuum der höheren Pflanzen angesehen, so folgt an einem Baum eine ganze Menge Generationen auf einander, während derselbe nach der gewöhnlichen Ansicht ein einziges Individuum und somit eine Generation darstellt. Doch ist diese Verschiedenheit der Anschauung von geringerem Belang; es hat mehr eine formelle Bedeutung, ob wir eine Folge von individuellen Bildungen als ebenso viele Pflanzenindividuen oder als Theile eines einzigen Individuums, dem dann der Name Pflanzenstock beigelegt wdrd, ansehen. Dagegen ist es von Wichtig- keit, dass dem Begriff des Individuums und somit auch dem Gene- rationswechsel , so weit es möglich ist, eine gleiche Ausdehnung gegeben werde, — und von noch grösserer Wichtigkeit, dass für den Generationswechsel und somit für die ontogenetische Periode der nämliche Ausgangspunkt gewählt werde, weil nur dadurch die verschiedenen Stufen der phylogenetischen Reihen sich richtig mit einander vergleichen lassen. Da die grosse Mehrzahl der Pflanzen geschlechtlich differenzirt ist und auf eine ontogenetische Periode bloss einmal geschlecht- liche Befruchtung trifft, so wechselt eine Geschlechtsgeiieration mit einer oder mit vielen geschlechtslosen Generationen. Da ferner der geschlechtliche Befruchtungsact die Grenze zwischen zwei auf einander folgenden Individuen oder Generationen l)ildet, so ist es naturgemäss, denselben als Grenzstein zwischen den Cyclen des Generationswechsels 428 VUI. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung. ZU setzen. Da endlich die Geschlechtszellen phylogenetisch auf die geschlechtslosen Zellen folgen und aus densell^en durch Differen- zirung entstehen, so muss die Ihldung der Geschlechtszellen an das Ende des Generation encyclus oder der ontogenetischen Periode ge- setzt werden. Die ungleichen Generationen, welche den Generationswechsel verursachen, sind entweder in Einzahl vorhanden, sodass 2 oder 3 ungleichartige Individuen regelmässig mit einander abwechseln, oder eine der Generationen wiederholt sich eine unhestimmte Zahl von Malen in der nämlichen Weise ; der Generationencyclus besteht dann aus einer Reihe von Wiederholungs gener ationen und einer Einzelgeneration, von denen die letztere l)ei Vorhandensein von Geschlechtsdifferenz entweder durch die männlichen und weiblichen Zellen allein dargestellt wird oder mit denselben beginnt. Meistens sind auch die der Geschlechtsgeneration oder der androgynen Generation, wie ich sie zur Vermeidung von Missverständnissen nennen wdll, vorausgehenden und nachfolgenden Einzelgenerationcn von den Wiederholungsgenerationen verschieden. Ehe ich auf die phylogenetische Bedeutung des Generations- wechsels eintrete, will ich einige Beispiele betrachten, an denen die Folge der Generationen sicher und deutlich ist. Ich wähle sie vor- zugsweise aus den niederen Stufen des Pflanzenreiches, weil hier ein Irrthum in der Beurtheilung am ehesten ausgeschlossen ist. Die einfachsten uns bekannten Pflanzen sind die Schizophyten, denen die geschlechtliche Diiferenzirung noch mangelt. Unter den einzelligen Schizophyten gibt es solche ohne Generationswechsel; die auf einander folgenden Generationen sind einander ganz gleich, nicht bloss in der Beschaffenheit der Zellen, sondern auch darin, dass die Zelltheilung , wodurch je zwei neue Individuen erzeugt werden, in der nämlichen Richtung stattfindet; beim Aufhören der Vegetation dauern die Individuen unverändert bis zum Beginn der nächsten Vegetationsperiode aus (Gloeothece, Synechococcus, Micro- coccus; Fig. 22 a, b auf S. 401). — Andere haben einen einmaligen oder zweimaligen Generationswechsel, je nachdem die Theilungs- richtung regelmässig in 2 oder in 3 Richtungen des Raumes wechselt. Bei einmaligem Wechsel sind je die geraden und je die ungeraden VIII. Der Generationswcclisel in ontogenet. und ])liylogenot. Beziehung. 429 Generationen (also n — 2, n und n -\- 2) einander gleich (Mcrismo- pedia, Fig. 22 c — g auf S. 401); bei zweimaligem Wechsel stimmt je die w*® Generation mit der n — o^'^" und mit der n -j- 3*^° überein (Chroococcus , Gloeocaj)sa). Auch bei diesen tritt eine Veränderung der Individuen beim Uebergang in die Vegetationsruhe meist nicht ein. Nehmen aber am Ende einer A-'egetationsperiode die Zellen der letzten Generation den Charakter von Sporen an, indem sie den Inhalt verdichten und die Zellmembran stärker und fester machen, wie dies bei Gloeocapsa und Bacterium vorkommt, so folgt auf eine Reihe von Wiederholungsgenerationen die einzelne geschlechtslose Sporengeneration, mit welcher der ontogenetische Cyclus abschliesst. Die Reihe der Wiederholungsgenerationen gliedert sich, wenn die Theilungsrichtung in 2 oder in 3 Richtungen des Raumes abwechselt, in 2 oder 3 zählige Perioden. Die mehrzelligen Schizophyten sind fast ausschliesslich ein- reihige Fäden. Diese Individuen vermehren sich durch Theilung, indem die Theilungsstellen durch Grenzzellen (S. 419) bestimmt werden , oder indem der Faden auch ohne Grenzzellenbildung in kurze Stücke (Hormogonien) zerfällt. Bei den einen tritt keine weitere Erscheinung auf, indem sie unverändert die Zeit des Vege- tationsunterbruches überdauern ; hier mangelt ein Generationswechsel (Oscillaria). Bei den andern bildet die letzte Generation einer Vege- tationsjDeriode Ruhesporen, indem eine grössere oder kleinere Zahl von Zellen sich vergrössert, die Wandung verdickt und sich mit dichtem Inhalte anfüllt ; hier folgt auf eine Reihe von Wiederholungs- generationen eine einzelne sporenbildende Generation (Cylindro- spermum, Rivularia). Während bei den geschlechtslosen Pflanzen die einzelne Sporen- generation einer Reihe von ganz gleichen Wiederholungsgenerationen gegenübersteht, weichen bei den geschlechtlichen Pflanzen, welche einen Generationswechsel mit Wiederholungsgenerationen haben, die erste und letzte der ungeschlechtlichen Generationen mehr oder weniger von den übrigen ab. Bei diesen Pflanzen gilt folgendes Schema für die Folge der Generationen eines ontogcnetischen Cyclus : Ä B,...B„ G D, wenn mit Bi . . . B„ die Wiederholungsgenerationen , mit C die geschlechtserzeugende (gamotoke), mit D die androgyne und mit Ä die geschlechtserzeugte (gamogene) Generation bezeichnet wird. 430 VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Bezieliung. Bezüglich des Umfanges der androgynen Generation könnte man verschiedener Meinung sein. Am deutUchsten stellen sich die zwei möglichen Ansichten bei den einzelligen Pflanzen heraus. Ent- weder betrachtet man die männliche und weibliche Zelle und ihr Vereinigungsproduct, die befruchtete Eizelle (Zygote), als eine einzige oder als zwei Generationen. Das erstere erscheint mir als das natur- gemässe; denn der Befruchtungsact ist doch eigentlich keine Fort- j)flanzung. Es widerstrebt dem natürlichen Gefühl, die weibliclie Zelle vor und nach der Befruchtung als zwei verschiedene Gene- rationen zu bezeichnen und somit auch anzunehmen, dass bei der Parthenogenesis eine Generation ausfalle. Lässt man die Geschlechts- zellen und ihre Zygoten als Eine Generation gelten, so muss man doch zwei Stadien derselben unterscheiden : die androgyne Generation als getrennte männliche und weibliche Zellen (D') und dieselbe nach der Verschmelzung dieser Zellen (D"). Damit ist jedem Bedürfniss Genüge geleistet und zugleich die Analogie mit den anderen Gene- rationen gewahrt. Als Beispiel der niedrigsten Geschlechtspflanzen mag zunächst Chlamydomonas pulvisculus dienen. Die Wiederholungsgenerationen (jBi . . . B„) sind einzellige Pflänzchen , welche zeitlebens als zwei- wimprige, mit einer Membran umhüllte Schwärmzellen herum- schwimmen, und durch wiederholte Zweitheilung mehrere Kinder erzeugen. Darauf folgt eine Generation, die letzte der ungeschlecht- lichen (C), deren Individuen sich ungleich verhalten. Die einen erzeugen nämlich 2 bis 4 grössere weibliche, die andern erzeugen 8 kleinere männliche Schwärmzellen. Von der Geschlechtsgeneration (D') legen sich je eine männliche und eine weibliche Pflanze mit ihren Wimperenden an einander an, verwachsen daselbst, indem sie ihre Wimpern verlieren, und nach Resorption der Zellmembran an der Verwachsungsstelle wandert der Inhalt der männlichen Zelle in die Höhlung der weiblichen Zelle über, worauf aus den vereinigten beiden Zellinhalten die Zygospore entsteht {!)"). Aus der letzteren werden nach der Ruhezeit mehrere Schwärmzellen gebildet; es ist dies die geschlechtserzeugte Generation {Ä). — Die beiden Genera- tionen C und A unterscheiden sich bei Chlamydomonas äusserlich noch nicht wesentlich von den Wiederholungsgenerationen Bi . . . B„; man erkennt die erstere daran, dass sie ein andersartiges Zeugungsvermögen, die letztere daran, dass sie einen andersartigen Ursprung besitzt. VIII. Der Genorationswechsel in ontogenet. und jjhylogenet. Beziehung. 43l Bei der verwandten einzelligen Alge Pandorina morum sind die zweiw^mprigen Individuen der Wiederholungsgenerationen zu IG bis 04 in schwärmende kugelige Colonien vereinigt. Bei der Fortpflanzung entstehen durch wiederholte Theilung des Inhaltes aus den einzelnen Zellen eben so viele kugelige Colonien, die sich von einander trennen (jB, . . . B„). Die letzte ungeschlechtliche Generation (C) unterscheidet sich auch hier von den vorausgehenden Wiederholungsgenerationen nur durch das Product ; ihre Individuen erzeugen nämlich geschlecht- lich differenzirte, bloss 8 zellige Colonien. Von diesen Colonien der androgynen Generation (D) sind die einen männlich , die andern weiblich, ohne übrigens sich äusserlich sonst von einander zu unter- scheiden. Sie zerfallen schon im jugendlichen Zustande in die ein- zelnen Zellen , welche schwärmen und sich, je eine männliche und eine weibliche, vereinigen um eine kugelige Zygospore zu bilden. Nach der Ruhezeit erzeugt die Zygospore 1 — 3 grössere Schwärmzellen, welche die erste ungeschlechtliche Generation darstellen {Ä) und durch wiederholte Theilung in 16 Zellen die erste Wiederholungs- generation (jBi) hervorbringen. Die androgyne Generation von Pandorina durchläuft 3 Zustände : im ersten sind die Geschlechtszellen zu männlichen und weiblichen Colonien verbunden, im zweiten schw^ärmen sie einzeln, im dritten sind sie zu Zygosporen verschmolzen. Die zwei ersten Stadien werden auch als zwei Generationen betrachtet, indem man sagt, dass die Zellen der Colonie je ein geschlechtliches Individuum erzeugen, — eine Vorstellung, die mir bei Vergleichung mit andern verwandten Pflanzen nicht gerechtfertigt erscheint. Das Wassernetz (Hj'drodictyon) verhält sich bezüglich der Gene- rationenfolge im Wesentlichen ebenso wie Pandorina. Die cylin- drischen Zellen der Wiederholungsgenerationen sind in grosser Zahl zu weitmaschigen geschlossenen Netzen verwachsen. Die Fortpflanzung geschieht dadurch , dass in jeder Zelle des Netzes durch simultane Theilung des Inhaltes bis zu 20 000 Zellen entstehen, w'elche inner- halb der Membran ihrer Elterzelle schwärmen und sich dann zu einem Netz vereinigen , das , nachdem es frei geworden , sich stark vergrössert. Die geschlechtserzeugende Generation (C) bildet viel zahlreichere männliche und weibliche Zellen (bis zu 100 000), welche sich nicht zu einem Netz zusammenordnen, sondern einzeln schwär- men, dann zu 2 oder auch zu mehreren mit einander verschmelzen 432 VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung. lind ruhende kugelige Zygosi3oren darstellen. Beim Wiederbeginn der Vegetation erzeugt jede Spore einige wenige grosse Schwärmzellen, welche nach kurzer Zeit zur Ruhe gelangen und eine polyedrische Gestalt annehmen [Ä); aus ihnen entstehen die noch rudimentären Netze der ersten Wiederholungsgeneration (Ui). Bei den der Gattung Pandorina nahe stehenden Gattungen Eu- dorina und Volvox zeigt der Generationswechsel eine bemerkens- werthe Verschiedenheit zwischen der männlichen und der weiblichen GeschlechtssiDhäre. In der letzteren wird nämlich eine Generation unterdrückt, indem die Zellen, welche sonst die geschlechtserzeugende Generation (C) darstellen, ungetheilt bleiben und zu weiblichen Geschlechtszellen (Eizellen) werden. In der männlichen Geschlechts- s})häre dagegen erzeugt jede Zelle der Generation C durch wieder- holte Theilung eine Mehrzahl von männlichen einzelligen Individuen (Spermatozoiden). Diese Verschiedenheit stimmt mit der bekannten Erscheinung der mehrzelligen Pflanzen überein, dass in der männ- lichen Geschlechtssphäre eine grössere Zahl von Zellgenerationen durchlaufen wird als in der weiblichen; nur gibt sie sich hier bei den einzelligen Pflanzen als eine Verschiedenheit in dem Wechsel der Individuen kund. — Aus dem Verhalten von Eudorina und Volvox ergibt sich übrigens aucli für den Generationswechsel der einzelligen Pflanzen die Nothwendigkeit , die geschlechtserzeugende Generation C von den Wiederholungsgenerationen (B^ . . . B„) zu trennen. Gehen wir von den einzelligen zu den vielzelligen Geschlechts- j^flanzen über, so finden wir in der Algengattung Ulothrix ein höchst einfaches Vergieichsobject. Die Wiederholungsgenerationen, die im Herbst und Winter leben, sind un verzweigte einfache Zellreihen (gegliederte Wasserfäden). Dieselben pflanzen sich durch 4wimprige, nackte Schwärmsporen , welche meistens zu 4 in den Gliedern des Fadens entstehen, fort. Die geschlechtserzeugende Generation (C) gleicht vollkommen den Wiederholungsgenerationen, aber sie bildet in ihren Zellen zahlreichere kleine Schwärmzellen, welche geschlecht- lich differenzirt sind und sich je 2 oder auch je 3 zu einer ZygosjDore vereinigen (D). Letztere dauert den Sommer über aus und erzeugt im Herbst mehrere Schwärmsporen, welche den Anfang der geschlechts- VIII. Der GciiorationswerliRol in ontoo;enct. nml iiliylogenot. Boziclmnir. 4;>3 erzeugten Generation (^) darstellen und wahrscheinlich in ilu*er weiteren Entwicklung sich analog den Wiederholungsgenerationen verhalten. — Bei Ulothrix unterscheidet sich also die androgyne Generation von allen andern Generationen dadurch, dass sie einzellig ist. Das Schema der Generationen, die zu einer Ontogenie gehören, ist das nämliche wie das oben (S. 429) für eine Gruppe von einzelligen Pflanzen aufgestellte Ä B,...B„ C D. Bei Oedogonium, für welche Gattung das nämliche Schema gilt, sind die Wiederholungsgenerationen {B^ . . . B,) ebenfalls unverzw^eigte Zellreihen. Aus den Gliedern dieser Wasserfäden tritt je der ganze Zelleninhalt als nackte, mit einem Kranz von Wimpern versehene Schwärmspore heraus, welche sich sofort zu einem Wasserfaden ent- wickelt. Die letzte oder die geschlechtserzeugende Generation (C) besitzt zwei neue Organe, die durch Diiferenzirung aus den Schwärm- sporen-bildenden Gliedern hervorgegangen sind. Einzelne bestimmte Gliederzellen sind angeschwollen (üogonien) ; ihr Inhalt zieht sich etwas zusammen und stellt die Eizelle dar ; seine der sich bildenden Oeffnung zugekehrte Seite ist der farblose Keimfleck. Einzelne höher gelegene, ebenfalls bestimmte Glieder des Fadens (wenn die Pflanzen monöcisch sind) theilen sich in w^enige kürzere Zellen , welche je ihren ganzen Inhalt als kleines bewegliches, ebenfalls einen Wimper- kranz tragendes Zellchen heraustreten lassen. Dies sind die Sperma- tozoide, welche durch die Oeffnung der Oogonien zu der Eizelle hineinschwimmen und mit dem Keimfleck verschmelzen. Die be- fruchtete Eizelle (D") wird durch Bildung einer Membran zur Oospore, welche nach einer Ruheperiode 4 Schwärmsporen erzeugt, aus denen wieder gegliederte Wasserfäden {A) sich entwickeln. Oedogonium stimmt mit Ulothrix in der Einzelligkeit der andro. gynen Generation und im ganzen Verhalten des Generationsweclisels überein, unterscheidet sich aber von der letzteren Gattung durch die weitgediehene Ungleichheit der geschlechtlich differenzirten Zellen und darin, dass die geschlechtserzeugende Generation auch äusser- lich von den Wiederholungsgenerationen abweicht, nämlich durch die angesch-woUenen Oogonienglieder und die kurzen Antheridien- glieder. Die androgyne Generation tritt weniger deutlich als beson- dere Generation hervor, weil die weil)lich('n Zollen (Eizellen) sicli nicht von der Elterptianze lostrennen. V. Nägeli, Abstammungslehre, 28 434 VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung. Man nennt die gesehlechtserzeiigende Generation von Oedogonium die Geschleclitsgeneration, und dies ist insofern ganz richtig, als sie die Geschlechtsorgane trägt. Damit begeht man aber unwillkürlich eine Inconsequenz gegenüber dem Verfahren bei den einzelligen Pflanzen, wo die männlichen und weiblichen einzelhgen Individuen unbestritten die Geschlechtsgeneration darstellen. Die allgemein als Geschlechtspflanzen bezeichneten Fäden von Oedogonium und an- deren Algen sind eigentlich nur die geschlechtserzeugenden Individuen, und erst die einzellige androgyne Generation ist in Wirklichkeit die Geschleclitsgeneration. Um aber Missverständnisse zu verhüten, habe ich sie die androgjaie Generation genannt, und diesen Ausdruck gewählt, um zugleich den Unterschied von dem Begriffe gynandrisch anzudeuten. Was ich soeben bezüglich einiger fadenförmiger Algen gesagt habe , gilt auch für alle übrigen vielzelligen Pflanzen mit Geschlechtsdifferenz ; bei denselben sind die sogenannten geschlecht- lichen Individuen stets die geschlechtserzeugenden und erst ihre Kindindividuen stellen die androgyne Generation dar. Eine Grujij^e von Oedogonium zeichnet sich dadurch aus, dass in der männlichen Geschlechtssphäre eine Generation eingeschaltet wird. Die geschlechtserzeugende Generation bildet ihre Oogonien und Eizellen ganz Inder vorhin angegebenen Weise; aber statt derSperma- tozoide bringt sie männliche Schwärmsporen (Androsporen) hervor, welche in der Grösse die Mitte halten zwischen den ungeschlecht- lichen Schwärmsporen und den Spermatozoiden. Aus denselben ent- stehen Zwergmännchen, die meistens aus zwei Zellen bestehen, von denen die obere zum mehrgliedrigen Antheridium wird und Sper- matozoide erzeugt. Diese eingeschaltete Generation gehört nicht dem gemeinsamen Generationswechsel an, sondern ist als eine phylo- genetische Bereicherung der männlichen Geschlechtssphäre zu be- trachten. Sie kann auf einer folgenden phylogenetischen Stufe dadurch, dass die Androsporen sich nicht lostrennen, sondern als Gewebezellen mit dem elterlichen Individuum verbunden bleiben, zum zusammengesetzten männlichen Geschlechtsorgan werden. Das Thallom von Vaucheria ist in allen Generationen eine röhrenförmige (nicht septirte) verzweigte Zelle. Die Wiederholungs- generationen {Bi . . . B„) lassen aus den keulenförmig angeschwollenen Enden der Schläuche je eine grosse, an der ganzen Oberfläche kurz- bewimperte Schwärmspore heraustreten, die nach kurzer Zeit keimt. Vin. Der Generationswechsel in ontogenct. und phylogenet. Bezielmng. 435 Die gesclileclitserzeugende Generation (C) bildet in kleinen Seiten- zweigen die Geschlechtszellen, und zwar in dünnern gebogenen Antheridienzweigen mehrere sehr kleine zweiwiniprige Spermatozoide, in den bauchigen Oogonienzweigen je eine nicht heraustretende Ei- zelle, welche nach der Befruchtung zur Oospore (D") wird. Die nach einer Ruhezeit keimende Oospore wächst zu einer verzweigten Schlauch zelle aus. Vaucheria unterscheidet sich in ihrem Generationswechsel da- durch von den bis jetzt angeführten Wasserfäden, dass sie nur 3 ver- schiedenartige Generationen besitzt: 1) die Wiederholungsgenerationen {Bi . . . B,^, 2) die gesclileclitserzeugende Generation (C), w^elche sich von jenen auch morphologisch durch den Geschlechtsapparat unter- scheidet, und 3) eine Generation, welche in drei verschiedenen Stadien auftritt, nämlich zuerst als Eizelle und als Sj)erniatozoid (D'), dann als Ooospore {D") und zuletzt als röhrenförmiges Tliallom. Es sind also hier die androgyne Generation (D) und die geschlechtserzeugte Generation {Ä) in eine einzige vereinigt ; der ontogenetische Cyclus zeigt folgendes Schema B,... B„ C (D + A). Man kann die letzte Generation {D -f- -4) bei A'^aucheria nicht in zwei trennen ; denn es würde zu ganz unannehmbaren Consequenzen führen, wenn man die Spore und ihr Keimproduct als zwei Indi- viduen betrachten wollte. Andrerseits ist es ebenso unmöglich, die Ruliespore von Oedogonium und von Ulothrix sammt ihren Keim- producten als eine einzige Generation anzusehen, da aus einer Spore mehrere Individuen hervorgehen. Als Beispiel einer Alge, bei welcher der Generationswechsel noch mehr reducirt ist, führe ich Acetabularia an. Diese Pflanze hat ein röhriges Thallom mit einem Quirl von Aesteii, die zu einer schirm- förmigen Scheibe verwachsen sind. In den Strahlen des Schirms bilden sich zahlreiche Ruhesporen auf ungeschlechtlichem Wege. Dieselben lassen nach einigen Monaten zahlreiche zweiMdmprige Schwärmsporen heraustreten, welche geschlechtlich differenzirt und je nach den Pflanzen, von denen die Ruhesjioren herstammen, männ- lich oder weiblich sind. Aus der Verschmelzung je zweier oder auch mehrerer dieser Geschlechtszellen entstehen Zygosporen, welche nach mehrmonatlicher Ruhe keimen und kleine Pflänzchen bilden. Von 2ö* 436 VIII. Der Gencrationsweclisel in ontogenet. und phylogenet. Bezieluing. denselben überwintert der basale Theil, der, in den folgenden Jahren stärker werdend, auch an Stärke zunehmende Triebe hervorbringt, bis dieselben zur fortpflanzungsfähigen Schirmpflanze geworden sind. Acetabularia hat also nur zweierlei Generationen, die beide sich nicht wiederholen. Die ungeschlechtlich entstandenen Ruhesporen stellen die kurzlebige geschlechtserzeugende Generation (C) dar. Die langlebige Generation durchläuft eine Reihe von Stadien, deren erstes die männlichen und weiblichen Schwärmsporen, das zweite die Zygo- sporen , die übrigen aber die auf einander . folgenden Jahrestriebe sind. Vergleichen wir Acetabularia mit dem Schema des Generationen- cyclus, wie es für Chlamydomonas, Pandorina, Ulothrix, Oedogonium gilt, so entsj)richt die langlebige Generation in ihren Stadien zugleich der androgynen (D), der geschlechtserzeugten (Ä) und der ganzen Reihe von Wiederholungsgenerationen {Bi . . . B„) , so dass also das Schema der ontogenetischen Periode von Acetabularia sich also darstellt C (D + A + ^i • . • ^»)- Bei vielen höheren Algen mangelt der Generationswechsel ganz, lieh, so dass hier die getrennten Generationen der niederen Algen bloss noch mehr oder weniger deutlich als Entwicklungsstadien des nämlichen Individuums zu erkennen sind. Als Beispiele sind zu nennen Ectocarpus, Fucus, Ohara. Auch die Zygnemaceen haben keinen Generationswechsel. Aus der Zygospore entsteht eine unverzweigte Zellreihe (gegliederter Wasserfaden), welche zufällig in mehrere Fäden zerfallen kann und deren Zellen durch Conjugation Zygosporen bilden. — Die nahe verwandte Ordnung der Desmidiaceen dagegen, welche einzellig ist, besitzt Generationswechsel. Die Wiederholungsgenerationen ver- mehren sich durch Zelltheilung. Die letzten durch Theilmig ent- standenen Individuen bilden Zygosporen, in welchen nach der Ruhezeit wieder Zelltheilung beginnt. Das erste Product derselben ist die geschlechtserzeugte Generation, die sich durch einfacher ge- baute Zellen von den darauffolgenden Wiederholungsgenerationen unterscheiden. Der Generationswechsel der Desmidiaceen stimmt also mit demjenigen anderer geschlechtlich differenzirter einzelliger Algen überein , nur mit dem Unterschiede , dass hier die androgyne Gene- ration vor dem Conjugations- und Befruchtungsprocess vollkommen den Wiederholungsgenerationen gleicht, und dass somit auch die ^TII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phj'logenet. Beziehung. 4o7 vorausgehende geschlechtserzeugende Generation nicht unterscliieden werden kann. Bei den Moosen nimmt man jetzt gewöhnhch zwei Generationen an. Die grüne , oft mit Blättern begabte , den Assimilationsprocess besorgende MoosjDflanze , welche die männlichen und weiblichen Organe (Antheridien und Archegonien) trägt, wird als die Geschlechts- generation bezeichnet. Die Moosfrucht, welche aus der befruchteten Eizelle entsteht und Tetrasporen erzeugt, ist die ungeschlechtliche Generation. Vergleichen wir die Moose bezüglich des Generations- wechsels mit den Algen, so entspricht die Generation, welche mit den Spermatozoiden und der Eizelle beginnt und durch die befruchtete Eizelle zum Sporogonium fortschreitet, der vereinigten androgynen und geschlechtserzeugten Generation {D-\-Ä). Die andere Generation, welche mit einer Spore beginnt und mit Bildung von Antheridien und Archegonien abschliesst, stellt die vereinigten Wiederholungs- generationen sammt der geschlechtserzeugenden Generation dar (B. . . . B,, + C). Bei den Gefässcrj^ptogamen wechseln, genau wie bei den jNIoosen, regelmässig zwei Generationen mit einander ab. Das aus der Spore hervorgehende die Geschlechtsorgane tragende Prothallium wird als die geschlechtliche, der blättertragende aus der befruchteten Eizelle am Prothallium entspringende Stengel, welcher die Sporangien bildet, als die ungeschlechtliche Generation in Anspruch genommen. Die angeführten Beispiele genügen, um einen deutlichen Begriff von dem Generationswechsel im Pflanzenreiche zu geben. Demselben kann, wie ich schon eingangs bemerkte, bei manchen Pflanzen eine verscliiedene Form gegeben werden, je nach der Grundlage, von der man ausgeht. Es ist daher diese Grundlage, das Individuum, näher zu prüfen und festzustellen. Die Auffassung der ontogenetischen Generationenfolge oder des Generationswechsels hängt davon ab, was wir unter Individuum verstehen. Beide Begriffe stehen in innigster Beziehung zu demVef- laufe des phylogenetischen Entwicklungsvorganges ; die Betrachtung des letzteren führt naturgemäss auch zu der Beurth ei hing ;deri Frage, was als Pflanzenindividuum in Anspruch zu nehmen gei.' "■^'" ■^"'•'*'' 438 VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. nnd pliylogenet. Beziehung. Diese Frage ist in der verschiedenartigsten Weise beantwortet worden. Scheinbar hat sie für das Pflanzenreich eine andere Be- deutung und bietet viel grössere Schwierigkeiten dar als für das Thierreich. In Wirklichkeit aber sind die Schwierigkeiten nicht grösser, sondern liegen nur viel offenkundiger da und bieten daher auch Gelegenheit, leichter überwunden zu werden. Als Pflanzenindividuum ist von Galle sio die ganze aus dem Samen hervorgehende Entwicklung betrachtet worden, sodass die ungeschlechtliche Vermehrung nicht im Stande wäre, neue Indi- viduen hervorzubringen ; nach dieser Theorie ist Individuum identisch mit Ontogenie. Manche Morphologen dagegen nehmen nach dem Vorgange E. Darwin 's die Knospe und den daraus erwachsenden Spross als das Individuum in Anspruch , sodass der Baum eine zusammenhängende Colonie oder Familie von Individuen wäre. Endlich verkündete Schieiden, dem Anstoss von T u r p i n fol- gend, die Zelle als das eigentliche Pflanzenindividuum. Jede dieser Annahmen hat in ihrer Einseitigkeit eine gewisse Berechtigung; aber keine gibt die Lösung der allgemeinen Frage. Dies habe ich schon im Jahre 1853 ausgesprochen mit den Worten ^) : »Jede individuelle Erscheinung im Pflanzenreich : Zelle, Organ, Pflanze oder Pflanzenstock, um die dazwischen liegenden Erschei- nungen zu übergehen , hat ihre Berechtigung ; keine aber darf als das Individuum schlechthin betrachtet werden. Bald ist die Selb- ständigkeit der Zelle , bald die des Organs , bald die der ganzen Pflanze überwiegend ; und es ist gerade die Aufgabe der Wissen- schaft, zu zeigen, wie nach und nach die Zelle und das Organ an Selbständigkeit verlieren und die Individualität des ganzen Pflanzen- stockes erstarkt.« Diese Theorie habe ich im Jahre 1856 allgemein begründet und weiter ausgeführt, dabei namentlich auch hervorgehoben, dass man im Pflanzenreiche verschiedene Begriffe der Individualität aus ein- ander halten müsse. Ich unterschied morphologische und phy- siologische Individuen, indem ich unter morj^hologischem Indi- viduum jede' Erscheinung mit »einheitlichem Ursprung, eigenthüm- licher Entwicklung und innerlich bestimmtem Abschluss«, unter 0 In einer Anmerkung zu »Systematische TJebersicht der Erscheinungen im Pflanzenreich« S. 33. Vin. Der GeuerationsweH'lisel in uiitDjAeiu't. uml ])liyl(),liyl(i.<:oiK't. rV'zichung. 443 die Androsporen (Pollenkörner) los, während die Gynosporen (Em- bryosäcke) zeitlebens mit dem Gewebe der Elterpflanze verwachsen bleiben. Gleichwohl müssen die Embryosäckc wegen der Analogie mit den Gynosporen der Gefässcryptogamen und mehr noch wegen der Analogie mit den den nämlichen Rang behauptenden Pollen- körnern als Pflanzenindividuen und als besondere Generation be- trachtet werden. Aus dem Umstände, dass jeder selbständige und lebensfähige Theil als Pflanzenindividuum anzusehen ist, folgt noch nichts für die Berücksichtigung, welche derselbe bei der Generationenfolge und dem Generationswechsel zu beanspruchen hat. Unter den In- dividuen und Generationen gibt es solche, die nothwendig zur Onto- genie gehören und ohne welche die phylogenetische Entwicklung undenkbar ist, und andere, welche diese Bedeutung niclit haben, wiewohl sie ebenfalls zur Erhaltung der Abstamnmngslinien dienen. Individuen der letzteren Art sind beim Generationswechsel nicht zu berücksichtigen. Um ein Beispiel anzuführen , so haben die Moose einen ganz bestimmten Generationswechsel , indem das ge- schlechtserzeugende und das sporenbildende Individuum mit ein- ander alterniren. Es ist eine accessorische, nicht nothwendig in den ontogenetischen Cyclus gehörende Erscheinung, wenn das erstere der beiden Individuen, ehe es zur Bildung der Geschlechtsorgane gelangt, sich dm-ch Brutkeime vermehrt. — Dessgleichen mangelt der Generationswechsel den Characeen, obgleich diese Pflanzen auch auf geschlechtslosem Wege sich vermehren können. Will man aber, was sich j^rincipiell nicht beanstanden Hesse, die eben erwähnten Erscheinungen als Generationswechsel bezeichnen, so muss man zwischen noth wendigem und zufälligem Gene- rationswechsel unterscheiden. Dann kommt beispielsweise den Characeen und verschiedenen anderen Algen bloss ein zufälliger Generationswechsel zu. Ferner besteht dann bei den Moosen der nothwendige Wechsel darin , dass eine sjiorenerzeugte , geschlechts- erzeugende Generation mit einer geschlechtserzeugten, sporenbilden- den Generation alternirt, und der zufällige Wechsel darin, dass statt der erstgenannten Einzelgeneration eine Reihe von Generationen auftritt, von denen die erste aus Sporen, die folgenden aus Brut- keimen hervorgehen. Für den systematischen (rebrauch dürfte sich das Verfahren, welches den Generationswechsel einzig nach den 4-4:4 VIII. Der Generationsweclisel in ontogenet. und phylogenot. Beziehung. nothwendig der Ontogenie angehörenden Generationen bestimmt, als das einfachere emj^fehlen. Es scheint zweckmässig, die Anwendung des Begriffes vom syste- matischen Individuum und seine Bedeutung für den Generations- wechsel bei einigen Pflanzengruppen näher zu betrachten. — Auf den untersten Stufen des Pflanzenreiches muss im allgemeinen das morphologische Individuum, nämlich die Zelle, als das Pflanzen- individuum gelten , weil Selbständigkeit und Unselbständigkeit der Zellen in allen Abstufungen vorkommen und somit keine durch- greifende Unterscheidung zulassen. Eine einzellige Pflanze in syste- matischer Beziehung ist daher eine solche, bei welcher alle Zellen einander gleich sind , mögen sie vereinzelt leben oder mehr und weniger innig mit einander zusammenhängen. Wollte man die Sell)ständigkeit der Zellen als Criterium berücksichtigen , so wären von nächst verwandten Sippen die einen einzellig, die andern melir- zellig; von anderen wäre es zweifelhaft, ob man sie als ein- oder mehrzellig erklären sollte ; und bei noch anderen würden die Pflanzen in einem Stadium einzellige Individuen und in einem spätem Stadium nur noch Theile eines mehrzelligen Individuums sein (Hydrodictyon). Man hat Volvox als mehrzellige Pflanze erklärt, weil von den zalflreichen, zu einer kugeligen Colonie zusammengeordneten Zellen regelmässig nur wenige der Fortpflanzung dienen. Wäre in diesem Verhalten wirklich eine bestimmte Differenzirung zwischen den Zellen in vegetative und reproductive ausges23roehen , so liesse sich aller- dings erwägen , ob diese Gattung als Typus einer besonderen Familie aufzustellen sei. Bei der nahen Verwandtschaft zwischen Volvox einerseits und Eudorina, Pandorina etc. andrerseits ist aber, wie mir scheint, der genannten Verschiedenheit keine so grosse Bedeutung beizulegen. Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass bei den einzelligen Organismen die Zellen qualitativ zwar einander gleich sind, und dass auch jede das ^''ermögen besitzt, unter günstigen Umständen sich fortzupflanzen. Aber dieses Vermögen kann sich nur sehr unvollständig verwirklichen, und zwar schon desswegen, weil behufs ErhaHung des numerischen Gleichgewichts stets die grösste Zahl zu Grunde gehen muss. Bilden die einzelligen Pflanzen Colonicn, so werden häufig ganze Colonien aussterben; aber es kann VIII. Der Genorationswechsel in ontogenet. und ])hylogeiiet. Bezi(>hung. 445 auch der Fall sein, dass von einer Colonie die einen Zellen sieh fortpflanzen, die anderen zu Grunde gehen, je nachdem sie in quan- titativer Hinsicht besser oder weniger gut ausgerüstet sind. Mög- licher Weise ist nun die beschränkte Zahl der fruchtbaren Zellen in der Volvoxkugel bloss quantitativ besser ausgestattet und deutet erst den Anfang einer Differenzirung an, wie ja der erste Schritt einer qualitativen Verschiedenheit stets in (quantitativen Unterschieden besteht. Dagegen ist in der Klasse der Conjugaten der Gegensatz zwischen einzelligen und mehrzelligen Pflanzen in bestimmter Weise durch- geführt. Die Desmidiaceen sind einzellig, da bei der grossen Mehrzahl die Zellen einzeln leben und nur bei wenigen in einreihige Colonien vereinigt sind (Desmidium). Die Zygnemaceen sind stets einreihige Fäden und können nicht als einzellig aufgefasst werden, weil jedes aus einer Z^^gospore hervorgehende Individuum einen andersartigen einzelligen Fusstheil besitzt. Die Spore theilt sich nämlich in zwei ungleiche Zellen , von denen die eine theilungsunfähig ist und zur Fusszelle wird, indess bei den Desmidiaceeen die Zygospore zwei gleiche, theilungsfähige Zellen erzeugt. Wesentlich anders und eigenthünilich stellt sich das Bedürfniss für das systematische Individuum in der Klasse der Schizophyten heraus. Es kann hier kein Zweifel darüber bestehen, dass die Chroo- coccaceen, deren Zellen einzeln leben oder nur lose zusammenhängen, einzellig sind, eben so wenig, dass bei den Scytonemaceen mid Kivu- lariaceen der ganze gegliederte (vielzellige) Faden das Individuum vorstellt, weil hier die Differenzirung zwischen den Zellen des Fadens so ausgesprochen ist (S. 393 — 394). Dagegen kann man bezüglich der Nostochaeeen und Oscillariaceen mi Zweifel sein, ob sie als einzellig oder mehrzellig zu erklären seien, weil manche Formen derselben kaum eine A^erschiedenheit zwischen den Zellen eines Fadens erkennen lassen. Da jedoch andere Formen in den Grenzzellen, welche das Zerfallen der Fäden in Stücke einleiten, und ferner in den zu Sporen werdenden Zellen bestimmte Ungleichheiten gegenüber den übrigen Zellen zeigen, da endlich in den Oscillariaceen die Zellen eines Fadens sehr innig verbunden sind, da zudem die beiden Ordnungen unverkennbar sich viel näher an die Rivulariaceen und Scytonema- ceen anschliessen als an die Chroococcaceen , so sind sie als mehr- zelliti' zu betrachten. 44G VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung. Bezüglich der ebenfalls zu den Schizopliyten gehörenden Schizo- myceten stellt sich ein gegentheiliges Verfahren als notli wendig heraus. Fadenförmige und stäbchenförmige Zustände derselben haben zwar die grösste Aehnlichkeit mit den Nostochaceen und Oscillariacecn und empfehlen sich als vielzellige Pflanzen besonders dann, wenn einzelne und bestimmte Zellen, z. B. die Endzellen eines Stäbchens, zu Sporen werden oder wenn die Endzellen eine Wimper tragen. Da aber bei Culturen in geeigneten Nährflüssigkeiten die Stäbchen (Bacterien) kürzer und wenigzelliger werden und in den einzelligen Zustand übergehen, da ferner in manchen Fällen die Entscheidung, ob einzellige oder mehrzellige Zustände vorliegen, ganz willkürlich ist, sei es weil die Zellen der Fäden und Stäbchen sehr lose zusammen- hängen, sei es weil einzellige und wenigzellige Zustände mit einander gemengt sind und in der Generationenfolge beliebig mit einander wechseln, so liegt unzweifelhaft das systematische Bedürfniss vor, allen Schizomyceten den nämlichen Character zuzuschreiben und zwar sie als einzellige Pflanzen zu betrachten, da ja für die ein- zelligen Zustände die Annahme der Mehrzelligkeit unmögHch ist. Für die geschlechtlich differenzirten Pflanzen gilt, wie ich schon angedeutet habe, die Regel, dass mit den männlichen und weiblichen Zellen, die sich vermischen, ein neues Individuum beginnt ; denn es kann ja immer der Fall eintreten, dass jene Zellen von verschiedenen Individuen herstammen, und dass das Befruchtungsproduct desshalb nicht als Theil der Pflanze, mit der es verl)unden bleibt, angesehen werden darf. So muss also die Moosfrucht unbedingt ein Pflanzen- individuum darstellen und den Moosen Generationswechsel zukommen. Der Vorkeim aber stellt bei diesen Pflanzen keine besondere Generation dar, selbst wenn er wie bei den Laubmoosen einen ganz abweichenden Bau zeigt. Denn es kommt vor, dass ein Spross des confervenartigen Protonema nach oben sich unmittelbar in das beblätterte Moosstämm- chen fortsetzt, und ebenso, dass das letztere -selbst unmittelbar aus derjenigen Zelle des Vorkeims, welche der Spore entspricht, entsteht, so dass also in diesem Falle das Vorkeimstadium bei der ontogene- tischen Entwicklung morphologisch übersprungen wird. Die Gefässcryptogamen verhalten sich wie die Moose bezüglich des Generationswechsels ; es sprechen die nämlichen Gründe für die Nothwendigkeit der Annahme, dass auch bei ihnen die Ontogenie zwei Individuen durchlaufe. — Rücksichtlich der Phanerogamen habe VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung. 447 ich bereits dargethan, dass eine Generation mit den Pollenkörnern und den Embryosäcken beginnt. Eine zweite Generation muss mit der Befruchtung der Eizelle anheben. Dies wird, ausser dem früher angegebenen Grund, auch dadurch bewiesen, dass es einige wenige Phanerogamen gibt, welche im Embryosack 2 Eizellen bilden (San- talum). Die eine Generation, diejenige nämlich, die der geschleehts- erzeugenden bei den niedern Cryptogamen entspricht, ist aber so sehr reducirt, dass sie nur einen kleinen Theil des Fortpflanzungs- apparates ausmacht. Ich will noch die Verhältnisse einer Pflanzengruppe besprechen, bei denen die Beschaffenheit des Generationswechsels zweifelhaft ist. Die Florideen haben 3 Fortpflanzungsorgane, die fast ausschliesslich auf verschiedene Pflanzen vertheilt sind. Es gibt männliche oder Antheridien-, weibliche oder Cystocarpien-, und ungeschlechtliche oder Tetraspofen-Pflanzen. Da die Tetrasporen bei den Moosen und bei den Gefässpflanzen den Anfang derjenigen Generation darstellen, welche die Geschlechtsorgane oder wenigstens die männhchen und weiblichen Zellen erzeugt, so scheint die Vermuthung sehr nahe zu liegen , dass auch bei den Florideen eine Tetrasporen- und eine Antheridien-Cystocarp-Generation mit einander alterniren. Es gibt aber wichtige Gründe gegen diese Auffassung. Schon der Umstand erregt Bedenken, dass bei allen Florideen die geschlechtlichen und die ungeschlechtlichen Pflanzen einander ganz gleich sind. Hätte die Tetrasporenforti:>flanzung die gleiche Be- deutung wie bei den Moosen und den Gefässcryptogamen, so m'öchte man erwarten, dass, wie es bei diesen der Fall ist (S. 408—409), auch bei den Florideen, sofern Abstammungsreihen sich unterscheiden lassen, das Verhältniss der Tetrasporengeneration zu der Geschlechts- generation sich stetig ändere. Eine andere Thatsache, warum den Florideen ein regelmässiges Alterniren einer Tetrasporengeneration mit einer Antheridien-Cysto- carp-Generation nicht zugeschrieben werden darf, besteht darin, dass, wenn auch die triöcische Vertheilung der drei Fortpflanzungsorganc die Regel ausmacht, doch in verschiedenen Ausnahmsfällen geschlecht- liche und ungeschlechtliche Fortpflanzungsorgane auf der nämlichen Pflanze gefunden wurden. Das Verhältniss dieser Organe zu einander muss also ein anderes sein als l)ei den Moosen und Gefässcryptogamen ; 448 VIII. Der Gonorationswcdiscl in onioi;enet. und ])liyloocnot. Beziehung. denn es wäre unmöglich, dass auf dem Vorkeim (Protliallium) eines Farnkrautes Tetrasporen oder auf dem Farnblatt Antheridien und Archegonien enständen. Der wichtigste Grund aber gegen die Gleichstellung der Tetra- sporengeneration der Florideen mit der Tetrasporengeneration der Moose und Gefässcryptogamen beruht darin, dass die Florideen bereits eine der letzteren entsprechende Generation haben. Dieselbe beginnt mit der Befruchtung und endigt mit der Bildung der Cystocarp- sporen. Das Sporogon der Florideen ist vollkommen demjenigen der Moose analog. Es gibt nun zwei Möglichkeiten , zwischen denen noch keine bestimmte Entscheidung getroffen werden kann. Nach der einen stimmen die Florideen im Generationswechsel genau mit den Moosen überein, so dass die Ontogenie ihrem wesentlichen und nothwendigen Begriffe nach durch die Antheridien- und Cystocarp-tragenden Pflanzen erschöpft ist. Die Tetrasporenbildung erfolgt dann mehr zufällig auf derjenigen Generation, die eigentlich die Geschlechtsorgane erzeugen sollte, und ist analog der Bildung von Brutkeimen auf den Spitzen von Blättern und Stengeln von Jungermannien. Dabei ist anzu- nehmen, dass die Tetrasporenbildung regelmässig die geschlechtliche Sterilität des Individuums zur Folge habe, wie dies häufig auch bei den Jungermannien der Fall ist.- Aus den Sporen der Kapselfrüchte müssten also sowohl männliche und weibliche als auch geschlechts- lose Pflanzen erwachsen, und das Gleiche wäre auch mit den Tetra- sporen der Fall. Es wäre ferner ganz begreiflich, dass es auch Flori- deen gibt, denen die Tetrasporen ganz mangeln (Lemaneaceen und Nemalieen). Die andere Möglichkeit besteht darin, dass der Generationswechsel der Florideen so beschaffen sei, wie bei vielen anderen Algen (Ulo- thrix, Oedogonium etc.) , dass nämlich auf mehrere Wiederholungs- generationen eine einzelne geschlechtserzeugende und eine androgyne Generation folge. Die Tetrasporenpflanzen stellen dann die Wieder- holungsgen erationen, und die Pflanzen, w^elche Antheridien und Cysto- carpien tragen, die geschlechtserzeugende Generation dar; aus den Cystocarpsporen können bloss Tetrasporenpflanzen, aus den Tetra- sporen aber entweder Tetrasporen- oder Antheridien-Cystocarppflanzen hervorgehen. Der Umstand, dass im allgemeinen die Tetrasporen- tragenden Pflanzen bei den Florideen viel häufiger sind als die mit \T^II. Der Generationswechsel in ontogenet. und i)hylogenet. Beziehung. 441' Geschlechtsorganen ausgerüsteten hätte, in dem Generationswechsel ihre natürliche Ursache. Dass die Wiederholungsgenerationen und die geschlechtserzeugende Generation vegetativ gleich entwickelt sind, erregt kein Bedenken, da dies auch bei den andern Algen eintrifft. Dass es Beispiele gibt, wo Tetrasporen mit Geschlechtsorganen auf dem nämlichen Individuum vorkommen , ist ebenfalls kein Grund mehr gegen die Annahme eines Generationswechsels, da auch bei Oedogonium die geschlechtserzeugenden Pflanzen noch Schwärm- sporen (das Fortpflanzungsproduct der Wiederholungsgenerationen) hervorbringen können. Die Vereinigung der geschlechthchen und ungeschlechtlichen Fortpflanzungsorgane auf dem nämlichen Indi- viduum würde also bei den Florideen ebenfalls nur bei der geschlechts- erzeugenden Generation möglich sein und den Wiederholungsgene- rationen maneeln. Der Generationswechsel wurde bis jetzt nach seinem ontogene- tischen Verhalten beprochen. Wir fragen uns nun, welche j^hy lö- ge netische Bedeutung ihm zukomme. Auf der alleruntersten Stufe des Pflanzenreiches sind die Generationen der einzelligen In- dividuen einander gleich. Eine Art der pliylogenetischen Entwick- lung besteht darin, dass durch innere Differenzirung und durch Anpassung an den Wechsel der Jahreszeiten beim Beginn der Ruhe- zeit eine andersartige Generation auftritt, die bis zum Beginn der folgenden Vegetationsperiode im ruhenden Zustande verharrt. Damit ist der Gegensatz zwischen der Reihe von Wiederholungsgenerationen, welche ein Stück der ursprünglichen endlosen Reihe darstellt, und der Uebergangsgeneration gegeben. Die letztere tritt gemäss ihrer Entstehung als Einzelgeneration und in der Form der Ruhe- spore auf. Der Unterschied zwischen den Wiederholungsgenerationen und der Uebergangsgeneration wird nach und nach grösser, — am grössten, wenn diese sich in männliche und weibliche Zellen diffe- renzirt und somit androgyn wird. Weicht die Uebergangsgeneration in bedeutendem Maasse ab, so wirkt sie auch auf die ihr zunächst vorausgehende und auf die ihr zunächst folgende Generation ein, die ebenfalls mehr oder weniger andersartig werden. Jene ist aus V. Xägeli, Abstammuiig.slelire. 29 450 VIII. Der Generationswechsel in ontogenet. und }>liylogenet. Beziehung. der letzten, diese aus der ersten der Wiederholungsgenerationen her- vorgegangen. Es wird nun also der Uebergang zwischen je zwei Reihen von Wiederholungsgenerationen durch 3 Einzelgenerationen gebildet, und die ontogenetische Periode hat die allgemeine Form A B,...B„ C D wenn D die androgyne Generation bedeutet. Ausser der soeben angeführten Differenzirung , welche mit der Anpassung an die Jahreszeiten zusammentrifft, spielt eine andere Differenzirung im Generationswechsel eine Rolle. Es tritt eine j)eriodische Ungleichheit zwischen den durch Zweitheilung sich ver- mehrenden Zellen einer Generationenreihe auf, meist in der Weise, dass eine Generation in dem Maasse an Dauer und Wachsthum zuninnnt, als die Periode der darauf folgenden Generationen darin beschränkt wird. Die Generationenreihe besteht nun also aus einer Reihe von (kürzeren oder längeren) Perioden; dies gilt auch für das obige Schema, in welchem für diesen Fall jedes Zeiclien nicht eine einzelne Generation, sondern eine Periode von Generationen bedeutet. Mit der zunehmenden Differenzirung geht die Periode von Zellen, die sich durch Zweitheilung vermehren, in eine einzige, viele Fortpflanzungszellen erzeugende Generation über (S. 403). Das Zustandekommen des Generationswechsels der einzelligen Pflanzen, wie er in dem obigen Schema ausgesprochen ist, wird durch die vorhandenen Beispiele, welche verschiedenen Stufen der Differenzirung angehören, klar begründet. Der nämliche Generations- wechsel findet sich auch bei den einfacheren Formen der mehr- zelligen Pflanzen. Für die Art und Weise, wie er liier zu Stande gekonniien ist, wird einer der möglichen Wege durch die Thatsachen ebenfalls unzweifelhaft angezeigt. Derselbe nimmt seinen Ausgang von den vorhin erwähnten Perioden, welche durch Differenzirung in der Generationenreihe einer Ontogenie von einzelligen Pflanzen entstehen. Denken wir uns eine einzellige Pflanze, welche wie Chlamj'do- monas zeitlebens schwärmt und Generationswechsel besitzt. Die Reihe der ursprünglich gleichen Wiederholungsgenerationen wird dann durch eintretende Ampliation und Differenzirung in Perioden geglie- dert, in der Art, dass einzelne Generationen ihre Schwärmbewegung Vin. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet. Beziehung. 451 liehalten, während die zwischen ihnen hegenden Perioden von Gene- rationen die Beweghchkeit verheren, mit einander erst lose, nachher fester verl)iinden l)leiben und schhesshch zu niehrzelhgen Individuen werden. Ist die phylogenetische Umwandlung fertig, so besteht die Ontogenie, statt aus einer Reihe von Perioden einzelliger Generationen, aus einer Reihe von eben so vielen mehrzelligen Individuen, die sich durch Schwärmzellen fortpflanzen. In der veränderten Ontogenie sind die der androgynen Generation vorausgehende und die ihr nach- folgende Generation (die geschlechtserzeugende und die geschlechts- erzeugte) ebenfalls mehrzellig, wie dies von ihrer nahen Verwandt- schaft mit den Wiederholungsgenerationen erwartet werden konnte. Dagegen ist die androgyne Generation noth wendig einzellig, da sie einer Einzelgeneration, nicht einer Periode von Generationen im onto- genetischen Cyclus der einzelligen Pflanze entspricht. Auf dem eben angegebenen Wege ist der Generationswechsel einiger mehrzelliger Algen entstanden; ich habe von denselben Ulothrix und Oedogonium als Beispiele angeführt (S. 432 — 433). An diese beiden Gattungen schliesst sich Volvox (S. 432, 444) unter den einzelligen Algen so nahe an , dass man letztere Gattung fast als mehrzellig betrachten könnte. — Die androgyne Generation, die bei Ulothrix und Oedogonium einzellig ist, kann durch weitere phylo- genetische Entwicklung mehrzellig werden, so dass dann der ganze Generationswechsel aus mehrzelligen Individuen besteht. Es gibt noch einen andern Weg, wie aus einzelligen Pflanzen ein Generationswechsel von mehrzelligen Individuen entstehen kann. Für diesen Weg liegen bei dem dürftigen Beobachtungsmaterial, das zur Zeit vorhanden ist, noch keine Stationen vor, die wirklich durch- laufen werden. Aber er lässt sich von seinem AusgangsjDunkte bis zu seinem Ziele verfolgen, indem man dazu keine anderen Vorgänge in Anspruch nimmt als solche, die erwiesenermaassen in der Natur vorkommen. Zuerst geht die ganze ontogenetische Reihenfolge einzelliger Generationen in ein einziges mehrzelliges Individuum über, wie dies in den Klassen der Schizophyten (S. 357, 393, 445) und Conjugaten (S. 445) so augenscheinlich vorkommt. Hatte die Ontogenie der ein- zelligen Pflanzen die durch Differenzirung erlangte Form A B,...B^ G D, 29* 452 Vin. Dei' Generationswechsel in ontogenet. und ])hylogenet. Beziehung. SO zeigt das daraus hervorgegangene Individuum in seiner vege- tativen Entwicklung die nämliche Form, indem aus der Spore zuerst eine eigenartige Zellgeneration (= A) hervorgeht, worauf eine Reihe von unbestimmt vielen gleichartigen Zellgenerationen {^^Bi . . . B„) und dann wieder eine andersartige Zellgeneration (= C) folgt, welche die Sporen (= D) erzeugt. Nahm bei der einzelligen Plianze der ontogenetische Cyclus von Generationen eine Vegetationszeit in Anspruch und ging die androgyne Generation als Dauerzelle in den Ruhezustand über, so füllt auch das Individuum der mehr- zelligen nianze eine Vegetationsperiode aus und bildet mit dem Ende derselben die Sporen zu Ruhesporen aus. Die durch Differenzirung und Anpassung entstandene Ruhe- sporenbildung ist als erbliche Erscheinung in der Folge nicht mehr nothwendig an den Wechsel der Jahreszeiten gebunden und kann zu beliebiger Zeit eintreten. Wenn nun durch Ampliation die ganze Entwicklung beschleunigt wird, so folgen während einer Vegetations- periode mehrere vielzellige Individuen mit Sporenbildung auf ein- ander, wie auch die Ontogenien von Vaucheria, Oedogonium u. A. sich während einer Vegetationszeit öfter wiederholen können. Die vielzelligen Individuen, die während eines Jahres auf einander folgen, sind ursprünglich gleich; es bildet sich dann durch neue Differen- zirung nach und nach ein Generationswechsel aus, worin die letzte Jahresgeneration sich andersartig verhält. Die Sporen der übrigen Generationen verlieren den Charakter von Ruhesporen gänzlich, ebenso ihre androgyne Beschaffenheit, indem sie nach Unterdrückung des männlichen Geschlechtes parthenogenetisch erzeugt werden. Ist die phylogenetische Umänderung vollendet, so folgt auf eine Reihe scheinbar geschlechtsloser Pflanzen eine Geschlechtsgeneration, welche Ruhesporen hervorbringt und die in ihren Merkmalen ebenfalls weiter fortgeschritten ist. Dieser Generationswechsel hat niemals eine ein- zellige Generation, kann übrigens in seiner allgemeinen Form ganz mit demjenigen übereinstimmen , dessen Entstehungsweise zuerst besprochen wurde. Das weitere Schicksal des also beschaffenen Generationswechsels mehrzelliger Pflanzen, er mag auf die eine oder andere Weise ent- standen sein , lässt sich nicht mehr Schritt für Schritt verfolgen. Die Beobachtung zeigt uns nur, dass derselbe auf den folgenden Stufen des Pflanzenreiches einfacher wird, dass zwei oder mehr Gene- Vni. Der Generationswechsel in ontogenet. und phylogenet Beziehung. 453 rationell der tieferen Stufe auf der liölieren Stufe in eine einzige Generation vereinigt zu sein scheinen , und dass zuletzt bloss noch zwei Generationen mit einander alterniren oder dass der Generations- wechsel ganz unterdrückt ist. Dabei sind augenscheinlich zwei phy- logenetische Processe thätig, nämlich 1. die Vereinigung früher ge- trennter Zellen zu einem Gewebe, wodurch die androgjme Generation mit der geschlechtserzeugten verschmilzt und die Wiederholungs- generationen zu einem Individuum mit Sprossgenerationen verwachsen, und 2. in andern Fällen die Reduction der (einander gleichen) Wieder- holungsgenerationen auf eine einzige. — Um das Einfacherwerden des Generationswechsels anschauHch zu machen, will ich die sicher bekannten Fälle schematisch zusammenstellen, indem die zu einem Individuum vereinigten Generationen in ( ) eingeschlossen, und indem wie früher die androg^^ne Generation mit D, die geschlechtserzeugte mit A , die Wiederholungsgenerationen mit Bi . . . B„ und die ge- schlechtserzeugende Generation mit C bezeichnet sind. 1. i> A B, . . . Bn C 2. {D -\-Ä) Bi . .. B„ C 3. {D-{-A-\-Bi . . .Bn) C 4. (Z» + .1 4- 5i . . . B„ + C) 5. (D-iA) {B,...Bn+C) 1. Ulothrix, Oedogonium. 2. Vaucheria. 3. Acetabularia, 4. Ohara, Fucus, Ectocarpus. 5. Moose, Gefässpflanzen. Aus dem, was man bis jetzt sicher über den Generationswechsel im Pflanzenreiche weiss, geht dessen phylogenetische Bedeutung deutlich hervor. Er ist der Uebergangszustand von einzelligen zu vielzelligen und von einfacheren vielzelhgen zu complicirteren viel- zelligen Pflanzen. Der Vorgang besteht immer darin, dass die Generationen, die auf der unteren Stufe gleich sind, auf der höheren Stufe durch Differenzirung und Anpassung ungleich werden und einen Generationswechsel darstellen, und dass auf noch höheren Stufen diese ungleichen Generationen des' ontogenetischen Cyclus sich zu einem innerlich gegliederten Individuum vereinigen, indem also der Generationswechsel zu einem Wechsel in der' vegetativen Entwicklung wird. 454 VIII. Der Generationswfchsel in outogenet. und phylogenet. Beziehung. Als Folge des phylogenetischen Umwandlungsprocesses ergibt sich, dass die morphologische und physiologische Bedeutung des Pflanzenindividuums auf den successiven Stufen einer Abstammungs- linie sich stetig ändert, und dass die Theile, die anfänglich ihre volle Selbständigkeit besitzen, später immer weniger selbständig werden, indem sie auf der ersten Stufe ihrer Existenz vollständige Pflanzen sind und dann von Stufe zu Stufe einen kleineren Theil des Pflanzen- individuums ausmachen. Dies lässt sich am anschauliclisten für die Zelle nachweisen; es gilt aber ebensowohl für vielzellige Theile. IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. Die naturgeschichtlicheii Disciplinen sind in der Neuzeit zu der Einsicht gelangt, dass irgend eine Erscheinung nur dann sicher erkannt werden kann, wenn man ihre Entstehungsweise erforscht. Es ist dies eigenthch nichts anderes als eine Anwendung des viel allgemeineren Axioms, dass die erste und unerlässliche Bedingung zur Erkenntniss eines Dinges in der Erforschung seiner Ursachen besteht. Die Entwicklungsgeschichte jedoch bildet nur den ersten Schritt und die unumgängliche ^Voraussetzung, um zu einer causalen Einsicht zu gelangen. Sie ist, wie man \ielfach übersehen hat, nicht etwa schon die Erfüllung jener allgemeinsten Forderung. Denn wenn ich auch schon genau weiss, wie etwas geworden ist, so weiss ich desswegen noch nicht, warum und w^odurch es geworden ist. Aljer auch die rationelle Forderung nach Entwicklungsgeschichte ist, wenigstens bezüglich des Pflanzenreiches, fast allgemein unrichtig aufgefasst worden, indem man darunter allein das Werden des Indi- viduums verstanden hat. Es unterliegt nun keinem Zweifel, dass, wenn man eine Erscheinmig, l)eispielsweise ein einzelnes Organ oder eine Zusammenordnung von Organen, von den kleinsten Anfängen, im günstigsten Falle von der ersten Zelle aus, Schritt für Schritt ver- folgen kann , man über vieles aufgeklärt wird , was bei ausschliess- licher Beobachtung des entwickelten Zustandes verborgen bleibt. Allein man sollte nicht übersehen , dass damit das eigentliche Ent- 456 I^X. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften stehen und die wirkliche genetische Bedeutung nicht erforscht sind. Im Individuum kommen grossentheils bloss Anlagen zur Entfaltung, die durch Erbschaft von den Vorfahren erhalten wurden. Dies gilt von allen individuellen Erscheinungen, die eine Entwicklungsgeschichte haben. Zwar ist ja jedes Individuum am phylogenetischen Fort- schritt betheiligt ; allein sein Antheil ist so winzig klein , dass er bei solchen Untersuchungen vollständig vernachlässigt werden kann. Um die genetische Bedeutung irgend einer Erscheinung zu er- fassen, muss man sie also in den Abstannnungsreihen zurück- verfolgen bis da, wo sie begonnen hat. Kann dies mit Hülfe der Beobachtung und der Combination geschehen, so ist auch die Mög- lichkeit gegeben, die Ursachen der Erscheinung zu erkennen, ob es innere (Vereinigung getrennter Theile, Complication) oder äussere (Anpassung an irgendwelche äussere Einflüsse) sind. Zur Zeit als man die Entwicklungsgeschichte noch nicht als Disciplin kannte, suchte man durch vergleichende morphologische Betrachtung der fertigen Zustände die systematische Bedeutung einer Erscheinung zu bestimmen, und es haben in dieser Beziehung besonders C. Schim- per, A. Braun und Wydler sehr werth volle Ergebnisse erlangt. Als dann die Entwicklungsgeschichte nicht nur in bewusster Weise als wissenschaftliche Forderung, sondern eben so sehr in unbewusster Weise als Modesache betrieben wurde, kam sie oft in Conflict mit der früheren vergleichenden Morphologie. Statt beide Methoden in rationeller Weise zu vereinigen, glaubten die Neuerer, dass die Ent- wicklungsgeschichte allein ausreichend sei , und dass sie sich über die vergleichende Behandlung, die ja auch mehr Kenntnisse, mehr Arbeit und Nachdenken erforderte, hinwegsetzen könnten. Der Gegensatz trat nur im Gebiete der Phanerogamen recht auffallend zu Tage, da eigentlich bloss hier sich eine vergleichende Morphologie ausgebildet hatte, und war besonders für die Auffassung des Baues der Blüthe und des Blüthenstandes von Wichtigkeit. Mit Hülfe der ontogenetischen Entwicklungsgeschichte Hessen sich die Phyllome (Blätter) und ebenso die Caulome (Sprosse) bis auf kleine ZcUhöcker zurück verfolgen. Damit konnte man nun allerdings Blüthe nnd Blüthenstand einer Pflanze für sich und unabhängig von anderen Pflanzen besser als bisher construiren. Man konnte auch die unter- scheidenden Merkmale zwischen dieser Pflanze und jeder andern in gleicher Weise untersuchten vollständiger als bisher angeben. Aber IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 457 höher hinaus reichte die neue Methode nicht, und es war eine ge- dankenlose Ueberhebung, wenn man weiter gelien und vei'\van\...£,. + (7) [I)-\-Ä). Die Frage ist nun, ob die Generationenreihe von Coleochaete B^ . . . B„ -\- C phylogenetisch in eine einzige Generation, mit anderen IX. Morphologie und Systematik als jihylogeiietisehe Wis^seuschaften. 473 Worten in das Thallom der Lebermoose übergehen könne. Dies stellt sich uns nach dem , was wir aus anderen Fällen wissen, als ganz unwahrscheinlich dar. Es konnnt zwar häufig vor, dass auf der niederen Stufe die Ontogenie aus einer grösseren, auf der höheren Stufe aus einer geringeren Zahl von Generationen besteht. Der Uebergang geschieht aber dadurch, dass die Generationen vereinigt bleiben und ein vergrössertes Individuum darstellen. So wird aus einer Generationenreihe einzelliger Pflanzen eine einzige ^äelzellige Pflanze. Es ist mir nun kein sicheres Beispiel dafür bekannt, wie eine Generationenreihe vielzelliger Individuen zu Einem Indi- viduum sich umbildet. Sehr j^lausibel wäre der Uebergang in eine Pflanze mit einer Mehrzahl von Sprossgenerationen, indem jede Generation der niederen Stufe zum Spross der höheren Stufe würde. In dem vorliegenden Falle aber müsste eine ganze Reihe von Coleo- chaetethallomen zu einem einzigen denselben ähnlichen Lebermoos- thallom werden, was nur durch Reduction geschehen könnte. Ob nun die Verminderung einer Generationenreihe auf eine einzige Ge- neration wirklich durch Reduction erfolgen kann , lässt sich wohl noch nicht sicher entscheiden, ist aber nicht gerade wahrscheinlich. M^'enn dies aber bei Coleochaete geschehen sollte, so müsste ihr Thallom zugleich in dasjenige eines Lebermooses sich umbilden, ein phylogenetischer Process , dessen Möglichkeit sich wohl ebenfalls- noch nicht beurtheilen lässt. Ohne hierüber in eine Besprechung einzutreten, will ich bloss bemerken, dass mir, wenn ich alle L'^m- stände berücksichtige , die Entstehung des Lebermoosthalloms aus einer Ulothrix-ähnlichen Pflanze viel wahrscheinlicher vorkommt. Was die Abstammung des Moosarchegoniums aus dem Oogonium von Coleochaete betrifft , so ist die Berindung des letzteren , da sie erst nach der Befruchtung entsteht und eine andere morphologische Bedeutung besitzt, eher ein Grund gegen jene Abstammung; denn die fragliche Berindung hätte bei der j^hylogenetischen Umwandlung wieder verschw^nden müssen. Aber auch die Umwandlung des Oogoniums in das Archegonium muss ich nach phylogenetischen Gesetzen für unmöglich halten, wenn es mir auch wahrscheinlich ist, dass die halsartige Verlängerung bei beiden durch analoge Ur- sachen herbeigeführt AMirde. Für die Abstammung der Lebermoose möchte ich im Anschluss an sichere bekannte Vorgänge folgende A^erniuthung aufstellen. Die 474 I^- Mori>hologie und Systeiiuitik als pliylogenetisclie Wissensfliaftfii. ZU den Algen gehörende Ahnensippe hatte aussenständige einzeUige Sporangien, von denen die einen männüche, die anderen weiljhche Schwärmsporen in grösserer Zahl erzeugten. Durch das Zusammen- wirken zweier phylogenetischer Processe, nämlich durch das Streben nach Differenzirung und nach Vereinigung, wurden die männlichen Sporangien zu Antheridien, die weiblichen zu Archegonien. Bei beiden ging die Schwärmsporenbildung, indem die Zelltheilung durch Amplia- tion zunahm, zum Theil in den vegetativen Zustand über, wobei die unteren und äusseren Zellen zu Stiel und Wandung wurden und nur die inneren, einer späteren Zellgeneration angehörenden Zellen ihren reproductiven Charakter beibehielten. Damit hatten die An- theridien im Avesentlichen den Bau erreicht, den sie bei den Moosen besitzen. Die weiblichen Organe aber mussten überdem , um zu Moosarchegonien zu werden, die Zahl der Schwärmsporen auf Eine reduciren und diese zur grossen und unbeweglichen Eizelle machen, abgesehen von der Bildung des Halses, welche durch andere Vorgänge zu Stande kam. Die Ahnensipj)e musste ferner einen Generationswechsel ohne Wiederholungsgenerationen besitzen: die geschlechtliche Pflanze er- zeugte männliche und weil »liehe Schwärmsporen ; die befruchtete Eizelle theilte sich in mehrere Ruhesj)oren. Der Generationswechsel war also übereinstimmend mit dem der Moose, mit dem Unterschiede, dass aus der befruchteten weiblichen Zelle nicht ein Sporogonimn, sondern unmittelbar die Sporen entstanden. Dass dies so sein musste, dafür gibt es zwei Gründe, die aus der Entstehung und aus der Weiterbildung der Ahnensippe entnommen sind. Wenn wir von unten zu der Ahnensippe zu gelangen suchen, so musste sie wohl aus einer Confervoide entstehen, die einen Gene- rationswechsel wie Ulothrix hatte und deren Zygosporen mehrere Schwärmzellen erzeugten. Alle Generationen mit Ausnahme der androgynen vereinigten sich dann zu einem Individuum ; damit gingen nothwendig die von dieser androgynen Generation erzeugten Schwärmsporen in RuhesjDoren über. Suchen wir von oben zu der Ahnensippe zu gelangen, so ist der Umstand enscheidend, dass, sowie wir in der Abstamnmngslinie rückwärts gehen , von den Phanerogamen und Gefässkr3^ptogamen zu den Moosen die sporenerzeugende Generation an Grösse und Dauer abnimmt, indem sie dort ein sporangientragender Pflanzenstock, IX. Morpholo.uie imd 8ysU'iiiatik als phylogfiictisclic Wissenschaften. 475 hier nur noch ein Sj)orangium ist. Auf früheren Stufen niusste die sporenbildende Generation noch kleiner, auf den frühesten eine einfache sporenbildende Zelle sein. Der Fortschritt vom einzelligen Sporangium der Ahnensippe zum Sporogonium der jNIoose vollzieht sich in ähnlicher Weise, wie ich sie für die Bildung der Antheridien und Archegonien in Anspruch genommen ha]:»e. Die in der befruchteten Eizelle beginnende Zell- theilung nimmt durch Ampliation zu ; durch das Bestreben zur Differenzirung und zur Vereinigung der früher getrennten Zellen werden die unteren und äusseren Zellen vegetativ, indem nur einer Gruppe von iimeren Zellen die Sporenbildung bleibt. Beträchtlich länger und auch schwieriger zu construiren ist der Weg von den Leijermoosen zu den Gefässkryptogamen. Während die geschlechtliche Generation auf diesem Wege mehr oder weniger reducirt wird, erfährt die sporenbildende Generation eine ganz ge- waltige Bereicherung, die sich indess durch die phylogenetischen Vorgänge der Ampliation, Differenzirung und des Vegetativwerdens der reproductiven Erscheinungen erklären lässt. Am meisten Schwierigkeiten machen, wenn wir die Umbildung des Moossporogons in den Stengel der Gefässpflanzen nicht l)loss oberflächlich in Bausch und Bogen sich vollziehen lassen, sondern Schritt für Schritt genau verfolgen , die allerersten Schritte. Das Sporogon ist seiner morphologischen Bedeutung nach jedenfalls noch kein Caulom (Stengel), denn dieses setzt Phyllome (Blätter) voraus, welche es seitlich an seiner Spitze erzeugt. Richtiger vergleichen wir es mit dem Thallom vieler Lebermoose selber und der Algen. Es ist sonach schon von vornherein aus phylogenetischen Gründen gar nicht unwahrscheinlich , dass auch die Gefässpflanzen in ihrer Abslammungslinie zuerst ein Thallomstadium durchmachten und dasselbe auch jetzt noch in ihrer Ontogenie durchlaufen. Ich komme hier auf die nämliche Vermuthung, die ich schon früher aus rein ontogenetischen Gründen ausgesprochen habe, dass das erste Stadium einer phanerogamen Pflanze, nämlich das Stengelchen des Embrj^os sammt den Samenlappen, ein Thallom sei. Es gibt Lebermoos- sporogonien, welche genau die gleiche Zelltheilung besitzen, wie die Embryokugel von Capsella. 470 IX. I\Iori)hologie und Systematik als pliylogeuetische Wissenscliaften. Schon innerhalb der Gruppe der Lebermoose vollzieht sich eine Fortbildung des Sporogons, welche für unsere Betrachtung von Wichtigkeit ist. Dasselbe bildet nämlich auf der untersten Stufe in seinem ganzen Innern Sporen; auf der höheren Stufe verlängert es sich und verwendet bloss eine kleine obere Partie des Gewebes für die Fortpflanzung. Es ist nun denkbar, dass später auch dieser Rest vegetativ wird und dass das Sporogon als eine Sprossbildung seitlich an der Spitze sich bildet ; ferner dass dieses Sporogon durch weitere Umbildung in der sogleich zu erörternden Weise zum blätter- tragenden Stengel wird. In diesem Falle hätten wir als erstes Product aus der befruchteten Eizelle der Gefässpflanzen einen thallomartigen Embryo, aus dem ein beblätterter Stengel als zweite Sprossgeneration entspringt. Es ist wahrscheinlich, dass es Abstammungslinien des Moos- sporogoniums gab, welche bloss ein durch Sprossung sich ver- mehrendes Thallom besassen, und dass die Lemnaceen noch Ueber- bleibsel solcher Bildungen sind. Es ist aber andrerseits auch denkbar, dass das thallomartige Sporogon, indem es vegetativ wird, unmittelbar (nicht erst durch seitliche Sprossung) zum blättertragenden Stengel sich verlängert, so dass der daraus hervorgehende Spross am Grunde Thallomnatur besitzt und weiter oben zum Caulom wird. Das ist ja nichts uner- hörtes; denn an dem Protonema der Moose gibt es einzelne Aeste, welche, nachdem sie einen aus mehreren Gliedern bestehenden proto- nematischen, also thallomartigen Fuss gebildet haben, eine anders- artige Zellbildung in der Scheitelzelle beginnen und als directe Fortsetzung das blättertragende Moosstämmchen erzeugen. Hiezu können wir uns daran erinnern, dass in der Gruj^pe der Laubmoose das Sporogonium sich noch weiter bildet als es bei den jetzt bekannten Lebermoosen der Fall ist, indem das Längenwachs- thum wenigstens in einem späteren Stadium durch alternirend-schiefe Theilung der Scheitelzelle erfolgt und auch Verzweigung als Aus- nahmsfall schon vorkommt. Diese Thatsachen zeigen uns, dass die Moose ihre idioplasmatischen Anlagen, nämlich Längenwachstlmm durch schiefe Theilung der Scheitelzellen und Verzweigung, auch auf das Sporogon ül)ertragen können. Tritt die Verzweigung ver- einzelt auf, so erscheint dieselbe als Sprossung und kann, wie vorhin angenommen wurde, seitlich unter dem Scheitel ein Sporogon bilden. IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 477 Tritt sie aber in Folge von Ampliation regelmässig und in Gemein- scliaft mit fortgesetztem Scheitelwachstlimn auf, so ist es begreiflich, dass sie in den der Scheitelzelle jeweilen zunächstliegenden Zellen, nämlich in den Segmentzellen, mit schiefen Theilungen l)eginnt, in analoger Weise, wie die erste schiefe Theilung im Moossporogonium in der Zelle statthat, welche den Scheitel einnimmt. Mit dem fortgesetzten Längenwachsthmn des Sporogons rückt der sporenbildende Theil desselben hinter dem Scheitel in die Höhe, so dass daraus ein gestieltes Sporogon wird. Die seitlichen Zweige werden ebenfalls fruchtbar und bilden sicli zu sitzenden Sporogonien aus. Es entsteht also ein ährenförmiger Sporogonienstand, der die directe Fortsetzung, oder wenn, wie zuerst angenommen wurde, durch Sprossung ein laterales Sporogonium sich bildete, die seitliche Fortsetzung des ursprünglichen thallom artigen Körpers ist. Ob das eine oder andere erfolgt, dürfte davon abliängen, ob dieser Körper, nämlich das ursprüngliche Sporogon, eine einzige Scheitelzelle oder eine Mehrzahl gleichwerthiger Zellen am Scheitel besass. Beim weiteren phylogenetischen Fortschritt wird durch Amplia- tion, Diiferenzirung und Reduction der ährenförmige Sporogonien- stand, welcher als das erste phylogenetische Stadium gelten mag, länger, die seitlichen Sporogonien nehmen an Zahl zu, das terminale Sporogon schwindet, so dass die sterile Spindel nun ein fortgesetztes Längenwachsthum erlangt. Ferner vergrössern sich die Sporogonien, indem sie theilweise in den vegetativen Zustand übergehen. Diese seitlichen Sporogonien zeigen nun einen ähnlichen phylogenetischen Entwicklungsgang, wie das ursprüngliche Sporogon; ihr Haupt- körper, der nur noch an einzelnen Stellen Sporogonien erzeugt, wird überdem durch Anpassung blattartig. Die zweite Stufe ist also ein unverzweigter belilätterter Stengel ; die noch höchst einfach gestalteten Blätter sind alle gleich und sporogonientragend ; die Sporogonien be- finden sich an verschiedenen Stellen des Blattes, auf der Rückseite, am Rande, auf der Bauchseite, auch einzeln am Grunde der Bauch- seite. In der Abstammungslinie der Lycopodiaceen mag diese Stufe grosse Aehnlichkeit mit einem unverzweigten Lycopodium Selago gehabt haben. Wenn auch die Sporogonien bei den meisten Selaginellen nicht wie bei Lycopodium aus der Blattbasis, sondern dicht über den Blättern aus dem Stengel zu entspringen scheinen, so muss ich sie 47<^ I^- ^lorphologie und Rysteniatik als plnioo-enetische Wissenschaften. doch für blattständig halten , denn ein Theil des morphologischen Blattes (im Gegensatz zum äusserlich erkemibaren) ist jedenfalls in das Gewebe des Stengels eingesetzt, wie ich schon früher bemerkt habe und wie sich aus den verkümmerten Blättern von Psilotum ergibt (f in Fig. 24 c auf S. 413). Das die sichtbare Blattbasis zunächst umgebende Gewebe der Stengeloberfläche gehört also höchst wahr- scheinlich dem Blatte an und trägt bei Selaginella die Sporogonien. Für diese Deutung spricht auch ganz entschieden die nahe phylo- genetische Verwandtschaft zwischen Lycopodium und Selaginella. Eine der möglichen phylogenetischen Weiterbildungen, die von der zweiten Stufe aus erfolgen , besteht darin , dass der Stengel, nachdem er eine grössere oder kleinere Zahl von Blättern gebildet hat, seitlich am Scheitel über dem obersten Blattanfang einen Ast bildet oder sich dichotomisch theilt, worauf er weiter wächst, um später die acrogene Verzweigung zu wiederholen. Diese dritte Stufe hat, wenn sie sich auf der Abstammungslinie der Lycopodiaceen befindet, schon grosse Aehnlichkeit mit dieser Familie. Eine andere Fortbildung der zweiten Stufe geschieht dadurch, dass das Sporogon vegetativ wird und dass sich — was auf dieser Stufe die naturgemässe Art des Vegetativwerdens erscheint — ; an seiner Stelle eine Knospe bildet, die in einen beblätterten Stengel auswächst. Vorzüglich waren es die Blätter mit axillaren Sporo- gonien (wie bei Lycopodium und Selaginella), welche die Fähigkeit zur Reproduction gegen diejenige, axillare Knospen zu bilden, ver- tauschten. Damit ist die axillare oder phyllogene Verzweigung ge- geben, welche principiell von der acrogenen verschieden ist. Ob die letztere den dichotomischen oder monopodialen Charakter an- nehme, ist von untergeordneter Bedeutung und vielleicht bloss eine nachträgliche ungleiche Fortbildung ursprünglich übereinstimmender Anfänge. Die acrogene Verzweigung kommt bei den meisten Gefässkrypto- gamen , die j)liyllogene bei den Phanerogamen vor. Die letztere wurde zuerst wohl so geregelt, dass die oberen Blätter am Stengel reproductiv blieben, die unteren aber Aeste (resp. Knospen) erzeugten, so dass Stengel und Aeste in endständige sog. Fruchtähren aus- gingen (wie dies unter den acrogen verzweigten Pflanzen bei Lyco- podium vorkommt), aus welchen dann später durch mehrfache Diffe- renzirungen in den l^lättern die terminalen Blüthen sich ausbildeten. IX. Morphologie und Sj'steiiiatik als phylogenetischo Wissenscliaften. 470 Das Schwinden eines Si)orogons hatte nicht noth wendig (he Folge, dass an seiner Stelle die Fähigkeit, eine Knospe zu hilden, sich einstellte. A^ielmehr seheint die phyllogene Verzweigung zu der acrogenen imVerhältniss der Ausschliessung zu stehen. Pflanzen, denen die letztere zukommt, entbehren gewöhnhch der ersteren und umgekehrt. Am ausgesprochensten findet sich die acrogene A^er- zweigung bei Lycopodiuni und Selaginella vor, wo die Axillaräste fehlen. In der Gruppe der Farne kommt acrogene und phyllogene Verzweigung vor, letztere aus allen Theilen des Blattes, wie auch die Sporogonien überall am Blatte stehen können. Die Equisetaceen und die Phanerogamen besitzen allgemein die blattbürtige Verzwei- gung, während ihnen die acrogene mangelt. Bei der Abstammung der Gefässpflanzen von den Moosen und Algen kommen bloss ganz allgemeine Sippen in Betracht. Wir können weder l)estimmte Confervoiden, noch bestimmte Lebermoose, noch bestimmte Gefässpflanzen in die Abstammungshnie einsetzen; denn dies würde das Vorhandensein einer Unzahl von vermittelnden Formen in der jetzigen Pflanzenwelt, die als TyjDcn dienen konnten, voraussetzen. Selbst in Gebieten, wo dem Anschein nach eine Menge aller möglichen Formen uns zugänglich ist, wie z. B. in der Gruppe der Phanerogamen, lassen sich keine phylogenetischen Reihen fest- stellen , weil dieselben einen genau bestimmten Charakter haben müssten und weil dafür die uns bekannten Beispiele lange nicht ausreichen. Dagegen bieten die Phanerogamen einen Ueberfluss von That- sachen, um die phylogenetische Entwicklungsgeschichte der einzelnen Merkmale zu studiren. Das Princip ist natürlich das nämliche wie für den stufenweisen Fortschritt eines phylogenetischen Stammes, nur mit dem Unterschiede, dass beim letzteren immer alle seine Merkmale bezüglich ihres stillstehenden oder fortschrittlichen Ver- haltens zu berücksichtigen sind. — Ich will die wichtigsten Merkmale der Phanerogamen der Reihe nach mit Rücksicht auf ihre phylo- genetische Ausbildung betrachten. Es sind ausschliesslich Eigen- thümlichkeiten des äusseren Baues, wie sie bisher stets von den Systematikern für die Beschreibung benutzt wurden. Der innere 480 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. Bau gibt bis jetzt nur wenige systematisch l^raiichbare Merkmale, und diese eignen sich noch keineswegs für eine phylogenetische Betrachtung. A, B, C. Aufbau des Pflanzenstockes. Auf der untersten Stufe sind die ^''erzweigungen uu regelmässig und unlx'stimmt; jeder Caulomspross ist mit Laubblättern besetzt und endigt normal in eine Blüthe. Im weiteren phylogenetischen Verlaufe scheiden sieh zwei gleich werthige Typen Ai und Bi aus. Ai. Die Verzweigung ist untergipflig und geschieht in der Art, dass je die Hauptstralden länger werden und sich stärker verzweigen als ihre Seitenstrahlen. Das Entwicklungsvermögen nimmt also in den successiven Strahlonordnungen stetig alx Dies ist der racemöse oder botrytisclie Typus in seinen ersten noch durchaus belaubten Anfängen. Ji,. Die Verzweigung ist übergipflig, indem die Seitenstrahlen je über die Hauptstrahlen hinauswachsen , so dass also das Ent- wicklungsvermögen von einer Strahlenordnung auf die folgende un- geschwächt übertragen wird und in dieser somit länger andauert. Dies ist der cymöse Typus in seinen ersten noch l^elaubten Anfängen. Es sind stets die obersten Zweige einer Ordnung, welche das stärkste Entwicklungsvermögen besitzen. Ich will zuerst die iDhylogenetische Fortbildung von .4, ver- folgen. Aus dieser ersten Stufe gehen nach einander die folgenden Stufen A-,, A., A,, A;, hervor. A.. Dm'ch Differcnzirung werden die obersten Theile der Ver- zweigung von Ai zur Hochblattregion. Diese Veränderung erstreckt sich mehr oder weniger weit nach unten ; der Uebergang von den Hochblättern in die Laubblätter der unteren Partien erfolgt zuerst allmählich, in den späteren phylogenetischen Stadien plötzlich. Die Laubblattcaulome endigen auf dieser Stufe in einen geschlossenen, rispigen Blüthenstand. ■ — Ranunculus , Rosaceen , Alisma Plan- tago etc. A-^. Durch Reduction werden die j^rimären Seitenstrahlen der terminalen Inflorenscenz von A-. einblüthig, so dass nun also die Laubblattcaulome in einfach traubige oder ährige Blüthenstände aus- gehen. Durch weitere Differcnzirung werden dieselben doldig oder kopfförmig. Durcli Verkümmerung der Eiidblüthe wird früher oder IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 481 später die Inflorescenz ungeschlossen. — Cruciferen, Scrophularia- ceen part., Compositen part. etc. Der Uebergang kann in doppelter Art stattfinden. Entweder verkümmert die Endblüthe, ehe die Reduction der Seitensprosse auf einfache Blüthen vollendet ist, so dass der Blüthenstand den Bau von Fig. 19 b auf S. 384 hat (Labiaten, Scrophulariaceen part., Aco- nitum, Delphinium). Oder der Blüthenstand behält seine Endblüthe, bis die genannte Reduction vollendet ist (Campanulaceen). Ä^. Die allgemeine, unter den Inflorescenzen befindliche Ver- zweigung in der Stufe A3 geschah durchaus in der Laubblattregion. Durch Differenzirung werden die obersten Aeste zu Hochblattcaulomen ; es vollzieht sich die nämliche Umwandlung wde in A., so dass nun die Laubblattsprosse in einen zusammengesetzten Blüthenstand ausgehen. Die Hauptverzweigung desselben ist ursprünglich, ihrer Entstehung aus Ä^ gemäss, eine untergipflige Rispe ; im phylogene- tischen Verlaufe kann sie sich in eine gleich- oder in eine über- gipflige Rispe umbilden. — Compositae part. , rispige Gramineen, Cyperus. J-5. Die seitlichen Hochblattäste von Äi werden, abgesehen von ihrer terminalen Inflorescenz, durch Reduction unverzweigt, so dass der allgemeine Blüthenstand aus dem rispigen in den traubigen und ährigen Bau übergeht, also eine gleiche Fortbildung zeigt wie von Äi zu Äi, wobei der Hauptstrahl ursprünglich in einen ein- fachen Blüthenstand endigt, im phylogenetischen Verlaufe aber durcli Verkümmerung desselben blind aufliören kann. — Aehrige Grami- neen wie Triticum, Lolium. Sind die besonderen Blüthenstände von J.^ doldig oder kopf- förmig, hat also die Pflanze, wie sich aus diesem Umstände ergibt, dieNeigung, ihre obersten Internodien zu verkürzen, so tritt leicht eine Häufung der oberen Aeste des allgemeinen Blüthenstandes ein. Werden dieselben durch Reduction un verzweigt, so entstehen die der zusammengesetzten Aehre gleichw^erthigen Inflorescenzen: die zusammengesetzte Dolde (Umbelliferen) und der zusammengesetzte Kopf (Echinops, Vernoniaceen). Bei allen diesen Umbildungen endigt der Hauptstrahl ursprünglich in einen besonderen Blüthenstand und kann im phylogenetisclien Verlaufe durch Verkümmerung desselben blind ausgehen. Durch Rückschlag kommt die verloren gegangene terminale Blüthe sowolil V. Nägeli, Abstammungslehre 31 482 I^- Morphologie und Sj'steniatik als pliylogenetisdie Wissenschaften. in den besonderen Blüthenständen als im allgemeinen Blüthenstand wieder zmn Vorschein (Umbelliferen). Die phylogenetischen Entwicklungen von Bi erfolgen in analoger Weise, wie die eben betrachteten von Ä^ , so dass ich mich hier kürzer fassen kann. Bi. Die laubige übergipflige Rispe von Bi erfährt die nämliche Fortbildung, wie sie beim Uebergang von Ai zu Ä., stattfindet, indem der oberste Theil der Verzweigung durch Differenzirung zum hoch- blatttragenden Blüthenstand wird, wobei wie in i», je die obersten Strahlen einer Ordnung am längsten werden und sich am stärksten verzweigen. B3. Durch Reduction schwinden in B2 die unteren Strahlen einer Ordnung und es bleiben bloss die obersten und entwicklungsfähigsten in der Zahl von 1, 2 oder mehreren, ziemlich gleich hoch inseriiten übrig. Die übergipflige Rispe verwandelt sich in das Pleiochasium, Dichasium, Monochasium. Die heutige Morphologie geht bei der Darlegung der Blüthenstände von den sogenannten einfachen Inflorescenzen wie z. B. Traube und Dichasimn aus und leitet daraus die zusammengesetzten ab, zu denen auch die Rispe gehören soll. Dies ist jedenfalls nicht der phylo- genetische Entwicklungsgang; denn aus dem in eine Blüthe endi- genden Blüthenstiel kann gewiss nie ein Blüthenstand sich entwickeln. Wenn wir einfache und zusammengesetzte Inflorescenzen unterscheiden wollen, müssten wir einfach diejenige nennen, die aus gleichen Strahlen besteht , zusammengesetzt diej enige , die aus verschie- denen Strahlen zusammengesetzt ist; dann wäre die Rispe ein ein- facher, die Traube ein zusammengesetzter Blüthenstand. In diese Lehre kann überhaupt erst dann volle Klarheit kommen, wenn sie nach phylogenetischer Methode bearbeitet wird. Alle phylogenetische Entwicklung geht aber von dem undifferenzirten, unbestimmten und der Zahl nach mehrfachen aus; und dieses ist bezüghch der Ver- zweigung die Rispe. C. Die beiden phylogenetischen Reihen, die in A und B be- trachtet wurden , haben das gemeinsam , dass das laubblatttragende Caulom in eine Blüthe oder einen Blüthenstand endigt. Zu ihnen gehört die grosse Mehrzahl der Phanerogamen. Indessen gibt es eine Minderzahl, bei welchen die Laubblattsprosse unbegrenzt fort- wachsen oder auch jedes Jahr durch einen mit Niederblättern begin- IX. Morphologie und Systematik als i>hylogenetische Wissenschaften. 483 nenden Trieb sich verlängern und die Blüthen oder Blüthenstände seitlich tragen. Man könnte meinen, dass diese unbegrenzten Laub- blattcaulome eine ursprüngliche Bildung seien, und vom phylogene- tischen Gesichtspunkte aus wäre dies ganz gut denkbar. Indessen erweist sich die Annahme für die meisten Fälle als unmöglich, weil bei nächst verwandten Pflanzen, die höchst wahrscheinlich von gleicher Abstammung sind, die Laubblattsprosse durch Blüthen oder Blüthenstände begrenzt werden. Wir können uns nun recht gut vorstellen, dass jede Stufe der Reihe A sich phylogenetisch zu unbegrenzten Laubblattsprossen um- wandelt. Am leichtesten freilich geschieht es bei der Stufe A^ und überhaupt bei denjenigen Formen, wo die Laubblätter am höchsten hinaufreichen. Der Vorgang ist folgender: Der Hauptspross, der ohnehin eine grössere Entwicklungsfähigkeit besitzt als die von ihm seitlich erzeugten Strahlen, steigert sein Wachsthum vermöge der nun platzgreifenden Ampliation immer mehr und wird, indem durcli einen andern phylogenetischen Process die Hochblätter und Blüthen- blätter, die er trägt, vegetativ und zu Laubblättern werden, zuletzt unbegrenzt, wobei er selbstverständlich auch die Fähigkeit erlangt, seitliche unbegrenzte Laubblattcaulome zu erzeugen. Die übrigen Seitenstrahlen gehen, je nach der Stufe, von welcher die phylogene- tische Abzweigung erfolgt ist, durch Reduction entweder in achsel- ständige Blüthen (Viola, Tropaeolum) oder in axillare Blüthenstände (Papilionaceen, Plantago) aus. Der hauptsächlichste phylogenetische Fortschritt, den die ganze vorstehende Auseinandersetzung darzulegen sucht, besteht darin, dass das Gerüste der Gefässpflanzen anfänglich aus gleich werthigen Strahlen 1)esteht, indem jedes Caulom unten Laubblätter und am Ende Blüthen- blätter trägt, also in eine Blüthe ausgeht, und dass das Caulom- gerüste auf den folgenden Stufen aus 2, 3 und 4 Strahlen von ver- schiedener Werthigkeit zusammengesetzt ist. Diese Werthigkeiten \\airden im »Mikroskop« (IL Auflage S. 594 und 620) als Rangstufen und die verschiedenen Pflanzen als 1-, 2-, 3- und 4 stufige (statt der unpassenden Benennung 1 — 4 axige) bezeichnet. Ich habe diese Aus- drücke jetzt vermieden, um keine Verwechslung mit den phylo- genetischen Stufen zu veranlassen, und will sie in der Folge haplo- caulisch, diplo-, triplo-, tetrapocaulisch nennen. Es haben also von den angeführten Stufen Ai, J.,, Bi, B^, B3 einen haplocaulischeu, 31* 484 IX. Morphologie und Systematik als iihylogenetische Wissenschaften. A3, A,, Ä:, part. und C part. einen diplocaulischen , Ä,, part. und C part. einen triplocaulischen Aufbau. D, E, F. Gestaltung, Anordnung und Verwachsung der Blätter. D. Die Gestaltung der Phyllome durchläuft 3 Stufen. Dl. Ursprünglich stellt das Blatt ein Organ dar, das äusserlich noch keine Differenzirung wahrnelnnen lässt (Lycoi3odiaceen). B,. Durch Differenzirung tritt Scheidung in Blattspreite, Blatt- stiel und Blattscheide ein. Die Blattspreite wird mehr oder weniger zertheilt und geht durch weitere Differenzirung in die folgende Stufe über. Dj. Das zusammengesetzte Blatt besitzt auf dem verzw^eigten Blattstiel mehrere oder viele Spreiten. Durch Anpassungsmetamorphosen und durch Reductionen werden die Stufen D, und D^ in vielfacher Weise verändert. Unter den Reductionen gibt es solche, die als ein Uebergang auf eine höhere Stufe zu betrachten sind ; dies ist dann der Fall , wenn bei gleich- bleibender oder selbst sich vervollkommnender Qualität das quanti- tative oder numerische Verhältniss sich vermindert, wenn z. B. ein zusammengesetztes Blatt mit zahlreichen Blättchen ohne Veränderung des Verzweigungscharakters in ein solches mit wenigen grösseren Blättchen übergeht. — Die meisten Reductionen aber sind mit Anpassungsänderungen verbunden oder selbst eine Folge der An- passung. Letzteres müssen wir annehmen, wenn ein Blatt Spreite und Stiel verliert und zur Schuppe wird, oder wenn ein zusammen- gesetztes Blatt, wie bei Acacia- und Oxalisarten, sich in ein Phyl- lodium umwandelt. Als Anpassungsreduction muss es wohl ebenfalls betrachtet werden, wenn ein Phyllom scheinbar ganz verschwindet, wie dies zuw^eilen mit den Tragblättern der Blüthenstiele der Fall ist. Man kann nicht sagen, dass das Blatt hier ganz fehle; denn ohne Zweifel ist es nur auf den im Stengelgewebe eingesenkten Theil beschränkt, und somit von ähnlicher Beschaffenheit wie die verkümmerten Phyllome an den wurzelartigen Caulomen von Psilotum (f in Fig. 24 c auf S. 413). E. Gesammtbeblätterung des Pflanzenstockes. El. Auf der untersten Stufe besteht die Beblätterung aus ganz gleichen Phyllomcn , wie dies bei Lycopodium Selago vorkommt. IX. IMorphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 485 E>. Durcli Differeiiziriiiig in der Gestalt und in den Functionen gehen die gleieliförmig-en Blätter von £', in Niederblätter, Laubljlätter, Hochblätter und Blüthenblätter über. Diese verschiedenen Formen, von denen jede in grosser Zahl vertreten ist, sind noch durch all- mähliche Uebergangsformen verbunden. Ei. Durch Reduction der Zwischenglieder stellt sich ein sprung- weiser Uebergang von einer Blattform zur andern ein. Im weitern phylogenetischen Verlauf vermindert sich die Zahl der einer Blatt- form angehörenden Phyllome immer mehr, bis auf der höchsten Stufe die einzelne Form nur noch durch ein einziges oder einige wenige Blätter vertreten ist. — Diese Reduction geschieht nicht, wie es bei dem vorhin (unter D) besprochenen Schwinden der Fall ist , dm'ch Beschränkung auf das im Stengel verborgene Basalgew^ebe, sondern durch Verminderung der Caulomglieder (Internodien). Wir haben also, worauf ich hier Gewicht legen möchte, zw^eierlei Arten des Schwindens der Phyllome zu unterscheiden. Die eine erfolgt durch Reduction des Cauloms auf eine geringere Zahl von Gliedern, womit, da jedes Glied ein Phyllom oder einen Phyllomquirl trägt, indirect auch eine Beschränkung der Blätterzahl verbunden ist. Die andere Art des Schwindens ist eine Reduction der Phyllome selber, erst auf einen noch sichtbaren, dann auf einen unsichtbaren verkümmerten Rest. — Eine Reduction, wie die letztgenannte, auf eine im Caulom verborgene Partie ist auch dann anzunehmen, wenn, was in Blüthen nicht selten vorkommt, aus einem Quirl einzelne Phyllome oder zwischen zwei opponirten Quirlen der intermediäre mit ihnen alternirende Quirl so vollständig verkümmert, dass keine Spur davon sichtbar bleibt. F. Stellung und Verwachsung der Phyllome. Diese ])eiden scheinbar so verschiedenen Erscheinungen stehen doch in sehr inniger Beziehung zu einander, indem die Verwachsung wohl nur eine Folge der bei der Entstehung sehr gedrängten Stellung ist. Fy. Die unterste Stufe besitzt einzelnstehende Blätter (spiralige oder alternirende Stellung). Anfänglich sind dieselben durch ungefähr gleiche verticale Abstände (Internodien) getrennt ; bei der phylogene- tischen Weiterbildung zeigen sie regionenwei.se ungleiche Abstände, indem im allgemeinen die ersten und letzten Internodien eines Jahrestriebes verkürzt sind. 486 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. F,. Durch Differenzirung werden altemirend die einen Internodien sehr stark verkürzt, und zwar zuletzt so sehr, dass sie ganz zu mangehi scheinen, indess die mit ihnen in verschiedener Weise abwechselnden Internodien sich verlängern. Dadurch entsteht die Quirlstellung der Phyllome. F-i. Die Blätter eines Quirls verwachsen mit ihren Rändern unter einander und bilden dadurch ein zusammengesetztes röhriges Organ. F,. Die Blätter der aufeinander folgenden Quirle verwachsen mit ihren Flächen, sodass aus mehreren Quirlen eine einzige Röhre entsteht. Ich betrachte also die alternirende Stellung der Blätter bei den Gefässpflanzen als die ursprüngliche und die quirlständige als die phylogenetisch daraus hervorgegangene. Dies bedarf eines erläuternden Zusatzes. Wenn ich den Quirl als aus einer Spirale entstanden erkläre, so ist dies nicht etwa eine Wiederholung der Lehre von C. Schimper und A. Braun, dass jeder Quirl aus einer den Abständen seiner Blätter entsprechenden Spirale sich gebildet habe, beispielsweise der 2-, 3- und 5 zählige Quirl je aus dem Umlauf (resp. aus zwei Um- läufen) einer Spirale mit der Divergenz V2 , Va , ^ s oder Vs , und dass der Schritt vom letzten Blatt eines Quirls (Cyclur) zum ersten des folgenden (Cyclarch) durch einen positiven oder negativen Zuschlag (Prosenthese genannt) verändert (vergrössert oder verkleinert) worden sei. Solche Betrachtungen haben bloss gepmetrische Bedeutung und stehen in keiner Beziehung weder zur ontogenetischen noch zur phylogenetischen Entwicklungsgeschichte. Nach meiner Ansicht sind alle Quirle aus einer ununter- brochenen gleichförmigen Spirale entstanden, deren Blätter gruppenweise zu Quirlen vereinigt blieben, wobei das regelmässige Alterniren der Quirle als mechanische Folge klar vorliegender Ur- sachen zu deuten ist. Durch diesen Process hat die ursprünglich gleiche Divergenz sowohl innerhalb der Quirle als in dem Uebergang vom Cyclur zum Cyclarch eine noth wendige Veränderung erfahren. Die Divergenzen der ursprünglichen Spiralen waren verschieden; sie lassen sich unschwer aus den von ihnen herstammenden Quirl- stellungen berechnen. Für die 2 zähl igen Quirle oder die opponirte Blattstellung beträgt der Abstand der erzeugenden Spirale I. Divergenz = (^_ _}_ _ j __ ,t = -g- ^r = 135«. IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 43 7 Alle mehrzäliligen Quirle können verschiedenartig aiifgefasst und aus Spiralen mit ungleichen Divergenzen abgeleitet werden. Es hängt dies davon ab, ob man von dem letzten Blatt eines Quirls zu dem einen oder andern Blatt des folgenden Quirls übergehe, ob man also die » Prosenthese X grösser oder kleiner, positiv oder negativ annehme. Die o zähligen Quirle lassen drei Annahmen (II, III und IV) zu. IL Divergenz =. (2 • ^ +^2)^'' = Js'' = ^"^^"• III. Divergenz = (2 ■ ~ -^ ^)^7v = ^7t = 100". IV.Divergenz=. (2.1 + 1 + 24 + 1)1. = |.=. 120". Zur Berechnung bemerke ich, dass die Divergenz gleich ist der Summe aller Schritte vom Cyclarch eines Quirls bis zum Cyclarch des folgenden Quirls , getheilt durch die Zahl dieser Schritte , also für die 3 zähligen Quirle II und III : 2 mal -^ jt + der Abstand vom Cyclur zum Cyclarch, die ganze Summe getheilt durch 3. Bei II beträgt der Schritt vom Cyclur zmn Cyclarch — (also die »Prosenthese« 4" 7^)) bei III beträgt er -^ /r (also die Prosenthese ^|. Bei IV wechseln diese Werthe von Quirl zu Quirl, sodass zur Berechnung der mittleren Divergenz die Summirung von 2 Quirlen erforderlich ist. Die Berechnung, sowie auch die Vorstellung der Entstehung von Quirlen aus ununterbrochenen Spiralen wird durch folgende Diagramme deutlicher werden , in welchen auf der flachgelegten Stengeloberfläche die Lage der Quirle angegeben ist. Der Stengel ist in horizontaler Lage dargestellt und die Oberfläche in 6 gleiche Längsstreifen getheilt. Auf den Grenzlinien dieser Streifen sind die Blätter inserirt und nach der Reihenfolge, die sie in der ursprüng- lichen Spirale hatten, numerirt. Die Quirle erscheinen, wegen der horizontalen Richtung des Stengels, als verticale Reihen. IV . 6 ... 12 II III 0 . . . 3 . . 8 . . 0 . . 4 . . 7 . . 0 1 . . 4 . . 6 . 1 . f) . 8 . . 1 2 . f) . . 7 . . 2 . 3 6 . . 2 (0) . • (8) • . (0) . • (7) . • (o: (0) . . (6) . . 13 10 . . . . 14 11 . . . . (12) 488 IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. Nimmt die Blätterzahl der Quirle zu, so vermehren sich die Möglichkeiten der Ableitung aus Spiralen. Zunächst ist die Frage, aus wie viel Umläufen der ursprünglichen Spirale ein Quirl gebildet sei; davon hängt am wesentlichsten die Grösse der Divergenz ab. Nach meiner Ansicht sind die 4- und 5 zähligen Quirle stets 2 umläufig. Wollte man sie 1 umläufig nehmen , so betrüge die Divergenz der erzeugenden Spirale höchstenfalls 101,25" für die Vierzahl und 93,6" für die Fünfzahl. So kleine Divergenzen kommen, wie ich glaube, bei alternirenden Phanerogamenblättern wohl nicht vor ; die unzweifelhaft sicheren befinden sich in den Grenzen von 120" und 180", Div. = ^fr- und -TT- Die kleinen Abstände der auf einander o z folgenden Blätter bei einigen Phanerogamen und Gefässkryptogamen (Lycopodiaceen undEquisetum mit zu einer Spirale aufgelösten Quirlen) sind wohl aus Spaltung (Verzweigung) der Blatteinheiten hervor- gegangen und somit auch die Quirle von Equisetum gleich denen von Galium zu deuten. Unter der eben erörterten Voraussetzung lassen die 5 zähligen Quirle folgende fünf Möglichkeiten zu: V. Divergenz = (4 . 1 + -1) | ,. = ^^ ,. = 122,4«. VI. Divergenz = (4 ■ l + A) _L,, = ^^ ,, = 136.8". VII. Divergenz = (4 ■ |- + 1) l.r = ^J ,r = 151,2». VIII. Divergenz = (4 ■ | f f^ + 4 ■ | + -1) !„ -_= ii. = 120,6». IX. Divergenz = (4 . ^ + i;, + 4 4 + i- ) j;. --= I-. = 144". 1 3 Der Abstand vom Cyclur zum Cyclarch ist bei V j-, bei VI -— 1 3 1 und bei VII — - tt ; bei VIII alternirend — und -^, bei IX alternirend ' > i jT- und -^ 7r. In dem folgenden Diagramm sind die Stellungen V, VI, VII und IX zur Anschauung gebracht. IX. INIorjihologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften 489 V VI 1 VII 1 IX 0 14 . . 0 13 . . 0 12 . . 0 . 10 . G 8 5 8 . . 18 3 . 9 \2 . . 3 6 11 . 3 8 • 10 . 3 . 13 1(3 1 7 10 . . 1 9 14 . 1 6 13 . 1 . 11 9 . . 19 4 . .0 13 . . 4 7 12 . 4 9 11 1 . 4 . 14 7 . . 17 2 . 8 11 . . 2 5 10 i . 2 7 14 ! . 2 . 12 5 . . . 15 (0) T7M (14) . • (0) T • I (13) 1 1 • (0) (12) 1 ■ (0) 1 ■ . (10) /-\ VI Etwas complicirter wird die Sache bei 4 zähl igen Quirlen, weil die Abstände in dem 2 nniläufig angenommenen Quirl ungleich ausfallen. Die Ableitung aus einer ununterbrochenen Spirale erlaubt hier drei Annahmen. X. Divergenz = (-^ + X "^ Y ^" t) T '" ^ 32 "^ "^ 123,75". XL Divergenz = (y + ^ "f y + |) "i" ^ = o^ ^^ = 146,25 ". XII.Divergenz = (^+^444 8-f^ + l+; + ^)^^^ = |-=1350. Der Abstand vom Cyclur zum Cyclarch beträgt bei X -^ 3 . 13 bei XI , bei XII abwechselnd -^ und -— o o o X XI xn 0 . . 11 . 0 10 . . 0 . 8 . . li 6 5 . i) 14 . 3 . 4 9 3 6 8 3 . . 4 11 . . 19 12 . 1 7 . 10 . 1 4 11 1 . . 7 9 . . 17 15 . 2 . 5 . 8 . 2 7 9 2 . . 5 10 . . 18 13 . (0) . • (11) • (ö) (10) (0) . (8) • • (lö) Von 6 zähl igen Quirlen, die stets 2 umläufig zu nehmen sind und die schon eine grössere Zahl von Ableitungen aus den erzeugenden Spiralen offen lassen, will ich nur diejenigen drei Fälle anführen, die wohl am ehesten vorkommen. 490 I^- Morphologie und Systematik als phylogenetische AVissenschaften. XIII. Divergenz = (2. ^ + A-[-2. ^ -f A^-1^ = |-.r = 185«. XIV. Divergenz ^ (- " i + 2 +^-T + T)i^^ == S^' = ^^^"• XV.Divergenz^ (24 + ^ + 2-^+^ + 2.^4 + 24+^)^ 52 l44 12 7r = 130°. Bei XIII beträgt der Scliritt vom Cycliir zum Cyclarch ~^, bei 3 5 3 XIV -^, bei XV abwechsehid — ^ und -„ ^. XIII 3 1 4 2 5 (0) 11 10 8 1(3 14 17 12 If) 13 (16) XIV 2 5 (0) 10 8 11 17 12 15 13 IG 14 (17) XV 0 . . 14 . . 25 11 . . 22 . (0) 17 . 28 G . . 20 . . 12 . . 26 9 . . 23 . . 15 . . 29 7 . . 18 . . 13 . . 24 10 . . 21 . . 16 . . 27 8 . . 19 . . (14) . . (25) Es können also Quirle mit der nämlichen Zahl von Blättern aus Spiralen mit verschiedener Divergenz entstehen, ebenso wie um- gekehrt Quirle mit verschiedener Blätterzahl aus Spiralen mit der gleichen Divergenz sich bilden. Die Reihenfolge der Blätter in den successiven Quirlen und somit der Charakter der erzeugenden Spirale lassen sich zuweilen aus der Deckung der Blattränder und aus andern Erscheinungen direct bestimmen. — Wenn, was nicht selten vor- kommt, an den Individuen der nämlichen Pflanze Quirle mit ver- schiedener Blätterzahl wechseln (die einen Stengel haben beispiels- weise 2 zählige, die andern 3 zählige Blattquirle, die einen Blüthen sind 4-, die andern 5 zählig, oder die einen 5-, die andern 6 zählig), so müssen diese verschiedenen Zahlen aus der nämlichen Spirale IX. Morpliologie und Systematik als phylogeueti-sclic Wissenschaften. 41) 1 entstanden sein, und daraus lässt sich oft ein Scliluss von einem Quirl auf einen anderszähligen machen. Es sei beispielsweise durch irgendwelche Gründe festgestellt, dass ö zählige Quirle dem Schema VI folgen (Divergenz der erzeugenden Spirale 106,8"), so können 4 zählige Quirle, die bei den nämlichen Pflanzen stellvertretend vorkommen, nur nach dem Schema XII (Div. = 135*^) und stellvertretende 6 zählige Quirle nur nach dem Schema XIII (Div. = 135") gebaut sein. Wir dürfen überhaupt folgende Schemate als vicarirend ansehen: I und II, dann II und VI oder auch II und IX, ferner VI, XII und XIII, endlich IV, X und V u. s. w. Die soeben als stellvertretend genannten Schemata stimmen in den Divergenz-Werthen der erzeugenden Spirale nicht ganz überein. Aber es machen diese Werthe überhaupt keinen Anspruch auf absolute Geltung. Wenn sich beispielsweise für das so häufig bei den Dico- tylen verwirklichte Schema \1 die Divergenz 13G,8° berechnet, so heisst das nichts anderes als dass Spiralen mit nahe kommenden, ^ etwa zwischen 135 — 139" oder zwischen noch weiteren Grenzen be- findlichen Divergenzen die jenem Schema folgende Anordnung er- zeugen. Es ist sehr leicht möglich, dass die relative Häufigkeit der stellvertretenden Quirle theilweise von der Divergenz der erzeugenden Spirale bedingt wird, wofür ich folgendes Beispiel anführen will. Die 5 zähligen Quirle nach Schema VI entsprechen der Divergenz 136,8", die 4 zähligen nach Schema XII der Divergenz 135". A'on zwei verschiedenen Arten, deren idioplasmatische Anlagen ebenso leicht die Fünfzahl als die Vierzahl sich entfalten lassen, und von denen die eine ursprünglich eine Blattspirale mit der Divergenz 137", die andere eine solche mit der Divergenz 135" hatte, wird diejenige mit der ursprünglichen Divergenz 137" eine Menge 5 zählige und wenige 4 zählige, diejenige mit der ursprünglichen Divergenz 135" eine Menge 4 zählige und wenige 5 zählige Quirle in den Ontogenien verwirklichen. Das ist natürlich so zu verstehen, dass aus der einen ursprünglichen Divergenz sich normal die Fünfzahl, aus der andern die Vierzahl ergäbe , dass aber die inneren und äusseren Ursachen, welche noch auf Blattstellung Einfluss haben, die angeführten Vari- ationen hervorbringen. Von 4- und 6 zähligen Quirlen wird meistens angenommen, dass sie aus zwei je 2- oder 3 zähligen Quirlen zusammengesetzt seien, und selbst 5 zählige Quirle sollen in ge^^^ssen Fällen aus einem 2- und 492 I^- Moqihologie und Systeiuatik als phylogenetische Wissenschaften. einem 3 zähligen Quirl gebildet sein. Wenn solche Vorstellungen bloss arithmetische und geometrische Bedeutung beanspruchen , so ist Ja nichts dagegen einzuwenden. Al)er ich glaube nicht, dass man sie als den Ausdruck des phylogenetisclien Geschehens nehmen darf, zweifle auch, dass die Hypothese, es seien irgend einmal den 5 zähligen Quirlen alternirende, 2- und '6 zählige vorausgegangen, im Ernste behauptet werden könnte. Ebenso wenig ist anzunehmen, dass die 4- und 6 zähligen Quirle aus 2- oder 3 zähligen Quirlen entstanden seien , denn diese würden alterniren und bei ihrem Zusammenrücken oj^ponirte (nicht alternirende) 4- und 6 zählige Quirle erzeugen. Die einfachste und natürlichste Annahme ist doch die, dass von der ursprünglichen Spirale in einem Fall je 4, im anderen je 5, im dritten je 6 Blätter zum Quirl vereinigt bleiben; und eljenso können noch grössere Zahlen von Phyllomen (10, 12 etc.) sich in alternirende Kreise ordnen. Der ursächliche Vorgang ist folgender- maassen zu erklären. Im Idioplasma bildet sich eine neue Anlage, vermöge welcher statt der ununterbrochenen Spirale nun die l^etref- fende Quirlstellung sich entfaltet. Ist die Blätterzahl der Quirle nicht constant, variiren beispielsweise bei der nämlichen Pflanze 4-, 5- und () zählige Quirle, so werden vermöge der idioplasmatischen Anlage unbestimmt grosse Abschnitte der ursprünglichen Spirale (nämlich je 4 bis 6 Blätter) zu Quirlen, und es hängt dann von verschiedenen inneren und äusseren Ursachen ab, ob die eine oder andere Zahl sich verwirkliche. So sehen wir nicht selten, dass mit dem Stärkerwerden des Cauloms die Blätterzahl der Quirle sich erhöht. Bei der phylogenetischen Fortbildung des Idioplasmas können die Anlagen sich dann so verändern, dass die quirlbildenden Ab- schnitte der ursprünglichen Spirale grösser oder kleiner, und dass sie numerisch mehr und mehr l;)estimmt werden. Die Quirlbildung, die wir an den Pflanzen beobachten, ist rück- sichtlich der Stellung der Phyllome zu mehr oder weniger genauer Vollendung gelangt. Manchmal erkennt man noch aus verschiedenen Merkmalen die Folge der ursprünglichen Spiralstellung ; in anderen Fällen sind alle Spuren davon verwischt. Nur selten ist die Quirl- l)ildung in ihren Anfangszuständen zu beobachten , wie z. B. bei Lycopodium-Artcn. Die Aiü'lösung der Quirle zu einer ununter- brochenen Spirale, welche als abnormale Erscheinung vorkommt, IX. Morphologie und Systematik als i)liyl(»gcnc>tische Wisst'iischaften. 493 ist ein phylogenetischer Rückschlag und zeigt dann den ursprüng- lichen Zustand an. Es ist nicht nothwendig, dass die Umbildung der Spiral- in die Quirlstellung sich bei der ontogenetischen Entwicklung wiederhole, da ja von allen andern, in einer Abstammungslinie vorausgegangenen phylogenetischen Stadien eine Menge vollständig unterdrückt wird. Möglich wäre aber auch , dass die ursprüngliche Spiralstellung in der ontogenetischen Entwicklungsgeschichte gesehen würde , wenn diese bis auf die ersten Zellen zurückverfolgt werden könnte. Wenn eine continuirliche Spirale in Stücke zerfällt, welche zu alternirenden Quirlen sich gestalten , so finden Verschiebungen der Blätter in horizontaler Richtung statt, um die gleichmässigen Abstände zu gewmnen. Es sind dies aber, ebenso wie die relativen Lage- änderungen in verticaler Richtung, nicht etwa durch eigentlichen Druck bewirkte Verrückungen, sondern die Folgen ungleichen Wachs- thums. Die Blattanfänge haben auf dem engen Umfang der Caulom- spitze ungleiche horizontale Abstände; mit dem Dickerwerden des Cauloms wachsen die Zwischenräume in ungleichem Maasse und dadurch gelangen die Blätter in gleiche Entfernungen von einander. Dies war wenigstens der phylogenetische A^organg, als die Quirle sich aus der Spirale bildeten und blieb gewiss lange der ontogene- tische Entwicklungsvorgang. Es ist aber möglich , dass , wenn die Quirle phylogenetisch so gefestigt sind, dass die Fähigkeit der Um- bildung in anderszählige Quirle oder des Rückschlages in die Spiral- stellung verloren gegangen ist, dann schon die allerersten Blatt- anfänge eines Quirles in der späteren regelmässigen A^ertheilung auftreten. Die Annahme von phylogenetisch ursprünglicher (nicht aus der Spiralstellung hervorgegangener) Quirlbildung ist in keiner Beziehung berechtigt. Die ontogenetische Entwicklungsgeschichte gibt uns, wie schon gesagt , in vielen Fällen keinen Aufschluss über das phylo- genetische Werden. Die Berufung auf die unzweifelhaft originäre Quirlbildung bei Characeen und Florideen ist müssig, da ja die Organisationsverhältnisse ganz andere sind, und unstatthaft, weil keine genetischen Beziehungen zwischen den Gefässpflanzen und jenen Algen bestehen. — An und für sich würde ja Quirlstellung für die aus dem Moossporogonium liervorgehenden Organcomplexe ebenso möglich erscheinen als Spiralstellung. Aber darum handelt 494 IX- Morjihologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. es sich nicht , sondern nm das , was aus einer Vergleichung und sorgfältigen Erwägung sich als wirklich ergibt. Nun haben wir vier Thatsachen, welche das Nämliche darthun und nach meiner Ansicht für die vorgetragene Theorie bezüglich der Phanerogamen entscheidend sind : 1. der ganz allmähliche Uebergang von einem oder zwei Um- läufen einer Spirale bis zu dem ausgesprochensten Quirl, wenn man viele Pflanzen mit einander vergleicht ; 2. das Vorkommen der Spiralstellung und der Quirlstellung bei dem nämlichen Organ ganz nahe verwandter Pflanzen; 3. die Unmöglichkeit, eine phylogenetisch zusammengehörige Gruppe von Pflanzenfamilien auszuscheiden, bei welcher in einer bestimmten Region des ontogenetischen Aufbaues ausschliessliche Quirlstellung vorhanden wäre; 4. der zuweilen als Abnormität auftretende Rückschlag einer Quirlstellung in die Spiralstellung. Die Umänderung der Spiralstellung in die Quirlstellung ist, wie schon gesagt, ein phylogenetischer und nicht etwa ein onto- genetischer Process. Sie kommt nach und nach durch lange Zeit- räume zu Stande , indem zuerst unbestimmte und unregelmässige Quirle , dann solche , denen man noch deutlich ihre Herkunft aus einer Spirale ansieht, endhch Quirle, in denen die Phyllome voll- kommen gleich werthig erscheinen, auftreten. Jede dieser Entwick- lungsstufen vererbt sich durch zahllose Generationen. Ueber die Ursache der Veränderung wissen wir nichts anderes, als dass eben ein im Idioplasma beruhender Antrieb die Differenzirung bewirkt. Wenn etwa von Morphologen das Schwenden er 'sehe Gesetz der mechanischen Veränderung der Blattstellung angezogen wird , um zu erklären, dass in einer Familie bei den einen Pflanzen spiralige, bei den anderen cyklische Stellung der Phyllome vorkommt, so liegt darin eine Verkennung der Tragweite jenes Gesetzes. Nach dem- selben können nur die Stellungen gedrängt stehender Blätter in be- stimmte andere Stellungen, auch spiralige in quirlständige übergehen, also die ursprünglichen morphologisch gegebenen Stellungen der Ontogenien verändert werden ; aber die beim ontogenetischen Wachs- thum an den Caulomspitzen primär auftretenden Stellungen sind beständig und durch Vererbung bestimmt, was sich namentlich bei der vergleichenden Morphologie der Blüthen klar herausstellt. Somit IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 495 sind auch die in den jüngsten Zuständen schon vorhandenen spira- Hgen und cycHschen Stelhingen verwandter Pflanzen als erbliche und demnach als phylogenetische zu betrachten. Da die Ursachen der Quirlbildung innere sind, so entzieht sich auch unserer Beurtheilung der Grund, warum oft an der nämlichen Pflanze die einen Caulome oder Caulomregionen sj^iralige, die anderen C3i'clische Blätter tragen, warum der nämliche Unterschied zuw^eilen zwischen Arten der gleichen Gattung beobachtet wird und ebenso wie die zwischen so weiten Grenzen variirende Zahl der Pliyllome eines Quirls zu erklären ist. In letzterer Hinsicht möchte ich jedoch auf eine Beziehung zu einer anderen , ebenfalls durch innere Ur- sachen bedingten Erscheinung, nämlich zu der verhältnissmässigen Breite der Blattbasis aufmerksam machen. Ich habe bereits bemerkt, dass mit dem ontogenetischen Stärkerwerden des Cauloms zuweilen eine Erhöhung der Blätterzahl in den Quirlen eintritt. Es scheint mir nun , dass die Zunahme des Caulomumfanges , wenn dieselbe eine individuell veränderliche Erscheinung ist, stets grösser ausfällt, als die Zunahme, welche die Breite der Blattanheftung zeigt, und hieraus leitet sich unschwer folgende Theorie ab. 1^ If^Es gibt bezüglich der Con stanz zwei Arten der Quirlbildmig ; bei der einen ist die Zahl der Phyllome in einem Quirl idioplas- matisch besthnmt und unabhängig von der individuellen Veränder- lichkeit. Bei der anderen Quirlbildung treten stets soviel Blätter zu einem Quirl zusammen, als es das Verhältniss zwischen der Breite der Blattbasis und dem Caulomumfang erlaubt. Daraus erklärt sich, dass beim Stärkerwerden des Cauloms auch die Phyllomzahl in den (Quirlen wächst , ferner dass im allgemeinen die Laubblattquirle M'enigzähliger sind, als die Quirle in der Blüthe (die Laubblätter haben breitere Anheftungsstellen) und dass in Blüthen mit dicken Caulomen die Phyllomzahl in den Quirlen hoch ansteigen kann (Sempervivum und andere Crassulaceen), endlich dass die Laubblatt- quirle bei den Monocotylen verhältnissmässig viel seltener sind als bei den Dicotylen (jene haben breitere Blattbasen als diese; und Blätter, die mehr als den halben Stengelumfang einnehmen, scheinen zur Quirlbildung unfähig zu sein). Es liegt nun die Annahme nahe, dass die zweite Art der Quirlbildung — d. h. diejenige, bei welcher die Pflanze idioplasmatisch erst überhaupt Neigung zu cychscher Anordnung der Phyllome erlangt hat und jeweilen die nach den 49G IX. Morphologie und Systematik als i)liylogenetische Wissenschaften. Umständen gestattete Maximalzahl verwirklicht — phylogenetisch zuerst auftrete , und dass aus ihr dann im weiteren phylogene- tischen Verlauf die erstgenannte Quirlbildung — d. h. diejenige, bei welcher das Idioplasma eine Beziehung zu der Zahl der Quirlphyl- lome gewonnen hat — sich entwickle. Die numerische Beziehung im Idioplasma besteht zuerst darin, dass der Zahl gewisse nicht übersteigbare Grenzen gesetzt werden, und schreitet dann durch Beschränkung dieser Grenzen zu bestimmten Zahlen fort. Durch Rückschlag kann abnormal die bestimmte Zahl zur früheren un- bestimmten oder die Quirlstellung zur früheren Spiralstellung zurück- kehren. Es wurden im vorstehenden die phylogenetischen Stufen, welche die Entwicklung der Caulome und "Phyllome im allgemeinen wahr- nehmen lässt, dargelegt. Die Beschaffenheit der Blüthe und ihrer Theile verlangt noch eine besondere Besprechung. G. Aufbau der Biüthe. Der Blüthenbau zeigt die nämlichen Verhältnisse, die ich schon bezüglich der Beblätterung des Pflanzenstockes (S. 484) und bezüglich der Stellung der Phyllome (S. 485 ff.) erörtert habe. Es lassen sich zunächst folgende Stufen in der Stellung der Blüthenblätter unter- scheiden. Gl. Alle Blüthenphyllome spiralständig: acyclische oder spiroi- dische Blüthen. 6r... Die einen Phyllome spiral-, die andern quirlständig: spiro- cyclische Blüthen^). Gi. Alle Phyllome in alternirenden Quirlen : holocyclische oder schlechthin cyclische Blüthen. Jede dieser drei Stellungen kann durch Reduction mehr oder weniger verändert werden. Die spiralständigen Blüthenphyllome treten zuerst in grosser und unbestimmter Zahl auf und werden ') Die spiroidischen Blüthen werden auch weniger passend »aphanocyclischec genannt. Da dieses Wort »mit undeutlichen, unscheiuharen oder unsichtbaren Quirlen« bedeutet, so liesse es .sich eher da anwenden, wo die Quirle durch Ver- schiebung undeutlich geworden sind. — Ebenso ist die Bezeichnung »hemicyclisch« statt spirocyclisch zu beanstanden, da Hemicyclus ein Halbkreis ist. IX. Möipliolofrie und Rj^stenialik als jibylogenetische Wissenscliafteii. 497 zuletzt auf wenige beschränkt ; es lässt sieli bei ihnen eine Anfangs- und eine Endstufe unterscheiden: 1. polymer, 2. ohgonier. Die cychschen Blütlienphyllome erscheinen zuerst in grr)ssorer und unbestimmter Quirlzahl un«l worden dann auf eine bestinunte oder gesetzmässige Zahl von Quirlen reducirt, die regelmässig alter- niren. Eine weitere Reduction führt eine Verminderung ohne Stel- lungsänderung herbei, so dass, wenn nur ein Quirl oder wenn drei Quirle ausfallen , Opposition der Cj'^clen eintritt. Daraus ergeben sich drei phylogenetische Stufen: 1. polycyclisch, 2. nomocyclisch, 3. oligocyclisch. In dem einzelnen Quirl können durch Reduction einzelne oder mehrere Phyllome schwinden , so dass aus diesem Umstände zwei Stufen unterscheidbar werden : 1. mit vollständigen, 2. mit unvollständigen Quirlen. Die angedeuteten phylogenetischen Stufen des Blüthenbaues ver- langen eine weitere Auseinandersetzung. Der Beginn der Blüthen- l^ildung ist gegenwärtig noch in der Gattung Lycoj^odium erhalten. Während bei Lycopodium Selago die Laubblätter Sporangien tragen, sind bei den anderen Arten die fruchttragenden Phyllome auf das Ende der Gaulome beschränkt, und damit ist die Blüthe in ihrer einfachsten Gonstitution und zugieicli der allgemeine Begriff der Blüthe gegeben als ein Gaulomende oder kurzes laterales Gaulom, das mit fruchttragenden Phyllomen besetzt ist. Von diesem einfachsten Stadium ])is zu den phylogenetisch am weitest fortgeschrittenen Bildungen gibt es \äele Entwicklungsreihen. Da die Ausbildung in verschiedenen Beziehungen geschehen kann, welche sich vielfach verschlingen, so lässt sich wohl in jeder einzelnen Beziehung eine stufenweise Gliederung feststellen , aber für die Ge- sammtheit des Aufbaues lassen sich keine gemeinsamen Stufen unter- scheiden, sondern nur eine Anfangsstufe und eine Menge von Endstufen. Die Anfangsstufe ist die vorhin genannte, nämlich ein Gaulom- ende mit gleichartigen Sporenblättm'n und einigen, denselben voraus- gehenden unfruclitbaren Hochblättern, alle in ununterbrochener Spirale. Berücksichtigen wir zuerst diejenigen Entwicklungsreihen, in denen die ununterljrochene Spirale erhalten bleibt und fassen V. Nägeli, Abstammungsichre. 32 498 IX- Morphologie und Systematik als ])liylogenetisclH' Wissenschaften. wir sie als eine Gruppe zusammen, so finden sich in dieser Gruppe schon ziemhch hoch entwickehe Blüthen. Ein erster Schritt besteht darin, dass die Sporenblätter sich in männliche und weibliche scheiden, welche später in die Staubgefässe und Carpelle übergehen. Bemerkenswerth ist, dass die unteren Stufen bei den lebenden Geiasspflanzen (Gefässkryptogamen, gymnosperme Phanerogamen) bloss eingeschlechtige Blüthen besitzen, so dass also die einen Blüthen (Fruchtähren) der untersten Stufen männlich, die anderen weiblich wurden. Es musste aber auch von den ursprünglichen ungeschlechtlichen Blüthen der Gefässkryptogamen aus Entwicklungsreihen geben, in welchen die Sporogonien der oberen Blätter weiblich, die der unteren Blätter männlich wurden , und welche weiterhin in die hermaphro- ditischen Plianerogamenblüthen übergingen. Wahrscheinlich befand sich zwischen den beiden Geschlechtsblättern ursprünglich eine An- zahl durch Geschlechtsvermischung steril gewordener Blätter. Diese sterilen Blätter haben sich in einigen Fällen noch sehr lange er- halten , insoferne die zwischen Androeceum und Gynaeceum vor- handenen sterilen Blätter niclit etwa als umgewandelte Staubgefässe oder Fruchtblätter zu deuten sind. Meistens aber sind sie ver- schwunden, indem die Caulomglieder (Internodien) sich verminderten und somit die Stellen der geschwundenen IMiyllome von den einander sich nähernden Staubgefässen und Carpellen eingenommen wurden. In manchen, möglicherweise in allen Sippen der Anfangsstufe gingen die unfruchtbaren Hochblätter zuerst allmählich in die frucht- baren über: ein Zustand, der in den meisten der von hier auf- steigenden Reihen l)ald ein Ende nahm, indem die unteren Blätter dieser Uebergangszone ganz unfruchtbar, die oberen ganz fi-uchtbar wurden. In einigen Reihen blieb er erhalten, so dass noch zwischen den unfruchtbaren Hochblättern oder den Kelchblättern und den Staub] )lättern und noch später, als die Blumenkronen sich gebildet, zwischen den Kelch l)lättern und den Kronl)lättern abgestufte Ueber- gangsglieder vorhanden waren. Die jetzt besprochene Gruppe zeichnet sich, wie gesagt, dadurch aus, dass die Phyllome der Blüthe in einer ununterl)rochenen Spirale stellen. Diese Gruppe enthält viele divergircnd ^mf steigenden Reihen. Von jedem Punkte einer jeden Reihe kann nun der phylogenetische Fortschritt in anderen I^ahiicn lui^imien , indem (^uirll)ildung und IX. Moi'itholoüie und Systematik als pliylogenetische WissenHcluiftcii. 4i)l) darauf Schwinden von ganzen Quirlen oder von Theilen derselben erfolgt. Bezüglich der Beschaffen! leit der Quirle zeigt die Blüthenbildung die merkwürdige Thatsache, dass jeder derselben schon bei der Ent- stehung aus ganz gleichen Elementen zusammengesetzt ist. Man möchte vielleicht ein ganz anderes Verhalten erwarten. Eine spiroi- dische Blüthe bestehe aus m Kelchblättern, n Kronblättern, ^> Sta- minodien , q Staubgefässen und r Carpellen , wenn m, n, p, liylogeiietische Wissenschaften. 503 zeitig oder in rascher Folge (etwa von unten iiacli (jl>en) zu Quirlen sich ordnen. Dann werden alle Quirle gleichzählig sein und regel- mässig alterniren. Ferner werden die Quirle ziendich zahlreich sein. Bloss allenfalls von Kelch und Krone ist anzunehmen, dass sie ur- sprünglich schon einquirlig sein konnten , denn sie sind schon hei spiraliger Stellung meistens wenigzählig. Die Staubgefässe und die Carpelle dagegen sind bei Spiralstellung gewöhnlich vielzählig und daher ist für dieselben auch eine Mehrzahl von ursprünglichen Quirlen sehr waln-scheinlich. Die Quirlzahl war ferner ursprünglich eine unbestimmte. Erst im phylogenetischen Verlaufe wurde sie, indem sie sich verminderte, constant und zwar zuerst für die Staubgefässe ; denn es wurde zu- gleich die fi-üher unbestimmte Orientirung des ersten Carpells (und somit des ersten Carpellquirls) eine mit Rücksicht auf Kelch und Krone bestimmte. Damit war die constante Zahl der Staubgefäss- (juirle von selbst gegeben. Für die Limitirung der Carpellzahl war keine solche Ursache vorhanden ; daher sehen wir denn , dass die- selbe in so vielen Fällen noch variirt, in denen das Androeceum ganz beständig ist. Da die Carpelle aber, wenn sie verwachsen, nur in w^enigen Fällen eine Sonderung in hinter einander stehende Quirle gestatten , so beobachten wir, statt der Unbeständigkeit der Quirle, eine Unbeständigkeit in der Zahl der Ovariumfächer oder der wandständigen Placenten sowie der Narben. Simultane Quirlbildung fand wohl bei den Ahnen der meisten ISlonocotylen statt, da bei denselben gleichzähhge Quirle durch die eanze Blüthe so häufi«- sind, ferner wahrscheinlicli auch bei manchen Dicotylen. — Nehmen wir beispielsweise an, eine bestinnnte Blüthe habe, nachdem die Quirlzahl des Androeceums fixirt war, folgendes Schema gehabt: sep (y), pet (v), stam {v -|- v -f- '')' "^"^^T (unbestimmt). Bedeutet /.' einen ^undäuiigcn Quirl, so können bei Vierzahl oder Sechszahl auch 2 zweizälilige oder 2 dreizählige Quirle dafür eintreten. Werden die Carpelle auf v reducirt, so stehen sie über den Blumenblättern. Schwindet der untere Staubgeiassquirl, so hat man bei Fünfzahl der Quirle eine typische obdiplostemonische, schwinden die 2 oberen Staubgefässquirle , eine typische haplostc- monische Blüthe : ersteres bei den Ericaceen, Geraniaceen, Zygophyh 504 1^- Morphologie uml (Systematik als phylogenetische Wissenschaften. laceeii, Crassiüaceen etc. , letzteres bei den Convolvulaceen , Solana- ceen, Campaniüaceeii etc. ; von diesen beiden Typen ist weder der eine noch der andere als noniocyclische Bildung einer quirligen Blüthe zu betrachten. Von der vorhin scliematisirten Blüthe kann auch der diplo- stemonische Typus herstammen. Die in unljestimmter Zahl vor- handenen Carpelle schwanden anfänglich auf die nomocyclische Zahl von zwei Quirlen (r -j- c); ging nun der untere Carpellquirl und der oberste Staubgefässquirl verloren, so ist die tj^pische diplostemonische Blüthe gegeben : Primulaceen, Plumbaginaceen, Sapotaceen. Um die Herleitung der 3 genainiten Typen von dem iiomo- cyclischen Bau anschaulicher zu machen, will ich den letzten noch einmal und zwar mit Andeutung der Alternanz schematisiren : 12 3 4 5 6 7 sep .... staui . . . stam . . . carj) . . . pet . . . stam .... carp . . Die Zahlen 1 — 7 bezeichnen die auf einander folgenden Quirle. Die in der oberen Horizontalreihe ]:»ctindlichen Quirle sind einander superponirt, ebenso diejenigen der unteren Reihe; 3, 5, 7 stehen also über den Kelchblättern, 4 und 6 über den Kronblättern. Das Schwinden von Quirl 4, 5 und 7 gibt die haplostemonischen (I), das Schwinden von 3 und 7 den obdijjlostemonischen (II) und das Schwinden von 5 und 0 den diplostemonischen Typus (III): 1 2 3 4 5 G 7 ^sep . . . stam l . . . pet carp . (sep stam \ . . . pet . . . stam . . . carp . . . TTT \^^'V ■ ■ ■ stam carp ) . . . pet . . . stam Man wird mir wohl von mor|)liologisclier Seite antworten, dies sei eine blosse Hyj^othese; die Annahme, dass bei dem haplostemo- nischen und diplostemonischen Typus (I und III) je zwei Quirle ge- schwunden seien, erscheine überflüssig; wenn auch beim letzteren die Carpelle ursprünglich zahlreicher waren , so sei es doch unwahr- scheiidich, dass der unterste Quirl derselben schwinde und der zweite übrig bleibe. Ich verkenne keineswegs, dass, wenn man sich auf die Betrachtung der einem Typus angehörenden Blüthen und deren ontogenetischer Entwicklungsgeschichte beschränkt, diese Einwürfe IX. Morphologie und Systeuuitik als jüiylogenetische Wissenscliat'ten. 505 als gegründet gelten können. Aber sie verlieren ihren Halt, sowie man alle verwandten Bildungen mitberücksiclitigt. Ich betrachte meine Annahme aus folgenden Gründen als die wahrscheinlichere. Erstens gibt es viele Fälle, wo einer der drei genannten Typen bei verwandten Gattungen oder verwandten Familien mit polymeren oder polycyclischen Staubgefässen wechselt. Dies ist ein deutlicher Finger- zeig, dass jene Typen sich durch Reduction des Androeceums gebildet haben, mid es steht der Annahme, dass bei ihnen freie Stellen von geschwundenen Staubgefäss(|uirlen vorhanden seien, nichts im Wege. Zweitens ist zu bemerken, dass, wie sich aus zahlreichen Bei- spielen ergibt, die Stellung der unter die nomocyclische Zahl (auf einen Quirl oder weniger) reducirten Carpelle, nicht von der Stellung der vorausgehenden Staubgefässe. sondern von derjenigen des Kelches und der Orientirung der ganzen Blüthe bedingt wird. Daraus ergibt sich, dass für diese Fälle zwischen Androeceum und Gynaecemn Ele- mente durch Schwinden verloren gegangen sind. Es gibt nun nicht wenige Familien unter den Choripetalen (Polypetalen) , in denen in Blüthen mit gleichzähligen Quirlen bald epipetale, bald episepale Carpelle vorkommen. Dies beweist uns, dass hier das Gynaeceum ursprünglich dicyclisch war und dass l)ald der äussere, bald der innere Carpellkreis geschwunden ist. Drittens ist hervorzuheben, dass, wenn in Blüthen mit 5 zähligen Quirlen das Gynaeceum noch mehr reducirt wird, dann die in der Zahl von 4, 3 und 2 vorhandenen Carjjelle verschiedene Stellungen zeigen können, die aber für die Gattungen constant sind; es haben z. B. 3 Carpelle die Stellung "^ oder .^ , indem 2 hinten , 1 vorne sich befindet und umgekehrt. Diese verschiedenen Stellungen lassen sich nicht als Ueberbleibsel eines einzigen Quirls, wohl aber die einen als Ucberreste des episepalen, die anderen als Ueberreste des epipe- talen Quirls von Carj^ellen erklären. Würden die einen Stellungen bloss mit episepalem, die anderen ])loss mit epipetalem Gynaeceum in der nämlichen Familie vorkonnnen, so bestände mit Rücksicht auf diese oligomeren Carpelle kein Grund zur Annahme zweier ursprünglicher Carpellkreise. Da aber die verschiedenen reducirten Stellungen mit einander einerseits in der nämlichen Familie mit episepalem Gynaeceum und andrerseits ebenso in einer und derselben Familie mit epipetalem Gynaeceum sich finden , so muss man an- 506 I^- Morphologie und Systematik als pliylü;^enetisc-lie Wisseiiscliaften nehmen, dass sowohl die erstere als die letztere Familie ursprünglich ein 2 quirliges CJyiiaeceuui hatte. Es gibt selbst reducirte Gynaeceen, nämlich die 2- und die 4 zähligen (bei sonstiger 5 Zähligkeit der Quirle), von denen man annehmen möchte, dass die eine Hälfte ihrer Carpelle von dem episopalen und die andere Hälfte von dem epipe- talen Quirl des Gynaeceums üljrig geblieben sei. Viertens ist noch daran zu erinnern, dass in vielen Familien mit typischem episepalem oder epipetalem Carpellquirl einzelne Gattungen mit doppeltzähligem oder mehrzähligem Gynaeceum vor- kommen. Da nun die zwei- und mehrquirligen Bildungen nicht aus dem einfachen Quirl, wohl aber der letztere aus den ersteren auf naturgemässem phylogenetischem Wege entstehen kann, so sind die genannten typischen Bildungen nicht als ursprüngliche, sondern als secundäre, aus einem dicyclischen Gynaeceum hervorgegangene zu betrachten. Die eben angestellten Betrachtungen betreffen vorzugsweise Blüthen mit ursprünglich gleichzähligen Quirlen und von denen allenfalls an- genommen werden kann , dass die cyclische Anordnung simultan stattgefunden habe. Wenn die Quirll)ildung in der Blüthe succedan eintritt, so begiinit sie gewöhnlich unten mit den Kreisen des Peri- gons, während die Staubgefässe und Carpelle noch in grosser Zahl und in schrauljcnförmiger Stellung vorhanden sein können. Tritt Verwachsung im Gynaeceum ein, so ordnen sich die Carpelle in einen Kreis, und lassen bloss aus den unbestimmten Zahlenverhältnissen wahrnehmen, dass der nomocyclische Typus noch nicht eingetreten sei. Dies ist unverkennl)ar , wenn Ijeisj^ielsweise die Zahl der im Kreise stehenden Carpelle bei Nymphaea alba zwischen 12 und 20, bei Papaver somniferum zwischen 7 und 15 wechselt. Ich möchte also ein solches Gynaeceum noch für polycyclisch halten inid dasselbe erst dann als in das nomocyclische Stadium eingetreten ansehen, wenn die Zahl der Carpelle eine absolut oder relativ (nämlich im Verhältniss zu anderen Quirlen der Blütlie) bestimmte geworden ist. Wie das Gynaeceum vermindert auch das Androeceum mit dem phylo- genetischen Fortschreiten die Zahl der Phyllome und ordnet sie dann cyclisch an. Die Zahl der Quirle ist wahrscheinlich zuerst unbestimmt und wird dann ])estiiiimt. Kmc Blüthe, in der die Quirll)il(hnig succedan stattgefunden hat, wird also nach der ersten Fixining der Quirlzahl jedes Organs in IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 507 das gleiche Stadimii eingetreten sein, in welches die Blüthen mit simultaner Qnirll^ildung auf kürzerem Wege gelangen ; und möglicher Weise sind in diesem Zustande beide nicht von einander zu imter- scheiden. Oft aber wird darin ein Unterschied bestehen, dass, während die letzteren gleichzählige, die ersteren ungleichzählige Quirle besitzen. You dem nomocyclischen Stadium aus verläuft die phylogenetische Weiterbildung in allen Blüthen, sie mögen durch simultane oder succedane Quirlbildung sich entwickelt haben, in gleicher Weise durch Schwinden ganzer oder auch partieller Quirle, und ferner, wenn ein Gegensatz zwischen Rücken- und Bauchseite sich geltend macht, durch Schwinden einzelner Quirltheile und Diiferenzirung sowohl der vollständigen als der defecten Quirle in Gestaltung und Function. Ich kann den Process nicht weiter ins Einzelne verfolgen. Das Bisherige wird genügen , um die ph^dogenetische Methode für den Aufbau der Blüthe verständlich zu machen. Die Aufgabe besteht also darin, Reihen zu begründen, in denen die Anordnung von der ursprünglich spiraligen und vielzähligen zu der cyclischen und reducirt wenigzähligen Blüthe , Stufe für Stufe , fortschreitet , und weiterhin festzustellen, welcher Reihe jeder einzelne, genetisch zusammengehörige Complex von Phanerogamen angehöre. Man möchte vielleicht meinen, dass diese Aufgabe zu unbestimmt gefasst sei und der Willkür grossen Spielraum gestatte. Bei näherer Ueberlegung wird man aber finden, dass dies durchaus nicht der Fall ist. Die phylogenetische Methode, wie ich sie entwickelt habe, hilft zwar leicht über einige Schwierig- keiten der bisherigen Betrachtungsweise hinweg, indem sie die betref- fenden Vorkommnisse (z. B. Wechsel verschiedenzähliger Quirle bei verschiedenen Individuen) in einfachster Weise erklärt, aber im all- gemeinen bleiben die Rücksichten des Ijish erigen vergleichenden Ver- fahrens in unveränderter Kraft. Es kommen ausserdem noch viele neue Rücksichten hinzu, indem alles, was l)isher als Ausnahmen und als Variationen unerklärt Ijlieb, durch die phylogenetische Methode erklärt und dafür die Norm festgestellt werden muss. Diese Methode erfordert also viel mehr Umsicht in der Bcurtheihmg der thatsäch- liclien Vorkommnisse im Blüthenbau als das bisherige vergleicbende Verfahren, verspricht dafür aber auch um so sicherere Resultate. Das bisherige vergleichende Verfahren beschäftigte sich vorzüglich damit, die Zahl der Quirle nach dem Gesetz der Alternanz festzu- stellen, nöthigenfalls zu emendiren, und die Art und Weise der Auf- 508 IX. Morphologie und Systematik als . phylogenetische Wissenschaften. einanderfolge zu bestimmen, ferner namentlich mit Rücksicht auf das häufigste A^ürkonmien den sogenannten Typus zu fixiren. Das phylogenetische Verfahren benutzt dazu ausserdem alle Variationen und sucht namentlich aus den polymeren Variationen die innerhalb einer Gruppe von verwandten Pflanzen vorkommen, und aus der Stellung der nach der Reduction ül)rig bleibenden Organe den ganzen Entwicklungsgang und besonders den nomocyclischen Aufbau als Grundplan, aus dem die verschiedenen sogenannten typischen Bildungen durch Reduction hervorgehen, festzustellen. So ergibt sich beispielsweise mit Rücksicht auf den vielbespro- chenen Blüthenbau der Cruciferen aus dem polymeren Androeceum, das bei einigen Cruciferen selber, dann bei anderen Familien der Rhoeadeen (Papaveraceen, Capjiarideen, Resedaceen) vorkommt, die wahrscheinliche Folgerung, dass in der Abstammungslinie dieser Klasse die Quirlbildung succedan (zuletzt im Androeceum) eingetreten ist, dass die Quirle ursprünglich 4 zälilig und in grösserer Zahl vor- handen waren , dass sie sich dann im Androeceum auf die Zahl von 2 limitirten, und dass schliesslich das Androeceum durch Schwinden zweier Phyllomc des unteren Quirls in den für die Cruci- feren »typischen« Zustand üljcrging, — wobei ich die Vervielfachung (»Verdoppelung«) der Staubgefässe in einzelnen Fällen durchaus nicht leugnen will , wenn sie nicht eher als Rückschlag zu er- klären ist. Das Gynaeceum der Cruciferen bestand ursprünglich ebenfalls aus zahlreichen Phyllomen (Papaveraceen, Capparideen, Resedaceen) und wurde wohl zuerst auf zwei, daini auf einen einzigen 4 zähligen Quirl reducirt, der bei den (yruciferen durch Schwinden der zwei medianen (bei den Resedaceen auch durch Schwinden der zwei trans- versalen) Carpelle 2 zählig geworden. DieVariationen indeiiBlüthen der Rhoeadeen mit .'5-, 5- und Ozähhgen Quirlen würden eine besondere Betrachtung mit genauer Berücksichtigung der Stellungsverhältnisse verlangen, sind aber wahrsclieinlich so zu deuten, dass, während in dem einen Zweig der Abstammungslinie, der zu den Cruciferen führt, strenge Vierzahl herrscht, in einem anderen die Zahl der Quirl- elemente zwischen 4, 5 und 6 wechselt, und dass die 6- und 3 zähligen Gj'naeaceen der Resedaceen, wie ihre Orientirungen beweisen, die Reste eines gesetzmässig doppelt 6 zähligen Carpellkreises sind. IX. M(>r])li()looi(^ und Sj'steinatik als phylogenetisolie Wisscnscliat'tcn. 500 H, I, K. Einzelne Theile der Blüthe. Nachdem dei' Aiilhau der Blüilic im allgemeinen betraclitet worden ist, verliing(!n die Besonderlicilcn iin'ci' Tlieile iioeli eine eigene kurze Besprechung. 11. Perigon. Die Phyllome des Perigons durehlauren die be- reits besprochenen Stufen der SteUung: 1. spirahg, 2. cychsch, die Stul'en der Verwaclisung: 1. alle Pliyllome getrennt, 2. die einen Cj^chis bildenden rölu^ig verwachsen, 3. die successiven Quirle mit einander ver- wachsen und endhch die Stufen der Reduction. Im übrigen ist das Perigon wesenthch durch Anpassung entstanden ; deshalb möchte ich nament- hch darauf aufmerksam machen, dass man nicht etwa 1 . Perigonmangel , 2. gleichartiges Perigon , 3. in Kelch und Krone geschiedenes Perigon als drei phylogenetische Stufen ansehe. Diese drei Bildungen stehen nach meiner Ansicht in keiner genetischen Beziehung zu einander, da ursjirünglich auf die Hochblätter (Bracteen) die Staubblätter folgten, dann Kelch oder kelchartiges Perigon aus den obersten Hochl;>lätiei'n, Krone oder kronartiges Perigon aus den untersten Staubblättern und Zwischenbildungen zwischen Kelch- und Kron- blättern aus Uebergängen zwischen Hochblättern und Staubblättern hervorgingen . /. Androeceum. Rücksichtlich der Gestaltung der Staub- blätter, welclie mehr Schwierigkeiten darbietet als diejenige der übrigen Phyllome, liegen zwei Stufen klar vor: ii. Staubblätter schuppenförmig mit mehreren Staubsäcken (C3- cadeen und einige Coniferen); L. Staubblätter diiTereiizirt in einen Staubkolbcn (Anthere) mit zwei Staubsäcken und einen Staubfaden, zuweilen mit nebelblatt- artigen Gel)ilden am Grunde. Diese beiden Stufen scheinen mir Anfang und Ende der phylo- genetischen Umbildung zu bezeichnen. Auf die erste Stufe folgt die Verzweigung oder Theilung des Staubblattes, auch wohl Verviel- fachung (»Verdoppelung«, basale Verzweigung), aber, wie ich glaube, zuletzt immer Rückkehr durch Reduction zum unverzweigten, in Stiel und Anthere differenzirten Staubgefäss. Es gibt noch, abge- i=> 510 IX. Morpholoj^ie und %stt'iuatik als pliylogenctische Wissenschaften. sehen vom inneren Bau, verschiedene Modificationen in der Ge- staUiing der Staubblätter, deren phylogenetische Bedeutung zweifelhaft ist, und die vielleicht als Anpassungen zu betrachten sind. Im übrigen finden wir beim Androeceum die früher besprochenen Stufen der Stellung und \^ erwachsung 1. spiralig, 2. cyclisch, 1 . frei, 2. mit den Staubfäden oder mit den Staubbeuteln verwachsen, 1. bodenständig, 2. kelchständig oder kronständig oder pistillständig, d. h. mit Kelch, Krone oder Pistill verwachsen, letzteres in den gynandrischen Blüthen, und die verschiedenen Stufen der Reduction 1. polymer, 2. oligomer (bei spiraliger Stellung), 1. polycyclisch, 2. nomocyclisch, 3. oligocyclisch (bei Quirl- stellung), 1. mit vollständigen, 2. mit unvollständigen Quirlen. Die Pollenkörner sind 1. frei oder 2. in Gruppen oder 3. in ganze Pollenmassen verwachsen. K. Gynaeceum. Gestaltung und Verwachsung der Carpelle zeigen vier Stufen: Kl. Carpelle schuppenförmig, flach (Gymnospermen). lu. Carpelle in Sclieide, Stiel und Spreite differenzirt, die Scheide mit den Rändern zum Fruchtknoten verwachsen (Ranunculaceen, Papilionaceen etc.). K:i. Wie 2, aber die quirlständigen Carpelle mehr oder weniger hoch mit einander verwachsen ; Fruchtknoten mehrcarpellig, mehr- fächerig (Liliaceen, Solanaceen, Geraniaceen etc.). Ä",. Durch Reduction oder Zurückziehen der Scheidewände auf den Rand verwandelt sich der mehrfächerige Fruchtknoten von K3 in einen typisch einfächerigen mehrcarpelligen, indem nun die Frucht- blätter in gleicher Weise wie die Kelchblätter in dem röhrigen Kelch klappig verwachsen sind (Papaveraceen, Violarieen, Cruciferen; — Uebergang von K, in K, bei den Caryophyllaceen). Bezüglich der Stellung der Carpelle haben wir den gewöhn- lichen Fortschritt von der Spiral- zur Quirlstellung ; aber die letztere unterscheidet sich von der der übrigen Phyllome dadurch, dass nur in Ausnahmefällen über einander stehende Quirle auftreten, und dass gewöhnlich alle Carpelle sich in einen einzigen Kreis ordnen IX. Moii)li, C, I) . . . .) geführt haben, fallen ausser Betracht, wenn es sich bloss um A und die Ursachen von A liandelt. — Es gibt selbst Individuen, die an keiner Abstammungslinie überhaupt Theil nehmen; es sind dies die von Natur zur Unfruchtbarkeit bestimmten, wie die Arbeiterinnen der Ameisen und Bienen. Irgendwelche Ver- änderungen in diesen Individuen würden für das Resultat der Ab- stamnumgslinien indifferent bleiben. Wir können eine Abstammungslinie statt als eine Kette von Pflanzen- oder Thierindividuen, auch als eine Kette von Organen oder von Zellen ansehen. Dann ist es von allen Organen oder Zellen der auf einander folgenden Ontogenien verhältnissmässig nur eine geringe Zahl, welche dieser Kette angehört; alle anderen stellen appendiculäre Theile derselben dar. — Nehmen wir die Zelle als das Element der Abstannnungslinie und lösen wir also das Individuum in die einzelnen Zellen auf, so beginnt mit der befruchteten Eizelle eine wiederholte Zweitheilung ; es geht von ihr ein fast ins Unendliche verzweigter Stammbaum von Zellen aus. Aber nur wenige der so zahlreichen Abstammungszellreihen führen zu den befruchteten Ei- zellen, mit denen die Individuen der folgenden Generation beginnen; alle übrigen Abstammungszellreihen sind accessorische und haben keine Nachkommen. Jene wenigen Reihen bezeichnen den uiunittel- baren Weg der durch das Individuum verlaufenden phylogenetischen Entwicklung. Insoferne können wir die ihr angehörigen Zellen als phylodische bezeichnen, während alle übrigen Zellen des Indi- vidumns, als ausserhalb des phylogenetischen Weges liegend, paro- dis(;h genannt werden können. Eine verwandte Betrachtung diente mir oben (8. 423) dazu, um die Noth wendigkeit des Absterbens der Individuen darzuthun. Wie mit den Zellen verliält es sich mit den Organen. Nur wenige derselben befinden sich bei den höheren Pflanzen auf dem directen phylogenetischen Wege, sind also 2>hylodiscli, nämlich der aus dem Samen erwachsende Stengel sammt den zu den Blüthen fülirenden Verzweigungen und die Eortpflanzungsphyllome (Staubgefässe und Carpelle). Alle übrigen Organe liegen abwegs und sind parodisch, nämlich alle 'frichome, alle Wurzeln, alle Phyllome mit Ausnahme der die Siaubsäcke und Ovula tragenden und manchmal auch gewisse IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 517 Caulome; nur ausnahmsweise wird etwa das eine oder das andere der parodischen Organe in den phylodischen Weg aufgenommen (Sprossung aus Wurzeln, aus Laubblättern). Man wird es nun an und für sich nicht unwahrscheinlich finden, dass die phylodischen und die parodischen Organe oder Zellen nicht die nämliche phylogenetische Bedeutung besitzen, womit dann zugleich ausgesprochen ist, dass die Bedeutung der phylodischen Theile grösser sein muss. Dies stimmt vollkommen mit der Theorie des Idioplasmas, wde ich sie in dieser Schrift entwickelt habe, überein.- Den phylo- dischen Theilen einer Pflanze müssen die Hauptzüge der idioplas- matischenConfiguration, den appendiculären oder parodischen Theilen müssen mehr untergeordnete idioplasmatische Gruppen entsprechen. Daraus folgt, dass die ersteren beständiger, also auch permanenter sind als die letzteren. Die einen und die anderen Organe besitzen zweierlei erbliche Merkmale, solche, welche durch innere, und solche, welche durch äussere Ursachen hervorgebracht wurden. Die letzteren oder die Anpassungsmerkmale haben eine viel geringere Permanenz (Constanz) und somit auch eine geringere Wichtigkeit; aber es macht keinen Unterschied, ob sie den phylodischen oder den parodischen Organen zukommen. Wohl aber sind sie an den parodischen Theilen ungleich häufiger, was sich leicht daraus erklärt, dass diese im allgemeinen gleichsam als seitliche Anhängsel die phylodischen Theile umgeben und dieselben wenigstens in den jüngeren Stadien vollständig ein- hüllen und somit vor äusseren Angriffen schützen, indem sie selber diese Angriffe aushalten. Man denke an die zahllosen Modificationen der Phyllome und der Trichome, zum Theil auch der Wurzeln. Den phylodischen Organen kommt ebenfalls die Fähigkeit der Anpassung zu, da .sie in den älteren Stadien frei und den äusseren Einflüssen ausgesetzt sind ; sicher aber erfahren in ihnen nur die aus parodischen Zellen gebildeten Gewebe eine Anpassung. Es entspricht also vollkommen der Theorie, wenn den IJhithen und Samen sammt Blüthenstand die höchste Bedeutung in der Syste- matik eingerämnt wird; denn in ihnen sind die meisten phvlodisclien Theile der Pflanze enthalten. Es fehlt sogar gar nichts von den phylodischen Theilen, wenn das Wesentliche des Blüthenstandes im Verhältniss des Blüthencauloms zu den übrigen Caulomen der Pflanze, also im Aufbau des ganzen Pflanzenstockes gefunden wird (S. 48U— 483). 518. IX. Morphologie luid Systematik als pliylogenctisclie Wisseiiscliaften. In der o1)igeii Betrachtung ül)er die phylogenetischen Entwick- lungen in der Grui)pe der Phanerogamen (S. 47'J — 513) sind die wichtigsten phylo(hschen Merkmale, welche sich auf die äussere Ge- staltung heziehen, aufgezählt. Dieselhen können im allgemeinen als sehr permanent und wichtig gelten. Dahei ist aher nicht aus- geschlossen, dass jedes Merkmal in denjenigen Familien variireh kann, in welchen der Fortschritt von der niederen zu der höheren Stufe noch im Werden begriffen oder noch jung und nicht hin- reichend befestigt ist. Man darf ferner nicht etwa den Einwand machen, dass die Stellung und Verwachsung der Phyllome (F S. -185), soweit dieselben nicht Staubblättei- oder Carpelle sind, die Zahl der Samenlappen {L S. 511), die Belilätterung der Pflanze {E S. 484) nach meiner eben gemachten Auseinandersetzung keine wichtigen Merkmale wären? da sie von parodischen Theilen entnommen seien. Allerdings sind die Phyllome im allgemeinen jjarodische Organe; aber ihre Stellung und ihre Zahl gehören, weil diesel]>en unmittelbar von dem erzeu- genden Caulom abhängen, eigentlich zu den Merkmalen des Cauloms, somit zu den phylodischen Merkmalen. Die A^erwachsung der Blätter unter einander, besonders der Perigonljlätter , ist eine Folge der Quirlstellung und tritt wohl immer, wenn nicht etw^a die schmalen Blattstiele ein Ilinderiiiss bilden, im phylogenetischen Verlaufe ein; sie wird also ebenfalls durch das Verhalten des Cauloms , eines phylodischen Organs, bestimmt. Dagegen ist die Gestaltung der Phyllome sowie der ül)rigen parodischen Organe (Trichome, Wurzeln) von geringer phylogenetischer Bedeutung. Schliesslich will ich noch bezüglich einiger Pflanzen , denen man den höchsten Rang im Reiche einräumen wollte, und bezüglich einiger anderer, die wohl ebenso sehr diesen Rang hätten ])ean- spruchen können, untersuchen, inwiefern ihre Merkmale überhaupt zu einem Schlüsse auf grössere Vollkommenheit berechtigen. Ich wiederhole hier, dass wir als die vollkonnnensten diejenigen Pflanzen zu betrachten haben, in welchen in den wichtigsten Organen die Differenzirung und zugleich die Reduction sowie ferner die Ver- einigung am weitesten fortgeschritten sind. Die grössere Zahl der IX. Morphologie und Systeiuatik als [)hylogenetische Wissenschaften. 51JJ Organe ist also nicht das Merkmal einer höheren Stufe, sondern im allgemeinen das Gegeiitheil davon, und die quantitative Verschieden- heit, welche in einer Menge von Ahstufungen besteht, ist unvoll- kommener als der Zustand, in welchem nach Unterdrückung aller Uel)ergänge Ijloss die wenigen ausgeprägten Bildungen ül)rig Ijleiben und unvermittelt neben einander liegen. Die R a n u n c u 1 a c e e n , die als die vollkommensten Pflanzen an der Spitze des Systems von A. P. de Ca nd olle stehen, erreichen in keinem einzigen Merkmale einen hohen phylogenetischen Rang. Der Aufbau des Pflanzenstockes bleibt auf der untersten Stufe, indem die ßlüthen an den Laubblattsprossen terminal sind. Ebenso stellen das Androeceum und Gynaeceum bezüglich Stellung und ^''crwachsung niedrige Bildungen dar, da die Staubgefässe und Carpelle ge- wöhnlich zahlreich, schraubenständig und nicht mit einander ver- wachsen sind. Die Pomaceen, von Oken für die höchsten Pflanzen ge- halten , 1)efinden sich bezüglich des Aufbaues des Pflanzenstockes auf der nämlichen niedrigen Stufe wie die eben genannte Familie. Androecemn und Gynaeceum jedoch stehen etwas höher, indem die Staubblätter kelchständig und in Quirle geordnet sind , deren Zahl aber noch nicht normirt ist, und indem die (zwar unter sich freien) Carj)elle mit dem vertieften Blüthenboden zu einem unterständigen Fruchtknoten verwachsen sind. Bei den Papilionaceen, die von Endlicher an die Spitze des Systemes gestellt wurden , erreicht der Aufbau des Pflanzen- stockes die höchsten Stufen (er ist diplo-triplo- und tetraplocaulisch), ebenfalls die Gestaltung der Laubblätter. Dagegen bleiben die Blüthen rücksichtlich der Verwachsung ihrer Theile auf niederen Stufen stehen, und das Gynaeceum, wenn es auch die liöchste Reduction (auf 1 Carpell) erlangt hat, ist, wie sich aus seinem Bau und aus der ganzen Verwandtschaft schliessen lässt, als der Rest einer Mehr- zahl von getrennten Carpellen, also einer niederen Bildung zu be- trachten. Die Um bellif ereil, gleichfalls schon für die vollkonuncnsten Pflanzen gehalten, stehen zwar bezüglich des Aufbaues des Pflanzen- stockes etwas hinter der vorhergehenden Familie zurück, indem sie zwar diplo- und triplocaulisch sind , aber leicht durch Rückschlag auf die haplocaulische Stufe zurücksinken, wie auch die .Dorsi- 520 IX- Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. ventralität der Blüthe noch wenig ausgebildet ist. Dagegen befindet sich im übrigen die Blüthe entschieden auf einer höheren Stufe. Was den Bauplan betrifft, so ist das Androeceum und Gj^naeceum wahrscheinlich durch Reduction aus der nomocyclischen Zahl 3 mal 5 Staubblätter und 2 mal 5 Carpelle entstanden , wie es durch Mon- strositäten und durch das Verhalten der verwandten Araliaceen nahe gelegt wird. Besonders aber ist es der streng unterständige Frucht- knoten mit ursprünglich 2, durch Verkümmerung auf 1 beschränkten Eichen in jedem der beiden Fächer, welcher die Uml^elliferen über alle vorhergenannten Familien erhebt. Die bisherigen Familien , deren ich deswegen erwähnt habe, weil sie schon an die Spitze von Pflanzensystemen gestellt wurden, gehören den Choripetalen an , welche die Systematiker gewöhnlich für die höchste Pflanzengruppe halten. Ich will damit noch eine Familie der Gamopetalen vergleichen. Die Compositen, bereits von E. Fries für die vornehmste Familie erklärt, können in mehreren Beziehungen mit den Umbelliferen zusammengestellt werden. Der Aufbau des ganzen Pflanzenstockes ist etwas weiter fortgeschritten, nämlich diplocaulisch oder triplocaulisch ohne Rück- schlag zu einer terminalen Blüthe. Der Bauplan der Blüthe scheint mir durchaus identisch mit dem der Umbelliferen und die typische Zahl (5 Sep. 5 Pet. 5 Stam. 2 Carp.) aus der nämliclien nomo- cyclischen Zahl durch Reduction entstanden. Die C'om})Ositen stehen aljer höher als die Umbelliferen , indem die Staubfäden mit den Blumenblättern röhrig verwachsen und ebenso die Antheren unter sich in eine Röhre verschmolzen sind, und indem ferner das unter- ständige aus 2 Carpellen verwachsene Ovarium 1 fächerig und leiig ist. Obgleich die Monocotylen ausnahmslos als den Dicotylen unter- geordnet behandelt werden , will ich doch zur Vergleichung zwei Familien derselben heranziehen. Die Orchideen stehen bezüglich ihres ganzen Aufbaues ziemlich auf derselben Stufe mit den Papi- lionaceen und Compositen, indem sie diplo- und triplocaulisch sind. Viele zeichnen sich durch eine starke Reduction ihrer Phyllome aus, indem die Zahl der Laubblätter nicht selten auf 2 oder ein einziges sich beschränkt. Der cyclische Aufbau der Blüthen zeigt im Androe- ceum die grösstmögliche Reduction auf ein Staubblatt, im Gynaeceum die Reduction auf 8 (fruclitbare) Carpelle. Einen sehr hohen Ent- wicklungsgrad zeigen auch die Unterständigkeit des Ovariums, dessen IX. Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften. 521 klappige Verwachsung und die Gynandrie an. Dagegen bieten die Samen wegen ihrer grossen Zahl und wegen der geringen Ausbildung des Embryos ein bei Phanerogamen seltenes Beispiel der Unvoll- kommenheit ; denn es ist ja ein Merkmal der niederen Organismen, zalilreiche, schleclit ausgestattete Keime hervorzubringen, während die höheren Organismen ihre wenigen Keime viel besser versorgen. Die Gramineen, meistens an eine der untersten Stellen im System der angiospermen Phanerogamen verwiesen, sind im ganzen Aufbau diplocauhsch , und zeigen eine selten in solchem Maasse erreichte Scheidung zwischen Laub- und verkümmerten Hochblättern. Die cyclisch gebauten Blüthen sind im Perigon aufs äusserste, im Androeceum meist auf 3 , im G3'naeceum auf 1 (vielleicht auf 2) Carpelle reducirt. Jedenfalls ist das Ovarium, auch wenn es 1 carpellig ist, phylogenetisch aus mehreren klappig verwachsenen Carpellen entstanden, wde aus den verwandten Cyperaceen zu erselien ist, und entspricht somit bezüglich seines Baues und ebenso, weil es ein ein- ziges Ovulum einschliesst, der höchsten Entwicklungsstufe, während es in der Oberständigkeit hinter den Orchideen zurückbleibt. Der Grund , warum den Gramineen gewöhnlich eine so tiefe Stelle im System angewiesen wird , liegt in der rudimentären Be- schaffenheit des Perigons und wohl aucli in der Spelzennatur der Hochl)lätter , sowie in der Gestalt und Consistenz der Laul)ljlätter. Doch sind dies alles Anpassungseigenschaften und von geringerer systematischer Bedeutung; und ebenso wenig darf den Orchideen wegen ihres grossen, bunten und mannigfaltig gestalteten Perigons ein höherer Platz im System eingeräumt werden. Welche von den beiden Familien die andere überrage, wüsste ich nicht zu entsclieiden; und wie sich dieselben zu den höher stehenden Familien unter den Dicotyleii verhalten, hängt vorzüglich von dem gegenseitigen Wertlie der Dicotyleii und Monocotylen ab. Was nun die Stellung dieser beiden grossen Pflanzengruppen betrifft, so datirt sich die tiefere Stellung der Monocotylen von Jus- s i e u , dem Begi'ünder des natürlichen Pflanzeiisystcmes her, dessen dreiHauptabtheilungen Acotyledonen, Monocotyledonen, Dicotyledonen in dieser Anordnung die natürliche Reihenfolge gefunden zu haben schienen. Als man dann zu der Einsicht kam , dass in den Dico- tyleii von Jussieu eine Pflanzengruppe, die Gymnospermen, ent- halten sei, welche zwischen den übrigen Phanerogamen und den 522 I^- Morphologie und Systematik ul« phylogenetische Wissenschaften. Kryptogameii stehe, so räumte man ilmen diesen Platz ohne weitere Aenderung- im System ein, so dass nun auf die Geliisskr^^ptogamen nach einander Gymnospermen , Monocotylen , Dicotylen folgten ; während doch die richtigere Reihenf(jlge unter den Phanerogamen gewesen wäre: 1. Gymnospermen oder Polycotylen. Mit 2 bis vielen am Grunde schmalen Samenlappen, Gefässstränge des CVmloms zu fortgesetztem Dickenwachsthum und zur Verschmelzung in einen Ring befähigt. 2. Dicotylen. Mit 2 (selten mehreren) am Grunde schmalen Samenlappen, Gefässstränge des Cauluins zu fortgesetztem Dicken- w^achsthum und zur Verschmelzung in einen Ring befähigt. 3. Monocotylen. Mit 1 am Grunde scheidenförmig ver- breiterten Samenlappen, Gefässstränge des Cauloms zerstreut, weder zu fortgesetztem Dickenwachsthum noch zur Verschmelzung in einen Ring fähig. Dass der monocotyle Embryo als das höhere j)hylogenetische Merkmal zu betrachten sei, habe icli oben gesagt (S. 511). Doch würde aus diesem einen Merkmal noch nichts für die ganzen Pflanzen und die ganzen Gruppen folgen. — Man kann die Vergleichung der Monocotylen und Dicotylen nacli drei Gesichtspunkten vornehmen: 1. nach dem Ursprung derselljen , 2. nach dem durchschnittlichen Bau der zu ihnen gehörenden Pflanzen, 3. nach dem Bau der höchst entwickelten Pflanzen. Was zuerst den Ursprung betrifft, so wäre der genetische Werth entschieden, wenn wahrsclieinlich gemacht werden könnte, dass die Dicotylen aus den Monocotylen oder diese aus jenen entstanden seien. Aber es ist weder das eine noch das andere möglich, soweit es sich um den jetzigen Umfang der Gruppe handelt. Man muss jedenfalls die Abstamnmngslinien der Gymnospermen , der Mono- cotylen und der Dicotylen sehr weit zurückverfolgen, ehe man zu dem gemeinsamen Ausgangspunkte kommt. Möglicher Weise ist jede dieser Gruppen mit mehreren oder vielen getrennten Stämmen von den niedersten ausgestorl)enen Gefässkryptogamen ausgegangen, oder alle ihre Abstammungslinien waren auf der Stufe der niedersten Gefässkryptogamen in einen einzigen oder in einige wenige Stämme vereinigt. Ob das eine oder das andere der Wirklichkeit entspricht, macht aber keinen Unterschied für den phylogenetischen Werth. IX. MorpLologie und Systematik als phylogenetische Wissenscliafteu. 523 Bezüglich des durchschnittlichen Baues kann ^vu]d kein Zwcii'el bestehen, dass die Monocotylen den höheren Rang einnehmen, da bei übrigens gleichen Verhältnissen die Blüthen in der grossen Mehr- zahl c}-cliscli , und zwar meist nomucyclisch oder oligocyclisch (die Quirle und Quirlelemente durch Reduction auf eine geringe Zahl vermindert) sind. Die durchschnittliche hohe Ausbildung der Mono- cotylen deutet aber vielleicht bloss darauf hin , dass sie die ältere Gruijpe sind und ihre niederen Familien meistens durch Aussterben verloren haben. Fragen wir uns endlich, ob die höchst organisirte Pflanze bei den Monocotylen oder Dicotylen sich finde , so ist dies jetzt wohl noch nicht mit Sicherheit zu Ijeantworten. Nach meiner Ansicht muss als der höchste Organisnms derjenige betrachtet werden, der den zusammengesetztesten Bau und die grösste Theilung der Functionen besitzt, oder mit anderen Worten derjenige, dessen Organisation die grösste Zahl von vorausgegangenen Entwicklungsstufen voraussetzt. Nun sind aber bei den phanerogamischen Gewächsen mehrere Organe an dem phylodischen Theil der Ontogenie betheiligt und jedes der- selben kann eine grössere oder geringere Zahl von Entwicklungsstufen zurückgelegt haben. Es handelt sich also bei jeder Pflanze um eine Summirung, für deren exacte Ausführung es noch an einer wissen- schafthchen Methode fehlt. Die Werthschätzung hängt somit zum guten Theil von subjectiver Meinung ab. Nacli meinem Gefühle würde ich den Conipositen einen, wenn auch nur geringen, Vorrang vor allen anderen Dicotylen und Monocotylen einzuräumen geneigt sein. Man könnte auch daran sich erinnern, dass diesell)en jedenfalls diejenige Pflanzenfamilie darstellen, welche in der jüngsten Zeit die stärkste phylogenetische Vermehrung erfahren hat, in der jetzigen Pflanzenwelt alle anderen an Zahl der Sippen übertrifft und wahr- scheinlich zu dem Maximum ihrer numerischen Vertretung gelangt ist, so dass in Zukunft wohl wieder Verminderung der Sippenzahl eintreten wird. Al)er aus dieser Thatsache , durch welche sich die Conipositen so charakteristisch im Pflanzenreiche hcraushel)en, lässt sich kaum etwas auf ihren Rang in demselljen entnehmen. X. Zusammenfassung. In dieser Zusammenfassung verfolge ich im allgemeinen den umgekehrten Weg von dem, welchen die Al)handlung eingeschlagen hat. Ich gehe nämlich von dem unorganischen Urzustände aus und suche zu zeigen, wie in demselben die micellös-organisirte Sub- stanz und aus dieser die Organismen mit ihren mannigfaltigen Eigen- schaften entstanden sind. Da eine solche Synthese noch weit von einer streng naturgesetzlichen Folgerung aus den gegebenen Stoffen und Kräften entfernt ist, so wird sie auch nur durch die genaue Kenntniss der vorausgegangenen Erörterungen verständlich und ein- leuchtend. Obgleich das synthetische Verfahren die Mängel der Theorie offener darlegt als die analytischen Untersuchungen, so hielt ich es doch für nützlich, diese Darstellung zu versuchen, um ein anschaulicheres Bild der ganzen mechanisch - physiologischen Lehre zu geben und zugleich ihre Leistungsfähigkeit zu prüfen. I. Aufbau der unorganisirten Körper (Krystailbildung). Wenn die getrennten und sich durch einander bewegenden Moleküle des gelösten oder geschmolzenen Zustandes irgend einer Substanz nach Verminderung der Treiniungs- und Bewegungsursachen (der Wärme oder des Lösungsmittels) in den ruhenden Zustand über- gehen, so legen sie sich zu festen, für Flüssigkeiten undurchdring- lichen Massen an einander, -welche durch Auflagerung an der Ober- X. Zusammenfassung. 525 fläche wachsen und, wenn die Molecnhirkridte ungestört wirken können, den regehuässigen inneren Bau und die regehnässige äussere Gestalt der Krystalle annehmen. Xon den äusseren Umständen hängen Zahl und Grösse, die Modifi('ation der äusseren Gestalt und die ^Verwachsungen der Krystalle ah. S. 93 — 95. 2. Aufbau der lebenden organisirten (micellösen) Körper. Einige organische A^erbindungen , darunter das Eiweiss, sind weder molecularlöslich, trotz ilu-er grossen Verwandtschaft zu Wasser, noch auch schmelzbar und werden deshalb im micellösen Zustande erzeugt. Dieselben bilden sich in Wasser, wobei sich die unmittelbar neben einander entstehenden Moleküle zu Krystallanfängen oder Micellen an einander legen. Von den in der Folge sich bildenden Molekülen können nur solche, die ein Micell berühren, zur Ver- grösserung desselben beitragen , während die übrigen wegen ihrer Unlöslichkeit neue Micelle erzeugen. Daher bewahren die Micelle eine auch für das bewaffnete Auge unsichtbare Kleinheit. Die Micelle umgeben sicli, wegen der Verwandtschaft ihrer Sub- stanz zu Wasser, mit einer verdichteten Wasserhülle. Ueber die- selbe hinaus überwiegt die Anziehung zu gleicher Substanz. Daher vereinigen sich die mit Wasser umhüllten Micelle zu festen (von Wasser durchdrungenen) Massen, wenn nicht die bewegenden Kräfte die Anziehung überwinden und eine micellare Lösung herstellen (Eiweiss, Leim, Gummi) , wobei die wenig beweglichen Micelle die Neigung zeigen, in kettenartigen und anderen Verbänden zusammen zu hängen. Sehr häufig kommen, namentlich beim Eiweiss, halb- flüssige, zwischen dem ersteren und dem letzteren Zustand befind- liche Modificationen vor. Die innere und äussere Beschaffenheit der micellösen Körper hängt wesentlich von der Grösse, Gestalt und dynamischen Natur ihrer Micelle ab, indem diese Momente die Anordnung der ur- sprünglich sich vereinigenden und die Einordnung der später sich Itildeiiden Micelle bedingen. Die äusseren Umstände hal)en auf die Structur geringen und auf die äussere Gestalt vorzüglich nin- insofern maassgebenden Einfluss, als sie die freie Ausbildung mechanisch hemmen können. 526 ^- Zusammenfassung. Die Eiweiss- oder Plasmaniicelle sind der grössteii Mannigfaltig- keit t'ähio;, sowohl rücksichtlicli der Gestalt und Grösse als rück- sichtlich der chemischen Zusammensetzung, da sie aus ungleich- artigen Gemengen von verschiedenen Ei weiss Verbindungen bestehen und überdem mit verschiedenen organischen und unorganischen Stoffen als Auf- oder Zwischenlagcrungen vermengt sind. Deswegen verlialten sich auch die chemischen und phj^sikalischen Eigenschaften des Plasmas so sehr verschieden; dasselbe zeigt in Folge der un- gleichen Verwandtscliaft der Micelle zu Wasser alle Abstufungen von der Micellarlösung bis zu ziemlich festen Massen. S. 35 — 37, 6Q— 68, 95 — 99. 3. Urzeugung. Leben. Wachsthum. Wenn in einer unorganisclien Unterlage die Molecularkräfte so combinirt sind , dass spontane Eiweissbildung stattfindet, so sind mit der Vereinigung der Micelle die primordialen Plasmamassen der Urzeugung gegeben. Im Inneren der letzteren geht fortan unter dem Einfluss ihrer Molecularkräfte die Erzeugung von Albumin noch leichter von Statten als ausserhalb in der Flüssigkeit. Es treten daher die in der unorganischen Unterlage vorhandenen, der Eiweiss- bildung fähigen A^erbindungen vorzugsweise in die Plasmamassen ein und bewirken durch Einlagerung von Eiweissmicellen das Wachs- thum derselben. Hierin besteht das organische Leben in seiner ein- fachsten Form. Die Urzeugung setzt die Entstelumg von Plasmamicellen aus den Molekülen voraus und kann daher nicht durch Eiweiss- oder Peptonlösungen, da dies micellare Lösungen sind, eingeleitet werden. Das Leben setzt die Einlagerung von Plasmamicellen voraus; es hört daher auf, sobald durch schädliche Einflüsse die Micellar- anordnung so w^eit gestört ist, dass jener Wachsthumsprocess un- möglich wird. Das durch Urzeugung entstehende Wesen muss vollkommen einfach, eine Plasmamasse mit noch ungeordneten Micellen sein, weil jede Organisation ohne eine vorausgehende organisirende Thätig- keit undcidvbar ist. Desw^egen können die bekannten Organismen nicht spontan entstanden sein ; es muss ihnen ein Reich von ein- facheren Wesen (Probien) vorangegangen sein. X. Zusammenfassung. 527 Das Wacli.stliuni der Plasmainassen dauert an, so lange die Ernährungsverhältnisse günstig sind. Werden diese ungünstig, so tritt je nach Umständen (Nährstoffmangel, Temperaturerniedrigung, relatives Austrocknen) Vegetationsruhe (latent(!S Lel)en) oder par- tieller oder vollständiger Tod ein. Das Wachsthnm der Pflanzen und Thicrc i.st nichts anderes als die Fortsetzung des im })rim<)rdialen Plasma Ix^gonncnen Wcichsthuiiis, welches jcwcilcii in den lehens- fähigen Resten weiter geht. 8. S3 — 101. 4. Partielles Absterben der Individuen. Fortpflanzung. Da die primordialen Plasmamassen in unheg'renzter Weise die Nährstoffe anziehen und zum Wachsthum verwenden, so gehen bald da haM dort die Nährstoffe aus und die Substanz, die nicht mehr ernährt wird, geht grösstentheils zu Grunde. Es stellt sich nun ein allgemeiner Gleichgewichtszustand ein , indem die lebenskräftigen Plasmamassen stets ungefähr so viel durch Wachsthum zunehmen, als abgestorbenes Plasma zersetzt und in die ursprünglichen Nährstoffe zurückverwandelt wird. Dieses Bilanzveri'aliren ist im primordialen Zustande und auch noch später bei manchen der niedrigsten Organismen ungeregelt und zufällig. Es wird ^phylogenetisch nach und nach regelmässiger, in der Weise, dass die Individuen nur mehr ein bestimmtes Maass der Grösse und der Dauer erreichen und dann zu Grunde gehen, indem bloss die von ihnen abgesonderten Keime lebensfähig bleiben. Diese als Fortpflanzung bekannte Erscheinung hat einen dopj^elten Ursprung. A. Das zu beträchtlicher Grösse anwachsende primordiale Plasma, als eine weiche fast lialljflüssige Masse, zerfällt durch die mechanische Wirkung der äusseren Umstände in kleinere Partien von unbe- stiinrjiter Zahl und Grösse. Damit ist die unregelmässige und zufällige Fortpflanzung der untersten Stufe gegeben. In den A])könmdingen des primordialen Plasmas wird in Folge dt;r ( )rganisirung der Sul>stanz, besonders in Folge der Plautbildnng an derselben, die Theilung nach und nach regelmässiger, bis endlich in mikroskopisch kleinen Massen, die nunmehr Zellen heissen, die Zweitheilung stets eintritt, nachdem dieselben etwa auf das Doppelte der ursprünglichen Grösse angewachsen sind. Nach der Theilung trennen 528 ^' Zusammenfassung. sich die beiden Hälften von einander und stellen selbständige Indi- viduen dar. Im weiteren phylogenetischen Verlaufe tritt die Zweitheilung der Zellen zwar in der nändichen regelmässigen Weise ein. Aber die Zellen blei])en mit einander verbunden und bilden mehrzellige, durch Zelltheilung sich vergrössernde Indi\dduen, welche auf den untersten Stufen zuweilen in regelmässigen Intervallen in kleinere Individuen, wold auch zuletzt in die einzelnen Zellen zerfallen, aus denen aber sonst sich periodisch Zellen ablösen, die sich als Keime zu neuen mehrzelligen Individuen entwickeln. B. Eine andere Erscheinung, welche am primordialen Plasma oder dessen nächsten Abkömmlingen eintritt, ist die, dass unter gewissen ungünstigen Ernährungsum ständen der grössere Theil des Plasmas zu Grunde geht, indess ein kleinerer Theil auf dessen Un- kosten noch ernährt wird und dann während der Vegetationsruhe lebenskräftig bleibt. Diese Erscheinung wird in den Nachkommen nach und nach zur freien Zellbildung, welche vor der Vegetationsruhe oder vor dem Absterben vieler ein- und mehrzelliger Organismen stattfindet und aus einem Theil des Inhaltes der betreffenden Elterzellen Keime bildet. Die Keiml)ildung diu'ch Zelltheilung (A) oder durch freie Zell- bildung {B) ist die Fortpflanzung der Organismen. Die Keime sind die Elemente, in denen sich das Leben und das Wachsthum des elterlichen Individuums fortsetzt. S. 342 ff. §3u. 4; 349. 5. Morphologie des Idioplasmas im allgemeinen. Von dem ungeordneten, weichen und gleichartigen primordialen Plasma, das durch Micelleinlagerung wächst, wird der grössere Theil zu wasserreichem Ernährungsplasma mit ungeordneten und leicht beweglichen Micellen. Der kleinere Theil verwandelt sich ph3do- genetisch in Idioplasma, indem an einzelnen günstigen Punkten die unter dem Einfluss der Molecularkräfte sich einlagernden Micelle zu Schaaren mit gleicher Orientirung sich anordnen und daher Körper von geringerem Wassergehalt und grösserer Festigkeit bilden. Jeder Idioplasmakörper besteht anfänglich nur aus einer Micellschaar, die X. Zusammenfassung. 529 aber mit der zunehmenden Einlagerung nothwendig in mehrere Schaaren zerfällt. Die Micellschaaren des Idioplasmas werden ver- möge ihrer dynamischen Einwirkung auf ihr eigenes Wachsthum Iheils schärfer ausgeprägt und bestimmter geschieden, theils dvTrch neue al) weich ende Einlagerungen in ihrem Innern al)ermals diffe- renzirt. Dieser phylogenetische Process, bei welchem die neue Kräfte- combination eine neue Configuration erzeugt und umgekehrt, setzt sich ohne Ende fort, so dass der Idioplasmakörper lediglich durch innere Ursachen, d. h. dm'ch die jMolecularkräfte der Eiweissmicelle, unter deren Einfluss das Wachsthmn vor sich geht, eine stets zu- nehmende Complication der Configuration annimmt: autonome Ver- vollkommnung oder Progression des Idioplasmas, Entropie der orga- nisirten Substanz (vgl. § 8). B. Die eben charakterisirte phylogenetische Vervollkommnung des Idioplasmas durch innere Ursachen wird kamn beeinträchtigt durch die verschiedene Ernährung und durch die klimatischen Ein- flüsse, welche die Ernährung modificiren. Dagegen sind alle die- jenigen äusseren Kräfte , welche während langer Zeiträume in gleicher Weise als Reize einwirken, bei der Einlagerung der Micelle in das Idioplasma und bei den molecularen Vorgängen zwischen den Micellen in sehr bemerkbarer Weise betheiligt (§11). Die Reiz- wärkungen veranlassen die eigenartige Ausbildung der unter dem Einfluss des Vervollkommnungstriebes sich neu einordnenden Micell- schaaren. So ninnnt die stetig complicirter werdende Configuration des Idiojjlasmas auch stetig einen den äusseren Verhältnissen ent- sprechenden Localton an: Anjjassung des Idioplasmas. S. 22—29, 115—119, 173—182. 6. Function des Idioplasmas im allgemeinen. Die ungeordneten Eiweissmicelle des spontan entstandenen Plasmas haben vor dem unorganisirten Zustande, aus dem sie her- vorgegangen, noch keinen anderen Vorzug, als den, dass unter dem Einfluss ihrer Molecularkräfte die Bildung neuer gleicher Eiweiss- micelle leichter erfolgt. So wie sich aber durch die fernere Wirkung der Molecularkräfte Idioplasmakörjicr mit Schaaren gleich orientirter Micelle bilden , so werden die Molecularkräfte dieser letzteren zu Massenwirkungen smnmirl und dadurch neue chemische Processe V. Nägeli, Abstammungslehre. 34 530 ^- Zusammenfassung. eingeleitet, jilastische Bildungen aus plasmatischen und nicht plas- matischen Substanzen erzeugt und Massenbewegungen hervorge- bracht; — und da die Idioplasmakörper unter dem Einfluss der äusseren Reizwirkungen sich ausbilden, so treten auch ihre eben genannten Producte stets mit einem bestimmten Charakter der An- passung an die Aussenwelt auf. Sowie dann im weiteren phylogenetischen Verlauf die Idioplasma- körper immer complicirter werden und aus einer grösseren Zahl unter sich verschiedener Micellschaaren bestehen, so müssen auch die Organismen zusammengesetzter werden und sich in eine grössere Zahl von Theilen gliedern, weil jede Micellschaar des Idioplasmas ihre specifische Wirkung rücksichtlich des inneren Baus, der äusseren Gestaltung und der Verrichtungen ausübt. S. 30—35, 43—53, 129—132, 173—182. 7. Anlagen; Entstehen und Verschwinden derselben. Da eine eigenartige Gruppe oder Schaar von Micellen des Idio- plasmas eine eigenartige Erscheinung am Organismus hervorbringt, so wird die erstere als die Anlage der letzteren bezeichnet. Der Organismus muss also mindestens so viele Anlagen in seinem Idio- plasma enthalten, als seine erbliche Ontogenie aus verschiedenen Er- scheinungen zusammengesetzt ist, und wenn in derselben neue Er- scheinungen auftreten, so müssen vorher neue Micellgruppen in das Idioplasma eingelagert oder schon vorhandene bezüglich der Orien- tirung und Anordnung der Micelle umgewandelt werden. Die Bil- dung einer solchen Anlage , sie mag die Vervollkommnung der Organisation oder die Anpassung an die Aussenwelt betreffen, geht immer sehr langsam vor sich ; und in der Regel wird sie erst, wenn sie fertig ist, auch entfaltungsfähig. Neben den fertigen Anlagen befinden sich daher immer werdende oder unfertige im Idio- plasma. Wenn eine Abstammungslinie unter andere äussere Verhältnisse kommt und andere äussere Reize auf sie einwirken als bisher, so tritt phylogenetisch eine denselben entsprechende neue eigenartige Micell- anordnung im Idioplasma auf. Dabei bleiben die anderen Anpassungs- anlagen entweder ungestört, oder die neue Anlage bildet sich auf Unkosten bereits vorhandener verwandter Anlagen aus, welche zuletzt X. Zusammenfassung. 531 ganz verschwinden können. Nebenden werdenden und fertigen Anlagen enthält daher das Idioplasma ünmer auch geschwächte und verschwindende Anlagen. Dadurch dass ein phylogene- tischer Stamm mehrmals unter andere äussere Verhältnisse geräth, kann er zuletzt in seinem Idiojjlasma eine grosse Zahl von werdenden, fertigen und vergehenden Anpassungsanlagen vereinigen. Diese Zahl vermehrt sich beträchtlich, wenn infolge von Kreuzung eine Ver- schmelzung der Idioplasmen verschiedener Sippen stattfindet. 8. Bestimmte Vorstellung über die Morphologie des Idioplasmas. Indem bei der phylogenetischen Entwicklung des Plasmas sich in dem weicheren Ernährungsplasma das dichtere Idioplasma aus- scheidet (§ 5), hat das letztere von Natur die Neigung, eine netz- förmige Anordnung anzunehmen. Die Balken dieses Netzes bestehen ihrem Ursprünge gemäss aus parallelen, der Länge nach verlaufenden Micellreihen , welche zu Schaaren niederer und höherer Ordnungen vereinigt sind, so dass der Querschnitt der Balken die Configuration des Idioplasmas darstellt. Jede Ontogenie (Individuum) beginnt mit einem winzigen Keim, in welchem eine kleine Menge von Idioplasma enthalten ist. Dieses Idioplasma zerfällt, indem es sich fortwährend in entsi^rechendem Maasse vermehrt , bei den Zelltheilungen , durch welche der Orga- nismus wächst, in eben so viele Partien, die den einzelnen Zellen zukommen. Die ontogenetische Vermehrung des Idioplasmas ge- schieht durch das Längenwachsthum der Balken, nämlich durch intercalare Einlagerurig von Micellen in jede Micellreihe der Balken, welche sich dadurch verlängern, ohne ihre Querschnittsconfiguration zu ändern. Demzufolge enthält jeder Idioplasmabalken alle An- lagen, die das betreffende Individuum mi Keime geerbt hat, und jede Zelle des Organismus ist idioplasmatisch befähigt, zum Keim für ein neues Individuum zu werden. Ob diese Befähigung sich verwirklichen könne, hängt von der Beschaffenheit des Ernährungs- plasmas ab. Das Vermögen hierzu kommt bei niederen Pflanzen jeder einzelnen Zelle zu; bei den höheren Pflanzen haben es manche Zellen verloren; im Thierreiche besitzen es im allgemeinen nur die zu ungeschlechthchen oder geschlechtlichen Keimen normal be- stimmten Zellen. 34* 532 X- Zusammenfassung. Die phylogenetische Fortbildung der Idioplasmastränge geschieht durch das Wachstlium in der Querrichtung. Ihre Querschnittscon- figuration, welche die Summe aller Anlagen enth<ält, ändert sich im allgemeinen nur dann, wenn neue Micellreihen eingelagert werden. Die Micellreihen des Idioplasmas schliessen aber, entsprechend der Dichtig- keit desselben , enge an einander, so dass nur selten neue Reihen eintreten können, und zwar nur an den bestimmten Stellen, wo der Zusammenhang weniger fest ist und daher von den Spannungen überwunden wird. Der Zusammenhang ist in unregelmässiger Weise ungleich, weil die Configuration des Querschnittes gemäss dem Ur- sprünge nie regelmässig ist; die Si:)annungen werden durch das un- gleiche Längenwachsthum der einzelnen Micellreihen verursacht. Auf den Zusammenhang und die Spannungen haben einen entscheidenden Einfluss die dynamischen Einwirkungen, welche die Micellschaaren der bereits erlangten Configuration auf einander ausüben und welche durch die von aussen kommenden Reize modificirt werden können. Das Idiojilasma verändert mit der Zunahme in den auf einander folgenden Ontogenien seine Configuration stetig, aber verhältniss- mässig äusserst langsam , so dass dieselbe von dem Keim einer Generation bis ziun Keim der näclisten Generation einen winzigen Fortschritt macht. Die Summirung dieser Fortschrittsdifferentiale durch eine ganze Abstammungslinie stellt die Stammesgeschichte eines Organismus dar, indem derselbe allein durch sein Idioj^lasma in ununterbrochener Continuität mit dem einzelligen Anfang seines Stammes zusammenhängt. S. 37—43, GO— 08, 116 — 12U, 177—182. 9. Bestimmte Vorstellung über die Function des Idioplasmas. Eine plasmatischc Sul>stanz verursacht nur dann bestimmte chemische und physikalische Veränderungen, wenn sie sich in einem gewissen Bewegungszustande befindet. Die eigenartige Wirksamkeit, w^elche das Idioplasma in jedem ontogenetischen Entwicklungsstadium und in jedem Theil des Organismus vollbringt, hängt davon ab, dass jeweilen eine bestimmte Micellgruppe des Strangquerschnittes oder ein Complex von solchen Gruppen thätig wird, indem diese locale Erregung durch dynamische Einwirkung und durch Ueber- tragung eigenthüinl icher Schwingungszustände bis auf eine mikro- X. Zusammenfassung. 533 skopisch sehr geringe Entfernung die chemischen uiul plastischen Processe beherrscht. Der wirksame Erregungszustand einer plasmatischen Substanz wird von ihrer eigenen Beschaffenheit und von der Einwirkung, die sie von aussen empfängt, bedingt. Welche Micellgruppe des Idioplasmas in Erregung gerathe, hängt von der Configuration desselben, von den vorausgegangenen Erregungen und von der Stelle im indivi- duellen Organismus ab , an welcher sich das Idioplasma befindet. Die Anlagen sind während der ganzen Abstammungszeit von der Primordialzelle aus nach einander entstanden ; die Configuration des Idioplasmas ist daher eine j)hylogenetische und die Anlagen in dem- selben haben von Natur die Neigung , in der Reihenfolge sich zu entfalten, in der sie sich gebildet haben. Indem ferner bei der Keimbildung die neue Ontogenie als einzelliges Individuum beginnt, so kommt diejenige Anlage des IdiojDlasmas zur Entfaltung, die in dem einzelligen Vorfahr entstanden war,' und ebenso unterstützen die weiterhin folgenden Entwicklungsstadien die jeweilige Entfaltung der Anlagen, die in den ihnen analogen Vorfahren ihren Ursi>rung hatten. Die beiden zusammenwirkenden Ursachen, die phylogene- tische Configuration des Idioi:)lasmas und die durch dieselbe bedingten auf einander folgenden morphologischen Entwicklungsstadien des Individuums halben zur nothwendigen Folge, dass die Ontogenie die Wiederholung der Phylogenie ist. Wenn in einer Ontogenie die ganze übrige Reihe der idioplas- matischen Anlagen zur Entfaltung gelangt ist, so folgt schliesslich sowohl nach der Configuration des Idioplasmas als nach der Be- schaffenheit des Organismus die Erregung der keimbildenden An- lagen; das Individuum ist fortpflanzungsfähig und in den Keimen beginnen die neuen Ontogenien. S. 30—35, 43—53, 129—132, 177 — 182. 10. Uebertragung der idioplasmatischen Anlagen bei localer Veränderung und bei der Befruchtung. Die autonome, progressive (oder VervollkoinuHiungs-) Umwand- lung des Idioplasmas ist wahrscheinlich in allen Eiitwicklungsstadien thätig und erfolgt in allen Theilen des Organismus gleichmässig, weil das Idioplasma seine Configuration während der Ontogenie stets 534 X. Zusammenfassung. und überall bewahrt. Die von aussen kommenden Reize treffen den Organismus gewöhnlich an einer bestimmten Stelle; sie be- wirken aber nicht bloss eine locale Umänderung des Idioplasmas, sondern pflanzen sich auf dynamischem Wege auf das gesammte Idioplasma, welches durch das ganze Individuum in ununterbrochener Verbindung sich befindet, fort und verändern es überall in der näm- lichen Weise, so dass die irgendwo sich ablösenden Keime jene localen Reizwirkungen empfunden haben und vererben. Bei der Keimbildung der geschlechtlichen Fortpflanzung müssen die beiden elterlichen Idioplasmen in Berührung mit einander kommen, worauf entweder eine materielle Vereinigung und Bildung eines gemischten Idioplasmas oder eher eine dynamische Einwirkung und dadurch eine Umbildung, welche aber jenem gemischten Idio- plasma vollkommen gleichwerthig ist, erfolgt. Befi'uchtung durch Diosmose des männlichen Zeugmigsstoffes ist unmöglich. In dem Idioplasma des bei Kj-euzung ungleicher Individuen entstandenen Keimes haben die Micellreihen der einzelnen Anlagen bald eine mittlere Beschaffenheit und bringen Eigenschaften an dem Organismus hervor, welche zwischen den elterlichen Eigenschaften die Mitte halten. Bald liegen die väterlichen und die mütterlichen Micellreihen in dem Idioplasma des Kindes unverändert und in ver- schiedener Gruppirung neben einander und bringen am Organismus die beiderseitigen Merkmale entweder ebenfalls unvermittelt neben einander oder nur das eine der elterlichen Merkmale hervor, indem das andere latent bleibt. Wegen der bei der Befruchtung erfolgenden Vereinigung der beiden Idioplasmen vermögen zwei zeugungsfähige Organismen um so eher mit einander einen entwicklungsfähigen Keim zu bilden, je näher sie genetisch mit einander verwandt sind , je mehr also das männliche und das weibliche Idioplasma in ihrer Configuration und chemischen Beschaffenheit übereinstimmen, weil in diesem Falle die Mcellanordnungen am besten in einander j^assen und das Idioplasma des beginnenden Keims in der mütterlichen Ernährung den ge- eignetsten Unterhalt findet. Wenn trotzdem Selbstbefruchtung oder die engste Inzucht oft Producte von geringerer Existenzfälligkeit liefert und von der Natur vermieden wird, so ist dies die Folge von späterhin sich geltend machenden Nachtheilen, indem in allzu nahe verwandten Idioplasmen gleichsinnige Störungen vorhanden sein X. Zusammenfassung. 535 können, die bei ungehemmter Ausbildung gefährlich werden; dies trifft um so mehr zu, je complicirter das Idioplasma gebaut ist, während den einfachsten (ungeschlechtlichen) Organismen der abso- lute Mangel der Kreuzung keinen Schaden bringt. S. 53—60, 205—206, 215—230. II. Wirkung der äusseren Einflüsse. Die Einflüsse der Aussenwelt liefern dem Organismus vor allem Kraft und Stoff für die Lebensvorgänge ; sie verursachen, wenn bei den bezüglichen Eingriffen die idioplasmatischen Elasticitätsgrenzen nicht überschritten werden, keine bleibenden Veränderungen und halben nur ontogenetische Bedeutung; sie unterhalten das Wachs- thum und den Stoffwechsel der Individuen und bedingen indivi- duelle (nicht erbliche) Verschiedenheiten, welche die Ernährungs- modificationen ausmachen; die von ihnen hervorgebrachten Lei- stungen erscheinen als die unmittelbaren Folgen der wirkenden Ursachen. Die Einflüsse der Aussenwelt bewirken ferner, indem ihre An- griffe die idioplasmatischen Elasticitätsgrenzen überschreiten, dauernde Veränderungen, welche in dem einzelnen Individuum zwar unmerklich gering, aber wenn sie durch lange Zeiträume in gleichem Sinne thätig sind, sich zu bemerkbarer Grösse steigern. Diese Verände- rungen sind als erbliche von phylogenetischer Bedeutung und führen zur Varietäten- und Speciesbildung ; sie erscheinen wohl immer als die Folgen von mehr oder weniger vermittelten Reactionen, welche auf die von den äusseren Ursachen ausgeübten Reize eintreten. Die von der Aussenwelt auf den Organismus ausgeübten Reize werden auf das Idioplasma fortgepflanzt. Da der erstere bei jedem Wechsel der Ontogenien zu Grunde geht und nur das letztere aus- dauert, so bewirken die äusseren Einflüsse einzig in dem Idioplasma bleibende Veränderungen, welche erst, nachdem sie zu fertigen und entfaltungsfähigen Anlagen sich entwickelt haben, an dem Orga- nismus sichtbare Umbildungen hervorbringen. Die phylogenetischen Wirkungen der äusseren Reize geben der durch innere Ursachen complicirter werdenden Configuration des Idioplasmas das bestimmte Anpassungsgepräge und vermögen dieses Ge|)räge wahrscheinlich nur nach Maassgabe der autonomen Aus- bildung des Idioplasmas umzugestalten. 536 X- Zusammenfassung. Wenn eine äussere Ursache endlos auf eine Abstammungslinie einwirkt, so erreicht die ihr entsprechende Veränderung des Idio- plasmas nach einer gewissen Zeit ihr Maximum und damit ihr Ende, entweder weil in Folge der Umprägung, die den Charakter der Abwehr zeigt, die Ursache nicht mehr als Reiz empfunden wird, oder weil die Beschaffenheit der Substanz keine Steigerung der Umprägung erlaubt. Dauert die Reizeinwirkung nur kurze Zeit, so steht die begonnene Umbildung des Idioplasmas nachher entweder still, oder sie geht infolge des erlangten Anstosses selbständig fort und die Anlage wird entfaltungsfähig, nachdem ihre Ursache längst schon zu wirken aufgehört hat. Da auf einen Reiz eine vielfach vermittelte Umsetzung im Or- ganismus folgt, so kann das Endresultat, das als Reaction zum Vor- schein kommt , sehr verschiedenartig ausfallen , und die nämliche äussere Ursache kann je nach der Beschaffenheit des Organismus und der übrigen Verhältnisse sehr ungleiche Veränderungen zur Folge haben. Sie bewirkt aber im bestimmten Falle inmier auch ganz bestimmte Veränderungen. Wegen der mannigfaltigen Vermittlung ist es oft schwer, die äussere Ursache einer bestimmten phylogenetischen Anpassungs- veränderung aufzufinden; in manchen Fällen erkennen wir siezwar unschwer in einer bestimmten mechanischen Action, oder in der Wärme, im Licht, in der Verdunstung. Meistens erweckt der Reiz in dem Organismus bloss ein ßedürfniss, dem letzterer durch Reaction abzuhelfen bestrebt ist, und es scheint, dass auch das Bedürfniss oder der Mangel allein schon eine solche Reaction hervorzurufen vermag. In der Geschlechtssphäre wirken ferner (elektrische?) An- ziehungen und Abstossungen zwischen den idioplasmatischen An- lagen zu phylogenetischen Veränderungen mit. Die Anpassungen des entfalteten Organismus, welche Folgen der äussern Einflüsse sind, bestehen entw'eder bloss in einer eigen- thümlichen molecularen Beschaffenheit (Reizbarkeit), vermöge welcher das Individuum auf jene Einflüsse mit vorübergehenden oder dauernden Erscheinungen zu antworten befähigt ist, — oder in fertigen Einrichtungen. Die letzteren haben im allgemeinen eine doppelte Function: entweder schützen sie den Organismus vor den äusseren Einflüssen , deren Folgen sie sind , oder sie setzen ihn in den Stand, dieselben zu seinem Vortheil zu verwenden. Das Vor- X. Zusammenfassung. 537 wiegen der einen oder anderen licaction führte zu der Entwicklung des Pflanzen- unare Maximum der Anpassung an die jeweilige Umgebung besitzen. Diese beiden idioplasmatischen Veränderungen geschehen so langsam, dasserst nach langen lieihcn von Generationen die neuen Anlagen entfaltungsfähig und dm-ch Umwaiidkmg der sichtbaren Merkmale manifest werden. Ausser den genannten phylogenetischen ^''eränderungen , die nach Massgabe des ontogenetischen Wachsthums stattfinden, erleidet 542 X- Zusammenfassung. das Idioplasma in Folge der Kreuzung, somit beim Wechsel der Ontogenien, Kreuzungs Veränderungen, die man als still- stehende bezeichnen kann, da durch die Vermischung der geschlecht- hch verschiedenen Idioplasmen nur neue Zusammenordnungen der vorhandenen Anlagen (nicht Neubildungen von Anlagen) und damit auch neue Combinationen der Entfaltungsmerkmale entstehen (§ 15). In Folge schädlicher äusserer Einwirkungen treten in dem Idio- plasma abnormale oder Krankheits-Veränderungen auf, bestehend in Verschiebungen seines Gleichgewichts, ebenfalls ohne Neubildung von Anlagen ; dadurch werden die vorhandenen Anlagen veranlasst, in abnormalen Verhältnissen und meistens in Rückschlägen sich zu entfalten. Abgesehen von den aufgezählten erblichen Veränderungen des Idioplasmas und den damit zusammenhängenden Umwandlungen der sichtbaren Merkmale, erfahren das Ernährungsplasma und die nicht- plasmatischen Substanzen durch die Einflüsse der Ernährung und des Klimas grössere oder geringere Veränderungen, welche die Ernährungsmodificationen darstellen und im grossen und ganzen, da das Idioplasma unberührt bleibt, nur so lange andauern als die Ursachen, die sie hervorgerufen haben. Von Vererbung als einer specifischen Erscheinung kann, wenn wir das innere Wesen der Organismen im Auge haben, eigentlich keine Rede sein, da die Abstammungslinie ein continuirliches Indi- viduum von Idioplasma ist. In diesem Sinne ist sie nichts anderes als die Beharrung der organisirten Substanz in einer sich verändernden Bewegung oder der nothwendige Uebergang einer idioplasmatischen Configuration in die nächstfolgende ; und sie ist nicht bloss zwischen den ontogenetisch geschiedenen Pflanzen- und Thierindividuen, sondern auch innerhalb dieser Individuen überall da vorhanden, wo indivi- duelle Theile (Zellen, Organe) der Zeit nach auf einander folgen. Erbliche Erscheinungen sind solche, die mit Nothwendigkeit auf die folgenden Generationen übergehen, und im allgemeinen solche, die im Idioplasma ihren Sitz haben, da die nichtidioplasmatische Substanz sich nur durch eine begrenzte Zahl von Zellgenerationen zu ver- erben vermag. Gewöhnlich beurtheilt man Veränderung und Vererbung nicht nach dem innern Wesen, sondern nach dem Verhalten der ent- falteten Individuen in den successiven Generationen, indem man X. Zusammenfassung. 543 Vererbung annimmt, wenn die Entfaltungsmerkmale die nämlichen bleiben, Veränderung, wenn bisher latente Merkmale manifest werden. Diese Erscheinungen gehören aber einem andern Gebiete an; sie betreffen die Entfaltungsfähigkeit und Entfaltung der idioplasmatischen Anlagen. S. 272—283. 17. Varietät, Rasse, Modification. Aus den verschiedenartigen Veränderungen der Organismen gehen verschiedene Kategorien von Sippen hervor. Die A^arie täten ent- stehen durch die äusserst langsamen Vervollkommnungs- und An- passungsänderungen des Idioplasmas, welche, da sie von den nämlichen Ursachen bedingt werden, auch in allen Individuen der gleichen Varietät in gleichmässiger Weise erfolgen. Die Varietäten sind ein- förmig, unter den verschiedensten äusseren Verhältnissen durchaus constant, kreuzen sich im allgemeinen nur schwer mit verwandten Varietäten, werden durch allfällige solche Kreuzungen nicht ver- ändert und haben eine Dauer von Erdperioden. Die Varietäten gehören, im Gegensatz zur Cultur, der freien Natur an ; sie können, unbeschadet ihrer specifischen Merkmale, alle möghchen Modificationen annehmen, aber keine Rassenunterschiede zeigen, indem Anfänge zur Rassenbildung durch die Concurrenz stets vernichtet werden ; ihr Yer- hältniss zu den Species beruht nur darin, dass sie als näher verwandte Species oder die Species als entfernter stehende Varietäten zu bezeichnen sind, während jeder andere unterscheidende Charakter mangelt. Die Rassen entstehen durch die Kreuzungs- und Krankheits- ändermigen des Idioplasmas; im ersten Fall setzen sie Kreuzung zwischen verw^andten Varietäten oder Species, im zweiten Fall eine gesteigerte Empfindlichkeit und Schwächung des Idioplasmas voraus ; sehr häufig unterstützen sich die beiden Momente, indem die Kreuzung leichter erfolgt, wenn das Idioplasma durch schädliche Einflüsse ge- schwächt wird , und indem die Reizbarkeit und Schwächimg des Idioplasmas sich vermehrt, wenn Kreuzung vorausgegangen ist. Die Rassenbildung beginnt in einzelnen Individuen, und weil die Ursachen verschieden sind, bei mehreren Individuen in verschiedener Richtung, und kann daher eine grosse Vielförmigkeit zeigen. Die Rassen zeichnen sich durch mehr oder weniger abnormale Merkmale aus, sie entstehen rasch, oft in einer einzigen Generation, und besitzen eine sehr ungleiche 544 ^- Zusammenfassung. Constanz, die nur bei strengster Inzucht einigermaassen gesichert ist ; durch Kreuzung gehen alle Rassen , manche aus Krankheits- änderungen entstandene Rassen gehen auch schon durch geschlecht- liche Fortpflanzung (bei Selbstbefruchtung) zu Grunde. Die Rassen gehören ausschliesslich dem Culturzustande an, wo sie vor der Con- currenz geschützt sich entwickeln und bestehen können. Während Varietäten und Rassen durch fortschrittliche oder still- stehende Veränderungen des Idioplasmas entstehen , werden die Modificationen durch solche Einflüsse der Ernährung und des Klimas erzeugt, welche bloss auf das Ernährungsplasma und die nicht plasmatischen Substanzen einwirken und daher nicht erbliche Eigenschaften an den Organismen hervorbringen. Die Modificationen haben nur so lange Bestand, als ihre Ursachen andauern, und gehen unter anderen Verhältnissen alsbald in die denselben entsprechenden Modificationen über ; der Uebergang vollzieht sich bei den niedersten Pflanzen durch eine Ijeschränkte Zahl von Zellengenerationen , bei den höheren Pflanzen am nämlichen Stock während der Bildung eines Jahrestriebes. Jede Varietät und jede Rasse tritt stets in einem bestimmten Modificationskleide auf und kann dasselbe in einem ihr eigenthümhchen Umfange wechseln. S. 229 — 272, 297—310. 18. Gesellschaftliche und gesonderte Entstehung der Arten. Die Art gelit Aveder aus der Ernährungsmodi fieation noch aus der Rasse hervor; sie ist stets eine weiter gediehene Varietät, und Artbildung daher mit Varietätenbildung identisch. Grund zur Ver- änderung und somit zur Varietätenbildung ist immer gegeben, wenn entweder, auch bei gleichbleibenden äusseren Verhältnissen, die auto- nome Veränderung des Idioplasmas soweit gediehen ist, dass die Ontogenie sich auf eine höhere Stufe der Organisation und Arbeits- theilung erhebt, oder wenn die von aussen kommenden Reizeinflüsse in einer mit der bisherigen Anpassung nicht übereinstimmenden Weise während hinreichend langer Zeit einwirken. Es entstehen daher leicht verschiedene Varietäten aus einer einförmigen Sippe, wenn diese diu'ch locale Ti'ennung unter ungleiche äussere Einflüsse geräth, weil an den gesonderten Orten einerseits die autonome Weiter- bildung ungleich rasch vor sich gelit und andrerseits die Anpassung ungleich ausfällt. X. Zusammenfassung. 545 Im allgemeinen aber müssen die verschiedenen Varietäten aus einer einförmigen Sippe gesellschaftlich entstehen, weil die beisammen lebenden Individuen der letzteren wegen der grossen Ungleichheit der äusseren Einflüsse auf die kleinsten Entfernungen ungleich angeregt werden, und weil ferner auch bei geringer individueller Verschiedenheit auf die nämlichen äusseren Einwirkungen oft un- gleiche Reactionen erfolgen. Wenn identische Individuen gleich sehr 7A1 verschiedenen Reactionen auf den nämlichen Reiz geneigt sind, so entscheidet manchmal die Richtung der ersten Veränderung über den Charakter der Anpassung und somit über die Beschaffen- heit der Varietät, weil die einmal begonnene Veränderung auch unter etwas verschiedenen Einflüssen unbeirrt weiter fortschreitet, — so dass also die auf benachbarten ungleichen Standorten durch Um- bildung des Idioplasmas begonnenen verschiedenen Varietäten, welche wegen der leichten Verbreitung durch Samen räumlich bald ver- mengt werden, auf allen Standorten in Gesellschaft mit einander sich divergirend ausbilden. Die gesellschaftliche Varietätenbildung wird durch die Kreuzung, welche allein die Rassenbildung beherrscht, im Allgemeinen nicht gestört. — Sie wird erfahrungsgemäss bestätigt durch die überall sich wiederholende Thatsache, dass mehrere Anfänge von allernächsten Varietäten nicht nur in der nämlichen Gegend, sondern selbst auf den nämlichen Standorten zusammen vorkommen, während die geographische Verbreitung der besseren A^arietäten und der ver- wandten Arten keinen Aufschluss über deren Entstehen, sondern bloss ül jer die letzten grossen Wanderungen der Pflanzenwelt bietet, weil sie, wie schon aus ihrer Verbreitung selbst sich ergibt, vor dieser Periode entstanden sind. Ebenso wie verschiedene Varietäten gleichzeitig an dem näm- lichen Orte aus einer Sippe sich bilden, so kann die nämliche Varietät an weit von einander entfernten Orten entstehen, wenn die analogen äusseren Reizeinflüsse im Idioplasma eine identische Umbildung verursachen. Die erfahrungsgemässe Bestätigung findet sicli in der Tliatsache, dass die gleichen Varietätsanfänge oft in weiten Entfer- nungen von einander auftreten. Eine scheinbare gesellschaftliche Entstehung der Varietäten ist dann gegeben, wenn dieselben die ungleichen Anlagen, die sie an verschiedenen Orten gewonnen haben, erst, nachdem sie durch V. Nägeli, Abstammungslehre. 35 546 X. Zusammenfassung. Wanderung zusammen gekommen sind, entfalten, — eine schein- bare gesonderte Entstehung der nämlichen oder auch verschiedener Varietäten dann, wenn die Bildung der Anlagen an einem und dem- selben Ort stattfindet, die Entfaltung der Anlagen aber erst, nachdem die Sippe durch Wanderung sich zerstreut hat, eintritt. S. 248—259, 21)7—310. 19. Allgemeines Verhalten der phylogenetischen Stämme in den orga- nischen Reichen. Da das Wesen eines Organismus allein auf der Summe seiner idioplasmatischen Anlagen beruht (§14), so besteht die Entwicklung eines phylogenetischen Stammes in der Entwicklung des Idioplasmas, welche aus der mit ihr im allgemeinen parallel gehenden Umände- rung der sichtbaren ontogenetischen Merkmale erkannt wird. Das Idioplasma verändert sich auf zweierlei Weise: 1. durch autonome Vervollkommnung, 2. durch die Anpassung an die äusseren Ver- hältnisse. Vermöge der autonomen ^'^eränderung des Idioplasmas erlangen die Ontogenien einer Abstammungslinie eine stets complicirtere Or- ganisation und grössere Theilung der Functionen , wobei aber nur die qualitative Verschiedenheit, nicht die quantitative und numerische Vertretung maassgebend ist. Da das Zusammengesetztere mehr Com- binationen zulässt als das Einfachere, so kann sich ein phylogene- tischer Stamm, wenn er durch die autonome Entwicklung eine höhere Stufe erreicht, in mehrere Stämme sj)alten, von denen jeder als seine Fortsetzung erscheint. Da die Anpassungsänderung nur von dem Wechsel der äusseren Verhältnisse abhängt, so kann ein Organismus auf eine höhere Stufe der Organisation und Arbeitstheilung sich erheben, indem er seine Anpassung behält und dieselbe bloss entsprechend seiner reicheren Gliederung weiterbildet. Er kann aber auch, indem er auf der nämhehen Organisationsstufe verharrt, seine Anpassung verändern; und da die Anpassungsänderung, ol)wohl im Verhältniss ziu* Dauer der Ontogenien äusserst langsam, doch im A'^ergleich mit der auto- nomen Entwicklung rasch sich vollzieht, so kann ein Organismus, so lange er auf der nämlichen Stufe der Organisation und Arbeits- theilung verharrt, mehrmals seine Anpassung wechseln. Da es X. Zusammenfassung. 547 ferner zahlreiche verschiedenartige Anpassimgen gibt, so kann ein Stamm sich aiü' jeder Stufe in mehrere Anpassungsformen und selbst in ganze Verzweigungssysteme von Anpassmigsformen spalten , die im System als Arien, Gattungen, oft selbst als ganze Familien er- scheinen, wiewohl in andern Fällen innerhalb einer Familie auch verschiedene Organisationsstufen vertreten sind. S. 129—132, 177—182, 197—198. 20. Entwicklungsgesetze des Pflanzenreiches. In dem i>robialen Reich, das dem Pflanzen- und Thierreiche vorausgeht, bildet sich aus dem spontan entstandenen Plasma all- mählich die selbständige Zelle mit ihren charakteristischen Eigen- schaften : Wachsthum durch Micelleinlagerung, Bildung einer plas- matischen Hautschicht und einer nichtplasmatischen Membran um dieselbe, Theilung der Zelle, Trennung der so entstandenen Zellen, Zellbildung frei im Inhalte. Diese Eigenschaften vererben sich von den Probien auf die phylogenetisch ihnen folgenden Pflanzen und Thiere. Die Entwicklung des Pflanzenreiches geschieht durch fol- gende gosetzmässige I^rocesse, die ihre Wirksamkeit durch die ganzen phylogenetischen Reihen bewahren. Gesetz der phylogenetischen Vereinigung. Die aller- einfachsten Pflanzen sind Zellen von rundlicher Gestalt, welche wachsen und sich durch Theilung, Sprossung oder freie Zellbildung fortpflanzen. Dadm'ch, dass die Kindzellen, statt sich von einander zu trennen und zu selbständigen Pflanzenindividuen zu werden, mit einander vereinigt bleiben, entstehen aus den einzelligen Pflanzen vielzellige. Der nämliche Uebergang der Fortpflanzungszellen in (sich nicht ablösende) Gewebezellen wiederholt sich noch mehrmals bei vielzelligen Pflanzen und dient dazu, das Individuum zu ver- grössern. In diesem phylogenetischen Process gibt sich das Be- streben der Pflanze kmid, Tlieile, die auf den tieferen Stufen sich loslösen mid selbständig werden, auf den höheren Stufen zu einem zusammengesetzten Körper zu verbinden. Ein gleiches Vereinigungs- bestreljen zeigt sich aucli bei solchen Pflanzentheilen, die durch Ver- zweigung entstanden sind und nur stellenweise zusammenhängend ein ästiges System darstellen ; dieselben legen sich auf den höheren 35* 548 X. Zusammenfassung. Stufen zusammen und verwaclisen unter einander zu einem con- tinuirliclien Gewebe. Gesetz der phylogenetischen Complication oder der Ampliation, Differenzirung und Reduction. Die Zellen und überhaupt die Theile der Pflanzen, die räumlich neben einander liegen, oder zeitlich auf einander folgen, sind auf den tieferen Stufen stets einander gleich. Durch Differenzirung werden sie ungleich, so dass die Summe der Functionen, die unter- schiedslos allen Theilen zukam , nun auf die einzelnen Theile ge- schieden ist, wobei jeder Theil die ihm zukommende Function um so besser auszuführen vermag. Die Differenzirung wiederholt sich im phylogenetischen Verlaufe, indem zuerst alle Theile einer Onto- genie sich in zwei oder mehr Partien, dann die Theile dieser Partien sich abermals scheiden u. s. f. — Neben diesem Scheidungsprocess ist stets ein anderer Vorgang thätig, der jenem gleichsam den Boden bereitet, nämlich die Ampliation, vermöge welcher das Wachs- thum der ganzen Ontogenie oder einzelner Abschnitte derselben eine quantitative Steigerung erfährt, so dass ein Organ eine grössere Zahl von Zellen, ein Verzweigungssystem eine grössere Zahl von Organen gewinnt. Nach dieser numerischen Zunahme der Theile eines Onto- genieabschnittes erfolgt die Differenzirung, soweit es die Natur der Functionen zulässt, in der Weise, dass die am meisten geschiedenen Theile durch Zwischenbildungen in einander übergehen. Durch den weiteren phylogenetischen Process der Reduction werden dann die Zwischenbildungen unterdrückt, so dass zuletzt nur die extremen Producte der Differenzirung, und auch diese quantitativ und numerisch so viel als möglich beschränkt, räumlich neben einander liegen oder zeitlich auf einander folgen. Neben den genannten phylogenetischen Processen, welche durch die autonome Fortbildung des Idioplasmas geschehen, ist eine stete Einwirkung der äusseren Einflüsse thätig, die dem Organismus jeweilen ein seiner Umgebung entsprechendes locales Gepräge ver- leihen und den Gesetzen der Anpassung folgen (§0, 11). S. 338—425. 21. Der Generationswechsel in phylogenetischer Beziehung. Da die einfachsten Pflanzen Zollen sind und die zusammen- gesetzteren aus Zellen sich aufbauen, so kann eine ganze Abstam- X. Zusammenfassung. 549 mungsliiiie als eine Reihe auf einunder folgender Zellgenerationen betrachtet werden. Auf der untersten Stufe sind alle Zellgenerationen einander gleich; auf allen übrigen zeigen sie stets grösser und zahlreicher werdende Verschiedenheiten. Es besteht also Generations- wechsel der Zellen, indem ihre Generationenreihe in immer mannig- faltigerer Weise sich in Perioden gliedert. Unter diesen Perioden umfasst die ontogenetische Periode oder Ontogenie alle Ge- nerationen von einer Zelle bis zur Wiederkehr der ganz gleichen Zellenart. Auf den untersten Stufen der Zellenungieichheit sind die Zellen der successiven Generationen alle selbständig; die onto- genetische Periode besteht aus einem Cyclus von Generationen ein- zelliger Pflanzen. Später sind die Zellgenerationen einer Ontogenie partienweise zu Pflanzenindividuen verbunden; die ontogenetische Periode besteht aus einem Cyclus von vielzelligen und einzelligen oder bloss von vielzelligen Pflanzengenerationen. Wenn alle Zell- generationen einer ontogenetischen Periode zu einem einzigen Indi- viduum sich vereinigt haben, so sind die auf einander folgenden Pflanzengenerationen gleich und der Generationswechsel hat auf- gehört. Die Ungleichheit der Generationen entsteht entweder durch die inneren Ursachen der zeitlichen Differenzirung allein, oder diurch zeitliche Difi:erenzirung , welche ein bestimmtes Gepräge durch den Wechsel der Jahreszeiten erhält. Im letzteren Falle geht aber das Merkmal der Anpassung im phylogenetischen Verlaufe wieder ver- loren und der Generationswechsel erfolgt dann ohne Rücksicht auf die Jahreszeit. Ist bei den niederen Pflanzen mit dem Generations- wechsel die angegebene Anpassung verljunden, so wiederholt sicli während der ontogenetischen Periode die eine der ungleichen Pflanzen- generationen eine unbestimmte Zahl von IVIalen (Wiederholungs- generationen), während die andere nur einmal und zwar bei Beginn der Ruhezeit eintritt und in Form einer Dauerspore bis zum Anfang der nächsten Vegetationszeit latent bleibt. An diese eigentliche Uebergangsgeneration, welche auf den tieferen Stufen geschlechtslos, auf den folgenden durch Zusammentreten einer männliclien und einer weiblichen Zelle entstanden, also androgyn ist, reihen sich gewöhnlich später noch zwei Einzelgenerationen an, nämlich eine vor und eine nach der androgynen Generation, jene als geschlcchts- erzeugende, diese als geschlechtserzeugte Generation. 550 X. Zusammenfassung. Die phylogenetische Bedeutung des Generationswechsels besteht darin, dass er eine Uebergangsstufe von den einzelligen zu den ein- facheren vielzelligen und von diesen zu den zusammengesetzteren vielzelligen Pflanzen darstellt. Die Pflanzengenerationen auf irgend einer phylogenetischen Stufe vermehren sich durch Ampliation, werden durch zeithche Differenzirung ungleich (Generationswechsel) und vereinigen sich zu einem gegliederten Pflanzenindividuum, dessen ungleiche Abschnitte den ungleichen Pflanzengenerationen der fi'üheren Generationenreihe entsprechen. S. 426—454. 22. Morphologie als phylogenetische Wissenschaft. Alle Erscheinungen, welche die Organismen darbieten, gehören ihren Ursachen nach zwei verschiedenen Gebieten an. 1 . Die einen sind in jeder Ontogenie die Folgen der äussern Einflüsse und ver- erben sich nicht ; sie stellen die Ernährungsmodificationen dar, werden durch Versuche geprüft und machen den Inhalt der experi- mentellen Physiologie aus, 2. Die andern sind geerbt und vererben sich wieder; sie gehören der Physiologie des Idioplasmas an. Das Hauptgebiet der letzteren beschäftigt sich mit der Entstehung der Anlagen, sohin mit der Varietäten- und Artbildung; es ist allen Versuchen unzugänglich und macht die Phylogenie oder die Phy- siologie der Anlagenbildung aus. Ein kleineres Nebengebiet be- schäftigt sich mit der Entfaltung der vorhandenen Anlagen, sohin mit der Rassenbildung ; es wird vorzüglich durch Kreuzungsversuche gefördert und kann als Physiologie der Anlagenentfaltung bezeichnet werden. Die morphologischen Erscheinungen, welche in der Systematik ihre Verwendung finden , gehören ausschliesslich dem phylogene- tischen Gebiet an. Die ontogenetische Entwicklungsgeschichte gibt uns keinen Aufschluss über ihre wahre Bedeutung; diese kann bloss auf phylogenetischem Wege durch Vergleichung einer Erscheinung mit denjenigen, aus denen sie im Verlaufe der Abstammungslinie hervorgegangen ist, erkannt werden. S. 455— 4G2, 472—479. X. Zusammenfassung. 551 23. Das Pfianzensystem vom phylogenetischen Standpunkt. Die spontane Entstehung der Organismen hat zu allen Zeiten und an allen Orten stattgefunden, insofern die dazu nothwendigen Bedingungen vereinigt waren. Nach der Entstehung beginnt die autonome phylogenetische Entwicklung und schreitet beständig fort ; in Folge dessen erhebt sich die Abstammungslinie von Zeit zu Zeit auf höhere Stufen der Organisation und Functionstheilung , stirbt aber, wenn die autonome Fortbildung aufhört, als altersschwach aus. Die Abstammungslinien der jetzt lebenden Organismen haben daher ein ungleiches Alter; diejenigen der höchst entwickelten Pflanzen und Thiere nahmen ihren Ursprung in den frühesten Perioden des organischen Lebens, diejenigen der niedrigsten Organismen in den letzten Perioden. Es besteht also keine allgemeine genetische Ver- wandtschaft zwischen den jetzt lebenden Sippen; bloss die nahe verwandten und ziemlich auf gleicher Orgauisationsstufe stehenden können als Zweige des nämlichen phylogenetischen Stammes be- trachtet werden. Ein phylogenetisches Pflanzensystem besteht nicht wirklich, sondern bloss bildlich. Wenn zwischen zwei Sippen genetische Verwandtschaft, in Wirk- hchkeit oder als Symbol, angenommen werden kann, so lässt sich ihr Verwandtschaftsgrad in theoretisch genauer Weise durch die Zahl und Grösse der phylogenetischen Schritte bestimmen, welche, je nachdem die Sippen der nämlichen oder collateralen Linien an- gehören, entweder zwischen ihnen beiden oder zwischen ihnen und dem gemeinsamen Ausgangspunkt sich befinden. — Die Zugehörig- keit zweier Organismen zur nämlichen Abstammungslinie ist daran zu erkennen, dass die Ontogenie des höher stehenden diejenige des tiefer stehenden umfasst und als deren naturgemässe Weiterljildung sich kund gibt. Da wegen der grossen Lückenhaftigkeit der jetzigen Pflanzen- welt nur eine verhältnissmässig geringe Zahl von bekannten Formen als Symbole für die ausgestorbenen Entwicklungsstufen eintreten kann, so lassen sich nur wenige und ganz allgemein gelialteiie Ab- stammungslinien feststellen ; eine solche geht von den grünen Faden- algen durch die Lebermoose zu den Gefässpflanzen. In dem Gebiete der scheinbar so reich vertretenen Phanorogamen können bloss phylogenetische Entwicklungsreihen der einzelnen Organe, aber keine 552 X. Zusammenfassung. Abstanimiingslinien der Familien ermittelt werden. Ein phylogene- tisches System der Phanerogamen ist nicht einmal in den rohesten Anfängen zn wagen ; selbst das Rangverhältniss zwischen den beiden Hauptabtheilungen der angiokarj^ischen Phanerogamen, zwischen Monocotylen und Dicotylen, bleibt fraglich, und ebenso fraglich, welche Familie in jeder dieser beiden Abtheilungen als die voll- kommenste zu betrachten sei. S. 462—523. Die Sclraiilßii der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. Die nachfolgende Abhandlung ist eine Gelegenheitsschrift, welche in dem Tageblatt der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in München 1877 veröffentlicht und in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt wurde. Sie kam aber nicht bloss ge- legentlich, sondern auch eilfertig zu Stande, wie ich schon bei der Veröffentlichung zur Erklärung der wenig sorgfältigen Ausarbeitung eines öffentlichen Vortrages in einer Anmerkung^) darzuthun ver- anlasst war. Ich lasse dem Vortrage seine ursprüngliche Form und schalte nur eine kurze Ausführung über die Grenze zwischen der unorganischen und organischen Natur ein, wie dieselbe schon in dem ersten Entwurf enthalten war. Wenn aber auch die Abhandlung in ihrer Form das gelegent- liche und flüchtige Machen verräth, so gilt dies nicht von ihrem Inhalte. Derselbe war nicht bloss Jahre lang erwogen worden, son- dern er stellte selbst das Ergebniss der Gedankenarbeit eines ganzen Lebens dar, und auch seit der Aljfassung haben weder fremde Ein- würfe, noch eigene Ueberlegung mich zu irgend einer Aendermig zu veranlassen vermocht. Es sei mir gestattet, den Entwicklungsgang meiner Erkenntniss m seinen allgemeinen Zügen darzulegen. Schon in meinen Lehr- ') »Dieser Vortrag musste einen der Vorträge des Progra,mms, für welche auswärtige Mitglieder aufgefordert worden, ersetzen. Am Sclilusse des Sommer- semesters machte Herr Prof. Tschermak die Anzeige, dass er verhindert sei, nach München zu kommen. In Folge dessen erhielt der Verfasser von den Ge- schäftsführern die Auff ox'derung , in die Lücke einzutreten. Derselbe war im P>egrifEe dringende Geschäfte zu erlechgen und nachher eine Reise in die Ali)en anzutreten. Der Vortrag trägt die Spuren seines Ursprungs, indem auf einer Gebirgsreise weder Gelegenheit, noch die nöthige Sammlung zu einer sorgfältigeren Ausarbeitung gegeben sind.« 556 Die Schranken der naturwissenschaftliclien Erkenntniss. Jahren , als ich auf der Universität mich mit NaturAvdssenschaften zu beschäftigen begann , hatte ich den Drang, das Aufgenommene unter sich in Verbindung zu bringen und unter allgemeinen Gesichts- punkten zusammen zu fassen. Diese angeborene Neigung wurde durch das Colleg Oken's über Naturgeschichte gefördert und auf das Allerallgemeinste hingeleitet. Glücklicherweise fand sie eine Correctur in einer anderen angeborenen und ebenso starken Neigung zur Kritik, welche mir verbot, irgend eine Theorie als richtig an- zuerkennen, wenn dieselbe nicht durch sichere Thatsachen begründet M'ar oder wenigstens nicht in Widerspruch mit solchen sich befand. Deswegen war ich zwar von dem idealen Streben Oken's begeistert, konnte mich aber mit seiner willkürlich schematischen Ausführung nicht befreunden , ebenso wenig als ich es vermochte seine Natur- philosophie zu hören. Ueberhaupt versagte mir ein strenger Realismus, welcher eine Verallgemeinerung nur dann begriff, wenn sie an concreten Beispielen klar gemacht werden konnte, jedes Verständniss für metaphysische Dinge. Am Schlüsse meiner Studienjahre versuchte ich es zwar noch in Berlin, einem Colleg über Hegel 'sehe Philosophie zu folgen und aus den Schriften Hegel 's mir eine Vorstellung über seinen Gedankenfiug zu bilden. Es war dies aber ein ganz frucht- loses Bemühen ; ich konnte in den vorgetragenen Abstractionen mit dem besten Willen nichts Verständliches und Vernünftiges finden. Ich erwähne dieses Umstandes namentlich auch deswegen, weil wenige Jahre nachher Schleidien mich als Hegelianer denunzirte. Bei Anlass einer Polemik über den Unterschied zwischen Flechten und Pilzen, in welcher ich zeigte, dass die thatsächlichen Verhält- nisse im Widerspruche mit den Behauptungen Schieiden 's seien, lenkte derselbe mit der ihm eigenen kecken Dialektik die Aufmerk- samkeit des Lesers auf ein ganz fremdes Gebiet mit dem Ausspruch : »Mein Freund Nägeli ist Hegelianer«, womit wohl nahegelegt werden sollte, dass zwischen einem Kant - Friesianer und einem Hegelianer eine Verschiedenheit der Auffassung nicht überraschen könne. — Ich hatte seit jener Zeit keine Gelegenheit, über das Ver- hältniss der Naturforschung zur Philosophie zu sprechen und war darum auch nie im Falle, mich gegen den Ausspruch Schieiden 's verwahren zu können. Da er in den »Grundzügen der wissenschaft- lichen Botanik« enthalten war und daher auch allgemein bekannt Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 557 geworden ist, so sj^reche ich jetzt noch davon ; denn es möchte sonst wohl räthselhaft erscheinen, wie die einstige Heeresfolgc Hegel 's sich zu dem strengen Realismus und der nüchternen Kritik, wie sie in dieser Abhandlung vertreten sind, entwickeln konnte. Was die Veranlassung zu der sonderbaren Aeusserung Schleiden's gegeben hat, weiss ich zwar nicht sicher, vermuthe aber, dass es der Ausdruck »absolute Begriffe« war, den ich gebraucht hatte, und mit dem ich — weit entfernt von einer Hegel 'sehen Abstraction — bloss den Charakter der absolut verschiedenen, specifischen Erschei- nungen im Pflanzenreiche bezeichnen wollte. Ich befand mich nämlich damals noch auf dem bei den Botanikern und Zoologen allgemein herrschenden Standj)unkt von absoluten, nicht durch Ueber- gänge verbundenen specifischen Unterschieden, ohne deswegen die schon von Lamarck gelehrte Abstammung der Arten von einander zu verwerfen. Damit komme ich nun auf die selbständigen Be- strebungen der Wanderjahre. Die genannten absoluten Begriffe gingen aus folgendem Gedankengang hervor, der mir in jenem Stadium der geistigen Entwicklung zu der riclitigen Erkenntniss der natürlichen Dinge zu führen schien. Die göttliche, alle Materie durchdringende Vernunft hat die realen Erscheinungen geschaffen; ihr Abbild, die menschliche Vernunft, vermag bloss die formalen Begriffe der Mathematik hervorzubringen. In beiden Gebieten des Schattens müssen analoge Gesetze walten ; das Verhältniss , in dem die Begriffe der natürlichen Dinge zu einander stehen, muss dem Verhältniss zwischen den formalen Be- griffen entsprechen. Gleichwie die letzteren von der Matliematik aus einander abgeleitet werden, so müssen die Begriffe der materiellen Existenzen von den Naturwissenschaften aus einander sich ent- wickeln lassen. Da al^er die mathematischen Begriffe zum Theil a])solut von einander verschieden sind (z. B. die Linien oder Flächen verschiedener Ordnungen), so folgt eine gleiche absolute A'^erschieden- heit auch für viele natürlichen Erscheinungen, und für die Orga- nismen eine sprungweise Aufeinanderfolge. Dieser Standpunkt der Wanderjahre, in welchem ein Körnchen Wahrheit von einem grossen Irrthum umhüllt ist, wurde durch das genaue und gründliche Studium der concreten Dinge bald über- wunden. Schon im Jahre 1853 war icli der Ueberzeugung , dass von al)soluten Unterschieden in der Naturgeschichte füglich niclit 558 Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. die Rede sein könne, und im Jahre 185G habe ich es bestimmt aus- gesprochen, dass die Arten durch alhnähhche Uebergänge sich in einander verwandeln müssten. Für das Absolute fand ich in dem wissenschaftlich zu erkennenden Gebiete keinen Platz mehr und setzte die Grenze für das Wissen überall da, wo die Unendlichkeit in Zeit, Raum und Theilbarkeit beginnt; »was ausserhalb der end- lichen materiellen Erscheinung liege, liege auch ausserhalb der Macht der Naturwissenschaften«. Für das geistige Gebiet glaubte ich noch eine andere Behandlung als die der exacten naturwissenschaftlichen Methode fordern zu sollen^). Seitdem gelangte ich immer mehr zu der klaren Ueberzeugung, dass es in der Natur keine Kluft gibt, welche verschiedene Gebiete trennte, dass in allen ihren Erscheinungen die nämlichen Gesetze herrschen, dass das geistige Leben nicht im Menschen oder im Thier als etwas principiell Neues beginnt, sondern dass die Elemente, aus denen es besteht, schon in der Pflanze und im Unorganischen vorhanden, aber nur viel einfacher combinirt sind. Daraus ergab sich als logische Folgerung, dass für die Erkenntniss in allen Er- scheinungen ohne Ausnahme die gleichen Bedingungen und somit die gleichen Grenzen bestehen, dass mit dem Complicirterwerden der Erscheinungen die Schwierigkeiten des Erkennens zwar grösser aber nicht qualitativ andere werden, dass das Gebiet des Vorstell- baren und Wissbaren alles Endliche und Relative an den Dingen, das Gebiet des Mystischen und Unbegreiflichen aber das Absolute, Unendliche, Ewige, Göttliclie ist. Dieser Gedanke nun wird in der vorliegenden Abhandlung ausgeführt und begründet. Da ein exactes Urtheil nur so weit möglich ist, als der eigene Horizont reicht und als ein Jeder die Dinge wirklich zu überschauen vermag, so sind auch die Urtheile über das Gebiet, welches unserer Vorstellung und Erkenntniss zugänglich ist, verschieden. Ich unter- lasse es, auf polemische Beurtheilungen , .welche mein Vortrag er- fahren hat, einzugehen. Bedingung für die Verständigung wäre ja stets ein gleicher geistiger Horizont, und es würde mir ohne Zweifel von einer der gegnerischen Seiten vorgehalten werden, dass der meinige nach der Seite des metaphysischen Gebietes hin beschränkt sei, was ich unbedingt zugebe, ohne deswegen einzuräumen, dass *) In der Einleitung zu »Die Individualität in der Natur«. 18.50. Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 559 der gegnerische um etwas anderes als um eine duftige _^und gestalt- lose Ferne erweitert ist. Die Bestimmung der Grenze, bei welcher grundsätzlich die Er- keinitniss aufhören und der Glaube beginnen muss, hat als Lösung eines theoretischen Problems bloss wissenschaftliche Bedeutung. Sie gibt nur die unübersch reitbare Linie für das Wissbare überhaupt, nicht aber ein Maass des Gewussten und ebenso wenig eine Norm für das Glaubensgebiet des Einzelnen, welches stets durch den Umfang des verstandesmässigen Begreifens bestimmt wird. Das praktisch Ver- werthbare findet sich höchstens in dem gewonnenen Bewusstsein, dass die Schranke, wo dem menschlichen Wissen für immer Halt geboten ist, uns so nahe liegt, und dass, weini wir einige der diesseits gelegenen kleinen Räthsel wirklich zu lösen vermögen, die jenseitigen grossen Räthsel an und für sich unlösbar sind. Dieses Ergebniss zeigt nur im allgemeinen, dass die exacte wissenschaftliche Erkenntniss mit der im Menschen lebenden Ahnung nicJit im Widerspruche steht. Dasselbe tritt in scharfe Opposition gegen die Ueberhebung, deren sich sowohl die Philosophie als der philosopliische Materialismus schuldig machen, wenn sie den menschlichen Geist ganz oder zum Theil an die Stelle des Ewigen setzen und Fragen, die jenseits der Endlichkeit liegen, beantworten wollen; aber es lässt die den je- weiligen Bedürfnissen entsprechenden Glaul^enssymbole unberührt. Es zeugte daher von keinem besonderen Verständniss, wenn meinem Vortrage materialistische, von der orthodox - protestantischen Kreuz- zeitung sogar nihilistische Tendenzen vorgeworfen wurden, — wenn- gleich anderseits die gute Note, welche die ultramontan-katholische Germania dem Vortrag durch vollständigen Wiederabdruck ertheilt hat, nicht weniger überraschend war. Hochgeehrte A'' e r s a m ni 1 u n g ! Mein heutiges Thema wurde vor einigen Jahren hei der Zu- sammenkunft in Lei^izig 1872 von Herrn Prof. Du Bois Reymond in ausgezeichneter Weise hesprochen. Wenn ich den nämhchen Gegenstand wieder aufnehme, so geschieht es, weil icli denselhen von einem etwas verschiedenen und umfassenderen Gesichtspunkte aus betrachten möchte. Auch in Form und Sprache will ich mir eine Abweichung von den mannigfaltigen bisherigen Behandlungen erlauben. Der Gegen- stand in seiner Allgemeinheit verleitet leicht zu Streifzügen auf das philosopliische Gebiet und zu der entsprechenden Ausdrucksweise. Ich werde mich einer möglichst einfachen und nüchternen Sprache bedienen und nichts anderes voraussetzen , als die Kenntniss der elementarsten Erscheinungen in den verschiedenen Gebieten der Natur. In allgemeinen Dingen wird ja der Ausdruck stets um so einfacher und verständlicher, je mehr man sich der Klarheit und damit auch der Wahrheit nähert. Ehe ich den Gegenstand selbst in i.ngriff nehme, scheint es zweckmässig , kurz der verschiedenen Arten zu gedenken , wie die Frage über die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss von den Naturforschern meistens aufgefasst und beantwortet wird. Es ist eiiiu unter den sogenannten Praktikern weit verbreitete Ansicht, dass eine sichere und bleibende Erkenntniss natürlicher Erscheinungen überhauj^t unmöglich sei. Dieselben wissen, dass ihre Systeme und Meinungen bisher keinen Bestand hatten, und sie denken sich, dass die wissenschaftlichen Theorien überhaupt nm' Versuche seien, sich der unerreichbaren Wirklichkeit zu nähern, Versuche, welche mit den Anschauunaen der Zeit Inhalt und Ausdruck Die Schranken der naturvvissenschaftlichen Erkenntniss. oßl verändern. Dies ist augenscheinlich keine grundsätzliche Ansicht, sondern die durch den Misserfolg hervorgerufene Verzweiflung, die nothwendige Folge der falschen Methode und der naturwissenschaft- lichen Unfähigkeit. Der Praktiker verlässt sich angeblich auf seine Erfahrung. Diese aber kommt auf folgende Weise zu Stande. Bei jeder Naturerschei- nung sind verschiedene, oft zahlreiche Ursachen und begleitende Um- stände betheiligt. Die Aufgabe des Naturforschers ist es, zu ermitteln, was von den einzelnen Ursachen und Umständen bewirkt wird; sie kann in den meisten Fällen durch Beobachtung allein nicht gelöst werden. Der Praktiker greift nun irgend eine Ursache oder einen Um- stand heraus, der ihm gerade in die Augen springt und findet darin den Grund der Erscheinung ; dies nennt er seine Erfahrung. Es ist daher begreiflich, dass die Praktiker miter einander verschiedener Ansicht über die nämliche Erscheinung sind, dass ihre Meinungen das Gepräge der wissenschaftlichen Epoche tragen und mit der Zeit wechseln. Es ist ebenfalls begreiflich, dass die auf sogenannte Er- fahrung sich berufenden Theorien in denjenigen Gebieten noch ihre üppigsten Blüthen treiben, wo die Erscheinungen am verwickeltsten sind , in der organischen Morphologie , in der Physiologie und Pathologie. Das Problem einer Naturerscheinung ist eine algebraische Glei- chung mit vielen unbekannten Grössen. Der Praktiker sieht sich die Gleichung an und versucht die Lösung derselben, indem er für die eine oder andere Unbekannte einen meist grossen imd ent- scheidenden Werth einsetzt; die Probe der Richtigkeit macht er nicht. — Es erfordert nicht viel zur Einsicht, dass auf diesem Wege allerdings die Lösung und damit die Erkenntniss in Ewigkeit nicht erreicht wird. Die Lösung einer Gleichung mit vielen Unbekannten ist nur möglich, wenn man dazu ebenso viele Gleichungen zu gewinnen weiss, in denei. die nämlichen Unbekannten enthalten sind. Da dies bei Naturerscheinungen gewöhnlich nicht möglich ist, so sucht man sich Gleichungen zu verschaffen, in denen nur eine unbekannte Grösse vorkommt. Dies geschieht durch den wissenschaftlichen Versuch, der mit dem sogenannten Versuch der Praktiker nichts gemein hat, da alle unbekannten Grössen bis auf eine einzige entfernt und dadurch der Werth und die Wirkung dieser einen sicher ermittelt werden. V. Nägeli, Abstammungslehre 30 562 r^it^ Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntnis«. Schon längst hat die Physik den Weg des mssenschafthchen Experimentes eingeschlagen. Die Physiologie hat denselben erst in neuerer Zeit allgemeiner als den richtigen erkannt. Auf diesem zwar mühsamen und zeitraubenden, aber einzig sicheren und för- dernden Wege werden allerdings nicht grosse Gebäude von Systemen aufgeführt, die nur das Schicksal haben könnten, bald wieder zu- sammenzustürzen ; - — sondern es werden bloss einzelne, an und für sich vielleicht unscheinbare Thatsachen gewonnen, die aber für immer ihren Werth bewahren und zur Auffindung neuer Thatsachen befähioen. So vermehrt sich der Stock der erkannten Thatsachen zwar langsam aber stetig. Eine Schnecke, die den geraden Weg nach ihrem Ziele einschlägt, kommt vorwärts, indess die Heuschrecke mit ihren Kreuz- und Quersprüngen auf der Stelle bleibt. So be- weist die wissenschaftliche Empirie den praktischen Empirikern durch die That, dass vermittelst der exacten Methode sichere und bleibende Erkenntnisse der Naturerscheinungen gewonnen werden können. Viele methodische Naturforscher, welche auf exactem Wege den Stock der feststehenden Thatsachen vermehren, geben auf die Frage nach den Grenzen der Naturerkenntniss, indem sie eine grundsätz- liche Lösung für unzulässig halten, bloss die thatsächliche Antwort: »Der Glaube beginnt immer da, wo das Wissen aufhört.« Dabei verfolgen sie diesen Gedankengang. Die Menschheit tritt an die Gesammtheit der Natur heran. Ihre Einsicht bewältigt durch For- schung und Nachdenken stets neue Gel)iete. So ist beispielsweise die Jetztzeit in der Erkenntniss der Natur viel weiter vorgedrungen als Mittelalter und Alterthum , und die europäische Cultur ist der übrigen Menschheit weit voran. Mit der fortschreitenden geistigen Arbeit wird also das Reich des Wissens immer umfangreicher, und das Reich, wo wir uns mit dem Glauben begnügen müssen, immer mehr beschränkt. Diese Auffassung hat eineii unverkennl)aren Werth in gewisser Beziehung. Sie gibt uns den Maassstab für die Stufe, welche die naturwissenschaftliche Bildung im allgemeinen in jedem Jahrhundert erreicht hat, und ebenso den Maassstab im einzelnen für die ver- schiedenen Menschenrassen und Völker , für verschiedene Classen Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 503 eines Volkes und endlich für jedes einzelne Individuum. Es ge- währen solche Erhebungen ebenso grosses wissenschaftliches Interesse für den Geschichtsforscher und Anthroj^ologen , als praktisches In- teresse für den Theologen, den Politiker und selbst für eine Menge von Beruf sarten. Der Satz, dass unser Glaube da beginne, wo das Wissen auf- höre, ist eine thatsächliche Lösung für bestimmte Zwecke. Damit ist unser Interesse nicht befriedigt. Mit besonderer Theilnahme wenden wir uns der theoretischen Seite des Problems zu. Wir wünschen zu wissen, ob die Grenze, wo das menschliche Wissen Halt machen muss, überhaupt bestimmbar sei oder nicht, — wenn ja, wie weit die Erkenntniss überhaupt in die Natur einzudringen vermöge, wie viel die Menschheit von der Natur wissenschaftlich zu begreifen vermöchte, wenn sie eine ungemessene Zeit, sagen wir geradezu eine Ewigkeit, sich mit Naturwissenschaften beschäftigte und wenn ihr dazu alle denkl^aren Hilfsmittel zu Gebote ständen, — welches also die Schranken seien, welche die wissenschaftliche Er- kenntniss der Natur niemals und unter keinen Bedingungen zu überschreiten vermag, — welches die grundsätzliche Grenze zwischen dem Gebiete des Wissens und dem Gebiete des Glaubens sei. Die strenge Untersuchung dieser Frage verdient um so mehr wiederholt in Angriff genommen zu werden, als bekanntlich von zwei entgegengesetzten Seiten mit vollkommener Bestimmtheit die absolute Herrschaft des menschlichen Geistes über die Natur in An- spruch genommen wird, — mit abnehmender Energie von der natur- philosophischen, mit zunehmender Energie von der materialistischen Geistesrichtung. Jene wähnt, die formale Natur aus sich con- struiren zu können, und das Natin'erkennen besteht für sie in nichts anderem als darin, für die construirten abstracten Begriffe die con- creten Naturerscheinungen aufzusuchen , — wobei ihr freilich in keinem Punkte die Selbsttäuschung erspart bleibt, die Begriffe nach Maassgabe der sinnlichen Wahrnehmungen, statt aus sich zu con- struiren. Diese lässt nichts anderes als Kraft und Stoff in Zeit und Raum gelten und es erscheint ihr daher eine vernunftgemässe Annahme, dass der aus Kraft und Stoff aufgebaute Mensch die aus den gleichen Factoren zusammengesetzte Natur bewältigt. Beide, die naturphilosophische und die materialistische Richtung stellen den Menschen auf eine für sein Selbstbewusstsein sehr schmcicliel- 36* 5G4 I^ie Rchrankoi der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. hafte Höhe; — sie erklären ihn zum Herrn der Welt, zwar nicht zum wirklichen Herrn, der die Welt macht, aher doch zum einge- bildeten Herrn , der das Werk des wirklichen Herrn begreift. — Können wir diese Herrscherrolle mit Grund beanspruchen? Diese Frage ist öfter und von verschiedenen Standpunkten aus zu beantworten versucht worden, wohl am besten von meinem Vor- gänger in diesem Kreise, von Du Bois Reymond in der viel- besprochenen und vielfach missverstandenen Rede »Ueber die Grenzen des Naturerkennens«. Ich werde nur diese letztere Antwort berück- sichtigen, welche in geistreicher Weise und in bilderreicher poetischer Sprache die Edelsteine der Gedanken mit den schönsten Redeblumen verziert und umhüllt. Es wäre nützlich gewesen und hätte manchen, der nicht so leicht den Kern aus der Schale löst, auf den richtigen Weg gewiesen, wenn Ergebniss und Begründung in einigen kurzen Sätzen zusammengefasst worden wären. Der Redner will, gleich einem Welteroberer der alten Zeit an einem Rasttage, die wahren Grenzen des unermesslichen Reiches, welches die weltbesiegende Naturwissenschaft ihrer Erkenntniss unter- worfen liat, klar vorzeichnen und kommt zu diesen drei Schlüssen : 1. Naturerkennen ist Zurückführen eines Naturvorganges auf die Mechanik der einfachen oder untheilbaren Atome. 2. Atome in diesem Sinne gibt es nicht und daher auch überhaupt kein wirk- liches Erkennen. 3. Wenn aber auch die Welt aus der Mechanik der Atome erkannt werden könnte, so vermöchten wir doch Empfin- dung und Bewusstsein nicht aus derselben zu begreifen. Es dürfte wohl das allgemeine Verständniss wesentlich erleichtert haben, wenn diese Ergebnisse sich nicht als Grenzen des Natur- erkennens , sondern als Nichtigkeit oder Unmöglichkeit des Natur- erkennens eingeführt hätten. Denn, da der Redner nicht über die Negation hinausgeht, so kann die erkennende Naturwissenschaft, wenn ihr das Reich, über das sie gebietet, mangelt, auch die Grenzen desselben nicht abstecken, — und wenn ihr sogar die Einsicht in die materiellen Vorgänge für immer abgeht, so verschlägt es ihr, als einer depossedirten Herrscherin, wenig, ob sie bei vorausgesetzter Herrschaft auch Ansprüche auf das geistige Gebiet erliebcn könnte. Man kann mit den einzelnen Gedanken von Du Bois Rey- mond vollkommen einverstanden sein und doch die Ueberzeugung haben, dass sie nicht vollständig und umfassend genug sind, um Die Schrauken der iiatunvisseuscluiftlichen Ei'kenntuiss. 505 die naturwissenschaftliche Erkenntniss nach allen Seiten hin abzu- grenzen, dass sie in ihrer Unvollständigkeit zu falschen und mit dem naturwissenschaftlichen Bewusstsein im Widerspruche stehenden Folgerungen führen , und dass es wünschbar ist , die Frage nicht bloss nach der negativen Seite zu behandeln , sondern zu unter- suchen, ob nicht der menschliche Geist zu naturwissenschaftlicher Erkenntniss befähigt sei, von welcher Beschaffenheit und in welchem Umfange ? Die Lösung der Frage: In w^e fern und wie weit vermag ich die Natur zu erkennen ? wird offenbar durch Dreierlei bedingt, durch die Beantwortung von drei Theilfragen: 1. die Beschaffenheit und Befähigung des Ich, 2. die Beschaffenheit und Zugänglich- keit der Natur und 3. die Forderung, welche wir an das Er- kennen stellen. Es sind also Subject, Object und Copula bei der Lösung betheiligt. Man möchte vielleicht eine solche Trennung für überflüssig, selbst für unstatthaft halten, weil ja das Erkennen des Objects durch das Subject ein untheilbarer Process sei. Indessen ist sie doch richtig, weil die Beurtheilung bald den einen, bald den andern Factor mehr in den Vordergrund rückt, und nützlich, weil sie eine erschöpfendere Behandlung fordert. Die Schwierigkeiten, die sich für das Erkennen mit Rücksicht auf das Subject oder das Object er- geben, treten selbst am deutlichsten hervor, wenn wir den andern Factor durch die Annahme, dass er keine Schwierigkeit darbiete, ganz bei Seite schaffen. Was die Befähigung des Ich betrifft, die natürlichen Dinge zu erkennen, so ist dafür die unzweifelhafte Thatsache entscheidend, dass, mag unser Denkvermögen wie immer beschaffen sein, uns nur die sinnliche Wahrnehmung Kunde von der Natm* gibt. Wenn wir nichts sehen und hören , nichts riechen , schmecken und betasten könnten, so wüssten wir überhaupt nicht, dass etwas ausser uns ist, noch auch dass wir selber körperlich sind. Es besteht also für die Richtigkeit unserer Vorstellungen immer die Bedingung, dass unsere äusseren und inneren Sinne richtig be- richten. Unsere Erkenntniss ist nur wahr, soferne die sinnliche Wahrnehmung und die innere Vermittelung wahr sind. Dass aber 566 ^ic Sclu'ankeii der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. beide zuletzt auch zur objectiven, im Object begründeten Wahr- heit führen, dafür besteht eine unendHch grosse Wahrscheinhchkeit deswegen, weil die Irrthümer, die der Einzelne, oder die Gesammt- heit begeht, schliesslich stets als solche erkannt und nachgewiesen werden, und weil die Naturwissenschaften, je weiter sie fortschreiten, immer mehr die scheinbaren Widersprüche zu beseitigen und alles unter einander in Uebereinstimmung zu bringen wissen. Halten wir uns in dieser Beziehung für beruhigt, so erhebt sich die Frage, in welcher Ausdehnung und in welcher Vollständig- keit die Sinne uns Kunde von den Naturerscheinungen geben. Rücksichtlich der Ausdehnung darf bloss an die Schranken er- innert werden, um sie jedermann klar vor die Seele treten zu lassen. In der Zeit ist uns nur die Gegenwart und im Räume nur dasjenige zugänglich, was unseren eigenen räumlichen Verhältnissen entspricht. Wir köimen unmittelbar nichts von dem bemerken, was in der Ver- gangenheit war und in der Zukunft sein wird, nichts von dem, was im Räume zu entfernt ist und was eine zu grosse oder zu kleine Ausdehnung hat. Rücksichtlich der Vollständigkeit der sinnlichen Wahr- nehmungen besteht eine andere Schranke , an die man gewöhnlich nicht denkt und auf die ich etwas näher eintreten muss. Die wissen- schaftliche Zergliederung ergibt uns Folgendes : In der Gesammtheit von kraftbegabten Stoffen, welche wir die Welt nennen, steht jedes Stofftheilchen durch alle ihm eigenthümlichen Kräfte mit allen an- deren in Beziehmig ; es wird von allen beeinflusst und wirkt seiner- seits auf alle ein, natürlich nach Maassgabe der Entfernungen. Und wie das einzelne Stoiltheilchen verhält sich selbstverständlich eine Vereinigung von solchen; die Wirkung, die sie empfängt und aus- übt, ist die Summe der Wirkungen aller einzelnen Theilchen. Der Krystall, die Pflanze, das Thier, der Mensch empfindet die Anwesen- heit aller Stofftheilchen, jedes einzelnen für sich und jeder Vereinigung von solchen, und zwar mit Rücksicht auf alle Kräfte, die denselben innewohnen, und in Folge dessen mit Rücksicht auf alle Bewegungen, welche dieselben ausführen. Aber diese Empfindungen sind in ihrer unendlichen Mehrzahl so schwach, dass sie als unmerklich vernach- lässigt werden können. Dem menschlichen Organismus steht also theoretisch die Möglichkeit offen, von allen Erscheinungen in der Natur körperliche Die Schranken der uatui-wissenschaftlichen Erkenntniss. 567 Wahrnehmungen zu empfangen. Wie gestaltet sich al)er die Sache in AVirklichkeit? welche Eindrücke sind so mächtig, dass sie für uns bemerkbar werden , und welche gehen als zu geringfügig für uns verloren? Unter den uns bekannten Wesen hat der Mensch mit den höheren Thieren das voraus, dass einzelne Theile sich zu Sinnes- werkzeugen ausgebildet haben, welche für bestimmte Naturerschei- nungen sehr empfindlich sind. Diese Sinnesorgane haben sich im Laufe zahlreicher auf einander folgender Arten und zahlloser Genera- tionen innerhalb jeder einzelnen Art von unscheinbaren Anfängen aus auf hohe Stufen vervollkommnet. Der geniale Gedanke Dar win's, dass in der organischen Natur nur solche Einrichtungen zur Ausbildung gekommen sind, w^elche dem in- dividuellen Träger Nutzen gewähren, ist so einfach, so vernunftgemäss und so sehr in Uebereinstimmung mit aller Erfahrung, dass die hier allem competente Physiologie unbedingt zustünmt und sich höchstens verwimdert, dass nicht schon längst ein Columbus dieses physiologische Ei festgesteUt hat. Demgemäss entspricht der Grad der Vollkommenheit, zu dem sich jedes Sinnes Werkzeug ausgebildet hat, genau dem Bedürfnisse, und es gibt keines, in welchem der menschliche Organismus nicht von irgend einer Thierspecies sich w^eit übertroffen sähe, wenn der- selben die ausserordenthche Feinheit einer besonderen Sinneswahr- nehmung zur Bedingung des Daseins wurde. — Demgemäss hat aber auch der menschliche und der thierische Organismus nur für diejenigen äusseren Einwirkungen Sinnesorgane ausgebildet, welche seine Existenz ün günstigen oder ungünstigen Sinn erfolgreich treffen. Wir haben beispielsweise ein feines Gefühl für die Temj^eratur; es ist für unser Bestehen nothw^endig, wir könnten sonst, ohne es zu ahnen , durch Kälte oder Hitze zu Grunde gehen. Wir haben ein feines Gefühl für das Licht ; es gibt uns die beste und schnellste Kunde von allen Gegenständen, die uns mugeben, und die uns Schaden oder Nutzen bringen können. Dagegen haben wir kein Gefühl für die uns umgebende Elektricität. Während wir die Zu- und Abnahme der Wärme und des Lichtes w^ahrnehmen, wissen wir nicht, ob die Luft, in w'elcher wir atlmien, freie Elektricität enthält oder nicht, ob diese Elektricität positiv oder negativ ist. Wenn wir 568 Diö Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. den Telegraphendraht berühren, spüren wir nicht, ob die Theilchen desselben elektrisch in Ruhe oder in Bewegung sich befinden. Es hatte keinen Nutzen, dass der Sinn für Elektricität in den höheren Thieren und im Menschen besonders ausgebildet wurde, weil es für die Species gleichgiltig ist, ob jährlich einige Individuen vom Blitze erschlagen werden oder nicht. Würde diese Gefahr alle Individuen täglich bedrohen, so hcätte die Empfindung für Elek- tricität, welche die niedersten Thiere, geradeso wie die Empfindung für das Licht und die Wärme, in den ersten Anfängen besitzen, sich nothwendig weiter ausgebildet. Wir w^ürden dann durch ein besonderes Sinnesorgan die Nähe einer in elektrischer Spannung befindHchen Substanz bemerken und dem Blitzschlage entfliehen können. Wir würden geringe Veränderungen des elektrischen Zu- standes, schwache elektrische Ströme in unserer Nähe wahrnehmen und auch die Geheimnisse des Telegraphendrahtes abzufangen ver- mögen. Der Mangel eines solchen Organs hätte leicht die Ursache sein können, dass wir von der Elektricität nichts wüssten. Wir können uns die Atmosphäre der Erdkugel ganz gut ohne Blitz und Donner denken. Diese grossen elektrischen Entladungen haben uns zur Elektricitätslehre verholfen. Wenn sie zufälhg mangelten, wenn überdem einige ganz zufällige Erfahrungen, welche eine durch Rei- bung erzeugte anziehende oder abstossende Kraft offenbarten, nicht gemacht worden wären, so hätten wir vielleicht keine Ahnung von der Elektricität, keine Ahnung von derjenigen Kraft, welche in der unorganischen und organischen Natur wohl die grösste Rolle spielt, welche die chemische Verwandtschaft wesentlich bedingt, welche bei allen moleculären Bewegungen in den organisirten Wesen wohl ent- scheidender eingreift als irgend eine andere Kraft, und von welcher wir die wichtigsten Aufklärungen über physiologisch und chemisch noch räthselhafte Vorgänge erwarten. Unsere Sinne sind eben nur für die Bedürfnisse der körperlichen Existenz, nicht aber dafür organisirt, dass sie unser geistiges Be- dürfniss befriedigen, dass sie uns Kenntniss von allen Erscheinungen der Natur verschaffen und uns darüber belehren sollen. Wenn sie zugleich diese Function übernehmen, so geschieht es nur neben])ei. Wir können uns also nicht darauf verlassen, dass die sinnlichen Wahrnehmungen uns über a 1 1 e Erscheinungen in der Natur Kunde Die Sclirankun der naturwissenscliaftlichen Erkemitiiiss. 509 geben. Wie wir auf die elektrischen Vorgänge, die in jedem Sfcoff- theilchen ihren Sitz haben, gleichsam nur durch Zufall etwas er- fahren halben, so ist es leicht möglich, selbst sehr walirscheinlich, dass es auch noch andere Naturkräfte, noch andere moleculäre Be- wegmigsformen gibt, von denen wir keine sinnlichen Eindrücke be- kommen, weil sie sich nie zu einer für unsere unvollkommenen und unvollständigen Sinnesorgane bemerkbaren Summe vereinigen, und die uns deshalb verborgen bleiben. — Wenn uns einer der Sinne, wenn uns besonders der Gesichtssinn fehlte, so wären wir über die Naturerscheinungen viel mangelhafter unterrichtet, als wir es wirklich sind. Hätten sich aber ausser den fünf Sinnen noch einige andere an unserem Organismus ausgebildet, so würden wir wohl von den natürlichen Dingen Manches erfahren, was uns jetzt verborgen bleibt. Unser Vermögen , die Natur unmittelbar durch unsere Sinne wahrzunehmen , ist somit in zwei Beziehungen sehr beschränkt. Es mangelt uns wahrscheinlich die Empfindung für ganze Gebiete des Naturlebens , und so weit wir sie wirklich haben , trifft sie in Zeit und Raum nur einen verschwindend kleinen Theil des Ganzen. Freilich beschränkt sich unsere NaturerkenntnisS nicht auf das sinnlich Wahrnehmbare. Wir können durch Schlüsse auch Kenntniss von dem bekommen, was die Sinne nicht erreichen. Der fernste Planet unseres Sonnensystems , der Neptun , war seiner Stellung, seiner Grösse und seinem Gewichte nach durch Rechnung bekannt, ehe die Astronomen ihn mit dem Fernrohr entdeckt hatten. Wir wissen , obgleich w^r es auch mit den besten Mikroskopen nicht sehen, dass das Wasser aus kleinsten in Bewegung befindlichen Th eilchen oder Molekülen besteht, und wenn es Zuckerwasser oder Salzwasser ist, so kennen wir auch genau das verhältnissmässige Gewicht und die verhältnissmässige Zahl der Wasser-, Zucker- und Salztheilchen, welche es zusammensetzen. Durch Schlüsse aus Thatsachen, die mit Hilfe der Sinne er- kannt werden , gelangen w ir zu ebenso sicheren Thatsachen , die sinnlich nicht mehr wahrnehmbar sind. Man könnte deshalb allen- falls die sanguinische Hoffnung hegen, dass von dem kleinen Ge- biete aus, w^elches uns die Sinne aufschliessen, nach und nach das Gesammtgebiet der Natur durch den Verstand erobert werde. Aber diese Hoffnung kami niemals in Erfüllung gehen. Wie die Wirkmig einer Naturkraft mit der Entfernung a])nimmt, so vermindert sich 570 I^ic Schranken der naturwissenHcliaftliehen Erkeuntniss. auch die Möglichkeit der Erkenntniss, nach Maassgabe, als die zeit- liche und räumliche Entfernung wächst. Ueber die Beschaffenheit, die Zusammensetzung, die Geschichte eines Fixsterns letzter Grösse, über das organische Leben auf seinen dunklen Trabanten, über die stofflichen und geistigen Bewegungen in diesen Organismen werden wir nie etwas wissen. In gleicher Weise vermindert sich die Mög- lichkeit, eine noch unbekannte Naturkraft, eine noch unbekannte Bewegungsform der kleinsten Stofftheilchen zu erkennen, je weniger dieselbe ilirer Eigenthümlichkeit nach befähigt ist, zu einer grösseren Gesammtwirkung zusanmien zu treten. Wir werden uns glücklich schätzen dürfen, weim wdr nur eine Ahnung davon erlangen. Die beschränkte Befähigung des Ich gestattet uns somit nur eine äusserst fraomentarische Kenntnissnahme des Weltalls. Gehen wir nun von der Betrachtung des Subjectes zu der des Objectes, der Beschaffenheit und Zugängliclikeit der Natur über. Die Schranken, welche die Natur selbst unserer Erkenntniss ent- gegensetzt, springen am deutlichsten in die Augen, wenn wir die hypothetische Annahme machen , der Mensch hätte seinerseits die vollkommenste Befähigung für die Naturerkenntniss. Dies wäre dann der Fall, wenn das Hemmniss von Zeit und Raum für ihn nicht bestände, wenn er jede Vergangenheit so gut beurtheilen könnte wie die Gegenwart, wenn der fernste Gegenstand ihm nicht mehr Schwierigkeit machte, als derjenige in seiner unmittelbaren Nähe, wenn er die grössten Fixsternsysteme und die kleinsten Atome ebenso leicht üljersehen würde als einen Körper seiner eigenen Grösse, wenn er endlich mit so vollständigen Sinnen ausgerüstet wäre, dass alle Erscheinmigen der Natur, alle Kräfte und alle Bewegungsformen von ihm unmittelbar emj^fundeh würden. Eine in dieser Weise ausgestattete Menschheit könnte allenfalls sich vermessen, an die Lösung des berühmten Problems von La- place zu gehen. Derselbe sagt: »Ein Geist, der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte, welche in der Natur wirksam sind, und die gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, kennte, wenn sonst er umfassend genug wäre, um diese Angaben der Analysis zu unterwerfen — würde in derselben Formel die Bewegungen der grössten Weltköri^er und des leichtesten Atoms vereinigen. Nichts Die Sehranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 571 wäre ungewiss für ihn, und Zukunft wie Vergangenlieit wäre seinem Blicke gegenwärtig. Der menschliche A'^erstand bietet in der Voll- endung, die er der Astronomie zu geben vermochte, ein schwaches Abbild solchen Geistes dar.« Aber auch ein so universeller Geist, wie Lai:>lace ihn voraus- setzt, würde die ihm gestellte Aufgabe nicht lösen können. Denn die andere Voraussetzung, von der Laj^lace nicht spricht, von der er aber stillschweigend ausgeht, ist die Endlichkeit der Welt nach allen Beziehungen, und diese ist nicht gegeben. Die Schwierigkeit, welche die Natur der menschlichen Erkenntniss entgegensetzt, ist ihre Endlosigkeit, Endlosigkeit des Raumes und der Zeit, und von allem, was als noth wendige Folge dadurch bedingt wird. Die Natur ist räumlich nicht bloss unendlich gross ; sie ist endlos. Das Licht legt in 1 Secunde eine Strecke von 42000 geographischen Meilen zurück; um die ganze uns jetzt bekannte Fixsternwelt zu durcheilen, bedürfte es nach wahrscheinlicher Schätzung 20 Millionen Jahre. Versetzen wir uns in Gedanken an das Ende dieses uner- messlichen Raumes, auf den fernsten uns bekannten Fixstern, so würden wir nicht ins Leere hinausblicken, sondern es thäte sich ein neuer gestirnter Himmel vor uns auf. Wir würden glauben, wieder in der Mitte der Welt zu sein, wie jetzt die Erde uns als deren Centrmn erscheint. Und so können vnr in Gedanken den Flug vom fernsten Fixstern zum fernsten Fixstern endlos fortsetzen, und unser jetziger Sternenhimmel ist schliesslich gegenüber dem Weltall noch unendlich viel kleiner als das kleinste Molekül im Vergleich zum Sternenhimmel. Wie mit dem Raum verhält es sich mit der Gruppirung im Raum, mit der Zusammensetzung, Organisirung und Individualisirung des Stoffes, welche das Object der beschreibenden oder morphologi- schen Naturwissenschaften ist. Jedes der uns bekannten Dinge be- steht aus Theilen und ist selbst Theil eines grösseren Ganzen. Der Organismus ist zusammengesetzt aus Organen, diese aus Zellen, die Zellen aus kleineren Elementartheilen. Indem wir weiter zerlegen, kommen wir bald zu den chemischen Molekülen und den Atomen der chemischen Elemente. Die letzteren widerstehen zwar zur Zeit noch der Scheidekunst, aber schon ihrer Eigenschaften wegen müssen sie als zusammengesetzte Körper angesehen werden. So können wir in Gedanken die Theilung weiter und endlos fortsetzen. In der That 572 I^ic Schranken der naturwisseuschaftlicben Erkenntniss. kann es keine pliysisclien Atome im strengen Sinne des Wortes geben, keine Körperclien, die wirklich untheilbar wären, keine Ur- oder Punktatome ^). Alle Grösse ist ja nur relativ; der kleinste Kör^^er, von dessen Dasein wir Kunde haben, das Theilchen des Licht- und Wänneäthers wird beliebig gross für unsere Vorstellung, selbst un- endlich gross, wenn wir uns danel^en hinreichend klein denken. Wie die Theilbarkeit nicht aufhört, so müssen wir nach Analogie dessen, was wir im ganzen Bereiche unserer Erfahrung bestätigt finden, annehmen, dass auch die Zusammensetzung aus indi- \dduellen, von einander gesonderten Theilen nach unten sich endlos fortsetze. Ebenso sind wdr genöthigt, eine endlose Zusammensetzung nach oben zu immer grösseren individuellen Gruppen vorauszusetzen. Die Weltkörper sind die Moleküle, welche sich zu Gruppen niederer und höherer Ordnungen vereinigen, und unser ganzes Fixsternsystem ist nur eine Molekülgruj^pe in einem unendlich viel grösseren Ganzen, das wir uns als einheitlichen Organismus und wieder nur als Theilchen eines noch grösseren Ganzen vorzustellen halben ^). Wie der Raum nach allen Richtungen endlos ist, ist es die Zeit nach zwei Seiten ; sie hat nicht begonnen und sie wird nicht aufhören. Die Bibel sagt: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Geologie sagt: Im Anfang war die Welt eine gasförmige Masse, aus welcher sich die Weltkör j)er verdichteten. Aber dieser Anfang ist nur ein relativer, der Anfang einer Endlichkeit, und die Zeit, die seit diesem Anfang verfloss, ist nur ein Augenblick im Vergleich zur Ewigkeit vor demselben. Aus der Vereinigung von Zeit und Raum geht ein Reich von Erscheinungen hervor, welches neben den beschreibenden Natur- wissenschaften den Inhalt der andern Hälfte der Natm-betrachtung, der physikalischen und physiologischen Wissenschaften ausmacht. Der den Raum erfüllende Stoff ist nicht in Ruhe, sondern in Be- wegung befindlich, und da die Stofftheilchen mit verschiedenen (anziehenden und abstossenden) Kräften auf einander einwirken, so setzt jeder sich bewegende Körper auch die anderen in Bewegung, vielmehr er verändert deren Bewegungen. Er gibt von seiner Be- wegung und potentiellen Energie an andere ab, diese wieder an *) S. Zusatz 1 : Physische und metaphysische Atomistik. ^) S. Zusatz 2 : Unendhche Abstufung in der Zusammensetzunj^ und Orga- nisation des Stolfes. Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 573 andere und so fort. Dies ist die Kette von Ursache und Wirkung, gleichfalls endlos , da sie für unsere Vorstellung weder mit einer ersten Ursache ihren Anfang nehmen, noch mit einer letzten Wirkung abschliessen kann. Die Natur ist überall unerforschlich , wo sie endlos oder ewig wird. Sie kann daher als Ganzes nicht erfasst werden, denn ein Process des Erkennens, welcher weder Anfang noch Ende hat, führt nicht zur Erkenntniss. — Deswegen erscheint auch das Problem von Laplace von vornherein als nichtig. Es ist zwar erlaubt, jede Voraussetzung zu machen, die aus irgend einem Grunde unm()glicli, aber keine, die undenkbar ist. Undenkbar aber ist eine Formel, für welche selbst die einzuführenden Grössen mangeln, und welche, wären dieselben gegeben, nie zu Ende käme. Die Kenntniss aller Kräfte, welche für die Formel von Laplace gefordert wird, setzt voraus, dass die Körper bis in ihre letzten kraftbegabten StofE- theilchen zerlegt werden, was wegen der endlosen Theill )arkeit un- möglich ist. Es fehlen also die Elemente, aus denen die Formel sich zusammensetzen soll , die einfachen Naturkräfte ; man kann mit dem Ansetzen der Formel nicht einmal beginnen, — und wenn man es könnte, so vermöchte man, wegen der räumlichen Endlosig- keit des Weltalls, dieselbe niemals fertig zu bringen. Du Bois Reymond hat bereits die erste Endlosigkeit als eine unübenvind- liche Grenze bezeichnet; die andere wäre, könnte auch die erste über- wunden werden, immer noch eine ebenso unübersteigbare Schranke. Wenn die Formel von Laplace nur etwa das uns sinnlich bekannte Weltall oder auch ein unendlich viel grösseres (aber kern wirklich endloses) umfasste , und wenn in dieselbe etwa die Kräfte der uns bekannten chemischen Elemente imd der supponirten Aether- theilchen oder auch noch viel kleinerer Stofflheilchen eingesetzt werden könnten, so vermöchte sie besonders für die Mitte des Systems und für die grösseren Erscheinungen vielleicht für sehr lange Zeiträume von der Gegenwart aus vor- und rückwärts aus- zureichen. Es müssten aber sofort einerseits von dem Umfange aus Störungen eintreten , welche zuletzt die Formel auch für die Mitte unbrauchbar machten ; anderseits müssten die Störungen auch auf jedem einzelnen Punkte beginnen und, da sie sich fortwährend steigerten, schliesslich zu merklichen Ungenauigkeiten führen, weil ja die angenommenen »Atome« keine wirklichen Einheiten sind und 574 Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. weil die Resultirende , mit der jedes einzelne »Atom« als ein aus gesonderten Theilen zAisammengesetzter Körper in die Gesammtheit eingreift, nicht constant l)leibt, sondern mit der wechselnden Um- gebung einen ebenfalls stetig wechselnden Werth annimmt. Immerhin brächte uns eine solche Formel, wie es die astronomische Berech- nung wirklich thut, eine innerhalb gewisser Grenzen richtige, — eine praktische, aber keine grunds<ätzliche Lösung. Der Naturforscher muss sich wohl bewusst werden, dass seine Forschung nach allen Beziehungen innerhalb endlicher Grenzen ge- bannt ist, dass von allen Seiten das unerkennbare Ewige ihm ein kategorisches Halt gebietet. Dass dies nicht immer klar eingesehen, dass namentlich das unendlich Grosse und unendlich Kleine mit dem Endlosen und dem Nichts verwechselt werden , hat zu mehr- fachen irrigen Vorstellungen geführt. Zu denselben gehören die Theorien über die j)hysischen Atome im kleinen, über Anfang und Ende der Welt im grossen. Ich will nur von den letzteren sprechen. Man nimmt an, dass die Masse der Weltkörper im Anfang gas- artig vertheilt gewesen sei; und Du Bois Reymond findet daran nur die eine Schwierigkeit: Wäre diese Materie, wie es theoretisch gefordert wird, ruhend und gieichmässig vertheilt gewesen, so wüsste er nicht, woher Bewegung und ungleiche Vertheilung gekommen. Seit unendlicher Zeit nun, d. h. seit jenem vorausgesetzten Anfange, geht Verdichtung der Materie vor sich, erst zu Nebeln, dann zu feurig - flüssigen Tropfen, welche zu dunkeln Körpern er- kalten. Wir befinden uns in der Gegenw^art auf einem solchen er- starrten , nicht mehr leuchtenden Welttropfen. Nach den uns bekannten Naturgesetzen müssen die noch feurigen und die schon verdunkelten Weltkörper ihren Wärmevorrath mehr und mehr an den Weltraum abgeben. Sie müssen später auf einander stürzen, und wenn auch dabei local wieder Erwärmung stattfindet, so dient dieselbe nur dazu, um den Erkaltungsprocess im grossen und ganzen zu beschleunigen. Am Ende aller Dinge aber werden die Welt- körper zu einer dunklen, starren, eiskalten Masse vereinigt sein, auf der CS keine Bewegung und kein Leben mehr gibt. Dieses ist das Ergebniss einer nach unseren jetzigen Kennt- nissen correcten physikalischen Betrachtung. Sie zeigt uns das trostlose Ende der bewegungsreichen und wechselvollen, der farben- glühonden und lebenswarmen Gegenwart. — In der That aber ist Die Scliranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 575 dieses Ergebniss nur die Folge unserer menschlich beschränkten Einsicht; es wäre nur dann eine logische Noth wendigkeit , wenn wir alles wüssten und daher unser Wissen zu einem Schluss auf den Anfang und das Ende benutzen dürften. Da wir aber nur einen winzigen Theil des Weltalls übersehen und auch nur eine mangelhafte Kenntniss der Kräfte und Bcwegungsformen in diesem winzigen Theil besitzen, so können zwar die Schlüsse rückwärts und vorwärts für gewisse allgemeine Verhältnisse vielleiclit auf Billionen Jahre ohne merkljaren Fehler sein. Sie müssen aber mit der grösseren Zeitferne unsicherer und zuletzt ganz fehlerhaft werden. Es lässt sich dies besonders für die Vergangenheit sehr anscliaulich machen. Das Sicherste, was wir von der Vergangenheit wissen, ist der feurig-flüssige Zustand, in dem sich einst unser Erdball befand, mid wir ziehen daraus den nahe liegenden Analogieschluss , dass auch die übrigen Planeten unseres Systems leuchtende Körper waren, wie es die Sonne zur Zeit noch ist. Von diesen Sonnen rückwärts ge- langen wir durch weitere Schlüsse zu zusammengeballten Wolken, den Embryonen der späteren Sonnen, zu Wolkenringen und weiterhin zu der ziemlich gleichmässig vertheilten gasförmigen Masse, dem Anfangszustande , über den mit unserer jetzigen Einsicht nicht hinauszukommen ist. Dies alles zeigt uns deutlich, dass, wie auf der Erde ein steter Wechsel herrscht, auch der Himmel sich verändert. Jede ^^erände- rung besteht in einer Summe von Bewegungen, und setzt voraus eine frühere Veränderung oder Summe von Bewegungen, aus der sie mit mechanischer Nothwendigkeit hervorging, und weiterhin eine von Ewigkeit her dauernde Kette von Veränderungen. So muss auch dem gasförmigen Zustande unsers Sonnensystems eine conti- nuirliche und endlose Reihe von Veränderungen vorausgegangen sein, und wenn unsere wissenschaftliche Einsicht uns nicht dazu führt, uns nicht einmal dazu berechtigt, so beweist sie damit nur ihre Mangelhaftigkeit. Aus der Ewigkeit der Veränderungen im Wellall müssen wir vielmehr schliessen, dass der ganze Entwicklungsprocess unseres Sonnensystems oder des ganzen Sternenhimmels von der ursprüng- lichen Gasmasse durch die kugeligen Nebelmassen , feurigen und dunkeln Bälle zm' kalten, dichten und starren Masse nur eine der zahllosen auf einander folgenden Perioden ist, und dass analoge 576 I^ie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. Vorgänge ohne Ende vorausgegangen sind und nachfolgen werden. Nun ist uns zwar nach den jetzigen physikah sehen Kenntnissen ganz begreiflich, dass eine sich verdichtende Gasmasse Wärme er- zeugt und dass die heisse verdichtete Masse diese Wärme abgibt, bis sich ihre Temj^eratur mit der Umgebung, in unserem Falle mit dem kalten Weltenraumc ausgeglichen hat. Aber es ist uns unbe- greiflich, wie die feste Masse wieder gasförmig werden, wie sich die dazu nöthige, im Weltenraume vertheilte Wärme wieder sammeln soll. Es besteht hier offenbar eine Lücke in unseren Kenntnissen, die vielleicht, trotz der fast vollständigen Unwissenheit der Physik und Chemie über die Eigenschaften der chemischen Elemente und der Aethertheilchen, in folgender Weise auszufüllen ist. Den chemi- schen Atomen muss, wie aus ihren mannigfaltigen, unter einander abweichenden Eigenschaften hervorgeht, eine complicirte Zusammen- setzung aus zahlreichen, mit verschiedenen Kräften begabten Theilchen zukommen. Sie müssen ferner, wie alles Endliche und Zusammen- gesetzte, sich verändern, indem ihre Theilchen in andere Zusammen- ordnungen übergehen. Dadurch wird die Verwandtscliaft der Atom- oberfläche für den Wärmeäther grösser oder kleiner und die physikalisch umgestimmte Substanz bindet neue Wärme oder lässt Wärme aus- treten, so dass auch der Aggregatzustand bei gleicher Temperatur ein anderer werden kann. Die jetzt festen oder geschmolzenen Ele- mente und Verbindungen, welche die Planeten zusammensetzen, w^aren in der nebularen Urzeit gasförmig trotz der grossen Kälte des Weltenraumes. Wie sie nun ihre damalige Natur aus uns unbe- kannten Gründen geändert haben und unter Wärmeabgabe flüssig und fest geworden sind, so können sie auch durch die entgegen- gesetzte Veränderung wieder Wärme binden und gasförmig werden^). Dieses Beispiel zeigt uns, dass wir unsere Erfahrungen über das Endliche auch nur zu Schlüssen innerhalb des Endlichen be- nutzen dürfen. Sowie der Mensch dieses Gebiet, das ihm seine Sinne eröffnen und das seinem Erkennen zugänglich ist, überschreiten und sich eine Vorstellung vom Ganzen machen ^\äll, so verfällt er dem Aberwitz. Entweder er lässt das durch Anschauung und Nach- denken Gewonnene unberücksichtigt, dann geräth er in willkürliche und haltlose Phantasien ; oder er geht consequent von den Gesetzen *) S. Znsatz 3; Naturphilosophische Weltanschauungen. Entropie. Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 577 des Endlichen ans, dann langt er schliesslich bei ganz absurden Folgerungen an. Um letzteres anschaulich zu machen, mag mir wieder das vorhin angeführte Beispiel dienen. Die uns bekannte Welt verändert sich. Verfolgen wir diese Veränderung nach dem Gesetze der Causalität rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft, so ergeben sich, wenn wir uns auf den früher besprochenen physi- kalischen Standpunkt der Nebulartheorie stellen und das uns Be- kannte als maassgebend betrachten, nach beiden Zeitrichtungen Zustände, welche sich der vollkommenen Ruhe immer mehr nähern, ohne dieselbe je vollständig zu erreichen. Wenn wir uns aber auf einen weiteren Standpunkt stellen und annehmen, dass Weltkörper und Weltkörpersysteme ohne Ende im Weltenraume entstehen und vergehen, so stehen uns wieder zwei Wege offen : entweder haben die auf einander folgenden Zustände, nach materialistisch-philosophischer Auffassung, den gleichen Werth ; oder sie verändern , nach idea- listisch-philosophischer Auffassung, ihren relativen Werth continuirlich, indem sie vollkommener werden, wobei das Weltall in der ewigen Vergangenheit der absoluten Unvollkommenheit (somit der Ruhe) und in der ewigen Zukunft der absoluten Vollkommenheit (somit wieder der Ruhe) immer näher kommen würde. — Alle drei An- nahmen sind in gleichem Grade widersinnig. Die erste (physikalisch- philosophische) und dritte (idealistisch-philosophische) lassen die Welt von todter Ruhe erwachen und wieder zu solcher einschlafen. Die zweite (materialistisch-philosophische) verurtheilt sie zu ewiger Ruhe, denn eine gleichbleibende Veränderung bedeutet für die Ewigkeit nichts anderes als Ruhe^). Nicht besser als mit der Zeit geht es uns mit dem Raum. Es ist ein naheliegender Wunsch, sich das Weltganze als von endlicher räumlicher Ausdehnung zu denken und damit unserer Vorstellung zugänglich zu machen. Da aber der stofferfüllte Raum überall wieder an stofferfüllten Raum angrenzen muss, so kommen wir auf die absurde Folgerung, die endliche Welt grenze an ilirem Umfange überall an sich selber an. — Lassen wir aber dem Weltenraum die Endlosigkeit, die er nach räumlichen Begriffen haben muss, so folgen ') S. Zusatz 3: Naturphilosophische Weltanschauungen. Nägeli, Abstammungslehre. 37 578 I^ie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. ohne Ende Weltkörper auf Weltkörper in verschiedener Grösse, verschiedener Zusammensetzung, verschiedenem Entwicklungszu - stände. Da nun Grösse, Zusammensetzung und Entwicklungszu- stände innerhalb endlicher Grenzen sich bewegen, so machen auch die möglichen Combinationen zwar eine nach sprachgebräuchlichem Ausdruck unendlich grosse, aber doch nicht endlose Zahl aus. Wenn diese Zahl erscböj^ft ist, müssen sich die gleichen Combinationen wiederholen. Wir können dagegen nicht aufkommen mit der Ueber- legung, dass Centillionen von Weltkörpern oder Weltkörpersystemen nicht genügen, um die Zahl der möglichen Combinationen voll zu machen. Denn Centillionen sind ja in der Endlosigkeit weniger als ein Tropfen Wasser im Ocean. — Wir langen somit bei der mathematisch richtigen, aber für unsere Vernunft abgeschmackten Folgerung an, dass unsere Erde, gerade so wie sie jetzt ist, im end- losen Weltall mehrfach, ja zahllos vorkomme und dass auch das Jubiläum, das wir feiern, auf vielen andern Erden jetzt gerade eben- so begangen werde. Die logischen Folgerungen dieser Art lassen sich vervielfältigen. Die Beispiele genügen, um zu zeigen, dass unser endlicher Verstand nur endlichen Vorstellungen zugänglich ist und dass, wenn er noch so folgerichtig sich zu Vorstellungen über das Ewige erheben will, ihm die Schwingen versagen, und dass er, ein zweiter Ikarus, ehe die sonnige Höhe erreicht ist, in die endliche und begriffsclunkle Tiefe zurückstürzt. Nachdem ich die Befähigung des Subjects und die Zugänglich- keit des Objects erörtert habe, handelt es sich noch um die For- derungen, welche an das Bindeglied, an das Erkennen zu stellen sind. Da alle Vorstellungen, welche wir von der Natur haben, uns durch die sinnliche Wahrnehmmig vermittelt werden, so kann auch unser Erkennen nicht weiter gehen, als dass wir die wahrgenommenen Erscheinungen mit einander vergleichen und sie mit Rücksicht auf einander beurtheilen. Wenn eine besonders geartete Erscheinung nur einmal vorkäme, wemi wir beispielsweise die einzigen Organismen wären, so würde unsere Einsicht äusserst beschränkt sein ; denn wir schöpfen ja die Kenntniss des menschlichen Organismus wesent- Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 570 licli aus dem Zusammenhalte mit allen andern organischen Wesen. — Die Vergleichung vieler Erscheinungen lässt uns eine Einheit oder einen Maassstab gewinnen, mit dem wir jede einzelne messen und bestimmen. Wir erhalten also eben so viele Maasse, als es sinnlich wahrnehmbare oder durch das Urtheil aus den sinnhchen Wahr- nehmungen abziehbare Eigenschaften in der Natur gibt. Da diese Maasse endlichen Thatsachen entnommen sind, so haben sie auch nur einen relativen Werth, und unsere Erkenntniss bleibt auch aus diesem Grunde in der Endlichkeit befangen. Wir erkennen also eine Erscheinung, vdr begreifen ihren Werth in Beziehung zu den übrigen Erscheinungen, wenn wir sie messen, zählen, wägen können. Wir haben eine klare Vorstellung von der Grösse des niedersten Pilzes, von welchem wir 2 bis 3 Millionen Individuen hinter einander legen müssen, um die Länge eines Meters voll zu machen, — von der Grösse des Elephanten, — der Erde, — unseres Sonnensystems, dessen Halbmesser etwa 622 Mllionen geographische Meilen beträgt. Wir haben eine klare Vorstellung von der Zeit, in welcher der Lichtstrahl die Schrift eines Buches, das wir lesen, in unser Auge führt, und die etwa den 800 millionsten Theil einer Secunde beträgt, — von der Lebensdauer des niedersten Pilzes, welcher im Brütkasten und im menschlichen Körper schon nach 20 Minuten von einer neuen Generation abgelöst wird, — von der Lebensdauer eines mehrtausendjährigen Eichbaums, — von den 500 Milhonen Jahren, welche nach einer Hypothese seit Entstehung der Organismen auf unserer Erde verflossen sein sollen. Die Katurkörper sind aus Theilen zusammengesetzt ; der Werth ihrer Innern Beschaffenheit, ilirer Organisation wird genau bestimmt durch die Menge, Natur und Zusammenordnung der Theile. Diese geben uns also das Maass, nach dem wir das zusammengesetzte Ganze beurtheilen, mit dem wir gleichsam seine Organisation messen. Die morphologischen oder beschreibenden Naturwissenschaften haben durch dieses Messen ihren wissenschaftlichen Inhalt. Die Chemie, die zur Zeit noch eine vorzugsweise morphologische Wissenschaft ist und die Zusammenordnung der Elementatome zu ^'Verbindungen erforscht, und die Mineralogie, welche die gleichartige Lagerung der Moleküle zm' ^^oraussetzung hat, stehen auf einer hohen Stufe der Ausbildung. Das allgemeine Maass für die Organismen finden wir in der Zelle, und weiterhin im Organ, das allgemeine Maass für 37* 580 I^'f" Schninken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. die systematisclien Einheiten der organischen Natur (für A^arietäten, Arten, Gattungen) in den Individuen und den Generationen^). Wir können aber niclit nur die verschiedenen Dinge mit ein- ander vergleichen und durch einander messen, sondern wir können auch ein System, eine einheitliche Gruppe von zusammengehörigen Dingen, insofern sie sicli verändert, in verschiedenen auf einander folgenden Zeiten mit sich selbst vergleichen und durch sich selbst messen. Die Erkenntniss der Veränderung ist vollendet, wenn der spätere Zustand als die nothwendige Folge des frülieren, oder dieser als der nothwendige Vorgänger des späteren nachgewiesen, wenn einer aus dem andern construirt, wenn also die beiden Zustände in das ^^erhältniss von Ursache und Wirkung gebracht werden können. In den elementaren Gebieten des Stofflichen ist dieses ur- sächliche Verhältniss die mechanische Noth wendigkeit , welche für zwei auf einander folgende Zustände die gleiche Summe von Bewegung mit bestimmter Richtung (von lebendiger Kraft) und von potentieller Energie fordert. Die Astronomie nimmt unter den hieher gehörenden Wissenschaften den ersten Rang ein; an sie schliessen sich mehrere Disciplinen der Physik w'ürdig an, besonders die mechanische Wärmelehre und die Optik. Die Physiologie oder die Physik des Organischen sucht in den Fusstapfen ihrer älteren Schwester auf einem viel verwickeiteren und schwierigeren Gebiete vorzudringen. In den höheren Gebieten des Stofflichen lässt sich für das ur- sächliche Erkennen nicht mehr die Forderung dieser mechanischen Nothwendigkeit festhalten. Vielleicht gilt dies selbst für alle Ge- staltung. Sogar die Entstehung der chemischen Verbindung und des Krystalls wird wohl nie mit aller Strenge sich als das noth- wendige Ergebniss von bekannten Kräften und Bewegungen der Elementatome und der Moleküle darthun lassen. Noch viel weniger wird dies mit der Bildung der Zellen, mit dem Wachsthum der Organismen, mit der Fortpflanzung, mit der Vererbung der Merk- male der Fall sein. Dennoch lässt sich auch in diesen Gebieten mit einigem Rechte von ursächlichem Erkennen sprechen ; nur sind die Elemente, von denen dasselbe ausgeht, nicht einf9,che Kräfte *) S. Zusatz 4: Berlinguncon für empirisches Wissen und Erkennen. Morpho- logische Wissen schaften. Die Schranken der naturwisseiiscliat'tlidK'ii Kikenntiiiss. 581 und Bewegungen, sondern deren sein- verwickelte Combinationen, die nicht weiter analysirt werden. Das ursächliche Erkennen wird seine Probe bestehen, wenn es ihm gehngt, mit derselben Sicherheit und Bestimmtheit künftige Ereignisse vorherzusagen, wie es die Astronomie thut. Andeutungen hiezu finden wir Jetzt schon in der Chemie der ^"erbindungen und in der organischen Morphologie, indem es möglich ist, aus gewissen Entwicklungszuständen eines Organismus auf frühere oder spätere Zustände desselben zu schliessen . Und wir werden einmal, wenn die organischen Gesetze der noch so jungen Entwicklungsgeschichte des Individuums und der noch viel jüngeren Entwicklungsgeschichte der Species besser erforscht sind, nicht bloss von ontogenetischer und phylogenetischer Notli- wendigkeit als von einer selbstverständlichen Voraussetzung sprechen, sondern dieselbe auch erkennen können. Man wird mir wohl einwenden, dass das ursächliche Erkennen in der Einsicht der Nothwendigkeit bestehe, wie dies in der Me- chanik der Fall sei, aber nicht in Gebieten, wo man von unerforschten zusammengesetzten Dingen ausgehen müsse. Die Mechanik des Himmels ist gegründet auf die allgemeine Gravitation und die Centri- fugalkraft, beides einfache, gradlinig wirkende Kräfte. Aber beides sind Annahmen, die bloss auf unserer Erfahrung beruhen und für die wir den Grund nicht kennen. Die Astronomie lässt uns nicht die Nothwendigkeit an und für sich, sondern nur unter der Voraussetzung von Erfahrungsthatsachen einsehen. Wenn wir für unser Begreifen die Forderung erheben wollten, dass uns das Warum klar sei, so gäbe es auch kein astronomisches und kein physikalisches Erkennen.^) Die nämliche Berechtigung wie in der Physik und Astronomie hat das ursächliche Erkennen in den organischen Gebieten. Aus Erfahrung ist uns ein System von Kräften und Bewegungen bekannt, beispielsweise die Zelle. Wir setzen für dieses System gewisse allgemeine Thatsachen fest (wie es die Gravitation und die Centrifugalkraft für den Himmelsraum sind), und w'ir be- nutzen dieselbe für unsere weiteren Schlüsse. Die Einsicht in die Nothwendigkeit eines Wachsthumsprocesses besteht darin, dass der- selbe als eine nothwendige Folge jener Thatsachen erkannt wird. Die Erkenntniss der natürlichen Dinge beruht also darauf, dass wir sie messen entweder durch einander oder durch sich selber. Ein *) S. Zusatz 5 : Apriorität des Gravitationsgesetzes. 582 Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. anderer Weg der Betrachtung führt uns zu dem gleichen Ergebniss. Wir begreifen und beherrschen etwas vollständig, wenn wir es selbst schaffen, denn in diesem Falle sehen wir seinen Grund ein. Das einzige im Gebiete des Wissens, was wir, gestützt auf unsere sinn- lichen Wahrnehmungen, vollbringen, ist die Mathematik. Der Inhalt dieser formellen Wissenschaft ist uns vollkommen klar, denn er ist ja mit Hilfe der allgemeinsten Erfahrung das Product unseres Geistes. Wir können daher auch die realen Dinge sicher erkennen, so weit wir an ihnen mathematische Begriffe, Zahl und Grösse mit allem, was die Mathematik daraus ableitet, verwirklicht finden. Das Natur- erkennen beruht also in der Anwendung des mathematischen Ver- fahrens auf die natürlichen Erscheinungen; einen Naturvorgang begreifen heisst gleichsam nichts anderes , als ihn denkend wieder- holen, ihn in Gedanken hervorbringen^). Indem ich die naturwissenschaftliche Erkenntniss als eine mathematische und zugleich als eine relative bezeichne, welche die Dinge je weilen nach einem aus ihnen selbst abgeleiteten Maass beurtheilt, weiche ich wesentlich von meinem Vorgänger, DuBoisReymond, ab. Derselbe stellt als Bedingung für das Naturerkennen auf, dass es gelinge, die Veränderungen der Körper- welt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Centralkräfte bewirkt werden, zurückzuführen, oder mit andern Worten die Naturvorgänge in Mechanik der Atome auf- zulösen. Indem Du ßois Reymond hiebei von der unbestreit- baren Forderung ausgeht, dass etwas Zusammengesetztes nur aus seinen Theilen zu erkennen ist, bleibt er jedoch nicht bei den end- lichen und wirklichen Theilen stehen, sondern verfolgt die Theilung bis zu den für uns undenkbaren absoluten Einheiten und stellt damit die Bedingungen für das unmögliche absolute Erkennen auf. Da es sich aber für uns nicht um göttliche, sondern um mensch- liche Erkenntniss handelt, so dürfen wir von dieser auch nicht mehr verlangen, als dass sie in jeder endlichen Sjihäre bis zum mathe- matischen Begreifen vordringe, — und der Ausspruch von Kant, dass in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissen- schaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen sei, muss immer noch als richtig gelten. *) S. Zusatz 5 b : Apriorität der Mathematik. Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 583 Wenn Du Bois Reymond die Analyse des Stoffes bis auf Atome mit einfachen Centralkräften fortsetzen will, so treibt er ein l^eliebtes Verfahren der neueren Physik und Physiologie zur äussersten Consequenz, und wenn er zeigt, dass dieses Verfahren nicht zur Er- kenntniss führt, so bricht er den Ansprüchen auf ausschliessliche Wissenschaftlichkeit, welche dasselbe zuweilen erhebt, die grundsätz- liche Spitze ab. Wenn Physik und physikalische Physiologie auf supponirte Atome, materielle Punkte, Volumelemente, die man sich unendlich klein denkt, zurückgehen, so ist dieser Versuch berechtigt, insoferne die wirklichen chemischen Moleküle so klein sind, dass man ohne Rechnungsfehler sich den Raum als continuirlich mit Materie erfüllt denken kann. Man kann beispielsweise an die Stelle eines aus zahlreichen Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff- und Sauer- stoffatomen bestehenden Eiweissmoleküles ein Massendifferential dieser Verbindung einsetzen. Jedenfalls ist der Versuch nützlich, indem erprobt w^erden muss, wde weit eine solche Vorstellung für die mathematische Behandlung sich als brauchbar erweist, und indem aus dem Erfolg wieder rückwärts Schlüsse auf die Zusammensetzung des Stoffes gezogen werden können. Aber wir müssen uns vor der Meinung hüten, die nicht selten mit diesem Verfahren verbunden wdrd, als ob dasselbe allein Natur- wissenschaft wäre und allein ziu? Erkenntniss führte. Wir würden sonst unsere Ansprüche, die Natur zu erfassen, für immer auf ein einziges Gebiet beschränken müssen und andere Gebiete, die einer sicheren Begründung fähig sind, verlieren. Die naturwissenschaft- liche Erkenntniss muss nicht nothwendig mit hypothetischen und unbekannten kleinsten Dingen beginnen. Sie finden ihren Anfang überall, w^o der Stoff sich zu Einheiten gleicher Ordnung gestaltet hat, die unter einander verglichen und durch einander gemessen werden können, und überall, wo solche Einheiten zu zusammen- gesetzten Einheiten höherer Ordnung zusammentreten und das Maass für deren Vergleichung unter einander und mit sich selbst abgeben. Die naturwissenschaftliche Erkenntniss kann auf jeder Stufe der Organisation oder Zusammensetzung des Stoffes beginnen ; beim Atom der chemischen Elemente, welches die chemischen Ver- bindungen bildet , beim Molekül der Verbindungen , welches den Krystall zusammensetzt, beim krystalhnischen Micell, welches die Zelle und deren Theile, bei der Zelle, welche den Organismus auf- 584 Die Sfliranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. baut, beim Organismus oder Iiidividuum, welches das Element der Species])ildung wird. Jede naturwissenschaftliche Disciplin findet ihre Berechtigung wesenthch in sich selber. Unser Naturerkennen ist also immer ein mathematisches und beruht entweder auf einfachem Messen, wie in den morphologischen und beschreibenden Naturwissenschaften , oder auf ursächlichem Messen , wie in den physikalischen und ph5^siologi sehen Wissen- schaften. Mit Hilfe der Mathematik , mit Maass, Gewicht, Zahl können aber nur relative oder quantitative Unterschiede begriffen werden. Eigentliche Qualitäten, absolut verschiedene Eigenschaften entziehen sich unserer Erkenntniss, da wir keinen Maassstab dafür haben. Eigentlich qualitative Unterschiede vermögen wir nicht zu erfassen , weil die Qualitäten nicht verglichen werden können. Es ist dies eine wichtige Thatsache für die Erkenntniss der Natur. Es folgt daraus , dass, wenn es innerhalb der Natur qualitativ oder absolut verschiedene Gebiete gibt, ein wissenschaftliches Erkennen nur gesondert innerhalb jedes einzelnen möglich ist, und dass keine vermittelnde Brücke von einem Gebiet in das andere hinüber führt. Es folgt daraus aber auch ferner, dass, so weit wir die Natur zu- sammenhängend erforschen können, so weit unser messendes Er- kennen lückenlos fortschreitet, so weit wir namentlich eine Erschei- nung aus einer anderen begreifen oder als aus derselben entstanden nachzuweisen vermögen, absolute Unterschiede, unausfüUbare Klüfte in der Natur überhaupt nicht bestehen. Ich habe versucht, die Fähigkeit des Ich, die Zugängiichkeit der Natur und das Wesen des menschlichen Begreifens festzustellen. Es ist nun leicht, die Schranken der naturwissenschaftlichen Er- kenntniss abzustecken. Wir können nur das erkennen, wovon uns die Sinne Kenntniss geben, und dies beschränkt sich nach Raum und Zeit auf ein winziges Gebiet und wegen mangelnder Ausbildung von Sinnesorganen wahr- scheinlich nur auf einen Theil der in diesem Gebiete befindlichen Naturerscheinungen. An dem, wovon wir ül^erhaupt Kenntniss er- halten, können wir ferner nur das Endliche, Wechselnde, Vergäng- liche, nur das gradweise Verschiedene und Relative erkennen, weil Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 585 Avir nur mathematische Begriffe aiif die natürhclien Dinge üljer- tragen und die letzteren nur nach den an ilmen selber gewonnenen Maassen })eurtlieilen können. Für alles Endlose oder Ewige, für alles Beständige, für alle absoluten A'erscbiedenheiten haben Avir keine Vorstellungen. Wir wissen genau, was eine Stunde, ein Meter, ein Kilogi-amm bedeutet, aber wir Anssen nicht, Avas Zeit, Raum, Kraft und Stoff ,• Bewegung und Ruhe, Ursache und Wirkung ist^). Umfang und Grenze unserer möglichen Naturerkenntniss lässt sich kurz und genau so angeben: Wir können nur das End- liche, aber AA'ir können auch alles Endliche erkennen, das in den Bereich unserer sinnlichen Wahrnehmung fällt. Sobald AA'ir uns dieser Einsicht klar bcAvusst sind, so befreien wir die Naturbetrachtung von manchen ScliAAderigkeiten und In- thümern, die darin bestehen, dass man einerseits nicht bloss das wirklich Endliche erforschen will , sondern demselben Ewiges bei- mischt und es dadurch unergründlich macht, — dass man ander- seits das Endliche nicht strenge und unauflialtsam verfolgt, sondern mitten in demselben, da oder dort anhält, indem man dasselbe mit EAvigem A'erAA'echselt. Es würde mich weit führen, wenn ich die Folgen im einzelnen betrachten wollte, welche aus dem Mangel eines richtigen grund- sätzlichen Verfahrens entsprungen sind. Die bemerkenswerthesten, die gleichzeitig ein ganz allgemeines Interesse in Anspruch nehmen, sind die Meinungen, dass die endhche Natur in grundsätzlich ge- schiedene Gebiete getrennt sei, dass namentUch zwischen der un- organischen und organischen Natur oder zA\1schen der materiellen und geistigen Natur eine unüberschreitbare Grenze l^estehe. Die Frage, ob zAvischen den natürlichen Dingen der endlichen Welt absolute oder bloss relative Verschiedenheiten bestehen, kann nur dadurch entschieden werden, dass entweder von der einen Seite gezeigt wird, wie unsere Erkenntniss irgendwo auf eine nicht zu überspringende Grenze trifft, und wie von dieser Grenze an eine neue Kraft in die Combinationen eintritt, — oder dass von der anderen Seite dargethan wird, Avie das Erkennen ungehindert durch das ganze Gebiet fortschreitet, immer das eine aus dem anderen begreifend, und Avie die nämlichen Naturkräfte überall thätig sind. 1) S. Zusatz 6: Kraft. Stoff. Bewegung. 586 I^ie Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. Die Antwort hierauf ist bestimmt und sicher: Wenn wir die ganze Natur von den einfachen unorganischen bis zu den comph- cirtesten organischen Wesen durchlaufen, so finden wir überall die gleichen Stoffe und Kräfte, indem das Zusammengesetzte aus dem Einfachen sich aufbaut; die neuen Qualitäten, die auf jeder höheren Stufe auftreten, erscheinen uns zwar nicht als noth wendige, aber doch auch nicht als unmögliche Ergebnisse der integrirenden Be- standtheile ; sie bekunden ihren bloss relativen Werth dadurch, dass sie sichtlich aus blossen quantitativen Verhältnissen hervorgehen ^). Die Behauptung, dass in der materiellen Welt eine unausfüll- bare Kluft z\\ischen Unorganischem und Organischem bestehe und dass das letztere nicht aus dem ersteren begriffen werden könne, stützt sich im wesentlichen auf drei Gründe, 1. dass zwischen den niedrigsten Organismen und den unorganischen Körpern die ver- bindenden Mittelglieder mangeln, 2. dass in den Organismen andere Qualitäten oder Principien zur Geltung kommen als in der un- organischen Natur, 3. dass organisirte Körper nicht auf künstHchem Wege aus unorganischen Stoffen hervorgebracht werden können. Der erste Einwurf ist unbedingt zuzugeben; wir kennen kein selbständiges Gebilde, welches zwischen dem einfachsten Organismus und dem Eiweismolekül stände. Es besteht hier für unsere objective Wahrnehmung eine ungeheuere Lücke, denn die Theorie, dass die einfachsten einzelligen Wesen aus Eiweiss hervorgegangen, verlangt die Annahine einer ganzen Reihe von vermittelnden Gliedern ^). Aber dieser Mangel in unserer Erfahrung beweist nichts, weil er nur zu wohl motivirt ist. Bekanntlich werden die Organismen im allgemeinen um so kleiner, je einfacher sie sind. Unter den einzelligen Pflanzen be- steht eine sehr grosse Verschiedenheit bezüglich der Organisation und der Grösse. Die einfachsten sind so klein, dass sie für die besten MikroskojDe an der Grenze der Wahrnehmbarkeit liegen, dass sie unter den stärksten Vergrösserungen nur als Punkte erscheinen, und dass sie zuweilen selbst, ihren Wirkungen nach, vorhanden sein müssen, obgleich man sie nicht sicher erkennen kann (Formen von Micrococcus). Diese unsichtbar kleinen Pflanzen haben einen Inhalt von Eiweiss und eine Membran von Cellulose. Wir können aus ^) 8. Zusatz 7 : QnaUtät in der Natur. ^) Mechaniscli-physiülogische Theorie der Abstammungslehre, Urzeugung S. 83. Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 587 diesem Umstände ganz sicher schliessen, dass es unter den einzelligen Organismen ohne Zellhaut solche geben muss, die für das bewaffnete Auge immer unsichtbar bleiben. Um so mehr aber müssen alle Gebilde von noch einfacherem Bau, welche den Uebergang zu den Eiweissmolekülen bilden, auch wenn sie vorhanden sind, ihrer Klein- heit wegen sich jeder mikroskopischen Beobachtung entziehen. Diese Lücke in unserer Erfahrung hat also keine grössere Beweiskraft für den ^langel an Uebergangsgiiedern, als der Umstand, dass das Tele- skop uns keine Bewohner auf den Planeten zeigt, für deren Un- bewohntsein. Der zweite Einwurf, dass in der organischen Natur neue Quali- täten oder Principien auftreten, findet im Unorganischen strenge mathematische Gesetzmässigkeit und todte starre, ausgefüllte, regel- mässige Formen, während in der organischen Gestaltung mehr Frei- heit herrsche mid die hohlen (zellenartigen) organischen Formen zu stetiger Veränderung in ihrem Innern , zum Wachsthum und zur Fortpflanzung befähigt seien. Die Richtigkeit dieses thatsächlichen Gegensatzes kann nicht bestritten werden, wohl aber die Folgerung, dass er einen grundsätzlichen und absoluten Gegensatz beweise. Denn einmal stellt sich selbstverständlich die Ungleichheit zwischen Organischem und Unorganischem viel greller dar, weil das verbin- dende Uebergangsgebiet uns noch unbekannt ist, — wie etwa das Thierreich, wenn bloss die Wirbelthiere und die Infusorien für unsere naturhistorische Beobachtung vorhanden wäre, aus zwei kaum mit einander zu verbindenden Gebieten zu bestehen schiene. Ferner sind die angegebenen Unterschiede zwischen den un- organischen und den organischen Wesen doch in der That keine andern, als wir sie zwischen dem Einfachen mid dem Zusammen- gesetzten für w^ahrscheinlich anzunehmen berechtigt sind. Die starre Form des Kr^^stalls ist an der Zelle in den zahllosen unsichtbar kleinen krystallinischen Körperchen (Micellen) vertreten, aus denen alle organisirteu Substanzen bestehen und deren regelmässiger kiy- stallartiger Bau durch das polarisirte Licht dargethan wird, — und die ganze Zelle verhält sich so, wie wir es von einer Zusammen- häufung solcher von Wasser umgebener Körperchen erw'arten können, die wegen der leichten Beweglichkeit ihrer Theilchen eine weiche, zu runden hohlen Formen und zu Gestaltsveränderungen geneigte Substanz darstellt, und wegen der leichten chemischen Umsetzbar- 588 I^i*^ Schranken der nuturwissenschat'tliehen Erkenntuiss. keit ihrer Verbindungen auch stetig in ihrem Innern sich verändert und dadurch Wachsthum und Fortpflanzung bedingt. Damit ist auch der Unterschied, wonach das Unorganische in der regehnässigen Form und Bewegung der strengen mathematischen Gesetzmässigkeit gehorchen, das Organische aber auch in der Ge- staltung l)is zu einem gewissen Grade der Naturnothwendigkeit sich entziehen und unregelmässige Bewegungen annehmen soll, auf sein relatives Maass zurückgeführt. Dies ist um so mehr der Fall, als in der unorganischen Natur selber nirgends strenge Regelmässigkeit offenbar wdrd. Zwar wirkt jede Naturkraft für sich mit mathemati- scher Genauigkeit ; aber da immer noch andere Kräfte in ungleicher, theil weise fast verschwindender Stärke mitwirken und nicht sämmt- lieh in die Rechnung aufgenommen werden können, so vermag uns auch die exacteste Forschung nur Näherungswerthe zu geben, — und da für jeden einzelnen Fall wegen der steten Bewegung und Veränderung in allen Gebieten der Natur die bedingenden Ursachen mit jedem Zeitdifferential etwas andere werden , so gibt es keine Form und keine Bewegung, welche nicht innerhalb gewisser Grenzen variirte. Es ist nun begreiflich, dass eine Erscheinung sich scheinbar um so' mehr von der mathematischen Regelmässigkeit entfernt, je zusammengesetzter sie ist und je mannigfaltiger und veränderlicher die maassgebenden Kräfte zusammenwirken, und dass die Einsicht in die Ordnung uns bei der Zelle um so sicherer abgehen muss, als sie schon beim struktur- und formlosen Mineral mangelt. Der dritte Einwurf, dass man keinen Organismus, keine Zelle, keine Muskelfaser aus den Bestandtheilen zusammensetzen, die ab- gestorbenen nicht l)eleben, durch das Experiment nicht umgestalten könne, ist an und für sich riclitig, aber unrichtig, wenn er von den unorganischen Körpern das Gegentheil annimmt. Wir vermögen keinen natürlichen CJogenstand, mag er dem Unorganischen oder dem Organischen angehören, künstlich zu machen; wir vermögen ihn bloss entstehen zu lassen, und dies in keiner anderen Weise, als dass wir die Umstände gerade so herstellen, wie er in der Natur von selbst (ohne unser Zuthun) entsteht. Wir lassen den Krystall in der Mu.tterlauge anschiessen ; wir ziehen aus dem Samen eine Pflanze, indem wir ihn in die feuchte Erde legen und ihm weitere Pflege angedeihen lassen ; wir verwandeln das Eiweiss des Hühnereis in Muskeln, Nerven und andere Organe dadurch, dass wir das Ei in den Die Sclminkcn der naturwisscnscliaftliclicn Krkenntniss. 589 Brütkasten bringen. Und wenn die Chemie einmal die Constitution des Eiweissmoleküls erforscht hat, wird sie auch das Ei weiss zu machen wissen, wie ihr die Synthese so vieler organischer Verbin- dungen bereits gelungen ist; — und wenn einmal die Physiologie tiefer in die Elemente des organischen Lebens eindringt , ward sie auch die Bedingungen erkennen, unter denen die Uranlange des- sellten entstehen, und sie w^ird im Stande sein, dieselben beliebig ent- stehen zu lassen. Bleibt es denn so verwunderlich, dass die Kunst die unendlich complicirten organischen Gebilde nicht hervorbringen kann, während iln' die Erzeugung so vieler einfacher Krystalle noch nicht gelungen ist. Ich erinnere nur an einen der einfachsten, an den Kohlenstoffkrystall oder Diamant, dessen Herstellung so viel- fach, aber noch immer vergeblich versucht wurde. Es ist gar nicht unmöglich, dass die Chemiker das Eiw^eiss, die Grundlage der Organismen, und dass die Physiologen die Uranfänge des organischen Lebens entstehen lassen werden, ehe man in den glücklichen Fall kommt, selbstgefertigte Brillanten zu tragen. Es ist w'ahr, dass kein todtes organisches Gebilde wieder zum Leben zurückgerufen werden kann; aber es kann auch kein durch mechanische Gewalt oder durch Hitze zerstörter Krystall wieder hergestellt werden, er kann nur aus dem flüssigen Zustande , auf natürlichem Wege neu entstehen. — Es ist ferner richtig, dass der entstehende oder w^achsende Organismus durch kein Experiment, durch keine äussere Einwirkung sich wesentlich umgestalten lässt. Ebenso wenig lässt sich aber die Krystallform einer Substanz dm^ch irgendwelche Mittel abändern. Man kann in beiden Reichen durch künstliche Einwirkung die Bildung ganz verliindern, man kann sie verkrüj)peln oder sonstwie krankhaft und abnormal werden lassen ; dabei bleibt aber die innere Natur des Krystalls wie die des Orga- nismus im wesentlichen unverändert. Erweisen sich somit die Einwürfe, welche gegen die Annahme einer bloss relativen Verschiedenheit zwischen dem Unorganischen und dem Organischen gemacht wurden, als unstichhaltig, so haben wir anderseits für diese Annahme einen unwiderleglichen PJeweis in der Thatsache, dass das Organische aus dem Unorganischen auf- gebaut wird. Wir sehen täglich, wie in den Pflanzen organische Substanz aus unorganischen Verbindungen entsteht, und ebenso mussten beim Ursprünge des Pflanzen- und Thierreiches die Bil- 590 I^ie Sclirankou der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. dungsstoffe für die ersten Organismen ausschliesslich der unorgani- schen Natur entnommen werden. Da nun alle Kraft untrennbar mit der Materie verbunden ist, da es keine Kraft gibt, die sich von der Materie loslösen, für sich bestehen und Avieder mit derselben sich vereinigen könnte, so folgt, dass die unorganischen Stoffe in der organischen Substanz nur in neuer complicirterer Combination auftreten und dass Bewegung und Gestaltung in den Organismen nichts grundsätzlich und al)solut Verschiedenes zeigen kann. Die andere Behauptung, welche den innigen Zusammenhang zwischen materieller und immaterieller Natur leugnet, zieht die trennende Kluft an verschiedenen Stellen. Einmal soll die belebte Natur überhaupt (oder die »beseelte« Natur, insofern man auch den Pflanzen eine Seele zuschreibt), dann die mit Empfindung begabte Thierwelt, endlich das geistig bewusste Menschengeschlecht etwas absolut Besonderes darstellen, indem auf der höheren Stufe neue immaterielle oder ewige Princij)ien zur Geltung kommen. Du Bois RejT^mond huldigt der mittleren Ansicht. Mit der ersten Regung von Behagen, sagt er, die im Beginn des thierischen Lebens auf Erden ein einfachstes Wesen empfand, ist eine unübersteigbare Kluft gesetzt, — während er von hier bis zur erhabensten Seelenthätigkeit aufwärts, anderseits von der Lebenskraft des Organischen bis zur einfachen physikalischen Kraft abwärts nirgends eine Kluft mehr entdeckt. Gegen die Behauptung von immateriellen Principien, die da oder dort plötzlich in der Natur auftauchen sollen, ist für den Natur- forscher schwer aufzukommen, da sich dieselbe von vornherein auf einen Standpunkt stellt, der ausserhalb der Naturwissenschaft in der Luft schwebt und von ihr nicht direct angegriffen und widerlegt werden kann. Die Naturwissenschaft vermag nur zu zeigen, dass die Behauptung überflüssig ist, weil alles sich auf natürlichem Wege erklären lässt, und wahrscheinlich, weil sonst in die endliche Natur ein Widerspruch eingeführt wird, der unserer ganzen Erfahrung widerspricht und unser geistiges Bedürfniss, überall causale Ver- hältnisse aufzufinden, verletzt. Die Erfahrung zeigt uns, dass von dem klarsten Bewusstsein des Denkers durch das dunklere Bewusstsein des Kindes zur Be- Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss. 591 wusstlosigkeit des Embryos und zur Gefühlslosigkeit des menschlichen Eis, — durch das dunklere Bewusstsein unentwickelter Menschen- rassen und höherer Thiere zur Bewusstlosigkeit der niederen Thiere und Sinnpfianzen und zur Gefühlslosigkeit der übrigen Pflanzen eine allmähliche Abstufung ohne vollziehbare Grenze statt hat, und dass die nämliche Abstufung von dem Leben des tliierischen Eis und der Pflanzenzelle durch mehr oder weniger leblose organisirte Elementargebilde (Theile der Zelle) zu den Kry stallen und chemischen Molekülen sich fortsetzt. Der Analogieschluss aber sagt uns Folgendes. Wie alle Orga- nismen nur aus Stoffen bestehen und gebildet worden sind, die in der unorganischen Natur vorkommen, so sind selbstverständlich auch die den Stoffen anhaftenden Kräfte mit in die Bildung ein- gegangen. Wenn Stoffe zusammentreten, so vereinigen sich ihre Kräfte zu einer Besultirenden, welche die neue, allerdings nur relative Eigenschaft des entstandenen Körpers darstellt. So ist Zinnober Queck- silber -j- Schwefel — Wärme ; Schwefelkohlenstoff' ist Kohle -j- Schwefel -)- Wärme ; Zucker ist Kohle -j- Wasserstoff + Sauerstoff — Wärme. So sind auch Leben und Gefühl neue relative Eigenschaften, die den Eiweissmolekülen unter besonderen Lmständen zukommen. Dem entsprechend zeigt uns die Erfahrung, dass das Geistesleben überall aufs innigste mit dem Naturleben zusammenhängt, dass das eine das andere beeinflusst und ohne dasselbe nicht bestehen kann. Es ist daher nothwendig, dass, wie überall in der Natur Kräfte und Bewegungen nur an die Stofftheilchen gebunden sind, auch die geistigen Kräfte und Bewegungen dem Stoffe anhaften, mit anderen Worten, dass sie aus den allgemeinen Kräften und Bewegungen der Natur zusammengesetzt sind und nach Ursache und Wirkung mit denselben zusammenhängen^). Dieser Forderung eines causalen Zusammenhanges kann sich kein Naturforscher, welcher nicht bewusst oder unbewusst seinem obersten Princip untreu wird, entziehen. Die Aufgabe wäre also die, zu erkennen, wie die Kräfte des unorganischen Stoffes in dem zu Organismen gestalteten Stoffe sich combiniren, dass ihre Resul- th'enden Leben, Gefühl, Bewusstsein darstellen. Die Erfüllung dieser 1) S. Zusatz 8 : Zurückführung geistiger Bewegungen auf stoffliche Be- wecrungen. 592 I^JG Schranlven der natnrwisseiischaftlicheii Erkenntuiss. Aufgabe liegt in weiter Ferne; aber sie ist möglich. Es lassen sich für jeden einzelnen Punkt genügende Andeutungen geben. Es sei mir gestattet, einen dieser Punkte näher zu besprechen, denjenigen nämlich, in welchem mein Vorgänger eine Grenze des Naturerkennens erblickt. Dies ist um so einladender, als D u ß o i s Reymond sich im übrigen, wenn auch nicht mit so nackten Worten, doch ebenso bestimmt und unbedingt auf den Boden des Causalprincips stellt, und dass daher, wenn diese eine Lücke aus- gefüllt wäre, eine andere für seinen Standpunkt nicht mehr bestände. Die ganze Weltgeschichte, selbst die Weltordnung ist ihm eine Folge der Mechanik der Atome. Es gebe keine Geistesthat, welche nicht aus den Kräften und Bewegungen des Stoffes sich berechnen Hesse, wenn es möglich wäre, diese zu kennen. Die materiellen Vorgänge, die mit der Lösung eines Rechenexempels, mit der Seligkeit des musikalischen Empfindens, mit dem geistigen Vergnügen über eine wissenschaftliche Entdeckung verbunden sind, seien Produkte der Hirnmechanik. Der Geist könne sogar, wie Karl Vogt und vor ihm Cabanis ausgesprochen haben, als die Absonderung der Ge- hirnsubstanz betrachtet werden, ebenso wie die Galle das Secret der Leiter ist. Alles dieses erklärt Du Bois Reymond als im Princip be- greiflich ; allein, sagt er, wir lernen nur die Bedingungen des Geistes- lebens kennen, nicht aber wie aus diesen Bedingungen das Geistes- leben selbst zu Stande kommt. Die Empfindung und das Bewusst- sein begleiten wohl nothwendig die materiellen ^^orgänge im Gehirn, a])er sie stehen ausserlialb des Causalgesetzes und bleiben uns ewige Räthsel. Es ist nicht ohne Interesse, die eben dargelegte Ansicht von Du Bois Reymond, die er des weiteren in Bildern und Beispielen ausführt, in ihre Consequenzen zu verfolgen und uns das allgemeine Ergebniss klar vorzulegen. Wir kommen dann auf dieses: Der end- liche Geist, wie er dm'ch das Thierreich bis zum Menschen sich entwickelt hat, ist ein doppelter — einmal der handelnde, erfindende, die Muskeln in Bewegung setzende, in die Weltgeschichte eingreifende, bewusstlose, materielle Geist; derselbe ist nichts anderes als die Mechanik der Stoff theilchen und unterliegt dem Causalgesetz, — dann der unthätige, beschauliche, Lust und Schmerz, Liebe und Ilass empfindende, sich erinnernde, phantasirende, bewusste, im- Die Schranken Punkten, die sich weder anziehen noch abstossen, also nicht mehr auf einander einwirken würden. Wollte man aber die Uratome als ausgedehnte kleine Massen mit einfachen (anziehenden und abstossonden) Centralkräften auf- fassen, so würden sich dieselben zunächst ebenfalls zu Paaren und weiterhin zu Ketten mit alternirenden a- und /^-Gliedern vereinigen, r,08 Zusätze. — fliese Ketten würden, je nach der gegenseitigen Lage ihrer Gheder, das Bestreben haben, sich bis zur Berührung zu nähern oder immer weiter von einander zu entfernen, und da mit der Bewegung selbst die gegenseitige Lage wechselte, so könnte dieses Spiel des Sich- suchens und Fliehens nie zur Ruhe kommen. Aber eine weitere Organisation und Dil^erenzirung der Materie wäre auch in diesem Falle nicht möglich. Ueberhaupt lässt sich, selbst wenn man von den angeführten principiellen Folgerungen absehen wollte, gar keine Anordnung der nach dem ersten Schema wirkenden a- und />-Atome denken, w^oraus die meisten allgemeinen physikalischen Thatsachen, wie namentlich die Gravitationsanziehung, die Elasticität, die Wärme, die verschie- denen Aggregatzustände, erklärt werden kömiten. Was das zweite der drei symmetrischen Verhältnisse betrifft, so müssten, wenn die ganze materielle Welt aus a- und /:?-Uratomen zu- sammengesetzt wäre, nach und nach einerseits Gruppen von «-Atomen, andrerseits solche von /^Atomen zu Sammelpunkten, oder bei An- nahme von ausgedehnten Atomen zu Massen sich vereinigen. Diese Massen könnten Weltensj'steme l)ilden, welche durch Bewegung, durch Anziehung und Abstossung im Gleichgewichte erhalten würden. Aber abgesehen hievon besteht keine Möglichkeit, die nach dorn zweiten Schema wirkenden a- und /^Atome so anzuordnen, dass dadurch die Elektricität, das Verlialten des Licht- und Wärme- äthers, die Elasticität, die flüssigen und gasförmigen Aggregatzustände erklärt würden. Würde endlich die Welt nach dem dritten der symmetrischen ^'^er- hältnisse gebaut sein und aus Uratomen, die wie A und B sich verhalten, bestehen, so ist einleuchtend, dass ganze Gruppen von yl-Atomen (wie es mit den a- und /':/-Atomen des zweiten Schemas der Fall war) sich zu Sammelpunkten oder, wenn den Atomen Ausdehnung gegeben wird, zu Massen zusammenballen müssten, während die sich abstossenden 2?-Atome in dem üljrigen Raum gleichmässig ver- breitet wären. Man erhielte somit gravitirende Weltkörper in einem äther- erfüllten Raum, wie sie wirklich bestehen. Aber es mangelten der Materie nicht nur die Elektricität, sondern auch, da zwischen A- und 5-Atomen keine Beziehung besteht, die Elasticität und die nicht starren Aggregatzustände. 1. Physische und metaphysische Atomistik. 609 Somit lässt sich aus den einfachen metaphysischen Atomen, man mag sich die Sache zurecht legen, wie man will, nichts der Wirklichkeit Entsprechendes construiren ; und wenn man sie ohne weitere Ueberlegung und ohne Bezugnahme auf die reale Welt hypothetisch als die letzten Elemente gelten lässt, so stellt man einen unbrauchbaren und werthlosen Begriff auf. Verlassen wir die luftigen Regionen der metaphysischen Atome und begeben wir uns auf den Boden der wirklichen Welt. In der- selben kennen wir bloss Materie, die mit verschiedenen Kräften begabt ist, und darüber kommen wir weder mit unserer Theorie noch mit unserer Erfahrung hinaus. Man mag die Bausteine der Materie so klein annehmen als man will, so dürfen sie, wenn man etwas in der Natur Vorhandenes damit herstellen will, nie einfach, sondern immer nur schon zusammengesetzt und mit verschiedenen Kräften ausgestattet sein. Diese Einsicht wird mis sowohl durch die Deduction aus den Principien als durch die Induction aus den Thatsachen aufgenöthigt. In ersterer Beziehung müssen wir jede Deduction dem Werthe nach einer unbestreitbaren Thatsache gleich achten, wenn sie aus einem vernünftigen Axiom ^) in logisch richtiger Weise die Folge- rungen entwickelt. Ein glänzendes Beispiel liegt uns in der Ma- thematik und Mechanik vor. Aus den drei Ausdehnungen des Raumes ist die ganze Geometrie abgeleitet. Wird in vollkommen strenger Weise verfahren, so muss alles, was als vernünftig, und dessen Gegentheil als unvernünftig dargethan werden kann, sammt den Folgerungen daraus auch wirklich sein. Wenden wir nun die Deduction auf die in der Natur waltenden elementaren Kräfte an. Das Axiom, von dem dieselbe ausgehen muss, sagt uns, dass die Kräfte zwischen zwei materiellen Theilchen nur als Anziehung oder Abstossung wirken können, und dass die beiden zusammengehörigen und sich widersprechenden d. h. ein- ander aufhebenden Kräfte ein symmetrisches Verhältniss darstellen *) Ich gehrauche diesen allgemein verständlichen Ausdruck und beziehe mich auf den Zusatz 5. Apriorität, wo ich zu zeigen suche, dass die Axiome nichts anderes sind, als ganz allgemeine und unbestreitbare Erfahrungsthatsachen. V. Nägeli, Abstammungslehre. 39 610 Zusätze. müssen, wie wir dies z. B. in der Elektricität finden. Wir erhalten auf diesem Wege drei Paare von Elementarkräften ; es sind die nämlichen drei symmetrischen Verhältnisse, die ich oben schon in hypothetischer Weise für die Uratome unterschieden habe. Ich wiederhole sie hier, indem ich ausdrücklich bemerke, dass jetzt nicht mehr von Atomen, sondern von wirkhchen Kräften, die in der Natur überall vorhanden sein müssen, die Rede ist. Die Buch- staben a und h, a und ß, A und B, welche oben Uratome bezeich- neten, bedeuten jetzt Kräfte und zwar je die entsprechenden und in symmetrischem Verhältniss zu einander stehenden. Während oben die zwei Uratomarten des einen oder andern Verhältnisses (a und h oder a und ß oder A und B) für sich die materielle Welt aufbauen sollten, wirken hier die 6 Elementarkräfte (a, &, a, /?, A^ B) zusammen, um die dynamischen Erscheinungen im Weltall zu begründen. I. Die gleichnamigen Kräfte stossen sich ab, die ungleichnamigen ziehen sich an. (Fig. 26, I.) IL Die gleichnamigen K^räfte ziehen sich an, die ungleich- namigen stossen sich ab. (Fig. 26, II.) III. Die einen gleichnamigen Kräfte {A und A) ziehen sich an, die andern gleichnamigen {B und B) stossen sich ab; die un- gleichnamigen [A und B) verhalten sich indifferent, indem sie sich weder anziehen, noch abstossen. (Fig. 26, III.) n , 111 a a A Fig. 26. Ein viertes symmetrisches Verhältniss von Kräften ist über- haupt undenkbar; es gibt nur diese drei. Die Deduction verlangt also, dass in der Natur diese drei Kategorien oder Paare von Ele- mentarkräften und überdem keine anderen wirksam seien. Die Deduction verlangt ferner, dass in jedem materiellen Theil- chen Kräfte der drei Kategorien vereinigt vorkonnnen. Eine Trennung derselben auf verschiedene Theilchen lässt sich nicht annehmen, 1. Pliysische und metaphysische Atomistik. (JH weil sonst die dynamischen Beziehungen zwischen diesen mangehi würden. Wäre in dem einen materiellen Theilchen a oder }>, in einem zweiten a oder ß und in einem dritten A oder B allein vorhanden, so könnten die drei Theilchen gar nicht auf einander einwirken, und aus solchem Material könnte auch nichts construirt werden. Wir müssen also schon a priori annehmen, dass in einer Masse von beliebiger Grösse a und &, a und ß, A und B vereinigt seien, und dass, wenn wir dieselbe auch in noch so kleine Splitter theilen, in jedem derselben alle Kräfte als der Substanz inhärente Eigenschaften sich vorfinden. Ich will die Deduction hier nicht weiter fortzuführen suchen. Vergleichen wir mit den eben dargelegten Ergebnissen derselben die auf i n d u c t i v e m Wege gewonnenen wissenschaftlichen Thatsachen und Gesetze, so sehen \rä alsbald ein, dass die Physik von den drei Kategorien von Elementarkräften bis jetzt nur zwei kennt, nämlich die erste als Elektricität (mit Magnetismus) und die dritte als Gravitationsanziehung der wägbaren Stoffe und als Abstossung des Aethers. Die zweite Kategorie von Kräften, die sich dadurch auszeichnet, dass die gleichnamigen sich anziehen, die ungleich- namigen sich abstossen, und die ich deshalb Isagität^) nennen will, ist als solche durch directe Beobachtung noch nicht erkannt. Die Ursache dieses Mangels besteht darin, dass die isagische An- ziehung und Abstossung sich nirgends in der Natur zu merkbaren Grössen summiren. Dass dieselben aber vorhanden sein müssen, ergibt sich aus dem Umstände, weil ohne sie die molecularen Er- scheinungen nicht erklärt werden könnten. Die Wissenschaft kennt nämlich Eigenschaften der kleinsten Theilchen, die Elasticität und die chemische Affinität, welche nicht aus den bisherigen Elementarkräften zu begreifen sind. Beide, be- sonders aber die chemische Verwandtschaft, sind Anziehungen, die sich w*eder auf die Gravitation und Elektricität allein zurückführen, noch als besondere einfache Elementarkräfte definiren lassen. Melmehr müssen wir sie als zusammengesetzte Erscheinungen betrachten, die aus dem Zusammenwirken aller Elementarkräfte hervorgehen, was auch keinen Anstand findet, sobald noch die bis jetzt im bekannte Kategorie von Elementarkräften, die Isagität, zu Hülfe genommen ') Von i'aos, gleich und äytiv, anziehen. 39^ 612 Zusätze. wird. Ich verweise hierüber auf die am Schlüsse folgende Ab- liaiidhing: Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. 2. Unendliche Abstufung in der Zusammensetzung und Organisation des Stoffes (S. 072). Während es mit Rücksicht auf Raum und Zeit verhältniss- mässig leicht ist, sich der Endlichkeit im Gegensatz zur Ewigkeit l)ewusst zu werden, scheint es dagegen nicht leicht, darüber volle Klarheit zu erlangen, dass die uns bekannte Welt auch rücksichtlich der Zusammensetzung oder der Organisation des Stoffes sich in einer gleichen Endlichkeit befindet. Denn während man von un- endlicher Theilbarkeit spricht, spricht man oft gleichzeitig von untheill:)aren Atomen; das Eine schliesst aber das Andere selbst- verständlich aus. Sogar die Annahme von ausdehnungslosen Kraft- punkten (vgl. Zusatz 1) setzt einen Anfang Inder Zusammensetzung, somit ein Ende in der Theilbarkeit voraus. Die unendliche Theil- barkeit besteht ja darin, dass man mit dem Th eilen nicht fertig ward und somit niemals bei dem absolut Einfachen anlangt. Mit der nicht endenden Theilbarkeit ist auch eine unendliche Abstufung in der Zusammensetzung und Organisation verbunden. Die unaufhörliche Theilbarkeit hat nur dann wirkliche Bedeutung, wenn die Theile früher oder später dem Ganzen ungleich w^erden. Ein Liter Wasser kann zw^ar lange getheilt werden und man hat immer wieder Wasser. Würde dies ohne Ende so fortgehen, so wäre das Wasser ein homogener, den Raum continuirlich erfüllen- der Körper. Ist man aber etw^a beim 25-quadrillionsten Theil des Liters angekommen, so kann derselbe nicht mehr in Wassertheilchen zerlegt werden. Man hat jetzt das Wassermolekül vor sich, welches in 1 Sauerstoff- und 2 Wasserstoffatome zerfällt. In welcher Art die Atome der chemischen Grundstoffe zu- sammengesetzt seien, ob sie nach Analogie der chemischen Mo- leküle aus einer beschränkten Zahl von Theilen, die dem Ganzen unähnlich sind, oder nach Analogie des Wassertropfens, des Krystalls, des Weltkörpers zunächst aus zahlreichen, dem Ganzen ähnlichen, Theilen bestehen, bleibt vor der Hand ein Räthsel. Bei der durch- aus relativen Bedeutung aller Grössen Verhältnisse ist es immerhin '2. Unendliche Al)stufinig in d. Zusammensetzung u. Orgiiuisation des Stoffes. G13 nicht unmöglich und sogar nicht unwahrschcinhch, duss man bei der wiederholten Theilung der chemischen Atome früher oder später l)ei individuellen Körperchen anlangte, welche einen den Weltkörpern ähnlichen Bau besitzen, an ihrer Oberfläche mit kleinen Wesen bevölkert sind und ia ihrer Vereinigung den gestirnten Himmel nachahmen. Wie die endlose Theilbarkeit des Raumes auf stets neue und kleinere individuelle Theile führt, so ist mit der endlosen Ausdehnung des Raumes auch eine nicht endende Zusammensetzung zu immer grösseren Ganzen mit individueller Besonderheit, also eine nicht endende Organisation gegeben. Die Gesammtheit des gestirnten Himmels, die aus immer grösseren Systemen sich aufbaut, kann ein solches individuelles Ganzes sein, welches als Theil eines grösseren Ganzen sich entweder wie ein Atom in einer chemischen Verbindung oder wie ein Molekül in einem Krystall oder wie ein Molekül in einer Gasmasse oder wie ein Weltkörper selbst oder in irgend einer andern Weise verhält. Möglich, dass die Weltensysteme zu kunst- vollen Organismen zusammengefügt sind, die unseren eigenen Or- ganismus an Intelligenz weit übertreffen. Man möchte vielleicht die Vorstellung von einer endlosen Zu- sammensetzmig und Organisation sowohl nach dem Kleinen als nach dem Grossen hin für die Ausgeburt einer ungezügelten Phan- tasie halten. Gleichwohl ist sie nichts anderes als die von der nüchternsten Ueberlegung gewonnene Consequenz, deren man sich vorzüglich deswegen nicht so leicht bewusst wird, weil die natür- liche Neigung besteht, sich auf die unseren Sinnen und unserem Erkenntnissvermögen erfahrungsgemäss zugängliche Welt zu be- schränken. Dadurch wird man zu dem falschen Schluss verleitet, das Kleinste, von dem man durch Wahrnehmung und Ueberlegung Kunde erlangt, als einfaches und untheilbares Element — und andrer- seits den gestirnten Hinimel, so ^\•ie wir ihn kennen, wenn auch in noch viel grösserer Ausdehnung, als das Universum zu betrachten. Und dieser doppelte falsche Schluss liegt um so näher, als die neuen Kraftcombinationen und Bewegungsformen, welche ohne Zweifel sowohl im Kleinsten als im Grössten wirksam sind und die neuen Organisationsformen erklären helfen, uns verborgen bleiben. Dafür, dass wirklich eine endlose Zusammensetzung mit ent- sprechender Organisation anzunehmen ist, sijricht einmal die Analogie. ß 1 4 Zusätze. Wir sind, je allgemeinerer Natur ein Gesetz ist, um so mehr zu der Annahme gezwungen, dass es auch in den uns noch unbekannten Gebieten Gültigkeit habe. So besteht für uns die Nothwendigkeit, dass jenseits des durch sinnliche Wahrnehmung bekannten Raumes wieder Raum, dass vor und nach der bekannten Zeit wieder Zeit zu setzen ist, und es wird uns die Endlosigkeit von Raum und Zeit zum Axiom. Bezüglich der Organisation wissen wir, dass alles, was uns hinreichend bekannt ist, einerseits aus Theilen zusammengesetzt (organisirt), andrerseits Tlieil einer grösseren Organisation ist. Wir können diese Zusammensetzung durch eine grosse Zahl von Stufen verfolgen und wir müssen logischer Weise annehmen, dass diese Stufenreihe sich nach unten und nach oben endlos fortsetze. Das Aufhören nach der einen oder anderen Seite wäre etwas Neues, für das wir keine Analogie haben, sowenig als für das Aufhören von Raum und Zeit. Für die Annahme einer endlosen Zusammensetzung und Organi- sation spricht ferner der Umstand, dass uns das Aufhören derselben als Unmöglichkeit erscheint. Alles Endliche und Reale bew^egt und verändert sich. Nehmen wir einem Ding für immer Bewegung und Veränderung, so befindet es sich in absoluter Ruhe; es hört auf, wirklich zu sein und für unser Begriffsvermögen zu existiren. Diese absolute Ruhe müsste aber da beginnen, wo die Organisation zu Ende ginge. Würde beispielsweise das Aethertheilchen oder das chemische Atom oder ein Theilungsstück dieser kleinsten Körperchen bei der Theilung endlos in gleiche Stücke zerfallen, so wäre es in seinem Iimern homogen, ohne Bewegung und ohne Veränderung. Es wäre in todter Ruhe und wir würden nicht begreifen, dass es sich in lel)endiger Wechselbeziehung zu andern Körpern befindet. Jedenfalls könnte es nach aussen nur eine einfache Wirkung aus- üben, also l)loss anziehen oder abstossen, und mit so einfach ge- dachten Elementen lässt sich nichts Reales construiren (vgl. Zusatz 1). Bezüglich der endlosen Zusammensetzung im Grossen besteht eine umgekehrte Schlussfolgerung. Würden sich die Weltkörper- systemc bloss jedes für sich in seinem Innern verändern und im Uebrigen in endloser Folge sich gleichartig an einander reihen, so wäre dies allerdings wieder die todte Ruhe. Aber dies ist un- möglich, weil die einzelnen Weltkör^^er und daher auch die ganzen 3. Nuturpliilosopliisflie Weltunsc-hiuiungen. 615 Systeme auf einaiuler einwirken und somit eine gegenseitige Ver- cänderung Ijedingen. Mit einer unendlichen Zahl von Weltkörpern, die durch den endlosen Raum vertheilt sind, muss es sich ähnlich verhalten wie mit der ursprünglichen Gasmasse, mit der unser Sonnen- system begonnen hat. Wie die letztere durch die in ihr wirksamen Kräfte nothwendig sich verdichtete und organisirte, so müssen auch die Weltkörper sich zu niederen und höheren Gruppen vereinigen; es muss, wenn auch einmal kaum eine Andeutung einer Gru^ipirung bestand, dieselbe immer deutlicher hervortreten und zu einer immer mehr ausgesprochenen Organisation führen. Es versteht sich, dass mit der Abstufung in der Zusammen- setzung und Oi'ganisation auch eine Abstufung in der Zeitdauer parallel geht, und dass unser Zeitmaass in dem unendlich Kleinen, sowie in dem unendlich Grossen nicht mehr anwendbar ist. Für die Veränderungen in dem organisirten Aethertheilchen oder chemi- schen Atom mag eine Secunde fast eine Ewigkeit, für die Ver- änderungen in dem Organismus dagegen, in welchem der gestirnte Himmel einen Theil ausmacht, mag eine Million von Jahren gleich einem Augenblicke sein. Zeit- und Raumgrössen sind ja nm- relative Begriffe. Die Grösse eines Raumabschnittes wird nach der Menge von Dingen, die Grösse eines Zeitabschnittes nach der Menge von Ereignissen, die wir darin unterscheiden, beurtheilt und nach den gegebenen Wahrnehmungen das Maass von Raum und Zeit bestimmt. 3. Naturphilosophische Weltanschauungen. Entropie. (S. 577). Unter den Weltanschauungen hat für uns die pliysicahsche einen besondern Werth, weil sie die Consequenz exacter Forschung ist. Aus dem allgemeinen Princijj, dass AVärme nicht von selbst d. h. nicht ohne Compensation aus einem kälteren in einen wärmeren Körper übergehen kann, und dem andern allgemeinen Princip, dass bei den unaufhörlich in der Natur stattfindenden Verwandhmgen die in Wärme verwandelte mechanische Energie nie vollständig wieder in diese ül^erzugehen vermag, ward geschlossen, dass alle in der Natur vorkommenden Veränderungen in einer gewissen (»posi- tiven«) Richtung von selbst (oluie Compensation) eintreten können, und dass sie in der entgegengesetzlen (>iiegativen<) Richtung nur 616 Zusätze. dann möglich sind, wenn sie durch gleichzeitige positive Verän- derungen compensirt werden. Die Grösse dieser Neigung, welche die Natur hat, einen Process in einer gewissen (positiven) Richtung auszuführen und einen Körper in einem gewissen (positiven) Sinne umzubilden, wurde von Clausius »Entropie« genannt. Diese Schlussfolgerung ist auf das Universum angewendet und behauptet worden (zuerst von W. Thomson), dass die Verwand- lungen in j^ositivem Sinne hniner die negativen an Grösse über- treffen, und dass das Weltall sich stetig einem Grenzzustande nähere, in welchem alle Energie die Form von Wärme angenommen und alle Temperaturdifferenzen sich ausgeglichen hätten. Diese Behauptung wäre richtig, wenn das Gesetz der Entropie ganz allgemein d. h. für alle Kräfte und Bewegungen in allen möglichen Zuständen als gültig nachgewiesen wäre. Hiezu niuss bemerkt werden, dass das Gesetz physicalischer Natur ist, dass es allein durch die Erfahrung gewonnen wurde und dass es nur irr- thümlich etwa als mathematisch bewiesen aufgefasst mrd, woran die Urheber wohl kaum gedacht haben. Ein Princip d. h. eine allgemeine Thatsache von wirklicher, nicht bloss formaler Bedeutung kann in Differentialgleichungen nie seine Begründung, sondern nur seinen genauen Ausdruck finden. Die mathematische Behandlung dient immer bloss dazu, für bestimmte Voraussetzungen die Fol- gerungen in quantitativ normirten A'^erhältnissen darzulegen, und wenn es wohl den Anschein gewinnt, als ob die Thatsache selbst dadurch bewiesen werde, so geschieht es nur deshalb, weil dieselbe schon in die ersten Ansätze hineingelegt wurde. Um das Gesetz der Entropie in ganz allgemeiner und absoluter Gültigkeit physicalisch zu begründen, reichen unsere Kenntnisse sicherlich nicht aus. Selbst Elektricität und Magnetismus bleiben vorerst ausgeschlossen, so lange die entsprechenden molecularen Kräfte und Bewegungen durch Erfahrung so wenig bekannt sind, als es gegenwärtig der Fall ist. Viel mehr aber gilt dies von den unzweifelhaft vorhandenen, aber noch ganz unbekannten Kraftcom- binationen und Bewegungsformen, welche die Verschiedenheit der chemischen Elementarstoffe mit Rücksicht auf ihre Affinität, Werthig- keit und die übrigen physicalischen Eigenschaften, und welche ferner das Verhältniss zwischen den wägbaren (chemischen) und unwägbaren (Aether-) Theilchen bedingen. So lange diese Lücke 3. Natiirphilosophische Weltanschauungen. 617 in unserer Erkenntniss bestellt, kann auch kein allgemeines Gesetz für den Verwandlungsinhalt des Universums aulgestellt werden. Dass aber dem Gesetz der Entropie eine absolute Gültigkeit in der That nicht zukommen kann, geht aus den Conseciuenzen desselben hervor. Wenn das Universum sicli in einer bestimmten Richtung verwandelt, wenn seine Entropie einem Maximum zustrebt und somit von einem Minimum ausgegangen ist, so haben wir einen endlichen Process vor uns mit einem Anfang und einem Ende. Das Ende ist der allgemeine Tod ; was kommt nachher? Was ist ferner der Anfang und was ist denisellien vorausgegangen? Offenbar köiniten wir zu dem Anfang nur durch die Hypothese ge- langen, dass in einem bis dahin unveränderlichen und ebenfalls todten Zustande Bewegung begonnen habe, also nur durch die Annahme eines Wunders und Preisgebung des Causalgesetzes. Dies beweist uns, dass die (positive) Entropie keine ganz allgemeine Er- scheinung sein kann und dass sie ihre Gompensation in uns noch unbekannten Gebieten finden muss. Es wäre möglich, dass, sobald dereinst die in der uns umgebenden Natur jetzt thätige entropische Umwandlung eine gewisse Höhe erreicht hat, Kräfte, die uns wegen ihrer gegenwärtig geringen Wirkimg verborgen bleiben, intensiver wirken und eine neue Zer- streuung des Stoffes verursachen werden, wobei Wärme wieder in mechanische Energie übergeht. Es wäre möglich, dass diese letztere Umwandlung einst dadurch befördert wird, dass unser Sonnensystem mit der Zeit in Regionen des Universums gelangt, in denen andere Intensitäten jener noch unbekannten Kräfte und Bewegungen herrschen; dass also, mit andern Worten, auf die Periode der positiven En- tropie eine wahrscheinlich rascher verlaufende Periode negativer Entropie folgen wird, und dass dann andere Intelligenzen jener künftigen Periode die negative Entropie als ein der Erlaln'ung ent- sprechendes allgemeines Gesetz des Universums aufstellen werden. Um diese Möglichkeit anschaulich zu machen, muss ich noch etw^as näher auf die molecularen A^erhältnisse eintreten. Die Atome der chemischen Verbindungen sind nothwendig als sehr zusammen- gesetzte Körper zu betrachten ; dafür sprechen ihre verschiedenen Eigenschaften (ungleiches Gewicht, ungleiche chemische Affinität, ungleiche Werthigkeit, ungleiche Aggregat zustände, ungleiches Lei- tungsvermögen für Licht, Wärme, Elektricität und noch manche 61^ Zusätze. andere Verhältnisse), ferner auch der Umstand, dass sie die Aether- theilchen an Grösse und Masse last unendlich übertreffen. Wir können uns die innere Bescliaffenheit der Atome nur so denken, wie wir alle zusammengesetzten Körper kennen, nämlich als begabt mit einer gewissen Beweglichkeit der Theilchcn und soliin mit einer gewissen Veränderlichkeit. Alles in der endlichen Welt ist veränderlich und wenn auch die Sonne und die Planeten seit Jahrtausenden gleiche Gestalt und gleiches Gewicht besitzen und noch viele Jahrtausende l^esitzen werden, so hindert das die Physik nicht, anzunehmen, dass dieselben in der Urzeit eine ganz andere, und zwar gasförmige, Beschaffenheit hatten und dass zu jener Zeit auch die astronomische Weltordnung eine ganz andere war ; — und die Physik beweist ferner, dass auch in ferner Zukunft wichtige Veränderungen eintreten müssen und dass die Weltordnung aljermals eine andere sein wird. Die Welt im Grossen ist also in einer Umwandlung begriffen, die aber so langsam vor sich geht, dass wir einen stationären und unveränder- lichen Zustand vor uns zu haben glauben. Da alle Systeme von materiellen Theilen, die wir hinreichend kennen, vom grössten bis zum kleinsten, sich verändern, so sind wir genöthigt, dies auch von den chemischen Atomen anzunehmen. Ihre Veränderungen können in verschiedener Weise erfolgen, ver- schiedene ihrer Eigenschaften betreffen und somit auch eine ver- schiedene Bedeutung haben. Für die vorliegende Frage ist das ^'^erhalten in einer Beziehung, nämlich rücksichtlich des Vermögens Wärme zu binden, wichtig. Vergleichen wir z. B. Kohlenstoff und Wasserstoff; ersterer behält bei den höchsten Temperaturgraden, letzterer bei den niedrigsten seinen Aggregatzustand; ersterer ist ein permanent fester, letzterer ein permanent gasförmiger Körper. Unter den chemischen Elementen besitzen die Kohlenstoff atome die geringste, die Wasserstoffatome die grösste Menge von gebundener Wärme, und dies in Folge ihrer ungleichen Beschaffenheit. Wenn der Kohlenstoff seine Natur in dieser Beziehung änderte und die- jenige des Wasserstoffes annähme, so würde er eine entsprechende Menge freier Wärme binden, d. h. in Bewegung verwandeln, und er wäre bei gewöhnlicher Temperatur gasförmig. Bestehen die chemischen Atome aus zahlreichen Theilchcn, denen verschiedene anziehende und abstossende Elementarkräfte eigen- 3. Natur2>hilosophische Weltanschauungen. 619 thümlich sind, was als die einzig mögliche, natiirgesetzliche An- nahme erscheint'), so hängt es von der Anordnung dieser kraft- begabten Theilchen ab, ob die Atomoberfläche eine grössere oder geringere Zahl von andern, beweglicheren Theilchen, eine Aether- hülle von grösserer oder geringerer Mächtigkeit anzuziehen mid festzuhalten vermag. Hiedurch aber wird der festere oder lockerere Zusammenhang mit den andern Atomen und die Fähigkeit, mehr oder weniger Wärme aufzmiehmen, somit auch der Umstand bedingt, ob die Substanz bei gewöhnlicher Temperatur im gasförmigen, flüssi- gen oder festen Zustande auftritt. Und wenn die Anordnung der Theilchen, wozu die Möglichkeit durch ihre Beweglichkeit und A^er- schiebbarkeit gegel^en ist, in einem Atom sich verändert, so wird auch die Mächtigkeit der Aetherhülle sammt der Adhäsion an andere Atome und damit die Schmelz- und Verdampfungstemperatur und schliesslich der Aggregatzustand bei gewöhnlicher Temperatur ein anderer. Diese Umlagerung der Theilchen in den Atomen erfolgt möglicher Weise ohne äussere Einwirkung , sodass bei der Configurations- änderung die Gesammtenergie sich weder vermehrt noch vermindert; sie befähigt aber das Atom, äussere Arbeit in positivem oder nega- tivem Sinne zu leisten, d. h. mehr oder weniger Anziehung auf andere Atome auszuüben. Möglicher Weise wird jene Umlagerung durch Einwirkung von aussen angeregt, indem das Atom Substanz aufnimmt oder abgibt. Dadurch ward natürlich die Anziehung auf andere Atome viel sicherer und energischer geändert als im ersten Falle. Geht die Veränderung in allen oder in den meisten chemischen Elementen im gleichen Sinne vor sich, nämlich so, dass die Aetherhüllen der Atome mächtiger und der Zusammenhang unter den Atomen geringer wird, so kann ein Zustand herbeigeführt werden, welcher im Grossen und Ganzen eine Umwandlung von Wärme in mechanische Energie, somit die negative Entropie bedingt^). Die Configurationsänderung in den iVtomen und damit die Ver- änderung ihrer physicalischen Natur ist nicht bloss aus allgemeinen Analogiegründen möglich und wahrscheinlich ; sie wird auch durch ') Vgl. die folgende Abliandlung: Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. ■'') Vgl. Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. 9. Entstehung, Beschaffenheit und \'eiänderung der Atome. 620 Zusätze. bestimmte Erwägungen geradezu gefordert. Wenn die Materie der Körper unsers Sonnensystems in der Urzeit sich in einem gasförmigen Zustande befunden hat, so fragen wir uns, wodurch dies möghch war. Die Hauptmasse dieser Materie ist ja bei gewöhnUcher Tempe- ratur fest und geht erst Ijei den höchsten uns ])ekannten Hitzegraden (GKihhitze) in den flüssigen Zustand über. Es ist ganz undenkbar, dass jemals eine Temperatur geherrscht habe, welche das Gestein zu Gas verflüchtigte. Wo wäre diese Wärme hingekommen, wenn der ganze Himmelsraum damit erfüllt war? Und wie hätte sie sich zusammenhäufen können, wenn es nur eine locale, den Raum unsers Sonnensystems erfüllende Hitze war. Ueberdem hat ja die Wärme- bildung, die uns bekannt ist, erst mit der Zusammenballung der ursprünglich gasähnlich zerstreuten Materie begonnen. Die Annahme eines ursprünglichen gasförmigen Zustandes verlangt, wenn wir nicht viel weiter gehende und kühnere Hypo- thesen aufstellen wollen, iiothwendig die weitere Annahme, dass die chemischen Elemente der die Sonne und die Planeten zusammen- setzenden Materie damals eine andere Beschaffenheit hatten und in Folge derselben bei einer Temperatur des Himmelsraumes, die weit unter der jetzigen stand, in luftförmiger Zerstreuung auftraten. Indem diese Natur sich änderte, ballten sich die Gase zusammen zu flüssigen und festen Körpern und gaben ihre gebundene Wärme als freie Wärme ab. Dieser Process dauert noch immer fort und wird so lange dauern, bis überall gleichmässige Temperatur herrscht und die Erstarrung der AVeit eingetreten ist, oder bis durch neue Aenderung der Natur der chemischen Stoffe in entgegengesetztem Sinne wieder freie Wärme gebunden wird und unser Planetensystem durch die rückläufige negative Entropie zmn gasförmigen Zustande zurückkehrt. Es wäre denkbar, dass die Umlagerung der Theilchen in den Atomen ein langsam vor sich gehender, wesentlich durch innere Entwicklung geregelter und von äusseren Umständen wenig ab- hängiger Process ist. Dann würde sie in den verschiedenen chemi- schen Elementen zu ungleicher Zeit beginnen und somit zu der nämlichen Zeit in ungleichem Sinne verlaufen, z. B. im Kohlenstoff in positiver, im Wasserstoff in negativer Richtung. Es ist aber auch denkbar, dass eine neue Umlagerung erst beginnt, wenn die äusseren Umstände in gewissem Sinne andere geworden sind; — 3. Naturphilosophische Weltanschauungen. 621 wenn z. B. durch die fortschreitende Abkühlung die Annäherung der Moleküle und Atome und die Verlangsamung der molecularen Be- wegungen einen bestimmten Grad erreicht halben und damit gewisse Kräfte, die bis jetzt weniger wirksam waren, eine entscheidende Be- deutung gewinnen ; — oder wenn unser Sonnensystem mit der Zeit in andere Regionen des Universums gelangt, in denen der Aether eine etwas andere Beschaffenheit besitzt, welche die Umstimmung in den Atomen anregt. Clausius hat sich ein grosses Verdienst erworben durch die Begründung, die mathematische Formulirung und die Anwendung des Gesetzes der Entropie. Aber es darf nicht vergessen werden, dass seine Gültigkeit im Sinne des Autors nur für die uns bekannten Verhältnisse nachgewiesen ist und daher wegen der Lückenhaftigkeit unserer Kenntnisse auch nicht einmal für die Endlichkeit als all- gemein betrachtet werden darf. Im entschiedenen Irrthum aber befinden sich diejenigen, welche die Entropie für die Ewigkeit in Anspruch nehmen. Würde sie selbst alle Naturprocesse in unserer Zeit und in unserem Raum be- herrschen, so dürfte sie doch nicht als Grundlage einer absoluten oder philosophischen Weltanschauung benutzt werden. Diese Hesse sich, wie ich bereits angedeutet habe, noch anschaulicher in ihrer Absurdität nachweisen als die übrigen naturphilosophischen Welt- anschauungen. Der Grund dieses Vorzuges ist einleuchtend. Da aus dem Endlichen nicht auf das Ewige geschlossen werden kann, so lässt sich der Trugschluss um so leichter als solcher durch- schauen, je klarer und exacter das Endliche gedacht wird. AVir können, um uns die philosophischen Weltanschauungen vorstellbarer zu machen, dieselben als Curven verzeichnen. Für die physicalisch-philosophische, welche die Welt aus einer ursprünglichen Gasmasse sich verdichten und zuletzt erstarren lässt,. geben die Ordinaten den Grad der Verdichtung an, während die Zeiten auf der Abscissenaxe aufgetragen werden (Fig. 27). Die Curve nähert sich von dem Nullpunkt der Gegenwart aus rückwärts nach der unendlichen Vergangenheit immer mehr der Abscissenaxe, vorwärts nach der unendlichen Zukunft immer mehr einer Abscisse, deren Ordinaten dem grössten Grad der Verdichtung entsprechen. — Die idealistisch -philosophische Weltanschauung gibt uns die gleiche 622 Zusätze. Curve, wenn wir den zu jeder Zeit erreichten Grad der Vervoll- kommnung als Ordinate auftragen. T'ig. 27. Wir können aber auch die Grcisse (Intensität) der Veränderung während der Zeiteinheit als Maass für die Ordinaten benutzen, indess die Zeiten paeder als negative oder positive Entfernungen auf der Abscissenaxe erscheinen (Fig. 28). Die Curve der beiden vorgenannten Weltanschauungen nähert sich dann sowohl in der unendlichen Vergangenheit als in der unendlichen Zukunft immer mehr der Abscissenaxe, während ihr Höhepunkt in einer endlichen Entfernung vor oder nach dem zeitlichen Nullpunkt der Gegenwart sich be- findet ; die aufsteigende und die absteigende Hälfte der Curve können einander mehr oder weniger ungleich sein. Fig. 28. Für die materialistisch-philosophische Weltanschauung wird die Curve, wir mögen die Vollkommenheit oder einen anderen Zustand der Welt oder die Intensität der Veränderung während der Zeit- einheit durch die Länge der Ordinaten ausdrücken, eine mit der Abscissenaxe im allgemeinen parallel laufende Linie, die je nach der A^orstellung gerade oder wellenförmig sein kann, aber sich der Abscissenaxe auf die Dauer weder nähert, noch sich von derselben entfernt. 4. Bedingungen für empirisches Wissen und Erkennen. Morphologische Wissenschaften (S. 580). Es herrschen bezüglich des Wissens und Erkennens innerhalb des Gebietes der Erfahrung verschiedene Ansichten, die denn auch 4. Bedinloss neutrale Doppelamere, zwischen denen weder anziehende noch abstossende Beziehungen bestehen^). Ganz anders verhalten sich die isagischen Kräfte a und ß. Wenn zwei a sich mit einander vereinigt haben, so kann sich noch ein drittes, viertes und eine beliebige Monge von a-Ameren anlegen. Dasselbe ist andrerseits .mit den /i-Ameren der Fall. Es haben also alle durch die Kraft « ausgezeichneten Amere die Neigung, sich in eine einzige Masse zu vereinigen, ebenso alle durch ß ausgezeichneten Amere, und die beiden a- und /:?-Massen entfernen sich von ein- an(ler. — Von den Dominantenkräften gleicht A den beiden Isagi- täten; alle Gravitations- oder .i-Amere haben die Neigung, sich zu einer einzigen Masse an einander zu legen. Dagegen kommt den Aetherabstossungs- oder B-KmQVQn das Bestreben zu, sich von ein- ander zu entfernen und somit möglichst gleichmässig im Räume zu vertheilen. Unter den Elementarkräften ist die Gravitationsanziehung [Ä] die eigentliche Agglomerationskraft, die unter allen Umständen in dem gleichen Sinne wirkt. Die Aetherabstossung [B] ist die eigent- liche Dispersionskraft, die ebenfalls ihren Charakter nie verleugnet. Dagegen haben die isagischen und die elektrischen Kräfte einen doppelseitigen Charakter. Sind nur a- oder nur &-Amere irgendwo vorhanden, so wirken sie zerstreuend, während a und h einander an- ziehen. Sind nur a- oder nur /i- Amere in einem Raum, so wirken sie zusammenballend, während a und ß sich von einander entfernen. Nun trifft aber die gemachte Annahme, dass eine einzelne Elementarkraft in einem Amer so sehr überwiege, dass die anderen neben ihr fast verschwinden, jedenfalls nur selten ein. In der Regel wird die combinirte Wirkung der drei vorherrschenden Kräfte ent- scheiden. Es ist also die Frage, wie sich die Amere, die den *) Wenn zwei Körper, von denen der eine positive, der andere negative freie Elektricität enthält, einander bis zur Berührung genähert werden, so findet Aus- gleichung der Elektricitäten statt und die beiden Körper werden mehr oder weniger neutral. Dies ist sell)stverständlich bei der Vereinigung der Amere nicht der Fall, weil sonst die elektrische Kraft die Materie verlassen müsste. Wenn bei grösseren Körpern Elektricität aus- oder eintritt, so ist es nicht die Kraft allein, sondern die mit Kraft begabte Materie;, welche diese Bewegung ausführt ; es sind elektrische Amere, welche dem Körper gegeben oder entzogen werden. 2. Aggloinonition und Disiiersion der Anicrc. (JOo 8 Kräftecoinljiiiationcn (S. GUO) entsprechen, zu einander verhalten. Schreiben wir die 8 Ausdrücke folgendermaassen an Aaa, Aal), Aßa, Aßb Bau, Bßa, Bob, Bßb, so ist sogleich ersichtlich, dass alle Amere, welche durch die beiden ersten Ausdrücke der obern Reihe bezeichnet werden, sich unbedingt vereinigen, da sie die Attractionselemente A und A, ferner a und a enthalten, während a und h sich einzeln zwar anziehen, in Mehrzahl aber neutral verhalten. Es wäre also begreiflich, wenn alle Aaa und Aah sich zu einer einzigen Masse zusammenballten. Das Nämliche gilt von den zwei letzten Ausdrücken der oberen Reihe. — Ferner müssen alle Amere mit den beiden ersten Ausdrücken der unteren Reihe sich unbedingt zerstreuen, weil sie die Repulsionselemente B und B, dann a und a führen, während a und ß einzeln zwar sich abstossen, in Mehrzahl aber sich das Gleichgewicht halten. Ganz ebenso ver- halten sich die zwei letzten Ausdrücke der unteren Reihe. Für die Combinationen der verschiedenen Amere, wie ich sie eben vorgenommen habe, ist der Effect unzweifelhaft, und wir ver- mögen jedenfalls zu erkennen , dass einerseits Agglomeration , wde wir sie in den wägbaren Stoffen finden, andrerseits Zerstreuung, wie wir sie in dem den Weltenraum erfüllenden Aether kennen, statt- finden muss, und dass jene im allgemeinen auf den (^-haltigen) Ausdrücken der oberen Reihe, diese auf den (l?-haltigen) Ausdrücken der unteren Reihe beruht. Für alle anderen Combinationen ist der Erfolg zweifelhaft , weil es dabei auf die Grösse der einzelnen Kräfte ankommt, die uns unbekannt ist. So ziehen sich z. B. der erste und dritte Ausdruck der oberen Reihe {Aaa und Aßa) an, wenn die Anziehung ÄA gTösser ist als die beiden Abstossungen aß und aa, und im umgekehrten Falle findet Abstossung statt ; ist eine Mehrzahl von so beschaffenen Ameren (Aaa und Aßa) vorhanden, so kommen für die Gesammtheit die isagischen Kräfte (« und ß) nicht mehr in Betracht, weil sie sich gegenseitig aufheben , und es tritt Agglomeration oder Dispersion ein, je nachdem die Anziehung zwischen den .i-Kräften grösser oder kleiner ist als die Al)Stossung zwischen den «-Kräften. Es ist überflüssig, von andern Combinationen zu sprechen, da die Bedingungen des Erfolges leicht ersichtlich sind. G94 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. Wenn auch die Wirkung der meisten Combinationen , sei es, dass sie in Mehrzahl beisammen oder dass sie vereinzelt vorkommen, wegen der ungleichen Grösse der den Ameren anhaftenden Elementar- kräfte zweifelhaft ist, so würden wir doch die Wirkung im Grossen und Ganzen einigermaassen beurtheilen können, wenn wir die Gesammt- menge jeder einzelnen in der Welt vorhandenen Kraft kennten. Ich habe bereits davon gesprochen, dass ohne Zweifel die beiden (positiven und negativen) Glieder einer Kategorie gleiche Summen geben, also Sa = Sb, Sa = Sß und SÄ = SS (S. 689). Dies sagt uns aber nur, dass gleich viel jiositive und negative Elektricität, ferner gleich viel a- und /?-Isagität, endlich gleich viel Gravitations- anziehung und Aetherabstossung im Universum wirksam sei und sich das Gleichgewicht halte. Die Frage wäre aber nun, wie sich Sa, Sa und SA zu einander verhalten. Man wird wohl a priori zu der Annahme geneigt sein, dass das Gesetz der Symmetrie auch auf die verschiedenen Kategorien von Elementarkräften Anwendung finde, und dass gleiche Mengen von elektrischen, von isagischen und von Dominantenkräften existiren. Dann ist aber die Frage, wie die Symmetrie zu deuten sei, ob Gleichheit zwischen den wirksamen Kräftemengen oder Gleichheit zwischen den Mengen der hervorgebrachten Anziehungen und Ab- stossungen bestehen soll. Denn in dem vorliegenden Fall sind dies zwei verschiedene Begriffe , da die beiden Kräfte des Dominanten- paares sich zu einander neutral verhalten, während die Kräfte der übrigen Paare auf einander wirken. Wir können uns dies, da das Zurückgehen auf einfache Kraftpunkte auf das metaphysische Gebiet führen würde, am besten deutlich machen, wenn wir die Amere der Betrachtung zu Grunde legen. Um diese Betrachtung möglichst einfach und verständlich zu gestalten, will ich als Beispiel eine Anzahl von Ameren voraussetzen, von denen jedes eine der 6 Elementarkräfte in gleicher Menge als Ueberschuss enthalte. Es seien also n Amere mit a, eben so viele mit 1) , und eben so viele mit a , mit ß , mit A und mit B im Ueberschuss ausgerüstet; dann sind die Summen der wirksamen Kräfte a, h, a, ß, A und B gleich gross. Die Summen der An- ziehungen und Abstossungen aber werden durch folgende Coeffici- enten ausgedrückt: die Summe der elektrischen Anziehungen ah durch n'\ die Summe der elektrischen Abstossungen aa und hh durch 2. Agglomeration und Dispersion der Amere. ()<)5 ti' — n ^), diu Summe der isagisclien Anzieliuiigen aa und ßß durch n' — n, die Summe der isagisclien Abstossungcn aß durch n\ die Summe der Gravitationsanziehungen ÄÄ durch — ^ — und die Summe der Aether- abstossungcn BB durch — ^ — . Die Summen der Dominanten- Anziehungen und Abstossungen sind also nur halb so gross als die Summen der Anziehungen und Abstossungen jeder der übrigen Kräfte, wenn alle Kräfte in gleicher Menge wirksam sind, und wir haben für das Universum Summen der wirksamen Kräfte SÄ = Sa=z Sa :=,SB — Sß = Sb, Summen der Anziehungen und Abstossungen ^^ . . __ S(aa -\- ßß) Sab qt^tj ^'^ß S{aa-\-bb) ^AA- -— = bBB = ^- = Dieses Resultat, welches uns unerwartet und vielleicht unwahr- scheinlich ist, rührt daher, weil den Dominantenkräften Ä und B nur eine einfache Wirkung (auf sich selber), den übrigen Kräften dagegen eine doj)pe]te Wirkung (auf sich selber und auf die Schwester- kraft) zukommt. Es würde daher die Forderung der Gleichheit und Symmetrie ebensowohl befriedigen, wenn den mit einfacher Wirkung begabten Elementen Ä und B die dopjDelte Kraftmenge zukäme. Sowie ein Element a die übrigen a-Elemente abstösst und zugleich die ^-Elemente anzieht, so würde dann ein Element Ä, welches bloss auf die Ä-, nicht auf die i?-Elemente ein-svirkt, jene mit doppelter Kraft anziehen und B würde die ^-Elemente mit doppelter Kraft abstossen, so dass also jedes A- und i?-Element gegenüber den Krafteinheiten die nämliche Arbeit zu leisten vermöchte wie jedes der Elemente a, b, a und ß. Bei dieser Annahme wächst die Summe der Gravitationsanziehungen für die vorhin vorausgesetzten n Amere auf 2(*2" — n), und den gleichen Betrag hat auch die Summe der Aether- abstossungen , sodass also die Summen der Dominanten-Anziehungen und Abstossungen jetzt doppelt so gross sind als die Summen der Anziehungen und Abstossungen jeder der übrigen Kräfte. Wir haben daher für das Universum *) Vgl. die Anmerkung auf S. 689. 696 Kräfte and Gestaltungen auf molecularem Gebiet. Summen der wirksamen Kräfte -- = /Sa = Sa = =^ Sß =z Sb. Smiimen der Anziehungen und Abstossungen ^±f±- = S{aa + ßß) = Sah = ^^ = Saß = S{aa + hh). Die beiden soeben besprochenen Annahmen ül)er das quantitative Verhältniss der Summen der 6 Elementarkräfte sind wohl die einzigen, die unsere theoretische Naturanschauung zu befriedigen vermögen. Es ist nun leicht zu bestimmen, welches Resultat die eine und andere Annahme bezüglich der Vertheilung der Amere im grossen und ganzen gibt. Setzen wir wieder die 8 Kategorien der letzteren wie oben in zwei Reihen an Aaa^ Aah, Äßa, Äßh Baa, Bßa, Bah, B ßo und halten wir uns zunächst an die erste Annahme, nämlich dass SÄ = Sa ==1 Sa =^ SB = Sß = Sh. Dabei ist im Auge zu halten, dass, wie früher angegeben, die 3 in jedem Amer im Ueberschuss vorhandenen und demselben die Signatur gebenden Kräfte jedes behebige Verhältniss ihrer Grösse zu einander zeigen können , so dass also beispielsweise in Äaa jede Kraft bald grösser bald kleiner als die beiden andern ist. Denken wir uns, um einen leichteren Ueberblick zu gewinnen, es seien in einem Raum nur solche Amere, die zwei Ausdrücken der oberen Reihe entsprechen, befindlich, so müssen, wie schon für den allgemeinsten Fall erörtert wurde, ohne Ausnahme alle Amere sich vereinigen, wenn sie den zwei ersten Ausdrücken {Aaa und Aah) angehören, — ebenso, wenn sie den zwei letzten Kategorien [Aßa und Aßh) angehören , — ferner die grosse Mehrzahl der Amere, wenn sie der 1. und 4. Kategorie [Aaa und Aßh) und desgleichen, wenn sie der 2. und 3. Kategorie {Aah und Aßa) entsprechen. Sind Amere des 1. und 3. Ausdruckes [Aaa und Aßa) beisammen, so hängt es von der Grösse der (anziehenden) ^-Kräfte und der Grösse der (abstossenden) a-Kräfte ab, ob Zusammen- ballung oder Zerstreuung eintritt. Sind aber sehr zahlreiche Amere aller Kategorien der obern Reihe in einem Ramn beisammen, so gravitiren sie unbedingt alle gegen einander. Denn je grösser ihre Zahl ist, um so vollständiger heben sich die anziehenden und abstossenden Kräfte « und ß, 2. Agglomeration und Dispersion der Aniere. 007 a und h aui', und kommen bloss die anziehenden J.-Kräfte zur Geltung. Analog wie die Amere der oberen Reihe bezüglich der An- näherung an einander, verhalten sich diejenigen der unteren Reihe bezüglich des Auseinanderweichens. Wenn nur je zwei Kategorien in einem Räume vertreten sind, so zerstreuen sich die Amere der beiden ersten Ausdrücke [Baa und Bßa) unbedingt, ebenso die der beiden letzten [Bob und Bßh); — ferner die grosse Mehrzahl des 1. und 4. Ausdrucks (Baa und Bßb) und des 2. und 3. (Bßa und Bah). Sind Amere der 1. und 3. Kategorie (Baa und Bah) oder der 2. und 4. Kategorie (Bßa und Bßh) in einem Raum vereinigt, so entfernen sich dieselben von einander oder nähern sich einander, je nachdem die (abstossenden) B-Kräite oder die (anziehenden) a-, resp. /?-Kräfte die Oberhand haben. Ist aber eine grosse Anzahl von Ameren der 4 Ausdrücke der unteren Reihe l^eisammen, so tritt im allgemeinen Zerstreuung ein, weil die a- und ß-, die a- und Z>-Kräfte sich gegen- seitig neutralisiren. Folgen wir der anderen Annahme bezüglich der quantitativen Ver- hältnisse der 6 Elementarkraftsummen, wonacli -^ SÄ = Sa = Sa = — SB = Sß =-- Sh, so ist der Erfolg bezüglich der Zusammenballung und Zerstreuung ein ganz ähnlicher, nur viel entschiedener, indem jetzt einerseits die Gravitationsanziehung, andrerseits die Aether- abstossung in vielen Fällen überwiegend wird, in denen sie bei der ersten Annahme durch andere Kräfte überwunden wurde. Es führen also beide Annahmen auf dem Wege der Deduction zu der Vertheilung der Substanz, die wir aus Erfahrung kennen, und die uns einerseits die zusammengeballten wägbaren Stoffe, andrer- seits den alles erfüllenden Weltäther zeigt. Nach der letzten Annahme ist es nahezu die Hälfte der Amere, welche der Gravitation folgend, sich einander nähert, während nahezu die andere Hälfte in Folge der Aetherabstossung sich zerstreut, und ein kleinerer Theil von weniger ausgesprochenem Charakter je nach Umständen an der Zusammen- ballung oder Zerstreuung Theil nimmt. Nach der ersten Annahme ist die Zahl der Amere von unentschiedenem ^^erhalten viel beträcht- licher. — Diese Resultate treten um so deutlicher hervor, je mehr 698 Kräfte und Gestaltungen im niolecularen Gebiet. Amere uuf einander einwirken , indess bei einer geringeren Menge derselben bestimmte Kategorien vorherrschen und den Erfolg modi- ficiren können. Wir können uns ferner die Frage stellen, wie hoch verhältniss- mässig die Summen der Gravitationskräfte und der Aetherabstossungs- kräfte einerseits in den Agglomerationsmassen und andrerseits in dem Weltäther sich belaufen mögen. Die Prämissen, welche uns die Amertheorie für einen solchen Schluss darbietet, sind folgende : Jedes der unendlich zahlreichen Amere enthält eine gewisse Menge von Gravitationsanziehung und von Aetherabstossung ; diese Mengen schwanken zwischen einem Maximum und einem Minimum, sind in jedem Amer mit einander combinirt und in der Gesammtzahl aller Amere symmetrisch vertheilt; nahezu die eine Hälfte der Amere bildet, da in ihnen die Gravitation überwiegt, die Agglomeratious- massen, nahezu die andere Hälfte mit überwiegender Aetherabstossung setzt den Weltäther zusammen. Wäre Maximum und Minimum be- kannt, so liesse sich das Verhältniss der beiden Kräfte nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung ziemlich genau angeben. Da wir das Maximum und Minimum nicht kennen, so lässt sich nur ein extremes Verhältniss feststellen, das jedenfalls nicht überschritten sein kann. Dieses extreme Verhältniss stellt sich am grössten heraus, wenn wir die freilich als unmöglich erscheinende Annahme machen, es enthalten alle Amere der wägbaren Massen mehr als die halbe, durch- schnittlich einem Amer zukommende Gravitationsanziehung und weniger als die halbe durchschnittliche Aetherabstossung, und wenn wir ferner, was nicht undenkbar ist, voraussetzen, dass das Minimum einer Elementarkraft in den Ameren sehr klein und das Maximmn im Vergleich damit sehr gross, dass also in dem vorliegenden Fall die kleinste Aetherabstossung äusserst gering und die grösste Gravi- tationsanziehung vielmal beträchtlicher sei. In diesem Falle betrüge, wegen der unendlichen und ohne Zweifel gleichmässig vertheilten Abstufung der Amerkräfte, in den wägbaren Massen die Summe der 3 Gravitationsanziehungen -— aller Gravitationsanziehungen überhaupt ■i und die Smnme der Aetherabstossungen -r- aller im Universum ent- haltenen Aetherabstossungen. Die Berechnung ist die nämliche, wie 2. Agglomeration und Dispersion der Amere. 699 beispielsweise die Summirung der Zahlciireilie 1 bis 50 die Zald 1275 und diejenige der Zahlenreihe 51 bis 100 die Zahl 3775, also fast 3 mal so viel ergibt. Indessen ist die zu Grunde gelegte Voraussetzung, wie bereits gesagt, kaum denkbar. Wir müssen vielmehr annehmen, dass die G Elementarkräfte in der unendlichen Menge von Ameren nicht nur in allen möglichen Verhältnissen comljinirt, sondern dass auch die einzelnen Verhältnisse in gleicher Zahl verwirklicht seien. Dann ergibt sich folgende Grundlage für die Berechnung. In der Hälfte aller Amere ist die Gravitationsanziehung [Ä] grösser als die Aetlier- abstossung [B); in der andern Hälfte verhält es sich umgekehrt. Die Amere der ersten Hälfte mit der Signatur Ä^ B setzen die ponderabeln Massen zusammen ; die der zw^eiten Hälfte mit der Signatur Ä m. 3 Gr. J. > w; J5 < tu. 4 Gr. A> tu; I> > m. In den Ameren der 1. und 4. Gruppe überwiegt bald die Gravi- tationsanziehung, bald die Aetherabstossung. Es haben daher alle Amere der 3. Gruppe und je die Hälfte der 1. und 4. Gruppe die Signatur J. >» J5 und bilden die Agglomerationsmassen, während der Weltäther aus allen Ameren der 2. Gruppe sammt der Hälfte je der 1. und 4. Gruppe, welche alle die Signatur A<^B haben, besteht. Unter der Voraussetzung, dass die in den Ameren vorkommenden Minima der beiden Dominantenkräfte einander gleich seien, ebenso die Maxima, und dass das IVIininmm sehr klein und das Maximum vielmal grösser sei, ergibt die Summirung, dass von der Gesammt- masse der im Universum enthaltenen Gravitationsanziehungskräfte 2 1 -^ den ponderabeln Massen, -^ dem Weltäther, und von der Gesannnt- masse der Aetherabstossungskräfte -^ den ponderabeln Massen und 2 -7j- dem Weltäther zukommen. o 700 Kräfte und Gestaltungen im luolecularen Gebiet. Um das Resultat dem Verständuiss näher zu legen , führe ich noch eine andere Art der Berechnung mit bestimmten numerischen Werthen an. Die Kraftintensitäten von Ä und von B variiren z. B. zwischen 1 und 20 und zwar in Abstufungen, die den ganzen Zahlen 1 .... 20 entsprechen. In einer Anzahl von 400 Ameren können alle möglichen Combinationen der Ä- und I?-Kräfte vertreten sein, indem immer je 20 Amere die Gravitationsanziehung in der Inten- sität 1 , resp. 2 .... 20 enthalten , und indem die 20 Amere jeder dieser Gruppen der Reihe nach die Aetherabstossung in der Intensität 1 .... 20 besitzen. Die so beschaffenen 40ü Amere geben uns ein Bild aller im Universum vorkommenden Amere und stellen einen Bruchtheil der letzteren dar. Die Summirung ihrer Kräfte gibt daher ein Verhältniss, das auch dem Ganzen für die angenommenen numerischen Werthe entsprechen muss. Die weitere Rechnung ist einfach. Die 400 Amere enthalten eine Gesammtintensität der Gravitationskräfte und der Aetherabstossungs- kräfte von je 4200. Von den 400 Ameren haben 20 gleich intensive A- und 7?-Kräfte (nämlich 1 und 1 , 2 und 2 etc.) , sind also rück- sichtlich der Dominantenkräfte isodynamisch und indifferent; die- selben besitzen eine Gesammtintensität der Ä- und I?-Kräfte von je 210. Die ü])rigen 380 Amere sind heterodynamisch; 190 Amere mit überwiegender yl-Kraft ballen sich zu ponderabeln Massen zu- sammen, 190 mit überwiegender i?-Kraft zerstreuen sich als Aetlier. Die Summirung ergibt für die 190 ponderabeln Amere eine Gesammt- intensität der Gravitationskräfte von 2660, der Aetherabstossungskräfte von lo3(), — für die 190 Aetheramere eine Gesammtintensität der Gravitationskräfte von 1330 und der Aetherabstossungskräfte von 2 1 2660: also die vorhin angegebenen Verhältnisse von -^ und -, . ^ ^ 3 3 Diese Verhältnisse werden durch die 20 isodynamischen Amere, die sich neutral verhalten , und je nach Umständen den ponderabeln Massen oder dem Weltäther angehören können, nicht geändert. Geben wir al^er die Bedingung preis, dass das Minimum der Amerkräfte sehr klein und das Maximum vielmal grösser sei, so wird das Verhältniss zwischen den A- und i>-Kräften in den pon- 2 1 derabeln und in den imponderabcln Massen kleiner als -^ : -^ . Es wechsle beispielsweise in den 400 Ameren die Intensität jeder 2. Agglomeration und Dispersion der Amere. "Ol der beiden Dominaiitenkräfte von 1 1 bis 30 (statt von 1 bis 20), so dass also jedes Amer 10 Einheiten von Ä- und jB-Kräften mehr hat als in dem vorhin betrachteten Fall. Die Gesammtintensität der A- und B-Kräite in den 400 Ameren beträgt je 8200; die Ge- sammtintensität in den 20 isodynamischen Ameren (Intensität in jedem Amer 11 + 11, 12 + 12 etc.) beträgt 410. Die VM hetero- dynamischen Amere, welclie sich zu ponderabeln Massen vereinigen, enthalten eine Gesammtintensität der yl-Kräfte von 45G0 und der -B-Kräfte von 3230, während in den 190 heterodynamischen Aineren, welclie sich als Aether zerstreuen, eine Gesammtintensität der J. -Kräfte von 3230 und der i?-Kräfte von 4500 vorhanden ist. Das Verhältniss der Gesammtmengen der beiden Kräfte in den ponderabeln, sowie in den imponderabeln Massen, das in dem 1. Beispiel 1 : 2 war, wird hier 1 : 1,41. Das Verhältniss 1 : 2 stellt einen Grenzfall der denkbaren Mög- lichkeiten dar. Wenn wir uns daher auf die Deduction aus ver- nunftmässigen Principieu verlassen dürfen, so lässt sich mit Gewissheit 2 annehmen, dass von allen Gravitationskräften höchstens -^ den wäg- baren Massen und mindestens -5- dem Weltäther, und von allen o Aetherabstossungskräften mindestens -„ den wägbaren Massen und ö 2 höchstens -^ dem Aether zukommen. In den ponderabeln Substanzen ist also wenigstens halb so \'iel Aetherabstossung als Gravitations- anziehung enthalten; möghcher Weise ist der quantitative Unter- schied zwischen beiden sogar viel geringer. Diese grosse Menge von Aetherabstossungskräften iimerlialb der Agglomerationskörper ist von grosser Bedeutung für die Theorie von dem Zustandekommen der Elasticität (§ 3) und für die Beurtheilung des Wesens der Schwer- kraft (§ 4). Die bisherige Betrachtung ergibt uns nm^ ganz im allgemeinen das Resultat bezüglich Zusammenballung und Zerstreuung der Amere. Um eine Vorstellung über das Verlialtcn der Amere im besondern, namentlich über ihre grössere oder geringere Annälierung, ihr Zu- sammentreten zu individuellen Gruppen und die Beständigkeit ihrer 702 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. Anordnung zu gewinnen, müssen wir die maassgebenden Umstände, die dynamische Beschaffenheit der Amere und ihre Bewegungen etwas näher berücksichtigen. Was die dynamische Bechaffenheit betrifft, so ist zu beachten, dass ausser den die Signatur bestimmenden Kräften (S. 691), aucli andere in geringerer Menge vorhanden sind, dass also in jedem mit A bezeichneten und den Gravitationsmassen angehörenden Amer auch die Aetherabstossung B in geringerem Betrage enthalten ist, dass die Aetheramere auch etwas Gravitationsanziehung besitzen, dass mit positiver immer auch negative Elektricität und mit a-Isagität immer auch /:?-Isagität combinirt ist. In einem Amer z. B. , welchem der leichteren Uebersiclit wegen die Bezeichnung Aßa gegeben wurde, zeigen die Werthe A, ß und a nur die überwiegenden Glieder in den drei Kräftepaaren an. Eigentlich lautet seine vollständige Charak- teristik AB aß ah, wobei aber A ^ B, et i oder nach leicht zu übersehender Umbildung AA, — BB,^{a—ß) {a, — ß,)-^{a-b) (h-a,). Von den beiden isagischen (a und ß) und den beiden elektrischen {a und b) Kräften kommen also, wie dies übrigens selbstverständlich ist, nur die betreffenden Ueberschüsse in einem Amer in Betracht. Jeder der beiden Ausdrücke (a—ß) («i — ßi) und (a — b) [b^ — «i) kann ferner positiv oder negativ ausfallen und somit entweder die Gravi- tationsanziehung {AAi) oder die Aetherabstossung [BB^ verstärken. Aus diesem Umstände ergibt sich bezüglich der Aether- zerstreuung, dass dieselbe nicht bloss aus einzelnen Ameren, sondern auch aus 2- und mehrzähligen Gruppen bestehen muss. An der Zerstreuung nehmen, wie wir bereits gesehen haben, im all- gemeinen alle Amere Theil, in denen B grösser ist als A. Es müssen aber im Weltäther stets zwei Amere sich mit einander vereinigen, 2. Agglomeration und Dispersion der Amere. 703 wenn die Aetherabstossung BB^ von der Summe der Anziehungen aller Kräfte übertroffen wird, wenn also zwar AAi BB,, oder mit andern Worten, wenn die Gesammtwirkung zwischen 2 Aetherameren AA,-BB,-^{a-ß){a, — ß,)-^{a — h){h-a,) einen positiven Werth darstellt. Dies ist dann leicht der Fall, wenn JiBi nur wenig grösser als AAi ist, wenn ferner in den beiden Ameren die gleichnamigen Isagitäten (entweder a und a, oder ß und ßi) und die ungleichnamigen Elektricitäten (entweder a und &i oder h und rfi) überwiegen. Wie zwei, können natürlich auch drei oder mehrere Aether- amere eine zusammenhängende Gruppe bilden, wenn die Anziehung innerhalb derselben die Abstossung überwiegt. Doch wird die Ver- einigung um so schwieriger, je grösser die Zahl der Amere ist. Die ganze Gruppe aber, welche vorzüglich durch die isagischen und die elektrischen Kräfte zusammengehalten wird, nimmt an der Aether- zerstreuung gerade so Theil, wie ein einzelnes Aetheramer, weil gegen- über den Agglomerationsmassen die isagischen und die elektrischen Kräfte sich ziemlich indifferent verhalten und daher nur der Ueber- schuss der Aetherabstossung über die Gravitationsanziehung den Ausschlag gibt. Die zusammengesetzten Aethertheilchen müssen aber nicht noth- wendig bloss aus Aetherameren bestehen; es können auch einzelne ponderable Amere d.h. solche, in denen J. > J5 ist, in die Gruppen eintreten und zwar um so eher, je mehr die Gravitationsanziehung quantitativ hinter der isagischen und elektrischen Anziehung zurück- bleibt. Wenden wir uns zu den ponderabeln Massen, so reicht die Kenntniss der dynamischen Beziehungen der Amere, wie sie aus den Beträgen aller ihrer Kräfte berechnet w'urden, zu einer genauen Vorstellung über die Zusammenballung nicht aus. In dieser Be- ziehung ist die Entscheidung der Frage von grösster Wichtigkeit, ob die Amere sich bis zur Berührung nähern oder ob grössere und kleinere Zwischenräume zwischen ihnen bleiben. Dies hängt einmal von der Vertheilung der verschiedenen Elementarkräfte in der Sub- stanz der einzelnen Amere ab; die Vertheilung aber lässt sich all- 704 Kräfte und Gestaltungen im molccularen Gebiet. gemein in doppelter Art denken. Entweder sind die verschiedenen anziehenden und abstossenden Kräfte in dem Amer gleichartig oder aber ungleichartig angeordnet. Die gleichartige Anordnung der Kräfte, — mögen dieselben gleichmässsig durch die Substanz des Amers vertheilt , mögen sie in dessen Centrum vereinigt oder über seine Oberfläche ausgebreitet sein, — ■ hat zur Folge, dass die Differenz der anziehenden und ab- stossenden Kräfte nach allen Seiten hin gleich wirkt, und dass die Anziehung oder Abstossung zweier bestimmter Amere lediglich eine Function der Entfernung ist. Denn wir müssen jedenfalls annehmen, dass Attraction und Repulsion aller Elementarkräfte sich in derselben Weise, nämlich nach dem reciproken Verhältniss des Quadrats der Entfernung bemisst. Bei gleichartiger Anordnung wird die dyna- mische Beziehung zweier Amere, die sich in irgend einer Ent- fernung (d) von einander befinden, einfach durch den Ausdruck [ÄÄ, — BB, + (« - ß) («. - /i.) -f [a ^ h) {h, - «0] ^ dargestellt (vgl. S. 703). Die ungleichartige Anordnung dagegen, bei welcher die Kräfte eine verschiedene Stellung im Amer haben, die einen auf dieser, die andern auf jener Seite, die einen im Innern, die andern an der Oberfläche vorherrschend sind, bedingt nothwendig eine wechselnde Gesammtwirkung nach verschiedenen Seiten und bei verschiedenen Entfernungen. Diese Gesammtwirkung wird um so ungleicher, je geringer die Entfernung zwischen den Ameren ist; erst bei einem Abstände, gegen welchen der Durchmesser des Amers verschwindet, wird die Gesammtwirkung constant. Bei ungleichartiger Anordnung der Kräfte lässt sich die dynamische Beziehung zweier Amere, die sich in einem bestimmten Abstände von einander befinden, nicht durch einen einfachen arithmetischen Ausdruck, wie dies bei der gleichartigen Anordnung der Fall ist, wiedergeben, da jedem einzelnen Kräfteproduct wahrscheinlicher Weise ein anderer durch die Ent- fernung bedingter Coefficient zukommt: ÄA^ -ß, BBi y^, ora, ^^, u. s.w. d' rti (*u Von den beiden eben erwähnten Möglichkeiten ist bloss die letztere annehmbar. Die ungleichartige Anordnung der Elementar- kräfte im Amer ist einerseits schon im Voraus theoretisch notli- wendig, und andrerseits entspricht sie allein der Erfahrung. Was 2. Agglomeration und Dispersion der Amere. 705 zuerst die Theorie betrifft, so ist folgendes zu bemerken. Die Amere sind, wie alle endlichen Dinge, selbst wieder aus Partikeln zusammen- gesetzt, an denen die Kräfte haften. Sind diese Partikeln beweglich, so müssen die einzelnen Kräfte eine ihrer Wirksamkeit entsprechende Lage annehmen, die Gravitationsanziehung muss vorzugsweise im Innern des Amers concentrirt, die Aetherabstossung vorzugsweise in den oberflächlichen Partien ausgebreitet, die a-Isagität mehr auf der einen, die /':?-Isagität mehr auf der andern Seite des Amers angehäuft, und ausserdem müssen diese Kräfte nebst der Elektricität unregelmässig vertheilt sein. Sind aber die Partikeln unbeweglich, so muss eine solche ungleiche Anordnung der Kräfte zu Stande gekommen sein, als die Amere sich aus ihren Theilen aufbauten. Was dagegen die Erfahrung betrifft, so wissen wir, dass die ponderabeln Massen aus Atomen und Molekülen bestehen, die durch Zwischenräume getrennt und gegen einander beweglich sind. Ein solcher Zustand ist wohl nur erklärlich, wenn die Elementarkräfte in den Ameren ungleichartig angeordnet sind. Denn bei gleich- artiger Anordnung würden sie als Centralkräfte wirken und in diesem Falle könnte den ponderabeln Körpern keine Elasticität zukommen. Die Anziehung ihrer Amere wäre unter allen Umständen bloss eine Function der Entfernung zwischen den djmamischen Mittelpunkten derselben, und die Annäherung zweier Amere müsste stets bis zur Berührung fortschreiten, wo die Anziehung dann ilir Maximum er- reichte. Es müssten aber nicht bloss je zwei, sondern überhaupt alle Amere, in denen die anziehenden Kräfte überwiegen, das Bestreben besitzen, sich bis zur Berülirung zusammenzuballen und agglomerirte Massen zu bilden, die continuirlich, ohne Zwischenrämne, ohne Glie- derung in Theile, absolut starr, ohne Dehnbarkeit und Elasticität, ohne die Möglichkeit, in einen flüssigen und gasförmigen Zustand überzugehen, wären. Erfahrung und Theorie sprechen also übereinstimmend gegen die Annahme einer gleichartigen Anordnung der Elementarkräfte im Amer. Bei der ungleicliartigen Anordnung, mit der auch ein un- regelmässiger innerer Bau und eine unregelmässige äussere Gestalt des Amers Hand m Hand gehen muss , ist besonders die überwiegend oberflächliche Lage der Aetherabstossung wichtig in ^''erbindung mit dem Umstände, dass dieselbe entsprechend der unregelmässigen Form des Amers an einzelnen Seiten und Stellen in grösserer Menge V. Nägel i, Abstammtingslelire. 4d 706 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. angeliäiü't ist (ähnlich wie freie Elektricität an der Oberfläche eines Körpers). Es wird daher, auch wenn die Amere sich in Ruhe be- finden sollten , immer einzelne Stellen geben , wo ihre vollständige Annäherung an einander unmöglich ist, und dies um so mehr, wenn zufällig die isagischen und vielleicht auch die elektrischen Kräfte an den nämlichen Stellen abstossend wirken. Die Summe der abstossenden Kräfte innerhalb der Agglomerations- körper, die ich oben im allgemeinen zu bestimmen gesucht habe (S. 698 — 701), wird noch dadurch erhöht, dass in ähnlicher Weise, wie ponderable Amere in die Amergruppen der Aetherzerstreuung aufgenommen werden, auch Aetheramere (d. h. solche, in denen die Aetherabstossung grösser ist als die Gravitationsanziehung) in die Agglomerationen eintreten müssen; denn es wird dies nur davon abhängen , dass in einer bestimmten Gruppirung von ponderabeln Ameren durch die überwiegende isagische und elektrische Anziehung die Einfügung von Aetheratomen ermöglicht werde. Die Agglomerationsmassen könnten also schon dann, w^enn ihre innere Beschaffenheit bloss von den daselbst befindlichen anziehenden und abstossenden Kräften abhängen würde, nicht durchaus solid sein; sondern sie müssten zahlreiche Lücken zwischen den Ameren enthalten und dadurch einige Dehnbarkeit und Elasticität besitzen. Dies ist aber um so mehr der Fall, als neben den wirksamen Ele- mentarkräften noch ein anderer ebenso wichtiger Factor maassgebend ist, nämlich die Bewegung. Die Amere sind an und für sich nicht in Ruhe, sondern in lebhaftester Bewegung (S. 687). Im Zu- stand der vollständigen Zerstreuung besitzen sie fortschreitende und rotirende Bewegungen. Vereinigen sie sich aber in zusammenhängende Gruppen, so bleiben die fortschreitenden und rotirenden Bewegungen imr den Gruppen, gestalten sich aber für das einzelne Amer unter dem hemmenden Einfluss der benachbarten Amere zu schwingenden Bewegungen. Die Amere verhalten sich demnach bezügfich ihrer Bewegung gerade so wie die Atome und Moleküle, mit dem Unterschiede jedoch, dass ihre Geschwindigkeiten im allgemeinen die Moleculargeschwin- digkeiten in dem Maasse übertreffen, als ihre Grösse hinter der Grösse der Atome und Moleküle zurückssteht. Die Bewegung wird daher der Vereinigung der Amere in noch höherem Grade entgegenwirken als es bei den unendlich viel grösseren Molekülen der Fall ist, und 2. Agglomeration und Disi:)ersion der Amere. 707 auch in den festesten Agglomerationen mögen die dm*chschnittliclien Entfernungen der hin und her schwingenden Amere ziemhch be- trächthch sein, und nirgends dauernde Berührungen bestehen. Die A^ereinigungen der ponderabehi Amere müssen überhaupt einerseits von der Grösse der anziehenden und abstossenden Kräfte und andrerseits von der Geschwindigkeit ihrer Bewegungen gerade so bestimmt werden, wie dies auf einer höheren Stufe bei den Atomen und Molekülen der Fall ist. Die Agglomerationen der Amere müssen, um die eben genannte Grössenordnung zur Vergleichung zu wählen, von der Härte des Diamants bis zur Flüchtigkeit des Wasserstoffs sich abstufen, also Zustände darstellen, welche dem festen, flüssigen und gasförmigen Aggregatzustande entsprechen. Wenn wir auch bloss scheinbar feste Agglomerationskörper, nämlich die chemischen Atome kennen, so lassen sich doch die andern Zustände nicht von der Hand weisen , und was die flüssigen Agglomerationen betrifft, so wäre es nicht unmöglich, dass dieselben sowohl im Innern als namentlich an der Oberfläche der Atome vorkämen. Der gasförmige Zustand der Ameragglomerationen ist zwar wesent- lich verschieden von der Aetherzerstreuung, da in dem ersteren die Anziehung, in der letzteren die Abstossung zwischen den Ameren und Amergruppen überwiegt, da somit der erstere sich wolkenartig zusammenballt oder AtmosjDhären um die festen Agglomerationen bildet, während die letztere stets soweit auseinander weicht als es der Raum gestattet. Im Uebrigen hat das ponderable Amergas, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, die grösste Aehnlichkeit mit dem imponderabeln Welt- äther ; es ist auch mit demselben an den Uebergangsstellen gemengt und lässt sich meistens nicht scharf von demselben trennen. Ich werde es daher als ponderabeln Aether, oder, um einen be- quemeren Ausdruck zu haben, als Schweräther (Baryaether) im Gegensatze zum gewöhnlichen oder Leichtäther (Weltäther) bezeichnen. Beide bestehen aus freien Theilchen, welche ziemlich entfernt von einander sind und nach allen Richtungen durch ein- ander fliegen, und welche theils einfache Amere theils Amergruppen sind. Von diesen haben weder die einen noch die anderen Bestän- digkeit, indem jedes einfache Amer die Fähigkeit besitzt, sich unter günstigen Umständen mit einem oder mit mehreren anderen Ameren zu vereinigen, und jede Gruppe dem Zerfall ausgesetzt ist, wenn sie 45* 708 Kräfte und Gestaltungen im niolecularen Gebiet. in die Nähe von Ameren mit hinreichend starker dynamischer Wirkung kommt, oder wenn sie einen hinreichend starken mechanischen Stoss erfährt, oder wenn beide Ursachen zusammentreffen. Die Aggiomerationskörper erster Ordnung, die sich zunächst aus den Ameren aufbauen, sind, so viel wir wissen, die Atome der chemischen Elemente. Dieselben verhalten sich zu den Ameren, ihrer Ausdehnung und ihrem Gewichte nach , wie eine endliche zu einer verschwindend kleinen Grösse; ein Atoin besteht aus einer ungeheuren Zahl von Ameren, die sich wohl auf Billionen belaufen dürfte. Ist dasselbe vereinzelt, wie im Quecksilberdamj^f bei gewöhn- licher und in anderen Gasen bei sehr hoher Temperatur, so muss es mit einer Atmosphäre von ponderabelm Aether mngeben sein. Denn es zieht selbstverständlich von den flüchtigen Ameren diejenigen am stärksten an, bei denen die Gravitationsanziehung die Aether- al)stossung am meisten überwiegt. Diese Atmosphäre muss unmittelbar an der Oberfläche des Atoms die grösste Dichtigkeit besitzen, und hier müssen ihre Theilchen, indem sie von den anziehenden Kräften des Atomkörpers fester ge- halten werden, auch die geringste Beweglichkeit zeigen. Es ist selbst nicht unmöglich, dass der Atomkörper allmählich in den Schweräther übergehe, und dass der Uebergang durch die flüssige Beschaffenheit seiner oberflächlichen Schicht vermittelt werde. Wahrscheinlich ver- halten sich die verschiedenen chemischen Elemente rücksichtlich der mehr oder minder scharfen Sonderung dieser Partien ungleich. Für alle chemischen Elemente aber muss die Regel gelten, dass die Dichtigkeit des Schweräthers mit der Entfernung von der Oberfläche des Atomkörpers stetig abnimmt, und dass in der nämlichen Richtung die Beweglichkeit und Flüchtigkeit seiner Theilchen zunimmt. Die innere dichtere und weniger beweglictie Schale dieser nach aussen allmählich in den Leichtäther sich verlierenden Atmosphäre will ich als die eigentliche Schweräther hülle bezeichnen^). Vereinigen sich die Atome zu Molekülen und die Moleküle zu festen und flüssigen Massen, so sind alle Zwischenräume zwischen ') Die Atinosplulro un^, und da das Gewicht eines Eisenatoms 0,13 Quadrilliontel ^ beträgt, so ist die Gewichtsanziehung zweier benachbarter Atome im Eisendraht (0,000000000000000000000000 13f , r.o^ r^ • .•,!• XI • (Ö;ÖÖ0000ÖÖ0W ' Qumtilhonstel einer Einheit. Dieselbe verhält sich zu der Adhäsionsanziehung wie 0,25 Quintillionstel : 0,6 oder rund wie 1 : 2 Quintillionen. Ich habe angenommen , dass die Cohäsion der Substanz bloss durch die Anziehung der unmittelbar neben einander liegenden Atome hervorgebracht werde. Jedenfalls ist die letztere in ganz vorherr- schendem Maasse dabei betheiligt, und wenn auch entferntere Atome 1) Ich verweise auf die Abschnitte : 8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome ; 0. Entstehung und Beschaffenheit der Atome ; 10. Chemische Be- schaffenheit. 728 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. bei der Wirkung nicht ganz ausgeschlossen sind, so bleibt es doch unbestreitbar, dass zwei Eisenatome in der Lage, wie sie im Draht sich nebeneinander befinden, sich um das Quintillionfache stärker an- ziehen, als es der Fall wäre, wenn sie sich wie die Himmelskörper bloss vermöge ihrer Schwere anziehen würden. Dieses Verhältniss gilt aber nur für die Gesammtwirkung der Molecularkräfte gegenüber der Wirkung der Schwerkraft, nicht aber für die einzelnen Kräfte selbst. Denn die Gesammtwirkung, die uns in dem vorliegenden Fall als Cohäsion bemerkbar wird, ist nur der Ueberschuss der ver- schiedenen Anziehungen über die verschiedenen Abstossungen, welche zwei benachbarte Atolne auf einander ausüben. Könnten wir die Attraction zwischen zwei Atomen ohne die zwischen ihnen bestehende Repulsion berechnen, so würde sie gegenüber der Attraction durch die Schwerkraft noch ungleich viel grösser ausfallen. — Was die beiden Dominantenkräfte betrifft, so lässt sich ihr gegenseitiges quan- titatives Verhältniss in gleicher Weise berechnen, wie es bereits für einen andern Fall geschehen ist (S. 725). Wenn die Gravitations- anziehung, ebenso die Aetherabstossung im Universum eine eben so grosse Kraftsumme darstellt wie die positive oder negative Elek- tricität, wie die positive oder negative Isagität, so ergibt sich aus dem Verhältniss zwischen der Cohäsionsanziehung und der Schwere- anziehung, dass die Summe der Gravitationsanziehungskräfte im Eisen bloss um ein Quintillionstel grösser sein kann, als die Summe der Aetherabstossungskräfte, wobei immer noch nicht berücksichtigt ist, dass die Oohäsion nur im Ueberschuss der Anziehung über die Ab- stossung besteht. Aus den vorstehenden Betrachtungen geht eine allgemeine Schluss- folgerung hervor, die übrigens auch von vornherein als ziemlich sicher hätte angenommen werden können. In der Natur sind die 6 Elementarkräfte in unendlich grosser Menge an den Stoff gebunden, wiewohl sie unserer Wahrnehmung nur in verschwindend geringer Menge bemerkbar werden. Jeder grössere oder kleinere Körper bis herab auf die chemischen Atome und Aethertheilchen , diese mit inbegriffen, ist ein System von kraftbegabten Theilen, in welchen die verschiedenen Attractions- und Repulsionskräfte sich das Gleich- gewicht halten, in der Art, dass stetsfort oder bei Störung des Gleich- gewichts bloss ein winzig kleiner, nach aussen wirksamer Ueberschuss sich ergibt. Die Schwerkraft, die am allgemeinsten und am wuch- 5. Wärme. 729 tigsten sich kundgibt, entspricht kaum dem quintiUionsten Theil aller in den wägbaren Massen befindlichen Gravitationskräfte, der von der Aetherabstossung nicht compensirt und somit für äussere Action disponibel ist. 5. Wärme. Es gilt als ein allgemein angenommener und unbestreitbarer Satz der neueren Physik , dass die Wärme nichts anderes als eine Bewegung der kleinsten Theilchen ist. Jede Bewegung kann in Wärme verwandelt und durch Wärme gemessen werden, und im gasförmigen Zustande nimmt die lebendige Kraft der Molecular- bewegung oder das Quadrat der molecularen Geschwindigkeit pro- portional der Temperatur zu. Indem man aber Wärme als Bewegung der kleinsten Theilchen bezeichnet, versteht man darunter doch zweierlei wesentlich verschiedene Dinge. Einmal ist Wärme Bewegung des Aethers, sowohl des Welt- äthers als auch des leichter bewegliehen Schweräthers, wie er in den Körpern als Zwischenhülläther vorhanden ist: so die Wärme, die der Erde von der Sonne mitgetheilt wird, und ebenso die strahlende Wärme , die durch gasförmige , flüssige und feste Körper sich aus- breitet. Wenn man von Brechung, Interferenz und Beugung der Wärmestrahlen, von Polarisation und Doppelbrechung der Wärme, von Wärmespectrum spricht, so ist immer Bewegung der Aether- theilchen gemeint. — Ferner ist Wärme aber auch Bewegung der Moleküle und Atome, und zwar dies immer, wenn es sich um die Wärme oder Temperatur der Gase, der Flüssigkeiten und der festen Körper handelt. Es können allerdings in vielen Fällen die beiden Wärmen ein- ander gleich gesetzt werden , wenn nämlich die Bewegungen des Aethers und der wägbaren Theilchen sich ausgeglichen haben und sich somit im Gleichgewichte befinden. Dies ist aber nicht immer der Fall ; in einem durchstrahlten Körper kann die Wärmebewegung der wägbaren Theilchen (der Luft, des Glases etc.) weit hinter der Wärmebewegung des Aethers zurückbleiben. Wird in diesem Falle die freie Wärme durch das Thermometer gemessen, so zeigt dieses vorzugsweise den Bewegungszustand der Atome und Moleküle des 730 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. durchstrahlten Körpers an. Uebrigens werden nicht alle, sondern nur bestimmte Bewegungen der wägbaren Theilchen als freie Wärme bezeichnet, wie dies deutlich aus dem Umstände sich ergibt, dass Eis und Wasser von 0", obgleich in ungleicher Molecularbewegvmg befindlich, doch die gleiche Temperatur besitzen, ebenso Wasser und Wasserdampi" von 100". Ich werde im folgenden unter Wärme nm* Bewegung der (eigent- lichen und der ponderabeln) Aethertheilchen, also Aetherwärme ver- stehen, welche, indem sie den Atomen und Molekülen der wägbaren Stoffe schwingende, drehende und fortschreitende Geschwindigkeit ertheilt, in eine andere Form der Bewegung übergeht. Damit soll nicht gesagt werden, dass alle Bewegung des Aethers als Wärme zu betrachten sei; vielmehr scheint diese Function nur einer be- stimmten Bewegung zuzukommen. Um dies deutlich zu machen, muss ich auf die Beschaffenheit des Aethers, wie sie die Amertheorie voraussetzen muss, etwas näher eingehen. Nach Allem, was wir von dem eigentlichen Aether als Raum erfüllende, die Bewegungen der Gasmoleküle wie der Weltkörper nicht hemmende, Wärme und Licht in die grössten Entfernungen tragende Substanz wissen, muss derselbe vollkommen elastisch, voll- kommen beweglich und ohne eine Spur von Cohäsion sein. Er muss die flüchtigen Eigenschaften eines Gases, nur in ungleich höherem Maasse, besitzen ; den grösseren Grad der Flüchtigkeit ver- dankt er der grösseren Kleinheit seiner Theilchen und dem Umstände, dass er von abstossenden Kräften beherrscht* wird, während in den Gasen die Schwere eine wichtige Rolle sj)ielt. Ganz gleich wie der eigentliche Aether verhält sich die beweglichere Hälfte des pon- derabeln Aethers rücksichtlich ihrer Bewegungen, da diese durch die nämliche Kleinheit und vollkommene Elasticität der Theilchen bestimmt werden. — Die übereinstimmenden wie die abweichenden Eigenschaften , welche uns die Vergleichung des Aethers und der Gase aufweist, sprechen also dafür, dass den Aethertheilchen die gleichen Bewegungen wie den Gasmolekülen, aber in erhöhtem Maasse, zukommen. In den luf tförmigen Körpern können wir 3 wesentlich verschiedene Bewegungen unterscheiden, 1. die selbständigen Molecularbewegungen oder Einzelbewegungen, 2. die schwingenden Massenbewe- gungen und 3. die fortschreitenden Massenbewegungen. Was 5. Wärme. 731 die erstereil betrifft, so ist bekanntlich in neuerer Zeit von Krönig und namentlicli von Clausius dargethan worden, dass eine Gas- masse aus einer Anzahl vereinzelter Moleküle besteht, welche nach allen Richtungen durcheinander fliegen und von denen jedes seine gradlinige Bahn verfolgt, bis es an ein anderes Gasmolekül oder an einen festen Körper anstösst und vermöge seiner Elasticität abgelenkt oder zurückgeworfen wird. Ausserdem drehen sich die Moleküle mn ihre Axe , und die sie zusammensetzenden Atome schwingen hin und her, drehen sich wohl auch unter Umständen (intramoleculare Bewegungen). — Die Massenschwingungen der Luft sind uns durch die Fortpflanzung des Schalles, die fort- schreitenden Massenbewegungen als Gasströmung, Wirbel- ströme und Winde bekannt. Die Aethertheilchen müssen die nämlichen Erscheinungen zeigen. Sie führen einmal Einzelbewegungen aus, indem jedes nach einer andern Richtung dahin fährt, dabei sich um seine Achse dreht und, insofern es aus mehreren Ameren zusammengesetzt ist, auch innere Bewegungen, bestehend in Schwingungen und Drehungen seiner Amere, besitzt. Dass uns von diesen Einzelbewegungen aus Erfah- rung noch nichts bekannt ist, begreift sich leicht aus dem Umstände, dass selbst die Einzelbewegungen der einer höheren Grössenordnung angehörenden Gasmoleküle erst seit kurzer Zeit als Ursache der Ex- pansivkraft der Gase erkannt sind. — Die Massenschwingungen und die fortschreitenden Massenbewegungen, welche, gleich- wie in den Gasen, unabhängig von den Einzelbewegungen sind, bedingen abwechselnde und räumlich verschiedene Verdichtungen und Verdünnungen des Aethers. Von diesen verschiedenen Bewegungen der (eigentlichen sowie der ponderabeln) Aethertheilchen sind es die Massen Schwingungen, welche die Erscheinungen der Wärme (und des Lichtes) hervorbringen. Sie erth eilen den Atomen und Molekülen die verschiedenen Bewegungen, die wir an ihnen kennen. Dabei geht die kinetische Energie der Aether- wellen auf die wägbaren Theilchen über, und es verschwindet so viel Wärme als das Quadrat der molecularen und atomalen Geschwindig- keit der letzteren zunimmt. Umgekehrt theilen die ponderabeln Parti- keln, wenn der umgebende Aether Wärme verloren hat, demselben von ihrer Bewegung mit und stellen das gestörte Gleichgewicht wieder her. Wenn daher die schwingende Bewegung des Aethers als freie 732 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. Wärme betrachtet wird, so können wir die Bewegungen der Moleküle und Atome als gebundene Aetherwärme bezeichnen. Dagegen vermögen die Einzelbewegungen der Aethertheilchen nicht die Atome und Moleküle, die ja einer anderen Grössenordnung angehören, in Bewegung zu setzen. Ihre Stösse sind gegenüber dem Koloss eines wägbaren Theilchens von verschwindend geringer Wirk- samkeit, und überdem kommen sie von allen Seiten in so grosser Menge, dass sie sich gegenseitig aufheben ^). Ganz anders wirken die Massenschwingungen, da bei ihnen eine sehr grosse Menge von Aethertheilchen, unbeschadet ihrer individuellen Bewegungen, in jedem Zeitmoment nach der gleichen Seite hin drückt. Die Schwdngungen des Aethers sind ungleich nach ihrer Dauer und nach ihrer Intensität. Ihr Effect wird bedingt durch die Summe der lebendigen Kräfte, mit denen sie auf ein wägbares Theilchen treffen. Von dieser Summe hängt die Bewegung der Moleküle und Atome, und wenn eine Ausgleichung eingetreten ist, auch die Höhe der Temperatur ab ; denn die kinetische Energie der Aetherschwing- ungen verursacht in der Thermometerfiüssigkeit die ihnen ent- sprechenden Bewegungen der Moleküle und Atome und damit eine bestimmte Raumerfüllung durch jene Flüssigkeit. Es ist leicht, sich von den verschiedenen Erscheinungen, welche die Wärme verursacht, Rechenschaft zu geben, wenn wir im Auge behalten , dass die Schwingungen des Aethers einen ihnen ent- sprechenden Bewegungszustand der Moleküle und Atome bewirken, — dass umgekehrt die Moleküle und Atome, wenn dieselben sich schneller bewegen als es dem Bewegungszustand des umgebenden Aethers entspricht, von ihrer lebendigen Kraft an den letzteren abgeben und in freie Wärme umwandeln , — endlich , dass der zwischen den Molekülen und Atomen befindliche Zwischenhülläther durch den äussern Aether, mit dem er in Verbindung steht, in analoge Schwingungen versetzt wird , und dass er, wenn er in Folge irgend einer Ursache sich in lebhafteren Schwingungszuständen be- findet, den Ueberschuss seiner Bewegungsintensität dem äusseren Aether mittheilt, dass also der intermoleculare und interatomale *) Es verhält sicli damit wie mit den Stössen der Gasmoleküle auf die in der Luft schwebenden Sonnenstäubchen, vgl. Sitzungsberichte der kgl. b. Akad. d. W. 7. Juni 1879 oder Untersuch, über niedere Pilze S. 78. 5. Wärme. 733 Schweräther th eilweise das verbindende Mittelghed bildet zwischen den Atomen und den äusseren Aetherschwingungen. In einer Gasmasse befindet sich der Wärnieäther in einem ähn- lichen Zustande wie der Lichtäther bei diffusem Tageslicht. Es gehen die Wärmestrahlen nach allen Richtungen durcheinander. Licht und Wärme werden von dem nämlichen Aether getragen, indem sich ihre Wellen wie die Wellen auf einer Wasseroberfläche durchkreuzen. Mit den Aetherschwingungen befinden sich die fort- schreitenden und drehenden Bewegungen der Gasmoleküle und die schwingenden Bewegungen ihrer Atome im Gleichgewicht. Dieser Zustand bleibt constant, bis sich die umgebende Temperatur ändert. Steigt dieselbe, so wird eine gewisse Menge der Energie der Aether- schwingungen zur Beschleunigung der Molecularbewegungen ver- wendet (specifische Wärme), und zwar bei Gasen von einfacherer Zusammensetzmig etwa 63 % für die fortschreitenden Bewegungen der Moleküle und 37 "o für die intramolecularen Bewegungen. Sinkt die Temperatur, so findet die umgekehrte Umwandlung statt. Nimmt die Energie der Aetherschwingungen so sehr ab, dass sie den Molekülen nicht mehr die Bewegungen des Gaszustandes zu ertheilen vermögen, so verdichtet sich das Gas zur Flüssigkeit, indem der Ueberschuss der fortschreitenden, drehenden und intra- molekularen Bewegungen in Aetherschwingungen übergeht, welche sich in den allgemeinen Aether verlieren. Beim Verdampfen setzt sich die nämliche Menge von Aetherbewegung wieder in moleculare Bewegung um. — Werden die Aetherschwingungen so schwach, dass sie nicht im Stande sind den Zusammenhang der Moleküle zu über- winden, so tritt der feste AggTegatzustand ein, wobei die Gesammt- menge der fortschreitenden und drehenden und ein grosser Theil der schwingenden Molecularbewegungen, die dem flüssigen Zustande eigenthümlich sind, zur Vermehrung der äusseren Aetherbewegung verwendet werden ; beim Schmelzen wandelt sich diese Menge von Aetherwärme wieder in Molecularbewegung um. Würde die Temperatur so sehr sinken, dass die Aetherschwing- ungen ganz aufhörten , so wäre der absolute Nullpunkt erreicht. Bei demselben kämen die Bewegungen der Moleküle und der Atome zur Ruhe; es wäre aber nicht alle Bewegung erloschen. Die Einzel- bewegungen der Aethertheilchen würden fortdauern und ebenso die Bewegungen der Amere, aus denen die Atome bestehen. 734 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. Die Bedingungen für die drei Aggregatzustände sind, sofern es sich um das nämliche chemische Individuum handelt, bloss von der Energie der äussern Aetherschwingungen abhängig, indem diese Energie bis zu einem bestimmten Grad den festen, von da bis zu einem bestimmten höheren Grad den flüssigen und über einen be- stimmten dritten Grad den gasförmigen Zustand bedingt. Bei verschiedenen chemischen Stoffen ist aber der Widerstand, den die wägbaren Theilchen den bewegenden Kräften entgegensetzen, sehr ungleich. Dieser Widerstand beruht in der Adhäsion, welche durch die Grösse und Vertheilung der anziehenden und abstossenden Mole- cularkräfte, durch die Gestalt und Zusammenordnung der Atome und Moleküle und das Verhalten des zwischen ihnen befindlichen Schweräthers bestimmt wird. So ist beispielsweise beim Wasser- stoff, Sauerstoff und Stickstoff die gegenseitige Adhäsion der Moleküle so gering, dass schon die schwächste uns bekannte Energie der Aetherschwingungen hinreicht, um dieselben in der Bewegung des Gaszustandes zu erhalten. Beim Kohlenstoff dagegen erlangt die Adhäsion der Moleküle eine so beträchtliche Höhe , dass auch die grösste bis jetzt erreichbare Energie der Aetherschwingungen nicht im Stande ist, dieselben zu trennen und ihnen die Bewegungen des flüssigen oder gar des gasförmigen Zustandes zu ertheilen. Aus der Anordnung und der Adhäsion der Moleküle in Ver- bindung mit der Beschaffenheit des zwischen ihnen befindlichen Aethers erklärt sich die verschiedene Ausbreitung der Wärme durch Strahlung und Leitung. Die Licht- und Wärmestrahlen , die von der Sonne kommen, gehen durch den mit Aether gefüllten Welten- raum; sie werden in der Atmosphäre durch den Aether zwischen den Gasmolekülen ungehindert weiter geführt, und ebenso durch den Zwischenhülläther vieler flüssiger und fester Körper, die man deswegen als durchsichtige und als diathermane bezeichnet. Die Beschaffenheit des Aethers zwischen den Atomen und Mole- külen ist aber in den verschiedenen festen und flüssigen Körpern, wie ich dies schon früher angedeutet habe, sehr ungleich, sowohl bezüglich der Lagerung der Theilchen als bezüglich ihrer Bewe- gungen, weil beides von der Natur und Stellung der Atome und der Stärke und Vertheilung der Atomkräfte abhängt. Im allge- meinen stellt der zwischen den Aetherhüllen der Atome befindliche und beweglichere Zwischenhülläther dm'ch den ganzen flüssigen 5. Wärme. 735 oder festen Körper ein ununterbrochenes Netz dar. Dieses Netz hat nun eine sehr mannigfaltige Gestalt und sein Schweräther steht mit den Atomen durch die Aetherhüllen in sehr ungleichen dynamischen Beziehungen; daher rührt das verschiedene Verhalten der Körper gegenüber den Licht- und Wärmestrahlen. Der zwischen den Aetherhüllen befindliche Schweräther ist, wie schon gesagt, mit dem äusseren Aether in unmittelbarer Verbindung und befindet sich, wenn ein Beharrungszustand eingetreten, in gleichen Schwingungszuständen mit demselben. Findet nvni in dem äusseren Aether eine besondere Erregung statt, kommen Licht und Wärme- strahlen heran, so gehen ihre Schwingungen, wenn die Anordnung und die Beschaffenheit des genannten Aethers günstig ist, fast un- geschwächt durch die Körper hindurch, d. h. ohne etwas Nennens- werthes von ihrer Energie abzugeben ; die vollkommene Durchsichtig- keit und Diathermanität, wie sie den meisten Gasen und manchen festen und flüssigen Körpern zukommt, verhindert bei der Durch- strahlung eine bemerkenswerthe Erhöhung ihrer Temperatur. In den undurchsichtigen und adiathermanen Körpern dagegen können sich die Schwingungen der Licht- und Wärmestrahlen wegen der Spärlichkeit, der mangelhaften Continuität und überhaupt wegen des ungünstigen Verhaltens des Zwischenhülläthers nicht ungehindert fortpflanzen; ihre Energie geht auf die Moleküle und Atome über und dient dazu, die Temperatur des Körpers zu erhöhen. Günstig für die Durchstrahlung ist es , wenn hinreichend breite und zu- sammenhängende Bahnen eines sehr beweglichen Zwischenhülläthers vorhanden sind; ungünstig, wenn wegen der Stellung der Atome, wegen ihrer grossen Annäherung oder wegen der beträchtlichen Mächtigkeit ihrer Aetherhüllen nur enge mid unvollständig zusam- menhängende Bahnen für den Zwischenhülläther frei bleiben und wenn dieser eine geringere Beweglichkeit besitzt. Während die strahlende Wärme ihre Schwingungen durch den Zwschenhülläther ausbreitet, werden bei der Leitungswärme die der Wärmequelle zunächst liegenden Atome in einen der einwirkenden Temperatur entsprechenden Bewegungszustand versetzt, welcher sich dann von Atom zu Atom weiter fortpflanzt. Von der Anordnung, dem Zusammenhang und der Bewegung der Atome hängt es ab, ob die Fortpflanzung rascher oder langsamer erfolge, ob der Körper ein guter oder ein schlechter Wärmeleiter sei. 736 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. In der vorstehenden Auseinandersetzung handelte es sich vorzüg- hch um die Uebertragung von Energie zwischen den Aethertheilchen und den Molekülen (Atomen) und zwischen den letzteren unter sich. Es ist also von Wichtigkeit, eine richtige Vorstellung über die Be- dingungen der Energie bei diesen Theilchen zu haben. Wenn wir sagen , die Summe der lebendigen Aetherschwingungskräfte in der Raumeinheit, gegeben durch die Zahl und Beschaffenheit der schwang- enden Theilchen, durch die Zahl der Schwingungen jedes einzelnen in der Zeiteinheit und durch die Schwingungsintensität bedinge die Höhe der Temperatur und verursache in den w'ägbaren Körpern die ihnen entsprechenden Bewegungen der Moleküle und Atome, so müssen wir uns darüber klar sein, wodurch die kinetische Energie eines Aethertheilchens und diejenige eines Moleküls (Atoms) in den verschiedenen Aggregatzuständen bestimmt werde. Denn es ist ein- leuchtend, dass bei den hier in Frage kommenden Umsetzungen der lebendigen Kraft nicht die Begriffe der gew^öhnlichen Mechanik Gültigkeit haben. Namentlich lässt uns der Begriff der Masse, wie er allgemein angewendet wird, gänzlich im Stich. Die Definition der Masse, dass zwei Körper gleiche Massen besitzen, wenn ihnen durch die nämliche Kraft in der Zeiteinheit gleiche Beschleunigungen ertheilt werden, ist zwar umfassend genug, um für alle Fälle auszureichen. Allein in der gewöhnlichen Mecha- nik hat man damit nur einen Fall im Auge ; hier ist für den Betrag der lebendigen Kraft -^mxr stets die Schwere d. h. der Ueberschuss der Gravitationsanziehung über die Aetherabstossung massgebend (S. 718); dieser Ueberschuss wird als Masse [m) bezeichnet. Eine solche Behandlung ist für alle Erscheinungen gestattet, wo die Schwere durch die übrigen Kräfte keine bemerkbare Aenderung erleidet. Sie hat also in den Gebieten der kleinsten Theilchen bloss noch für die fortschreitenden Bewegungen der Gasmoleküle Gültigkeit, weil diese Moleküle nur unter dem Einfluss der Erdanziehung stehen, gegenüber welcher die übrigen Kräfte verschwinden. In der Bestimmung ihrer kinetischen Energie , ^ m v' , wird daher m durch das Molecular- gewicht bemessen. Diese Bestimmung der Masse ist aber nicht mehr entscheidend für alle übrigen Bewegungen der Moleküle und Atome, weil bei 5. Wärme. 737 ihnen neben der Schwere auch andere Kräfte maassgebend werden, und zwar oft in dem Grade, dass gegenüber den anderen Kräften die Schwere selbst unmerkbar wird. So tritt das Wasserstoffatom bei vielen Vorgängen mit viel grösserer Wucht in die Bewegung ein als das Quecksilberatom, welches in gewöhnhchem Sinne 200 mal mehr Masse enthält ^). Die gewöhnliche Bestimmung der Masse ist ferner ganz ohne Bedeutung für die Mechanik des eigentlichen Aethers, weil hier in überwiegendem Maasse abstossende Kräfte zur Wirksamkeit gelangen. Für die meisten Molecularbewegmigen und für die Aether- bewegungen muss statt der Masse im gewöhnlichen Sinne die Potenz in Anschlag kommen, welche überhauj^t in den nach Ort und Zeit wirksamen Kräften besteht und welche wegen der Klein- heit der sich verändernden Abstände nach Ort und Zeit stets in bemerkbarer Weise wechselt. Die Masse der gewöhnlichen Mechanik ist ein besonderer Fall der Potenz, welcher den Vorzug grosser Ein- fachheit besitzt, weil wegen der grossen Entfernungen die Schwere die Alleinherrschaft behält und daher die Masse als unveränderlich betrachtet werden kann. Unter Masse versteht man häufig nicht bloss die dynamische Wirkung eines Körpers, sondern gewissermaassen auch seinen mate- riellen Inhalt. Doch liegt es auf der Hand, dass', wenn das Gold in der Volumeneinheit 21 mal mehr Masse enthält als das Eis, es deswegen nicht nothwendig reicher an Stoff sein muss. Wir haben also neben Potenz und Masse, welche durch die Wirkungsfälligkeiten bestimmt werden, noch den Gehalt zu unterscheiden, welcher ein Product von Zahl und Grösse der in der Volumeneinheit befindlichen Amere ist. Möglicherweise hat das Wasserstoffatom einen gleichen ,,Gelialt" wie das Jodatom, welches ihm an Masse imi das 127fache überlegen ist; und möglicherweise steht selbst das zusammengesetzte Theilchen des Weltäthers an ,, Gehalt" einem gleichgrossen Volumen des massigsten Körpers nahe, obgleich jenem nicht nur kein posi- tiver, sondern sogar ein negativer Besitz an „Masse" zukommt. *) Vgl. bezüglich der Atomgewirlite Abschnitt?: Grösse und Zusannnen- setzung der Atome. V. Nägcli, Abstammungslehre. 47 7B8 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gel)iot. 6. Elektricität. Dieser schwierigste Theil der Molecularphysik wird durch den Umstand, dass unter Elektricität zweierlei verstanden wird, ver- wickelter als die Lehre von der Wärme, vom Licht, von der Gravi- tation. Sie ist einmal elementare Kraft, wie die Gravitations- anziehung und die Aetherabstossung, und ferner ist sie Bewegung, wie die Wärme, das Licht, der Schall, und soll selbst nach Maassgabe der Bewegung die Intensität ihrer elementaren Kraft verändern. Was die Elektricität als Attractions- und Repulsionskraft betrifft, so hat sie ihren Sitz in den Ameren, von denen jedes die beiden Elektricitäten , im Allgemeinen aber die eine im Ueberschuss ent- hält. Die elektrischen Kräfte sind mit den Ameren untrennbar ver- bunden ; sie können denselben nicht entzogen und nicht mitgetheilt werden. Jedes Amer ist daher, je nachdem die eine oder andere Elektricität überwiegt, vorherrschend positiv oder negativ elektrisch, und in gleicher Weise hat jede Vereinigung von Ameren, je nach dem Resultat der Summirung, positiven oder negativen Charakter. Die Elektricität hat, wie ich früher anführte, keinen bemerkbaren Einfluss auf die Zusammenballung der wägbaren Massen und auf die Zerstreuung des Aethers. Denn es besitzen je zwei oder mehrere Amere mit vorherrschend positiver und negativer Elektricität das Bestreben sich zu vereinigen und somit elektrisch-neutrale Gruppen zu bilden, in welchen die Electricität sich gegenüber dem Agglo- merations- und Dispersionsprocess indifferent verhält. Solche neutrale Gruppen müssen besonders im Aether, auch in dem ponderabeln Aether, der zwischen den Molekülen und Atomen sich befindet, vorkommen, weil seine Theilchen beweglich sind und sich somit stets entsprechend ihren Anziehungen und Abstossungen zusammen- gruppiren können. Es bilden sich aber auch Vereinigungen mit ausgesprochener 2:)0sitiver oder negativer Elektricität; dieselben treten vorzugsweise in den wägbaren Massen auf, weil hier die Abstossung der gleich- namigen Elektricitäten leicht durch die Anziehung der Gravitations- und der isagischen Kräfte übertroffen wird. Dem entsprechend überwiegt auch in den Atomen der verschiedenen Elemente die eine oder andere Elektricität mehr oder weniger, aber immer nur in einem zur Ge- sammtmenge verhältnissmässig sehr geringen Betrage. Je nach dem (5. Elektricität. 739 grösseren oder kleineren Betrage nimmt das Element seine Stellung in der elektrochemischen Spannungsreihe ein. Diese überschüssige positive oder negative Electricität in den Atomen ist nicht frei, da sie die Atome nicht verlassen kann, worüber ich auf die späteren Abschnitte (9. Entstehung und Beschaffenheit der Atome und 10. Chemische Verwandtschaft) verweise. Sie ist aber auch nicht gebun- den im gewöhnlichen Sinne, da ,, gebundene Elektricität" die von der ungleichnamigen festgehaltene Elektricität bedeutet. Da die Amere mit positiver und negativer Elektricität in der Regel zu mehr oder weniger neutralen Gruppen vereinigt sind, so muss die elektrische Erregung darauf beruhen, dass diese neutralen Gruppen gespalten werden und dass ihre Componenten einerseits zu positiven, andrerseits zu negativen elektrischen Massen sich an- sammeln. Der einfachste Fall der elektrischen Erregung ist derjenige durch Influenz, wobei durch die Fernwirkung eines elektrischen Kör2:)ers die neutrale Elektricität eines andern (influirten) Körpers in 230sitive und negative zerlegt, und die ungleichnamige an der dem influirenden Körper zugekehi'ten, die gleichnamige an der ab- kehrten Seite angehäuft wird. An der eben genannten elektrischen Vertheilung können nur Amere theilnehmen, die nicht unlösbar mit den Atomen verbunden sind, nämlich die Amere des zwischen den Atomen und Molekülen befindlichen Schweräthers, während diejenigen der Atomkör^jer aus- geschlossen sind. Eine elektrisch-neutrale Amergruppe dieses Aethers wird nun zerlegt, wenn die Anziehung, welche die positiven und negativen Amere dieser Gruppe auf einander ausüben, kleiner ist als die Anziehung einer in der Nähe befindlichen elektrischen Masse auf die ungleichnamig elektrischen Amere jener Gruppe sammt ihrer Abstossung auf die gleichnamig elektrischen Amere derselben. Indem diese gleichnamigen elektrischen Amere infolge der Abstossung durcli den influirenden Körper nach der von demselben abgewendeten Seite des influirten Körpers sich entfernen, kommen von da neue elektrisch neutrale Amergruppen herbei und werden gleichfalls durch den influirenden Körper zerlegt. Dieser Process dauert so lange, bis allseitiges Gleichgewicht eingetreten ist. Wird der influirende Kör- per entfernt, so strömen die getrennten Massen positiver und nega- tiver Amere gegen einander und vereinigen sich wieder zu neutralen Gruppen. tJ^Ö^ 740 Kräfte und Gestaltungen Im molecularen Gebiet. Wie ein elektrischer Körper im Grossen, so kann auch jedes Atom im Kleinen vertheilend wirken. Da dasselbe die eine oder andere Elektricität im Ueberschuss enthält, so muss es einen Theil der zunächst liegenden elektrisch neutralen Amergruppen seiner Aether- hülle zerlegen, sofern es die zusammenhaltenden Kräfte (elektrische, isagische und Gravitationsanziehung) zu überwinden vermag. Liegt das Atom frei, so befindet sich von den durch Zerlegung frei ge- wordenen Elektricitäten die ungleichnamige unmittelbar am Atom- körper, die gleichnamige an der Aussenseite der Aetheratmosphäre. Sind viele Atome von gleicher elektrischer Beschaffenheit zu einem Körper vereinigt, so befindet sich die in den Aetherhüllen freigewordene ungleichnamige Elektricität im Innern des Körpers (zwischen den Atomen), die gleichnamige an der Oberfläche desselben, so weit sie nicht etwa den Körper ganz verlässt. Dass eine solche Vertheilung wirklich erfolge, wird nicht nur durch die gegebenen Bedingungen angezeigt, sondern auch durch einen andern, ganz allgemein vor- kommenden Fall elektrischer Erregung bestätigt. Dieser andere Fall der elektrischen Erregung ist dann gegeben, wenn zwei elektrisch neutrale Körper von verschiedener Beschaffenheit in Berührung mit einander kommen. Bekanntlich wirkt jede Berüh- rung mehr oder weniger elektromotorisch, indem sich die positive Elektricität über den einen, die negative über den andern Körper ausbreitet. Nach der Amertheorie erklärt sich diese Erscheinung folgendermaassen. Die Atomkörper der chemischen Elemente haben, wie schon gesagt, einen bestimmten elektrischen Charakter, den sie niclit verlieren können, und nehmen daher einen bestimmten Platz in der elektrischen Spannungsreihe ein. Ich will nun zuerst anneh- men, der eine der beiden sich berührenden Körper besitze positive, der andere negative elektrische Atomkörper. Die Theilchen des zwischen den Atomen befindlichen Schweräthers haben in jedem der beiden Körper bereits eine durch die Elektricität der Atomkörper bewirkte theilweise Zerlegung erfahren, so dass elektrisches Gleich- gewicht besteht, und die übrigen Aethertheilchen unzerlegt bleiben. Sowie nun aber Berührung der beiden Körper eintritt, so ist das Gleichgewicht an der Berührungsstelle gestört. Auf die elektrisch neutralen Amergruppen der beiderseitigen Grenzschichten wirken jetzt nicht mehr bloss je die Elektricität des eigenen Körpers, son- dern zugleich die entgegengesetzten Elektricitäten der beiden Körper 6. Elektricität. 741 ein, indem der Körper mit positivem Charakter der Atome die nega- tiven, derjenige mit negativem Charakter die positiven Amere anzieht mid die gleichnamig elektrischen Amere abstösst. So wird durch die vereinte Action eine gewisse Menge neutraler Elektricität zerlegt. Es versteht sich, dass sich um so mehr freie Elektricität bildet, je aus- gesprochener der positive und negative Charakter der beiden Körper ist, und dass, indem sich die beiden Elektricitäten über die Körper ausbreiten, der elektromotorische Process so lange fortgeht, l)is all- seitiges Gleichge-^ncht besteht. In dem eben angeführten Beisj^iel waren die Atome des einen Körpers positiv, die des anderen negativ elektrisch. Haben beide Körper den gleichen (positiven oder negativen) Charakter, nur in ungleichem Grade, so erfolgt mit der Berührung ebenfalls Störung des elektrischen Gleichgewichts. Die an der Berührungsstelle be- findlichen neutralen Amergruppen des Schweräthers erfahren von beiden Seiten her ungleiche Einwirkung; die gleichnamig elektrischen Amere werden von der einen Seite her stärker abgestossen, die ungleichnamigen stärker angezogen als von der andern, und so findet der nämliche Zerlegungsprocess statt, wie wenn die beiden Körper ungleichnamige wirksame Elektricitäten besitzen. Die Menge der zerlegten neutralen Elektricität hängt bloss von der Differenz der wirksamen Elektricitäten ab. Es habe in einem neutralen Amer- paar der Berührungsstelle das eine Amer 0,1 positive, das. andere 0,1 negative elektrische Einheiten, und es ^\drken auf gleiche Ent- fernung von der einen Seite 2000, von der andern 1000 positive elektrische Einheiten ein, so ist die elektromotorisch wirkende Diffe- renz der beiden Anziehungen 100 (nämhch 0,1 X 2000 — 0,1 X 1000), die elektromotorische Differenz der beiden Abstossungen gleichfalls 100, ganz ebenso wie wenn auf der einen Seite 500 positive, auf der andern Seite 500 negative elektrische Einheiten wirksam wären (nämhch 0,1 X ÖOO + 0,1 X ÖOO). Nachdem ich einige Fälle der elektrischen Erregung näher erörtert habe, ist es überflüssig, auf die übrigen einzutreten, bei welchen durch Reibung, mechanische Trennung, Druck und Zug, Erwärmung und Abkühlung, Capillarität u. s. w. die Elektricitäten frei werden und sich auf zwei Körper oder auf entgegengesetzte Seiten des nämlichen Körpers vertheilen. Jede äussere Einwirkung stört das bisherige Gleichgewicht der Molecularkräfte und damit 742 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. uucli clasjciiigo der Elektricitäteii , dabei werden tlieils elektrische A liier e der Aetlierhüllen , die von den Atoiiikörjiern festgehalten Avurdeii, disponibel, tlieils elektrisch neutrale Amergruppen zerlegt. Wenn in einem Körper freie bewegliche Elektricität auftritt, so haben die Amere , an w^elche sie gebunden ist, infolge der gegen- seitigen elektrischen Abstossung das Bestreben sich von einander zu entfernen. Sie l)reiten sich deshalb erfahrungsgeniäss ül)cr die Oberfläche aus und häufen sich an den vorragenden Stellen der- selben um so mehr an, je kleiner der Krümmungshalbmesser ist. Bei übermässiger Anhäufung kann die Spannung sich so sehr stei- gern, dass ein Theil der elektrischen Amere fortgeschleudert wird. Im allgemeinen verlassen aber dieselben einen Körper nur dann, wenn mit ihm ein leitender Körper in Berührung gebracht wird. Die Vorstellung , wie die Verbreitung der Elektricität in einem Körper und insonderheit die Leitung derselben erfolgt, beruht nach der Amertheorie auf der richtigen Würdigung des Gleichgewichts, in dem sich die Theilchen des interatomalen ponderabeln Aethers befinden. Dasselbe besteht in Verbindung mit den allseitigen dyna- mischen Beziehungen, gleichwie in einer eingeschlossenen Gasmasse, durch die Stösse, mit denen die Theilchen auf einander treffen. Es sind somit die Räume zwischen den Atomkörpern vollständig mit bewegten Aethertheilchen erfüllt; es kann kein Theilchen eintreten, ohne die Spannung zu vermehren, keines hinausgehen, ohne dieselbe zu vermindern, und eine Dislocation im Innern findet im allgemeinen nur statt, insofern als ein Theilchen an die Stelle des andern tritt. Bewegen sich in einem elektrisch neutralen Körper elektrische Aether- theilchen in einer bestimmten Richtung, so muss in entgegengesetzter Richtung eine Strömung von neutralen Theilchen eintreten. Die Lei- tung der Elektricität von einem Herde aus, wo dieselbe durch Ver theilung entsteht, ist also ein Platzwechsel von Aethertheilchen, die wie eine Kette durch den ganzen Körper verläuft. Am anschaulichsten tritt uns das Wesen der elektrischen Leitung jn der Thatsache entgegen, dass aus einem elektrischen Körper keine Elektricität an den leeren Raum abgegeben wird, dass dieser ein »Nicht, leiter« ist. Man möchte erwarten, dass das bloss mit Aether erfüllte 6. Elektricität. 743 Vacuuin einer in Spannung bclindliclien Masse von elektrischen Theil- chen den geringsten Widerstand darböte. Nun drückt aber der äussere Aetlier mit der nämlichen Kraft auf den zwischen den Atomen und Molekülen befindlichen Aether wie dieser nach aussen. Es können also Theilchen von dem letzteren nur dann austreten, wenn dafür Aethertheilchen von aussen eintreten. Der Umstand, dass das Gleich- gewicht zwischen dem inneren und dem äusseren Aether sich auch auf die Elektricität erstreckt und dass diese nicht einen Körper verlassen und in den äussern Aether entweichen kann, beweist uns die Richtigkeit der theoretischen Annahme, dass die Elektricität an Körperchen von der Grössenordnuug der Aethertheilchen , also an Amere gebunden sein muss. Wäre aber der interatomale Aether und der Aether des Va- cuums von gleicher Beschaffenheit und somit die elektrische Span- nung allein maassgebend, so müssten die elektrischen Theilchen des ersteren infolge ihrer gegenseitigen Abstossung den Körper ver- lassen und es würden an ihre Stelle neutrale Theilchen des äusseren Aethers eintreten. Allein die Theilchen des interatomalen Aethers sind ponderabel, und werden also durch Gravitationsanziehung und wohl auch durch die Isagität mit einer ge"s^dssen Kraft festgehalten. Nur dmx'h die Annahme, dass diese anziehenden Kräfte mächtiger sind als die elektrische Abstossung sammt der Aetherabstossung, wird die Thatsache erklärlich, dass der leere Raum ein Nichtleiter für die Elektricität ist. Die Theorie von dem ponderabeln Aether, der die Atome umgibt, hat damit eine Bekräftigung in der Erfah- rung gewonnen. Wenn die elektrischen Theilchen des ponderabeln Aethers in einem neutralen Körper ihren Platz verlassen, so müssen andere ebenfalls ponderable aber neutrale Aethertheilchen an ihre Stelle treten. Der Austausch findet stets zwischen den zunächst liegenden Theilchen statt; die dynamische Ursache desselben besteht darin, dass die aus einem bestimmten Raum austretenden elektrischen Theilchen abgestossen werden, während die eintretenden neutralen Theilchen eine Abstossung nicht erfahren. Diese dynamische Wir- kung muss um so energischer stattfinden, je geringer die Entfernung zwischen den platzwechselnden Theilchen ist. — Nur wenig anders gestaltet sich die Leitung, wenn die Elektricität nicht in dem neu- tralen Körper selbst durch Vertheilung frei gemacht, sondern dem- 744 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. selben von aussen zugeführt wird. In diesem Falle breitet sie sich möglicherweise in dem Körper aus, ohne dass neutrale Aetlier- theilchen sich in entgegengesetzter Richtung bewegen. In beiden Fällen hat die grössere oder geringere Entfernung der Aethertheilchen noch eine andere Bedeutung als die vorhin an- gegebene. Je näher ein neutrales, aus zwei (oder auch mehreren) Ameren zusammengesetztes Theilchen sich bei einem oder mehreren elektrischen Theilchen befindet, um so eher wird es in der Weise orientirt, dass sein ungleichnamig elektrisches Amer diesen zuge- kehrt, das gleichnamige aber abgekehrt ist. Damit wird das neutrale Tlieilchen von den elektrischen Theilchen angezogen , weil die Attraction der letzteren zu dem näher liegenden ungleichnamigen Amer selbstverständlich grösser ist als die Repulsion auf das ent- ferntere gleichnamige. Die Differenz dieser Attraction und Repulsion fällt aber um so beträchtlicher aus, je kleiner der Abstand ist. Bei wachsendem Abstand zwischen den elektrischen und neutralen Theilchen wird der Ueberschuss der Anziehung bald unmerklich gering. Die Wanderung eines elektrischen Amers bei gedrängter Stellung der neutralen Theilchen lässt sich nun am natürlichsten so denken, dass dasselbe sich an das zugekehrte ungleichnamige Amer des nächsten (neutralen) Paars anlegt, wodurch das abgekehrte gleich- namige Amer dieses Paars frei wird und seinerseits in derselben Weise zu dem nächsten Paar, dasselbe zerlegend, übertritt. So findet eine Wanderung durch eine ganze Reihe von neutralen Paaren oder Gruppen statt, und am Ende derselben tritt aus dem letzten Paar ein freies elektrisches Amer aus. Im Moment der Zerlegung und Wiedergestaltung haben die neutralen Gruppen die umgekehrte Orientirung, nehmen aber durch Drehung sofort wieder die frühere Lage an. Die Leitung der Elektricität muss also um so leichter erfolgen, je näher die Theilchen des ponderabeln Aethers beisammen liegen. Wir dürfen wohl mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass in den Körpern die Leitung durch die (dichteren) Aetherhüllen der Atome viel leichter als durch die zwischen denselben befindliche (lockere) Mittelsubstanz des Schweräthers erfolge. Wahrscheinlich hat die letztere gar keinen Theil daran. Am günstigsten wäre es aber für die elektrische Leitung, wenn die Aetherhüllen ganz oder doch in 6. Elektricität. 745 ilirer inneren Partie aus flüssigem (nicht aus gasförmigem) Schwer- ätlier beständen, weil in diesem Zustande die Aetliertheilclien die grösste gegenseitige Annäherung mit vollkommener Beweglichkeit verbinden. Dagegen ist eine Leitung der Elektricität durch die Atomkörper hindurch überall nicht denkbar, soweit die Amere fest mit einander verbunden sind, weil dieselben weder durch Drehung sich in der erforderlichen Weise orientiren, noch ihren Platz wech- seln können. Wenn dies richtig ist, so lässt sich die Verschiedenheit der molecularen Beschaffenheit zwischen guten und schlechten Leitern leicht denken. Ein Körper leitet um so besser, in je unmittelbarer Verbindung sich die Aetherhüllen seiner Atome befinden, um so schlechter, je zahlreicher und grösser die Lücken zwischen diesen Hüllen sind. In Nichtleitern mangelt die unmittelbare Verbindung z^^'ischen den Aetherhüllen gänzlich. Dies hängt theils von der Anordnung der Atome, vorzüglich aber von der sehr ungleichen Stärke ihrer Schwerätherhüllen ab (vgl. S. 734). Die Bedingungen für die Leitung der Elektricität sind demnach ganz anderer Art als diejenigen für die Leitung des Lichtes und der Wärme, da die Schwingungen der letzteren vorzüglich durch die zwischen den Aetherhüllen befindliche iMittelsubstanz sich fort- pflanzen. Die ununterbrochene Verbindung der Hüllen und diejenige der Mittelsubstanz befinden sich in einem gewissen Gegensatz zu einander, indem im allgemeinen die eine um so vollkommener vor- handen ist, je mehr die andere mangelt. Daraus erklärt sich der Umstand, dass durchsichtige und diathermane Körper (wie beispiels- weise das Glas) gewöhnlich die Elektricität nicht oder schlecht leiten, und dass die guten elektrischen Leiter (wie die Metalle) undurch- sichtig und adiatherman sind. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass Elektricität, Licht und Wärme von manchen Körpern gleich gut geleitet werden. Ich habe bis jetzt den Fall betrachtet, in welchem freie Elektricität durch einen neutralen Körper fortgeleitet wird. Werden zwei Körper mit entgegengesetzter Elektricität in Berührung gebracht, so entsteht ein doppelter Strom, indem positive Elektricität nach der einen, negative nach der andern Richtung durch die leitende Substanz hindurchgeht, wobei die Intensität jedes der beiden Ströme von der Dichtigkeit der betreffenden Elektricität abhängt.. Ein dauernder 746 Kräfte und Gestaltungen im niolccularen Gebiet. gegenseitiger Strom , bei welchem gleiche Mengen positiver und negativer Electricität in entgegengesetzter Riclitung sich bewegen, bildet sich dann, wenn die durch Vertheilung entstehenden Elektri- citäten in leitender Verbindung sich befinden, wie dies beim galva- nischen Strom der Fall ist. Nach der Amertheorie können wir uns von der galvanischen Leitung eine ähnliche Vorstellung machen, wie sie für Wanderung der Ionen bei der Elektrolyse besteht, und wie ich sie schon für die einseitige elektrische Leitung in Anspruch genommen habe. Die neutralen Amergruppen, die in dem Leiter ununterbrochene Reihen bilden und die wir uns der Einfachheit halber als Doppelamere vorstellen können, richten sich so, dass das positive Amer der negativen, das negative der positiven Elektricitätsquelle zugekehrt ist. Am einen Ende einer Reihe wird das der negativen Elektricitäts- quelle zugekehrte positive Amer angezogen und weggerissen; infolge dessen rücken alle positiven Amere der Reihe um einen Schritt in gleicher Richtung vorwärts. Ebenso tritt am andern Ende der Reihe das letzte negative Amer zu der positiven Elektricitätsquelle über, und es folgen ihm alle negativen Amere der Reihe um einen Schritt nach. Die Amerpaare der Reihe sind im ersten Moment verkehrt gerichtet; sie gelangen sofort durch Drehung wieder in die richtige Orientirung. Durch den eben geschilderten Vorgang hat sich die Zahl der Glieder in der Reihe um eines vermindert; die Lücke muss durch ein neues neutrales Doj^pelamer ausgefüllt werden, was auf zweierlei Art geschehen kann. Entweder wandert aus dem niclit- gereihten intermolecularen Schweräther eine Amergruppe ein, oder es treten aus den beiden Elektricitätsquellen je ein positives und ein negatives Amer in die Enden der Reihe über und veranlassen in derselben eine AVanderung der ungleichnamigen Amere in ent- gegengesetzter Richtung, bis dieselben zusammentreffend sich zu einem Doppelamer vereinigen. Die eben entwickelte Hypothese macht die Voraussetzung, dass die beiden Elektricitäten durch die nämlichen Reihen von neutralen AmergrujDpen in entgegengesetzter Richtung wandern. Es ist aber eben so gut möglich und vielleicht noch wahrscheinHcher, dass von jeder Reihe nur eine Elektricität geleitet wird, dass also in gewissen Reihen neutraler Aethertheilchen die positive Elektricität in der einen Richtung, in andern Reihen dagegen die negative Elektricität 6. Elektricität. 747 in entgegengesetzter Richtung strömt. In diesem Fall gestaltet sich die Leitmig genau so, wie es bereits für die einseitige Strömung angedeutet wurde (S. 744). Die Erregung der Elektricität, die Verbreitung und Leitung derselben bietet, wie sich aus den vorstehenden Betrachtungen ergibt, für die Amertheorie keinerlei Schwierigkeiten dar. Dagegen vermag sie einige besondere Erscheinungen der Elektrodynamik, nämlich die Wirkung zweier elektrischer Ströme auf einander und die (Inductions-) Wirkung eines Stromes, dessen Moment sich ver- ändert, auf einen geschlossenen ruhenden Leiter noch nicht zu erklären. Es ist nun bekanntlich W. Weber gelungen, ein für alle elek- trischen Erscheinungen gültiges Grundgesetz aufzustellen, unter der Annahme, dass die Wirkung nicht bloss von der Intensität, Ent- fernung und Richtung, sondern auch von der Geschwindigkeit und Beschleunigung der bewegten elektrischen Massen gegen einander abhänge. Das elektrostatische Grundgesetz, nach welchem die V\u'- kung (Anziehung oder Abstossung) zweier elektrischer Massen (eund e,) gleich dem Product derselben , getheilt durch das Quadrat der Ent- ß ■ 6 fernung (r), also gleich — ^ ist, erhält daher von W. Weber den Coefficienten 1 — a ■ v- -\- h ■ //, in welchem das zweite Glied die Wir- kung der relativen Geschwindigkeit {v) der beiden Elektricitäten und das dritte Glied die Wirkung ihrer relativen Beschleunigung ((j) angibt, während a und h Constanten sind. Gegen das Weber' sehe Gesetz ist namentlich von Helmholtz Einspruch erhoben worden, welcher zeigte, dass es zu Consequenzen führt, die dem Gesetz von der Erhaltung der Kraft widersprechen. In der Erwiderung legt W. Weber namentlich auch darauf Gewicht, dass von Molecularbewe gungen , die sich in unendlich kleinen Ent- fernungen vollziehen , kein Schluss auf Bewegungen in endlichen Abständen gemacht werden dürfe. Von Seite der Amertheorie ist zunächst gegen die letztere Auf- stellung einzuwenden, dass es gerade als die Aufgabe einer rationellen Natm-w^ssenschaft erscheint, für die Moleculari)hysik die nämlichen Gesetze zu begründen wie für die Makrophysik, indem für die kleinsten 748 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. in die Action tretenden Th eilchen die ihnen zukommende endhche Grösse in Anspruch genommen wird. Der Raum, den das kleinste chemische Atom nebst seiner Wirkungssphcäre einnimmt, hat, wie sich aus der mechanischen Gastheorie und aus andern Bestimmungen ergibt, etwa einen Durclmiesser von 1 Zehnmilliontel Millimeter, und das Amer nebst seiner Wirkungssphäre ist in linearer Aus- dehnung vielleicht 10000 oder 100 000 mal kleiner. Die molecu- laren Dimensionen, an welche die Theorie anknüpfen muss, haben .also eine angebbare Grösse und dürfen nicht in unendlich kleine Werthe verflüchtigt werden. Was ferner das Weber' sehe Gesetz als solches betrifft, so spricht es, wenn es mehr als eine empirische Formel sein soll, einen Grundsatz aus, der nicht nur über die bisherigen Grundsätze der Mechanik hinausgeht, sondern überhaupt auch schwer mit unseren vernunftgemässen Forderungen in Einklang zu bringen ist. Die elementaren Kräfte der Anziehung und Abstossung bewirken, was von Niemandem bestritten werden kann, Bewegung der mit diesen Kräften begabten Körper. Nach dem Web er 'sehen Gesetz soll aber auch das Umgekehrte stattfinden und Anziehung oder Abstossung durch Bewegung hervorgebracht werden, denn dies ist der eigent- liche Sinn der durch Bewegung verminderten Anziehung oder Abstossung. Die Bewegung soll, wenn sie eine Folge der Anziehung ist, Abstossung, und wenn sie eine Folge der Abstossung ist, An- ziehung bewirken. Lässt man in der Formel, welche die Wirkung zweier elektrischer Massen in Bewegung darstellt, die Geschwindigkeit wachsen, so wird bei einer bestimmten Grösse derselben der ganze Ausdruck Null, sodass weder Anziehung noch Abstossung besteht, und l^ei noch grösserer Geschwindigkeit wird er negativ, sodass die zwei Elektricitätsmassen , wenn sie in Ruhe sich anzogen, jetzt Abstossung, und wenn sie in Ruhe sich abstiessen, jetzt Anziehung auf einander ausüben. Schon diese allgemeine Vor- stellung über die Wirkung der Bewegung schliesst eigentlich eine Negation des Princips von der Erhaltung der Kraft in sich. Sollten demnach, wofür eine hohe Wahrscheinlichkeit spricht, die bis jetzt gültigen Principien der Mechanik auch für die Elektricität 6. Elektricität. 749 Gültigkeit haben, und die Wirksamkeit der letzteren bloss auf den Lagerungsverhältnissen der positiven und negativen Amere in jedem Zeitmoment abhängen, somit von ihrer Bewegung unabhängig sein, so wäre es die Aufgabe der Amertheorie, die Configurationen des Elektricitätsäthers , welche die verschiedenen Wirkungen bedingen, festzustellen, — eine Aufgabe, die zwar nicht als absolut unmöglich, aber zur Zeit wenigstens noch als unausführbar erscheint. Es müsste ferner gezeigt werden, wie die Verschiedenheiten dieser Configurationen Functionen der Bewegung und Beschleunigung sind, mid wie somit auf natürlichem Wege Wirkungen erreicht w'erden , welche mit den in der W^eber'schen Formel ausgedrückten Wirkungen iden- tisch sind. Hierzu ist einmal zu bemerken, dass nach der Amertheorie die elektrischen Th eilchen Amere und als solche nichts einfaches und beständiges, sondern zusammengesetzte und bis auf einen gewissen Grad unbeständige Körper sind, die alle 6 Elementarkräfte (Gravi- tation, Aetherabstossung , positive und negative Isagität, positive und negative Elektricität) enthalten , und in w^elchen ohne Zweifel ein Tlieil der Kräfte fortschrittsbeweghch ist und seine Stellung im Amer in mannigfaltiger W^eise verändern kann. Deshalb muss angenommen werden, dass die elektrische Wirkung, die ein elektri- sches Amer nach einer bestimmten Seite hin ausübt, je nach seiner Orientirung und je nach Beeinflussung seiner fortschrittsbeweglichen Kräfte durch die Umgebung, sehr ungleich ausfalle; dasselbe gilt auch für die elektrisch neutralen Paare oder Gruppen von Ameren. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die beiden gegenläufigen elektri- schen Ströme je nach Umständen entweder gemeinschaftlich durch die gleichen, oder getrennt durch ungleiche Reihen des ponderabeln Aethers verlaufen können und dass die strömende Elektricität im allgemeinen imr einen kleinen Theil der in der Strombahn befind- lichen neutralen Elektricität ausmacht. Diese beiden Umstände ge- statten sehr ungleiche Wirkungen zweier elektrischer Elementar- strömchen und wohl auch zweier Ströme auf einander, von denen aber namentlich die letztere sich noch nicht üljcrsehen und beur- theilen lässt. 750 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. 7. Magnetismus. Nach dem Vorgange Ampere 's nimmt die Physik an, dass die »Moleküle« eines Magneten widerstandslos und daher endlos von elektrischen Molecularströmen umkreist werden, deren Ebenen zu der Magnetachse rechtwinklig stehen, sodass der Magnet eigentlich nichts anders ist als ein System von gleichgerichteten Molecular- solenoiden. In dem unmagnetischen Eisen sowie in den übrigen magnetisirbaren Substanzen sind die Molecularsolenoide nach ver- schiedenen Seiten gekehrt und geben daher keine Gesammtwirkung. Die Magnetisirung besteht darin, dass eine grössere oder geringere Zahl derselben gerichtet wird ; ein elektrischer Strom, der eine Stahl- nadel umkreist, orientirt, entsprechend der Wirkung, welche Ströme aufeinander ausüben, die magnetischen Moleküle (Molecularsolenoide) in der Weise, dass ihre Molecularströme ihm gleichlaufend werden. In den des Diamagnetismus fähigen Substanzen ist nach der durch W. Weber herrschend gewordenen Annahme die neutrale Elektricität um die Moleküle in Ruhe; sie kann aber durch indu- cirende Ursachen in Rotation versetzt werden. Da jedoch die Bahnen dieser Ströme nicht drehbar sind, so bleibt ihre Richtung dem inducirenden Strom entgegengesetzt. Die diamagnetischen Mole- cularströme verlaufen ebenfalls widerstandslos und dauern daher so lange, bis sie durch eine entgegengesetzt inducirende Bewegung, wohin die Entfernung der inducirenden Ursache gehört, wieder auf- gehoben werden. Nachdem ich die Theorie des Magnetismus und Diamagnetismus kurz formulirt habe, will ich nun versuchen, dieselbe mit den im Vorstehenden entwickelten Vorstellungen in Verbindung zu bringen. Wenn man bis jetzt von »magnetischen Molekülen« und von die- selben umkreisenden Molecularströmen gesprochen hat, so hatte man nicht gerade die aus Atomen zusammengesetzten Moleküle der Chemie, sondern überhaupt kleinste, weiter nicht bestimmte Theilchen im Auge. Die Amertheorie zwingt uns zu bestimmten Annahmen, und sie ver- mag auch die Erscheinungen in genügender Weise zu erklären, wenn wir als die »magnetischen Moleküle« die Atomkörper in Anspruch nehmen. Die Atomkörper sind, wie ich früher zeigte, von einer Hülle von ponderabelm Aether umgeben, deren Dichtigkeit von innen nach aussen abnimmt, während die Beweglichkeit ihrer Theilchen in 7. Magnetismus. 751 gleicher Richtung zunimmt. Die Aethertheilchen der Hülle liegen also in concentrischen Schichten und haben in jeder Schicht miter sich gleiche Abstände und gleiche Bewegungszustände. Ihre Bewe- gungen werden durch die Stösse der umgebenden Aethertheilchen und durch die wirksamen Anziehungs- und Abstossungskräfte ge- regelt, und sind theils schwingende theils fortschreitende Bewegungen. Unter den letztern muss es sowohl solche geben, bei denen die Theil- chen grössere Strecken durchlaufen, als solche, bei denen ein Theilchen an das nächstliegende anstösst und dasselbe aus seiner Stellung ver- drängt, worauf dieses das folgende verdrängt u. s. w. Findet die fortschreitende Bewegung der einen oder andern Art in einer zm' Oberfläche des Atomkörpers tangentialen Richtung statt, so lässt sich leicht denken, dass sie unter günstigen Umständen in der nämlichen concentrischen Schicht von Aethertheilchen rings um das Atom sich fortsetze. Solche günstige Umstände sind nun allerdings vorhanden. Wie ich schon früher angedeutet habe (S. 740), müssen die Atomkörper der verschiedenen chemischen Elemente, da dieselben einen bestimm- ten elektrischen Charakter besitzen, einigermaassen vertheilend auf die neutralen Amergruppen ihrer Aetherhüllen einwirken. Von den aus der Zerlegung hervorgehenden Ameren werden die mit dem Atomkörper ungleichnamigen festgehalten, die gleichnamigen ent- fernt. Es befinden sich also namentlich in den innern Schichten der AetherhüUe neben den neutralen Amergruppen auch elektrische Amere. Die fortschreitende Bewegung der Aethertheilchen muss hier leicht den Charakter von elektrischen Strömchen annehmen, indem die (unter sich gleichnamigen) elektrischen Amere, wegen der gegenseitigen Abstossung, sich in der gleichen Richtung bewegen; und diese Strömchen behalten, da die elektrischen Amere von dem Atomkörper angezogen werden, ihre tangentiale Richtung und kehren kreisförmig in sich zurück. Ein elektrisches Amer bewegt sich dem- nach in analoger Weise mn den Atomkörper wie ein Planet um die Sonne. Kreisen mehrere oder viele solcher Elementarströmchen in der nämlichen Richtung um einen Atomkörper, so bilden sie zusammen einen von der physikahschen Theorie vorausgesetzten »Molecularstrom« oder richtiger einen Atomalstrom. In dem magnetisch werdenden Eisen richten sich die »Molecular- magnete« in übereinstimmender Weise. Dies kann entweder dadurch 752 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. geschehen, dass die »Moleküle« sammt den sie unikreisenden Strömen ihre Richtung verändern, oder dadurch, dass bei gleichbleibender Stellung der »Moleküle« die Ströme allein anders orientirt werden. Wenn nach der entwickelten Ansicht die chemischen Atome selber die dem Magnetismus zu Grunde liegenden magnetischen »Moleküle« darstellen, so kann man nicht wohl annehmen, dass dieselben in einem festen Körper, wie es das Eisen ist, ihre Richtungen soweit verändern, als es beim Magnetisch werden geschehen müsste. Man wird eher geneigt sein zu vermuthen, dass die Stromebene allein sich drehe. Dies könnte einmal in der Weise erfolgen , dass die ganze Schale, die aus den in Strömung be- griffenen concentrischen Schichten der Hülle besteht , eine Drehung ausführt. Wahr- scheinlicher aber geschieht es so, dass die einzelnen Aethertheilchen ihre Bewegungs- Fig. 30. richtung ändern und dass somit die Elementar- strömchen nachher durch andere Reihen von Theilchen verlaufen als vorher, wie in Fig. 30, wo eine Anord- nung von Aethertheilchen dargestellt und die Strömungsrichtung g — g in diejenige h — h übergegangen ist. Im gewöhnlichen Zustande kreisen vielleicht keine eigentlichen »Molecularströme« um die Atome, sondern nur Elementarströmchen in geringerer oder grösserer Zahl je nach der chemischen und physi- kalischen Beschaffenheit der Substanz. Und diese Elementarström- chen haben dann einen sehr ungleichen Charakter, ungleiche Geschwindigkeit, ungleiche Richtung und ungleiche Dauer. Gleich- gerichtete Elementarströmchen in grösserer Zahl, sodass sie zusanmien einen eigentlichen »Molecularstrom« bilden, entstehen in diesem Fall erst unter dem Einfluss einer magnetisirenden Ursache durch Induction. Dieselben haben im jMoment ihres Entstehens eine dem indueirenden Strom entgegengesetzte Richtung, werden aber, inso- fern sie beweglich sind, durch denselben alsbald homodrom gerichtet. Die Wirkung, die eine magnetisirende Ursache auszuüben ver- mag, hängt ab von der Fähigkeit der Aetherhüllen , »Molecular- ströme« entstehen, und von der Fähigkeit, dieselben orientiren zu lassen. Beide Fähigkeiten sind sehr ungleich je nach den ver- schiedenen Atomen und je nach den verschiedenen Regionen in 7. Magnetismus. 753 der Aetherhülle des nämlichen Atoms. Eine stärkere Ursache ver- mag »MoleeiilarströmeK zu induciren oder solche durch Drehung zu Orientiren, wo die schwächere Ursache noch nichts ausrichtet. Für jedes Atom gibt es eine bestimmte Stellung zu dem Inductions- strom, in welcher am leichtesten sich ein »Molecularstrom« bildet, und bestimmte Zonen , innerhalb welcher am leichtesten eine Ver- schiebung der Stromebene erfolgt. Es wird daher wegen der ver- schiedenartigen Orientirung der Atome eines Körpers häufig vor- konunen, dass die einen »Molecularströme« ihre ursprüngliche, dem inducirenden Strom antidrome Richtung behalten, andere sich ihm vollständig homodrom stellen, und noch andere in mittleren Stellungen verharren. Der magnetische oder diamagnetische Charakter einer Substanz hängt ab von der Differenz zwischen der Zahl und der Stärke der homodromen und antidromen /Molecularströme« und von der Resul- tirenden, die sich aus allen andern »Molecularströmen« ergibt. Das Eisen zeichnet sich dadurch aus, dass sich in demselben eine grosse Zahl von »Molecularströmen« bildet, und dass dieselben leicht ge- richtet werden. Im Wismuth entstehen weniger »Molecularströme«, und unter ihnen behaupten diejenigen, die ihre antidrome Richtung behalten , ein grösseres Uebergewicht als in irgend einer andern Substanz. — Es gibt gewisse Körper, die bei schwacher Induction magnetisch, bei stärkerer aber diamagnetisch sind; so stellt sich ein schwach eisenhaltiges Kohlenstäbchen zwischen schwachen Magnet- polen axial, zwischen starken dagegen äquatorial. Bei schwächerer Einwirkung entscheiden diejenigen Partien der Aetherhüllen, welche von den Atomkräften weniger festgehalten werden und somit sich leichter induciren und orientiren lassen; bei starker Einwirkung erlangen die festeren Partien des Aethers das Uebergewicht, in denen unter den obwaltenden Umständen wohl noch »Molecular- ströme« erzeugt, aber nicht gerichtet werden können. Aus dem gleichen Grunde nehmen Körper in derjenigen Richtung, in der sie zusammengepresst werden, in der sie somit dichter sind und wenigen bewegliche Aetherhüllen haben, stärkere diamagnetische Eigenschaf- ten an. — Dass an den Aetherhüllen der Atome bestimmte Zonen bevorzugt sind und sich anders verhalten als die übrigen, zeigt sich deutlich aus dem Verhalten der Krystalle, indem in einachsigen Krystallen die Magnetkrystallachse mit der krystallographisclier V. Nägeli, Abstammungslehre. 48 754 Kräfte und Gestaltungen im molecnlaren Gebiet. Hauptachse zusammenfällt und sich zwischen den Magnetpolen ent- weder axial oder äquatorial stellt, und indem ferner in Krystallen mit zwei optischen Achsen auch zwei feststehende magnetische Achsen vorhanden sind, die eine bestimmte Lage zu den ersteren haben. Die Moleküle der Flüssigkeiten und Gase sind drehbar; man könnte daher erw-arten, dass sie, wenn auch ihre Molecularströme nicht drehbar sind, doch durch das Bestreben der letzteren, sich mit dem inducirenden Strome homodrom zu stellen, gedreht würden und sich demnach sämmtlich als magnetisch erweisen sollten. Was die Gase betrifft, so tritt fast constant das Gegentheil ein, indem sich alle mit Ausnahme des Sauerstoffs, in der Luft diamagnetisch verhalten. Der Diamagnetismus erklärt sich wohl daraus, dass die Gase wäh- rend der Beobachtung in doppelter Bewegung begriffen sind. Einmal strömt die Gasmasse zwischen den Magnetpolen durch, und ferner hat jedes Gasmolekül die ihm bei der bestimmten Temperatur zu- kommende fortschreitende und drehende Bewegung. Die Orientirung des einzelnen Gasmoleküls zu den Magnetpolen ändert sich daher fortwährend. Die kurze Zeit, während der diese Pole auf eine be- stimmte Orientirung einwirken, reicht wohl aus, um einen Molecular- strom ^) zu induciren , welcher sofort abstossend und diamagnetisch wirkt. Aber ehe dieser Molecularstrom homodrom gerichtet werden kann, ist das Molekül durch seine drehende Bewegung in eine andere Orientirung gegenüber den Magnetpolen gekommen und es erfolgt eine neue Induction und damit wieder Abstossung. Dies gilt für den Fall, dass die Molecularströme in den Aetherhüllen verschiebbar sind. Sind sie nicht selber drehbar, so würden sie wohl das Molekül in die homodrome (magnetische) Stellung bringen , wenn dessen eigenes Drehungsmoment Null wäre und wenn sie lange genug ein- wirken könnten. Aber ihre Kraft ist viel zu gering, um während der kurzen Zeit etwas gegen die vorhandene Drehung des Moleküls ausrichten zu können. Die Moleküle der Flüssigkeiten besitzen ebenfalls fortschreitende und drehende Bewegungen. Da aber diese Bewegungen viel lang- samer sind als bei den Gasen , so wird auch iln* Einfluss auf das •) Unter Molecularstrom des Moleküls ist hier die Summe der Ströme seiner Atome zu verstehen. 8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 755 magnetische Verhalten der Substanzen ein weniger entscheidendes sein. Das Wasser und viele andere Flüssigkeiten sind diamagnetisch, ein Beweis, dass ihre Meleküle nicht lange genug in der nämlichen Orientirung verharren, um zu gestatten, dass die durch Induction hervorgebrachten antidromen (diamagnetischen) Molecularströme auch noch in die homodrome (magnetische) Lage gedreht werden, oder dass sie eine solche Drehung des ganzen Moleküls verursachen können. Dagegen zeigen sich die Lösungen von Substanzen, die des Magnetismus fähig sind, namentlich von Eisensalzen, magnetisch, wenn sie eine bestimmte Concentration überschritten haben. Be- züglich dieser löslichen Substanzen ist anzunehmen, dass in kurzer Zeit Molecularströme inducirt und orientirt w^erden, wozu besonders die Eisenatome geeignet sind. In den eben gemachten Erörterungen bin ich der Annahme gefolgt, dass im gewöhnlichen Zustande keine eigentlichen /Molecular- ströme« um die Atome kreisen, sondern dass dieselben erst dann in einem Körper entstehen, wenn strömende Elektricität, die sich in der Nähe befindet, auf ihn einwirkt. Indessen ist es ebensowohl möglich , dass die genannten Atomalströme in allen Körpern vor- handen , aber im gewöhnlichen Zustande nach verschiedenen Rich- tungen orientirt sind, so dass sie keine gemeinsame Wirkung ergeben. In diesem Falle hat die äussere Ursache bloss die Atomalströme zu richten, und da die Richtungsfähigkeit in sehr ungleichem Maasse bei den verschiedenen Atomen vorhanden ist, so tritt bald nur die erste Wirkung ein, indem sie in die dem inducirenden Strom gegen- läufige Richtung gedreht werden (Diamagnetismus), bald auch noch die zweite Wirkung, indem sie nachträglich sich umkehren und jenem Strom gleichläufig werden (Magnetismus). 8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. Da die chemischen Atome keine ausdehnungslosen Kraftpunkte sondern vielfach zusammengesetzte Körperchen sind, so ergibt sich die Frage, welche Vorstellung wir uns bezüglich ihrer Grösse und Zusammensetzung zu machen haben. Die Grösse kann in zweifacher Hinsicht Gegenstand der Untersuchung sein ; es fragt sich nämlich, welches Verhältniss zwischen dem Volumen des Atomkörpers und 48* 7o6 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. dem mit Aether gefüllten Raum , der einem Atom in den festen Körpern zukommt, und ferner, welches Grössenverhältniss zwischen den Atomkörpern der verschiedenen chemischen Elemente bestehe. Ich will zuerst auf die letztere Frage eintreten. Man wird von vornherein geneigt sein, den Atomen der verschiedenen Elemente, da sie die kleinsten empirisch untheilbaren und mit einander sich verbindenden Theilchen des ponderabeln Stoffes sind, da sie uns somit als Dinge von gleicher Bedeutung entgegentreten, auch eine un- gefähr gleiche Grösse zuzuschreiben. Dem scheint zwar ihr un- gleiches Gewicht entgegenzustehen, welches bis auf den 2 10 fachen Betrag des -Gewichtes vom Wasserstoff sich abstuft und wohl als eine ihrer auffallendsten Eigenthümlichkeiten bezeichnet werden kann. Dieses ungleiche Atomgewicht veranlasste auch die Vermuthung, dass der Wasserstoff das Urelement und dass die übrigen Elemente aus demselben zusammengesetzt seien. Wäre dies richtig und würde überhaupt das Volumen der Atomkörper vom Gewichte abhängen, so müsste freilich ihre Grösse sehr verschieden sein. Wir dürfen aber das Atomgewicht, wenn es sich um moleculare Dinge handelt, in keiner Weise als maassgebend betrachten ; dasselbe geht mit keiner physicali sehen oder chemischen Eigenschaft parallel und kann auch für die Vorstellung von der Grösse der Atome von keiner oder nur von ganz untergeordneter Bedeutung sein. Im Sinne der gewöhnlichen Mechanik, welche die Masse nach dem Gewicht bestimmt, hat allerdings das Quecksilberatom 200 mal mehr Masse als das Wasserstoffatom. Ich habe aber bereits darauf hingewiesen, dass in den molecularen Gebieten es nicht auf diese Masse, sondern auf die Zahl und Grösse der Amere ankommt, was ich zum Unterschied von der gewöhnlichen Masse als Gehalt be- zeichnete (S. 737). Es wäre leicht möglich, dass das Wasserstoff- atom aus einer grössern Zahl von Ameren zusammengesetzt wäre als das Quecksilberatom, wenn gleiche Grösse der Amere voraus- gesetzt wird, und dass es demnach ein grösseres Volumen besässe als letzteres. Das Atomgewicht gibt uns nur Auskunft über die Differenz der Anziehung und Abstossung, welche zwischen der Erde und den Atomen der chemischen Elemente wirksam sind. Das Quecksilber- atom wird von der Erde mit 200 mal so grosser Kraft angezogen als das Wasserstoff atom. Hiebei kommt die in beiden Atomen ent- 8. Grösse, Gestalt uml Zusammensetzung der Atome. 757 haltene Elektricität gar nicht in Betracht, da die Erde elektrisch neutral ist. Ebenso hat der Ueberschuss der einen Isagität über die andere, wie er in den Atomen des einen und andern Elements vorhanden ist, keine Bedeutung, da die Erde beide Isagitäten in ziemlich gleicher Menge enthalten muss. Als wirksam bleiben somit nur die Gravitationsanziehung und die Aetherabstossung übrig, von denen sowohl jedes der beiden Atome als die Erde bestimmte Mengen enthält, wie ich dies in dem Abschnitt über Agglomeration und Dispersion auseinandergesetzt habe. Es darf aber nicht ausser Acht gelassen werden, dass die Schwere uns stets bloss die Differenz zwischen Anziehung und Abstossung anzeigt und gar keinen Aufschluss über die Mengen der einzelnen Kräfte gibt (S. 71 7 ff.). Das Quecksilberatom enthält nicht etwa 200 mal mehr Gravitationsanziehungseinheiten als das Wasserstoffatom. In dem letzteren können verhältnissmässig mehr oder weniger davon vorhanden sein. Wenn Ä die Summe aller Gravitationskräfte der Erde, JB die Summe ihrer Aetherabstossungskräfte, Ä^ die Summe der Gravitationskräfte eines bestimmten chemischen Atoms und i'i die Summe seiner Aetherabstossungskräfte, m die Masse oder das Gewicht der Erde, m^ die Masse oder das Gewicht eines Atoms be- deutet, so haben wir die Gleichungen: AAi — BBi = mnii , und wenn wir B = uÄ und B^ = tiiÄ^ setzen, Ä {Ä^ — nBi) = 7)1 Ml oder ÄÄi{i — ww,) = mtrh. Diese Gleichungen zeigen uns, wie das verschiedene Atomgewicht zu Stande kommt. Ä, B und n sind für alle Elemente constante Gtrössen, dagegen wechseln, wie man nach den fi'üher angegebenen Gründen annehmen muss, Ä^ und B^ oder, was dasselbe ist, Ai und n^. Ist Wi (das Verhältniss zwischen Ai und 5,) constant, so steigt das Atomgewicht mit der Zunahme von A^. Ist Ai constant, so steigt das Atomgewicht mit der Abnahme von n^, d. h. mit der Abnahme von Bi. Das grössere Atomgewicht zeigt also nicht noth wendig einen grösseren Betrag der Gravitationskräfte an; es kann eben so gut die Folge einer kleineren Summe von Aetherabstossungskräften sein. Man kann sich dies leicht durch Beispiele klar machen. Drei 758 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. verschiedene Atome I, II, III haben die Kraftsiimmen Ä^ und B^, A. und Bi, A-i und B^ und die Atomgewichte nu-, nu und nh. Es sei nun für die Erde A = 1000000000001 Q, B = 1000000000000 Q, ferner : I. A, = 1,001 r/, 5, = 1,000 g, so ist mm, = 1000000001 Qq IL A = 0,1001 g, B, = 0,1000g, mm, = 1000000001 ^g III. A, = 1,001 g, B, = 0,991g, mm, = 10000000001 Qq Es ist also das Atomgewicht von II 10 mal kleiner als dasjenige Ai A. von I, weil A, bei gleichem Verhältniss von ~ und ~ 10 mal -Dl B2 grösser ist als /I2, und das Atomgewicht von A,^ ist 10 mal grösser als dasjenige von Ai weil bei gleichem Betrag von A, und A,, Bi kleiner ist als B^,^). Wenn man auch die Meinung hegen sollte, dass eine grössere Kraftsumme auf ein grösseres Volumen des Atoms hinweise, so kann jedenfalls das Atomgewicht keinen Aufschluss darüber geben. Denn die Schwerkraft, welche das Atomgewicht bedingt, ist ja gegen- über den Elementarkräften, die an dem Atom haften, winzig klein, wie uns die Elasticität, die chemische Anziehung und alle molecularen Erscheinungen beweisen, und wie ich dies in dem Abschnitt über die Schwerkraft für die elektrische Anziehung (S. 723) und für die Cohäsion (S. 726) ziifermässig darzuthun suchte. Das Wasserstoff- atom übt demnach auch bei manchen Vorgängen eine viel grössere Wirkung aus als das 200 mal schwerere Quecksilberatom. Sollte eine Beziehung zwischen der Intensität der wirksamen Kräfte und der Atomgrösse bestehen, so müsste viel eher aus der Adhäsion und der chemischen Anziehung etwas zu folgern sein, als aus der Schwere. Aber die Wirkung sagt überhaupt nichts bestimmtes aus über die Menge der Amere in den Atomen und somit über das Volumen der letzteren, da ja in einer kleineren Zahl von Araeren eben so grosse Ueberschüsse der drei Kraftpaare ent- halten sein können als in einer viel beträchtlicheren Zahl und da die Kraftwirkung nicht bloss von diesen Ueberschüssen, sondern ^) Diese Beispiele sollen bloss in rechnerisclier Beziehung zeigen, wie sich die Dominantenkräfte und die Atomgewichte zu einander verhalten können. Der Einfachheit wegen wurden nicht die Verhältnisse, wie sie in Wirklichkeit be- stehen müssen, sondern willkürliche und unnatürliche Verhältnisse gewählt. 8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 759 SO weit es sich iiin kleinste Entfernungen liandelt, eben so sehr von der Vertheihmg der Elementarkräfte im Atom aljhängt. — Für die Beurtheilung der Grösse der Atome bei den verschiedenen che- mischen Elementen müssen also andere Gesichtspunkte massgebend sein und zwar kommt es dabei, wie ich in der Folge zeigen werde, vorzugsweise auf die ^^orstellung an, welche wir über Gestalt und Zusammensetzung der Atome gewinnen. Was ferner die Frage betrifft, wie sich das Volumen des Atom- körpers zu dem Raum verhalte, den ein Atom mit dem zugehörigen Aether in einem festen oder flüssigen Körper einnimmt, so ist wohl schon die Meinung ausgesprochen worden, dass die Atome winzig klein seien und sich in einem Körper gleichsam wie die Himmels- körper im Weltenraum befänden. Es gibt verschiedene Gründe, welche uns die Unhaltbarkeit einer solchen Annahme darthun, und uns zeigen, dass die Atomkörper einen ganz beträchtlichen Theil des Raumes einnehmen. Ehe ich auf diese Gründe eintrete, ist es zweckmässig, zuerst das Grössenverhältniss zwischen Atom und Molekül festzustellen. Man könnte, da das Molekül in den flüssigen, besonders aber in den gasförmigen Substanzen so deutlich in seiner Einheit hervor- tritt, vielleicht sich vorzustellen geneigt sein, dass die Atome in seiner Mitte zusammengedrängt seien, sodass in festen Körpern die Zwischenräume zwischen den Atomen eines Moleküls viel kleiner wären, als der Abstand zwischen den einander zugekehrten Atomen zweier benachbarter Moleküle. Dass aber diese beiden Abstände nicht sehr ungleich sein können, geht mit vollkommener Sicherheit aus den Thatsachen hervor, dass die Moleküle vieler chemischer Substanzen sich schwerer trennen lassen als die Atome anderer Moleküle, und dass selbst in dem nämlichen chemischen Element die Trennung der Moleküle zuweilen eine fast eben so grosse Kraft erfordert als die Trennung der Atome. Diese Thatsachen sind ent- scheidend , weil in dem Zustande der A^ereinigung Gleichgewicht zwischen den anziehenden und den durch Elasticität abstossenden Kräften besteht und es daher zur Störung des Gleichgewichtes einer um so grösseren Kraft bedarf, je kleiner der Abstand ist und weil 760 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. offenbar die Kräfte, welche die Atome eines chemischen Elementes zu Molekülen verbinden, analoger Natur sind, wie diejenigen, welche diese Moleküle gegenseitig zusammenhalten. In manchen festen Körpern sind die Moleküle selbst so wenig hervortretende Gruppen, dass deren Existenz durch keine Erscheinung sich kund gibt, sondern bloss aus der Analogie vermuthet und nach verschiedenen Voraus- setzungen auch verschieden angenommen wird. Man kann daher ohne merklichen Fehler in der vorliegenden Frage die festen Körper als unmittelbar aus den Atomen zusammengesetzt ansehen. Nach Feststellung dieses Umstandes will ich als ersten Grund für die relativ beträchtliche Grösse der Atomkörper die Festigkeit anführen. In den festen Körpern sind die Atome nicht gegen einander verschiebbar, weil sie an bestimmten Stellen durch stärkere Attraction verbunden sind. Wir müssen uns in dieser Beziehung das Atom als dynamisch-eckig vorstellen, wenn es auch seinen Dimen- sionen nach kugelig sein sollte, denn jene stärkeren Attractions- stellen würden gleichsam dynamische Vorsprünge bilden. Es ist aber kein Grund vorhanden, warum wir die Gestalt nicht, den wirk- samen Kräften entsprechend , wirklich als polyedrisch und eckig betrachten sollten; dadurch werden die Erscheinungen, welche uns die Festigkeit darbietet, viel verständlicher. — Nun wird noth wendig die Festigkeit um so geringer, je grösser die Abstände der Atome sind, da die Anziehung im umgekehrten Verhältniss des Quadrats der Entfernung wirkt. Wäre der Abstand der Atome sehr beträchtlich, so müssten die festen Körper sich wie Gase oder Flüssigkeiten ver- halten; denn die Ungleichheit der Anziehung ihrer verschiedenen Seiten und Ecken würde selbst bei günstigster Gestalt verschwinden. Im Stickstoffgas ist nach der mechanischen Gastheorie der durch- schnittliche Abstand der Moleküle nur etwas mehr wie 14 mal so gross als der Moleküldurchmesser und nur etwas mehr wie 7 mal so gross als der Durchmesser der Cl au sius'schen Wirkungssphäre, welche als eine Hülle betrachtet wird, in welche ein anderes Molekül nicht einzudringen vermag. Ferner wird eine Gasmasse, die sich unter dem Druck einer Atmosphäre befindet, durch den Druck einer zweiten Atmosphäre auf die Hälfte des Volmiiens zusammengepresst, während eine Wassermasse durch den nämlichen Druck ihr Volumen bloss um 48 Millionstel vermindert, und feste Körper im allgemeinen noch weniger zusammendrückbar sind. Daraus ergibt sich un- 8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 761 zweifelhaft, dass in festen und flüssigen Substanzen der Durch- messer der Atomkörper jedenfalls einen sehr beträchtlichen Theil des Durchmessers der Atomvolumen ausmacht. Ein zweiter Grund für die Annahme einer relativ beträchtlichen Grösse der Atomkörper in festen und flüssigen Substanzen ergibt sich aus der Fortpflanzung der Wärme und des Lichtes. Wären die Atome weit von einander entfernt, so müssten alle Substanzen diatherman und durchsichtig sein, weil sie dann die Aetherwellen ungehindert durchgehen liessen. Das Vorhandensein von dunkeln und adiathermanen Substanzen beweist uns, dass die Atomkörper mit ihren Aetherhüllen einen sehr grossen Theil des Raumes erfüllen und somit den Licht- und Wärmestrahlen leicht den AVeg versperren. Einen dritten Grund finden wir in der Leitung der Elektricität. Wenn die Theorie, die ich in dieser Beziehung ausgesprochen habe, richtig ist, so müssen in den guten Leitern die Aetherhüllen der Atome in unmittelbarer Verbindung sein, also sich stellenweise be- rühren. Dies ist nur bei einer relativ beträchtlichen Grösse der Atomkörper möglich. Der vierte und nicht geringste Grund besteht endlich in den besonderen Erscheinungen der chemischen Anziehung, worüber ich auf den folgenden Abschnitt verweise. Wenn mr alle Umstände berücksichtigen, so dürfte für den Standpunkt der Amertheorie folgen, dass die Atomkörper in festen und flüssigen Substanzen bei der Mehrzahl der Elemente -^ bis :j-^ o Ib des Raumes einnehmen und dass ihre Durchmesser sich zum Ab- stände ihrer Mittelpunkte im Mittel wie 1 : 2 bis 1 : 2,5 verhalten, dass also die durchschnittlichen Entfernungen der Oberflächen der Atomkörper (oder die Zwischenräume zwischen denselben) eben so gross bis 1 V2 mal so gross sind als ihre Durchmesser. Bei einzelnen Elementen bleibt die Grösse des Atomkörpers offenbar hinter diesen Verhältnissen zurück, so bei Kalium und Rubidium, oder geht über dieselben hinaus, so besonders bei Kohlenstoff, Bor, Aluminium. Bezüglich der Zusammensetzung der Atome geht die Amertheorie von der Annahme aus, dass die Atomkörper aus einer 762 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. ungeheuren Anzahl , vielleicht aus Billionen von Ameren bestehen. Ueber die Art und Weise des Aufbaues aus diesen Bausteinen gibt uns weder Theorie noch Erfahrung Aufschluss. Bloss bezüglich der nächsten Bestandtheile , also bezüglich des allerletzten Zusammen- setzungsactes finden wir in der verschiedenen Werthigkeit der Elemente einigen Anhalt. Wir können mit Gewissheit annehmen, dass die chemischen Kräfte, durch die sich die Affinitäten oder Verwandtschafts- einheiten äussern, an bestimmte gesonderte Partien der Atomsubstanz gebunden sind; und da ein mehrwerthiges Atom oft vollkommen die Bedeutung von mehreren einwerthigen Atomen hat, so ist es im höchsten Grade wahrscheinlich, dass die melirwerthigen Atome zunächst aus eben so viel Theilen bestehen, als sie Affinitäten be- sitzen , und dass sie gleichsam Verwachsungen von einwerthigen Atomen sind. Diese Annahme wird von der Wirkungsweise der mehrwerthigen Atome mit gebieterischer Nothwendigkeit gefordert. Denn andern Falles müsste jedes mehrwerthige Atom auch als einwerthiges auf- treten können und als solches eine um so grössere chemische Ver- wandtschaft besitzen. Würde beispielsweise das öwerthige Stickstoff- atom nicht aus 5 Partien, jede mit der Kraft eines einwerthigen Atoms , bestehen , wäre es ein ungegliedertes Ganzes mit einer be- stimmten Menge chemischer Kraft, so müsste dasselbe, wie es 5 fremde Verwandtschaftseinheiten aber jede nur schwach anzieht, ein ein- werthiges Atom mit der 5 fachen Kraft festhalten. Dies ergibt sich aus dem Sättigungsvermögen der chemischen Affinitäten, dessen Er- klärung ich im nächsten Abschnitt versuchen werde. Nun wird zwar behauptet, dass es sich beispielsweise mit einem 4 werthigen Atom verhalten könnte wie mit einem Magneten , der 4 Pfund zu tragen vermag , und dem wir ebenfalls nicht 4 Einzel- kräfte zuschreiben dürfen. Doch ist dieser Vergleich nicht zutreffend. Wenn man einen solchen Magneten mit dem Gewicht von 1 Pfund belastet, so hält er es mit 4 mal so grosser Kraft fest als ein Magnet, der nur 1 Pfund zu tragen vermag. Dies lässt sich für das mehr- werthige Atom entschieden nicht behaupten, wie alle chemischen Erscheinungen und auch die Bildungswärmen zeigen. Das 4werthige Kohlen Stoff atom zieht das Sauerstoff atom im Kohlenoxyd nicht mit der nämlichen Kraft, sondern nur mit etwas mehr als der Hälfte der Kraft an, mit welcher es die zwei Sauerstoffatome in der Kohlen- 8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 763 säure anzieht. Für ein 4 werthiges Atom trifft somit nur der andere Vergleich zu, dass es sich nämhch wie eine Combination von zwei gekreuzten Magneten verhalte , deren 4 Pole je 1 Pfund und nicht mehr tragen. Die Affinitäten wirken nicht summirt als Einheit, sondern bloss in ihrer Getrenntheit, und deswegen müssen auch ihre Kräfte räumlich geschieden , also auf besondere Partien des Atoms vertheilt sein. Wir können uns daher die Frage stellen, welche Lagerung diese Theile, die ich, um eine Bezeichnung zu haben, Part icelle nennen will, zeigen, ein Umstand, der in engster Beziehung zur Gestalt der Atomkörper steht. Halten wir uns zunächst an die geometrischen Möglichkeiten, so gibt es für die mehrwerthigen Atome drei Arten, wie die Particelle angeordnet sein können. Die letzteren liegen nämlich entweder in einer Linie hinter einander, oder in einer Ebene neben einander, oder körperlich neben und hinter einander. Im ersten Fall sind die mehr- werthigen Atome gegliederte Stäbchen, jedes Glied einer Affinität ent- sprechend. Im zweiten Fall sind sie Täfelchen, an denen die Ecken die Affinitäten darstellen. Im dritten Fall sind die Atome polyedrisch und den Affinitäten entsprechen ebenfalls die Ecken der Polyeder. Lieber die Lagerungs Verhältnisse der Particelle vermögen uns einige Erwägungen, die sich an die Constitution der A^erbindungen knüpfen, Fingerzeige zu geben. Die Particelle der Atome, als Träger der chemischen Anziehung, wirken im umgekehrten Verhältniss des Quadrats der Entfernung auf einander. Um sich mit einander zu verbinden und sich vollkommen zu sättigen , müssen sie sich un- gehindert nähern können. Ist die ausreichende Annäherung in Folge der besonderen Anordnung der Particelle nicht ausführbar, so mangelt auch die Möglichkeit der Sättigung. Dieser Umstand macht sich um so fühlbarer, da die Affinitäten nicht etwa als Centralkräfte der Particelle wirken, sondern vielmehr in der Nähe der Oberfläche ihren Sitz haben ^). Denken wir uns beispielsweise, dass an einem 4 werthigen Atom 3 Particelle der ausgesprochenen Forderung genügen und dass sie von den Particellen derjenigen Atome, mit denen sie sich verbinden, um den Abstand d getrennt seien, dass aber das 4. Particell, in Folge des supponirten Baues des Atoms, sich seinem Gegenüber in dem ') Vgl. den folgenden Abschnitt über die chemische Verwandtschaft. 764 Kräfte und Gestaltungen im niolecularen Gebiet. Molekül bloss bis aiif den Abstand 2d nähern könnte, so wäre der Coefficient für die Anziehung der drei ersten Particelle -^, für das vierte -r^, . Während also iene ihre volle chemische Verwandtschaft geltend machen könnten, so vermöchte dieses nur den 4. Theil der vollen Verwandtschaft zu erfüllen. Geht nun aus den verschiedenen Erscheinungen, aus der Festigkeit der Verbindungen und aus den Bildungswärmen hervor, dass an dem genannten Atom alle 4 Werthig- keiten gleich gesättigt sind, so ist dies ein Beweis, dass der supponirte Bau desselben unmöglich der richtige sein kann, und dass ein solcher aufgesucht werden muss, der die Annäherung aller Particelle gestattet. Die Anwendung dieser Regel setzt eine genaue Kenntniss von der Constitution der chemischen Verbindungen, d. h. des Baues der Moleküle , und von den Kräften , welche je zwei Particelle mit ein- ander verbinden, voraus. Schreiben wir den Atomen eine stäbchen- förmige Gestalt mit linearer Anordnung der Particelle zu, so lassen sich aus denselben leicht die Moleküle aller Verbindungen herstellen. Dies ist auch noch möglich, wenn die Particelle in einer Ebene liegen und tafelförmige Atome bilden. Dagegen bietet eine poly- edrische Gestalt der Atome mit körperlicher Anordnung der Particelle bezüglich der Constitution der Moleküle manche Schwierigkeiten dar. Wäre beispielsweise ein 4werthiges Metallatom (J/) tetraedrisch ge- baut, so würden die Sauerstoffverbindungen M.Oj, M^^Ot, 31,0, zwar Moleküle von nicht unmöglicher, aber doch von wenig natürlicher Construction geben. — Um mich aber nur an das Einfachste, an die Moleküle der chemischen Elemente im gasförmigen Zustand zu halten, so bestehen dieselben mit w'enigen Ausnahmen aus je 2 Atomen. Sind ihre Werthigkeiten gesättigt, so können ihre Atome nur stäb- chenförmig oder tafelförmig gebaut sein. Hätte beispielsweise ein 4werthiges Atom eine tetraedrische Gestalt, so müsste bei der Ver- einigung von 2 Atomen zu einem Molekül an jedem Atom wenigstens eine Werthigkeit frei bleiben. Betrachtet man aber solche Moleküle als ungesättigte Verbindungen oder zählt man sie zu den Beispielen der wechselnden Valenz, so gehören sie zu den Kategorien, die ich sofort besprechen will. Eine zweite Erwägung betrifft die ungesättigten Verbindungen, bezüglich derer man annimmt, dass ein Theil der Werthigkeiten 8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 765 unter gewissen Umständen frei bleibe, indess dieselben unter andern Bedingungen sich sättigen. Diese Annahme, wenn sie buchstäblich genommen wird, ist aber in \4elen Fällen nicht statthaft, da kein Grund das Freibleiben erklären könnte. Viel wahrscheinlicher ist es mir, dass in den nicht gesättigten Verbindungen stets alle Particelle in Anspruch genommen sind, dass aber 2 oder mehrere gemein- schaftlich die Bindung einer gegenüberstehenden Valenz übernehmen. Dies entspricht auch den Forderungen der Mechanik, nach welchen die Kräfte eines Particells in ihrer Wirkung sich nicht auf ein einziges ihnen opponirtes Particell beschränken können, sondern auch auf die benachbarten Particelle nach Maassgabe der Entfer- nung sich erstrecken müssen. Es gibt unter den Metalloiden und Metallen manche 4werthige Elemente, welche durch ein Atom Sauerstoff halb und durch 2 Atome ganz gesättigt werden. Wären diese Elemente, wie auch wohl an- genommen wurde, tetraedrisch gebaut, so müssten bei der Verbindung mit einem einzigen 2werthigen Atom zwei oder wenigstens eine Werthigkeit in Wirklichkeit frei bleiben, und es wäre nicht ein- zusehen, warum diese freien Particelle sich nicht ebenfalls verbinden sollten. Sind aber die 4 Particelle der 4 werthigen Elemente wie die Ecken eines Quadrats zusammengeordnet (Fig. 31b), so können alle vier sich mit einem aus zwei Particellen bestehenden Atom ver- binden (Fig. 31 c, d). Die Verbindung MO ist aber eine unvollständige, d. h. mit unvollkommen gesättigten Werthigkeiten und sie wird unter günstigen Umständen durch die vollkommen gesättigte iüOo ver- drängt. Es sind daher die »freien Werthigkeiten ,< nicht im wirk- lichen, sondern nur in bildlichem Sinne zu verstehen. Eine dritte Erwägung betrifft die wechselnden Valenzen. Es kommt nämlich, wie bekannt, sehr häufig vor, dass das Atom eines chemischen Elements in verschiedenen Verbindungen eine ungleiche Zahl von Werthigkeiten anderer Atome sättigt. Ich erinnere nur daran, dass Chlor, Brom und Jod in den meisten Verbindungen 1 werthig, mit Sauerstoff aber 3, 5 und 7 werthig sind, dass Schwefel meist 2 werthig, gegenüber Sauerstoff 6 werthig, dass Stickstoff gegen Wasserstoff 3- und gegen Sauerstoff 5 werthig ist. Man kann in diesen Fällen nicht von ungesättigten Verbindungen und freien Werthigkeiten sprechen, weil Chlor niemals mehr als 1 (einwerthiges) 766 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. Atom Kalium, Schwefel nicht mehr als 2 und Stickstoff nicht mehr als 3 (einwerthige) Wasserstoi^atome zu binden vermögen. Trotz dieser Verschiedenheit zwischen dem Begriff der wech- selnden Valenz und dem der ungesättigten Verbindung ist die erstere doch in gleicherweise zu erklären wie die letztere, nämlich dadurch, dass 2 oder mehrere Werthigkeiten eines Atoms sich mit 1 Werthigkeit eines andern Atoms verbinden, und dadurch unfähig werden, andere Werthigkeiten anzuziehen. Wären die mehreren Werthigkeiten nicht in solcher Weise in Anspruch genommen , wären sie wirklich frei, so bliebe es ja ganz unbegreiflich, warum sie nicht anderweitige Ver- bindungen eingehen könnten. Dieser Gesichtspunkt muss, wie ich es schon bezüglich der ungesättigten Verbindungen angedeutet habe, auf die Vorstellung von der Lagerung der Particelle einen ent- scheidenden Einfluss ausüben. Wir dürfen beispielsweise dem Chlor-, Brom- und Jodatom weder eine linienförmige noch eine körperliche Zusammenordnung der Particelle zuschreiben. Wäre das Chloratom stäbchenförmig mit 7 in einer geraden Reihe liegenden Particellen, so könnte ein Wasser- stoffatom, das sich mit dem mittelsten Particell verbände, unmöglich die an den Enden des Stäbchens befindlichen Particelle auch nur einigermaassen sättigen, und man würde nicht einsehen, warum nicht auch Wasserstoffatome sich wenigstens mit diesen Endparticellen verbinden könnten, so dass sich statt des Moleküls CIH, ein Molekül CIH3 bildete. Lägen aber die 7 Particelle körperlich beisammen, so dass sie etwa die Stellung von 7 einigermaassen gleichmässig über die Oberfläche einer Kugel vertheilten Punkten hätten, so könnte ein Wasserstoffatom bloss die auf der einen Seite des polyedrischen Chloratoms liegenden Particelle bis auf einen gewissen Punkt sättigen, und es müsste wenigstens noch ein zweites Wasserstoffatom auf der entgegengesetzten Seite des Polyeders eine Verbindung eingehen können, so dass das Molekül CIH2 entstände. Sind dagegen die 7 Particelle in einen einfachen Kreis uni den Mittelpunkt des tafel- förmigen Atoms gelagert (Fig. 31jj), so kann ein zutretendes Wasser- stoffatom sich allen gleichmässig annähern und sich mit allen ver- binden (Fig. 31 7), so dass das Chloratom keinem zweiten Wasserstoff- atom zugänglich ist. Für den 2- und 6 werthigen Schwefel gilt eine ganz analoge Schlussfolgerung. Die 6 Particelle können weder linienförmig zu 8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 767 einem Stäbchen, noch körperhch zu einem Octaeder zusammengestellt sein; in dem einen und andern Falle Hessen sie sich nicht durch ein 2werthiges Atom (wie z. ß. im Baryumsulfid) sättigen. Die Wahrscheinlichkeit spricht auch hier dafür, dass die 6 Particelle in einer Ebene und zwar in 2 Gruppen von je 3 einander gegenüber liegen (Fig. 3 1 e). Jede dieser Gruppen kann durch ein 1 werthiges Atom (Fig. 31//) und beide zusammen durch die 2 Particelle eines 2werthigen Atoms [Fig. 31 f\g) so weit gesättigt werden, um eine weitere Verbindung unmöglich zu machen. Ist nun , wie ich gezeigt habe , die flächenförmige Anordnung der Particelle in manchen Fällen eine nothwendige Hj-pothese, so dürfte sie wohl für alle mehrwerthigen Atome anzunehmen sein, da wahrscheinhcherweise die chemischen Elemente alle nach der gleichen Regel gebildet sind. Dann ordnen sich die mehrwerthigen Atome bezüglich ihres Baues in zwei Reihen, von denen die eine eine gerade Zahl von Particellen und einen Wechsel zwischen ge- raden Valenzen, die andere eine ungerade Zahl von Particellen und vorzugsweise einen Wechsel zwischen ungeraden Valenzen aufweist. Die Particelle eines Atoms sind übrigens sehr häufig ungleich aus- gebildet (wenn die äussere Form den wirksamen Kräften entsprechend angenommen wird). Dadurch erklärt sich, dass das nämliche Atom 3-, 5- und 7 werthig auftritt und dass die Werthigkeiten, auch wenn sie sich alle verbinden , eine ungleiche Bedeutung haben , indem beispielsweise die Schwefelsäure 2 basisch, die Salpetersäure 1 basisch, die Phosphorsäure 3 basisch ist. In Fig. 31 sind die wichtigsten Beispiele für den Bau der Atome, wie er nach der entwickelten Hj'pothese wahrscheinlich ist, dargestellt. a ein 2 werthiges (aus 2 Particellen bestehendes) Atom , beispiels- weise ein Sauerstoffatom ; die Werthigkeiten sind mit 0,0 bezeichnet, und diese Bezeichnung tragen auch die Sauerstoffatome in allen übrigen Figuren , welche Sauerstoffverbindungen darstellen, b ein 4 werthiges Atom, c ein Molekül von der Zusammensetzung MO, wenn M 4 werthig ist, von vorn gesehen (das Sauerstoffatom ist dem Beobachter zugekehrt), d das nämliche Molekül, von der Seite ge- sehen; die pmiktirten Linien zeigen hier, wie in allen folgenden Figuren, die Bindungen an. e ein 6 werthiges Atom (z. B. ein Scliwefel- atom) mit 2 ausgezeichneten Particellen, welche durch -|- -\- bezeichnet sind, f ein Molekül Baryumsulfid (BaS), von vorn gesehen (das 768 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. Baryumatom, mit AA bezeichnet, ist dem Beobachter zugekehrt). g das nämhche Molekül, von der Seite gesehen, h ein Molekül Schwefelwasserstoff (H,S). i ein Molekül Schwefelsäure (SOiH.), die Hydroxyl- tragenden Particelle sind mit -\--\- bezeichnet, k ein öwerthiges Atom mit einer ausgezeichneten Werthigkeit (-]-), bei- spielsweise ein Stickstoff atom. l ein öwerthiges Atom mit 3 ausgezeich- neten Werthigkeiten (-|- + +)) beispielsweise ein Phosphoratom, m ein Molekül Ammoniak (NH^). n ein Molekül Salpetersäure ; das Hydroxyl- tragende Particell ist mit -(- bezeichnet, o ein Molekül Phosphor- säure, + ++ die Hydroxyl-tragenden Particelle. p ein Twerthiges 8. Grösse, Gestalt und Zusammensetzung der Atome. 769 Atom mit ziemlich gleichen Particellen, welches meistens als ein- werthig functionirt, beispielsweise ein Chloratom, q ein Molekül Chlorkalimn (CIK); das Kaliumatom ist dem Beobachter zugekehrt. r ein Twerthiges Atom mit einer ausgezeichneten Werthigkeit (-|-); es ist dies eine andere Vorstellung, die man sich von dem Chloratom machen kann, und wobei sich das Kaliumatom in gleicher Weise auf die 7 Particelle legen würde wie in q. s ein Twerthiges Atom mit 3 ausgezeichneten Werthigkeiten (-(- -f- -\-). t ein Molekül Chlor- säure , wenn das Chloratom nach dem Typus r gebaut ist ; -\- das Hydroxyl-tragende Particell. — Zu diesen bildlichen Darstellungen ist zu bemerken, dass sie, schematisch gehalten, nur den Bau des Atoms und die Verbindungen zwischen den Werthigkeiten andeuten, aber weder über die relativen Entfernungen der Atome noch über die relative Lage derselben Aufschluss geben sollen. Die vorstehenden Ausführungen werden genügen , um deutlich zu machen, wde ich mir den Bau der Atome denke, und zugleich den Beweis liefern, dass dieser Bau den Anfordermigen der Con- stitutionschemie vollkommen entspricht. Sie waren aber nothwendig, um für die Hypothese der chemischen Wirkung, wie sie sich nach der Amertheorie gestaltet, eine feste Unterlage zu gewinnen. Die gewonnenen Vorstellungen über Bau und Gestalt der Atom- körper geben mü* Veranlassung, auf die Frage zurückzukommen, wie sich die Grösse derselben bei verschiedenen Elementen zu ein- ander verhalte. Man kennt zwar das Atomvolumen der meisten Elemente, d. h. den Raum, welchen der Atomkörper sammt dem um- gebenden ponderabeln Aether in festen und flüssigen Körpern ein- nimmt. Aus diesem Atomvolumen lässt sich aber kein sicherer Schluss auf den Atomkörper machen. Dasselbe ist die Sunmie aus den Volumen des Atomkörpers, der Aetherhülle und des zugehörigen Zwischenraums zwischen den Hüllen. Die Aetherhüllen haben nun bei den verschiedenen Elementen eine ungleiche Mächtigkeit, da dieselbe von der Natur und Vertheilung der anziehenden und ab- stossenden Kräfte im Atomkörper abhängt. Die Grösse des Zwischen- raumes zAdschen den Aetherhüllen aber wird mitbedingt durch die Schwingungsweite der Atomkörper und letztere bei gleicher Beschaffen- heit des äusseren Aethers durch die Kraftbegabung der Atomkörper. V. Nägeli, Abstammungslehre. 49 770 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. Wenn daher, um extreme Beispiele anzuführen, Kahum ein Atomvolumen von 45,5 und Rubidium von 56,3 haben, dagegen Kohlenstoff (im Diamant) ein solches von 3,4, Aluminium von 5, Nickel von 6,6, so darf man deswegen noch nicht folgern, dass die Atomkörper der beiden ersteren Elemente diejenigen der drei letz- teren merklich an Grösse übertreffen. Dagegen wird die Mächtigkeit der Aetherhüllen und die Schwingungsweite bei den ersteren viel beträchtlicher sein als bei den letzteren. Bezüglich der Vorstellungen über die Grösse der Atomkörper bei den verschiedenen chemischen Elementen müssen wir, da uns andere entscheidende Gründe im Stiche lassen, jedenfalls ein Haupt- gewicht auf Bau und Gestalt in Vergleichung mit der Wirkungsweise legen. Die Grösse ist so zu bemessen, dass sie die hinreichende An- näherung der sich verbindenden Particelle gestattet, besonders dann, wenn sich sehr feste Verbindungen bilden. Man hätte die Ver- muthung hegen können, dass die Particelle mehrwerthiger Atome, da dieselben im Grunde verwachsene einwerthige Atome darstellen, als die richtigen chemischen Einheiten auch von gleicher Grösse seien. Allein dem widersprechen die wechselnde Valenz und die chemische Sättigung mehrerer Particelle durch ein einziges. Wir kommen vielmehr unter Berücksichtigung aller Umstände zu der Ueberzeugung , dass die Grösse der Atomkörper bei den verschie- denen chemischen Elementen einen mittleren Werth einhalten muss zwischen der Gleichheit der Atome und der Gleichheit der Particelle, dass also ein 1 werthiger Atomkörper grösser ist als das Particell eines mehrwerthigen, und dass im allgemeinen der Atomkörper mit der Zunahme der Particellzahl an Grösse zunimmt. Doch muss letztere Regel jedenfalls Ausnahmen zulassen. Es ist also ein 2 werthiger Atomkörper grösser als ein 1 werthiger, dagegen kleiner als zwei 1 werthige zusammen. Aber ein 7 werthiger Atomkörper, welcher auch 1-, 3- und öwerthig functionirt, dürfte nur wenig grösser sein als ein 4 werthiger, der stets seine vier Werthigkeiten geltend macht. Mit Rücksicht auf die Zusammensetzung der mehrwerthigen Atome drängt sich noch die Frage auf, in welcher Art die Particelle mit einander zusammenhängen, ob sie durch Zwischenräume ge- trennt, ob und in welchem Grade sie gegen einander beweglich seien. Hierüber gibt uns die specifische Wärme einigen Aufschluss. 9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome. 77l Bekanntlich verbraucht ein Atom der verschiedenen chemischen Elemente, wenn die Temperatur um einen Grad steigt, eine gleiche Wärmemenge, welche sich in Bewegung umsetzt. In den Molekülen ferner wird ein um so grösserer Theil der Molecularwärme für innere Arbeit (Disgregation) verwendet, je grösser die Zahl ihrer Atome ist. Wäre nun die Vereinigung der Particelle zu mehrwerthigen Atomen ähnlicher Art, wie die Vereinigung der Atome zu Molekülen, so müsste die Atomwärme um so grösser sein, aus je mehr Particellen ein Atom besteht. Da dies nicht der Fall ist, so folgt unzweifelhaft, dass die Wärme keinen Einfluss auf die gegenseitige Lage der Particelle ausübt und dass auch ein mehrwerthiges Atom nicht durch irgend welche Temperatur zersetzt werden könnte. Es folgt daraus aber nicht, dass die Particelle eines Atoms sich unmittelbar berühren, noch auch, dass die kleineren Theile eines Atoms der Bewegung ermangeln. Es ist aus verschiedenen Gründen wahr- scheinlich und wird namentlich auch durch die Theorie der chemi- schen Verwandtschaft gefordert, dass die Amere und Amergruppen, aus denen die Atome zusammengesetzt sind, sich bewegen. Ihre Bewegungen müssen schwingende, drehende und fortschreitende sein ; ein Theil der Amere und Amergruppen wird also innerhalb des Atomkörpers wandern und seinen Platz wechseln können. Aber diese Bewegungen werden nicht durch die Wärmeschwingungen des Aethers, welche nur auf den ganzen Atomkörper mrken, beeinflusst, sind also auch durch die W^ärme weder nachweisbar noch messbar. Da- gegen werden dieselben durch die Einzelstösse der Aethertheilchen (S. 731) erregt, indem die lebendigen Kräfte der Amere und Amer- gruppen ausserhalb und im Innern eines Atoms sich gegenseitig auf einander übertragen und sich stetsfort ins Gleichgewicht setzen. Grösser als im Atomkörper ist die Beweglichkeit der Theilchen in der Aetherhülle. Was die Verbindung der Particelle betrifft, so ist es mir wahrscheinlich, dass ein Zwischenraum zwischen denselben vorhanden und dass dieser Zwischenramn mit ponderabelm Aether von der gleichen Beschaffenheit wie im innersten Theil der Aether- hülle erfüllt sei. 9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome. Wenn wir uns eine Vorstellung über die Entstehung der chemischen Atome bilden wollen , so mangeln uns dafür die wich- 49* 772 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. tigsten Anhaltspunkte , nämlich einerseits eine Einsicht in die bei der Agglomeration der Amere wirkenden Ursachen, und andrerseits eine genauere Kenntniss des Productes. Bezüglich des letzteren Punktes wissen wir, abgesehen von der Zusammensetzung aus Parti- cellen, nicht, ob die Substanz der Atome homogen oder ob sie in irgend einer bestimmten Weise gegliedert ist , in der Art , dass die Amere erst zu kleineren Systemen zusammentraten, aus deren Ver- einigung dann das Particell sich aufbaute. Es lassen sich daher von Seite der Amertheorie nur, soweit die Erfahrung genügende An- deutungen gibt, einigermaassen sichere Hypothesen aufstellen. Wie ich früher ausgeführt habe, ballen sich die ponderabeln Amere in Folge der Anziehung, die sie in der ursprünglichen Zer- streuung auf einander ausüben, zusammen. Wegen der Elasticität, die wir ihnen zuschreiben müssen , legen sie sich dabei nicht un- mittelbar an einander an; sondern führen innerhalb der Systeme, zu denen sie zusammentreten, theils schwingende und drehende, theils kreisende und überhaupt fortschrittliche Bewegungen aus. Je grösser eine Gruppe wird, um so langsamer muss ihre Gesammt- bew^egung sein. Die lebendigen Kräfte , welche die einzelnen Amere in der Zerstreuung besassen, sind zum kleinern Theil in die lebendige Kraft der ganzen Gruppe, zum grossem Theil in die lebendigen Kräfte der internen Bewegungen übergegangen. Das Wachsthum der Gruppen geschieht ohne Zweifel sowohl dadurch, dass sie sich mit einander vereinigen, als dadurch, dass einzelne Amere in dieselben eintreten. Soweit entspricht die Entstehungsgeschichte der Atome den mechanischen Folgerungen aus den von der Amertheorie gegebenen Prämissen. Für alle ferneren und ins Einzelne gehenden Vor- stellungen besteht nur grössere oder geringere Wahrscheinlichkeit, die sich vorzüglich aus den Erfahrungsthatsachen ergibt. Sowie die Amergruppen anwachsen und sich langsamer bewegen, wird sich um dieselben nach und nach die ponderable Aetherhülle anlegen, deren Amere mit schwächeren Attractionskräften begabt und daher beweglicher sind als die Amere der Gruppen selber. Bei der Ver- schmelzung von Amergruppen wird diese beginnende Aetherhülle wieder verdrängt. Hat sie aber um die grossen und langsam sich bewegenden Gruppen eine gewisse Mächtigkeit erlangt, so gestattet sie wohl noch die feste Vereinigung derselben, ohne aber selber 9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome. 773 ganz verdrängt zu werden. Solche Gruppen stellen "nun die Parti- celle eines Atoms dar. Ist die Aetherhülle noch mächtiger geworden, so hat die Gruppe die Eigenschaft des Atoms erlangt; sie kann nicht mehr mit andern Gruppen fest verw^achsen, sondern nur noch lockere und löshare Vereinigungen mit andern Atomen bilden , wie wir sie als Moleküle kennen. Es ist fast unzweifelhaft, dass die Atome der verschiedenen chemi- schen Elemente nicht gleichzeitig und auch nicht an dem nämlichen Ort entstanden sind , und dass sie ihre ungleichen Eigenschaften der nach Zeit und Ort ungleichen Beschaffenheit der anfänglichen gasartig zerstreuten Substanz verdanken. Diese Beschaffenheit hängt aber von den Mengenverhältnissen der dynamisch ungleichen Amere ab. Vielleicht lässt sich nun annehmen, dass je ein bestimmtes A'olumen von dem atombildenden Himmelsraum, dessen Grösse von der Bewegung und der Anzielmng der Amere bestimmt wurde, das Material für ein Atom lieferte und dass dadurch die in jeder Be- ziehung gleiche Beschaffenheit und Grösse der Atome eines Ele- mentes sich erklärt. Die chemischen Elemente sind familienweise näher mit einander verwandt, wobei sich gewisse abgestufte Eigenschaften in den ver- schiedenen Familien wiederholen, was zur Aufstellung des periodischen Systems Veranlassung gegeben hat. Diejenige der wechselnden Eigen- schaften, die am meisten hervortritt, ist das Atomgewicht. Ich er- innere an die Elemente folgender fünf Familien mit den beigesetzten Atomgewichten. Caesium Rubidium Kalium . Natrium Lithium 133 85,4 39,1 23 II Barvum . . . 137 Strontium . 87,5 Calcium . . 40 ! Magnesium . 24 Beryllium . . 14 in Wismuth Antimon Arsen Phosphor Stickstoff 210 122 75 31 14 lY Tellur 129 Selen 79,5 Schwefel .... 32 Sauerstoff ... 16 Jod 127 Brom 80 Chlor 35,5 Fluor 19 Zur Erklärung des wechselnden Atomgewichts in jeder Familie möchte ich es für sehr wahrscheinlich halten, dass die einer Familie an- gehörenden Elemente sich in dem nämlichen Himmelsraum, aber 774 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. nach einander in verschiedenen Zeitperioden gebildet haben. Und zwar sind nach meiner Ansicht je die Elemente mit dem höheren Atomgewicht zuerst entstanden, weil die Amere mit grösserer Gravitationsanziehung immer das lebhafteste Bestreben zur Ver- einigung besitzen. Der betreffende Himmelsraum wurde nach und nach ärmer an Ameren mit stark überwiegender Gravitation und zuletzt war nur noch Material für leichte Atome vorhanden. In den fünf aufgeführten Familien ist stets das oberste Element das zuerst gebildete , das unterste das letzte. Ihre übereinstimmenden Eigenschaften verdanken die Glieder einer Familie dem Umstände, dass sie unter den nämlichen Verhältnissen, d. h. nach einander in dem nämlichen Himmelsraum, entstanden sind. Die Elemente der aufgeführten Familien zeigen die bemerkens- wertlie Erscheinung, dass das Atomgewicht der früher gebildeten ungefähr ein Vielfaches des Atomge\vdchtes der spätem darstellt. Doch lässt sich das Verhältniss keineswegs als ein bestimmtes mathematisches ansehen und auch niclit durch eine Formel aus- drücken. Die rasche Abnahme des Atomgewichtes deutet mög- licherweise darauf hin, dass ausser der angegebenen Ursache noch eine andere mitgewirkt hat, dass nämlich je die früheren Glieder einer Familie nicht bloss Amere mit grösserer Gewichtsanziehung enthalten , sondern dass auch eine grössere Zahl von Kernen sich zur Anlage eines Particells oder eines Iwerthigen Atoms vereinigt haben. Damit würde dann in begreiflichem Zusammenhange stehen, dass in der nämlichen Familie die Elemente mit grösserem Atom- gewicht auch einen etwas grösseren Atomkörper besitzen, was in der That der Fall zu sein scheint. Es trifft meistens zu", dass innerhalb derselben Familie der Raum , der in dem festen Aggregatzustande auf ein Atom sammt dem zugehörigen Schweräther sich berechnet und den man als Atom- volmnen bezeichnet, mit dem abnehmenden Atomgewicht kleiner wird. Dies ist zwar noch kein sicherer Beweis, dass auch die Atom- körper der verschiedenen Elemente ein solches Verhalten zeigen. Denn das Atomvolumen bei einer bestimmten Temperatur hängt nicht bloss von dem Volumen der Atomkörper, sondern ebenso sehr von der Dicke der Aetherhülle und von der Grösse der Anziehung zwischen den Atomen ab. Zu dem uns bekannten Resultat der Raumerfüllung wirken also drei bezüglich ihrer Grösse unbekannte Factoren zusammen. 9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome. 775 Auf die letzteren beiden Factoren, Aetherhülle und Anziehung, lässt sich aus einer anderen Erscheinung theilweise ein Schluss ziehen. Der Zusammenhang zwischen den Molekülen ist, gleiche Temperatur vorausgesetzt, um so fester, je grösser die Anziehung zwischen denselben und je dünner die Aetherhülle, welche ihre An- näherung verhindert. Ueber die Festigkeit des Zusammenhanges, somit über die gemeinsame Wirkung der Anziehung und der Aether- hülle, geben uns die Temperaturen des Schmelz- und Siedepunktes Aufschluss. Meistens zeigt sich nun bei den Gliedern einer Familie, dass mit dem Sinken der Atomgewichte auch die Festigkeit des Zusammenhanges zwischen den Molekülen sich stetig verändert, aber bei den einen Familien wird die Festigkeit grösser, bei den anderen kleiner. Als Beispiel führe ich vier Elemente einer der vorhin aufgezählten Familien an: Atomgewicht Atomvolumen Atomdurchmesser Schmelzpunkt Rubidium . . . 85,4 56,3 3,8 38» Kalium . . . . 39,1 45,5 3,6 58 Natrium . . . . 23 23,7 2.9 95 Lithium . . . . 7 11,7 2,3 180 Diese Familie zeichnet sich aus durch eine ungewöhnlich starke Abnahme der Atomvolumen, wie sie in gleicher Weise sonst nur bei den vier Elementen einer anderen Familie (Strontium, Calcium, Magnesium und Beryllium) auftritt. Ich habe in der dritten Vertical- columne unter dem Namen »Atomdurchmesser« den mittleren Durch- messer des Atomvolumens beigefügt. Man könnte aus der grossen Verschiedenheit der Atomvolumen Zweifel schöpfen, wie es möglich sei, dass so ungleich grosse Atonje in ihren Verbindungen sich gleich verhalten. Die Vergleichung der mittleren Atomdurchmesser zeigt, dass die maassgebenden linearen Dimensionen durchaus nicht so sehr abweichen. In dem vorliegenden Falle sind aber jedenfalls die Durchmesser der Atomkörper noch weniger verschieden als die Durchmesser der Atomvolumen. Es lässt sich nämlich aus der niedrigeren Schmelztemperatur der Elemente mit grösserem Atom- gewicht und Atomvolumen mit Wahrscheinlichkeit auf eine grössere Mächtigkeit der Aetherhülle und des Zwischenhülläthers schliessen, wodurch die Durchmesser der Atomkörper verhältnissmässig kleiner werden, als man es nach den angeschriebenen »Atomdurchmessern« erwarten könnte. 776 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. Nun gibt es aber auch Familien , in denen das Gegentheil auftritt, indem mit der Abnahme der Atomgewichte und der ohne Zweifel parallel gehenden Abnahme der Atomvolumen auch der Zusammenhang der Moleküle geringer wird, so dass die Moleküle des leichtesten Elements die grösste Beweglichkeit besitzen. Dies zeigt sich bei der Vergleichung des (gasförmigen) Sauerstoffs mit Schwefel und Selen, des (gasförmigen) Stickstoffs mit Phosphor und Arsen, des Chlors mit Brom und Jod. Hier haben mit grosser Wahrscheinlichkeit die leichteren Elemente eine grössere Mächtigkeit der Aetherhüllen und des Zwischenhülläthers als die schwereren und es kommen ihnen daher kleinere Atomkörper zu, als es nach dem Atomvolumen scheinen möchte. Es ist übrigens nicht ausser Acht zu lassen, dass das Gesagte nur von dem Zusammenhang der Moleküle und somit von der Mächtigkeit der Aetherhüllen und des Zwischenhülläthers zwischen den Molekülen, und nicht zwischen den beiden Atomen des näm- lichen Moleküls, gilt. Die Festigkeit, mit der die Atome zum Molekül vereinigt sind, lässt sich meistens nicht bestimmen, und daher bleiben wir auch über die Mächtigkeit des ponderabeln Aethers auf dieser Seite des Atoms und über die Folgerung, die sich daraus für die Grösse der Atomkörper ergibt, im Unklaren. Gleichwohl ist es, wenn alle Umstände in Erwägung gezogen werden, sehr wahrscheinlich, dass bei gleicher Construction der Atome, wie wir sie bei den verwandten Elementen derselben Familie voraussetzen können, dem grösseren Atomgewicht auch eine etwas beträchtlichere Grösse des Atomkörpers entspricht, und dass daher eine Verschmelzung von Agglomerationskernen bei iier Entstehung derselben wohl an- zunehmen ist. Ich habe die Theorie aufgestellt, dass die chemischen Elemente, die ihrer Verwandtschaft nach zu derselben Familie gehören, in dem nämlichen Himmelsraum und in der nämlichen Weltperiode und zwar zuerst diejenigen mit grösserem, nachher diejenigen mit kleinerem Atomgewicht entstanden sind. Es ist mir wahrscheinlich, dass eine ähnliche Regel auch für die Elemente der verschiedenen Familien gilt, und dass im allgemeinen bei dem Agglomerations- process zuerst die schwereren und nachher die leichteren Elemente sich gebildet haben. Daher wäre die Familie, zu welcher Platin, Iridium, Osmium gehören, als eine der ältesten, der Wasserstofi 9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome. 777 dagegen, den man früher als das Urelement in Anspruch zu nehmen geneigt war, als das jüngste aller Elemente zu betrachten. Derselbe bildete sich erst, als der Himmelsraum an Ameren mit wirksamer Gravitationsanziehung nahezu erschöpft war. Gemäss ihrer Entstehungsw^eise sind die Atomkörper aus Ameren und Amergruppen zusammengesetzt, welche, wie schon gesagt, sich nicht ruhend gegen einander verhalten, sondern in allen möglichen Bewegungen begriffen sind , da die lebendige Kraft , welche die Amere in dem ursprünglichen Zustande der Zerstreuung besassen, später vollständig als lebendige Kraft im Innern der Agglomera- tionsmassen sich wiederfindet. Von der ursprünglichen Geschwin- digkeit der Amere ist dem Atom als Ganzem nichts übrig geblieben; dasselbe gehört einer andern Grössenordnung an und wird bloss durch die Massenschwingungen des Aethers in Bewegung gesetzt. Die Beweglichkeit der Theilchen im Atomkörper steht nicht im Widerspruch mit der Erfahrung der Physik und Chemie, welche uns die Atome und ihre Particelle in ihren wesentlichen Eigen- schaften als constant zeigt. Denn einem System aus beweglichen oder bewegten Theilchen kann jede beliebige Festigkeit und Dauer- haftigkeit zukommen. Die Beweglichkeit der Theilchen wird übrigens nicht bloss von der Theorie, sondern auch von der Erfahrung ge- fordert. Die Eigenschaften der Atome sind nämlich nur innerhalb gewisser Grenzen beständig, und ihre Veränderlichkeit innerhalb dieser Grenzen lässt sich, wie ich in dem folgenden Abschnitt über die chemische Verwandtschaft zeigen werde, nur aus der Beweg- lichkeit der Theilchen innerhalb der Atomkörper erklären. Aus dem Grade der Beständigkeit und Unbeständigkeit der Eigenschaften, namentlich der gleichen und ungleichen dynamischen Wirkungen, welche die verschiedenen Seiten eines Atoms, wie sich aus dem Studium der chemischen Verbindungen ergibt, bethätigen können, lässt sich folgende Beschaffenheit des Atomkörpers folgern. Derselbe ist im allgemeinen ein festes und unveränderliches System, indem ein grosser Theil seiner Amere und Amergruppen zwar nicht unbeweglich mit einander verbunden sind, aber doch, ohne ihren Platz zu verlassen, schwingende, wohl auch kreisende Bewegungen ausführen. Ein anderer Theil der Amere und Amergruppen ist 778 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. fortschrittsbeweglich, indem dieselben durch den Atomkörper wandern können, in der Art, dass sie ihre Stellungen mit einander vertauschen. Bei einer solchen Beschaffenheit erscheint es als unvermeidlich, dass die flüchtigsten Theilchen auch den Atomkörper verlassen können, wobei sie von anderen Theilchen, die von aussen eintreten, nach Bedürfniss ersetzt werden. Die Wanderung der Amere im Atomkörper hat zur Folge, dass die Anziehungen und Abstossungen, welche derselbe auf die Umgebung ausül)t, innerhalb gewisser Grenzen wechseln, sei es dass sie an der ganzen Überfläche, sei es dass sie an bestimmten Seiten grösser oder kleiner werden. Denn die dynamische Einwirkung berechnet sich für jedes einzelne Amer nach der Entfernung, und kann daher nur für grössere Abstände ohne merklichen Fehler als Wirkung von Centralkräften des Atoms betrachtet werden. Die ponderable Aetherhülle, welche den Atomkörper umgibt, wird von der Anziehung des letzteren festgehalten. Da die An- ziehung auf verschiedenen Seiten ungleich ist, so muss auch die Mächtigkeit der Aetherhülle verschieden sein, und da jene mit der Zeit wechselt, so muss auch diese im ganzen oder an einzelnen Stellen zu oder abnehmen. Obwohl die Aetherhülle als Ganzes durch den Atomkörper festgehalten wird, sind doch ihre Theilchen, wenn sie auch namentlich in den innersten Schichten oft nur schwingende Bewegungen ausführen, doch vollkommen fortschritts- beweglich, indem sie gegenseitig den Platz wechseln, und ferner besonders aus den äussersten Schichten die Hülle verlassen' und durch andere Theilchen ersetzt werden. — Da die Aetherhüllen mit einer beträchtlichen Kraft an die Atomkörper gebunden sind, so verhindern sie die vollständige Annäherung dieser letzteren an einander; sie werden aber bei den Schwingungen der Atome ab- geplattet und in geringem Grade zusammengedrückt. Der Raum, in welchem die Bewegungen der Atomkörper und ihrer Aetherhüllen stattfinden, ist mit dem ponderabeln Zwischen- hülläther ausgefüllt. Derselbe wird in den festen Körpern von den schwingenden Atomen, in den Flüssigkeiten von den schwingen- den Atomen und den fortschreitenden Molekülen hin und her ge- schoben, indem seine Theilchen wegen der vollkommenen Elasticität und grossen Beweglichkeit nur einen sehr geringen Widerstand zu leisten vermögen. 9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome. 779 Die Atome sind, soweit unsere Erfahrung reicht, rücksichthch ihrer allgemeinen Eigenschaften constant. Da sie dieselben aber, ebenfalls erfahrungsgemäss, durch Umlagerung ihrer Theilchen inner- halb bestimmter Grenzen verändern, so wäre es nicht unmöglich, dass sie infolge der Wanderung ihrer Theilchen zwar langsam und unmerkhch, aber doch dauernd sich umwandelten. Dies ist namentlich auch deshalb leicht denkbar, da der Atomkörper gegen aussen nicht vollkommen abgeschlossen ist. Wenn Theilchen aus- treten und andere eintreten, so lässt sich denken, dass die aus- tretenden durch solche von anderer Beschaffenheit ersetzt werden, und dass die Folge eines solchen lang andauernden Austausches die bleibende Umstimmung des Atomkörpers ist. Eine solche Um- stimmung dürfte zuerst durch ihre Wirkung auf die AetherhüUe bemerkbar w^erden, indem diese ihre Mächtigkeit und ihre Eigen- schaften verändert. Von der Beschaffenheit der AetherhüUe wird wesentlich die Festigkeit des Zusammenhanges, also Aggregatzustand, Schmelz- und Siedepunkt bedingt. Wir haben keinen Grund an- zunehmen, dass die chemischen Elemente nicht mit der Zeit eine langsame Erhöhung oder Erniedrigung ihrer Schmelz- und Siede- temperaturen erfahren. — Es können aber infolge des Stoffwechsels mit der Zeit noch bedeutendere Umbildungen in den Atomkörpern erfolgen, so dass die chemischen Elemente wesentlich andere Eigen- schaften annehmen. Jedenfalls dürfen wir den Atomen keine absolute Beständigkeit zuschreiben; dieselben müssen, .wie alle Individuen der endlichen Welt, der A^eränderung unterworfen und in ihrer Individualität dem Untergange geweiht sein. Diese Frage hat eine grosse naturphilosophische Bedeutung^). Wenn die Atome in ihren Eigenschaften constant wären, so ginge die Welt ihrem entropischen Ende entgegen. Sind sie aber ver- änderlich, so tritt früher oder später in der jetzt herrschenden entropischen Weltentwicklung ein Umschwamg ein, und es folgt auf die positive eine negative Entropie. — Die A^eränderung der Atome kann auf zweierlei Art herbeigeführt werden. Die eine Mög- lichkeit besteht darin, dass der Atomkörper unter den jetzt be- stehenden Verhältnissen infolge der Configurationsumwandlungen, ') Ich verweise auf den 3. Zusatz zu der Abhandlung »Die Schranken der naturwissenschaftlichen Erkenntniss« S. 615. 780 Kräfte und Gestaltungen im rnolecularen Geriet. die er mit Hülfe der äusseren Einwirkungen durchmacht, mit Noth- wendigkeit zu einer dauernden Umbildung geführt wird. In diesem Falle geht die Veränderung äusserst langsam und in verschiedenen chemischen Elementen in ungleichem Sinne vor sich. Die andere Möglichkeit dagegen ist die, dass die gegenwärtige Beschaffenheit der Atome einen stationären Gleichgewichtszustand zwischen der Substanz derselben und dem Weltäther, in dem unser Sonnensystem sich befindet, darstellt, und dass dieselbe daher nur eine Veränderung erfahren kann, wenn der Weltäther eine andere Natur annimmt. Nun hat aber der Aether in der unendlichen Welt gewiss nicht überall die nämliche Zusammensetzung, nicht genau die nämlichen Gesammtmengen der sechs Elementarkräfte und nicht das nämliche Verhältniss dieser Kräfte in den Aethertheilchen. Ferner ist der Weltäther als Gesammtmasse gewiss nicht in Ruhe ; es finden Massen Strömungen statt, oder, was den nämlichen Effect gewährt, unser Sonnensystem kommt in fremde Welt- und Aetherräume. Ein etwas anders constituirter Aether, der vielleicht auch mit einer etwas andern Geschwindigkeit der Einzelbewegungen, begabt ist, übt noth- wendig auch eine etwas veränderte Einwirkung auf die Atome aus. Es treten dauernd in den Schweräther und von diesem in die Atom- körper andersartige Theilchen ein als diejenigen sind, welche von ihnen ersetzt werden. Atomkörper und Aetherhülle verändern sich, und wenn diese Veränderungen in dem Sinne erfolgen, dass die Aetherhüllen mächtiger, somit der Zusammenhang zwischen den Atomen lockerer wird, so werden die festen Körper zuerst flüssig und nachher gasförmig. Die Weltkörper unsers Sonnensystems können auf diesem Wege aus der Zusammenballung in einen Zu- stand der Zerstreuung zurückkehren, in welchem wenigstens die Moleküle oder selbst die Atome vollständig von einander getrennt sind. Es ist noch ein Umstand zu berücksichtigen, welcher gegen die Unveränderlichkeit der Atome spricht. Die sie zusammensetzenden Amere müssen nämlich ebenso wohl Umbildungen erleiden, wie die individuellen Gebilde aller höheren Ordnungen. Durch diese Um- bildung der Amere erlangen die Atome selbstverständlich mit der Zeit andere Eigenschaften und es kann dadurch selbst ihre Existenz in Frage gestellt werden, indem die Atome in die Particelle, diese in kleinere Stücke zerfallen und zuletzt in die Amere sich ver- flüchtigen. 9. Entstehung, Beschaffenheit und Veränderung der Atome. 781 Das Verhalten der Wärme bei den geschilderten A^orgängen ist leicht zu übersehen. Beginnen wir, um ein vollständiges Bild zu haben, mit der ursprünglichen Zerstreuung, in welcher alle Materie in die Amere aufgelöst war. Die Amere führten ihre Einzelbewegungen mit der vollen Energie aus, wie sie jetzt den Aetherameren zukommen. Aber Massenschwingungen, welche Wärme und Licht darstellten, gab es noch nicht, soweit dieselben nicht aus anderen Himmelsräumen, die in einem anderen Zustande der Entwicklung sicli befanden, an- langten. Abgesehen von dieser importirten Wärme war also der betreffende, noch in der Amerzerstreuung befindliche Bümmelsraum wärme- und lichtlos und zeigte die absolute Nulltemperatur. Sowie sich nun infolge der eintretenden Agglomeration Atome bildeten und sich zunächst zu Molekülen, dann zu grösseren Gruppen vereinigten, entstanden durch das Zusammenstossen der Agglomera- tionskörper, zunächst der Atome und durch die heftigen Schwingungen derselben, die dem Zusanmienstoss folgten, nothwendig Schwingungen des Aethers, in gleicher Weise wie jeder Zeit bei der Vereinigung von Atomen, z. ß. bei der Bildung von Wassergas aus Wasserstoff und Sauerstoff, Wärme oder Licht und Wärme erzeugt werden. Mit der zunehmenden Agglomeration ging immer wieder mechanische Bewegung in Wärme über, welche zunächst die Temperatur der Agglomerationsmassen erhöhte, nachher allmählich an den EQmmels- raum abgegeben wurde. Wir befinden uns in dieser Periode; die dunkeln Himmels- körper werden durch Wärmeverlust sehr langsam kälter, indess auf die grossen leuchtenden Sonnen infolge der stärkeren Anziehung immer noch so beträchtliche Massen von kleineren im Weltenraum herumfliegenden Massen (Sternschnuppen) stürzen, dass dieselben ungeachtet des ungeheuren Wärmeverlustes ihre Glühhitze bewahren. Lidessen auch diese Periode wird ihr Ende erreichen. Die Sonnen werden erlöschen und nur zeitweilig wieder aufleuchten, wenn grössere dunkle Weltkörper sich mit ihnen vereinigen. Nach der letzten Ver- einigung der Weltkörper und nach dem Erlöschen und Erkalten der letzten Sonne wird das Endstadium der jetzigen entropischen Weltentwicklung eingetreten sein , in welchem die Agglomerations- masse und der Aether des Weltraumes die nämliche Temperatur besitzen. Dauert die entropische Entwicklung so lange, bis sie zu dem eben genannten stationären Zustand gelangt ist, so hat scheinbar 782 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. die Veränderung in der Welt aufgehört. Es ist aber nur eine schein- bare Stagnation ; der Aether bleibt in Bewegung und durch die Einzelbewegungen der Aethertheilchen wird ein Stoffwechsel in den Atomen unterhalten, der früher oder später dahin führt, dass die Aetherhüllen der Atome mächtiger und die Anziehungen zwischen den Atomen schwächer werden. Hat diese Veränderung eine ge- wisse Höhe erreicht, sind die Atome der festen Körper in die Ver- fassung gelangt, in der sich jetzt das Quecksilber, und später in diejenige, in der sich jetzt Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff be- finden, so wird ihr lockerer Zusammenhang durch die Aether- schwingungen überwunden. Es verwandelt sich Aetherwärme in Atombewegung. Dadurch wird die ponderable Masse unter die Temperatur des Weltenraumes abgekühlt ; es findet nun eine Rück- strömung von Wärme aus diesem nach jener statt, die so lange an- dauert, bis die Materie flüssig und gasförmig geworden ist. Die Entropie der Welt hat in dieser Entwicklungsperiode ihren Charakter geändert. Es geht dann bei all den zahlreichen Umwand- lungen von Wärme in Atombewegung und von dieser in jene immer eine gewisse Menge Wärme verloren, weil die mechanische Energie nicht mehr vollständig sich in Wärme umsetzen kann; dies aus dem einfachen Grund, weil die Agglomerationsmassen eine niedrigere Temperatur besitzen als der umgebende Weltenraum und daher stets Wärme aufnehmen. In unserer Zeit findet das Umgekehrte statt; die Wärme kann nicht mehr vollständig zu mechanischer Energie werden, weil immer ein Theil derselben an den kälteren Weltenraum abgegeben wird. Die Entropie der Welt, welche durch das Verhalten der Wärme bestimmt wird, ist keine Erscheinung von absoluter Allgemeinheit, weil die Wärme nicht als Maass für alle Energien gelten kann. Durch Wärme lassen sich die Energien der Einzelbewegungen der Amere nicht ausdrücken. Die Entropie der Welt, wie sie formulirt worden ist, berücksichtigt bloss die mechanischen Bewegungen der als unveränderlich vorausgesetzten Atome und die Wärmeschwingungen des Aethers; es ist also nur eine partielle Entropie und sagt uns nichts über den Verwandlungsinhalt des Ganzen, zu welchem auch die Einzelbewegungen der Amere im Weltäther, im ponderabeln Aether und in den Atomkörpern gehören. 10. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion. 783 Ich suchte zu zeigen, wie auf natürhchem Wege die festen und flüssigen Massen wieder in die Zerstreuung der Gase zurückkehren können. Damit ist indessen nur ein Theil des gesammten Agglo- merationsprocesses zurückverwandelt. Die Umkehr wurde nur so weit verfolgt, als dafür Anhaltspunkte in der Amertheorie gegeben sind. Mit ihrer Hülfe können wir uns recht gut vorstellen, dass die ponderabeln Massen wieder in die einzelnen Atome aufgelöst werden. Die Zerstreuung der Atome aber in die einzelnen Amere, die sehr wahrscheinlich ebenfalls eintritt, lässt sich nur denken, wenn wir die Grundlage der Amertheorie selber einer Analyse unter- werfen und wenn wir infolge derselben zu der Annahme gelangen, dass auch die Amere sich verändern. Es ist nun gewiss unstatthaft, die Amere als ewige und absolut unveränderliche Einheiten zu be- trachten. Dieselben müssen, wie alle endlichen Dinge, sich um- wandeln, und wenn mit der Umwandlung ihre dynamischen Eigen- schaften andere w^erden, so kann auch eine Trennung derselben, also ein Zerfallen der Atome in die einzelnen Amere und eine Rück- kehr in denjenigen Zustand der Zerstreuung, von dem die Betrach- tung über die Zusammenballung in dieser Abhandlimg ausgegangen ist, die Folge sein. Aber die Veränderung der Amere sowie die Ursachen derselben lassen sich jedenfalls zur Zeit noch nicht zum Vorwurf einer Hypothese machen. 10. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion. Zu den schwierigsten Aufgaben der Molecularphysik gehört eine naturgesetzliche Erklärung der chemischen Anziehung. Dieselbe muss drei Bedingungen genügen, welche anscheinend unter einander im Widerspruch sind: 1. Je 2 Atome, resp. Particelle zweier Atome, sie mögen ver- schiedenen chemischen Elementen oder auch dem nämlichen Element angehören, ziehen sich an und verbinden sich mit einander. 2. Mit der erfolgten Verbindung ist die chemische Anziehung erschöpft (gesättigt), so dass die verbundenen Atome oder Particelle sich gleichzeitig nicht mit anderen Atomen oder Particellen verbinden können. 3. In demselben mehrwerthigen Atom treten die Particelle bald selbständig auf, indem jedes einzelne eine Verbindung eingeht und 784 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet, gesättigt wird, bald unselbständig, indem mehrere zusammen mit einem 1 werthigen Atom oder mit einem Particell sich verbinden und dadurch unfähig zu gleichzeitigen andern Verbindungen werden. Es dürfte unmöglich sein, diese Bedingungen ohne Hilfe der Amertheorie zu erfüllen, wie eine Besprechung der bisherigen Ver- suche zeigen wird. Dieselben stützen sich, wenn überhaupt eine Erklärung angestrebt wurde, auf die Elektricität. Dass bei der chemi- schen Anziehung die elektrischen' Kräfte eine wichtige Rolle spielen, ist namentlich mit Rücksicht auf die elektroljrtischen Erscheinungen schon lange erkannt worden. Die Wirksamkeit der Elektricität lässt sich auf zweierlei Weise denken: Entweder sind die chemischen Elemente an und für sich in verschiedenem Grade elektrisch und behalten constant diese Elektricität; oder ihre Elektricitäten werden erst bei der Annäherung frei und verlieren sich nach der Trennung wieder. Weder die eine noch die andere dieser Annahmen vermag uns eine Erklärung der chemischen Erscheinungen zu geben. Was die erste Annahme betrilBit , so lässt sie sich auf eine that- sächliche Grundlage zurückführen , insofern man die elektrische Spannungsreihe der Elemente als den Ausdruck für die Abstufung ihrer inhärenten wirksamen Elektricität ansieht. Aber aus dieser Elektricität allein lassen sich nicht alle chemischen Anziehungen ableiten. Dem widerstrebt entschieden die zweite der obigen drei Be- dingungen. Wenn die chemischen Elemente infolge ihrer abge- stuften Elektricitätsmengen eine grössere oder geringere Verwandt- schaft zu einander besässen, so vermöchten die Atome des nämlichen Elements sich nicht mit einander zu verbinden, und dadurch würde die in Wirklichkeit vorhandene Constitution der Elementmoleküle, welche im allgemeinen aus je 2 Atomen zusammengesetzt sind, zur Unmöglichkeit. Die Atome eines Elements müssten im Gegentheil, da sie die gleiche Elektricität besitzen, einander abstossen. Die Ab- stossung müsste bei den an den beiden Enden der Spannungsreihe stehenden Elementen besonders auffallend sein, weil dieselben grössere Mengen positiver oder negativer Elektricität enthalten, so z. B. beim Sauerstoff. Aber im Widerspruche mit dieser Folgerung haften die beiden Atome eines Sauerstoffmoleküls so fest an einander, dass sie selbst noch bei hohen Temperaturgraden vereinigt bleiben. Die erste der beiden elektrochemischen Annahmen erweist sich also als un- zureichend. 10. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion. 785 Nach der zweiten Annahme enthahen die Atome neutrale Elek- tricität, welche bei der Annäherung eines zweiten gleichen oder un- gleichen Atoms zerlegt wird. Dies ist die Theorie von Berzelius und von Fee hn er. Infolge der Trennung der neutralen Elektricität vereinigen sich die frei werdenden, positiven und negativen Elektri- citäten des einen und andern Atoms zum Theil mit einander, während der Rest getrennt in den beiden Atomen verharrt, so dass dieselben mit entgegengesetzter Elektricität geladen sind und sich dauernd anziehen. Diese Annahme, welche sich auf die Erscheinungen der Elektricitätserregung durch Berührung berufen kann, findet ihre that- sächliche Grundlage ebenfalls in der Spannungsreihe der Elemente, lässt aber die letztere in anderer Weise zu Stande kommen als die erste Annahme. Für die Erklärung der chemischen Thatsachen erweist sich die zweite elektrochemische Theorie ebenso unzureichend. Wäre sie richtig, so müssten zwei Elemente sich um so stärker anziehen, je weiter sie in der Spannungsreihe von einander abstehen, weil diesem Abstand das elektromotorische Moment proportional wäre. Am geringsten wäre die Anziehung zwischen den Atomen des nämlichen Elements. Nun gibt es aber vielleicht keine einzige chemische Ver- bindung , welche nicht , mit bestimmten anderen Verbindungen ver- glichen, als Ausnahme von der ausgesprochenen Regel angeführt werden könnte. Was die Verwandtschaft zwischen den Atomen des gleichen Elements betrifft, so gibt es unter den bekannten Fällen bloss drei (Quecksilber, Cadmium und Zink), wo dieselbe so gering ist, dass die Atome bei der Verdampfung nicht zu Molekülen ver- bunden bleiben, während die Moleküle anderer Gase weit über ihrer Verdampfungstemperatur der Dissociation widerstehen. Am auf- fallendsten tritt diese grosse Anziehung zwischen den nämlichen Atomen bei den permanenten Gasen hervor, die eine sehr niedrige Verdampfungstemperatur besitzen und daher eine grosse Menge latenter Wärme in sich aufgenommen haben, welche den Zusammen- hang der Moleküle zu lockern bestrebt ist. Unter den genannten Gasen zeigt der Stickstoff eine grössere Verwandtschaft zu sich selbst, als zu den meisten anderen Elementen. Einen noch stärkeren Einwand gegen die elektrochemische Theorie von Berzelius und Fechner geben uns die ungesättigten Verbindungen und die wechselnde Valenz. Wenn die Atome durch V. Nägel i, Abstammungslehre 50 786 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet Vertheilung elektrisch würden, wenn somit die Elektricität das Atom verlassen und in das Atom eintreten könnte, so müsste dieselbe auch von einem Particell des mehrwerthigen Atoms auf die andern Particelle übergehen und sich über das ganze Atom verbreiten können. Dadurch würde das Particell die relative Selbständigkeit verlieren, welche ihm doch als Träger einer Werthigkeit zugestanden werden muss. Wenn beispielsweise ein Sauerstoffatom sich mit einem Kohlenstoffatom zu Kohlenoxyd verbindet, so fände zwischen den beiden Atomen diejenige elektrische Erregung statt, welche überhaupt bei der Be- rülirung von Kohlenstoff und Sauerstoff möglich ist. Ein zweites Sauerstoff atom, welches herankäme, um mit dem Kohlenoxyd Kohlen- säure zu bilden , würde mit seiner neutralen Elektricität entweder keine abermalige elektrische Vertheilung bewirken können, oder, wenn es möglich wäre, so müsste ein drittes Atom von Sauerstoff das Nämliche zu Stande bringen und sich mit dem Kohlenstoffatom ver- binden. Wie wäre es ferner, wenn die Elektricitätserregung in der angegebenen Weise über die Verbindung entscheiden würde, bei wechselnder Valenz denkbar, dass z. B. das Chloratom von Wasser- stoff oder Kalium, gegen welche Elemente es stark elektromotorisch ist, nur ein einziges Atom anzieht, während es von Sauerstoff, gegen welchen es schwach elektromotorisch ist, 4 Atome oder vielmehr 7 Particelle zu fesseln vermag. Die gleiche Erwägung gilt auch für Schwefel, Selen, Stickstoff, Brom, Jod bezüglich ihrer Verbindungen mit Sauerstoff und mit den Alkalien. Wenn die gemachten Ausstellungen darthun , dass die elektro- chemischen Theorien nicht die Eingangs aufgeführten drei Bedin- gungen zu erfüllen und alle Erscheinungen, welche die Atomverkettung darbietet, zu erklären vermögen, so soll damit nicht etwa ausgesprochen werden, dass die Elektricität bei der chemischen Anziehung nicht eine grosse Bedeutung habe und in manchen Fällen selbst die Haupt- rolle übernehme. Aber neben ihr müssen auch die anderen, in den Atomen befindlichen Kräfte, namentlich die Isagität, berücksichtigt werden. Ferner muss die von der Amertheorie geforderte Annahme in vollem Maasse verwerthet werden, die Annahme, dass die Theil- chen des Atomkörpers theilweise wandern , ohne denselben zu ver- lassen, dass also die dynamischen Mittelpunkte der verschiedenen 10. Chemische Verwandtschaft. Adhiision. 787 Elementarkräfte ihren Platz wechseln, ohne dass der Atomkörper einen Verlust oder einen Zuwachs an Kraft erfährt , und dass jedes einzelne Particell sich hierin dem Atonikörper gleich verhält. Die Werthigkeiten sind also constante Systeme von Kräften, deren innere Configuration sich verändert. Von den Ameren, welche die Träger dieser Kräfte sind, vereinigt zwar jedes alle Kräfte in sich, aber in ungleichem Maasse, und deswegen verschiebt sich für jede Kraft mit der Wanderung der Amere auch der Punkt, in welchem man sie sich bezüglich ihrer Wirkung nach aussen vereinigt denken kann, oder der dynamische Mittelpunkt. Der Einfachheit wegen will ich als Beispiel zwei Iwerthige Atome betrachten, welche zusammenkommen und auf einander ein- wirken, wobei ich aber im voraus bemerke, dass Alles, was sich hier ergibt, auch für die einzelnen Particelle der mehrwerthigen Atome Gültigkeit hat. Die Kräfte jedes Atoms befinden sich vor der An- näherung unter sich im Gleichgewicht. Infolge der gegenseitigen dynamischen Einwirkung, welche bei der Annäherung eintritt, wird dieses Gleichgewicht gestört; die gegenseitigen Anziehungen und Abstossungen bewirken eine Ortsveränderung der fortschrittsbeweg- lichen Theilchen und eine Orientirung der drehungsbeweglichen zusammengesetzten Theilchen (Amergruppen). Da die Kräfte der drei Paare (der dominanten, isagischen und elektrischen Kräfte) nur auf sich selber wirken, so sind sie getrennt zu betrachten. Ich beginne mit den Dominantenkräften , deren Verhalten am einfachsten ist und daher am klarsten vorliegt. Die Gravitations- anziehung muss von der Entstehung der Atome her ihrer Natur nach in überwiegendem Maasse im Innern , die Aetherabstossung vorzugsweise unter der Oberfläche sich befliiden. Nähern sich zwei Atome einander, so müssen diejenigen ihrer Ije weglichen Theilchen, welche mehr Gravitation als Aether- abstossung enthalten, nach den ein- ander zugekehrten Seiten, die be- weglichen Theilchen dagegen , in denen mehr Aetherabstossung als Gravitation vorhanden ist, nach den ^'^' ^^" abgekehrten Seiten der Atomkörper fortrücken. Die dynamischen Centren der beiden Kräfte verschieben sich also in entgegengesetzter Richtung , und wenn sie ursprünglich central waren , so zeigen sie 50* 788 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. jetzt die Stellungen, die in Fig. 32 angegeben sind, wo A und A' die Centren der Gravitation, B und JB' diejenigen der Aetherabstossung bedeuten. Die Isagitäten haben sich bei der Bildung der Atome infolge der Anziehung gleichnamiger und der Abstossung ungleichnamiger Kräfte, soweit es möglich war, auf zwei Hälften des Atomkörpers vertheilt, so dass in dem vereinzelten Atom die eine Hälfte den grössern Theil der gesammten a-Isagität, die andere Hälfte den grössern Theil der gesammten /^-Isagität besitzt, und dass somit für den Fall, in welchem beide Isagitäten in gleicher Menge vorhanden sind , ihre beiden Mittelpunkte sich wie die Brennpunkte eines Ellipsoids gelagert zeigen. Nähern sich zwei Atome einander, so haben sie das Bestreben , sich dergestalt zu orientiren , dass die dynamischen Centren der beiden Isagitäten einander opponirt sind, und ausserdem wandern die fortschrittsbeweglichen vorzugsweise isagischen Theilchen, soweit es möglich ist, gegen die zugekehrten Seiten hin, so dass die zwei verbundenen Atome die in Fig. 33 I dar- gestellte Lagerung der isagischen Mittelpunkte a, a\ ß, /?' aufweisen. Ist eine solche Orientirung aus anderweitigen Ursachen unmöglich, oder ist die eine der beiden Isagitäten und zwar dieselbe in jedem Atom in beträchtlich grösserer Menge vorhanden als die andere, so werden die Atome nach der Annäherung auch das in Fig. 5 II dar- gestellte Bild zeigen. Die beiden Figuren 33 I und II geben uns die Vorstellung von zwei besondern und extremen Fällen. Um das Gesetz kurz aus. zusprechen, so werden die beiden Atome sich stets so zu orientiren, und ihre fortschrittsbeweglichen Theilchen werden stets so zu wandern suchen, dass die Summe der isagischen Anziehungen den grössten Fig. 33. Ueberschuss über die isagischen Abstossungen ergibt. Die Summe der isagischen Anziehungen ist a • a^ -\- ß • ß'; die Summe der isagischen Abstossungen ist a • /? -|- a • /?* -j- a' • /? -f- «' • ß\ wobei die Wirkungen 10. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion. 789 aller Kräfte nach dem reciproken Verhältniss des Quadrats der Ent- fernung und als Componenten zu berechnen sind, die in einer mit der Verbindungslinie der beiden Atommittelpunkte parallelen Richtung wirken. Was endlich das dritte Kräftepaar betrifft, so enthält jeder Atomkörper eine grössere Menge neutraler Elektricität und eine geringe, bei den verschiedenen chemischen Elementen wechselnde Menge positiver oder negativer Elektricität, welche den elektrischen Charakter der Elemente bestimmt, aber, da sie die Atome nicht ver- lassen kann, durch das Elektroskop nicht angezeigt wird. Die neu- trale Elektricität besteht aus den sich compensirenden Mengen posi- tiver und negativer Elektricität; sie ist vorzugsweise in der Gestalt von Amergruppen vorhanden, welche aus Ameren mit überwiegender entgegengesetzter Elektricität zusammengesetzt sind. Die freie Elek- tricität ist der Oberfläche genähert. Haben die zwei sich annähernden Atome ungleichnamige P^lektricität, so bewegt sich dieselbe nach den zugekelnien, haben sie gleichnamige, so bewegt sie sich nach den abgekehrten Seiten hin. Ausserdem wird, weil durch die verschie- denen dynamischen Einwirkungen der Atome auf einander und durch die erfolgenden Wanderungen der Theilchen das frühere elektrische Gleichgewicht gestört wurde, eine grössere oder geringere Menge von neutraler Elektricität zerlegt, und die frei werdenden Elektrici- täten nebst der bereits vorhandenen freien Elektricität haben das Bestreben, soweit es die Beweglichkeit der Amere erlaubt, sich in der Weise in jedem der beiden Atome zu vertheilen, dass der Ueber- schuss der Anziehung über die Abstossung den grössten Betrag er- reicht. Zugleich suchen die elektrisch neutralen Gruppen , welche nicht zerlegt werden, durch Drehung sich so zu orientiren, wie es der A^ertheilung der freien Elektricitäten entspricht. Die d\mamischen Fig. 34. Mittelpunkte, die als der Ausdruck der gesammten anziehenden und abstossenden elektrischen Kräfte gelten können (a, b, a\ 6'), werden 790 Kräfte und Gestaltungen im niolecularen Gebiet. bei den verschiedenen Combinationen der chemischen Elemente sehr verschiedene Stellungen zu einander einnehmen, welche zwischen den in den Figuren 34 I und 11 angezeigten extremen Stellungen sich bewegen müssen. Es werden also bei der Annäherung zweier Atome die fortschritts- beweglichen Theilchen in Bewegung gesetzt, so dass die einen sich nähern, die andern sich entfernen. Dabei treten sicher einzelne der beweglichsten Theilchen, sei es infolge der Anziehung oder der Ab- stossung, aus dem Atomkörper heraus und werden durch andere ein- tretende ersetzt. Die grosse Mehrzahl der fortschrittsbeweglichen Amere wird aber durch die Einwirkung der übrigen Kräfte im Atom- körper festgehalten und gewinnt hier die für die dynamischen Be- ziehungen günstigste Vertheilung. Die chemische Anziehung zweier Atome besteht nun in der Summe der Anziehungen aller Elementarkräfte abzüglich der Summe aller Abstossungen. Sie ist eine Function der Zahl der Attractions- und Repulsionseinheiten in jedem Atom und der Entfernungen, auf welche diese Krafteinheiten nach erfolgter Annäherung wirksam sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die einzelne Kraft nicht genau diejenige Stellung der Theilchen zu Stande gebracht hat, welche sie, wenn allein vorhanden, nach der gepflogenen Erörterung verursachen würde, sondern dass je die stärkere Kraft die schwächere verdrängte und dass sich ein Gleichgewicht zwischen allen Kräften herstellte , welches die grösstmögliche attractive Gesammt Wirkung ergibt. Bei dieser Gesammtwirkung sind die Elektricität und die Isagität maassgebend, aber bei verschiedenen Verbindungen in sehr ungleichem Verhältniss, indem bald die eine, bald die andere das entscheidende Moment bildet. Im allgemeinen können wir wohl sagen , dass bei der Verbindung von Elementen, welche in der elektrischen Spannungs- reihe weit von einander entfernt sind, die Elektricität den Ausschlag gibt, bei nahe stehenden Elementen dagegen die Isagität. Am sichersten lässt sich wohl das Verhältniss der beiden Kräfte bei der Molekülbildung aus den Atomen des nämlichen Elements be- urtheilen. Da die sich verbindenden Atome in diesem Falle den gleichen elektrischen Charakter haben, so kann, besonders wenn ihnen schon von Natur eine grössere Menge freier Elektricität zu- kommt, wie beispielsweise beim Sauerstoff, keine bedeutende elek- lU. Chemische Verwandtschaft. Adhäsiou. 791 irische Anziehung zu Stande kommen. Da die Atome aber auch den gleichen isagischen Charakter, also die gleiche Isagität im Ueber- schuss besitzen, so muss bei der Annäherung eine beträchtliche isagische Anziehung sich ergeben. Ebenso dürfte die grosse chemi- sche Verwandtschaft zwischen Sauerstoff und Schwefel, welche Elemente in der elektrischen Spannungsreihe Nachbarn sind , vorzugsweise auf der Wirkung der Isagität beruhen. Wenn dagegen entschieden elektropositive und entschieden elektro- negative chemische Elemente sich mit einander verbinden, so muss die elektrische Anziehung in der Regel sehr bedeutend ausfallen, während die isagische Wirkung unbekannt ist und bald einen grösseren, l)ald einen geringeren Betrag erlangen mag. Die Verbindung von Sauerstoff oder Schwefel mit Wasserstoff und mit den Alkalien lässt sich jedenfalls zur Genüge durch die Elektricität erklären. Es ist nicht unw'ahrscheinlich , dass die Verwandtschaft des Schwefels zu den Alkalien einerseits, zu dem Sauerstoff anderseits auf ungleichen Ursachen beruht, dass die erstere eine vorzugsweise elektrische, die letztere eine vorzugsweise isagische ist. Da von den Dominantenkräften die Gravitationsanziehung in den chemischen Elementen immer grösser ist als die Aetherabstossung, so möchte man ^delleicht erwarten, dass die erstere auch bei jeder chemischen Verbindung irgend eine Rolle spielen, und dass bei Elementen mit hohem Atomgewicht diese Rolle nicht unbedeutend ausfallen werde. Vergleichen wir Sauerstoff (Atomgewicht 1) und Quecksilber (Atomgewicht 200) mit einander, so beträgt die ver- hältnissmässige Anziehung durch die Sch\vere auf grössere (nicht moleculare) Entfernungen zwischen zwei Wasserstoffatomen 1 (nämlich 1-1), zwischen zwei Quecksilberatomen dagegen 40000 (nämlich 200 • 200). Nun ist aber diese Anziehung bloss ein winziger Theil der ganzen Gravitationsanziehung, welche zwischen zwei beliebigen Atomen (I und II) durch die Formel ausgedrückt wird nii mo = Äi Ä-i — JBiBi, wenn m^ und m, die Masse oder das Gewicht, Äi und A. die Summe der Gravitationskräfte, B^ und B. die Summe der Aetherabstossungs- kräfte von I und II bezeichnen (S. 7H), 757). Für die Gewichtsanziehungen zwischen zwei Wasserstoffatomen {H) und zwischen zwei Quecksilberatomen {Hy) gelten die Gleichungen 71)2 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. H- H= Äi~£l oder Iq^^^Äl-^Bl HgHg = Äl-~ B\ oder 40000 g^ = A\ — B\, wenn H=^\q und Hg = 200 q gesetzt wird. Für die Beurtheikmg aller dieser Gleichungen sind die zwei sowohl von der ganzen Theorie als von der Erfahrung geforderten Annahmen von Wichtigkeit, 1. dass die Verhältnisse der Gravitations- kräfte zu den Aetherabstossungskräften bei den verschiedenen chemi- Ä Äo A sehen Elementen, also ~, ^, -^ u. s. w. im allgemeinen ungleiche iJl ij2 -03 Werthe darstellen , 2. dass die Summen der Gravitationskräfte in den Atomen der verschiedenen chemischen Elemente in einem andern Verhältniss zu einander stehen als die Atomgewichte. Aus den letzteren lässt sich somit kein Schluss auf eine bestimmte Intensität der Gravitationskräfte und der Aetherabstossungskräfte ziehen. Es wäre selbst möglich , dass das Wasserstoffatom eine ebenso grosse oder selbst eine grössere Summe von Gravitationskräften enthielte als das Quecksilberatom, wenn die Summe der Aetherabstossungs- kräfte in entsprechendem Maasse erhöht wäre. Ich habe schon oben (S. 758) gezeigt, worauf die verschiedenen Atomgewichte beruhen. Wegen der grossen Bedeutung, die man oft den Atomgewichten in chemischer Hinsicht beizulegen geneigt ist, will ich noch an zwei Beispielen zeigen, wie die ungleichen Gewichte des Wasserstoffs und des Quecksilbers zu Stande kommen können. In der Gleichung AA^ — BB^ ^= mnii bedeute A die Summe der Gravitationskräfte der Erde, B die Summe ihrer Aetherabstossungs- kräfte und m ihre Masse oder ihr Gewicht , A,, Bi und nh die entsprechenden Grössen eines Wasserstoff atomes. Die Gleichung AA. — BB. = mnio, sowie die Zeichen A., B. und m^ gelten für ein Quecksilberatom. W^enn^ = 1 000000000001 Q,B = 1 000000000000^, ferner I A, ^-. 1,00001g, B, = 1,00 g, so folgt mm, = 10000001 Qq I J, = 1,002 g, ^2 = 1,00g, » mm._ = 2000000001 Qq 2 f ^ = 0,013 g, B, = 0,01299g, » mm, = 10 0000000 13 (;>g |^, = 0,012 g, B, = 0,0100q, > mm, = 2000000000012 ^g In beiden Beispielen besteht das gleiche Verhältniss zwischen dem Atomgewicht des Wasserstoffes und demjenigen des Queck- 10. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion. 793 Silbers, nämlich 1 : 200. In dem ersten Beispiel aber ist Ä. grösser als Äi, in dem zweiten dagegen ist Ä., kleiner als vi,, also die Summe der Gravitationskräfte im Quecksilberatom kleiner als im Wasserstoff- atom ^). Das Atomgewicht kann aber um so weniger Anspruch auf Be- rücksichtigung bei der Beurtheilung chemischer Vorgänge erheben, als die Gewichtsanziehung ebenso wie gegenüber der Wirkung der Dominantenkräfte, so auch gegenüber den elektrischen und isagi- schen Anziehungen und Abstossungen höchst unbedeutend ist, und weil es bei der im Verhältniss zur Schwerkraft ungeheuren Menge der Gravitations- und Aetherabstossungskräfte viel melir als auf die genaue Quantität derselben, darauf ankommt, welche Bruchtheile der einen und andern im Atom beweglich sind und die für die An- ziehung günstigste Lage anzunehmen vermögen. — Man kann sich daher nicht im geringsten verwundern , dass die Quecksilberatome mit dem hohen Atomgewicht 200 und der gegenseitigen Schwere- anziehung von 40000 bei der Verdampfungstemperatur nicht zu Mole- külen sich zu verbinden vermögen, w^ährend die Wasserstoffatome mit dem Atomgewicht 1 und der gegenseitigen Gewichtsanziehung von 1 noch sehr hoch über der (unbekannt tiefen) Verdampfungs- temperatur zu Molekülen verbunden bleiben, und das Kohlenstoff- atom mit dem Atomgewicht 12 und der gegenseitigen Gewichts- anziehung von 144 bei keinem erreichbaren Temperaturgrad sich von den anderen Kohlenstoffatomen ablöst. Die am meisten charakteristische Erscheinung der chemischen Anziehung ist die mit dieser Anziehung erfolgende Sättigung. Dieselbe zeigt sich am einfachsten bei dem einwerthigen Atom, welches, nachdem es eine Verbindung eingegangen hat, keine zweite ein- gehen kann , ohne die erste zu lösen. Das Atom übt also im Sättigungszustande eine einseitige chemische Wirkung aus. Die freien Seiten, die ihm übrig bleiben, können keine chemische An- *) Die numerischen Werthc für Ai, Bi, A2 und Bi sind wie oben (S. 758) willkürlich gewählt. In Wirklichkeit ist für ein gleiches Gewicht die Differenz zwischen den Gravitationskräften und den Aetherabstossungskräften im Wasser- stoff kleiner, im Quecksilber grösser als in der Erde. 794 Kräfte und Gestaltungen im niolecularen Gebiet. Ziehung mehr zu Stande bringen. Daraus folgt, dass entweder Gestalt und Bau des Atoms in der Art unsymmetrisch sind , dass es an einer Seite eine eigenartige Wirksamkeit besitzt, — oder dass diese Einseitigkeit bei der Annäherung zweier Atome gegen einander zu Stande kommt. Ich habe im Sinne der Amertheorie zu zeigen gesucht, dass das letztere jedenfalls eintreten muss, auch wenn das Atom im ursprünglichen, d. h. im freien Zustande, in welchem keine anderen Atome dasselbe aus unmittelbarer Nähe beeinflussen, auf allen Seiten gleich gebaut ist. Die auf diese Weise erlangte Einseitigkeit besteht darin , dass die Elementarkräfte der sich ver- bindenden Atome in die für die Anziehung möglichst günstige Lage, nämlich die Attractionskräfte in die möglichst geringste , die Re- pulsion skräfte in die möglichst grösste Entfernung gebracht wurden. Zwei Iwerthige Atome, die sich mit einander zu einem Molekül verbunden haben , befinden sich daher gegenül^er anderen Atomen in dynamisch ungünstigerer ^"erfassung, indem sie auf dieselben eine geringere Anziehung ausüben als im freien Zustande. Deswegen können drei 1 werthige Atome sich nicht mit einander verbinden ; ein aus drei Atomen Wasserstoff bestehendes Molekül ist eine Un- möglichkeit. Kommt aber ein Atom mit beträchtlich grösserer Ver- wandtschaft in unmittelbare Nähe eines Moleküls und vermag das- selbe die Kräfte in dem einen Atom dieses Moleküls anders zu Orientiren , so löst sich die bisherige Verbindung und es entsteht eine neue. So zersetzen Chloratome die Wasserstoffmoleküle und bilden Salzsäuremoleküle. Treten mehrwerthige Atome in eine A^erbindung ein, so finden zwar ganz analoge Erscheinungen statt, wie die eben geschilderten, aber doch mit besonderen Modificationen. Es verbindet sich zwar ebenfalls in der Regel ein Particell mit einem andern, wie es Iwerthige Atome thun. Aber das Particell wirkt dynamisch nicht bloss auf das mit ihm verbundene, sondern überdem auf alle Particelle des Moleküls ein. Die Sättigung hat daher bei mehrwerthigen Atomen eine etwas andere Bedeutung als bei Iwerthigen. Man darf nicht etwa annehmen, dass die chemischen Kräfte eines Particells oder Iwerthigen Atoms durch die Verbindung vernichtet oder dergestalt in Anspruch genommen wären, dass dieselben gleichzeitig keine andere Wirkung auszuüben vermöchten. Denn keine Kraft wird dadurch , dass sie ein Object ihrer Anziehung oder Abstossung 10. Chemische Verwandtschaft Adhäsion. 71*5 O Fig.-:«. findet, für andere Objecte schwächer. Sie wirkt immer und überall liin im umgekehrten ^'^erhältniss des Quadrats der Entfernung. Um das einfachste Beispiel zu wählen, so sind in einem Molekül, das aus zwei 2wertliigen Atomen besteht (Fig. Bö), die vier folgenden dynamischen Beziehungen als Gesammtan- ziehung wirksam: df-\- dg -f- ef -\- ey, und nicht etwa bloss die Anziehungen zwischen den opponirten Particellen df-\- ey. Ebenso haben bei der Annäherung und Verbindung der beiden Atome nicht lediglich die ein- ander opponirten Particelle, einerseits d und /', anderseits e und g, ihre fortschrittsbeweglichen Theilchen durcli Einwirkung auf ein- ander angeordnet, sondern jedes Particell hat die dynamische Ein- wirkung aller anderen erfahren und seine der Wanderung fähigen Kräfte in der Weise angelagert , dass die grösstmögliche Gesammt- anziehung zwischen den beiden Atomen mit Gleichgewicht zwischen allen Theilen hergestellt wurde. Der dynamische Gesammtschwer- punkt in jedem Particell (z. B. d) liegt also etwas näher der Grenze gegen das Schwesterparticell («) als es der Fall wäre, wenn ersteres {d) ein Iwerthiges Atom wäre und bloss einem anderen Iwerthigen Atom (/') gegenüber stände. Der Beweis für die Annahme, dass ein Particell nicht l)loss mit dem ihm opponirten, das von ihm »gesättigt« wird, sondern auch mit den benachbarten Particellen dynamisch verbunden ist, lässt sich in Fällen der unvollständigen Sättigung thatsächlich er- bringen. Bei unvollständiger Sättigung ergibt nämlich die genan^ite Annahme eine andere Stellung der Atome und einen anderen Grad der Festigkeit, als man nach der gewöhnlichen Ausdrucksweise er- warten möchte. Am einfachsten lässt sich die Frage erörtern für r~\ II VJ' Fig. 36. den Fall, dass ein Iwerthiges Atom mit einem 2werthigen eine im- gesättigte Verbindung bildet. Wenn bloss Particell auf Particell 796 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. und Werthigkeit auf Werthigkeit wirken würde, so wäre die Stellung der Atome die in Fig. 36 I angegebene. Der naturgemässen An- nahme entspricht aber allein Fig. 36 II, wo das Iwerthige Atom von den beiden Particellen des 2werthigen angezogen wird und diejenige Lage annimmt, welche der grössten Anziehung entspricht. Es ist klar, dass in dieser mittleren Stellung das Iwerthige Atom durch die zwei Particelle fester gebunden wird als in der andern Stellung (Fig. 36 I) , wo es nur die Einwirkung des einen Particells erfährt. Beständen die dynamischen Beziehungen bloss zwischen den zwei einander gegenüber stehenden Werthigkeiten (Particellen oder Iwerthigen Atomen), so wäre das Iwerthige Atom in der ungesättigten Verbindung (Fig. 36 I) genau mit der halb so grossen Kraft gebunden, als die beiden Iwerthigen Atome zusammen in der gesättigten \er- bindung (wie Fig. 36 III). Wirken dagegen alle Werthigkeiten dyna- misch auf einander ein , wie es die punktirten Linien in den Figuren 36 II und III andeuten, so ist die Bindung in dem unge- sättigten Molekül (Fig. 36 II) mehr wie halb so stark als in dem gesättigten (Fig. 36 III). Ein bestimmtes Verhältniss zwischen der Stärke der beiden Bindungen lässt sich aber nicht angeben, da die- selbe von der Menge und Kraftbegabung der fortschrittsbeweglichen Amere in den Atomen , sowie von der Gestalt und dem Bau der Atome bedingt wird. — Dass die in Wirklichkeit vorhandene Festig- keit der Stellung in Fig. 36 II entspricht, wird durch die Bildungs- wärme der Verbindungen erwiesen. Dieselbe ist für Quecksilberchlorür Hg Gl 41275 cal.j . ikiI' 1 Quecksilberchlorid Hg Gl, 63160 » | Wenn also ein (in diesem Falle Iwerthiges) Atom Chlor sich mit dem 2wertliigen Atom Quecksilber verbindet, so werden 41275 Wärmeeinheiten frei. Tritt dann das zweite Atom Chlor in das Molekül ein, so werden bloss noch 18115 Wärmeeinheiten frei. Das erste Atom Chlor war also in der ungesättigten Verbindung mit 2 ungefähr — von der Kraft gebunden, welche die beiden Atome Chlor ö in der gesättigten A^erbindung festhält. Die nämliche Erscheinung zeigt sich bei der Brom- und Jodverbindung. Die Bildungswärmen sind nämlich für 10. Chemische Verwandtschaft.. Adhäsion. 797 Quecksilberbromür HeBr 34145 cal. l ,,.^ , . , .- ^ . .„ 1 .-, TT. Differenz l«i40o cal. Quecksilberbromid HgBr, 50550 >/ | Quecksilberiodür HoJ 24220 cal. 1 t,.„. ,, , , 2 1 .„ • j-j TT T o.o. Differenz 10090 c-al. Quecksilber] odid HgJ, 84310 » J Ein analoges Resultat wird sich stets ergeben, wenn eine unge- sättigte A'^erbindung in eine gesättigte übergeht. Bei der Bildung von Kohlenoxyd und Kohlensäure besteht wohl nur eine scheinbare Aus- nahme. Wenn ein einziges 2werthiges Sauerstoffatom mit dem 4werthigen Kohlenstoffatom sich verbindet, so muss naturgemäss jedes Particell des ersteren mit zweien des letzteren in dynamischer Beziehung sein und analog wie in Fig. 31 c und d (S. 768) eine mittlere Stellung zwischen denselben einnehmen. Tritt das zweite Atom Sauerstoff hinzu, so sind die vier Sauerstoffparticelle den vier Kohlenstoff particellen opponirt. Mit dieser naturgemässen Annahme sind die Bildungswärmen in scheinbarem Widerspruch. Bei der Verbrennung von Kohlenstoff zu Kohlenoxyd (CO) werden auf 1 Molekül CO 28 800 cal. frei. Verbrennt Kohlenoxyd zu Kohlensäure (CO.), so werden 68 200 cal. frei, und dem ent- sprechend ist die Verbrennungs wärme von C zu CO2 97600 cal. Aus dem Umstände, dass die Bildungswärme von CO aus C und O mit 28800 cal. viel kleiner ist als die Bildungswärme von CO, aus CO und 0 mit 68200 cal., darf man aber nicht schliessen, dass das erste Atom O von C mit geringerer Kraft festgehalten werde als das zweite, weil die Bildungswärmen in diesem Falle nicht direct vergleichbar sind. Wenn Kohle in Kohlenoxyd übergeht, so muss das mit grosser Kraft festgehaltene Kohlenstoffatom weggerissen und frei gemacht werden ; es muss nämlich die Kohle aus dem festen in den flüssigen Zustand übergehen, was durch Wärme allein erst bei einer noch nicht herstellbaren Temperatur geschieht, und sie muss überdem im Kohlenoxyd gasförmig werden. Für diese physikalischen Veränderungen wird eine unbekannte, aber jedenfalls sehr beträchtliche .Wärmemenge verbraucht , die zu der Bildungs- wärme des Kohlenoxyds hinzu zu addiren ist und diese letztere in ein ganz anderes Verhältniss zur Bildungswärme der Kohlensäure bringen muss, als die angeführten Zahlen besagen. 798 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. Bis jetzt habe ich von den dynamischen Beziehungen ge- sprochen , in denen innerhalb eines Moleküls die Atome zu den gegenüberstehenden Atomen sich befinden , und welche die eigentliche chemische Verwandtschaft bedingen. In allen Molekülen, die ans drei und mehr Atomen zusammengesetzt sind, müssen solche Beziehungen auch zwischen den übrigen Atomen bestehen. Ein Beispiel hiefür geben uns die zwei Iwerthigen Atome in Fig. 36 III (S. 795), deren gegenseitige Bindung als collaterale bezeichnet werden kann. Denn auch in den coUateralen Atomen eines Moleküls bedingen die Attractions- und Repulsionskräfte noth- wendig eine mehr oder weniger beträchtliche Wanderung der fort- schrittsbeweglichen Amere und eine unter den übrigen Umständen möglichst grosse Anziehung. Im allgemeinen stehen diese coUa- teralen Bindungen den opponirten an Festigkeit merklich nach; es ist aber kein Grund vorhanden, warum sie nicht in besonderen Fällen die letzteren selbst übertreffen sollten. Sind die Moleküle nicht vereinzelt, wie in den meisten Gasen, sondern an andere Moleküle angrenzend, so werden zwischen den Atomen des einen und denen des anliegenden Moleküls ebenfalls Atomkräfte wirksam. Es findet ein analoger Vorgang statt, wie zwischen den coUateralen Atomen des nämlichen Moleküls, aber im allgemeinen mit noch geringerem Erfolg, da die Atome eines jeden Moleküls wegen der beim Verbindungsakt zu Stande gekommenen specifischen Anordnung ihrer Elementarkräfte bereits die festeste Bindung gewonnen haben. Immerhin ist es noth wendig , dass die an einander stossenden Atome zweier Moleküle ihre fortschritts- bewegiichen und drehungsbeweglichen Theile und damit ihre Attrac- tions- und Repulsionskräfte so günstig für ihre gegenseitige An- ziehung anordnen, als es die bereits vorhandenen allseitigen dyna- mischen Beziehungen gestatten. Ich habe die Beziehungen der Atome (Particelle) eines Moleküls als opponirte und collaterale unterschieden. Da diejenige Seite eines Atoms, welche sich am Molekül aussen befindet, als Rückenseite bezeichnet werden kann, so lassen sich die Beziehungen der an einander stossenden Atome zweier Moleküle dorsale nennen. Das Verhältniss zwischen der opponirten Affinität (die collaterale ist zu wenig bekannt) und der dorsalen zeigt die allergrössten Verschieden- heiten. Im allgemeinen überwiegt zwar die erstere bedeutend, aber 10. Chemische Verwan- stossen, die ungleichnamigen sich anziehen; die I sag i täten, von denen die gleichnamigen sich anziehen, die ungleichnamigen sich abstossen; die Dominan tenkräf te, .von denen die Gravitation auf sich selber anziehend und die Aet her abstossung auf sich selber abstossend wirkt, während die erste und zweite sich indifferent zu einander verhalten. Zwischen den Kräften der verschiedenen Paare finden keine dynamischen Beziehungen statt. Alle gegenseitigen P^inwirkungen zweier Kräfte sind gleich dem Product aus den beiden Kraftmengen, getheilt durch das Quadrat der Entfernung. 2. \'erth eilung der Elementarkräf te auf die kleinsten T h e i 1 c h e n. Die sechs Elementarkräfte (positive und negative Elektrici tat, positive und negative Isagität, Gravitation und Aetherabstossung) sind, als untrennbare Eigenschaften der Substanz, alle in jedem denk- baren kleinsten Theilchen vereint, aber in jedem in ungleicher Menge enthalten , so dass jedes Theilchen einen anderen dynami- schen Charakter besitzt. Da anzunehmen ist, dass die zwei Kräfte eines Paares im Weltall in gleichen Mengen vorhanden sind, so ist, wenn die kleinsten Theilchen von gleicher Grösse gedacht werden, wegen ihrer unendlichen Menge eine Hälfte der Theilchen mit überwiegender positiver Elektricität, die andere mit überwiegender negativer Elektricität begabt, ferner eine Hälfte vorzugsweise positiv isagisch, die andere vorzugsweise negativ isagisch, endlich eine Hälfte mit mehr Gravitationsanziehung (ponderable Theilchen), die andere mit mehr Aetherabstossung ausgerüstet (imponderable oder Aether- theilchen). Und wenn angenommen werden darf , dass alle sechs Elementarkräfte gleiche Summen im Weltall bilden, so ist in jedem Sechstel aller Theilchen eine andere Kraft in absolut grösster Menge vorhanden. 812 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet 3. Agglomeration und Dispersi on durch die Elementar- kräfte. Die kleinsten aus Erfahrung bekannten Theilchen sind die Aethertheilchen ; es ist anzunehmen, dass auch die wägbaren Stoffe aus Theilchen von gleicher Grösse zusammengesetzt sind. Die Theilchen dieser kleinsten Grössenordnung können als Araere be- zeichnet werden. Die Amere w^aren anfänglich vereinzelt, in gas- ähnlicher Zerstreuung, aus welcher sie sich theil weise durch die Anziehung der ungleichnamigen Elektricitäten , der gleichnamigen Isagitäten und der Gravitation zunächst zu Gruppen vereinigten. Entscheidend für den Erfolg im grossen und ganzen war die Wir- kung der Dominantenkräfte , da diese nicht auf einander wirken ; die Gravitationsanziehung ballte die eine Hälfte der Amere (die ponderabeln Amere) zu wägbaren Stoffen zusammen, während die Aetherabstossung die andere Hälfte der Amere (die imponderabeln oder Aetheramere) in der ursprünglichen Zerstreuung erhielt und den Weltäther constituirte. Elektricität und Isagität, von denen jede zugleich Anziehung und Abstossung ausübt, sind bei der Agglomeration und Dispersion der Materie nur in untergeordneter Weise betheiligt, insofern als sie das Bestreben haben, sowohl inner- halb der Agglomerations- als der Dispersionsmassen elektrisch un- gleichnamige und isagisch gleichnamige Amere mit einander zu vereinigen. 4. Elasticität und Bewegung der Amere. Weltäther. Maassgebend für den Zustand der Agglomeration imd der Dispersion ist die vollkommen elastische Beschaffenheit der Amere und ihre Bewegung. Was die Elasticität betrifft, so kann ihre Ur- sache , wie die Ursache der Elasticität der Atome , nur darauf be- ruhen, dass die Attractions- und Repulsionskräfte in nahezu gleichen Mengen in jedem Amer vorhanden und durch sein Inneres vertheilt sind. Was die Bewegungen betrifft, so müssen dieselben, in ähn- licher Weise wie diejenigen der Gasmoleküle , fortschreitende und drehende sein, und ihre Geschwindigkeit muss die Geschwindigkeit der Gasmoleküle in analogem Maasse tibertreffen, wie die auf Aether- schwingungen beruhende Fortpflanzung der Licht- und Wärme- strahlen und die Bewegung der Elektricität die Fortpflanzung des 12. Zusammenfassung. 313 von Schwingungen der Luft getragenen Schalles und die fliegenden Bewegungen der Gasmoleküle übertreffen. Dem entsprechend besteht der Weltäther theils aus vereinzelten Ameren mit der ursprünglichen fortschrittlichen Geschwindigkeit, theils aus kleinen Gruppen von solchen Ameren, welche durch die isagischen und elektrischen Kräfte zusammengehalten werden und sich in scliwingender Bewegung Vjefinden. Die Amergruppen haben, da die ursprüngliche lebendige Kraft ihrer Amere zum Tlieil in interne Bewegung übergegangen ist, eine entsprechend geringere Geschwindigkeit ; sie werden leicht durch den Stoss zertrümmert. 5. Entstehung der Atome. Bei der Agglomeration ballten sich die ponderabeln Amere je aus einem bestimmten Volumen der durch den Himmelsraum aus- gebreiteten Substanz, dessen Grösse durch die Wirkung der Gravi- tationsanziehung und die Bewegung der Amere bestimmt war, zu einer Masse zusammen, die ein chemisches Atom darstellt. Bei diesem Vorgang vereinigten sich zuerst die Amere mit stärkerer Anziehung zu kleineren und diese zu grösseren Gruppen, deren fort- schreitende Bewegung mit zunehmender Grösse sich verminderte, und bildeten schliesslich den aus dichterer und weniger beweglicher Substanz bestehenden Atomkörper. Um denselben legien sich dann die Amere mit schwächerer Anziehung an und stellten eine Atmo- sphäre dar, die von innen nach aussen an Dichtigkeit ab- und an Beweglichkeit zunimmt. In einem bestimmten Weltenraum und in einer bestimmten Zeitperiode entstanden die Atome eines bestimmten chemischen Elements. Die verschiedenen Elemente bildeten sich unter verschiedenen Verhältnissen, die in verschiedenen A\'elträumen oder in verschiedenen Zeitperioden gegeben waren, — im allgemeinen zuerst diejenigen mit grösserem Atomgewicht aus den Ameren mit stärkster Gravitationsanziehung, zuletzt wohl, als der Raum an pon- derabeln Ameren schon fast erschöpft war, das leichteste Element, der Wasserstoff. 6. Atom kör per, Aet herhülle und Z wi schenhülläther. Der Atomkörper besteht aus Ameren und Amergruppen, die sich in schwingenden , theilweise auch in fortschreitenden und drehenden Bewegungen befinden; die Summe der lebendigen Kräfte 814 Kräfte un.i Gestaltungen im molecularen Gebiet. dieser Bewegungen ist gleich der Summe der lebendigen Kräfte, welche die Amere im ursprünglichen Zustande der Zerstreuung be- sassen. Die Amere des Atomkörpers gehören im allgemeinen dauernd demselben an, und verhältnissrnässig nur wenige mögen ihn jeweilen verlassen und durch andere von aussen eintretende ersetzt werden. Die Atmosphäre um den Atomkörper besteht aus ponderabeln Ameren und Amergruppen , die zwar alle ihren Platz verlassen können, von denen aber die der innersten Schichten, durch stärkere Anziehung gebunden , mehr schiwingende Bewegungen ausführen, während die der äusseren Schichten mehr und mehr bloss fort- schreitende Bewegungen zeigen. Diese Atmosphäre hat grosse Aehn- lichkeit mit dem Aether, in den sie auch an der Oberfläche all- mählich übergeht, und kann als ponderabler oder Schweräther von dem eigentlichen Leicht- oder Weltäther miterschieden werden. Wenn sich die Atome zu Molekülen und die Moleküle zu festen und flüssigen Massen vereinigen, so wird ein Theil der Schweräther- atmosphäre zwischen denselben verdrängt. An dem interatomaleu Aether dieser Massen lassen sich nun bestimmter zwei Partien unter- scheiden. Diejenige , welche die Atomkörper zunächst umgibt und aus einer dichteren, weniger beweglichen Substanz besteht, kann als Aetherhülle, die übrige weniger dichte, aber beweglichere Partie als Zwischenhülläther bezeichnet werden. Die Aetherhülle verhindert die vollständige Annäherung der Atomkörper und nimmt an dem Zustandekommen der Elasticität Theil. Der Raum, in welchem die Atome mit ihren Hüllen hin und her schwingen, im flüssigen Zu- stande auch fortschreiten und sich drehen, ist mit Zwischenhüll- äther gefüllt. 7. Dynamische Einwirkungen der Körper auf einander. Schwere. Da in jedem Amer alle sechs Elementarkräfte enthalten sind, so besteht die Einwirkung zweier Amere auf einander in der Summe aller Anziehungen weniger die Summe aller Abstossungen. Sie ist also gleich ÄA, — BB, + (« — /^) K — ß.) + (« — ^ [h. — «■) wenn A und A^ die Gravitationsanziehung, B und B^ die Aether- abstossung, « und a, die positive, ß und ß^ die negative Isagität, 12. Zusammenfassung. 815 a und (I, die positive, h und b, die negative Elektricität der beiden Amere bezeichnen. Für die gegenseitige Einwirkung zweier Körper, die sich in grösserer Entfernung von einander l)efinden , gilt obige Formel ebenfalls, wenn die Buchstaben die Summen der gleich- namigen Kräfte in allen Anieren bedeuten, weil die Entfernung der beiden Mittelpunkte nun olme merklichen Fehler für die genannten Summen in Rechnung gebracht werden kann. Bestehen die Körper aus einer grossen Zahl von verschiedenen chemischen Elementen, so können die beiden aus den isagischen und elektrischen Kräften sich ergebenden Ausdrücke vernachlässigt werden, weil die positiven und negativen Glieder dieser Kräfte in gleichen Mengen vorhanden sind. Die Wirkung zweier solcher Körper wird also bloss durch die beiden Ausdrücke AA^ — BB^ bestimmt; diese Differenz stellt, wenn es sich um ponderable Massen handelt, die Schwereanziehung derselben dar. Das Gesetz der Schwere beweist, dass in den Himmels- körpern unseres Sonnensystems die Smnmen der Gravitationskräfte und der Aetherabstossungskräfte im gleichen Verhältniss zu einander stehen (A JB ^= Ai : B^). Die zwischen zwei Körpern bestehende Anziehung durch die Schwerkraft ist nur ein winziger Theil der durch alle ihre Gravitationskräfte bewirkten Anziehung, und die gesammte Aetherabstossmig ist nur um einen unbedeutenden Bruch- theil kleiner als die gesammte Gravitationsanziehung. Nach dieser Auffassung erklärt sich der scheinbare Gegensatz zwischen der Schwerkraft und den Molecularkräften, indem jene aus der Differenz der letzteren zu Stande kommt. 8. Wärme und Licht. Der Welt- oder Leichtäther zeigt in analoger Weise wie die Luft, ausser den Einzelbewegungen der Aethertheilchen und den fortschreitenden Massenbewegungen, auch schwingende Massenbewe- gungen, bei denen eine grosse Menge von Theilchen sich gleich- zeitig hin und her bewegt. Von den verschiedenen Aetherbewe- gungen sind es diese Massenschwingungen , welche das Licht und die Aetherwärme darstellen. Als Wärme setzen sie sich mit den (schwingenden, fortschreitenden und drehenden) Bewegungen der Moleküle und Atome ins Gleichgewicht, indem sie je nach Um- ständen denselben eine Beschleunigung ertheilen oder durch die- selben eine Beschleunigung erfahren, wobei Aetherwärme latent und 816 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. in Atombewegung übergeführt wird , und umgekehrt. — A^on der ponderabeln Aetheratmosphäre, welche die Atomkörper umgibt, wird der Zwischenhülläther infolge seiner grösseren Beweglichkeit durch die Schwingungen des Leichtäthers in analoge Massenscliwingungen versetzt. Bildet der Zwischenhülläther breitere und zusammen- hängende Bahnen zwischen den Molekülen, so findet die Durch- strahlung der Masse ohne merklichen A^erlust der Aetherschwingungen statt und die Körper sind vollkonnnen diatherman und durchsichtig. Sind aber die Bahnen des ZwischenhüUäthers infolge der Anord- nung der Atome enge und unvollständig - zusammenhängend , so setzen sich die Aetherschwingungen in x4.tombewegungen um und die Körper sind mehr oder weniger adiatherman und undurchsichtig. 9. Erregung und Verbreitung der Elektricität. Jedes Amer ist, je nachdem die eine oder andere Elektricität überwiegt, dauernd positiv oder negativ elektrisch, da die Elektricität eine Eigenschaft seiner Substanz ist und es daher nicht verlassen kann. Die positiven und negativen Amere sind im allgemeinen zu neutralen Gruppen vereinigt. Durch Zerlegung dieser Gruppen und Ansammlung der elektrisch gleichnamigen Amere wird freie Elek- tricität erzeugt. Dies erfolgt, wenn ein elektrischer Körper sich einem neutralen Körper nähert, durch dynamische Einwirkung, oder auch wenn durch irgend welche Eingriffe von aussen das bisher be- standene Gleichgewicht in einem neutralen Körper gestört und dabei infolge anderweitiger Anziehungen und Abstossungen elektrisch neutrale Amergruppen gespalten werden. Die in den Atomkörpern schon vorhandene oder durch eine äussere Ursache frei werdende Elektricität beibt in denselben ein- geschlossen, da die Amere im allgemeinen nicht heraus treten können. Dagegen sind die elektrischen Theilchen der Aetherhüllen und besonders des ZwischenhüUäthers fortschrittsbeweglich , und die freie Elektricität, die an den Körpern zeitweise oder stellenweise wahrgenommen wird, stammt stets aus dem Schweräther derselben. — Die Amere der freien Elektricität stossen sich gegenseitig ab und haben das Bestreben, sich von einander zu entfernen. Wenn sie dem Leichtäther angehörten und somit auch noch die Aether- abstossung wirksam wäre, so müssten sie stets die festen und flüssigen Körper verlassen. Da sie aber mit ausreichender Gravitations- 12. Zusammenfassung. 317 anziehung und iiainentlicli mit isagisclier Anziehung begabt sind, so werden sie von den Körpern festgehalten, breiten sich aber wegen ihrer gegenseitigen Abstossung in den oberflächht-hsten Schichten derselben ans. 10. Leitung der Elektricität. Da die Theilchen des Schweräthers in den festen und tlü.s.sigcn Körpern durch ihre gegenseitigen dynamischen Einwirkungen und Bewegungen einen bestimmten Spannungszustand darstellen, welcher der Spannung des äusseren Aethers das Gleichgewicht hält, so kann ohne Spannungsänderung ein elektrisches Theilchen seinen Platz nur verlassen, wenn es an die Stelle eines andern Theilchens des Schweräthers tritt und wenn ebenso seine Stelle von einem anderen Theilchen eingenommen wird. Die Wanderung der einander ab- stossenden elektrischen Amere , welche den geringsten Widerstand zu überwinden hat, findet daher naturgemäss so statt, dass elektrisch neutrale Theilchen (Amergruppen) oder, wie dies beim galvanischen Strom der Fall ist, Amere mit entgegengesetzter Elektricität sich in der umgekehrten Richtung bewegen. So kann der elektrische Strom durch einen Körper oder eine beliebig lange Reihe von Körpern gehen, wenn sich auf diesem Wege ununterbrochene Reihen von neutralen Amergruppen befinden, und es kann eine beliebäg grosse Menge von Elektricität strömen, wenn der Weg in einen Körper von hinreichend grosser Ausdehnung (z. B. in die Erde) endigt. Die Leitung geschieht um so leichter, je näher die neutralen Amer- gruppen der Strombahn beisanmien liegen, also je dichter der pon- derable Aether ist. Sie ist unmöglich durch die Atomkörper hindurch, weil diese den Ein- und Austritt von Ameren nur spärlich gestatten. Andrerseits wird sie von dem Zwischenhülläther nur sehr unvoll- kommen oder gar nicht ausgeführt, weil dessen Theilchen zu weit von einander abstehen und wegen ihrer grösseren Beweglichkeit keine constanten Reihen bilden. Dagegen eignen sich die Aether- hüllen infolge ihrer grösseren Dichtigkeit und der geringeren Be- weglichkeit ihrer Theilchen vorzüglich zur Leitung der Elektricität, und als die besten Leiter sind diejenigen festen Körper zu betrachten, deren Aetherhüllen in ununterbrochener Verbindung unter einander stehen. Damit stimmt überein, dass z\^^schen der Leitungsfähigkeit der Elektricität und andrerseits des Lichtes und der Wärme ein ge- wisser Gegensatz besteht. V. Nägeli, Abstammungslehre. 52 818 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. 11. Magnetismus. In den Atomkörpern der chemischen Elemente ist die eine oder andere Elektricität in verschieden grossem Ueberschuss enthalten ; derselbe bedingt die Stellung der Elemente in der elektrischen Span- nungsreihe. Er wirkt auch in entsprechendem Maasse vertheilend auf die Aetherhülle, von welcher daher namentlich die innern (den Atomkörper zunächst umgebenden) Schichten neben den neutralen Amergruppen auch elektrische Amere enthalten, deren Elektricität mit der des Atomkörpers ungleichnamig ist. Da die Theilchen der Aetherhülle zum Theil in fortschreitenden Bewegungen begriffen sind, so bilden sich, wegen der Anwesenheit der elektrischen Amere, leicht elektrische Strömchen, welche, wegen der Anziehung dieser Amere durch den Atomkörper, die Neigung haben, in tangentialer Richtung zu verlaufen und kreisförmig zu werden. Viele solcher gleichgerichteter kreisförmiger Elementarströmchen bilden zusammen den »Molecularstrom«, welcher das Atom zum »Molecularmagneten« macht. Die Molecularströme können schon von Natur vorhanden sein, wobei ihre Richtung von Atom zu Atom wechselt ; dann werden sie durch einen benachbarten Strom inducirt d. h. ganz oder theilweise in die gegenläufige Richtung übergeführt. Beharren sie in dieser Richtung, so bedingen sie den Diamagnetismus der festen Körper. Geht die Wirkung des inducirenden Stromes noch weiter, so dreht er die Molecularströme in die gleichläufige Richtung (Magnetismus). Sind dagegen die Molecularströme nicht schon ursprünglich vor- handen, so werden sie durch den inducirenden Strom zuerst in gegen- läufiger Richtung erzeugt (Diamagnetismus) , und nachher in die gleichläufige Richtung umgeändert (Magnetismus). Findet das eine oder andere statt, so erfahren stets nur die den ISIolecularstrom zu- sammensetzenden Elementarströmchen eine Richtungsänderung, indess die Atomkörper ihre Stellung unverändert behalten. — Bei den Gasen kommt es wegen der von Natur ihren Molekülen eigenthüm- lichen fortschreitenden und drehenden Bewegungen in der Regel bloss zur diamagnetischen Wirkung, während in den mit viel lang- sameren Molecularbewegungen ausgestatteten Flüssigkeiten bald bloss diamagnetische, 1)ald magnetische Molecularströme hervorgebracht werden. 12. Zusammenfassung. 819 12. Gestalt, Grösse und Zusammensetzung der Atome. Hierüber gibt das Atomgewicht keinen Aufschluss. Aus der vollkommenen und unvollkommenen Sättigung, sowie aus der wech- selnden Valenz, welche an mehrwerthigen Atomen beobachtet wird, geht hervor, dass die Atome aus Particellen zusammengesetzt sind, von denen jedes einer Werthigkeit entspricht und die bis auf einen bestimmten Grad selbständig sind. Da die Particelle eines Atoms so gelagert sein müssen , dass sie in den bekainiten chemischen A^'erbindungen sich den andern Atomen stets so sehr zu nähern vermögen, als es dem hier erlangten Grad der Anziehung entspricht, so ist mit grosser Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sie in einer Ebene um einen Mittelpunkt liegen und somit tafelförmige mehr- werthige Atome bilden. Aus der Festigkeit der Körper, der Fort- pilanzung von Licht und Wärme durch dieselben, der Leitung der Elektricität und aus der chemischen Anziehung ergibt sich, dass die Atomkörper eine verhältnissmässig beträchtliche Grösse besitzen und dass ihr Durchmesser in festen Körpern meistens fast die Hälfte des Abstandes der Mittelpunkte erreicht. Die ^'erhältnisse der chemi- schen Verbindungen machen es wahrscheinlich, dass ein einwerthiger Atomkörper grösser ist als das Farticell eines mehrwerthigen, und dass im allgemeinen der mehrwerthige Atomkörper an Grösse den minderwerthigen ül^ertrifft. 13. Chemische Verwandtschaft. Adhäsion. Die chemische Anziehung zweier Atome besteht in der Summe aller Anziehungen weniger die Summe aller Abstossungen. Bei dieser Summenbildung sind die Dominantenkräfte in geringem Maasse, die durch sie bestimmte Schwerkraft gar nicht iDetheiligt, während die Elek- tricität bei denVerbindungen zwischen Elementen, die in der elektriscben Spannungsreihe weiter von einander entfernt sind, und die Isagität bei den Verbindungen der Atome des nämlichen Elements die Haupt- rolle spielen. Bei der Annäherung zweier Atome bewirken ihre auf einander wirkenden Attractions- und Repulsionskräfte eine Wanderung der fortschrittsbeweglichen Theilchen in diejenigen Stellungen, welche den grössten Ueberschuss der gesammten Anziehungen über die gesammten Abstossungen ergeben. Indem somit im allgemeinen die Amere mit der grössten Anziehung sich an die zugekehrten Seiten, diejenigen mit der grössten Abstossung an die abgekehrten Seiten S20 Kräfte und Gestaltungen im molecularen Gebiet. der Atomkörper begeben, bildet sich eine ungleichseitige Anordnung der Kräfte aus, worauf die chemische Sättigung beruht, weil sie eine zweite analoge Verbindung nicht gestattet, so lange nicht die erste Verbindung gelöst ist und die Kräfte sich neu orientiren können. Wenn mehrwerthige Atome zu einem Molekül zusammentreten, ist zwar die dynamische Einwirkung zwischen zwei einander gegen- überstehenden und sich »bindenden« Particellen am grössten; aber dadurch w^rd ihre Einwirkung auf alle anderen Particelle nicht auf- gehoben, sondern bloss nach dem Quadrat der Entfernung ver- mindert. Die Orientirung der Kräfte in jedem Particell ist mit Rücksicht auf alle im Molekül wirksamen Kräfte durchgeführt und die Festigkeit eines Moleküls beruht auf der Summe der über- schüssigen Anziehungen aller Particelle auf alle übrigen Particelle. Bei unvollständiger Sättigung eines mehrwerthigen Atoms betheiligen sich alle Particelle an der Verbindung und nehmen, statt der oppo- nirten , diejenige Stellung zu den mit ihnen sich verbindenden Atomen an , welche zwar eine geringere Anziehung der einzelnen Particelle, aber die grösste Gesammtanziehung bedingt. Bei der Annäherung zweier Moleküle werden nicht einfach die Kräfte, Avie sie sich in jedem derselben zur chemischen Anziehung angeordnet haben, wirksam ; sondern es findet abermals eine Wan- derung der fortschrittlichen Theilchen in den Atomen statt, um die mit der chemischen Anziehung innerhalb jedes Moleküls verträgliche möglichst grosse Anziehung zwischen den beiden Molekülen herbei- zuführen. Diese Adhäsion der Moleküle an einander (= Cohäsion der Substanz) gestattet eine Abstufung von dem allerschwächsten bis zu dem festesten, der chemischen Anziehung zwischen den Atomen gleichkommenden Zusammenhang. Die Anziehung zwischen verschiedenartigen Molekülen bewirkt oft bestimmte Molekülver- einigungen (Pleone), die Anziehung zwischen gleichartigen Molekülen oder Pleonen dagegen die Krystallisation. — Die Imbibition der or- ganisirten Substanzen beruht auf der Adhäsionsanziehung, welche die oberflächlichen Moleküle der organischen Micelle auf eine oder einige wenige angrenzende Schichten von Wassermolekülen ausüben, so dass die Anziehung der Micelloberfläche zu Wasser grösser wird als die Anziehung der Micelle zu einander, während andrerseits ^ie letztere grösser ist als die Anziehung der ganzen Micelle zu Wasser. 12. Zusammenfassung. 821 Die chemische Verwandtschaft und die Adhäsion (Cohäsion), welche die sogenannten Molecularkräfte darstellen, kommen also dadurch zu Stande, dass die Amere, welche die Träger der an- ziehenden (Gravitations-, elektrischen und isagischen) und der ab- stossenden (Aetherrepulsions-, elektrischen und isagischen) Kräfte sind, zum Theil Ortsveränderungen innerhalb der Atomkörper aus- führen und bei der Annäherung solche Stellungen annehmen, dass die Anziehungen zwischen den Atomen und Molekülen auf geringere Entfernungen wirken und daher einen grösseren Effect ergeben, als die Abstossungen. Durch die theilweise Wanderung der kraftbegabten Amere er- halten die Atome eine innerhalb gewisser Grenzen schwankende Un- beständigkeit des dynamischen Charakters, welche allein das ver- schiedenartige Verhalten des nämlichen Atoms bezüglich seiner mannigfaltigen chemischen und Adhäsionsanziehungen zu erklären vermag. 14. Dauernde Veränderung der Atome. Positive und negative Entropie des Weltalls. Da die Atome ponderable Aethertheilchen aufnehmen und ab- geben, ferner ihre Amere theilweise umlagern können , so sind sie nicht bloss einer vorübergehenden, sondern einer dauernden und sich steigernden Veränderung ihrer morphologischen und dynami- schen Beschaffenheit fähig. Dieselbe wird aber, da Atom und Amer verschiedenen Grössenordnungen angehören, und da die ein- und austretenden Amere nur höchst geringe Unterschiede zeigen können, äusserst langsam erfolgen und vielleicht erst dann eine bemerkbare Grösse annehmen, wenn allenfalls unser Sonnensystem in andere Welträume mit etwas andersartigem Aether gelangt. Eine solche Urustimmung im Atomkörper hat Einfluss auf die Beschaffenheit und Mächtigkeit der Aetherhülle, von welcher wesentlich die Aggre- gatzustände abhängen. So kann also nach langen Zeiträumen ein permanentes Gas zum flüssigen und festen Körper und ein permanent fester Körper zur Flüssigkeit und zum Gas sich umbilden. Die Veränderung der Atome ist aber nocli mehr gesichert, wenn wiv die theoretisch nicht abzuweisende Annahme machen, dass auch die Amere selber, als endliche und zusammengesetzte Dinge, eine innere Veränderung erfahren. Ist letztere wirklich vorhanden , so 322 Kräfte und Gestaltungen im niolecularen Gebiet. können die Atome nicht nur leicht in der angegebenen Weise sieh umbilden, sondern sie werden unter Umständen eine weiter gehende Veränderung, einen Zerfall in die Partieelle, in kleinere Stücke und vielleicht selbst in die Amere erleiden, so dass die Materie ganz oder theilweise wieder in den ursprünglichen Zustand der äther- artigen Zerstreuung zurückkehren würde. In der ursprünglichen Zerstreuung, die in dem bestimmten AVeltraum einmal bestand, führten die Amere bei der Temperatur des absoluten Nullpunktes bloss Einzelbewegungen aus. Die Zu- sammenballung der Amere zu Atomen und die Vereinigung der Atome zu INlolekülen, weiterhin zu flüssigen und festen Körpern hatten Massenschwingungen des Aethers und damit Licht und Wärme zur Folge. Ursprünglich Avar die mechanische Energie bloss als Einzelbewegungen der Amere vorhanden. Ein Theil derselben blieb unverändert in den Aetherth eilchen, ein anderer Theil ging in Wärme (mit Licht) und in die mechanische Energie der Agglomerations- körper über. Die letztere verwandelte sich nach und nach immer mehr in Massenschwingungen des Aethers (in Wärme). Diese ganze Entwicklungsgeschichte stellt die Periode der positiven Entropie, in der' wir uns befinden, dar. Wenn die Atome und die Amere mit der Zeit ihre Beschaffenheit ändern, wenn die festen Massen flüssig, dann gasförmig werden und die Gase vielleicht schliesslich in die Amerzerstreuung zurückkehren, so geht die Energie der Wärmeschwingungen in die Energie der schwingenden , drehenden und fortschrittlichen Bewegungen der Moleküle, Atome, zuletzt der Amere über. Dies ist die Periode der negativen Entropie, welche mit derjenigen der positiven Entropie abwechselt.